Der Richter und seine Ankläger: Eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium 3161581695, 9783161581694

Das Johannesevangelium ist durch die häufige Erwähnung von Zeugen, Anklagen, verhörartigen Befragungen und anderen Besta

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German Pages 416 [418] Year 2019

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Einleitung
Kapitel I: Grundlagen
1. Forschungsüberblick
2. Zielrichtung der Studie
2.1. Identifikation von weiterem Forschungsbedarf
2.2. Ziel der Untersuchung
3. Verwendete Analysemethoden
3.1. Narratologische Analyse
3.2. Metaphorische Analyse
4. Vorgehensweise und Gliederung
Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlichjüdischer Rechtsstreit
1. Griechisch-römisches und jüdisches Prozessrecht
1.1. Das griechische Prozessrecht
1.2. Das römische Prozessrecht
1.2.1. Legisaktionenverfahren
1.2.2. Formularprozess
1.2.3. Quaestionsprozess
1.2.4. Kognitionsverfahren
1.2.5. Forensische Rollen des römischen Prozessrechts
1.3. Das jüdische Prozessrecht
1.3.1. Das Prozessrecht der Thora
1.3.2. Das Prozessrecht im Frühjudentum
1.3.3. Forensische Rollen des jüdischen Prozessrechts
1.4. Das literarische Prozess-Setting
1.4.1. Rechtsstreit und Prozess
1.4.2. Ankläger und Angeklagter
1.4.3. Zeuge
1.4.4. Richter
1.4.5. Prozesszuschauer
2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites
2.1. Der Rechtsstreit zwischen Menschen
2.2. Der Rechtsstreit Gottes mit Menschen
2.2.1. Gott als Ankläger
2.2.2. Gott als Angeklagter
2.2.3. Der Rechtsstreit Gottes mit der Welt
2.2.4. Makrokomplex von Rechtsstreitszenen in Jes 40–45
2.3. Ertrag
2.3.1. Rollenfunktionen
2.3.2. Rollenbelegungen
2.3.3. Darstellungsebenen
2.3.4. Darstellungsformen
2.3.5. Rhetorische Funktion
Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums
1. Die narrative Prozessdarstellung in Joh 18–19
1.1. Verhaftung und informelle Befragung (Joh 18,1–23)
1.2. Das absichtsvolle Fehlen eines jüdischen Prozesses (Joh 18,19–24)
1.2.1. Antiklimaktischer Erzählfokus
1.2.2. Intratextuelle Verweise
1.3. Rollenumkehrung im Prozess vor Pilatus (Joh 18,28–19,16)
1.4. Ertrag
2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12
2.1. Wichtige Lexeme und Semanteme
2.2. Bestandteile des literarischen Prozess-Settings
2.3. Verweise auf den alttestamentlichen Rechtsstreit
2.4. Bildersprache
2.5. Rechtsstreitmotivik und narrative Struktur
2.6. Ertrag
Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess
1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)
1.1. Der Prolog als Prozesseinführung (Joh 1,1–18)
1.2. Die Vorstellung des ersten Zeugen (Joh 1,19–34)
1.3. Ertrag
2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)
2.1. Die erste Begegnung der Kontrahenten (Joh 2,13–25)
2.2. Das Zeugnis Jesu und des Erzählers (Joh 3,11–21)
2.3. Resümee des ersten Zeugen (Joh 3,31–36)
2.4. Ertrag
3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)
3.1. Die Schilderung des Vergehens (Joh 5,1–15)
3.2. Die Anklage der Juden (Joh 5,16–18)
3.3. Die Anklage Jesu (Joh 5,19–30)
3.4. Der Aufruf der Zeugen (Joh 5,31–47)
3.5. Ertrag
4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)
4.1. Einführung der Prozesszuschauer (Joh 7,14–24)
4.2. Jesus als Zeuge (Joh 8,12–20)
4.3. Umfassende Verhandlung weiterer Anklagen (Joh 8,37–59)
4.4. Ertrag
5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)
5.1. Verhandlung in absentia (Joh 9,1–39)
5.2. Die Hirtenrede als Anklagerede (Joh 9,40–10,21)
5.3. Das Geständnis des Angeklagten (Joh 10,22–39)
5.4. Ertrag
6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50)
6.1. Das Urteil der Juden (Joh 11,47–53)
6.2. Das Urteil Jesu und des Erzählers (Joh 12,37–50)
6.3. Ertrag
Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung
1. Die forensische Dimension: Rollen und Sachverhalte
1.1. Forensische Rollen und Prozess-Settings
1.2. Forensische Sachverhalte
2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als Prozess-Narration
2.1. Narrative Ebenen des Rechtsstreites
2.2. Narrativer Verlauf des Makro-Rechtsstreites
2.3. Der narrative Zusammenhang zwischen Joh 1–12 und Joh 18–19
3. Die metaphorische Dimension: Der Bildbereich des Rechtsstreites
3.1. Der Motivhintergrund des alttestamentlichen Rechtsstreites
3.2. Das Bildmosaik des Rechtsstreites als Träger theologischer Aussagen
3.3. Prozessmetaphorik als Theologie
4. Die rezeptionsästhetische Dimension: Funktion und Wirkung der Rechtsstreitmotivik
4.1. Rechtsstreitmetaphorik als persuasive Technik
4.2. Die Inklusion des Lesenden im Rechtsstreit
4.3. Wahrnehmungshorizonte und Erkenntnisprozesse des Lesenden
Ergebnis und Ausblick
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Autorenregister
Sachregister
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Der Richter und seine Ankläger: Eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium
 3161581695, 9783161581694

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich)

Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

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Benjamin Lange

Der Richter und seine Ankläger Eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium

Mohr Siebeck

Benjamin Lange, geboren 1982; 2009 Diplom in Mathematik; 2010 erstes Staatsexamen in Mathematik und Musik (Lehramt an Gymnasien); 2014 Promotion in Mathematik; 2016 Master of Theology; 2016 Auszeichnung mit dem Franz-Delitzsch-Preis; 2019 Promotion in Theologie.

ISBN 978-3-16-158169-4 / eISBN 978-3-16-158170-0 DOI 10.1628/978-3-16-158170-0 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über­ setzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Für Anna-Maria und Eliah

Vorwort Die folgende Untersuchung wurde 2019 als Dissertation von der Abteilung Evangelische Theologie der Philosphischen Fakultät der Universität Siegen angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. Für die Betreuung der Arbeit, die konstruktive Begleitung sowie detaillierte und hilfreiche Anmerkungen möchte ich mich bei Prof. Dr. Bernd Kollmann (Siegen) ganz herzlich bedanken. Mein besonderer Dank gebührt außerdem Prof. Dr. Ruben Zimmermann (Mainz), dessen intensive Begleitung mit einer stets ermutigenden Art und immenser fachlicher Kompetenz die Arbeit wesentlich geprägt hat. Seine bereitwillige Zusage zur Begleitung dieses Dissertationsprojektes hat diese Arbeit überhaupt erst möglich gemacht. Er hat es verstanden, meiner Forschungsidee Freiraum und Bestätigung zu geben und das Vorhaben dennoch an entscheidenden Stellen zu lenken. Wertvolle Anregungen und Bestätigung habe ich außerdem von der neutestamentlichen Sozietät der Universität Mainz erhalten. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Jörg Frey für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament sowie Herrn Tobias Stäbler und Frau Ilse König vom Verlag Mohr Siebeck für die Betreuung bei der Erstellung der Druckvorlagen. Tiefe Dankbarkeit, die nicht auf den vorliegenden Kontext beschränkt ist, empfinde ich außerdem den Personen gegenüber, die mein Leben bisher begleitet haben. Dazu gehören zuerst meine Eltern, die mich entscheidend geprägt und mich nicht nur schon früh mit dem Johannesevangelium vertraut gemacht haben, sondern mir auch die Liebe zu seiner Hauptperson Jesus Christus vermittelten. Meine bleibende Dankbarkeit gilt ferner meiner Tante, die die Drucklegung dieses Buches erwartet, aber leider nicht mehr erlebt hat. Sie hat mir den Zugang zur griechischen Sprache eröffnet und war trotz ihres hohen Alters die treueste Leserin meiner akademischen Arbeiten. Ein Dank, der nicht in Worte gefasst werden kann, gilt meiner geliebten Frau Anna-Maria, ohne die ich nicht zum Erarbeiten dieser Dissertation in der Lage gewesen wäre – sowohl in persönlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Sie hat mir durch ihre Unterstützung nicht nur oft Kraft, sondern auch die zeitlichen Freiräume gegeben. In diesem Sinne ist diese Untersuchung das Ergebnis einer Teamarbeit: Sie geht zu ebenso großen Teilen auf das geduldige und opfer-

VIII

Vorwort

bereite Mittragen meiner Frau zurück. Ihr und unserem Sohn Eliah, dessen Geburt und ersten Monate die Erstellung dieser Arbeit intensiv begleitet haben, ist dieses Buch gewidmet. Mein größter Dank gilt jedoch dem, der nicht nur Hauptperson des Johannesevangeliums, sondern auch meines Lebens ist – und nicht zuletzt auch in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht: Dem Richter, der sich hat anklagen lassen, um die Welt zu retten. Büttelborn, im Juli 2019

Benjamin Lange

Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII  Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen ............................................... XIII  Einleitung ...................................................................................................... 1 

Kapitel I: Grundlagen ............................................................................. 5  1. Forschungsüberblick ................................................................................. 7  2. Zielrichtung der Studie .............................................................................16  2.1. Identifikation von weiterem Forschungsbedarf ..................................16  2.2. Ziel der Untersuchung .......................................................................18  3. Verwendete Analysemethoden ..................................................................20  3.1. Narratologische Analyse ...................................................................20  3.2. Metaphorische Analyse .....................................................................25  4. Vorgehensweise und Gliederung ..............................................................28 

Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlichjüdischer Rechtsstreit .............................................................................31  1. Griechisch-römisches und jüdisches Prozessrecht ...................................33  1.1. Das griechische Prozessrecht ............................................................33  1.2. Das römische Prozessrecht ................................................................36  1.2.1. Legisaktionenverfahren ...........................................................36  1.2.2. Formularprozess ......................................................................37  1.2.3. Quaestionsprozess ...................................................................38  1.2.4. Kognitionsverfahren ................................................................39  1.2.5. Forensische Rollen des römischen Prozessrechts .....................40  1.3. Das jüdische Prozessrecht .................................................................42  1.3.1. Das Prozessrecht der Thora .....................................................42  1.3.2. Das Prozessrecht im Frühjudentum .........................................46  1.3.3. Forensische Rollen des jüdischen Prozessrechts ......................49 

X

Inhaltsverzeichnis

1.4. Das literarische Prozess-Setting ........................................................ 55  1.4.1. Rechtsstreit und Prozess .......................................................... 56  1.4.2. Ankläger und Angeklagter ....................................................... 57  1.4.3. Zeuge ...................................................................................... 57  1.4.4. Richter .................................................................................... 58  1.4.5. Prozesszuschauer..................................................................... 59  2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites .......................... 60  2.1. Der Rechtsstreit zwischen Menschen ................................................ 61  2.2. Der Rechtsstreit Gottes mit Menschen............................................... 64  2.2.1. Gott als Ankläger .................................................................... 65  2.2.2. Gott als Angeklagter................................................................ 68  2.2.3. Der Rechtsstreit Gottes mit der Welt ....................................... 72  2.2.4. Makrokomplex von Rechtsstreitszenen in Jes 40–45 ............... 77  2.3. Ertrag ................................................................................................ 81  2.3.1. Rollenfunktionen ..................................................................... 81  2.3.2. Rollenbelegungen .................................................................... 82  2.3.3. Darstellungsebenen ................................................................. 84  2.3.4. Darstellungsformen ................................................................. 85  2.3.5. Rhetorische Funktion .............................................................. 87 

Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums..............................................................................................89  1. Die narrative Prozessdarstellung in Joh 18–19 ........................................ 91  1.1. Verhaftung und informelle Befragung (Joh 18,1–23) ........................ 93  1.2. Das absichtsvolle Fehlen eines jüdischen Prozesses (Joh 18,19–24) .................................................................................. 97  1.2.1. Antiklimaktischer Erzählfokus ................................................ 97  1.2.2. Intratextuelle Verweise.......................................................... 100  1.3. Rollenumkehrung im Prozess vor Pilatus (Joh 18,28–19,16) ........... 103  1.4. Ertrag .............................................................................................. 110  2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12...................................... 113  2.1. Wichtige Lexeme und Semanteme .................................................. 113  2.2. Bestandteile des literarischen Prozess-Settings ................................ 125  2.3. Verweise auf den alttestamentlichen Rechtsstreit ............................ 129  2.4. Bildersprache .................................................................................. 131  2.5. Rechtsstreitmotivik und narrative Struktur ...................................... 132  2.6. Ertrag .............................................................................................. 135 

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess ....................137  1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34) .............................. 139  1.1. Der Prolog als Prozesseinführung (Joh 1,1–18) ............................... 140  1.2. Die Vorstellung des ersten Zeugen (Joh 1,19–34) ........................... 155  1.3. Ertrag .............................................................................................. 161  2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)......................... 163  2.1. Die erste Begegnung der Kontrahenten (Joh 2,13–25) ..................... 164  2.2. Das Zeugnis Jesu und des Erzählers (Joh 3,11–21) .......................... 175  2.3. Resümee des ersten Zeugen (Joh 3,31–36) ...................................... 185  2.4. Ertrag .............................................................................................. 190  3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47) ........................................ 192  3.1. Die Schilderung des Vergehens (Joh 5,1–15) .................................. 194  3.2. Die Anklage der Juden (Joh 5,16–18) .............................................. 201  3.3. Die Anklage Jesu (Joh 5,19–30) ...................................................... 212  3.4. Der Aufruf der Zeugen (Joh 5,31–47).............................................. 223  3.5. Ertrag .............................................................................................. 234  4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59) ............... 236  4.1. Einführung der Prozesszuschauer (Joh 7,14–24) ............................. 237  4.2. Jesus als Zeuge (Joh 8,12–20) ......................................................... 247  4.3. Umfassende Verhandlung weiterer Anklagen (Joh 8,37–59) ........... 259  4.4. Ertrag .............................................................................................. 268  5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39) ..... 270  5.1. Verhandlung in absentia (Joh 9,1–39) ............................................. 272  5.2. Die Hirtenrede als Anklagerede (Joh 9,40–10,21) ........................... 280  5.3. Das Geständnis des Angeklagten (Joh 10,22–39) ............................ 285  5.4. Ertrag .............................................................................................. 295  6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50) .................................. 297  6.1. Das Urteil der Juden (Joh 11,47–53) ............................................... 298  6.2. Das Urteil Jesu und des Erzählers (Joh 12,37–50) ........................... 302  6.3. Ertrag .............................................................................................. 310 

XII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung ............................ 311  1. Die forensische Dimension: Rollen und Sachverhalte ............................ 313  1.1. Forensische Rollen und Prozess-Settings......................................... 313  1.2. Forensische Sachverhalte ................................................................ 316  2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als Prozess-Narration .................... 319  2.1. Narrative Ebenen des Rechtsstreites ................................................ 319  2.2. Narrativer Verlauf des Makro-Rechtsstreites ................................... 322  2.3. Der narrative Zusammenhang zwischen Joh 1–12 und Joh 18–19 ... 325  3. Die metaphorische Dimension: Der Bildbereich des Rechtsstreites ....... 330  3.1. Der Motivhintergrund des alttestamentlichen Rechtsstreites............ 330  3.2. Das Bildmosaik des Rechtsstreites als Träger theologischer Aussagen......................................................................................... 333  3.3. Prozessmetaphorik als Theologie .................................................... 334  4. Die rezeptionsästhetische Dimension: Funktion und Wirkung der Rechtsstreitmotivik ................................................................................. 337  4.1. Rechtsstreitmetaphorik als persuasive Technik ............................... 337  4.2. Die Inklusion des Lesenden im Rechtsstreit .................................... 340  4.3. Wahrnehmungshorizonte und Erkenntnisprozesse des Lesenden ..... 343  Ergebnis und Ausblick ............................................................................... 347 Literaturverzeichnis .................................................................................... 353  Stellenregister ............................................................................................ 373  Autorenregister........................................................................................... 394  Sachregister ................................................................................................ 400 

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Tab. 1: Belege der Wortgruppe in verschiedenen Textkorpora. ...................................... 116  Tab. 2: Parallelität zwischen Joh 1,1–5 und Joh 1,9–13. ................................................. 145  Tab. 3: Paralleler Aufbau von Joh 2,25–3,21 und Joh 3,22–36. ...................................... 185  Tab. 4: Transformation der Anklage in Joh 5,10–18....................................................... 207  Tab. 5: Forensische Rollen in Joh 5,1–47. ...................................................................... 221  Tab. 6: Narratives Prozess-Setting in Joh 7,14–52. ........................................................ 242  Tab. 7: Paralleler Aufbau von Joh 7,14–30 und Joh 8,12–20. ......................................... 248  Tab. 8: Reziproke Anklagen in Joh 8,21–59. .................................................................. 262  Tab. 9: Die Anklage Jesu in Joh 8,21–59. ...................................................................... 263  Tab. 10: Parallelen des juristischen Konflikts in Joh 5 und Joh 9–10.............................. 271  Tab. 11: Parallele Verhörszenen in Joh 10,22–31 und Joh 10,32–39. ............................. 287  Tab. 12: Forensische Rollen in Joh 1–12........................................................................ 314  Tab. 13: Bestandteile des Rechtsstreites und des Gerichtsprozesses. .............................. 316  Tab. 14: Verhandelte Rechtssachen. .............................................................................. 318  Tab. 15: Ebenen der Rechtsstreit- und Prozessmotivik. .................................................. 320  Tab. 16: Paradigmatische Figuren im Rechtsstreit. ......................................................... 340  Tab. 17: Wahrnehmungshorizonte des Rechtsstreites. .................................................... 343  Abb. 1: Funktion der Rechtsstreitmetaphorik für die Adressaten. ..................................... 68  Abb. 2: Ebenen prophetischer Rechtsstreitmetaphorik in Mi 1,2–7. .................................. 73  Abb. 3: Ebenen der Rechtsstreitmetaphorik in Jes 40–55. ................................................. 79  Abb. 4: Belege von μαρτυρία und μαρτυρέω in Joh 1–12 und Joh 18. ............................ 117  Abb. 5: Belege von κρίνω und κρίσις in Joh 1–12 und Joh 18. ....................................... 120  Abb. 6: Semantisches Netzwerk forensischer Semanteme. ............................................. 123  Abb. 7: Verteilung des forensischen Vokabulars im Evangelium. ................................... 124  Abb. 8: Licht als Metapher des alttestamentlichen Rechtsstreites. .................................. 152  Abb. 9: Juristische Kausalität in Joh 3,18–21. ................................................................ 183  Abb. 10: Prozess-Setting in Joh 7,14–52. ....................................................................... 241  Abb. 11: Paradigmenkonflikt als konkurrierende Rollenbilder........................................ 257  Abb. 12: Meta-Prozess zwischen konkurrierenden Paradigmen. ..................................... 258  Abb. 13: Konkurrierende Prozess-Settings. .................................................................... 315  Abb. 14: Rollenkongruenzen anhand der Rolle des Angeklagten. ................................... 342 

Einleitung So unterschiedlich eine intuitive Vorstellung über den Ablauf eines Gerichtsprozesses auch aussehen mag – die eines Richters, der von Angeklagten angeklagt wird, gehört sicher nicht dazu. Insbesondere dann, wenn es sich um einen rechtmäßig eingesetzten und unvoreingenommenen Richter handelt, wäre das Aufbegehren der Angeklagten in einer Anklage ihres Richters im Prozess unvorstellbar. Den Richter anzuklagen hieße, entweder seine Person oder sogar sämtliche Rechtsstrukturen infrage zu stellen. Ein solches Verhalten der Angeklagten fällt so sehr aus dem Rahmen, dass damit im besten Sinne eine Paradoxie vorliegt. Eine Paradoxie, die verwundern, erstaunen, verwirren oder zum Nachdenken anregen kann. Genau diese Paradoxie liegt im Johannesevangelium vor: die des Richters und seiner Ankläger. Und es ist eine einzigartige Akzentsetzung in der Darstellungsweise des vierten Evangeliums, die zu diesem Paradoxon führt. Wer sich dem Johannesevangelium nähert, bemerkt schnell, dass neben vielen einfachen Aussagen, die als Höhepunkt theologischer Aussagen gelten – man denke nur an die bekannten Ich-bin-Worte –, ein unerwarteter Schwerpunkt auf Konflikten und feindlichen Auseinandersetzungen liegt. Sehr ausführlich werden Streitgespräche zwischen Jesus und „den Juden“ erzählt.1 Der Ton der Auseinandersetzung ist von Beginn an scharf, die Positionen unversöhnlich und schon früh steht das Todesurteil gegen Jesus fest. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen Vergehen wie Sabbatbruch und Blasphemie, die Jesus aufgrund seines Handelns in seiner einzigartigen Beziehung zum Vater angelastet werden. Zu Recht hat die Forschung vor diesem Hintergrund einen stark forensischen Schwerpunkt des Evangeliums erkannt. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade im Johannesevangelium ein formeller Prozess vor dem Synedrium, in dem Jesus zum Tod verurteilt wird, gänzlich fehlt. In wenigen Sätzen wird eine informelle Befragung vor Hannas (Joh 18,19–23) erwähnt, die aber bewusst als vorläufige Beweissammlung für die eigentliche Verhandlung dargestellt wird. Dass darauf die eigentliche Hauptverhandlung folgt, wird in der Schilderung zwar vorausgesetzt (Joh 18,24), aber nicht ausgeführt. 1 Die Bezeichnung wird in Anschluss an das Votum der jüdischen Forscherin Adele Reinhartz im Folgenden ohne Anführungszeichen aus dem Text des Johannesevangeliums übernommen (vgl. REINHARTZ [2001], 341). Siehe zu dieser Vorgehensweise und der Bezeichnung im Johannesevangelium Kapitel III,1, Anm. 5.

2

Einleitung

Jegliche Details zu den eigentlichen Anklagen, dem Ablauf und sogar zu einer förmlichen Verurteilung Jesu im Prozess vor dem Synedrium fehlen gänzlich. Weshalb diese auffällige Fehlstelle? Hätte man nicht gerade vor dem Hintergrund der auffallend juristisch geprägten Darstellungsweise und der so intensiv beleuchteten Konflikte zwischen Jesus und den Juden erwarten müssen, dass die eigentliche Gerichtsverhandlung in ausführlicher Breite dargestellt wird – so etwa, wie dies auch in der umfassenden Prozessdarstellung vor der römischen Gerichtsbarkeit der Fall ist (Joh 18,28–19,16)? Für jemanden, der das Evangelium liest, erscheint das Fehlen eines jüdischen Prozesses demgegenüber geradezu als narrative Lücke. Der jüdische Gerichtsprozess, auf den die ganzen vorherigen Auseinandersetzungen hinzusteuern scheinen, fehlt. Vor diesem Hintergrund ist die Schwerpunktsetzung in Joh 1–12 umso bemerkenswerter. Schnell fällt auf, dass das, was man in Joh 18–19 an Gerichtsvokabular erwartet hätte, bereits in Joh 1–12 vollständig präsent ist: Es werden Zeugen aufgerufen, ein Richter genannt und Schuldvorwürfe, Anklagen und Verteidigungen in ausführlichen Reden vorgetragen. Die damit vorgenommene Schwerpunktsetzung ist so dominant, dass sich der Eindruck aufdrängt, die in Joh 18 fehlenden Prozessinhalte, -abläufe und -motive (und damit die gesamte Prozessdarstellung) seien narrativ von Joh 18 nach Joh 1–12 verlagert worden. Diese Vermutung ist in der Forschung schon häufiger geäußert, aber nie durch eine eingehende narratologische Untersuchung überprüft worden. Und sie steht vor weiteren Fragestellungen, die erst bei einem Blick auf die Art der Auseinandersetzung in Joh 1–12 offenbar werden – und die auf das eingangs erwähnte Paradoxon des angeklagten Richters hinführen. Um dies zu illustrieren, reicht ein kurzer Blick auf eine der Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden. In einer ausführlichen Rede verteidigt sich Jesus in Joh 5,31–47 unter Nennung von Zeugen gegen den Vorwurf der Blasphemie und des Sabbatbruches. Das Szenario scheint eindeutig: Jesus ruft im Rückgriff auf alttestamentliche Bestimmungen mehrere Zeugen auf, um die an ihn herangetragenen Anklagen zu entkräften. Diese auch in der Forschung weitverbreitete Konstruktion des Szenarios steht jedoch im Widerspruch zum Kontext des alttestamentlichen Zeugenrechts, auf das dabei Bezug genommen wird: Zeugen treten nach dem Prozessrecht der Thora nicht in der Verteidigung, sondern nur in der Anklage auf. Es gibt, pointiert formuliert, im jüdischen Prozessrecht keine eigentlichen Verteidigungszeugen. Dieser Grundsatz wird nicht nur im Alten Testament, sondern auch in der frühjüdischen Rechtspraxis auffallend konsequent beibehalten. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine völlig konträre Rollenverteilung in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 5,31–47. Durch den Aufruf von Zeugen nimmt Jesus nicht die Position des Angeklagten, sondern des Anklägers ein. Dazu kommt ein Weiteres: Jesus präsentiert sich in eben jener Rede, die vordergründig eine Verteidigung zu sein scheint, als höchster eschatologischer Richter, dem göttliche Vollmachten gegeben sind (Joh 5,22–27). Das ist weit mehr, als für eine erfolgreiche gericht-

Einleitung

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liche Verteidigung erforderlich ist, und spitzt die Szenerie erst wirklich auf jene unausweichliche und völlig paradoxe Vorstellung zu: Der göttliche Weltenrichter wird von seinen Geschöpfen angeklagt und soll dem Kapitalgericht übergeben werden. Nicht zuletzt wird damit die von den Juden vorgenommene Anklage der Blasphemie in der Konsequenz selbst zur größten Form der Blasphemie. Von hier aus eröffnet sich ein Blick auf das Johannesevangelium, der nicht nur eine ausführliche Untersuchung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik motiviert, sondern auch neue Perspektiven auf das Evangelium verspricht. Was oben in wenigen Sätzen thesenhaft skizziert ist, erfordert eine ausführliche exegetische Untersuchung. Dabei ist nicht nur relevant, ob und in welcher Form der große Komplex des Prozess- und Rechtsstreites im Johannesevangelium fungiert, sondern auch die sich hier anschließenden Fragen: Lässt sich eine juristisch geprägte und auf die forensischen Gegebenheiten eines Gerichtsprozesses angelegte Narration im Johannesevangelium nachweisen? In welcher Weise werden Prozessbestandteile, -abläufe und -rollen verwendet? Dazu ist zugleich ein Blick auf die typischen Prozessbestandteile in den für das Evangelium relevanten bildgebenden Aspekten antiker Gerichtsprozesse notwendig. Vor allem aber eröffnen sich Fragen, die um das Paradoxon des angeklagten Richters kreisen. Die Paradoxie offenbart eine doppelte Ebene der Erzählung, in der ein vordergründiges Prozess-Setting, in dem Jesus von den Juden angeklagt und verurteilt wird, im Konflikt mit einer dahinterliegenden Wirklichkeit steht, in der Jesus als Ankläger und höchster Richter fungiert. In welcher Weise sich die damit angelegte Dynamik unterschiedlicher Darstellungsebenen entfaltet und welche Funktion sie im Evangelium für die Lesenden trägt, ist eine weitere Frage, die in dieser Untersuchung thematisiert wird. Die vorliegende Studie versucht, diese Fragen zu adressieren, und untersucht mit narratologischen Methoden der Textanalyse die Rechtsstreit- und Prozessmotivik sowie ihre Funktion in Joh 1–12 und Joh 18–19. Dabei ist nicht nur relevant, ob und inwiefern sich Rechtsstreitmotivik und -metaphorik exegetisch als zentrales Motiv der Darstellung im Johannesevangelium erweisen lässt, sondern auch – darauf aufbauend – die Frage nach der Funktion dieses speziellen Motivkomplexes. Die Untersuchung will ermitteln, in welcher Weise in der narrativen Darstellung des Evangeliums Motive des Rechtsstreites und gerichtlichen Prozesses verwendet werden und welchen Zweck sie für die das Evangelium Lesenden erfüllen. Die Untersuchung bezieht sich schwerpunktmäßig auf die erste Hälfte des Evangeliums (Joh 1–12), verwendet Methoden der narratologischen Text-, Motiv- und Metaphernanalyse und bezieht auch rezeptionsästhetische Aspekte der Leserreaktion mit ein. Die Untersuchung gliedert sich wie folgt: Das erste Kapitel beginnt mit einem Forschungsüberblick, der zugleich als Motivation dient und zu einer Eingrenzung der untersuchten Fragestellung führt. Auf dieser Basis werden anschließend eine methodische Fundierung vorgenommen und der Aufriss sowie

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Einleitung

die konkrete Vorgehensweise der Untersuchung vorgestellt. Im zweiten Kapitel erfolgt eine Annäherung an den Motivkomplex des gerichtlichen Prozesses und der dabei involvierten Parteien und ihrer Rollen im Rechtsstreit in antiken Prozessordnungen. Dabei wird untersucht, welche elementaren Bestandteile ein antiker Gerichtsprozess und Rechtsstreit enthält. Ferner wird speziell der alttestamentliche Motivkomplex des Rechtsstreites als bildgebender Bereich untersucht. Mit dem dritten Kapitel beginnt die Untersuchung forensischer Motivik im johanneischen Kontext. Dabei werden einerseits die Prozess-Narration in Joh 18–19 untersucht und andererseits eine Bestandsaufnahme forensischer Semanteme in Joh 1–12 vorgenommen. Im vierten Kapitel schließt sich eine eingehende narratologische Analyse der Passagen an, in denen der Motivkomplex des Rechtsstreites im Johannesevangelium erkennbar ist. Diese bildet zugleich den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit als detaillierte narrative Analyse relevanter Passagen. Im fünften Kapitel erfolgt eine Zusammenstellung und ausführliche systematische Reflexion der narrativen Untersuchung. Diese Auswertung widmet sich der forensischen Darstellung im Evangelium, der narrativen Präsentation, der metaphorischen Dimension und der Funktion für die Lesenden. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung werden schließlich unter Ergebnis und Ausblick kurz zusammengefasst. Jedes Kapitel untergliedert sich in mehrere Abschnitte, deren Erträge jeweils im letzten Abschnitt kurz zusammengefasst werden. Zusammen mit dem strukturellen und methodischen Aufriss in Kapitel I,4 und der Präsentation der Ergebnisse in den letzten beiden Kapiteln bieten diese Abschnitte einen schnellen Überblick über die wesentlichen Resultate der Untersuchung.

Kapitel I:

Grundlagen

1. Forschungsüberblick Die Prozessmotivik des Johannesevangeliums ist in der Forschung häufig thematisiert worden, meist jedoch in sporadischen Anmerkungen im Kontext anderer Themenkomplexe. Obwohl sich nur wenige Studien dezidiert mit ihr auseinandersetzen, sind Einzelaspekte schon länger Teil der johanneischen Forschung. Bereits 1941 hat BULTMANN in seinem einflussreichen Kommentar zum Johannesevangelium 1 auf den „großen Prozess zwischen Gott und der Welt“2 als repetierendes Element der johanneischen Darstellung verwiesen und dabei die stark juristische Konnotation des Zeugnismotivs betont.3 Die Deutung bekommt bei Bultmann jedoch dadurch einen einseitigen Charakter, dass Prozessmotivik stark vor gnostischen Hintergründen gesehen und daher enggeführt wird auf eine Chiffre, die als „die große Scheidung“4 maßgeblich für die existenzialistische Erfahrung der „Entweltlichung“5 steht und nicht primär im Leben Jesu, sondern in der Verkündigung der Geist-erfüllten Gemeinde ihren Sinn entfaltet.6 Obwohl die Darstellung Bultmanns damit in der weiteren

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BULTMANN (1986) [21. Aufl.]. BULTMANN (1986), 426.507; ähnlich auch aaO., 59.223.226.439. 3 So betont BULTMANN (1986), 426: „μαρτυρεῖν wie μαρτυρία haben den ursprünglichen forensischen Sinn“ (aaO., 31), ähnlich aaO., 30.59.426. 4 BULTMANN (1986), 113. Bultmann legt den Akzent auf „das Gericht als die große Scheidung“ (aaO., 113) und postuliert: „Das Verständnis des Gerichtes als der Scheidung von Licht und Finsternis war durch die gnostische Tradition gegeben, in der die Scheidung zunächst als ein kosmischer Prozeß gedacht ist. […] In der Gnosis aber ist die Lichtmetaphysik in einer ganz bestimmten Kosmologie und Eschatologie ausgeprägt, und die aus ihr entwickelte Begrifflichkeit ist die Voraussetzung der joh. Sprache“ (aaO., 113). Dieses Verständnis des Gerichts als „Scheidung“ wird bei Bultmann zur leitenden Vorstellung (vgl. etwa aaO., 77.121.182.193). 5 Siehe etwa BULTMANN (1986), 434f.; vgl. auch aaO., 389f. 6 So sieht Bultmann „einen Streit […] zwischen dem christlichen Glauben und der durch das Judentum repräsentierten Welt, der ständig unter dem Bilde eines Prozesses erscheint“ (aaO., 59). Nach Bultmann denkt der Evangelist bei dem Zeugnis im Prozess „natürlich an die Wortverkündigung der Gemeinde, wobei μαρτ. seinen forensischen Sinn behält, denn die Verkündigung hat nach 16,4–11 ja ihren Platz in dem großen Prozess zwischen Gott und der Welt“ (aaO., 426). Für Bultmann wird daher Joh 16,8–11 zu einer Schlüsselstelle für das Verständnis des kosmischen Gerichtsprozesses (aaO., 433–436), der im Gericht von Joh 16,11 „sein Ende erreicht hat“ (aaO., 59). Der Prozess findet daher nach Bultmann seinen 2

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Kapitel I: Grundlagen

Forschung Anlass zu Kritik bot,7 hat sie doch wichtige Impulse gegeben und sich als wegweisend erwiesen.8 Neben kürzeren Thematisierungen der forensischen Dimension des Johannesevangeliums von PREISS9 und DAHL10 hat BLANK11 in einer ausführlichen Untersuchung die Gerichtsmotivik im Johannesevangelium untersucht. In Abgrenzung zu Bultmann hat er das Motiv des alttestamentlichen Rechtsstreites stärker in den Mittelpunkt gerückt und als maßgeblichen Hintergrund den „Prozeß zwischen Jahwe und Israel wie er in der Verkündigung der Propheten eine große Rolle spielt“12 betont.13 Die Untersuchung von Blank hat durch die Konzentration auf Passagen, in denen die Lexeme κρίσις und κρίνειν belegt sind, jedoch einen selektiven Fokus.14 Da Blank das Gerichtsmotiv zudem stark unter eschatologischen Aspekten betrachtet, steht der Aspekt des Rechtsstreites nicht im Mittelpunkt der Untersuchung.15 Einen anderen Aspekt der Prozessmotivik beleuchtete BEUTLER 16 in einer Untersuchung, in der das Zeugnisthema traditionsgeschichtlich ausgewertet wird. Dabei wird die Sprachgeschichte von μάρτυς und μαρτυρέω analysiert und die Bedeutung der Lexeme sowie ihrer hebräischen Äquivalente nachgezeichnet. Die dabei aufgezeigten traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge stellen eine wichtige Grundlage für die Untersuchung des Zeugenmotivs im Johannesevangelium dar und verdeutAusgang im Wirken des Parakleten, der die Welt durch die Gemeinde überführt (aaO., 472.221). 7 So etwa bei TRITES (1977), 88 in Bezug auf die Vernachlässigung alttestamentlicher Hintergründe des Rechtsstreites Gottes mit der Welt; vgl. ferner die Kritik von BLANK (1959), 63. 8 Dies betrifft nicht nur die wesentliche Bedeutung, die Bultmann in der Prozessmotivik erkennt, sondern auch die damit einhergehende Rollenumkehrung als wesentliche johanneische Akzentsetzung, durch die die Juden von Anklägern zu Angeklagten werden (vgl. BULTMANN [1986], 59). Die Thesen Bultmanns wirkten daher in der Forschung weiter, wie beispielhaft die eigenständige Weiterentwicklung der forensischen Akzentsetzung des Johannesevangeliums bei DAHL (1986), 134f., die häufige Auseinandersetzung mit Bultmann in der Untersuchung von BLANK (1964) oder die Aufnahme der Rede vom ‚großen kosmischen Prozess‘ bis in die neuere Forschung hinein zeigen; vgl. etwa THYEN (2005), 76; MCHUGH (2009), 25; KÖSTENBERGER (2009), 437f.; (2016), 91. 9 PREISS (1954). 10 DAHL (1986) [Erstveröffentlichung 1962]. 11 BLANK (1964); vgl. auch die Untersuchung zur Prozessdarstellung in Joh 18,28–19,16 bei BLANK (1959). 12 BLANK (1964), 311. 13 Nach BLANK (1964), 311 ist damit „das Prozeßmotiv des alttestamentlichen Rechtsstreites Jahwes […] im johanneischen Prozeß zwischen Jesus und den Juden neu aktualisiert worden“. 14 Es fehlt etwa eine Untersuchung von Joh 1, Joh 7 und Joh 10. 15 Die Untersuchung ist von vornherein auf das eschatologische Moment konzentriert; siehe BLANK (1964), 39f. 16 BEUTLER (1972).

1. Forschungsüberblick

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lichen die Besonderheiten der johanneischen Akzentsetzung.17 Nach Beutler sind große Teile von Joh 1, Joh 5, Joh 8 und Joh 10 stark von der Zeugnisargumentation mit einem dominierenden „gerichtlichen Klang“18 geprägt, durch den die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden19 den Charakter eines gerichtlichen Prozesses bekommt: „Als ‚Zeugnis über jemanden‘ (περί τινος) ist das Zeugnis dieser joh Kapitel wirklich Teil einer Art Gerichtsverhandlung, bei der es um die Person Jesu geht.“20 Die narrative und theologische Funktion des Zeugnismotivs in den genannten Passagen steht jedoch nur am Rande der Untersuchung.21 HARVEY22 hat die historischen Traditionen hinter der johanneischen Darstellung untersucht und dabei auch zahlreiche Parallelen in frühjüdischen und rabbinischen Quellen ausgewertet. Auf systematische Weise werden die Anklage gegen Jesus, die genannten Zeugen sowie die Verteidigung und das Urteil an ausgewählten Stellen im Evangelium analysiert. Harvey konnte zeigen, dass das Evangelium christologische Aussagen über die literarisch eingesetzte Form des Rechtsstreites vermittelt.23 Die Untersuchung von Harvey verdeutlicht ferner, dass die Rechtsstreitmotivik neues Licht auf den Aufbau und die Gestaltung des Evangeliums werfen kann und insbesondere die ausgedehnten Dialoge und Debatten zwischen Jesus und den Juden besser verständlich werden lässt.24 Trotz dieser wesentlichen Impulse beschränkt sich die Arbeit in der Analyse der Rechtsstreitmotivik auf eine einseitige Rollenzuweisung, in der Jesus stets als Angeklagter und somit in einer verteidigenden Rolle vorausgesetzt wird.25 Dies wird jedoch weder der Rolle von Zeugen noch der johanneischen Darstellung selbst gerecht.26 Harvey stützt seine Untersuchung ferner auf zahlreiche rabbinische Quellen aus späterer Zeit und führt diese unreflektiert im Hinblick 17

Dies betrifft etwa die im Johannesevangelium dominierende Konstruktion μαρτυρέω περί, vgl. BEUTLER (1972), 223f. 18 BEUTLER (1972), 306. 19 Siehe zur Begriffsverwendung und Schreibweise ohne Anführungszeichen in der vorliegenden Untersuchung die Erklärung in Kapitel III,1, Anm. 5. 20 BEUTLER (1972), 306. 21 Den größten Raum nimmt die Untersuchung des sprachlichen Hintergrundes ein (BEUTLER [1972], 43–204). Die Untersuchung im johanneischen Kontext konzentriert sich fast ausschließlich auf die Identität verschiedener Zeugen im Evangelium und der traditionsgeschichtlichen Hintergründe der Texte (aaO., 237f.). 22 HARVEY (1976). 23 HARVEY (1976), 123. 24 Siehe dazu etwa HARVEY (1976), 49–55. 25 Dies wird der Darstellung im Evangelium nicht gerecht, wie in weiteren Forschungsarbeiten ersichtlich wurde. 26 Bereits BULTMANN (1986), 59 hatte eine subtile Rollenumkehrung in der Prozessdarstellung erkannt. Manche der von Harvey aufgeworfenen Fragen lassen sich besser beantworten, wenn die ambivalente Darstellung (Wende vom Angeklagten zum Richter) berücksichtigt wird.

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Kapitel I: Grundlagen

auf Gegebenheiten des Rechtsstreites im 1. Jh. n. Chr. an.27 Trotz dieser Beschränkungen bot die Untersuchung viele Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung.28 Fast zeitgleich behandelte TRITES29 das Konzept des Zeugen im Neuen Testament vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Darstellung.30 Nach Trites ist das Zeugnismotiv im Johannesevangelium wesentlich von der Konzeption des alttestamentlichen Rechtsstreites geprägt: „The idea of witness in John’s Gospel is both very prominent and thoroughly juridical, and is to be understood in terms of Old Testament legal language.“ Dabei lässt insbesondere der Rechtsstreit in Jes 40–55 wesentliche Parallelen und intertextuelle Beziehungen zum Johannesevangelium erkennen und erhellt die Rolle der Zeugen im johanneischen Kontext.31 Nach Trites liest sich die narrative Darstellung im Johannesevangelium wie ein diskursiver Prozess, bei dem starke Ähnlichkeiten zwischen dem Prozess zwischen Gott und der Welt in Jes 40–55 vorliegen.32 Aufgrund des breiten Untersuchungsgegenstands wird diese These wie auch die Diskussion der Relevanz für den johanneischen Kontext nicht eingehend begründet, wirft jedoch vielversprechende Forschungsfragen auf.33 Von alttestamentlicher Seite hat BOVATI34 die bis dato ausführlichste Studie zum alttestamentlichen Konzept des Rechtsstreites vorgelegt. Ihr kommt aufgrund der großen Bedeutung der alttestamentlichen Prätexte für die johanneische Darstellung besonderes Gewicht zu.35 Bovati konnte zeigen, dass der alttestamentliche Rechtsstreit sich in einer bilateralen und trilateralen Ausprägung präsentiert. In einem bilateralen Rechtsstreit (‫ ִ)ריב‬treten sich beide Streitparteien in einem Streitgespräch gegenüber und versuchen, den Gegner im Rechtsstreit vom eigenen Recht zu überzeugen. 36 Erst in einem trilateralen Prozess (‫)מ ְשׁפׇּט‬ ִ erfolgt eine Verhandlung mit Zeugen vor einem oder mehreren Richtern. Während beide Vorgänge juristisch sind, ist nur der zweite foren27

Die angeführten Quellen werden auch von LINCOLN (2000), 308; ASIEDU-PEPRAH (2001), 22 und BEKKEN (2014), 3 als zu späte Belege kritisiert. 28 Vgl. etwa die ausführliche Rezeption bei THYEN (2005), 167.206.319. 29 TRITES (1977). 30 Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Rechtsstreitmotivik in Jes 40–55; siehe TRITES (1977), 35–47. 31 Siehe hier TRITES (1977), 35–47 zu Jes 40–55. Trites schließt: „[T]he Fourth Gospel presents a controversy very similar to the one found in Isaiah 40–55“ (aaO., 79). 32 Siehe TRITES (1977), 79f. für eine Auflistung der Parallelen. 33 Dazu gehört die Frage nach der genauen forensischen Funktion der Zeugen sowohl im atl. Rechtsstreit als auch im joh. Kontext. 34 BOVATI (1994). 35 Siehe dazu etwa die Rezeption in der Studie von ASIEDU-PEPRAH (2001), die die Ergebnisse Bovatis auf die johanneischen Sabbatkontroversen anwendet. Die Implikationen der Studie von Bovati für die johanneische Darstellung der Rechtsstreitmotivik sind jedoch noch nicht hinreichend erfasst worden; vgl. dazu unten Anm. 43. 36 BOVATI (1994), 33.

1. Forschungsüberblick

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sisch.37 Bovati untersucht ferner die forensischen Rollen von Ankläger, Zeuge, Richter(n), ihre paradigmatischen Beziehungen und den Ablauf des alttestamentlichen Gerichtsprozesses.38 Dabei fördert Bovati Sachverhalte zutage, die in der bisherigen Forschung nicht hinreichend berücksichtigt wurden. So zeigt die Studie, dass Zeugen im atl. Rechtsstreit nahezu ausschließlich in der Anklage auftreten und nur in Ausnahmefällen eine verteidigende Funktion innehaben.39 Überhaupt ist das Konzept einer neutralen gerichtlichen Verteidigung im atl. Rechtsstreit nach Bovati nicht existent: Der Angeklagte bleibt entweder stumm und gesteht damit seine Schuld ein40 oder begegnet der Anklage mit einer Gegenklage. Insbesondere fungiert eine erfolgreiche Verteidigung damit immer zugleich als Anklage des Anklägers. 41 Bovati fordert von daher, die Konsequenzen dieser Grundkonzeption des alttestamentlichen Rechtsstreites in die neutestamentliche Wissenschaft einzubringen.42 Dies ist jedoch, insbesondere auf dem Gebiet der johanneischen Forschung, noch nicht hinreichend geschehen.43 SHEPPARD44 hat die erste vollständige Untersuchung vorgelegt, die das Johannesevangelium in seiner Makrostruktur unter dem Aspekt des gerichtlichen Prozesses liest. Dabei werden Ähnlichkeiten zum römischen Prozessablauf nachgezeichnet und auf die rhetorische Anlage des Evangeliums projiziert. Sheppard vertritt die Ansicht, dass das Evangelium in seiner Struktur einer forensischen Argumentation der griechisch-römischen Kultur entspricht und die 37 Siehe zum Befund BOVATI (1994), 32f.; vgl. dazu auch die Rezeption von BOVATI (1994) unter Aufnahme dieses Befundes bei STETTLER (2011), 18. 38 BOVATI (1994), 389. 39 Vgl. dazu etwa BOVATI (1994), 265f. Siehe zu diesem Befund im atl. Kontext auch unten Kapitel II,1.4.3. 40 BOVATI (1994), 340–342. 41 BOVATI (1994), 331: „In other words, my thesis is this: there is no such thing as a ‚neutral‘ defence: defence is to accuse the accuser.“ 42 BOVATI (1994), 392: „From this point of view, it would be necessary to carry my analysis through into the New Testament, in order to pick out the elements of continuity and discontinuity with which, in the Christian perspective, the biblical tradition is interpreted through to its fulfilment.“ Eine Relevanz für neutestamentliche Texte, die intertextuell auf die atl. Prozessordnung Bezug nehmen, deutet Bovati nur an (aaO., 392f.). 43 Die Beobachtungen von Bovati sind in einer Untersuchung von STETTLER (2011) bereits mit großem Gewinn auf die neutestamentliche eschatologische Gerichtsmotivik angewendet worden. Stettler untersuchte die Gerichtsmotivik sowohl im Alten Testament als auch im Neuen Testament und nimmt dabei wichtige Begriffsklärungen von Bovati zu Zeugen, Anklage, Rechtsstreit und Prozess auf, berücksichtigt jedoch die johanneische Darstellung nicht. Eine Anwendung auf das Johannesevangelium nimmt ASIEDU-PEPRAH (2001) vor, beschränkt sich dabei jedoch auf Joh 5 und Joh 9–10 und simplifiziert ferner die Ambivalenz der johanneischen Darstellung zugunsten einer reduktionistischen Übertragung atl. Konzepte in die Darstellung des Johannesevangeliums (siehe unten zur Untersuchung von ASIEDU-PEPRAH [2001]). 44 SHEPPARD (1999).

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Kapitel I: Grundlagen

auffällige Betonung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik hier ihren Platz findet.45 Damit wird zugleich der rhetorisch-persuasive Charakter des Evangeliums und seiner Reden mit der starken forensischen Begrifflichkeit verbunden.46 Die bisher ausführlichste Untersuchung der Prozessmotivik im Johannesevangelium hat LINCOLN 47 vorgelegt. Aufbauend auf der Untersuchung von Trites, sieht auch Lincoln Jes 40–55 als zentralen Prätext für das Motiv des Rechtsstreites an.48 Nach Lincoln ist die Rechtsstreitmotivik nach der einzigartigen Christologie das hervorstechendste Charakteristikum des Evangeliums und vereint wesentliche Motive und Themen der johanneischen Darstellung.49 Unabhängig von der Frage, ob es gerechtfertigt ist, der Rechtsstreitmotivik im Johannesevangelium eine solche Bedeutung beizumessen, 50 hat Lincoln demonstriert, dass sich die gesamte narrative Darstellung unter dem Motiv des Rechtsstreites lesen lässt und damit neue Perspektiven und Zusammenhänge eröffnet. In seiner Untersuchung verknüpft Lincoln narratologische Analysen mit Fragen nach dem historischen Hintergrund der johanneischen Gemeinschaft und der sozio-historischen Bedeutung des Rechtsstreitmotivs. Nach Lincoln erfüllt das Rechtsstreitmotiv zugleich eine wesentliche persuasive Funktion für die Lesenden in Bezug auf den Glauben an Jesus als den Sohn Gottes.51 Die Untersuchung hat sich damit als richtungsweisend in Bezug auf die Funktion der Rechtsstreitmotivik erwiesen, musste jedoch wesentliche Aspekte unberücksichtigt lassen.52 So sieht Lincoln zwar in der Untersuchung eine doppelte Ebene im Sinne einer „two storey story“53, bei der der Erzähler jeweils eine himmlische (‚von oben‘) und eine irdische (‚von unten‘) Perspektive auf die Handlung ermöglicht, zeigt dabei aber nicht auf, wie in einer komplexen Dynamik der narrativen Darstellung beide Perspektiven ineinanderübergehen

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SHEPPARD (1999), 196–199. Dieses Ergebnis ist unabhängig davon, ob der spekulative Gliederungsvorschlag des Evangeliums bei SHEPPARD (1999), 196f. als überzeugend empfunden wird, als wesentliche Einsicht der Untersuchung festzuhalten. 47 LINCOLN (2000); vgl. auch die kompakte Darstellung der wichtigsten Thesen bei LINCOLN (2014). 48 LINCOLN (2000), 38: „But it is Isa 40–55 in particular that provides the resources for the Fourth Gospel’s narrative.“ 49 LINCOLN (2000), 13. 50 Siehe hier etwa die Rezeption in den Arbeiten von BEKKEN (2014), 8. 51 Vgl. LINCOLN (2000), 177. 52 Diese wurden in neueren Arbeiten zur Prozessmotivik im Johannesevangelium herausgestellt, die sich auf die Untersuchung von LINCOLN (2000) beziehen, etwa in der Arbeit von BEKKEN (2014). Bekken (aaO., 8) kritisiert darin, dass die Kapitel Joh 1–11 als einzelne Szenen und damit als „mini-trials“ vor dem eigentlichen Prozess vor Pilatus zergliedert werden, wodurch ein Problem mit der zusammenhängenden Erzählintention entsteht. 53 Siehe LINCOLN (2000), 20. 46

1. Forschungsüberblick

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oder spannungsvoll koexistieren können.54 Ferner mussten aufgrund der Konzentration auf die narrative Gesamtkonzeption des Evangeliums wesentliche Passagen, in denen die Rechtsstreitmotivik zentral ist, unberücksichtigt bleiben (so fehlt eine narratologische Analyse von Joh 1, Joh 7, Joh 8 und Joh 10). Dennoch hat Lincoln durch den wichtigen Forschungsbeitrag wie kaum ein anderer die Bedeutung der Prozessmotivik und ihre tiefe Verankerung im Evangelium herausgearbeitet und damit eine wichtige Grundlage für weitere Arbeiten gelegt. Parallel zu der Studie von Lincoln55 hat ASIEDU-PEPRAH,56 aufbauend auf den Studien von Harvey57 und Bovati,58 die zentrale Bedeutung des alttestamentlichen Rechtsstreitmotivs betont und in einer detaillierten Untersuchung des Sabbatkonflikts in Joh 5,1–47 und Joh 9,1–10,21 angewandt. Die Untersuchung wendet zum ersten Mal die wichtigen Forschungsergebnisse der Studie von Bovati auf das Johannesevangelium an und baut dabei auf der Unterscheidung zwischen einer bilateralen und einer trilateralen Form des Rechtsstreites auf. 59 Dabei kritisiert Asiedu-Peprah, dass in der Untersuchung der Rechtsstreitmotivik im vierten Evangelium zwar häufig der maßgebliche Hintergrund der alttestamentlichen Motivik betont wird, diese jedoch vorschnell und wenig differenziert auf eine ausschließlich trilaterale Form des Prozesses reduziert wird.60 Nach Asiedu-Peprah korrespondieren Joh 5 und Joh 9–10 nach Form und Inhalt dagegen ausschließlich mit einer bilateralen Form des alttestamentlichen Rechtsstreites, während erst in Joh 18–19 ein trilateraler Prozess folgt.61 Asiedu-Peprah hat damit eine gegensätzliche Interpretation zu Lincoln vorgenommen und dadurch der Ansicht einen Weg bereitet, dass Joh 18–19 den einzigen tatsächlichen Prozess im Johannesevangelium erzählt, von dem sich die bilateralen Streitgespräche in Joh 2–12 deutlich abheben. Mit dieser Sichtwiese erfolgt zwar eine wichtige Differenzierung in Bezug auf die alttestamentliche Motivik, jedoch bleibt fraglich, ob diese schematische Kategorisierung der 54 Auf die Existenz einer doppelten Perspektive der Prozessschilderung hat schon BLANK (1959), 64 in einer Untersuchung zu Joh 18,28–19,16 aufmerksam gemacht: „Daher ist in dieser Situation fast jedes Wort paradox. Jede Handlung hat ihren Vordergrund, aber auch ihre Hintergründigkeit, die den Vordergrund aufhebt, ungültig macht und in Frage stellt.“ 55 Die Monografie von Lincoln ist in die Untersuchung von Asiedu-Peprah nicht mehr eingeflossen und fehlt in der Bibliografie. Asiedu-Peprah verfolgt in Bezug auf den narrativen Schwerpunkt, den Bezug auf eine Leserperspektive und die Betonung der maßgeblichen Bedeutung des alttestamentlichen Rechtsstreitmotivs eine ähnliche Methodik wie Lincoln, kommt aber in Bezug auf die Anwendung der alttestamentlichen Motive zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen. 56 ASIEDU-PEPRAH (2001). 57 HARVEY (1976); siehe dazu oben. 58 BOVATI (1994); siehe dazu oben. 59 ASIEDU-PEPRAH (2001), 13–24. 60 ASIEDU-PEPRAH (2001), 9. 61 ASIEDU-PEPRAH (2001), 233f.

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Kapitel I: Grundlagen

komplexen und häufig ambivalenten johanneischen Darstellung gerecht wird.62 Mit dem Schwerpunkt auf der Untersuchung des Sabbatkonflikts hat AsieduPeprah dennoch in ausführlichen Einzelanalysen von Joh 5 und Joh 9–10 die Bedeutung des alttestamentlichen Hintergrundes demonstriert und eine Ausweitung auf weitere Passagen nahegelegt. KÖSTENBERGER 63 widmet in seiner johanneischen Theologie der Rechtsstreitmotivik im Johannesevangelium ein ganzes Kapitel64 und baut dabei speziell auf der Arbeit von Lincoln65 auf. Diese Gewichtung veranschaulicht, dass die Rechtsstreitmotivik zunehmend als integraler Bestandteil johanneischer Theologie wahrgenommen wird. Die Darstellung setzt sich jedoch fast ausschließlich mit dem Prozess vor Pilatus in Joh 18–19 auseinander.66 Dass auch die Kapitel in Joh 1–12 einen wesentlichen Beitrag zu dieser Thematik leisten, wird zwar angedeutet,67 aber weder begründet noch ausgeführt. PARSENIOS68 hat in Fortsetzung vorangegangener Arbeiten die starke forensische Motivik des Johannesevangeliums betont und im Lichte antiker Rhetorik und antiker Dramen untersucht. 69 Dabei betont Parsenios die doppelte Ebene der Darstellung, nach der sich die Rollen von Ankläger und Richter im Prozess Jesu vor Pilatus narrativ umzukehren scheinen.70 Diese Umkehrung ist nach den Ergebnissen der Studie nicht auf den Prozess vor Pilatus beschränkt, sondern fungiert geradezu als Schlüssel für die vorherigen Auseinandersetzungen71 und erfordert daher eine Untersuchung ähnlicher Doppeldeutigkeiten in der narrativen Rollenzuweisung von Angeklagtem, Zeuge und Richter auf andere Passagen des Evangeliums.72 Nach Parsenios ist dies das Programm, nach 62 ASIEDU-PEPRAH (2001) sieht die Streitgespräche zwischen Jesus und den Juden als bilateralen Rechtsstreit im Sinne eines Vorprozesses vor dem gerichtlich ausgetragenen trilateralen Prozess. Wie sich dies jedoch damit verhält, dass im Johannesevangelium kein jüdischer Prozess ausgeführt wird, bleibt offen. Damit ergibt sich zugleich eine auffallende Misskonzeption, da der Prozess vor Pilatus kein äquivalentes Gegenstück zum bilateralen jüdischen Rechtsstreit alttestamentlicher Prägung ist und auch narrativ nicht mehr an die bilaterale Phase mit ihrer rein innerjüdischen Perspektive anknüpft. 63 KÖSTENBERGER (2009). 64 KÖSTENBERGER (2009), 436–456. 65 LINCOLN (2000). 66 KÖSTENBERGER (2009), 441–454. 67 So sagt KÖSTENBERGER (2009), 439 über das Auftreten Jesu in Joh 1–12: „[H]is entire ministry is a trial (John 1–12).“ 68 PARSENIOS (2010). 69 PARSENIOS (2010), 2 postuliert: „[T]he pronounced judicial character of Joh is shaped by the language and procedures of ancient rhetoric and ancient tragedy.“ 70 PARSENIOS (2010), 39: „Pilate […] is de facto falling under the judgment of Jesus.“ 71 Vgl. PARSENIOS (2010), 39: „The legal character of Jesus’ life is not confined to the trial before Pilate, and terms like witness and judgment that are inherently legal outside the Gospel of John are also understood in a legal sense within the Fourth Gospel.“ 72 PARSENIOS (2010), 39.

1. Forschungsüberblick

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dem auch Joh 1–12 untersucht werden muss.73 Das ist bisher jedoch noch nicht geschehen. Eine Untersuchung von Joh 1–12 erfolgt auch bei Parsenios selbst nicht, vielmehr konzentriert sich seine Untersuchung auf die Prozessmotivik aus der Perspektive des Dramas vor dem Hintergrund griechischer und römischer Dramen und hat damit einen sehr eingeschränkten Fokus. Die aktuellste Studie zur Prozessmotivik im Johannesevangelium hat BEKKEN74 vorgelegt. In der stark historisch ausgerichteten Untersuchung analysiert Bekken das gerichtliche Vorgehen der Juden gegen Jesus im Kontext von Parallelen bei Philo von Alexandrien und zeigt dabei starke Ähnlichkeiten zu philonischen Beschreibungen irregulärer gerichtlicher Spontanverfahren, deren Urteile in Form von Lynchjustiz unabhängig von der römischen Gerichtsbarkeit direkt vollstreckt wurden.75 Im Mittelpunkt der Untersuchung steht damit der Vergleich des Johannesevangeliums mit philonischen Texten,76 durch die die Analyse johanneischer Texte auf wenige Verse beschränkt bleibt.77 Eine detaillierte Exegese der johanneischen Texte in ihrem narrativen Zusammenhang findet damit nicht statt. Neben diesen ausführlichen Untersuchungen, in denen Teile der Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium aus jeweils unterschiedlicher Perspektive beleuchtet werden, existiert eine Anzahl weiterer Studien zu Einzelaspekten wie der Funktion von Zeugen,78 dem Gesetz,79 dem prozesshaften Charakter einzelner Passagen 80 oder dem Prozess vor Pilatus. 81 Weitere Teilaspekte finden sich in den Kommentaren von THYEN82 und LINCOLN,83 in denen die bisherigen Forschungsarbeiten zur Prozessdarstellung bereits rezipiert wurden.

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PARSENIOS (2010), 39f. Dass eine doppelte Erzählebene auch vor Joh 18–19 gegenwärtig ist, deutet Parsenios nur an: Wenige Beispiele (3,31–36; 5,25; 8,14–16) zeigen nach Parsenios, „that this dynamic operates not only in the trial before Pilate, but throughout the entire Gospel of John“ (aaO., 39). 74 BEKKEN (2014). 75 BEKKEN (2014), 23f. 76 BEKKEN (2014), 15. 77 So konzentriert sich die Untersuchung maßgeblich auf Joh 5,31–40; 8,12–20; 10,31– 39 und auch dabei in erster Linie auf die Darstellung des philonischen Vergleichsmaterials. 78 So etwa die Untersuchungen von BOICE (1970) und SIMPSON (2014). 79 Im Zuge der Untersuchung zum Gesetz im Johannesevangelium thematisiert die Studie von PANCARO (1975) auch Aspekte des Rechtsstreites. 80 Siehe dazu etwa NEYREY (1987) zu Joh 8,21–59 oder NEYREY (1996) zu Joh 7. 81 Aus der Fülle von Arbeiten zum Prozess vor Pilatus in Joh 18–19 seien hier nur die Untersuchungen von BLANK (1959); SCHLIER (1966b); RENSBERGER (1984); MELBA (1991); STIBBE (1992); SÖDING (1996); KÖSTENBERGER (2005) und die bisher ausführlichste narrative Analyse zur Passage von GNIESMER (2000) genannt. 82 THYEN (2005). 83 LINCOLN (2005).

2. Zielrichtung der Studie 2.1. Identifikation von weiterem Forschungsbedarf Die Bedeutung forensischer Sprache und Motivik im Johannesevangelium ist nach dem oben gegebenen Forschungsüberblick in einer wachsenden Anzahl von Forschungsarbeiten erkannt und untersucht worden.1 Vornehmlich jüngere Arbeiten beschäftigen sich mit einzelnen Aspekten der Rechtsstreit- und Prozessmotivik. Dabei ist vermehrt die These geäußert worden, dass insbesondere die Beschreibung der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 1–12 eine narrative Beschreibung eines Gerichtsprozesses ist, in dem Ankläger, Angeklagte, Zeugen, Richter, Anklage- und Verteidigungsreden sowie Urteile genannt werden.2 Dennoch liegt bisher weder eine dezidierte narratologische Untersuchung zu diesen Kapiteln noch eine ausführliche Gesamtschau vor.3 Bisherige Untersuchungen liefern damit einerseits wichtige Vorarbeiten zu einzelnen Aspekten der Darstellung, fördern andererseits aber nicht nur wichtige Erkenntnisse, sondern auch weitere Forschungsfragen zutage. So ist zwar vermehrt erkannt worden, dass die narrative Darstellung in Joh 1–12 auf doppelter Ebene angelegt ist und damit forensische Rollen unterschiedlich verteilt werden,4 dennoch sind die narrativen Mechanismen dieser Darstellung, die Dynamik der zwei Ebenen im Neben- und Ineinander sowie ihre narrative Funktion bisher nicht eingehend analysiert worden. Die Notwendigkeit einer sol1

Die wachsende Bedeutung der Prozessmotivik in der johanneischen Forschung zeigt sich exemplarisch in der Integration eines eigenen Kapitels in der Theologie von KÖSTENBERGER (2009) unter dem Stichwort „The Cosmic Trial Motif“ (aaO., 437–456). 2 So etwa die Bemerkungen bei LINCOLN (2014), 146; PARSENIOS (2010), 39f.; BEUTLER (1972), 306; KÖSTENBERGER (2009), 439; THYEN (2005), 167; SÖDING (1996), 37; GNIESMER [2000], 380; PANCARO (1975), 70f. 3 Die bisher ausführlichste Untersuchung zu Joh 1–11 von LINCOLN (2000) umfasst nur ca. 50 Seiten (aaO., 57–110); dabei bleiben Passagen wie Joh 1,1–18; 7,14–31; 10,1–42 unberücksichtigt. Bisherige Untersuchungen haben zudem häufig einen synoptischen Vergleich im Blick und bewerten die johanneische Darstellung vor dem Hintergrund synoptischer Vorlagen. Notwendig ist jedoch eine Untersuchung, die die narrative Darstellung im Johannesevangelium in ihrem eigenen Recht und als eigenständiges Werk wahrnimmt und untersucht. 4 Vgl. dazu insbesondere LINCOLN (2000), 20.

2. Zielrichtung der Studie

17

chen Untersuchung hat schon Borgen als Forschungsaufgabe formuliert: „[Studies] should pay more attention to theological movements between the earthly and heavenly levels when Johannine stories about misunderstandings and conflict are analyzed.“5 Dass dabei insbesondere eine Leserperspektive in die Untersuchung mit einbezogen werden muss, ist bereits vermehrt erkannt worden.6 Bisherige Arbeiten beschränken die Leserperspektive jedoch zu stark auf eine sozio-historische Rekonstruktion der Erstleser (reale Leser) im Kontext der johanneischen Gemeinde und verzichten auf eine konsequente narratologische Untersuchung des impliziten Lesers unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten.7 Während sich andere Studien bei der Betrachtung der Streitgespräche zwischen Jesus und den Juden auf die historische Dimension der Auseinandersetzung konzentrieren und untersuchen, welche Prozessordnung dabei maßgeblich im Hintergrund stehen könnte,8 ist weit weniger bedacht worden, ob nicht die narrative Darstellung deutlich mehr Interesse an der metaphorischen Dimension des Rechtsstreites als Vehikel der Botschaft des Evangeliums hat. Dies erfordert eine Anwendung des in anderen Bereichen der johanneischen Theologie bereits vielfach mit Erfolg angewandten Methodeninstrumentariums der Bild- und Symbolsprache auf die forensische Metaphorik des Evangeliums.9 Im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen zu einzelnen forensischen Begriffsfeldern ist damit eine Gesamtschau auf die forensische Bildersprache des Evangeliums als Motivkomplex des Rechtsstreites notwendig, der verschiedene untergeordnete Motive und Metaphern vereint.10 Wesentliche bildspendende Elemente entstammen dabei der alttestamentlichen Bilder- und Motivsprache, wie in neueren Untersuchungen zur Rechtsstreitmotivik im Johannesevangelium dargelegt wurde.11 Diese beschränkt sich nicht auf eindimen5 BORGEN (2007), 57. Dieser Notwendigkeit schließt sich auch BEKKEN (2014), 11f. an, ohne dem in seiner Studie jedoch selbst nachzugehen. 6 So etwa in den Studien von LINCOLN (2000) und ASIEDU-PEPRAH (2001). 7 Dies gilt insbesondere für die Arbeiten von LINCOLN (2000) und ASIEDU-PEPRAH (2001). Siehe zur Begrifflichkeit CULPEPPER (1987), 6; vgl. ferner die Ausführungen zur Methodik unten in Abschnitt 3. 8 So etwa in den Studien von SHEPPARD (1999) im Hinblick auf die römische Prozessrhetorik, ASIEDU-PEPRAH (2001) im Hinblick auf den alttestamentlichen Rechtsstreit, sowie HARVEY (1976) in Bezug auf jüdisches und rabbinisches Recht und BEKKEN (2014) auf frühjüdische Rechtspraxis nach philonischen Texten. 9 Methoden zur Untersuchung der Symbol-, Bild- und Metaphernsprache finden sich etwa in den Monografien von LEE (1994), VAN DER WATT (2000) und ZIMMERMANN (2004). 10 Siehe hier auch den Aufsatz von ZIMMERMANN (2009), der auf die Notwendigkeit hinweist, Motivkomplexe als ‚metaphorische Netzwerke‘ in ihrer Gesamtheit zu untersuchen (aaO., 382f.). Das Vorgehen von Zimmermann erweist sich als fruchtbar, wurde jedoch noch nicht in Bezug auf die forensische Bildersprache des Evangeliums angewandt. 11 Siehe hier insbesondere die Untersuchungen von BLANK (1964); TRITES (1968); LINCOLN (2000); ASIEDU-PEPRAH (2001) und STETTLER (2011).

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Kapitel I: Grundlagen

sionale Begriffe, 12 sondern ist selbst als metaphorisches Netzwerk angelegt und als solches in der johanneischen Darstellung präsent.13 Für die Ermittlung der forensischen Elemente, die in der johanneischen Darstellung intertextuell rezipiert werden, sind diese metaphorischen Netzwerke auch außerhalb des bereits mehrfach hervorgehobenen Hintergrundes von Jes 40–55 zu suchen.14 Gerade im Bereich der alttestamentlichen Rechtsstreitmotivik zeigt die neuere Forschung jedoch notwendige Differenzierungen in Bezug auf die Formen des alttestamentlichen Rechtsstreites, die Funktion von Zeugen im Prozess,15 die forensischen Doppelrollen16 und die besondere Metaphorik des Rechtsstreites zwischen Gott und Menschen, die bisher nicht hinreichend für die Untersuchung der forensischen Metaphorik im Johannesevangelium berücksichtigt wurden.17 Damit ist bisher offen, in welcher Beziehung diese bereits im alttestamentlichen bildspendenden Bereich angelegten Ambivalenzen und Doppelrollen zur doppelten Darstellung der forensischen Rollen in der johanneischen Darstellung stehen.

2.2. Ziel der Untersuchung Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die in der Forschung bereits vielfach beobachtete Häufung von Begriffen und Motiven aus dem Umfeld des Rechtsstreites und der Prozessdarstellung (siehe Abschnitt 1). Diese zieht sich 12 Siehe hier die auf bestimmte Lexeme oder stark abgegrenzte Begriffe beschränkten Studien von BEUTLER (1972) zu μαρτυρία, TRITES (1977) zu μάρτυς und BLANK (1964) zu κρίσις. 13 So zeigt BOVATI (1994), 363–371 die Bedeutung der (bei Joh ebenfalls höchst bedeutsamen) Lichtmetaphorik in der alttestamentlichen Bildersprache des Rechtsstreites. In anderen Motivfeldern wurden intertextuelle Beziehungen zu alttestamentlichen Motivkomplexen bereits dargelegt (siehe etwa KURZ [1997]). Siehe zum Begriff des metaphorischen Netzwerkes als Makroverband unterschiedlicher Metaphern ZIMMERMANN (2009), 381–387. 14 Siehe für eine ausführliche Betrachtung der Relevanz von Jes 40–55 im Johannesevangelium die Untersuchungen von LINCOLN (2000) und TRITES (1977). Daneben sind für die johanneische Darstellung auch andere atl. Traditionen, etwa die weisheitliche Dimension des Rechtsstreites in Hiob (vgl. LINCOLN [2000], 38) oder der Bezug auf das Zeugenrecht im Pentateuch (vgl. SHERIDAN [2015], 166–179) relevant. 15 Von besonderer Relevanz ist dabei die Frage nach den Konsequenzen für das johanneische und stark vom alttestamentlichen Zeugenrecht geprägte Zeugnisthema vor dem Hintergrund einer prädominanten Funktion von Zeugen in der Anklage, wie sie BOVATI (1994), 265f. für den alttestamentlichen Rechtsstreit dargelegt hat. 16 Dies betrifft sowohl die Doppelrolle des Zeugen als Ankläger und Zeugen sowie die Doppelrolle Gottes als Richter und Ankläger im prophetischen Rechtsstreit. 17 Siehe hier insbesondere die ausführliche Untersuchung von BOVATI (1994) zur Sprache, Motivik und zu den komplexen Rollen und Rollenbeziehungen im alttestamentlichen Rechtsstreit.

2. Zielrichtung der Studie

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durch das ganze Evangelium, tritt jedoch am stärksten in den in Joh 1–12 erzählten Streitgesprächen zwischen Jesus und den Juden in den Vordergrund. Trotz einer zunehmenden Anzahl von Studien zur Rechtsstreit- und Prozessmotivik liegt damit weder eine narratologische Gesamtschau zu Joh 1–12 vor, noch wurde die bild- und symbolhafte Dimension der Prozessmotivik hinreichend thematisiert, insbesondere vor dem Hintergrund alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik, der dabei angelegten forensischen Rollenfunktionen und ihrer Verbindung zur johanneischen Darstellung. Die vorliegende Studie adressiert diese Forschungsfragen durch eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik, die sich auf Joh 1–12 konzentriert und dabei die forensische Bildersprache, die involvierten forensischen Rollen und ihre Funktion in der von doppelten Erzählebenen geprägten johanneischen Darstellung als metaphorisches Netzwerk vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Bildsprache analysiert. Die Rechtsstreit- und Prozessmotivik soll mit Methoden der narratologischen Analyse sowie mit Methoden der Analyse johanneischer Bild- und Motivsprache untersucht werden. Dabei steht zum einen die Frage im Mittelpunkt, ob sich die gelegentlich geäußerte These, dass es sich in Joh 1–12 um einen narrativ geschilderten Gerichtsprozess handele, anhand einer detaillierten Einzeluntersuchung relevanter Texte sowie in der dramaturgischen Makrostruktur belegen lässt. Zum anderen soll untersucht werden, wie die komplexe johanneische Darstellung die alttestamentliche Rechtsstreit- und Prozessmotivik aufnimmt und auf welche Art die forensischen Rollen in der doppelten Erzählebene des Evangeliums als symbolische Rollen verwendet werden. Dabei ist insbesondere die Frage nach der Funktion der Rechtsstreitmotivik in Bezug auf die Lesenden und ihre theologische Verortung im Evangelium von Belang.

3. Verwendete Analysemethoden Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die narrative Darstellung im Johannesevangelium unter Berücksichtigung der metaphorischen Dimension des Rechtsstreites und forensischer Motive. Das dabei verwendete Methodeninstrumentarium umfasst daher sowohl narratologische Analysemethoden als auch Methoden zur Untersuchung der johanneischen Bild- und Motivsprache.

3.1. Narratologische Analyse Narratologische Analysemethoden gehören zu den literaturwissenschaftlichen hermeneutischen Ansätzen und haben sich in der bisherigen Forschung insbesondere für die Auslegung des Johannesevangeliums als fruchtbar erwiesen.1

1

Vgl. SÖDING (1998), 69. Narrative Analysemethoden wurden neben ALONSO-SCHÖKEL (1971)[1963] zunächst von den jüdischen Literaturwissenschaftlern ALTER (1981), BAREFRAT (2006)[1979] und STERNBERG (1985) theoretisch begründet und verhalfen narrativen Exegesemethoden in der Anwendung auf alttestamentliche Texte zum Durchbruch. Daneben beziehen literaturwissenschaftliche Ansätze jedoch schon früh die Analyse von Evangelientexten ein, wie ein Blick in die ersten Ausgaben der zur Entwicklung und Verbreitung literarischer Textinterpretationsmethodik im Jahr 1976 gegründeten Zeitschrift Semeia zeigt. Dabei wird deutlich, dass sich insbesondere das Johannesevangelium mit seinem dramaturgischen Aufbau und den groß angelegten Erzähl- und Redeeinheiten besonders für die Anwendung literaturwissenschaftlicher Ansätze eignet (vgl. die Darstellung über den Beginn narrativer Forschung am Johannesevangelium bei ZUMSTEIN [1996], 16 und STIBBE [1992], 9–12; siehe zu Vorzügen der synchronen Leseweise im Johannesevangelium auch SCHNELLE [1996], 64f. und vor allem den wegweisenden Kommentar von THYEN [2005]; vgl. ferner die beiden Ausgaben von Semeia 53 [1991] und Semeia 85 [1999], die sich ganz den verschiedenen literaturwissenschaftlichen Studien zum Johannesevangelium widmen). FREY (2008) spricht in Bezug auf das Johannesevangelium geradezu von einer „Wende zur synchronen Interpretation“ (aaO., 746) und einer „Trendwende zu stärker synchron ausgerichteten Interpretation des Joh“ (aaO., 750); vgl. zur Forschungsgeschichte narrativer Ansätze der Johannesinterpretation ausführlich aaO., 744–752. Dabei wurde in der Forschung zunehmend deutlich, wie sich Theologie und Christologie im vierten Evangelium anhand der narrativen Struktur entfalten (siehe hier STIBBE [2006]; vgl. auch die Bezeichnung „Narrative Theology“ bei MOTYER [2006], 195). Siehe für eine methodische Fundierung narrativer

3. Verwendete Analysemethoden

21

Sie gehen stets vom Text in seiner Endgestalt2 aus und konzentrieren sich dabei auf folgende Aspekte: Zunächst wird zwischen dem realen Autor, dem impliziten Autor (oder Erzähler), dem impliziten Leser sowie dem geschichtlichen Adressaten als realem Leser differenziert.3 Der implizite Autor unterscheidet sich vom realen Autor als Verfasser des Textes dadurch, dass er vom Lesenden nur durch Rückschlüsse aus dem Text wahrgenommen wird.4 Umgekehrt wird mit dem impliziten Leser der vom Autor imaginierte ideale Leser bezeichnet, der sich vom realen Leser unterscheidet. In der narratologischen Analyse des Johannesevangeliums steht der implizite Autor als Erzähler dem impliziten Leser (im Folgenden auch vereinfachend Lesender) gegenüber.5 Die Erzählung vermittelt in der Art der Darstellung den Standpunkt des Erzählers,6 der dem Lesenden über Interpretationssignale seine Sicht vermitteln und die Sichtweise des Lesenden durch die Erzählung ändern möchte.7 Exegese speziell zum Johannesevangelium die Studien von CULPEPPER (1987); STIBBE (1992); STIBBE (1993); TOLMIE (1999); THATCHER/MOORE (2008) und ESTES/SHERIDAN (2016). 2 Die Konzentration auf die Endgestalt des Textes formuliert CULPEPPER (1987), 49: „In its present form, if not in its origin, the gospel must be approached as a unity, a literary whole.“ Das schließt diachrone Fragen nach der Entstehung des Textes aus der Betrachtung aus, nicht aber partielle textkritische Erwägungen. Für die Arbeit am Text des Johannesevangeliums wird in der vorliegenden Arbeit der Text von NA28 zugrunde gelegt und, wo notwendig, werden textkritische Abweichungen in Erwägung gezogen (vgl. ähnlich CULPEPPER [1987], 5). 3 Siehe BAR-EFRAT (2006), 33–56; SCHUNACK (1996), 43; SCHNELLE (1996), 63. Aufgrund der festen Prägung als termini technici werden diese narratologischen Begriffe im Folgenden nicht inklusiv formuliert. 4 Siehe POWELL (1993), 19; TOLMIE (1999), 6; CULPEPPER (1987), 15–18. Der implizite Autor ist daher das Bild des realen Autors nach dem, was dieser von sich im Text zu erkennen gibt. 5 In der Narratologie werden impliziter Autor und Erzähler sowie Leser und impliziter Leser unterschieden (CULPEPPER [1987], 6–8; TOLMIE [1999], 6–9). Bereits in theoretischer Hinsicht sieht Culpepper keinen maßgeblichen Unterschied zwischen den Konzepten (aaO., 7) und setzt sie im speziellen Kontext des Johannesevangeliums gleich: „In John the implied reader is scarcely distinguishable from the narratee, just as the implied author can hardly be separated from the narrator“ (aaO., 8; für eine weitere Diskussion siehe auch aaO., 43–49). In der vorliegenden Arbeit wird daher meist vereinfachend vom Erzähler und Lesenden gesprochen. 6 Siehe hierzu KLINK (2016a), 241–257. Insbesondere ist eine Leserperspektive nicht auf die Erstleser beschränkt und erfordert keine historische Rekonstruktion der johanneischen Gemeinschaft. Für die didaktische Dimension der Narratologie siehe ZIMMERMANN (2004), 79. 7 Siehe hierzu CULPEPPER (1987), 4; TOLMIE (1999), 29–38 sowie FREY (2000a), 332f. Das wesentliche Ziel der Erzählung im Johannesevangelium ist damit, eine bestimmte Überzeugung zu wecken (siehe Joh 20,31). Siehe für diese persuasive Funktion der narrativen Gestaltung des Evangeliums auch SHERIDAN (2016), 213–223. Vgl. zur narrativen und durch

22

Kapitel I: Grundlagen

Die Grundbestandteile einer Erzählung sind durch den Rahmen, die Charaktere und die Handlung gegeben.8 Der Rahmen setzt die Randbedingungen fest, unter denen sich schließlich die Handlung ereignet, und umfasst den geografischen, zeitlichen, sozialen und historischen Kontext einer Erzählung.9 Die Charaktere sind die für die Handlung wichtigen Personen.10 Charaktere können Einzelpersonen (z. B. Jesus, Pilatus) sein; es können aber auch ganze Menschengruppen (z. B. ‚die Jünger‘, ‚die Juden‘) als kollektiver Charakter fungieren.11 Personen sind die tragenden Akteure in Erzählungen. Sie werden durch Worte und Taten beschrieben, die für den Erzähler ein wichtiges Mittel der Charakterisierung darstellen.12 Ihre Charakterisierung hat oft eine wichtige Funktion für die Erzählintention.13 Charakterisierungen werden dabei nur selten direkt vorgenommen,14 sondern meist indirekt durch Worte und Taten ausgedrückt, wodurch ein mehrdimensionales Bild eines Charakters entsteht. 15 Umgekehrt kann ein Akteur auch dadurch charakterisiert werden, dass Taten oder Worte nicht erzählt und bewusst zurückgehalten werden. 16 Charaktere dienen im Johannesevangelium nicht nur dazu, verschiedene Aspekte im Wesen Jesu zu verdeutlichen, sondern auch als unterschiedliche Handlungsmodelle, an denen der Lesende sein eigenes Verhalten reflektieren und die Konsequenzen einer Handlungsweise erkennen kann.17 Erzählung vermittelten Ethik im Johannesevangelium auch den Überblick bei ZIMMERMANN (2012), 63–74. 8 SCHUNACK (1996), 44. 9 Der Rahmen kann sich auf die ganze Erzählung in ihrer Makrostruktur beziehen, aber auch kleinere Erzählabschnitte wie Szenen strukturieren. 10 Vgl. zu Charakteren im Johannesevangelium ausführlich CULPEPPER (1987), 101–148 sowie TOLMIE (1999), 36–59. 11 CULPEPPER (1987), 106–132. 12 Siehe zu Mitteln der Charakterisierung ausführlich ZIMMERMANN (2014), 20–53 sowie SKINNER (2016), 123–132; TOLMIE (1999), 39–59; STIBBE (1992), 24f. Stibbe unterscheidet zwischen drei Leveln der Charakterisierung. Während das niedrigste Level in einer Charakterisierung durch die Taten eines Charakters besteht, zeigt sich ein mittleres und bedeutungsvolleres Level in seinen Worten und das höchste als aussagekräftigstes Mittel der Charakterisierung in der Wiedergabe innerer Gedanken (aaO., 25). Siehe auch die Darstellung von EDER (2014) zu Figuren im Film, die zahlreiche nützliche Einsichten für narrative Analysen enthält. 13 SCHUNACK (1996), 45. 14 TOLMIE (1999), 42f.; STERNBERG (1985), 342; POWELL (1993), 52. 15 Vgl. dazu ALTER (1981), 114–130; TOLMIE (1999), 44–53; STERNBERG (1985), 342. Gerade die johanneische Darstellung ist häufig von Ambivalenzen geprägt (siehe dazu insbesondere ANDERSON [2008]). Siehe zur Charakterisierung auch die hilfreichen Differenzierungen bei EDER (2014), 131–154 und speziell zum Johannesevangelium ZIMMERMANN (2016), 100–103 sowie die ausführliche Einzelcharakterisierung der Figuren im Johannesevangelium bei HUNT/TOLMIE/ZIMMERMANN (2013). 16 Vgl. dazu beispielhaft KLINK (2016a), 253f. 17 CULPEPPER (1987), 145; vgl. ferner die Studie von WAGENER (2015).

3. Verwendete Analysemethoden

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Die Handlung (Story) umfasst die einzelnen Ereignisse in ihrer Erzählreihenfolge.18 Es geht dabei um die Inhalte der Erzählung, die von der Narration oder dem Diskurs als Bezeichnung der rhetorischen Mittel und Strategien der Erzählung zu unterscheiden ist.19 Eine Erzählung oder Szene gliedert sich in Exposition, Hauptteil und Schluss. Während in der Exposition der Rahmen der Erzählung und die Charaktere eingeführt werden, wird im Hauptteil der Höhepunkt angesteuert. Der Hauptteil selbst ist aus verschiedenen Szenen und ihren Ereignissen aufgebaut, die sich wiederum zu größeren Episoden, Sektionen und Akten zusammensetzen.20 Der Schluss folgt meist schnell auf den Höhepunkt und trägt wesentlich dazu bei, die Botschaft einer Erzählung zu verdeutlichen. Der Erzähler kann aus verschiedenen Perspektiven berichten.21 Er kann als ‚allwissender Erzähler‘ fungieren oder den Lesenden dahin führen, Ereignisse aus der Perspektive eines bestimmten Charakters wahrzunehmen.22 An seltenen, aber wichtigen Stellen fügt der Erzähler Bemerkungen verschiedenster Art in die Erzählung ein.23 Von besonderer Relevanz sind Kommentare des Erzählers, mit der er die Lesenden gezielt mit Zusatzwissen ausstattet und so die Sichtweise der Lesenden leitet.24 Implizite Kommentare25 finden sich ferner in johanneischen Stilmerkmalen wie Missverständnissen,26 Ironie27 oder der Verwendung von Symbolen und Metaphern.28 18

Siehe hier ausführlich CULPEPPER (1987), 79–98; LARSEN (2016), 101–111; vgl. ebenso POWELL (1993), 23. 19 SCHUNACK (1996), 42. 20 Vgl. zu Ereignissen ausführlich TOLMIE (1999), 63–83, zu Szenen und Akten BAREFRAT (2006), 109–124 sowie zu Episoden und Sektionen CULPEPPER (1993), 196. 21 Siehe hier ausführlich RESSEGUIE (2016). Vgl. ferner POWELL (1993), 23f.; SCHUNACK (1996), 43. 22 Vgl. BAR-EFRAT (2006), 33. Siehe speziell zum Johannesevangelium die Ausführungen bei CULPEPPER (1987), 18–33. 23 Vgl. ALTER (1981), 80f. Dies können notwendige Hintergrundinformationen wie geografische, historische oder soziale Hintergründe sein, aber auch gezielte Verweise auf bereits erzählte Ereignisse oder Antizipationen noch nicht erzählter Vorgänge. 24 Siehe dazu CULPEPPER (1987), 17f.; ALTER (1981), 80f. Diese werden häufig als „narrator’s asides“ bezeichnet (vgl. STIBBE [1992], 20; CULPEPPER [1987], 18) und enthalten meist Zusatzinformationen für die Lesenden oder Deutungshinweise. Nur in seltenen Fällen fügt der Erzähler eine Wertung oder einen Kommentar ein, die auf seine Erzählintention oder eine bewusst intendierte Charakterisierung hindeuten (LICHT [1986], 26). 25 Vgl. dazu GNIESMER (2000), 102; STIBBE (1992), 27. 26 CULPEPPER (1987), 152–165; ZIMMERMANN (2004), 79f.; KÖSTENBERGER (2009), 141–145 sowie die Arbeit von CARSON (1982) zum Thema. 27 Ironie kann sowohl auf der Ebene wörtlicher Rede als auch auf der dramaturgischen Handlungsebene angesiedelt sein. Siehe hier die ausführlichen Studien von DUKE (1985) und MACRAE (1993). Vgl. ferner CULPEPPER (1987), 165–180; KÖSTENBERGER (2009), 150–155. 28 Vgl. LEE (2016), 151–169 sowie unten Abschnitt 3.2.

24

Kapitel I: Grundlagen

Die Narration ist im Wechsel von Dialog als Figurenrede und Erzählung als Erzählerrede gestaltet.29 Wörtliche Rede ist oft ein Indiz für die Betonung von Aussagen oder ein Mittel, um die Lesenden die Gedanken eines Charakters wahrnehmen zu lassen.30 Teile der Handlung, die nicht im Mittelpunkt stehen, werden dagegen durch Beschreibung oder Zusammenfassungen in die Erzählung eingefügt. Insbesondere die langen Rede- und Dialogteile im Johannesevangelium zeigen eine ausgefeilte Diskursstruktur, durch die ein rhetorischer und dramaturgischer Spannungsbogen kreiert wird.31 Die innere Struktur der Erzählung ist durch Leitworte, Motive, Themen oder durch intertextuelle und intratextuelle Bezüge gegeben.32 Für eine Deutung von Motiven und intertextuellen Bezügen sind neben dem johanneischen Text selbst auch kulturelle Gegebenheiten sowie der Motivraum des Alten Testaments relevant.33 Weitere Strukturmerkmale sind Mikrostrukturen auf Wortund Satzebene. Merkmale der Makrostruktur sind dagegen intratextuelle Bezugnahmen, Rahmungen in Form von inclusio, Strukturierung anhand von zeitlichen und geografischen Kriterien durch Strukturprinzipien in der Anordnung ganzer Szenen oder der Szenenabfolge in Form von Chiasmen, konzentrischen Strukturen oder Reihungen.34 Chiastische Strukturen können ganze Szenen oder Szenengruppen gliedern und neben Entsprechungen auch Kernstücke er29

Siehe dazu ausführlich ALTER (1981), 63–87. Vgl. dazu ALTER (1981), 72f. und ausführlich BAR-EFRAT (2006), 76–90. 31 Siehe zur Diskursanalyse RUNGE (2015) und zu der Rhetorik der Redeteile im Johannesevangelium MYERS (2016), 198–203. Myers stellt fest: „One of Jesus’s deeds, his speech, has attracted the most attention for rhetorical interpreters of John’s Gospel due to the clear use of oratorical elements“ (aaO., 200). Siehe zu Techniken der dramaturgischen Gestaltung im Johannesevangelium auch die Darstellung bei CONNICK (1948), 164–169. 32 Vgl. ALTER (1981), 94f.; STERNBERG (1985), 365–367. Leitworte sind für einzelne Szenen charakteristisch und weisen auf thematische Schwerpunkte hin. Motive haben die gleiche Funktion, können jedoch auch aus Gegenständen, Handlungen oder bestimmten Bildern bestehen. Themen dagegen können in größeren Erzählungen wiederholt hervortreten oder auch intertextuelle Verbindungen zwischen verschiedenen Erzählungen schaffen. Während intratextuelle Bezüge auf eine andere Passage im Johannesevangelium verweisen (vgl. CULPEPPER [1987], 34–39), stellen intertextuelle Bezüge Verweise auf andere Texte wie Passagen aus dem Alten Testament her (vgl. CULPEPPER [1987], 41f.; CHENNATTU [2016], 171–180 und ausführlich HATINA [1999], 28–41 sowie die Monografie von HAYS [1989]). Siehe für die Bedeutung intra- und intertextueller Bezüge insbesondere ZUMSTEIN (2008). Aufgrund der starken Bezüge auf alttestamentliche Rechtsstreitmotivik sind intertextuelle Bezüge für eine Untersuchung der forensischen Motivik im Johannesevangelium von besonderer Bedeutung. 33 Die narrative Untersuchung kann sich daher nicht nur auf den Text als eine für sich abgeschlossene (Text-)Welt beziehen. Siehe für die Bedeutung von kulturellen Gegebenheiten für die narrative Analyse HILL (2016), 259–278. Siehe für die Bedeutung des Alten Testaments CHENNATTU (2016) sowie MYERS/SCHUCHARD (2015). 34 Vgl. CULPEPPER (1987), 73f.; STIBBE (1992), 19f. Siehe für Beispiele chiastischer Anordnungen auch STIBBE (2008), 151. 30

3. Verwendete Analysemethoden

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kennen lassen, auf die die Erzählung zuläuft und die damit thematisch im Mittelpunkt stehen. Von maßgeblicher Funktion für die Erzählung der Handlung ist schließlich der Umgang des Erzählers mit der Zeit.35 Während die Erzählzeit die Zeit beschreibt, in der die Erzählung vom Lesenden rezipiert wird, bezeichnet die erzählte Zeit die in der Handlung verstreichende Zeit. Das Verhältnis von beiden zueinander zeigt das Erzähltempo an und ermöglicht dem Erzähler Zeitlupen oder Raffungen, die Schwerpunkte der Erzählung erkennen lassen.36 Eine weitere Form der zeitlichen Gestaltung ist die Verwendung von Prolepsen bzw. Analepsen als vorwärts- bzw. rückwärtsgewandte Verweise.37

3.2. Metaphorische Analyse Die narratologische Untersuchung ist eng mit der Verwendung von Bilder- und Symbolsprache verbunden.38 Insbesondere für eine auf die Rechtsstreit- und Prozessmotivik konzentrierte Untersuchung ist die johanneische Verwendung von Bildern und Motiven so maßgebend, dass sich ein in jüngeren Forschungsarbeiten ausgiebig erarbeitetes und erfolgreich angewandtes Methodeninstrumentarium als sinnvolle Ergänzung narratologischer Ansätze verwenden lässt.39 Dies bezieht sich speziell auf die im Johannesevangelium verwendeten Symbole, symbolischen Rollen, Bilder und Metaphern.40 Im Folgenden werden die wichtigsten Begriffe für eine methodische Grundlegung genannt. 35 Siehe zur Funktion der Zeit ausführlich TOLMIE (1999), 88–100; ferner auch SCHUNACK (1996), 45 und die Darstellung bei ESTES (2016). 36 Vgl. CULPEPPER (1987), 70–73; BAR-EFRAT (2006), 165f. Erzählzeit und erzählte Zeit können nahezu gleich schnell ablaufen (z. B. in Dialogen), aber auch in stark gegensätzlichem Verhältnis stehen (z. B. bei summarischen Zusammenfassungen, die mit wenigen Wörtern über große Zeiträume berichten). Das Verhältnis zwischen beiden und deren Dynamik bildet ein wichtiges Mittel zur Analyse von Erzähltexten. Meist wird die erzählte Zeit an Höhepunkte der Erzählung der Erzählzeit nahezu angeglichen (CULPEPPER [1987], 71f.; BAR-EFRAT [2006], 176). Steht die erzählte Zeit still, spricht man von einer Pause (ZUMSTEIN [1996], 13; CULPEPPER [1987], 71). 37 CULPEPPER (1987), 56–64 unterscheidet zwischen externen Analepsen bzw. Prolepsen als Verweisen auf Begebenheiten, die nicht in der Erzählung selbst zu finden sind, und internen Analepsen bzw. Prolepsen als Verweisen auf erzählte Ereignisse. Im Falle einer komplettierenden Analepse wird dem Lesenden ein Ereignis durch einen impliziten Hinweis in der Erzählung mitgeteilt, ohne dass es ausdrücklich erzählt wird. 38 Siehe für diesen Zusammenhang CULPEPPER (1987), 180f. sowie ausführlich LEE (1994); LEE (2016). 39 Dies sind die Monografien von LEE (1994); VAN DER WATT (2000) und ZIMMERMANN (2004). Die in diesen Arbeiten erarbeitete Methodik liegt auch der folgenden methodischen Darstellung maßgeblich zugrunde. 40 VAN DER WATT (2000), XVIII; ebenso aaO., 29.

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Kapitel I: Grundlagen

In einem Sprachbild wird die Sprache als Träger verwendet, um auf ein außersprachliches Bildobjekt zu verweisen. Das Bildobjekt ist das visuell imaginierte Dargestellte, aus dem der Autor oder der Lesende als Interpret den Sinn erschließt.41 Die Herkunftsbereiche der verwendeten Bilder können sich dabei auf bestimmte Rollen beziehen.42 Für eine Betrachtung der Rechtsstreitmotivik sind damit insbesondere forensische Rollen wie Richter, Zeuge, Ankläger oder Angeklagter relevant.43 Die Ermittlung des sozialen und kulturellen Herkunftsbereiches dieser Rollen ist daher notwendig, um die abstrakten Funktionen, die mit einer Rolle konnotiert sind, vom Bildherkunftsbereich in den Bereich des Interpretaments zu übertragen.44 Ein Symbol besteht in einer Handlung, einem Gegenstand oder einer Person, sofern darin eine über die vordergründige Aussage hinausgehende Bedeutung impliziert ist.45 Ein Symbol kann damit auch in repräsentativen Handlungen, Personen, Funktionen oder Rollen bestehen.46 Der Referent des Symbols wird dabei entweder über intratextuelle Konzepte, meist aber über extratextuelle Konzepte von kulturellen oder sozialen Konventionen erschlossen. 47 Dabei spielt im Johannesevangelium insbesondere der alttestamentliche Bildraum eine maßgebliche Rolle.48 Eine Analyse metaphorischer Sprache erfordert daher sowohl ein grundlegendes Verständnis des Textes wie auch des relevanten alttestamentlichen oder mediterranen Bildherkunftsbereiches.49 Dabei fungiert das Symbol als Vehikel und der in ihm vermittelte Sinn als Tenor.50 Eine Metapher gibt einen Sinn mit Worten aus einem völlig anderen Sinnbereich wieder, der bei wörtlichem Verständnis zu einer semantischen Spannung führen würde.51 Bildgeber und Bildempfänger befinden sich damit in völlig anderen Lebensbereichen. Das setzt einen bestimmten sozio-historischen 41

Siehe für eine theoretische Fundierung ZIMMERMANN (2004), 75–77. Siehe hierzu ZIMMERMANN (2004), 96–98. 43 ZIMMERMANN (2004), 97 nennt unter einer Vielzahl von Rollen im Johannesevangelium auch solche, die forensisch konnotiert sind. 44 Nach ZIMMERMANN (2004), 84 ist ein Symbol keine autonome Sinneinheit, „vielmehr wird der Sinn eines Symbols ausschließlich über die Konvention einer Sprach- und Kulturgemeinschaft geprägt.“ 45 So die Definition von KOESTER (2003), 4; vgl. ebenso ZIMMERMANN (2004), 85; VAN DER WATT (2000), 1. 46 LEE (1994), 34; ZIMMERMANN (2004), 85. 47 VAN DER WATT (2000), 2; ebenso aaO., 142: „Metaphors are semantically embedded in a socio-cultural framework.“ 48 Siehe hier etwa VAN DER WATT (2000), 379; LEE (2016), 163f. Siehe zu johanneischer Symbolik und ihrer Funktion auch MUROPA (2012), 107–110. 49 So VAN DER WATT (2000), 142, der dabei schlussfolgert: „[M]etaphors must be interpreted within their socio-cultural as well as literary context.“ 50 LEE (1994), 31. 51 Vgl. zur Definition HARJUNG (2000), 296; VAN DER WATT (2000), 6f.; ZIMMERMANN (2004), 105 und die ausführliche Behandlung bei ZIMMERMANN (2006), 16–20. 42

3. Verwendete Analysemethoden

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Kontext voraus, in dem Bildgeber von Autor und Lesendem ähnlich verstanden werden.52 Dabei besteht die Metapher selbst nicht nur aus einem Wort, sondern einem Wort- oder Satzgefüge mit metaphorischer Bedeutung. Sie wirkt als Interaktion zwischen zwei Implikationssystemen, die als wechselseitiger Filter die relevanten Aspekte von bildgebendem und bildempfangendem Bereich aufeinander übertragen. Dabei setzt eine Metapher beim Lesenden sowohl semantisch-kognitive als auch pragmatisch-ethische Prozesse in Gang, indem neben der kognitiven Erschließung auch eine neue (Selbst-)Wahrnehmung des Lesenden eintritt und Konsequenzen auf Denken und Handeln ausüben kann.53 Als Metaphern werden im Johannesevangelium dynamische Bilder verwendet, die ineinanderübergehen und sich mit symbolischer Bildsprache überlagern können. In diesem Sinne werden sie häufig in einem Netzwerk von Metaphern verwendet, in dem mehrere lokale Metaphern ein semantisch interagierendes metaphorisches Makro-Netzwerk kreieren. 54 Dies kann auch mehrere Metaphern innerhalb des Textes intratextuell zu einem metaphorischen Netz verbinden.55 Dabei haben sie immer eine interpretative Funktion, indem sie selbst den Kontext erklären, in ihrer Bedeutung aber ebenso durch den Kontext begrenzt werden.

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VAN DER WATT (2000), 12. Siehe zu den unterschiedlichen Dimensionen der Metapher ZIMMERMANN (2004), 106. Vgl. zur kognitiven Dimension ausführlich MASSA (2000), 314–330 und zur ethischen Komponente metaphorischer Darstellung VAN DER WATT (2006), 421–448 sowie ZIMMERMANN (2012), 70–74, der konstatiert: „Metaphors are ethical models“ (aaO., 70). Vgl. für eine aktuelle Übersicht über narrative Ethik auch HORN/VOLP/ZIMMERMANN (2016). 54 Siehe hierzu VAN DER WATT (2000), 5.241 und ZIMMERMANN (2009), 381–387. Zimmermann spricht dabei auch von einem „metaphoric network“ (aaO., 381) und unterscheidet dabei „reference networks“ (aaO., 383) und „coherence networks“ (aaO., 384). LEE (2016), 160 spricht von einem „metaphorical field“. 55 VAN DER WATT (2000), 126–128. 53

4. Vorgehensweise und Gliederung Die vorliegende Studie untersucht die schwerpunktmäßig in Joh 1–12 konzentrierte Rechtsstreit- und Prozessmotivik des Johannesevangeliums in einer narratologischen Analyse, die zugleich die metaphorische Prozessdarstellung in der für das Evangelium charakteristischen doppelten Erzählebene in den Blick nimmt und diese vor dem Hintergrund symbolisch-forensischer Rollen und alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik analysiert. Die untersuchte forensische Motivik wird in ihrem Bildherkunftsbereich einerseits durch die intratextuell dargestellte Welt des Evangeliums, andererseits aber durch historische und kulturelle Hintergründe gespeist. Daher sind vor einer narratologischen Untersuchung zunächst die bildgebenden Hintergründe der Prozessmotivik zu untersuchen. Aufbauend auf dem in diesem Kapitel gegebenen Forschungsüberblick sowie der Darstellung von Zielrichtung und Methodik der vorliegenden Untersuchung (Kapitel I,1–3), wird im zweiten Kapitel zunächst der bildgebende Bereich antiker Prozesse und alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik auf charakteristische Elemente, Akteure sowie forensische Rollen und ihre Funktionalität hin untersucht. Zuerst werden römische, griechische und jüdische Prozessordnungen dargestellt und im Hinblick auf das darin angelegte literarische Prozess-Setting sowie Merkmale der symbolischen forensischen Rollen von Ankläger, Angeklagtem, Zeugen, Richter und Prozesszuschauer hin ausgewertet (Kapitel II,1). Im Anschluss wird aufgrund der maßgeblichen Bedeutung alttestamentlicher Bild- und Motivsprache im Johannesevangelium sowie zahlreicher intertextueller Bezüge im Kontext der johanneischen Gerichtsmotivik die alttestamentliche Motivik des Rechtsstreites untersucht (Kapitel II,2). Auf dieser Basis kann sich die Untersuchung im dritten Kapitel der Verwendung der Motivik im Johannesevangelium selbst widmen. Die Analyse trägt dabei der Tatsache Rechnung, dass der einzige Gerichtsprozess der erzählten Welt in Joh 18–19 genannt wird, und beginnt mit einer narratologischen Untersuchung der johanneischen Darstellung dieses Prozesses (Kapitel III,1). Diese wird durch eine Bestandsaufnahme forensischer Semanteme, Motive, symbolisch-forensischer Rollen und Metaphern ergänzt, durch die die Charakteristik, Intensität und strukturelle Verteilung der Prozessdarstellung in Joh 1–12 eruiert wird (Kapitel III,2). Dabei werden zugleich die Passagen in Joh 1–12 identifiziert, die für eine Untersuchung forensischer Motivik relevant sind.

4. Vorgehensweise und Gliederung

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Im vierten Kapitel der Arbeit erfolgt schließlich die eingehende Analyse der ermittelten Passagen aus Joh 1–12, in denen die Rechtsstreitmotivik besonders präsent ist. Diese bildet den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit und widmet sich allen relevanten Texten aus Joh 1–12 in einer detaillierten narratologischen Untersuchung, die sich in dramaturgisch konstitutive Abschnitte der Makro-Prozessdarstellung untergliedert (Kapitel IV,1-6). Die Kombination von narratologischen Analysemethoden mit einer Untersuchung des Interpretaments metaphorischer und symbolischer Gerichtssprache und -motivik konkretisiert sich dabei für jeden der untersuchten Textabschnitte in einem methodischen Vierschritt nach folgendem Muster: Narrative Einbettung: Jeder untersuchte Textabschnitt wird in seinen direkten und weiteren narrativen Kontext eingeordnet. Dabei werden insbesondere die Verbindungslinien forensischer Schwerpunkte untersucht. Konstruktion eines Prozess-Settings: Aufbauend auf der narrativen Einbettung, wird in einem zweiten Methodenschritt eruiert, durch welche Sinnmarker im Text ein forensisches Setting konstruiert wird und in welcher Weise symbolische Rollen des Gerichtsprozesses wie Richter, Ankläger, Angeklagter, Zeugen oder Prozesszuschauer aufgenommen und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei werden auch die forensischen Sachverhalte wie Anklagen und Phasen des Rechtsstreites oder Prozesses ermittelt, wie sie sich in vordergründigen Sinnmarkern des Textes in der erzählten Welt zeigen. Prozessmodulation: In einem dritten Schritt wird untersucht, in welcher Weise eine forensische Motivik auf einer doppelten Erzählebene mit ambivalenten Rollenbelegungen oder Rollenumkehrungen fungiert und damit weitergehende, subtile Deutungshorizonte eröffnet, durch die das vordergründige Prozess-Setting moduliert und transformiert wird. Dabei wird insbesondere untersucht, durch welche Textsignale der Erzähler die in der Forschung häufig bemerkte doppelte Darstellungsebene instrumentiert und unterschiedliche Darstellungsebenen miteinander in Beziehung setzt. Reflexion der Prozess-Narration: In einem letzten Schritt werden die in der Erzählung angelegten Darstellungsebenen reflektiert und rezeptionsästhetisch in Bezug auf die Lesenden ausgewertet. Dabei wird zum einen gefragt, in welcher Weise der Erzähler einzelne Texte in der Makrostruktur des Evangeliums zu einem metaphorischen Netzwerk in Form eines übergreifenden Makro-Prozess-Settings zusammenfügt. Zum anderen wird reflektiert, welche semantisch-kognitiven und pragmatisch-ethischen Prozesse beim Lesenden ausgelöst werden, um dadurch die Funktion narrativer Rechtsstreit- und Prozessmotivik in der Erzählerabsicht verorten zu können. Während die ersten beiden Methodenschritte stärker deskriptiv orientiert sind, dominiert in den letzten beiden Schritten die Reflexion der metaphorischen und rezeptionsästhetischen Dimension. Der vierte und letzte Schritt kann zugleich als Zusammenstellung zentraler Akzente der Prozessdarstellung des untersuchten Textabschnitts gelesen werden.

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Kapitel I: Grundlagen

Im fünften Kapitel werden schließlich die Ergebnisse und Implikationen der Untersuchung hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte der forensischen, narrativen, metaphorisch-bildlichen und rezeptionsästhetischen Dimension der Erzählung ausgewertet (Kapitel V,1–4). Dabei werden die Funktion der Prozessund Rechtsstreitmotivik im Evangelium sowie ihre Einbettung im Kontext johanneischer Theologie zusammenfassend reflektiert. Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung werden abschließend unter Ergebnis und Ausblick zusammengefasst.

Kapitel II:

Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

1. Griechisch-römisches und jüdisches Prozessrecht Die Verwendung forensischer Motivik aus dem Kontext des Gerichtsprozesses wird im Evangelium durch Bild- und Motivsprache zur Geltung gebracht. 1 Diese wird in ihrem Bildherkunftsbereich einerseits durch die intratextuell dargestellte Welt des Evangeliums, andererseits aber durch sozio-kulturelle Konzepte gespeist. Daher sind vor einer narratologischen Untersuchung zunächst die bildgebenden Hintergründe der Prozessmotivik auf charakteristische Elemente, Akteure sowie forensische Rollen und ihre Funktionalität hin zu untersuchen. Dies geschieht in diesem Abschnitt durch eine Untersuchung antiker Prozessordnungen und Gerichtsprozesse, die in Form eines literarischen Prozess-Settings den gemeinsamen Bereich des Bildobjekts für Autor und Lesenden bilden. Daneben sind die historischen und kulturellen Hintergründe der römischen und jüdischen Rechtspraxis auch als vorausgesetzte Hintergründe der erzählten Welt für Joh 1–12 und Joh 18–19 von Bedeutung. In diesem Abschnitt werden zunächst griechisches, römisches und jüdisches Prozessrecht dargestellt. In diesem Zusammenhang sind neben den Prozessabläufen und -bestandteilen auch die dabei maßgeblichen forensischen Rollen relevant, die als prototypische symbolische Rollenbilder wichtige Bestandteile des bildgebenden Bereichs der metaphorischen Prozessdarstellung im Johannesevangelium konstituieren. In einem letzten Schritt werden daher die untersuchten Prozessordnungen im Hinblick auf das darin angelegte literarische Prozess-Setting sowie die dabei charakteristischen symbolisch-forensischen Rollen von Ankläger, Angeklagtem, Zeugen, Richter und Prozesszuschauer ausgewertet.

1.1. Das griechische Prozessrecht Das griechische Prozessrecht unterschied sich von Polis zu Polis und ist am besten für das attische Recht bekannt.2 Der Gerichtsprozess ist als zweigeteil1

Siehe dazu oben Kapitel I,3.2. Aufgrund der unterschiedlichen griechischen Stadtstaaten ist zweifelhaft, inwieweit von einem einheitlichen griechischen Recht gesprochen werden kann (siehe zur Diskussion TODD [2012], 812; THÜR [2003], 195). Jede Polis bildete eine eigene Wertegemeinschaft, bei der sich die einzelnen Stadtstaaten jedoch durch die starken Verbindungen untereinander 2

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

tes Verfahren belegt, bei dem sich die Prozessparteien zunächst in einer Vorverhandlung vor einem Schiedsrichter gegenüberstanden und in einem Streitgespräch über die Anklagepunkte zu einer gütlichen Einigung finden sollten.3 Konnte dabei keine Schlichtung erreicht werden, fand anschließend in einer zweiten Prozessphase der eigentliche Gerichtsprozess vor dem örtlichen Gerichtshof (δικαστήριον) statt. 4 Der Gerichtshof tagte auf einem öffentlichen Platz (der ἀγορά) als Geschworenengericht und wurde von Magistraten geleitet. Als Richter fungierten Geschworene, die aus dem Volk ausgelost wurden und dieses repräsentierten:5 „Die jeweiligen Geschworenen wurden verstanden als Vertretung des gesamten Volks, das in ihnen virtuell präsent war und durch sie richtete.“6 Damit wurde die richtende Instanz von Laienrichtern gebildet, bei denen weder in der spezifischen Rechtssache noch allgemein auf dem Gebiet des Rechts besondere Kenntnisse erwartet wurden.7 Als Ankläger konnten entweder Bürger oder Magistrate fungieren.8 Im Prozess standen sich, auch räumlich getrennt, vor den Geschworenen die Parteien des Rechtsstreites auf Podesten gegenüber. Ein erstes Podest (βῆμα) war dabei für die den Vorsitz führenden Amtsträger bestimmt, ein weiteres für die den Rechtsstreit führenden Parteien mit ihren Beiständen und ein drittes für Zeugen oder andere Sprecher, die für eine der beiden Parteien eintraten.9 Neben den Prozessparteien waren ferner Prozesszuschauer anwesend, die den Prozess verfolgten. 10 Den Hauptteil des eigentlichen Prozesses bildeten die

gegenseitig beeinflussten (MIGLIETTA [2011a], 253; TODD [2012], 812). Siehe für die Quellen des attischen Rechts zwischen dem 7. Jh. v. Chr. und dem 4. Jh. v. Chr. MACDOWELL (2012), 802–804 sowie TODD (2012), 811f. Die folgende Darstellung konzentriert sich aufgrund der Quellenlage auf die Rechtsverhältnisse in Athen, die jedoch starke Ähnlichkeiten zum griechischen Recht in späteren hellenistischen Staaten aufwies; vgl. dazu THÜR (2003), 219–226. 3 Vgl. zu diesem zweigeteilten Verfahren THÜR (2003), 207f.211f. 4 Siehe hierzu MIGLIETTA (2011a), 253; THÜR (1997a), 568f. 5 Bis auf Klagen wegen vorsätzlicher Tötung und anderen Blutklagen wurden die Prozesse durch Geschworene entschieden (THÜR [1997a], 567). Diese wurden aus einer Liste der Bürger Athens mit vollen Rechten am Tag des Prozesses ausgelost (MACDOWELL [2012], 803). Ausgeschlossen waren Bürger unter dem dreißigsten Lebensjahr oder solche mit Schulden (BURCKHARDT [1997], 163; THÜR [1997b], 569). Die Größe des Geschworenenkollegiums ist nur sporadisch erwähnt und variiert stark, wird jedoch meist bei einigen Hundert gelegen haben (MACDOWELL [2012], 803). 6 BURCKHARDT (1997), 172. Diese maßgebliche Funktion des Volkes war eine entscheidende Stütze der Demokratie (aaO., 172f.). 7 Siehe dazu BURCKHARDT (1997), 163. 8 MACDOWELL (2012), 803; siehe zur Unterscheidung von Straf- und Privatrecht SCHIEMANN (2001a), 1028. Öffentliche Anklagen erfolgten etwa bei Religionsfrevel und Tempelraub (aaO., 1028). 9 THÜR (1997a), 567. 10 THÜR (1997a), 567.

1. Griechisch-römisches und jüdisches Prozessrecht

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Reden von Ankläger oder Verteidiger, die in der Gestaltung freie Hand hatten. 11 Nach fest vorgegebenen Redezeiten sprach zuerst der Ankläger, anschließend der Verteidiger. Beide Parteien konnten neben der eigenen Aussage auch Freunde, Beistände oder Zeugen für sich sprechen lassen.12 Den vorgetragenen Reden kam damit für die Meinungsbildung der Geschworenen eine hohe Bedeutung zu.13 Zeugen, deren Zahl mitunter genau festgelegt war, bestätigen einzelne Ereignisse durch den formelhaften Satz, etwas zu ‚wissen‘ (οἶδα) oder aufgrund persönlicher Anwesenheit bezeugen zu können.14 Eine Aussage nur vom Hörensagen war dagegen nicht rechtsgültig.15 Die Zeugen mussten unbescholten sein und wurden im Falle eines falschen Zeugnisses selbst juristisch belangt.16 Die Bezeugung wurde je nach Schwere des Vergehens entweder vereidigt oder unvereidigt vorgenommen und konnte sowohl für Schuld oder Unschuld des Angeklagten plädieren.17 Um die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses zu unterstützen, konnte ein Zeuge auch die Götter anrufen.18 Das Urteil wurde durch geheime Abstimmung der Geschworenen erreicht und folgte unmittelbar auf die Reden der Parteien.19 Dabei wurde über Schuld oder Unschuld abgestimmt, während das Strafmaß selbst entweder durch Gesetze oder weitere Verhandlungen bestimmt wurde.20 Da die Geschworenen Laienrichter waren, konnten sie sich nur auf den Eindruck der Redner verlassen.21 Dementsprechend hatte die rhetorische Wirkung der Rede einen maßgeblichen Einfluss auf das Urteil.22 11 Das betraf nicht nur die Gestaltung der Rede selbst, sondern auch die präsentierten Beweise oder herangezogenen Zeugen (BURCKHARDT [1997], 164). 12 MACDOWELL (2012), 804. 13 BURCKHARDT (1997), 164. Damit ist zugleich auf den maßgeblichen Wert der Rhetorik verwiesen; siehe dazu THÜR (2003), 213. 14 THÜR (1999), 966f. Siehe für Zeugen beim Prozess schon die Ausführungen bei Aristoteles (Arist.rhet. I 14,6; 15,15.21). 15 THÜR (1999), 967. 16 MACDOWELL (2012), 804. Dies galt auch für eine Privatperson als Ankläger, die unter Strafe gestellt werden konnte, sofern die Anklage sich als unzureichend erwies und nur einen kleinen Teil der Geschworenenstimmen für sich gewinnen konnte (SCHIEMANN [2001b], 1029). 17 THÜR (1999), 966. 18 COENEN (2005), 1762 mit Verweis auf Pind.Pyth. 4,167; vgl. ferner auch Plato apol. 31c. 19 Diese Abstimmung geschah durch Kieselsteine oder Bronzekugeln, die in Stimmurnen geworfen wurden (MACDOWELL [2012], 804; THÜR [1997a], 567f.). Dass damit das anwesende Volk eine Mehrheitsentscheidung fällte, war von besonderer Bedeutung. Nach Thür war „eine bindende Prozeßentscheidung durch einen Einzelrichter […] den Athenern fremd“ (THÜR [1997a], 568). 20 MACDOWELL (2012), 804. 21 BURCKHARDT (1997), 163. 22 Die hohe Bedeutung der Rede wird eindrücklich durch die ausführliche Darstellung von Kriterien illustriert, die Aristoteles zur Unterscheidung zwischen glaubwürdiger und

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

1.2. Das römische Prozessrecht Das römische Prozessrecht ist in seiner Entwicklung durch drei zeitlich aufeinanderfolgende Systeme gekennzeichnet, die sich jedoch stark überlappten: Das Legisaktionenverfahren, das Formularsystem und der Kognitionsprozess.23 1.2.1. Legisaktionenverfahren Die Verfahrensformen der Legisaktionen (legis actio) sind schon früh im Zwölftafelgesetz überliefert.24 Dabei begegnen sich Ankläger und Angeklagter vor einem Prätor, der als Gerichtsbeamter zunächst in der Rolle eines Schlichters fungiert und so den Parteien die Möglichkeit gibt, sich ohne ausgetragenen Rechtsstreit zu einigen.25 Sofern dabei keine Einigung erzielt werden konnte, wurde der Rechtsstreit an einem öffentlichen Ort ausgetragen, wobei ein Gerichtsbeamter oder ein Geschworenenrichter das Urteil fällte.26 Über das eigentliche Gerichtsverfahren vor dem Urteilsrichter ist wenig bekannt.27 Die in dieser Prozessordnung angelegte Gliederung des Prozesses in zwei Verfahrensabschnitte – eine Vorprüfung (in iure) und die Beweisaufnahme mit Verhandunglaubwürdiger Rede vor Gericht nennt (Arist.rhet. II 1,1–8). Bei MACDOWELL (2012), 804 wird die ausschlaggebende Wirkung der Rhetorik als wesentliche Schwäche des attischen Verfahrens genannt. Siehe dazu ebenso die ausführliche Darstellung bei THÜR (2003), 213, der dazu bemerkt: „Die hoch entwickelte Kunstlehre der griechischen Rhetorik zeigt vielleicht erstmals in der europäischen Geschichte die Gesetzmäßigkeiten der Massenpsychologie auf. […] Da die Geschworenen den Fall nur schlaglichtartig, in relativ kurzen Reden dargestellt bekommen, ist es für die Parteien günstiger, die Tatsachen zu manipulieren, als diffizile rechtliche Erwägungen anzustellen.“ Obwohl damit die Rhetorik der Reden manipulierend wirken konnte, war dies nicht zwangsläufig der Fall (vgl. die Relativierung bei BURCKHARDT [1997], 163). Der große Einfluss der rhetorischen Gestaltung ist damit weniger als Indiz für eine notwendig manipulative Wirkung der Gerichtsrede zu werten, sondern illustriert vielmehr den zentralen Stellenwert der Gerichtsrede als Instrument der Überzeugung und damit ihre notwendig persuasive Funktion. 23 Siehe für eine Übersicht METZGER (2012), 806; HONORÉ (2012), 804 und die Monografie von WIEACKER (2006). Siehe insbesondere zu den Quellen römischen Rechts JAKOB/MANTHE (2003), 255f. 24 METZGER (2012), 806; PAULUS (2001), 487. Das Zwölftafelgesetz geht auf das 5. Jh. v. Chr. zurück, die Legisaktionen selbst haben jedoch noch frühere Ursprünge (vgl. dazu SÖLLNER [1989], 34). 25 Siehe VERVAET (2016), 228 für den Ablauf des Verfahrens; vgl. auch SÖLLNER (1989), 38f. Die friedliche Einigung (pacta servabo) ist nicht nur eine theoretische Möglichkeit, wie die detaillierten Bestimmungen für die Einigung nahelegen (siehe dazu SÖLLNER [1989], 61). 26 So im Zwölftafelgesetz (tab. I 6–9; zitiert bei SÖLLNER [1989], 39), in dem das Forum als Austragungsort angegeben wird. 27 SÖLLNER (1989), 63.

1. Griechisch-römisches und jüdisches Prozessrecht

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lung und Urteilsgericht (in iudicio) – wird auch in republikanischer Zeit beibehalten, 28 anstelle eines einzelnen Richters im zweiten Verfahrensteil jedoch durch die Möglichkeit von mehreren Urteilsrichtern in einem Geschworenenkollegium erweitert.29 Die Zweistufigkeit des Verfahrens findet sich auch in der mittleren Republik in der Prozessform des Formularverfahrens wieder. 1.2.2. Formularprozess Der Formularprozess entwickelte sich zeitlich und inhaltlich parallel zu den Legisaktionen und wurde in der Kaiserzeit das gewöhnliche Verfahren.30 Der Ablauf des Formularprozesses teilte sich in zwei Verfahrensschritte, bei denen in einem ersten Schritt die Rechtsgegner vor einem Prätor in freier Rede zum Streitgegenstand Stellung nahmen.31 Dabei wurde bereits in dieser ersten Prozessphase das Urteil festgelegt, das im Falle erwiesener Schuld vollstreckt werden sollte.32 Im Rahmen der vorbereitenden Gespräche wurde ferner ein Privatrichter bestimmt, der in einem zweiten Verfahrensschritt über Schuld oder Unschuld zu entscheiden und das bereits vorher festgelegte Urteil auszusprechen hatte.33 Der Richter war eine Privatperson, die in der Regel keine juristischen Kenntnisse hatte, und durfte den Parteien nicht persönlich nahestehen. In der Hauptverhandlung wurden Beweise vor dem Richter präsentiert, der aufgrund der Klärung aller juristischen Fragen im ersten Verfahrensschritt nur noch über Schuld oder Unschuld zu befinden hatte.34 Dem römischen Volk kam im Prozess eine maßgebliche Bedeutung zu, insofern es durch Abstimmung auch ein Mitbestimmungsrecht bei der Urteilsfindung hatte.35 Ferner konnte der Angeklagte sich nach erfolgter Rechtsprechung des Magistrates an das versammelte Volk wenden und in einer provocatio um eine Aufhebung des Urteils ersuchen.36

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Siehe hierzu METZGER (2012), 807; SÖLLNER (1989), 59; SCHIEMANN (2001b), 1030. SÖLLNER (1989), 59.62. 30 SÖLLNER (1989), 69. Die Ursprünge des Formularverfahrens liegen im Dunkeln; es scheint sich jedoch im 2. Jh. v. Chr. zunehmend durchgesetzt zu haben (METZGER [2012], 807). 31 Vgl. JAKOB/MANTHE (2003), 267. 32 PAULUS (1998), 1201; siehe für eine ausführliche Darlegung SÖLLNER (1989), 68–74. 33 PAULUS (1997), 60; PAULUS (1998), 1201. 34 VERVAET (2016), 228f.; PAULUS (1998), 1201. 35 PINA POLO (2016), 93f. Siehe für die maßgebliche Bedeutung des Volkes auch PINA POLO (2016), 85.95f. 36 MIGLIETTA (2011b), 241; SCHIEMANN (2001a), 1029. Die genaue Funktion der provocatio ad populum ist jedoch umstritten; siehe für eine Diskussion BERGER/NICHOLAS/LINTOTT (2012), 810. 29

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

1.2.3. Quaestionsprozess Während der Formularprozess vor allem der Zivilrechtspflege diente, wurden in Strafsachen für schwere Straftaten, Verbrechen gegen den Staat und Kapitalverbrechen im 2. Jh. v. Chr. auch ständige Gerichte (quaestiones perpetuae) installiert.37 Die zu diesen Quaestionengerichten korrespondierende Form des Quaestionsprozesses wurde als Strafverfahren der späten Republik und des frühen Prinzipats verwendet, bei dem ein Richterkollegium aus Geschworenen tagte.38 In diesem Prozess galt das Prinzip der Popularanklage und damit eine allgemeine Klageberechtigung. Der Ankläger konnte damit entweder selbst die geschädigte oder eine unabhängige dritte Partei sein.39 Insbesondere war es Sache des Anklägers, die erforderlichen Beweise zu erbringen oder Zeugen zu verpflichten.40 Der Prozess hatte ein zweistufiges Verfahren, bei dem zunächst streitvorbereitende Gespräche und eine Vorbefragung vor einem Magistrat stattfanden, um den Rechtsfall nach einer Konfrontation der beiden Parteien durch ein Schuldgeständnis des Angeklagten friedlich lösen zu können.41 Sofern dabei keine gütliche Einigung erzielt wurde, fand in einer zweiten Stufe die eigentliche Befragung vor einem Geschworenenkollegium statt. Im Prozess wurden Zeugen befragt und Plädoyers gehalten, bei denen der Rhetorik und Überzeugungskraft von Reden eine hohe Bedeutung zukam.42 Mitunter wurden Prozesse so gezielt zum „politische[n] Kampfmittel“43 oder zum Instrument, um Personen öffentlich zu diskreditieren oder die öffentliche Meinung des versammelten Volkes zu beeinflussen.44 Die Richter verfolgten die Verhandlung als „stumme Zuhörer“45 und entschieden am Schluss der Befragung durch Abstimmung nur über Schuld oder Unschuld des Angeklagten, während das eigent37

MIGLIETTA (2011b), 240; VÖLKL (2001), 686. Zu diesen Verbrechen gehörten etwa Hochverrat (quaestiones de maiestate), Amtsvergehen (quaestio de repetundis) oder Totschlag (quaestio de sicariis et veneficis). Siehe für die Zuständigkeitsbereiche von Formularprozess und Quaestionsprozess SÖLLNER (1989), 114. Die Installation der quaestiones perpetuae geschah im 2. Jh. v. Chr. und wurde unter Sulla im Jahr 81 v. Chr. ausgeweitet (PINA POLO [2016], 91.93; RICHARDSON [2016], 115; MIGLIETTA [2011b], 241). 38 VÖLKL (2001), 686f. Quaestio meint den Prozess selbst, im Speziellen aber auch das Verhör. 39 SÖLLNER (1989), 79; VÖLKL (2001), 687. 40 VÖLKL (2001), 687. 41 VÖLKL (2001), 687f.; PAULUS (1998), 1201; PAULUS (1997), 60. 42 Siehe hier etwa die Beispiele bei DAVID (1997), 35–41. Siehe für eine systematische Untersuchung KACPRAZAK (2016), 98–116. 43 Vgl. EDER (1997), 25, der an anderer Stelle von einem „Mittel des politischen Streits“ spricht (aaO., 14). 44 Vgl. DAVID (1997), 43; EDER (1997), 14–25. David beschreibt in diesem Zusammenhang auch die gesellschaftliche und politische Dynamik sowie den Missbrauch der Justiz bei derartigen Prozessen (vgl. DAVID [1997], 31.47). 45 VÖLKL (2001), 688.

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liche Strafmaß von Gesetzen vorgegeben war.46 Die Zuständigkeit dieser ständigen Gerichte wurde nach einer Ausweitung auf weitere Delikte wie etwa Sexualdelikte (quaestiones de adulteriis) schließlich immer mehr zugunsten des Kognitionsverfahrens (cognitio extra ordinem) verdrängt.47 1.2.4. Kognitionsverfahren Im Kaiserreich entwickelte sich neben den ständigen Gerichtshöfen mit dem Kognitionsverfahren (cognitio extra ordinem) eine eigene Verfahrensart, bei der der Kaiser oder ein Statthalter bei speziellen Rechtsverhältnissen Recht sprach, die nicht vom Formular- oder Quaestionsprozess abgedeckt werden konnten.48 Dabei wurde das zweistufige Verfahren des Formular- und Quaestionsprozesses durch ein einziges, hinsichtlich des Prozessablaufs flexibles Verfahren ersetzt.49 Die am Prozess beteiligten Instanzen des Magistrats, der Geschworenen und eines Richters wurden in der Person des Kaisers oder eines Statthalters zentriert. Aufgrund der damit einhergehenden Vereinfachung entwickelte sich der Kognitionsprozess zusehends zum Standardverfahren, das bisherige Formen der Rechtsprechung ablöste.50 Das Kognitionsverfahren war zudem das in den Provinzen vorherrschende Verfahren,51 weil es keine Geschworenen erforderte, sondern in der Rechtsprechung dem Statthalter weitgehende Freiheiten gab.52 Das Kognitionsverfahren weist ein Grundmuster von sechs aufeinanderfolgenden Prozessschritten auf, die zugleich als prototypische Bestandteile eines generischen Gerichtsprozesses angesehen werden können und sich von der Festnahme bis zur Ausführung des Urteils erstrecken:53 1. Festnahme 2. Anklagen 3. Befragung (cognitio) 5. Schuld-/Freispruch 6. Urteilsvollstreckung bzw. juristische Verwarnung

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VÖLKL (2001), 688. MIGLIETTA (2011b), 242; OMERZU (2011), 247; VÖLKL (2001), 688. 48 Siehe dazu METZGER (2012), 808; SÖLLNER (1989), 115; PAULUS (1997), 59f. 49 RÜFNER (2016), 258; PAULUS (1997), 60. 50 MIGLIETTA (2011b), 242; PAULUS (1997), 60. 51 Das Kognitionsverfahren scheint in allen Provinzen eingeführt worden zu sein, konnte dort in seiner Ausgestaltung jedoch stark variieren (RÜFNER [2016], 261). 52 Siehe für die Grenzen der Befugnisse des Statthalters in Form eines Provinzgesetzes (leges provinciae) RICHARDSON (2016), 115f. 53 Siehe hier NEYREY (1987), 510. Dieses Verfahren findet sich sowohl in Joh 18,1–19,4 als auch in Joh 19,7–16 sowie in anderen Teilen des Neuen Testaments. Neyrey verweist ferner auf Lk 23,14–15 und ähnliche Verfahren in Apg 22,1–21; 24,2–8; 24,10–21; 26,1–23 (aaO., 510). 47

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Zu Beginn der Verhandlung trugen zunächst die Ankläger die Anklagen vor dem Statthalter vor, der diese in einer Befragung untersuchte. Über die als cognitio bezeichnete Untersuchung der Straftat unter Einschluss der Befragung54 sind kaum Einzelheiten bekannt.55 Das Urteil konnte entweder durch den Statthalter selbst in seiner vom imperium des Kaisers abgeleiteten richterlichen Autorität erlassen oder durch Hinzuziehen eines Kabinetts aus Beamten oder Vertrauten gefällt werden.56 Trotz der weitgehenden Freiheit des Statthalters wurden in den Provinzen häufig lokale Gesetze befolgt und auch lokale Behörden zur Strafverfolgung in ihren traditionellen Rechten belassen,57 die bei kleineren Vergehen selbstständig handeln konnten. 58 Während der Statthalter bei Befragung und Urteilsspruch eine zentrale Funktion wahrnahm, waren lokale Behörden in den Provinzen vor allem in der Festnahme, Beweissammlung und Anklage eingebunden. 1.2.5. Forensische Rollen des römischen Prozessrechts Das römische Prozessrecht setzt im Prozessablauf grundlegende forensische Rollen voraus, die nicht fest an eine der genannten Verfahrensarten gebunden sind und in ihrer Funktion im Prozess im Folgenden näher beschrieben werden. Insbesondere die Rollen von Richter, Ankläger, Angeklagtem, Zeugen und Prozesszuschauern bekommen in den Quellen zum römischen Prozesswesen deutliche Konturen. Zugleich lässt sich ein Grundmuster eines prototypischen Prozessablaufs beschreiben, der den verschiedenen Verfahrensarten gemeinsam ist. Die richtende Instanz war je nach Prozessordnung ein Einzelrichter oder ein Richterkollegium. Die Befugnisse der Richterinstanz konnten je nach Ausprägung stark variieren.59 Als grundlegende Anforderung wurde von einem guten Richter die Abwägung und Prüfung der Zeugenaussagen erwartet.60 Der Ankläger trat dem Angeklagten in einer Vorstufe des Prozesses informell gegenüber und konfrontierte ihn mit den Anklagen, um ein Schuldeingeständnis zu erreichen und damit die Rechtsstreitigkeit beizulegen. Konnte dieses Ziel nicht erreicht werden, wurde die Rechtssache als causa im Hauptprozess verhandelt. 54

PAULUS (1997), 59. So beklagt von SÖLLNER (1989), 116. 56 SHERWIN-WHITE (1963), 17. SÖLLNER (1989), 116 sieht den von einem consilium gefällten Schuldspruch sogar als Normalfall an. 57 Siehe dazu RICHARDSON (2016), 119f. und ausführlich GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 40–56. ANDO (2016), 291 zeigt, dass für die Römer vielfach sogar die Notwendigkeit bestand, auf lokale Gesetze und Gegebenheiten zurückzugreifen. 58 So etwa in der Provinz Judäa; siehe dazu unten Abschnitt 1.3.2. 59 Siehe hierzu METZGER (2012), 808. 60 Siehe dazu OTTE (2002), 14; THOMMEN (2014), 266. In der Abwägung von Zeugenaussagen zeigte sich der Unterschied zwischen guten und schlechten Richtern. 55

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Eine wesentliche Rolle im Prozess selbst spielten die Zeugen,61 denen unter den Beweismitteln die Hauptlast zukam. 62 Der Wert einer Zeugenaussage wurde am Charakter und Ruf63 oder der sozialen Herkunft des Zeugen bemessen64 und konnte durch mehrere unabhängige und übereinstimmende Zeugen erhöht werden.65 Dagegen disqualifizierten sich Zeugen selbst, sofern sie voreingenommen oder aggressiv auftraten.66 Sie konnten im Falle einer falschen Aussage mit dem Todesurteil belegt werden.67 Ausschlusskriterien für Zeugen waren zu große persönliche Nähe zu den Prozessbeteiligten oder eine Vorbestrafung des Zeugen.68 Im Prozess konnten Zeugen sich sowohl auf der Seite der Kläger wie auch auf der Seite der Beklagten äußern. Häufig begannen im Strafprozess die Zeugen der Kläger, gefolgt von den Verteidigungszeugen. Dabei konnten die Zeugen beider Seiten auch von der Gegenseite in einem Kreuzverhör befragt werden.69 Trotz der großen Bedeutung der Zeugen vor Gericht konnte der Wert einer guten Argumentation stärker wiegen als Zeugen, woran die Bedeutung der rhetorischen Auseinandersetzung und der Rede ersichtlich

61 Siehe zu der Funktion von Zeugen MEYER (2016), 275–277; PAULUS (2002), 189–191; VÖLKL (2002), 191. Der Begriff des testimonium hat dabei eine klare forensische Dimension; vgl. PAULUS (2002), 190: „Das Prozessrecht ist die eigentliche Domäne des t.“ In bestimmten Fällen ist sogar die Pflicht belegt, als Prozesszeuge zu fungieren (etwa im Fall von Urkundenzeugen); vgl. PAULUS (2002), 190. 62 Als Beweismittel waren Urkunden und Zeugen die am häufigsten erwähnten Beweismittel (MEYER [2016], 271); dabei kommt den Zeugen nach PAULUS (2002), 190 das Hauptgewicht zu. So wurde die Zeugenaussage bis ins 4. Jh. n. Chr. dem Urkundenbeweis vorgezogen (PAULUS [2002], 191; RÜFNER [2016], 264). 63 Vgl. etwa MEYER (2016), 275: „As handbooks exhorted, prestigious witnesses added to the prestige of the litigant.“ Meyer (aaO., 276) beobachtet ferner mit Verweis auf Cic.Quinct. 75; Apul.apol. 61–62; Val.Max. VIII 5,6: „A successful case was then buttressed by witnesses whose prestige confirmed the truth of what they said and added to that of the defendant. This emphasis on witnesses’ prestige could be so strong that it could even obscure the factual relevance of witnesses’ evidence.“ 64 So PAULUS (2002), 91. Zeugen wurden im Hinblick auf ihre Lebensführung und ihre Reputation ausgewählt: „[H]is life was his ‚witness‘“ (MEYER [2016], 275 mit Verweis auf Cic.Sull. 79). Die Autorität eines Zeugen wurde ferner durch seine Autorität, seine Tugend, sein Alter, seine Fähigkeiten, seine Erfahrung und seine Würde erhöht (MEYER [2016], 275 mit Verweis auf Cic.top. 73). 65 Vgl. PAULUS (2002), 190; ebenso MEYER (2016), 275 (mit Verweis auf Plut.Cat.min. 19,4): „More witnesses were always better, since their weight accumulated, and only one might eventually be claimed to be insufficient […].“ Zur Zeit Konstantins findet sich sogar das Prinzip, dass ein Zeuge allein nicht gültig ist (unus testis, nullus testis), sondern Bestätigung durch einen weiteren Zeugen benötigt (RÜFNER [2016], 264). 66 MEYER (2016), 280. 67 VÖLKL (2002), 191. 68 PAULUS (2002), 190. 69 PAULUS (2002), 190.

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wird.70 Der Prozess selbst wurde häufig von der Öffentlichkeit als Prozesszuschauern verfolgt, die entweder durch Äußerungen oder eine Abstimmung auch aktiv am Prozessgeschehen teilnehmen konnten. Selbst im Falle einer weitgehend passiven Öffentlichkeit konnten die Prozesszuschauer sich dem Prozessgeschehen nicht gänzlich entziehen, insofern ein Prozessakteur die Meinung der Beobachter gezielt beeinflussen oder mit dem Prozessgegner zugleich die mit ihm sympatisierenden Beobachter diskreditieren konnte.71 Insbesondere eine Prozessniederlage brachte zugleich Schande über jene Prozesszuschauer, die sich mit der unterlegenen Partei assoziiert hatten.72

1.3. Das jüdische Prozessrecht 1.3.1. Das Prozessrecht der Thora Die Basis des jüdischen Rechtssystems ist die Thora.73 Die Bestimmungen der Thora sind für die Rechtspraxis bis ins 1. Jh. n. Chr. und danach maßgeblich und stellen die Grundlage dar, an der sich das jüdische Prozessrecht orientiert.74 Obwohl die Thora schon zuvor die ideale Rechtsform darstellt, kann häufig nur vermutet werden, inwieweit sie zu unterschiedlichen Zeiten auch der Praxis des Prozessrechts entsprach.75 Bei der in der Thora vorausgesetzten

70 Dies wird nach RÜFNER (2016), 272 durch den Ausspruch Ciceros illustriert, nach dem Argumente gewichtiger als Zeugen sind: „apud bonum iudicem, argumenta plus quam testes valent“ (Cic.rep. 1,59). Daraus ergab sich zugleich die Notwendigkeit eines rhetorisch und juristisch geschulten Rechtsbeistandes; vgl. MEYER (2016), 277–281. 71 Vgl. MEYER (2016), 280; NEYREY (1996), 119. 72 Die Konsequenzen eines Prozessausgangs für gewonnene oder verlorene Ehre waren im römischen Prozessgeschehen von immenser Bedeutung; vgl. dazu MEYER (2016), 273– 275. 73 Vgl. KELLERMANN (2011), 258: „Das theonome jüd. Recht manifestiert sich in der Tora, der Urkunde des Erwählungsbundes […].“ 74 Siehe dazu etwa die ausführliche Darstellung bei OTTO (2003), 177–190; KELLERMANN (2011), 258. 75 Die atl. Texte außerhalb der Thora zeigen in der Rechtspraxis sowohl Konvergenzen als auch Divergenzen zu den Rechtsbestimmungen der Thora (vgl. dazu auch die in der folgenden Untersuchung jeweils angegebenen atl. Belege aus Weisheitstexten, prophetischen Texten und atl. Erzähltexten). Neben der Schwierigkeit zu ermitteln, inwieweit die Rechtspraxis zu unterschiedlichen Zeiten mit den in der Thora schriftlich fixierten Rechtsbestimmungen übereinstimmt, wird in der atl. Wissenschaft eine historische Rekonstruktion der Rechtsverhältnisse auch durch kontroverse Datierungshypothesen zur Thora erschwert (siehe dazu den Überblick über die Forschungsgeschichte, den gegenwärtigen Forschungsstand sowie unterschiedliche Positionen zur Entstehung der Thora bei ZENGER/FREVEL [2012], 85–147; OTTO [2003], 157–176; LONGMAN/DILLARD [2007], 40–51; SELMAN [2003], 500–508).

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Rechtsordnung werden Rechtsfälle meist vor den Ältesten der Stadt76 oder vor berufsmäßigen Richtern verhandelt77 und nur in schwierigeren Fällen oder bei schweren Straftaten vor einen zentralen Gerichtshof gebracht. 78 Als Richter werden demnach immer mehrere Richter vorausgesetzt,79 unter denen im Falle des Zentralgerichts regelmäßig Priester und Leviten genannt werden.80 Die Anwesenheit der Priester ergibt sich daraus, dass diesen als Auslegern der Thora maßgebliche Bedeutung zukam.81 Als Kläger trat sowohl in zivilrechtlichen Klagen als auch bei religiösen Verbrechen eine Privatperson auf.82 Die Verhandlung gliederte sich in zwei Phasen:83 Zunächst wurden in einer ersten Phase eines bilateralen Rechtsstreites (‫ ִ)ריב‬zwischen den beiden Streitparteien die Argumente ausgetauscht und mögliche Zeugen benannt mit dem Ziel, eine friedliche Schlichtung durch Überzeugung der Gegenpartei zu erreichen.84 Konnte damit die Streitsache nicht geschlichtet werden, wurde der eigentliche Rechtsstreit in einem trilateralen Verfahren (‫)מ ְשׁ ָפּט‬ ִ vor einem Richterrat ausgetragen. Die eigentliche Verhandlung fand in der Regel an einem öffentlichen Ort statt. 85 Insbesondere bei religiösen Kapitalverbrechen wird ausdrücklich das Volk als kollektiver Kläger und Urteilsvollstrecker vorausgesetzt.86 Kapitalverbrechen durften nur aufgrund der Aussage zweier oder dreier Zeugen gerichtet werden, was möglicherweise sogar für alle Verfahren galt.87

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Siehe OTTO (2003), 176; vgl. dazu Dtn 19,12; 21,3–8; 21,19; 22,15, 25,7f.; vgl. auch Ruth 4,1–12. 77 Vgl. etwa Dtn 16,18; siehe dazu auch OTTO (2003), 170. 78 Siehe dazu DE VAUX (1960), 245–248. 79 Vgl. dazu SCHART (2014), 2. Eine Ausnahme könnten profane Rechtsfälle darstellen, in denen möglicherweise nur ein Richter das Urteil sprach; vgl. DE VAUX (1960), 247. 80 Vgl. Dtn 17,9.12; 19,17; 21,5; 33,10; 2Chr 19,8.11. Nach OTTO (2003), 175 bezieht sich die Anwesenheit von Priestern und Leviten im Richterkollegium nur auf das Zentralgericht. 81 DE VAUX (1960), 249. 82 Siehe Dtn 25,7f.; vgl. ähnlich auch Hi 9,19; 13,18; 23,4; Spr 25,8; Jer 49,19. Siehe für religiöse Verbrechen insbesondere Dtn 13,2–11.13–17. Vgl. dazu DE VAUX (1960), 250f. 83 Siehe hierzu ausführlich BOVATI (1994) für die bilaterale (aaO., 30–166) und die trilaterale (aaO., 168–387) Form des Rechtsstreits. Vgl. ferner SCHART (2014), 3 sowie LIEDKE (2004), 772; ASIEDU-PEPRAH (2001), 13–24; STETTLER (2011), 18. 84 Vgl. BALTZER (2001), 16: „The aim of a court procedure was first and foremost to get a settlement, shalom.“ 85 Vgl. SCHART (2014), 6; ebenso DE VAUX (1960), 250 mit Hinweis auf Dtn 21,19. 86 Vgl. Dtn 13,10; 17,7. 87 Vgl. Num 35,30; Dtn 17,6; vgl. ferner 1Kön 21,10. In Dtn 19,15 wird das Prinzip von zwei oder drei Zeugen für beliebige Fälle vorausgesetzt. Als Kapitalverbrechen galt Mord (Ex 21,12; Lev 24,17; Num 35,16–21; Dtn 19,11f.), Menschenraub (Ex 21,16; Dtn 24,7), Götzendienst (Ex 22,19; Lev 20,1–5; Dtn 13,2–19; 17,2–7), Gotteslästerung (Lev 24,15– 16), Entweihung des Sabbats (Ex 31,14–15), Zauberei (Ex 22,17; Lev 20,37), schwere Auflehnung gegen die Eltern (Ex 21,15.17; Lev 20,8; Dtn 21,18–21), Ehebruch (Lev 20,10;

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Zeugen konnten Bundes- und Vertragszeugen sein, die bei einem Vertragsbruch im Rechtsstreit gegen die vertragsbrüchige Partei aussagten.88 Viel häufiger dagegen werden Zeugen genannt, die als Augenzeugen eines Vergehens fungieren. In beiden Fällen jedoch werden Zeugen im strafrechtlichen Kontext ausschließlich in der Anklage genannt89 und haben eine maßgebliche Funktion in der Vollstreckung des Urteils.90 Umgekehrt werden falsche Zeugen mit demselben Urteil belegt, das sie dem Angeklagten zugedachten.91 Zeugen haben damit stets eine Doppelrolle als Zeuge, Ankläger92 sowie bisweilen auch Richter,93 insofern sie maßgeblich an der Urteilsvollstreckung beteiligt sind. Dies Dtn 22,22), Sodomie (Lev 18,23; 20,15–16) sowie Unzucht und Inzest (Lev 20,11–17); vgl. DE VAUX (1960), 255. 88 Siehe hier COENEN (2005), 1764; ferner BEUTLER (1972), 88–91. In diesem Kontext hat auch der Zeuge des Bundesrechtsstreites seinen Platz (TRITES [1977], 57). 89 Siehe hierzu das Ergebnis der ausführlichen Untersuchung von BOVATI (1994), 266: „Used absolutely, in the context of clearly legal proceedings, the noun `ēd always means a prosecution witness.“ Siehe auch STRATHMANN (1966), 486; vgl. ferner das Urteil von BEUTLER (1972), 83, nach dem der Zeuge „meist als Belastungszeuge oder Ankläger vorausgesetzt wird. In diesem Sinne wird auch die Präposition ‫ ב‬durchweg im feindlichen Sinne gebraucht, d. h. in der Bedeutung ‚gegen‘. Texten mit einem positiven Zeugnis ‚für‘ jemanden sind wir im strafrechtlichen Zusammenhang nicht begegnet.“ Die Forschung in der Mitte des letzten Jahrhunderts hat durchaus noch an der Rolle des Zeugen in der Verteidigung in sehr vereinzelten Belegen festgehalten; die Belege entstammen allesamt Passagen außerhalb der Thora und halten einer genauen Überprüfung nicht stand. So nennt DE VAUX (1960), 251 nur Spr 14,25; Jes 43,9–10.12; Jer 26,17 als Belege eines Entlastungszeugen. In Jer 26,17 wird jedoch kein Zeuge genannt, sondern ein Widerspruch der Obersten in ihrer Richterfunktion gegen die Ankläger thematisiert. In Jes 43,12 ist keine Verteidigung, sondern eine Anklage im Blick. Spr 14,25 formuliert ein allgemeines Prinzip, das den wahrhaftigen Zeugen als Lebensretter darstellt. Dabei ist jedoch weniger an einen Zeugen in der Verteidigung, als vielmehr an einen glaubwürdigen Zeugen gedacht, der durch seine wahre Aussage im Gegensatz zum Lügenzeugen die notwendige Übereinstimmung der Belastungszeugen und damit den Tod eines Unschuldigen verhindert (siehe WALTKE [2004], 597f.; MURPHY [1998], 106). Einzig in Jes 43,9 sind Zeugen auf beiden Seiten im Blick, fungieren dabei jedoch auf beiden Seiten in der Anklage (VAN LEEUWEN [2004], 214). 90 Siehe Dtn 17,7; vgl. dazu DE VAUX (1960), 252: „[D]iese Zeugen trugen die Verantwortung für den Urteilsspruch, deswegen hatten sie auch die ersten Steine zu werfen, wenn der Schuldige zu dieser Strafe verurteilt war […].“ 91 OTTO (2003), 172; vgl. Dtn 19,18f. 92 BEUTLER (1972), 82 resümiert nach Diskussion der atl. Belege: „Es scheint vielmehr, daß die Funktion des Anklägers und des Belastungszeugen im hebr. AT sprachlich kaum voneinander abzuheben sind.“ 93 Siehe dazu BOECKER (1970), 80f. mit dem Hinweis, dass „die Zeugen am Schluß des Verfahrens durchaus bei der Urteilsfindung mitwirken, also gleichzeitig Richter sein“ können. Nach KÖHLER (1953), 140 trifft dies auch umgekehrt zu, sodass der Richter als Zeuge fungieren kann und somit die Unterscheidung zwischen Zeuge und Richter nicht starr durchzuhalten ist: „Man darf nicht übersehen, daß im alttestamentlichen Sprachgebrauch Zeuge und Richter nicht, wie in der heutigen Zeit, streng getrennt sind, sondern daß sie durch ein

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weist auf eine Eigenart des Rechtsstreites in Israel hin, bei dem im Unterschied zum griechisch-römischen Prozessrecht die Rollen von Zeuge, Ankläger, Angeklagtem und Richter nicht a priori festgelegt sind, sondern sich im Prozess wandeln und auch überschneiden können.94 Statt einer statischen Rollenverteilung sind die forensischen Rollen vielmehr funktional definiert und lassen sich nicht eindeutig und disjunkt den am Prozess beteiligten Personen zuordnen. Die forensischen Rollen sind damit ambivalent.95 Den anklagenden Zeugen stehen im Prozess keine Entlastungszeugen gegenüber, sondern nur die Verteidigung des Angeklagten in eigener Sache oder die Anrufung Gottes, der in der Rolle als Richter zugleich als Beistand des zu Unrecht Angeklagten vorausgesetzt wird.96 Diese Asymmetrie zwischen Anklage und Verteidigung hinsichtlich der nur aufseiten der Anklage auftretenden Zeugen basiert auf der Annahme, dass eine Verurteilung von Unschuldigen an den hohen Anforderungen eines belastenden Zeugnisses scheitert. Dementsprechend ist auch die Rolle des Richters häufig positiv als „Verteidiger des Rechts“97 und nicht als ahndende und verurteilende Instanz konnotiert.98 Sofern eine belastbare Zeugenaussage mehrerer Zeugen vorliegt, erfolgt der Urteilsspruch durch einen Priester oder einen Richter.99 Die Anwesenheit des Priesters ist wesentlich darin gegründet, dass die in der Thora kodifizierten Urteile Gottes bereits schriftlich vorliegen und nur auf konkrete Fälle angewandt

und dasselbe Wort umfaßt werden: auch der Zeuge nimmt an der Fällung des Urteils teil, auch der Richter kann Zeugnis ablegen.“ 94 Dies hat BOVATI (1994), 236 in seiner Untersuchung einsichtsvoll herausgearbeitet. Siehe ebenso auch BOECKER (1970), 80: „Es ist ein Charakteristikum der hebräischen Ortsgerichtsbarkeit, daß die Funktionen nicht so starr gegeneinander abgegrenzt sind, wie es uns selbstverständlich erscheint. Dort liegt praktisch gar nichts fest […].“ Boecker weist ferner darauf hin, dass dabei insbesondere nicht an eine „feste Rollenverteilung“ zu denken ist (aaO., 81), und führt zur Struktur des hebräischen Gerichtsverfahrens aus: „Bei ihr gibt es allen von modernem Empfinden getragenen Einwänden zum Trotz keine scharfe Trennung zwischen den einzelnen am Gerichtsverfahren Beteiligten“ (aaO., 87). 95 Vgl. BOVATI (1994), 236: „It comes as no surprise, then, to realize that biblical language suggesting ‚taking up position‘ in a trial is in some respects generic, ambivalent and – by our standards – imprecise: it refers only to a speech, clarified by context […].“ 96 Siehe zu beiden Formen der Verteidigung auch BOECKER (1970), 104f.; vgl. auch SCHART (2014), 5f. Die Verteidigung in eigener Sache ist dabei jedoch niemals neutrale Verteidigung, sondern aufgrund der ausschließlich anklagenden Funktion des Zeugen immer zugleich als Anklage des Anklägers konzipiert; siehe dazu unten ausführlich Abschnitt 2.1. Siehe zur Anrufung Jahwes als Rechtsbeistand etwa Ps 109, 31; 142,5 sowie OTTO (2003), 173; SCHART (2014), 7, und zur Verteidigung durch Gott selbst als Richter BOECKER (1970), 110f.; NIELSEN (1978), 76. 97 DE VAUX (1960), 252. 98 Siehe hierzu NIELSEN (1978), 76. 99 SCHART (2014), 6.

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werden müssen.100 Ein Urteilsspruch wird damit stets als ausgesprochenes Verdikt eines von Gott bereits gefällten Urteils vorausgesetzt und folglich stets im Namen Gottes ausgesprochen.101 Dementsprechend werden auch unentscheidbare Rechtsfälle unter ein Gottesurteil gestellt.102 Gott wird damit nicht nur als der eigentliche Richter, sondern auch als der letztgültige Zeuge für alle Vorgänge vorausgesetzt.103 1.3.2. Das Prozessrecht im Frühjudentum Das Gericht der Ältesten im Stadttor findet im Frühjudentum eine Fortsetzung in der Synagoge,104 in der Gerichtssitzungen auch unter Fremdherrschaft in den Händen der lokalen jüdischen Gemeinschaft blieben. 105 Während in der Diaspora die Synagoge eine eng begrenzte Befugnis unter der jeweils herrschenden Macht ausüben durfte, 106 gab es in Jerusalem zusätzlich das Synedrium (συνέδριον), das vom 2. Jh. v. Chr. bis ins 1. Jh. n. Chr. mit wechselnden Befugnissen ausgestattet war.107 Unter den römischen Prokuratoren (6–41 und 44–66 n. Chr.) war das Synedrium die zentrale jüdische Oberbehörde über 100 Siehe dazu OTTO (2003), 168f.; ebenso SCHART (2014), 6: „Auch die Rechtsnormen, auf deren Basis das Urteil gesprochen wird, gelten im Alten Testament als durch Gott selbst legitimiert […].“ 101 Vgl. Dtn 33,10; 2Chr 19,11. 102 Siehe zu den verschiedenen Formen DE VAUX (1960), 253–255; vgl. ferner SCHART (2014), 6f. 103 STRATHMANN (1966), 486. 104 Siehe dazu OTTO (2003), 176. 105 So LEVINE (2001), 500. Levine nimmt an, „daß das Stadttor der Vorgänger der Synagoge war“ (aaO., 500). Damit war die Synagoge zugleich der Platz von Gerichtssitzungen (aaO., 506). 106 Siehe zu den Verhältnissen in der Diaspora KELLERMANN (2011), 259. Beispielhaft wird die Kompetenz jüdischer Lokalgerichtsbarkeit im Ehebruchprozess in DanSus 41 deutlich (vgl. zur Diskussion KELLERMANN [2011], 259f.; CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 85f). Die Gesetzesinterpretationen in Philo apol. sind in diesem Zusammenhang ebenfalls aufschlussreich, allerdings ist dabei unklar, inwieweit sie geltende Praxis widerspiegeln (KELLERMANN [2011], 261). In jedem Fall besaßen die jüdischen Gemeinden in Alexandrien und in Kleinasien eine eigene Gerichtsbarkeit (BLINZLER [1969], 245). Ob die lokalen Gerichte auch die Kapitalgerichtsbarkeit besaßen, ist in der Forschung umstritten (vgl. dazu ausführlich GIOVANNINI/GRZYBEK [2008], 57–72); siehe für die Verhältnisse in der Provinz Judäa unten Anm. 111. 107 Die Ursprünge des Synedriums gehen vermutlich auf das 2. Jh. v. Chr. zurück (vgl. MÜLLER [1990], 33). Der Einflussbereich und die Zusammensetzung des jüdischen Ältestenrates variierten unter seleukidischer Herrschaft, in der Makkabäerzeit und unter römischer Herrschaft beträchtlich; siehe dazu ausführlich MÜLLER (1990), 32–42. Erst bei Josephus und im Neuen Testament findet sich die technische Verwendung von συνέδριον für den jüdischen Ältestenrat. Das Synedrium dieser Form fand 70 n. Chr. sein Ende und wurde durch das (allerdings ganz anders geartete) Synedrium von Jamnia ersetzt (BLINZLER [1969], 207; MÜLLER [1990], 39; KELLERMANN [2011], 263).

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lokale Gerichte,108 an die in Übereinstimmung mit der römischen Praxis in den Provinzen Teile der Rechtsprechung delegiert waren.109 Die genauen Kompetenzen des Synedriums sind dabei umstritten. Es ist davon auszugehen, dass das Synedrium zur Ahndung kleinerer Delikte weitgehende Freiheiten hatte,110 jedoch nicht zur Ausübung der Kapitalgerichtsbarkeit legitimiert war und Todesurteile damit nur vom Statthalter gefällt werden konnten.111 Eine Ausnahme zu der entzogenen Kapitalgerichtsbarkeit bildete das Vergehen der Tempelschändung, dessen Bestrafung den Juden als Recht zugestanden war. 112 108 In den lokalen Gerichten wurden private Rechtsstreitigkeiten ausgetragen; siehe dazu GRÖSCHLER (2011), 226; BETZ (2007), 93, und für die Quellen und Zuständigkeiten dieser Gerichte KELLERMANN (2011), 262. BLINZLER (1969), 246 sieht hier ein „besonders hohes Maß von Selbstständigkeit“ und die Erlaubnis, „nicht bloß die Zivilgerichtsbarkeit nach jüdischem Recht, sondern auch in gewissem Umfang die Strafgerichtsbarkeit“ auszuüben. Die enge Einbindung lokaler Behörden entspricht der römischen Praxis in den Provinzen (vgl. dazu oben Abschnitt 1.2.4) und wird angesichts der besonderen privilegia judaica erst recht für das Synedrium in Judäa gegolten haben; so etwa BLINZLER (1969), 33; BETZ (2007), 93; MIGLIETTA (2011b), 244. Ein dichtes Netz aus flächendeckenden lokalen Gerichtshöfen dagegen scheint eher als „rückwärtsgewandte Wunschvorstellung und utopische[r] Entwurf“ (KELLERMANN [2011], 263). 109 Nach KELLERMANN (2011), 263 waren dem Synedrium, „den lokalen Behörden aller unterworfener Städte des röm. Reichs gleich, nur polizeiliche Aufgaben und begrenzte Autonomie im Zivilrecht belassen“. Ferner besaß das Jerusalemer Synedrium die Hoheit über das Kultrecht (aaO., 263). 110 Vgl. BLINZLER (1969), 233: „Die jüdische Behörde besaß das Recht, vom einheimischen Gesetz mit dem Tode bedrohte Verbrechen gerichtlich zu verfolgen.“ Blinzler verweist dabei auf die besonderen privilegia judaica. 111 Dies war die vorherrschende Sicht im 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh. (siehe etwa SCHÜRER [1980], 74f.), die im 20. Jh. allerdings stark kritisiert wurde. Die Mehrzahl der neueren Forscher bestätigt jedoch die Ansicht, dass den Juden 6 n. Chr. die Kapitalgerichtsbarkeit entzogen wurde (so etwa KELLERMANN [2011], 264; BETZ [2007], 93; EGGER [1997], 48f.; BLOMBERG [2001], 241; KOLLMANN [2014], 92; CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 15f.). Siehe für eine ausführliche Diskussion der relevanten Belege ausführlich BLINZLER (1969), 229–244; SHERWIN-WHITE (1963), 35–43; MÜLLER (1990), 35–38; BROWN (1994), 363–373; EGGER (1997), 42–49; CHAPMAN/SCHNABEL (2015), 15–31. Dagegen vertreten GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 72 die These, die Juden hätten die Befugnis gehabt, „die Todesstrafe zu verhängen und zu vollstrecken, wenn dies von den jüdischen Gesetzen vorgeschrieben war“. BLINZLER (1969), 232 meint dagegen, das Synedrium habe zwar Todesurteile fällen, diese aber nicht vollstrecken dürfen. Der in der Diskussion häufig verwendete Begriff des ius gladii ist dabei nur bedingt relevant, da er erst um ca. 200 n. Chr. belegt ist (BLINZLER [1969], 235; EGGER [1997], 41) und es sich ursprünglich nur um einen Begriff aus dem Militärstrafrecht handelte, der das Recht zum Verfügungsrecht über römische Soldaten bezeichnete (EGGER [1997], 40f.). Davon zu unterscheiden ist die generelle Kapitalgerichtsbarkeit, die im vorliegenden Kontext relevant ist. 112 Dieses ist in Philo legat. 31; Flav.Jos.Bell. V 194; VI 124–126 und inschriftlich in der Warninschrift des Tempels belegt (siehe für eine Wiedergabe und Abbildung der Inschrift SCHRÖTER/ZANGENBERG [2013], 469; KÖSTENBERGER [2002b], 29; vgl. zur Diskussion CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 17f.). Dieses Recht zur Tötung war ein von den Römern

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Dennoch arbeitete das Synedrium bei Kapitalverbrechen in Festnahme, Anklage und Rechtsfindung eng mit dem römischen Statthalter zusammen und war auch in den römischen Strafprozess eingebunden,113 indem Teile der cognitio durch eine Befragung des Synedriums vorgenommen werden konnten.114 Demnach erfolgte die Anzeige von Vergehen durch Privatpersonen an das Synedrium unter Angabe entsprechender Zeugen oder durch das investigative Vorgehen des Hohen Rates selbst. Anschließend wurde das Synedrium auch in der Beschaffung von Beweismaterial, der Beurteilung des Sachverhaltes und der Konfrontation des Angeklagten aktiv. Ziel war in erster Linie die Schlichtung bei Rechtsstreitigkeiten, darüber hinaus aber auch die Aufrechterhaltung des lokalen Rechts und der öffentlichen Ruhe. Schwierig ist auch die Bestimmung des genauen Prozessablaufs, dessen Rekonstruktion eng mit Fragen nach dem Alter der Überlieferungen der Mischna verbunden ist.115 Als wahrscheinlich kann jedoch gelten, dass das Synedrium zugestandenes Privileg als Ausnahme zu der entzogenen Kapitalgerichtsbarkeit und dürfte möglicherweise dennoch in jedem Fall eine förmliche Bestätigung durch die Römer erfordert haben (so KELLERMANN [2011], 264f.; MÜLLER [1990], 36–38). 113 Siehe EGGER (1997), 177. Nach dem Urteil von BETZ (2007), 93 „dürfte der Sanhedrin von Jerusalem eine Art von consilium iudicum, ein Gremium von Ratgebern, gebildet haben, das eine Untersuchung (investigatio) durchführte und die Anklage (accusatio) für das Gericht des Präfekten vorbereitete“. Ebenso MIGLIETTA (2011b), 244: „Es ist gesichert, dass der Hohe Rat Beweissammlungsfunktionen ausübte, auch wenn er […] keine Todesurteile mehr erlassen oder vollstrecken konnte.“ Diese Form der Beteiligung örtlicher Behörden an der römischen Gerichtsbarkeit entsprach der gängigen römischen Praxis in den Provinzen (MIGLIETTA [2011b], 244; BLINZLER [1969], 246). 114 Nach MIGLIETTA (2011b), 244 wurde das „Ermittlungsverfahren“ vom Synedrium und die „Hauptverhandlung“ unter dem Vorsitz des Statthalters abgehalten. 115 Dies betrifft die Frage, inwieweit die in der Mischna um ca. 200 n. Chr. fixierten Rechtstraditionen, die stark von der pharisäischen Sicht geprägt sind, bereits die Praxis in der ersten Hälfte des 1. Jh. widerspiegeln. „Keinesfalls darf man von der pharisäischen Rechtstradition als Mainstream des frühjüd. Rechts ausgehen“ (KELLERMANN [2011], 259; ähnlich KOLLMANN [2014], 50); so auch schon Blinzler, der sich gegen die Ansicht wendet, „daß die in der Mischna enthaltenen Vorschriften für das Synedrium der Zeit Jesu verbindlich waren. Diese Voraussetzung ist unbeweisbar“ (BLINZLER [1969], 207); vgl. auch GIOVANNINI/GRZYBEK [2008], 82f. Dagegen haben die sadduzäischen „Rechtsschöpfungen […] den Untergang Jerusalems nicht überlebt, so dass wir über sie nur durch die verzerrende Polemik der Rabbinen erfahren“ (KELLERMANN [2011], 261; ähnlich BLINZLER [1969], 208). „In idealer Verfassung wird hier das Welt- und Wirklichkeitsverständnis des rabb. Judentums unter heidnischer Obrigkeit entfaltet“ (KELLERMANN [2011], 262; ebenso BLINZLER [1969], 207). Obwohl damit eine vorschnelle Übernahme der Prinzipien der Mischna ins 1. Jh. nicht angezeigt ist (vgl. dazu die Warnung bei KOLLMANN [2014], 50), muss bei einzelnen Bestimmungen dennoch eine ältere Tradition vorausgesetzt werden. So votieren GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 83 dafür, dass viele der Prozessbestimmungen der Mischna durchaus ältere Traditionen wiedergeben. Auch BLINZLER (1969), 197–199 sieht in etlichen Bestimmungen der Mischna ältere Traditionen; vgl. ferner die Diskussion der für die Prozessordnung relevanten Belege bei CHAPMAN/SCHNABEL (2015), 53–72.92–96. Generell

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sich als Richterkollegium aus Mitgliedern der Sadduzäer, Pharisäer und Ältesten als Vertretern des Volkes zusammensetzte116 und die Grundsätze der Thora zum Zeugenrecht in die gelebte Rechtspraxis einflossen.117 Unabhängig von der genauen Kompetenz des Synedriums sind die im Alten Testament genannten Grundsätze als gedankliche Norm im Frühjudentum vielfach belegt und für Prozesse als Richtschnur präsent.118 1.3.3. Forensische Rollen des jüdischen Prozessrechts Das jüdische Prozessrecht zeigt neben grundlegenden Gemeinsamkeiten in zentralen Aspekten Unterschiede zur griechischen und römischen Prozesspraxis. Diese sind insbesondere in Bezug auf die forensische Funktion der am Rechtsstreit und Prozess beteiligten Parteien deutlich sichtbar. Die forensischen Rollen des jüdischen Prozessrechts sollen im Hinblick auf diese besonderen Charakteristika nun näher beschrieben werden. Grundsätzlich konnte jeder als Ankläger gegen einen anderen auftreten, der damit zum Angeklagten wurde. Die Rechtmäßigkeit und juristische Gültigkeit der Anklage hing dabei maßgeblich von Zeugen ab,119 die damit die funktional findet sich in der Mischna zwar eine Tendenz, die Verhängung von Todesstrafen deutlich zu erschweren (KELLERMANN [2011], 262f.; BLINZLER [1969], 227), doch „es ist nicht einzusehen, warum die Juden diesen Grundsatz erst nach der Katastrophe von 70 n. Chr. entdeckt haben sollten“ (GIOVANNINI/GRZYBEK [2008], 83). Im Folgenden werden Belege der Mischna dann genannt, wenn sie inhaltlich mit anderen frühjüdischen Belegen kongruent sind. In diesem Fall ist eine ältere Tradition wahrscheinlich. Die Belege der Mischna sind ferner insoweit aufschlussreich, als sie eine Einbettung der forensischen Rollen des frühjüdischen Prozessrechts in einen breiteren zeitlichen und kulturellen jüdischen Kontext ermöglichen. 116 Dabei bildeten die Sadduzäer wohl den größten Teil des Rates (KELLERMANN [2011], 263). Unabhängig von der genauen Größe oder der genauen Form des Synedriums (mSan 1,6 unterscheidet zwischen dem großen und dem kleinen Synedrium) ist die Beurteilung eines Sachverhaltes durch ein Kollegium aus Richtern (im Gegensatz zu einem Einzelrichter) im Frühjudentum mehrfach belegt (11QTa LXI 8–9; mSan 1,1–6; 3,1–2; 4,1.3; 5,5). 117 Vgl. dazu KELLERMANN (2011), 262. Die Praxis der Auslegung und Anwendung wurde durch unterschiedlich strenge Auffassungen der jüdischen Gruppierungen erschwert. Wo die Quellen der Mischna mit anderen frühjüdischen Quellen übereinstimmen, ist eine gelebte Rechtspraxis wahrscheinlich; vgl. etwa zum Zeugenrecht (siehe dazu Abschnitt 1.3.3). 118 Dazu gehören auch privatrechtliche Tatbestände. So wurden in Vermögensstreitigkeiten auf das Talionsgesetz (Ex 21,23–25; Lev 24,17–22), im Schuldenrecht, Eherecht und anderen Rechtsfällen auf alttestamentliche Bestimmungen zurückgegriffen (KELLERMANN [2011], 259.265). Daneben gab es in vielen Bereichen eine „Interpretation und Aktualisierung biblischer Rechtsnormen […] durch halachot […], die sich wie ein Netzwerk über das ganze Leben ausbreiten“ (KELLERMANN [2011], 259). 119 Vgl. hier etwa die Bestimmung in Qumran CD IX 3–4: „[Es] ist jedes Bündnismitglied, das gegen seinen Mitmenschen ein Anklage vorbringt, die nicht vor Zeugen eidlich beschworen wird, oder das in der Hitze des Zorns eine Anschuldigung macht oder das seinen

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bedeutendste Rolle im Prozess einnahmen. Der Ankläger konnte den Angeklagten schon vor dem Gerichtsprozess informell vor Zeugen verwarnen oder zurechtweisen. 120 Die Hauptfunktion der Zeugen bestand jedoch in seinem Auftreten im Prozess. Dabei wird in den frühjüdischen Belegtexten vielfach die Notwendigkeit von mindestens zwei Zeugen zur Verurteilung genannt und dabei auf das alttestamentliche Zeugenrecht verwiesen.121 Ein einzelner Zeuge galt dagegen nicht als ausreichend.122 Im Gegensatz zum griechischen und römischen Prozessrecht fungierten die Zeugen in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Thora selbstverständlich und prädominant in der Anklage und nicht aufseiten der Verteidigung. Diese forensische Funktion des Zeugen stellt ein Proprium des jüdischen Prozessrechtes dar. Das Primat des Zeugen in der Anklage zeigt sich nicht nur in den im Frühjudentum maßgeblichen Referenztexten zum Zeugenrecht in der Thora,123 sondern ist auch in unterschiedlichen frühjüdischen Quellen124 und

Mitmenschen bei seinen Gemeindeältesten in Verruf bringt, ein Rache-Nehmer und ein Groll-Heger.“ 120 So etwa in Qumran in der Gemeinderegel 1QS XI 1 (vgl. auch TRITES [1977], 52); CD IX, 2–20 (mit Diskussion bei CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 86–88). Siehe ebenso Mt 18,15–17. STRACK/BILLERBECK (1922), 1018f. und BLINZLER (1969), 199 verweisen auf die Notwendigkeit einer Verwarnung bei Gotteslästerung; vgl. im Fall von Götzendienst auch mSan 10,4. Vgl. ferner die Notwendigkeit einer vorherigen Ermahnung in mMak 1,8– 9; mSota 1,2 (siehe zu den Belegen in der Mischna auch BEUTLER [1972], 157). 121 Häufig wird das atl. Zeugenrecht aus Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15 dabei direkt zitiert. Vgl. etwa die Bestimmungen in der Tempelrolle 11QTa LXI 6–7: „Kein einzelner Zeuge soll aussagen gegen einen Mann, der wegen irgendeiner Missetat angeklagt ist oder einer Sünde. Eine Tatsache kann nur aufgrund des Zeugnisses von zwei oder drei Zeugen festgestellt werden.“ Siehe ebenso 11QTa LXI 6–10; 11QTa LXIV 8–9; CD IX 20–23; Flav.Jos.Ant. IV 219; mBQ 1,3; 7,2–4; mSan 4,1; mMak 1,1–10; mSota 1,1–2; 6,2–4 sowie die Diskussion der wichtigsten Belege bei CHAPMAN/SCHNABEL (2015), 82–98. Siehe zu den neutestamentlichen Belegen unten Anm. 126. Eine ähnliche Rechtspraxis zeigt sich ebenso im Diasporajudentum, wie die Belege in AddDan 1,21–62 zeigen (vgl. KELLERMANN [2011], 259; BETZ [2007], 71). 122 Vgl. etwa 11QTa LXI 6–7; CD IX 16–23; vgl. auch Flav.Jos.Ant. IV 219: „Ein einziger soll nicht gelten, sondern es sollen deren drei oder wenigstens zwei sein […].“ Ein ähnlicher Befund zeigt sich in mKet 2,9: „Niemand ist glaubhaft für sich selbst. […] Es darf niemand für sich selbst Zeugnis ablegen.“ Vgl. ferner mRHSh 3,1: „Denn der einzelne ist nicht vertrauenswürdig, weil er allein ist“; ebenso mJev 3,8; 15,3. 123 Vgl. zu diesem Befund im alttestamentlichen Zeugenrecht oben Abschnitt 1.3.1 sowie BOVATI (1994), 266. Auch in der LXX spiegelt sich diese Einschränkung des Zeugen auf die Anklage wider, denn „μάρτυς gehört auch in LXX in das Gebiet des Rechts und bezeichnet zunächst den Zeugen vor Gericht, wobei in erster Linie an den Belastungszeugen gedacht ist“ (STRATHMANN [1966], 486). 124 Siehe hier Flav.Jos.Ant. IV 219 und die Untersuchung bei TRITES (1977), 54–57. Vgl. ferner Philo spec. IV 41–44; spec. IV 54; decal. 138–141 (Diskussion der philonischen Belege bei TRITES [1977], 57–65) sowie AddDan 1,21–62 (vgl. dazu die Diskussion bei

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insbesondere in Qumran 125 sowie im Neuen Testament 126 eindeutig belegt. Auch die späteren und besonders zahlreichen Belege der Mischna zum Zeugenrecht zeigen eine so prädominante Assoziation des Zeugen mit der Anklage, dass ein spezifisches funktionales Rollenverständnis des Zeugen als Ankläger deutlich wird, das sich schwerlich erst nach dem 1. Jh. n. Chr. entwickelt haben dürfte.127 In der Mehrzahl der Erwähnungen von Zeugen in der Mischna haben CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 86). Siehe ferner die Parallelität von μαρτυρέω und κατηγορέω in TestJud 20,5: καὶ τὸ πνεῦμα τῆς ἀληθείας μαρτυρεῖ πάντα, καὶ κατηγορεῖ πάντων. 125 So etwa CD IX 3–4.17–23. In 11QTa LXI 6–11 werden Zeugen in der Anklage „wegen irgendeiner Missetat […] oder einer Sünde“ genannt, ebenso in 11QTa LXIV 8. Nach SHERIDAN (2015), 180 behalten die Bezüge in Qumran auf das atl. Zeugenrecht den ursprünglichen Kontext bei, bei dem der Zeuge in der Anklage gegen schwere Vergehen fungiert (vgl. ebenso CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 86–90). 126 Nach STRATHMANN (1966) zeigt sich der Zeuge bei der ntl. Verwendung von μάρτυς im Strafprozess nur in der Funktion des Belastungszeugen (aaO., 493; mit Verweis auf Mk 14,63; Mt 26,65; Apg 6,13; 7,58). Das Prinzip von Zeugen in der Anklage ist dabei ferner in sämtlichen Stellen, in denen auf das Prinzip von zwei oder drei Zeugen im Neuen Testament zurückgegriffen wird, präsent (TRITES [1977], 121; BEUTLER [1972], 192–194; ebenso STRATHMANN [1966], 493f. mit Diskussion aller Belege). Die Belege sind Mt 18,16 (Zeugen gegen Vergehen eines Bruders), 2Kor 13,1 (Zeugen gegen ein Gemeindemitglied im Kontext von Gemeindezucht), 1Tim 5,19 (Zeugen bei Klage gegen einen Ältesten) und Hebr 10,28 (Zitation des atl. Zeugenrechts im Kontext von schweren Vergehen, die eine Verurteilung nach sich ziehen). Damit setzen sämtliche ntl. Bezüge auf das atl. Zeugenrecht die im atl. Kontext präsente anklagende Funktion des Zeugen voraus und behalten diese auch im 1. Jh. n. Chr. bei (so auch BROWN [1966], 223). PANCARO [1975], 275 konstatiert daher: „Everywhere in the NT where this legal principle is referred to, we are dealing with witnesses for the prosecution (Mt 18,16; 26,60; 2 Cor 13,1; Heb 10,28).“ Ebenso auch SHERIDAN (2015), 180, die in Bezug auf die Anklagefunktion der Zeugen bemerkt: „Citations of the rule in various New Testament […] texts indicate that authors respected this contextual meaning, and did not fabricate a ‚prooftexted‘ secondary meaning for the rule.“ Auch COENEN (2005), 1765 sieht die anklagende Funktion des Zeugen-Begriffes so fest mit dem Lexem μάρτυς konnotiert, dass er diese sogar noch im Hinblick auf die Entwicklung des christlichen Märtyrer-Begriffes im Vordergrund sieht: „Voraussetzung dieser Entwicklung ist die Tatsache, daß Zeugen v. a. in einem Rechtsstreit gebraucht werden, so daß es nahe lag, bes. die anklagende und auf Widerstand stoßende Verkündigung als Zeugnis zu bezeichnen […].“ 127 Die Belege der Mischna zeigen, wie die Rolle des Zeugen in späterer Zeit verstanden wurde, enthalten dabei jedoch auch ältere Traditionen, die Rückschlüsse auf die Praxis im 1. Jh. n. Chr. erlauben (vgl. zur Diskussion oben Anm. 115). Obwohl bei den Belegen grundsätzlich mit Rückprojektionen einer späteren Zeit gerechnet werden muss (vgl. KOLLMANN [2014], 50), ist in Bezug auf die Frage, ob Zeugen primär in der Anklage oder Verteidigung fungieren, eine solche Verzerrung kaum zu erwarten; vgl. dazu das Urteil zum Zeugenrecht bei KELLERMANN (2011), 262; HARVEY (1976), 46.48.61 (vgl. auch die Übersicht aaO., 137); TRITES (1977), 231–238; 189f.; BOICE (1970), 47; BOCK/HERRICK (2005), 189f.; vgl. ferner das grundsätzliche Urteil bei GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 83. Die Frage nach der genauen Geltung der Belege der Mischna zur gerichtlichen Funktion von Zeugen ist hier nicht von vorderster Relevanz, insofern im vorliegenden Zusammenhang die Rolle

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diese zweifelsfrei anklagende Funktion, 128 während eindeutige Belege dezidierter Entlastungszeugen fehlen.129 Dieses Gefälle setzt sich auch in anderen des Zeugen als Teil eines literarischen Prozess-Settings in einem breiten zeitlichen und kulturellen jüdischen Kontext im Vordergrund steht. 128 Eindeutig belastende Funktion haben Zeugen in der überragenden Mehrheit der Belege der Mischna. Dies umfasst die folgenden Passagen: mBQ 1,3 (Zeugen für einen zugefügten Schaden); mBQ 7,2.3.4 (Zeugen für Diebstahl von Vieh); mBQ 8,6 (Zeugen gegen Entblößung des Kopfes bei einer Frau); mBQ 9,7 (Zeugen gegen Veruntreuung von anvertrautem Geld); mBM 9,12 (Zeugen gegen vorenthaltenen Lohn); mMak 1,1 (Zeugen zur Verurteilung in Ehestreitigkeiten oder anderen Streitfällen); mMak 1,2 (Zeugen in der Anklage im Schuldrecht); mMak 1,3 (Zeuge zur Verurteilung im Schuldrecht); mMak 1,4 (Zeuge für Totschlag); mMak 1,5 (Zeugen zur Überführung falscher Zeugen); mMak 1,7 (Zeugen für ein todeswürdiges Verbrechen mit Verweis auf Dtn 17,6); mMak 1,9 (Zeugen für ein todeswürdiges Verbrechen); mMak 1,10 (Zeugen für ein todeswürdiges Verbrechen); mSota 1,1 (Zeugen für Ehebruch); mSota 1,2 (Verwarnung vor Zeugen; die Verwarnung zielt dabei auf eine spätere gerichtliche Anklage im selben Vergehen ab); mSota 6,2.3.4 (Zeugen gegen die Frau bei Ehebruch); mSota 9,8 (Zeugen gegen einen Mörder); mSan 3,6 (Einschüchterung von Zeugen, die nie Schuld bezeugen); mSan 4,1 (Notwendigkeit von zwei Zeugen zum Schuldspruch bei Kriminalprozessen); mSan 7,5 (Zeugen gegen Gotteslästerung); mSan 7,10 (Zeugen gegen Götzendienst); mShevu 4,1–3 (falsche Zeugen in der Anklage); mShevu 4,5 (Zeuge gegen Geraubtes oder vorenthaltenes Eigentum); mShevu 4,6 (Zeuge für Schadensersatzforderungen); mShevu 4,7 (Zeuge gegen Verwundung, materielle Schädigung und andere Vergehen); mShevu 4,8 (Zeuge gegen vorenthaltenes Eigentum); mShevu 7,2 (Zeuge gegen unerlaubtes Pfänden und Berauben); mShevu 7,3 (Zeuge gegen Körperverletzung); mShevu 8,3 (Zeuge gegen Diebstahl); mKer 3,1 (Zeuge gegen Entweihung von Opfern); mToh 5,9 (Zeugen gegen Verunreinigung). 129 Eine entlastende Funktion eines Zeugnisses ist nur im Fall von Jungfräulichkeit (mKet 2,1), im Fall von bereits gefällten Gerichtsurteilen mit der Möglichkeit der Aufhebung des Urteils (mSan 3,8) und für den Fall einer Zurückweisung von Besitzansprüchen auf ein Feld (mBB 3,4–5) belegt (dagegen fällt die Verwendung von Zeugen für den Monatsanfang in mRHSh 1,3; 1,6–2,6 nicht in eine juristische Kategorie). Durch die Ambivalenz von Zeugen für die Einforderung von Rechtsansprüchen, die entweder als Klage oder zur Abweisung einer Klage eingesetzt werden können, sind die Belege jedoch nicht eindeutig (vgl. auch DAUBE [1973], 91). Ungeeignet für den Nachweis einer entlastenden Funktion von Zeugen sind ferner Belege, in denen Zeugen, die ihre Hauptfunktion in der Anklage haben, neben belastenden Aussagen auch Entlastendes zu berichten haben (mSan 4,1.4); vielmehr ist auch hier das Primat der Zeugen in der Anklage deutlich sichtbar (vgl. CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 54). KELLERMANN (2011), 262 nennt mSan 5,4 als Beleg für Entlastungszeugen, tatsächlich aber thematisiert die Passage den Fall, dass einer der geladenen Zeugen neben belastenden Aussagen auch entlastende Aussagen machen kann. So sind entlastende Zeugen bei Ehebruch nicht entlastende, sondern nur keine belastenden Zeugen nach der Maßgabe, dass es mindestens zwei belastende Zeugen geben muss (wie in mSota 1,3 dargelegt wird; ähnlich in mSot 9,8). Das gleiche Prinzip findet sich in mSan 5,2: „[S]obald einer [der Zeugen] den anderen widerlegt, ist ihre Zeugenschaft wertlos“ (vgl. auch die Diskussion bei CHAPMAN/SCHNABEL [2015], 95). Die genannten Zeugen werden damit als nicht zureichende Belastungszeugen angesehen, sind damit jedoch noch keine dezidierten Entlastungszeugen (so auch DAUBE [1973], 92). Ähnlich sind auch die Zeugen im Kontext von

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rabbinischen Quellen fort.130 Damit zeigt sich eine so starke inhaltliche Kontinuität von alttestamentlichen, frühjüdischen und rabbinischen Quellen, dass eine prädominant anklagende Funktion des Zeugen im jüdischen Rechtsstreit nicht bezweifelt werden kann. Dieser Befund steht in starkem Kontrast zur Funktion des Zeugen im griechisch-römischen Kulturraum und ist in der bisherigen Forschung noch nicht hinreichend wahrgenommen worden.131 Gerichtliche Zeugen werden damit gleichzeitig zu Klägern132 und bekommen faktisch sogar richtende Funktion.133 Da den Zeugen für den Prozessausgang eine entscheidende Bedeutung zukommt, werden im Frühjudentum gelegentlich Kriterien für Zeugen formuliert. Neben einem Mindestalter 134 war vor allem der Charakter des Zeugen von größter Bedeutung und galt zugleich als Maß für dessen Glaubwürdigkeit.135 Der Zeuge musste ferner neutral sein136 und unabhängig von anderen Zeugen eine Tat als Augenzeuge aus eigenem Erleben berichten können, das über das

mShevu 4,9–12 eindeutig Zeugen für einen Geschädigten und damit Zeugen in der Anklage. Nicht relevant sind ferner Beispiele, in denen das Prinzip von zwei Zeugen auf andere Fälle außerhalb eines gerichtlichen Kontextes übertragen wurden (siehe unten Anm. 140). 130 Siehe zu späteren rabbinischen Quellen die bei STRACK/BILLERBECK (1922), 790f. genannten Belege, die sich fast vollständig auf die anklagende Funktion von Zeugen beziehen; vgl. ferner die Darstellung bei DAUBE (1973), 91–93. 131 Dies gilt insbesondere für die johanneische Darstellung; siehe dazu unten die narrative Analyse zu Joh 5,31–47 in Kapitel IV,3.4 sowie zu Joh 8,12–18 in Kapitel IV,4.2. 132 DAUBE (1973), 93 bezeichnet den Ankläger als „identical with the witnesses“. Aufgrund der großen Bedeutung von Zeugenaussagen, denen die Richter nur noch zustimmen können, spricht HARVEY (1976), 47 sogar davon, dass die Grenze zwischen Zeuge und Richter verschwimmen kann: „[T]he distinction, which we take for granted, between the function of a witness and the function of a judge was much less clear in the Jewish system than in modern western practice.“ Ebenso auch BOECKER (1970), 81 mit dem Hinweis, dass der Zeuge „gleichzeitig Richter sein“ kann (siehe auch die weiteren Literaturbelege aaO., 81). 133 Siehe dazu HARVEY (1976), 46f. Der Zeuge hat damit eine so wesentliche Bedeutung im Prozess, dass demgegenüber die Aufgabe des Richters häufig marginal bleibt (aaO., 48). Der Zeuge übernimmt somit eine Rolle, die im modernen Strafrecht mit dem Richter verbunden wird. Vgl. auch die maßgebliche Funktion des Zeugen bei der Urteilsvollstreckung in mSan 6,4. 134 In der Damaskusschrift CD X 1 wird ein solches bei Zeugen von Kapitalverbrechen vorausgesetzt, aber nicht spezifiziert. 135 Siehe dazu insbesondere die Ausführungen bei HARVEY (1976), 20, der bemerkt: „The all-important question was the character of the witnesses.“ Harvey nennt als Beleg den bei DanSus 41 erwähnten Prozess. Ähnlich wird auch in Qumran in CD X 2–3 ein untadeliger Lebenswandel ohne Gebotsverstöße für Zeugen verlangt. Vgl. ebenso Flav.Jos.Ant. IV 219: „Ein einziger soll nicht gelten, sondern es sollen deren drei oder wenigstens zwei sein, deren Wahrheitsliebe durch ihren Lebenswandel verbürgt wird. […] Ferner sollen Sklaven kein Zeugnis ablegen wegen ihrer unedlen Gesinnung; denn es ist wahrscheinlich, dass sie aus Gewinnsucht oder auch Furcht falsch schwören.“ 136 Das schließt die Verwandtschaft zum Angeklagten aus (vgl. mMak 1,8; mShevu 4,1).

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bloße Hörensagen hinausging.137 Erwies sich eine Zeugenaussage als falsch, wurde der Zeuge mit der Strafe belegt, die auf das von ihm dem Angeklagten angelastete Vergehen stand.138 Sofern ein Zeuge vor Gericht nicht die Wahrheit sagte, konnten die Prozesszuschauer selbst zu Zeugen gegen einen Zeugen werden.139 Wird die Notwendigkeit mehrerer Zeugen zunächst nur im Fall von Kapitalverbrechen genannt, zeichnet sich im Frühjudentum immer stärker die Tendenz ab, das Zeugenrecht auf beliebige Vergehen zu verallgemeinern.140 Die Beurteilung der Zeugenaussagen oblag den Richtern, vor denen die eigentliche Verhandlung in Form von Befragung, Anklagereden und Zeugenaussagen abgehalten wurde.141 Obwohl dabei meist ein Richterkollegium vorausgesetzt ist, wird hinter aller menschlichen Gerichtsbarkeit stets Gott selbst als absoluter Richter, Zeuge und Ankläger gesehen.142 Für die Rolle der Richter 137 Siehe dazu mMak 1,9; mSan 4,5–5,1. Hörensagen war nicht nur unzureichend; vielmehr musste der Zeuge auch detaillierte Angaben machen können. Nach mSan 5,2–5 durften die Aussagen mehrerer Zeugen zudem nicht widersprüchlich oder voneinander abhängig sein. 138 HARVEY (1976), 21. Siehe AddDan 1,61–62; Flav.Jos.Ant. IV 219; vgl. ferner 11QTa LXI 9–10: „Wenn zutage tritt, daß der Zeuge seinen Mitmenschen falsch beschuldigt hat, dann sollst du ihm das antun, was er gegen seinen Mitmenschen ausgeheckt hatte.“ Dies gilt auch nach der Mischna (für Geldgeschäfte mBQ 7,3), Hochzeitsgaben (mMak 1,1), Vergehen, die mit Schlägen bestraft werden (mMak 1,3), oder todeswürdige Vergehen (mMak 1,6.9.10; mSan 11,6). Dabei wird explizit auf Dtn 19,19–20 verwiesen (mMak 1,6). Es wird jedoch zwischen Zeugnissen unterschieden, die sich als unzureichend erweisen, und solchen, die sich als falsch erweisen (mMak 1,4). Ein falsches Zeugnis musste ferner vor Gericht und absichtlich erfolgen (mShevu 4,1–2). 139 So etwa in mSan 3,8. 140 Siehe dazu DAUBE (1973), 91 mit Verweis auf mSan 3,6. Vgl. ferner auch mKet 2,1– 9; mRHSh 3,1. Die Erweiterungen betreffen sogar die Äußerungen von Aussprüchen. Die Tendenz der Erweiterung der Tatbestände außerhalb von Kapitalverbrechen ist in der Mischna nicht einheitlich, wie die Aussage in mSan 4,1 zeigt, nach der bei Vermögensprozessen bereits die Aussage eines einzelnen Zeugen zum Schuldspruch genügt und nur für Kriminalprozesse mehrere Zeugen notwendig sind. In anderen Bereichen wird das Prinzip des Mehrfachen Zeugnisses jedoch auf Fälle außerhalb eines streng gerichtlichen Kontextes übertragen wie etwa in Bezug auf die Feststellung des Neumonds (mRHSh 1,6–2,6; 3,1), Geldgeschäfte (mKet 2,3–4), die Unterzeichnung von Dokumenten (mJev 3,8; mBB 10,1– 2), die Bezeugung des Todes (mJev 15,4–5), Weihegelübde (mNas 3,7) oder Scheidungsdokumente (mGit 6,2–9,8). Vgl. auch die Diskussion bei BEUTLER (1972), 156. 141 Siehe etwa die in Qumran in der Gemeinderegel 1QS VI 1; VI 8–9; VI 23. In der Damaskusschrift CD X 4–8 ist von einem Kollegium von zehn Richtern die Rede. Siehe ebenso 11QTa LXI 8–9 als Beleg für ein Richterkollegium aus Priestern, Leviten und Richtern, die die Befragung durchführen (vgl. KELLERMANN [2011], 260). In der Mischna wird eine Mehrheit von mindestens zwei Stimmen gefordert (mSan 4,1). 142 Vgl. dazu etwa 11QTa LXI 6–10 (als Paraphrase von Dtn 19,15–19): „Wenn ein böswilliger Zeuge auftritt gegen jemanden, um ihn eines Verbrechens anzuklagen, dann sollen beide Männer in dem Streit vor mich treten – das heißt vor die Priester, Leviten und Richter, die gerade im Amt sind.“ Dabei erschienen die Priester und Leviten an Gottes Stelle im

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wurde Neutralität und die Notwendigkeit des gerechten, unparteiischen Richtens gefordert.143 Das Urteil wurde in zwei Schritten gefällt, indem die Richter zunächst über das Strafmaß entschieden 144 und erst im Anschluss 145 über Schuld und Unschuld (und damit über die eigentliche Urteilsvollstreckung) abstimmten.146 Die Todesstrafe für Mord, Götzendienst, Gotteslästerung, Zauberei, Falschprophetie, Ehebruch, Unzucht, Inzest und Sabbatbruch orientiert sich grundsätzlich an den Bestimmungen der Thora.147

1.4. Das literarische Prozess-Setting Aus den untersuchten Prozessordnungen und den dabei konstitutiven forensischen Rollen lässt sich ein abstraktes literarisches Prozess-Setting ableiten, das Grundbestandteile von Gerichtsprozessen in sich vereint und sich zeitübergreifend in unterschiedlichen Rechtssystemen im römischen, griechischen und jüdischen Kulturraum in ähnlicher Form wiederfindet. Teil dieses literarischen Prozess-Settings sind die forensischen symbolischen Rollenbilder von Ankläger, Angeklagtem, Richter(n), Zeuge(n) und Prozesszuschauern.148 Das so abstrahierte literarische Prozess-Setting und seine Rollen bilden zusammen den bildgebenden Bereich der metaphorischen Prozessbezüge und sollen als solche im Folgenden aus den untersuchten griechischen, römischen und alttestaRechtsstreit (vgl. dazu auch oben Abschnitt 1.3.1). Siehe für die Rollenunion Gottes als Richter, Zeuge und Ankläger ferner mAv 4,22: „Die (wieder) Lebendigen (sind bestimmt) zum Gericht, damit man wisse, bekannt mache und es bekannt werde, daß er Gott ist, er der Macher, er der Schöpfer, er der Unterscheider, er der Richter, er der Zeuge, er der Kläger, und er wird dereinst richten. Gepriesen sei er, denn vor ihm gibt es kein Unrecht; kein Vergessen, kein Ansehen der Person und keine Annahme von Bestechung, denn alles gehört ihm.“ Siehe ebenso die Funktion Gottes als Richter und Zeuge in SapSal 1,6 sowie die Bezeichnung Gottes als „verläßlicher Richter“ und „treuer Zeuge“ in 4Q381 LXXVII 7–13, ähnlich auch 4Q443 II 6–7. 143 In der Tempelrolle wird für Richter bei Bestechung oder Rechtsbeugung die Todesstrafe verlangt (11QTa LI 16–18). Ähnlich auch bei Flav.Jos.Ap. II 27. Vgl. KELLERMANN (2011), 260. Richter müssen ferner neutral sein (mSan 3,1.3). Das schließt sowohl Freunde als auch Verwandte aus (mSan 3,4–5), umgekehrt aber auch Feinde (mSan 3,5). 144 GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 84. 145 GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 82 sehen hier hinter mSan 4,1; 5,5 eine ältere Tradition, nach der eine eingehende Beratung der Richter stattfand. 146 GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 82. 147 So in mSan 7,1–4. Als Hinrichtungsarten werden wie im AT Steinigung genannt, daneben aber auch Einflößen von Blei, Enthauptung und Erdrosselung (vgl. KELLERMANN [2011], 263). 148 Siehe zu diesen Rollen als kulturunabhängigen Topoi im Gerichtsprozess auch SCHART (2014), 2. Mit ähnlichen Strukturen und symbolischen forensischen Rollen arbeitet auch GNIESMER (2000), 55–59.

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mentlich-jüdischen Prozessordnungen (Abschnitte 1.1–1.3) in abstrakter Form kondensiert und bezüglich typischer Eigenschaften charakterisiert werden. Im Blick auf die Untersuchung des Johannesevangeliums werden dabei bereits die relevanten griechischen termini technici genannt.149 1.4.1. Rechtsstreit und Prozess Der Prozess ist das trilaterale, gerichtlich geführte Streitverfahren, das sich nach einem Prozessrecht richtet und das in seiner Gesamtheit oder in Teilen mit dem Terminus κρίσις bezeichnet wird.150 Er führt entweder zur Verurteilung oder zum Freispruch des Angeklagten. Je nach Prozessordnung kann der Prozess identisch mit dem Rechtsstreit sein. Letzterer ist jedoch terminologisch umfassender und schließt die gesamte Auseinandersetzung unter Einschluss ihrer vorgerichtlichen und bilateralen Anbahnung mit ein.151 Dabei konfrontiert der Ankläger den Angeklagten bereits in einer weniger formellen und den Prozess einleitenden ersten Phase mit der Anklage. In einem Streitgesprächs verdeidigt sich der Angeklagte entweder argumentativ gegenüber dem Ankläger oder gesteht seine Schuld ein und erreicht so eine Schlichtung. Diese den Prozess einleitende erste Phase kann entweder als bilateraler Rechtsstreit (im jüdischen Recht) oder als trilateraler Rechtsstreit vor einem Richter oder Schiedsrichter (im griechischen und römische Recht) geführt werden. In beiden Fällen findet er jedoch nicht im Gericht selbst, sondern an einem öffentlichen Ort statt. Das Ziel besteht für beide Seiten darin, die andere Seite vom eigenen Recht zu überzeugen. Sofern dies nicht zum Erfolg führt, werden weiteren Prozessschritte eingeleitet und mögliche Beweise oder Zeugen genannt. Die zweite Phase des Rechtsstreites bildet den eigentlichen trilateralen Gerichtsprozess, der am Gerichtsort ausgetragen wird. Der Prozess selbst besteht maßgeblich aus den Reden von Ankläger und Angeklagtem und der Präsentation der relevanten Beweismittel. Da Zeugen im Prozess das Hauptbeweismittel sind, kommt ihnen und ihren Reden vor Gericht eine maßgebliche Bedeutung für die Urteilsfindung zu. Der Prozess vollzieht sich nach der Rede der Parteien meist in Form einer Befragung, bei der ein oder mehrere Richter den Angeklagten und die Zeugen befragen können oder sich als Beobachter des 149 Die entsprechenden termini technici ergeben sich aus Quellen zum griechischen Prozessrecht oder aus griechischen Texten, die Abläufe des römischen oder jüdischen Prozessrechtes aufgreifen oder beschreiben. 150 Vgl. die jeweilige Wiedergabe bei BAUER/DANKER (2000), 569: „legal process of judgment“; LIDDELL/SCOTT (1996), 997: „trial, suit“; SILVA (2014b), 745: „judicial trial“; MOULTON/MILLIGAN (2004), 360: „trial“; THAYER (1889), 361: „trial, contest“. Vgl. ferner auch BAUER (1988), 918f.; BÜCHSEL (1967), 942f.; RISSI (2011), 791–793; SYNOFZIK (2005), 743–751. 151 So etwa im alttestamentlichen Rechtsstreit, der auch ohne einen Richter ausgetragen werden kann (siehe dazu BOVATI [1994], 37–61; SYNOFZIK [2005], 744).

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Prozessgeschehens ein abschließendes Urteil bilden. Der Prozess endet mit der formellen Verkündung des Urteils in Form einer Strafe oder durch Freispruch. 1.4.2. Ankläger und Angeklagter Ausgehend von einem Verdacht einer Straftat, kann jeder zum Ankläger werden. Die Anklageerhebung wird meist durch spezielle termini technici der Gerichtssprache (im Gr. κατήγορος, κατηγορία und κατηγορέω) ausgedrückt.152 Die Anklage wird nicht per se als rechtmäßig vorausgesetzt: Der Ankläger kann unlautere Motive haben, die der Schädigung des Angeklagten und der Steigerung der eigenen Interessen, nicht aber der Gerechtigkeit dienen. Sofern der Ankläger von unlauteren Motiven getrieben oder die Anklage unzureichend ist, zieht er sich in der Anklage selbst Strafe zu. Ob die Anklage berechtigt ist, muss daher der Gerichtsprozess selbst zeigen. 1.4.3. Zeuge Zeugen sind das Hauptbeweismittel im Prozess. Ihrem Zeugnis (im Gr. μαρτυρία) kommt somit zur Feststellung des Rechts eine entscheidende Bedeutung zu. Dementsprechend werden an Zeugen hohe Anforderungen gestellt, die das Alter, die soziale Herkunft, den Ruf, den Charakter oder die Rechtschaffenheit betreffen. Die Eigenschaften des Zeugen sind dabei so maßgeblich, dass sie geeignet sind, die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage zu erhöhen oder zu diskreditieren. Doch auch bei hervorragendem Ruf gilt ein einzelner Zeuge nicht als ausreichend; dagegen akkumuliert sich das Gewicht einer Aussage bei mehreren Zeugen, sofern diese einen Sachverhalt unabhängig und glaubwürdig bezeugen können. Das setzt voraus, dass der Zeuge etwas gesehen (gr. ὁράω) oder gehört (gr. ἀκούω) hat und somit aus eigenem Wissen spricht (gr. οἶδα).153 Dies schließt nicht aus, dass ein Zeuge nur den Charakter einer Person bezeugt und damit für ihre Glaubwürdigkeit eintritt.154 Zeugen erweisen sich als untauglich, wenn sie aus persönlichen Motiven auftreten oder die Unwahrheit sagen. Werden sie als falsche Zeugen überführt, werden sie selbst zu Angeklagten und haben mit hohen Strafen bis hin zum Todesurteil zu rechnen. 152 LINCOLN (2000), 81. Siehe für den Hintergrund in der Rechtssprache auch BIETENHARD/HAACKER (2005), 741f. 153 Nach STRATHMANN (1966), 479 bezeichnet μάρτυς „den, der aus unmittelbarer per-

sönlicher Erfahrung über Vorgänge, bei denen er beteiligt oder doch zugegen war, oder über Personen und Verhältnisse, die er aus eigener Anschauung kennt, auszusagen in der Lage ist und aussagt“. 154 Dies konnte freilich auch zu falschem Lob vor Gericht missbraucht werden; vgl. MEYER (2016), 275: „[S]uch so-called laudatores were customarily (said Cicero)“ (mit Verweis auf Cic.Verr. II 5,57) und „prestige had to have its say, because laudatores and witnesses could so rarely be distinguished“.

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In seiner forensischen Funktion tritt der Zeuge in der Anklage oder der Verteidigung auf, ist insbesondere im jüdischen Prozessrecht jedoch maßgeblich auf die Domäne der Anklage beschränkt.155 Als termini technici werden dabei im Griechischen neben μάρτυς auch die Lexeme μαρτυρία für das aktive Auftreten und Aussagen als Zeuge oder den Inhalt des Bezeugten sowie μαρτυρέω als tätiges Bezeugen verwendet.156 Die von der Wurzel μαρτυρ* abgeleitete Wortgruppe hat dabei „ihren urspr. Sitz eindeutig im Rechtsleben“157 und behält diese dominierende juristische Bedeutung auch in metaphorischen Aussagen bei.158 Um die Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses zu bekräftigen, kann ein Zeuge Eide schwören oder sich vor Gott für die Wahrheit verbürgen. Wo menschliche Zeugen nicht herangezogen werden können, kann ferner Gott selbst als Zeuge aufgerufen werden.159 1.4.4. Richter Der Richter kann eine Einzelperson sein, die die regierende Macht repräsentiert. Die Befugnisse des Richters können dabei von einer formellen Prozessleitung bis zu umfangreichen Befugnissen der Verurteilung oder des Freispruchs gehen. Viel häufiger als ein einzelner Richter ist jedoch ein Richterkollegium. Dieses besteht aus Vertretern des Volkes und kann auch juristische Laien einschließen. Jeder Richter muss sich im Prozess unabhängig von den anderen Richtern anhand der vorgestellten Reden und Zeugen eine Meinung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten bilden. Wie bei Zeugen wird auch von Richtern ein guter Charakter und ein unparteiisches Urteil erwartet.160 Als schlechter Richter erweist sich, wer aus persönlichen Motiven richtet oder die 155 Siehe hier für den griechischen Rechtsraum COENEN (2005), 1763: „Nur in der Grammatik scheint noch durch, daß der Zeuge mit seinem Zeugnis immer für und damit zugleich gegen jemanden auftritt […].“ Die mit Dat., Akk. oder einem ὅτι-Satz angeschlossene Person oder Sache, für die ein Zeuge eintritt, ist die Partei, für die er spricht. Siehe für Zeugen in der Anklage wie auch in der Verteidigung die Belege bei SCHNELLE (2001), 311–318 und zum jüdischen Prozessrecht Abschnitt 1.3. 156 COENEN (2005), 1762. 157 COENEN (2005), 1762. Ebenso STRATHMANN (1966), 479: „Das Wort μάρτυς hat seinen eigtl. Sitz im Bereich des Rechtslebens […].“ Noch für die Entwicklung des MärtyrerBegriffes sieht COENEN (2005), 1765 den gerichtlichen Gebrauch des Begriffes im Vordergrund. 158 So das Urteil von BAUCKHAM (2008), 122: „In Greek the μαρτυρέω word group has a primarily legal meaning and, when used outside a literal courtroom context, constitutes a legal metaphor.“ Nur gelegentlich findet sich eine metaphorische Anwendung außerhalb des gerichtlichen Kontextes im Sinne einer verweisenden, bekräftigenden Aussage. So sieht etwa STRATHMANN (1966), 480 einen solchen erweiterten Gebrauch in der Verwendung von μαρτυρέω für das „Bekundung von Ansichten oder von Wahrheiten“. 159 So etwas bei Sokrates (Plato apol. 31c) oder in Form von Bundeszeugen im AT (siehe dazu oben Abschnitt 1.3.1, insbesondere Anm. 88). 160 Siehe dazu KEENER (2010a), 717f.

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Aussagen von Zeugen falsch bewertet.161 An Richter ergeht daher die Aufforderung, gerecht zu richten. Im Griechischen wird κρίνω in forensischen Kontexten als terminus technicus verwendet, der den Akt des Urteilens und Richtens bezeichnet.162 Mit κρίσις wird sowohl das daraus resultierende Urteil als auch das abstrakte Gericht bezeichnet.163 Aus dem Urteil der Richter ergibt sich meist nur die Feststellung der Schuld oder Unschuld des Angeklagten. Das konkrete Strafmaß steht dagegen häufig schon aufgrund von Gesetzen fest. 1.4.5. Prozesszuschauer Neben den aktiv an einem Prozess beteiligten Parteien werden in antiken Prozessen immer Zuschauer vorausgesetzt, die den Prozess beobachten. Sie repräsentieren die Öffentlichkeit und verfolgen als versammeltes Volk das Prozessgeschehen. 164 Damit kommt der Volksmenge als Prozessbeobachtern eine wichtige soziologische Funktion zu, durch die das Prozessgeschehen eine eigene Dynamik gewinnt: Unabhängig von den Richtern bildet sich auch jeder der Zuschauer sein eigenes Urteil über die verhandelte Rechtssache sowie die am Prozess beteiligten Parteien. Das Urteil der Prozesszuschauer ist so maßgeblich, dass Prozesse mitunter nur dazu instrumentalisiert werden, die Meinung der Beobachter zu prägen.165 Daneben hatte das Volk in manchen Prozessen sogar die Möglichkeit, aktiv durch Fragen oder eine Abstimmung am Geschehen teilzunehmen.166 Die Beurteilung der Rechtsfrage bleibt somit nicht allein den Richtern überlassen. Umgekehrt können Prozesszuschauer aufgrund sympathisierender Haltung mit dem Angeklagten selbst Schaden von der Verurteilung des Angeklagten davontragen. Prozesszuschauer sind damit sowohl innerlich als auch äußerlich in variierendem Maße in das Prozessgeschehen eingebunden.

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MEYER (2016), 275 mit Hinweis auf Cic.Font. 21: „[I]t was the work of the wise judge, to weigh each (witness) according to his force (momentum) […].“ 162 Vgl. BLANK (1964), 41. 163 BLANK (1964), 41f. 164 Siehe dazu THÜR (1997a), 567. 165 Siehe dazu EDER (1997), 14, der von einem „Mittel des politischen Streits“ spricht (aaO., 14). Vgl. ferner DAVID (1997), 43; EDER (1997), 14–25. David beschreibt in diesem Zusammenhang auch die gesellschaftliche und politische Dynamik und den Missbrauch der Justiz bei solchen Prozessen (vgl. DAVID [1997], 31.47). 166 PINA POLO (2016), 93f. Siehe für die maßgebliche Bedeutung des Volkes auch PINA POLO (2016), 85.95f.

2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites Neben dem breiten Hintergrund des im letzten Abschnitt eruierten literarischen Prozess-Settings und seiner forensischen Rollen steht aufgrund der spezifischen religiösen Dimension der Streitgespräche im Johannesevangelium in besonderem Maße die Motivik des alttestamentlichen Rechtsstreites im Hintergrund. Die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden zeigen sich so deutlich durch alttestamentliche Gesetze geprägt, dass dem alttestamentlichen Rechtsstreit durch zahlreiche intertextuelle und motivische Bezüge eine normative Funktion für den zwischenmenschlichen Rechtsstreit zukommt. 1 Noch bedeutender erweist sich jedoch, dass die alttestamentliche Rechtsstreitdarstellung auch den jüdischen Deutungsrahmen für die Auseinandersetzung zwischen Menschen und Gott in Form eines Rechtsstreites vorgibt und damit als maßgeblicher Motivhintergrund für die Beteiligung Gottes selbst im Rechtsstreit fungiert. Die Relevanz des alttestamentlichen Rechtsstreites für die Prozessmotivik im Johannesevangelium ist dementsprechend schon häufig betont worden.2 In diesem Abschnitt werden verschiedene Formen des Rechtsstreites im Alten Testament dargestellt und bezüglich der forensischen Rollenkonstellationen untersucht. Dies umfasst zunächst den zwischenmenschlichen Rechtsstreit. Die Untersuchung konzentriert sich anschließend jedoch auf den Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen, in dem Gott entweder als Ankläger oder als Angeklagter erscheint oder ganz universell in Form eines kosmischen Prozesses mit der Welt in einen Rechtsstreit tritt. Eine besondere Ausprägung zeigt sich in den Rechtsstreitszenen in Jes 40–55, die nicht nur für das Johannesevangelium von großer Bedeutung sind, sondern unterschiedliche Formen des Rechtsstreites mit Gott als Ankläger und Angeklagtem sowie eine individuelle und universelle Dimension in polyvalenter Weise verbinden. In einer abschließenden Reflexion werden die untersuchten Ausprägungen des Rechts1 Das zeigt auch die neuere Forschung; vgl. etwa die Monografie von PANCARO (1975); siehe ebenso die Forschungsarbeit von ASIEDU-PEPRAH (2001). Siehe für die Bedeutung des Gesetzes bei Johannes auch HENGEL (1989); MYERS/SCHUCHARD (2015); CHENNATTU (2016); WILLIAMS (2015). 2 Siehe hier YOUNG (1955), 223–230; BOICE (1970), 16–23; HARVEY (1976), 15f.; TRITES (1977), 78f.; STIBBE (1992), 19; LINCOLN (2000), 36–56; ASIEDU-PEPRAH (2001), 13.

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streites in Bezug auf forensische Rollen, besondere Akzente der alttestamentlichen Darstellung und ihrer theologischen Funktion im alttestamentlichen Kontext ausgewertet. Von hier aus ergeben sich bereits zahlreiche und auffällige Verbindungen zur Rechtsstreitmotivik im Johannesevangelium, die als Grundlage für die narratologische Untersuchung im vierten Hauptteil dienen.

2.1. Der Rechtsstreit zwischen Menschen Der zwischenmenschliche Rechtsstreit ist zugleich die Form des Rechtsstreites, in der forensische Abläufe als reale (und nicht metaphorische) juristische Auseinandersetzungen vorausgesetzt werden.3 Er ist ferner für eine Untersuchung der bildgebenden Dimension forensischer Rollen in den spezifisch alttestamentlichen Akzenten von Bedeutung, die mitunter starke Abweichungen vom allgemeinen antiken Prozess-Setting (siehe Abschnitt 1.4) erkennen lassen. Eine wesentliche Eigenart des zwischenmenschlichen Rechtsstreites im Alten Testament besteht in einer starken Überschneidung zwischen den Rollen von Ankläger, Zeuge und Angeklagtem. Dies zeigt sich besonders deutlich in Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15 als zentralen Texten zum atl. Zeugenrecht.4 Im Mittelpunkt dieser Bestimmungen stehen zunächst die beiden Kapitalverbrechen von Mord (Num 35,20) und Götzendienst (Dtn 17,1–6), für die das Kriterium von mindestens zwei belastenden Zeugen zur Verurteilung genannt wird. Das Vergehen des Götzendienstes bezieht sich dabei auf jede Art der Verehrung anderer Götter (Dtn 17,3: ‫) ַו ַיּﬠֲבֹ ד ֱא הִ ים ֲאחֵ ִרים‬, eine falsche Art der Verehrung Jahwes (Dtn 17,1) oder die generelle Verführung zum Abfall von Jahwe.5 Allerdings scheint die Schilderung in Dtn 17,1–6 einen paradigmatischen Einzelfall anzuführen, der stellvertretend für jede Art von todeswürdigen Vergehen steht.6 Diese Akzentsetzung findet sich auch in der Bestimmung von Dtn 19,15, in der der Geltungsbereich auf beliebige Sünden erweitert und somit für Vergehen jeglicher Art eine Mindestzahl von zwei Zeugen zur Verurteilung 3 Dies ist von Relevanz für die zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen im Johannesevangelium als Teil der erzählten Welt, die neben der metaphorischen Dimension des Rechtsstreites juristische Abläufe und Verfahrensweisen auf der Handlungsebene voraussetzen. 4 Diese Kerntexte werden nicht nur an anderen Stellen des AT reflektiert (vgl. etwa 1Kön 21,10), sondern sind auch für das Johannesevangelium von maßgeblicher Bedeutung, wie die intertextuellen Verweise in Joh 5,31; 8,13 zeigen (vgl. dazu Kapitel III,2.3). 5 Dtn 17,1–5 greift zurück auf Dtn 13,2–15 (siehe dazu NELSON [2004], 219f.) und reflektiert damit vermutlich die allgemeine Formulierung einer Rede zugunsten eines Abfalls von Jahwe (‫)דבֶּ ר־סָ ָרה ַﬠל־יהוה‬. ִ 6 Darauf weist die Formulierung in Dtn 17,2 hin, die mit ‫אוֹ־אשָּׁ ה ֲאשֶׁ ר ַיﬠֲשֶׂ ה‬ ִ ‫כִּ י־ ִימָּ צֵ א … ִאישׁ‬ ‫ אֶ ת־הָ ַרע בְּ ֵﬠינֵי ְיהוָה־ ֱא הֶ י ַל ֲﬠ ֹבר בְּ ִריתוֹ‬bewusst allgemein formuliert scheint (so auch NELSON [2004], 220: „Verses 2–3 introduce the offense in a generalized, comprehensive fashion“).

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gefordert wird.7 In allen genannten Stellen fungieren die Zeugen ausschließlich in der Anklage. 8 Die im Grundsatz von mindestens zwei Zeugen vorausgesetzte forensische Rolle des Zeugen ist sogar notwendig mit der Anklage verbunden, da sich andernfalls eine contradictio in adiecto ergeben würde: Die Notwendigkeit von zwei Zeugen liegt gerade in der Asymmetrie begründet, dass zur Verteidigung keine Zeugen benötigt werden und eine Person ohne das Auftreten von mindestens zwei belastenden Zeugen a priori als unschuldig gilt. Diese Regelung verbindet die Funktion des Zeugen intrinsisch mit der Anklage.9 Ein Zeuge wird somit nicht als neutraler Beobachter befragt, sondern fungiert immer zugleich als Ankläger.10 Dies zeigt sich besonders auffällig darin, dass es die Zeugen sind, die eine Urteilsvollstreckung beginnen müssen (Dtn 17,7: ‫)יַד הָ ֵﬠ ִדים ִתּהְ יֶה־בּוֹ בָ ִראשֹׁ נָה‬, indem sie bei einer Steinigung die ersten Steine werfen.11 Ganz konsequent sieht das atl. Zeugenrecht dann, wenn der Angeklagte sich vor Gericht überhaupt gegen die Vorwürfe verteidigen kann, keine rein defensive Rede vor, sondern eine Gegenanklage der anklagenden 7 Vgl. die Formulierung ‫ לְ כָל־ ָﬠוֹן וּלְ כָל־חַ טָּ את‬in Dtn 19,15. Siehe zu dieser Verallgemeinerung im Gegensatz zu Dtn 17,1–6 auch BRAULIK (1992), 143; BOVATI (1994), 268. 8 Darauf weisen bereits die Formulierungen ְ‫‚( ָﬠנָה בּ‬aussagen gegen‘) in Num 35,30 und ְ‫‚( קוּמ בּ‬aufstehen gegen‘) in Dtn 19,15 hin (vgl. zur Übersetzung auch NELSON [2004], 237; CRAIGIE [1976], 269). Im Unterschied zur Konstruktion mit der Präposition ְ‫ ל‬wird die Präposition ְ‫ ב‬in dieser Formulierung nur für Belastungszeugen in der Anklage verwendet (BOVATI [1994], 265f.276f.; ebenso BEUTLER [1972], 89). Bovati (aaO., 277) resümiert dabei: „[I]f we make an exhaustive examination, starting with the term ‘ēd, we find that the terms most characteristic of a prosecution witness – because they occur the most frequently in clearly juridical texts – are qwm be and ‘nh be.“ Neben der grammatischen Konstruktion weist aber auch der Kontext der drei Passagen Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15 klar auf Belastungszeugen hin. Dies gilt auch für die Funktion von Zeugen in der alttestamentlichen Darstellung insgesamt (vgl. dazu die Diskussion in Abschnitt 1.3.1, Anm. 89 sowie die Untersuchungen von BOVATI [1994], 266; STRATHMANN [1966], 486; BEUTLER [1972], 83) – ausgenommen davon sind nur notarielle Zeugen eines Vertrages (z. B. Jes 8,2; Jer 32,10.25.44); vgl. dazu BOVATI (1994), 302. 9 Das führt zu der Frage, welche Konsequenzen sich in einer gerichtlichen Situation ergeben würde, bei der die beklagte Partei selbst entlastende Beweise in Form von Zeugenaussagen vorlegt. In diesem Fall bleibt das atl. Zeugenrecht so konsequent bei der anklagenden Funktion der Zeugen, dass eine gerichtliche Verteidigung immer zur Gegenanklage wird (siehe dazu unten). 10 Möglicherweise werden in der Forderung von zwei oder drei Zeugen (Dtn 17,6; 19,15) die Zeugen einmal mit und einmal ohne den Ankläger gezählt (so BRAULIK [1992], 126; ähnlich MCCONVILLE [2002], 290; NELSON [2004], 242). Dass damit der Ankläger unter die Zeugen gerechnet wird, wäre ein weiteres Indiz der engen Verbindung zwischen den Rollen von Ankläger und Zeuge im alttestamentlichen Rechtsstreit (vgl. dazu bereits oben Abschnitt 1.3.1). 11 BEUTLER (1972), 82.158. Vgl. auch BOVATI (1994), 288: „The witness […] is basically someone who takes up a (juridical) position against someone. As result of this essential characteristic, especially when the point of view is that of the accused, the accusatory witness ends up by assuming the role and title of adversary.“

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Zeugen. So sieht Dtn 19,15–20 anstelle einer Verteidigung 12 eine Gegenanklage der Zeugen vor, um diese als falsche Zeugen zu erweisen.13 Dass dabei der falsche Zeuge die Strafe empfängt, die er seinem Prozessgegner als Ankläger zuzufügen gedachte (Dtn 19,19: ‫) ַוﬠ ֲִשׂיתֶ ם לוֹ ַכּ ֲאשֶׁ ר זָמַ ם ַלﬠֲשׂוֹת לְ אָ חִ יו‬, stellt damit nicht nur eine Hürde gegen leichtfertiges Auftreten als Gerichtszeuge dar,14 durch die falsche Anschuldigungen unterbunden werden sollen, sondern erweist auch deutlich den asymmetrischen Charakter der Zeugenfunktion, die selbst in der Intention einer Verteidigung stets der Funktion als (Gegen-)Anklage verpflichtet bleibt. Sofern überhaupt ein Zeuge für den Angeklagten spricht, fungiert dieser somit ebenfalls als Ankläger und verdeutlicht damit die intrinsisch mit der Anklage verbundene Funktion des Zeugen sowie das Prinzip der Verteidigung in Form einer Anklage-Umkehrung. Der zwischenmenschliche Rechtsstreit in Dtn 19,15–20 sieht damit im Eigentlichen nur drei Fälle vor: (1) Entweder wird der Angeklagte durch glaubwürdige Zeugen überführt (indem er stumm bleibt),15 oder (2) die Zeugen erweisen sich als unzureichend zur Verurteilung (womit der Angeklagte entlastet wird), oder (3) sie erweisen sich sogar als falsche Zeugen und werden dabei ihrerseits vom ehemals Angeklagten (unter Verwendung von weiteren Zeugen) der Lüge (‫ )שֶׁ קֶ ר‬überführt. Diese Tendenz zeigt sich nicht nur in Dtn 19,15–20, sondern im atl. Prozessrecht insgesamt. Eine erfolgreiche Verteidigung ist damit immer zugleich Anklage des Anklägers, wie Bovati erwiesen hat: „[A] true defence is a reversal of the accusation: not only are the arguments against the accused brought down, but the latter is completely exonerated (by an ‚error‘), but this also takes the shape of a new accusation (of falsehood, wicked intent, attempted crime) against the accuser. In other words […]: there is no such thing as a ‚neutral‘ defence: defence is to accuse the accuser.“16 12 Im atl. Recht findet sich kaum eine defensive Verteidigung im eigentlichen Sinne, wie BOVATI (1994), 329 bemerkt: „[I]t is surprising to see that, in the Bible, it does not receive an attention comparable to that given to testimony against someone. The legislative texts, for example, make no mention of it […].“ Dies wird auch dadurch illustriert, dass eine Suche nach einem hebr. terminus technicus für die gerichtliche Verteidigung erfolglos bleibt, während solche termini in der Anklage gleich mehrfach vorliegen (BOVATI [1994], 329). 13 TIGAY (1996), 184 weist daraufhin, dass die Anklage gegen den falschen Zeugen nicht als gesondertes Vergehen, sondern in derselben Gerichtssitzung verhandelt wird, in dem auch der falsche Zeuge seine Anschuldigung vorbrachte. 14 Vgl. WRIGHT (2012), 224. 15 Das Schweigen kommt einer Verurteilung gleich, wie BOVATI (1994), 340f. bemerkt: „[T]he silence to which an adversary is reduced marks the end of the juridical contest, and is equivalent to victory by one of the two litigants […]. The result is that the one silenced appears as guilty, and will therefore be condemned […].“ Vgl. ähnlich auch TRITES (1977), 42: „In other words, one litigant has to convince the other and win an admission of defeat. If one litigant makes no reply to the other, then it is assumed that he has conceded the case to his opponent.“ 16 BOVATI (1994), 331.

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Die hohen Anforderungen an glaubwürdige Belastungszeugen und das Risiko einer Gegenanklage führen somit dazu, dass aufgrund fehlender Beweise in vielen Fällen gar keine Anklage erhoben werden kann, weil sich kein oder nur ein einziger belastbarer Zeuge einer Straftat findet. 17 Aufgrund dieser PattKonstellation sieht das atl. Prozessrecht eine weitere Regelung vor, die sich als Spezifikum erweist. Ein Rechtsfall, der aufgrund mangelnder Zeugenaussagen nicht klar beweisbar ist, wird direkt vor Jahwe gebracht (Dtn 19,17: … ‫וְ ָﬠ ְמדוּ‬ ‫ )לִ פְ נֵי יהוה‬und an der von Jahwe erwählten Stätte durch einen Richter, der im Auftrag Jahwes spricht, entschieden (Dtn 17,8–9; 19,17).18 Dabei wird in der Parallelität ‫ לִ פְ נֵי יהוה לִ פְ נֵי הַ כֹּ הֲנִ ים וְ הַ שֹּׁ פְ טִ ים‬deutlich, dass Jahwe die eigentliche Richterrolle innehat und menschliche Richter nur das Urteil Jahwes aussprechen. Damit wird nicht nur eine Regelung für den Fall von juristischen PattSituationen geschaffen, sondern zugleich die zentrale und absolute Position von Jahwe als Richter selbst in zwischenmenschlichen Rechtsstreitigkeiten betont.

2.2. Der Rechtsstreit Gottes mit Menschen Die in zwischenmenschlichen gerichtlichen Auseinandersetzungen angelegte Möglichkeit, Rechtsfälle direkt vor Gott zu bringen, führt zu einer weiteren Form des Rechtsstreites, bei dem Gott und Menschen direkt miteinander prozessieren. Ein wesentlicher Unterschied zum zwischenmenschlichen Rechtsstreit besteht in dieser Form des Rechtsstreites darin, dass Gott nicht nur als Richter, sondern auch als Prozessgegner auftritt und dabei entweder in der Rolle des Anklägers oder in der Rolle des Angeklagten erscheint. In beiden Fällen ergibt sich eine gewisse Spannung dadurch, dass Gott aufgrund seiner Rolle als höchster Richter zwangsläufig in einer Doppelrolle auftritt und somit die paradoxe Rollenunion von Angeklagtem und Richter einnehmen kann.19 Im Gegensatz zum zwischenmenschlichen Rechtsstreit tritt somit eine starke Ambivalenz zwischen einem bilateralen und einem trilateralen Rechtsstreit zutage.20 17

CRAIGIE (1976), 270. Siehe DE VAUX (1960), 253–255; BOVATI (1994), 263.271 sowie SCHART (2014), 6f. 19 Siehe dazu DAVIDSON (2010), 55: „God is both Prosecution/Defense Attorney and Judge.“ Siehe ebenso die ausführliche Behandlung bei BOECKER (1970), 86f. 20 Siehe zur Unterscheidung beider Formen ausführlich die Arbeit von BOVATI (1994); vgl. dazu auch den Forschungsüberblick oben in Kapitel I,1. In einem Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen sind durch die Präsenz eines Anklägers, eines Angeklagten und eines Richters drei Rollen involviert, die sich jedoch auf zwei Parteien (Gott und Mensch) verteilen. Indem Gott eine Doppelrolle als Richter und Ankläger bzw. Angeklagter einnimmt, kommt es zu einer eigentümlichen Ambivalenz zwischen trilateralem und bilateralem Rechtsstreit. 18

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Der Rechtsstreit zwischen Menschen und Gott hebt sich noch in einer weiteren Eigenschaft stark vom zwischenmenschlichen Rechtsstreit ab: Während Letzterer in einer realen Gerichtssituation ausgetragen wird, ist der Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen stets von einer inhärenten Widersprüchlichkeit geprägt, die einerseits den Absolutheitsanspruch Gottes anerkennt, ihn andererseits aber vor das Forum eines menschlichen Gerichts zieht. In diesem Paradoxon zeigt sich die offensichtlich metaphorische Natur, bei der Gegebenheiten aus dem menschlichen Bereich als bildgebende Elemente in eine Situation übertragen werden, in der sie als reale Abläufe und Verfahren gar nicht denkbar sind.21 Im Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen dominiert damit auch in der Darstellung stets die bildlich-metaphorische Dimension des Rechtsstreites. Dabei sind verschiedene Rollenkonstellationen möglich, in denen Gott entweder als Ankläger oder als Angeklagter erscheinen kann.22 2.2.1. Gott als Ankläger Die metaphorische Darstellung eines Rechtsstreites, bei dem Gott als Ankläger fungiert, findet sich im prominenten Motiv des prophetischen Rechtsstreites.23 Dabei tritt Gott als Ankläger gegen sein Volk auf und hält ihm die fehlende Bundestreue vor. Der prophetische Rechtsstreit zeigt in der literarischen Darstellung häufig ein triadisches Muster aus Einleitung, Anklage und Urteilsspruch.24 Die Anklage des Bundesbruchs lässt sich in Kultkritik als Anklage 21

So auch SCHART (2014), 8. Vgl. SCHART (2014), 9. Diese Differenzierung bleibt darin vordergründig, dass sich in beiden Varianten die Situation stets zu einer anklagenden Rolle Gottes wendet und Gott niemals wirklich als Angeklagter erscheint, wie die nachfolgenden Untersuchungen zeigen werden. 23 Die Forschung zum prophetischen Rechtsstreit und Bundesrechtsstreit konzentrierte sich stark auf Formmerkmale, den Sitz im Leben und die Diskussion um die Existenz einer spezifischen Gattung; siehe für einen Forschungsüberblick ausführlich DAVIDSON (2010). Im vorliegenden Kontext ist allein die Verwendung der Metapher eines Rechtsstreites in der prophetischen Botschaft relevant. Im Folgenden werden daher prophetische Texte diskutiert und als prophetischer Rechtsstreit oder Rechtsstreitszenen bezeichnet, die nach der neueren Forschung Motive des Rechtsstreites aufweisen, damit aber nicht notwendig durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet sein müssen. Ein solches Vorgehen zeigt sich nach PREUß (1976), 22 auch in der neueren Forschung; vgl. RINGGREN (1990), 498; DAVIDSON (2010), 83; SCHART (2014), 3. Siehe auch die Klassifizierung unterschiedlicher Formen des Rechtsstreites bei DAVIDSON (2010), 63–70, die der hier vorgenommenen Differenzierung ähnelt. 24 Vgl. NIELSEN (1978), 67 und KRISPENZ (2006), 3. Siehe etwa Jer 34,8–22 (Einleitung [34,8–12], Anklage [34,13–16], Urteil [34,17–22]); vgl. ähnlich Jes 3,13–26; Jer 2,4–3,3; 44,10–14; Ez 5,5–17, 16,1–52. Dieses Muster kann auch alternierend verwendet werden; vgl. etwa Jes 5,8–25 (Anklage [5,8–12] – Urteil [5,13–17] – Anklage [5,18–23] – Urteil [5,24–25]); Hos 2,4–17 (Einleitung [2,4–5] – Anklage [2,6–7] – Urteil [2,8–9] – Anklage [2,10] – Urteil [2,11–15a] – Anklage [2,15b] – Urteil [2,16–17]) sowie Hos 4,1–10. Vgl. für 22

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mangelnder, falscher oder synkretistischer Anbetung Gottes25 sowie Sozialkritik als mangelndes Befolgen der Thora im sozialen Bereich 26 einteilen und zeigt oftmals eine bildhafte Sprache in der Anklagerede. So findet sich häufig die Anklage wegen Götzendienst, die metaphorisch als Hurerei dargestellt wird.27 Abhängig vom Inhalt der Anklage ist Gott als Ankläger entweder zugleich die Partei, an der Unrecht verübt wurde (so im Fall von Kultkritik), oder er tritt als Ankläger für zwischenmenschliche Missstände auf (so im Fall von Sozialkritik). Gott erfüllt in beiden Fällen stets eine paradoxe Doppelrolle als Ankläger und Richter.28 Seine Funktion als Ankläger ist darin begründet, dass er die Partei des Bundes ist, der (direkt im Kult oder indirekt in sozialen Belangen) Unrecht getan wurde,29 während seine Funktion als Richter sich notwendig dadurch konstituiert, dass nur Gott selbst in seiner Position als Schöpfer und Herrscher als absoluter Richter fungieren kann.30 Es liegt in dieser absoluten Richterfunktion begründet, dass in der göttlichen Anklage des prophetischen Rechtsstreites Zeugen aufgerufen werden können, 31 aber nicht aufkomplexere Strukturvorschläge des Bundesrechtsstreites auch HUFFMON (1959), 285f. und DAVIDSON (2010), 45.49. Der Rechtsstreit kann auch hypothetisch bleiben und vor zukünftigem Fehlverhalten und den Konsequenzen warnen (Jer 42,12–18). 25 Siehe dazu KESSLER (2008a). 26 Vgl. KESSLER (2008b). 27 Vgl. Jes 1,21; Jer 2,20; 3,2–9; Ez 16,15–41; 23,7–44; Hos 2,4–6; 4,10–18. 28 Siehe zur vordergründigen Paradoxie dieser Doppelrolle BOECKER (1960), 408: „Die Vorstellung, daß Ankläger und Richter zusammenfallen, ist für unser Rechtsempfinden höchst befremdlich […]. Es ist hier – so erstaunlich das in unsern Ohren klingen mag – in der Tat das möglich, daß Ankläger und Richter in einer Person vereinigt sind.“ Nach Boecker gilt „dieses Phänomen für einen weiten Bereich von Prophetenworten“ (ebd.). Eine ähnliche Betonung findet sich auch bei NIELSEN (1978), 76 und DAVIDSON (2010), 55. Nielsen begründet dabei zugleich die Notwendigkeit dieser Doppelrolle: „That Yahweh appears as prosecutor can be explained by the fact that it is he who has been wronged. […] The fact that Yahweh also plays the role of judge must be understood in the same context“ (aaO., 74). Die Doppelrolle ist damit letztlich in unterschiedlichen Eigenschaften Gottes verwurzelt: „Thus, when the OT speaks of Yahweh as both prosecutor and judge, this tension is reflected as an element of the Israelite understanding of God: the righteousness of Yahweh demands that the people’s apostasy be made the object of condemnation, while his love for the Chosen People leads him to forgiveness and to the restoration of the original relationship“ (aaO., 76). 29 Richtig bemerkt SCHART (2014), 6f.: „Gott ist demnach persönlich oder mittelbar betroffen, wenn im Gottesvolk das Recht missachtet wird. Dies gilt unabhängig davon, ob der Kult oder der Umgang der Volksgenossen untereinander betroffen ist.“ Ebenso NIELSEN (1978), 74. 30 Siehe hierzu NIELSEN (1978), 74. Die inhärente Richterrolle Gottes zeigt sich bereits zu Beginn des Pentateuchs beim Sündenfall (Gen 3,8–19) und beim Mord Kains (Gen 4,8– 16). Sie wird explizit in der rhetorischen Frage Abrahams in Gen 18 genannt, in der Gott selbstverständlich als gerechter Richter der ganzen Erde vorausgesetzt wird: ‫הֲשֹׁ פֵט כָּל־הָ אָ ֶרץ‬ ‫( ל ֹא ַיﬠֲשֶׂ ה ִמ ְשׁפָּט‬Gen 18,25). 31 So etwa Himmel und Erde (Jes 1,2; Jer 2,12) oder Berge (Mi 6,1), die als Zeugen des Bundes (Dtn 30,19; 32,1) bildhaft als Zeugen gegen den Bundesbruch Israels aufgerufen

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gerufen werden müssen und damit auch nicht notwendig für eine Verurteilung sind.32 Vielmehr tritt in den meisten Fällen des prophetischen Rechtsstreites Gott als absoluter Richter auf, der keine Zeugen zur Verurteilung benötigt. Gelegentlich kann Gott auch selbst in der Rollenunion von Richter und Zeuge auftreten (vgl. Jer 29,21.23; Mi 1,2; Mal 3,5).33 Ein überraschender Zug alttestamentlicher Rechtsstreitdarstellung besteht darin, dass der prophetische Rechtsstreit mit Gott als Ankläger meist nur aus einer einzigen Rede Jahwes besteht,34 mit deren Ende zugleich der Rechtsstreit beendet ist.35 Dem entspricht, dass das atl. Prozessrecht häufig nur eine Anklagerede vorsieht, auf die hin der Angeklagte entweder schweigt oder seinerseits mit Zeugen in Form einer Gegenklage antwortet.36 Ein unvermitteltes Ende der Anklagerede zeigt dabei keinen Mangel an weiteren Argumenten, sondern ist Ausdruck einer erdrückenden und ausreichenden Beweislage, durch die das Schweigen der Anklage geradezu als Intensivierung der Vorwürfe erscheint.37 In der Rechtsstreitdarstellung wird durch ein abruptes Ende der Anklagerede Gottes eine Verurteilung vorausgesetzt, auch wenn diese nicht eigens genannt wird. Das Urteil wird im Rechtsstreit damit nicht immer expliziert, sondern vielmehr impliziert, insofern der Ausgang des Rechtsstreites eindeutig negativ ist. Diese Art der Darstellung hat eine wesentliche rhetorische Funktion: Das Volk als menschlicher Adressat soll selbst die Schlussfolgerung des Urteils ziehen, sich damit als verurteilt erkennen und umkehren.38 Der metaphorische werden (MENDENHALL [1960], 37.43; HUFFMON [1959], 288–292). Huffmon weist darauf hin, dass dies die einzigen prophetischen Texte sind, in denen natürliche Elemente als Zeugen aufgerufen werden (aaO., 288). Es fällt auf, dass an der prominentesten Stelle, an der menschliche Zeugen von Gott aufgerufen werden (Jes 43,10.12; 44,8), diese selbst zu Angeklagten werden (siehe dazu unten Abschnitt 2.2.4). Damit dominiert in der metaphorischen Beschreibung des Rechtsstreites eine Verurteilung, bei der Gott keine menschlichen Zeugen benötigt. 32 Vgl. zu dieser absoluten Richterrolle Gottes HUFFMON (1959), 293. 33 Vgl. dazu VAN LEEUWEN (2004), 216. Dies ist darin begründet, dass Jahwe als allgegenwärtiger Beobachter auch jede Sünde sieht; vgl. Jer 42,5; Mal 2,14. Jahwe tritt damit im Rechtsstreit zumeist in der dreifachen Rolle von Ankläger, Zeuge und Richter auf (LINCOLN [2000], 39; BOECKER [1960], 407). 34 Dabei werden gelegentlich Erwiderungen aufgenommen, die jedoch als Zitate in die Rede Jahwes integriert sind (vgl. Mal 1,2; 2,17). Eine Ausnahme bietet das Frage-AntwortSpiel eines typischen Rechtsstreites in Hab 1–2. 35 Nicht zufällig wird daher der prophetische Rechtsstreit auch als „Gerichtsrede“ bezeichnet (vgl. HUFFMON [1959], 285; DAVIDSON [2010], 45; SCHART [2014], 2). 36 BOVATI (1994), 330f. 37 Vgl. BOVATI (1994), 342: „This falling silent by the accuser is an even more radical accusation than speaking, because one is not denouncing a misdeed but registering the impossibility of a ‚reasonable‘ exit from an unjust situation.“ 38 Dies hat NIELSEN (1978), 75 sehr einsichtsvoll herausgearbeitet.

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Rechtsstreit Gottes mit seinem Volk soll folglich kein unumkehrbares Gericht begründen, sondern das Volk zur Umkehr aufrufen.39 Trotz Jahwes Funktion als Richter steht damit in einer scheinbar paradoxen Konstellation eine rettende Absicht hinter der Instrumentierung des Rechtsstreites.40 Umgekehrt kann eine Verweigerung dieses Aufrufes zur Umkehr zu einer Verhärtung führen, die ihrerseits Urteil im Rechtsstreit ist (vgl. Jes 6,8–13). Der Ausgang des Rechtsstreites ist damit von der Reaktion des Volkes abhängig (vgl. Abb. 1). Reaktion: Umkehr Rechtsstreit

Rettung

Urteil: Gericht Reaktion: Verhärtung

Abb. 1: Funktion der Rechtsstreitmetaphorik für die Adressaten.

Die metaphorische Rechtsstreitdarstellung erfährt folglich in Bezug auf das finale Urteil eine stark konditionale Prägung. In dem dabei vorausgesetzten kausalen Zusammenhang wird die Rettung erst dadurch möglich, dass das Volk das vorausgehende Verdikt akzeptiert, nicht aber darin, sich im Rechtsstreit gegen Gott zu verteidigen. Diese Abhängigkeit von der Reaktion des Volkes erweist die eigentliche Funktion der metaphorischen Rechtsstreitdarstellung als wesentlich persuasive mit dem Ziel, das Volk zur Buße und zum Glauben an Gott zu führen.41 2.2.2. Gott als Angeklagter Eine weitere Form des Rechtsstreites zwischen Gott und Menschen mit entgegengesetzten forensischen Rollen setzt Gott zu Beginn des Rechtsstreites als Angeklagten voraus. Dies tritt am stärksten dort hervor, wo einzelne Menschen sich aufgrund ihrer Situation in Fragen, Klagen und schließlich Anklagen an Gott wenden. So wendet sich der Prophet Habakuk in einer Klage an Gott, die im alternierenden Wechselspiel von Frage des Propheten (Hab 1,2–4; 1,12– 2,1) und Antwort Gottes (Hab 1,5–11; 2,1–20) an einen typischen Rechtsstreit 39

Vgl. NIELSEN (1978), 75. NIELSEN (1978), 75: „The specific phrasing and structure of the lawsuit thus contribute to emphasizing Yahweh’s salvatory intent, in spite of his role as prosecutor and judge.“ Ebenso DAVIDSON (2010), 53; LINCOLN (2000), 41. 41 Siehe zu dieser Funktion des Rechtsstreites NIELSEN (1978), 72.75. Nielsen sieht richtig, dass der Rechtsstreit in der prophetischen Botschaft als wirkungsvolle Metapher erscheint (aaO., 77), die eine wesentliche Funktion für Israel hat (aaO. 72): „Its purpose is neither to prosecute nor to sentence, but to convince.“ 40

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erinnert.42 Die bildhafteste Beschreibung dieser Form des Rechtsstreites bietet jedoch das Buch Hiob.43 Der leidende Hiob bringt seine Klage als Anklage Gottes in einem Rechtsstreit (‫ ִ)ריב‬vor, bei dem sich Gott verantworten soll (Hi 13,3–8.22; 23,4–6).44 Zugleich aber wird die Unmöglichkeit thematisiert, mit Gott in einen Rechtsstreit zu treten: „Und wie könnte ein Mensch vor Gott gerecht sein? Wenn er Lust hat, mit ihm in einen Rechtsstreit [‫ ִ]ריב‬zu treten, so könnte er ihm auf tausend nicht eins antworten. […] Wie viel weniger könnte ich ihm antworten, meine Worte ihm gegenüber wählen! Ihm könnte ich, auch wenn ich im Recht wäre, nicht antworten – zu meinem Richter [‫ ]לִ ְמשֹׁ פְ טִ י‬würde ich um Gnade flehen.“ (Hi 9,2b–4.14–15)

Das Ende des Hiobbuches führt zu der theologischen Pointe, dass eine Anklage Gottes sich nicht nur als Unmöglichkeit erweist, sondern zu einer Umkehrung der forensischen Rollen und damit des Rechtsstreit-Settings führt, durch die Hiob schließlich selbst als Angeklagter und Verurteilter erscheint.45 Das Erscheinen Gottes zum Rechtsstreit (Hi 38–41) konstituiert sich folglich nicht in einem argumentativen Streitgespräch, sondern in einer einseitigen Rede Gottes, die die eigentliche Rechtssache des Leides ignoriert und damit einen gleichberechtigten Rechtsstreit programmatisch verweigert. Dass stattdessen die göttliche Macht in herausfordernden Fragen an Hiob demonstriert wird,46 legt die eigentliche Natur der Anklage Hiobs offen. Sie zeigt, dass ein Versuch, Gott im Rechtsstreit anzuklagen, sich im Kern nicht nur als Verweigerung erweist, ihn als Gott anzuerkennen, sondern dem vermessenen Anspruch gleichkommt, selbst an Gottes Stelle und damit gerechter als er handeln zu können.47 Was vordergründig wie eine Verteidigung Gottes erscheint, ist somit tatsächlich die Verweigerung eines gleichberechtigen Rechtsstreites vor dem Forum menschlicher Rechtsprechung. An die Stelle eines Rechtsstreites im Sinne eines argumentativen Schlagabtauschs treten somit in einer fundamentalen Rollenumkehrung zwei lange Gerichtsreden (Hi 38,2–39,30; 40,6–41,26), die zugleich göttliche Anklage und Verurteilung sind und Gott in der Rollenunion 42

Siehe dazu die Diskussion bei FLOYD (2000), 564–566. Das Buch Hiob wurde bereits als ganzer Rechtsstreit aufgefasst, der auch den strukturellen Aufbau des Buches erklärt (HARTLEY [1988], 37f.). Auch nach RINGGREN (1990), 499 erscheint das ganze Buch „als ein großer Rechtsstreit zwischen Ijob und Gott“. 44 Eine Behandlung der Funktion des Rechtsstreites und der maßgeblichen Passagen im Buch Hiob gibt SCHÖKEL (1977), 52–57. Schökel charakterisiert den Rechtsstreit als bilaterales Verfahren zwischen Hiob und Gott. Bezüglich der forensischen Rollen zeigt sich jedoch deutlich ein trilaterales Verfahren, bei dem Gott sowohl die Rolle als Richter und Angeklagter innehat. 45 SCHÖKEL (1977), 57 spricht von dieser Wendung als „unexpected and decisive turn of affairs“. 46 Vgl. zur herausfordernden Wirkung der Frage vor Gericht, die zum Schuldeingeständnis führen soll, TRITES (1977), 37. 47 Vgl. NIELSEN (1978), 79; HABEL (1985), 562. 43

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

des Anklägers und Richters auftreten lassen. Sie führen in der Konsequenz dazu, dass Hiob stumm und damit verurteilt zurückbleibt,48 gleichzeitig aber die Gerichtsrede als neue Offenbarung Gottes bezeugt (Hi 42,1–6). In dieser Akzentuierung erweist die Schlusspointe der Auseinandersetzung einmal mehr die paradoxe heilschaffende Funktion des Rechtsstreites Gottes mit Menschen. Am häufigsten findet sich das Motiv des Rechtsstreites von Menschen mit Gott als Bundesrechtsstreit, bei dem Israel Jahwe der Untreue zum Bund anklagt.49 Besonders prominent sind die Rechtsstreitpassagen in Jes 42,18–25; 43,22–28; 45,9–13; 50,1–3.50 Noch stärker als im Buch Hiob stehen dabei die Identität Jahwes und seine Souveränität als Gott selbst zur Diskussion, während einzelne Anklagen im Hintergrund bleiben.51 Die Passagen stehen im größeren Kontext des Rechtsstreites zwischen Jahwe und den Göttern der Völker,52 zielen intentional aber darauf ab, die Zweifel Israels an Jahwes Souveränität und seiner Zuwendung angesichts der Unterlegenheit Israels gegenüber den Völkern anzusprechen.53 Im Bild des Rechtsstreites wird dabei die Anklage formuliert, dass Jahwe das Volk zu Unrecht den anderen Völkern preisgegeben und damit keine Treue zum Bund gezeigt hat.54 Die Passagen werden vordergründig in den Kontext einer gerichtlichen Verteidigung Jahwes gestellt, die die Anklagen des Volkes zurückweist (Jes 40,27; 43,22–23; 50,1), wenden sich anschließend aber stets in eine göttliche Anklage (Jes 40,28–41,7; 43,24– 48

Vgl. TRITES (1977), 83. In einer kurzen Antwort gibt Hiob zu, dass er Gott nicht antworten kann (Hi 40,2–5). Dies kommt einem Schuldeingeständnis gleich (BOVATI [1994], 342; HARTLEY [1988], 517). 49 Siehe zum Begriff und zur Forschungsgeschichte DAVIDSON (2010). Davidson charakterisiert den Bundesrechtsstreit nicht als Gattung, sondern als Form des prophetischen Rechtsstreites, bei dem Gott sein Volk wegen Bundesbruchs anklagt (aaO., 63–65); vgl. auch BRACKE (1997), 1105. 50 Siehe dazu die Untersuchung von NIELSEN (1978), 69–83 und die Ausführungen bei WESTERMANN (1986), 16–19. 51 NIELSEN (1978), 71 benennt dies sogar als gemeinsamen Nenner der Passagen in Jes 41–43: „The common denominator of these […] texts is that they are all concerned with Yahweh’s claim to be God.“ 52 Siehe dazu unten Abschnitt 2.2.3. 53 „[I]t is a question of who is in the right, Yahweh or the foreign gods. But in reality it is not the gods who must be convinced, but Israel; moreover, the very reason the case has come to court at all is Israel’s lack of confidence that Yahweh is her defender. In reality, then, this is a case between Yahweh and Israel“ (NIELSEN [1978], 68). 54 Dieser Vorwurf wird in Jes 40,27–28 explizit aufgenommen. Die Einzelheiten der Anklage des Volkes sind nur implizit aus den Reden Jahwes zu erschließen. So steht hinter Jes 43,22–24 die Ansicht des Volkes, gerecht gehandelt zu haben, und hinter Jes 50,1 der durch die Metaphorik der Ehescheidung ausgedrückte Vorwurf des Bundesbruches vonseiten Jahwes durch Auslieferung Israels an die Völker. Die Metaphorik des Rechtsstreites ist in Jes 43,26 durch die Lexeme ‫ ָזכַר‬im Hiphil sowie durch ‫שָׁ ַפט‬, ‫ סָ ַפר‬und ‫צָ דֵ ק‬, die alle als Termini des Rechtsstreites fungieren, ausgewiesen (vgl. BOVATI [1994], 49.74f.302 zur Terminologie und GOLDINGAY/PAYNE [2006], 314 zum Kontext in Jes 43,26).

2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites

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28; 50,2–3).55 Die Wendung zur Anklage begründet sich nicht nur auf einzelnen Vergehen des Volkes, sondern ergibt sich schon grundsätzlich allein aus der Tatsache, dass das Volk mit seinem Schöpfer in einen Rechtsstreit eintritt und Jahwe und sein Handeln kritisiert (Jes 45,9–13). Die Wendung vom Angeklagten zum Ankläger zeigt sich nicht nur in Jes 40–55, sondern ist ein Grundprinzip der Texte des prophetischen Rechtsstreites, in denen Jahwe von Menschen angeklagt wird (vgl. Hab 1,2–2,5; Mi 6,3–8; Mal 1,2–2,17).56 Obwohl Gott damit im Rechtsstreit mit Menschen in manchen Kontexten zunächst als Angeklagter erscheint, findet sich kein Beispiel eines Rechtsstreites, bei dem Gott nicht am Schluss in der Funktion des Anklägers auftritt. Im atl. Rechtsstreit kann Gott damit zwar anfänglich Angeklagter, aber niemals Verurteilter sein. Die Rechtsstreitdarstellung endet folglich nie mit einer Verteidigung Gottes, sondern erweist die menschliche Anklage immer als unberechtigte Anklage, die notwendig eine Gegenanklage zur Folge hat. Damit zeigt sich auch im prophetischen Rechtsstreit aufgrund der Beteiligung Gottes umso notwendiger der enge Zusammenhang zwischen gerichtlicher Verteidigung und Gegenanklage:57 Eine Verteidigung ist zugleich Anklage des Anklägers. Ebenso kann eine Anklage zunächst mit einer präventiven Verteidigung gegen den Prozessgegner beginnen, um die Anklage umso wirkungsvoller erscheinen zu lassen.58 55

Vgl. GOLDINGAY/PAYNE (2006), 314. So zeigt sich auch in Mal 1,2–5 zunächst eine Zurückweisung der Anklage des Volkes, die sich in Mal 1,6–2,16 in eine lange Anklagerede wendet. Die Reden im Buch Maleachi werden aufgrund ihres forensischen Kontextes auch als Gerichtsreden verstanden; vgl. etwa HILL (2012), 529f. Die Passage in Mi 6,1–8 zeigt ebenso den engen Zusammenhang zwischen Verteidigung und Anklage (ALLEN [1976], 363; SMITH-CHRISTOPHER [2015], 189). 57 Das Prinzip der Anklageumkehrung findet sich auch im zwischennmenschlichen Rechtsstreit, sofern die Anklage unberechtigt oder falsch ist (vgl. Abschnitt 2.1). 58 Siehe hier etwa BOECKER (1960), 404, der die Gegenanklage als integralen Bestandteil der Verteidigungsrede ansieht. Anklage und Verteidigung sind mitunter so eng verwoben, dass es unmöglich ist zu entscheiden, ob eine Anklage mit einer Verteidigung beginnt oder eine Verteidigung sich in eine Anklage wendet. Diese Ambivalenz zeigt sich deutlich in Mi 6,1–5. So versteht BOECKER (1960), 410 die Rede als Verteidigungsrede; ebenso WALTKE (2007), 367f., der erklärt: „Mic 6:1–5 would correspond to a discourse of defense. God defends himself as an accused human: ‚What did I do to you?‘ and sends back to his adversary his own words in vv 4–5, which in all probability were taken from an ancient confession of faith.“ Die Mehrheit der Forscher sieht jedoch eine Anklage, der eine präventive Verteidigung vorausgeht und damit die Anklage umso gewichtiger macht; vgl. etwa ALLEN (1976), 363; ANDERSEN/FREEDMAN (2000), 506; SMITH (1998), 50; SMITH-CHRISTOPHER (2015), 189. Dies illustriert eindrücklich, wie selbstverständlich die gerichtliche Verteidigung als funktionelle Gegenanklage vorausgesetzt wird. Die Verteidigung ist so fest in ihrer Form als Gegenanklage geprägt, dass eine Anklage jede eventuelle Verteidigung (als Gegenanklage) bereits vorher durch Abwehr ihrer Ansprüche entkräften kann und damit umso kraftvoller erscheint (vgl. für weitere atl. Belege, die diese Form der Verteidigung als Eigenart des atl. Rechtsstreites erweist, auch BOVATI (1994), 115–117). Dabei wird häufig 56

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

Diese Gegenanklage durch Gott begründet sich in doppelter Weise dadurch, dass Gott einerseits die Rechtssituation korrigiert und ein schuldhaftes Verhalten des Menschen in der Rechtssache nachweist,59 andererseits aber schon allein aufgrund des prinzipiellen Vergehens, dass Gott in seinem Gott-Sein im Rechtsstreit infrage gestellt wird, eine Gegenanklage formulieren kann.60 Damit ist die Wende vom Angeklagten zum Ankläger im Rechtsstreit von Menschen mit Gott allein aufgrund der Tatsache, dass mit Gott selbst der Schöpfer und absolute Richter als Prozesspartei anwesend ist, zwangsläufig vorgegeben. 2.2.3. Der Rechtsstreit Gottes mit der Welt Verwandt mit dem Bundesrechtsstreit, bei dem Gott als Ankläger und Richter gegen sein Volk auftritt, ist eine universellere Form des Rechtsstreites, in dem Jahwe gegen die Völker der Welt auftritt.61 Beide Formen werden in Mi 1,2–7 dadurch verbunden, dass Jahwe in der Doppelrolle als Zeuge (Mi 1,2) und Richter (Mi 1,3–7) die Völker zum Gericht ruft, um dann vor ihren Augen mit Samaria (Nordreich Israels) in den Rechtsstreit zu treten (Mi 1,5). Der Rechtsstreit mit Samaria wird damit vor den Völkern ausgetragen und so zum Paradigma und zur Warnung für die Völker in Bezug auf ein zukünftiges, universelles Gericht.62 Der Rechtsstreit fungiert folglich auf einer doppelten Adressatenebene sowohl den Völkern als auch Samaria gegenüber.63 Während die Völker dabei zunächst eine Zuschauerrolle einnehmen und Samaria in der Rolle des wegen Götzendienst Angeklagten sehen, werden sie a fortiori selbst zu Angeklagten.64 Schließlich wird noch eine dritte Adressatenebene darin erkennbar, dass das Prophetenwort selbst sich weder an Samaria noch an die Völker, sondern an Juda (Südreich Israels) richtet (vgl. Mi 1,1.5.9) und damit die Form der rhetorischen Frage als erfolgreiches Mittel der Verteidigung und wirkungsvolle Unschuldserklärung verwendet (vgl. dazu BOVATI [1994], 78). 59 Vgl. etwa Jes 43,22–24 (Geltung von Opfern als Rechtssache) oder Mal 1,2–14 (Bundestreue als Rechtssache). In beiden Fällen weist Jahwe in der Verteidigung das Vergehen der Anklage beim Ankläger selbst nach. 60 So etwa im Rechtsstreit zwischen Gott und Hiob (siehe dazu oben Abschnitt 2.2.2) sowie im Rechtsstreit in Jes 40–55 (siehe dazu unten Abschnitt 2.2.4), insbesondere im Bild des Tons, der mit seinem Bildner Rechtsstreit führt (Jes 45,9). Damit wird anstelle der eigentlichen Verteidigung in der Rechtssache das prinzipielle Vergehen der Anmaßung und des Unglaubens offengelegt, das die menschliche Partei zum Rechtsstreit motiviert. 61 Siehe zu dieser Form des Rechtsstreites DAVIDSON (2010), 67. 62 So WALTKE (2007), 57. Vgl. zur paradigmatischen Funktion Israels als Repräsentant für die Welt im Rechtsstreit auch NIELSEN (1978), 82. 63 Auch WALTKE (2007), 57 benennt einen zweifachen Adressaten: „Micah intends his messages for two audiences, the non-covenant and covenant people.“ Eine dritte Adressatengruppe findet sich in den Lesenden der verschriftlichten Prophetie, die in der Prophetie ihrerseits zur Umkehr zu Gott aufgefordert werden. 64 Vgl. dazu WALTKE (2007), 57.

2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites

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für die Lesenden/Hörenden des prophetischen Wortes zur Anklage, Warnung und zum Aufruf zur Umkehr wird (vgl. Abb. 2). Ebene

Richter/Zeuge

1.

Jahwe

2.

Jahwe

3.

Jahwe

Anklage

Angeklagte

Zuschauer

Lesender/Hörender

Samaria Anklage

Völker Anklage

Juda

Abb. 2: Ebenen prophetischer Rechtsstreitmetaphorik in Mi 1,2–7.

Der Rechtsstreit wird somit zu einer Metapher, bei der unterschiedliche Adressatenebenen zu differenzieren sind, von denen insbesondere die dritte mit einer ausgeprägt paränetischen Dimension im Vordergrund steht. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch in Jes 40–55 in mehreren Rechtsstreitszenen (Jes 41,1–7; 41,21–29; 43,8–13).65 Als Rechtsangelegenheit liegen der Absolutheitsanspruch Jahwes und seine Macht zugrunde, die angesichts der Unterwerfung Israels unter die Völker und ihre Götter infrage gestellt wird. 66 In einer Serie von mehreren Gerichtsszenen müssen in einer ersten Szene (Jes 41,1–7) zunächst die Völker den Anspruch Jahwes anerkennen, der sich in Jes 41,4 vorstellt als ‫ ֲאנִ י יְ הוָה ִראשׁוֹן וְ אֶ ת־אַ חֲרֹ ִנים ֲאנִ י־הוּא‬. In der Übersetzung der LXX (ἐγὼ θεὸς πρῶτος καὶ εἰς τὰ ἐπερχόμενα ἐγώ εἰμι) steht die als Name verstandene Selbstbezeichnung Jahwes als ἐγώ εἰμι im Mittelpunkt der Auseinandersetzung (Jes 41,4; 43,10.13.25; 51,12). 67 Das Eingeständnis der 65

Vgl. ähnlich jedoch schon Jes 3,13. Siehe zu den genannten Passagen HUFFMON (1959), 294. 66 Vgl. WESTERMANN (1986), 16. Implizit wird die Rechtssache bereits in Jes 40,27–28 genannt. Nach (NIELSEN [1978], 71f. ist dies die eigentliche Rechtssache, die in unterschiedlichen Schattierungen verhandelt wird. Während dieser Anspruch in Jes 41,1–7; 41,22–29 und 43,8–13 vor den Völkern und ihren Göttern verhandelt wird, ist in Jes 42,18–25 Israel selbst der Prozessgegner, der den Anspruch Jahwes bestreitet. 67 Vgl. zum Verständnis von ἐγώ εἰμι als Name Gottes LINCOLN (2000), 44 und umfassend WILLIAMS (2000), 23–41. Besonders signifikant ist die Doppelung des Personalpronomens in Jes 43,25; 51,12 in der Formulierung ‫אָ ֹנכִ י אָ ֹנכִ י הוּא‬. Während die Formulierung durch die Langform des Personalpronomens und der Wiederholung eine feierliche Intensivierung erfährt, öffnet sie sich gleichzeitig zu einem Verständnis, bei dem nur das erste Personalpronomen Subjekt des Nominalsatzes ist, während das zusammengesetzte Prädikat ‫ אָ ֹנכִ י הוּא‬als Name erscheint (WILLIAMS [2000], 30.256; vgl. ähnlich auch BROWN [1966], 536f.). Dieselbe Tendenz findet sich in der LXX in der Verdoppelung des ganzen Ausdrucks, der als ‚Ich bin der ‚ICH BIN‘‘ (ἐγώ εἰμι ἐγώ εἰμι) verstanden wird (BEASLEY-MURRAY [1999], 90; WILLIAMS [2000], 256.282.308); vgl. ähnlich Jes 45,19.25 LXX. Vgl. zur Bedeutung der Selbstbezeichnung Jahwes als ‫ אָ ֹנכִ י הוּא‬die ausführliche Studie von WILLIAMS (2000), die resümiert (aaO., 281): „Thus, in the case of […] and Deutero-Isaianic passages, ‫אני הוא‬

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

Macht Jahwes vonseiten der Völker wird in der Gerichtsszene nicht direkt, sondern durch ihren Mangel an Gegenreden ausgedrückt. 68 In einer weiteren Rechtsstreitszene (Jes 41,21–29) werden schließlich die Götter der Völker vor Gericht dadurch als nichtig erwiesen, dass Jahwe sich als Einziger erweist, der die Zukunft offenbaren kann (Jes 41,22–23.26–27), während die Götter keine Beweise vorbringen und auf die Fragen Jahwes nicht antworten können (Jes 41,21–29).69 In Jes 43,8–13 wendet sich die Anklage erneut gegen die Völker als Angeklagte. Während die Völker keine Zeugen stellen können, ruft Jahwe sein Volk als Zeugen auf70 und beweist den Völkern seinen Anspruch als wahrer Gott in der komprimierten Selbstbezeichnung als ‚Ich bin‘ (‫ ֲאנִ י הוּא‬in Jes 43,10. 11.13.25; LXX: ἐγώ εἰμι), die Jahwes Präexistenz, seine Einzigartigkeit, Unvergleichbarkeit, Herrlichkeit und Erlösungsmacht ausdrückt (Jes 40,10–13; 41,4; 43,10–15; 43,25; 51,12–15) und ihn als Einzigen herausstellt, der die Zukunft offenbaren kann (Jes 43,12; vgl. auch Jes 40,21; 41,26; 42,9; 43,12; 44,7–8; 5,21; 46,9–11; 48,3.6).71 Die genannten Zeugen fungieren dabei grundsätzlich in der Anklage,72 tragen jedoch auf beiden Seiten nichts zur Verhandlung bei: Die Völker können keine Zeugen stellen, während Jahwe (in ironischer Umkehrung der Anforderung an Zeugen) sogar blinde und taube Zeugen (Jes 43,8) ausreichen, um eine gerichtliche Verurteilung der Völker zu erserves as succinct expression of God’s sovereignty, consisting of ‫אני‬, by means of which he identifies himself, and ‫ הוא‬as the element that conveys his exclusive and unique divinity.“ 68 Vgl. NIELSEN (1978), 70. 69 Vgl. BALTZER (2001), 123. Die Unfähigkeit, auf eine Frage des Anklägers antworten zu können, kommt einem Schuldeingeständnis gleich (BOVATI [1994], 77.342). Dies wird insbesondere bei der Wiedergabe von Ausschnitten oder metaphorischen Darstellungen von Gerichtsszenen als literarisches Mittel eingesetzt, um den Ausgang des Gerichtsprozesses anzuzeigen (BOVATI [1994], 79f.). 70 In Entsprechung zu der häufigen Doppelrolle als Ankläger und Zeuge (siehe oben Abschnitt 2.2.1) nennt die LXX neben menschlichen Zeugen in Jes 43,10 (γένεσθέ μοι μάρτυρες κἀγὼ μάρτυς) und 43,12 (ὑμεῖς ἐμοὶ μάρτυρες κἀγὼ μάρτυς) auch Gott selbst als Zeugen und verbindet damit die Selbstbezeichnung Gottes als ἐγώ εἰμι mit seiner dreifachen Rolle als Richter, Ankläger und Zeuge (vgl. LINCOLN [2000], 40). 71 TRITES (1977), 47 bemerkt: „The formula is used by the prophet to declare solemnly the nature of Yahweh’s claim as Saviour, Redeemer and Lord of history against the background of unbelief and rival claims.“ 72 Wenn auch im Kontext die Konstruktion von ‫ ֵﬠד‬mit Personalsuffix anstelle einer Präposition in Jes 43,9.10.12; 44,8 als Verteidigungszeugen auf beiden Seiten aufgefasst werden könnten (so richtig BOVATI [1994], 265), erweist doch der Kontext die Funktion der Zeugen in der Anklage (so richtig VAN LEEUWEN [2004], 214). Damit steht hinter dem Diskurs von Jes 40–55 die Anklage Israels, dass Jahwe sich nicht als alleiniger Gott erweist und den Göttern der Völker unterliegt. Die Anklage Israels wird zur Anklage der Götter, gegen die sich Jahwe mit einer Gegenanklage verteidigt. In der Gegenanklage zeugt Israel für Jahwe als ‫ ֲא ִני הוּא‬und greift damit zugleich die Götter an. Siehe zu der forensischen Rollenkonstellation des Rechtsstreites im größeren Kontext die Ausführungen in Abschnitt 2.2.4.

2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites

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wirken.73 Durch die rhetorische Frage am Ende der Rede werden die Völker und ihre Götter dabei sinnfällig als stumm und verurteilt dargestellt (Jes 43,13).74 Während damit Jahwes Macht über die Völker in einem metaphorischen Rechtsstreit hervorgehoben ist, der zeitgleich zum prophetischen Wort geschildert wird,75 zeigt sich in anderen prophetischen Passagen die notwendig eschatologische und universelle Dimension eines zukünftigen Rechtsstreites Jahwes mit den Völkern (vgl. Jer 49,38; Jo 4,1–2; Sach 14,1–5).76 Besonders prominent ist in diesem Kontext die Gerichtsszene in Dan 7,9–14, in der die Weltreiche in ihrer Gesamtheit durch Gott vor einer Versammlung seines himmlischen Hofstaates gerichtet werden (Dan 7,9–10).77 Dabei wird nicht nur die apriorische Überlegenheit der himmlischen Gerichtsbarkeit über alle irdische Macht deutlich, sondern beide Sphären werden zugleich in der Figur eines einem Menschensohn gleichenden (‫כּבַ ר ֱאנָש‬, LXX: ὡς υἱὸς ἀνθρώπου) Herrschers mit göttlichen und menschlichen Eigenschaften verbunden, 78 der mit umfassender Macht und universalen Befugnissen ausgestattet ( ‫וְ לֵהּ יְ הִ יב שָׁ לְ טָ ן‬ ‫ וִ יקָ ר וּמַ לְ כו‬in Dan 7,14) und damit auch zum eschatologischen Richter aller 73

Siehe dazu LINCOLN (2000), 40. MOTYER (1994), 333 bezeichnet dies als Urteil der Gerichtsszene: „[T]he Lord must engage in self-proclamation but, in keeping with the court scene, he casts himself into the role of presiding judge and announces the verdict.“ Dass dieses nicht propositional, sondern interrogativ ausgedrückt wird, ist ein wesentliches rhetorisches Mittel der literarischen Darstellung, durch die die Schuld des Angeklagten ausgedrückt wird (vgl. dazu BOVATI [1994], 342). Es ist ferner signifikant, dass daraus zwar indirekt auf eine Verurteilung geschlossen werden kann, das eigentliche Urteil aber nicht erwähnt wird. 75 Nach WESTERMANN (1986), 100 drückt der Prophet „mit dem Bild der Gerichtsverhandlung aus, daß in der jetzigen geschichtlichen Stunde die Entscheidung fallen muß über den Anspruch der Göttlichkeit zwischen Israels Gott auf der einen und allen Göttern aller Völker auf der anderen Seite.“ Die Prozessmetaphorik hat damit einen wesentlich gegenwärtigen Aspekt, der sich von einer eschatologischen Perspektive unterscheidet. 76 HUFFMON (1959), 295 weist zu Recht auf die Unterschiede dieses Rechtsstreites in Form und Inhalt zum prophetischen Bundesrechtsstreit hin. 77 DAVIDSON (2010), 83 bezeichnet diesen als „apocalyptic cosmic divine lawsuit“. Der himmlische Hofstaat wird dabei möglicherweise als Richterkollegium gedacht (so JINDO [2014], 82), bei dem die maßgebliche Richterfunktion jedoch von Gott allein ausgeht. Die genaue Identität der Richter ist dabei umstritten (vgl. zur Diskussion GOLDINGAY [1989], 164–166; STEINMANN [2008], 349–351). 78 Die göttlichen Eigenschaften werden durch das Bild des Kommens in den Wolken ausgedrückt, die ein Prärogativ Jahwes ausdrücken (vgl. Dtn 32,26; Ps 18,10–12; 68,5.34; 104,3; Jes 19,1; Nah 1,3). Die menschlichen Eigenschaften zeigen sich in der Darstellung als ‫בַ ר ֱאנָש‬, auch wenn durch den bewussten Vergleichscharakter (aram. ְ‫ )כּ‬deutlich wird, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Menschen handelt (GOLDINGAY [1989], 167). Himmlische und irdische Sphäre werden auch dadurch verbunden, dass das Gericht zwar vom göttlichen Hofstaat unter Vorsitz des „Alten an Tagen“ (Dan 7,13) ausgeführt wird, aber auf der Erde stattfindet (GOLDINGAY [1989], 167). 74

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Menschen wird.79 Deutet sich schon im Rechtsstreit Gottes mit den Nationen eine übernatürliche Dimension dadurch an, dass die Götter der Nationen adressiert werden, zeigt sich in anderen Zusammenhängen ein Prozess, bei dem die Götter selbst beteiligt sind.80 Ähnlich wie in Dan 7,9–10 ist in Ps 82 eine Gerichtsszene des himmlischen Hofstaates beschrieben, in der Gott inmitten der Versammlung der als Richter der Erde (vgl. ‫ שָׁ פַט‬in V. 2.3) bezeichneten Götter steht (‫נִ צָּ ב בַּ ﬠֲדַ ת־אֵ ל‬, V. 1).81 Die Szene gewinnt dadurch eine besondere Zuspitzung, dass es nicht die Welt, sondern die als ‫ ֱא הִ ים‬bezeichneten Richter der Welt selbst sind, die von Gott aufgrund ihres ungerechten Gerichts zur Rechenschaft gezogen werden (Ps 82,2–7). Die Szene präsentiert Gott damit als höchsten und absoluten Ankläger und Richter,82 der über allen anderen Richtern der himmlischen Welt steht (Ps 82,1) und damit auch über die irdische Welt und alle Nationen richtet (Ps 82,8).83 Die Anklage beginnt mit einer Frage und stellt durch die Präsentation einer einzigen Rede Gottes, auf die keine Antwort genannt wird, die Angeklagten in Kontinuität zu anderen atl. Rechtsstreitdarstellungen als stumm und verurteilt dar.84

79 Dies wird in Dan 7,13–14 nicht direkt ausgedrückt, ergibt sich aber als notwendige Implikation der dem Menschensohn gegebenen Herrschaft und des Königtums über alle Völker (vgl. auch Dan 7,14 LXX: ἐδόθη αὐτῷ ἐξουσία καὶ πάντα τὰ ἔθνη τῆς γῆς κατὰ γένη καὶ πᾶσα δόξα αὐτῷ λατρεύουσα καὶ ἡ ἐξουσία αὐτοῦ ἐξουσία αἰώνιος ἥτις οὐ μὴ ἀρθῇ καὶ ἡ βασιλεία αὐτοῦ ἥτις οὐ μὴ φθαρῇ) sowie der intratextuellen Verbindung zum universellen Gericht über alle Menschen in Dan 12,2. So bemerkt BALDWIN (1978), 166: „Although he is not explicitly said to be given the task of judging, this is implicit in the rule committed to him. Judgment then is committed to one who seems to share humanity and therefore to know from experience the odds against mankind.“ Die Figur des Menschensohnes wird daher zu Recht mit der Rolle des Richters verbunden; vgl. BEUTLER (1972), 89. 80 Siehe für diese Form des Rechtsstreites DAVIDSON (2010), 83. Nach BALTZER (2001), 116 besteht eine enge Verbindung zwischen dem Rechtsstreit in Jes 40–54 und Ps 82 in dem Motiv des Prozesses innerhalb der versammelten ‫ ֱא הִ ים‬. 81 Vgl. zum Setting dieser Gerichtsszene DECLAISSÉ-WALFORD/JACOBSON/TANNER (2014), 642; JINDO (2014), 82. 82 Siehe zu dieser Doppelfunktion HOSSFELD/ZENGER (2005), 333: „The scenario of the change that is then narrated in the psalm […] is prepared for in v. 1*, in that the God of Israel is not presented as the ‚presider‘ over the assembly of the gods, but as an Elohim who stands ‚in the midst of the gods (elohim)‘ – as accuser (vv. 2–4*) and as judge (vv. 6–7*). Both functions are expressly named in v. 1*.“ 83 Dieser Aspekt umschließt den Psalm in Form einer inclusio im ersten und letzten Vers (Ps 82,1–8). Während Gott zu Beginn mit ‫ בְּ קֶ ֶרב ֱא הִ ים ִי ְשׁפֹּ ט‬programmatisch als höchster Richter der himmlischen Welt erscheint (Ps 82,1), wird in der Schlusssentenz mit ‫ֱא הִ ים‬ ‫ שָׁ פְ טָ ה הָ אָ ֶרץ‬und ‫ ִת ְנחַ ל בְּ כָל־הַ גּוֹ ִים‬ein universeller irdischer Geltungsanspruch deutlich (Ps 82,8). 84 Siehe DECLAISSÉ-WALFORD/JACOBSON/TANNER (2014), 643, die diese Situation mit dem Rechtsstreit zwischen Gott und Hiob vergleichen.

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2.2.4. Makrokomplex von Rechtsstreitszenen in Jes 40–45 Eine besonders komplexe Form des Rechtsstreites zeigt sich in Jes 40–45 und konzentriert sich insbesondere auf Jes 41,1–7; 41,21–29; 42,18–25; 43,8–13; 43,22–28; 45,9–13. 85 Schon eine Bestandsaufnahme der bisher diskutierten Rechtsstreitszenen aus Jes 40–45 weist eine auffällige Häufung forensischer Bildmetaphorik und forensischer Ausdrücke auf, die nicht nur im Kontext von Jes 40–45, sondern auch im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Johannesevangelium häufig hervorgehoben wurde.86 Eine besondere Eigenart zeigt sich darin, dass die Prozessszenen sowohl Szenen des Rechtsstreites Gottes mit Israel (Jes 42,18–25; 43,8–13; 43,22–28; 44,6–23; 45,9–13) als auch solche mit den Völkern und ihren Göttern aufweisen (Jes 41,1–7; 41,21–29; vgl. auch 43,8–13)87 und beide Akzentuierungen durch eine Gesamtdramaturgie mit multiplen metaphorischen Adressatenebenen miteinander verwoben sind. Während sich die bisherige Forschung stark auf die Abschnitte als einzelne Gerichtsszenen beschränkte,88 ergibt sich ein viel fruchtbarerer Weg in einer holistischen Betrachtung des größeren Kontextes.89 Eine solche Betrachtung liefert wesentliche Einsichten zur Eigenart, Verwendung und Funktion forensischer Metaphorik und Motivik im Alten Testament. So zeigt sich zunächst, dass die einzelnen Rechtsstreitszenen nicht als eigenständige Einzelszenen, sondern in einem komplexen Gefüge erscheinen,

85

Vgl. dazu BALTZER (2001), 16f.; NIELSEN (1978), 62–66. Siehe für die Bedeutung für das Johannesevangelium insbesondere YOUNG (1955), 223–230; HARVEY (1976), 15f.; TRITES (1977), 78f.; LINCOLN (2000), 36–56; ASIEDUPEPRAH (2001), 13; GRIFFITHS (1954), 355–360; HAMILTON (2007), 148–161. Siehe auch die Konklusion von STIBBE (1992), 19: „[F]orensic language is clearly used as a unifying, structuring device in the first half of the gospel. The background for this literary device lies in the trial speeches of Deutero Isaiah, where Yahweh is also shown defending who he is (ἐγώ εἰμι in LXX) in a quasi-courtroom setting […].“ 87 Einige der Rechtsstreitszenen aus Jes 40–45 wurden bereits unter diesen beiden Aspekten in den Abschnitten 2.2.2–2.2.3 diskutiert. 88 Dies geschah meist unter formgeschichtlichen Überlegungen und der Frage, nach welchen Kriterien eine Szene als Rechtsstreitszene zu gelten hat. Die Analyse der Passagen in Jes 40–54 stand in der bisherigen Forschung maßgeblich unter diesem Vorzeichen; siehe dazu die Übersicht bei O’CONNELL (1994), 156–159; siehe auch SCHART (2014), 8f. 89 So bemerkt O’CONNELL (1994), 211: „Unfortunately, however, much of the discussion has been based upon the forms of the individual subunits in isolation rather than upon an appreciation of the role that they play within the broader patterns of their context.“ Neben O’Connell hat auch BALTZER (2001) den Wert einer holistischen Betrachtung erwiesen, bei der die Rechtsstreitszenen in der Makrostruktur von Jes 40–55 eingebunden sind. Nach Baltzer bilden die Rechtsstreitszenen „basic scenes“, durch die im größeren Kontext ein Drama entsteht (aaO., 15f.). 86

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

bei dem Passagen des Trostes für Israel (A) mit Passagen von ausgeprägter forensischer Metaphorik (B) alternieren:90 A Trost für Israel (Jes 40,1–11) Überleitung von Israel zu den Völkern (Jes 40,12–26) A Trost für Israel (Jes 40,27–31) B Rechtsstreit mit den Völkern (Jes 41,1–7) A Trost für Israel (Jes 41,8–20) B Rechtsstreit mit den Völkern (Jes 41,21–29) A Trost für Zion (Jes 42,1–9) Überleitung von den Völkern zu Israel (Jes 42,10–17) B A B A B A B A B

Rechtsstreit mit Israel (Jes 42,18–25) Trost für Israel (Jes 43,1–7) Rechtsstreit mit Israel (Jes 43,8–13) Trost für Israel (Jes 43,14–21) Rechtsstreit mit Israel (Jes 43,22–28) Trost für Israel (Jes 44,1–5) Rechtsstreit mit Israel (Jes 44,6–23) Trost für Israel (Jes 44,24–45,8) Rechtsstreit mit Israel (Jes 45,9–13)

Wenn dabei auch die Rechtsstreitszenen mit den Völkern und solche mit Israel als separate Prozessszenen erscheinen, erweisen sich beide durch zwei transitive Abschnitte mit Überleitungsfunktion (Jes 40,12–26; Jes 42,10–17) als fest miteinander verbunden. Hinter dem verhandelten Anspruch Jahwes als ‚Ich bin‘ (‫ ֲאנִ י הוּא‬/ἐγώ εἰμι) steht Israels Anklage gegen Jahwe wegen seiner mangelnde Treue angesichts der Unterwerfung Israels unter die Völker und ihre Götter.91 Indem Jahwe in einem Rechtsstreit mit den Völkern darauf antwortet, fungiert der Rechtsstreit auf einer doppelten Ebene: Er ereignet sich nicht als tatsächliche Auseinandersetzung mit den Völkern, sondern fungiert in der metaphorischen Bildlichkeit als Teil der Botschaft Jahwes an sein Volk.92 Dabei 90 Siehe zu dieser Übersicht die Strukturanalyse bei O’CONNELL (1994), 153f. Auch O’Connell erkennt einen alternierenden Aufbau, der hier dargestellte Aufbau weicht jedoch in Einzelheiten von O’Connell ab. 91 WESTERMANN (1986), 16. Auf diesen Zusammenhang weisen insbesondere die beiden Übergangspassagen in Jes 40,12–26 und Jes 42,10–17 hin. 92 Dies hat NIELSEN (1978) in seiner Untersuchung dargelegt, in der er zwischen unterschiedlichen Adressaten unterscheidet: „In this case, then, the external form of the address tells mainly about the prophet’s intention: to convince Israel that it is Yahweh who is the power behind Cyrus.“ Diese Doppelebene zeigt sich nicht nur in Jes 40–45, sondern im ganzen Abschnitt von Jes 40–55, wie O’CONNELL (1994), 210f. bemerkt: „The primary audience throughout chs. 40:1–54:17 is the community of Jacob/Israel//Judah/Zion in exile. Even the ‚trial speeches‘ against the idols of other nations are rhetorically designed to be overheard by Jacob/Israel//Judah/Zion so that they function as either consolations (when YHWH vindicates Jacob/Israel//Judah/Zion by threatening their enemies) or disputations (when YHWH rebukes his people for worshiping impotent or ignorant foreign gods). The structural

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nimmt das Volk einerseits die Rolle des Geschädigten ein, dessen Recht durch Jahwe als Ankläger und Richter gegenüber den Völkern verteidigt wird. Andererseits wird dem Volk durch die Präsentation des Rechtsstreites mit den Nationen in der prophetischen Botschaft implizit die Rolle der Zuschauer in einem Prozess zugewiesen, in dem Jahwe sich gegenüber den Göttern als allein wahrer Gott erweist.93 Da sich Israel in der Bestreitung von Jahwes Anspruch als ‫ ֲאנִ י הוּא‬/ἐγώ εἰμι jedoch auf höchst ironische Weise mit Rechtspositionen der Völker und ihrer Götter solidarisiert fühlt, wird die Verurteilung der Götter gleichzeitig zur Verurteilung Israels. Indem sich Israel auf der Seite der Angeklagten wiederfindet, werden somit die Zuschauer selbst zu Angeklagten (vgl. Abb. 3).94 Ebene 1 Ankläger: Israel Angeklagter: Jahwe

Ebene 4 Ankläger: Jahwe Angeklagter: Israel Erweist sich Jahwe als einziger Gott?

Ebene 2 Ankläger:Völker/Götter Angeklagter: Jahwe

Ebene 3 Ankläger: Jahwe Angeklagter: Völker/Götter Zeuge: Israel

Abb. 3: Ebenen der Rechtsstreitmetaphorik in Jes 40–55.

Dass sich so die tatsächlichen Adressaten (Israel) in den Adressaten der metaphorischen Welt (die Völker) wiedererkennen, erweist damit die eigentliche theologische Funktion der metaphorischen Prozessdarstellung, die darauf abcontinuity and rhetorical function of Isa. 40:1–54:1 within the overall covenant disputation rhetoric that makes up the book of Isaiah make it clear that these ‚trial speeches‘ were not designed to be read by the nations whom they ostensibly address. Hence, subsections that are ‚trial speeches‘ in form actually function, within the controlling strategy of the book, as either consolations of or disputations against Jacob/Israel//Judah/Zion.“ 93 Siehe WESTERMANN (1986), 100: „[D]ie Frage ist jetzt eine umfassende und grundsätzliche geworden: Gott oder die Götter. Um dieses grundsätzliche und umfassende Entweder-Oder geht es in den Gerichtsreden.“ 94 Diese Wendung prägt den ganzen Abschnitt von Jes 41–43 und zeigt sich darin, dass sich nach der zweiten Rechtsstreitszene zwischen Jahwe und den Völkern (Jes 41,21–29) der Prozess in Jes 42,18–25 zu einem Prozess gegen Israel selbst wendet. Anschließend wird mit Jes 43,8–13 eine Szene mit stark ambivalentem Charakter beschrieben, die sowohl Israel als auch die Völker als Angeklagte adressiert und damit bildhaft die doppelte Adressatenebene illustriert (vgl. dazu ausführlich NIELSEN [1978], 67–77).

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zielt, Israel zu überführen und zu überzeugen. Der Prozess vor den Völkern wird folglich zum Symbol für Gottes Antwort auf die Anklagen Israels. Die Prozessmetaphorik weist in der Vielschichtigkeit von nicht weniger als vier Ebenen mit unterschiedlichen Rollenkonstellationen damit in ihrer eigentlichen Intention auf das Verhältnis Jahwes zu Israel und ist so durch eine stark paränetische Funktion charakterisiert. Die Passagen zeigen darüber hinaus auch ein paradoxes Gegenüber von Jahwe als Richter und Retter. So stehen die Rechtsstreitpassagen zwar ausnahmslos unter dem Vorzeichen der Anklage, alternieren aber mit Passagen des Trostes und der Verheißung für Israel. 95 Diese Einbettung verweist trotz des vordergründig verurteilenden Duktus der Rechtsstreitpassagen auf einen größeren Deutungshorizont, in dem das Heil für Israel im Vordergrund steht. Dieses wird jedoch nur ergriffen, wenn Israel seinen Unglauben an Jahwe als ‫ ֲאנִ י הוּא‬/ἐγώ εἰμι, sein Beharren auf der eigenen Rechtschaffenheit und seine Kritik an Jahwes Handeln ablegt, sich ihm in Buße und Glauben zuwendet und seine Präexistenz (Jes 40,21; 41,4; 43,10; 44,6), Souveränität (Jes 40,22; 41,1–4; 41,26; 43,13; 44,7–8) sowie seine Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit (Jes 40,18; 43,10–13; 44,8) anerkennt. Die Rechtsstreitpassagen haben damit eine wesentliche persuasive Funktion,96 in der sich forensische Metaphorik und narrative Darstellung zu einer rhetorischen Persuasion verbinden, die auf Glauben an den ‚Ich bin‘ (‫ ֲאנִ י הוּא‬/ἐγώ εἰμι) abzielt. Eine spezifische Eigenart der Darstellung wird somit darin erkennbar, dass sich einzelne Szenen, die, für sich genommen, metaphorische Sprache des Rechtsstreites verwenden,97 zu einer Szenenfolge verbinden, in der neben den Einzelszenen ein metaphorisches Prozessganzes mit zahlreichen Rollenwechseln zu erkennen ist (vgl. Abb. 3). So wird über die Einzelszenen hinweg ein komplexes metaphorisches Netzwerk sichtbar, in dem alle beteiligten Akteure ihren Platz finden. Diese Makro-Metaphorik ist nicht nur auf der Leserebene, sondern in der Funktion des Rechtsstreites mit den Völkern selbst angelegt, wie die Gerichtsszene in Jes 43,8–13 erweist, in der Israel und die Völker im selben Rechtsstreit auftreten.98 Nach der Zuschauerrolle Israels wird das Volk selbst in dem vor seinen Augen ablaufenden Prozess als Zeuge aufgerufen, erweist sich dabei aber als der blinde und taube Zeuge (Jes 43,8.10.12), als der Israel in der vorherigen Gerichtsszene angeklagt wurde (Jes 42,18–19),99 und

95

Vgl. dazu oben die Textgliederung zu Jes 40–45. Diese Dimension hat O’CONNELL (1994), 209–211 einsichtsvoll hervorgehoben. O’Connell beschreibt den ganzen Abschnitt von Jes 40–54 als „exoneration section of Isaiah’s covenant disputation rhetoric“ (aaO., 209). 97 Vgl. GOLDINGAY (2012), 282f. 98 Dabei fungiert Israel als tauber und blinder Anklagezeuge gegen die Völker (Jes 43,8), der aufgrund der Disqualifikation als Zeuge selbst zum Angeklagten wird. 99 GOLDINGAY/PAYNE (2006), 282. 96

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disqualifiziert sich damit als Zeuge. 100 Damit wird der Topos eines unzureichenden Zeugen aufgegriffen, der im selben Prozess zum Angeklagten wird. Der Prozess endet somit in einer Doppelanklage Israels und der Völker.101 Die Szenenfolge in Jes 40–45 ist damit ein Beispiel der komplexen atl. Rechtsstreitmotivik, die in der Anlage als semantisches Netzwerk eine szenenübergreifende Dramaturgie entfaltet und den Rechtsstreit als persuasive Metapher gegenüber einer multiplen Adressatenebene instrumentalisiert, um zum Glauben an den ‚Ich bin‘ (‫ ֲאנִ י הוּא‬/ἐγώ εἰμι) zu führen.102

2.3. Ertrag Überblickt man die alttestamentlichen Formen des Rechtsstreites, zeigen sich neben grundsätzlichen Gemeinsamkeiten auch Akzente, in denen sich starke Abweichungen von forensischen Rollen der griechisch-römischen sowie der modernen Rechtswelt ergeben. Diese hängen wesentlich mit der zentralen Rolle Gottes im Rechtsstreit zusammen, zeigen sich aber auch in Elementen des zwischenmenschlichen Rechtsstreites. Die wichtigsten Charakteristika des alttestamentlichen Rechtsstreites werden im Folgenden in Bezug auf Rollenfunktionen und -belegungen, Darstellungsebenen und -formen sowie im Hinblick auf die rhetorische Funktion alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik zusammengefasst. 2.3.1. Rollenfunktionen Die Rollen sind im alttestamentlichen Rechtsstreit primär funktional gedacht und nicht als feste Rollen vorausgesetzt.103 Es ist vielmehr ein Proprium des atl. Rechtsstreites, dass Rollen sich überschneiden und im Lauf des Verfahrens

100

Siehe MOTYER (1994), 334. Vor dem Aufruf Israels als Zeugen Jahwes findet sich daher absichtsvoll eine Gerichtsszene, in der die Zeugen als blind und taub (Jes 42,18–19) dargestellt werden. Indem sich der Aufruf Israels als Zeuge im Rechtsstreit gegen die Völker auf Blinde (‫ )הַ ﬠִ וְ ִרים‬und Taube (‫ )הַ חֵ ְר ִשׁים‬bezieht (42,19), wird in einem ironischen Bezug zu den Anforderungen an einen Zeugen Israel selbst zum Angeklagten. Damit kehrt sich auch ihr Zeugnis gegen sie selbst: „[S]ince the witnesses who are called upon to confirm Yahweh’s testimony are the actual opponents in the case, they are thus forced to witness against themselves“ (NIELSEN [1978], 70). 102 Die Parallelen zur Darstellung im Johannesevangelium sind hier bereits augenfällig. Nicht umsonst wurde die hohe Bedeutung von Jes 40–55 für das Johannesevangelium in der Forschung bereits häufig hervorgehoben (vgl. YOUNG [1955], 223–230; HARVEY [1976], 15f.; TRITES [1977], 78f.; LINCOLN [2000], 36–56; ASIEDU-PEPRAH [2001], 13). 103 Eine Ausnahme zeigt sich allerdings bei der Beteiligung Gottes selbst im Rechtsstreit; siehe dazu unten Abschnitt 2.3.2. 101

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wechseln können.104 Die forensischen Rollen zeigen dabei funktional die folgenden Charakteristika: Der Richter hat im Alten Testament immer auch eine Funktion in der Wiederherstellung des Rechts und wird damit nicht nur in seiner verurteilenden, sondern auch in seiner rettenden Funktion wahrgenommen.105 Das atl. Konzept des Richters unterscheidet sich dadurch stark von demjenigen in der griechisch-römischen Antike. Sowohl ein Einzelrichter als auch ein Richterkollegium handeln dabei stets als Repräsentanten Gottes, der auch in zwischenmenschlichen Rechtsfällen als absoluter Richter angesehen wird.106 Der Ankläger eines Rechtsstreites kann, muss aber nicht mit dem Geschädigten identisch sein. Die Anklage wird meist durch eine einzige Gerichtsrede formuliert, die durch rhetorische Fragen die Unfähigkeit des Angeklagten erweist, auf die Anschuldigung zu antworten.107 Das wesentliche Element der Anklage sind Zeugen, die im atl. Prozessrecht ausschließlich in der Anklage auftreten. Dieser Zusammenhang ist so fest, dass der Ankläger selbst unter die Zeugen gerechnet werden kann und umgekehrt die Zeugen mit der Rolle des Anklägers verschmelzen. Dem Angeklagten steht durch das Zeugenrecht ein grundsätzlicher Schutz zu, durch den er so lange als unschuldig gilt, bis mindestens zwei unabhängige und glaubwürdige Zeugen gegen ihn aussagen. Der Angeklagte äußert sich nicht in einer defensiven Verteidigung, sondern bleibt bei glaubwürdigen Zeugen der Anklage stumm und offenbart damit seine Schuld, oder er klagt im Falle von unglaubwürdigen Zeugen seinerseits den Ankläger an. Eine Verteidigung ist damit immer zugleich Anklage des Anklägers. Prozesszuschauer sind in den wenigsten Fällen neutral, sondern zeigen entweder Solidarität mit der Anklage108 und nehmen an der Urteilsvollstreckung teil oder werden bei Solidarität zum Angeklagten selbst unter Anklage gestellt. 2.3.2. Rollenbelegungen Trotz der Ambivalenz in den Rollen des alttestamentlichen Rechtsstreites zeigt sich eine bemerkenswerte Absolutheit und Konsistenz in Bezug auf die Rollen, die Gott im Rechtsstreit zugewiesen werden. So ist die Rolle des Richters wesentlich und konkurrenzlos Gott selbst vorbehalten. Auch in zwischenmenschlichen Prozessen fungiert Jahwe als eigentlicher Richter, der durch menschliche Richter nur repräsentiert wird. Die Richterrolle ist in Jahwes Existenz als 104 Siehe dazu schon die Untersuchung zum jüdischen Prozessrecht in Abschnitt 1.3. Vgl. dazu ferner BOECKER (1970), 80–87 (siehe dazu die Zitate oben in Anm. 94) und die dort zitierte Literatur. 105 NIELSEN (1978), 76; DE VAUX (1960), 252. 106 Vgl. Abschnitt 2.3.2. 107 HUFFMON (1959), 287f. 108 HUFFMON (1959), 293 mit Verweis auf Jes 5,3.

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Schöpfer und Herrscher über die Welt begründet109 und so untrennbar mit ihm verbunden, dass sie auch dann präsent ist, wenn Gott in der Funktion des Anklägers oder Zeugen auftritt. Die Assoziation ist so selbstverständlich, dass selbst in Fällen, in denen Jahwe von Menschen angeklagt wird, dennoch niemals seine Rolle als Richter hinterfragt wird, sondern vielmehr die theoretische Unmöglichkeit, den höchsten Richter anzuklagen, reflektiert wird (vgl. Hi 9,3– 4.14–15; Jes 45,9). Dies führt zu einer höchst paradoxen Rollenunion, in der Jahwe als Richter und Angeklagter auftreten kann.110 Die absolute Richterposition Jahwes äußert sich folgerichtig auch darin, dass er menschliche Richter zur Rechenschaft zieht und sogar in der Götterversammlung als höchster Richter über andere Richter Recht spricht. Wenn dies auch nicht offensichtlich zutage tritt, so ist doch eine Konsequenz aus dem Verständnis Gottes als gerechtem Richter in der zunächst überraschenden Tatsache zu sehen, dass Gott ebenso fest mit der Rolle des Anklägers verbunden ist. Bereits in zwischenmenschlichen Rechtsstreitigkeiten vertreten menschliche Zeugen die Interessen Jahwes. Doch auch in einem Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen ist Jahwe – unabhängig davon, ob er zunächst Ankläger oder Angeklagter war – am Ende immer Ankläger und Richter. Wenn somit zu Beginn eines Rechtsstreites Gott zunächst in der Rolle des Angeklagten erscheint, wendet sich doch bereits in der ersten (und meist einzigen) Gerichtsrede diese Rolle zum Ankläger. Eine weitere Eigenart der göttlichen Beteiligung im Rechtsstreit ist darin zu sehen, dass Gott als Ankläger zwar Zeugen berufen kann, diese für eine Verurteilung aber nicht benötigt. Damit liegt ein Befund vor, bei dem Jahwe in jedem Prozess als Ankläger auftritt. Folglich gibt es keinen alttestamentlichen Rechtsstreit, bei dem Jahwe der Angeklagte bleibt oder nur die Rolle der Verteidigung innehätte. Umgekehrt findet sich kein Beispiel eines Rechtsstreites, in dem ein Mensch gegen Gott die Rolle der Anklage bis zum Prozessausgang beibehalten könnte. 111 Dieser Befund ist signifikant. Er erklärt sich einerseits aus der Eigenart der erfolgreichen gerichtlichen Verteidigung als Gegenanklage im atl. Rechtsstreit und andererseits aus der unabdingbaren Rolle Gottes als gerechter Richter.112 Die alttestamentliche Prozessdarstellung zeigt damit als zentrales Merkmal eine stark ausgeprägte Rollenüberschneidung, die sich insbesondere auf Gott selbst konzentriert. So kann Gott in einer einzigen Gerichtsszene die Rolle von Angeklagtem, Ankläger, Zeuge und Richter innehaben.113 Dagegen werden die 109

Siehe hierzu oben Anm. 30. Vgl. LIEDKE (2004), 777. 111 LIEDKE (2004), 777 bezeichnet den Rechtsstreit des Menschen mit Gott daher richtig als „asymmetrisch“ und weist darauf hin, dass „ein Konflikt, in dem Jahwe Partner ist, in keinem Fall symmetrisch sein kann“. 112 Vgl. NIELSEN (1978), 74. 113 So muss nach SCHART (2014), 8 „diese Übertragung auf das Gottesverhältnis zu mannigfachen Brechungen des zwischenmenschlichen Gerichtsprozesses führen: Am 110

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

Rollen von Ankläger und Richter für Gott immer als selbstverständlich vorausgesetzt oder explizit genannt. Dies führt zwangsläufig zu einer starken Ambivalenz zwischen bilateralem und trilateralem Rechtsstreit und somit zu einem Nebeneinander von bilateraler vorgerichtlicher Auseinandersetzung und trilateralem Gerichtsprozess. Welche Form gerade im Vordergrund steht, hängt maßgeblich davon ab, wie explizit Gott selbst als Richter auftritt. Dass beide Formen aber stets präsent sind, ist allein aufgrund der Doppelrolle Gottes als Ankläger und Richter offensichtlich. 2.3.3. Darstellungsebenen Alttestamentliche Rechtsstreitdarstellungen zeigen ein auffällig vielschichtiges Nebeneinander verschiedener Darstellungsebenen, die mit unterschiedlichen Sichtweisen und häufig auch mit unterschiedlichen Adressaten korrespondieren. So sind in Bezug auf die Art der Beteiligung Gottes im Rechtsstreit fünf unterschiedliche Ebenen erkennbar: 1. Realer zwischenmenschlicher Rechtsstreit (vorausgesetzte, indirekte Beteiligung Gottes als Richter) 2. Realer Rechtsstreit mit Gott als Richter (evidente, sichtbare Beteiligung Gottes, z. B. durch Gottesurteil) 3. Realer Rechtsstreit mit Gott als Prozessgegner (evidente, sichtbare Beteiligung Gottes in Form einer Theophanie) 4. Metaphorischer Rechtsstreit mit Gott als Prozessgegner (Beteiligung Gottes im prophetischen Wort) 5. Metaphorischer Rechtsstreit mit Gott als Prozessgegner anderer Nationen/Götter (metaphorisches Prozess-Setting im prophetischen Wort)

So zeigt sich bereits im zwischenmenschlichen Prozess eine Beteiligung Gottes, indem der vordergründige Prozess und die realen Akteure in einer tieferliegenden Realität wurzeln, bei der Gott selbst im Mittelpunkt steht und seine Interessen im Prozess verfolgt werden (Ebene 1). Weitere Ebenen werden dort erkennbar, wo Gott selbst als Partei direkt im Prozess involviert ist, sei es über Gottesurteile im zwischenmenschlichen Prozess (Ebene 2) oder in der Prozesspartei des Angeklagten oder des Anklägers (Ebene 3). Der im Buch Hiob entfaltete Rechtsstreit ist dabei von besonderer Relevanz, insofern darin nicht nur ein Szenario entfaltet wird, in dem die von Menschen vorausgesetzte Rolle Gottes (als Angeklagter) mit der tatsächlichen Beteiligung Gottes (als Richter und Ankläger) im Konflikt steht, sondern dieser Konflikt zwischen zwei variierenden Prozess-Settings durch den Prolog des Buches zugleich Teil eines Konflikts zwischen natürlicher und übernatürlicher Sichtweise ist. Auffälligsten [sic!] ist wohl, dass JHWH oft Ankläger, Zeuge, alleiniger Richter und Strafvollstrecker in einer Person ist. Rollenüberschneidungen waren wohl auch im normalen Gerichtsverfahren nicht ausgeschlossen, aber kaum in dieser Dichte.“

2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites

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Besonders ausgeprägt zeigt sich eine Vielfalt unterschiedlicher Ebenen jedoch im prophetischen Rechtsstreit. Dies begründet sich ganz wesentlich aus der Tatsache, dass der prophetische Rechtsstreit im Gegensatz zum zwischenmenschlichen Rechtsstreit auf einer metaphorischen, bildlichen Ebene angesiedelt ist und damit reale Gegebenheiten des Rechtsstreites als Metapher benutzt (Ebene 4). Die Verwendung forensischer Metaphorik ist von einer ausgeprägten Polyvalenz geprägt, durch die Szenen mit unterschiedlichen Rollenbelegungen miteinander interagieren. 114 Was vordergründig zu Paradoxien führt, ist bereits in der ausgeprägten Rollenüberschneidung und der Doppeloder Dreifachrolle Gottes im Rechtsstreit angelegt. Damit wird es möglich, dass der Lesende/Hörende der prophetischen Botschaft selbst in unterschiedlichen Rollen im Rechtsstreit (etwa Zeuge, Zuschauer, Angeklagter) erscheint. Lässt sich der Rechtsstreit Gottes mit Israel noch als Rechtsstreit mit direkter Beteiligung Gottes auf direkter Ebene auffassen, zeigt sich insbesondere im Rechtsstreit Gottes mit den Völkern oder ihren Göttern eine starke Tendenz zu einer metaphorischen Rechtsstreitbeschreibung mit Akteuren, die in der Situation der Lesenden/Hörenden nicht präsent sind, gleichzeitig aber starke persuasive oder paränetische Funktion für den Lesenden/Hörenden haben (Ebene 5).115 Dies bezieht sich zunächst auf die verhandelten Prozessinhalte, durch die der Lesende/Hörende inhaltlich von der Argumentation Jahwes überzeugt werden soll. Inhaltlich steht dabei der Anspruch Jahwes als einziger Gott im Mittelpunkt der Auseinandersetzung.116 Darüber hinaus führt die Art der Präsentation des Rechtsstreites dazu, dass der Lesende/Hörende mit forensischen Rollen oder Positionen sympathisiert und sich damit selbst in der Rolle des Angeklagten wiederfindet. Die Darstellung zeigt, dass dieser Rollentransfer, der den Adressaten mit einschließt, nicht nur auf einer kognitiven Leserebene stattfindet, sondern wesentlich durch die metaphorische Natur der Rechtsstreitszenen explizit gemacht wird. 2.3.4. Darstellungsformen Neben der expliziten Nennung forensischer Gegebenheiten werden forensische Motivik und Metaphorik wesentlich über die Art der narrativen Präsentation transportiert. Obwohl sich die alttestamentliche Forschung hauptsächlich auf forensische Abläufe und termini technici als Kriterien für die Identifikationen 114 Diese „Polyvalenz der Bildersprache“ ist nach ZIMMERMANN (2000), 18 ein wesentlicher Zug bildlicher Darstellung im Allgemeinen und zeichnet diese gegenüber einem propositional-definitorischen Ausdruck aus. Dass dieser Zug in der Bildersprache forensischer Metaphorik besonders hervortritt, weist auf das starke Ausdruckspotenzial alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik hin. 115 Vgl. dazu NIELSEN (1978), 74f. und SCHART (2014), 12f. 116 Vgl. dazu den Rechtsstreit bei Hiob und insbesondere den Rechtsstreit in Jes 40–55, der sich in Jahwes Anspruch als ‚Ich bin‘ (‫ ֲא ִני הוּא‬/ἐγώ εἰμι) zentriert.

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Kapitel II: Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit

von Rechtsstreit- und Gerichtsszenen konzentriert, erweist sich ein solcher Zugang als verkürzt.117 In der neueren Forschung wurde daher vermehrt erkannt, dass bereits wenige Semanteme, Motive oder juristische Abläufe eine Szene als Gerichtsszene kennzeichnen können.118 Folglich kann bereits eine einzige Gerichtsrede die Metaphorik eines ganzen Gerichtsprozesses entfalten. Umgekehrt können auch unterschiedliche Rechtsstreitszenen zusammenwirken und so einen Makro-Prozess kreieren.119 Die Darstellung von Rechtsstreitszenen ist damit häufig minimalistisch und skizziert mit wenigen Ausdrücken oder einem repräsentativen Ausschnitt bereits einen komplexen Rechtsstreit und seinen Ausgang.120 Im Folgenden werden wesentliche Mittel der Darstellung genannt: Den Mittelpunkt forensischer Szenen bildet häufig eine einzige Gerichtsrede Gottes, die vornehmlich als Anklage fungiert und die Argumente der Prozessgegner aufnimmt und entkräftet. Ein wesentliches Element der Anklage bilden dabei Fragen, auf die keine Antworten des Angeklagten genannt werden.121 Damit wird narrativ der Mangel an Gegenrede ausgedrückt, der mit einem Schuldeingeständnis gleichzusetzen ist.122 Wenn auch die Darstellung deutlich auf eine Verurteilung des Angeklagten hinweist, so wird das eigentliche Urteil häufig nicht expliziert. Vielmehr endet mit der Gerichtsrede auch die Prozessszene. Dies offenbart eine wesentliche rhetorische Funktion darin, dass das mit dem Ende der Gerichtsrede einsetzende Schweigen als intensivierte Verurteilung gilt und die Formulierung des Urteils der Schlussfolgerung des Lesenden/Hörenden überlassen wird.123 Damit zeigt sich auch auf Ebene der Dar117 Nach SCHART (2014), 8 „gab es vielfache Bemühungen, die Gattungsanalyse zu verfeinern. […] Ein abschließender Konsens, welche Texte als Gerichtsreden oder Gerichtsszenen zu bestimmen sind, ist noch nicht erreicht. Darüber hinaus ist es schwierig, aus den Texten, die oft keine Sprecherwechsel markieren, genau zu bestimmen, an welcher Stelle des Prozesses man sich genau befindet und welche Partei gerade mit welchem Ziel redet.“ 118 So ist es nach SCHART (2014), 2 für den Lesenden nicht notwendig, „einen vollständigen Bericht über den gesamten Prozess zu erhalten. Interessant sind lediglich die entscheidenden Momente eines Verfahrens, die für den jeweiligen Verwendungszusammenhang verwertbar sind. Ein solcher, sich auf wesentliche Teile beschränkender Bericht soll ‚Gerichtsszene‘ genannt werden […].“ Ebenso auch PREUß (1976), 22. 119 Siehe dazu insbesondere die Untersuchung zu Jes 40–45 in Abschnitt 2.2.4 sowie die Analyse der Makrostruktur bei O’CONNELL (1994), 156–159. 120 Nach SCHART (2014), 2 können bereits wenige juristische Begriffe eine Szene als Gerichtsszene erkennbar machen: „Bei der Gerichtsszene müssen klare Hinweise enthalten sein, die es der Hörer- oder Leserschaft erlauben, den im Text gebotenen Ausschnitt in den Ablauf des gesamten Verfahrens einzuordnen. Welche Hinweise der Autor gibt, liegt bei ihm. Als lexikalischer Hinweis dienen juristische Fachbegriffe (z. B. die Wurzeln ‫ ריב‬rîb ‚anklagen‘ oder ‫ שׁפט‬špṭ ‚urteilen/richten‘), als formaler dienen bestimmte Redeformen (z. B. die Zusammenrufung der Verfahrensbeteiligten).“ 121 Vgl. HUFFMON (1959), 288 mit Verweis aus Jer 2,4–13; ferner TRITES (1977), 37. 122 Siehe dazu BOVATI (1994), 340–343. 123 Dies hat NIELSEN (1978), 75 einsichtsvoll anhand des Rechtsstreites in Jes 40–55 herausgearbeitet: „Everything suggests that Israel must be punished, yet the prophet omits the

2. Der Motivkomplex des alttestamentlichen Rechtsstreites

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stellung die inhaltlich stets präsente und stark ausgeprägte paränetische, adhortative und persuasive Funktion der Darstellung, die auf eine bestimmte Reaktion der Lesenden/Hörenden abzielt. 2.3.5. Rhetorische Funktion Die wesentliche Funktion der metaphorischen Verwendung von Rechtsstreitund Prozessmotivik liegt darin, die Adressaten der prophetischen Botschaft zum Umdenken, zur Umkehr, zum Glauben oder zum Gehorsam aufzurufen. Im Zentrum des Rechtsstreites steht dabei insbesondere der Aufruf zum Glauben an Jahwe als einzigen und wahren Gott (vgl. ‫ ֲאנִ י הוּא‬/ἐγώ εἰμι in Jes 40–55), dessen Handeln von Menschen hinterfragt und mit Unglauben quittiert wird. Gerade hier hat die Metapher des Rechtsstreites ihre wesentliche Funktion: „Indem in den Gerichtsszenen ein regelrechtes Verfahren inszeniert wird, in dem die Rechtskonformität des Handelns Gottes und die wahre Göttlichkeit von Gottes Wesen sukzessiv erwiesen werden, werden die Zweifel der Leserschaft aufgenommen, ausagiert und erst dann widerlegt.“124

Dass die damit verbundene Rolle Gottes als Ankläger und Richter jedoch nicht als Hinweis gewertet werden darf, dass Rechtsstreitmetaphorik primär verdammende Funktion hat, wurde bereits deutlich. Vielmehr zeigt sich die Zustimmung zur Anklage als wesentliche Voraussetzung, die aber kein Selbstzweck ist, sondern erst den Weg zum Heil eröffnet. Dass damit der endgültige Ausgang einer Rechtsstreitszene häufig bewusst offengelassen wird, erscheint vor diesem Hintergrund als starker Hinweis darauf, dass der Adressat der Botschaft selbst vor die Wahl zwischen Gericht und Rettung gestellt wird.

pronounce sentence. Our analysis of the texts has shown this to be a consequence of Isaiah’s rhetorical purpose: he wishes not merely to proclaim Yahweh’s punishment, but to move the people to understand their catastrophic situation so that they, or at least a remnant of them, will repent.“ 124 SCHART (2014), 12.

Kapitel III:

Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

1. Die narrative Prozessdarstellung in Joh 18–19 Eine Untersuchung der Prozess- und Rechtsstreitmotivik im Johannesevangelium muss bei Joh 18–19 als dem einzigen Prozess in der erzählten Welt des Evangeliums beginnen. Die doppelte johanneische Erzählebene, Rollenambivalenzen, Rollenumkehrungen sowie weitere Charakteristika der Darstellung sind zunächst in Joh 18–19 zu erheben, bevor eine Ausweitung auf Joh 1–12 als eigentlichem Schwerpunkt der Untersuchung erfolgen kann. Auf Basis des im letzten Kapitel eruierten literarischen Prozess-Settings und der untersuchten alttestamentlichen Prozessmotivik ist damit vor der detaillierten narratologischen Untersuchung von Joh 1–12 die Prozessdarstellung in Joh 18–19 in den Blick zu nehmen und auf die narrative Akzentsetzung hin auszuwerten. Die Funktion und Dynamik der Erzählung wird im Folgenden für die Verhaftung, den jüdischen Teil des Verhörs und die Befragung vor Pilatus thematisiert. Innerhalb der johanneischen Passionsgeschichte nimmt die Darstellung von Verhör- und Prozessszenen den größten Raum ein.1 Diese Akzentuierung weist auf die besondere Bedeutung hin, die der Darstellung des Prozesses im vierten Evangelium zukommt.2 Die Darstellung des Prozesses in Joh 18–19 ist in den Vorgang einer Strafverfolgung eingebettet, die mit Festnahme, Anklagen, Befragung, Rechtsfindung und Schuldspruch typische forensische Elemente eines Gerichtsprozesses aufweist:3 1. 2. 3. 4. 5.

Festnahme durch Behörden (Joh 18, 1–11) Anklagen (Joh 18,29–30) Befragung (Joh 18,19–24; 18,33–19,11) Schuldspruch (Joh 19,12–16) Urteil (Joh 19,17–25) 1

Von 1376 Wörtern in NA28 in der Passionsgeschichte von Joh 18,1–19,30 entfallen auf das Verhör vor Hannas (Joh 18,12–14.19–23) 138 Wörter und auf den Prozess vor Pilatus (Joh 18,28–19,16) 593 Wörter. Mit zusammen 53,1 % bilden diese Szenen den größten Teil der Darstellung. Ähnlich, aber in Bezug auf den Prozess vor Pilatus sachlich nicht ganz richtig, bemerkt SÖDING (1996), 36: „Der Prozeß vor Pilatus nimmt den größten Teil der johanneischen Passionsgeschichte ein.“ 2 Zu Recht folgert daher SÖDING (1996), 37: in Bezug auf den impliziten Autor, dass „ihm das Motiv des Prozesses besonders wichtig“ ist. 3 Eine Darstellung mit diesen Elementen ist nach NEYREY (1987), 510 „structured as a typical forensic process“ und entspricht der in Kapitel II,1.2.4 dargestellten Grundstruktur eines Gerichtsprozesses.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

Der Prozess hat in der erzählten Welt die Form eines Kognitionsprozesses, bei dem die jüdischen Behörden mit römischen Behörden in der Strafverfolgung zusammenarbeiten.4 Er gliedert sich in zwei Teile, bei denen zunächst ‚die Juden‘5 (Joh 18,13–24) und anschließend Pilatus (Joh 18,28–19,16) die Vernehmung führen. Dieses zweistufige Verfahren wird nach Joh 18,31 damit erklärt, dass die Juden unter dem römischen Statthalter kein Todesurteil vollstrecken dürfen. 6 Dass dies in Joh 18,31 nur implizit und auch erst gegen Ende des Evangeliums überhaupt erwähnt wird, ist ein Hinweis darauf, dass der Erzähler Kenntnisse über diese Verfahrensweise bei den Lesenden voraussetzt.7 Es wird damit in der erzählten Welt die in den römischen Provinzen unter einem römischen Statthalter gängige Prozessform der cognitio extra ordinem vorausgesetzt, bei der die lokalen jüdischen Behörden nicht nur bei der Verhaftung, 4

Siehe zu dieser Prozessform Kapitel II,1.2.4. Die Bedeutung der Bezeichnung οἱ Ἰουδαῖοι im Johannesevangelium ist viel diskutiert worden, insbesondere vor dem Hintergrund des Anti-Judaismus; siehe dazu ausführlich den Aufsatzband BIERINGER/POLLEFEYT/VANDESASTEELE-VANNEUVILLE (2001). Nach BEUTLER (2001), 230 herrscht ein großer Konsens darüber, dass die Juden an einer Vielzahl von Stellen die jüdischen Autoritäten in Jerusalem bezeichnen. Dies umfasst nach Beutler auch die Passagen von Joh 1,19; 2,18.20; 5,10.15f.18; 7,1.11.13.15.35; 8,22.31.48.52.57; 9,18.22; 10,24.31.33; 18,12.14.31.36.38, die in dieser Untersuchung im Mittelpunkt stehen. Im vorliegenden Kontext werden die Ἰουδαῖοι wie jede andere Personen(gruppe) als narrative Charaktere der Erzählung untersucht (vgl. dazu auch DE JONGE [2001], 258; CULPEPPER [1987], 125). Die Begrifflichkeit der Ἰουδαῖοι wird damit nicht vom historischen Kontext dissoziiert (dies birgt selbst die Gefahr des Anti-Judaismus; vgl. ZIMMERMANN [2013b], 74), sondern in der Analyse vielmehr deskriptiv anhand der deutschen Übersetzung der Bezeichnung direkt aus der Erzählung aufgenommen – wie dies auch bei den übrigen Charakteren geschieht (vgl. zu einem ähnlichen Ansatz auch ZIMMERMANN [2013b], 81–96). Die Übersetzung von οἱ Ἰουδαῖοι wird damit im Folgenden in Anschluss an die jüdische Forscherin Adele Reinhartz, die entschieden dafür plädiert, den Begriff ohne besondere Kennzeichnung zu verwenden (REINHARTZ [2001], 341; vgl. dazu auch ZIMMERMANN [2013b], 74), ohne Anführungszeichen geschrieben. 6 Vgl. ZUMSTEIN (2016), 719: „Das hier dargestellte Verfahren setzt voraus, dass das Synedrium keine Vollmacht hatte, Todesurteile zu verhängen.“ Dies ist zugleich die einhellige Meinung der Forscher, so etwa schon SHERWIN-WHITE (1963), 36f. und in jüngerer Zeit BROWN (1994), 373; WENGST (2001), 221f.; KEENER (2010b), 1104–1109; THYEN (2005), 718; KOLLMANN (2014), 92; SCHNELLE (2016), 351; ZUMSTEIN (2016), 719; KLINK (2016b), 762. THOMPSON (2015), 378f. erwägt dabei noch, ob die Juden aus anderen Gründen eine Bestätigung durch den Statthalter wollten oder der juristische Fall nicht eindeutig in ihrem Kompetenzbereich lag. Siehe zu den historischen Gegebenheiten die Diskussion in Kapitel II,1.3.2, insbesondere Anm. 111. 7 Andernfalls müsste man den Hinweis ἡμῖν οὐκ ἔξεστιν ἀποκτεῖναι οὐδένα (Joh 18,31) für eine implizite komplettierende Analepsis halten (siehe zum Begriff der „completing analepsis“ CULPEPPER [1987], 59), die nachträglich erklärt, weshalb die Juden die Anklage überhaupt vor den Statthalter bringen müssen. Das ist jedoch unwahrscheinlich. Vielmehr scheinen dieselben juristischen Verhältnisse bereits in Joh 11,48–50 beim Lesenden vorausgesetzt zu werden (vgl. THYEN [2005], 544). 5

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sondern auch in der cognitio in Form einer Befragung und Beweisaufnahme selbst mitwirken.8 Die beiden Verfahrensabschnitte bilden zusammen den Prozess, sind in der Darstellung jedoch örtlich, zeitlich, szenisch sowie in ihrer logischen Abfolge getrennt. Es ist daher nur folgerichtig, dass häufig zwischen einem ‚jüdischen‘ und einem ‚römischen‘ Verhör unterschieden wird.9 Beide Phasen werden im Folgenden narratologisch untersucht.

1.1. Verhaftung und informelle Befragung (Joh 18,1–23) Die Verhaftungsszene (Joh 18,1–14) wird in Joh 18,1–3 durch eine narrative Exposition eröffnet, in der mit Jesus, den Hohenpriestern und Pharisäern sowie römischen Behörden bereits die Hauptakteure der Prozessdarstellung genannt sind (V. 3).10 Ferner wird mit einem Garten der Ort der Verhaftung genannt (V. 2) und mit Judas (V. 3) der Verräter auffällig beiläufig eingeführt.11 Als Subjekt der Handlung erscheint dabei jedoch nicht nur zu Beginn der Exposition (18,1), sondern auch zu Beginn des szenischen Hauptteils der Erzählung Jesus selbst, indem die Handlung mit einem Erzählerkommentar eröffnet und das souveräne Vorherwissen Jesu betont wird (Joh 18,4). Damit wird schon zu Beginn der forensischen Abläufe dem Lesenden der Eindruck verwehrt, dass Jesus als Verhafteter und Angeklagter nun zum Objekt der Handlung wird.12 Jesus ist nicht passives Objekt, sondern vollmächtiger Akteur, der in vollem Wissen um den bevorstehenden Prozess in allen seinen Abläufen13 selbst die Initiative zu seiner Verhaftung ergreift (ἐξῆλθεν καὶ λέγει αὐτοῖς, 18,4) und diese in der folgenden Erzählung als Träger der göttlichen Selbstbezeichnung 8

Siehe Kapitel II,1.2.4 zur Prozessform und Kapitel II,1.3.2 zur Situation in Judäa. So etwa bei KLINK (2016b), 760; BROWN 1970, 844. 10 Die Anwesenheit römischer Behörden wird über den Begriff σπεῖρα angezeigt, der eine römische Kohorte oder ein römisches Manipel bezeichnet (STIBBE [1992], 170f.; BROWN [1994], 248). Die jüdischen Behörden werden als ἐκ τῶν ἀρχιερέων καὶ ἐκ τῶν Φαρισαίων ὑπηρέται bezeichnet und setzen damit die Hohenpriester und Pharisäer als eigentliche Akteure voraus. Indem diese unter Verwendung römischer Soldaten die Verhaftung Jesu vornehmen, ist die forensische Rollenverteilung bereits zu Beginn der Prozessdarstellung klar. 11 Mit der Benennung als Ἰούδας ὁ παραδιδοὺς αὐτόν (18,2) wird die Auslieferung nur en passant genannt und nicht direkt erwähnt. Dadurch entsteht eine narrative Fehlstelle, die beim Lesenden das Motiv des Verrats schon vor der ersten Erwähnung in Joh 12,4 (Ἰούδας … ὁ μέλλων αὐτὸν παραδιδόναι, vgl. auch Joh 13,2.11.21; 18,2.5) als bekannt voraussetzt. Es ist damit zu erwarten, dass das Motiv des Verrats an Jesus weder in Joh 12,4 noch in 18,2 unvermittelt eingeführt wird, sondern bereits in der Erzählung von Joh 1–12 eine Rolle spielt. Tatsächlich wird es vom Erzähler bereits in Joh 5,15 aufgenommen (siehe dazu Kapitel IV,3.1) und bereitet so die späteren Erwähnungen vor. 12 Vgl. GNIESMER (2000), 207f. 13 Das jedenfalls muss in der Wendung τὰ ἐρχόμενα ἐπ᾽ αὐτόν eingeschlossen sein, die der Erzähler in 18,4 (Ἰησοῦς οὖν εἰδὼς πάντα τὰ ἐρχόμενα ἐπ᾽ αὐτόν) gebraucht. 9

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ἐγώ εἰμι14 nicht nur zulässt, sondern überhaupt erst ermöglicht.15 Auch der Verrat des Judas wird im szenischen Hauptteil nur noch beiläufig erwähnt (18,5), aber nie direkt erzählt. 16 Während Jesus damit in Joh 18,4–9 durchweg der Agierende ist (Ἰησοῦς οὖν εἰδώς … ἐξῆλθεν καὶ λέγει … λέγει αὐτοῖςꞏ ἐγώ εἰμι … ὡς οὖν εἶπεν αὐτοῖςꞏ ἐγώ εἰμι … πάλιν οὖν ἐπηρώτησεν αὐτούς), bleibt der zur Festnahme ausgezogenen Menge nur die Rolle der Reagierenden (ἀπεκρίθησαν … ἀπῆλθον εἰς τὰ ὀπίσω καὶ ἔπεσαν χαμαί), die alles an sich geschehen lassen müssen. Das typische Rollenbild einer Verhaftung kehrt sich damit in sein Gegenteil um. Die Verhaftung steht jeder menschlichen Erwartung entgegen17 und erweist sich nach der Äußerung Jesu in Joh 18,11 als der Plan des Vaters.18 Bereits zu Beginn der Prozessdarstellung ist die Erzählung durch die doppelte Ebene der Darstellung charakterisiert, die eine menschliche und eine göttliche Perspektive auf die Ereignisse aufzeigt.

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Die Formulierung ist hier bewusster Anklang an die göttliche Selbstbezeichnung aus Jes 43,10.13.25; 44,6.24; 45,5.18; vgl. dazu THOMPSON (2015), 364 und die ausführliche Untersuchung zur Stelle von WILLIAMS (2000), 287–299. 15 Erinnert das Zu-Boden-Fallen des Festnahmekommandos nach MOUNCE (2007), 611; KÖSTENBERGER (2007), 499; THOMPSON (2001), 164 an die Reaktion von Menschen angesichts der Offenbarung göttlicher Macht und Herrlichkeit wie in Ez 1,28; Dan 10,9 (vgl. für weitere Stellen MANNING [2013], 392), so entspricht die erneute Zuwendung Jesu der im atl. Kontext jeweils folgenden Aufrichtung auf die Füße (Ez 2,1; Dan 10,10), durch die Menschen überhaupt in der Gegenwart Gottes bestehen können. Die nochmalige Zuwendung Jesu zu den am Boden Liegenden ist damit paradoxerweise gnädige Zuwendung, die die Verhaftung erst ermöglicht. Die Aufforderung εἰ οὖν ἐμὲ ζητεῖτε, ἄφετε τούτους ὑπάγειν (Joh 18,8) muss vor diesem Hintergrund geradezu als Aufforderung zur Verhaftung verstanden werden, ohne die eine solche gar nicht möglich gewesen wäre; vgl. auch WILLIAMS (2000), 298. Dementsprechend weist ZUMSTEIN (2016), 663 darauf hin, dass der „sonst übliche Titel (‚Die Verhaftung Jesu‘) […] der joh Version der Begebenheit nicht gerecht [wird]. Der joh Jesus stellt in den V.1–11 seine Souveränität derartig unter Beweis, dass er nicht festgenommen werden kann.“ Zumstein spricht stattdessen zu Recht von einem „Sich-Ausliefern Jesu“. Siehe zur Betonung der Initiative Jesu ebenso HUNT (2013), 563f. 16 Dieser Befund ist geradezu auffällig in Joh 18,5: εἱστήκει δὲ καὶ Ἰούδας ὁ παραδιδοὺς αὐτὸν μετ᾽ αὐτῶν. In merkwürdigem Kontrast zu der Notiz, dass Judas ihn auslieferte, steht die von Judas tatsächlich genannte Tätigkeit (εἱστήκει), die statt einer aktiven Handlung Passivität ausdrückt (so auch THOMPSON [2015], 360.363: „Even Judas fades into the background, standing alongside the soldiers, but doing and saying nothing.“). Die tatsächliche Ausführung des Verrats wird der Person des Judas vom Erzähler nicht zugestanden, auch wenn sie klar impliziert ist. Anstatt einer Identifizierung durch Judas identifiziert sich Jesus selbst als ἐγώ εἰμι (THOMPSON [2015], 363). 17 Dies zeigt das Verhalten des Petrus in dem Versuch, Jesus mit dem Schwert zu verteidigen (Joh 18,9–11). 18 Das impliziert die rhetorische Frage Jesu (τὸ ποτήριον ὃ δέδωκέν μοι ὁ πατὴρ οὐ μὴ πίω αὐτό) in Joh 18,11.

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Eine ähnliche Dynamik zeichnet sich auch im Verhör vor Hannas (Joh 18,19–23) ab. Dass es sich dabei um eine Vernehmung handelt, wird durch den Terminus ἐρωτάω (V. 19) suggeriert. Diese wird jedoch vom Erzähler von vornherein in ihrem forensischen Wert dadurch beschränkt, dass es sich nur um eine vorläufige Verhandlung im Privathaus des Hannas handelt.19 In der erzählten Welt erscheint die Antwort Jesu (18,20–21) den beteiligten Akteuren als Verteidigung, die das notwendige Maß an Respekt vor dem Hohenpriester vermissen lässt und daher mit einem Schlag bestraft wird (18,22). Dem impliziten Leser jedoch liefert sie eine offenbarende Bloßstellung des Hannas und seiner Diener, die nicht nur die Vernehmung als Farce erweist, sondern zugleich selbst in ihrer Rechtmäßigkeit vor das Tribunal des Leserurteils gezogen wird. So offenbart die Antwort Jesu in V. 20–21 bereits in stilistischer Hinsicht eine überlegene Position durch ihre gehobene Formulierung.20 Inhaltlich ist sie nicht nur eine Zurückweisung der Frage des Hannas, sondern stellt das Fehlen jeglichen Beweismaterials zur Schau und erweist damit die Anklage als gegenstandslos. Dies wird narrativ auch dadurch ausgedrückt, dass der Erzähler zwar angibt, dass Jesus über seine Jünger und über seine Lehre befragt wird (V. 19), tatsächlich aber keine einzige konkrete Frage des Hannas nennt, 21 sondern dem stattdessen zwei Fragen aus dem Mund Jesu entgegenstellt (V. 21.23). Diese ironische Umkehrung wird dadurch verstärkt, dass die erste Frage Jesu die Frage des Hannas hinterfragt (τί με ἐρωτᾷς in V. 21).22 In Form einer Mimesis wird auf diese Weise nicht nur angedeutet, dass das Verhör inhaltlich leer bleibt, sondern sich zugleich ein Rollentausch vollzieht. Ganz auf dieser Linie wendet sich die Situation vor den Augen des Lesenden von einer erfolgreichen Verteidigung Jesu zu einer Bloßstellung der Richter, indem Jesus vor der Verurteilung geschlagen wird. Die Darstellung gewinnt dadurch eine höchst ironische Note, dass der Anklage nicht nur Zeugen, die bei Gerichtsverhandlungen als Hauptbeweismittel gelten, gänzlich fehlen, sondern 19 Im Kontext erweist sich die Vernehmung nicht als Gerichtssitzung des Synedriums, sondern als Erstvernehmung im direkten Anschluss an die Verhaftung (vgl. BROWN [1970], 832; SÖDING [1996], 37); vgl. dazu auch unten Anm. 30. 20 Der erste Teil der Antwort in Joh 18,20 weist eine Gleichmäßigkeit in den Satzteilen auf, die BROWN (1970), 825 sogar veranlasst, sie in der Übersetzung in poetisches Versmaß zu setzen. Sie lässt ferner einen doppelten Parallelismus erkennen: A ἐγὼ παρρησίᾳ λελάληκα τῷ κόσμῳ, A' ἐγὼ πάντοτε ἐδίδαξα ἐν συναγωγῇ καὶ ἐν τῷ ἱερῷ, B ὅπου πάντες οἱ Ἰουδαῖοι συνέρχονται, B' καὶ ἐν κρυπτῷ ἐλάλησα οὐδέν. 21 Nach BROWN (1970), 835 sind die Fragen des Hannas in Joh 18,19 (ὁ οὖν ἀρχιερεὺς ἠρώτησεν τὸν Ἰησοῦν περὶ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ καὶ περὶ τῆς διδαχῆς αὐτοῦ) nur allgemeiner Natur. Die Befragung lässt damit ein konkretes forensisches Vorgehen vermissen. 22 Diese Akzentsetzung bekommt dann noch stärkeres Gewicht, wenn man die Rolle der Frage als Unschuldserklärung und Stilmittel der Gerichtsrede im atl. Rechtsstreit bedenkt; vgl. dazu Kapitel II,2.2.2, Anm. 58 sowie die Ausführungen in Kapitel II,2.3.4.

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die Ankläger nicht einmal der Aufforderung Jesu, selbst Zeugnis gegen die vor ihren Ohren geäußerten Worte zu geben (μαρτύρησον περὶ τοῦ κακοῦ, V. 23), nachkommen können. Damit erweist sich jedoch das Schlagen im Verhör nicht als Reaktion auf ein Vergehen, sondern als unbegründet und wird als Misshandlung ohne Beweise damit selbst zum Vergehen.23 Der Erzähler macht auf diese Weise den Ankläger zum Angeklagten und lässt die Vernehmung damit enden, dass Jesus ein weiteres Mal die Befrager befragt (εἰ δὲ καλῶς, τί με δέρεις in V. 23).24 Vor dieser Frage bleiben die Ankläger stumm zurück und werden dadurch von gescheiterten zu überführten Angeklagten.25 Die Darstellung nimmt dabei zugleich den in antiken Prozessordnungen und insbesondere in der jüdischen Prozessordnung bezeugten Topos auf, dass unzureichendes oder falsches Zeugnis vor Gericht selbst zum Anklagegrund wird.26 Die Ironie der johanneischen Darstellung liegt zusätzlich darin, dass Jesus darin erfolgreich ist, worin seine Ankläger scheitern: in der erfolgreichen Überführung einer Anklage. Damit ist eine völlige Umkehrung der auf der vordergründigen Handlungsebene der erzählten Welt zugewiesenen forensischen Rollen vorgenommen. Während die Charaktere der erzählten Welt sich als Ankläger wähnen und Jesus als Angeklagten sehen, wird dem Lesenden eine dazu konträre Rollenverteilung präsentiert, in der Jesus nicht nur schuldlos ist, den Anklägern die Beweise fehlen und sich Jesus erfolgreich verteidigt, sondern in der der Befragte befragt, der Angeklagte anklagt, das Urteil über die Urteilenden gesprochen wird und Jesus zum Richter seiner Richter wird. Diese Rollenumkehrung steht in engem Zusammenhang mit der Perspektive des Lesenden. Im Gegensatz zu den Charakteren der erzählten Welt nimmt der Lesende die doppelte Ebene der Darstellung wahr und fällt damit unwillkürlich selbst ein Urteil über die Ankläger Jesu, indem er sich die Perspektive Jesu aneignet. Damit bekommt aber die Frage τί με δέρεις (Joh 18,23) zugleich eine Bedeutung für die Lesenden und bindet den Lesenden, der aus der Distanz über die Charaktere der erzählten Welt geurteilt hat, nun auch persönlich in die Beurteilung ein – die seiner eigenen Position. Auch in der Leserperspektive findet damit eine Rollenumkehrung von der urteilenden Position in die Position statt, über die geurteilt wird. Anhand der eigenen Position zu Jesus beantwortet sich 23

Siehe zur Unrechtmäßigkeit einer solchen Misshandlung im Verhör BLOMBERG (2001), 235; MORRIS (1995), 669. 24 Dies geschieht bereits rein sprachlich dadurch, dass der Erzähler die Befragung durch Hannas überhaupt nicht in wörtlicher Rede wiedergibt. Es ist einzig Jesus, der Fragen stellt (18,21.23). 25 Damit wird alttestamentliche Rechtsstreitmotivik (vgl. dazu Kapitel II,2.3.4) aufgenommen, nach der das Schweigen vor Gericht als Schuldeingeständnis gilt (vgl. dazu auch BOVATI [1994], 342). In narrativen Darstellungen drückt die fehlende Erwähnung einer Antwort aus, dass der Betreffende keine Antwort geben kann. Die von Jesus Befragten bleiben damit stumm und verurteilt zurück. 26 Siehe dazu Kapitel II,1.4.3.

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für den Lesenden selbst die Frage, ob er Jesus feindlich gegenübersteht und sich damit selbst verurteilt oder sich dem Urteil Jesu anschließt.27

1.2. Das absichtsvolle Fehlen eines jüdischen Prozesses (Joh 18,19–24) Die narrative Darstellung des jüdischen Prozesses Jesu weist im Johannesevangelium zwei weitere Besonderheiten auf, die für die Betrachtung der Prozessmotivik des Evangeliums wesentlich sind. Zum einen ist die Darstellung des jüdischen Verhörs Jesu deutlich antiklimaktisch dargestellt und kreiert damit eine bewusste Fehlstelle, zum anderen liegen zahlreiche intratextuelle Bezüge zu Joh 1–12 vor. Beide Eigenarten stehen in engem Zusammenhang zueinander und zur Darstellung der Rechtsstreitmotivik im Evangelium. 1.2.1. Antiklimaktischer Erzählfokus Die ganze Episode in Joh 18,12–27 ist durch ihre auffällig verschränkte und alternierende Erzählstruktur gekennzeichnet, in der sich Szenen mit Jesus und Szenen mit Petrus jeweils abwechseln: Jesus (V. 12–14) – Petrus (V. 15–18) – Jesus (V. 19–24) – Petrus (V. 25–27)

Durch den Wechsel des Erzählfokus werden die Erzählstränge um Jesus und um Petrus parallelisiert. Dies mündet in die parallele Darstellung zweier Befragungen: Während Petrus von den Knechten über seine Zugehörigkeit zu Jesus befragt wird und leugnet, wird Jesus vom Hohenpriester Hannas28 befragt, ohne dass dabei ein Anklagegrund ersichtlich wird.

27 Die Darstellung ist dadurch im besten Sinne pädagogisch, dass der Lesende sich bereits innerlich dem Urteil Jesu angeschlossen hat. Pilatus fungiert damit als repräsentativer Charakter eines Nichtjuden, der in innerjüdische Angelegenheiten involviert wird. Er steht damit repräsentativ für jeden Lesenden, der sich ein Urteil über Jesus bildet. Der Lesende wird selbst auf den Richterstuhl versetzt und muss sich ein Urteil bilden, bei dem es keine Neutralität gibt. Der jüdische Rechtsstreit wird somit letztlich vor der ‚Welt‘, die auch die Lesenden umfasst, ausgetragen und dort entschieden. Das (und nicht das innerjüdische Urteil des Hohen Rates) ist letztlich der für die Lesenden entscheidende Aspekt und könnte den besonderen Stellenwert des Prozesses vor Pilatus anstelle eines jüdischen Prozesses erklären. Vgl. zu den Perspektiven des Lesenden auch GNIESMER (2000), 425; LINCOLN (2000), 174. 28 Hannas wird in Joh 18,13 als Schwiegervater des Hohenpriesters Kaiphas bezeichnet, in Joh 18,19 dagegen selbst als Hoherpriester. Im Folgenden wird die Bezeichnung als Hoherpriester aus Joh 18,19 übernommen, um die Korrespondenz in der Befragung durch den Hohenpriester Hannas und die Diener des Hohenpriesters herauszustellen (siehe Textgliederung unten). Die Bezeichnung von Hannas als Hoherpriester setzt in der erzählten Welt vermutlich die in Flav.Jos.Bell. IV 151.160 belegte lebenslange Weiterverwendung des Titels

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Durch diese Erzählstruktur liegt eine einzigartige Situation vor, in der der Erzählfokus nicht allein auf der Befragung Jesu liegt, sondern durch den Doppelfokus zu einer parallelen Befragung wird.29 Nach dem im Evangelium so auffälligen Fokus auf der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden wirkt diese Erzählstruktur geradezu antiklimaktisch. Die Erzählung verweigert dem bis dahin in Joh 1–12 angebahnten Konflikt zwischen Jesus und den Juden geradezu das narrative Finale. Diese absichtsvoll kreierte narrative Fehlstelle wird durch die gesamte Darstellung noch verstärkt: So weist die unvermittelte Einführung der bis dahin völlig unbekannten Figur des Hannas (diese wird nur in Joh 18,13.24 genannt) zusammen mit der zeitlichen Bestimmung πρῶτον in Joh 18,13 darauf hin, dass das Verhör vor Hannas nur eine vorläufige Vernehmung vor dem Schwiegervater des Hohenpriesters sein kann,30 der ein weiteres, nämlich das eigentliche Verhör vor dem Hohenpriester selbst, folgen wird.31 Obwohl damit die Erzählung dramaturgisch auf das Verhör vor Kaiphas als eigentliches Finale hinführt, wird ein solches im Anschluss nicht erzählt.32 Die kursorische Notiz einer Überstellung Jesu an Kaiphas in Joh 18,24 bleibt dabei so vage, dass von einer bewusst kreierten Leerstelle des Erzählers ausgegangen werden muss. 33 Indem der Erzählfokus in Joh 18,28 wieder von für ehemalige Hohepriester voraus (vgl. BLOMBERG [2001], 232; BARRETT [1978], 524; BROWN [1994], 404–408). 29 Ähnlich auch STIBBE (1992), 97, der beide Befragungen sogar als „trials“ bezeichnet: „Two trials consequently appear to be taking place: an informal trial of Jesus inside the house, and an informal trial of Peter outside the house.“ Stibbe betont damit zugleich (und zu Recht) den informellen Charakter beider ‚Verhöre‘. Vgl. auch BLOMBERG (2001), 233. 30 BROWN (1970), 832 bezeichnet das Verhör vor Hannas als „preparatory investigation“ und vergleicht es mit einer Befragung direkt im Anschluss an eine Festnahme in einem Polizeiquartier (ebd.). Auch STIBBE (1992), 173 bemerkt: „[T]he interrogation before Annas is not a formal trial […], but an informal interrogation of Jesus before he is sent to Caiaphas for a trial in the early hours of the morning (18.24, 18.28).“ 31 Nach SCHNELLE (2016), 345 bezieht sich das zu πρῶτον „zu ergänzende δεύτερον = ‚danach‘ […] auf den von Johannes eingeführten amtierenden Hohepriester Kaiphas“ in Joh 18,24. Vgl. BULTMANN (1986), 496: „Was vor Kaiphas geschah, wird aber nicht berichtet; daß vor ihm gleichfalls ein Verhör stattfand, wird man annehmen müssen.“ 32 Vgl. KÖSTENBERGER (2005), 47: „He does not cover Jesus’ formal Sanhedrin trial before Caiaphas (skipping over it in 18:24 and 28) which is recounted in some detail in the Synoptics.“ Ebenso THYEN (2005), 167, der davon spricht, dass der Erzähler die „Szene von Verhör und Verurteilung Jesu durch das Synhedrion an ihrer Stelle eliminiert [hat]“. Das Fehlen eines Prozesses vor dem Synedrium ist so offensichtlich, dass es in der Forschung häufig bemerkt wurde; vgl. etwa das Urteil von THYEN (2005), 496: „Daß innerhalb der eigentlichen ‚Passionserzählung‘ unseres Evangeliums die synoptische Erzählung vom Prozeß Jesu vor dem Synhedrium und von seiner Verurteilung durch den Hohenpriester fehlt, ist oft beobachtet worden.“ 33 BROWN (1970), 833 spricht hier von „John’s omission of the Sanhedrin session“. Die Ansicht von BULTMANN (1986), 496f., dass das in Joh 18,19–23 genannte Verhör vor Hannas als reguläre Sitzung des Synedriums zu gelten habe, ist dagegen unwahrscheinlich. Eine

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Petrus zu Jesus zurückkehrt, wird der Lesende mit der Tatsache konfrontiert, dass überhaupt kein offizielles jüdisches Verhör erzählt wird,34 obwohl dies nach Joh 11,47–53 zu erwarten gewesen wäre. Die fehlende inhaltliche Konkretisierung der Befragung vor Kaiphas hebt sich auch in der narrativen Struktur deutlich von der detaillierten Erzählung der Parallelszene (Joh 18,25–27) ab: A1 Jesus kommt zum Haus des Hohenpriesters (18,12–14) A2 Petrus kommt zum Haus des Hohenpriesters (18,14–16) B1 Petrus wird von der Türhüterin befragt (18,17–18) B2 Jesus wird von Hannas befragt (18,19–23) A'1 Jesus wird vom Hohenpriester befragt (18,24) A'2 Petrus wird von den Knechten des Hohenpreister befragt (18,25–27)

Vor dem Hintergrund der narrativen Zur-Schau-Stellung der Befragung in Joh 18,19–23 ist der direkte Anschluss der Übersendung Jesu zu Kaiphas in Joh 18,24 nicht nur eine neutrale Leerstelle, sondern muss geradezu als eingestandenes Scheitern der Befragung vor Hannas gewertet werden. Der Verhörszene vor Hannas haftet damit der Eindruck eines gescheiterten Prozesses an, der im ersten kurzen Wortwechsel zwischen den Juden und Pilatus (Joh 18,28–32) bestätigt wird. Weder können die Juden eine hinreichende Anklage zur Strafverfolgung nach römischem Recht nennen,35 noch wollen sie andere Erklärung besteht darin, den Aorist ἀπέστειλεν in Joh 18,24 vorzeitig zu übersetzen (etwa ‚Hannas nun hatte ihn gebunden zu Kaiphas gesandt‘) und das Verhör vor Kaiphas mit dem bereits in Joh 18,19–23 genannten Verhör zu identifizieren. Eine vorzeitige Übersetzung des Aorists ist angesichts der Kombination mit οὖν jedoch unwahrscheinlich (BROWN [1994], 407; MICHAELS [2010], 902f.). Es handelt sich damit in Joh 18,24 um eine absichtsvoll kreierte Leerstelle, die einer Erklärung bedarf. THYEN (2005), 496 vermutet in Bezug auf die fehlende Verhörszene vor dem Synedrium: „Der lange und dramatische Prozeß vor Pilatus […] scheint sie verdrängt zu haben.“ Dass dieses Urteil zwar die dominante Funktion des Pilatusprozesses im näheren Kontext erklärt, sieht Thyen durchaus richtig; das ist jedoch nicht der eigentliche Grund der Fehlstelle. Diese scheint vielmehr mit der vorangegangenen (Joh 1–12), nicht der nachfolgenden (Joh 19) Darstellung zu tun zu haben, wie die zahlreichen intratextuellen Verweise zeigen (siehe dazu unten Abschnitt 1.2.2). 34 Vgl. PANCARO (1975), 71: „There is no ‚official‘ trial of Jesus by the Jews.“ 35 Die Juden antworten Pilatus auf die Frage nach Anklage ausweichend: εἰ μὴ ἦν οὗτος κακὸν ποιῶν, οὐκ ἄν σοι παρεδώκαμεν αὐτόν (18,30). Die Bezeichnung Jesu als κακὸν ποιῶν (18,30) ist ein Allgemeinplatz (SCHLIER [1966b], 67 nennt sie „nichtssagend“ und eine „unbewiesene Behauptung“) und für Pilatus so wenig belastbar, dass er die Juden dazu auffordert, Jesus nach ihrem Gesetz zu richten (18,31). Damit zeigt sich Pilatus weder uninformiert über die genauen Rechtsverhältnisse (vgl. BROWN (1970), 848, noch ist die Entgegnung als Erniedrigung gemeint (so etwa SCHNACKENBURG [1992b], 280; THYEN (2005), 719) oder setzt voraus, dass die Juden selbst das Recht zur Kapitalgerichtsbarkeit hatten (so BARRETT [1978], 535). Die Entgegnung des Pilatus setzt schlicht voraus, dass für geringe Vergehen wie eines κακὸν ποιῶν keine römische Kapitalgerichtsbarkeit notwendig ist, sondern als unbedeutende Angelegenheit von lokalen jüdischen Behörden nach eigenem Recht verhandelt werden kann (so richtig CARSON [1992], 591; BLINZLER [1969], 277). Erst durch

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sich mit weniger als einem Todesurteil aufgrund des jüdischen Gesetzes begnügen.36 Die Schilderung der Befragung in Joh 18,19–23 weist jedoch nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich auf eine bewusst kreierte Leerstelle hin. So muss auch die Art und Weise der dialogischen Darstellung geradezu als Verweigerung des Erzählers angesehen werden, Details zum juristischen Inhalt der Befragung zu geben. Die Inhalte des Verhörs werden dabei bewusst nicht genannt, sondern durch Form- und Verfahrensfragen ersetzt (Joh 18,21–23). Die vorherige Antwort Jesu auf die Frage des Hannas in 18,20–21 ist nicht nur eine Verweigerung Jesu, auf inhaltliche Fragen seiner Lehre einzugehen, sondern verweist auch auf die ausführlichen Diskurse mit den Juden im Tempel. Dieser Verweis fungiert auch sekundär für die Lesenden als Deixis auf die ausführlich dargestellten Diskurse in Joh 1–12 zwischen Jesus und den in Joh 18,20 explizit genannten Ἰουδαῖοι.37 Diese Verweigerung einer inhaltlichen Füllung des Verhörs bewirkt, dass der in Joh 18,28–19,16 mit 39 Versen äußerst ausführlich dargestellte Prozess vor Pilatus nun als das Finale erscheint, das in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden zu erwarten gewesen wäre.38 Auch wenn durch die antiklimaktische Erzählstruktur in Joh 18,12–27 damit das Finale des Prozesses Jesu vor der Welt nicht entfällt, sondern nur hinausgezögert und auf die ausführliche Prozessdarstellung vor Pilatus verlagert wird, bleibt dennoch ungeklärt, auf welche Art und Weise die Juden zu einem Urteil über Jesus gekommen sind. Diese Eigenart der Darstellung verlangt nach einer Erklärung, bietet mit zahlreichen intratextuellen Verweisen auf Joh 10–12 jedoch zugleich einen Interpretationsschlüssel an. 1.2.2. Intratextuelle Verweise Die durch die absichtsvoll vermiedene Beschreibung eines offiziellen jüdischen Verhörs vor Kaiphas entstandene Lücke bleibt in der Erzählung nicht leer, sondern wird narrativ durch eine andere Eigenart der Schilderung gefüllt. Dies geschieht durch zahlreiche intratextuelle Verweise auf Joh 1–12. Dabei ist zunächst zu beachten, dass Joh 18–19 auf der Handlungsebene als direkter die Antwort der Juden (ἡμῖν οὐκ ἔξεστιν ἀποκτεῖναι οὐδένα in 18,31) erfährt Pilatus zu seiner Überraschung, dass die Juden ein Todesurteil im Blick haben. Damit drückt der Erzähler die deutliche Asymmetrie zwischen dem Vorwurf gegen Jesus und dem von den Juden geforderten Urteil aus (vgl. für eine ähnliche Deutung schon SCHLIER (1966b), 58f.). 36 Der Gesetzesgehorsam der Juden wird in der Bemerkung, dass sie zur Vermeidung von Verunreinigung nicht in das Prätorium hineingehen (Joh 18,28), zunächst ironisch quittiert, am Ende des Prozesses vom Erzähler aber durch den Ausruf der Juden οὐκ ἔχομεν βασιλέα εἰ μὴ Καίσαρα (Joh 19,15) völlig demontiert. 37 Vgl. auch THEOBALD (2009), 761. 38 So THYEN (2005), 167; vgl. auch KÖSTENBERGER (2005), 47.

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Anschluss an Joh 1–12 zu werten ist.39 So verweist bereits die Kombination von Hohenpriestern und Pharisäern als Akteuren in Joh 18,3 auf Joh 11,47 zurück.40 Der in Joh 11,47 gefasste Beschluss, Jesus zu töten, wird nun in die Tat umgesetzt.41 In dem Verhör vor Hannas wird das erste direkte Aufeinandertreffen von Jesus und den Juden42 nach dem Steinigungsversuch in Joh 10,31–39 beschrieben. Dass beide Begebenheiten einen deutlich forensischen Charakter haben,43 kreiert einen intratextuellen Bezug, durch den die Position des Hohenpriesters bereits durch das in Joh 11,47–53 vorweggenommene Urteil festliegt. Ist durch den engen Anschluss von Joh 18–19 an Joh 1–12 bereits eine intratextuelle Verbindung geschaffen, wird diese durch zahlreiche Verweise der Verhörszene vor Hannas auf vorherige Auseinandersetzungen Jesu mit den Juden weiter verstärkt.44 So verweist Jesus anstelle einer inhaltlichen Stellungnahme zu seiner διδαχή (18,19) auf seine früheren Lehren vor den Juden (ἐγὼ παρρησίᾳ λελάληκα τῷ κόσμῳ, ἐγὼ πάντοτε ἐδίδαξα ἐν συναγωγῇ καὶ ἐν τῷ ἱερῷ in Joh 18,20). Durch die Kombination unterschiedlicher Lexeme wird im Verweis auf die διδαχή Jesu (18,19) ἐν τῷ ἱερῷ (18,20) in παρρησίᾳ (18,20) vor dem κόσμος (18,20) ein mehrfacher intratextueller Verweis in Form einer direkten analeptischen Deixis auf die Auseinandersetzung in Joh 7,4–47 hergestellt, bei der Jesus seine διδαχή (7,16–17) ἐν τῷ ἱερῷ (7,28) in παρρησίᾳ (7,4.13.26) vor dem κόσμος (7,7) vorträgt. Durch die Ortsangabe ἐν τῷ ἱερῷ 39

Vgl. STIBBE (2008), 150. In Joh 18,3 werden als Akteure (hinter den bei der Festnahme Jesu beteiligten ὑπηρέται) die Hohenpriester (ἀρχιερεῖς) und Pharisäer (Φαρισαῖοι) genannt. Während die Hohenpriester zuletzt in Joh 11,57 und 12,10 bei dem Beschluss, Jesus zu töten, erscheinen, wird die Kombination von Hohenpriestern und Pharisäern zuletzt in Joh 11,47 genannt. 41 Siehe dazu auch LINCOLN (1994), 8. Der Ausdruck ἀπ᾽ ἐκείνης οὖν τῆς ἡμέρας ἐβουλεύσαντο ἵνα ἀποκτείνωσιν αὐτόν in Joh 11,53 ist der prinzipielle Beschluss, dem in 12,10 ein konkreter Plan folgt. SCHNELLE (2016), 345 sieht zwischen Joh 18,19–23 und Joh 11,47–53 sogar eine so enge Verbindung, dass er die Schilderung in Joh 11 für eine vorgezogene Erzählung der Verhandlung aus Joh 18,19–23 ansieht. Trotz der engen Beziehung ist dies unwahrscheinlich. Richtig dagegen beobachtet er zum Vorgehen des Erzählers: „Damit verdeutlicht er den Hörern/Lesern, dass in dieser Verhandlung der eigentliche Todesbeschluss gegen Jesus fiel“ (ebd.). Die inhaltliche Fehlstelle des Verhörs in Joh 18,19– 23 wird somit narrativ durch Joh 11,47–53 gefüllt. 42 Bei der Gruppe der Ankläger in Joh 18,12f. wird nur der Hohepriester und seine Diener explizit als Akteure genannt. Durch die Bezeichnung ὑπηρέται (V. 12) und die spätere Bezeichnung der Akteure durch die 3. Pers. Pl. (Joh 18,28–30), die in 18,31 als οἱ Ἰουδαῖοι expliziert wird, ist jedoch eine deutliche Kontinuität der handelnden Personen zu den Ἰουδαῖοι als Kontrahenten Jesu in der letzten direkten Begegnung in Joh 10,24–39 vorausgesetzt. 43 Sowohl in Joh 10,31–39 als auch in Joh 11,47–53 steht der Versuch der Juden im Mittelpunkt, Jesus wegen religiöser Vergehen in Form des Kapitalgerichts zur Rechenschaft zu ziehen. 44 Bereits die Einführung der Verhörszene weist in Joh 18,14 explizit auf die Weissagung des Kaiphas in Joh 11,50 zurück (vgl. REINHARTZ [2013], 534). 40

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wird ferner an die Diskurse in Joh 2,13–25; Joh 5,1–47; Joh 7,14–39 sowie Joh 8,12–10,38 angeknüpft (ἐν τῷ ἱερῷ in Joh 2,14; 5,14; 7,28; 8,20; 10,23),45 während der Zusatz ἐν συναγωγῇ (nur in 18,20 und 6,59) auf den einzigen damit noch nicht referenzierten Diskurs in Joh 6,25–59 verweist. In einem einzigen Satz wird somit in Joh 18,20 auf kunstvolle Weise auf jedes der vorangegangenen Streitgespräche zwischen Jesus und den Juden verwiesen, wobei die Verweise auf Joh 7,14–48 am direktesten sind.46 Umgekehrt werden wesentliche juristische Bestandteile, die für das Verhör vor dem Synedrium zu erwarten gewesen wären, bereits in Joh 1–12 thematisiert.47 Die in Joh 18,19–24 kreierte Fehlstelle eines jüdischen Prozesses wird somit durch intratextuelle Verweise auf die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 1–12 gefüllt.48 Diese legen die Vermutung nahe, dass die Schilderung eines jüdischen Prozesses sich in Joh 18,19–24 erübrigt, weil diese bereits narrativ erfolgte.49 Die Erzählung in Joh 18–19 ist damit keine Leerstelle im strengen Sinn, sondern vielmehr die konsequente Vermeidung einer redundanten Prozessdarstellung, insofern Anklagen, Argumente, Verfahrensabläufe und Zeugen sich bereits vollständig in Joh 1–12 finden.50 Faktisch tritt somit der narrativ dargestellte Prozess in Joh 1–12 an die Stelle des Prozesses, der in Joh 18,24 so kursorisch übergangen wird. Dass damit der jüdische Prozess keineswegs abgewertet, sondern stark ins Zentrum des Evangeliums gerückt wird, ist als wichtige Implikation festzuhalten.51

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In Joh 7,28 und 8,20 findet sich daneben noch die Verbindung mit dem in Joh 18,20 genannten Lexem διδάσκω (ἐν τῷ ἱερῷ διδάσκων in Joh 7,28; διδάσκων ἐν τῷ ἱερῷ in 8,20). 46 Auf Joh 7,4–47 verweist ferner der Gegensatz zwischen ἐν κρυπτῷ (Joh 7,4.10; 18,20) zu παρρησίᾳ (Joh 7,4.13.26; 18,20). 47 Siehe hierzu BROWN (1970), 833f., der zu dem Schluss kommt, dass typische Bestandteile des Verhörs vor dem Synedrium auf Joh 1–11 verteilt sind (aaO., 834). Vgl. auch KÖSTENBERGER (2005), 47. Dies betrifft etwa die Thematisierung einer Tempelzerstörung (2,19), die Anklage wegen Gotteslästerung (5,18; 10,24–25.33.36) oder wegen Sabbatbruch (5,18; 7,21–24) sowie die Tatsache, dass bereits in Joh 11,47–53 eine Sitzung des Synedriums über Jesus erzählt wird. 48 Siehe SCHNELLE (2016), 345. 49 Vgl. zu dieser in der Forschung häufig geäußerten These ausführlich Anm. 97 und inter alia KÖSTENBERGER (2005), 42: „The reason why John does not record a Jewish trial is because Jesus’ entire ministry is conceived in terms of at trial (1–12).“ Vgl. für eine ähnliche Beobachtung PANCARO (1975), 71: „[G]iven that Jn has obviously omitted the trial before Caiaphas […] we hold that Jn has transposed the account […] of the trial before Caiaphas into the period of Jesus’ public ministry.“ 50 Nach SCHNELLE (2016), 345 kann das jüdische Verhör (Joh 18,19–24) bei Joh deshalb so kursorisch behandelt werden, „weil für ihn der Todesbeschluss Resultat der sich ständig steigernden Auseinandersetzung Jesu mit dem ungläubigen Kosmos ist, die in Kap. 11 ihren Höhepunkt und ihr Ende findet“. 51 So richtig PANCARO (1975), 70.

1. Die narrative Prozessdarstellung in Joh 18–19

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1.3. Rollenumkehrung im Prozess vor Pilatus (Joh 18,28–19,16) Die Darstellung des Prozesses vor Pilatus bekommt in ihrer narrativen Gestaltung sowohl durch die Länge der Darstellung52 als auch durch die theologische Bedeutung der im Prozess verhandelten Inhalte außergewöhnliches Gewicht.53 Zusammen mit der gegenläufigen Tendenz einer inhaltlich vermiedenen Konkretisierung des jüdischen Prozesses erscheint er damit als dramaturgisches Finale, das nach der in Joh 1–12 erzählten Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden zu erwarten gewesen wäre.54 Die auf den ersten Blick unerwartete Asymmetrie, in der Pilatus den Platz der Juden einnimmt, erweist sich jedoch als integraler Bestandteil der Perspektive des vierten Evangeliums: Die Ablehnung der ἴδιοι steht bereits im Prolog pars pro toto für die Ablehnung des κόσμος (Joh 1,10–11).55 Der Prozess Jesu mit den Juden ist im Kontext des Evangeliums der Prozess Jesu mit der Welt.56 Es ist daher nur folgerichtig, dass der Prozess auch dramaturgisch auf einer Bühne sein Finale findet, bei dem die Rolle der Welt durch eine sie repräsentierende Figur eines nicht jüdischen Richters, der Statthalter des römischen Weltreiches ist, im Vordergrund steht.57 Der Prozess vor Pilatus erstreckt sich über die gesamte Passage von Joh 18,28–19,16. Er beginnt mit der Vorführung des verhafteten Angeklagten 52 Der Prozess ist in Joh 18,28–19,16 mit 39 Versen äußerst ausführlich dargestellt; vgl. dazu auch oben Anm. 1. 53 Während im Verhör vor Hannas überhaupt keine inhaltlichen Angaben zur Lehre Jesu genannt werden, finden sich in Joh 18,28–19,16 eine Vielzahl theologisch höchst bedeutsamer Aussagen Jesu (vgl. 18,36f.; 19,11); vgl. dazu KÖSTENBERGER (2009), 441–454. 54 Vgl. dazu SÖDING (1996), 37: „Für Johannes steht Jesus von Beginn seine Wirkens an inmitten harter Auseinandersetzungen über die Legitimität seines Anspruchs [… ]. Der Prozeß gegen Jesus ist die logische Konsequenz. Von Anfang an steht Jesu Wirken im Zeichen der Krisis […]. Das kommt endgültig im Prozeß Jesu zum Vorschein.“ Siehe auch KÖSTENBERGER (2009), 442, der die Frage nach dem Fokus von einem kursorisch übergangenen jüdischen Verhör auf eine ausführliche Darstellung des römischen Verhörs thematisiert: „Why this shift in perspective? It is hard to be certain, but it is possible that the evangelist feels he has already demonstrated the hardening of the Jewish leaders in the first half of his gospel, culminating in Caiaphas’s attempt in 11:49–50 and in the negative verdict of 12:37. Thus, he focuses his trial narrative on Pilate’s complicity in the world’s rejection of the Messiah […].“ 55 So schon BULTMANN (1986), 504; siehe zur Analyse Joh 1,10–11 im Kontext ausführlich Kapitel IV,1.1. Beachtenswert ist ferner, dass κόσμος bereits in Joh 18,20 erwähnt wird und schon dort eine universelle Dimension des Prozesses antizipiert (vgl. SÖDING [1996], 37f.). 56 Siehe dazu KÖSTENBERGER (2009), 437f. Köstenberger stellt fest: „John envisions Jesus’ appearance before Pilate as a paradigmatic instance of one who was not of the world but who was set apart and sent into the world to speak the truth, which is god’s word“ (aaO., 440). 57 In diesem Sinn ist der Prozess vor Pilatus eine Kulmination einer vorher vielschichtig angelegten Dynamik (SÖDING [1996], 37; KÖSTENBERGER [2009], 450).

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vor den Richter (ἄγουσιν οὖν τὸν Ἰησοῦν … εἰς τὸ πραιτώριον, 18,28)58 und endet mit dem formellen Urteil (παρέδωκεν αὐτὸν αὐτοῖς ἵνα σταυρωθῇ, 19,16).59 Der Prozess wird in der Form einer cognitio geschildert und setzt damit einen römischen Strafprozess in Form einer cognitio extra ordinem voraus.60 Es handelt sich somit in der erzählten Welt um einen Prozess vor dem Statthalter als Einzelrichter mit nahezu unbeschränkten Befugnissen.61 Nach Joh 18,28 stellt sich somit die Lesererwartung ein, dass Jesus von Pilatus als Richter befragt wird, Zeugen und Beweismittel gegen ihn vorgelegt werden und Pilatus ein Urteil fällt. In der Schilderung des Prozesses ist in der narrativen Darstellung damit zunächst eine klare Verteilung der forensischen Rollen erkennbar, nach der die Juden als Ankläger,62 Jesus als Angeklagter und Pilatus als Richter auftreten. Als Anklage werden die Prädikationen βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (18,33) sowie υἱὸς θεοῦ (19,7) genannt,63 die für das vor einer versammelten Menge als Prozesszuschauern verhandelte Vergehen stehen. 64 Diese Lesererwartung wird in der narrativen Schilderung des Prozesses jedoch Stück für Stück demontiert und in ein neues Rollenkonstrukt transformiert.65

58 Mit ἄγω wird hier der terminus technicus der Gerichtssprache im Sinne von „abführe“, „verhaften“ (BAUER [1988], 25) oder „(gerichtlich) vorführen“ (BORSE [2011], 58) verwendet. 59 Mit παραδίδωμι wird der juristische Akt der Verurteilung bezeichnet (BROWN [1970], 884; SHERWIN-WHITE [1963], 27). Dennoch wird das eigentliche Urteil nicht direkt genannt und kann nur aus der Überstellung zur Urteilsvollstreckung gefolgert werden. 60 Siehe hierzu Kapitel II,1.2.4. 61 Vgl. zu dieser Eigenart in Kognitionsprozessen Kapitel II,1.2.4; vgl. zur forensischen Rolle des Richters das literarische Prozess-Setting in Kapitel II,1.4. 62 Als vordergründige Akteure bei der Verhaftung werden die Gehilfen (οἱ ὑπηρέται) der Hohenpriester und Pharisäer (ἐκ τῶν ἀρχιερέων καὶ ἐκ τῶν Φαρισαίων ὑπηρέτας (18,3) genannt, die auch als οἱ ὑπηρέται τῶν Ἰουδαίων bezeichnet werden (18,12). Als die eigentlichen Akteure werden damit die Hohenpriester und Pharisäer vorausgesetzt (vgl. die Aussage des Pilatus in 18,35: οἱ ἀρχιερεῖς παρέδωκάν σε ἐμοι), die summarisch als οἱ Ἰουδαῖοι bezeichnet werden (indirekt in 18,12.14; 18,36 und direkt in 18,31.38; 19,7.12.14). 63 Die Bezeichnung als βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων ist dabei nur indirekt erkennbar und wird nirgends (abgesehen vom titulus in 19,19) als direkte Anschuldigung genannt. Die Juden setzen voraus, dass er ein Übeltäter (κακὸν ποιῶν) ist (18,30); ferner wird in der Frage des Pilatus an Jesus in 18,33.37 vorausgesetzt, dass die Juden Pilatus gegenüber den Begriff βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων als Anklagegrund genannt haben. Dagegen bringen die Juden υἱὸν θεοῦ ἑαυτὸν ἐποίησεν (19,7) als direkte Anschuldigung vor. 64 Die anwesende größere Menschenmenge, wie sie in Joh 18,40 und auf einem Platz vor dem Richterstuhl (19,13–14) vorausgesetzt wird, erscheint in der Rolle der Prozesszuschauer. Dabei verschmilzt jedoch in Joh 19,12–15 die Menge der Zuschauer mit der der Ἰουδαῖοι als Ankläger (vgl. oben Anm. 62). 65 So auch SÖDING (1996), 40: „Die Rollenverteilung im Pilatus-Prozeß scheint klar: Die ‚Juden‘, speziell die Hohenpriester und deren Diener, sind die Ankläger […]. Pilatus ist der Richter […]. Jesus schließlich ist der Angeklagte. Doch ist dies nur die halbe Wahrheit. In

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So eindeutig sich dieser Prozess vordergründig in seinem Ablauf, der forensischen Rollenverteilung und den juristischen Sachverhalten präsentiert, so unbestritten tritt doch eine weitere, tiefere Erzählebene hinzu, die durch subtile Wendungen ein anderes Bild zeichnet. Darauf weist bereits der chiastische Aufbau von sieben Szenen hin:66 A Draußen: Die Juden verlangen den Tod Jesu (Joh 18,28–32) B Drinnen: Pilatus befragt Jesus über sein Königtum (Joh 18,33–38a) C Draußen: Pilatus befindet Jesus als nicht schuldig (Joh 18,38b–40) D Drinnen: Die Soldaten huldigen Jesus (Joh 19,1–3) C' Draußen: Pilatus befindet Jesus als nicht schuldig (Joh 19,4–8) B' Drinnen: Pilatus befragt Jesus über seine Vollmacht (Joh 19,9–11) A' Draußen: Die Juden verlangen den Tod Jesu (Joh 19,12–16)

Zunächst fällt auf, dass in der cognitio eigentlich keine Befragung Jesu stattfindet, sondern diese nur in den Abschnitten B, B' erwähnt wird und weder strukturell noch im Umfang im Mittelpunkt der Darstellung steht. Der alternierende Wechsel der Örtlichkeit (drinnen und draußen) bringt pointiert zum Ausdruck, dass der größte Teil der Schilderung (A, C, C', A') gar nicht im Prätorium als eigentlichem Gerichtsort, sondern vor dem Prätorium und damit als psychologischer Konflikt zwischen Pilatus und den Juden ausgetragen wird. Dabei wird Pilatus mehr und mehr vom vollmächtigen Einzelrichter zum Spielball der Interessen der Juden.67 Umgekehrt ist durch den Erzählerkommentar nach der Anklage der Juden in Joh 18,32 deutlich, dass die Juden nicht die Agierenden und Jesus nicht passives Objekt ist. Vielmehr erscheint der „angeklagte Jesus […] durch den ausdrücklichen Erzählerkommentar als eigentliches Subjekt der Handlung“.68 Von den im Prätorium lokalisierten Szenen (B, B', D) handelt es sich nur in den zwei rahmenden Szenen (B, B') um eine eigentliche Befragung, in der jedoch die Rollenzuweisungen von Pilatus als Richter und Jesus als Angeklagtem narrativ unterminiert werden. Bereits der erste Dialog zwischen Pilatus und Jesus (B) in Joh 18,33–38a karikiert das Prozess-Setting der richterlichen Befragung damit, dass Jesus mit einer Gegenfrage antwortet (Joh 18,33–34), Wirklichkeit spielt sich ein ganz anderer Prozeß ab. Zwar scheint es so, als stände Jesus vor seinem Richter. Tatsächlich zeigt sich aber, daß Pilatus vor seinem Richter steht […].“ 66 Siehe hierzu GNIESMER (2000), 174; KEENER (2010b), 1097; TALBERT (2005), 246. 67 Dies wird bereits narrativ dadurch ausgedrückt, dass Pilatus durch das alternierend gebrauchte εἰσῆλθεν (18,33; 19,9) und ἐξῆλθεν (18,29.38; 19,4) ständig zwischen ‚drinnen‘ und ‚draußen‘ hin- und herpendelt. So bemerkt SÖDING (1996), 40 treffend: „Der ständige Ortswechsel, den er vornimmt, symbolisiert die Rolle, die er im Prozeß gegen Jesus spielt. Eigentlich müßte er als römischer Präfekt und als Richter, der seines Amtes waltet, Herr des Verfahrens sein. Tatsächlich schwankt er hin und her. […] Er wird bis zum Schluß nie seinen eigenen Standpunkt finden.“ Siehe zu einer Charakterstudie des Pilatus mit ähnlichem Akzent auch TOLMIE (2013), 585. 68 GNIESMER (2000), 207.

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die die Unwissenheit des Statthalters über die eigentlichen Verhältnisse offenbart und ihn in seiner Rolle als unparteiischem Richter hinterfragt (18,35).69 Dass Pilatus sich bereits nach dem ersten Ausspruch Jesu zu einer Verteidigung genötigt sieht (μήτι ἐγὼ Ἰουδαῖός εἰμι; τὸ ἔθνος τὸ σὸν καὶ οἱ ἀρχιερεῖς παρέδωκάν σε ἐμοί, 18,35) erlaubt einen tiefen Blick in die sich bereits konstituierende narrative Rollenumkehrung, in der Richter und Angeklagter die Plätze tauschen.70 Dem entspricht, dass Jesus sich als König eines Reiches vorstellt, dem alle weltliche Macht untergeordnet ist (ἡ βασιλεία ἡ ἐμὴ οὐκ ἔστιν ἐκ τοῦ κόσμου τούτου, 18,36). 71 Was bereits für das jüdische Verhör (Joh 18,19–23) galt, wiederholt sich hier: Weder wird Jesus ausführlich befragt, noch können Beweise gegen ihn vorgelegt oder belastende Zeugen präsentiert werden.72 Überhaupt findet sich nicht nur die einzige Erwähnung eines Zeugnisses, wie schon im jüdischen Prozess, nur im Mund Jesu, sondern diesmal fungiert Jesus selbst als Zeuge (18,37).73 Dadurch wird jedoch nicht bloß eine kontextuelle Anknüpfung an das Zeugnismotiv geleistet, sondern die ganze Sendung Jesu dieser Zeugenfunktion zugeordnet: ἐγὼ εἰς τοῦτο γεγέννημαι καὶ εἰς τοῦτο ἐλήλυθα εἰς τὸν κόσμον, ἵνα μαρτυρήσω τῇ ἀληθείᾳ (Joh 18,37). Da damit wichtige intratextuelle Bezüge auf die Funktion und Sendung Jesu als Offenbarer (Joh 1,18; 3,31; 5,20) erkennbar sind, wurde die Verwendung von μαρτυρέω hier in der übertragenen Bedeutung des Lexems als offenbarende und bekundende Tätigkeit aufgefasst. 74 Diese Deutung erkennt zwar eine wichtige Akzentsetzung des Evangeliums an, wird aber der Tatsache, dass mit μαρτυρέω ein forensischer terminus technicus in einem vollständig forensischen Kontext genannt wird, nicht gerecht. 75 Vielmehr wird 69

Vgl. SÖDING (1996), 41; GNIESMER (2000), 228f. Dies wird richtig erkannt von SÖDING (1996), 41: „Schon mit der ersten Einlassung Jesu ist der Rollentausch vollzogen, der den gesamten weiteren Prozeß prägt. Nicht der Richter, der Römer Pilatus, bestimmt den Verlauf und das Thema der Verhandlung, sondern der Angeklagte, der Jude (18,35) Jesus, der Sohn Gottes (19,7).“ Ähnlich GNIESMER (2000), 233. 71 Dass dabei ἐκ τοῦ κόσμου τούτου nicht als alternativer, konkurrenzloser Wirklichkeitsbereich aufgefasst sein will, sondern viel eher den Ursprung des Reiches Jesu außerhalb der Welt anzeigt, haben SÖDING (1996), 45 und RENSBERGER (1984), 408 zu Recht betont. Durch diesen Ausspruch Jesu „stellt er die real existierenden Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen der Welt radikal in Frage“ (SÖDING [1996], 47); vgl. dazu unten Anm. 80. 72 Vgl. SÖDING (1996), 42: „Ein fairer Prozeß setzt Belastungs- und Entlastungszeugen voraus. Zeugen der Anklage fehlen aber im Prozeß vor Pilatus […].“ 73 SÖDING (1996), 42. 74 So etwa SCHNACKENBURG (1992b), 286: „Der Zeugnisgedanke hat hier […] keinen irdisch-forensischen Sinn, sondern meint den himmlischen Zeugen, der […] den Menschen […] heilbringende ‚Wahrheit‘ offenbart […].“ 75 Siehe zur primär forensischen Konnotation des Lexems Kapitel II,1.4.3. Richtig erkennt SÖDING (1996), 51, dass der maßgebliche Bezug auf das Semantem von Joh 5,31–47 in seiner forensischen Bedeutung vorliegt. Damit wird hier auf den Topos des Augenzeugen 70

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damit der Topos des Augenzeugen vor Gericht aufgenommen, indem sich Jesus selbst als der einzig glaubwürdige und zur Aussage befähigte Augenzeuge für die Wahrheit vor Gericht zeigt.76 Liegt damit zugleich eine symbolische Verwendung der Zeugenthematik mit einem tieferen, theologischen Sinn vor, so kann dennoch – insbesondere in einem dezidiert forensischen Kontext – die dominant forensische Konnotation des Lexems μαρτυρέω nicht in den Hintergrund gerückt werden. Vielmehr weist sich Jesus durch die implizite Selbstbezeichnung als Zeuge (μαρτυρήσω τῇ ἀληθεία, 18,37) eine Rolle zu, die im forensischen Gebrauch im jüdischen Kontext intrinsisch mit der Anklage verbunden ist.77 Dass sich damit Jesus vor dem Hintergrund des alttestamentlich-jüdischen Zeugenrechts als anklagender Zeuge gegen die Welt präsentiert, wurde bisher nur unzureichend wahrgenommen.78 Die Darstellung zeigt eine subtile Rollentransformation,79 die den Lesenden zu der Frage führt, wer hier tatsächlich vor Gericht steht und befragt wird. Darauf arbeitet das Ende der Befragungsszene mit dem von Pilatus implizit und unfreiwillig geäußerten Bekenntnis, dass Jesus ein βασιλεύς ist (18,37),80 zielstrebig hin. Pilatus bleibt mit der Unverständnis und Unglaube offenbarenden

vor Gericht verwiesen (siehe das Zitat Södings in Anm. 76 unten); vgl. dazu das literarische Prozess-Setting in Kapitel II,1.4.3. 76 Treffend bemerkt SÖDING (1996), 51 zur Stelle: „Zeuge, zumal in einem Gerichtsverfahren, kann nur sein, wer gesehen hat, was sich abgespielt hat, und wer allein das sagt, was er gesehen hat: die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Umgekehrt ist ein Gerichtsverfahren um der Wahrheit willen auf glaubwürdige Zeugen angewiesen – dann nämlich, wenn die verhandelte Sache nicht einfach evident oder hieb- und stichfest bewiesen ist, sondern allein durch die Angaben von Augenzeugen geklärt werden kann.“ Indem sich Jesus als Augenzeuge präsentiert, verbinden sich forensischer und christologisch-offenbarender Aspekt. 77 Siehe dazu Kapitel II,1.3. 78 Vgl. etwa SÖDING (1996), 53f., der die Zeugenfunktion Jesu auf die offenbarende Komponente reduzieren will. Damit bleibt die Frage offen, weshalb hier überhaupt die symbolische Rolle des Zeugen genannt wird. 79 Ebenso GNIESMER (2000), 207: „[Die Darstellung ] zielt auf eine Umorientierung der Wahrnehmung der Figuren und ihrer jeweiligen Rollen. Hierdurch wird den Adressatinnen und Adressaten eine andere, tiefere Sicht der am Prozeß beteiligten Personen vermittelt […].“ 80 Als König steht Jesus im Rang über Pilatus. Die Antwort σὺ λέγεις ὅτι βασιλεύς εἰμι ist eine zwar zögerliche, aber tatsächliche Bestätigung, die zudem die Selbstaussage des Pilatus betont (KÖSTENBERGER [2005], 42; MELBA [1991], 31). Die zurückhaltende Formulierung dient dazu, den Königstitel durch das Zeugnis für die Wahrheit (18,37) näher zu bestimmen und von falschen Vorstellungen eines rein politisch verstandenen Königtums abzugrenzen (LINCOLN [2000], 128). Dennoch hat BLANK (1959), 70 zu Recht erkannt, dass die Königsherrschaft Jesu trotz allem nicht „unpolitisch“ ist, sondern Pilatus vielmehr die wahre Macht abspricht: „Gerade ihr nicht-welthafter Charakter ist es, durch den sie auch die politische Sphäre an ihrer Wurzel tangiert und in Frage stellt.“

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

Frage τί ἐστιν ἀλήθεια (18,38) zurück,81 die gleichzeitig sein Scheitern in der Rolle als Richter, der die Aufgabe hat, die Wahrheit ans Licht zu bringen, offenbart.82 Indem Pilatus sich dem Wahrheitszeugnis örtlich entzieht (καὶ τοῦτο εἰπὼν πάλιν ἐξῆλθεν, V. 38), wird der folgende Prozess dadurch einen ironischen Gegenakzent entfalten, dass Pilatus sich der Frage nach der Wahrheit nicht entziehen kann, sondern sich ihr vielmehr persönlich stellen muss.83 In keiner der dabei gegenläufigen Prozessebenen, in denen Pilatus in der erzählten Welt einerseits als Richter, in einer subtilen Umkehrung dagegen andererseits als Angeklagter erscheint, kann Pilatus die Wahrheitsfrage jedoch beantworten.84 Gleichsam zur Bestätigung des Königsanspruchs Jesu steht inmitten der konzentrischen Struktur (siehe oben) die Szene (D), in der die Soldaten Jesus durch die Darstellung einer königlichen Epiphanie verspotten (Joh 19,1–3).85 Die Ironie dieser Darstellung liegt nach der subtilen Rollenumkehrung und der unmittelbar vorausgehenden Bezeichnung Jesu als König offen zutage und bekräftigt durch die strukturelle Mittelstellung auf narrative Weise die tatsächliche Hoheit Jesu, der die Soldaten ungewollt huldigen.86 Die Tendenz einer subtilen Rollenumkehrung setzt sich konsequent auch in der zweiten Befragungsszene (B') mit Jesus und Pilatus fort (Joh 19,9–11). Die Frage nach der Wahrheit kann nur über die Frage nach der Herkunft Jesu (πόθεν εἶ σύ in 19,9a) beantwortet werden.87 Das Schweigen Jesu (19,9b) zeigt dabei an, dass dazu keine neue Information notwendig ist – Jesus hat seine Herkunft bereits dargelegt. Die Irritation des Pilatus führt ihn dazu, Jesus mit der Frage οὐκ οἶδας ὅτι ἐξουσίαν ἔχω ἀπολῦσαί σε καὶ ἐξουσίαν ἔχω σταυρῶσαί σε (19,10) auf seine eigene ἐξουσία hinzuweisen. Diese wird durch die Antwort Jesu (οὐκ εἶχες ἐξουσίαν κατ᾽ ἐμοῦ οὐδεμίαν εἰ μὴ ἦν δεδομένον σοι ἄνωθεν, 19,11) nicht durchweg negiert, sondern der ἐξουσία ἄνωθεν subordiniert.88 Dabei bleibt un-

81 Vgl. MORRIS (1995), 682; KRUSE (2003), 360. Die Frage erwartet keine Antwort und beweist, dass Pilatus nicht zu denen gehört, die ἐκ τῆς ἀληθείας sind (18,37); vgl. KÖSTENBERGER (2005), 55; LINCOLN (2000), 129. 82 KÖSTENBERGER (2005), 49f.; VOLF (1996), 266. 83 Damit kommt eine Leserperspektive in Spiel, die auch den Lesenden nicht in der Rolle des unbeteiligten Beobachters lässt; vgl. CULPEPPER (1987), 143. 84 Ebenso SÖDING (1996), 40: „Über die Frage: ‚Was ist Wahrheit?‘ gelangt er nicht hinaus.“ 85 So BLANK (1959), 62.73f. 86 Die Ironie dieser Szene wurde ausführlich von GNIESMER (2000), 277–286 erarbeitet; ähnlich ist nach BLANK (1959), 62 „dieses Motiv der Angelpunkt“ der Prozessdarstellung. 87 SÖDING (1996), 44. Diese Frage ist zugleich eine theologische Schlüsselfrage im Evangelium (STIBBE [1992], 108f.). 88 GNIESMER (2000), 313f. weist darauf hin, dass das Partizip Neutrum δεδομένον sich nicht auf die Pilatus gegebene ἐξουσία beziehen kann, sondern alle Bestandteile der laufenden Gerichtssitzung im Blick hat. Dies ist ein weiterer Akzent, durch den die Vorstellung

1. Die narrative Prozessdarstellung in Joh 18–19

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zweifelhaft, dass Jesus selbst vollmächtiger Ausführender dieser ἐξουσία ist.89 Dagegen wird diese Pilatus vom Erzähler nicht einmal in der erzählten Welt zugestanden: Der vergebliche Versuch des Pilatus, Jesus loszugeben (19,12), beweist, dass er die ἐξουσίαν ἀπολῦσαί gerade nicht hat, und wird so zur Bestätigung der Worte Jesu (οὐκ εἶχες ἐξουσίαν κατ᾽ ἐμου, V. 11). Wenn aber Jesus in seiner Aussage über die ἐξουσία im Recht ist, hat dies unweigerlich Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit seiner Verurteilung durch Pilatus. Es ist daher nur folgerichtig, dass sich die ἐξουσία schließlich in einer Anklage der Sünde (ἁμαρτία) des Pilatus niederschlägt (19,11) – und dass in diesem Zusammenhang in Fortsetzung der Rollenumkehrung überhaupt zum ersten Mal im Verhör vor Pilatus von einer konkreten Schuld die Rede ist.90 Indem Jesus ein Urteil über die Schuld des Pilatus fällt, setzt sich die Transformation der Richterrolle fort.91 Während die Verurteilung des Angeklagten vor dem mit ἐξουσία ausgestatteten Richter als narrative Konstante bestehen bleibt, wird in signifikanter Weise die Identität von Richter und Angeklagtem vertauscht. Dass damit folglich Jesus und nicht Pilatus auf dem Richterstuhl sitzen müsste, wird vom Erzähler durch die doppeldeutige Formulierung ἤγαγεν ἔξω τὸν Ἰησοῦν καὶ ἐκάθισεν ἐπὶ βήματος (19,13) ironisch angedeutet.92 In einer letzten eines unkontrollierten Geschehens an Jesus in der Erzählung zurückgewiesen und ein subtiler Rollentausch angedeutet wird. 89 Das wird nicht nur im Kontext des Evangeliums (vgl. die ἐξουσία Jesu in Joh 5,27; 10,18 und die programmatische Selbstbezeichnung Jesu mit ὁ ἄνωθεν ἐρχόμενος ἐπάνω πάντων ἐστίν in Joh 3,31), sondern auch im direkten Kontext dadurch bestätigt, dass Jesus durchaus ein König ist (βασιλεύς εἰμι in 18,37), und zwar König eines Reiches, das nicht von dieser Welt ist (ἡ βασιλεία ἡ ἐμὴ οὐκ ἔστιν ἐκ τοῦ κόσμου τούτου, 18,36) und damit einen viel weitreichenderen Machtanspruch hat (BLANK [1959], 70). Der nicht weltliche Charakter des Reiches ist synonym zum Ausdruck ἄνωθεν (vgl. Joh 3,31); vgl. dazu auch SÖDING (1996), 45f. GNIESMER (2000), 257 sieht den Verweis auf Joh 3,31 sogar als Verständnisschlüssel zu Joh 18,37. 90 Der Ausdruck ἁμαρτία erscheint nur hier in Joh 18–19. Da der Ausdruck κακὸν ποιῶν in 18,30 äußerst unspezifisch ist, wird nur hier von einer konkreten Schuld gesprochen. Damit wird allein Jesus zum Ankläger und Richter. 91 Vgl. GNIESMER (2000), 322: „[S]o steigert sich das Aus-der-Rolle-Fallen Jesu in 19,11d ins Extrem: Jesus selber übernimmt es, ein Urteil über die in seinem Fall vorliegende Schuld zu fällen. Er selber füllt jetzt die Rolle des Richters aus und urteilt nicht nur über seinen Ankläger, sondern auch über seinen Richter.“ 92 Liest man καθίζω transitiv, wird Jesus von Pilatus auf den Richterstuhl gesetzt (vgl. STIBBE [1992], 111; BROWN [1970], 880f.). Ein transitives Verständnis ist grammatisch möglich (siehe die ausführliche Diskussion bei GNIESMER (2000), 337–339). Gniesmer spricht sich nach ausführlicher Untersuchung (aaO., 339–347) jedoch gegen ein transitives Verständnis aus, weil es im Kontext unwahrscheinlich scheint, dass Jesus von Pilatus tatsächlich auf dem Richterstuhl platziert wurde. Auch wenn Gniesmer in Bezug auf die in der erzählten Welt beschriebene Handlung recht zu geben ist, wird damit übersehen, dass es sich hier nicht um eine Frage der vom Evangelisten beschriebenen Handlung in der erzählten Welt, sondern um eine bewusst ambivalent angelegte Formulierung in einer metaphorischen

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

Szene zeigt sich dieser Rollentausch auch in Bezug auf die Juden, die Jesus bereits in den Vorwurf der ἁμαρτία (19,11) einschloss. Wie zur Verwirklichung sprechen sie nun selbst ihr eigenes Urteil, indem sie mit dem Ausspruch οὐκ ἔχομεν βασιλέα εἰ μὴ Καίσαρα (Joh 19,15) Jesus als ihren König verwerfen.93 Die Darstellung des Prozesses vor Pilatus in Joh 18,28–19,16 ist damit das narrative Finale eines kosmischen Prozesses zwischen Jesus und der Welt, bei dem eine doppelte Erzählperspektive als wesentliches Charakteristikum sichtbar wird. Während Jesus in der erzählten Welt als von den Juden Angeklagter vor Pilatus als Richter steht, kehrt sich diese Rollenverteilung auf subtile Weise in ihr Gegenteil um. Dabei tritt Jesus in der Rollenunion von Richter, Zeuge und Ankläger auf, während Pilatus und die Juden in der Rolle der Angeklagten erscheinen.

1.4. Ertrag Die narrative Prozessdarstellung in Joh 18–19 hat wegweisende Funktion für die Verwendung von Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium und weist dabei eine Vielzahl spezifisch johanneischer Akzente auf, die für die Untersuchung in Joh 1–12 maßgeblich sind. Zunächst zeigen bereits die Ausführlichkeit der Prozessdarstellung, die dabei genannten Details und die Verbindung mit zahlreichen theologischen Themen des Evangeliums die große Bedeutung des Prozesses im vierten Evangelium.94 Dem Erzähler ist aus Gründen, die noch zu untersuchen sein werden, an der Erzählung des Prozessgeschehens gelegen. Dieses Interesse bezieht sich jedoch nicht auf die Erzählung eines detaillierten Gerichtsverfahrens als narrativem Selbstzweck, sondern hat den forensischen Prozess als Motiv im Blick. Dies zeigt sich darin, dass die Darstellung des Prozessgeschehens, seiner Abläufe, Akteure und der damit impliVorstellung handelt (so auch LINCOLN [1994], 8), die als Andeutung mit starkem Symbolgehalt zu werten ist. Neben dem Prozess-Setting der erzählten Welt wird auf einer höheren Ebene ein weitergehendes metaphorisches Prozess-Setting evoziert, bei dem Jesus auf dem Richterstuhl sitzt. Die Doppeldeutigkeit fungiert damit nicht auf der Handlungsebene, sondern auf der Ebene der Leserinterpretation und -assoziation. 93 Nach SÖDING (1996), 41 „ist dies kaum weniger als ihre Absage an die messianischen Hoffnungen Israels auf einen eschatologischen König aus Davids Geschlecht – und eine Abwendung von Gott, der doch der wahre und einzige König Israels ist“. KÖSTENBERGER (2005), 47 spricht von einem „massive betrayal of their own religious heritage“, das als Zurückweisung des Königsanspruchs Gottes verstanden werden muss. Ähnlich GNIESMER (2000), 354: „Nicht Jesus, sondern die Hohenpriester sind hier die wahren Gottesslästerer. Ein schärferes Urteil können die Juden sich selber nicht sprechen.“ 94 Dies hat SÖDING (1996), 37 treffend formuliert: „Diese Gewichtung geschieht mit Bedacht. Sie entspricht einem theologischen Grundgedanken des Evangelisten“, da „ihm das Motiv des Prozesses besonders wichtig“ ist.

1. Die narrative Prozessdarstellung in Joh 18–19

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zierten Beziehungsgeflechte zwischen den forensischen Rollen eine doppelte Ebene erkennen lässt. Das Interesse des Erzählers liegt weniger auf der Ebene des vordergründigen Geschehens, als vielmehr auf einer tiefgründig und konsequent angelegten Transformation der Rollenbilder. Aus der Sicht der Charaktere der erzählten Welt fungieren die Juden als Ankläger, Jesus als ohnmächtiger und passiver Angeklagter und Pilatus als Richter. Der implizite Leser nimmt dagegen eine parallele Prozessdarstellung wahr, bei der Jesus als Zeuge, Ankläger und Richter fungiert, während sowohl die Juden als auch Pilatus zunehmend in die Rolle der Angeklagten gedrängt werden. Der damit skizzierte Parallelprozess ist metaphorischer Natur und belegt die erzählten Geschehnisse und Handlungen in paradoxer Weise neu. Die Existenz dieser metaphorischen Prozessdarstellung verwendet den vordergründigen Prozessablauf als bildgebendes Element und belegt dieses mit einem neuen, zum vordergründigen Geschehen paradoxen Sinn, der auf eine geistliche Wirklichkeit als bildempfangenden Bereich hinweist. Es handelt sich um eine gleichzeitige Verwendung des Prozesses als erzähltes Geschehen und als Motiv. In dieser motivischen Verwendung werden zahlreiche theologische Themen des vierten Evangeliums aufgenommen und weiterentfaltet.95 Die Prozessmotivik erweist sich in Joh 18–19 damit als integraler Bestandteil des Evangeliums und als Träger johanneischer Theologie. 96 Zugleich zeigt die Darstellung an mehreren Stellen deutliche Leserbezüge, durch die der Lesende selbst in Form von Fragen, Urteilen oder einer Positionierung in das Prozessgeschehen einbezogen wird. Angesichts der großen Bedeutung, die der Prozessdarstellung damit im Kontext des Evangeliums zukommt, ist das Fehlen eines jüdischen Prozesses umso auffälliger. Die Art der narrativen Darstellung zeigt, dass dieses Fehlen absichtsvoll geschieht, kunstvoll mit Lesererwartungen spielt und im besten Sinne als gezielte Vermeidung einer inhaltlichen Schilderung angesehen werden muss. Umgekehrt wird die damit entstandene Leerstelle jedoch mit zahlreichen intratextuellen Verweisen auf Joh 1–12 gefüllt, die als anaphorische Deixis auf vorher bereits beschriebene Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden fungieren. Dabei deutet sich an, dass die narrative Darstellung der Streitgespräche und Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden der narrative Prozessersatz für das in Joh 18 fehlende Prozessgeschehen wird. Von einem konzeptionellen Blickwinkel aus scheinen Inhalt und Theologie der Prozessdarstellung zwischen Jesus und den Juden aus Joh 18 ausgegliedert und 95 Dies umfasst das Zeugnisthema, die Themen Wahrheit, Gericht, Sünde, Gesetz, Jesus als König, sein Kommen in die Welt, die Auseinandersetzung mit den Juden, die Welt vor Gericht, die Frage nach dem Ursprung Jesu, die Gegensätze zwischen ‚von oben‘ und ‚von unten/von dieser Welt‘ und weitere Themen (vgl. auch die Darstellung in der Theologie von KÖSTENBERGER [2009], 441–454). 96 Die Art und Weise, in der das Prozessgeschehen als Träger der Theologie des Evangeliums fungiert, wird dabei noch zu untersuchen sein.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

in Joh 1–12 verlagert zu sein. Diese Vermutung ist in der Forschung insbesondere im Zusammenhang mit Joh 18–19 vielfach geäußert,97 aber nur in Ansätzen anhand der Darstellung von Joh 1–12 überprüft worden.98 Diese Akzentsetzung der Darstellung in Joh 18–19 bietet damit eine wesentliche Motivation für eine Untersuchung der Prozessmotivik in Joh 1–12.99

97 Dies ist eine in der Forschung bereits häufig geäußerte These, die aber nie detailliert anhand von Joh 1–12 nachgewiesen wurde. So bemerkt etwa SCHNELLE (2016), 345, dass das jüdische Verhör (Joh 11,47–54) bei Joh nur deshalb so kursorisch behandelt werden kann, „weil für ihn der Todesbeschluss Resultat der sich ständig steigernden Auseinandersetzung Jesu mit dem ungläubigen Kosmos ist, die in Kap. 11 ihren Höhepunkt und ihr Ende findet“. Ähnlich auch THYEN (2005), 167, der zu dem bewusst vom Erzähler umgangenen jüdischen Prozess bemerkt: „Während dadurch im Zentrum der traditionellen Passionsgeschichte nun nur noch der dramatische Prozeß Jesu vor Pilatus steht (Joh 18,29–19,22), ist das Gerichtsgeschehen zwischen Jesus und den Juden zur bestimmenden Mitte des gesamten Evangeliums geworden, das unter diesem Aspekt […] tatsächlich als eine Art Prozeßprotokoll unter der Überschrift ‚Jesus on Trial‘ gelesen werden will […].“ Vgl. ferner die Beobachtung von SÖDING (1996), 37 zur Akzentsetzung des Erzählers: „Auf der einen Seite ist ihm das Motiv des Prozesses besonders wichtig. Für Johannes steht Jesus von Beginn seines Wirkens an inmitten harter Auseinandersetzungen über die Legitimität seines Anspruchs, eschatologischer Offenbarer Gottes und damit der absolute Heilsbringer zu sein. Der Evangelist erzählt die gesamte Geschichte des irdischen Jesus als eine Geschichte immer neuer Infragestellungen des Anspruchs Jesu und immer neuer Nötigungen Jesu, sich zu erklären und zu rechtfertigen. […] Der Prozeß gegen Jesus ist die logische Konsequenz. Von Anfang an steht Jesu Wirken im Zeichen der Krisis […]. Das kommt endgültig im Prozeß Jesu zum Vorschein.“ Noch pointierter urteilt KÖSTENBERGER (2009), 439: „The reason why John does not record a Jewish trial is because his entire ministry is a trial (1–12).“ Ähnlich auch PANCARO (1975), 70f.: „In the Johannine view, the ‚trial‘ of Jesus by the Jews […] comes to an end with the public ministry. The ‚condemnation‘ of Jesus runs parallel to his public ministry. […] Jn has transposed the account he received of the trial before Caiaphas into the period of Jesus’ public ministry.“ Auch GNIESMER (2000) entwickelt nach ausführlicher Untersuchung von Joh 18–19 die Vermutung, dass das gesamte Evangelium eine Prozesserzählung ist, kann dies jedoch nur auf wenigen Seiten skizzieren (aaO., 379–385). 98 Dies zeigt beispielhaft die Behandlung der Rechtsstreitmotivik in der johanneischen Theologie von KÖSTENBERGER (2009). Die ausführliche Thematisierung in einem eigenen Kapitel (aaO., 436–456) setzt sich fast ausschließlich mit dem Prozess vor Pilatus in Joh 18– 19 auseinander. Dass auch die Kapitel in Joh 1–12 einen wesentlichen Beitrag zu dieser Thematik leisten, wird zwar angedeutet (siehe die Zitate oben in Anm. 97), aber weder begründet noch ausgeführt. Die Darstellung von Köstenberger ist in dieser Hinsicht repräsentativ für eine Vielzahl von Studien, wie der Forschungsüberblick in Kapitel I,1 zeigt. 99 Trotz der ausführlichen Thematisierung in seiner johanneischen Theologie beurteilt KÖSTENBERGER (2009), 442 diese These als noch nicht gesichert („It is hard to be certain“).

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12 Die Untersuchung des Prozesses in Joh 18–19 ergab, dass die Prozessmotivik in der theologischen Akzentsetzung des vierten Evangeliums einen besonderen Stellenwert einnimmt. Ferner finden sich anstelle eines jüdischen Prozesses in Joh 18,19–24 zahlreiche intratextuelle Verweise auf den ersten Teil des Evangeliums. In diesem Abschnitt wird untersucht, ob die Prozessmotivik in Joh 1– 12 eine so wesentliche Bedeutung hat, dass sie die intratextuellen Rückverweise erklärt. Diese erste Bestandsaufnahme dient sowohl dazu, den Stellenwert der Prozessmotivik in Joh 1–12 zu bemessen, als auch zur Identifikation relevanter Passagen, die im weiteren Verlauf der Untersuchung in den Blick genommen werden sollen. Der Motivkomplex des forensischen Prozesses in Joh 1–12 wird in diesem Abschnitt als metaphorisches Netzwerk untersucht.1 Als solches liegt ein Motiv in einer Häufung unterschiedlicher und miteinander verbundener Metaphern, Symbole und Motive vor.2 Die Untersuchung beschränkt sich daher auf eine erste Annäherung, bei der die wichtigsten Lexeme und Semanteme eruiert werden, die sich nach der Untersuchung des literarischen Prozess-Settings griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Gerichtsprozesse3 als besonders zentral erwiesen. Anschließend erfolgt eine Bestandsaufnahme in Bezug auf die symbolischen forensischen Rollen, Verweise auf den alttestamentlichen Rechtsstreit, sonstige forensisch konnotierte Bildersprache sowie den Zusammenhang zwischen Rechtsstreitmotivik und narrativer Struktur im Johannesevangelium.

2.1. Wichtige Lexeme und Semanteme Eine Erhebung der forensisch konnotierten Semanteme eignet sich als Annäherung, um die Präsenz von Rechtsstreit- und Prozessmotivik durch seman1

Siehe zum Begriff Kapitel I,3.2 und die wegweisenden Untersuchungen von VAN DER WATT (2000) und ZIMMERMANN (2009). 2 VAN DER WATT (2000), 382–392 hat bereits zentrale Motive und Metaphern der Prozessmotivik genannt und die Existenz der Motivik als metaphorisches Netzwerk demonstriert. 3 Siehe Kapitel II,1.4.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

tische Konzentrationen zu ermitteln. 4 Im Johannesevangelium finden sich 5 zahlreiche Termini der Prozesssprache,6 von denen die Derivate von μαρτυ* (47 Belege) und κρι* (30 Belege) die meisten Belege aufweisen und damit von hervorgehobener Bedeutung sind.7 Von den Lexemen der Wortwurzel μαρτυ* sind bei Joh nur die Lexeme μαρτυρία und μαρτυρέω belegt,8 die zusammen ein weites Spektrum an Konnotationen innerhalb der Zeugnis-Wortgruppe abdecken.9 Sie gelten nicht nur im säkularen Sprachgebrauch als gerichtliche termini technici,10 sondern werden auch bei Joh vorwiegend im juristischen Sinne

4 Die im Folgenden analysierten Semanteme sind damit kein eigenständiger Erweis des forensischen Charakters des Johannesevangeliums, sondern fungieren vielmehr als termini technici, die auf die Existenz juristischer Sprache und die Existenz forensischer Motive und Topoi hinweisen, die in den folgenden Abschnitten näher untersucht werden. 5 Sämtliche Erhebungen dieses Kapitels wurden mit LOGOS 7 (2018) und BIBLEWORKS 10 (2017) durchgeführt. 6 Vgl. für eine Sammlung forensischer Termini der Prozesssprache BEUTLER (1972), 150; TRITES (1977), 80 sowie die ausführliche Auflistung prozessrechtlicher Begriffe bei BORMANN (2001), 193–195. 7 Vgl. dazu auch MCHUGH (2009), 25, der in diesen häufig vertretenen Termini zu Recht das Vokabular des Rechtsstreites erkennt: „The Fourth Gospel frequently uses the vocabulary of litigation, reminding its reader especially of bearing witness (μαρτυρία, 14 times; μαρτυρεῖν 33 times) and of judgment (κρίνειν, 19 times; κρίσις, 11 times).“ Nach der Darstellung von JOHNS/MILLER (1994), 522 sind diese vier Lexeme als alleinige Vertreter der Derivate von μαρτυ* und κρι* die Hauptelemente („main elements“) der juristischen Motivik bei Joh und werden als „the gospel’s framing motif“ bezeichnet. 8 Nicht belegt sind dagegen bei Joh andere Lexeme der Wortwurzel, die in den übrigen ntl. Büchern mehrfach belegt sind. Dies umfasst die im NT häufiger belegten Lexeme μάρτυς (35x), μαρτύριον (19x), διαμαρτύρομαι (15x), die im NT nur vereinzelt belegten Lexeme ψευδομαρτυρέω (5x), καταμαρτυρέω (3x), συμμαρτυρέω (3x), ψευδομαρτυρία (2x) ψευδόμαρτυς (2x) sowie die Hapax legomena ἀμάρτυρος, ἐπιμαρτυρέω, προμαρτύρομαι und συνεπιμαρτυρέω. Am auffälligsten ist das Fehlen von μάρτυς bei Joh, siehe dazu aber Anm. 9. 9 So ist im Johannesevangelium inhaltlich häufig von Zeugen, Zeugnissen oder einem anklagenden Bezeugen die Rede, ohne dass dafür die Lexeme μάρτυς, μαρτύριον und καταμαρτυρέω verwendet würden. Ähnliches lässt sich zu anderen Spezialausdrücken der Zeugniswortgruppe feststellen. Dieser Befund entspricht der johanneischen Stilistik einer einfachen, auf wenige Lexeme begrenzten Ausdrucksweise, die aber dennoch durch Verwendung in unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen das breite Bedeutungsspektrum anderer Ausdrücke mit übernimmt (vgl. zur Diskussion auch BOICE [1970], 25f.). 10 Siehe hierzu Kapitel II,1.4.3. sowie BEUTLER (1972), 44f.; COENEN (2005), 1762. Nach STRATHMANN (1966), 479–486 dominiert sowohl im Profangriechischen sowie in der LXX der juristische Gebrauch. Ebenso auch BAUCKHAM (2008), 122: „In Greek the μαρτυρέω word group has a primarily legal meaning and, when used outside a literal courtroom context, constitutes a legal metaphor.“ Ähnlich bemerken auch JOHNS/MILLER (1994), 522 zu den Lexemen μαρτυρία und μαρτυρέω: „As used in secular Greek and in the LXX, they are most commonly found in the legal sphere […].“

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

115

gebraucht.11 Trotz der Beschränkung auf zwei Lexeme zeigt sich mit insgesamt 47 Belegen (33 Belege für μαρτυρέω; 14 Belege für μαρτυρία) eine sehr auffällige Konzentration im Vergleich zu anderen neutestamentlichen Büchern.12 Ähnlich deutlich ist das Übergewicht sämtlicher Derivate der Wortwurzel μαρτυ*13 bei Joh im Vergleich zu den Belegen im Neuen Testament,14 den alttestamentlichen Pseudepigraphen, 15 Philo, 16 Josephus, 17 apokryphen neutes11

Während μαρτυρέω auch die Feststellung einer Tatsache oder einer feierlichen Versicherung haben kann (JOHNS/MILLER [1994], 522; BULTMANN [1986], 30), steht bei den Belegen in Joh stets die juristische Bedeutung ‚Zeugnis ablegen‘ bzw. ‚zeugen‘ im Vordergrund. μαρτυρία findet sich sogar ausschließlich in juristischer Konnotation. Siehe zu diesem Befund VON WAHLDE (2010), 5; MCHUGH (2009), 24; ebenso auch BULTMANN (1986), 30; „μαρτυρέω (μαρτυρία, μάρτυς) hat durchweg den (juristischen) Sinn: durch seine Aussage einen in Frage stehenden Tatbestand als wirklich (bzw. unwirklich) bezeugen.“ 12 Mit 47 Belegen sind μαρτυρία und μαρτυρέω bei Joh weit häufiger belegt als in den synoptischen Evangelien (1 Beleg bei Mt, 3 Belege bei Mk, 2 Belege bei Lk), der Apostelgeschichte (12 Belege) sowie im übrigen NT (in den Briefen von Röm bis Phlm finden sich jeweils weniger als 2 Belege, in Hebr dagegen 8 Belege; die Briefe Jak, 1–2Petr und Jud sind ohne Beleg). Eine Sonderstellung bilden auch die übrigen Schriften des Corpus Johanneum (17 Belege in 1–3Joh und 13 Belege in der Apk). 13 Berücksichtigt wurden Belege von *μαρτυ*, wobei der Asteriskus für beliebige Zeichen steht. 14 Trotz der Beschränkung der Wortgruppe μαρτυ* auf die zwei Lexeme μαρτυρία und μαρτυρέω im Johannesevangelium finden sich mit 47 Belegen im vierten Evangelium deutlich mehr Belege als in den anderen ntl. Büchern außerhalb des Corpus Johanneum in Bezug auf die gesamte Wortgruppe. So finden sich bei Joh fast viermal so viele Belege der Wortgruppe μαρτυ* wie in Mt (12 Belege) und Mk (11 Belege) und mehr als fünfmal so viele wie in Lk (9 Belege). Ein ähnlicher Befund zeigt sich im Vergleich mit den ntl. Briefen außerhalb des Corpus Johanneum (in Hebr 13 Belege, in den übrigen Briefen jeweils weniger als 6 Belege). Sehr häufig ist dagegen die Wortgruppe in der Apg belegt (39 Belege), in der sich jedoch der Gebrauch einer besonderen Bedeutung im Sinne des frühchristlichen Zeugnisses herausbildet (vgl. dazu COENEN [2005], 1767). Nur im übrigen Corpus Johanneum (1– 3Joh und Apk) finden sich mit 46 Belegen der gesamten Wortgruppe ähnlich viele Belege wie im Johannesevangelium. 15 In der griechischen Textausgabe von PENNER/HEISER (2008) zu den alttestamentlichen Pseudepigraphen finden sich die meisten Belege in TestLev und Arist (jeweils 5 Belege), in allen übrigen Schriften dagegen finden sich jeweils nicht mehr als 2 Belege der Wortgruppe. 16 Die meisten Belege finden sich in Phil LA II (25 Belege), die sich allerdings naturgemäß durch die Behandlung des mosaischen Gesetzes in Phil LA III 208–228 ergeben. Ebenfalls auf die dezidierte Gesetzesabhandlung zurückgehend finden sich auch in Philo spec. IV (15 Belege) und Philo decal. (11 Belege) gehäufte Vorkommen. In allen übrigen Schriften Philos ist die Wortgruppe mit Ausnahme von Philo det.; Philo post. (jeweils 13 Belege) jedoch nie mehr als mit 10 Belegen präsent. 17 Berücksichtigt sind hier und im Folgenden nur die Hauptwerke Flav.Jos.Ant. und Flav.Jos.Bell. In den einzelnen Büchern von Flav.Jos.Ant., die den Umfang des Johannesevangeliums teilweise um ein Vielfaches übersteigen, finden sich (mit Ausnahme der 17 Belege von Flav.Jos.Ant. IV als Abhandlung über das mosaische Gesetz) nie mehr als 10 Belege (so in Flav.Jos.Ant. XIV) der Wortgruppe. In Flav.Jos.Bell. findet sich nur in

116

Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

tamentlichen Evangelien18 und den Apostolischen Vätern19 (vgl. Tab. 1). Obwohl (oder gerade weil) diese Derivate bei Joh auf nur zwei Lexeme begrenzt sind, kann von einem signifikanten Aufkommen gesprochen werden. Textkorpus

Johannesevangelium Synoptische Evangelien Neues Testament (ohne Corpus Johanneum) Apostolische Väter Philo Josephus Atl. Pseudepigraphen Apokryphe ntl. Evangelien

Höchstzahl an Belegen pro Buch für die Wortwurzel μαρτυ* 20

Höchstzahl an Belegen pro Buch für μαρτυρέω und μαρτυρία21

47 12 39

47 3 12

18 13 10 5 3

11 8 7 2 1

Tab. 1: Belege der Wortgruppe in verschiedenen Textkorpora.

Noch deutlicher ist der Befund, wenn der Vergleich nicht auf Derivate von μαρτυ*, sondern auf die beiden Lexeme μαρτυρέω oder μαρτυρία beschränkt wird (vgl. Tab. 1).21 Die Häufigkeit der Belege im Johannesevangelium überFlav.Jos.Bell I eine Anzahl von 6 Belegen, in den anderen Büchern jeweils weniger als 4 Belege. 18 In der griechischen Textausgabe von BRANNAN (2013) zu apokryphen neutestamentlichen Evangelien, Fragmenten und Agrapha finden sich 3 Belege nur in den ActPil, in allen übrigen Schriften nicht mehr als 2 Belege der Wortgruppe. 19 Aus inhaltlichen Gründen sticht MartPol mit 18 Belegen heraus, mit Ausnahme von 1Clem (16 Belege) und Pap (7 Belege) weisen die übrigen Schriften jeweils weniger als 5 Belege auf. 20 Die Belege beziehen sich jeweils auf das Buch im jeweiligen Textkorpus mit den meisten Belegen bezogen auf eine Suche nach *μαρτυ*. Ausgenommen sind nur die in Anm. 22 genannten Bücher mit dezidierter Behandlung atl. Gesetzestexte; siehe dort die Anzahl der Belege. Die in der Tabelle angegebene Höchstzahl an Belegen finden sich für die jeweiligen Textkorpora in den Büchern Mt (synoptische Evangelien), Apg (Neues Testament), MartPol (Apostolische Väter), Philo det. bzw. Philo post. (Philo), Flav.Jos.Ant. XIV (Josephus), TestLev bzw. Arist (atl. Pseudepigraphen) und ActPil (apokryphe ntl. Evangelien); siehe dazu die Einzelbefunde in Anm. 14–19. 21 Berücksichtigt wurden Belege der Lemmata μαρτυρέω und μαρτυρία in einer Suche mit nicht-ausschließender Disjunktion. Die Angabe bezieht sich jeweils auf das Buch mit den meisten Treffern im jeweiligen Textkorpus. In den apostolischen Vätern finden sich 11 Belege in 1Clem, während selbst in MartPol nur noch 9 Belege begegnen. Bei Philo finden sich (mit Ausnahme der Behandlung des Gesetzes in Philo LA III; siehe dazu Anm. 16) nie mehr als 8 Belege (so in Philo post.). Im Neuen Testament findet sich außerhalb des Corpus Johanneum die Höchstzahl der Belege in Apg (12 Belege). Auffallend ist

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

117

steigt sogar Texte, in denen sich dezidierte Gesetzesabhandlungen oder -wiedergaben und eine damit zwangsläufig einhergehende Häufung forensischer Lexeme finden.22 Diese Überrepräsentation der Wortgruppe im Johannesevangelium als einem Text, der keine dezidiert rechtliche Abhandlung darstellt, sondern die Lesenden zum Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes führen will (Joh 20,31), wirft die Frage nach der Funktion dieser signifikanten Häufung auf. Dass die Mehrzahl der Belege im Johannesevangelium nicht in Erzählerkommentaren, sondern in Charakter- und Erzählerrede steht, schließt aus, dass es sich um eine systematische Abhandlung handelt, und lässt vermuten, dass die Wortgruppe Anzeichen für ein forensisches Motiv ist. Auffällig ist auch die kontextuelle Verwendung der Belege. Von den insgesamt 33 Belegen von μαρτυρέω finden sich 26 Belege in Joh 1–12 (davon allein 24 in Joh 1–8; vgl. zur Verteilung Abb. 4). 12

μαρτυρέω

10

μαρτυρία

8 6 4 2 0 Joh 1

Joh 2

Joh 3

Joh 4

Joh 5

Joh 7

Joh 8

Joh 10 Joh 12 Joh 18

Abb. 4: Belege von μαρτυρία und μαρτυρέω in Joh 1–12 und Joh 18.

Ein ähnlicher Befund zeigt sich für die insgesamt 14 Belege von μαρτυρία, von denen sich 12 Belege in Joh 1–12 finden (alle davon in Joh 1–8). Dabei zeigt sich eine Überschneidung der Kontexte bei der Verwendung beider Lexeme: Von den 14 Belegen von μαρτυρία fällt in 13 Fällen das Lexem μαρτυρέω entweder im selben Satz (in 10 Fällen) oder im unmittelbaren Kontext (in 3 Fällen insbesondere die geringe Anzahl von Belegen in den Evangelien (1 Beleg in Mt, 2 Belege in Lk; 3 Belege in Mk). Bei Josephus finden sich in den einzelnen Büchern von Flav.Jos.Ant. und Flav.Jos.Bell. nie mehr als 7 Belege (so nur in Flav.Jos.Ant. XIV). In den atl. Pseudepigraphen ist die Höchstzahl an Belegen auf 2 Belege in TestAbr und PsSal. (Ausgabe von PENNER/HEISER [2008]) beschränkt, in den neutestamentlichen Apokryphen auf jeweils einen Beleg in Protev und ActPil (Ausgabe von BRANNAN [2013]). 22 So etwa Phil LA II 208–228 (25 Belege), Philo spec. IV (15 Belege), Philo decal. (11 Belege) oder Flav.Jos.Ant. IV (17 Belege).

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

innerhalb von 10 Worten vor oder nach μαρτυρία).23 Damit ist μαρτυρία ausnahmslos Näherbestimmung zu μαρτυρέω und gibt den Inhalt oder die Tatsache des Zeugnisses an.24 Inhaltlich wird μαρτυρία sowohl für das Zeugnis anderer für Jesus (Joh 1,7.19; 5,32; 19,35; 21,24) als auch für das von Jesus selbst geäußerte Zeugnis (Joh 3,11.32.33; 5,31.36; 8,13.14) gebraucht. 25 Wo sich mehrfache Belege von μαρτυ* im selben Kontext häufen, fallen diese jeweils innerhalb weniger Verse und zeigen damit Abschnitte an, in denen das Zeugnisthema von maßgeblicher Bedeutung ist (Joh 1,7–8.15; 1,19–34; 3,11–33; 4,39–44; 5,31–39; 8,13–18). Hinsichtlich der verwendeten Tempora bezieht sich μαρτυρέω in Joh 1–12 immer auf ein gegenwärtiges (16-mal im Präsens; 4-mal im Perfekt) oder vergangenes (5-mal Aorist, 1-mal Imperfekt), nie aber ein zukünftiges Zeugnis.26 Diese Verwendung weist insbesondere in Kontexten, in denen die forensische Konnotation des Lexems vorherrscht,27 auf einen bereits in Joh 1–12 ausgetragenen Rechtsstreit hin. 28 Auffällig ist auch die Konzentration auf das Wort-Zeugnis;29 nur vereinzelt findet sich ein Tat- oder Schriftzeugnis.30 Dass dabei im Wort-Zeugnis die eigentlich forensische Konnotation im Vordergrund steht, zeigt sich anhand der direkten Verbindung von μαρτυρέω mit ἀληθής (5,32; 8,13.14.18), ἀλήθεια (5,33; 18,37), ὁράω (1,34; 3,11.32; 19,35), ἀκούω (3,32) und οἶδα (3,11; 5,32) oder anderen forensisch konnotierten Semantemen im direkten Kontext.31 Ein ausgeprägtes johanneisches Stilmerkmal ist die grammatische Konstruktion μαρτυρέω + περί, die sich an 16 der 26 Belege von μαρτυρέω in Joh 1–12 findet.32 Die Konstruktion zeichnet sich durch ihre fehlende inhalt23 Einzige Ausnahme ist die Verwendung in Joh 1,19, die sich jedoch inhaltlich auf μαρτυρέω in Joh 1,7.8 bezieht. 24 Vgl. zur Bedeutung auch TRITES (1977), 11; BEUTLER (1972), 45.61f. 25 Vgl. dazu auch VON WAHLDE (2010), 5; JOHNS/MILLER (1994), 523. 26 Einziger Verweis auf ein zukünftiges Zeugnis im ganzen Evangelium ist Joh 15,26 mit Verweis auf den zukünftigen παράκλητος. 27 Diese steht in den Verwendungen in Joh 5–8 eindeutig im Vordergrund. Dies gilt jedoch nicht für alle Stellen, wie die Verwendung in Joh 4,39.44 zeigt. 28 Die Verwendung widerspricht damit der These von ASIEDU-PEPRAH (2001), dass es sich in Joh 1–12 nur um einen bilateralen Rechtsstreit handelt, bei dem Zeugen nur im Blick auf einen zukünftigen, trilateralen Rechtsstreit bereits im Voraus genannt werden. 29 So etwa in Joh 1,15.32.34; 3,11.26.28.32; 4,39.44; 5,31.33.37; 8,13.14.18; 12,17; 18,23.37. Vgl. auch die dezidierte Verbindung mit λέγω (Joh 1,15.32; 3,28; 4,39; 8,14) oder λόγος (4,39). 30 Zweimal werden die Werke des Vaters (5,36; 10,25), einmal die Schriften (5,39) und einmal das im Evangelium niedergeschriebene Wort (21,24) als Zeugnis bezeichnet. 31 Siehe zum Topos des zuverlässigen Zeugen als Augen- und Ohrenzeuge, der aus eigenem Wissen die Wahrheit vor Gericht bezeugt, die Ausführungen in Kapitel II,1.4.3. 32 Dies sind Joh 1,7.8.15; 2,25; 5,31.32[2x].36.37.39; 7,7; 8,13.14.18[2x]; 10,25. Im ganzen Evangelium wird sie in 19 der 33 Belege von μαρτυρέω und damit in mehr als der Hälfte der Fälle verwendet. Dieser Befund fällt insbesondere vor dem Hintergrund auf, dass die

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

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liche Präzision33 in Bezug auf Inhalt, Empfänger oder die Funktion des Zeugnisses aus und führt damit zu einer ausgeprägten Ambivalenz der Ausdrucksweise. Dass diese Ambivalenz sehr absichtsvoll eingesetzt wird und nicht etwa als stereotype Redewendung verstanden werden darf, beweist nicht nur die Vielfalt anderer belegter grammatischer Konstruktionen im Evangelium, 34 sondern auch die außerhalb von Joh deutlich selteneren Belege der Konstruktion.35 Insbesondere lässt die Konstruktion offen, ob das Zeugnis im Kontext forensisch als Anklage oder Verteidigung fungiert.36 Die damit einhergehende Ambivalenz hinsichtlich der forensischen Funktion fällt mit der Tatsache zusammen, dass sich die Konstruktion mit περί in Joh 1–12 nie auf eine propositional formulierte Aussage als Zeugnisinhalt, sondern bis auf zwei Ausnahmen37 immer auf Jesus als Person bezieht. Dieser Befund lässt vermuten, dass die gesamte Zeugnisthematik ihren zentralen Platz in einer forensischen Auseinandersetzung um die Person Jesus hat und damit der Zielsetzung des Evangeliums (Joh 20,31) durch die Motivik des Rechtsstreites dient. Konstruktion außerhalb von Joh im NT nicht belegt ist. Siehe zu diesem Befund und der Bezeichnung der Konstruktion als „johanneisches Stilmerkmal“ auch BEUTLER (1972), 171.223; vgl. ferner MCHUGH (2009), 25. 33 Mit περί wird entweder der Inhalt des Zeugnisses oder die Person, über die das Zeugnis geäußert wird, beschrieben (BEUTLER [1972], 45). 34 So wird μαρτυρέω auch absolut gebraucht (Joh 1,32; 12,17; 19,35) oder mit ὅτι und folgendem konkreten Zeugnisinhalt (1,34; 4,39.44; v.l. in 12,17), dem Akk. als Inhalt (3,11.32) sowie dem Dativ als Person, der Zeugnis gegeben wird (3,26.28) oder der Sache als Dativ comm. (5,33, 18,37) verbunden. Siehe zu den grammatischen Konstruktionen auch die ausführliche Studie von BEUTLER (1972). 35 Nach BEUTLER (1972), 227 fehlen griechische Parallelen aus neutestamentlicher Zeit „so gut wie vollständig“. 36 Dies ist eindeutiger bei Konstruktionen, die den konkreten Inhalt des Zeugnisses als Aussage mit ὅτι oder dem Akk. anschließen. BEUTLER (1972), 49 spricht daher davon, dass die Konstruktion „[n]eutral bleibt“ und in juristischem Gebrauch nur „generell die Person an[gibt], auf die sich ein (be- oder entlastendes) Zeugnis bezieht“. Die Ambivalenz zeigt sich etwa in der Verwendung in Joh 2,25, bei der ein Zeugnis περὶ τοῦ ἀνθρώπου im Kontext eindeutig negativ konnotiert ist und zu einem Zeugnis gegen den Menschen wird, ebenso wird das Zeugnis über (περί) den κόσμος in Joh 7,7 zum Bezeugen der Schuld der Welt (vgl. ὅτι τὰ ἔργα αὐτοῦ πονηρά ἐστιν in 7,7). Die Konstruktion mit περί unterscheidet sich darin vom Dativ comm., der immer ein Zeugnis zugunsten einer Sache oder Person bezeichnet (BEUTLER [1972], 48). Dennoch kann sie auch im Sinne einer positiven Beglaubigung zugunsten einer Person fungieren, wie das Zeugnis der Schriften über Jesus (περὶ ἐμοῦ, Joh 5,39) und das Zeugnis der Werke (τὰ ἔργα ἃ ποιῶ μαρτυρεῖ περὶ ἐμου, Joh 5,36) belegen. Die Konstruktion mit περί bezeichnet damit primär den thematischen Inhalt des Zeugnisses, ohne die forensische Funktion des Zeugnisses im Kontext zu spezifizieren. Die Bezeugung über (περί) eine Person kann sich daher, abhängig davon, ob die Person als Ankläger oder Angeklagter auftritt, in einer Anklage oder Verteidigung finden. 37 Die Ausnahmen sind Joh 2,25 als Zeugnis über den Menschen und Joh 7,7 als Zeugnis über die Welt.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

Die Verwendung von μαρτυρία und μαρτυρέω wird von anderen Begriffen aus dem Prozesswesen begleitet. Dies zeigt sich am deutlichsten in der häufigen Verwendung der stets zusammen vertretenen Lexeme κρίνω (19 Belege) und κρίσις (11 Belege), die sich entweder in Kontexten finden, die zugleich eine Häufung der Zeugnisthematik aufweisen (Joh 3,17–19; 5,22–24; 7,24–51; 8,15–50), oder in Passagen begegnen, die auf andere Weise eindeutig forensisch geprägt sind (in 12,47–48 im Kontext des eschatologischen Gerichts; in 18,31 im Kontext des Prozesses vor Pilatus). Ähnlich wie im Fall der Zeugniswortgruppe konzentrieren sich diese Belege auffällig stark in Joh 1–12 und Joh 1838 (vgl. Abb. 5) und verleihen damit der Darstellung in Joh 1–12 einen ausgeprägt forensischen Charakter.39 8

κρίνω

7

κρίσις

6 5 4 3 2 1 0 Joh 3

Joh 5

Joh 7

Joh 8

Joh 12

Joh 18

Abb. 5: Belege von κρίνω und κρίσις in Joh 1–12 und Joh 18.

Außer κρίμα (Joh 9,39) finden sich keine weiteren Derivate der Wortwurzel κρι*; damit sind die Belege ähnlich wie bei μαρτυ* auf hauptsächlich zwei Lexeme begrenzt.40 Im Falle von κρίνω ist dabei jeweils im Kontext zu erschließen, ob an die abstrakte Bedeutung von ‚Gericht‘ bzw. ‚richten‘ oder ein konkret-negatives ‚Urteil‘ bzw. ‚verurteilen‘ gedacht ist.41 Vereinzelt zeigen weitere Lexeme aus einem juristischen Bedeutungskontext den forensischen Charakter der johanneischen Darstellung.42 Dazu gehören κατηγορέω (zweimal in Joh 5,45; daneben in der pericope adulterae in 38

In Joh 13–17 und Joh 19–21 findet sich nur ein Beleg κρίνω (16,11) und zwei Belege von κρίσις (Joh 16,8–11). 39 Vgl. RISSI (2011), 793: „Eigenartiges Gewicht erhält der Gerichtsgedanke […].“ 40 Nicht belegt sind διακρίνω, κριτής, ἀνακρίνω, κατάκριμα, κριτήριον, ἀκατάκριτος, κατάκρισις, ἀνάκρισις, δικαιοκρισία, κριτικός; κατακρίνω ist nur in der pericope adulterae belegt (Joh 8,10; in Joh 8,11 zudem nur als v.l.). 41 Vgl. zu diesen unterschiedlichen Bedeutungen BAUER (1988), 917f.; RISSI (2011), 787–794. 42 Vgl. zu den folgenden Lexemen auch TRITES (1977), 80f.

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

121

Joh 8,6)43 und κατηγορία (Joh 18,29) als Kennzeichnung einer juristischen Anklage sowie νόμος als Rechtsgrundlage (Joh 7,19[2x].23.49.51; 8,17; 10,34; 18,31; 19,7[2x]; vgl. auch 8,5).44 Daneben werden andere Lexeme verwendet, die in forensischen Kontexten als juristische termini technici fungieren können.45 Eine solche Verwendung liegt etwa bei διώκω als Ausdruck juristischer Strafverfolgung (Joh 5,16; 15,20[2x])46 sowie mit πιάζω als der folgenden Verhaftung (Joh 7,30.32.44; 8,20; 10,39; 11,57) 47 vor. Mit ἐρωτάω (Joh 1,19.21.25; 5,12; 9,15.19.21; 18,19.21[2x]), εὑρίσκω48 (Joh 2,14; 18,38; 19,4.6), ἀρνέομαι (Joh 1,20; 13,38; 18,25.27) und ὁμολογέω (Joh 1,20[2x]; 9,22; 12,42)49 werden ferner Begriffe des juristischen Verhörs verwendet. 50 Dazu korrespondierend wird neben ἀπόκρισις (Joh 1,22; 19,9) mit der medialen Aoristform ἀπεκρίνατο (anstelle der sonst verwendeten Passivform ἀπεκρίθη) in Joh 5,17.19 eine Form verwendet, die die technische Bedeutung einer Antwort vor Gericht hat.51 43 κατηγορέω wird bei BORMANN (2001), 194 und BEUTLER (1972), 150 als Terminus der Prozesssprache genannt. 44 Vgl. ferner die juristisch konnotierte Verwendung von γραφή in Joh 5,39; 10,35 sowie von γράμματα in Joh 5,47. 45 Vgl. dazu auch LINCOLN (2000), 81; BIETENHARD/HAACKER (2005), 741f. 46 Siehe hier SOPHOCLES (1900), 390: „To charge with, accuse of“; LIDDELL/SCOTT (1996), 440: „accuse of …, prosecute for“ und „accuse one of doing“; BORNHÄUSER (1928), 36: „vor Gericht stellen“ (gegen OEPKE [1967], 233); vgl. ferner ASIEDU-PEPRAH (2001), 74. Es handelt sich bei der Verwendung in Joh 15,20 um eine interne Analepse auf die in Joh 5,16 erzählte Strafverfolgung. Damit beziehen sich alle Belege auf ein Vorgehen der Strafverfolgung in Joh 5 und somit vor dem eigentlichen Prozess in Joh 18–19. 47 In nicht technischem Sinn begegnet πιάζω ferner in Joh 21,3.10. Als juristischer Begriff meint πιάζω ‚verhaften‘ (BALZ/SCHNEIDER [2011], 204) oder ‚gefangen nehmen‘ (BAUER [1988], 1323; LIDDELL/SCOTT [1996], 1402) und ist in dieser Bedeutung im NT neben sechs Belegen im Johannesevangelium nur noch zwei weitere Male (Apg 12,4; 2Kor 11,32) vertreten. 48 Nach BAUER (1988), 658 wird damit das „Ergebnis e. gerichtl. Untersuchung“ (mit explizitem Verweis auf Joh 18,38; 19,4.6) bezeichnet; ähnlich BAUER/DANKER (2000), 412 mit weiteren Belegen; ausführlich auch PEDERSEN (2011), 211 (mit ausführlicher Diskussion ntl. Belege): „In der Gerichtssprache gibt εὑ. die Schlußfolgerung an aus der vorausgehenden Untersuchung eines Sachverhaltes, einer Anklage (αἰτία) oder einer Streifrage (ζήτησις/ζήτημα).“ Vgl. ferner THAYER (1889), 262 sowie GÄRTNER/AVEMARIE (2005), 1681, nach denen der Terminus die „Frage nach der Schuld im Prozeß“ verweist. 49 Nach BAUER (1988), 1152 bedeutet ὁμολογέω „in der Gerichtssprache ein Geständnis ablegen, eine Aussage machen“. Vgl. zu ὁμολογέω und ἀρνέομαι als forensischem Gegensatzpaar auch HOFIUS (2011), 1257. 50 Vgl. dazu WEINRICH (2015), 201; KLINK (2016b), 126. 51 Die attische Form ἀπεκρίνατο ist in der Koine bereits selten geworden und fällt damit auf (BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF [2001], 62). In allen Belegen im NT trägt die Form ἀπεκρίνατο (die mediale Form des Aorists von ἀποκρίνομαι ist im NT nur in der 3. Pers. Sing. belegt) den Ton einer förmlichen oder gerichtlichen Erklärung (etwa in Mt 27,12; Mk 14,61; Lk 23,9 als Antwort im Verhör Jesu vor dem Synedrium, ähnlich auch

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

Lexeme der Überführung und Schuld sind mit ἐλέγχω (Joh 3,20; 8,46; 16,8)52 und αἰτία (Joh 18,38; 19,4.6)53 ebenfalls präsent. Eine Vielzahl weiterer Begriffe lässt sich ferner einzelnen Tatvorwürfen54 sowie der Urteilsvollstreckung55 zuordnen oder gehört in anderer Hinsicht in den weiteren Kontext des Rechtsstreites.56 Überblickt man die Menge der oben genannten stark forensisch konnotierten Semanteme, so zeigt sich eine Häufung von Rechtsstreitvokabular in wenigen Passagen. Durch die engen inhaltlichen Verbindungen entsteht ein semantisches Netzwerk, bei dem insbesondere die Semanteme μαρτυρία, μαρτυρέω, κρίνω und κρίσις im Mittelpunkt stehen und Abhängigkeiten in der Verwendung der wichtigsten Lexeme erkennbar werden (vgl. Abb. 6). Die forensischen Semanteme sind auf paradoxe Weise mit den forensischen Rollen verknüpft. So sind die Juden das Subjekt von διώκω und ἐρωτάω, während folgerichtig Jesus das Subjekt von ἀπεκρίνατο ist. Insofern dabei die Juden als Ankläger fungieren, wären die Juden auch als Subjekt von μαρτυρέω und κρίνω in den beiden übrigen Belegen in Lk 3,16 und Apg 3,12). MOULTON/MILLIGAN (2004), 64 bemerken daher: „This latter, so overwhelmingly predominant in NT, is rather surprisingly uncommon in the non-literary Κοινή. […] For the middle aorist occurs very often in papyri, but they are without exception legal reports, in which ἀπεκρείνατο (so usually – also ptc. or inf.) means ‚replied‘, of an advocate or a party in a suit. […]. So we may take its meaning throughout as being (1) ‚uttered solemnly‘, (2) ‚replied in a court of law‘. These two meanings cover all the NT passages […].“ Moulton/Milligan sprechen ferner von einem „fairly legal use“ (aaO., 64). Siehe für ähnliche Schlussfolgerungen zur Verwendung in Joh 5,17.18 auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 75f.; BULTMANN (1986), 182; THYEN (2005), 307. 52 Siehe zur forensischen Bedeutung BEUTLER (1972), 150; SILVA (2014a), 164–167. Insbesondere in atl. Passagen des prophetischen Rechtsstreites wird das Lexem in der LXX im juristischen Sinne verwendet (SILVA [2014a], 165). Es wird ferner im Frühjudentum und im NT für die überführende Funktion von Zeugen gebraucht (aaO., 165f.). 53 Nach BAUER (1988), 50 ist αἰτία ein terminus technicus der Rechtssprache und kann je nach Kontext ‚Schuld‘, ‚Klagegrund‘ oder ‚Beschuldigung‘ meinen. 54 Dazu gehören neben allgemeinen Begriffen wie ἁμαρτία (8,21.24[2x].34[2x].46; 9,34.41[2x]; 19,11) bzw. ἁμαρτωλός (9,16.24.25.31) Ausdrücke für ein konkretes Vergehen wie βλασφημία (10,33) bzw. βλασφημέω (10,36), ἀνθρωποκτόνος (8,44), ψεύστης (8,44.55) bzw. ψεῦδος (8,44), λύειν τὸ σάββατον (5,18) bzw. οὐ τηρεῖν τὸ σάββατον (9,16), ποιεῖν σεαυτὸν θεόν (10,33) bzw. ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ (5,18). 55 Ausdrücke des Strafvollzugs und der Urteilsvollstreckung sind λιθάζω (8,5; 10,31.32.33; 11,8), ἀποκτείνω (5,18; 8,22.37.40; 11,53; 18,31) oder ζητέω ἀποκτεῖναι (5,18; 7,1.19.20.25). 56 Dazu gehören neben einer Vielzahl von Ausdrücken der Tatbewertung wie φαῦλα πράσσων (3,20; 5,29), ποιῶν τὴν ἀλήθειαν (3,21), ποιεῖν τὸν νόμον (7,19) auch die Bezeichnung von Personengruppen mit juristischer Funktion wie ἱερεῖς καὶ Λευῖται (1,19) oder ὑπηρέται (7,32.45.46; 18,3.12.18.22.36; 19,6). Die hohe Anzahl von Begriffen mit kontextbedingter forensischer Konnotation macht eine Eingrenzung des relevanten Vokabulars schwierig. Nach der oben gegebenen ersten Erhebung forensischer Semanteme kann eine genaue Identifizierung weiterer Termini aus dem Kontext des Rechtsstreites und Prozesses erst in den Einzeluntersuchungen in Kapitel IV erfolgen.

123

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

zu erwarten. Dies ist jedoch nicht der Fall: Die Belege von μαρτυρέω beziehen sich niemals auf die Juden als Subjekt und beschreiben damit keine Tätigkeit der Juden,57 sind dagegen aber auffällig häufig mit Jesus als Subjekt verbunden oder auf andere Zeugen bezogen, die für Jesus sprechen.58 Dass bei den Belegen von μαρτυρέω im Mund Jesu auch nicht primär an ein Entlastungszeugnis im Sinne einer Selbstverteidigung gedacht ist, zeigt die Tatsache, dass μαρτυρέω stets mit Belegen von κρίνω als Tätigkeit Jesu begleitet wird und somit eher den Charakter eines Belastungszeugnisses bekommt.59

Juden

μαρτυρία κατηγορέω

διώκω

ἐρωτάω

μαρτυρέω

κρίνω κρίμα

κρίσις

ἀπεκρίνατο

Jesus Abb. 6: Semantisches Netzwerk forensischer Semanteme.60

Mit dieser paradoxen Verteilung der forensischen Lexeme zu den Prozessparteien weist das metaphorische Netzwerk insgesamt eine semantische Spannung auf, die auf eine konfliktäre forensische Rollenbelegung hinweist. Betrachtet man die Verteilung der bisher betrachteten forensischen Semanteme im Text des Johannesevangeliums, tritt zum einen eine breite Streuung zutage, die den forensischen Charakter des gesamten Evangeliums demon57

Grammatisch ist μαρτυρέω in der Aufforderung Jesu an die Juden, gegen ihn zu zeugen, in Joh 18,23 mit den Juden als Subjekt verbunden. Die besondere Pointe dieser Aufforderung besteht jedoch darin, dass die Juden ihr gerade nicht nachkommen können und kein Zeugnis geben können (siehe dazu oben Abschnitt 1.1). 58 So wird μαρτυρέω mit Jesus (Joh 3,11; 5,31; 7,7; 8,13.14.18; 18,37), Johannes (Joh 1,7.8.15.32.34; 3,26; 5,33.36), dem Vater (Joh 5,32.37; 8,18), den Werken (Joh 5,36; 10,25) und den Schriften (Joh 5,39) als Subjekt verbunden. 59 So begründet das Zeugnis das Gericht in Joh 5,22–39 und folgt ihm als Konsequenz in Joh 8,13–16. 60 In der Abbildung sind aus der Vielzahl relevanter Termini nur die wichtigsten Semanteme dargestellt. Pfeile zeigen an, welche Semanteme inhaltlich oder kontextuelle die Verwendung eines anderen Semantems nach sich ziehen. Die Unterschiede in der Schriftgröße der dargestellten Semanteme spiegeln die Häufigkeit ihrer Verwendung im Johannesevangelium wider.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

striert.61 Zum anderen zeigt sich in Bezug auf die Häufigkeit eine auffällige Konzentration der Belege im ersten Teil des Evangeliums in Joh 1–12 (vgl. Abb. 7). Anzahl forensischer Semanteme

30 25

Andeutung einer Dramaturgie

20 15 10 5 0

Abb. 7: Verteilung des forensischen Vokabulars im Evangelium.62

Während einige Kapitel gar keine oder nur sehr vereinzelte Belege aufweisen (etwa Joh 2, Joh 6 und Joh 11), zeigt sich in anderen Kapiteln eine auffällige Häufung innerhalb weniger Verse. Die meisten Belege finden sich in der Auseinandersetzung in Joh 5,6–39 sowie in der Auseinandersetzung in Joh 8,13– 50 und damit in den Kapiteln Joh 5–10.63 Diese Verteilung überrascht insofern, als sich in der ersten Hälfte des Evangeliums deutlich mehr Belege einer forensischen Wortwahl finden als in der Beschreibung des Prozesses in Joh 18– 19. Dabei ist die Anzahl forensischer Begriffe in Joh 18–19 nicht unterrepräsentiert, sondern vielmehr in Joh 1–12 deutlich überrepräsentiert.64 Zu Recht 61

Vgl. dazu PFITZNER (1976), 2: „The whole Gospel develops a courtroom scene […]. Thus, as we might expect, John’s vocabulary is full of legal terminology.“ 62 Betrachtet werden die im jeweiligen Kontext eindeutig forensisch konnotierten Semanteme. Wo sich deren Belege innerhalb eines Kapitels auf wenige Verse konzentrieren, ist jeweils der entsprechende Abschnitt anstelle des Kapitels angegeben. Aus kontextuellen Gründen wurde gelegentlich auch innerhalb eines Kapitels eine Zweiteilung zugrunde gelegt (so zwischen Joh 1,1–18 und 1,19–51 sowie zwischen Joh 7,53–8,11 und 8,12–58). 63 MCHUGH (2009), 24f. spricht daher von diesem Teil des Evangeliums als „what we may call the (unofficial) trial of Jesus in Jerusalem, spanning chs. 5–10“. 64 Zu diesem Schluss führt auch ein Vergleich mit den Prozessdarstellungen in den synoptischen Evangelien. Dabei zeigt sich eine ähnliche Anzahl forensischer Begriffe in der Passionsgeschichte, die durchaus mit den fünf Semantemen in Joh 18,19–37 (dreimal μαρτυρέω, einmal κρίνω) vergleichbar sind. So wird in Mk 14,55–61 dreimal μαρτυρία und zweimal die mediale (und nicht passive) Form von ἀποκρίνομαι verwendet. In Lk 22,71–

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

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statuiert daher Stibbe: „This forensic language is clearly used as a unifying, structuring device in the first half of the gospel.“65 Dieser Befund sowie die Tatsache, dass die Verteilung des Vokabulars bereits auf eine innere Dramaturgie hinweist, die ihren Höhepunkt in Joh 5 (und nicht etwa in Joh 18–19) findet, sind Beobachtungen, die nach einer Deutung in der eingehenden narratologischen Analyse verlangen.

2.2. Bestandteile des literarischen Prozess-Settings Die Erhebung von forensisch konnotierten Semantemen kann nur eine Annäherung sein, um die Existenz und Häufung von Rechtsstreit- und Prozessmotivik zu ermitteln. Die dabei analysierten Semanteme sind kein eigenständiger Erweis des forensischen Charakters eines Textes, sondern fungieren vielmehr als termini technici, die auf die Existenz juristischer Sprache und die Aufnahme forensischer Motive und forensischer Bildlichkeit hinweisen. Es ist daher zu fragen, ob die forensische Sprache auch mit forensischen Sachverhalten, Motiven und Handlungen in der Erzählung in Verbindung steht. Dies lässt sich positiv beantworten: Tatsächlich sind forensische Motive griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Gerichtsprozesse im Johannesevangelium an zahlreichen Stellen präsent, wie die folgende Übersicht mit Blick auf die Bestandteile eines literarischen Prozess-Settings zeigt.66 Bereits in der Einführung des Johannes als Zeuge67 (Joh 1,6–8.15) sowie in dessen Befragung (Joh 1,19–27.32) findet sich das Motiv einer gerichtlichen Zeugenvernehmung. 68 Ebenso zeigt die Tempelreinigung (Joh 2,13–21) den 23,9 findet sich einmal μαρτυρία und einmal die mediale Form ἀπεκρίνατο, daneben noch zweimal das retrospektive κρίμα in Lk 23,40; 24,20. Dabei wird μαρτυρία sowohl in Mk als auch in Lk ausschließlich im Verhör vor dem Synedrium gebraucht und ist bei Mt überhaupt nicht belegt. Vor diesem Hintergrund ist der Befund in Joh 18–19 nicht auffällig, als außergewöhnliches Merkmal zeigt sich vielmehr die deutliche Häufung in Joh 1–12. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Joh 1–12 zunächst keinen dezidiert forensischen Kontext erkennen lässt, wie dies in der Prozessdarstellung von Joh 18–19 der Fall ist. 65 STIBBE (1992), 19. 66 Siehe zum literarischen Prozess-Setting Kapitel II,1.4. 67 Das vierte Evangelium stellt nicht ‚Johannes den Täufer‘ vor, sondern ordnet seine Tauftätigkeit in Joh 3,23 deutlich der Zeugenfunktion des Johannes unter. Die Einführung des Johannes zeigt ihn als Charakter unauflöslich mit der Zeugenthematik verbunden (Joh 1,6–8.19–28; 3,26.32f.); vgl. WEINRICH (2015), 98. Von den 47 Belegen der Derivate von μαρτυ* im Evangelium beziehen sich 14 (und damit mehr als ein Viertel) der Belege auf das Zeugnis des Johannes. Umgekehrt wird die zeugende Tätigkeit des Johannes an jeder Stelle genannt, an der er erwähnt wird (vgl. THOMPSON [2015], 30). 68 Vgl. SCHNELLE (2016), 74: „Johannes d. Täufer […] wird einer offiziellen Befragung unterzogen […].“ Auch THYEN (2005), 177 sieht eine Befragung in „einem fast förmlichen ‚Verhör‘ Johannes des Täufers“.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

möglichen Straftatbestand einer Tempelschändung,69 ferner das Motiv der juristischen Konfrontation und Befragung Jesu durch die Juden (Joh 2,18) sowie die Andeutung eines Urteils durch einen gewaltsamen Tod (Joh 2,19).70 In Joh 3,12–21 wird die forensische Rolle des Augenzeugen (Joh 3,11),71 des Richters (Joh 3,17) sowie der Topos der vor Gericht gestellten Straftat im Gegensatz zum rechtmäßigen Tun (Joh 3,18–21) aufgenommen.72 Die ausführlichsten Anklänge an ein literarisches Prozess-Setting treten in Joh 5,1–47 zutage. Dabei findet sich der Vorwurf einer Straftat in Form von Sabbatbruch (Joh 5,10.16), eine behördliche Untersuchung mit Vernehmung auf einen Tatverdacht hin (Joh 5,10–13), die gerichtliche Verfolgung einer Straftat mit dem Ziel der Vollstreckung des Kapitalgerichts (Joh 5,16.18), der Topos einer gerichtlichen Anklage mit Verteidigung (Joh 5,17–19), eine ausführliche Verteidigungsrede mit rhetorisch-persuasiven Zügen (Joh 5,17–47), der Aufruf von Zeugen (Joh 5,31–40), die symbolisch-forensische Rolle des Richters (Joh 5,22–27) sowie eine gerichtliche Klage samt Verurteilung auf Basis des Gesetzes (Joh 5,45).73 Der Diskurs beim Laubhüttenfest in Joh 7,1–10,21 wird bereits mit dem Motiv der Strafverfolgung und der Absicht, an Jesus die Todesstrafe zu vollstrecken, eröffnet (Joh 7,1).74 Der ganze Diskurs steht damit unter einem juristischen Vorzeichen, bei dem die Strafverfolgung wegen Sabbatbruch (Joh 7,1.19–22), mehrere Versuche der Festnahme (Joh 7,30.32.44) und die Absicht, Jesus vor Gericht zu stellen (Joh 7,24.50–51), dominieren. 75 Dabei wird auch der Topos der Notwendigkeit eines gerechten Richters (Joh 7,24.51) aufgegriffen.76 69 Dieser implizite Vorwurf ist ein gegenseitiger: Er zeigt sich sowohl in der Tempelreinigung als Vorwurf Jesu an die Juden als auch in der Konfrontation der Juden auf die Tat Jesu hin. 70 Nach ZUMSTEIN (2016), 125 trägt die Szene somit „Züge eines offiziellen Verhörs“. Siehe zur Andeutung des Todes Jesu im forensischen Kontext die narrative Untersuchung in Kapitel IV,2.1. 71 An kaum einer anderen Stelle finden sich so gebündelt die mit dem Topos des gerichtlichen Zeugen konnotierten termini technici (siehe zu diesen Kapitel II,1.4.3). Vgl. auch BLANK (1964), 59; RIDDERBOS (1997), 133; MCHUGH (2009), 232; TRITES (1977), 96f; KÖSTENBERGER (2004), 131; NEYREY (1981), 122. 72 Vgl. TRITES (1977), 96f; KÖSTENBERGER (2004), 131; NEYREY (1981), 122. 73 Siehe zu diesen Akzenten in Joh 5 insbesondere HARVEY (1976), 14f.46–51; STIBBE (1992), 76–80; LINCOLN (2005), 74–81; BEKKEN (2014), 50–60 BEUTLER (2013), 189; SCHNELLE (2016), 142–144 sowie die ausführliche Untersuchung von ASIEDU-PEPRAH (2001), 52–116. 74 Siehe dazu NEYREY (1996), 108. 75 Siehe zu diesen unterschiedlichen Elementen, die zusammen einen „typical forensic process“ bilden, die Darstellung bei NEYREY (1996), 109. 76 Siehe zu den literarischen Rollen von Richter, Zeuge und Ankläger vor dem Hintergrund antiker Jurisdiktion ausführlich NEYREY (1996), 110f.

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

127

Dieselbe Zuspitzung zeigt auch der Diskurs in Joh 8,12–58, der mit dem Auftreten Jesu in der forensischen Rolle eines Zeugen eröffnet wird (Joh 8,14) und dabei typische Erwartungen wie die Zuverlässigkeit des Zeugnisses vor Gericht (Joh 8,14.18), die Notwendigkeit von mehreren Zeugen zur Verurteilung (Joh 8,17), die zuverlässigen Kenntnisse des Zeugen (Joh 8,14) und die Unmöglichkeit des Selbstzeugnisses (Joh 8,13) aufnimmt. 77 Gleichzeitig ist auch die forensische Rolle des Richters mit der Anforderung eines unvoreingenommenen Gerichts (Joh 8,15) präsent. Während damit Topoi des Gerichtsprozesses aufgenommen werden, wird die Handlung durch einen gescheiterten Festnahmeversuch (Joh 8,20) gleichzeitig in die Abläufe der Strafverfolgung eingeordnet und somit in einen vorgerichtlichen juristischen Kontext gestellt.78 Auch die ganze Dynamik der Begegnung ist von einem deutlich juristischen Charakter gekennzeichnet.79 Damit sind gleichzeitig Motive des Gerichtsprozesses und des allgemeineren juristischen Kontextes des Rechtsstreites präsent. Im Anschluss findet sich ein Diskurs, der an eine Debatte von Anschuldigung und Verteidigung vor Gericht erinnert (Joh 8,21–59), bei der die Juden als Ankläger fungieren, die Jesus festnehmen (Joh 8,20), die Todesstrafe vollstrecken (Joh 8,37.40) und wegen Gotteslästerung steinigen wollen (Joh 8,58–59). 80 Daneben ist der Diskurs inhaltlich durch eine starke Rezeption juristischer Vergehen gekennzeichnet, insoweit neben allgemein todeswürdiger Sünde (Joh 8,21–25), Hurerei (Joh 8,41) und illegitimer Vaterschaft (Joh 8,37–45) auch die Vorwürfe der Besessenheit (Joh 8,48), der Lüge (Joh 8,44.55) und schließlich der Gotteslästerung (Joh 8,58–59) aufgenommen werden. 81 Umgekehrt werden typische Anforderungen an die Parteien vor Gericht wie die Notwendigkeit der wahren Aussage (Joh 8,40.46) und uneigennütziger Motive (Joh 8,54) genannt. Die Debatte zeigt keine klare Rollenverteilung, da sowohl Jesus als auch die Juden gleichzeitig als Ankläger und Verteidiger fungieren. Damit wird das insbesondere im alttestamentlich-jüdischen Rechtsstreit präsente Motiv der Anklageumkehrung aufgegriffen.82

77 Siehe dazu ausführlich die Studie von NEYREY (1987), 512–518; vgl. ferner MICHAELS (2010), 480; SHERIDAN (2015), 180. 78 Vgl. zu diesen Elementen als Teil des in Kapitel I,1.2.4 genannten Kognitionsverfahrens NEYREY (1987), 510. 79 Der Abschnitt wird daher auch als „Verhör“ (BEUTLER [2013], 267) oder „Rechtsstreit“ (ZUMSTEIN [2016], 323) bezeichnet. 80 Siehe zur forensischen Dimension der Passage NEYREY (1987), 515; THYEN (2005), 440; SHERIDAN (2015), 184. 81 Die Darstellung von NEYREY (1987), 536 weist die Existenz einer Vielzahl von verhandelten Anklagen auf, von denen die wichtigsten hier genannt sind. 82 Siehe zu diesem Wechsel von Anklage und Gegenanklage VON WAHLDE (2001), 421 und zur Wende vom Angeklagten zum Ankläger LINCOLN (2000), 93. Vgl. zur Anklageumkehrung als Proprium des atl.-jüdischen Rechtsstreites Kapitel II,2.1.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

Die Fortsetzung in Joh 9,1–41 zeigt sich als Vorgehen der Juden, das sich zunächst gegen den Blindgeborenen richtet, anschließend aber zunehmend zu einer Verhandlung über Jesus selbst wird. Dabei laden die Pharisäer den Blindgeborenen in gleich zwei Gerichtsszenen vor (Joh 9,13–17; 9,24–34) und verhören sowohl ihn als auch die als Zeugen fungierenden Eltern (Joh 9,18–23).83 Die Erzähleinheit schildert damit eine Gerichtsverhandlung in mehreren Sitzungen, die sich zunehmend auf Jesus als Angeklagten in absentia konzentriert. Diese spitzt sich in Joh 9,39–10,21 durch das direkte Aufeinandertreffen zwischen Jesus und den Pharisäern zu einer direkten Konfrontation zu, die nach dem vorherigen Kontext als Rechtsstreit zwischen zwei Parteien erscheint.84 Da dieser nur aus einem einzigen Monolog Jesu besteht, wird damit gleichzeitig das alttestamentliche Motiv der Gerichtsrede aufgegriffen.85 Diese fungiert im Kontext als Anklage, die die Pharisäer als falsche Hirten Israels, Räuber, Diebe und Mietlinge beschuldigt (Joh 10,8.12). Die große Erzähleinheit von Joh 7,1–10,21, die sich durch das In- und Nebeneinander unterschiedlicher forensischer Topoi auszeichnet, präsentiert sich damit wie ein groß angelegter Prozess in mehreren Stadien. Mit Joh 10,22–39 folgt eine kurze Szene, die mit einem erneuten Versuch der Steinigung Jesu durch die Juden aufgrund von Gotteslästerung endet (Joh 10,31–33) und damit auf eine juristische Strafverfolgung und Urteilsvollstreckung zusteuert. 86 Gleichzeitig scheint die Steinigungsabsicht durch den verbalen Schlagabtausch (Joh 10,35–38) wie ein Miniaturprozess, der eine Anschuldigung, eine Strafandrohung, eine Verteidigung sowie ein durch die Juden gefälltes Urteil und die beabsichtigte Urteilsvollstreckung (Joh 10,39) erkennen lässt.87 In Joh 11,47–54 wird, wie bereits in Joh 9, eine Gerichtssitzung des Synedriums erzählt. Wie in Joh 9 wird Jesus dabei in absentia für schuldig befunden (Joh 11,53).88 Diesem Urteil stellt sich sowohl in einer Erzählerrede (Joh 12,37–43) als auch in einer Rede Jesu (Joh 12,44–50) ein anderes Urteil entgegen, das ferner den Topos des finalen Verdikts aufgreift (Joh 12,47–48). Die Darstellung in Joh 1–12 nimmt damit eine Vielzahl forensischer Motive, symbolisch-forensischer Rollen, juristischer Topoi, Prozessabläufe und -bestandteile und damit wesentliche Teile eines literarischen Prozess-Settings auf. Alle typischen Bestandteile des Rechtsstreites und Gerichtsprozesses unter Einschluss forensischer Prozessabläufe, die ihnen vorausgehenden Ab83

Vgl. dazu PANCARO (1975), 19; LABAHN (2013), 449f. Den Charakter des Rechtsstreites hat ASIEDU-PEPRAH (2001), 151–156 herausgestellt. 85 Vgl. zum alttestamentlichen Hintergrund KÖSTENBERGER (2004), 305; ZIMMERMANN (2004), 320–326.336–342 und BEUTLER (1991), 24–31. 86 Siehe zur Strafverfolgung mit drohender Urteilsvollstreckung ZIMMERMANN (2013a), 455. 87 Vgl. zu diesem Charakter THYEN (2005), 493. 88 Vgl. THYEN (2005), 167. 84

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

129

läufe der Strafverfolgung und die folgenden Schritte der Urteilsvollstreckung sind dabei vertreten. Ferner sind auch alle maßgeblichen forensischen Rollen (Ankläger, Angeklagter, Zeugen, Richter, Zuschauer) präsent und in ihren forensischen Funktionen deutlich herausgestellt. Der Form nach zeigen viele Szenen eine doppelte Darstellungsebene, bei der die juristischen Sachverhalte der erzählten Welt mit metaphorischen Elementen, symbolischen Rollen und evokativ-assoziativen Elementen einer Gerichtsszenerie koexistieren und dynamisch ineinandergreifen. Diese Ambivalenz zeigt sich insbesondere darin, dass literarische Topoi und Motive der Gerichtsverhandlung aufgegriffen werden, die Geschehnisse bis auf wenige Ausnahmen aber nicht an einer Gerichtsstätte angesiedelt sind. Die literarische Konstruktion, narrative Wirkung und theologische Funktion dieser Ambivalenzen sind in der weiteren Untersuchung noch zu klären.

2.3. Verweise auf den alttestamentlichen Rechtsstreit Die in der Erzählung aufgegriffene forensische und juristische Motivik geht neben allgemeinen Bestandteilen eines literarischen Prozess-Settings antiker Gerichtsprozesse auch stark auf alttestamentliche Motivkomplexe zurück. 89 Neben den oben bereits genannten Motiven, von denen sich etliche auch in alttestamentlicher Rechtsstreitdarstellung finden, wird eine Reihe spezifischer Motive aufgegriffen, die ausschließlich alttestamentlichen Hintergrund haben. Auf einer sehr grundsätzlichen Ebene werden die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden als zwischenmenschlicher Rechtsstreit alttestamentlicher Prägung dargestellt.90 So zeigen bereits die direkten intertextuellen Bezüge zum Zeugenrecht aus Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15 in Joh 8,17 sowie die Anspielungen in Joh 5,31; 8,13 eine starke Verwurzelung im atl. Konzept des Rechtsstreites und seiner Ordnungen.91 Ferner gilt das mosaische Gesetz stets und selbstverständlich als maßgebliche Grundlage der Auseinandersetzungen (Joh 5,45; 7,19.23.49.51; 8,5.17; 10,34).92 Dies wird auch an den im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehenden Vergehen des Ehebruchs (Joh 8,4), Sabbatbruchs (Joh 5,16; 7,21–23; 9,16), 93 der Tempelschändung 89 Dies ist in der Forschung häufig betont worden; vgl. YOUNG (1955), 223–230; BOICE (1970), 16–23; HARVEY (1976), 15f.; TRITES (1977), 78f.; LINCOLN (2000), 36–56; ASIEDUPEPRAH (2001), 13. 90 Siehe dazu Kapitel II,2.1. 91 Das atl. Zeugenrecht wird in Joh 5,31 und Joh 8,13 zitiert und fungiert dabei als wesentlicher Prätext der Auseinandersetzung in beiden Kontexten; vgl. LINCOLN (2000), 23.37; KÖSTENBERGER (2007), 443.457; BEUTLER (1972), 231.270; PREISS (1954), 15 und ausführlich SHERIDAN (2015), 166–179. 92 Dies hat insbesondere PANCARO (1975) in seiner Monografie hervorgehoben. 93 Siehe hierzu die Monografie von ASIEDU-PEPRAH (2001).

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

(Joh 2,15–29) und Gotteslästerung (Joh 5,18; 8,53.58f.; 10,33) sowie an der von den Juden anvisierten Strafe der Steinigung (Joh 8,5.59; 10,31.33) ersichtlich. Die Auseinandersetzung erweist sich insbesondere aus der Sicht der Juden als zwischenmenschlicher Rechtsstreit. Dass dies gleichzeitig ein Rechtsstreit vor Gott ist, wird in der Gerichtsmotivik vorausgesetzt, die neben menschlichen Richtern auch immer mit einem göttlichen Richter und einem eschatologischen Gericht rechnet (vgl. insbesondere Joh 5,22–27). Damit erfolgt zugleich ein Übergang in eine weitere Dimension des Rechtsstreites, der den zwischenmenschlichen Rechtsstreit transzendiert. Durch die Deutungshinweise im Prolog (Joh 1,1–18) weiß der Lesende darum, dass mit Jesus zugleich Gott selbst anwesend ist.94 Dadurch erscheinen die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden gleichzeitig im Lichte des alttestamentlichen Bundesrechtsstreites zwischen Gott und seinem Volk.95 Durch die universelle kosmische Perspektive wird die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden im Johannesevangelium dabei zugleich zu einem paradigmatischen Rechtsstreit zwischen Gott und der Welt.96 Diese kosmische Dimension findet sich von Joh 1,7–10 an und reicht bis zu den Kulminationspunkten im Prozess vor Hannas (Joh 18,20) und Pilatus (Joh 19,37).97 Dieselbe Zuspitzung findet sich bereits im Alten Testament und zeigt sich insbesondere im Rechtsstreit in Jes 40–55 und der programmatischen Selbstbezeichnung Gottes als ἐγώ εἰμι (hebr. ‫) ֲאנִ י הוּא‬.98 Unter den vielfältigen alttestamentlichen Bezügen hat die neuere Forschung insbesondere die maßgebliche Bedeutung von Jes 40–55 für die johanneische Darstellung hervorgehoben.99 Der Rechtsstreit nimmt ferner Elemente des übernatürlichen Rechtsstreites100 zwischen Gott und Satan auf. Dies zeigt sich in der Gegenüberstellung des Sohnes Gottes mit den Söhnen des Teufels (Joh 8,35f.41.44) und dem Zitat

94

Dies hat deutlich KARAKOLIS (2016), 151 hervorgehoben. Siehe dazu Kapitel II,2.2.1–2.2.2. 96 Vgl. zum alttestamentlichen Hintergrund Kapitel II,2.2.3. Siehe zu dieser Akzentsetzung im johanneischen Kontext BULTMANN (1986), 59; vgl. ferner MCHUGH (2009), 25; ZUMSTEIN (2016), 91; THYEN (2005), 76. 97 Siehe dazu die Darstellung bei KÖSTENBERGER (2009), 437f. 98 Vgl. dazu STIBBE (1992), 19: „[F]orensic language is clearly used as a unifying, structuring device in the first half of the gospel. The background for this literary device lies in the trial speeches of Deutero Isaiah, where Yahweh is also shown defending who he is (ἐγώ εἰμι in LXX) in a quasi-courtroom setting […].“ 99 Siehe hier insbesondere YOUNG (1955), 223–230; BOICE (1970), 18f.; TRITES (1977), 35–47.78f.; STIBBE (1992), 19; ASIEDU-PEPRAH (2001), 13; WILLIAMS (2000), 299–303 und insbesondere die ausführliche Darstellung bei LINCOLN (2000), 38–51. TRITES (1977), 79 schließt: „[T]he Fourth Gospel presents a controversy very similar to the one found in Isaiah 40–55.“ Siehe zum alttestamentlichen Kontext von Jes 40–55 die Untersuchung in Kapitel II,2.2.4. 100 Siehe dazu Kapitel II,2.2.3. 95

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

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aus Ps 82,6 (Joh 10,34) aus dem Kontext des atl. Rechtsstreites zwischen Jahwe und der übernatürlichen Welt.101 Damit ist in der johanneischen Darstellung die Multidimensionalität unterschiedlicher Darstellungsebenen präsent, die sich als charakteristisches Merkmal alttestamentlicher Rechtsstreitdarstellung erwies.102

2.4. Bildersprache Eng verwandt mit alttestamentlicher Motivik ist die Verwendung bildlicher Sprache, die stark forensisch konnotiert sein kann. So ist etwa die in Joh 10,1– 18 aufgegriffene symbolische Rolle des Hirten in einigen alttestamentlichen Kontexten mit dem Rechtsstreit verbunden. Dabei kann der Hirte in der prophetischen Kritik zum Adressaten des Rechtsstreites werden und steht dabei in einer langen alttestamentlichen Tradition (vgl. Jes 59,9–11; Jer 23,1–4; Ez 34,1–10; Sach 11,15–17).103 Umgekehrt wird Gott selbst in der Rolle des königlichen Hirten gesehen, der in den Rechtsstreit mit den schlechten Hirten als untreuen Führern Israels tritt (Ez 34,11) und dabei zugleich Richterfigur ist (Ez 34,17–22). Von besonderer Bedeutung im Johannesevangelium ist ferner die in Joh 1,4– 9; 3,18–21; 8,12; 9,4–39; 12,44–47 dominante Metaphorik von Licht und Finsternis, die bereits im Alten Testament fest mit juristischen Kategorien verbunden ist.104 Während die Nacht symbolisch für die Zeit von Verbrechen gilt, steht das Licht des Morgens für das Aufgehen von Recht durch Gericht.105 Licht ist damit ein zentraler Bestandteil alttestamentlicher Gerichtssymbolik: „[O]ne of the ways, of a metaphorical nature, by which Hebrew describes the coming of judgment, is by the appearance of the symbol of light (or by contrast, of darkness); especially as regards the accused (or appellant) this is one of the images Hebrew uses to express the desire for or result of judgment in accordance with justice.“106

Diese Akzentsetzung zeigt sich auch in der Verwendung der Lichtmetaphorik im Johannesevangelium, die fest in der alttestamentlichen Bildersprache verwurzelt ist. Während Licht zugleich für Leben steht, ist die Metapher im 101 Siehe dazu unten in Kapitel II,2.2.3 sowie die Analyse des Zitats von Ps 82,6 in Joh 10,34 bei HEISER (2011). 102 Vgl. dazu die Ebenen des alttestamentlichen Rechtsstreites in Kapitel II,2.3.3. 103 Siehe dazu ZIMMERMANN (2004), 320–323. 104 Siehe dazu ausführlich BOVATI (1994), 363–369. 105 Vgl. BOVATI (1994), 368: „[T]he break of day is the equivalent of the moment in which judgment in accordance with justice takes place, light becomes the symbol of the victory of the law […], whereas darkness is the framework for images of the dominance or continuance of injustice […].“ 106 BOVATI (1994), 369.

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

Johannesevangelium fest mit einer moralischen Dimension verbunden107 und bezeichnet dabei auch die Bloßstellung von Sünde. Ferner kann in Erweiterung der Lichtmetaphorik auch Sehen und Blindheit in forensischem Sinne verwendet werden (Joh 9,2–5.39–41) und dabei insbesondere Blindheit in Anschluss an alttestamentliche Rechtsstreitdarstellung den Charakter von Gericht bekommen (vgl. Jes 6,9–10). Die Lichtmetaphorik wird nur in Joh 1–12 verwendet und stellt die Wirksamkeit Jesu als Licht dar, das die Sünde der Welt vor Gericht stellt und so Leben bringt.108 Die Lichtmetaphorik wird dementsprechend auch mit dem Motiv des Gerichts verbunden (Joh 3,18–21; 8,12–16; 9,5.30– 41).

2.5. Rechtsstreitmotivik und narrative Struktur Neben der Bestandsaufnahme einzelner forensischer Semanteme, Rollen und Motive als zentrale Bestandteile einzelner Passagen im Johannesevangelium ist schließlich die Makrostruktur des Evangeliums in den Blick zu nehmen und zu fragen, ob sich der deutlich aufgewiesene forensische Schwerpunkt auch im dramaturgischen Gesamtaufriss des Evangeliums zeigt. Nach einem breiten Konsens in der Forschung zeigt das Evangelium neben Prolog (Joh 1,1–18) und Epilog (Joh 21,1–25) zwei große Teile, von denen der erste Teil in Joh 1,19–12,50 als „Book of Signs“ oder „Semeio-Drama“ bezeichnet wurde, während der zweite Teil in Joh 13,1–20,31 als „Book of Glory“ oder „Cruci-Drama“ benannt wurde.109 Während sich der erste Teil auf das öffentliche Wirken Jesu fokussiert, verschiebt sich in der zweiten Hälfte von Joh 13,1–20,31 die Darstellung durch die Abschiedsreden (Joh 13–17) stark auf das Wirken Jesu im Jüngerkreis, bevor sich mit Joh 18–19 die ausführliche Passionseinheit mit starkem Fokus auf dem Prozess vor der jüdischen und römischen Gerichtsbarkeit 110 anschließt. Damit erscheint Joh 13–17 als „Intermezzo“,111 nach dem die Darstellung in Joh 18–19 auf der Handlungsebene als Fortsetzung von Joh 1–12 erscheint und auch im Hinblick auf die 107 Siehe dazu KÖSTENBERGER (2009), 346: „Light in John has a moral dimension; in the light, people’s sins are exposed (Joh 3:19–21), in the context of Jesus’ ministry to the Jews, the period of ‚the light‘ is the time of Jesus’ earthly ministry in their midst. Once Jesus has departed, the Jews’ opportunity to receive the light has passed; this is why references to ‚light‘ […] are found only in chapters 1–12 of John’s gospel (see esp. 12:35–36, 46).“ 108 Vgl. MUROPA (2012), 110. 109 Siehe zu diesen Begriffen KÖSTENBERGER (2009), 167, der diese Zweiteilung zugleich als „wide agreement in the scholarly literature“ bezeichnet. Vgl. zu dieser Untergliederung ferner die Diskussion bei KÖSTENBERGER (2009), 167–170 sowie KIERSPEL (2006), 122; vgl. ebenso HAHN (2011), 592f. 110 Siehe zu dieser Unterteilung oben Abschnitt 1. 111 So THYEN (1991), 127.

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

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Prozessmotivik enge Verbindungslinien zur ersten Hälfte des Evangeliums erkennen lässt.112 Nach der oben vorgenommenen Bestandsaufnahme zeigt sich die Rechtsstreit- und Prozessmotivik als Proprium der narrativen Darstellung im ersten Teil des Evangeliums (Joh 1,19–12,50) und hat ihren Schwerpunkt damit paradoxerweise in den Auseinandersetzungen in Joh 1–12 und nicht in der eigentlichen Prozessdarstellung in Joh 18–19.113 Die Prozess- und Rechtsstreitmotivik findet damit ihren Ort in den zahlreichen Streitgesprächen, die dementsprechend starke Anklänge an eine juristische Auseinandersetzung vor Gericht bekommen.114 Die erste Hälfte des Evangeliums zeigt eine Rahmenstruktur, bei der sich mit Joh 1,1–34 eine narrative Einführung115 und mit Joh 12,37–50 ein narratives Resümee des öffentlichen Wirkens Jesu gegenüberstehen. Beide Rahmenstücke beginnen jeweils mit Erzählerkommentaren (Joh 1,1–18 und 12,37–43). Das ganze öffentliche Wirken wird ferner durch die als inclusio fungierende Erwähnung der stark forensisch konnotierten Lichtmetaphorik (Joh 1,4–5; 12,46–47) sowie durch Zitate aus dem Kontext des Rechtsstreites im Propheten Jesaja (Joh 1,23 als Zitat von Jes 40,3; Joh 12,38 als Zitat von Jes 53,1; Joh 12,39–40 als Zitat von Jes 6,10) und damit durch dezidiert forensisch konnotierter Motivik gerahmt.116 Während dabei Joh 1–2 als Einführung Jesu in die öffentliche Wirksamkeit erscheint, steht dem mit Joh 11–12 ein sukzessiver Rückzug aus der Öffentlichkeit gegenüber.117 Inmitten dieser Rahmung um Joh 1–12 konzentriert sich die Darstellung auf die Begegnungen Jesu mit den Juden in Jerusalem, die in fünf Jerusalembesuche anlässlich der jährlichen Wallfahrtsfeste gegliedert ist (Joh 2,13–3,21; 5,1– 47; 7,1–10,21; 10,22–42; 12,12–36). Der große Komplex von Joh 7,1–10,21 zeigt dabei eine interne Zweiteilung, durch die sich in thematischer Hinsicht eine chiastische Struktur der Auseinandersetzungen Jesu mit den Juden in Jerusalem ergibt: 112

Siehe dazu STIBBE (2008), 150; vgl. ferner oben Abschnitt 1.2.2. Siehe dazu auch SCHNELLE (2016), 156. 114 HAHN (2011), 593 charakterisiert diese als „Streitreden“. Die Forschung hat dabei bisher keinen Konsens darüber erzielt, ob diese Auseinandersetzungen Teil eines tatsächlichen juristischen Prozesses sind (so etwa HARVEY [1976], 55 und ASIEDU-PEPRAH [2001], 13– 24 mit Verweis auf den zweistufigen Rechtsstreit), nur auf motivischer oder metaphorischer Ebene angesiedelt sind (LINCOLN [2000], 33–35) oder überhaupt kein trilateraler Gerichtsprozess evoziert werden soll (BEKKEN [2014], 9–11); siehe dazu den Forschungsüberblick in Kapitel I,1. 115 Der Prolog in Joh 1,1–18 bekommt damit eine Doppelfunktion als Einführung in das gesamte Evangelium und als Eröffnung der ersten Hälfte. 116 Vgl. zur Rahmung durch die Zitate des Propheten Jesaja als inclusio auch MYERS (2015), 132; KLINK (2016b), 130; WILLIAMS (2017), 41. Vgl. zur Lichtmetaphorik als inclusio um Joh 1–12 LABAHN (2009), 459; PETERSEN (2006), 138. 117 Siehe dazu KÖSTENBERGER (2009), 168f. 113

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Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

A Einführung in das öffentliche Wirken Jesu (Joh 1,1–34) B Disput im Tempel (Joh 2,13–22) C Krankenheilung und Streitgespräch (Joh 5,1–47) D Disput im Tempel (Joh 7,14–8,59) C' Krankenheilung und Streitgespräch (Joh 9,1–10,21) B' Disput im Tempel (Joh 10,22–38) A' Resümee des öffentlichen Wirkens Jesu (Joh 12,37–50)

Die ausführliche narratologische Analyse dieser Untersuchung konzentriert sich auf die so ausgewiesenen Stationen der Auseinandersetzung Jesu mit den Juden in Jerusalem,118 die allein aufgrund der zunehmenden Länge der Darstellung von Joh 2,13–22 zu Joh 5,1–47 eine dramatische Intensivierung erkennen lässt119 und schließlich in dem groß angelegten Erzählkomplex von Joh 7,1– 10,42120 und den Urteilen der Juden (Joh 11,47–57), des Erzählers (12,37–43) und Jesu (12,44–50) ihren Schluss- und Höhepunkt findet.121 Dazu gegenläufig zeigt sich eine weitere dramaturgische Dynamik, nach der das juristisch konnotierte Vokabular einen weiteren Höhepunkt in Joh 5,1–47 nahelegt und die Auseinandersetzung als Schlüsselstelle der Prozessmotivik erweist. Neben inhaltlichen Bezügen eröffnet die zeitliche Einordnung anhand der erzählten Zeit einen weiteren Blickwinkel, durch den sich mit Joh 2,13–22, Joh 5,1–47 sowie Joh 7,1–10,21 drei zeitlich zusammenhängende Erzählkomplexe unterscheiden lassen, die jeweils maßgeblich von der Auseinandersetzung Jesu mit den Juden bei einem Fest in Jerusalem bestimmt sind und dabei eine tripartite Struktur mit Höhepunkt in Joh 5,1–47 offenbaren:122 A Auseinandersetzung in Jerusalem (Joh 2,13–22) B Auseinandersetzung in Jerusalem (Joh 5,1–47) A' Auseinandersetzung in Jerusalem (Joh 7,14–10,21)

Eine deutliche Intensivierung der juristischen Auseinandersetzung in Joh 5–10 wird auch daran ersichtlich, dass nach dem ‚Kana-Zyklus‘ von Joh 2–4 der ‚Fest-Zyklus‘ in Joh 5–10 zu Beginn und zum Ende (5,18 und 10,31) in Form einer inclusio durch den Vorwurf der Blasphemie umschlossen ist.123 Durch 118

Siehe zu diesen Kulminationspunkten auch SCHNELLE (2016), 156. KIERSPEL (2006), 123 sieht in Anschluss an CARSON (1992), 105f. in Joh 5–7 eine „rising opposition“, die schließlich in Joh 8–10 zu einer „radical confrontation“ übergeht. 120 Dieser bildet durch die örtliche und zeitliche Einheit eine einzige narratologische Erzähleinheit; vgl. THYEN (1991), 125. 121 Vgl. zu dieser Dynamik auch SCHNELLE (2016), 156; SEGOVIA (1991), 41. 122 Zu einer ähnlichen Dreigliederung kommt THYEN (1991), 125 anhand einer Gliederung von Joh 1,19–10,42 durch drei Reisen Jesu nach Jerusalem (1,19–3,36; 4,1–6,71; 7,1– 10,39), deren Mittel- und Höhepunkt jeweils die forensischen Diskurse der oben genannten Abschnitte in Jerusalem darstellen. 123 Vgl. zu diesen Bezeichnungen und dem Befund KÖSTENBERGER (2009), 227; vgl. auch KIERSPEL (2006), 123, der Joh 5–10 als „rejection by the world“ benennt und eine intensive Steigerung erkennt, die auf die radikale Konfrontation in Joh 10 zuläuft. 119

2. Überblick über die Prozessmotivik in Joh 1–12

135

den rahmenden Hinweis auf das Zeugnis des Johannes (Joh 1,19–34; 10,40– 42) zeigt sich eine weitere inclusio unter einem dezidiert forensischen Vorzeichen, die Forscher sogar zur Bezeichnung des Hauptstückes von Joh 1,19– 10,42 als „Buch des Zeugnisses“ geführt hat.124 Es muss ferner als Zeichen des stark forensischen Charakters des Evangeliums gewertet werden, dass das Zeugnismotiv nicht nur Joh 1–12, sondern durch die markante Positionierung sowohl im Prolog (Joh 1,7–8.15) als auch im Epilog (Joh 21,24) das ganze Evangelium in Form einer inclusio umschließt.125 Die Gesamtkonzeption von Joh 1–12 zeigt in der narrativen Makrostruktur damit nicht nur Strukturmerkmale, die auf einen forensischen Schwerpunkt hinweisen, sondern lässt zugleich eine vielschichtige forensische Dramaturgie erkennen, durch die sich die Einzelepisoden zu einer einheitlichen Prozessdarstellung verbinden.126

2.6. Ertrag In diesem Abschnitt erfolgte eine grundsätzliche Bestandsaufnahme zur Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium. Diese konzentrierte sich auf Joh 1–12 und zeigte zunächst, dass solche Lexeme, die als termini technici fest mit Gerichtsprozessen verbunden sind, in Joh 1–12 in einer Häufigkeit und Dichte verwendet werden, die sogar dezidiert rechtliche Auseinandersetzungen in frühjüdischen Texten bei Weitem übertrifft. Dieser Befund muss als Indiz gewertet werden, dass die Prozess- und Rechtsstreitmotivik ein ausgeprägter Schwerpunkt des Evangeliums ist. Eine zusätzliche Bestätigung ergibt sich durch die Aufnahme einer Vielzahl von forensischen Rollen des Gerichtsprozesses, literarischer Topoi der Prozessdarstellung und juristischer Motivik in den Erzählsträngen der narrativen johanneischen Darstellung. Die Prozessmotivik zeigt sich nicht nur im antiken Bildraum des Gerichtsprozesses, sondern maßgeblich in der alttestamentlichen Rechtsordnung des Rechtsstreites verwurzelt. Die Untersuchung liefert ferner wichtige johanneische Akzente in der Instrumentierung forensischer Metaphorik. So zeigt sich eine stark ausgeprägte Verwendung mehrerer Ebenen in der narrativen Darstellung, die 124 So etwa THYEN (2005), 111. Nach Thyen wird in Joh 10,40–42 „das in 1,19 ff eröffnete Buch der μαρτυρία im Sinne einer Ringkomposition förmlich geschlossen“ (aaO., 420). Damit bringt die Erzählung den Lesenden in 10,40 expressis verbis an den Ort πέραν τοῦ Ἰορδάνου εἰς τὸν τόπον ὅπου ἦν Ἰωάννης τὸ πρῶτον βαπτίζων (10,40) zurück und schließt so den Kreis um die Martyria des Johannes (aaO., 494). 125 Die Korrespondenz wird durch die doppelte Verbindung sowohl durch μαρτυρέω (1,7–8.15; 21,24) als auch durch μαρτυρία (1,7; 21,24) besonders hervorgehoben; vgl. dazu THEOBALD (2016), 119; BEUTLER (2013), 82. 126 Siehe für die Einzelheiten der so angedeuteten Struktur die ausführlichen narrativen Analysen im vierten Hauptteil.

136

Kapitel III: Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums

nicht nur unterschiedliche Formen des Rechtsstreites betonen, sondern zugleich eine gegensätzliche Zuteilung forensischer Rollen vornehmen. Nach den Untersuchungen der narrativen Prozessdarstellung in Joh 18–19 im letzten Abschnitt zeigt sich die Prozessmotivik als Schwerpunkt der johanneischen Darstellung, bei der zahlreiche intratextuelle Verweise und narrative Leerstellen darauf hinweisen, dass sich in Joh 1–12 eine narrative Form der Prozessdarstellung findet. Nicht nur belegt die vorgenommene Bestandsaufnahme zu forensischer Motivik die Existenz einer deutlichen Konzentration auf Elemente der Rechtsstreit- und Prozessdarstellung in der ersten Hälfte des Evangeliums, sondern sie belegt zudem eine so starke Dominanz forensischer Semanteme, dass demgegenüber die (für sich genommen) so ausführliche Thematisierung der Prozessmotivik in Joh 18–19 als deutlich untergeordnet erscheint. Dieser Befund zeigt, dass sich auch innerhalb des vierten Evangeliums der Schwerpunkt forensischer Motivik nicht in Joh 18–19, sondern in der narrativen Darstellung von Joh 1–12 findet, wie nicht zuletzt durch den Gesamtaufriss von Joh 1–12 und eine geradezu dramaturgische Konzeption erwiesen wird, in der die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden unter forensischen Strukturmerkmalen zu einer groß angelegten Prozessdarstellung verbunden werden.

Kapitel IV:

Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34) Die meist als „Prolog“ bezeichnete Eröffnung des Evangeliums in Joh 1,1–18 ist in ihrer Gestaltung sowohl narrativ als auch theologisch von höchster Bedeutung.1 Trotz des einleitenden Charakters geht der Prolog über eine Einführung weit hinaus und erweist sich als integraler Bestandteil des Evangeliums mit eigenem theologischen Gewicht, der narrativ und inhaltlich stark durch intratextuelle Bezüge in das ganze Evangelium eingegliedert ist.2 Wichtige theologische Aussagen, Motive und Themen des Evangeliums werden bereits im Prolog vorbereitet.3 In diesem Sinne kann er als Lesevorbereitung angesehen werden, die der folgenden Erzählung bewusst vorangestellt wird und die Lesenden bereits zu Beginn auf zentrale Akzente der Narration hinweist.4 Während Joh 1,1–18 als Prolog des ganzen Evangeliums in der Makrostruktur dem 1 Vgl. dazu etwa das Urteil von ZUMSTEIN (2016), 65: „Joh 1,1–18 wird fast immer und zu Recht mit dem Begriff ‚Prolog‘ bezeichnet.“ Der Prolog erweist sich dadurch als vollgültiger und theologisch höchst bedeutsamer Teil des Evangeliums, dass sich in ihm bereits die wichtigsten christologischen Aussagen vorbereitet finden (siehe dazu ausführlich CULPEPPER [2016]). Dennoch ist ein gewisser Einschnitt nach Joh 1,18 deutlich (BEUTLER [2013], 78), durch den sich der Prolog von der folgenden Erzählung abhebt. Da er als vorangestellter Erzählerkommentar die Funktion eines Prologs erfüllt, wird die gängige Bezeichnung im Folgenden beibehalten (so auch THYEN [2005], 63; ähnlich sehen LAUSBERG [1984], 193; SHEPPARD [1999], 70 den Prolog als exordium bzw. Proömium des gesamten Evangeliums). Vgl. zu einer neueren Übersicht über die Diskussion zur Funktion von Joh 1,1–18 im Evangelium auch ASHTON (2016). 2 Siehe für eine Darstellung der Bezüge ausführlich KIERSPEL (2006), 117–119 und LAUSBERG (1984), 261–265. 3 Im Prolog werden bereits die wichtigsten Themenkreise des Evangeliums aufgenommen und theologische Aussagen gemacht, die im Evangelium weiterentfaltet werden; vgl. dazu MILLER (1993), 451; SCHNELLE (2016), 43f., die Übersicht bei KIERSPEL (2006), 117– 119 sowie am ausführlichsten LAUSBERG (1984), 261–265). Sie betreffen nicht nur die Göttlichkeit des Logos (vgl. 1,1 und 8,58; 10,30; 20,28) und seine Präexistenz (vgl. 1,1 und 17,5), sondern auch die im Evangelium meist forensisch konnotierte Lichtmetaphorik (1,4; 3,19; 8,12; 12,46) und Zeugnismotivik (1,7.8.15). 4 Siehe dazu KLINK (2016a), 249–251; ZUMSTEIN (2016), 65f.; MYERS (2015), 129. Vgl. auch LAUSBERG (1984), 193: „Der Prolog ist eine exordiale ‚percursio‘ […] narrativer […] und urteilend-wertender […] Gedanken […].“ Nach SCHNELLE (2016), 43 kommt dem Prolog „eine einleitende Funktion zu. Er führt in die Thematik ein, indem er zentrale Inhalte der folgenden Darstellung bereits behandelt und damit das Verständnis des Evangeliums vorbereitet und zugleich wesentlich bestimmt.“

140

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Epilog von Joh 21,1–25 gegenübersteht und durch die markante Positionierung des Zeugnismotivs das ganze Evangelium in Form einer inclusio mit stark forensischem Schwerpunkt umschlossen wird (1,7–8.15; 21,24),5 bildet der Prolog zugleich einen Rahmenteil um Joh 1–12. Durch seine Gestaltung als Erzählerkommentar stellt er zusammen mit dem abschließenden Erzählerkommentar in Joh 12,37–43 eine Rahmung um die erste Hälfte des Evangeliums dar,6 von der mit der Lichtmetaphorik (1,4–5; 12,46–47) das öffentliche Wirken Jesu in Form einer inclusio mit ebenfalls stark forensischem Akzent umschlossen wird. 7 Durch das Zeugnis des Johannes in Joh 1,7–8.15 und den Rückverweis auf sein Auftreten in Joh 10,40–42 ergibt sich eine weitere inclusio, durch die alle Passagen der direkten Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden auch durch das Zeugnismotiv gerahmt werden.8 Neben dieser Funktion in der Struktur des Evangeliums fungieren in inhaltlicher Hinsicht die tiefgründigen Aussagen über Herkunft und Wesen des Logos sowie über Ziel, Funktion und Wirkung seines Kommens in Form eines Desiderats des Evangeliums als dezidierte Leseanweisung dafür, aus welcher Perspektive die folgende Narration verstanden werden will. Insbesondere die programmatischen Aussagen zur Identität Jesu als λόγος und θεός (Joh 1,1) sind für die Rechtsstreitmotivik des Evangeliums von besonderer Bedeutung. Der Prolog zeigt sich als abgegrenzte Einheit, ist durch den analeptischen Verweis auf die Person des Johannes und das Zeugnismotiv jedoch eng mit dem Beginn der Erzählung in Joh 1,19 vernetzt. Durch zwei Szenen führt der Beginn der Erzählung erst Johannes (Joh 1,19–28) und anschließend Jesus (Joh 1,29–34) durch ihren ersten Auftritt als Charaktere in die Erzählung ein.

1.1. Der Prolog als Prozesseinführung (Joh 1,1–18) Narrative Einbettung Durch die Funktion des Prologs als Interpretationsschlüssel der folgenden Erzählung wird die forensische Motivik für den impliziten Leser zu einer Deu5

So BEUTLER (2013), 82. Auf die Korrespondenz von sowohl μαρτυρέω (1,7–8.15; 21,24) als auch μαρτυρία (1,7; 21,24) hat THEOBALD (2016), 119 hingewiesen. 6 Siehe dazu Kapitel III,2.5 sowie BEUTLER (2013), 77. 7 Vgl. zur zentralen Bedeutung der Lichtmetaphorik als Rahmung für das in Joh 1–12 erzählte öffentliche Wirken Jesu auch PETERSEN (2006), 138. 8 THYEN (2005), 494 sieht darin trotz der Tatsache, dass die Martyria des Johannes in Joh 10,39–42 nicht mehr expressis verbis genannt wird, ein so starkes Gliederungsmerkmal unter dem Zeugnismotiv, dass er von hier aus eine Zweiteilung des Johannesevangeliums vornimmt und die erste Hälfte von Joh 1–10 als „Buch der μαρτυρία“ benennt. Vgl. zur inclusio um das öffentliche Wirken Jesu durch das Zeugnis des Johannes auch KÖSTENBERGER (2004), 298.

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

141

tungsanweisung,9 die folgende Narration zugleich unter forensischen Gesichtspunkten zu lesen. Dies ist insbesondere deshalb von Bedeutung, insofern der Prolog mit Lichtmetaphorik (1,4–5.9) und Zeugnismotivik (1,6–8.15) bereits zwei dezidiert forensische Motive aus Joh 1–12 aufnimmt und diese als maßgebliche Leseanweisung dienen, dem impliziten Leser bereits von den ersten Aussagen des Evangeliums an den Deutungsrahmen und die Grundaxiome der Narration aufzuzeigen. Strukturell zeigt der Prolog zwei größere Teile (V. 1– 13; V. 14–18) mit jeweils chiastischer Anordnung:10 A1 Wesen und Erscheinung des Logos (1,1–5) B1 Martyria des Johannes (1,6–8) A'1 Wirken des Logos als Licht auf die Menschen (1,9–13)

Der Logos als φῶς

A2 Wesen und Erscheinen des Logos (1,14) B2 Martyria des Johannes (1,15) A'2 Wirken des Logos auf die Menschen (1,16–18)

Der Logos als μονογενής

Beide Teile sind jeweils konzentrisch um das Zeugnismotiv (B1, B2) arrangiert und lassen in den Randteilen eine Bewegung vom Erscheinen des Logos (A1, A2) zu seiner Wirkung auf die Menschen (A'1, A'2) erkennen. Während der erste Abschnitt (V. 1–13) den Logos in den Rahmenteilen maßgeblich über die Lichtmetaphorik (φῶς in V. 4.5.9) beschreibt, dominiert im zweiten Abschnitt (V. 14–18) die Darstellung des fleischgewordenen Logos als μονογενής (V. 14.18) mit zusätzlicher ‚Wir‘-Perspektive (1. Pers. Pl.).11 Durch die konzentrische Anlage zeigt der Prolog die große Bedeutung des Zeugnismotivs für das Wirken Jesu auf. Für die Untersuchung der Prozessmetaphorik ist neben den beiden Martyria-Passagen auch die Lichtmetaphorik relevant. Im Folgenden stehen daher die beiden parallelen Abschnittpaare A1, A'1 (Lichtmotivik) und B1, B2 (Zeugnismotivik) im Mittelpunkt der Untersuchung. Konstruktion eines Prozess-Settings Der Prolog wirkt auf verschiedene Weise auf die Konstruktion – konkreter: die Einführung – eines Prozess-Settings hin. Zum einen wird zu Beginn in V. 1–3 das Wesen des Logos als gottgleich und Mitschöpfer betont und damit jedes 9

Vgl. dazu SCHNELLE (2016), 43; ZUMSTEIN (2016), 66f.; KIERSPEL (2006), 119–121. Siehe zu dieser Zweiteilung auch ZUMSTEIN (2016), 70; THEOBALD (1983), 34. Vgl. zur chiastischen Doppelstruktur HOOKER (1970), 356–358; THYEN (2005), 79; ähnlich auch WENGST (2000), 47; KÖSTENBERGER (2004), 21; TALBERT (2005), 69f. Andere chiastische Strukturvorschläge finden sich bei CULPEPPER (1998), 116 und THEOBALD (1983), 14–17. Wieder andere Forscher unterteilen V. 14–18 nicht weiter und sehen daher vier große Teile (LINCOLN [2005], 94; BEASLEY-MURRAY [1999], 5; MCHUGH [2009], 5; KLINK [2016b], 84) oder sehen zusätzlich V. 6–13 als einen einzigen Abschnitt und kommen so zu einer Dreiteilung (ZUMSTEIN [2016], 70; BEUTLER [2013], 80; MOLONEY [1998], 33). 11 Vgl. zu ähnlichen strukturellen Beobachtungen auch THEOBALD (2016), 120. 10

142

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Streitgespräch des Evangeliums in Aufnahme eines bekannten alttestamentlichen Topos der Rechtsstreitmotivik in die Auseinandersetzung zwischen Schöpfer und Geschöpf gestellt (V. 10–12).12 Der erste Teil des Prologs greift bereits mit den ersten Worten ganz offensichtlich auf ‫אשׁית‬ ִ ‫בְּ ֵר‬. bzw. ἐν ἀρχῇ (LXX) in Gen 1,1 zurück und zeigt auch in den weiteren Aussagen einen so starken intertextuellen Bezug auf die Schöpfung in Gen 1,13 dass der Logos ganz betont als Ursprung und Schöpfer aller Dinge (Joh 1,3) erscheint.14 Mit dem Dreischritt (1) ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, (2) καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, (3) καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος (Joh 1,1) wird nicht nur die Präexistenz des Logos und seine völlige Gott-Bezogenheit entfaltet, 15 sondern auch seine Göttlichkeit selbst direkt ausgedrückt.16 Dass schon im ersten Satz in Bezug auf den Logos nicht eine abstrakte Größe, sondern von Beginn an die fleischgewordene Person Jesu im Blick steht, ergibt sich nicht nur durch die inhaltliche Parallele von V. 1–5 zu V. 14,17 sondern auch aus der stark personalen Sprache von V. 1–5 12

Siehe dazu ausführlich Kapitel II,2.2. Siehe dazu insbesondere KURZ (1997), 179–185, FREY (2016), 221–223; vgl. auch SCHNELLE (2016), 43: „Der explizite Hinweis auf Gen 1,1 LXX verweist die Adressaten auf die grundlegende Bedeutung der atl.-jüdischen Tradition.“ Der Bezug auf die Schöpfung ist auch in V. 2–5 deutlich: In V. 2 wird ἐν ἀρχῇ nochmals aufgegriffen, in V. 3 geht es expressis verbis um die Schöpfung als Werden (ἐγένετο, vgl. das 20–malige ἐγένετο in Gen 1 LXX) aller Dinge, während V. 4–5 aus Gen 1 die Lexemen φῶς (Gen 1,3–5), σκοτία (Gen 1,2.4) und ζωή (Gen 1,30; 2,7.9) aufgreift. Aus dem deutlichen Rückgriff auf Gen 1 erklärt sich auch die Verwendung von λόγος: In Gen 1,3 wird mit dem Lexem λέγω das die Schöpfung ins Leben rufende Wort hervorgehoben, auf das in Gen 1 noch zehn weitere Male implizit verwiesen wird (λέγω in 1,6.9.11.14.20.22.24.26.28.29). Die Verwendung von λόγος ist damit als Signal der Intertextualität zu deuten, nämlich als „Nominalisierung des zehnmaligen ‚und Gott sprach‘“ (THYEN [2005], 66). 14 Durch ἦν (V. 1) wird deutlich auf eine Zeitebene vor Erschaffung der Welt zurückgegriffen. Die Betonung liegt hier auf dem Zustand: Während alles andere wurde (V. 3), war der Logos. Hier wird unmissverständlich die Präexistenz zum Ausdruck gebracht, die eines der zentralen Themen im Johannesevangelium ist. Der Ausdruck ἐν ἀρχῇ ist hier wohl bewusst doppeldeutig angelegt: Er verweist nicht nur auf den ‚Anfang‘ im Sinne von Gen 1,1, sondern auch auf den ‚Ursprung‘ aller Dinge (MORRIS [1995], 65). 15 Vgl. THYEN (2005), 73. Während ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν seine Bezogenheit und intime Beziehung zu Gott zeigt (vgl. VAN DER WATT [2016], 64; FREY (2016), 223), die ihn als von Gott getrennte Person voraussetzt (LAMARCHE [1986], 47), wird mit dem zur Betonung vorangestellten Prädikatsnomen in der für den Höhepunkt am Schluss des Satzes reservierten Aussage καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος die Göttlichkeit des Logos ausgedrückt (VAN DER WATT [2016], 72f.). 16 So die meisten Exegeten; vgl. die sprachliche Diskussion bei HOFIUS (1987), 17; WENGST (2000), 53f. und ausführlich VAN DER WATT (2016), 68–75. Insbesondere wird damit mehr gesagt, als dass der λόγος nur göttlichen Wesens oder göttlicher Art (θεῖος) sei, oder dass er als Wesen erscheint, das dem einzig wahren Gott untergeordnet wäre (HOFIUS [1987], 17). 17 Vgl. dazu auch THYEN (2005), 74. 13

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

143

selbst.18 Der in V. 5–13 stark herausgestellte kosmische Konflikt beim Kommen des Logos in die Welt gewinnt durch die Eingangssätze des Prologs den Charakter einer Auseinandersetzung zwischen Gott und der Welt, die sich in Transzendierung alttestamentlicher Motivik nun jedoch konkret in der in Joh 1–12 dargestellten Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden ereignet.19 Der Prolog setzt die Konstruktion eines Prozess-Settings darin fort, dass in V. 5–13 insgesamt das Motiv der feindlichen Auseinandersetzung und des Konflikts dominiert, der zusammen mit dem Zeugnismotiv (V. 6–9.15) und der eng damit verbundenen Lichtmetaphorik (V. 4–5.7–9) eine starke juristische Komponente bekommt. Bereits durch den Kontrast von φῶς zu σκοτία (V. 4) wird in johanneischer Ambivalenz20 mit der Lichtmetaphorik ein grundsätzlicher Konflikt angedeutet, der bereits hier vorgezeichnet ist, das weitere Evangelium bestimmt und somit eine kataphorische Verweisfunktion bekommt.21 Während die Lichtmetaphorik in V. 4 noch fest mit ζωή und über den Ausdruck ἐν τῇ σκοτίᾳ φαίνει (V. 5a) mit einer heilvollen Funktion konnotiert ist, 22

18 So etwa KLINK (2016a), 251; KARAKOLIS (2016), 140f.; ebenso HOFIUS (1987), 17, der in Joh 1,1 die exegetische Notwendigkeit sieht, von der wesensmäßigen Identifikation von zwei zu unterscheidenden Personen zu sprechen. Wie THYEN (2005), 74 zu Recht betont, ist daher zweitrangig, ob noch in V. 9–15 der Logos asarkos im Blick ist (so HAHN [2011], 615; SCHNELLE [2016], 51; HOFIUS [1987], 21), oder bereits der Logos ensarkos (so WENGST [2000], 58; ZUMSTEIN [2016], 78). 19 Der Bezug zu Joh 1–12 ergibt sich insbesondere dann, wenn man mit CULPEPPER (2016), 18f. in dem Gegenüber von ὁ κόσμος (V. 10) und οἱ ἴδιοι (V. 11) zugleich den Dienst Jesu vor der Welt in Joh 1–12 und vor den Seinen (Joh 13–21) vorgeschattet sieht. Die Haltung der Ablehnung durch die Welt verweist dann bereits proleptisch auf die stark juristisch geprägten Auseinandersetzungen in Joh 1–12. 20 Die Lichtmetaphorik verbindet schöpfungstheologische, soteriologische und forensische Akzente. Siehe zur bewussten Verwendung doppeldeutiger und ambivalenter Ausdrücke im Evangelium schon CULLMANN (1966); siehe für eine neuere Auseinandersetzung auch VAN BELLE/LABAHN/MARITZ (2009). 21 MORRIS (1995), 76 bemerkt: „The theme of the perpetual conflict between darkness and light is found throughout the book. […] His [Jesus’] whole mission was a conflict between the light and the darkness.“ Morris verweist dabei auf Joh 3,19; 8,12; 12,35; 12,46. 22 Die Lichtmetaphorik schließt sich zunächst ganz an den Kontext der Schöpfung an, wie auch die Aufnahme der Semanteme φῶς (Gen 1,3–5), σκοτία (Gen 1,2.4) und ζωή (vgl. Gen 1,30; 2,7.9) in V. 4–5 zeigt. Mit der Bezugnahme auf die Schöpfung scheint sowohl physisches, geistiges und geistliches Leben durch die Lichtmetaphorik ausgedrückt zu sein (KÖSTENBERGER [2004], 30). Im Sinne der häufig multidimensional angelegten johanneischen Begriffe sind somit kosmische und soteriologische Aspekte zusammengedacht (CULPEPPER [2016], 6f.; vgl. für den engen Zusammenhang dieser Aspekte vor dem atl. Hintergrund auch GESE [1983], 161–163.190–192), wodurch das schöpferich-erhaltende Tun des Logos zur Metapher für die soteriologischen Aussagen des Evangeliums wird, die sich in der anschließend beschriebenen Menschwerdung des Logos entfalten; vgl. BARRETT (1978),

144

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

kommt in der Fortsetzung ἡ σκοτία αὐτὸ οὐ κατέλαβεν (V. 5b) und dem damit eingeführten Dualismus von Licht und Finsternis zugleich ein tiefgreifender kosmischer Konflikt zum Ausdruck. 23 Durch die Verwendung des Lexems καταλαμβάνω (V. 5) wird in Form eines Oxymoron die Finsternis als passiv und unfähig beschrieben, das angebotene Licht geistig zu be- und ergreifen.24 Im Sinne johanneischer Ambivalenz ist jedoch ebenso die Deutung im Sinne eines feindlichen Überwältigens präsent,25 wenn nicht sogar dominant.26 Programmatisch steht damit über der Inkarnation des Logos von Beginn an eine feindliche, konfrontative Komponente des Konflikts,27 bei dem bereits zu Beginn des Evangeliums der Unglaube und die Ablehnung durch die Finsternis betont wird. Dieselbe Akzentuierung der Lichtmetaphorik findet auch in dem inhaltlich zu V. 1–5 korrespondierenden Prologteil in V. 9–13 (vgl. Tab. 2).28 157: „The Prologue claims no more than the rest of the gospel, but sets first in a cosmological aspect what later will appear in a soteriological […].“ 23 So auch CULPEPPER (2016), 8. 24 Vgl. zu diesem Verständnis von καταλαμβάνω als ‚begreifen‘ BEASLEY-MURRAY (1999), 11; SCHNACKENBURG (1992a), 222; WENGST (2000), 60; RIDDERBOS (1997), 39f.; SCHNELLE (2016), 51; KLINK (2016b), 96. Meist liegt die Annahme zugrunde, dass V. 5 inhaltlich parallel zu V. 10 sein muss; siehe dazu unten Anm. 26. 25 So bemerkt ZUMSTEIN (2016), 78 richtig: „Die Mehrdeutigkeit des Verbs ist nicht voreilig aufzugeben […].“ Nach Zumstein sind beide Bedeutungskomponenten präsent; ähnlich gehen KEENER (2010a), 387; BARRETT (1978), 158; MCHUGH (2009), 18; HENGEL (2008), 276 von einem bewussten Wortspiel aus. 26 So neben THYEN (2005), 74; THEOBALD (2009), 115f. die Mehrheit der englischen Kommentare; vgl. LINDARS (1987), 87; MORRIS (1995), 76; MICHAELS (2010), 56; KÖSTENBERGER (2004), 31; LINCOLN (2005), 99; THOMPSON (2015), 30; WEINRICH (2015), 97; VON WAHLDE (2010), 4; BROWN (1966), 8; MOLONEY (1998), 43. Dafür spricht (1) die Verwendung von καταλαμβάνω anstelle des in V. 10 positiv konnotierten παραλαμβάνω und (2) die Verwendung von καταλαμβάνω in Joh 12,35, die durch die Anknüpfung an den Kontrast zwischen Licht und Finsternis zusammen mit Joh 1,5 eine inclusio um die ersten Hälfte des Evangeliums bildet. HOFIUS (1987), 19 bezeichnet das Verständnis von καταλαμβάνω im Sinne eines feindlichen Überwältigens als „philologisch unanfechtbar“. 27 Vgl. auch HARTSOCK (2013), 523. Diese ist auch dann präsent, wenn man wie RIDDERBOS (1997), 40; BEUTLER (2013), 86 καταλαμβάνω im Sinne von ‚verstehen‘ auffasst. So sieht Ridderbos hinter V. 1–4 das, „what one can call the great content of this Gospel, that is, to Christ’s appearance as the light of the world in its confrontation with the darkness“ (aaO., 40). Ridderbos verweist dabei auf Joh 8,12; 3,19f; 9,5 und 12,35 als alle die Passagen, in denen das Kernkonzept der Konfrontation von Licht und Finsternis präsent ist. Nach Kapitel III,2 stehen alle diese Passagen in Kontexten mit stark ausgeprägter forensischer Motivik und lassen die anhand der Lichtmotivik in Joh 1,1–4 ausgedrückte Konfrontation ebenfalls unter einer stark forensischen Akzentsetzung erscheinen. Unverständlich ist daher die Bemerkung von BEUTLER (2013), 86: „Der Gedanke der ‚Verfolgung‘ steht freilich nicht im Text des Johannesprologs“, weil sie eine falsche Alternative zwischen Wortsinn und Aussageintention aufbaut. 28 Vgl. dazu auch DE LA POTTERIE (1984), 361f.

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34) Joh 1,1–5 Das Licht kommt in die Welt Das Licht scheint Das Licht wird abgelehnt

V. 4 V. 4 V. 5

145

Joh 1,9–13 V. 9 V. 9 V. 10–11

Tab. 2: Parallelität zwischen Joh 1,1–5 und Joh 1,9–13.

Bleibt die Darstellung eines durch das Erscheinen des Lichts provozierten tiefgreifenden Konflikts im ersten Teil des Prologs A1 (V. 1–5) noch auf der Ebene einer durch die metaphorische, durch Ambivalenz geprägte Ausdrucksweise provozierten (Vor-)Ahnung des Lesenden, wird diese in dem dazu korrespondierenden Rahmenteil A'1 (V. 9–13) zur Gewissheit. Mag auch der Ausdruck τὸ φῶς τὸ ἀληθινόν, ὃ φωτίζει πάντα ἄνθρωπον (V. 9)29 ebenso wie das Scheinen des Lichts V. 4–5 zunächst auf die heilsgebende Funktion des Logos hinweisen,30 steht auch diese durch die Fortsetzung von V. 10–11 schon maßgeblich im Dienste eines bewusst evozierten Kontrastes zu der nun personal konkretisierten Finsternis als Menschenwelt.31 Durch den synthetischen Parallelismus in V. 11 gewinnt dieser Akzent Kontur und steigert gleichzeitig die Ablehnung der Welt (ὁ κόσμος, V. 10) zur Ablehnung von den Seinen (οἱ ἴδιοι, V. 11), die dadurch in ironischer Weise zur Exemplifizierung größtmöglicher Ablehnung und zu Repräsentanten der feindlich reagierenden Welt werden.

29 Die Deutung des folgenden Ausdrucks ἐρχόμενον εἰς τὸν κόσμον als auf φῶς (V. 8) oder den λόγος (V. 1) bezogenes participium coniunctum ist beizubehalten und einer Deutung als conjugatio periphrastica (so HAHN [2011], 615) oder auf ἄνθρωπον bezogenes attributives Partizip (im Sinne von ‚jeder Mensch, der in die Welt kommt‘; vgl. SCHLATTER [1960], 15; BROWN (1966), 9f.) vorzuziehen (so die meisten; vgl. etwa THYEN [2005], 81f.; MORRIS [1995], 83; BRUCE [1983], 35f.; BARRETT [1978], 160f.; RIDDERBOS [1997], 43; SCHNACKENBURG [1992a], 229; ZUMSTEIN [2016], 81). Damit ist schon deutlich der inkarnierte Logos im Blick (SCHNACKENBURG [1992a], 230; ZUMSTEIN [2016], 81). 30 So zahlreiche Ausleger; vgl. ZUMSTEIN (2016), 81 („Die erneute Verwendung der Lichtsymbolik ermöglicht eine Vertiefung der soteriologischen Funktion des Logos“); SCHNACKENBURG (1992a), 229 („Die lebenspendende, erleuchtende Fähigkeit des Logos“); WENGST (2000), 63 (versteht „das Erleuchten Gottes von seiner Barmherzigkeit her“). Wenn aber nach Ansicht der meisten Forscher mit V. 9 ein direkter Verweis auf V. 4–5 vorliegt, muss auch in V. 9 eine Bedeutung mitschwingen, nach der der Mensch in forensischer Hinsicht ins Licht gestellt wird; vgl. LINCOLN (2000), 145: „In coming into the world, the light functions to judge humanity“; ähnlich auch BULTMANN (1986), 32f.; BLANK (1964), 99. Dass dieser Aspekt vom Erzähler tatsächlich mitgedacht ist, zeigt die Verbindung vom Kommen des Lichts in die Welt als Metapher für Gericht in Joh 3,19 (αὕτη δέ ἐστιν ἡ κρίσις ὅτι τὸ φῶς ἐλήλυθεν εἰς τὸν κόσμον), die als interne Analepse auf Joh 1,5.9 zurückgreift (vgl. dazu unten Kapitel IV,2.2). 31 So schon richtig BULTMANN (1986), 31. THYEN (2005), 82 spricht von einem „eklatanten Widerspruch zum folgenden V. 10“. Diese Einschätzung ist jedoch nur bedingt richtig, insoweit sie die Ambivalenz der Ausdrucksweise in V. 9 außer Acht lässt.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Der Prolog steht somit in Bezug auf die Beschreibung der Begegnung des Logos mit der Welt und ihrer Reaktion von Beginn an unter dem Vorzeichen eines kosmischen Konflikts. Dass dieser Konflikt als dezidiert juristischer Konflikt dargestellt wird, geht wesentlich auf die Einführung der Zeugnismotivik zurück, die in V. 6–8 gleich zu Beginn des Evangeliums mit den Lexemen μαρτυρία und μαρτυρέω in einer emphatischen Formulierung 32 zum ersten Mal begegnet. Vor dem Hintergrund der feindlichen Ablehnung und Konfrontation in V. 5 erweist sich das Zeugnismotiv als inhaltlich kongruenter Anschluss.33 Die Formulierung in V. 6–8 führt zugleich die Person des Johannes in der für das Evangelium charakteristischen Rolle als Zeuge ein34 und deutet auf diese Weise ein forensisches Setting an, das im Prolog selbst jedoch noch nicht näher entfaltet wird. Dass das Zeugnis in V. 6–8 heilschaffend-offenbarenden wie forensischen Charakter zugleich hat, ist bereits durch die Polysemie der Lichtmetaphorik in V. 4–5 vorgegeben.35 Der in diesem Zusammenhang verwendete erste Beleg von μαρτυρία im Evangelium lässt die genaue Funktion des Zeugnisses jedoch noch offen und betont stattdessen in emphatischer Doppelung (περὶ τοῦ φωτός in V. 7.8) den Gegenstand des Zeugnisses in unspezifischer Weise als Zeugnis „über“ das Licht. 36 Die interne Analepse 37 von Joh 1,6–8 auf Joh 1,15 macht zwar deutlich, dass das Zeugnis maßgeblich den Vorrang und die Präexistenz Jesu im Blick hat,38 zeigt daneben aber auch, dass sich der Inhalt des Zeugnisses erst im Auftreten des Johannes in Joh 1,19–34 32 Die tautologische Formulierung οὗτος ἦλθεν εἰς μαρτυρίαν ἵνα μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ φωτός (V. 7) dient der Emphase (vgl. WEINRICH [2015], 98). Die anschließende Wiederholung ἵνα μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ φωτός (V. 8) bestärkt die enge Verbindung der Person des Johannes zu seiner Zeugnisfunktion und hebt gleichzeitig das Zeugnis als betontes Motiv des Evangeliums hervor (vgl. dazu auch ZIMMERMANN [2016], 105). 33 Siehe dazu VREDE (2014), 717. Aufgrund dieses Zusammenhanges im Prozessmotiv ist es nicht zielführend, V. 6–8 als „Exkurs“ (WENGST [2000], 62) anzusehen; vielmehr erweist sich das Zeugnismotiv als fester Bestandteil der ambivalent vorhandenen forensischen Akzentsetzung des Prologs; vgl. VREDE (2014), 717. 34 Die Einführung des Johannes zeigt ihn als Charakter unauflöslich mit der Zeugenthematik verbunden (Joh 1,6–8.19–28; 3,26.32f.); vgl. BULTMANN (1986), 30; WENGST (2000), 62 WEINRICH (2015), 98; ZIMMERMANN (2016), 99. Von den 47 Belegen der Derivate von μαρτυρ* im Evangelium beziehen sich 14 Belege auf das Zeugnis des Johannes. Umgekehrt wird das Zeugnis des Johannes an jeder Stelle genannt, an der er erwähnt wird (vgl. THOMPSON [2015], 30). Johannes ist damit im Evangelium so maßgeblich als Zeuge präsentiert, dass auch die Tauftätigkeit (vgl. Joh 1,25f.; 3,23) stets der Zeugenfunktion untergeordnet wird (Joh 1,19–34; 3,22–36); vgl. auch CULPEPPER (2016), 16; ZIMMERMANN (2016), 99. 35 Siehe für die unterschiedlichen Bildkomponenten der Lichtmetaphorik etwa THOMPSON (2015), 29. In der Lichtmetaphorik zeigt sich damit die typische „Polyvalenz der Bildersprache“ (ZIMMERMANN [2000], 18). 36 Siehe zu der inhaltlich unpräzisen Konstruktion μαρτυρέω + περί Kapitel III,2.1. 37 Siehe zum Begriff Kapitel I,3.1 und CULPEPPER (1987), 58. 38 So auch WILLIAMS (2013), 49.

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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konkretisieren wird39 und damit im Prolog inhaltlich noch nicht genau gefasst werden kann. Der Offenbarungscharakter des Zeugnisses führt zwangsläufig zu dem stark forensischen Charakter des Zeugnisses,40 der schon hier programmatisch auf die Prozessmotivik als zentralen Motivkomplex des Evangeliums hinweist.41 Noch bedeutungsvoller ist jedoch, dass der Martyria stets das Erscheinen des Logos als Licht vorausgeht (V. 4–5; V. 9–14) und dabei jeweils eine Polarisierung und Ablehnung hervorrufende Reaktion und eine ausgeprägt konfrontative Komponente des juristischen Konflikts in den Vordergrund gerückt wird.42 Die beiden Martyria-Passagen bekommen damit eine deutlich juristische Konnotation und erwecken so das Bild eines Prozessgeschehens: „The opposition of darkness to light […] is characterized in the prologue and in the rest of the Gospel figuratively as a legal process or trial in which there are witnesses […] and standards by which the accused should be judged.“43 Insoweit ein Zeugnis immer zugleich ein richtendes Tribunal voraussetzt, wird dabei auch eine (be-)urteilende Instanz von Zuhörern vorausgesetzt,44 die in dem Ziel ἵνα πάντες πιστεύσωσιν (V. 7) die größtmögliche Allgemeinheit unter Einschluss der Lesenden im Blick hat. Die Verbindung der Zeugnismotivik mit dem absolut gebrauchten Semantem πιστεύω ist in der Prozesssprache fest vorgegeben 45 und bildet zusammen mit der Verwendung in Joh 20,31 zugleich eine inclusio um das ganze Evangelium.46 Erscheint das Zeugnismotiv mit dem Ziel des Glaubens (εἰς μαρτυρίαν ἵνα μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ φωτός, ἵνα πάντες πιστεύσωσιν, V. 7) allein durch diese Einbindung in die Zielsetzung des Evangeliums in einer apologetischen Funktion eines verteidigenden Zeugen, so wird 39 Diesen Verweischarakter formuliert auch WILLIAMS (2013), 50, die eine „anticipatory function“ sieht. 40 Vgl. VON WAHLDE (2010), 5; ebenso MCHUGH (2009), 24: „μαρτυρία here carries its primary, legal meaning of testifying, of bearing witness to the true state of affairs because one has fuller knowledge than others.“ Ähnlich auch BULTMANN (1986), 30: „μαρτυρέω (μαρτυρία, μάρτυς) hat durchweg den (juristischen) Sinn: durch seine Aussage einen in Frage stehenden Tatbestand als wirklich (bzw. unwirklich) bezeugen.“ 41 So THYEN (2005), 76; ferner auch MCHUGH (2009), 24f.: „John will be the first witness, both in the gospel-book (1:15) and in the story (1:32, 24; 3:26, 28); he is also the first witness invoked in what we may call the (unofficial) trial of Jesus in Jerusalem, spanning chs. 5–10 (see 5:33–36a).“ Vgl. zu der von Bultmann geprägten Rede vom „großen Prozess zwischen Gott und der Welt“ (BULTMANN [1986], 426.507) unten Anm. 53. 42 So insbesondere in V. 4.10.11; vgl. dazu auch MORRIS (1995), 76. 43 CULPEPPER (2016), 25. 44 So auch BULTMANN (1986), 30 über das Zeugnis: „[E]s findet statt vor einem Forum, das ein Urteil zu fällen hat, und ist eine für dieses Urteil verbindliche Aussage“; ebenso MCHUGH (2009), 24. 45 Vgl. dazu BEUTLER (1972), 336f. 46 So VON WAHLDE (2010), 6; VREDE (2014), 717; LOADER (2016), 52. Vgl. die enge inhaltliche Parallele zwischen ἵνα πάντες πιστεύσωσιν in Joh 1,7 und ἵνα πιστεύσητε in Joh 20,31.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

dieses Setting zunächst durch Bezüge zum Rechtsstreit von Jes 40–55 bestätigt. Mit dem Zeugnis des Johannes wird nicht nur das Zeugnismotiv bereits im Prolog in den Kontext von Jes 40,3 gestellt,47 sondern es werden auch enge Parallelen zum Zeugnis Israels in Jes 43,1048 als Zeugnis für den einzig wahren Gott (vgl. Joh 1,1.14.18) aufgewiesen.49 Im johanneischen Kontext wird neben der Lichtmetaphorik insbesondere die ablehnende Haltung sowohl des κόσμος (Joh 1,10) als auch der ἴδιοι (als Bezeichnung für Israel in Joh 1,11)50 zum negativen Hintergrund, vor dem das Zeugnis für Jesus als λόγος, θεός (Joh 1,1– 2) und μονογενής (Joh 1,14.18) erscheint.51 Damit wird ein forensischer Prozess angedeutet,52 der auf der Bühne eines jüdischen Settings in der folgenden Erzählung des Evangeliums ausgetragen wird und bei dem die Juden in einem übergreifenden, kosmischen Konflikt 53 zu den Repräsentanten der Welt 54 47 HENGEL (2008), 277 sieht schon in Joh 1,6–8 das Zeugnis des Johannes nach Jes 40,3 LXX (vgl. Joh 1,23) im Blick. 48 Siehe zum atl. Kontext ausführlich Kapitel II,2.2.3–2.2.4. 49 So auch HENGEL (2008), 280, der im Zeugnis Israels aus Jes 43,10 (γένεσθέ μοι μάρτυρες, Jes 43,10 LXX) mit dem Ziel des Glaubens (ἵνα γνῶτε καὶ πιστεύσητε … ὅτι ἐγώ εἰμι, Jes 43,10 LXX) eine enge Verbindung zur johanneischen Formulierung in Joh 1,6–8 sieht: „The keyword occurs […] above all in Deutero-Isaiah, which in 43:10 […] sounds completely Johannine […].“ Auch die Lichtmetaphorik wird im Rechtsstreit von Jes 40–55 gebraucht (Jes 42,6; 49,6; ferner 45,7). 50 Dass mit οἱ ἴδιοι im Kontext nicht ein Synonym für die Welt (so BULTMANN [1986], 34; SCHNACKENBURG [1992a], 235f.; HOFIUS [1987], 21f.), sondern Israel als Volk Gottes im Blick sein kann, hat THYEN (2005), 84–86 ausführlich dargelegt; vgl. ebenso KLINK (2016b), 103; WEINRICH (2015), 101f.; VON WAHLDE (2010), 7; WENGST (2000), 64; GESE (1983), 166 sowie HENGEL (2008), 279. 51 Die Parallelen zur Darstellung in Jes 40–45, in der das Zeugnis um den Anspruch Jahwes als einzigem θεός (vgl. Jes 43,11; 44,6; 45,5.14.21) sowohl vor den Völkern als auch vor Israel im Mittelpunkt steht), treten hier deutlich zutage (siehe dazu ferner Kapitel II,2.2.4). 52 STIBBE (1992), 100 bemerkt, dass Joh 1,5 nach Ansicht einiger Forscher sogar als impliziter Kommentar zur Prozessszene in Joh 18,1–27 fungiert. 53 Obwohl Bultmann in seiner bekannten Rede von „dem großen Prozeß zwischen Gott und der Welt“ (BULTMANN [1986], 426.507, ähnlich aaO., 59.223.226.439) die Prozessmotivik stark vor gnostischem Hintergrund auf eine Erfahrung der Entweltlichung (aaO., 435) gedeutet hat, die weniger für das Leben Jesu als die Verkündigung der Geist-erfüllten Gemeinde verwirklicht wird (aaO., 426; vgl. dazu auch den Forschungsüberblick in Kapitel I,1), ist darin doch die kosmische Dimension der in Joh angelegten Prozessmotivik richtig erkannt und hinsichtlich ihrer Bedeutung als Prozess Gottes mit der Welt in der neueren Forschung bestätigt worden (vgl. MCHUGH [2009], 25; KÖSTENBERGER [2009], 437f.; LINCOLN [2000], 46; ZUMSTEIN [2016], 91; KIERSPEL [2006], 84f.; THYEN [2005], 76). 54 Siehe dazu insbesondere die Monografie von KIERSPEL (2006). Vgl. auch MICHAELS (2010), 67: „The point is that while the Jews are not viewed here as Jesus’ ‚own‘ in a special sense in which the Gentiles are not, they may be in mind as representatives of the world to which Jesus came, with Judea or Jerusalem as the stage on which the drama of Jesus’ confrontation with the world is to take place.“

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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werden. Während mit Johannes dabei die forensische Rolle des Zeugen präsent ist, erscheint diese als Zeugnis für den Logos als Licht und in einer apologetischen Funktion, ohne dass die Einzelheiten des so evozierten Prozess-Settings bereits im Prolog expliziert werden. Prozessmodulation Scheint das Zeugnismotiv im Prolog maßgeblich im Dienst einer Beglaubigung zu stehen und so in der dominanten forensischen Konnotation eine apologetische Funktion gegenüber der ablehnenden Welt zu gewinnen, so setzt die pointierte Beschreibung der Ablehnung subtile Akzente, die auf eine dazu konträre juristische Rollenfunktion hinweisen. Gerade nach der Beschreibung des λόγος als θεός und Mitschöpfer (1,1–3) tut sich durch den in Joh 1,5 neu und unvermittelt eingetretenen Aspekt der Ablehnung, Feindschaft und Konfrontation eine unerwartete Spannung auf.55 Die mit καταλαμβάνω bereits in der Lichtmetaphorik angedeutete feindliche Reaktion der Welt steht nicht nur in ironischem Kontrast zu der vorangegangenen Darstellung des Logos als Inbegriff und Ursprung allen natürlichen, geistigen und geistlichen Lebens eben jener ihn ablehnenden Menschenwelt,56 sondern gewinnt gerade in diesem bizarren Kontrast den unerhörten Klang einer schuldhaften Verweigerung und Opposition.57 Bereits mit V. 5 tritt daher eine Akzentsetzung hervor, nach der φῶς und σκοτία für moralische Qualitäten stehen58 und somit gleichzeitig den einer juristischen Konnotation inhärenten Aspekt eines schuldhaften Vergehens einbringen.59 Durch die moralische Konnotation der Finsternis und der im alttestamentlich-frühjüdischen Hintergrund des Zeugnismotivs stets angelegten Anklagefunktion 60 nimmt der ideale Leser zugleich eine Neubewertung 61 des 55

Vgl. dazu auch HENGEL (2008), 276. Siehe dazu HOFIUS (1987), 18f. 57 So auch CULPEPPER (2016), 25; SKINNER (2013), 54. Die rezeptionsästhetische Komponente wird dabei selten bedacht, SCHLIER (1966a), 279 spricht bei dieser Verweigerung aber zu Recht von einer dem Text inhärenten „Ungeheuerlichkeit“. 58 Vgl. LINDARS (1987), 86f.; SHIRBROUND (2013), 473; BARRETT (1978), 158. Das Bild ist als solches universell und sowohl im Alten Testament und Frühjudentum als auch in griechisch-römischen Kulturkreisen vielfach belegt; siehe dazu KEENER (2010a), 382–385; SCHNACKENBURG (1992a), 223–226; HARTSOCK (2013), 522. Hartsock bezeichnet die Metapher als „a universal, archetypal metaphor that nearly every culture understands“ (aaO., 522). 59 Vgl. dazu THOMPSON (2016), 280f.; nach RINGLEBEN (2017), 65 kommt mit σκοτία als „verdunkelnde Macht zusätzlich die Sünde ins Spiel“. 60 Siehe dazu Kapitel II,1.3.3. 61 Die Neubewertung als Modifizierung oder Aktualisierung von Ansichten ist wesentlicher Teil des Lesevorgangs beim impliziten Leser; vgl. dazu CULPEPPER (1987), 208f. Die im Text simultan vorliegenden Ambivalenzen nimmt der Lesende nur sequenziell im Lesevorgang wahr. Dies führt zwangsläufig zu Neubewertungen der vorläufigen Erschließung des Textsinnes. 56

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Ausdrucks τὸ φῶς ἐν τῇ σκοτίᾳ φαίνει vor, der nun gleichzeitig als Aufdecken und Überführen von Schuld erscheint. Das Scheinen des Lichts stellt so auch jeden Menschen ins Licht (τὸ φῶς … φωτίζει πάντα ἄνθρωπον, V. 9) und bekommt damit einen forensisch-anklagenden Akzent.62 In dieser ambivalenten Bildlichkeit gewinnt das Licht somit einen „kritischen, überführenden Charakter“63 und wird zum Symbol für das Gericht selbst.64 Durch das so angedeutete Prozess-Setting erfährt auch die gehäufte Verwendung von μαρτυρία und μαρτυρέω in V. 7–8.15.19 eine neue Deutung. Scheint die Funktion des Zeugnisses zunächst eine hinweisende oder verteidigende Komponente zu tragen, erscheint durch die absichtsvoll ambivalente Konstruktion μαρτυρέω περί (V. 7.8) die juristische Funktion des Zeugnisses so offen, dass dieses sich als Zeugnis für die Präexistenz und den Vorrang Jesu in Entsprechung zu seiner alttestamentlich-frühjüdischen Verwendung im Rechtsstreit65 zugleich und logisch notwendig zu einer Anklage gegen die Welt öffnet. Die anklagende Komponente ist notwendig darin eingeschlossen, dass ein positives Zeugnis für das Licht zugleich die schuldhafte Ablehnung der Welt offenbart. 66 Indem das Zeugnismotiv in der strukturellen Anlage des Prologs stets auf das Erscheinen des Logos folgt,67 fungiert die Darstellung auch narrativ in Form einer literarischen Mimesis als durch das Licht bewirkte Über-Führung (im literarischen und forensischen Sinn) mit resultierender Bloßstellung der Welt. Ist damit in der Lichtsymbolik zugleich eine metaphorisch-richtende Instanz angedeutet, wird das Zeugnis des Johannes für das Licht (mit emphatischer Doppelung in V. 7.8) zum Anklage-Zeugnis und kreiert so das Setting eines metaphorischen kosmischen Prozesses mit der Welt vor dem Tribunal des Schöpfers. Diesem forensischen Setting entspricht die betont polarisierende Wirkung des Lichts in V. 10–13,68 die keine universalistische Heilsfunktion 62 Vgl. auch BRUCE (1983), 33, der das Licht als solches sieht, „that dispels the darkness of sin and unbelief“. Ähnlich betont auch THEOBALD (1988), 322f. das Licht als Symbol für Gericht. 63 So WENGST (2000), 59f. mit Verweis auf Joh 3,19; 7,7; vgl. auch THOMPSON (2016), 279. 64 Im johanneischen Kontext steht nicht nur Finsternis für Sünde und den Zustand unter Gericht (BULTMANN [1986], 34; SCHNELLE [2016], 52; SHIRBROUND [2013], 473), sondern auch das Licht selbst für das die Sünde offenbarende Gericht (LINCOLN [2000], 59). So verweist ZUMSTEIN (2016), 78 auf „die durch das In-die-Welt-Kommen des Logos ausgelöste Krise“. Das Licht dagegen bewirkt Gericht („judgment“ bei MOLONEY [1998], 43), insoweit es die Finsternis als solche offenbart und alles, was vorher in der Finsternis war, bloßstellt. 65 Siehe dazu ausführlich Kapitel II,1.3, insbesondere zur prädominanten Funktion des Zeugen in der Anklage. 66 Vgl. zur engen Verbindung des Zeugnisses zur Anklage in Joh 1,7–8 auch BULTMANN (1986), 30. 67 Vgl. dazu oben in diesem Abschnitt Narrative Einbettung. 68 Vgl. THYEN (2005), 72; siehe ferner HARTSOCK (2013), 523: „Light and darkness are in conflict with one another, and the people find themselves on one side or the other (Jn

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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hat, sondern den Prozessausgang von der Reaktion der Menschen abhängig macht (V. 12). Die antithetischen Formulierungen (V. 11–12) verdeutlichen dabei jedoch nicht nur das doppelte Schicksal, sondern setzen den Fokus durch eine rhetorisch wirkungsvolle Intensivierung zunächst auf eine Verurteilung der Welt. Dazu wird mit ἐν τῷ κόσμῳ ἦν, καὶ ὁ κόσμος δι᾽ αὐτοῦ ἐγένετο (V. 10) zunächst in Rekapitulation und Konkretisierung von V. 1–5 ein retardierendes Element zur Steigerung gebraucht, nur um im eigentlichen Zielpunkt des Satzes mit καὶ ὁ κόσμος αὐτὸν οὐκ ἔγνω69 die Ablehnung des eigenen und inkarnierten Schöpfers als größtmögliche Antithese zu erzeugen. Auf den impliziten Leser wirkt dieser bizarre (Selbst-)Widerspruch70 der Welt nicht nur als unerwartetes und unbegreifliches Vergehen, 71 sondern ruft aufgrund der Ablehnung des Schöpfers und Heilsgebers zugleich das Gefühl einer tiefen Ungerechtigkeit mit blasphemischem Charakter hervor. Dies erinnert – insbesondere vor dem stark alttestamentlichen Hintergrund der Darstellung – nicht nur an die zentralen Verbote der mangelnden Verehrung Gottes im Pentateuch,72 sondern auch an den Rechtsstreit in Jes 40–55, der die Ablehnung Gottes durch die Seinen zum wesentlichen Inhalt hat.73 Solche intratextuellen Verweise fungieren hier jedoch nur als assoziativer Motivhintergrund und kaum auf direkter Ebene, wie auch die Art der Ablehnung im Prolog nicht inhaltlich konkretisiert wird. Vielmehr dienen die Aussagen in Joh 1,10–11 als narrative Zusammenfassung noch nicht erzählter Einzelereignisse in Joh 1–12 und damit als interpretierende interne Prolepse. Der Lesende erfährt von einer grundlegenden Feindschaft der Welt, die implizit eine juristische (Be-)Wertung des Lesenden evoziert und die offensichtliche Konsequenz vor Augen führt, dass diese Ablehnung für die Welt nicht ohne Folgen bleiben kann. So ist Joh 1,10

3:19–21) based on their good or evil deeds. […] There is no middle ground; one is either on the side of light or on the side of darkness.“ 69 Dieses Erkennen (γινώσκω) ist im Sinne des hebräischen ‫ יָדַ ע‬als sich bekennendes, erfahrendes, sich ganz öffnendes Erkennen zu verstehen. Es ist damit die natürliche und geforderte Reaktion des Menschen auf die Erleuchtung durch den Logos, die ihm die Welt verweigert. 70 Im Widerspruch zu dem ihn erhaltenden Logos widerspricht der Mensch sich selbst; vgl. SCHNELLE (2016), 54. Ganz folgerichtig bemerkt RINGLEBEN (2017), 66: „Entfremdung von ihrem Logos ist Selbstentfremdung […].“ 71 Vgl. dazu auch SCHNELLE (2016), 54: „Dieses Rätsel bleibt in seiner Unbegreiflichkeit stehen […].“ Ähnlich sieht LAUSBERG (1984), 223 den „Akzent einer ‚philosophischen (biblisch: ‚sapientialen‘) Verwunderung‘, also einer ‚Paradoxie‘“, die sinnfällig in der Frage „wie kann man ein ‚Licht‘ ‚nicht erkennen‘?“ (aaO., 224) zum Ausdruck kommt. 72 Siehe zu solchen atl. Passagen oben Kapitel II,2.1. 73 Vgl. zu dieser Akzentsetzung oben Kapitel II,2.2.4. HENDRIKSEN (1953), 80 sieht einen direkten Bezug zum weiteren Kontext des Bundesrechtsstreit im Propheten Jesaja: „Isa. 1:2, 3 is the best commentary on the tragedy that is here recorded […].“ Siehe zum atl. Kontext des Bundesrechtsstreites Kapitel II,2.1–2.2.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

„eine an die Menschheit gerichtete Anklage, nicht nur den ‚Schöpfer‘ aus den Geschöpfen nicht zu erkennen […], sondern diese ‚Erkenntnis-Verweigerung‘ auch auf den als Menschen Inkarnierten auszudehnen […], was als theo-ontologisches ‚scandalum‘ hingestellt wird, dessen Vorwurfs-Phänomene aus späteren Reden Jesu […] stammen.“74

Die Folgen für die Welt werden dabei jedoch bewusst nicht genannt und erzeugen eine Erwartung, die den Lesenden auf die narrative Ausgestaltung eben jenes Konflikts, seiner juristischen Bewertung und seiner Folgen in Joh 1–12 vorausweist.75 Diese setzt (in Parallelität zur Scheidung von Licht und Finsternis in V. 4) das in die Welt kommende Licht (V. 9) als in seiner (Aus-)Wirkung höchst polarisierend voraus, sodass sich eine Scheidung zwischen Annahme und Ablehnung des Logos ergibt. Dass dabei Licht und Finsternis zugleich den Zustand nach der Reaktion auf das Licht beschreiben, zeigt den komplexen Charakter der Lichtmetaphorik als Gericht mit doppelter Konsequenz auf. 76 Der Scheidevorgang zwischen Licht und Finsternis wird somit zur Metapher für einen forensischen Akt, der schon in der alttestamentlichen Prozessmotivik angelegt ist und einen doppelten Ausgang hat.77 Das Licht wirkt wie im atl. Rechtsstreit sowohl lebengebend als auch verurteilend (vgl. Abb. 8). Lichtmetaphorik: Ablehnung: Finsternis Finsternis

Licht kommt

ins Licht stellen Annahme: Erleuchtung

Rechtsstreit: Ablehnung: Gericht Schuld

Rechtsstreit

Schuldspruch Annahme: Heil

Abb. 8: Licht als Metapher des alttestamentlichen Rechtsstreites.

Insbesondere die darin angelegte Paradoxie, dass eine Annahme des Lichts, das zugleich verurteilt, nicht zum Gerichtsurteil, sondern zum Heil führt, ist eine einzigartige Akzentsetzung des prophetischen Rechtsstreites im Alten Testament und wird im Prolog über die Möglichkeit des Glaubens (1,7) und den 74

LAUSBERG (1984), 224; ähnlich auch SCHLIER (1966a), 280. Der Erzähler kann es somit dabei belassen, durch die interne Prolepse eine Lesererwartung zu kreieren, die die folgende Erzählung auf die Konkretisierung dieses Konflikts hin befragt, und sich in V. 12–18 auf die heilschaffenden Auswirkungen des Logos konzentrieren. 76 Damit kann die Finsternis sowohl für Sünde als Zustand vor dem Eintreffen des Lichts als auch für Gericht als Zustand nach der Ablehnung des Lichts stehen. Beide bildempfangenden Aspekte werden auch in der Forschung im Kontext von Joh 1,4.5.9 gesehen; vgl. oben Anm. 64. 77 Siehe dazu Kapitel III,2.4. Vgl. zu dieser Scheidung schon BULTMANN (1986), 35 (allerdings mit starker Betonung eines gnostischen Hintergrundes; vgl. aaO., 10). 75

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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Begriff χάρις (V. 14.16[2x].17) ausgedrückt.78 Insbesondere die Kombination von φῶς (V. 4.5.9), σκοτία (V. 5) und πιστεύω εἰς τὸ ὄνομα αὐτοῦ (V. 12) stellt dabei einen intertextuellen Bezug zu Jes 50,10 im unmittelbaren Kontext des Rechtsstreites her.79 Während sich der Schluss des Prologs (V. 14–18) stark auf die heilschaffenden Auswirkungen des Logos für solche, die ihn annehmen, konzentriert, wird die Folge für solche, die ihn ablehnen, im Bild der Finsternis nur angedeutet. Mit dem Präsens μαρτυρεῖ (V. 15) wird bereits der Übergang zum Erzählteil von Joh 1,19–34 vorbereitet, der das Zeugnis des Johannes inhaltlich konkretisiert und damit auch eine erste inhaltliche Füllung des im Prolog als Motivraum aufgespannten Rechtsstreites erwarten lässt. Reflexion der Prozess-Narration Mit der Eröffnung des Evangeliums durch den Prolog wird dem Lesenden nicht nur die Perspektive des impliziten Autors vermittelt,80 dass im inkarnierten Logos Gott selbst erscheint,81 sondern durch programmatische Voranstellung und solenne Formulierung eine subtile Leserlenkung erreicht, durch die die im Folgenden beschriebene Ablehnung der Welt (V. 4.5.10.11) in der Leserwahrnehmung als bizarrer Kontrast und „skandalöse Paradoxie“ 82 wirkt. 83 Alttestamentliche Motivik wird dabei selbstverständlich als Deutungshintergrund beim impliziten Leser vorausgesetzt, wie die zahlreichen intertextuellen Verweise auf die Schöpfung zeigen, sodass auch die Verweise auf Grundkonzepte des alttestamentlichen Rechtsstreites als solche vorausgesetzt werden dürften, die vom impliziten Leser wahrgenommen und verstanden werden. 84 Durch die 78 Vgl. zu diesem damit intendierten positiven Ausgang des Rechtsstreites auch LINCOLN (2000), 59. Siehe zu diesem Spezifikum des atl. Rechtsstreites Kapitel II,2.2.4 und II,2.3.5. 79 Vgl. dazu HENGEL (2008), 280. Der Rechtsstreit wird explizit in Jes 50,7–9 genannt. Vgl. zum Rechtsstreit in Jes 40–55 ausführlich Kapitel II,2.2.4. 80 Siehe zur Lenkung der Lesenden in der Erzählung des Johannesevangeliums SHERIDAN (2016), 214f., die dem Prolog dabei eine besondere Stellung zumisst. Sheridan formuliert die Absicht des Erzählers als „goal of elevating the implied reader at the expense of certain, unknowing characters in the story“ (aaO., 214) und sieht diese „nowhere more evident than in the gospel’s Prologue (1:1–18), where the implied reader is informed of Jesus’s identity as the enfleshed ‚Word‘ of God“ (aaO., 214f.). 81 Vgl. dazu KLINK (2016a), 251: „The audience is expected to read the rest of John through the prologue’s spectacles, seeing in every historical scene or moment not merely Jesus the Jew but Jesus the Word-became-flesh […].“ Ebenso SHERIDAN (2016), 215. 82 LAUSBERG (1984), 221. 83 Dass dies bewusst so angelegt ist, beweist die in der Beschreibung der Ablehnung (V. 10–11) als anaphorischer Verweis auf V. 1–3 eingefügte Bemerkung καὶ ὁ κόσμος δι᾽ αὐτοῦ ἐγένετο. 84 Die Tatsache, dass die Darstellungsweise im Evangelium von Beginn an und selbstverständlich unter stark alttestamentliche Sprache und Motivik gestellt wird, ist hier als wichtige Beobachtung festzuhalten. Als Korrelat ergibt sich, dass auch in Bezug auf forensische

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

narrative Gestaltung als Erzählerkommentar bekommt der Prolog damit den metaphorischen Charakter einer formellen Prozesseröffnung85 und kreiert ein trilaterales Prozess-Setting, bei dem Jesus selbst als inkarnierter Logos und (vermittelt durch die Lichtmetaphorik) als richtende Instanz in einem kosmischen Konflikt zwischen Schöpfer und Geschöpfen fungiert und von Johannes als menschlichem Zeugen begleitet wird. Durch starke Bezüge auf den atl. Rechtsstreit bei gleichzeitig fehlender inhaltlicher Konkretisierung fungiert damit der Prolog für den Lesenden als Deutungshinweis auf die Dominanz des Prozessmotivs in der folgenden Erzählung, die zugleich den Lesenden selbst involviert. In Bezug auf die Einführung der Lexeme μαρτυρία und μαρτυρέω in V. 6–8 bemerkt Thyen daher zu Recht: „Schon ihre dichte Kumulation mit der nachdrücklichen Wiederholung des Finalsatzes: ἵνα μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ φωτός, in V. 8 signalisiert darum dem Leser, was er zu erwarten hat: Ohne es recht zu bemerken und doch noch ehe die μαρτυρία des Johannes für dieses ‚Licht‘ inhaltlich überhaupt entfaltet und ihr Forum wird (1,19 ff), wird er durch den bloßen Gebrauch dieser Lexeme seinerseits zum Zeugen gemacht und in den großen Prozeß zwischen Gott und der Welt verwickelt, als dessen Darstellung große Partien des Evangeliums […] gelesen werden wollen […].“86

Damit wird zugleich der literarische Topos aufgegriffen, nach dem ein Prozessbeobachter selbst in das Prozessgeschehen involviert wird und sich seine Meinung über das Geschehen bilden muss.87 Der Lesende wird durch die programmatische Einführung des Zeugenmotivs gleich zu Beginn in die Rolle des Prozessbeobachters versetzt, der sich der folgenden Erzählung als Prozessdarstellung nicht entziehen kann. Die genaue Rolle des Lesenden zwischen Beobachter, Richter oder Zeuge des Prozesses bleibt dabei jedoch noch unscharf und wird erst durch die folgende Erzählung konkretisiert.88 Ein ähnlicher Befund ergibt sich auch für den Inhalt und die forensische Funktion des Zeugnisses sowie des vorausgesetzten forensischen Settings insgesamt. Die wesentliche Funktion des Prologs ist damit die einer Leserlenkung und Evokation einer Erwartungshaltung, die den Lesenden in der folgenden Erzählung mit einem Themen mit der Verwendung alttestamentlicher Sprache und Motivik gerechnet werden muss. Der implizite Leser wird als solcher vorausgesetzt, der die intertextuellen Bezüge und Anspielungen kennt und zu deuten vermag und damit über weitreichende Schriftkenntnisse verfügt. Die tiefe Verwurzelung des Evangeliums in alttestamentlicher Sprache und Motivik ist in der Forschung bereits vielfach herausgestellt worden; siehe dazu stellvertretend die umfassende Darstellung bei KÖSTENBERGER (2007) sowie MYERS/SCHUCHARD (2015) und CHENNATTU (2016). 85 Vgl. dazu auch PANCARO (1975), 273: „The ‚trial‘ of Jesus (which is, in reality, the ‚trial‘ of the Jews and of the world) begins with the Prologue and not with his arrest.“ 86 THYEN (2005), 76. 87 Siehe dazu Kapitel II,1.4.5. 88 Neben der Rolle als Prozessbeobachter wird durch die 1. Pers. Pl. in Joh 1,14–18 eine Zeugenrolle des Lesenden angedeutet (THEOBALD [2016], 120).

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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kosmischen Prozess rechnen lässt, jedoch in Bezug auf die Details des metaphorischen Prozess-Settings noch unscharf bleibt.

1.2. Die Vorstellung des ersten Zeugen (Joh 1,19–34) Narrative Einbettung Mit dem Abschnitt Joh 1,19–34 beginnt der Hauptteil der Erzählung, der sich mit der Martyria des Johannes sogleich auf die Fortsetzung der forensischen Sprache konzentriert und damit eng an den Prolog anschließt. In der Makrostruktur des Evangeliums rahmen der Verweis auf das Zeugnis (1,19–34; 10,40–42) sowie der Hinweis auf den Ort πέραν τοῦ Ἰορδάνου (1,28; 10,40) den auch als „Buch des Zeugnisses“89 bezeichneten Erzählteil von Joh 1,19– 10,42. In Joh 1,19–34 prägt das Zeugnismotiv dabei zwei Szenen, von denen die erste die Befragung des Johannes durch die Juden erzählt (V. 19–28) und anschließend eine zweite Szene mit dem Zeugnis des Johannes in der Gegenwart Jesu folgen lässt (V. 29–34). In diskurstechnischer Hinsicht ist der Beginn mit αὕτη ἐστὶν ἡ μαρτυρία τοῦ Ἰωάννου (1,19) eine anaphorische Deixis auf die Erwähnung der Martyria in Joh 1,6–8.15 und damit als komplettierende Analepse zugleich eine Füllung der im Prolog erzeugten Unbestimmtheit in Bezug auf den Inhalt des Zeugnisses.90 Die Szenenfolge in Joh 1,19–34 wird somit als inhaltliche Konkretisierung des Zeugnisses eingeführt, das in 1,6–8 bewusst vage blieb.91 Konstruktion eines Prozess-Settings In der ersten Zeugnis-Szene (V. 19–28) wird bereits durch die Exposition in V. 19 ein narratives Setting generiert, das dem Zeugnis seinen zeitlichen und situativen Kontext gibt (ὅτε ἀπέστειλαν πρὸς αὐτὸν οἱ Ἰουδαῖοι, V. 19) und mit ‚den Juden‘92 zugleich die in der nachfolgenden Erzählung maßgeblichen Antagonisten Jesu und konkreten Repräsentanten des im Prolog genannten κόσμος einführt.93 Der ganze Aufbau der ersten Szene (V. 19–28) trägt mit der Verwendung von μαρτυρία (V. 19) und μαρτυρέω (V. 32.34) sowie mit den Semantemen οἶδα (V. 26.31.33), θεάομαι (V. 32) und ὁράω (V. 29.33.34), die 89 So etwa THYEN (2005), 111; vgl. zu dieser Entsprechung in der Makrostruktur auch oben Kapitel III,2.5 und ZIMMERMANN (2016), 111. 90 Ähnlich auch WILLIAMS (2013), 50, die in Joh 1,6–8.15 eine „anticipatory function, providing a link between the prologue and what follows“ sieht. 91 Siehe dazu oben Abschnitt 1.1. 92 Siehe zur Bezeichnung Kapitel III,1, Anm. 5. 93 Siehe zu den Juden als Repräsentanten der Welt oben Anm. 54; vgl. zur Rolle als häufige Antagonisten Jesu ZIMMERMANN (2013b), 97.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

mit dem Topos des Augenzeugen verbunden sind,94 deutliche Kennzeichen juristischer Sprache95 und vermittelt den Eindruck einer gerichtlichen Vernehmung des Zeugen Johannes durch die Juden.96 Darauf weist neben dem stakkatoartigen Dialog in V. 19–22, der nur aus Nominalsätzen im Präsens besteht,97 auch die aus forensischem Vokabular entlehnten Lexempaare ἐρωτάω (V. 19.21.25) – ἀποκρίνομαι (V. 21.26) und ὁμολογέω (V. 19[2x]) – ἀρνέομαι (V. 19) hin,98 ferner die emphatische Konstruktion der ersten Antwort des Johannes mit καὶ ὡμολόγησεν καὶ οὐκ ἠρνήσατο, καὶ ὡμολόγησεν (V. 20) sowie nicht zuletzt die programmatische Einführung des gesamten Dialogs als μαρτυρία (V. 19). Für die Darstellung der eigentlichen Befragung wird mit dem dreifachen ἐρωτάω jener Begriff verwendet, der auch in der Befragung vor Hannas (18,19) und Pilatus (18,21[2x]) für die gerichtliche Vernehmung gebraucht wird. Die Bezeichnung der Befragenden als ἱερεῖς καὶ Λευίτας von Jerusalem und die Tatsache, dass diese nur hier im Evangelium genannt werden, hat Rätsel aufgegeben,99 fügt sich jedoch schlüssig in die juristische Sprache des Abschnitts. Die Doppelbezeichnung entstammt in eben jener Reihen94 Vgl. zum Topos des Augenzeugen durch Verbindung der Lexeme des Zeugnisses mit solchen der visuellen Wahrnehmung THEOBALD (2016), 136f. und die Untersuchung in Kapitel II,1.4. 95 Siehe zu die Untersuchung in Kapitel III,2.1; vgl. ferner CHARLES (1989), 72. 96 Die Szene wird daher auch als eine der johanneischen „trials scenes“ (so WILLIAMS [2017], 42) gesehen. 97 Siehe zu dieser Beobachtung auch BEUTLER (2013), 100. 98 Vgl. zu diesen Begriffen als Termini der Prozesssprache Kapitel II,2.1. Vgl. zur Stelle auch MYERS (2015), 132: „The narrator paints a juridical scene […].“ 99 Mit der Bezeichnung konnte die bisherige Forschung nicht viel anfangen. So behilft sich THEOBALD (2009), 152 mit redaktionskritischen Annahmen. BEUTLER (2013), 101 spekuliert, die Bezeichnung solle den „Sendboten aus Jerusalem ein niedriges Profil […] verleihen“ (ähnlich KLINK [2016b], 126). THYEN (2005), 116; ZUMSTEIN (2016), 91; BROWN (1966), 43 und BROWN (2013), 110f. haben sich dagegen der Vermutung von BULTMANN (1986), 60 angeschlossen, nach der es sich bei den Gesandten um Experten der levitischen Reinheit handele, auch wenn dieser Gedanke dem Kontext fernliegt. SCHNELLE (2016), 74 bemerkt zwar die Singularität der Bezeichnung, kann sich aber nur mit dem knappen Verweis auf die Zusammensetzung der Abgesandten aus „Vertretern des Kultpersonals“, die das offizielle Judentum repräsentieren sollen, behelfen. MORRIS (1995), 116 zeigt Verwunderung über die Bezeichnung und kann die Bezeichnung nur als Teilmenge der Ἰουδαῖοι verstehen, aber nicht erklären. Meist wird der Hinweis einfach übergangen (so bei RIDDERBOS [1997], 62f.; SCHNACKENBURG [1992a], 274f.; WENGST [2000], 86f.; BEASLEY-MURRAY [1999], 23; LINCOLN [2005], 111; THOMPSON [2015], 44). Hilfreicher dagegen ist der schon von ZAHN (1908), 109 geäußerte und von MCHUGH (2009), 115; VON WAHLDE (2010), 35 aufgegriffene Hinweis, dass die Leviten auch die Tempelpolizei stellen und damit zugleich als Zugriffskommando fungieren können. Dies bestätigt zwar den Charakter der Szene im Sinne einer juristischen Strafverfolgung, erklärt aber noch nicht die singuläre Bezeichnung anstelle der in Joh 7,32.45; 18,3 verwendeten Bezeichnung des Zugriffskommandos als ὑπηρέται (vgl. WEINRICH [2015], 200).

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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folge dem Kontext des atl. Rechtsstreites und erklärt sich aus dem atl. Gerichtsprozess, bei dem Rechtsfälle in einer Befragung vor die Priester und Leviten (τοὺς ἱερεῖς τοὺς Λευίτας, Dtn 17,9 LXX) gebracht werden sollen, die auch sonst als Richter fungieren.100 Dass diese in der atl. Rechtsordnung mit der Stätte, die Gott erwählt hat, assoziiert werden (Dtn 17,10), erklärt zudem die explizite Nennung von Ἱεροσόλυμα in Joh 1,19. Es kann daher kein Zweifel sein, dass die Delegation von Jerusalem wie in Dtn 13,6–16; 17,2–13 ein mögliches religiöses Vergehen durch Befragung (ἐρωτάω in Dtn 13,15 LXX) untersuchen will. 101 Dass schließlich Dtn 17,2–13 auch in Bezug auf das in Joh 5,31; 8,13 genannte Zeugenrecht als wesentlicher Prätext fungiert,102 bestärkt eine intertextuelle Verbindung, die eine Befragung durch die Priester und Leviten als Teil der alttestamentlichen Ordnung des zwischenmenschlichen Rechtsstreites zur Untersuchung potenzieller religiöser Vergehen erkennen lässt. Das Zeugnis des Johannes wird damit in der erzählten Welt in den Kontext einer Befragung durch Priester und Leviten gestellt, die sich durch die dahinterstehenden Ἰουδαῖοι ἐξ Ἱεροσολύμων (V. 19) als offizielle behördliche Gesandtschaft im Dienst einer Einholung von Informationen und beginnenden Strafverfolgung erweist.103 Hinter den Fragen der Abordnung zeigt sich deutlich der als anstößig empfundene (und nach V. 25 in der Tauftätigkeit manifestierte) Anspruch des Johannes als wichtige eschatologische Figur,104 dem die Gesandtschaft durch eine Untersuchung und Beweisaufnahmen nachgeht. Dass damit die Verwendung von μαρτυρία in diesem Kontext eine stark juristische Konnotation erfährt, ist ebenso offensichtlich 105 wie signifikant: Zeichneten sich die μαρτυρία-Belege im Prolog (Joh 1,6–8.15) durch eine auf100 Ebenso in Dtn 21,5. Vgl. auch die Bezeichnung der Gruppe τῶν ἱερέων καὶ τῶν Λευιτῶν als Richter (2Chr 19,8). Die Wendung findet sich auch bei der Untersuchung von Aussatz (wie in Dtn 24,8). Siehe zur Funktion von Priestern und Leviten im atl.-jüdischen Rechtsstreit Kapitel II,1.3.1. 101 Vgl. auch LINCOLN (2000), 37. 102 Dtn 17,6 wird in Joh 5,31 und Joh 8,13 zitiert und steht in beiden Kontexten im Hintergrund der Auseinandersetzung um die genannten Zeugen (LINCOLN [2000], 23.37; KÖSTENBERGER [2007], 443.457; BEUTLER [1972], 231.270). Siehe dazu auch Kapitel III,2.3. 103 Vgl. SCHNACKENBURG (1992a), 274; THEOBALD (2009), 152. Ein Hinweis auf die Strafverfolgung läge insbesondere auch dann vor, wenn bei den Leviten mit ZAHN (1908), 109; MCHUGH (2009), 115 und VON WAHLDE (2010), 35 an die Tempelpolizei gedacht ist; vgl. dazu oben Anm. 99. Doch auch ohne eine solche eindeutige Zuordnung scheint hinter den Abgesandten ἐξ Ἱεροσολύμων (1,19) und ἐκ τῶν Φαρισαίων (1,24) das Gremium des Synedriums als Gerichtshof (KARAKOLIS [2017], 24) in seiner Kompetenz der Beweissammlung und Strafverfolgung (vgl. dazu Kapitel II,1.3.2.) zu stehen. 104 Der Christus, Elia oder der Prophet (V. 20–21) sind eschatologische Figuren der Wiederherstellung und Rettung Israels (vgl. THOMPSON [2015], 45) und zeigen, dass die Gesandtschaft von Jerusalem die Tauftätigkeit des Johannes als impliziten Anspruch, eine solche Figur zu sein, verstehen. 105 SCHNACKENBURG (1992a), 274; ZUMSTEIN (2016), 90f.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

fallende inhaltliche Zurückhaltung und eine umso stärkere kataphorische Verweisfunktion aus,106 so zeigt Joh 1,19–28 nicht nur die vom Lesenden bereits erwartete inhaltliche Konkretisierung des Zeugenmotivs,107 sondern bestärkt durch den dezidiert juristischen Gebrauch des Zeugnismotivs, dass eine solche Konnotation auch im Prolog vorausgesetzt ist108 und die Erzählung subtil auf die Konstruktion eines Prozess-Settings in der narrativen Makrostruktur hinarbeitet. Ist neben der funktionalen Konkretisierung des Zeugnisses auch eine inhaltliche Konkretisierung zu erwarten, wird diese Erwartung durch die dreifache Negation des Johannes, nicht der Christus (V. 20), Elia (V. 21) oder der Prophet (V. 22) zu sein, zunächst enttäuscht.109 Dass jedoch gerade das negative Bekenntnis gleichzeitig als positive Bezeugung Jesu verstanden werden will, zeigt im Anschluss an den Prolog110 die Einführung mit dem doppelten ὁμολογέω (V. 19).111 Der Schwerpunkt der Befragung liegt folgerichtig in den beiden letzten Antworten des Johannes (V. 23 und V. 26–27), die eine ausführliche Aussage für Jesus ablegen. Die Szenerie kreiert damit ein Setting, bei dem in der erzählten Welt eine informelle Befragung des Johannes stattfindet, dahinter aber das Motiv von Johannes als Hauptzeuge Jesu im Evangelium sichtbar wird112 und somit in der erzählten Welt einerseits eine Verteidigung seiner eigenen Tauftätigkeit (V. 25) gegenüber den Juden impliziert ist, andererseits aber bereits eine Funktion als hinweisendes Zeugnis für Jesus nach Joh 1,6–8.15 erkennbar wird. Prozessmodulation Deutet sich bereits durch den programmatischen Beginn der Erzählung von Joh 1,19–10,42 eine repräsentative Funktion von Johannes als Zeuge in einem 106

Siehe dazu oben Abschnitt 1.1. Vgl. die wörtliche Übereinstimmung zwischen V. 15 und V. 27 als bewusste inhaltliche Verbindung. Ferner ist die ganze Passage in Joh 1,19–34 durch den Übergang von einem negativen zu einem anschließend positiven Zeugnis nach dem Muster des im Prolog geprägten οὐκ ἦν … ἀλλά (Joh 1,8) gestaltet (vgl. dazu auch THYEN [2005], 112). 108 Die nachträgliche Konkretisierung führt beim Lesenden zu einer Neubewertung von Ansichten oder Bekräftigung von Vermutungen und ist wesentlicher Teil des Lesevorgangs, durch den der Erzähler die Ansicht des impliziten Lesers leitet (vgl. dazu CULPEPPER [1987], 208f.). Nachträglich präzisiert hier der implizite Leser die im Prolog genannte Zeugnisfunktion durch die Befragung, die in Joh 1,19–28 folgt und unter einem stark juristischen Vorzeichen steht. Damit aber zeigt sich von Joh 1 an eine ausgeprägt forensische Akzentsetzung im Zeugnismotiv. 109 Vgl. zu diesem dreifach negativen Zeugnis auch ZIMMERMANN (2016), 108. 110 Vgl. bereits das mit οὐκ ἦν … ἀλλά ebenfalls als Antithese eingeführte Zeugnis des Johannes in Joh 1,8. 111 So richtig THYEN (2005), 112. Es ist bedeutungsvoll, dass der Erzähler selbst die Rede des Johannes mit ὁμολογέω als positives Bekenntnis einführt (vgl. PARSENIOS [2017], 2). 112 Siehe dazu CHARLES (1989), der Johannes als „chief human μάρτυς“ (aaO., 73) und „prime witness“ (aaO., 71) bezeichnet. 107

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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größeren metaphorischen Rechtsstreit an, so wird dieses Setting durch andere Kennzeichen der Szenerie bestätigt und fortgeführt. Zunächst gibt sich Johannes in der positiven Selbstbezeichnung (vorangestelltes ἐγὼ anstelle des vorherigen οὐκ εἰμί) durch ein Zitat von Jes 40,3113 als die rufende Stimme in der Wüste aus (Joh 1,23), die das Auftreten Jesu mit dem Kommen des κύριος gleichsetzt114 und zu einem feierlichen Empfang im Bild einer Prozession bei der Erwartung eines Machthabers auffordert. Damit wird das Auftreten Jesu als das in den atl. Kontexten von Jes 40,3 und Mal 3,1 verheißene Kommen Jahwes in seiner Herrlichkeit und Macht zum Heil seines Volkes evoziert.115 Dass dieses Kommen zum Heil im atl. Kontext jedoch maßgeblich den Glauben Israels verlangt und somit gleichzeitig den Rechtsstreit Gottes mit seinem Volk eröffnet (Jes 40,12–31; Mal 3,3–5),116 stellt sowohl das Zeugnis des Johannes wie auch das Auftreten Jesu in den metaphorischen Kontext der ambivalenten Rechtsstreitmotivik von Jes 40–55,117 bei der Gott stets und zugleich als Ankläger seines Volkes auftritt.118 Dieselbe Akzentsetzung ist auch in der zweiten Zeugnis-Szene (V. 29–34) präsent, in der Johannes zum Zeugen in der direkten Gegenwart Jesu wird (vgl. μαρτυρέω in V. 32.34). Wie im atl. Kontext ist das Zeugnis des Johannes für den κύριος119 ein Bezeugen der einzigartigen Würde (οὗ οὐκ εἰμὶ ἐγὼ ἄξιος ἵνα λύσω αὐτοῦ τὸν ἱμάντα τοῦ ὑποδήματος in Joh 1,27; ἔμπροσθέν μου γέγονεν in 1,30), Präexistenz (ὅτι πρῶτός μου ἦν in Joh 1,30) sowie göttlichen Einzigund Andersartigkeit (ὃν ὑμεῖς οὐκ οἴδατε in Joh 1,26) des Kommenden (ἐρχόμενον in V. 27.29; ἔρχεται in V. 30),120 das in höchst ambivalenter Weise die Aspekte einer Proklamation, Verteidigung sowie einer Anklage bei Verweigerung gegenüber dem κύριος enthält.121 Diese metaphorische Dimension 113

Siehe zu den Einzelheiten des Zitates bezüglich Vorlage und Wortlaut sowie zum atl. und joh. Kontext die ausführlichen Untersuchungen von WILLIAMS (2017), 43–57 und KÖSTENBERGER (2007), 425–427. 114 Vgl. dazu WILLIAMS (2017), 47. 115 Siehe dazu KÖSTENBERGER (2007), 425–427; WILLIAMS (2017), 51. 116 Siehe dazu ausführlich Kapitel II,2.2.2 und II,2.2.4. 117 Der Bezug zum Rechtsstreit im Propheten Jesaja umschließt Joh 1–12 durch die Zitate von Jes 40,3 (Joh 1,23) und Jes 6,10; 53,1 (Joh 12,38–40) in Form einer inclusio (MYERS [2015], 132; KLINK [2016b], 130; WILLIAMS [2017], 41). 118 Siehe zum atl. Befund, nach dem Gott in ausnahmslos jedem Rechtsstreit als Ankläger auftritt, die Untersuchung in Kapitel II,2.3.2. Diese Rolle des Anklägers wird durch die Szene der Tempelreinigung als Gerichtshandlung über den Kult in Jerusalem (Joh 2,13–22) bestätigt (siehe dazu unten Abschnitt 2.1). 119 Vgl. dazu die Zeugnisfunktion Israels für Jahwe in Jes 43,10.12; 44,8 und dazu HENGEL (2008), 280. 120 Siehe zur Betonung eben dieser Eigenschaften Jahwes im Rechtsstreit von Jes 40–55 Kapitel II,2.2.4. 121 Der Aspekt der Anklage ist nicht nur aus der Ablehnung des Logos durch die Welt im Prolog (Joh 1,5.10.11), sondern auch in der Bezeichnung Jesu als ὃν ὑμεῖς οὐκ οἴδατε

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

der intertextuell angelegten Rechtsstreitmotivik führt neben der Situation der erzählten Welt, in der Johannes durch eine offizielle Delegation in einer vorgerichtlichen Untersuchung wegen seiner Tauftätigkeit befragt wird, eine weitere, metaphorische Ebene der Rechtsstreitmotivik ein, in der sich das Zeugnis des Johannes zu einem Zeugnis für Jesus weitet, welches funktional höchst ambivalent zwischen Proklamation, Verteidigung und Anklage schwebt. Durch die ersten beiden Szenen der Darstellung des Evangeliums hat der Erzähler damit eine auf mehreren Ebenen angesiedelte Rechtsstreitmotivik angedeutet, bei der zu Beginn des Evangeliums bereits die wesentlichen Akteure genannt sind: In einem kosmischen Rechtsstreit treten Jesus (in der ambivalenten Rolle als Angeklagter und Ankläger), Johannes (als Zeuge) und die Juden (als menschliche Ankläger und Richter) auf. Gleichzeitig zeigt die Szenenabfolge eine Verschiebung zwischen einer Auseinandersetzung zwischen Johannes und den (hinter der Gesandtschaft stehenden) Juden zu einer Auseinandersetzung zwischen den (die Welt repräsentierenden) Juden und Jesus. Reflexion der Prozess-Narration Blieb der Prolog (Joh 1,1–18) in der narrativen Makrostruktur auf der Ebene einer Prozesseröffnung, bei der ein Prozess-Setting etabliert und in seiner maßgeblichen Bedeutung für die weitere Narration antizipiert wird, setzt der Beginn der Erzählung (Joh 1,19–34) mit der Einführung des Hauptzeugen Johannes ein und konkretisiert dabei zugleich das Prozess-Setting, das nun Züge einer metaphorischen und die weitere Erzählung umfassenden Gesamtkonzeption erahnen lässt. Damit wird dem Lesenden die Existenz eines über den Ereignissen der erzählten Welt stehenden Meta-Narrativs angedeutet, das auf einen metaphorischen Prozess hinweist, in dem sowohl Johannes als auch die Schrift (im Zitat aus Jes 40,3) zu Zeugen in der Frage um die Identität Jesu als ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ (Joh 1,34) werden.122 Während die Juden als anklagende Partei bereits nominell eingeführt werden, stehen sich dennoch durch die ἱερεῖς καὶ Λευίτας einerseits sowie Johannes andererseits nur die Stellvertreter des Rechtsstreites gegenüber.123 Ferner treten Jesus und die Juden durch die asyn(Joh 1,26) präsent, die vor dem Hintergrund der Manifestation Gottes nur als Verkennen seiner Identität gedeutet werden kann (und parallel zu ὁ κόσμος αὐτὸν οὐκ ἔγνω aus Joh 1,10 steht). 122 So auch MYERS (2015), 132f.: „Yet in 1:19–32 there are actually two juridical sequences taking place: one at the level of the characters present in the immediate context and the other at the larger level of the entire Gospel, visible only to the Gospel audience in retrospect. On the first level, the Gospel audience listens in as the Jerusalem religious leaders aim to integrate John into their own scriptural schema of a baptizing prophet […]. On the second level, John’s brief trial-like scene is a key piece of evidence in spanning the entire narrative and focusing on the identity of Jesus.“ 123 Den stellvertretenden Charakter der Leviten und Priester sowie den des Johannes als Repräsentanten für die Juden und Jesus deutet auch KARAKOLIS (2017), 24–25 an.

1. Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34)

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chrone Einführung in einer Doppelszene (Joh 1,19–28; 1,29–34) nicht direkt, sondern nur vermittelt durch Johannes aufeinander. Dabei wird ein metaphorisches Makro-Prozess-Setting angedeutet, bei dem Jesus im Rechtsstreit mit der durch die Juden repräsentierten Welt steht und sich zu Beginn des Prozesses mit dem Auftreten des Johannes der menschliche Hauptzeuge für Jesus der Befragung durch die Prozessgegner stellt. In der Makrostruktur erscheint Joh 1,19–34 damit als metaphorische Prozesseinführung mit Vorstellung der Prozessparteien und ihrer Sekundanten, während das direkte Aufeinandertreffen der Prozessparteien in der Erzählung noch aussteht und eine dahin gehende Lesererwartung erzeugt. Indem sowohl die Juden (als Behörde der Strafverfolgung) als auch Jesus (in der Rolle Gottes, der im Rechtsstreit mit seinem Volk auftritt) in der Rolle des Anklägers vorausgesetzt werden, steht das direkte Aufeinandertreffen beider Parteien von Beginn an unter einem paradoxen Rollenkonflikt des Rechtsstreites.

1.3. Ertrag Es muss als Indiz für den zentralen Stellenwert der Rechtsstreitmotivik im Johannesevangelium gewertet werden, dass bereits die programmatischen Aussagen zu Wesen, Präexistenz, Herkunft, Erscheinen und Wirkung Jesu als inkarniertem Logos im Prolog (Joh 1,1–18) über auffallend forensisch konnotierte Motivik formuliert werden. Aufgrund seiner Funktion als programmatische Verdichtung zentraler theologischer Aussagen und Interpretationsschlüssel für die folgende Erzählung ist daher bedeutsam, dass mit der Lichtmotivik und der in das Zentrum des strukturellen Aufbaus gestellten Betonung der Martyria des Johannes im Prolog ein dezidiert forensischer Charakter der Erzählung vorbereitet wird. Die Erzählung des Evangeliums wird für den Lesenden als kosmischer Prozess ausgewiesen, der zwar alttestamentliche Motive des Rechtsstreites zwischen Gott und der Welt aufnimmt, nun aber in Transzendierung dieser Motivik zwischen Jesus als inkarniertem Schöpfer und den Juden als Repräsentanten der Welt ausgetragen wird und in seiner universellen Dimension auch den Lesenden selbst involviert. Der Prolog bekommt damit als vorangestellter Erzählerkommentar den Charakter einer formellen Prozesseröffnung und evoziert ein trilaterales Prozess-Setting, bei dem Jesus selbst als inkarnierter Logos und als Licht in einen kosmischen Konflikt zwischen Schöpfer und Geschöpfen auftritt und von Johannes als menschlichem Hauptzeugen begleitet wird. Weil dabei die forensischen Rollen von Ankläger und Angeklagtem ambivalent bleiben, wie auch überhaupt forensische Rollen bis auf die Martyria des Johannes nicht direkt ausgedrückt werden, ist es die nachfolgende Erzählung (Joh 1,19–34), in der das evozierte Prozess-Setting konkretere Gestalt annimmt. Parallel zu der Befragung des Johannes durch jüdische Behörden als Beginn einer potenziellen Strafverfolgung in der erzählten

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Welt wird das im Prolog angedeutete metaphorische Prozess-Setting fortgeführt, das in der Vorstellung Jesu und der Juden als Prozessgegner weitere Konturen bekommt und zugleich mit der Befragung des bereits im Prolog angekündigten Hauptzeugen Johannes die Vernehmung formell eröffnet. Damit wird die Erwartung eines Konflikts aus dem Prolog gleich in doppelter Weise eingelöst, indem der Erzähler einerseits auf die Anbahnung eines Rechtsstreites in der erzählten Welt hinweist, andererseits aber auf die Existenz eines Meta-Narrativs verweist, in dem Jesus durch intratextuelle Verbindungen zu Jes 40 in der Rolle Gottes im Rechtsstreit mit seinem Volk erscheint. Insoweit die Prozessgegner nur durch ihre Sekundanten (Johannes sowie die Abgesandtschaft der Juden) vermittelt aufeinandertreffen, erzeugt die Darstellung eine Lesererwartung der direkten Begegnung der Hauptakteure (Jesus und die Juden) und deutet in dieser Anbahnung zugleich eine dem metaphorischen Makro-Prozesses inhärente Dramaturgie an. Dass dabei in einer ausgeprägten Ambivalenz der Darstellung Jesus sowohl als Angeklagter wie auch als Ankläger erscheint, ist einer der hervorstechenden Züge des Prozess-Settings und weist auf einen in der Erzählung noch nicht aufgelösten paradoxen Rollenkonflikt und eine doppelte Darstellungsebene des Rechtsstreites hin.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36) In der narrativen Makrostruktur des Johannesevangeliums stellt Joh 2,13–3,21 den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu dar1 und verlagert den Schauplatz der Erzählung von Galiläa (Joh 2,1–12) nach Jerusalem (Joh 2,13.23). Der erzählte Jerusalembesuch Jesu gliedert sich in die Szene der Tempelreinigung (Joh 2,13–22) und das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus, das scheinbar nahtlos in einen Erzählerkommentar übergeht (Joh 3,1–21).2 Der Verweis auf Jerusalem setzt die Episode nicht nur lokal von den bisherigen Szenen in Joh 1,19–2,11 ab, sondern schafft zugleich eine intratextuelle Verbindung zu Joh 1,19 als bisher einziger Erwähnung von Jerusalem, das den Lesenden bisher nur als Zentrum der jüdischen Opposition und der davon ausgehenden behördlichen Strafverfolgung bekannt ist. Diese Verbindungslinien werden durch das erste direkte Auftreten der Ἰουδαῖοι (2,13.18.20) bestätigt, die in Joh 1,19– 28 als eigentliche, hinter der Befragung des Johannes stehende Akteure genannt wurden.3 Da schon in Joh 1,19–34 eine Verschiebung der Befragung von der Identität des Johannes auf die Identität Jesu erkennbar war, wird mit Joh 2,13–22 die daraus resultierende Lesererwartung erfüllt, dass nach dem Auftreten der Stellvertreter im metaphorischen Makro-Prozess (Johannes als Zeuge für Jesus, die Leviten und Priester als Abgesandte der Juden) nun die beiden bereits im Prolog genannten Hauptakteure des Konflikts zwischen Gott und der Welt notwendig aufeinandertreffen müssen. Der Lesende ist durch diese doppelte Prolepse mit einem Rollenkonflikt der Charaktere konfrontiert, der die Konstruktion der forensischen Beziehungen von vorneherein erschwert: Einerseits erwartet er nach Joh 1,4–5 und dem Verweis auf Jes 40,3 und Mal 3,1 (Joh 1,23) Jesus in der Rolle des göttlichen Richters, durch den der κόσμος (Joh 1,10) und οἱ ἴδιοι (Joh 1,11) ins Licht gestellt werden. Andererseits sind nach Joh 1,19 die Juden in der innerweltlichen Dimension der

1

Siehe dazu THYEN (2005), 165. Vgl. zu Joh 2,13–3,21 als einheitlichem Erzählzusammenhang auch ÅDNA (2000), 179; KÖSTENBERGER (2004), 104. 3 Die Juden sind damit von Beginn an mit einer anklagenden und richtenden Rolle assoziiert; vgl. THYEN (2005), 168.177. 2

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

erzählten Welt fest mit der Rolle der jüdischen Richter verbunden.4 Dieser Rollenkonflikt ist nicht nur bewusst in der Erzählung angelegt, sondern wird in Joh 2,13–3,21 sowohl in der Szene der Tempelreinigung (Joh 2,13–25) auch narrativ thematisiert und anschließend im Dialog zwischen Jesus und Nikodemus (Joh 3,1–21) und einem Erzählerkommentar (Joh 3,31–36) systematisch reflektiert. Diese Abschnitte haben damit einen wichtigen Stellenwert in der Weiterführung des bereits in Joh 1 angelegten Meta-Narrativs des Prozessmotivs und werden im Folgenden näher beleuchtet.

2.1. Die erste Begegnung der Kontrahenten (Joh 2,13–25) Narrative Einbettung In der Makrostruktur erweist sich die Szene der Tempelreinigung in mehrfacher Hinsicht als programmatischer, narrativer Beginn der eigentlichen juristischen Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden. Ihr kommt als der ersten Begegnung der Konfliktparteien, auf die die Darstellung im Prolog und in Joh 1,19–34 bereits zielstrebig zuläuft, besondere Bedeutung zu.5 Die Szene wird zum Initialpunkt einer durch den Schauplatz des Tempels vereinigten Serie von (Rechts-)Streitszenen (Joh 2,13–22; 5,14–47; 7,14–8,59; 10,23–38),6 die durch die Rekursion auf den Tempel in der internen Analepse von Joh 18,20 mit dem Verhör vor Hannas verbunden wird. In der Retrospektive erscheinen damit die mit Joh 2,13–22 beginnenden Auseinandersetzungen im Tempel geradezu als Inhalt des jüdischen Verhörs in Joh 18,19–24 und werden so zum Ersatz für die dort bewusst ausgelassene Beschreibung der eigentlichen Rechtsangelegenheit.7 Zusammen mit dem als inclusio fungierenden Hinweis 4

Da die Juden bereits „zuvor schon als diejenigen genannt waren, die aus Jerusalem eine Art Expertenkommission zu einem fast förmlichen ‚Verhör‘ des Johannes gesandt hatten (1,19–28), betreten sie als die kritischen Dialogpartner und Richter Jesu hier doch erstmals die Szene“ (THYEN [2005], 177). 5 Zu Recht konstatiert daher ZUMSTEIN (2016), 130 eine „programmatische Bedeutung“ dieser Szene. 6 Die Bezeichnung der Streitgespräche in Joh 5–10 unter dem Begriff des Rechtsstreites ist gängig (vgl. THEOBALD [2009], 566; BECKER [1991a], 298; ZUMSTEIN [2016], 231), die Bedeutung von Joh 2,13–25 als Initialpunkt dieser Szenenfolge wird dabei jedoch meist nicht erkannt. Zu Recht stellt dagegen LAPPENGA (2015), 145–147 die thematischen Verbindung der späteren Rechtsstreitszenen zu Joh 2,13–22 heraus. Die Serie der durch Feindschaft charakterisierten Tempel-Szenen beginnt de facto schon mit Joh 2,13–22: „[W]e observe that the hostility of the Jews may already commence in 2:18 […]. This […] marks the beginning of a hostility that will only increase as Jesus speaks openly in the temple about his identity“ (LAPPENGA [2015], 145). 7 Dieser Befund ergab sich bereits in der narrativen Untersuchung von Joh 18,12–24; siehe dazu oben Kapitel III,1.1–1.2.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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auf das Passah, das bei der ersten und letzten Begegnung Jesu mit den Juden genannt ist (Joh 2,13; Joh 18,28), 8 wird somit durch eine doppelte Bezugnahme die Szene der Tempelreinigung mit dem Prozessgeschehen in Joh 18 verbunden.9 In der Makrostruktur scheint damit der narrativ beschriebene Prozess zwischen Jesus und den Juden bereits mit der Tempelreinigung eröffnet zu sein. 10 Eine dritte inclusio ergibt sich schließlich zwischen dem ersten (2,13–22) und letzten (10,22–39) erzählten Festbesuch im Tempel und dem dabei erhobenen Vorwurf des Vergehens gegen den Tempel (2,19–21; 10,22– 42).11 Die Szene der Tempelreinigung ist folglich durch mehrfache forensische Bezüge in der Makrostruktur stark in die Prozessmotivik des Evangeliums eingebunden und trägt durch diese Verweise selbst die „Züge eines offiziellen Verhörs“.12 Die Szene in Joh 2,13–22 wird durch einen kurzen Erzählerkommentar in Joh 2,23–25 abgerundet, in dem der Erzähler den Konflikt um die Person Jesu durch Rekursion auf die Zeugnismotivik (μαρτυρέω in 2,25) reflektiert. Indem der öffentliche Auftritt in Jerusalem außerdem durch erneute Erwähnung Jerusalems und des Passah (2,23; vgl. 2,13) 13 in Form einer inclusio abgeschlossen wird, bildet Joh 2,23–25 einen einzigen Erzählzusammenhang.14 8

Siehe zu dieser inclusio KEENER (2010a), 518. Zu widersprechen ist damit der Ansicht von THYEN (2005), 167, dass „Joh die Tempelreinigung samt dem Tempelwort absichtsvoll an ihren jetzigen Ort gerückt habe, um sie so weit wie irgend möglich vom Prozeß Jesu zu trennen“. In der literarischen Gesamtstruktur entsteht nur in Bezug auf die Einzelereignisse eine Trennung in der erzählten Zeit, in thematischer Hinsicht jedoch eine starke Verbindung. Richtig dagegen erkennt Thyen, dass durch die so geschaffene inclusio „das Gerichtsgeschehen zwischen Jesus und den Juden zur bestimmenden Mitte des gesamten Evangeliums geworden [ist]“ (aaO., 167). 10 Nach THYEN (2005), 167 „ist das Gerichtsgeschehen zwischen Jesus und den Juden zur bestimmenden Mitte des gesamten Evangeliums geworden […]. Dieser alles bestimmende Prozeß […] wird nun aber auch und gerade bei Joh durch die Szene der Tempelreinigung eröffnet.“ 11 Noch stärkere Parallelen ergeben sich in Bezug auf die Thematisierung des Tempels und seiner Reinheit (in Joh 2,13–22 verbal, in Joh 10,22–42 kontextuell durch das Fest der Tempelweihe) sowie in dem jeweils ironisch transformierten Versuch der Tempelzerstörung durch einen angedeuteten Hinrichtungsversuch der Juden (Joh 2,19–21; Joh 10,31–39); vgl. auch KÖSTENBERGER (2004), 313. 12 So ZUMSTEIN (2016), 125. 13 Die erneute Nennung in Joh 2,23 (ὡς δὲ ἦν ἐν τοῖς Ἱεροσολύμοις ἐν τῷ πάσχα ἐν τῇ ἑορτῇ) ist gegenüber der einfachen Angabe ἐν τῇ ἑορτῇ (wie in Joh 7,11) sachlich redundant und schließt damit bewusst an Joh 2,13 an. Durch die Umkehrung der Reihenfolge ergibt sich ferner ein chiastischer Rahmen um die Tempelszene: ἦν τὸ πάσχα … ἀνέβη εἰς Ἱεροσόλυμα (2,13) – ἦν ἐν τοῖς Ἱεροσολύμοις … ἐν τῷ πάσχα (2,23). 14 Die Verse Joh 2,23–25 sind sowohl von der Szene der Tempelreinigung wie auch von dem in Joh 3,1–21 angeschlossenen Gespräch mit Nikodemus abgetrennt und haben überleitenden Charakter (WENGST [2000], 125). Aufgrund der engen Verbindung zur Tempelreinigung werden sie jedoch auch häufig als Abschluss der Tempelreinigung betrachtet 9

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Konstruktion eines Prozess-Settings Die Exposition der Szene in Joh 2,13 nennt Ἰησοῦς in betonter Schlussstellung des Satzes als Hauptakteur sowie den Schauplatz in Ἱεροσόλυμα (2,13; konkretisiert zu ἐν τῷ ἱερῷ in 2,14) zur Zeit des Passah.15 Durch die Bezeichnung als τὸ πάσχα τῶν Ἰουδαίων (2,13) werden in komprimierter Weise zugleich die Juden vor ihrem Auftreten (V. 18.20) als Charaktere indirekt einführt. Die Szene zeigt ein erstes direktes Aufeinandertreffen jener Hauptakteure, die in ihren Stellvertretern bereits in Joh 1,19–28 präsent waren, und scheint die Juden im Anschluss an Joh 1,19–28 als Autoritäten des Synedriums vorauszusetzen.16 Die erste Begegnung zwischen Jesus und den Juden steht in Exemplifikation der Lichtmetaphorik aus dem Prolog unter dem Aspekt unvermittelter Feindschaft und charakterisiert die Juden durch ihre erste wörtliche Rede im Johannesevangelium (2,18) zugleich als Gegner Jesu.17 Ein dezidiert forensischer Fokus wird nicht nur in der Makrostruktur vorgegeben,18 sondern bereits durch die Tempelreinigung Jesu selbst vorgezeichnet, die als Zeichen- und Gerichtshandlung die Verunreinigung des Tempels anzeigt.19 Während die Zeichenhaftigkeit der Handlung20 in ihrer Symbolik an die prophetische Kultkritik in Jer 19,10–14 erinnert und die Begebenheit unter dem atl. Motiv des Bundesrechtsstreites erscheinen lässt, 21 wird in der Bezeichnung des Tempels als (BEUTLER [2013], 132; HOFIUS [1996], 34; KLINK [2016b], 175; THOMPSON [2015], 74) und auch im Folgenden im Zusammenhang mit der Tempelreinigung untersucht. 15 Durch den Hinweis auf das zeitliche Setting des Passahfestes wird die Begebenheit zugleich in einen Kontext von messianischen Erwartungen eines neuen Exodus eingeordnet, wie er in Jes 40–55 prominent ist (vgl. KÖSTENBERGER [2004], 104). 16 So mit Verweis auf Joh 1,19 etwa CARSON (1992), 180: „The Jews who now confront Jesus are doubtless either the temple authorities or representatives of the Sanhedrin […].“ Ähnlich BROWN (1966), 115. 17 Siehe zur Bedeutung der ersten Worte eines Charakters insbesondere ALTER (1981), 74: „In any given narrative event, and especially, at the beginning of any new story, the point at which dialogue first emerges will be worthy of special attention, and in most instances, the initial words spoken by a personage will be revelatory, perhaps more in manner than in matter, constituting an important moment in the exposition of character.“ 18 Siehe dazu die oben in diesem Abschnitt Narrative Einbettung sowie die Beobachtungen zur Makrostruktur in Kapitel III,2.5. 19 Vgl. zur Verunreinigung des Tempels als wesentlichem Handlungsmotiv WENGST (2000), 119; THYEN (2005), 175; BEUTLER (2013), 130; RIDDERBOS (1997), 116. Andere gehen davon aus, dass die Tempelreinigung als Zeichenhandlung das Ende des Opferkultes signalisieren soll (THEOBALD [2017], 271; ZUMSTEIN [2017], 286f.), diese Andeutung ist in der Erzählung jedoch nachgeordnet (vgl. dazu auch unten Anm. 30). 20 Zahlreiche Forscher ordnen die Tempelreinigung aufgrund des Symbolgehaltes als eines der johanneischen σημεῖα ein, etwa BEASLEY-MURRAY (1999), 42; CARSON (1992), 300–302; KÖSTENBERGER (2009), 329; THYEN (2005), 177. 21 Vgl. zum Bezug zu Jer 19,10–14 KEENER (2010a), 522; THEOBALD (2009), 224. Vgl. zum Kontext prophetischer Zeichenhandlung ferner ZUMSTEIN (2016), 125, der die

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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οἶκος τοῦ πατρός μου (2,16) jedoch ein weit größerer Selbstanspruch als der eines Propheten deutlich.22 Der hinter dieser Formulierung liegende unverhohlene Autoritätsanspruch Jesu wird von den Juden wohl erkannt und in Joh 2,18 (in Form einer internen Prolepse auf Joh 5,17–18) der eigentliche Grund der folgenden verbalen Auseinandersetzung.23 Der mit τί σημεῖον δεικνύεις ἡμῖν ὅτι ταῦτα ποιεῖς; (V. 18) vorgetragene Angriff der Juden dient der direkten Konfrontation und Infragestellung der Autorität Jesu24 und hat damit nicht nur das Vergehen einer vermessenen Handlung eines falschen Propheten, sondern zugleich ein Vergehen gegen den Tempel und somit Tempelschändung im Blick.25 Durch diesen Doppelvorwurf wird die Auseinandersetzung in der erzählten Welt als bilaterale erste Phase eines jüdischen Rechtsstreites aufgewiesen. 26 Indem die Juden Jesus durch die Zeichenforderung selbstverständlich und a priori ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterordnen und ihrer Anklage unterstellen,27 wird ein Rechtsstreit-Setting evoziert, bei dem Jesus als Angeklagter und Beschämter und die Juden als Ankläger vorausgesetzt werden.28 Der Konflikt offenbart insbesondere durch die bildliche Rede Jesu von seinem Leib als Tempel (ἔλεγεν περὶ τοῦ ναοῦ τοῦ σώματος αὐτοῦ, 2,21) eine klare Kausalität: Jesus hatte ihren Tempel angetastet, dafür tasten sie nun seinen Tempel an. Dass dabei in ironischer Umkehrung ihrerseits das Vergehen der TemTempelreinigung als „prophetische Zeichenhandlung Jesu“ benennt. Auch THYEN (2005), 172 sieht „eine Art prophetischer Zeichenhandlung“ und folgert: „Es geht also um Kultkritik als Verbesserung der Kultpraxis“ (aaO., 175). Die Kultkritik ist fest im Kontext des Bundesrechtsstreites verortet; siehe dazu Kapitel II,2.2.1. 22 Vgl. dazu RIDDERBOS (1997), 116. 23 So auch THYEN (2005), 175; SCHNACKENBURG (1992a), 362; LAPPENGA (2015), 146. 24 Vgl. dazu ÅDNA (2000), 291–293. 25 Siehe zu diesem Vergehen im Kontext antiker Tempelpraxis ausführlich CULPEPPER (2017), 310. 26 Der jüdische Rechtsstreit wurde mit einer bilateralen, informellen Auseinandersetzung durch die direkte Konfrontation der angeklagten Partei in Form einer Beschuldigung eröffnet; siehe dazu ausführlich Kapitel II,1.3. 27 Der Sache nach ähnlich urteilt ZUMSTEIN (2016), 128, wenn auch, ohne die Schlussfolgerung auf die forensischen Rollen zu ziehen: „Um sich vor ihnen zu legitimieren, müsste Jesus den Kriterien der Welt entsprechen […]: Unter dieser Bedingung würde der Mensch entscheiden, was von Gott her kommt. Und dies würde bedeuten, dass Gott nicht mehr Gott wäre.“ Zumstein spricht folgerichtig von dieser Szene auch als von einem Verhör (aaO., 125). Die Interpretation der Zeichenforderung als „not hostile“ und „genuinely open“ (WHITACRE [1999], 83) ist dagegen unwahrscheinlich. 28 Siehe dazu auch KLINK (2016a), 253: „The counterresponse by the Jews and, therefore, the absence of a response by Jesus, is fully intended to signify that Jesus lost the challenge. […] Jesus did not respond because no response was warranted; in the eyes of the temple authorities […] Jesus was shamed.“ So richtig diese Einschätzung in den Augen der Charaktere der erzählten Welt ist, so versagt sie doch zur Erklärung der Erzählintention, die dieses Rollenbild durch subtile Textsignale konterkariert und transformiert (siehe dazu unten in diesem Abschnitt Prozessmodulation).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

pelschändung mit Folge der Todesstrafe angedeutet wird,29 offenbart die Aufforderung Jesu, seinen Leib zu zerstören (V. 19).30 Insofern die Lesenden zugleich um die göttliche Identität Jesu wissen, ist der Widerspruch der Juden gegen Jesus in Joh 2,18 zugleich der menschliche Widerspruch gegen das göttliche Handeln und geht durch die Fokussierung auf die Identität Jesu über die vordergründige Rechtssache der Tempelschändung hinaus. 31 Die Szene der Tempelreinigung knüpft damit an die menschliche Infragestellung Gottes in Form eines Rechtsstreites an alttestamentliche Motivik an32 und zeigt im nachfolgenden Erzählerkommentar (Joh 2,23–25) durch die Konzentration auf den Glauben als Zentrum der Auseinandersetzung (πιστεύω in V.23.24) starke Parallelen zur Rechtsstreitdarstellung von Jes 40–55. Insbesondere die positive Reaktion ἐπίστευσαν εἰς τὸ ὄνομα αὐτοῦ (V. 23) knüpft sowohl an den Prolog (Joh 1,12) wie auch an den Rechtsstreit in Jes 50,10 an und zeigt im direkten Kontext den Rückbezug auf einen Glauben an die von Jesus beanspruchte Autorität.33 Die an seinen Namen glaubenden Beobachter werden damit zugleich zum Muster für die Reaktion des impliziten Lesers, auf die die Erzählung abzielt (Joh 20,31).

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Indem Jesus seinen Tod infolge ihrer Forderung nach einer Legitimation andeutet, legt er bloß, wie weit die Juden in ihrem Eifer für den Tempel gehen würden. Die Todesstrafe ist dabei letzte Konsequenz der Tempelreinigung, die die Juden als Handlung gegen den Tempel interpretieren; vgl. etwa KRUSE (2003), 102: „If he could not demonstrate his authority in this way, then he would presumably be arrested, tried and punished for disturbing the worship of the temple.“ Dass eine Handlung gegen den Tempel tatsächlich als Kapitalverbrechen geahndet werden konnte, bestätigt BLINZLER (1969), 147: „Speziell den Juden mußte bei der einzigartigen Stellung, die der Tempel in ihrem religiösen Leben einnahm, schon die bloße Androhung eines Attentats auf ihn als todeswürdiges Verbrechen erscheinen; ein übelwollendes Gericht konnte daraus leicht eine Gotteslästerung konstruieren (Lev 24,16).“ Ebenso auch CULPEPPER (2017), 310. Vgl. zur Tempelschändung als Hintergrund der Szene auch WENGST (2000), 119. 30 Vgl. dazu THYEN (2005), 179f. Ob damit gleichzeitig eine implizite Entwertung des Opferkultes ausgedrückt werden soll (so etwa SCHNELLE [2016], 98; THEOBALD [2009], 237; gegen WENGST [2000], 122; BEUTLER [2013], 130), ist für die vorliegende Untersuchung nicht relevant. Unwahrscheinlich ist jedoch angesichts der klaren Aussage von Joh 2,16 die Ansicht von MATSON (2013), 246, dass die Verunreinigung des Tempels durch die Verkäufer keine Rolle in der Erzählung spiele, sondern in der Erzählung als neutrale Praxis gesehen werde. 31 So auch MICHAELS (2010), 166: „[T]heir problem in the end is not with what he has done, but with who he is, or claims to be.“ 32 Siehe dazu oben Kapitel II,2.2.2. 33 Vgl. die Betonung des Namens Gottes in Jes 42,8; 48,2 und die Verbindung zum Glauben (vgl. Jes 43,10) an seinen Namen in Jes 50,10; vgl. auch Jes 43,10 (vgl. HENGEL [2008], 280). Die Passagen in Jes 43,10; 50,10 stehen bereits in der Konstruktion πιστεύω εἰς τὸ ὄνομα αὐτοῦ im Prolog (Joh 1,12) im Hintergrund (vgl. HENGEL (2008), 280) und entstammen dem Kontext des Rechtsstreites (vgl. dazu oben Abschnitt 1.1).

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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Prozessmodulation Scheint in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden als bilateralem Rechtsstreit eine klare Rollenverteilung vorgegeben zu sein, so setzt der Erzählzusammenhang zugleich Akzente, die eben jene vordergründig in der erzählten Welt vorausgesetzte Rollenzuweisung unterläuft. So erscheint vor dem Hintergrund des Verweises auf Jes 40,3 in dem ‚Verhör der Stellvertreter‘34 in Joh 1,19–28 bereits das Hinaufgehen (ἀναβαίνω, 2,13) Jesu nach Jerusalem zugleich als das Kommen Jahwes in seiner Herrlichkeit35 aus Jes 40,3– 5 zu seinem Volk.36 Indem Jesus als der von Johannes bezeugte υἱὸς τοῦ θεοῦ (Joh 1,34) auftritt, in der Bezeichnung des Tempels als τὸν οἶκον τοῦ πατρός μου (Joh 2,16) nichts weniger als Vollmacht über diesen beansprucht und darum in göttlichem (Eigen-)Interesse für den Tempel eintritt (vgl. das Zitat aus Ps 69,10 in Joh 2,17),37 wird das atl. Motiv des Rechtsstreites aufgenommen, bei dem Gott selbst in der Doppelrolle des Richters und Anklägers gegen sein Volk auftritt. 38 Das „Streitgespräch“ 39 zwischen Jesus und den Juden in Joh 2,18–22 erscheint somit nicht nur als bilateraler Rechtsstreit der erzählten Welt, sondern erweist sich durch die Aufnahme der atl. Rechtsstreitmotivik aufgrund der Beteiligung einer Richterinstanz als forensischer Prozess in einer über die erzählte Welt hinausgehenden metaphorischen Dimension. 40 Die Handlung Jesu erscheint als das bereits in Joh 1,19–23 durch Verweis auf Mal 3,1 angedeutete Kommen Jahwes zu seinem Tempel zum Rechtsstreit,41 34

Siehe zu diesem Darstellungsakzent die Untersuchung in Kapitel IV,1.2. Vgl. hier die auffallenden inhaltlichen Parallelen zwischen Jes 40,5 LXX (καὶ ὀφθήσεται ἡ δόξα κυρίου καὶ ὄψεται πᾶσα σὰρξ τὸ σωτήριον τοῦ θεοῦ) und der Formulierung in Joh 1,14 (ἐθεασάμεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ) und Joh 2,11 (ἐφανέρωσεν τὴν δόξαν αὐτοῦ). 36 Dies gilt insbesondere dann, wenn man mit TRITES (1977), 94; THYEN (2005), 165 die πατρίς aus Joh 4,44 als Hinweis auf Jerusalem als Heimat Jesu versteht. 37 Nach THYEN (2005), 175 „meldet er unüberhörbar sein Recht und seinen Anspruch auf den Tempel an“. Nach ZUMSTEIN (2016), 127 „greift [Jesus] als Gesandter des Vaters ein, der ohne Vermittlungsinstanz im Namen dieses Vaters handelt und spricht“. Vgl. das Zitat aus Ps 69,10 in Joh 2,17 und die Bezeichnung als ζῆλος τοῦ οἴκου σου. „Sein Eifer um Gott manifestiert sich im Eifer um den von ihm erwählten und so geheiligten Ort“ (WENGST [2000], 120). 38 Siehe dazu Kapitel II,2.2. 39 So bezeichnet von ZIMMERMANN (2004), 366. 40 Die Darstellung nimmt die atl. Ambivalenz zwischen bilateralem Rechtsstreit (aufgrund der Beteiligung von zwei Parteien) und trilateralem Rechtsstreit (aufgrund der Doppelrolle Jesu als Ankläger und Richter) auf, durch die jeder Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen immer zugleich als metaphorischer forensischer Gerichtsprozess erscheint; siehe dazu ausführlich Kapitel II,2.3.2. 41 Siehe zum Bezug auf Mal 3,1 in Joh 1,21–23 bereits oben Abschnitt 1.1. Obwohl der Bezug auf den Kontext von Mal 3,1 weder in Joh 1,21–23 noch in Joh 2,13–22 durch ein direktes Zitat hergestellt wird, scheint er als maßgebliches Motiv in der Erzählung der 35

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

bei dem Gott in der Doppelrolle als Richter und Zeuge (Mal 3,5) aufgrund einer unzulässigen Tempelpraxis (Mal 3,3) gegen sein Volk auftritt.42 Zugleich verwirklicht sich damit auch in geografischer und symbolträchtiger Hinsicht das Kommen Jesu als Licht εἰς τὰ ἴδια (Joh 1,11) und impliziert für den Lesenden (neben der heilschaffenden Funktion) auch eine bloßstellende, offenbarende Funktion des Lichts.43 Dass diese Akzentsetzung auch in Joh 2,13 im Vordergrund steht, deutet sich bereits in der Raffung der erzählten Zeit zu Beginn des szenischen Hauptteils in Joh 2,14 an, indem mit καὶ εὗρεν ἐν τῷ ἱερῷ die lokale Präzisierung des Schauplatzes als ἐν τῷ ἱερῷ (2,14) syntaktisch von der Exposition (2,13) abgrenzt und schon ganz in den Dienst des die Erzählung eröffnenden καὶ εὗρεν (2,14) gestellt wird. Damit ist nicht nur die initiative Handlung Jesu betont,44 sondern mit εὑρίσκω gleich am Anfang der Szenerie ein Terminus verwendet, der in juristischen Kontexten die Feststellung eines Tatbestandes oder die Urteilsfindung bezeichnet45 und somit trefflich zur forensischen Dimension des eintreffenden Lichts passt.46 Durch die Konstruktion mit folgenden präsentischen Partizipien (εὗρεν … τοὺς πωλοῦντας … καὶ τοὺς κερματιστὰς καθημένους, 2,14) tritt zusätzlich der Sinn einer Bloßstellung in flagranti hinzu.47 In der folgenden, syntaktisch aber als Fortsetzung des mit καὶ εὗρεν begonnenen Satzes angebundenen Handlung treibt Jesus die Verkäufer aus dem Tempel (Joh 2,15) und lässt auf diesem Wege der initialen Anklage Tempelreinigung vorausgesetzt zu sein und wird von einer Vielzahl von Forschern als solcher in Joh 2,11–22 erkannt; vgl. etwa THYEN (2005), 167; KÖSTENBERGER (2007), 434; WEINRICH (2015), 343–345; MILNE (1993), 68; THOMPSON (2015), 72; KEENER (2010a), 525; HENDRIKSEN (1953), 124. 42 Siehe zum atl. Kontext und Funktion im atl. Rechtsstreit oben Kapitel II,2.2.1. Siehe zum Grund der Tempelreinigung als Eintreten Jesu gegen eine unzulässige Tempelpraxis WENGST (2000), 119; THYEN (2005), 175; BEUTLER (2013), 130; RIDDERBOS (1997), 116. 43 Siehe zu dieser Ambivalenz der Lichtmetaphorik im Prolog die Untersuchung oben in Abschnitt 1.1. 44 Auch in den folgenden Verbalformen ist Jesus stets das Subjekt der Handlung und wird damit in seiner Initiative betont. Vgl. WEINRICH (2015), 344: „He alone is the subject of the action: he made a whip (ποιήσας); he casted out (ἐξέβαλεν); he poured out (ἐξέχεεν); he turned over (ἀνέστρεψεν); he commanded (εἶπεν, Jn 2:15–16).“ 45 Siehe dazu Kapitel III,2.1 und die Belege von THAYER (1889), 262; BAUER (1988), 658; BAUER/DANKER (2000), 412; GÄRTNER/AVEMARIE (2005), 1681); vgl. insbesondere PEDERSEN (2011), 211: „In der Gerichtssprache gibt εὑ. die Schlußfolgerung an aus der vorausgehenden Untersuchung eines Sachverhaltes, einer Anklage (αἰτία) oder einer Streifrage (ζήτησις/ζήτημα).“ Pedersen weist ferner darauf hin, dass das Lexem in Mk 14,55–58; Mt 26,59–61 im Kontext des Vergehens gegen den Tempel genannt wird (ebd.). 46 Den Bezug zwischen dem Kommen Jesu zum Tempel in Joh 2,14 und dem Kommen des Lichts in Joh 1,9–11 sieht auch KÖSTENBERGER (2009), 194; ferner auch THYEN (2005), 176. 47 BAUER (1988), 657, nach dem die Konstruktion „d. Zustand od. d. Handlung bez., in denen jemd. od. etw. angetroffen, befunden wird“; ebenso BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF (2001), 345f. mit Verweis auf Joh 2,14.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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des Vergehens seine juristische Ahndung folgen, die zugleich verbal ausgedrückt (εἶπεν, V. 16) und damit vom richterlich ausgesprochenen Gerichtsurteil begleitet wird. Als eigentliche causa steht der Vorwurf der Verunreinigung des Tempels im Hintergrund (μὴ ποιεῖτε τὸν οἶκον τοῦ πατρός μου οἶκον ἐμπορίου, V. 16), das je nach Schweregrad mit einer Verwarnung48 verbunden oder unter Blasphemie subsumiert und folglich mit der Todesstrafe belegt werden konnte.49 Die Tempelreinigung ist darum umso mehr zeichenhaft, als sie neben einer konkreten Verurteilung und Ahndung eines Vergehens zugleich als Warnung vor einem weit größeren Gericht erscheint50 und darin auf eine mehr als situationsbezogene metaphorische Tragweite des Gerichtswortes Jesu hinweist.51 Dass dabei die Reaktion der Juden (2,18), die zugleich die erste wörtliche Rede wie überhaupt die erste aktiv ausgedrückte Handlung der Ἰουδαῖοι als Charaktere darstellt, mit ἀπεκρίθησαν beginnt (V. 18), ist nicht nur aufgrund der besonderen narrativen Bedeutung der ersten Worte eines Charakters,52 sondern auch in der Gesamtkonzeption der forensischen Auseinandersetzung im Johannesevangelium signifikant. Gegenüber der Anklage Jesu durch Wort und Zeichenhandlung erscheinen die Juden bereits im ersten Auftritt als solche, die sich gegenüber Jesus verteidigen müssen, sodass sie (ganz in Entsprechung zur Akzentsetzung im Prolog) als auf die Bloßstellung durch das Licht Re-Agierende erscheinen (vgl. Joh 1,5.9–12) und in einer Rollenumkehrung anstelle von Anklägern als Angeklagte erscheinen. 53 Vor diesem 48 Vgl. BOCK/HERRICK (2005), 209; ZUMSTEIN (2016), 126; siehe auch die Ausführungen oben zur Verwarnung im Kontext der Strafverfolgung und des Rechtsstreites im römischen Kognitionsverfahren (Kapitel II,1.2.4), im alttestamentlichen Rechtsstreit (Kapitel II,2.2.3) sowie insbesondere bei Gotteslästerung (Kapitel II,1.3.3, Anm. 120 und Anm. 128). 49 BLINZLER (1969), 147 mit Verweis auf Lev 26,16; Jer 26,1–19 und Flav.Jos.Ant. X 90. Im Falle von Tempelschändung war den jüdischen Behörden das Recht der Vollstreckung der Kapitalgerichtsbarkeit zugestanden; vgl. dazu oben Kapitel II,1.3.2. Möglicherweise wird mit der Existenz der Geldwechsler auch der implizite Vorwurf der Blasphemie im Hintergrund angedeutet, da diese Münzen mit paganen Bildern, die dem atl. Bilderverbot widersprachen, im Tempel gehandelt wurden (vgl. BROWN [1966], 115). 50 Dieses zeigt sich in einer prophezeiten Zerstörung des Tempels als „Gottesgericht“ (ZUMSTEIN [2017], 283), ist darin aber selbst symbolhaft für das eschatologische Gericht. Vgl. zur symbolhaften Natur der Tempelreinigung wie auch der Doppeldeutigkeit des Tempelwortes Jesu in Joh 2,19 als Anspielung auf das Schicksal des tatsächlichen Tempels (neben der dominanten metaphorischen Referenz auf den Leib Jesu) auch KÖSTENBERGER (2006), 234f. Köstenberger sieht in der Tempelreinigung daher zugleich „the sign of Jesus’ prophetic pronouncement of destruction on the Jerusalem sanctuary“ (ebd.). 51 So THEOBALD (2009), 224. 52 Siehe dazu oben Anm. 17. 53 Vgl. auch HENDRIKSEN (1953), 124: „The request for a sign was […] wicked. It was the result of unwillingness to admit guilt. The authorities should have been ashamed of all this graft and greed within the temple-court. Instead of asking Jesus by what right he had cleansed the temple, they should have confessed their sins […].“

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Hintergrund gewinnt das Zitat aus Ps 69,10 in Joh 2,17 eine schillernde Multivalenz, insofern der Eifer für den Tempel gleichzeitig eine ironische Referenz auf die fehlgeleiteten Versuche der Juden enthält, den Tempel zu schützen, und sich dabei gleichzeitig gegen den wahren Tempel Gottes vergehen.54 Die symbolische Formulierung und das durch sie hervorgerufene Missverständnis der Juden bezüglich der Rede Jesu vom Tempel (Joh 2,20–21) zeigen eine ironische Intensivierung der Rollenumkehrung, bei der die Anklage der Juden gegen Jesus aufgrund von Tempelschändung vor den Augen des Lesenden selbst zum größtmöglichen Akt der Tempelschändung wird.55 Die so vorgenommene Modulation des Prozess-Settings wird durch das kurze narrative Resümee des Erzählers im Anschluss an die Szene der Tempelreinigung in Joh 2,23–25 bestätigt. 56 War die Doppelrolle Jesu als Richter und Zeuge bereits durch die Nähe zu Mal 3,1–5 angedeutet, 57 so erscheint Jesus durch die in V. 25 mit μαρτυρέω eingeführte Zeugnisthematik in der Doppelrolle des göttlichen Anklägers und Richters, der keine menschlichen Zeugen benötigt.58 Das Zeugnis ist dabei funktional eindeutig als forensisches Zeugnis in der Anklage vorausgesetzt und setzt die Prozessmotivik der Szene bis zum Schluss als dominantes Motiv fort.59 Während der Konflikt zwischen Jesus und den Juden zunächst unaufgelöst stehenbleibt, zeigt der Schluss der Erzähleinheit eine Positionierung der beim Passahfest Anwesenden,60 die durch die Bezeichnung als θεωροῦντες αὐτοῦ τὰ σημεῖα ἃ ἐποίει (V. 23) auf der metaphorischen Ebene der Auseinandersetzung 54 Vgl. LAPPENGA (2015), 147. Ferner wird eine inhaltliche Parallele zum Versuch, Jesus zu töten und damit den wahren Tempel zu zerstören, in Joh 10,31 deutlich (vgl. dazu Abschnitt 5.3). Siehe zu der ironischen Wendung im Kontext des Kommens Jahwes zu seinem Tempel auch KLINK (2016a), 252: „Even more, the scene in the temple is intended to evoke a sense of irony, as the Lord himself stands unnoticed as such and rejected by what should be his most intimate worshippers and faithful supporters.“ 55 Vgl. SCHNELLE (2016), 97; MICHAELS (2010), 167; ähnlich sieht RIDDERBOS (1997), 119 den Ausspruch als „refering to […] the manner in which the Jews were guilty of violating their own temple“. 56 Die Verse erweisen sich durch den Verweis auf Jerusalem und das Passah (Joh 2,23) als inclusio zum Beginn der Tempelszene (Joh 2,13) und damit als eng mit der Szene der Tempelreinigung angebundener Erzählerkommentar; vgl. dazu oben Anm. 13–14. 57 Die Aussage in V. 25, nach der Jesus kein menschliches Zeugnis benötigt, entspricht der atl. Akzentsetzung, dass Gott im Rechtsstreit keine menschlichen Zeugen braucht, sondern selbst als absoluter Richter und Zeuge auftreten kann; vgl. dazu Kapitel II,2.3.2. 58 Vgl. dazu auch Joh 5,34: ἐγὼ δὲ οὐ παρὰ ἀνθρώπου τὴν μαρτυρίαν λαμβάνω. 59 Trotz des Kommens der Herrlichkeit des Herrn zu seinem Tempel (vgl. Mal 3,1) offenbart Jesus nicht dort, sondern in Kana seine Herrlichkeit. Die Begegnung in Jerusalem ist von der Rechtsstreitmotivik dominiert. 60 Die Darstellung der unterschiedlichen, insbesondere aber der gläubigen Reaktion auf die forensische Auseinandersetzung in Joh 2,23–25 ist parallel zum Wechsel zwischen Erscheinen und Auswirkung des Logos auf die Menschen im Prolog (vgl. oben Abschnitt 1.1) gestaltet.

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als Rechtsstreit die Rolle der Prozesszuschauer zugewiesen bekommen, die sich positionieren müssen.61 In Erweiterung des Prozess-Settings werden nun selbst solche, die mit Jesus sympathisieren, aufgrund eines als oberflächlich erwiesenen Zeichen-Glaubens 62 vom Licht bloßgestellt. 63 Der Konflikt zwischen Jesus und den Juden weitet sich damit – auch darin ist die Tempelreinigung programmatisch – auf die Prozesszuschauer aus und wirkt – wie schon im Prolog (Joh 1,11–12) angedeutet – polarisierend. Gleichzeitig wird der Kausalzusammenhang von Joh 1,11–12 transformiert, indem nicht die ablehnende Reaktion der Menschen,64 sondern pointiert eine ablehnende Reaktion Jesu formuliert wird, die in seiner Kenntnis dessen, was im Menschen ist, gegründet wird.65 Reflexion der Prozess-Narration Die derart verdichtete Darstellung der gegenseitigen Anklagen in Bezug auf Tempelschändung sowie der dahinterstehenden forensischen Voraussetzungen wird vom Erzähler als narratives Mittel eingesetzt, einen grundsätzlichen Paradigmenkonflikt bloßzulegen, der sich in der Sichtweise Jesu und der Juden offenbart. War im Widerspruch der Juden noch das häufige Motiv der Anklage Gottes durch Menschen in Form eines Streitgespräches zu erkennen, gewinnt die Auseinandersetzung mit der Anspielung auf den gewaltsamen Tod Jesu nun eine Zuspitzung, die in ihrer Drastik über die alttestamentliche Motivik hinausgeht und sich als spezifisch johanneische Akzentsetzung erweist. So tritt der Konflikt zwischen Jesus und den Juden in ihrer ersten Begegnung nicht nur völlig unvermittelt und ohne Vorgeschichte auf, 66 sondern zeigt im Inhalt durch die Andeutung des gewaltsamen Todes Jesu eine Schärfe, die in ihrer Intensität und Tragweite weitreichender kaum sein kann. Dass beide Parteien

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Einen ähnlichen Bezug auf die Lesenden sieht THEOBALD (2017), 273. Der in Joh 2,23 genannte Glaube erweist sich nach Ansicht von ZUMSTEIN (2016), 136; KLINK (2016b), 184; SCHNACKENBURG (1992a), 373; KARAKOLIS (2017), 34 damit als oberflächlich und unecht. Positiver dagegen SCHNELLE (2016), 98 und WENGST (2000), 125, die einen echten, aber noch unbewährten Glauben sehen. 63 Diesen Bezug zur Lichtmetaphorik aus dem Prolog (Joh 1,4–5.9) sieht KLINK (2016b), 184. Der Akzent des bloßstellenden Lichts wird in Joh 3,20 explizit gemacht (siehe dazu unten Abschnitt 2.2). 64 Die Fortsetzung spricht mit αὐτὸς δὲ Ἰησοῦς οὐκ ἐπίστευεν αὐτὸν αὐτοῖς (Joh 2,24) pointiert vom fehlenden Anvertrauen Jesu. 65 Das ἐν τῷ ἀνθρώπῳ in Joh 2,25 ist negativ konnotiert und weist in die Richtung des moralisch verdorbenen menschlichen Wesens; vgl. KLINK (2016b), 184. 66 So auch WENGST (2000), 120, ebenso BEUTLER (2013), 132: „Ein Konflikt um Jesus und seine Sendung ergibt sich nicht erst Schritt für Schritt, sondern bestimmt von Anfang an den Evangelienbericht.“ 62

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

sich ohne Vorgeschichte nach nur zwei gewechselten Sätzen (Joh 2,18–19)67 in so drastischer Unversöhnlichkeit gegenüberstehen, dass sich dem Lesenden das Skandalon und Paradoxon des Kapitalgerichts über Gott selbst aufzwingt,68 stellt die ganze Szene unter das Vorzeichen des Prologs, der sich als die eigentliche Vorgeschichte dieses (in seiner Dimension letztlich kosmischen) Rechtsstreites darstellt. Nur dem Lesenden offenbart sich, dass das Eintreffen des Lichts in den Raum der Finsternis den unvermittelbaren Konflikt zwischen Licht und Finsternis erweisen muss. So zeichnet sich folglich auch die Art des Wortwechsels nicht nur durch eine völlige Abwesenheit von Argumenten aus, sondern erscheint als Aufeinandertreffen zweier diametral entgegengesetzter Paradigmen, die mit zwei konträren forensischen Rollenkonstruktionen korrespondieren.69 Insoweit in dieser Darstellung in Joh 2,18–19 keine Argumente, sondern Paradigmen aufeinandertreffen, in denen sich sowohl Jesus als auch die Juden als Richter sehen, entpuppt sich der Rechtsstreit als Meta-Rechtsstreit, in dem die (Rollen-)Konstruktion des Rechtsstreites selbst infrage steht. Dass dieser mit Joh 2,19 zunächst in einem Missverständnis der Tempelsymbolik endet, durch das der Erzähler narrativ die Unwissenheit und das mangelnde Verständnis der Juden zur Schau stellt, weist den Lesenden auf einen Unterschied in der Wahrnehmungsebene als wesentliches Charakteristikum dieses Konflikts hin und erscheint so als implizite Kritik des Erzählers an der innerweltlichen Konstruktion der erzählten Welt. Auf dieser Ebene wird der Lesende selbst zum Zeugen eines bereits vorhandenen Doppelparadigmas, das sich in Form der Prozessmetaphorik vor seinen Augen entfaltet. Die negative Schlusspointe in Joh 2,23–25 ist dabei wie in der atl. Darstellung des Rechtsstreites zwischen Gott und Menschen charakteristisch für die persuasive Funktion der Erzählung, die den Lesenden durch die Rechts-

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Die Aussage Jesu in V. 16 ist bewusst an die τὰς περιστερὰς πωλοῦσιν gerichtet. Wenn auch die Ἰουδαῖοι damit implizit mitadressiert werden, führt der Erzähler sie doch erst in V. 18 ein, sodass der Wortwechsel von V. 18–19 als erste Begegnung zwischen Jesus und den Juden erscheint. 68 Das jedenfalls ist die Konsequenz der im Wort Jesu angedeuteten Tempelzerstörung durch die Juden (vgl. BEASLEY-MURRAY [1999], 40: „[I]t is an ironical call for them to carry on their behavior to its limit“). Die Unsäglichkeit dieser Vorstellung ist offenbar entweder so selbstverständlich oder so unverständlich, dass sie von Kommentatoren nicht genannt wird. Dennoch erweist sich diese vom impliziten Leser gezogene Schlussfolgerung eines Versuches, den im Prolog als θεός Bezeichneten (Joh 1,1; vgl. auch Joh 1,18 v.l.) umzubringen, gerade als wesentliches Element der Darstellung, die dem Skandalon des durch die Finsternis abgelehnten Lichts (Joh 1,5.10.11) entspricht und im Kontext des Rechtsstreites die größtmögliche Blasphemie ausdrückt. 69 Dass diese nicht im gleichwertigen Gegenüber zweier, durch eine vertikale Barriere getrennten Positionen, sondern vielmehr durch eine grundlegende Asymmetrie einer horizontalen Trennung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ charakterisiert ist, wird erst in Joh 3,11–21 expliziert.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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streitmetaphorik selbst zum Glauben führen will.70 Ferner wird in der Tempelreinigung dem impliziten Leser „durch diese Art der ‚Prozeßeröffnung‘ schon angedeutet, wer hier am Ende in Wahrheit der Kläger und Richter, und wer der Angeklagte sein wird“.71 Ferner deutet sich darin bereits eine Ausweitung des Prozessgeschehens auf solche an, die sich bis dahin (wie der Lesende) als bloße Prozesszuschauer wähnten.72

2.2. Das Zeugnis Jesu und des Erzählers (Joh 3,11–21) Narrative Einbettung Mit dem lokalen und zeitlichen Anschluss an das öffentliche Wirken Jesu am Passahfest in Jerusalem (Joh 2,13–25) wird das Gespräch Jesu mit Nikodemus (Joh 3,1–21) eng an die Szene der Tempelreinigung angefügt. Durch den überleitenden Charakter von Joh 2,23–25 erscheint Nikodemus als Repräsentant derer, die aufgrund der Zeichen an Jesus glaubten (2,23; vgl. 3,2).73 Entsprechend enge Verbindungen finden sich daher im Zeugnismotiv, das bereits im überleitenden Abschnitt von Joh 2,23–25 als Ausdruck der Rechtsstreitmotivik des Evangeliums fungierte. Der letzte Teil des Gesprächs zwischen Jesus und Nikodemus zeigt in Joh 3,11–21 eine besondere Häufung forensischer Semanteme und expliziert und konkretisiert in Joh 3,11–15 das in Joh 2,25 genannte Zeugnis über den Menschen.74 Die für die Darstellung der Rechtsstreitmotivik maßgebliche Passage in Joh 3,11–21 fällt dadurch auf, dass nicht mehr deutlich zwischen der Rede Jesu und einem Kommentar des Erzählers getrennt werden kann. 75 Zwar scheint Joh 3,10–15 das Gespräch mit Nikodemus durch einen Monolog Jesu abzu70

Siehe zu dieser atl. Funktion der Rechtsstreitmotivik ausführlich Kapitel II,2.3.5. Diese persuasive rhetorische Funktion der forensischen Motivik im Johannesevangelium haben JOHNS/MILLER (1994), 523f.; SHEPPARD (1999), 199 hervorgehoben. 71 THYEN (2005), 180. 72 Die so angedeutete Inklusion des Lesenden in den in der Erzählung kreierten metaphorischen Makro-Prozess wird in der weiteren Erzählung explizit gemacht; vgl. dazu die narrative Untersuchung zu Joh 7,14–8,59 in Abschnitt 4. 73 Siehe dazu WENGST (2000), 125 und die ausführliche Charakterisierung bei CULPEPPER (2013), 253–255. 74 LINCOLN (2000), 67. Mit μαρτυρέω wird ein intratextueller Bezug zwischen Joh 3,11– 21 und Joh 2,23 hergestellt. 75 CULPEPPER (1987), 41 bemerkt daher: „[T]he identity of the speaker in 3:13–21 (or 3:16–21) […] is a well-known problem.“ Die Forschung ist sich nicht einig, ob und wo die Rede Jesu in einen Erzählerkommentar übergeht. Den ganzen Abschnitt als Rede Jesu sehen MICHAELS (2010), 200; BEUTLER (2013), 134; HOFIUS (1996), 34. Andere sehen unter literarkritischen Annahmen den Erzählerkommentar bereits ab Joh 3,13 (SCHNACKENBURG [1992a], 393; SCHNELLE [2016], 105) oder ab Joh 3,14 (ZUMSTEIN [2016], 146).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

schließen, dem in Joh 3,16–21 ein Erzählerkommentar folgt, 76 doch vereint sich durch eine fehlende Übergangsmarkierung die Stimme des Erzählers so stark mit der Stimme Jesu, dass die Worte des Erzählers absichtsvoll mit den Worten Jesu zu verschmelzen scheinen.77 Die Passage ist in dieser Ambivalenz zwischen Rede Jesu und reflektierendem Erzählerkommentar für die Darstellung der Rechtsstreitmotivik des Evangeliums von besonderer Bedeutung. Konstruktion eines Prozess-Settings Liegt schon durch die narrative Einbettung und den engen Anschluss des Nikodemusgesprächs an die Szene der Tempelreinigung sowie aufgrund der Verwendung der für sich bereits stark forensisch konnotierten Semantemen μαρτυρέω und μαρτυρία in Joh 3,11 ein forensischer Zug nahe, erfährt dieser durch den gesamten Kontext eine augenfällige Bestätigung. So liegt in der Formulierung ἀμὴν ἀμὴν λέγω σοι ὅτι ὃ οἴδαμεν λαλοῦμεν καὶ ὃ ἑωράκαμεν μαρτυροῦμεν (V. 11) mit der solennen Bekräftigungsformel ἀμὴν ἀμήν,78 der Kombination von οἶδα, ὁράω (V. 11) und πιστεύω (V. 12; 7-mal in V. 12–18) sowie der auffälligen Verwendung der 1. Pers. Pl. so deutlich der Topos eines mehrfachen, glaubwürdigen, vor Gericht eidlich abgelegten Augenzeugnisses aus eigenem Wissen und Erleben vor,79 dass dadurch ein deutlich forensischer Kontext geschaffen wird.80 Der Abschnitt von V. 17–21 präsentiert sich durch die dominierende Gerichtsmotivik (κρίνω [2x], κρίσις, ἐλέγχω, φανερόω) als metaphorische Prozessszene,81 die in Anschluss an den Prolog über die Licht-

76 So sieht eine große Anzahl von Forschern ab Joh 3,16 einen Erzählerkommentar, indem eine systematische Vertiefung des Nikodemusgesprächs folgt; vgl. KÖSTENBERGER (2004), 114; MORRIS (1995), 202; CARSON (1992), 203; BURGE (2000), 117f.; KLINK (2016b), 204; WEINRICH (2015), 306; MCHUGH (2009), 238. Die folgende Untersuchung schließt sich dieser Untergliederung an, berücksichtigt dabei jedoch die starke Ambivalenz der Passage. 77 So auch CULPEPPER (1987), 412: „It appears to be a classic instance of the blending of the narrator with Jesus’ voice.“ Nach Culpepper ist daher eine strikte Trennung weder sachgemäß noch notwendig. 78 Siehe etwa den Hinweis von TRITES (1977), 95: „[N]ote the juridical force of the reduplicated ἀμήν […].“ 79 Alle diese Elemente erweisen sich als zentral für Zeugen im antiken Gerichtsprozess; siehe dazu Kapitel II,1.4.3. An kaum einer anderen Stelle finden sich so gebündelt die mit dem gerichtlichen Zeugen konnotierten termini technici wie in Joh 3,11 (vgl. auch BLANK (1964), 59; RIDDERBOS (1997), 133; MCHUGH (2009), 232). 80 So richtig RIDDERBOS (1997), 133. 81 KÖSTENBERGER (2004), 131 spricht von „John’s ‚courtroom‘ terminology“; NEYREY (1981), 122 von einer „judgment scene“; ähnlich betont TRITES (1977), 96f. die „courtroom imagery“ und bezeichnet die Szenerie als „trial“. Dies wird dadurch bestätigt, dass die Wortgruppe κρίνω und κρίσις hier zum ersten Mal im Evangelium verwendet wird (vgl. dazu oben Kapitel III,2.1), wie auch NEYREY (1981), 127 bemerkt: „[T]he fact that the language

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metaphorik (φῶς, V. 19.20.21; σκότος, V. 19) als Ausdruck moralischer Qualitäten (πονηρὰ τὰ ἔργα, V. 19; ὁ φαῦλα πράσσων, V. 20; ποιῶν τὴν ἀλήθειαν, V. 21) formuliert ist.82 Damit wird die „Sendung des Sohnes […] als endzeitliche Gerichtssituation ausgelegt“.83 Deutet sich die Rolle Jesu als Zeuge schon in Joh 2,23–24 an, 84 tritt nun Jesus zum ersten Mal explizit als Zeuge im Prozess auf:85 „Jesus is the chief witness in the narrative’s pervasive trial motif and his testimony is at the centre of the process of judgement […].“86 Es ist darum kaum nachvollziehbar, wenn die Verwendung von μαρτυρέω und μαρτυρία in V. 11 (insbesondere in unmittelbarer Nähe zu einen Wortfeld weiterer termini technici der Prozesssprache in V. 18–21)87 auf eine revelatorische Konnotation reduziert werden soll.88 Vielmehr erweisen sich die forensische und revelatorische Konnotation des Zeugnismotivs in der johanneischen Darstellung schon seit dem Prolog (vgl. Joh 1,4–8) als aufs Engste verbunden und bedingen sich in der johanneischen Akzentsetzung notwendig gegenseitig. Dennoch scheint das Zeugnismotiv zunächst so stark im Dienst des himmlischen Offenbarungswortes Jesu über die ἐπουράνια (V.12) zu stehen,89 dass trotz der deutlich forensischen Anklänge das dabei evozierte Prozess-Setting nur angedeutet wird. Durch den Hinweis auf die fehlende menschliche Akzeptanz des himmlischen Zeugnisses (ὃ ἑωράκαμεν μαρτυροῦμεν, καὶ τὴν μαρτυρίαν ἡμῶν οὐ λαμβάνετε, V. 11) wird die Zurückweisung der Offenof judging/judgment is first introduced into the gospel here further suggests that the confrontation is seen as a trial.“ 82 So auch NEYREY (1981), 122. 83 BECKER (1991a), 166. 84 Siehe dazu oben Abschnitt 2.1. 85 So betont von BEUTLER (2013), 138. 86 LINCOLN (2005), 152. 87 Vgl. dazu auch KÖSTENBERGER (2004), 131. 88 So tut dies etwa BOICE (1970), 32; ferner auch BEUTLER (1972), 311, der postuliert: „Der ‚forensische‘ Sinn steht also zumindest nicht im Vordergrund, wenn er überhaupt vorhanden ist.“ Noch weitreichender ist die Ansicht von ZUMSTEIN (2016), 142, dass „das Verb μαρτυρεῖν im vierten Evangelium durchgehend die christologische Offenbarung“ beschreibt. Richtig dagegen betont schon BULTMANN (1986), 103 die forensische Konnotation: „Das μαρτυρεῖν hat dabei zunächst den üblichen forensischen Sinn: der Augenzeuge kann vermöge seiner Kenntnis Tatbestände, die Anderen unzugänglich sind, sicherstellen; sein Wort hat daher Autorität.“ Ebenso verweist NEYREY (1981), 117f. darauf, dass allein aufgrund des forensischen Charakters des Zeugnismotivs im Evangelium („the forensic character of ‚witnessing‘ in the gospel“) in Joh 3,11–18 mit einem deutlich forensischen Akzent zu rechnen ist, der die Szene als Gerichtsszene erweist; ähnlich auch VREDE (2014), 721 zu Joh 3,11: „The term μαρτυρία is a legal term referring to a witness who actively shows up to testify that something is the case […].“ Ebenso LINCOLN (2005), 152; vgl. ferner TRITES (1977), 96, der darin „courtroom imagery“ sieht. 89 Siehe etwa die Einschätzung bei BEUTLER (1972), 311. Tatsächlich sind in der Rede über die ἐπουράνια die Inhalte der christologischen Offenbarung von V. 13–15 eingeschlossen (HOFIUS [1996], 35; WILCKENS [1998], 72; ZUMSTEIN [2016], 142).

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barung über die Symbolik eines gerichtlich zurückgewiesenen Zeugnisses ausgedrückt.90 Ähnlich weist auch die Verwendung der 1. Pers. Pl. (V. 11–12) das Zeugnis Jesu als Zeugnis in göttlicher Autorität aus,91 in der sich Jesus dem pointierten ὑμῖν (V. 12) entgegensetzt und damit Nikodemus als Repräsentanten der Welt im metaphorischen Gerichtssaal gegenüberstellt.92 In Anschluss an den Prolog (οὐ παρέλαβον, Joh 1,11) wird mit οὐ λαμβάνετε folglich das Bild eines von der Welt als nicht tragfähig befundenen Zeugnisses zur Verteidigung der Sendung Jesu evoziert.93 Prozessmodulation Scheint das Zeugnismotiv stark mit der Rede Jesu als himmlischer Offenbarer zu koinzidieren und ein forensisches Setting einer apologetischen Funktion des Zeugnisses anzudeuten, zeigt insbesondere der anschließende Erzählerkommentar von V. 16–21 eine Modulation dieses Prozess-Settings, bei der sich die offenbarende Komponente eng mit einer anklagenden Rolle verbindet. So ist das Augenzeugnis Jesu notwendig offenbarend, insofern es ἄνωθεν (V. 3.7.31) kommt und τὰ ἐπουράνια (V. 12) zum Inhalt hat,94 Jesus als einzigartigen Offenbarer erweist (οὐδεὶς ἀναβέβηκεν εἰς τὸν οὐρανὸν εἰ μὴ ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβάς, ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, V. 13) und gerade darin forensisch-anklagende Funktion bekommt, dass damit die Welt ins Licht gestellt wird (vgl. die Lichtmetaphorik in V. 18–21).95 Der in diesem Zuge verwendete Ausdruck υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου (V. 13.14) zeigt durch den Verweis auf den vom Himmel kom-

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Vgl. ZUMSTEIN (2016), 142; BECKER (1991a), 166. So mit BROWN (1966), 132; BEUTLER (1972), 310; THYEN (2005), 197 gegen die Mehrheit der Kommentare, die einen pluralis ecclesiasticus als Bezug zur johanneischen Gemeinde sehen (so inter alia WENGST [2000], 138f.; SCHNELLE [2016], 105). Richtig dagegen ist, dass sich in der Übereinstimmung derer, die ‚von oben/neuem geboren‘ sind (3,3.7), eine Vereinigung mit dem Zeugnis Jesu und somit ein sekundärer Anklang an einen Einschluss der Lesenden in das Zeugnis ergeben kann (vgl. THYEN [2005], 197). Den Lesenden würde damit ebenfalls die Rolle von Zeugen in einem Meta-Prozess zugewiesen. Als primärer Textsinn ist jedoch an ein Zeugnis Jesu in göttlicher Autorität gedacht. So sehen etwa BROWN (1966), 132; BEUTLER (1972), 310; THYEN (2005), 197 einen pluralis maiestatis oder die Stilform der Heterosis (HOFIUS [1996], 57; ähnlich KLINK [2016b], 201), sodass nur Jesus selbst der Redende ist. 92 Vgl. dazu KEENER (2010b), 560. 93 Vgl. LINCOLN (2005), 152. 94 THEOBALD (2009), 255 spricht folglich von „himmlischer Augenzeugenschaft“ als Topos, der im Evangelium häufig begegnet. Der genaue Inhalt der ἐπουράνια ist unter Exegeten umstritten; siehe dazu unten. 95 Zu widersprechen ist damit BEUTLER (1972), 311, dass μαρτυρέω in Joh 3,11 nur synonym zu λαλέω verwendet wird. 91

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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menden Menschensohn aus Dan 7,13 96 selbst eine Verbindung zum Rechtsstreit Gottes mit der Welt97 und verbindet im Menschensohn als vermittelnder Figur und höchstem Richter den Aspekt der Offenbarung und des Gerichts.98 Dass die Aussage Gottes im Rechtsstreit notwendig eine Offenbarung sein muss, ist schon im Rechtsstreit Gottes mit der Welt in Jes 40–45 ein Schlüsselelement, indem Gott durch Offenbarung himmlischer Dinge seinen Anspruch als einzig wahrer Gott vor der Welt beweist, sich gerade darin aber zur Anklage der Welt wendet, die sich diesem Anspruch verweigert.99 Nicht ohne Ironie findet sich mit der Bezeichnung von Nikodemus als ἄνθρωπος (Joh 3,1) nicht nur eine Anspielung darauf, dass Nikodemus im Dialog den Menschen schlechthin als Gegenüber Jesu repräsentiert, sondern mit der Bezeichnung als einer ἐκ τῶν Φαρισαίων und ἄρχων τῶν Ἰουδαίων (Joh 3,1) auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass mit ihm einer derjenigen vor dem Gericht Jesu steht, die in Joh 1,19.24; 2,18 selbst noch als Richter über Jesus erschienen.100 Subtil wird damit ein zur Anklägerrolle der Juden kontrastierendes Prozess-Setting vorgenommen, das gleichzeitig jedem Menschen den Platz vor Jesus als Richter und Zeuge zuweist. Damit verdichtet sich die Häufung forensischer Ausdrücke zu einem Prozess-Setting eines kosmischen Rechtsstreites zwischen Gott und der Welt,101 in dem Jesus als Zeuge und Richter fungiert. Zugleich ist das Motiv des atl. Rechtsstreites präsent, bei dem Gott selbst als Zeuge auftreten kann.102 Dass dabei auch die im Alten Testament prädominante Funktion 96 Einen Verweis auf den Menschensohn aus Dan 7,13 in Joh 3,13–14 sehen ZUMSTEIN (2016), 143; KÖSTENBERGER (2007), 435; CARSON (1992), 207; MCHUGH (2009), 170– 172.236; WENGST (2000), 140; BEUTLER (1972), 89. 97 Siehe zur Stelle in atl. Kontext des Rechtsstreites Kapitel II,2.2.3. 98 Der Aspekt der Offenbarung ist durch die Verbindung des Menschensohnes mit dem Motiv des Herauf- und Herabsteigens im johanneischen Kontext deutlich erkennbar (vgl. Joh 1,51; 3,13; 6,53.62); siehe dazu KÖSTENBERGER (2009), 387; THYEN (2005), 202f.; ZUMSTEIN (2016), 144. Der Aspekt des Gerichts ist nicht nur im atl. Kontext von Dan 7,13 dominant (siehe dazu Kapitel II,2.2.3.), sondern auch im johanneischen Kontext insbesondere in Joh 5,27 aufgenommen (siehe dazu unten Abschnitt 3.3) und auch im Kontext von Joh 3,13 durch die starke Gerichtsmotivik in V. 17–20 präsent. Nach CARSON (1992), 207; WENGST (2000), 149; LINDARS (1973), 49 dient der Ausdruck in Joh 3,13 gerade dazu, die richtende Komponente einzuführen. 99 Vgl. Jes 40,21f.; 41,26; 42,9; 43,12; 44,7–8; 45,21; 46,9–11; 48,3.6. Siehe zum atl. Kontext Kapitel II,2.2.3 und zur maßgeblichen Bedeutung der Rechtsstreitpassagen in Jes 40–55 für das Johannesevangelium Kapitel IV,2.3. Vgl. zum motivischen Hintergrund von Jes 40–55 für Joh 3,11–21 auch VREDE (2014), 721. 100 Siehe dazu auch VREDE (2014), 723. In Joh 1,19–34 steht Jesus indirekt als Angeklagter durch die Befragung des Johannes im Hintergrund (siehe oben Abschnitt 1.2), in Joh 2,18 wird er direkt von den Juden als Angeklagter behandelt (siehe oben Abschnitt 2.1). 101 Die Andeutung eines vollständigen Prozess-Settings aus wenigen forensischen Schlüsselworten ist in alttestamentlicher Rechtsstreitdarstellung bereits fest angelegt; siehe dazu Kapitel II,2.3.4. 102 Siehe dazu ausführlich Kapitel II,2.3.2.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

des Zeugen in der Anklage vorausgesetzt wird, deutet sich bereits in dem mit καὶ τὴν μαρτυρίαν ἡμῶν οὐ λαμβάνετε (V. 11) vorweggenommenen Resultat an und wird spätestens in der Fortsetzung von V. 18–21 zur Gewissheit. Der metaphorische Rechtsstreit wird in V. 18–21 maßgeblich über die bereits im Prolog (Joh 1,4–5.9) forensisch konnotierte Lichtmetaphorik ausgedrückt und lässt dieselbe Rollenkonstellation wie in Joh 3,11–17 erkennen, indem Jesus als Ankläger, Zeuge und Richter fungiert, während die Welt als Angeklagte dasteht.103 Die Welt ist nach V. 18 (ἤδη κέκριται) bereits vor dem Kommen des Lichts als in einem Zustand der Finsternis und somit als verdammungswürdig vorausgesetzt,104 – einer Finsternis, die ausnahmslos jeden Menschen (vgl. das generelle οἱ ἄνθρωποι in V. 19) betrifft.105 Gerade darin liegt auch begründet, dass damit bereits das Gericht als Verurteilung (κέκριται im Perf.) jedes Menschen impliziert ist.106 Das Licht hat also eo ipso eine Doppelfunktion von Rettung und Verurteilung: Da das Licht notwendig die Bosheit der Welt aufdecken muss (V. 20–21) und somit das Todesurteil erst forensisch als solches erweist, kann nur gerettet werden, wer das Recht dieser Verurteilung im Glauben anerkennt.107 Das Kommen des Lichts wirkt dabei intentional heilschaffend (ἵνα 103

So auch VREDE (2014), 722. Siehe dazu auch BEUTLER (1972), 94; ZUMSTEIN (2016), 148; KÖSTENBERGER (2004), 130; BORCHERT (1996), 185; vgl. auch CARSON (1992), 207: „[T]he Son of Man came into an already lost and condemned world. He did not come into a neutral world in order to save some and condemn others; he came into a lost world (for that is the nature of the ‚world‘, 1:9) […]“. Damit ist insbesondere der Ansicht von BULTMANN (1986), 115 widersprochen, dass die Sünde erst durch die Ablehnung Jesu als Licht zur Sünde werde, wie FREY (2000b), 294 zu Recht herausstellt. 105 Gegen BULTMANN (1986), 113; SCHNACKENBURG (1992a), 428, die V. 19 nur auf Menschen beziehen, die sich gegenüber dem Licht verschließen. Richtig dagegen HOFIUS (1996), 70: „[S]o spricht also auch V. 19 von dem, was für alle Menschen ohne Ausnahme gilt: Alle hassen das ‚Licht‘; alle stehen deshalb unter der κρίσις, sind dem Verdammungsund Todesgericht und damit dem Tod selbst schon preisgegeben.“ Ebenso NEYREY (1981), 117. 106 Vgl. KLINK (2016b), 206. κρίνω hat somit in V. 18 nicht den Sinn eines neutralen Richtens, sondern von ‚verurteilen‘ (SCHNACKENBURG [1992a], 426; KÖSTENBERGER [2004], 130; CARSON [1992], 207; ZUMSTEIN [2016], 148). 107 Dieser Zusammenhang wird nicht direkt ausgedrückt, ist aber im logischen Übergang von ἤδη κέκριται (V. 18b) als Verurteilung für alle Menschen zum οὐ κρίνεται (V. 18a) für den Glaubenden impliziert; siehe dazu HOFIUS (1996), 70.72 sowie die Ausführungen bei NEYREY (1981), 117. Auf diesen Zusammenhang weist bereits der intertextuelle Bezug auf die in der Wüste erhöhte Schlange hin (Num 21,4–9) in Joh 3,14 hin, die zur Rettung von ehemals unter der Strafe Stehenden wird, die ihre Rettungsbedürftigkeit einsehen (vgl. SCHNACKENBURG [1992a], 408; HOFIUS [1996], 61f.). Schwierig ist in diesem Zusammenhang zunächst V. 21, insofern mit ὁ δὲ ποιῶν τὴν ἀλήθειαν ἔρχεται πρὸς τὸ φῶς so aufgefasst werden könnte, als gäbe es schon vor dem Eintreffen des Lichts solche Menschen, die nicht unter dem Verdammungsurteil stehen. Die chiastische Struktur von V. 18–21 drückt jedoch in V. 10b–21 über die Werke aus, was in V. 18–19a in Bezug auf den Glauben gesagt wurde 104

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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σωθῇ ὁ κόσμος in V. 17), gerade darin aber logisch vorgeordnet überführend (ἐλεγχθῇ τὰ ἔργα αὐτοῦ in V. 20; φανερωθῇ αὐτοῦ τὰ ἔργα in V. 21).108 Beide Funktionen des Lichts sind nicht gegensätzlich, sondern notwendig verbunden.109 Wer das Licht anerkennt, stellt sich damit zugleich ins Licht und vor Jesus als vollmächtigen Richter. Mit V. 19 wird daher die hier im neutralen Sinne als Abhalten des Gerichts verstandene κρίσις110 als unabdingbare Konsequenz aus dem eintreffenden Licht beschrieben. Zum ersten Mal drückt damit der Erzähler das durch das Kommen Jesu bewirkte forensische Geschehen durch αὕτη δέ ἐστιν ἡ κρίσις expressis verbis als Gerichtsprozess aus,111 der sich im Kommen Jesu als Licht in die Welt ereignet (V. 19). 112 In diesem (siehe dazu HOFIUS [1996], 68), und setzt auch in dem Kommen zum Licht von V. 21 bereits die Wiedergeburt und den Glauben solcher voraus, die einst selbst in der Finsternis waren (so auch die meisten Forscher; vgl. stellvertretend HOFIUS [1996], 73; ZUMSTEIN [2016], 150). 108 Es „enthüllt und sanktioniert den allgemeinen Unglauben“ (ZUMSTEIN [2016], 149). 109 RISSI (2011), 793. 110 So schon BULTMANN (1986), 113, der hier vom „Gericht als […] große Scheidung“ spricht; ähnlich BÜCHSEL (1967), 943; BAUER (1988), 919; RISSI (2011), 793. Dem haben einige Forscher widersprochen und κρίσις als ‚Verurteilung‘ gedeutet; vgl. etwa THYEN (2005), 220; HOFIUS (1996), 69f.; THEOBALD (2009), 272; ZUMSTEIN (2016), 149; BEUTLER (2013), 141. Dass mit diesem Votum jedoch keinesfalls „dann auch schon die alte Streitfrage entschieden“ ist, wie THEOBALD (2009), 272 fälschlich meint, zeigt die Tatsache, dass in der neueren Forschung wieder verstärkt für κρίσις als Akt des Richtens plädiert wird, so etwa bei BROWN (1966), 134; MORRIS (1995), 206; in jüngerer Zeit ferner BURGE (2000), 118; KÖSTENBERGER (2004), 131; LINCOLN (2005), 155; MCHUGH (2009), 241 und neuerdings THOMPSON (2015), 77; WEINRICH (2015), 373f.; KLINK (2016b), 207. Am besten ist daher mit BLANK (1964), 96; SCHNACKENBURG (1992a), 427; BARRETT (1978), 217; LINDARS (1987), 160; BEASLEY-MURRAY (1999), 51 von einer Doppeldeutigkeit auszugehen, durch die mit dem Semantem κρίσις sowohl der Vorgang des Richtens wie auch sein Resultat bezeichnet ist. Beides ist im Kontext angelegt; in V. 19 scheint jedoch der Vorgang des Richtens dominant. 111 Nach WENGST (2000), 150 sollte man diese Formulierung, die „geradezu als Definitionssatz eingeführt wird […] nicht isoliert für sich interpretieren, sondern nur im Zusammenhang des ganzen Abschnitts“. Hinter dem ganzen Aussagekomplex von V. 18–21 steht damit die Metapher eines Gerichtsprozesses (so auch NEYREY [1981], 122.127). 112 Vgl. zur lexikalischen Wortbedeutung von κρίσις als ‚Gerichtsprozess‘ die in Kapitel II,1.4.1, Anm. 150 angegebenen Wörterbücher. Siehe zu dieser Bedeutung in Joh 3,19 etwa MORRIS (1995), 206 (the „word denotes the process of judging“); vgl. ferner KLINK (2016b), 207: „The narrator makes a declarative statement with the significant term ‚verdict‘ (κρίσις), which could be translated as ‚judgment‘ but more generally speaks of the judicial process that includes and culminates in a verdict. Thus, our use of ‚verdict‘ implies an ongoing judicial process.“ Ebenso LINCOLN (2005), 155: „In terms of the cosmic framework of the divine lawsuit with the world, Jesus’ mission is seen as the focal point of the struggle between light and darkness and the whole process of judgement is provoked by Jesus as the light coming into the darkness of the world“; so auch KÖSTENBERGER (2004), 131. Anders dagegen FREY (2000b), 296, der κρίσις nur im Sinne der Verurteilung versteht.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

metaphorischen Bildzusammenhang bezeichnet ἐλέγχω (V. 20) die im Gerichtsprozess platzierte forensische Überführung. 113 Dass diese gerichtliche Überführung vom Licht bewirkt wird (V. 20), bestätigt erneut, dass die μαρτυρία Jesu (V. 11–12) neben der offenbarenden auch eine anklagende Komponente hat.114 Dass damit aber zugleich eine Verurteilung115 für die einhergeht, die sich dem primären Verdikt Jesu und dem Heilsangebot durch Unglauben verweigern und sogar dagegen opponieren (μισεῖ τὸ φῶς, V. 20),116 macht die Fortsetzung in V. 20–21 deutlich. Während eine positive Reaktion auf die bloßstellende Funktion des Lichts einer Akzeptanz des Urteilsspruches gleichkommt und darin paradoxerweise zur Rettung führt,117 hat eine Ablehnung das endgültige und im Gerichtsprozess gefällte Urteil zur Folge. In der Verwendung der forensisch konnotierten Semanteme drückt sich folglich eine Sequenz mit doppeltem Ausgang aus, die sich in dem doppelten Zeitbezug der Perfektform κέκριται (V. 18) als bereits in der Vergangenheit eingetretenem und gegenwärtig manifestiertem Zustand118 zu einem Kreis schließt: κέκριται

κρίσις

φανερόω

ἐλέγχω

κέκριται

Während das Perfekt κέκριται auf den verdammungswürdigen Zustand der Finsternis zu Beginn der Kausalkette verweist (Vergangenheit),119 wird es nach der Überführung im Gerichtsprozess zu einem auf die Überführung folgenden und forensischen Verdikt (Gegenwart).120 Dass dieses Verdikt sich bereits in 113 Nach THYEN (2005), 222 hat das Verb hier „die forensische Bedeutung“; ebenso ZUMSTEIN (2016), 150, der ἐλέγχω „bei Joh im forensischen Sinn gebraucht“ sieht; ebenso LINCOLN (2005), 155f. Siehe zur forensischen Bedeutung von ἐλέγχω auch SILVA (2014a), 165f.

sowie oben Kapitel II,2.1. 114 So auch BEUTLER (1972), 312: „Hier erhält das ‚Zeugnis‘ Jesu nachträglich auch noch eine gerichtliche Note. Es wird zum ‚Gericht‘ der Welt […].“ VREDE (2014), 722 sieht das Zeugnis Jesu sogar ausschließlich in der Anklage. Diese anklagende Dimension des Zeugnisses stimmt nicht nur mit der prädominanten Funktion des Zeugen in der Anklage im atl. und frühjüdischen Rechtsstreit überein (siehe dazu Kapitel II,1.3; II,1.4.3 und II,2.1), sondern auch mit der belegten Verbindung von ἐλέγχω mit Zeugenaussagen (siehe dazu SILVA [2014a], 165f.). 115 Vgl. zu dem in κρίσις (V. 19) ebenfalls enthaltenen Aspekt der Verurteilung oben Anm. 110. 116 Die Formulierung parallelisiert die feindliche Re-Aktion der Finsternis aus dem Prolog (Joh 1,5.10.11) und ist eine weitere Andeutung des Konflikts, der die spätere narrative Darstellung prägt. 117 Vgl. dazu HOFIUS (1996), 72f. 118 Die Perfektform stellt nach THYEN (2005), 219 „als Folge des definitiven Bleibens im Unglauben die bleibende ‚Verdammnis‘“ heraus. Dabei verbinden sich vergangene und gegenwärtig zuständliche Dimension. 119 FREY (1998), 112 sieht im Perfekt einen „resultierenden Zustand“ mit einer „resultativ-statischen Komponente“. 120 Nach THYEN (2005), 220 will daher die Verbform „konkret als der richterliche Akt der ‚Verurteilung‘ begriffen sein“.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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der Gegenwart vollzieht, macht die Prozessmetaphorik zu einem wesentlichen Teil präsentischer Eschatologie, ohne damit die eschatologische Dimension des Gerichts auszuschließen. 121 In der Kausalität mit doppeltem Ausgang (κέκριται – οὐ κρίνεται in V. 18) wird die Metaphorik eines Gerichtsprozesses sichtbar, bei dem Jesus als Richter und Zeuge gegen die Welt fungiert, um ihr gerade darin das Heil zu offenbaren. Damit ergibt sich eine asymmetrische Disposition des Rechtsstreites mit konditionalem Ausgang (vgl. Abb. 9). Gerichtsprozess (κρίσις)

Urteil (κέκριται)

Glaube (ὁ πιστεύων)

Rettung (οὐ κρίνεται)

Unglaube (ὁ δὲ μὴ πιστεύων) Abb. 9: Juristische Kausalität in Joh 3,18–21.

Dieser asymmetrische Verlauf des Rechtsstreites, der die Rettung erst über die Verurteilung erreicht, ist bereits ein Proprium der alttestamentlichen Motivik des Rechtsstreites zwischen Gott und Menschen.122 Erst über diese Motivik im Hintergrund erklärt sich das Paradoxon, dass der Rechtsstreit trotz der dominanten Betonung der Verurteilung und des Gerichts nicht das Gericht, sondern das Heil für die Menschen im Blick hat (V. 16–17) und sich als Metapher mit deutlich persuasiver Funktion erweist.123 Die rettende und die richtende Rolle Jesu fallen damit nach dem Vorbild des alttestamentlichen Rechtsstreites, in dem Gott gegen sein Volk auftritt,124 in eins zusammen und bedingen sich gegenseitig.125 Die Metapher des Rechtsstreites zeigt, dass das Ziel der Sendung des Sohnes nach V. 16–17 in der Rettung besteht,126 gerade dazu aber die Verurteilung im Prozess voraussetzt. 127 Insbesondere ist Jesus damit immer zu121 So auch FREY (2000b), 319f. Nach Frey ist die Darstellung in Joh 3 als „Basistext der Gegenwartseschatologie im vierten Evangelium“ anzusehen (aaO., 319). 122 Auf diesen Hintergrund verweist auch CARSON (1992), 205f. anhand von Passagen aus dem prophetischen Rechtsstreit. 123 Vgl. dazu Abb. 1 in Kapitel II,2.2.1. 124 Siehe dazu Kapitel II,2.3 und insbesondere die spezifische Funktion des atl. Richters, der durch sein Richten rettet, in Kapitel II,2.3.5. 125 Vgl. RISSI (2011), 793: „Daher entsteht kein Widerspruch, wenn Jesus einerseits von seiner Sendung zum Heil und andererseits von seinem und seines Vaters wahrhaftigem, gültigen Richten spricht […].“ 126 So auch LINCOLN (2000), 70: „Rather, the trial process is meant to function as a rescue mission ‚in order that the world might be saved through him‘ (v. 17b).“ 127 BLANK (1964), 90 sieht dahinter die Formel „Vor dem Heil kommt das Gericht“. Siehe dazu ebenso die umfassende Monografie von HAMILTON (2010), der die Rettung durch das Gericht als zentralen Aspekt biblischer Theologie aufweist, bei der Gericht und Rettung keine Gegensätze sind: „[T]he center of biblical theology is the glory of God in salvation

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

gleich Richter, sowohl für die an ihn Glaubenden als auch für die nicht Glaubenden.128 Die Verurteilung wird dabei im doppelten Sinne verwendet: Sie ist einerseits gerichtliche Überführung und betrifft insofern alle Menschen als potenzielles Urteil; doch nur für solche, die sich dieser Überführung zu entziehen suchen, wird sie andererseits zum juristisch ausgesprochenen und manifesten Gerichtsurteil.129 Reflexion der Prozess-Narration Der Abschnitt in Joh 3,11–21 dient als systematische Reflexion von Aspekten, die bereits im Prolog präsent waren, dort jedoch ambivalent blieben. In der narrativen Makrostruktur erschient Joh 3,18–21 durch diesen analeptischen Bezug des Erzählers als systematische Erklärung, Konkretisierung und Weiterführung der Lichtmetaphorik aus dem Prolog.130 Daneben fungiert Joh 3,11– 21 durch die Ambivalenz zwischen Jesusrede und Erzählerkommentar in der Makrostruktur als reflektierende Pause und zeigt über die Metapher des Rechtsstreites, wie heilschaffende und richtende Wirkung der Sendung Jesu zusammenhängen. In der Dramaturgie des Evangeliums wird durch Joh 3,11–21 auch die Darstellung eines metaphorischen Makro-Prozesses fortgeführt, bei der nach der Prozesseröffnung (Joh 1,1–18; 1,19–34) und der ersten Begegnung der Prozessparteien (Joh 2,13–25) nun Jesus selbst in der Rolle des Zeugen und Richters gegen die Welt auftritt. Insbesondere durch die universelle Akzentsetzung werden dabei die Rechtsstreit- und Prozessmotivik und der reflektierte Kausalzusammenhang zwischen Glaubenshaltung und Schicksal in dem stark präsentisch formulierten eschatologischen Gericht 131 zum Vehikel einer theologischen Botschaft, die zunehmend den Lesenden einbezieht, ohne dies jedoch explizit zu machen. Der Charakter des Nikodemus wird als Repräsentant der through judgment, with judgment serving to highlight the mercy“ (aaO., 264), und der zu der johanneischen Darstellung in Joh 3 bemerkt: „Salvation through judgment for God’s glory is realized in Jesus.“ 128 So auch deutlich HOFIUS (1996), 70f. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich über die alttestamentliche Funktion des Richters, der zugleich Retter ist (siehe Kapitel II,2.3.5). 129 In diesem Sinne spricht SCHNACKENBURG (1992a), 404 von dem „Urteilsspruch Gottes über die ihm abgewandte ‚Welt‘“ als einem „Todesurteil“, das erst im Kommen des Sohnes „erkennbar wird, aber schon bisher verborgen über der Menschheit lastete“. Ob dieses gerichtlich vollstreckt wird („sein Todesurteil gegen sie wahrmachen“), entscheidet sich an der Reaktion des Menschen im Glauben oder Unglauben (ebd.). Vgl. ebenso die Darstellung bei FREY (2000b), 294–296. 130 Vgl. dazu KLINK (2016a), 204: „It also seems clear that vv. 16–21 echo again the great themes of the prologue.“ Ähnlich RIDDERBOS (1997), 141; ZUMSTEIN (2016), 149. Vgl. ferner NEYREY (1981), 125, der Parallelen zwischen Joh 3,11–21 und dem Prolog auflistet. Siehe zur Lichtmetaphorik im Prolog Abschnitt 1.1, Abb. 8. 131 Siehe dazu insbesondere die Darstellung bei FREY (2000b), 319–321.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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mit Jesus sympathisierenden, aber dennoch nicht zum Glauben durchgedrungenen Menschen zum Modell,132 in dem sich auch der Lesende in den kosmischen Gerichtsprozess einbezogen sieht und sich persönlich gegenüber dem Zeugnis Jesu positionieren muss.133

2.3. Resümee des ersten Zeugen (Joh 3,31–36) Narrative Einbettung In der Erzählung folgt auf das Nikodemusgespräch (Joh 3,1–21) mit Joh 3,22– 36 ein Abschnitt, der nach einer Exposition (3,22–24) mit einer Frage der Jünger des Johannes beginnt (3,25–26) und die Antwort des Johannes als Monolog (3,27–30) nahtlos in einen Erzählkommentar übergehen lässt (3,31–36).134 Die Szene in Joh 3,22–36 ist damit strukturell parallel zum Nikodemusgespräch aufgebaut135 und zeigt dabei insbesondere eine Parallelität zwischen den Erzählerkommentaren in Joh 3,16–21 und 3,31–36 (vgl. Tab. 3): Nikodemusgespräch Exposition Dialog Monolog Erzählerkommentar

2,23–25136 3,1–10 3,11–15 3,16–21

Täufergespräch 3,22–24 3,25–26 3,27–30 3,31–36

Tab. 3: Paralleler Aufbau von Joh 2,25–3,21 und Joh 3,22–36.

Der Abschluss der Szene in Joh 3,31–36 zeigt ähnlich wie in Joh 3,16–21 eine so starke Ambivalenz zwischen Monolog des Johannes und Erzählerkommentar, dass damit die Worte des Erzählers gleichsam mit dem Zeugnis des Johan132 Vgl. die Charakterisierung bei CULPEPPER (2013), 253–257. Nikodemus wird gerade darin modellhaft, dass seine Reaktion auf die Rede nicht geschildert, sondern damit implizit auf den Lesenden übertragen wird: „The reader is not told how Nicodemus responds to Jesus, nor when exactly he leaves the scene. The reader is therefore left with Jesus’ rebuke“ (CULPEPPER (2013), 256f.). 133 Vgl. zu dieser rezeptionsästhetischen Wirkkomponente der Erzählung auf den Lesenden KUMLEHN (2007), 192 sowie MYERS (2016), 198f.; SHERIDAN (2016), 214. 134 Trotz der Schwierigkeit, zwischen Rede des Johannes und Erzählerkommentar zu trennen, ist Joh 3,31–36 deutlich als Kommentar des Erzählers zu erkennen; vgl. stellvertretend RIDDERBOS (1997), 149; TRITES (1977), 97; KLINK (2016b), 221; THOMPSON (2015), 93f. 135 Dies wurde in der Forschung häufig bemerkt; vgl. etwa die Übersicht bei SCHNELLE (2016), 116; ZUMSTEIN (2016), 153f.; vgl. auch MICHAELS (2010), 221f. 136 Die Verse haben überleitenden Charakter und können neben ihrer Funktion als Szenenabschluss der Tempelreinigung (siehe dazu oben Anm. 14) auch als Exposition des Nikodemusgesprächs verstanden werden.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

nes verschmelzen.137 Die Parallelität zwischen beiden Abschnitten zeigt sich auch in der forensischen Sprache. Joh 3,31–36 erscheint damit ebenso wie Joh 3,16–21 als systematische Reflexion der Gerichtsmetaphorik, die im Wesentlichen die Akzentsetzung von Joh 3,13–21 beibehält, ihr jedoch weitere Konturen verleiht.138 Konstruktion eines Prozess-Settings Der Erzählerkommentar in Joh 3,31–36 zeichnet sich durch ausgeprägt forensisches Vokabular und zahlreiche inhaltliche Verbindungslinien zu Joh 3,16– 21 aus. So wird in V. 32–33 erneut das Zeugnismotiv aus Joh 3,11 aufgenommen (μαρτυρέω und μαρτυρία in V. 32–33), das sich auf Jesus selbst als zuverlässigen Augen- und Ohrenzeugen (vgl. die Perfekta ἑώρακεν καὶ ἤκουσεν in V. 32) bezieht.139 Ebenso zeigt sich der asymmetrische Ausgang des Rechtsstreites aus V. 16–21140 auch in der antithetischen Formulierung in V. 36, die das doppelte Urteil als sowohl apriorisches negatives Verdikt über den Kosmos wie auch als endgültiges, juristisch rechtskräftiges Verdikt über den, der nicht glaubt, mit ἀλλ᾽ ἡ ὀργὴ τοῦ θεοῦ μένει ἐπ᾽ αὐτόν (V. 36) in einer einzigen Wendung verdichtet.141 Neue Konturen zeigen sich gegenüber Joh 3,16–21 dagegen in der Schärfung des Gegensatzes zwischen der bereits in Joh 3,1–21 präsenten Unterscheidung zwischen oberem himmlischen (ἄνωθεν, V. 3.7.31; vgl. ἐπουράνιος in V. 12) und unterem irdischen Bereich (ἐκ τῆς γῆς, V. 31; vgl. ἐπίγειος in V. 12).142 Steht damit Jesus als himmlischer Zeuge der Welt gegenüber, wird die bereits in Joh 3,11 (vgl. auch 1,11) formulierte Ablehnung nun jedoch zu einem umfassenden οὐδεὶς gesteigert (τὴν μαρτυρίαν αὐτοῦ οὐδεὶς λαμβάνει, V. 32) und so zu einer universellen Ablehnung. Im direkten 137 So auch RIDDERBOS (1997), 148. Dagegen ist nach THYEN (2005), 232f.; ZUMSTEIN (2016), 154f.; WILLIAMS (2013), 56 auch in Joh 3,31–36 weiterhin Johannes der Redende. Die Ambivalenz scheint jedoch absichtsvoll angelegt zu sein, um die Stimme des Erzählers mit der von Johannes zu vereinigen (CULPEPPER (1987), 42; PARSENIOS (2017), 1). 138 MEEKS (1986), 150 sieht Joh 3,31–36 aufgrund der starken Verbindung zu Joh 3,1–21 als Kommentar des Erzählers mit dem Ziel, die wichtigsten Themen des Nikodemusdialogs zu resümieren und fortzuführen. 139 THEOBALD (2009), 292 sieht dahinter (mit Rückgriff auf BEUTLER [1972], 327) die Vorstellung der „himmlischen Augenzeugenschaft“ Jesu. 140 Vgl. dazu Abschnitt 2.2, Abb. 9. 141 Damit wird der Gegenwartsaspekt des Perfekts ἤδη κέκριται aus Joh 3,18 aufgenommen (THYEN [2005], 238) und gleichzeitig mit μένει ein schon vor dem Kommen des Sohnes als Licht bestehendes Urteil über die Welt impliziert, das ohne glaubende Reaktion auf Jesus bestehen bleibt (SCHNACKENBURG (1992a), 404). Mit ὀργὴ τοῦ θεοῦ wird das Urteil somit gleichzeitig als eschatologisches Gericht ausgedrückt (ZUMSTEIN [2016], 161; THOMPSON [2015], 96). 142 Diesen Akzent des Textes als Konkretisierung von Joh 3,1–21 beobachtet auch BEUTLER (2013), 148 und ausführlich NEYREY (1981), 116–124; vgl. ferner LINCOLN (2000), 71.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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Kontext der zweifelnden Frage der Johannesjünger (V. 26) wie auch im weiteren Kontext der ablehnenden Reaktion der Welt (1,11; 3,11) erscheint das Zeugnis als Verteidigung Jesu angesichts des menschlichen Widerstandes.143 Das so kreierte Prozess-Setting evoziert damit das Bild einer gerichtlichen Zeugenaussage Jesu als Verteidigung und Rechtfertigung vor dem Forum der Welt, die das Zeugnis Jesu verwirft. Prozessmodulation Deutlich stärkere Akzente sind gegenüber einer apologetischen Komponente des Zeugnisses Jesu durch die Betonung der Überlegenheit Jesu als Zeuge (V. 31–32) gesetzt. Dabei wird Jesus als ὁ ἄνωθεν ἐρχόμενος ἐπάνω πάντων ἐστίν bezeichnet144 und in der Folge mit V. 31 ein kategorischer Unterschied zwischen himmlischem und irdischem Bereich markiert (ὁ ὢν ἐκ τῆς γῆς ἐκ τῆς γῆς ἐστιν καὶ ἐκ τῆς γῆς λαλεῖ. ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἐρχόμενος ἐπάνω πάντων ἐστίν).145 Der Erzähler stellt Jesus damit als absoluten Zeugen im Rechtsstreit dar und dispensiert ihn als himmlischen Zeugen und einzigartigen Offenbarer von allen irdischen Zeugen: „[H]e now reinforces the notion that Jesus is the chief witness in the process of God’s judgement of the world and that his heavenly origin qualifies him for this role.“146 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Ablehnung seines Zeugnisses (V. 32) nicht den Charakter einer Unzulänglichkeit eines verteidigenden Zeugnisses, sondern wird durch die in der himmlischen Herkunft ausgewiesene Unwiderlegbarkeit des Zeugnisses wie in Joh 1,11; 3,11 zu einer schuldhaften Verweigerung. Diese bekommt umso mehr Gewicht dadurch, dass neben der Rolle als Zeuge zugleich eine implizite Richterrolle mitgedacht ist: Wird in der absolut angelegten doppelten Prädikation ἐπάνω πάντων ἐστίν (V. 31[2x]) häufig ein allgemeiner Hinweis auf die „Überlegenheit“147 gesehen, in der Jesus „von seiner Machtposition her über allen“148 steht und als „supreme ruler of the human race“149 fungiert, ist doch 143 Eine ähnliche Akzentsetzung zeigt sich in dem beteuernden und bekräftigenden Charakter der Formulierungen in V. 31–36. 144 Mit dem Ausdruck kann nach SCHNACKENBURG (1992a), 395 „niemand anders als Jesus, der himmlische Zeuge […], der aus dem Himmel herabgestiegene ‚Menschensohn‘ (V 13) gemeint sein.“ Ebenso TRITES (1977), 97f.; ZUMSTEIN (2016), 159; BORCHERT (1996), 193; MICHAELS (2010), 223. 145 Die in 𝔓36vid.66 ‫א‬2 A B K L Ws Γ Δ Θ Ψ 083. 086 ƒ13 33. 579. 700. 892. 1241. 1424 𝔪 s.p.h bo; Orpt bezeugte Wendung ἐπάνω πάντων ἐστίν ist textlich unsicher, scheint auflat sy grund der mit V. 31 geformten inclusio und des kraftvollen rhetorischen Effekts jedoch ursprünglich zu sein (so inter alia THYEN (2005), 232; MICHAELS (2010), 223; KLINK (2016b), 221). 146 LINCOLN (2005), 162. 147 ZUMSTEIN (2016), 159; wortgleich BLANK (1964), 73. 148 THYEN (2005), 234. 149 BARRETT (1978), 224; ähnlich BROWN (1966), 157.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

damit – insbesondere in einem dezidiert von forensischer Sprache geprägten Abschnitt – notwendig auch eine absolute Richterfunktion eingeschlossen. Spätestens mit der in πάντα δέδωκεν ἐν τῇ χειρὶ αὐτοῦ (V. 35) ausgedrückten absoluten Autorität muss diese mitgedacht werden.150 Der Ausdruck fungiert als intratextuelle Prolepse auf Joh 5,22.27, wo die dem Sohn gegebene Vollmacht explizit als Vollmacht zu richten konkretisiert wird (τὴν κρίσιν πᾶσαν δέδωκεν τῷ υἱῷ). 151 Die Betonung der Vollmacht des Sohnes im Reden (ῥήματα τοῦ θεοῦ λαλεῖ in V. 34), das sowohl als Zeugen (μαρτυρέω und μαρτυρία in V. 32–33) sowie Richten (V. 35–36) expliziert wurde, basiert auf der grundlegenden Vorstellung der Rolle Gottes im Rechtsstreit, in der er als Herrscher über die Welt selbstverständlich und notwendig als absoluter Richter, Ankläger und Zeuge im Rechtsstreit auftritt und von dieser Rolle gar nicht getrennt werden kann.152 Die besondere Akzentsetzung der johanneischen Darstellung besteht aber darin, dass diese selbstverständlich für Gott vorausgesetzte Funktion nun auf Jesus übertragen wird und damit in der Makrostruktur das Prozess-Setting weiterführt, bei dem die Welt vor Jesus als absolutem Richter, Zeugen und Ankläger vor Gericht steht. Reflexion der Prozess-Narration Der zu Joh 3,16–21 strukturell weitgehend parallel gestaltete Erzählerkommentar in Joh 3,31–36 reflektiert das Makro-Narrativ der Prozessdarstellung des Evangeliums und expliziert die in Joh 2,13–25 implizit angelegte Rollenzuweisung, nach der Jesus als absoluter himmlischer Zeuge und Richter auftritt. Das Makro-Narrativ wird auch dahin gehend entscheidend weitergeführt, 150 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der darauffolgenden Konkretisierung in Heil und ὀργὴ τοῦ θεοῦ (V. 36) als Synonym für ‚Gericht‘ (BEUTLER [2013], 150; THOMPSON [2015], 96) in V. 36. So betont BLANK (1964), 72f. zu Recht, man würde die Vollmacht „in jenem umfassenden Sinn zu verstehen haben, daß Jesus als Offenbarer, Heilbringer und Richter alles vom Vater empfangen hat […]. Er ist Herr über Heil und Gericht der Welt […].“ Ebenso VON WAHLDE (2010), 155: „What the Father shows Jesus is the ability to give life and to judge, powers that are characteristic of the Father (5:21–23). This is undoubtedly the meaning intended here also.“ Neben BROWN (1966), 162 sieht auch LINCOLN (2005), 163 explizit die richterliche Vollmacht eingeschlossen: „and the ‚all things‘ include authority to judge (cf. 5:22, 27). As in 3:18–21, Jesus is the fully authorized agent in the judgement, and again both positive and negative outcomes of the judgement are delineated.“ Ebenso THEOBALD (2009), 294, der darin eine „juridisch gefasste Funktion“ sieht und auf die dem Menschensohn in Dan 7,13f. gegebene Vollmacht verweist. Die Deutung von SCHNACKENBURG (1992a), 401, der weder einen Bezug zum Menschensohn in Dan 7,13f. noch einen Bezug zur Vollmacht des Gerichts sehen will, ist angesichts der Häufung forensischer Ausdrücke im Kontext dagegen unwahrscheinlich. 151 LINCOLN (2005), 163. 152 Siehe dazu die in Kapitel II,2.3.2. zusammengefassten Ergebnisse der Untersuchung des atl. Rechtsstreites, der aufgrund der maßgeblichen und selbstverständlichen Verwurzelung im atl. Bildraum hier für den Lesenden als Motivhintergrund erkennbar ist.

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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dass der in der Tempelreinigung exemplifizierte Paradigmenkonflikt nun noch deutlicher als bereits in Joh 3,1–21 als Konflikt zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ charakterisiert wird. Was im Prolog über die Gottgleichheit des Logos als einzigartigen Offenbarer Gottes gesagt wurde, wird nun in Bezug auf die juristische Dimension konkretisiert.153 Für den Lesenden deutet sich durch das Wissen um die Herkunft Jesu aus dem Prolog an, dass der Paradigmenkonflikt nicht in einem vertikalen Gegenüberstehen zweier gegensätzlicher, gleichwertiger und konkurrierender Positionen besteht, sondern eine horizontale Trennung voraussetzt, in der Jesus als Menschensohn zum oberen Bereich gehört, während – und das ist dabei notwendig impliziert – die Welt und die Juden zum ‚unteren‘ Bereich gehören. Im Schnittpunkt beider Bereiche steht Jesus selbst als ὁ ἄνωθεν ἐρχόμενος (Joh 3,31) und ὃν γὰρ ἀπέστειλεν ὁ θεὸς (Joh 3,34). Die Notwendigkeit dieser Akzentsetzung ergibt sich im Kontext des Zeugnisses von Johannes daraus, dass Jesus wie Johannes zwar vordergründig als gewöhnlicher Mensch ἐκ τῆς γῆς wirkt und als solcher erscheint, der ἐκ τῆς γῆς λαλεῖ (V. 31), ein solches Verständnis der Identität Jesu aber gerade nicht zutrifft.154 Obwohl damit im narrativen Kontext ein Missverständnis der Jünger des Johannes in Bezug auf die Identität Jesu korrigiert werden soll,155 steht im Hintergrund des Erzählerkommentars eine wesentliche narrative Funktion für die Lesenden. Die Notwendigkeit einer systematischen Reflexion des Erzählers (und des darin noch mitgehörten Zeugnisses des Johannes) muss – zumal angesichts der besonderen Bedeutung expliziter Kommentare und der Länge der Erklärung – als Hinweis gewertet werden, dass sich das richtige Verständnis der Erzählung erst aus einer Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ ergibt. Umgekehrt bedeutet das, dass die Rechtsstreitmetaphorik für den Lesenden grundsätzlich auf zwei Ebenen zu interpretieren ist156 und die Funktion Jesu verkennt, sofern diese nur von ‚unten‘ verstanden wird, ohne die Identität Jesu als desjenigen einzubeziehen, der ἐπάνω πάντων ἐστίν (V. 31). Der Lesende wird damit vor der Eskalation der juristischen Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 5,1–47 darauf vorbereitet, dass die gesamte 153 So auch MEEKS (1986), 150. Allein aufgrund der Aussagen im Prolog wäre es deshalb pleonastisch, die juristische Metaphorik in Joh 3,31–36 hauptsächlich auf einen Ausdruck der Offenbarung zu reduzieren, wie es BLANK (1964), 66–69; SCHNACKENBURG (1992a), 397–401 und neuerdings SCHNELLE (2016), 117f. getan haben. 154 So auch WENGST (2000), 156f. Die dahinterliegende Logik hat auch KLINK (2016b), 220 ausgedrückt: „In light of the preceding context in which the disciples of John contrasted Jesus and the Baptist, the narrator’s intrusion also provides an explanatory contrast, though this time with the ‚unseen‘ meaning and significance about which the disciples of John were blind. As much as it appeared on the surface that Jesus and John were similar, the narrator explains that they are quite the opposite.“ 155 Siehe dazu KLINK (2016b), 220; THOMPSON (2015), 94. 156 Siehe zu dieser doppelten Ebene der Erzählung als johanneisches Proprium BORGEN (2007), 57f.; BEKKEN (2014), 11f. und LINCOLN (2000), 20.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Erzählung des Evangeliums auf einer doppelten Ebene angelegt ist und als solche durch eine Unterscheidung zwischen oberer, himmlischer und unterer, irdischer Dimension des Rechtsstreites verstanden werden will.157

2.4. Ertrag Nach der formellen Eröffnung eines metaphorischen, in der Erzähldarstellung angelegten Makro-Prozesses im Prolog (Joh 1,1–18) sowie dem ersten zeitlich asynchronen Auftreten der Prozessgegner (Joh 1,19–34) treffen durch die Szene der Tempelreinigung in Joh 2,13–22 mit Jesus und den Juden die Konfliktparteien der juristischen Auseinandersetzung zum ersten Mal aufeinander. Von Beginn an steht damit das gesamte öffentliche Wirken Jesu unter dem Vorzeichen einer forensischen Auseinandersetzung, die als bilateraler Rechtsstreit in der erzählten Welt eine Serie von Auseinandersetzungen im Tempel programmatisch eröffnet, zugleich aber deutlich metaphorische Obertöne darin aufweist, dass Jesus in der göttlichen Rollenunion von Richter und Zeuge zum Rechtsstreit mit seinem Volk im Tempel dargestellt wird. Der Konflikt im Tempel fungiert durch die so angelegte doppelte Darstellungsebene als unvermittelt zutage tretender Paradigmenkonflikt und wird als solcher durch den reziproken Vorwurf der Tempelschändung instrumentiert. Durch die Konkretion des so evozierten konträren Prozess-Settings wird in der Makrodarstellung der Erzählung die Prozesseröffnung in Joh 1 zu einer ersten gegenseitigen Beschuldigung der Parteien fortgeführt und dabei ein grundlegender Paradigmenkonflikt dadurch offenbar, dass sowohl Jesus als auch die Juden in der Rollenunion von Ankläger und Richter auftreten. Dieser äußert sich in einer konträren Rollenzuteilung, bei der Jesus in der erzählten Welt als Angeklagter, in der metaphorischen Prozesswelt dagegen als absoluter Richter, Ankläger und Zeuge in starker Nähe zu alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik erscheint. Die durch die doppelte Darstellungsebene, ihre jeweiligen Paradigmen und Rollenzuweisungen geprägte Inszenierung konvergiert dennoch in der im Mittelpunkt stehenden Rechtssache, die sich von Beginn an um die Identität Jesu zentriert. Deutet sich in dem so dargestellten Rollenkonflikt der doppelten Darstellungsebene bereits ein die Symmetrie brechender Überhang darin an, dass die Rolle des Zeugen einzig Jesus vorbehalten bleibt, wird das vertikale Aufeinandertreffen zweier forensischer Paradigmen in Joh 2,13–22 durch zwei parallel formulierte und stark verflochtene Erzählerkommentare in Joh 3,16–21 und Joh 3,31–36 zu einer horizontalen Trennung zwischen einem oberen, himm157 Vgl. SHERIDAN (2016), 214: „[T]he surface or ‚fleshy‘ meaning coexists with the more subtle or spiritual meaning […]. Where certain characters in the story may miss the subtle layer of meaning and so misunderstand the text’s message about Jesus, the implied reader is formed by interpretive cues that prompt a deeper or genuine understanding of Jesus […].“

2. Die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36)

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lischen und einem unteren, irdischen Bereich konkretisiert. In der stark ambivalenten Darstellung verschmelzen jeweils die Stimme Jesu (Joh 3,11–21) sowie die Stimme des Hauptzeugen Johannes (Joh 3,31–36) mit der des Erzählers. Die Erzählerkommentare fungieren durch ihre Ausführlichkeit als systematische Reflexion der auf einer doppelten Ebene angelegten Prozessdarstellung und somit als wesentliche Interpretationshilfe für den impliziten Leser. Sie explizieren, dass die Rolle Jesu nur hinreichend aus einer oberen, himmlischen Perspektive des Rechtsstreites erfasst wird, die trotz ihrer hierarchischen Vorordnung im Konflikt mit einer unteren, irdischen Rezeptionsebene steht. Die konfliktäre Rollenzuweisung der erzählten Welt und einer darüberliegenden metaphorischen Prozesswelt werden damit erstmals mit Wahrnehmungshorizonten der Lesenden assoziiert. Gleichzeitig wird durch die Metapher des Rechtsstreites der vordergründig paradoxe Zusammenhang zwischen der dominant heilschaffenden und der gleichzeitig implizierten richtenden Funktion der Sendung Jesu reflektiert und über den – bereits im atl. Rechtsstreit prominent angelegten – Kausalzusammenhang des konditionalen und von der Reaktion des Angeklagten abhängigen Urteils erschlossen. Die stark in atl. Motivik verwurzelte Metapher des Rechtsstreites wird dabei zum Schlüssel, um heilschaffende und richtende Funktion Jesu als Licht in den kausalen Zusammenhang eines präsentisch dargestellten eschatologischen Gerichts mit konditionalem Ausgang einzuordnen, der wie in der atl. Darstellung einen wesentlich persuasiven Charakter aufweist. Durch die so aufgewiesene universelle Dimension der Prozessschilderung deutet sich bereits an, dass die persuasiv ausgerichtete rezeptionsästhetische Wirkung der Prozessdarstellung letztlich den Lesenden selbst im Blick hat, obwohl dieser neben der angedeuteten Rolle als Prozesszuschauer (noch) nicht direkt in das Prozess-Setting integriert wird. Sowohl in der Rolle des Lesenden im Rechtsstreit wie auch in dem als Interpretationsschlüssel fungierenden Hinweis auf eine doppelte, vertikal-hierarchisch ausgerichtete Darstellungsebene weist die narrative Inszenierung damit in einer inhärenten Dramaturgie bereits auf die nächste, den Rechtsstreit eskalierende Begegnung der Prozessparteien (Joh 5,1–47) voraus, die sich notwendig um eine doppelte Wahrnehmung der Identität Jesu als eigentlicher causa des Rechtsstreites zentrieren muss.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47) Nachdem die erste direkte Begegnung zwischen Jesus und den Juden in Jerusalem bereits durch den gegenseitigen Vorwurf des Vergehens gegen den Tempel geprägt war (Joh 2,13–22), steht die nächste Begegnung unter Erwartung dieses bereits in der narrativen Hinführung im Prolog (Joh 1,1–18) und dem Zeugnis des Johannes (Joh 1,19–34) vorgezeichneten juristischen Konflikts. Während dieser Konflikt in der Metapher des Rechtsstreites zwischen Gott und den ἴδιοι (Joh 1,11) als Repräsentanten der Welt geschildert wird,1 zeigt sich zugleich ein wesentlicher Akzent der Darstellung als Paradigmenkonflikt, der in der systematischen Reflexion der parallelen Erzählerkommentare in Joh 3,16–21 und Joh 3,31–36 als Konflikt zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ expliziert wurde. Der Lesende ist damit darauf vorbereitet, dass die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden nicht nur einen Rechtsstreit darstellt, sondern als Meta-Rechtsstreit durch das Aufeinandertreffen gegensätzlicher forensischer Rollenkonstruktionen charakterisiert ist. Die in der bisherigen Erzählung in Joh 1–4 angelegte Dynamik der um die Person Jesu zentrierten narrativen Darstellung im Aufeinandertreffen gegensätzlicher Rollenbilder erwies, dass nicht weniger als der Selbstanspruch Jesu im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Die Kulmination der Auseinandersetzung in der Frage nach der Identität Jesu wird in Joh 5,1–47 explizit gemacht. Mit Joh 5,1–47 beginnt der Erzähler die groß angelegte Erzähleinheit von Joh 5–10, die durch die direkten Auseinandersetzungen in Form von Streitgesprächen anlässlich der Feste in Jerusalem geprägt ist2 und damit als Ausdehnung und Exemplifizierung des bereits in der Tempelreinigung angelegten

1 Das grundsätzliche Motiv ist das des alttestamentlichen Rechtsstreites zwischen Gott und Menschen, das in der johanneischen Schilderung die beiden Formen des Rechtsstreites Gottes mit seinem Volk (siehe dazu Kapitel II,2.2.1–2.2.2) sowie des Rechtsstreites mit der Welt (siehe dazu Kapitel II,2.2.3) aufnimmt. Beide Formen sind in der johanneischen Darstellung darin verbunden, dass die Juden als Repräsentanten der Welt erscheinen (siehe zu diesem Befund oben Abschnitt 1.1). 2 Siehe dazu CULPEPPER (1993), 196.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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Konflikts verstanden werden kann.3 Diese auch als ‚Festzyklus‘4 bezeichnete Erzähleinheit von Joh 5–10 wird in Form einer inclusio zu Beginn und zum Ende durch den Vorwurf der Blasphemie gerahmt (5,18 und 10,31)5 und steht damit unter dem stark forensischen Vorzeichen der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden, die sich in der Frage nach der Identität Jesu zentriert.6 Ein weiteres Strukturmerkmal zeigt sich darin, dass die erste und letzte Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden im Festzyklus durch parallel geschilderte Heilungen in Joh 5,1–16 und Joh 9,1–38 initiiert werden,7 die die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Sabbatbruchs als dezidierte juristische Auseinandersetzung erweisen8 und ihr durch die Ausweitung auf weitere Vorwürfe in der Auseinandersetzung zusätzlich Kontur verleihen. Nach der im Evangelium vorausgesetzten Chronologie kommt den Ereignissen in Joh 5 auch in der erzählten Zeit des Evangeliums stark repräsentative Funktion zu, insofern sie nach den jeweils zeitlich um ein Passahfest gruppierten Begebenheiten in Joh 2–4 und in Joh 6 (vgl. 2,13–23; 6,4)9 die einzigen erzählten Ereignisse des dazwischen vorausgesetzten Jahres sind.10 In der zeitlichen Einordnung des Erzählsettings werden die Begegnungen Jesu mit den Juden in Joh 2,13–22, Joh 5,1–47 sowie in Joh 7,1–10,21 jeweils einem ein3

So auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 61.67f. Darauf weist insbesondere die Nennung von Jerusalem als Schauplatz hin, der in der Erzählung bisher maßgeblich als Ort des Konflikts (Joh 1,19; 2,13.23) eingeführt wurde. Dabei wird auch der Tempel (Joh 5,14) als zentraler Ort der Auseinandersetzung in Joh 5–10 genannt, auch wenn das Streitgespräch in Joh 5,19– 47 nicht notwendig dort angesiedelt ist. 4 Auf den durch die inclusio der Nennung von Kana (Joh 2,11; 4,54) gerahmten „Cana Cycle“ in Joh 2–4 folgt somit der „Festival Cycle“ in Joh 5–10 (KÖSTENBERGER [2009], 168; vgl. auch SCHNELLE [2016], 156). Siehe zur narrativen Struktur oben Kapitel III,2.5. 5 Siehe KÖSTENBERGER (2009), 227. 6 MICHAELS (2013), 341 sieht den Diskurs bereits in Joh 5 „subtly shifting […] to the issue of Jesus’ identity“. Die folgenden Streitgespräche in Joh 7–10 verstärken diese Zuspitzung noch. 7 Siehe für eine Übersicht der Parallelen CULPEPPER (1987), 139f.; KEENER (2010a), 639 sowie die Untersuchung unten in Abschnitt 5.1. 8 So auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 67, der über das Sabbatmotiv sagt: „It provides the narrative with a specific juridical context and determines its nature and development as a Sabbath juridical controversy.“ 9 In beiden Fällen gebraucht der Erzähler mit καὶ ἐγγὺς ἦν τὸ πάσχα τῶν Ἰουδαίων (Joh 2,13) bzw. ἦν δὲ ἐγγὺς τὸ πάσχα, ἡ ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων (Joh 6,4) eine ähnliche Wendung zur zeitlichen Einordnung. 10 Dies gilt dann, wenn man den in ‫ א‬C L Δ Ψ ƒ1 33. 892. 1424 überlieferten Artikel als Hinweis auf das Laubhüttenfest sieht (vgl. KÖSTENBERGER [2004], 177 oder in Joh 5,1 das Wochenfest gemeint ist (so WENGST [2000], 192; THEOBALD [2009], 369; SCHNACKENBURG [1985], 118). Ist in Joh 5,1 dagegen ein Passahfest gemeint (so VON WAHLDE [2010], 216), wären die in Joh 5 genannten Ereignisse in der vom Erzähler vorausgesetzten Chronologie sogar die einzigen erzählten Begebenheiten in den zwischen Joh 2–4 und Joh 6 liegenden zwei Jahren.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

zigen Fest zugeordnet, erscheinen also in drei Erzählkomplexen und sind somit Teil einer tripartiten Struktur, deren Höhepunkt sich in Joh 5,1–47 findet.11 Der Konflikt in Joh 5 steht damit repräsentativ für alle nicht erzählten Ereignisse der erzählten Zeit zwischen Joh 4 und Joh 612 und gewinnt durch die intratextuellen Verweise in Joh 7,21 den Charakter eines repräsentativen, programmatischen Höhepunktes,13 der weit über Joh 5 hinaus Bedeutung gewinnt.14 Der Konflikt wird durch die Heilung des Gelähmten (5,1–15) initiiert, spitzt sich in einem überleitenden Abschnitt durch die direkte Begegnung zwischen Jesus und den Juden zu (5,16–18) und wird anschließend in einem Streitgespräch ausgetragen, das den größten Teil der Darstellung einnimmt (5,19–47). Alle drei Abschnitte sollen im Folgenden näher untersucht werden.

3.1. Die Schilderung des Vergehens (Joh 5,1–15) Narrative Einbettung Die in Joh 5,1–9 erzählte Heilung eines Gelähmten dient in der narrativen Dramaturgie nicht als Selbstzweck, sondern steht bereits völlig unter dem Zeichen der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 5,10–47.15 Die 11

Siehe Kapitel III,2.5; vgl. ferner THYEN (1991), 125. Dies überrascht, insofern der Konflikt in Joh 5 zunächst in augenscheinlichem Kontrast zu den direkt vorangegangenen Begebenheiten in Joh 4,4–45 und Joh 4,45–54 steht, in denen der Fokus auf Jesus als ὁ σωτὴρ τοῦ κόσμου (Joh 4,42) und der positiven Reaktion auf ihn durch Glauben (πιστεύω in Joh 4,21.39.41.42.48.50.53) liegt; vgl. dazu THOMAS (1995), 3; CULPEPPER (1987), 138. Dieser Kontrast zeigt sich insbesondere darin, dass im Verhalten des Gelähmten (Joh 5,1–16) im Gegensatz zu den Zeichen in Joh 2–4 keine Reaktion des Glaubens geschildert wird (vgl. CULPEPPER [1993], 200). Dass diese Akzentsetzungen weder in Joh 4 noch in Joh 5 als ausschließende Alternativen zwischen Konflikt und Annahme sowie zwischen der Darstellung Jesu als Richter und Retter verstanden werden dürfen, zeigt sich nicht nur in der systematischen Reflexion von Joh 3,11–21 (siehe dazu oben Abschnitt 2.2), in der die gegensätzlichen Pole als notwendig verbunden erscheinen, sondern auch innerhalb der Erzähleinheiten von Joh 4 und Joh 5 selbst. So wird mit dem übernatürlichen Wissen Jesu um die Vergangenheit der Samaritanerin in Joh 4,18.39 die Lichtmetaphorik aus Joh 1,4–5 exemplifiziert, die offenbarend, richtend und heilschaffend zugleich ist. Dieselbe Akzentsetzung zeigt sich in der Heilung von Joh 5,1–9 (siehe dazu unten Abschnitt 3.1). 13 Ähnlich auch CULPEPPER (1993), 197 zur Einordnung von Joh 5,1–47 in der narrativen Makrostruktur des Johannesevangeliums. 14 Auch durch den direkt auf Joh 5,1–47 folgenden Verweis auf die σημεῖα ἃ ἐποίει ἐπὶ τῶν ἀσθενούντων (Joh 6,2) bekommt die Heilung des Gelähmten einen exemplarischen Charakter und erhält für den weiteren Handlungsverlauf geradezu paradigmatische Funktion; vgl. auch PANCARO (1975), 16; BEKKEN (2014), 51. 15 So auch SCHNELLE (2016), 143 mit dem Hinweis, „dass auf der Auseinandersetzung Jesu mit den Juden für Johannes das Schwergewicht liegt. Der Geheilte ist Mittel zum Zweck 12

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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Heilung gewinnt ihre Brisanz dadurch, dass sie an einem Sabbat geschieht und damit sowohl die Befragung des Geheilten (Joh 5,10–13) als auch das Streitgespräch mit Jesus (Joh 5,17–47) in einen juristischen Kontext gestellt wird und als Eröffnung eines Rechtsstreites nach jüdischem Prozessrecht erscheint.16 Die Episode in Joh 5,1–47 gliedert sich nach einer Exposition in fünf Szenen,17 die zielstrebig auf die Auseinandersetzung Jesu mit den Juden hinarbeiten: Exposition (V. 1–4) Szene 1 (V. 5–9): Szene 2 (V. 10–13): Szene 3 (V. 14): Szene 4 (V 15): Szene 5 (V. 16–47): (Epilog fehlt)

Jesus Jesus Jesus

Gelähmter Geheilter Geheilter Geheilter

Juden Juden Juden

Durch eine Aufgliederung in vier Szenen mit jeweils wechselnden Akteuren ist die direkte Begegnung Jesu mit den Juden in der fünften Szene dramaturgisch überfällig. Dies ist auch darin augenfällig, dass der Geheilte zunehmend als Intermediär in einer sich bereits in Szene 1–4 anbahnenden, indirekten Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden fungiert, dessen Fehlen in der fünften Szene nur folgerichtig ist.18 Die Erzählung der Heilung wird damit zum symbolischen Initialpunkt des sich in Joh 5,16–47 anschließenden Rechtsstreites zwischen Jesus und den und Statist in der sich verschärfenden Kontroverse Jesu mit den Juden.“ Darauf weist nicht nur die Parallele zur Heilung in Joh 9,1–7 hin, die Ausgangspunkt der Kontroverse von Joh 9,8–10,21 wird, sondern auch die in beiden Fällen sehr ungleichen Verhältnisse zwischen Heilung (Joh 5,1–9: 125 Wörter; Joh 9,1–7: 107 Wörter in NA28) und folgender Auseinandersetzung (Joh 5,10–47: 667 Wörter; Joh 9,8–10,21: 951 Wörter in NA28), die den Fokus der Erzählers nicht auf die Heilung selbst, sondern auf den sich durch sie jeweils entzündeten Konflikt legt. Es gehört zur Ironie der johanneischen Darstellung, dass sowohl in Joh 5 als auch in Joh 9 nicht die Heilung selbst im Mittelpunkt steht, sondern diese funktional so deutlich im Dienst der Ablehnung, des Konflikts und der Auseinandersetzung stehen (vgl. dazu auch CARSON [1992], 245). Die Erzählungen der Heilungen sind damit Teil der Rechtsstreitmotivik und nicht umgekehrt. 16 Siehe zur Eröffnung eines Rechtsstreites im jüdischen Prozessrecht durch eine informelle bilaterale Phase in Form eines Streitgespräches Kapitel II,1.3; siehe zu einer ähnlichen ersten Phase im literarischen Prozess-Setting auch Kapitel II,1.4.1. 17 Siehe zu dieser Szenenaufteilung auch CULPEPPER (1993), 200; ähnlich auch THEOBALD (2009), 377–381 mit geringfügig anderer Szenenaufteilung. 18 Siehe zu dieser Dynamik auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 74. THEOBALD (2009), 365 weist zu Recht darauf hin, dass die Erzählung „ihre innere Dynamik aus der Dreieckskonstellation“ der drei Akteure gewinnt. Zu dieser Dynamik trägt wesentlich die Eigenart bei, durch die in jeder Szene nur zwei Akteure genannt sind (vgl. CULPEPPER [1993], 200). WENGST (2000), 197 wertet Joh 5,10–16 als „Zwischenspiel“, das dazu führt, dass sich in V. 17 „die eigentlichen Konfliktparteien gegenüberstehen“.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Juden. Alle vier Szenen vor der Auseinandersetzung Jesu mit den Juden in V.16–47 arbeiten nicht nur in dramaturgischer Hinsicht, sondern auch inhaltlich zielstrebig auf die forensische Dimension des Aufeinandertreffens Jesu und der Juden in 5,19 hin, insofern die Heilung des Gelähmten zum Symbol der richterlichen und lebengebenden Vollmacht Jesu als zentralem Inhalt der Rede in Joh 5,19–47 wird.19 Konstruktion eines Prozess-Settings Die in Joh 5,1–9 erzählte Heilung führt in ihrer narrativen Akzentuierung auf unterschiedliche Weise auf ein Prozess-Setting hin. Zunächst wird ein juristischer Kontext in der erzählten Welt dadurch angebahnt, dass durch die Heilung am Sabbat (Szene 1) die ganze Episode von Joh 5,1–47 unter dem Vorzeichen des Sabbatkonflikts steht. Indem die Juden in der darauffolgenden Szene (Szene 2) als Reaktion auf die Heilung eine Verwarnung wegen Sabbatbruch aussprechen (σάββατόν ἐστιν, καὶ οὐκ ἔξεστίν σοι ἆραι τὸν κράβαττόν σου, V. 10),20 erscheinen sie in der erzählten Welt als Behörde, der die Aufgabe der Strafverfolgung, Sammlung von Beweisen und die Ahndung von Sabbatvergehen zukommt.21 Dabei wird zunächst der Geheilte selbst unter Verdacht gestellt und einer Verwarnung unterzogen. Scheint somit zunächst der Geheilte als Angeklagter (V. 10), wendet sich diese Anklage in V. 11–16 zunehmend auf Jesus als Angeklagten. So wird bereits mit der Antwort des Geheilten (V. 11) eine Verschiebung der Anklage deutlich, indem der Geheilte Jesus als den für den Sabbatbruch Verantwortlichen benennt22 und dadurch die Anklage des Sabbatbruchs auf Jesus richtet.23 Damit geht gleichzeitig eine inhaltliche Verschiebung der Anklage von einem geringfügigen Sabbatvergehen (Tragen

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Vgl. zu den inhaltlichen Verbindungslinien von Joh 5,1–9 zu Joh 5,19–47 auch SCHNELLE (2016), 142; METZNER (1999), 181; ASIEDU-PEPRAH (2001), 74. 20 Vgl. zur Diskussion des vorausgesetzten Vergehens THEOBALD (2009), 378; WENGST (2000), 198f.; PANCARO (1975), 14f.; ASIEDU-PEPRAH (2001), 66; BROWN (1966), 208. Hinter der Verwarnung steht vermutlich die in mShab 7,2; 10,5 belegte und auf Ex 20,8–11; Jer 17,21f. zurückgehende Ansicht, dass das Tragen eines Gegenstandes am Sabbat als Arbeit gegen das Sabbatgebot verstößt. 21 So auch WENGST (2000), 198. Ähnlich auch THEOBALD (2009), 378, der in den Ἰουδαῖοι hier „die Jerusalemer Zentralbehörde, das ‚Synedrium‘“ sieht. 22 Das neben dem substantivierten Partizip ὁ ποιήσας syntaktisch redundante Demonstrativpronomen ἐκεῖνος in V. 11 dient der Betonung und hebt die Schuldzuweisung stärker hervor: ‚Der mich gesund machte, jener sagte zu mir …‘. Damit hat der Geheilte nach THEOBALD (2009), 380 nur sein eigenes Verhör im Sinn, dem er sich durch Beschuldigung Jesu entziehen möchte. 23 Vgl. auch SCHNELLE (2016), 142. Die Anstiftung zum Sabbatbruch wird dabei vermutlich selbst als todeswürdiges Vergehen vorausgesetzt; vgl. zu den frühjüdischen Quellen PANCARO (1975), 15.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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der Matte) zur einer Jesus unterstellten Anstiftung zum Sabbatbruch einher.24 Durch eine kurze Doppelszene (Szene 3–4) als Zwischensentenz einer erneuten Begegnung zwischen Jesus und den Juden in V. 14–15 gewinnt die Erzählung nicht nur eine „retardierende Pause“,25 durch die sich der Konflikt zwischen Jesus und den Juden als eigentliches Ziel der Erzähleinheit erweist. Auch lässt die Doppelszene den Geheilten zunehmend als Intermediär zwischen Jesus und den Juden fungieren. Durch den Geheilten ereignet sich ein Stellvertreterprozess, bei dem Jesus und die Juden als eigentliche Kontrahenten erscheinen, die durch den Geheilten vermittelt aufeinandertreffen. Durch die Denunziation (V. 15)26 des Geheilten wird dieser zum Zeugen einer Beweissammlung, die sich als Anklage gegen Jesus richtet. In der erzählten Welt wird auf diese Weise ein Rechtsstreit geschildert, bei dem die Juden als Ankläger fungieren, während Jesus als Angeklagter und der Geheilte nach V. 15 als anklagender Zeuge erscheint. Dabei wird auch das Motiv des Verrats (vgl. Joh 18,2–3) in der ironischen Formulierung der Denunziation des Geheilten durch die mit Ironie geradezu beladene27 Formulierung ἀνήγγειλεν τοῖς Ἰουδαίοις ὅτι Ἰησοῦς ἐστιν ὁ ποιήσας αὐτὸν ὑγιῆ in V. 15 angedeutet.28 Dass dabei die Initiative Jesu in der 24 So auch THEOBALD (2009), 380, der darin zu Recht eine gleichzeitige Verlagerung der Strafverfolgung auf Jesus erkennt. Schon hier wird die Auseinandersetzung zwischen den Juden und Jesus unvermeidlich. 25 SCHNACKENBURG (1985), 123. 26 Dass die Verwendung von ἀναγγέλλω in Joh 5,16 keine positiven Konnotationen hat, sondern als johanneische Ironie eher einer Denunziation gleichkommt, hat CULPEPPER (1993), 204f. mit guten kontextuellen Gründen dargelegt; vgl. ebenso die Untersuchung von MICHAELS (2013), 345f. Darin ein Bekenntnis zu Jesus zu sehen, wie dies etwa STALEY (1991), 62; THYEN (2005), 301; THOMAS (1995), 18 tun, übersieht nicht nur den absichtsvollen Kontrast zu dem Verhalten des Blindgeborenen in Joh 9 (siehe zur Gegenüberstellung beider Szenen unten Abschnitt 5.1), sondern auch die Ironie der Darstellung. Im Kontext von Joh 5,10–18 kommt der Verweis auf Jesus einer Anzeige in dem von den Juden angestrengten Verfahren gleich (so richtig THEOBALD [2009], 380; WENGST [2000], 201; KEENER [2010a], 644; CARSON [1992], 246; WHITACRE [1999], 123 und ausführlich METZNER [1999], 186). In der Benachrichtigung des Geheilten an die Juden klingt somit das Motiv des Verrats an. 27 Die Formulierung wirkt dreifach ironisch: Zum einen wird als Reaktion des Gelähmten auf die Begegnung mit Jesus nicht etwa Glaube (siehe oben Anm. 39) oder eine Reaktion der Dankbarkeit, sondern ein symbolträchtiges Entfernen von Jesus (ἀπῆλθεν, V. 15) genannt (METZNER [1999], 187); ferner wird mit ἀναγγέλλω eine Aussage des Geheilten an die Juden ausgedrückt, die faktisch einer Denunziation gleichkommt; und schließlich wird der Inhalt der Denunziation, die im Kontext von den Juden als Vergehen aufgefasst wird, mit ὁ ποιήσας αὐτὸν ὑγιῆ und damit in höchst ironischem Kontrast zur positiven Wirkung der Tat Jesu beschrieben (vgl. dazu auch ASIEDU-PEPRAH [2001], 74). 28 Einen Bezug zum Motiv des Verrats in Joh 18,2–3 sehen KEENER (2010a), 644 und WHITACRE (1999), 123. Ein solcher Bezug wird dadurch bestätigt, dass beim Verrat des Judas eine narrative Fehlstelle kreiert wird, indem der Verrat nur en passant in Joh 18,2 genannt wird (siehe dazu oben Kapitel III,1.1). Wie im Falle der ähnlich auffälligen

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

zweiten Begegnung mit dem Geheilten (V. 14) eine Strafverfolgung überhaupt erst ermöglicht,29 steht dabei ebenfalls parallel zur Initiative Jesu bei der Verhaftung in Joh 18,4–8.30 Prozessmodulation Spitzt sich die Situation in der Folge der Heilung zunehmend auf einen Sabbatkonflikt zu, bei dem Jesus als Angeklagter erscheint und der Geheilte sich zunehmend als Zeuge gegen Jesus positioniert, deutet sich in der Heilung selbst durch symbolische Obertöne bereits vor dem Sabbatkonflikt ein distinktiv anderes Prozess-Setting an. So weist bereits die 38-jährige Krankheit symbolische Obertöne auf, die die Krankheit als Folge von Sünde und als Gericht erahnen lässt. 31 Dem entspricht, dass durch die mit den Verbalformen ἰδὼν (V. 6), γνοὺς (V. 6), λέγει (V. 6.8), εὑρίσκει (V. 14) betonte Initiative Jesu32 die Heilung geradezu als Exemplifizierung des in die Welt kommenden Lichts Fehlstellte des jüdischen Prozesses (siehe dazu Kapitel III,1.2) ergibt sich damit die Vermutung, dass diese Fehlstelle schon vor Joh 18 durch Narration eines Motivs gefüllt wurde, wie es in Joh 5,15 vorliegt (vgl. dazu oben Kapitel III,1.4). 29 Wieder geht dabei die Initiative betont von Jesus aus (μετὰ ταῦτα εὑρίσκει αὐτὸν ὁ Ἰησοῦς, V. 14); vgl. BULTMANN (1986), 243; SCHNACKENBURG (1985), 123; SCHNELLE (2016), 142. Dass Jesus darin gerade die Strafverfolgung erst ermöglicht, hat WENGST (2000), 199 richtig erkannt, denn andernfalls „hätte sich die Sache verlaufen. Es ist nun bezeichnend für die Darstellungsweise des Johannes, dass er, um die Sache wieder voranzubringen, in V. 14 Jesus die Initiative ergreifen läßt […].“ 30 Siehe zu dieser Akzentsetzung in Joh 18,4–8 die Analyse in Kapitel III,1.1. 31 Die Nennung der 38 Jahre ist ein intertextueller Bezug auf Dtn 2,14 und stellt die Zeit der Krankheit in den Kontext der 38 Jahre der Wüstenwanderung als „Zeit der Geschichte der Sünde Israels“ (THYEN [2005], 299; ähnlich THEOBALD [2009], 376; HENGEL [1989], 286f.; WENGST [2000], 194f.; anders dagegen ASIEDU-PEPRAH [2001], 61, der keinen Bezug zur Wüstenwanderung erkennen will). In dieselbe Richtung weist auch die spätere Warnung Jesu in V. 14 (μηκέτι ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν σοί τι γένηται), die (anders als in Joh 9,2–3) die Krankheit als eine Folge der Sünde des Gelähmten erscheinen lässt, wie SCHNELLE (2016), 142 richtig sieht: „Die Logik der Argumentation setzt voraus, dass der Geheilte in der Vergangenheit gesündigt hat, was sein 38 Jahre währendes Gebrechen hervorrief.“ Vgl. ähnlich auch SCHNACKENBURG (1985), 123; MORRIS (1995), 272; CARSON (1992), 182. Den prohibitiven Konj. Präs. μηκέτι ἁμάρτανε im Sinne von ‚Hör auf, zu sündigen‘ zu verstehen (wie etwa bei THOMAS [1995], 15f.; MORRIS [1995], 270; RIDDERBOS [1997], 189), ist dabei nicht nötig (ein solches Verständnis ist sprachlich möglich, aber keineswes zwingend; vgl. WALLACE [1996], 716f.). 32 Auch CULPEPPER (1993), 203 weist darauf hin, dass Jesus die Begegnung initiiert. Die Betonung der Initiative geht durch die Beschreibung der Handlung jedoch weit darüber hinaus. Diese Akzentsetzung entspricht der johanneischen Darstellung, die bis auf die Heilung des königlichen Beamten in Joh 4,43–54 alle joh. Zeichen durch die Initiative Jesu und nicht auf Bitten von Menschen hin beginnt. Dass gerade die direkt vorausgehende Heilung diesbezüglich eine Ausnahme ist, lässt den Kontrast zwischen dem Verhalten des königlichen Beamten und dem des Gelähmten noch stärker zum Ausdruck kommen.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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aus Joh 1,4–5a erscheint,33 das heilschaffend und überführend zugleich wirkt. Kontrastierend dazu deutet sich in der Passivität des Gelähmten,34 seiner Unkenntnis über Jesus (ὁ δὲ ἰαθεὶς οὐκ ᾔδει τίς ἐστιν, V. 13)35 und schließlich seiner offenen Ablehnung (V. 15)36 die im Prolog ausgedrückten Reaktion auf das Licht an: Im Verhalten des Gelähmten wird die Unfähigkeit der Finsternis, das Licht zu ergreifen (οὐ κατέλαβεν in Joh 1,5b), es zu erkennen (οὐκ ἔγνω in Joh 1,10) und schließlich die offene Ablehnung (οἱ ἴδιοι αὐτὸν οὐ παρέλαβον in Joh 1,11) narrativ exemplifiziert. Der Geheilte erscheint damit als Paradigma eines Menschen, der trotz der Erfahrung der heilschaffenden Wirkung des Lichts nicht zum wahren Glauben an Jesus durchdringt.37 Es ist daher nur folgerichtig, dass Jesus am Schluss der Heilungsbegebenheit neben der lebengebenden Rolle durch die Warnung vor einem eschatologische Gericht (χεῖρόν σοί τι γένηται, V. 14) an den Geheilten zugleich in einer Richterrolle erscheint. Insofern die lebengebende und richtende Rolle im folgenden Diskurs expliziert wird (Joh 5,27–29),38 ist bereits in der Erzählung der Heilung eine grundlegende Rollenumkehrung angelegt. Diese zeigt sich nicht nur in der Charakterisierung des Gelähmten, sondern auch in der vom Erzähler vorgenommenen Charakterisierung der Juden bei der Zurechtweisung des Geheilten in V. 10–11. Dass in der Anbahnung des Sabbatkonflikts der Erzähler die Kritisierenden kritisiert, wird durch eine doppelte ironische Darstellung offensichtlich. Zum einen ist es sachlich ironisch, dass dem Tragen eines Bettes eines soeben von 38-jähriger Krankheit Geheilten 33

Diesen Bezug sieht auch KLINK (2016b), 270. Gegenüber den aktiven Verben zur Beschreibung Jesu wird der Gelähmte mit κατακείμενον (V. 6) und ἀπεκρίθη (V. 7) durch eine auffallend passive Haltung charakterisiert. Unverständlich ist vor diesem Hintergrund, dass SCHNELLE (2016), 140 in V. 7 eine „direkte [d. Verf.] Bitte des Kranken […], ihm in das Wasser zu helfen“ sieht. Eine solche wird höchst absichtsvoll gerade nicht genannt. Stattdessen könnte man mit BEUTLER (2013), 185 in der Reaktion des Kranken sogar eine Abweisung des Angebots Jesu sehen. 35 Zu Recht sieht ZUMSTEIN (2016), 215 hinter der ambivalenten Formulierung zugleich einen Hinweis auf ein umfassendes Unwissen in Bezug auf die Identität Jesu, die im Evangelium stets negativ konnotiert ist; vgl. ebenso BRUNER (2012), 299. Dies ist umso auffälliger angesichts der Haltung der Samaritanerin im direkt vorangegangenen Kontext, in dem dieselbe Verwendung des Plusquamperfekts ᾔδεις im Ausspruch Jesu (εἰ ᾔδεις τὴν δωρεὰν τοῦ θεοῦ καὶ τίς ἐστιν ὁ λέγων σοι, Joh 4,10) die völlige Unkenntnis der Person Jesu beschreibt. 36 Diesen Zusammenhang erkennt auch DUKE (1985), 111. 37 Ähnlich auch HENGEL (1989), 286f.; CULPEPPER (1993), 204f.; BEASLEY-MURRAY (1999), 74; KEENER (2010a), 644. Siehe dazu ferner ausführliche Behandlung bei METZNER (1999). 38 Im Vergleich mit der 38-jährigen Krankheit kann damit nur das eschatologische Gericht im Blick sein; vgl. THEOBALD (2009), 379; THOMAS (1995), 17. Ebenso WENGST (2000), 201, der den Bezug auf die folgenden Rede Jesu erkennt. Siehe zur Vorschattung der Richterrolle Jesu in Joh 5,14 auch PANCARO (1975), 14. 34

200

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

keine Anbetung oder Glaube, sondern eine Anklage folgt.39 Zum anderen wird durch die absichtsvolle (und semantisch redundante) Bezeichnung des von den Juden als τῷ τεθεραπευμένω (V. 10) Adressierten auch in der impliziten Charakterisierung deutlich, dass Anklage wohl kaum die geeignete Reaktion einem Geheilten gegenüber sein kann – insbesondere da der implizite Leser von der Bedeutung der Heilung als Teil der σημεῖα40 und ihrem Hinweischarakter auf Jesus als den Sohn Gottes weiß (vgl. die Retrospektive in Joh 6,2).41 Damit wird die in der erzählten Welt vorausgesetzte Anklägerrolle der Juden subtil unterlaufen, indem innerhalb der Erzählwelt des Evangeliums die Juden selbst aufgrund von Voreingenommenheit und unzureichender Anklage zu Angeklagten werden. Die so vorgenommene Rollenumkehrung zeigt sich schließlich auch in der causa des Sabbatvergehens selbst: Deutet der Sabbat nach Ex 20,10; 31,16–17; Dtn 5,14–15 die angemessene Reaktion auf Gottes Befreiungshandeln an42, ist Sabbatbruch als Verweigerung dessen nicht das Vergehen des Geheilten, sondern – in ironischer Umkehrung – das der Juden. Reflexion der Prozess-Narration Durch die symbolhafte Natur der Heilungserzählung wird in Analogie zum Stellvertreterprozess durch die Zeugenbefragung in Joh 1,19–28 auch die zweite direkte Begegnung zwischen Jesus und den Juden im Evangelium durch einen zum Stellvertreterprozess stilisierten Konflikt eröffnet, der mit dem Sabbatvergehen zudem eine neue Rechtssache in die Makrodarstellung einbringt. Während sich in der erzählten Welt damit zum ersten Mal eine konkrete Beweissammlung als Beginn einer Strafverfolgung vollzieht, zeigt die symbolhafte Natur der Heilungserzählung dem durch die Kenntnis des Prologs ausgestatteten Lesenden eine subtile Rollenumkehrung an. Insoweit der Erzähler diese Rollenumkehrung nicht explizit macht, sondern die Juden erst in der Vorstellung des Lesenden zu Angeklagten werden, deutet sich nun auch beim Lesenden selbst eine Rollentransformation vom reinen Prozesszuschauer zum kritisch reflektierenden und damit richtenden Beobachter an.

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Dass diese Akzentsetzung absichtsvoll vom Erzähler vorgenommen wird, zeigt der Vergleich mit der Heilung in Joh 9, in der in der Reaktion des Geheilten eben jene beiden Elemente (Anbetung und Glaube) in Joh 9,38 als Höhepunkt der Erzählung genannt werden (ὁ δὲ ἔφηꞏ πιστεύω, κύριεꞏ καὶ προσεκύνησεν αὐτῷ). Siehe dazu die Untersuchung bei CULPEPPER (1987), 138–140 sowie die Analyse unten in Abschnitt 5.1. 40 Siehe zum Hinweischarakter der Sabbatheilung in Joh 5,1–9 auch PANCARO (1975), 16. 41 Vgl. CULPEPPER (1987), 138. THYEN (2005), 301 hält ein solches Verhalten des Geheilten für unglaubwürdig, sofern dahinter kein Bekenntnis zu Jesus zu sehen ist, übersieht dabei aber den höchst ironischen Charakter der Darstellung. 42 So auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 55.96; WEINRICH (2015), 565.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

201

3.2. Die Anklage der Juden (Joh 5,16–18) Narrative Einbettung Die Verse Joh 5,16–18 haben in der Episode von Joh 5,1–47 eine Überleitungsfunktion und bilden somit das Scharnier zwischen der Heilungsgeschichte (V. 1–15) und der Rede Jesu (V. 19–47).43 Wie bereits bei ihrem Auftreten in der Heilungsgeschichte (vgl. V. 10) werden auch hier die Juden durch einen Erzählerkommentar eingeführt (V. 16), der zugleich als Abschluss der Szenenfolge der Heilung (V. 1–15) fungiert.44 Dieser für die Sichtweise des impliziten Lesers höchst bedeutsame Deutungshinweis des Erzählers45 stellt als interpretativer Schlüssel die gesamte Heilungsgeschichte in den Kontext der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden und verweist zugleich auf ihren juristischen Charakter.46 Durch einen weiteren Erzählerkommentar in V. 18 dominiert damit in der kurzen Sequenz von V. 16–18 die Stimme des Erzählers und hebt durch die strukturelle Rahmung den Ausspruch Jesu in V. 17 besonders hervor. Durch die forensische Ausrichtung des doppelten Erzählerkommentars wird der Ausspruch Jesu dezidiert in den Kontext des Rechtsstreites gestellt und in der Episode von Joh 5,1–47 als zentrales Verbindungsstück hervorgehoben, auf das die Heilungsbegebenheit in V. 1–16 hinläuft und auf das sich die Rede in V. 19–47 gründet.47 Konstruktion eines Prozess-Settings Mit dem Terminus διώκω (V. 16) wird die ganze Szenerie unter den Beginn eines juristischen Verfahrens gestellt, bei dem die Tätigkeit der Juden als juristische Strafverfolgung beschrieben wird. 48 In diesem Kontext bekommt διώκω als gerichtlicher terminus technicus die Bedeutung einer erhobenen und verfolgten gerichtlichen Anklage. 49 Dass in Joh 5,16 weder die Grundlage 43 Siehe dazu ausführlich METZNER (1999), 178–180. Auch SCHNELLE (2016), 142 spricht von einer „Scharnier- bzw. Übergangsfunktion“ der Verse. 44 Siehe dazu METZNER (1999), 178. 45 Vgl. zur Bedeutung von Erzählerkommentaren in der narrativen Darstellung Kapitel I,3.1. Siehe zur Stelle auch CULPEPPER (1993), 203, der den Erzählerkommentar als „especially significant“ bezeichnet. 46 Siehe dazu auch SCHNELLE (2016), 142f. 47 Zu einem ähnlichen Urteil kommt ZUMSTEIN (2016), 217, der den Ausspruch Jesu in V. 17 als „spezifisch joh Interpretation“ von V. 1–16 und „zugleich [als] Überleitung zu der großen Rede, die in V. 19 beginnt“, versteht. 48 So BEKKEN (2014), 55f.; vgl. auch THYEN (2005), 306; THEOBALD (2009), 380. 49 Vgl. dazu MOLONEY (1998), 174; ebenso auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 74: „In the present context, it is more appropriate to understand it as indicating an act of accusation which signals the beginning of the juridical controversy […].“ Ebenso HARVEY (1976), 51: „The word is perfectly good Greek for ‚bring a charge against‘, ‚prosecute‘.“ Siehe zur

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

noch die beabsichtigte Strafe der Anklage genannt wird, ist ein Indiz dafür, dass der Erzähler die Kenntnisse über beides beim impliziten Leser voraussetzt.50 Als juristische Grundlage stehen, wie in V. 31–47 expliziert wird, die Schriften Moses (γραφαὶ in 5,39; γράμματα in 5,47) im Hintergrund, nach denen die Arbeit am Sabbat die Todesstrafe zur Folge hat (vgl. Ex 31,14; 35,2).51 Wie im zweiten Erzählerkommentar expliziert wird (Joh 5,18), ist an eine Strafverfolgung aufgrund eines Kapitalverbrechens gedacht.52 Mit dem Plural ταῦτα und der Verwendung einer zweiten Imperfektform ἐποίει wird die Anklage Jesu kausal (ὅτι ταῦτα ἐποίει ἐν σαββάτῳ, V. 16) in einen großen Rahmen gestellt, bei dem nicht nur an eine einzelne Tat gedacht ist, 53 sondern ταῦτα entweder als interne Prolepse auf zukünftige Taten am Sabbat fungiert54 oder als komplettierende Analepse auf in der Erzählung nicht genannte Sabbatvergehen der vergangenen erzählten Zeit verweist.55 Entscheidender als der genaue Referenzpunkt des Demonstrativpronomens ist jedoch seine Funktion im Kontext: Auf subtile Weise wird die einzelne Heilung in Joh 5,1–9 zum Repräsentanten einer Vielzahl ungenannter Sabbatbrüche unspezifischer Art. Die folgende juristische Auseinandersetzung eines Einzeljuristischen Konnotation im Sinne einer Strafverfolgung SOPHOCLES (1900), 390 („charge with, accuse of“); LIDDELL/SCOTT (1996), 440 („accuse of …, prosecute for“ und „accuse one of doing“) sowie BORNHÄUSER (1928), 36 („vor Gericht stellen“). Siehe zum Terminus im Kontext forensischer Begriffe auch Kapitel III,2.1. 50 Die minimale Andeutung eines forensischen Settings, dessen Details vom Lesenden selbst ausgefüllt werden müssen, stellt Parallelen zur narrativen Präsentation von Rechtsstreitszenen im Alten Testament her. Siehe zur Darstellung vollständiger juristischer Vorgänge anhand von einzelnen Signalwörter in prophetischen Texten Kapitel II,2.3.4. 51 Vgl. auch CULPEPPER (1993), 206. 52 Ein Kapitalverbrechen wegen Sabbatbruch ist damit schon in V. 16 impliziert (so auch WENGST [2000], 205). 53 Andernfalls wäre zu fragen, worauf sich der Plural ταῦτα denn konkret beziehen soll. Die Heilung am Gelähmten allein kann damit kaum gemeint sein. Ihn andererseits wie die meisten Ausleger als Singularform zu behandeln (so inter alia THYEN [2005], 305: „solches“; ZUMSTEIN [2016], 207: „dies“; SCHNACKENBURG [1985], 124: „das“; BROWN [1966], 212: „this sort of thing“) ist eine ungenaue Vereinfachung. Der Plural ist als solcher zu übersetzen (so richtig bei MICHAELS [2010], 300; BEASLEY-MURRAY [1999], 68 mit der Übersetzung „such things“) und als Hinweis auf eine Mehrzahl von Vergehen zu verstehen (so richtig MORRIS [1995], 274). 54 So etwa PANCARO (1975), 15; BEKKEN (2014) mit Verweis auf Joh 9. 55 So MORRIS (1995), 273; MICHAELS (2010), 300; ASIEDU-PEPRAH (2001), 75, die spekulieren, dass hier womöglich die Kenntnis von weiteren Heilungen am Sabbat im Hintergrund steht. In diesem Fall läge eine komplettierende Analepse vor, bei der der Lesende indirekt vom Erzähler über Geschehnisse informiert wird (vgl. dazu CULPEPPER [1987], 58f.). Wie Culpepper bemerkt, ist jedoch die Abgrenzung zur repetierenden Analepse, bei der bereits erzählte Ereignisse neu gedeutet werden, häufig nicht eindeutig möglich (CULPEPPER [1987], 59). Im Fall einer repetierenden Analepse würden durch Joh 5,16 die vergangenen Taten Jesu mit in den Sabbatkonflikt einbezogen.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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vergehens wird so zu einer umfassenden Verhandlung einer Vielzahl von Taten Jesu.56 Vor diesem Hintergrund wird auch die Imperfektform ἐδίωκον (V. 16) zu einem programmatischen Hinweis,57 der alle in Joh 5–10 folgenden Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden unter eine gerichtliche Strafverfolgung subsumiert.58 Damit zeigt der Erzähler an, dass die Erzählintention nicht auf die Verhandlung eines Einzelfalles zielt, sondern die Auseinandersetzung unter dem Vorzeichen eines Gerichtsprozesses zu lesen ist, bei dem zugleich das gesamte Wirken Jesu unter dem Aspekt des Sabbatbruchs umfassend verhandelt wird. Diese Akzentsetzung wird nicht nur durch die strukturelle Einordnung der Episode als Zentrum und Kulmination der juristischen Auseinandersetzung im Kontext des Evangeliums,59 sondern auch durch den auffallend situationslosen Charakter des folgenden Streitgespräches bestätigt, 60 durch den die Auseinandersetzung in Joh 5,19–47 einen repräsentativen und paradigmatischen Charakter bekommt.61 Der durch ἐδίωκον (V. 16) vorausgesetzten Anklage entspricht die mit ἀπεκρίνατο eingeleitete Antwort Jesu, die im Kontext den Klang einer gerichtlichen Verteidigungsrede erhält.62 Darauf, dass dieses Setting absichtsvoll vom 56

Ähnlich auch THYEN (2005), 306f. Das Lexem διώκω kommt im Evangelium nur hier und in Joh 15,20 (dort als intratextueller Rückbezug auf die Verfolgung Jesu) vor und ist nur in Joh 5,16 Teil der Erzählung. Die Verwendung gewinnt damit eine programmatische Note. SCHNELLE (2016), 142 weist darauf hin, dass hier zum ersten Mal im Evangelium von einer Verfolgung durch die Juden die Rede ist. 58 Das Imperfekt ἐδίωκον verweist auf den iterativen Charakter der Handlung (so auch ASIEDU-PEPRAH [2001], 74f.; ZUMSTEIN [2016], 217; BEUTLER [2013], 191). Dagegen deutet THEOBALD (2009), 380 mit Verweis auf SIEBENTHAL (2011), 325 die Zeitform als einfaches Plusquamperfekt, was jedoch außerhalb von indirekter Rede oder Verben der Wahrnehmung unwahrscheinlich ist (SIEBENTHAL [2011], 325). 59 Siehe dazu die Einordnung in die narrative Makrostruktur zu Beginn von Kapitel IV,3 sowie in Kapitel III,2.5. Ferner ist Joh 5,1–47 der Kulminationspunkt forensischer Semanteme im Johannesevangelium (siehe Kapitel II,2.1). 60 Dies hat METZNER (1999), 178 betont: „Das Treffen Jesu mit den ‚Juden‘ (V. 17 f.) wirkt nach dem Erzählende in V. 16 situationslos. Wo und wann Jesus so spricht, bleibt offen.“ Ähnlich spricht auch THEOBALD (2009), 380 von der „szenischen Unbestimmtheit“ der Rede Jesu. 61 Vgl. dazu auch MOLONEY (1998), 174. Allein die Dichte der Erzählerkommentare (Joh 5,9.13.16.18) mit termini technici der Prozesssprache zeigt an, dass der Erzähler die Auseinandersetzung im Kontext für höchst bedeutsam hält. 62 Diese Szenerie wird freilich nur evoziert, um vom Erzähler sogleich wieder subversiv dekonstruiert zu werden. So lässt er die Anklage der Juden gerade nicht explizit zu Wort kommen (so auch THEOBALD [2009], 380), während umgekehrt die Rede Jesu im Kontext nicht als Antwort, sondern als initiative Gerichtsrede erscheint. SCHNELLE (2016), 145 bemerkt daher nur folgerichtig: „Dieser Konflikt bricht nicht unvermittelt über Jesus herein, denn nach der joh. Dramaturgie ist es Jesus selbst, der bewusst durch Wort und Tat die Konfrontation sucht.“ 57

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Erzähler angelegt ist, weist insbesondere die Verwendung der klassischen medialen Form ἀπεκρίνατο (nur in Joh 5,17.19), die im Gegensatz zu der sonst vom Erzähler verwendeten Passivform ἀπεκρίθη (57-mal im Evangelium) auf einen formalen, forensischen Kontext hindeutet 63 und die Rede Jesu in den Kontext einer gerichtlichen Befragung stellt.64 Mit der Antwort Jesu (V. 17) als erster direkter, an die Juden gerichteter Rede der Episode eröffnet sich in der Auseinandersetzung der eigentliche forensische Diskurs, auf den die Erzählung zielstrebig zuläuft. Als Streitgespräch zwischen Jesus und den Juden erscheint dieser zunächst als bilaterale Phase eines Rechtsstreites nach dem jüdischen Prozessrecht65 und lässt zugleich das breitere literarische Prozess-Setting des mehrstufigen antiken Gerichtsprozesses erkennen, bei dem der Prozess in einer informellen Phase durch die Konfrontation des Angeklagten mit den Vorwürfen eröffnet wurde.66 Die Auseinandersetzung geht jedoch über ein rein bilaterales Streitgespräch hinaus und gewinnt durch die repräsentative, situationslose und eine Vielzahl von Vergehen einschließende Art der Auseinandersetzung Züge einer trilateralen metaphorischen Gerichtsverhandlung, 67 bei der die Juden in V. 10–18 in der 63 Die attische Form ἀπεκρίνατο ist in der Koine bereits selten geworden und fällt damit auf (BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF [2001], 62). In allen Belegen im NT hat sie den Ton einer förmlichen oder gerichtlichen Erklärung, wie MOULTON/MILLIGAN (2004), 64 bemerken: „This latter, so overwhelmingly predominant in NT, is rather surprisingly uncommon in the non-literary Κοινή. […] For the middle aorist occurs very often in papyri, but they are without exception legal reports, in which ἀπεκρείνατο (so usually – also ptc. or inf.) means ‚replied‘, of an advocate or a party in a suit. […]. So we may take its meaning throughout as being (1) ‚uttered solemnly‘, (2) ‚replied in a court of law‘. These two meanings cover all the NT passages […].“ Moulton/Milligan sprechen ferner von einem „fairly legal use“ (aaO., 64). Siehe für ähnliche Schlussfolgerungen zur Verwendung in Joh 5,17.18 auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 75f.; BULTMANN (1986), 182; THYEN (2005), 307. 64 Siehe KÖSTENBERGER (2004), 184. Ähnlich spricht MOLONEY (1998), 171 von einer Gerichtsszene („court scene“). 65 Siehe dazu Kapitel II,1.3. Den bilateralen Charakter als Eröffnungsphase eines frühjüdischen Rechtsstreites in der erzählten Welt erkennt auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 74, allerdings erweist sich die vollständige Reduktion auf einen bilateralen Rechtsstreit in der narrativen und von Metaphorik geprägten Darstellung als unzureichend (siehe dazu unten Anm. 96). 66 Siehe dazu Kapitel II,1.4.1. Ein informelles Verfahren sieht auch BEKKEN (2014), 50. 67 So richtig HARVEY (1976), 14f.; STIBBE (1992), 76–80; LINCOLN (2000), 74; MOLONEY (1998), 171. ASIEDU-PEPRAH (2001), 74 betont dabei den bilateralen Charakter der Auseinandersetzung, der im jüdischen Prozessrecht der ersten Prozessphase entspricht (vgl. Kapitel II,1.3). Die Unterscheidung zwischen bilateralem und trilateralem Rechtsstreit erweist sich jedoch entgegen der maßgeblichen Bedeutung, die diese in der Arbeit von ASIEDU-PEPRAH (2001) einnimmt, als müßig, insofern sie in der Rede Jesu transzendiert wird (so auch das Urteil von BEUTLER [2013], 189). Sie wird insbesondere vor dem Motivhintergrund des alttestamentlichen Rechtsstreites, in dem Gott selbst beteiligt ist, obsolet (vgl. dazu Kapitel II,2.3.2); siehe dazu ausführlich Anm. 96 unten. Dagegen geht BEKKEN (2014),

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

205

Doppelrolle als Ankläger und Richterkollegium 68 sowie der Geheilte in der Rolle als Zeuge gegen Jesus (V. 15)69 vorausgesetzt werden. Damit gewinnt die Darstellung durch die doppelte Verwendung der medialen Form ἀπεκρίνατο (V. 17.19) starke symbolische Obertöne einer gerichtlichen Verteidigung Jesu und evoziert mit den implizierten Rollen von Ankläger, Angeklagtem und Zeuge ein vollständiges metaphorisches Prozess-Setting, das in seiner generisch andeutenden Dimension mit dem paradigmatisch-repräsentativen Charakter der Darstellung korrespondiert. Neben der formalen Dimension forensischer Rollen wird das so evozierte Prozess-Setting in V. 17–18 auch inhaltlich in Bezug auf die eigentliche causa konkretisiert. Während die Antwort Jesu ὁ πατήρ μου ἕως ἄρτι ἐργάζεται κἀγὼ ἐργάζομαι (V. 17) als Verteidigung gegenüber dem Vorwurf des Sabbatbruchs erscheint, wird durch einen Erzählerkommentar in V. 18 nicht nur die dezidiert forensische Dimension der Episode eindrucksvoll aufgewiesen,70 sondern zugleich um eine zweite Anklage erweitert. Indem die Juden den in V. 17 geäußerten Anspruch Jesu als Blasphemie verstehen,71 wird dem Vorwurf des Sabbatbruchs (ἔλυεν τὸ σάββατον, V. 18) darin, dass Jesus sich Gott gleichmache (ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ, V. 18) 72 ein zweiter Vorwurf beigestellt. 73 Da 55 wohl zu weit, indem er einen Lynchprozess sieht, bei dem die Juden nicht nur als Richter, sondern zugleich als Exekutionskommando fungieren. 68 Vgl. dazu BEKKEN (2014), 55, der von einer „triple role“ spricht. Sowohl in der alttestamentlich geprägten jüdischen Prozessordnung (siehe Kapitel II,1.3) wie auch in der jüdischen Prozessordnung unter römischer Herrschaft, bei der den lokalen Behörden weitgehende Freiheiten in der Ermittlung und Beweissammlung zu Delikten übertragen war (siehe dazu Kapitel II,1.3.2), fungiert die jüdische Gerichtsbarkeit nicht nur als Ankläger, sondern zugleich als Richterkollegium. 69 Siehe zur impliziten Funktion des Geheilten als Zeuge gegen den Sabbatbruch Jesu oben Abschnitt 3.1. 70 Der doppelte Erzählerkommentar in V. 16 und V. 18 sowie die darin über termini technici der Gerichtssprache und explizit formulierten Rechtsbrüche weist auf einen dezidiert forensischen Charakter der Auseinandersetzung hin. Dass der Erzähler die Antwort Jesu in V. 17 durch zwei Kommentare mit juristischer Terminologie rahmt, zeigt an, dass das forensische Setting für das Verständnis des impliziten Lesers von höchster Bedeutung ist. 71 Vgl. THEOBALD (2009), 381. Siehe für eine Diskussion des in der erzählten Welt vorausgesetzten Tatbestandes der Blasphemie HARVEY (1976), 52f.; BEKKEN (2014), 57–62 sowie zur Diskussion der Primärquellen umfassend CHAPMAN/SCHNABEL (2015), 98–134. 72 Wie die Formulierung ἑαυτὸν ποιῶν (V. 18) erweist, denken die Juden dabei an eine „eigenmächtige Usurpation einer gottgleichen Stellung und Würde“ (THEOBALD [2009], 382), die nach Num 15,30f. und Lev 24,16 mit dem Tod durch Steinigung bestraft werden musste (THYEN [2005], 309). Den Vorwurf der Eigenmächtigkeit weist Jesus in V. 19–30 zurück, bekräftigt aber umso deutlicher den von den Juden als ἴσον τῷ θεῷ (V. 18) erkannten Anspruch (vgl. dazu ausführlich THYEN [2005], 309f.; ZUMSTEIN [2016], 218f.; ASIEDUPEPRAH [2001], 78f.). 73 Die doppelte Begründung der von den Juden beabsichtigten Todesstrafe mit οὐ μόνον … ἀλλὰ καί lässt vermuten, dass aus Sicht der Juden (die nur distanzierend durch den

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

beide Vorwürfe Kapitalverbrechen sind,74 liegen damit zwei todeswürdige Anklagen vor, wie durch den Versuch der Strafverfolgung nun verschärft mit ἐζήτουν αὐτὸν οἱ Ἰουδαῖοι ἀποκτεῖναι (V. 18) ausgedrückt wird. Der Prozess bekommt somit eine dramaturgische Intensivierung und führt anstelle des im bilateralen Rechtsstreit der erzählten Welt angelegten Ziels der Entschärfung75 eines Disputs vielmehr zur Eskalation. Dass anders als im Fall des Sabbatvorwurfes die Juden beim Blasphemievorwurf selbst als anklagende Zeugen gegen Jesus auftreten,76 erklärt die in der Steigerung διὰ τοῦτο οὖν μᾶλλον ἐζήτουν αὐτὸν οἱ Ἰουδαῖοι ἀποκτεῖναι (V. 18) ausgedrückte Absicht der gerichtlichen Vollstreckung des Kapitalgerichts. In dem auf diese Weise erreichten neuen Höhepunkt der Auseinandersetzung wird zum ersten Mal im Evangelium explizit von einer Hinrichtungsabsicht der Juden gesprochen, die entweder bereits vorschnell ein Urteil präjudiziert oder als Anzeichen einer geplanten Lynchjustiz zu werten ist.77 In beiden Fällen wird damit jedoch die ungewöhnliche Schärfe des juristischen Konflikts hervorgehoben, der hinsichtlich der forensischen Rollen ein voll ausgeprägtes metaphorisches Prozess-Setting mit Jesus als Angeklagtem evoziert. Prozessmodulation Vordergründig scheinen die Rollen des metaphorischen Prozess-Settings schon mit Joh 5,16 als Eröffnung des folgenden Diskurses klar zugewiesen. Umso bemerkenswerter ist, dass die Deutungshinweise des Erzählers in V. 16 als subtile Wertung des Erzählers gelesen werden können, die die vordergründig vorgenommene Rollenzuweisung unterlaufen. So überrascht bereits die eigentliche Begründung der Strafverfolgung, die eine sukzessive und ebenso absurde Erzählerkommentar wiedergegeben wird) tatsächlich an zwei todeswürdige Vergehen gedacht ist (so auch WENGST [2000], 205; HARVEY [1976], 52; vgl. auch BEKKEN [2014], 51). Dies wird durch die weitere Erzählung bestätigt, in der sowohl in der folgenden Rede als auch in der weiteren Handlung beide Vergehen durch intratextuelle Verweise gegenwärtig sind (Sabbatbruch in Joh 5,20; 7,21–23; Gotteslästerung in Joh 5,19–29; 8,59; 10,38–39). Dabei scheint jedoch der Anspruch Jesu in der Wirkeinheit mit dem Vater im Vordergrund zu stehen, wie auch der Inhalt der anschließenden Rede Jesu in Joh 5,19–47 zeigt (gegen ASIEDU-PEPRAH [2001], 78, der den Sabbatkonflikt im Vordergrund sieht). 74 Vgl. dazu auch Kapitel II,1.3.1, Anm. 87. 75 Eine solche ist stets das Ziel der bilateralen Phase des jüdischen Rechtsstreites; siehe dazu Kapitel II,1.3. 76 Darauf weist auch BEKKEN (2014), 55 hin. 77 Siehe zur Diskussion BEKKEN (2014), 53–57, der sich für Letzteres ausspricht. Wahrscheinlicher scheint im Kontext jedoch ein präjudiziertes Urteil (so auch LINCOLN [2000], 74), das die indirekte Form der Charakterisierung der Juden fortsetzt (siehe dazu oben zu Joh 5,16) und damit die Juden selbst unter den Vorwurf einer unbegründeten und falschen Anschuldigung stellt. Damit wird der Topos des unlauteren Anklägers aufgenommen (vgl. Kapitel II,1.4.1 sowie HARVEY [1976], 48f.).

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

207

Verschiebung der Anklage in Joh 5,10–18 zum Abschluss bringt (vgl. Tab. 4).78 Ankläger

Angeklagter

Anklagegrund

Art der Anklage

Joh 5,10

Juden

Geheilter

Formelle Verwarnung

Joh 5,11

Geheilter

Jesus

Joh 5,15 Joh 5,16

Geheilter Juden

Jesus Jesus

Tragen seines Bettes am Sabbat Anstiftung zum Sabbatbruch Heilung am Sabbat Vielfacher Sabbatbruch

Joh 5,18

Juden

Jesus

Sabbatbruch, Blasphemie

Denunziation Augenzeuge gegen Jesus Juristische Strafverfolgung und Anklageerhebung Versuchte Vollstreckung des Kapitalgerichts

Tab. 4: Transformation der Anklage in Joh 5,10–18.

Damit wird die ursprüngliche Anklage des Geheilten wegen Tragens seines Bettes (Joh 5,10) nicht nur zur Anklage der Heilung selbst (die nur durch ein Wort erfolgt war; vgl. Joh 5,8) transformiert 79 und damit nach jüdischer Rechtsanschauung gegenstandslos,80 sondern schließlich sogar zu einem mehrfachen Kapitalverbrechen gesteigert und vollends von der eigentlichen Heilungsgeschichte dissoziiert.81 Im Kontext überrascht diese plötzliche Intensivierung jedoch und lässt den Lesenden mit der Frage zurück, ob die Juden schon beim Tragen der Matte durch den Geheilten ein todeswürdiges Ver-

78

Dass sich innerhalb weniger Verse die juristische Anklage nicht weniger als viermal verändert, ist ein in der Forschung bisher kaum wahrgenommener Erweis der dezidiert juristischen Akzentsetzung der Erzählung. Dass überhaupt eine Verschiebung der Anklage erkennbar ist, wurde dabei durchaus wahrgenommen; vgl. etwa PANCARO (1975), 15: „The attention has shifted from the paralytic to the one who issued the command – he is the lawbreaker.“ Vgl. ebenso SCHNELLE (2016), 142: „Plötzlich erscheint nicht mehr das Verhalten des Geheilten, sondern die Wundertat selbst als Sabbatbruch.“ ZUMSTEIN (2016), 217 bemerkt daher treffend, dass „sich das Wesen des in V. 10 ausgelösten Konflikts geändert hat“. 79 Vgl. zu dieser Transformation auch BEKKEN (2014), 51. 80 Heilung war nach jüdischer Tradition auch am Sabbat erlaubt (vgl. dazu das Ergebnis der ausführlichen Untersuchung von COLLINS [2015], 439) und ist damit in der erzählten Welt nicht als Vergehen anzusehen. Durch die Ironie einer Anklage wegen Heilung wird die Anklage damit auch vom Erzähler als gegenstandslos entlarvt (vgl. CARSON [1992], 245). 81 Diese striktere Behandlung Jesu steht in einem umgekehrt-ironischen Zusammenhang mit seiner Identität als Richter und Sohn Gottes (vgl. Joh 5,22): Während die Juden einen einfachen Menschen milde behandeln, zeigt ihre Gegenüberstellung mit dem Sohn Gottes und Richter der Welt nicht demütige Zurückhaltung, sondern eine Forderung nach dem strafrechtlichen Höchstmaß.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

brechen im Blick hatten.82 Dass sich ohne eine Änderung der Beweislage das Strafmaß gegenüber dem Tragen der Matte in Bezug auf Jesus drastisch erhöht hat,83 führt in ironischer Weise die Anklage selbst ad absurdum.84 Indem mit ταῦτα ἐποίει ἐν σαββάτῳ (Joh 5,16) trotz der weit über die Szene hinausweisenden Deixis die Heilung des Gelähmten wenigstens eingeschlossen sein muss,85 stellt der Erzähler in Joh 5,16 sowohl strukturell als auch kausal (διὰ τοῦτο) die im Imperfekt ausgedrückten Taten Jesu denen der Juden ironisch gegenüber und lässt damit die Verfolgung als absurde Folge der Heilung erscheinen:86 διὰ ὅτι

τοῦτο ταῦτα

ἐδίωκον ἐποίει

οἱ Ἰουδαῖοι τὸν Ἰησοῦν ἐν σαββάτῳ.

Die Ironie, die in der Anklage aufgrund der Heilung von einer 38-jährigen Krankheit liegt, zieht die Ankläger, ihre Motive und die Belastbarkeit der Anklage selbst in Zweifel.87 Mit dem so zur Schau gestellten Fehlurteil der Juden wird gleichzeitig der Topos eines voreingenommenen Anklägers aufgenommen, der sich mit seiner Anklage selbst das Urteil zuzieht.88 Insofern die Gültigkeit der Anklage im jüdischen Rechtsstreit größtenteils zur Vertrauenswürdigkeit der (anklagenden) Zeugen korreliert,89 ist der Anklage damit durch den Erzähler bereits narrativ die Grundlage entzogen. 82

Ihre Worte an den Geheilten σάββατόν ἐστιν, καὶ οὐκ ἔξεστίν σοι ἆραι τὸν κράβαττόν σου (Joh 5,10) klingen viel eher nach einer formellen Verwarnung als nach einer Drohung mit der Todesstrafe (HARVEY [1976], 50). 83 So auch WENGST (2000), 198: „Es liegt nicht mehr als ein schlichter Hinweis vor, der nicht mit einer Androhung von Sanktionen verbunden ist, aber sicherlich erwartete, dass aus ihm die richtige Konsequenz gezogen wird.“ 84 Siehe zu dieser Ironie auch DUKE (1985), 111. 85 So auch THYEN (2005), 306. 86 Siehe zu dieser Ironie auch DUKE (1985), 112; CARSON (1992), 245. 87 Vgl. dazu etwa MICHAELS (2013), 341: „They have no interest in the healing, only in the Sabbath violation.“ Ebenso wundert sich WENGST (2000), 201: „Dass eine Heilung am Sabbat in jüdischem Kontext tatsächlich Anlass für ‚Verfolgen‘ wäre, ist schwer vorstellbar.“ Wengst sieht die Erklärung in der Verfolgung der johanneischen Gemeinde, plausibler ist aber eine indirekte Charakterisierung der Juden durch den Erzähler. Durch das überzogene Strafmaß erweist der Erzähler (ähnlich wie in der Prozessdarstellung in Joh 18–19; siehe dazu Kapitel III,1) die mangelnde Begründung der Anklage und stellt diese als juristisch haltlos dar. 88 Siehe hierzu Kapitel II,1.4.2; vgl. auch HARVEY (1976), 48f. Dementsprechend wird das Urteil der Juden in Joh 7,24; 8,15 als ungerechtes Gericht aufgenommen und steht damit selbst unter dem Gericht (vgl. KEENER [2010a], 643). 89 Siehe hier HARVEY (1976), 20: „There was no need to look further into the facts. The all-important question was the character of the witnesses […].“ Ebenso ASIEDU-PEPRAH (2001), 98. Umgekehrt war die unzureichende Vertrauenswürdigkeit ein Kapitalverbrechen. Ein Ankläger, der aus unlauteren Motiven auftrat, wird selbst zum Angeklagten und zum Tod verurteilt (HARVEY [1976], 21); vgl. dazu auch Kapitel II,1.3.3. Ein bewusster Kontrast

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

209

Neben der Verschiebung der Anklage könnte auch in der mit dem doppelten διώκω (Joh 5,16.18) ausgedrückten Strafverfolgung selbst eine Rollenumkehrung darin angedeutet sein, dass das Motiv der Verfolgung alttestamentlicher Propheten angedeutet wird.90 Ein solcher Bezug wäre angesichts des nur kurz vorher von Jesus aufgegriffenen Motivs des abgelehnten Propheten (Joh 4,44) nicht verwunderlich und würde die Rede Jesu in den Kontext des prophetischen Rechtsstreites stellen.91 Deutlich stärker konzentriert sich die Erzählung aber auf die implizite Selbstbezeichnung Jesu als Sohn, die durch den doppelten Erzählerkommentar in Joh 5,16–18 gerahmt ein gänzlich distinktives Rollenverständnis zu dem von den Juden vorausgesetzten offenbart. Mit der parallelen Aussage ὁ πατήρ μου κἀγὼ

ἕως ἄρτι ἐργάζεται ἐργάζομαι

in Joh 5,17 beansprucht Jesus in der creatio continua Wirkeinheit mit Gott,92 durch die er einerseits das Wirken am Sabbat als legitimes Wirken Gottes verteidigt, sich andererseits aber in seinem Handeln und seiner Autorität mit Gott zur unzureichenden Anklage der Juden wird in der folgenden Rede Jesu mit ἀληθής ἐστιν ἡ μαρτυρία ἣν μαρτυρεῖ (Joh 5,32) aufgebaut. 90 THYEN (2005), 306 sieht hier einen motivischen Bezug zur gewaltsamen Verfolgung der Propheten, wie sie von STECK (1967) nachgezeichnet wurde. Nach STECK (1967), 161.224 ist dabei auch das Lexem διώκω mit der Verfolgung der Propheten konnotiert. Ebenso KNOCH (2011), 818: „Dieser Aussagegruppe vom verfolgten Propheten und Messias Jesus und vom prophetenverfolgenden Israel gehören auch … der Hinweis Joh 5,16 [an], daß Jesus wegen der Heilungen am Sabbat ‚von den Juden verfolgt‘ wurde.“ 91 Tatsächlich wird mit dem Bezug in Joh 4,44 wahrscheinlich, dass auch in Joh 5,16 ein Bezug vorliegt. Nach den Kriterien HAYS (1989), 28–32 zur Eruierung intertextueller Bezüge erfüllt die doppelte Bezugnahme auf das Motiv der prophetischen Ablehnung innerhalb weniger Verse das Kriterium der ‚Recurrence‘ und steigert damit die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich eine bewusste intertextuelle Anspielung vorliegt. Das Motiv in Joh 4,44 ist häufig von Auslegern als deutlicher Verweis erkannt worden, dass sich Jesus damit selbst in die Tradition der abgelehnten Propheten stellt (siehe hier ausführlich KEENER [2010a], 628f.; ferner SCHNELLE [2016], 131). Die Möglichkeit, dass Jesus mit seiner πατρίς (Joh 4,44) speziell auf Jerusalem verweist, wie manche meinen (so etwa LINDARS [1987], 200; THYEN [2005], 285 mit Nennung weiterer Vertreter), würden dann die Ablehnung Jesu in Joh 2–3 mit Joh 5 in eine Reihe der Ablehnung speziell in Jerusalem stellen. Die Ablehnung Jesu würde dann zugleich in den ausführlich von STECK (1967) herausgestellten Kontext der Verfolgung der Propheten fallen (aaO., 218–239), in dem die Rede des Propheten stets mit einer Gerichtsbotschaft verbunden ist (vgl. aaO., 62–69). Dass Jesus andeutungsweise als verfolgter Prophet dargestellt wird, setzt voraus, dass seine Botschaft zugleich Gericht impliziert. Damit steht logisch und temporal die Anklage Jesu vor der der Juden, während ihre Anklage ihrerseits Reaktion auf die Anklage Jesu ist. 92 Darin spiegelt sich die Auffassung wider, dass Gott selbst trotz seines Ruhens am Sabbat (Gen 2,2) fortwährend in der Erhaltung der Schöpfung wirkt und nicht unter das Sabbatgebot fällt (vgl. THEOBALD [2009], 381; ODEBERG [1968], 202; THYEN [2005], 307).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

auf eine Stufe stellt. Damit wird die bilateral-menschliche Ebene des Rechtsstreites durchbrochen und auch gegenüber den Prozessgegnern in der erzählten Welt zum ersten Mal auf jene Ebene gehoben, die der implizite Leser bereits seit dem Prolog kennt: Indem mit Jesus zugleich Gott selbst vor den Juden steht,93 wird der Rechtsstreit von einem zwischenmenschlichen Rechtsstreit zu einem Rechtsstreit von Menschen mit Gott transformiert. Zugleich wird damit nach atl. Vorbild94 die Rollenunion von Richter und Ankläger für Jesus vorausgesetzt.95 Während sich in der erzählten Welt eine bilaterale Phase der Prozesseröffnung abspielt, in der die Juden als Ankläger fungieren, wird diese doch durch das Wissen der Lesenden um die göttliche Identität Jesu zu einem trilateralen forensischen Prozess transformiert, in dem Jesus zwangsläufig die Rolle des Richters innehat. 96 Dass der Versuch der Juden, Jesus zu töten, 93 Vgl. dazu RAE (2008), 298: „[T]his man of flesh, the incarnate one, is not less than God but is one with him (5:18).“ Ähnlich auch FREY (2000b), 349 sowie KARAKOLIS (2016), 151. 94 Den Bezug zum alttestamentlichen Rechtsstreit sieht auch LINCOLN (2000), 73. Siehe zum alttestamentlichen Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen ausführlich Kapitel II,2.2 und die Zusammenfassung in Kapitel II,2.3. 95 Der atl. Rechtsstreit von Menschen mit Gott setzt Gott stets und ausnahmslos als Richter und Ankläger voraus. Dies geschieht mit einer so großen Selbstverständlichkeit, dass selbst in solchen Fällen, in denen Gott zunächst zum Angeklagten wird, seine Rolle als absoluter Richter niemals hinterfragt wird; siehe dazu oben Kapitel II,2.3. 96 Das Insistieren bei ASIEDU-PEPRAH (2001), 22, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 5 eben darum um einen bilateralen Rechtsstreit handeln müsse, weil ein Richter als sine qua non des trilateralen und im eigentlichen Sinn forensischen Prozesses nicht genannt wird, ist zwar in Bezug auf die in der erzählten Welt vorausgesetzte, den Rechtsstreit eröffnende bilaterale Phase des frühjüdischen Prozesses richtig (siehe dazu oben Kapitel II,1.3), in Bezug auf die multidimensionale narrative Darstellung aber gänzlich fehlgeleitet (so auch BEUTLER [2013], 189). Indem Asiedu-Peprah die in der Erzählung vorausgesetzten kulturellen und historischen Gegebenheiten zum alleinigen Schlüssel der Auslegung macht, übersieht er die wesentliche narrative Akzentsetzung, nach der die Auseinandersetzung durch die pointiert herausgestellte göttliche Identität Jesu zu einem Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen wird. Der dargestellte Konflikt lässt sich gerade deshalb nicht in die nur auf menschlicher Ebene geltende Unterscheidung zwischen bilateraler und trilateraler Phase des alttestamentlichen und frühjüdischen Rechtsstreites einordnen, insofern diese Kategorisierung durch die Beteiligung Gottes im Rechtsstreit transzendiert wird. Dass Gott als allmächtiger Herrscher zwangsläufig und ausnahmslos die Rolle des Richters einnehmen muss, selbst wenn er zugleich in der Rolle des Angeklagten erscheint, zeigt sich aufs Deutlichste in der alttestamentlichen Darstellung des Rechtsstreites zwischen Gott und Menschen (siehe dazu ausführlich Kapitel II,2.2–2.3). Das Urteil von Asiedu-Peprah – „The judge whose task in trial is to hand down a verdict in accordance with truth and justice can hardly be at the same time one of the disputants“ (ASIEDU-PEPRAH [2001], 22) – ist damit schlichtweg falsch und übersieht zusätzlich, dass in der metaphorischen Darstellung einer Auseinandersetzung als Rechtsstreit bilaterale und trilaterale Rollenfunktionen zugleich präsent sein können (auch dies ist in der stark von metaphorischen Elementen geprägten atl. Darstellung bereits angelegt). Schließlich ist die Einschätzung von

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

211

gerade nach der Selbstoffenbarung in Joh 5,17 explizit gemacht wird, kehrt damit den Vorwurf der Blasphemie in ironischer Weise um.97 Reflexion der Prozess-Narration Durch die größtenteils aus Erzählerkommentaren bestehenden Überleitungsverse in Joh 5,16–18 wird die Prozessdarstellung des Evangeliums nicht nur durch eine Eskalation des Konflikts zwischen Jesus und den Juden auf eine neue Stufe gehoben,98 sondern auch durch eine Konvergenz der bisher streng dispensierten Ebenen des Rechtsstreites zwischen erzählter Welt und einer metaphorischen Prozesswelt als für die Erzählung zentraler Entwicklungsschritt ausgewiesen. Korrespondierte die Wahrnehmungsebene des Rechtsstreites bei den Juden als Charakteren der erzählten Welt zu einem zwischenmenschlichen Rechtsstreit, war für die impliziten Leser aufgrund des Wissens um die Identität Jesu eine dazu konkurrierende Prozessdarstellung zwischen Gott und Menschen die maßgebliche Perspektive. Durch die Selbstoffenbarung tritt der in der bisherigen Narration reflektierte Paradigmenkonflikt zwischen beiden Darstellungsebenen (‚oben‘ und ‚unten‘99) nun in die Wahrnehmungsebene der Juden als Charaktere der erzählten Welt ein, insofern die Juden sich selbst gegenüber dem Anspruch Jesu positionieren müssen und damit vor die Wahl des Paradigmas gestellt werden. Umso auffälliger setzt sich die für die Erzählung so charakteristische Akzentsetzung fort, nach der sich im Aufeinandertreffen Jesu mit den Juden die schärfste nur denkbare Opposition manifestiert und diametral entgegengesetzte Paradigmen offenbar werden, zwischen denen jede ASIEDU-PEPRAH (2001), 22, nach der eine Streitpartei nicht zugleich in Richterfunktion auftreten kann, sowie die Bezeichnung dieser Doppelrolle als „legal monstrosity, which, to my knowledge, has no precedent in Jewish legal procedure“ (aaO., 22), auch historisch falsch, wie BEKKEN (2014), 50 am Beispiel philonischer Texte gezeigt hat. Demgegenüber besteht der entscheidende Akzent in Joh 5,16–47 gerade in der ambivalenten Darstellung zwischen bilateraler und trilateraler Art des Rechtsstreites und lässt darin starke motivische Verbindungen zur atl. Darstellung erkennen. Damit ist weiterhin an der Aussage von HARVEY (1976), 14f.; STIBBE (1992), 76–80; LINCOLN (2000), 74 festzuhalten, dass in Joh 5,16–47 neben einer bilateralen Auseinandersetzung zugleich ein forensischer Prozess erkennbar wird. Völlig zu Recht erkennt daher LINCOLN (2000), 73, dass Jesus nach dem Muster des Rechtsstreites in Jes 40–55 in der Rolle Gottes als Angeklagter, Ankläger und Richter zugleich auftritt. 97 Siehe zur Ironie dieser Szene insbesondere DUKE (1985), 111. Ähnlich betont KARAKOLIS (2016), 151, dass die geeignete Reaktion der Juden nach der Darstellung der Wirkeinheit Jesu Anbetung nach Ex 20,2–4 sein müsste, und spricht von „dramatic irony“ in Bezug auf den Versuch der Juden, ihren Schöpfer zu töten. Damit kehrt sich der Vorwurf der Blasphemie auf drastischste Weise um. 98 KÖSTENBERGER (2004), 14; BROWN (1966), 213. 99 Siehe dazu oben Abschnitte 2.2–2.3 zu Joh 3,11–21 und 3,31–36. Die Erzählung führt durch den Verweis auf Joh 3 damit zugleich das Makro-Narrativ der Prozessdarstellung weiter.

212

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Vermittlung nur die Unüberwindbarkeit der Differenzen erweist. Der Erzähler führt auf diese Weise den eigentlichen Konflikt auf die grundsätzliche Frage nach der Identität Jesu zurück und schließt jede Mittelposition zwischen Blasphemie und dem zu Recht formulierten Anspruch Jesu aus. Der Lesende wird durch das Gegenüber beider, erst in der Frage nach der Identität Jesu konvergierenden Paradigmen involviert und durch die Bewertung der Auseinandersetzung unwillkürlich selbst vor die Wahl gestellt.100

3.3. Die Anklage Jesu (Joh 5,19–30) Narrative Einbettung Mit Joh 5,19 beginnt eine einzige Rede Jesu, die sich bis zum Ende der Episode in Joh 5,47 erstreckt. Die Struktur des Monologs lässt zwei Redeteile erkennen (V. 19–30 und V. 31–47), die stilistisch und inhaltlich voneinander abgegrenzt sind.101 Der erste Teil (V. 19–30) ist dadurch gekennzeichnet, dass Jesus weitgehend in der dritten Person von sich spricht.102 Dies ist innerhalb des Evangeliums einzigartig103 und verleiht der Rede durch die distanzierte Selbstbezeichnung in der dritten Person einen sachlich-objektiven Charakter, dessen rhetorische Funktion eng an den Inhalt der Passage gebunden ist.104 Die Passage ist durch die Darstellung der Wirkeinheit zwischen dem Sohn und dem Vater ge-

100

Siehe ähnlich auch LINCOLN (2000), 172f. LEE (1994), 103f.; THYEN (2005), 309; ASIEDU-PEPRAH (2001), 110 sehen hier drei Redeteile, indem sie V. 41–47 von V. 30–47 abtrennen. Dies geschieht nicht aufgrund formaler, sondern allein aufgrund inhaltlicher Kriterien, nach denen erst in V. 41–47 die Wendung von der Verteidigung hin zu einer Anklage gesehen wird. Diese Interpretation übersieht jedoch, dass auch in V. 31–40 die Anklage bereits präsent ist und sich die Darstellung gerade durch ihre absichtsvolle Ambivalenz zwischen Verteidigung und Anklage auszeichnet, nicht durch eine starre Alternative zwischen beiden. Besser ist daher eine Zweiteilung (so auch ODEBERG [1968], 190), die sich zudem auf klare stilistische Unterschiede stützen kann (siehe dazu unten) und die Funktion beider Teile klarer hervortreten lässt. 102 Ausnahmen sind neben der dreifachen Bekräftigung ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν (V. 19.24.25) nur die Verwendung der 1. Pers. Sing. in V. 24 im direkten Anschluss an die ἀμὴν-Formel, die sich durch das Zentrum des konzentrischen Aufbaus (siehe dazu unten Abschnitt Prozessmodulation) von V. 19–30 erklärt (vgl. THEOBALD [2009], 387), sowie die Verwendung der 1. Pers. Sing. in V. 30, die durch den Überleitungscharakter des Verses als Übergang zur konsistenten Verwendung der 1. Pers. Sing. in V. 30–47 bedingt ist (vgl. BEUTLER [2013], 197). 103 Die einzige Parallele einer ausführlichen Rede in der 3. Pers. ist die im Umfang kürzere Passage in Joh 3,14–21 (161 Wörter in NA28 gegenüber 170 Wörtern in Joh 5,19– 23.26–29), bei der aufgrund ihrer Stilistik jedoch unklar ist, ob es sich um Worte Jesu oder Worte des Erzählers handelt (siehe dazu oben Abschnitt 2.1). 104 Siehe dazu unten in diesem Abschnitt Reflexion der Prozess-Narration. 101

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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rahmt105 und durch die dreifache solenne Beteuerungsformel ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν (V. 19.24.25) strukturiert.106 Durch zahlreiche thematische Bezüge ist sie als Antwort auf den Doppelvorwurf der Juden in Joh 5,18 hinsichtlich Blasphemie und Sabbatbruch angelegt und wird durch den zweiten, sowohl formal als auch inhaltlich abgegrenzten Redeteil in V. 31–47107 als diskursiv groß angelegte Rede komplettiert. Konstruktion eines Prozess-Settings Mit dem Doppelvorwurf der Juden in Joh 5,18 ist ein forensisches Setting bereitet, vor dessen Hintergrund die forensischen Züge der Rede Jesu besonders hervortreten. Auf diesen Charakter der Rede weist bereits eine Fülle von forensischen Termini hin, die den Diskurs bestimmen. Der erste Redeteil ist dabei insbesondere von den Semantemen κρίνω (5,22.30) bzw. κρίσις (5,22.24.27.29.30), der moralischen Tatbewertung mit ἀγαθὰ ποιεῖν und φαῦλα πράσσειν (5,29),108 den jeweiligen juridischen Folgen als Kontrast zwischen θάνατος (5,24) bzw. νεκρός (5,21.25) und ζωή (5,24[2x].26[2x].29; vgl. auch V. 39.40) bzw. ζῳοποιέω (5,21[2x]) sowie durch die prominente Bezeichnung einer Richterrolle mit υἱὸς ἀνθρώπου (5,27) geprägt. 109 Dass ferner mit Joh 5,19 eine Rede Jesu eingeführt wird, die in der Einleitung ἀπεκρίνατο οὖν ὁ Ἰησοῦς ein weiteres Mal die klassische Form des Aorist Medium verwendet, nährt die Lesererwartung, dass im Folgenden ein diskursartiger Dialog stattfindet, in dem sich Jesus formell gegen die Anklage der Juden und weitere Anschuldigungen verteidigt.110 Tatsächlich zeigt die Rede thematisch zahlreiche Rückbezüge, durch die der Selbstanspruch als Sohn (V. 17) begründet wird: Als Sohn hat Jesus die denkbar engste und innigste Beziehung zum Vater

105 Joh 5,30 nimmt die Inhalte von Joh 5,19 in Form einer inclusio auf (so auch ZUMSTEIN [2016], 219), wie die parallele Satzstruktur zeigt: οὐ δύναται ὁ υἱὸς ποιεῖν ἀφ᾽ ἑαυτοῦ οὐδέν (Joh 5,19a) οὐ δύναμαι ἐγὼ ποιεῖν ἀπ᾽ ἐμαυτοῦ οὐδέν (Joh 5,30a). Aufgrund der damit gebildeten inclusio bezeichnet THYEN (2005), 309 den ersten Redeteil (Joh 5,19–30) als „kunstvolle ‚Ringkomposition‘“. 106 Vgl. dazu unten Abschnitt Prozessmodulation. 107 So dominiert in V. 31–47 die Rede in der 1. Pers. Sing.; vgl. zur thematischen Verschiebung Abschnitt 3.4. 108 Eine sehr ähnliche Kombination an Termini begegnete bereits in Joh 3,17–21; siehe zur forensischen Konnotation die Untersuchung dort (Abschnitt 2.2). 109 Siehe zu dieser Konnotation des Ausdrucks υἱὸς ἀνθρώπου unten in diesem Abschnitt Prozessmodulation. 110 Vgl. zu diesem vordergründigen, jedoch in der Forschung weitverbreiteten Eindruck LINCOLN (2000), 74; MYERS (2010), 137. Siehe dazu stellvertretend THYEN (2005), 309, der Joh 5,19–30 als „Jesu Apologie“ bezeichnet.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

(V. 19–29),111 hat als Sohn die gleiche Autorität (V. 21.22.27),112 die gleichen Rechte (V. 22.27)113 und das gleiche Wesen wie der Vater (V. 19–20.23.26)114 und erweist sich damit als höchstmöglicher Gesandter, Repräsentant und Offenbarer des Vaters. Diese Betonung der Wirkeinheit zwischen Vater und Sohn korrespondiert in zweifacher Weise als Verteidigung zu dem Doppelvorwurf von Sabbatbruch und Blasphemie: 115 Einerseits verteidigt Jesus in Bekräftigung seiner Worte in Joh 5,17 sein Wirken am Sabbat, indem er es aufs Engste an Gottes Wirken bindet und über dieses legitimiert.116 Dem entspricht auch die refrainartige Betonung der lebengebenden Vollmacht des Sohnes (V. 21.24–26.28), die sich in der Heilung des Gelähmten exemplifiziert. In einer Argumentation a minore ad maius wird die Heilung des Gelähmten in ihrem zeichenhaften Charakter so zum Symbol der größeren Werke (μείζονα τούτων ἔργα, V. 20) der lebengebenden und richtenden Tätigkeit Jesu.117 Andererseits wirkt die Rede als Verteidigung, indem Jesus den Vorwurf der Juden zurückweist, dass er sich Gott gleichmache (ποιέω)118 und sich so dem Vorwurf der Blasphemie entgegenstellt.119 Da dieser Vorwurf die gesamte Anklage der Juden im Evangelium durchzieht (Joh 5,18; 10,33; 19,7), 120 bekommt diese 111 Der Vater liebt den Sohn (5,20); es herrscht eine enge Abhängigkeitsbeziehung vom Sohn zum Vater (5,19). Alles, was der Vater tut, zeigt er dem Sohn (5,20). Jesus verweist mehrfach darauf, dass zwischen Vater und Sohn eine Wirkeinheit besteht. Er bezeichnet seine Werke als Werke des Vaters (5,20.36), in Jesus handelt damit der Vater (vgl. KÖSTENBERGER [2004], 432). 112 Der Sohn hat nach Joh 5,21 Autorität über den Tod und kann, wie der Vater, aus seinem eigenen Willen die Toten lebendig machen. Er hat ferner die Autorität des Richters (5,22.27). 113 Der Sohn hat, wie der Vater, das Recht, Gericht zu üben (5,22.27), von allen geehrt zu werden (5,23) und Leben aus sich selbst zu haben (5,26). 114 Siehe zur Wesensgleichheit FREY (2000b), 348. Das gleiche Wesen spiegelt sich darin wider, dass die Taten des Sohnes in exakter Übereinstimmung mit denen des Vaters sind (5,19f.). Dem Sohn gebührt folglich die gleiche Ehre wie dem Vater selbst (5,23). 115 Siehe zu dieser „Doppelstrategie“ der Verteidigung insbesondere THYEN (2005), 309. 116 Vgl. SCHNACKENBURG (1985), 126–128. 117 Siehe zu diesem Bezug der μείζονα τούτων ἔργα KÖSTENBERGER (2004), 187; SCHNACKENBURG (1985), 132. Damit wird als interne Analepse (vgl. dazu CULPEPPER [1987], 58) auf die Heilung des Gelähmten verwiesen (vgl. CARSON [1992], 252). 118 Nach FREY (2000b), 347 schließt die Rede Jesu „im Kontext an das Jesuswort V. 17 […] und den anschließenden Vorwurf der Selbsterhebung in V. 18 an und beschreibt präzisierend das Verhältnis des Wirkens Jesu zu dem Vater als größtmögliche Einheit bei gleichzeitiger Abwehr jeglicher Selbstmächtigkeit“. 119 Vgl. ASIEDU-PEPRAH (2001), 82: „The operative word which indicates the general theme of the statement is the verb ποιεῖν. The action which is indicated by ποιεῖν is negated in relation to the Son alone (οὐ … οὐδέν) and affirmed in relation to the Father and the Son (v. 19b).“ So auch BLANK (1964), 112. Siehe für rabbinische Parallelen auch ODEBERG (1968), 203–205. 120 Siehe hierzu THYEN (2005), 309.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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Verteidigung gleichzeitig eine zentrale Funktion in der gesamten Auseinandersetzung Jesu mit den Juden. Prozessmodulation Lässt die Einführung der Rede Jesu einen diskursartigen Dialog erwarten, bleibt ein solcher jedoch aus: Mit Joh 5,19–47 wird nicht nur völlig auf eine dialogische Auseinandersetzung verzichtet, sondern stattdessen vielmehr ein Monolog präsentiert, der die längste zusammenhängende Rede Jesu im ersten Teil des Evangeliums darstellt.121 Es ist geradezu paradox, dass ein Monolog, dem keine wörtliche Rede der Juden vorausging – diese sind seit Joh 5,12 stumm122 –, mit ἀποκρίνομαι eingeleitet wird, während umgekehrt den Juden vom Erzähler keine explizite Äußerung einer Anklage zugestanden wird123 und sich auf diese Weise in Form einer Mimesis die Anklage als juristisch inexistent erweist.124 Die Rede Jesu ist dadurch bewusst auf einer doppelten Ebene angelegt: Was vordergründig als Entgegnung auf den in V. 16.18 implizierten Vorwurf der Juden erscheint, entpuppt sich in Aufnahme atl. Motivik in Wahrheit als Verteidigungsrede, die zugleich Anklage- und Gerichtsrede ist. 125 121 Nach Joh 14,9–16,15 ist die Rede in Joh 5,19–47 sogar die zweitlängste zusammenhängende Rede Jesu im ganzen Evangelium. Dass WENGST (2000), 203 in der verbalen Auseinandersetzung mit den Juden in Joh 5,17–47 eine „extrem ungleiche Verteilung der Anteile, die die Gegenseite nicht wirklich zu Wort kommen lässt“, erkennt, ist somit angesichts dieses einzigartigen Monologs noch eine Untertreibung. Von einer „Verteilung der Anteile“ kann streng genommen gar nicht die Rede sein – die Juden kommen in der ganzen Episode von Joh 5,1–47 Jesus gegenüber kein einziges Mal zu Wort! 122 Tatsächlich kommen die Juden nach Joh 5,12 kein einziges Mal mehr zu Wort. Überhaupt lässt der Erzähler sie in der ganzen Episode Joh 5,1–47 nur zweimal zu Wort kommen: Die erste Aussage bildet die Beschuldigung gegen den Geheilten mit den Worten σάββατόν ἐστιν, καὶ οὐκ ἔξεστίν σοι ἆραι τὸν κράβαττόν σου (Joh 5,10). Die zweite und letzte Aussage ist nicht zufällig eine Frage: τίς ἐστιν ὁ ἄνθρωπος ὁ εἰπών σοιꞏ ἆρον καὶ περιπάτει (Joh 5,12). Damit wird auf subtile Weise ausgedrückt, dass die Juden bis zum Ende über die Identität Jesu in Unkenntnis bleiben. Dass sie dennoch versuchen, ihn zu töten, wirkt vor diesem Hintergrund paradox und drückt bereits durch die Form des Diskurses eine subtile Wertung des Erzählers aus (vgl. zur Charakterisierung durch Zuweisung von Redeteilen BAR-EFRAT [2006], 76–90; siehe ferner oben Kapitel I,3.1). Der geringe direkte Redeanteil der Juden verdeutlicht ferner in Form einer Mimesis, dass die Juden in der gesamten forensischen Auseinandersetzung nichts beizutragen haben. Und schließlich ist es kein Zufall, dass die letzten Worte der Juden gar nicht ihre eigenen sind, sondern (ungewollt) die Worte Jesu wiederholen (und damit narrativ bestätigen, anstatt sie anzufechten), die den ganzen Konflikt erst aufgebracht haben (ἆρον καὶ περιπάτει in Joh 5,12 als verkürztes Zitat der Worte Jesu in Joh 5,8). 123 Vgl. WENGST (2000), 207. 124 Siehe dazu THEOBALD (2009), 380. 125 In der bisherigen Forschung wurden die Aspekte von Verteidigung und Anklage Jesu als eine sich im Verlauf der Rede von Joh 5,19–47 ereignende Wende vom Angeklagten zum Ankläger und damit als Nacheinander unterschiedlicher Rollen Jesu aufgefasst (siehe dazu stellvertretend LINCOLN [2000], 73f.; LEE [1994], 107; THYEN [2005], 309). Obwohl damit

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Durch die formelle Einführung, die Initiative Jesu im Beginn der Rede,126 die bewusste Situationslosigkeit des Monologs,127 die solenne Eingangsformulierung ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν 128 sowie die ausbleibende Gegenrede der Juden wirkt der Monolog damit als einzige, unwidersprochene und absolute Gerichtsrede129 innerhalb des forensischen Prozesses und trägt somit – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Jesus selbst sich in V. 27 mit dem Richter assoziiert – die Züge eines richterlichen Urteils. Die Rede zeigt damit eine enge motivische Nähe zur Gerichtsrede Gottes als Antwort auf eine Anklage durch Menschen im atl. Rechtsstreit, die Züge einer Verteidigung trägt und sich aufgrund der Doppelrolle Gottes als Angeklagter und Richter sowie aufgrund des Prinzips der erfolgreichen Verteidigung in Form einer Anklageumkehrung immer zugleich Anklage- und Gerichtsrede erweist.130 Die erfolgreiche Verteidigung des Anspruches als Sohn gegenüber der menschlichen Gerichtsbarkeit muss sich zwangsläufig zugleich als Anklage eben jener Gerichtsbarkeit erweisen, die diese bestreitet. Folgerichtig betont die Rede in V. 19–30 stark die Rolle Jesu als Richter, indem sie sich in einer alternierenden Abfolge um die lebengebende und richtende Vollmacht des Sohnes zentriert. Ist die Heilung (V. 1– 15) Exemplifikation größerer Werke (μείζονα τούτων ἔργα, V. 20), so werden diese durch dieselbe Abfolge von Totenauferweckung und richterlicher

die Existenz einer doppelten Rollenkonstruktion richtig erkannt ist, wird diese Akzentsetzung der narrativen Darstellung nicht gerecht. Schon von Beginn der Episode Joh 5,1–47 an ist keine Bewegung zwischen Angeklagtem und Ankläger/Richter angedeutet, sondern vielmehr ein in der narrativen Darstellung bewusst angelegtes Nebeneinander zweier konfliktärer Rollenkonstruktionen, das dem Paradigmenkonflikt zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ entspricht (vgl. dazu oben Abschnitte 2.2–2.3 zu Joh 3,11–21 und Joh 3,31–36). 126 So auch SCHNELLE (2016), 143, der die Rede nicht als Re-Aktion, sondern als initiative Aktion begreift: „Dieser Konflikt bricht nicht unvermittelt über Jesus herein, denn nach der joh. Dramaturgie ist es Jesus selbst, der bewusst durch Wort und Tat die Konfrontation sucht.“ Dies entspricht ganz der Akzentsetzung der Initiative Jesu in der bereits analysierten Verhaftungsszene von Joh 18,1–12 (siehe oben Kapitel III,1.1), der Tempelreinigung in Joh 2,13–25 (siehe oben Abschnitt 2.1) sowie in der vorangegangenen Heilung von Joh 5,1– 9 (siehe oben Abschnitt 3.1). 127 Siehe dazu die Zitate von METZNER (1999), 178; THEOBALD (2009), 380 oben in Anm. 60. 128 Diese hat nach TRITES (1977), 95 „juridical force“ durch das replizierte ἀμήν; vgl. dazu auch schon oben Abschnitt 2.2 zu Joh 3,11. 129 Auch THYEN (2005), 307 sieht in der Einleitung und der Bekräftigungsformel einen „absoluten Anspruch“ der Rede. 130 Siehe für dieses Proprium der Rechtsstreitmotivik in den atl. Propheten und insbesondere für den für das Johannesevangelium in der Forschung als maßgeblichen intertextuellen Motivgeber erkannten Zusammenhang von Jes 40–55 die ausführliche Behandlung in Kapitel II,2.2–2.3.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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Tätigkeit des Sohnes in einer alternierenden Struktur sogleich zum Leitmotiv der Rede gemacht:131 Wirkeinheit des Sohnes mit dem Vater (V. 19–20) A1 Lebengebende Funktion des Sohnes (V. 21) B1 Richtende Funktion des Sohnes (V. 22–23) A2 Lebengebende Funktion des Sohnes (V. 24–26) B2 Richtende Funktion des Sohnes (V. 27) A3 Lebengebende Funktion des Sohnes (V. 28) B3 Richtende Funktion des Sohnes (V. 29) Wirkeinheit des Sohnes mit dem Vater (V. 30)

Dass dabei sowohl der Aspekt der Totenauferweckung als auch der des Gerichts genannt wird, ist nach der oben gegebenen Analyse der Heilung des Gelähmten nur folgerichtig:132 Schon in Joh 5,3.14 ist die Doppelfunktion Jesu als Lebensgeber (vgl. das doppeldeutige ἔγειρε in V. 8) und Richter (V. 14) angedeutet133 und erweist sich somit als integraler Bestandteil der Heilung im Sinne eines Zeichens.134 Damit wird die Heilung des Gelähmten zum symbolischen Zeichen für die größeren Werke Jesu, die sogleich als seine Vollmacht der

131

Einen direkten Bezug der μείζονα τούτων ἔργα auf die richterliche Vollmacht Jesu sieht auch FREY (2000b), 389. Siehe zu der um die richterliche Tätigkeit Jesu kreisende Struktur auch MOLONEY (1998), 183 und PANCARO (1975), 13f. Zudem weist BLANK (1964), 120 darauf hin, dass schon der Beginn der Rede (V. 21–23) programmatisch von der Doppelrolle als Lebensgeber und Richter spricht. Während mit V. 24 zugleich deutlich positivere Akzente in einer Einladung zum Heil gesetzt werden, muss doch die Tatsache, dass in der inclusio in V. 30 das Motiv der richterlichen Tätigkeit die einzige Erweiterung gegenüber der Eröffnung in V. 19 darstellt (THYEN [2005], 381 sieht darin eine „Ringkomposition“), als Hinweis gewertet werden, dass die Rolle Jesu als Richter nicht nur notwendig mitklingender Aspekt ist, sondern als wesentlicher Schwerpunkt von V. 19–30 fungiert. 132 Dies wird nicht von allen Forschern erkannt. So bemerkt ASIEDU-PEPRAH (2001), 86 zwar richtig: „His healing activity on the Sabbath is a sign of his life-giving activity“, sieht in der richterlichen Tätigkeit Jesu aber nicht mehr als den Hinweis auf ein Prärogativ Gottes, das keine inhaltliche Verbindung zur Heilung aufweist. Das wird aber der Prominenz des Motivs und seiner viermaligen Erwähnung in V. 22f.27.29.30 nicht gerecht. Allein die Tatsache, dass hier überhaupt von einem Richten gesprochen wird, sollte als klarer Hinweis auf die zugrunde liegende Thematik des Rechtsstreites angesehen werden. 133 Siehe dazu THEOBALD (2009), 384f.; LINCOLN (2000), 74. Theobald betont in Bezug auf die Heilung: „Beide Seiten – das Leben und das Gericht […] – werden von Jesus in seiner anschließenden Rede entfaltet.“ 134 Siehe dazu die Analysen oben (Abschnitt 3.1) sowie LINCOLN (2000), 75. Nach THYEN (2005), 311 sind die hier genannten ἔργα (Joh 5,20) synonym zu σημεῖα (vgl. Joh 2,23) verwendet; vgl. auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 86. Sowohl Totenauferweckung als auch die Richterrolle sind Prärogative Gottes und vermitteln damit den in der Heilung als Zeichen bezeugten christologischen Anspruch Jesu (FREY [2000b], 357).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Totenauferweckung und richterlicher Tätigkeit konkretisiert werden,135 sodass zugleich die ablehnende Reaktion des Gelähmten zum Paradigma der Juden gegenüber ihrem Richter wird.136 Die rhetorische Stoßrichtung liegt ganz auf der Betonung der Paradoxie, dass die Juden mit dem von ihnen Angeklagten niemand anderen als den Weltenrichter selbst vor sich haben.137 So wird bereits im ersten durch ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν markierten Redeteil (V. 19–23) mit V. 22 ein auffälliger Akzent gesetzt, indem mit der emphatischen Verneinung, dass Gott überhaupt richtet, zunächst ein wohlbekanntes und unumstößliches alttestamentliches Grundaxiom in den Augen der Juden negiert wird138 – nur um es im direkten Anschluss umso kraftvoller auf Jesus selbst als Sohn zu übertragen. Nicht nur ist der Sohn dem Vater gleich im Richten, sondern das Richten des Vaters geschieht im Richten des Sohnes (τὴν κρίσιν πᾶσαν δέδωκεν τῷ υἱῷ in Joh 5,22). Das Perfekt δέδωκεν deutet dabei eine präsentische Dimension an, nach der Jesus als derjenige, der vor den Juden steht, als Sohn die Vollmacht des Gerichts hat.139 Dieser Schwerpunkt entspricht ganz der Akzentsetzung am Ende des ersten Redeteils (V. 25–29), der damit eine Entsprechung zum ersten Abschnitt (V. 19–23) erkennen lässt:140 A ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν… B ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν… A' ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν…

Jesus als Weltenrichter (V. 19–23) Angebot der Rettung (V. 24) Jesus als Weltenrichter (V. 25–29)

Korrespondierend zu der Richterrolle Jesu wird in dem zu V. 19–23 parallelen und ebenfalls durch ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν eingeleiteten Redeteil in V. 25–29 die vollmächtige Übertragung des Gerichts an den Sohn über den Titel des 135

Siehe CARSON (1992), 252. Ferner sind die μείζονα ἔργα im Evangelium eine interne Prolepsis auf die Auferweckung des Lazarus (Joh 11), möglicherweise auch auf die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9). Doch im direkten Kontext muss neben dem Rückbezug auf die Heilung des Gelähmten vor allem als externe Prolepsis auf die eschatologische Totenauferweckung und das Gericht bezogen werden, die über den Erzählhorizont des Evangeliums hinausgehen (vgl. SCHNACKENBURG [1985], 132). 136 Vgl. dazu auch LINCOLN (2000), 75. 137 Siehe dazu ATTRIDGE (2002), 193; vgl. auch die Bezeichnung Jesu als „Fleisch gewordene[r] Weltenrichter“ bei THYEN (2005), 318. 138 Dies bemerkt auch BLANK (1964), 122; ebenso ZUMSTEIN (2016), 224: „Im ganzen Alten Testament ist das Gericht ein Privileg Gottes“; siehe zur festen Assoziation Gottes mit der Richterfunktion oben Kapitel II,2.3.2. 139 Siehe dazu ZUMSTEIN (2016), 224, nach dem die Perfektform δέδωκεν auf einen „Transfer, der in der Vergangenheit geschehen ist und die Gegenwart bestimmt“, hinweist. Indem der Sohn als Richter vor den Juden steht, wird eine „Historisierung der Eschatologie“ sichtbar (aaO., 224). 140 Auf diesen dreigliedrigen Aufbau weist auch THEOBALD (2009), 387 hin. Das Zentrum des dreigliedrigen Aufbaus ist zugleich dadurch markiert, dass Jesus nur in V. 24 von sich in der ersten Person spricht (aaO., 387).

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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Menschensohnes begründet (καὶ ἐξουσίαν ἔδωκεν αὐτῷ κρίσιν ποιεῖν, ὅτι υἱὸς ἀνθρώπου ἐστίν in V. 27). Dass hier mit υἱὸς ἀνθρώπου die einzige artikellose Verwendung des Ausdrucks im Evangelium (wie auch im ganzen NT) erscheint, ist zu Recht als direkter intertextueller Verweis auf die Gerichtsszene in Dan 7,13–14 gewertet worden,141 bei der der Menschensohn als vollmächtiger Mittler142 mit menschlichen und göttlichen Zügen als Herrscher über den Kosmos, Empfänger von Ehre (δόξα) und Verehrung (λατρεύω) sowie als Richter über alle Menschen erscheint (Dan 7,13–14 LXX).143 Genau wie im johanneischen Kontext erweist sich dabei die unendliche Überlegenheit der himmlischen über die irdische Gerichtsbarkeit gerade als Pointe der Darstellung. Dieselbe Akzentsetzung zeigt sich noch einmal in dem als inclusio fungierenden Abschluss des Redeteils in V. 30: War die gerichtliche Urteilsvollstreckung bei den Juden in Joh 5,18 mit ζητέω ausgedrückt, so setzt Jesus dem nun als ironischen Bezug mit οὐ ζητῶ τὸ θέλημα τὸ ἐμὸν ἀλλὰ τὸ θέλημα τοῦ πέμψαντός με (V. 30) entgegen, dass seine Urteilsvollstreckung gerecht ist (ἡ κρίσις ἡ ἐμὴ δικαία ἐστίν in V. 30 mit emphatischem und distanzierendem ἐμή). Damit wird nicht nur die Urteilsvollstreckung ironisch umgekehrt, sondern zugleich die Anklage und damit die Gerichtsbarkeit der Juden als ungerecht impliziert und selbst vor Gericht gezogen. Dass die Implikationen dieser Rollenverteilung in schärfstem Kontrast zu dem Verhalten der Juden und in größter Spannung zu dem von ihnen konstruierten Prozess-Setting steht, wird dabei in V. 23 expliziert:144 Die Vollmacht Jesu als Totenauferwecker und Richter bedingt, dass er so verehrt wird, wie der Vater selbst verehrt wird (ἵνα πάντες τιμῶσιν τὸν υἱὸν καθὼς τιμῶσιν τὸν πατέρα in V. 23).145 Die ganze Situation bekommt damit eine ironische Para141

So KEENER (2010a), 654; RISSI (2011), 794; KÖSTENBERGER (2009), 388; BROWN (1966), 220; MORRIS (1995), 283; ZUMSTEIN (2016), 28; RIDDERBOS (1997), 200f.; MOLONEY (1998), 183; gegen THYEN (2005), 316, der einen solchen Bezug aus wenig belastbaren Gründen für „höchst problematisch“ hält. Die artikellose Form entspricht der gr. Übersetzung der LXX in Dan 7,13 als förmliche Wiedergabe des indeterminierten aram. ‫בַ ר ֱאנָש‬. Auf die intertextuelle Verbindung weist ferner neben der eng an das δόθη αὐτῷ ἐξουσία von Dan 7,14 LXX angelehnte johanneische Formulierung in Joh 5,27 (vgl. ZUMSTEIN [2016], 228) die im vorherigen und nachfolgenden Kontext genannte Auferstehung der Gerechten und Ungerechten (Joh 5,25.28–29) hin, die sich im AT mit Dan 12,2 nur in einer Stelle findet, die eng mit der Gerichtsszene in Dan 7,13–14 verbunden ist (vgl. VON WAHLDE [2010], 235). Siehe zu einer ausführlichen Untersuchung der Bezüge zu Dan 7,13–14 auch FREY (2000b), 365–369 sowie zum atl. Kontext die Analyse oben in Kapitel II,2.2.3. 142 Vgl. zur Mittlerfunktion im johanneischen Kontext auch MORRIS (1995), 283. 143 Siehe dazu auch THOMPSON (2015), 131; vgl. auch FREY (2000b), 367, der die Szene in Dan 7 als „himmlischen Gerichtshof“ bezeichnet; ebenso auch JINDO (2014), 82. 144 Siehe dazu auch KEENER (2010a), 654: „The claim that the Son would participate in the judgment would probably shock most of Jesus’ hearers […].“ 145 Vgl. PREISS (1954), 75; LINCOLN (2000), 75. Zum ersten Mal im Evangelium wird damit die Ablehnung neben dem Aspekt des Unglaubens (vgl. Joh 3,12.18.36) als

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

doxie: Die Juden verurteilen ihren Richter als Angeklagten.146 Ist der Vorwurf der Blasphemie nach Ansicht der Juden gerade von dem vermessenen Umgang Gott gegenüber gekennzeichnet,147 werden in beißender Ironie die Ankläger damit selbst zu Angeklagten genau jenes Vergehens, das sie Jesus vorwerfen. Gerahmt von der Betonung der Autorität und eschatologischen Richterrolle Jesu rückt in V. 24 als mittlerem Teil der drei durch die Formulierung ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν gekennzeichneten Redeabschnitte von V. 19–30 in einer kurzen Wendung die Aussicht des Heils in den Vordergrund, auch wenn diese in der Struktur von V. 19–30 hinter den Rahmenteilen zurücktritt.148 Dabei wird – ganz in Entsprechung zur Heilung als Zeichen (V. 14) – die Ablehnung der Juden nicht als endgültig hingestellt, sondern mit der Einladung zum Glauben verbunden (V. 24a). 149 Die Kombination von ὁ … πιστεύων und ἔχει ζωὴν αἰώνιον verweist dabei anaphorisch auf die forensisch formulierten Aussagen in Joh 3,15.16.36.150 Die Fortsetzung καὶ εἰς κρίσιν οὐκ ἔρχεται (V. 24b) setzt als Bezug zu Joh 3,18151 jedoch dadurch einen paradoxen Akzent, dass die vor ihrem Richter stehenden Zuhörer noch im Rechtsstreit durch ihre Reaktion selbst die Wahl über das Urteil haben,152 während Jesus als Richter dieses nicht als definitives Verdikt, sondern im Sinne eines konditionalen Urteils als Konsequenz auf Glaube oder Unglaube präsentiert. Damit konvergieren gegenwärtige (V. 25) und eschatologische (V. 28–29) Aspekte des Gerichts in der Richterrolle Jesu.153 Diese Paradoxie weist darauf hin, dass die Rede Jesu in V. 19– Weigerung der Anerkennung eines Anspruches und als mangelnde Verehrung ausgedrückt. Siehe dazu auch LINCOLN (2000), 75. Diese Weigerung wird im Ausdruck ἀπειθῶν τῷ υἱῷ in Joh 3,36 allerdings schon angedeutet (vgl. zur Stelle oben Abschnitt 2.3). 146 Siehe zu dieser Paradoxie auch LINCOLN (2000), 77. 147 Nach THOMPSON (2015), 123f. stellen die Ansprüche Jesu über die Wirkeinheit mit dem Vater (V. 17) für die Juden „presumptuous claims“ und „presumptuous arrogance“ dar; ebenso KEENER (2010a), 647; BRUNER (2012), 312. 148 Siehe dazu oben Anm. 131. 149 So auch hervorgehoben von THYEN (2005), 313: „[Es] ergeht auf der Textebene die Einladung zum Glauben und die Verheißung ewigen Lebens an eben die Ἰουδαῖοι, die Jesus der Blasphemie zeihen.“ Ähnlich spricht BLANK (1964), 129 vom „Wort, in welchem das göttliche Lebensangebot an den Menschen ergeht“. 150 Siehe auch den Verweis auf Joh 3,16–19 bei LINCOLN (2000), 75 und insbesondere FREY (2000b), 370f. 151 Dass in der Formulierung εἰς κρίσιν οὐκ ἔρχεται (V. 24) ein intratextueller Verweis auf das οὐ κρίνεται in Joh 3,18 vorliegt, bemerken auch BLANK (1964), 131 und BULTMANN (1986), 193. 152 Vgl. zu dieser Paradoxie auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 88. Die Notwendigkeit der Reaktion in der Gegenwart hat auch SCHNELLE (2016), 145 hervorgehoben: „In der Begegnung mit dem Wort Jesu Christi entscheidet sich das Heil, denn es ist ein Leben spendendes Wort.“ 153 Vgl. RIDDERBOS (1997), 201; ASIEDU-PEPRAH (2001), 91 und LINCOLN (2000), 75f.; SCHNELLE (2016), 145. Siehe zur Diskussion präsentischer Eschatologie in Joh 5,19–30 ferner BLANK (1964), 133–143 und ausführlich FREY (2000b), 346–390.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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47 neben dem Rechtsstreit auf der menschlichen Ebene jüdischer Jurisdiktion zeitgleich auf einen metaphorischen Gerichtsprozess mit Jesus als Richter verweist, der selbst den eschatologischen Prozess in der Gegenwart vorwegnimmt154 und damit notwendig unbestimmt hinsichtlich des tatsächlichen Ausgangs bleibt. Eine solche Präfiguration ist fest in der atl. Rede Gottes als Teil metaphorischer Prozessdarstellung verwurzelt, die durch den imaginativen Charakter dazu dient, die Adressaten der Rede die Konsequenzen ihres Verhaltens antizipieren zu lassen und somit eine persuasive Funktion als Warnung erfüllt.155 Reflexion der Prozessmodulation In der Rede Jesu wird ein Prozess-Setting deutlich, das sich dem von den Juden in der erzählten Welt vorausgesetzten Setting grundlegend entgegenstellt. In diametraler Weise stehen sich mit der Sichtweise der Juden und der Sichtweise Jesu zwei konkurrierende Prozess-Settings gegenüber, deren Unterschiede sich nicht nur auf die forensische Rollenverteilung erstrecken, sondern daneben auch weitere Elemente wie die Bewertung von Handlungen, Grundlagen der Schuldbeurteilung, juridische Urteile und den Bezug zur ultimativen Richterrolle Gottes beinhalten (vgl. Tab. 5). Sicht der Juden (Setting A) Identität Jesu Handeln Gottes

Angeklagter Richten (vermittelt über die Juden) Handeln Jesu am Sabbat Todeswürdiges Vergehen gegen Gott Rolle der Juden Ankläger Opposition der Juden gegen Jesus Vermitteltes Handeln Gottes Haltung der Juden zu Gott Ehren Gottes Haltung Jesu zu Gott Blasphemie

Sicht Jesu (Setting B) Richter Richten (vermittelt über Jesus) Leben schenkendes Handeln Gottes Angeklagter Mangelndes Ehren Gottes Blasphemie Ehren Gottes

Tab. 5: Forensische Rollen in Joh 5,1–47.

Die Andeutung einer zum Prozess-Setting der erzählten Welt kontrastierenden Sichtweise geschieht subtil, ohne dass sie in allen Details explizit gemacht

154

Vgl. RIDDERBOS (1997), 201; ASIEDU-PEPRAH (2001), 91. Siehe hierzu Kapitel II,2.3. Nach ASIEDU-PEPRAH (2001), 88.96 ist der stark persuasive Charakter nach dem Muster der atl. Reden im Rechtsstreit ein besonderes Kennzeichen des Monologs Jesu und damit intrinsisch mit der Einladung zum Glauben verbunden. 155

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

wird.156 Es ist dabei von größter Bedeutung, dass Hinweise auf beide Settings vorhanden sind und beide in der Erzählung parallel verfolgt werden.157 Die Parallelität zweier sich diametral widersprechender Deutungshorizonte wird somit zu einem Deutungshinweis für den Lesenden, eine Neubewertung der Situation vorzunehmen.158 Diese Neubewertung der forensischen Situation entzündet sich an diametral entgegengesetzten Rollenbildern – und insbesondere der Paradoxie des angeklagten Richters –, muss aber in den folgenden Details vom Lesenden selbst als neue Sicht in den Details vervollständigt und anhand der Deutungshinweise des Textes interpretativ ausgefüllt werden. Funktional geht dies mit einem Erkenntnisprozess beim Lesenden einher, der eine vordergründige forensische Rollenverteilung in eine tieferliegende Sicht des Glaubens transformiert. Dieser beabsichtigte Erkenntnisfortschritt prägt auch die Gestaltung des Monologs selbst, wie insbesondere an der rhetorischen Funktion der Selbstbezeichnung Jesu in der dritten Person deutlich wird.159 Innerhalb der erzählten Welt verdeutlicht diese Form der Selbstbezeichnung zunächst das Zurücktreten Jesu hinter den Auftrag des Vaters und veranschaulicht so gegenüber dem Autonomievorwurf rein sprachlich die Abhängigkeit Jesu vom Vater in Form einer Mimesis. Daneben hat die Rede in der dritten Person jedoch auch eine persuasive Funktion. Durch die distanzierte Redeweise nimmt sich Jesus selbst verbal aus der Situation, um stattdessen auf den Sohn in seiner Position der Wirkungseinheit mit Gott und als Richter zu verweisen. Da die dabei stets nur implizit vorhandene Identifizierung Jesu mit dem Sohn erst im nächsten Redeteil (V. 31–47) vorgenommen wird, ermöglicht diese rhetorische Anlage den Juden das Umdenken, indem die Perspektive von der Person Jesu auf den Sohn 156

So ist etwa in der Aussage Jesu ἵνα πάντες τιμῶσιν τὸν υἱὸν καθὼς τιμῶσιν τὸν πατέρα (Joh 5,23) implizit enthalten, dass die Juden Jesus nicht ehren und damit auch Gott nicht ehren können. Die Schlussfolgerung bleibt jedoch dem Lesenden überlassen. Der Text selbst fungiert hier als Deutungshinweis für eine Neubewertung. 157 Dies ist etwa daraus ersichtlich, dass der Erzähler selbst die Rede Jesu mit der Einleitung ἀπεκρίνατο beginnt und auch inhaltlich zunächst als Verteidigung gegen die Vorwürfe der Juden darstellt. Während so bewusst das von den Juden vorausgesetzte Setting einer Verteidigung evoziert wird, ist parallel dazu ein Setting präsent, bei dem Jesus als Ankläger und Richter fungiert. 158 Schon bei der Erzählung der Heilung (Joh 5,1–15) veranlasst der Erzähler die Lesenden eindrucksvoll zu einer Neubewertung der Situation (vgl. dazu in narrativer Hinsicht CULPEPPER [1987], 208f.), indem die Information, dass die Heilung an einem Sabbat erfolgte, nachgeschoben (Joh 5,9b) und so eine vom Lesenden als gut bewertete Handlung zu einem potenziellen Vergehen wird (siehe zu dieser narrativen Funktion auch THYEN [2005], 303). Die in Joh 5,30–47 veranlasste Neubewertung ist gleichsam das Gegenstück dazu, indem sie der Anklage der Juden durch geänderte Rollen den Boden entzieht. Der Erzähler zeigt damit auf, dass die Anklage Jesu tatsächlich auf einer Misskonstruktion seiner Rolle und einem Verkennen seiner Identität beruht. 159 Siehe zu diesem Charakteristikum von V. 19–29 oben Anm. 102.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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gelenkt wird und zunächst in ein neues Glaubens- und Denkparadigma führt, bevor diese in Bezug auf Jesus konkretisiert wird. Damit gewinnt die Rede einen objektiven, distanzierenden Charakter, der ganz dem dreimaligen ἀμὴν ἀμήν entspricht.160 Auf der Ebene der Erzählwelt wird daraus gleichzeitig ein Hinweis des Erzählers, dass in der Rede Jesu Wahrheit verkündet wird, die auch für den Lesenden Relevanz besitzt.161 Ähnlich schließt das betonte πάντες in der Forderung nach Verehrung in V. 23 nicht nur die Juden explizit mit ein, sondern wird in seiner universellen Pointe zugleich ein indirekt an den Lesenden vermittelter Anspruch.162 Die durch Rede in dritter Person herbeigeführte Distanzierung wirkt damit auch auf der Erzählebene auf den Lesenden selbst, indem sie seine Aufmerksamkeit noch stärker auf eine beobachtende Außenperspektive führt. Sie unterstützt damit eine von den Lesenden vorgenommene Neubewertung des Settings, das sich ganz aus der Identität Jesu selbst ergibt.

3.4. Der Aufruf der Zeugen (Joh 5,31–47) Narrative Einbettung Mit dem zweiten Redeteil setzt sich der Monolog Jesu in Joh 5,19–47 fort. Dominierte in V. 19–30 die Selbstbezeichnung Jesu in der dritten Person, spricht Jesus in V. 31–47 ausschließlich von sich in erster Person und tritt damit auch narrativ selbst in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Mit dem überleitenden V. 30163 schließt sich durch die Betonung der völligen Abhängigkeit des Sohnes vom Vater (V. 19.30) einerseits eine inclusio um den ersten Redeteil,164 beginnt andererseits jedoch die für V. 31–47 so charakteristische Rede in der

160 Ähnlich auch THYEN (2005), 310, der anmerkt: „[Jesus] bringt … diese Relation des Sohnes zum Vater in seiner nun folgenden ‚Apologie‘ (V. 19–30) dadurch quasi objektiv zur Sprache, daß er … jetzt vorwiegend in dritter Person von ‚dem Sohn‘ und ‚dem Vater‘ spricht.“ 161 Insofern könnte man von einer ähnlichen Funktion wie im stilistisch parallelen Textabschnitt von Joh 3,14–21 sprechen (siehe dazu oben Abschnitte 2.2–2.3). 162 Siehe für die indirekte Adressierung der Lesenden auch THYEN (2005), 313 zu der folgenden Einladung zum Glauben in Joh 5,24: „Da aber dieser Vorwurf der todeswürdigen Gotteslästerung, den die maßgeblichen Repräsentanten Israels gegen Jesus erheben, zugleich auch jeden trifft, der an ihn als den vom Vater gesandten messianischen Gottessohn glaubt, ermutigt V. 24 auch den impliziten Leser dazu, sich durch solche Vorwürfe und Bedrohungen in seinem Glauben nicht beirren zu lassen, sondern vertrauensvoll an Jesu Verheißung des ewigen Lebens und der Rettung im Gericht festzuhalten.“ 163 THYEN (2005), 318 sieht Joh 5,30 als „Brücke der nun folgenden ‚Legitimation Jesu‘“ und damit als Übergang zwischen den Redeteilen. 164 Vgl. dazu schon BULTMANN (1986), 197.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

ersten Person und erweist den zweiten Redeteil damit inhaltlich als auf V. 19– 30 aufbauende, direkte Fortführung.165 Konstruktion eines Prozess-Settings Der zweite Abschnitt der Rede schließt inhaltlich und logisch an V. 19–30 an, indem er die dort vorgenommene Begründung der Autorität Jesu voraussetzt, ist jedoch von einem Wechsel der Thematik zur Zeugnismotivik geprägt. Dies zeigt sich auch durch die dominierenden Wortfelder. Während in der ersten Hälfte der Rede Semanteme der richterlichen Aktivität im Vordergrund standen (2x κρίνω, 5x κρίσις, 1x ἀγαθὰ ποιεῖν/φαῦλα πράσσειν, 1x υἱὸς ἀνθρώπου), dominiert nun deutlich der Topos des Zeugen mit μαρτυρέω (5,31.32[2x].33.36.37.39), μαρτυρία (5,31.32.34.36), ἀληθής (5,31.32), und κατηγορέω (5,45[2x]).166 Durch die Konzentration der Zeugnismotivik auf die ersten Verse (V. 31–34)167 kommt dem Beginn der Rede für die forensische Auseinandersetzung besonderes Gewicht zu. Der Diskurs selbst dreht sich um die Notwendigkeit und Angemessenheit von Zeugen für den Anspruch Jesu. Der Abschnitt weist mit den nacheinander genannten Zeugen so deutliche Merkmale eines Gerichtsprozesses auf, dass zu Recht davon gesprochen werden kann, dass Jesus „wie in einem Strafprozess nacheinander seine Zeugen“ vorstellt.168 Insgesamt werden vier Zeugen genannt, die für Jesus zeugen:169 Das Zeugnis des Johannes (V. 33–35),170 das Zeugnis der Werke des Vaters (V. 36), der Vater selbst (V. 37–38) und das Zeugnis der Schriften (V. 39–40). Die dabei ausschließlich im Präsens (V. 31.32[2x].36.39) und Perfekt (V. 33.37) verwendeten Formen von μαρτυρέω erwecken bewusst den Eindruck, als seien die genannten Zeugen in einem förmlichen Gerichtsprozess

165

Diese Beobachtung ist insbesondere für die Deutung des Zeugnisses in V. 31 von maßgeblicher Bedeutung; siehe dazu unten. 166 So schon BULTMANN (1986), 197; ebenso auch FREY (2000b), 325; vgl. auch BEUTLER (2013), 197: „Der Absatz Joh 5,31–40 ist durch das Wortfeld vom ‚Zeugnis‘ gekennzeichnet.“ Ebenso WEINRICH (2015), 604: „Jn 5:31–40 is governed by the idea of judicial witness.“ 167 Fünf der elf Derivate von μαρτυρ* im Redeabschnitt finden sich in den Eröffnungssätzen (V. 31–34); vgl. zu diesem Befund auch THYEN (2005), 319. 168 ZUMSTEIN (2016), 232; so auch schon BLANK (1964), 203: „Hier werden, wie in einem regelrechten Strafprozeß, nacheinander die Zeugen aufgerufen.“ 169 So die meisten Forscher. Der ambivalente Hinweis auf den ἄλλος (V. 32) ist bereits ein Hinweis auf das Zeugnis des Vaters (WENGST [2000], 215; LINCOLN [2000], 77; THEOBALD [2009], 409). Gelegentlich wird das Zeugnis der Werke mit dem Zeugnis des Vaters identifiziert (ASIEDU-PEPRAH [2001], 97; BEKKEN [2014], 130f.), sodass sich eine Anzahl von drei Zeugen ergibt. 170 Dieser ist im Johannesevangelium nicht als ‚Johannes der Täufer‘, sondern maßgeblich über seine zeugende Tätigkeit dargestellt (siehe dazu Kapitel III,2.2, Anm. 67).

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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gegenwärtig und kreieren damit ein metaphorisches Prozess-Setting, das über die Auseinandersetzung der erzählten Welt hinausgeht.171 Durch diese Zeugen erweckt die Rede zunächst den Eindruck einer erfolgreichen Verteidigung Jesu gegen die jüdische Anklage und führt damit ein Prozess-Setting fort, bei dem Jesus als Angeklagter vor dem Forum jüdischer Gerichtsbarkeit erscheint. Dabei stellt sich der Rekurs auf die vier genannten Zeugen vordergründig als Aufnahme der literarischen Figur des Verteidigungszeugen nach hellenistisch-römischer Prägung dar.172 Auch die Äußerung Jesu ἐὰν ἐγὼ μαρτυρῶ περὶ ἐμαυτοῦ, ἡ μαρτυρία μου οὐκ ἔστιν ἀληθής (V. 31), die als intertextueller Verweis auf das alttestamentliche Zeugenrecht aus Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15 zu werten ist,173 erweckt zunächst den Eindruck eines Zugeständnisses, durch das Jesus sich nicht nur dem Zeugenrecht als maßgeblicher Bestimmung des vorfindlichen Rechtsstreites und damit dessen Natur als zwischenmenschlichem Rechtsstreit zu unterwerfen, sondern zugleich seine Unfähigkeit, in eigener Autorität zu sprechen, einzugestehen scheint. Der Verweis bekommt so den Anschein eines Argumentes ad hominem, bei dem zugleich die Funktion des Zeugen entgegen seiner in Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15 vorausgesetzten Beschränkung auf anklagende Zeugen auf Entlastungszeugen transferiert wird.174 Damit ergibt sich ein vordergründiges Prozess-Setting, bei dem Jesus seine Ansprüche verteidigen und mit Zeugen in einer metaphorischen gerichtlichen Auseinandersetzung belegen muss. Prozessmodulation Zeigt die Häufung der Zeugenmotivik zunächst Anklänge an eine gerichtliche Verteidigung, weist sie zugleich gegenläufige Akzente auf, die ein solches 171 Vgl. dazu auch HARVEY (1976), 14f.; STIBBE (1992), 76–80; LINCOLN (2000), 74; MOLONEY (1998), 171. 172 Vgl. dazu SCHNELLE (2016), 150; THEOBALD (2009), 407; ZUMSTEIN (2016), 231, die die Rolle der vier Zeugen jedoch auf eine ausschließlich verteidigende Rolle engführen und damit die vordergründige Parallele zur griechisch-römischen Rechtspraxis zum alleinigen Deutungsschlüssel der Passage erheben. Diese Sichtweise erweist sich jedoch als verkürzt (siehe dazu unten in diesem Abschnitt Prozessmodulation). 173 In Joh 5,31 wird die Unmöglichkeit eines Selbstzeugnisses genannt, mit der nach der Mehrzahl der Forscher auf das atl. Zeugenrecht verwiesen wird. So bemerkt SCHNELLE (2016), 150 mit Verweis auf Dtn 19,15; Num 35,30; Dtn 17,6: „Unausgesprochener Ausgangspunkt ist dabei der Grundsatz, dass zumindest zwei Zeugen für die Wahrheit einer Sache einstehen müssen.“ Ebenso MORRIS (1995), 287; THOMPSON (2015), 133; ZUMSTEIN (2016), 232; KÖSTENBERGER (2007), 442f.; vgl. ferner die oben Kapitel II,2.3, Anm. 91. 174 So etwa BARRETT (1978), 264; THOMPSON (2015), 133; BEUTLER (1972), 256. Obwohl eine solche Deutung einem vordergründigen Eindruck entspricht, ist sie angesichts der alttestamentlichen Rechtsgrundlage des Zeugenrechts sowie angesichts der frühjüdischen, neutestamentlichen und frührabbinischen Rezeption unwahrscheinlich (siehe dazu ausführlicher unten).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Rollenverständnis unterlaufen. Sowohl der Bezug auf den hellenistischen Entlastungszeugen wie auch eine Uminterpretation des alttestamentlichen Zeugenrechts sind mit intrinsischen Problemen verbunden, die als Indiz dafür zu werten sind, dass der Erzähler trotz vordergründiger Assonanzen ein anderes Rollenverständnis in den Mittelpunkt der Darstellung rückt. So muss bezweifelt werden, dass der Topos eines hellenistischen Verteidigungszeugen vor Gericht als maßgeblich bildgebender Bereich der Rede zu werten ist.175 Ein solcher Befund ist vor dem Hintergrund einer dezidiert jüdischen Auseinandersetzung auf Basis der alttestamentlichen Vorschriften (vgl. auch den Verweis auf τὰς γραφάς in V. 39)176 und insbesondere im Hinblick auf das dabei selbstverständlich vorausgesetzte alttestamentliche Zeugenrecht (V. 31) 177 sowie die vollständig in alttestamentlich-jüdischen Vorstellungen verwurzelte Rolle des 175

Gegen SCHNELLE (2016), 150; THEOBALD (2009), 407; BECKER (1991a), 299; ZUM231f., die eine Verteidigung nach hellenistischem Vorbild sehen. Dabei überzeugen aber die angeführten Belege als Motivhintergründe nicht: Wie BECKER (1991a), 299 (und nach ihm ZUMSTEIN (2016), 231) einen hellenistischen Hintergrund mit einem Verweis auf die Untersuchung von BETZ (1972) zu begründen, die sich ausschließlich auf die Untersuchung von 2Kor 10–13 im Kontext der antiken Rede von Philosophen und Sophisten in sokratischer Tradition und außerhalb eines juristischen Kontextes beruft (BETZ [1972], 55), dabei Zeugen gar nicht thematisiert (und sogar den einzigen expliziten Bezug im untersuchten Abschnitt in 2Kor 13,1 völlig außer Acht lässt; vgl. BETZ [1972], 133), kann man nur in Umkehrung von Beckers eigener Einschätzung kommentieren: „Aber aufs ganze ist diese … Tradition vom Joh weit entfernt“ (BECKER [1991a], 299). Dagegen nennen SCHNELLE (2016), 150; ZUMSTEIN (2016), 232 noch das in SCHNELLE (2001), 311–318 [Neuer Wettstein] angegebene Material, das jedoch das Gegenteil eines Entlastungszeugen nahelegt: Die angegebenen Belege zu Joh 5,31 aus juristischen Kontexten in Cic.S.Rosc. 36.101–102; Demosth.Or. 46,9 beziehen sich nicht auf entlastende, sondern belastende Zeugen in der Anklage und sind damit nicht nur als Belege ungeeignet, sondern sogar Belege gegen die von Schnelle und Zumstein angestrengte Position eines Entlastungszeugen. Weitere Parallelen bei SCHNELLE (2001), 314–318 zu Joh 5,32–36 in Isoc.Or. 6,31–32; 17,54; 18,15; 21,4.14 belegen die unbestrittene Möglichkeit, in Rechtsstreitigkeiten wie Geldgeschäften auf Zeugen zu verweisen (und wurden bereits in der umfassenden Darstellung bei BEUTLER [1972], 45–50 abgehandelt), können aufgrund der fehlenden inhaltlichen Verbindungen zu Joh 5,31– 36 jedoch nicht als maßgeblich motivgebender Hintergrund gelten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Untersuchung von ATTRIDGE (2002), der nach einer ausführlichen Untersuchung zahlreicher Parallelen zwischen Joh 5 und Konventionen antiker Rhetorik den maßgeblichen Hintergrund nicht in hellenistischer Tradition sieht, sondern eine Beeinflussung durch alttestamentliche Rechtsstreitmotivik erwägt (aaO., 199). 176 Siehe zur atl. Verortung des Rechtsstreites im Johannesevangelium auch den Überblick in Kapitel III,2.2–2.3. 177 Siehe dazu oben Anm. 173; derselbe selbstverständliche Bezug auf das atl. Zeugenrecht findet sich in Joh 8,13 (vgl. dazu oben Kapitel III,2.3). Der Verweis auf das atl. Zeugenrecht wird freilich auch von den Vertretern eines hellenistischen Hintergrundes anerkannt (vgl. etwa SCHNELLE (2016), 150; ZUMSTEIN (2016), 232). Die starke atl. Verwurzelung des Disputes widerspricht einem Rekurs auf griechisch-römische Konzepte eines Verteidigungszeugen. STEIN (2016),

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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Weltenrichters in V. 19–30 nicht als maßgeblicher Akzent des Erzählers zu bewerten.178 Die Darstellung ist demgegenüber fest in einen dezidiert jüdischen Kontext des Rechtsstreites eingebettet. 179 Weitaus dominanter ist daher der Motivhintergrund des alttestamentlichen Rechtsstreites zwischen Gott und Menschen.180 Der Topos des Zeugen wird hier vor dem speziellen Hintergrund des alttestamentlichen Zeugenrechts gesehen, wie die Verweise auf Mose (V. 45f.), die Schriften (V. 39.46f.) und die Notwendigkeit von mehreren Zeugen (V. 31f.) zeigen, und entspricht der zentralen Anforderung im jüdischen 178 Die Verwurzelung in atl. Aspekten der Jurisdiktion und Jurisprudenz ist so deutlich, dass sie auch von Vertretern eines hellenistischen Hintergrundes nicht geleugnet werden kann. Wie dies jedoch damit zusammenpasst, dass die Rede „nicht vom jüdischen Prozessrecht geprägt“ ist (THEOBALD [2009], 407), bleibt dabei eine offen zutage liegende Inkonsistenz. So fehlt es nicht an Verweisen, dass die literarischen Hintergründe hier „umgedeutet“ würden (ZUMSTEIN [2016], 231) oder man „mit einer Verfremdung der Gattung ‚literarischer Rechtsstreit‘ zu rechnen“ habe (THEOBALD [2009], 408). 179 So auch HARVEY (1976), 47–52; THYEN (2005), 319; ASIEDU-PEPRAH (2001), 97; TRITES (1977), 100f.; BEKKEN (2014), 146f. Dagegen verwundert, dass BECKER (1991a), 299 das atl.-jüdische Prozessrecht nicht als maßgeblichen Hintergrund ansieht, weil „im jüdischen Prozeßrecht die Zeugenvernehmung im Mittelpunkt steht“, während er in Joh 5,9– 47 eine „Verteidigungsrede des Angeklagten“ nach griechisch-römischem Vorbild sieht (aaO., 299). Eine solche Einschätzung übersieht nicht nur, dass sich in Joh 5,31–47 eine Dichte des Wortfeldes μαρτυ* findet, wie sie sonst kaum belegt ist (siehe dazu Kapitel III,2.1), sondern auch, dass der jüdische Rechtsstreit mit einer bilateralen Phase beginnt, die ausschließlich aus den Reden von Ankläger und Angeklagtem besteht und Zeugen nur innerhalb der Rede benennt. Dass Joh 5,1–47 in der erzählten Welt einen solchen bilateralen Beginn eines jüdischen Rechtsstreites nach atl. Vorbild darstellt und damit die Verteidigungsrede zwangsläufig im Mittelpunkt stehen muss, hat die Untersuchung von ASIEDUPEPRAH (2001), 25–35 eingehend begründet (auch wenn die Darstellung freilich nicht auf ein solches beschränkt ist; siehe unten zu einem zusätzlichen metaphorischen Prozess-Setting der Darstellung). 180 Diese wird in der Forschung häufig als möglicher Hintergrund genannt, so etwa bei SCHNELLE (2016), 150; THEOBALD (2009), 407; ZUMSTEIN (2016), 231; BECKER (1991a), 299 (alle mit Verweis auf Jes 3,13f.; Jer 2; Hos 4,1ff., Mi 6,1–5; Jes 43,8–12; 46,6–11); BLANK (1964), 199f. (mit Verweis auf Jes 43,8–13; 44,7–9; 46,6–11); TRITES (1977), 102 (mit Verweis auf Jes 40–55); vgl. auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 14–24 (mit Verweis auf den bilateralen atl. Rechtsstreit) sowie zur Stelle (aaO., 98, mit Verweis auf Jes 1,2; Jer 2,12; Hos 6,1–2). Wenn ZUMSTEIN (2016), 231 gerade darin einen Unterschied zum Gerichtsprozess in prophetischer Tradition sieht, „dass Gott dort die Funktion des Anklägers und nicht die des Verteidigers übernimmt“, so zeugt das nicht nur von einer mangelnden Kenntnis der atl. Texte, sondern ist angesichts des in Kapitel II,2.3.2 festgehaltenen Befundes, dass Gott in jedem Rechtsstreit als Ankläger auftritt, schlichtweg falsch. Das Urteil Zumsteins übersieht, dass in der Mehrzahl der Stellen Gott im Rechtsstreit ausschließlich als Ankläger auftritt, und selbst dann, wenn er zu Beginn als Angeklagter erscheint, ausnahmslos den Rechtsstreit in einer Wendung zum Ankläger beendet. Dass angesichts der offensichtlichen Parallelen zu Joh 5,31–47, bei denen auch Zumstein eine Wendung von der Verteidigung zur Anklage bemerkt (aaO., 231), der atl. Hintergrund keine wesentliche Rolle spielen soll, kann nur verwundern.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Prozesswesen nach einem guten Charakter der Zeugen.181 Jesus selbst verweist auf das Prinzip des Zeugenrechts, nach dem ein einzelner Zeuge keinen Anspruch auf Gültigkeit haben kann, und verzichtet auf ein Zeugnis für sich selbst (V. 31). Obwohl damit zunächst auf einen Zeugen in der Verteidigung referenziert zu werden scheint, wird ein solches Rollenbild durch den stark alttestamentlichen Motivhintergrund der Rede unterlaufen. Die Annahme eines Entlastungszeugen steht nicht nur im Widerspruch zum alttestamentlichen Kontext des Zeugenrechts (wie überhaupt zur alttestamentlichen forensischen Rolle des Zeugen),182 der prädominant in der Anklage fungiert,183 sondern auch zur Rezeption des Zeugenrechts im Frühjudentum184 sowie im Neuen Testament185 181

Siehe hierzu HARVEY (1976), 20–22; ASIEDU-PEPRAH (2001), 98. Siehe dazu die Diskussion oben in Kapitel II,1.3.1. 183 Vgl. zum alttestamentlichen Zeugenrecht ausführlich Kapitel II,2.1. Nach SHERIDAN (2015), 180 wird die im atl. Zeugenrecht vorausgesetzte Anklagefunktion des Zeugen auch in frühjüdischen Quellen konsistent beibehalten (SHERIDAN [2015], 180). Die Inkonsistenz eines Bezugs auf eine behauptete Verteidigungsfunktion in Joh 5,31–47 sehen auch BROWN (1966), 223 und ASIEDU-PEPRAH (2001), 98. Brown bemerkt richtig, dass nach dem atl. Zeugenrecht „witnesses necessary to condemn a man“ (aaO., 223) im Blick sind; ebenso verweist Asiedu-Peprah auf den Kontext von Dtn 19,15, „where it is said that a person cannot be convicted of a crime“ (aaO., 98). Während Brown (ebd.) einen Ausweg in einer Erweiterung des Zeugenrechts in rabbinischen Quellen sucht (siehe dazu Anm. 184), verneint Asiedu-Peprah (ebd.) einen Bezug zu Dtn 17,6; 19,15 vollständig. Beide Schlussfolgerungen sind jedoch weder notwendig noch plausibel und übersehen, dass die Referenz auf das Zeugenrecht sehr absichtsvoll auf eine ambivalente Funktion der Zeugen hinweist, die im metaphorischen Setting des Rechtsstreites im Johannesevangelium eine anklagende Funktion gewinnt (siehe dazu schon oben die Analysen zu Joh 1,19–34 in Abschnitt 1.2 sowie zu Joh 3,11.32 in Abschnitt 2.2). Ferner übersieht eine Erweiterung des Zeugenrechts auf die Verteidigung, dass eine verteidigende Aussage des Angeklagten als Selbstzeugnis nach atl. Zeugenrecht gar nicht ausgeschlossen, sondern geradezu gefordert ist (siehe dazu unten Anm. 186). Der Verweis auf das atl. Zeugenrecht gewinnt überhaupt nur dann einen sinnvollen Bezug, wenn Jesus sich selbst in der Anklage voraussetzt. 184 Auch im außerbiblischen Frühjudentum wird die Funktion des Zeugen prädominant in der Anklage gesehen; siehe dazu die Diskussion in Kapitel II,1.3.3. Eine Erweiterung auf beliebige Belange, wie sie etwa BROWN (1966), 223 mit Verweis auf mKet 2,9 postuliert, findet sich erst in rabbinischen Quellen und dort auch nur in alltäglichen Rechtsfragen wie etwa Vertragsschlüssen und nicht in forensischen Kontexten. Auch der von Brown als einziger Beleg genannte Hinweis in mKet 2,9 fällt in diese Kategorie; siehe dazu oben in Kapitel II,1.3.3, Anm. 140). Von den in Kapitel II,1.3.2–1.3.3 diskutierten frühjüdischen Belegen fand sich kein einziger Beleg für eine dezidiert verteidigende Funktion des Zeugen, vielmehr behält auch die Rezeption des Zeugenrechts im Frühjudentum die prädominante Anklagefunktion des Zeugen bei, der entweder initial als Ankläger oder auf der Seite des Angeklagten in der Gegenanklage gegen den Ankläger auftritt und damit immer anklagende Funktion hat (siehe zu diesem Proprium auf das atl. Zeugenrecht zurückgehende Proprium des atl.jüdischen Rechtsstreites auch Kapitel II,2.1). 185 Die Voraussetzung einer Anklage zeigt sich nicht nur in außerbiblischen Schriften des Frühjudentums, sondern wird zugleich in jeder Stelle, in der im NT das atl. Zeugenrecht 182

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

229

und macht damit den argumentativen Wert der Aussage Jesu bereits in der erzählten Welt unplausibel.186 Ferner steht die Voraussetzung eines Entlastungszeugen auch in Spannung zu Aussagen des direkten (οὐ παρὰ ἀνθρώπου τὴν μαρτυρίαν λαμβάνω, V. 34) und weiteren (Joh 8,14; 18,13–23; 19,11) Kontextes, in dem Jesus die Unterordnung unter eine menschliche Gerichtsbarkeit emphatisch verweigert.187 Die Annahme, dass Jesus entlastende Zeugen in einem Argument ad hominem nennt, 188 steht ferner im Widerspruch zur Tatsache, dass sich die letzten drei von Jesus genannten Zeugen (das Zeugnis der Werke des Vaters, V. 36; der Vater selbst, V. 37–38; das Zeugnis der Schriften, V. 39– 40) nicht recht in ein menschliches Gerichtsverfahren einfügen wollen, und wirft vielmehr die Frage auf, ob sich Jesus tatsächlich einer menschlichen Gerichtsbarkeit unterwirft. 189 Eine solche Vorstellung stände in Spannung zur spezifisch johanneischen Akzentsetzung, dass sich im Sohn Gott selbst im rezipiert wird, vorausgesetzt. Damit wäre Joh 5,31 die einzige Stelle des NT, in der trotz der expliziten Verweise auf das atl. Zeugenrecht von Dtn 17,6; 19,15 eine verteidigende Rolle impliziert wäre. Diese Inkonsistenz bemerkt auch BROWN (1966), 223: „Nevertheless, all these other examples in the OT and the NT are different from John’s use of the principle […]. John is not dealing with witnesses necessary to condemn a man, but with witnesses to confirm someone’s testimony.“ Ob die Verwendung in Joh 5,31 sich tatsächlich von allen anderen atl., ntl. und den zahlreichen frühjüdischen Belegen unterscheidet, ist jedoch fraglich. Richtig dagegen sieht MICHAELS (2010), 324, dass der Verweis auf das Zeugenrecht bewusst ambivalent angelegt ist und Jesus als Ankläger voraussetzt, der nun seine Zeugen aufruft. 186 Vgl. dazu MICHAELS (2010), 480. Insbesondere wäre problematisch, dass sich die Aussage Jesu über die Ungültigkeit eines einzelnen Zeugen im Fall einer Verteidigung gar nicht auf das atl. Prozessrecht berufen könnte (und damit jeder intertextuelle Verweis unplausibel wäre): Das atl.-jüdische Zeugenrecht erlaubt nicht nur die Aussage eines Einzelnen in der Verteidigung, sondern sieht diese sogar vor. Ein Angeklagter benötigt neben seiner eigenen Aussage keine weiteren Zeugen, weil die Beweislast allein aufseiten der Anklage liegt. Zeugen werden erst dann benötigt, wenn der Angeklagte zur Gegenanklage übergeht und damit eine Anklageumkehrung vornimmt (siehe zu diesem Befund ausführlich Kapitel II,2.1). Es ist daher plausibler, genau diesen Fall der Anklageumkehrung auch in Joh 5,31–47 anzunehmen. 187 Siehe dazu auch MYERS (2010), 140. Dass sich Jesus mit V. 34 vom menschlichen Zeugnis überhaupt unabhängig zeigt, bestätigt auch THEOBALD (2009), 410. Diese Akzentsetzung war bereits in der Untersuchung zu Joh 18,13–23 (Kapitel III,1.1–1.2) und Joh 19,11 (Kapitel II,1.3) erkennbar. Siehe zu Joh 8,14 die Untersuchung unten in Abschnitt 4.2. 188 Siehe zu Vertretern dieser Position oben Anm. 174. 189 Jesus beschreibt sich in Joh 5,34 (sowie ferner in 8,14; 19,11) klar außerhalb jeglicher menschlichen Gerichtsbarkeit. Weshalb er überhaupt Zeugen annimmt, zeigt sich in V. 34: Er nennt nicht deshalb Zeugen, weil er sich in einem Prozess verteidigen möchte, sondern um seine Kontrahenten zu überführen, zur Einsicht zu bringen und ihnen damit die Rettung zu eröffnen (ἵνα ὑμεῖς σωθῆτε, V. 34). Die Kausalreihenfolge von Anklage – Überführung – Einsicht – Rettung findet sich nicht nur im Motivkomplex des atl. Rechtsstreites Gottes mit Menschen (siehe Kapitel II,2.2.1 und II,2.3.5), sondern auch prominent in Joh 3,11–21 (siehe dazu oben Abschnitt 2.2) und 3,31–36 (siehe dazu oben Abschnitt 2.3).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Prozess mit Menschen befindet und sich darin kaum vor einer menschlichen Gerichtsbarkeit verteidigen wird. Eine maßgeblich als Verteidigung gestaltete Rede wäre nach dem unüberbietbaren Anspruch Jesu als Weltenrichter (V. 22– 27) geradezu antiklimaktisch und schlechterdings unvorstellbar. Die narrative Anlage der Rede spricht vielmehr dafür, dass das Zeugenrecht in Übereinstimmung mit seiner alttestamentlichen Bedeutung und frühjüdischen Rezeption als Hinweis zu werten ist, dass sich Jesus primär in der Rolle des Anklägers sieht, der nun seine Belastungszeugen nennt und damit die Anklage auf seine Ankläger zurückwendet. 190 Die Verweigerung eines Selbstzeugnisses (V. 31) ist dementsprechend am besten als Negation einer autonomen Ausübung des Zeugnisses zu verstehen, durch die der Sohn unabhängig vom Vater zeugen würde, und entspricht damit ganz der Akzentsetzung der Abhängigkeit des Sohnes vom Vater im direkt vorausgehenden Satz (V. 30) wie auch im vorherigen Redeteil von V. 19–30 insgesamt.191 Wie in V. 19–30 im Hinblick auf die richtende Tätigkeit des Sohnes soll in der Aussage in V. 31 nicht geleugnet werden, dass der Sohn innerhalb der Wirkeinheit mit dem Vater durchaus für sich selbst zeugen könnte192 (mithin aber gar nicht müsste), sondern die Abhängigkeit des Sohnes vom Vater soll betont werden, innerhalb der der Sohn nicht nur die größte Autoritätsstellung als Menschensohn, Weltenrichter und folglich auch als Ankläger innehat, sondern zugleich selbst in seinem Zeugnis beglaubigt ist, wie die Fortsetzung in V. 32 erweist.193 Damit wird in logischer Konsequenz der Stellung Jesu als göttlicher Weltenrichter im Anschluss an das Motiv des atl. Rechtsstreites Gottes mit der Welt wie in Jes 43,10.12; 44,8 mit 190 So richtig MICHAELS (2010), 324 nach Diskussion der Funktion des Verweises auf Dtn 19,15: „This ruling was for the protection of the accused. Here Jesus is the accused (vv. 16, 18), yet he introduces the principle as if he were the prosecutor, admitting that his testimony alone is not sufficient to convict his adversaries of a crime. He needs at least one more witness (see vv. 32–40). This creates an ambiguity for the reader. Who exactly is on trial here, Jesus or ‚the Jews‘? The tables are being turned, right before our eyes. Jesus the prosecutor now calls his Witness.“ 191 So THYEN (2005), 319f.: „Überall in unserem Evangelium […] tritt Jesus ständig als Zeuge ‚in eigener Sache‘ auf. Und doch steht all das unter der ständigen Prämisse, daß er nichts von sich selbst her tut noch überhaupt tun kann“; ähnlich ASIEDU-PEPRAH (2001), 98. Dies gilt insbesondere im direkten Kontext, in dem Jesus mit V. 30 die Rede in der 1. Pers. Sing. beginnt und programmatisch feststellt οὐ δύναμαι ἐγὼ ποιεῖν ἀπ᾽ ἐμαυτοῦ. Im direkten Kontext ist die Aussage in V. 31 somit eine Anwendung dieses Prinzips in Bezug auf das Zeugnis; vgl. auch BEKKEN (2014), 129f. In diesem Sinne erweist sich die Betonung dieser Abhängigkeit in V. 30 durch den Übergangscharakter des Verses (siehe dazu oben) als wichtiger Deutungsschlüssel für V. 31. 192 Dass Jesus selbst in der Rolle des Zeugen auftritt, ist dem Lesenden seit Joh 3,11.32 selbstverständlich vertraut (siehe dazu oben Abschnitt 2.2) und wird auch in der weiteren Erzählung herausgestellt (vgl. etwa Joh 7,7 und insbesondere die Feststellung in Joh 8,14, mit der Jesus emphatisch betont, durchaus für sich selbst Zeugnis ablegen zu können). 193 Siehe THYEN (2005), 319f.; ähnlich LINCOLN (2000), 84f.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

231

Johannes ein menschlicher Zeuge genannt, um den Anspruch als Sohn zu bekräftigen.194 Da sich jedoch die anderen drei in V. 32–47 genannten Zeugen des Vaters (V. 32.37–38), seiner Werke (V. 36) und der Schrift (V. 39.45–46) durch ihren übernatürlichen Charakter nicht recht in einen menschlichen Rechtsstreit einfügen wollen, wird der Rechtsstreit zwangsläufig in den Bereich des Rechtsstreites Gottes mit der Welt gestellt, in dem Gott selbst als Ankläger, Zeuge und Richter auftritt. Dass damit die Rede Jesu zunächst und zugleich verteidigende Aspekte aufweist, ist fest in der alttestamentlich-jüdischen Tradition und dem Motivhintergrund des Rechtsstreites Gottes mit der Welt verwurzelt, in denen eine erfolgreiche Verteidigung immer zugleich eine Anklage des Anklägers ist.195 Die Rolle Jesu als Richter, der Verweis auf das atl. Zeugenrecht, die von Jesus genannten menschlichen (Johannes) und übernatürlichen (der Vater, die Werke des Vaters, die Schriften) Zeugen und die Zuführung der zuletzt genannten Zeugen in der Anklage (Mose als Ankläger in V. 45) verweisen damit auf einen dezidiert alttestamentlichen Hintergrund,196 in dem Gott selbst sich in seinem Anspruch vor der durch die Juden repräsentierten Welt verteidigt, indem er die Anklage – ganz in Übereinstimmung mit der in Entsprechung zu diesem Proprium des alttestamentlich-jüdischen Rechtsstreites – auf seine Ankläger zurückwendet.197 Die so ausgewiesene Ambivalenz der Verteidigung als Gegenanklage zeigt auch der Inhalt des genannten Zeugnisses. So zeichnet sich der Verweis auf das Zeugnis des Johannes mit μεμαρτύρηκεν τῇ ἀληθείᾳ (V. 33) durch seine fehlende inhaltliche Präzision aus, die zusammen mit ἀπεστάλκατε πρὸς Ἰωάννην (V. 33) als direkter Verweis auf das Zeugnis des Johannes in Joh 1,19–34 (und Joh 3,27–36) gewertet werden muss.198 Das Zeugnis des Johannes ist folglich inhaltlich ganz auf die Doppelrolle des Lichts als rettend und richtend bezogen und ist auf diese Weise Verteidigung und Anklage in einem.199 Auffallend wird jedoch Johannes (entgegen Joh 1,8) nun selbst als ὁ 194

Siehe zur starken motivischen Verwurzelung im Rechtsstreit von Jes 44–50 auch LIN79.81; TRITES (1977), 102. 195 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel II,2.1 und II,2.3. 196 So auch LINCOLN (2000), 81; SCHNACKENBURG (1985), 171; BLANK (1964), 199f.; vgl. zum atl. Proprium der Verteidigung als Angriff insbesondere Kapitel II,2.1. 197 Die Forschung hat die Rede meist unter dem Aspekt einer Verteidigungsrede gesehen, die sich schließlich zur Anklage wendet (so etwa LINCOLN [2000], 80f.; ASIEDU-PEPRAH [2001], 110). So richtig damit das Vorhandensein verteidigender und anklagender Elemente erkannt wurde, so unzureichend erweist sich jedoch ein Zugang, bei dem die Funktion entweder als Verteidigung oder Anklage gesehen wird. So sieht LINCOLN (2000), 80 erst in V. 43 den Beginn einer Wende von der Verteidigung zur Anklage. Ein wesentlicher Akzent der narrativen Darstellung besteht jedoch im gleichzeitigen Nebeneinander beider Aspekte und ihrer notwendigen Verbindung vor dem Hintergrund des atl. Rechtsstreites. 198 So auch WENGST (2000), 216; KÖSTENBERGER (2004), 191, die hier einen Rückgriff auf Joh 1,19–28 sehen. 199 Siehe dazu oben Abschnitte 1.2–2.2. COLN (2000),

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

λύχνος ὁ καιόμενος καὶ φαίνων (V. 35) gesehen und dadurch in seinem Zeugnis in die einerseits hinweisende, offenbarende und heilschaffende, dabei aber zugleich bloßstellende und richtende Funktion des Lichts in der Lichtmetaphorik des Evangeliums einbezogen.200 Das mit αὐτὰ τὰ ἔργα ἃ ποιῶ μαρτυρεῖ (V. 36) eingeführte Zeugnis der Werke muss im Kontext zunächst auf das Zeichen der Heilung in Joh 5,1–15 bezogen werden und zeigt damit dieselbe Akzentsetzung einer Verbindung von richtendem und rettendem Wirken Jesu.201 Insoweit die unspezifische Formulierung τὰ ἔργα jedoch gleichzeitig als Verweis auf die gesamten im Evangelium erzählten Werke ausgeweitet werden kann,202 wird durch die Funktion der Werke als Zeugnis die Vorstellung eines Prozesses evoziert, in dem das Leben Jesu nicht nur ganz umfassend verhandelt wird, sondern zugleich als Zeugnis gegen die Welt im Sinne von Joh 1,4–5; 3,19.32; 7,7 erscheint.203 Das Zeugnis der Schriften (V. 39) schließlich konkretisiert sich in V. 45–47 im Pentateuch und somit personifiziert in Mose (V. 45), der als letzter Zeuge im Rechtsstreit durch die Schriften und ihr christologisches Zeugnis präsent ist.204 Die Zeugenaufrufung in V. 31–47 macht damit explizit, was vorher stets implizit war: Die Zeugen haben in ihrer ambivalenten Funktion immer zugleich anklagende Funktion.205 Dass die Rede Jesu mit einer Frage endet und kein weiterer Ausspruch der Juden mehr genannt wird, dient als narratives Mittel dazu, die Juden als stumm und verurteilt darzustellen.206 200

Vgl. dazu auch WENGST (2000), 216. THEOBALD (2009), 411f.; BEUTLER (1972), 259 sehen darin einen Verweis auf die im Zeichen der Heilung des Gelähmten exemplifizierten auferweckenden und richtenden Tätigkeit Jesu. 202 So auch CARSON (1992), 261; RIDDERBOS (1997), 203; SCHNELLE (2016), 151. 203 Siehe dazu auch MICHAELS (2010), 326. 204 Möglicherweise ist in Anschluss an V. 37b insbesondere an den Propheten wie Mose aus Dtn 18,15–18 gedacht; vgl. TRITES (1977), 102; RIDDERBOS (1997), 207. 205 Nach BLANK (1964), 203; LINCOLN (2000), 81 wendet sich hier die Verteidigung zur Anklage. 206 Dieser auffällige Zug am Ende der Rede wird selbst in den narrativen Untersuchungen von LINCOLN (2000), 81; BEUTLER (2013), 200f.; MOLONEY (1998), 193 nicht genannt. Das Fehlen einer Antwort des Angeklagten oder eines explizit ausgesprochenen Urteils ist in der atl. Rechtsstreitdarstellung jedoch ein gängiges narratives Mittel, um die Schuld des Angeklagten umso wirkungsvoller herauszustellen und die Verurteilung zu implizieren; siehe dazu oben Kapitel II,2.3.4. Das Urteil Bultmanns stimmt daher nur bedingt: „Ein Verfahren, das den Bestimmungen des jüdischen Prozeßrechtes entspricht, will der Evglist nicht schildern, wie schon daraus hervorgeht, daß ein Ergebnis nicht berichtet wird“ (BULTMANN [1986], 182). Auch die Einschätzung von RIDDERBOS (1997), 190 überrascht. Läge Ridderbos mit der Auffassung richtig, dass die Tatsache, dass nur Jesus allein redet und kein explizites Urteil genannt wird, gegen die Darstellung als Gerichtsprozess spricht („there is nothing about a trial – no verdict or adjournment“), läge damit zugleich die Forschung falsch, die in den prophetischen Texten des AT eben jene Monologe ohne explizites Verdikt als Gerichtsszenen bezeichnet (siehe dazu Kapitel II,2.3.4). Die Einschätzung von Ridderbos übersieht, dass die monologische Gerichtsrede Gottes ohne explizites Urteil eine wesentliche 201

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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Die dabei eingesetzten narrativen Mittel erinnern an den atl. Rechtsstreit, in dem die offene Frage, der unwidersprochene Monolog und der stumme Angeklagte stets eine offensichtliche Verurteilung implizieren.207 Der lange Monolog Jesu erscheint damit als Gerichtsrede Gottes im Rechtsstreit mit Menschen, bei dem die Welt (repräsentiert durch die Juden) als stummer und verurteilter Angeklagter zurückbleibt.208 Mit Joh 5,31–47 tritt neben die vordergründige Situation der Strafverfolgung durch die Juden eine deutlich metaphorische Darstellungsebene in den Vordergrund, bei der ein anschauliches Prozess-Setting mit nacheinander aufgerufenen Zeugen evoziert wird. Während die Auseinandersetzung in der erzählten Welt Teil einer juristischen Strafverfolgung und Konfrontation Jesu mit den Vorwürfen als Teil eines bilateralen Rechtsstreites sind, wird auf der metaphorischen Ebene ein vollständiges ProzessSetting eines trilateralen Gerichtsprozesses erkennbar. Dieses ist als Prozess Gottes mit der Welt, der Wende von der Verteidigung zur Anklage, der Aufrufung von Zeugen sowie der Doppelrolle Jesu als Ankläger und Richter fest in alttestamentlicher Motivik des Rechtsstreites verwurzelt. Reflexion der Prozess-Narration Durch den zweiten Teil der Rede Jesu wird die narrative Darstellung als Makro-Prozess weitergeführt und erreicht nach der Vorstellung von Johannes als Zeuge (Joh 1,19–34) und der ersten Begegnung Jesu mit den Juden (Joh 2,13–22) mit einem formellen metaphorischen Gerichtsverfahren ihren vorläufigen Höhepunkt. Gleichzeitig setzt sich damit auch die rhetorische Funktion fort, durch die eine Gerichtsrede stark persuasive Funktion hat. Weist bereits die Rede vor Gericht im literarischen Prozess-Setting der griechischrömischen Welt wie auch im alttestamentlichen Rechtsstreit auf eine persuasive rhetorische Funktion hin, die auf die Überzeugung der Richter und Prozesszuschauer abzielt, so wird dies durch die Aussage Jesu in V. 34 erstmals explizit formuliert. Die Rede zeigt in beiden Redeteilen einen auffälligen Akzent darin, dass der Rechtsstreit als anklagender und verurteilender Prozess maßgeblich unter dem Ziel der Rettung steht (Joh 5,24.34).209 Was zunächst als Paradoxie erscheint, erweist sich jedoch nicht nur in Joh 3,11–21.31–36 als fester Bestandteil johanneischer Prozessmetaphorik, sondern ist bereits durch rhetorische und persuasive Funktion erfüllt und sich gerade durch dieses Proprium auszeichnet (vgl. dazu ausführlich Kapitel II,2.3.). Richtig dagegen THYEN (2005), 309, der die stumm bleibenden Juden zu Recht als Erweis der Gültigkeit der Anklage Jesu deutet. 207 Siehe zu diesen Techniken, insbesondere im Rechtsstreit von Jes 40–55, die Darstellung in Kapitel II,2. 208 Während die wörtliche Rede Jesu in Joh 5,19–47 insgesamt 516 Wörter umfasst (nach NA28), wird den Juden kein einziges Wort direkter Rede vom Erzähler zugestanden (weder vor noch nach dem Monolog Jesu). 209 Vgl. dazu LINCOLN (2005), 206; KLINK (2016b), 292; MICHAELS (2010), 326.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

den atl. Motivhintergrund des Rechtsstreites maßgeblich vorgegeben. Damit wird auch im metaphorischen Makro-Prozess des Evangeliums zunehmend deutlicher, dass auch die Lesenden selbst in den Prozess involviert sind. Die rhetorische Kraft der Gerichtsrede Jesu zielt zugleich auf den Lesenden selbst, der unweigerlich eine Beurteilung in der Rechtssache vornimmt und damit zugleich als Teil eines kollektiven Richterkollegiums erscheint. Der Weltenrichter wird durch seine Geschöpfe zum Prozess und zum Aufstellen von Zeugen aufgefordert. Die Kontrahenten der forensischen Auseinandersetzung werden damit zu Paradigmen einer Glaubenshaltung: Die Juden auf der einen Seite erscheinen als Vertreter einer beschränkten Sichtweise, die die höhere Ebene der Wirklichkeit nicht sieht; die Rede Jesus dagegen zeigt dem Lesenden eben jene höhere Ebene der himmlischen Wirklichkeit auf. Die doppelte Ebene der Darstellung, in der die Erzählerhinweise selbst von einer Ambivalenz geprägt sind, die zwei Deutungsrichtungen ermöglicht, hat damit eine elementare Funktion. Durch die Mittelposition des Lesenden wird dieser selbst vor die Notwendigkeit gestellt, Position zu beziehen. Der Lesende wird damit geschickt in eine Mittelposition rangiert, von der aus er die Positionen beider Konfliktparteien nachvollziehen kann und unweigerlich selbst urteilt. Einerseits kennt er den himmlischen Ursprung des Logos zusammen mit seiner Nähe zum Vater, andererseits ist er selbst Mensch und kennt die Gegebenheiten und Verfahrensweisen gerichtlicher Prozesse und Beweisverfahren.210 Der Lesende wird in einen Erkenntnisprozess geführt, der seine Sichtweise zugunsten einer neuen Perspektive transformiert. Die Darstellung versetzt den Lesenden in eine Position, in der er beide Sichtweisen nachvollziehen kann, und ermöglicht ihm erst damit, die vordergründige Sichtweise mit dem, was den Juden verschlossen bleibt, in Dialog zu bringen und den Konflikt zugunsten einer Sichtweise ‚von oben‘ aufzulösen. Dieser Erkenntnisprozess weckt den Glauben an Jesus als den Christus (5,44–47) und führt so zur Rettung (5,34).

3.5. Ertrag Die zweite erzählte direkte Begegnung zwischen Jesus und den Juden wird in der Darstellung des Evangeliums zur programmatischen Kulmination und Eskalation des forensischen Konflikts und bildet in der Dramaturgie des Evangeliums daher einen Höhepunkt mit weitreichender paradigmatischer Funktion für die weitere Erzählung. Erstmals wird in der erzählten Welt das Setting eines Rechtsstreites mit Strafverfolgung, direkten Anklagen, Zeugen und der konkreten Absicht der Vollstreckung des Kapitalgerichts expliziert und damit die 210

Siehe zu dem damit kreierten Gegenüber zweier grundlegend diametral angelegter Anschauungen und ihrer persuasiven Funktion für den Lesenden die Diskussion bei THEOBALD (2009), 419.

3. Die Formulierung der Anklagen (Joh 5,1–47)

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rein verbale Auseinandersetzung in Joh 2,13–22 aufs Schärfste intensiviert. Gleichzeitig eskaliert auch auf der metaphorischen Ebene des im Evangelium angelegten Makro-Prozesses die Gerichtsdarstellung in Bezug auf die eigentliche causa durch den Doppelvorwurf des Sabbatbruchs und der Blasphemie. In der multidimensionalen Narration verbinden sich dabei nicht weniger als drei Ebenen der Prozessdarstellung, die als solche fest in alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik verwurzelt sind: Neben der menschlichen Ebene jüdischer Anklage als Beginn einer Strafverfolgung und den Rechtsstreit eröffnenden bilateralen Phase zeigt sich eine weitergehende Ebene in der Tatsache, dass sich in der Anklage Jesu zugleich ein Prozess zwischen Gott und Menschen vollzieht, bei der die Juden als menschliche Ankläger Gottes fungieren. Schließlich zeigt sich eine dritte Ebene in der metaphorischen Natur der Darstellung eines trilateralen Gerichtsprozesses mit Ankläger, Angeklagtem, Richter und Zeugen, der als repräsentative, umfassende juristische Verhandlung des Lebens Jesu fungiert und so im Makro-Narrativ eine universell-symbolträchtige Funktion gewinnt. In der Darstellung der Dramaturgie eines metaphorischen Makro-Prozesses in Joh 1–12 deutet sich durch die subtilen Rollenumkehrungen und -transformationen immer deutlicher an, dass der ausgetragene Konflikt nicht in der Beurteilung einzelner Taten, sondern in sich diametral entgegenstehenden Rollenbildern und konkurrierenden Prozess-Settings selbst besteht. Der so evozierte metaphorische Prozess wird damit vor den Augen des Lesenden zu einer kosmischen Verhandlung, bei der sowohl das Leben Jesu als auch das Schicksal der Welt vor der konkurrierenden menschlichen und christologischen Gerichtsbarkeit verhandelt wird. Im Mittelpunkt der Darstellung steht in Joh 5,19–47 die monologische Gerichtsrede Jesu als eschatologischem Richter, vor der die durch die Juden repräsentierte Welt als stumm und verurteilt dargestellt wird. Indem durch die metaphorische Darstellung Akzente des eschatologischen Gerichts antizipiert werden, gewinnt die Gerichtsrede in Aufnahme alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik durch ihre rhetorisch-diskursive Anlage eine starke persuasive Komponente, die auf sekundärer Ebene auf die Überzeugung des Lesenden selbst zielt und damit zum Vehikel der theologischen Botschaft des Evangeliums wird.

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59) Nach der Verschiebung des geografischen Erzählfokus von Jerusalem nach Galiläa in Joh 6 kehrt der narrative Blick in Joh 7 wieder auf die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Judäa (7,1) zurück und fügt sich mit dem Verweis auf ein Fest (7,2) nahtlos an die Auseinandersetzung in Joh 5 an.1 Durch die Lokalisierung des Auftretens Jesu im Tempel (7,14) wird zudem ein intratextueller Verweis auf den Konflikt der Tempelreinigung in Joh 2,13–22 kreiert.2 Dass Judäa vom Erzähler als Ort der Strafverfolgung durch die Juden verstanden sein will, macht der Erzähler durch einen erneuten Hinweis auf die Tötungsabsichten der Juden deutlich (7,1), die auf Joh 5,18 rekurriert3 und damit die erneute Begegnung zwischen Jesus und den Juden als Fortsetzung des als Prozess beschriebenen Diskurses in Joh 5,19–47 erscheinen lässt.4 Diese Perspektive wird durch die Fortsetzung des Sabbatkonflikts (Joh 7,21–23) sowie der fortgesetzten und explizit mit Joh 5,18 verbundenen Tötungsabsicht der Juden (Joh 7,19) bestätigt. War die Auseinandersetzung auf doppelter Erzählebene sowohl in der erzählten Welt als auch auf metaphorischer Ebene als Rechtsstreit und Gerichtsprozess angelegt, so erscheint der

1

Vgl. auch BEUTLER (2013), 243; ebenso NEYREY (1996), 108: „Readers know that this refers back to the conflict narrated in John 5. The remark in 7:1, then, simply describes the latest stage of conflict in the narrative, for the narrator presumes that readers will recall the cause of this hostility from the earlier trial of Jesus, which occurred at another feast in Jerusalem […].“ Ähnlich KÖSTENBERGER (2004), 229: „This continues the escalating pattern of hostility […].“ Nach NEYREY (2002), 64 ist Judäa als Schauplatz symbolisch durch den Charakter der Feindschaft und Auseinandersetzung bestimmt. 2 Auch in Joh 5,14 befindet sich Jesus bei der Begegnung mit dem Geheilten im Tempel; dort wird jedoch absichtsvoll noch keine Begegnung mit den Juden erzählt (siehe dazu oben Abschnitt 3.1). 3 Die Formulierung aus Joh 5,18 wird in Joh 7,1 wortgleich aufgenommen (siehe dazu unten Anm. 15). Einen absichtsvoll hergestellten Bezug sehen auch THYEN (2005), 393 und BEUTLER (2013), 243. 4 Die Passage in Joh 7,14–24 schließt inhaltlich so eng an Joh 5,1–47 an, dass sie (allerdings unter literarkritischen Annahmen) häufig als direkter Anschluss verstanden wird (BULTMANN [1986], 177f.; SCHNACKENBURG [1985], 183f.; THEOBALD [2009], 517f.; vgl. auch ZUMSTEIN [2016], 294).

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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Diskurs in Joh 7,14–8,59 damit geradezu als Fortführung jenes in Joh 5,47 unvermittelt abgebrochenen Prozesses.5 In der zeitlichen Einordnung des Erzählsettings wird die Auseinandersetzung in Joh 7,14–8,59 zugleich an Joh 9,1–10,21 angebunden,6 sodass Joh 7,1– 10,21 als großer Erzählkomplex erscheint, der in der tripartiten Strukturierung7 der Begegnungen Jesu mit den Juden in Jerusalem als Gegenstück zur Tempelreinigung in Joh 2,13–22 fungiert.8 Durch den Verweis auf den Tempel zeigt sich in der Makrostruktur zugleich ein auf der geografischen Platzierung der Auseinandersetzung beruhendes alternierendes Muster, bei dem der Diskurs in Joh 7,14–8,59 als strukturelle Mitte der direkten Begegnungen Jesu mit den Juden in Jerusalem erscheint:9 A Tempel (Joh 2,13–22) B Jerusalem (Joh 5,19–47) C Tempel (Joh 7,14–8,59) B' Jerusalem (Joh 9,1–10,21) A' Tempel (Joh 10,22–38)

Der Diskurs in Joh 7,14–8,59 zeigt mit Joh 7,14–24; 8,12–20 und 8,37–59 drei Streitgespräche zwischen Jesus und den Juden, die stark von forensischer Motivik geprägt sind und die im Folgenden näher untersucht werden.10

4.1. Einführung der Prozesszuschauer (Joh 7,14–24) Narrative Einbettung Mit Joh 7,14–24 findet die erste direkte Begegnung zwischen Jesus und den Juden in Jerusalem nach der Auseinandersetzung in Joh 5,19–47 statt und führt erneut zu einem Disput. Der Diskurs knüpft einerseits durch intratextuelle 5 Die inhaltlichen Verbindungen sind insbesondere zwischen Joh 7,15–25 und Joh 5,19– 47 so eng, dass die Passage den in Joh 5,47 abrupt abgebrochenen Prozess fortzusetzen scheint (SCHNACKENBURG [1985], 183–185). So auch KÖSTENBERGER (2004), 235: „The repeated appeals to the law (7:19, 23) and the legal terminology (7:24) strike a forensic note that serves to continue the trial set in motion in John 5 […].“ 6 Siehe dazu unten die Einordnung von Joh 9,1 in den narrativen Makrokontext in Abschnitt 5. 7 Siehe dazu Kapitel III,2.5. 8 Vgl. auch KEENER (2010a), 711. 9 Siehe dazu auch die noch detailliertere Darstellung und Diskussion oben Kapitel III,2.5. Siehe zur Stellung von Joh 7–8 auch MEEKS (1967), 59: „[I]t should be noted that the cycle is framed by the two very similarly constructed miracle stories and accompanying discourses of chapters 5 and 9.“ 10 Im kanonischen Text des Johannesevangeliums ist zusätzlich noch die pericope adulterae (Joh 7,53–8,11) eingefügt, die im vorliegenden Kontext jedoch nicht behandelt wird.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Verweise an der Tötungsabsicht der Ἰουδαῖοι aus Joh 5,18 an, führt die Auseinandersetzung jedoch nicht direkt weiter, indem als Gesprächspartner Jesu nun zusätzlich ὁ ὄχλος (7,12.20) als umfassende Bezeichnung der versammelten Festpilgerschar und der Einwohner von Jerusalem genannt wird.11 Während die Juden weiterhin die Antagonisten Jesu sind, steht der Wortwechsel in Joh 7,14–20 nun ganz unter dem dezidierten Vorzeichen der thematisierten Meinungsbildung der Volksmenge (ὄχλος in 7,12[2x].20.31.32.40.43.49), 12 die sich letztlich als gespalten in Bezug auf die Identität Jesu zeigt (7,40– 41.43).13 Durch die Lokalisierung des Diskurses im Tempel verbinden sich in Joh 7,14–52 insgesamt sechs Szenen (vgl. unten Tab. 6) mit wechselnden Akteuren zu einer Episode mit stark juristischem Fokus, deren Schwerpunkt die direkte Begegnung Jesu mit den Juden in Joh 7,14–24 bildet.14 Konstruktion eines Prozess-Settings Die Szene in Joh 7,14–24 setzt durch die von den Juden beabsichtigte Strafverfolgung mit Vollstreckung des Kapitalgerichts (vgl. den Ausdruck ζητέω ἀποκτεῖναι in 7,1.[11.]19.20.25)15 sowie durch mehrere in die Tat umgesetzte 11

Siehe für diese Interpretation der Bezeichnung ὄχλος auch SCHNACKENBURG (1985), 199; vgl. ebenso die ausführliche Untersuchung von BENNEMA (2013b), 349. Siehe zu dieser bewussten Unterscheidung von den Ἰουδαῖοι auch THYEN (2005), 390; THEOBALD (2009), 520. 12 THEOBALD (2009), 505: „Es ist zu beachten, dass das Thema der Volksmeinung über Jesus […] die drei Szenen [Joh 7,2–52] durchgängig prägt […].“ Von den 20 Belegen von ὄχλος im Johannesevangelium finden sich 8 Belege (40 % der Belege) in Joh 7. 13 SCHNACKENBURG (1985), 198 spricht dabei vom „Stilmittel gegenteiliger Stimmen“; ZUMSTEIN (2016), 292 von einer „Scheidung der Geister“. Vgl. ähnlich BENNEMA (2013b), 349. 14 Innerhalb der Szenenfolge stellt die erste Szene in Joh 7,14–24 eine „abgerundete Texteinheit“ dar (BEUTLER [2013], 248), die wie schon Joh 5,31–47 zur Darstellung des „literarischen Rechtsstreites“ gehört (THEOBALD [2009], 566). Die Einteilung der anderen Szenen wird aufgrund der häufig wechselnden Akteure sehr unterschiedlich vorgenommen. BEUTLER (2013), 242 sieht vier Szenen in Joh 7,10–8,59; THEOBALD (2009), 505.564 gliedert in fünf Szenen. Siehe für eine Einteilung in sechs Szenen NEYREY (1996), 109; vgl. ferner LINDARS (1987), 286; KEENER (2010a), 721. 15 Die Wendung ἐζήτουν αὐτὸν οἱ Ἰουδαῖοι ἀποκτεῖναι in Joh 7,1 nimmt wortgleich die Formulierung aus Joh 5,18 auf und ist damit ein direkter intratextueller Verweis auf die frühere Auseinandersetzung. Die in Joh 7,1.30 verwendete Imperfektform begegnet auch im verkürzten Ausdruck οἱ οὖν Ἰουδαῖοι ἐζήτουν αὐτὸν in V. 11, bei dem die Tötungsabsicht jedoch implizit ist (SCHNACKENBURG [1985], 199; LINDARS (1987), 285). Die im Imperfekt ausgedrückte andauernde Tätigkeit der (Straf-)Verfolgung wird ferner in den Präsensformen in V. 19.20.25 als die das gegenwärtige Geschehen beherrschende Handlung dargestellt. Die Wendung wird ferner in Joh 8,37.40 im Mund Jesu mit ζητεῖτέ με ἀποκτεῖναι aufgenommen und zeigt die inhaltliche Zusammengehörigkeit des ganzen Diskurses von Joh 7,14–8,59 im Kontext der Strafverfolgung.

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

239

Zugriffsversuche (πιάζω mit juristischer Konnotation Joh 7,30.32.44)16 nicht nur den juristischen Rahmen von Joh 5,1–47 fort, sondern zeigt auch zugleich eine Steigerung der Intensität der Auseinandersetzung sowie eine neue Stufe der Strafverfolgung.17 Da das in der Tötungsabsicht vorgenommene (Vor-)Urteil der Juden bereits seit Joh 5,18 bekannt ist und feststeht,18 kann der Erzählfokus sich nun ganz auf die Reaktion der Volksmenge verlagern.19 Dabei wird durch die Diskussion der Volksmenge das Bild von Prozesszuschauern evoziert, die das Geschehen als direkte Beobachter verfolgen und sich ihre Meinung zur Rechtmäßigkeit des Jesus vorgeworfenen Vergehens bilden. Die dabei vorausgesetzten juristischen Sachverhalte setzen die im Ausdruck οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι (V. 32.45.47.48) nun näher beschriebenen Ἰουδαῖοι als Behörde der lokalen Gerichtsbarkeit voraus,20 die die Strafverfolgung initiieren und durchführen kann und zugleich als religiöse Autorität fungiert (vgl. 7,48–49). 21 Die Strafverfolgung ist durch den doppelten Zugriffsversuch (7,30.44) bereits so konkret, dass das dabei zugrunde liegende Vergehen Jesu weder von der Volksmenge noch von den Juden explizit genannt wird und vom Lesenden nur aus den Worten Jesu (7,21–23) als die Sabbatheilung aus Joh 5,1–8 und damit als Kapitalverbrechen erschlossen werden kann. Die Darstellung verweist damit in Bezug auf die inhaltliche Rechtssache vollständig auf Joh 5,1–47 zurück.22 Mit der Verwendung von πλανάω (πλανᾷ τὸν ὄχλον, 16

Dabei liegt die juristische Bedeutung ‚verhaften‘ (BALZ/SCHNEIDER [2011], 204) oder ‚gefangen nehmen‘ (BAUER [1988], 1323) vor; vgl. zum Begriff als Teil des forensischen Vokabulars des Evangeliums Kapitel II,2.1. 17 Dies zeigt sich darin, dass auf das in Joh 5,16 zentrale διώκω nun das logisch folgende πιάζω die Darstellung beherrscht (vgl. zu dieser logischen juristischen Abfolge auch Kapitel II,2.1). 18 So zu Recht PANCARO (1975), 273: „Jesus already stands condemned in their eyes.“ 19 Dieser Erzählfokus erweist sich auch in der Struktur von Joh 7,14–52, die maßgeblich auf das Urteil der Volksmenge zentriert ist; vgl. dazu unten Tab. 6. 20 Die folgende Darstellung schließt sich mit SCHNACKENBURG (1985), 199; ZUMSTEIN (2016), 295; KÖSTENBERGER (2004), 232; THEOBALD (2009), 520 der Sicht an, dass die in Joh 7,1.11.13.15 genannten Ἰουδαῖοι maßgeblich die religiösen Autoritäten bezeichnen, denen die Strafverfolgung oblag und die später als Pharisäer und Hohepriester konkretisiert werden. Siehe für eine ähnliche Funktion der ἀρχόντες (7,26.48) ferner LUTHER (2013), 376. 21 Damit liegt in typischer Verquickung politischer und religiöser Ordnungen im zwischenmenschlichen jüdischen Rechtsstreit zugleich die in Kapitel II,2.3.3 genannte indirekte Beteiligung Gottes im Rechtsstreit durch menschliche Repräsentanten vor. Die Erwähnung der Pharisäer knüpft zudem an die Befragung des Johannes (Joh 1,24) an, bei der sie bereits als Behörde zur Prüfung religiöser Vergehen im Hintergrund standen. Wie in Joh 1,24 fungieren auch hier Abgesandte als Gehilfen, nun jedoch anstelle der ἱερεῖς καὶ Λευίτας (Joh 1,19) die auch später in der Verhaftungsszene (Joh 18,3.12) genannten ὑπηρέται (Joh 7,32.45.47). Die ganze Szenerie bewegt sich damit unweigerlich auf die Verhaftung in Joh 18 hin. 22 So auch NEYREY (1996), 109: „The accusation of Sabbath violation (5:10, 16) continues to be the primary forensic charge against Jesus (7:21–23).“

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

V. 12) als terminus technicus für religiöse Verführung durch einen falschen Propheten23 tritt dabei jedoch durch den intertextuellen Verweis auf Dtn 13,3.7 eine weitere Schattierung der Anklage in den Vordergrund, die in der Anstiftung zum Sabbatbruch (Joh 5,1–18) vermutlich schon im Hintergrund stand,24 nun aber explizit thematisiert wird (vgl. auch πεπλάνησθε in V. 47) und den Diskurs auch inhaltlich prägt. Inhaltlich eng mit dem Vorwurf der Verführung verbunden ist auch die den Diskurs in Joh 7,14–24 eröffnende Verwunderung der Juden über die Schriftkenntnis Jesu (V. 15), die als direkte Reaktion auf die Schriftargumentation in Joh 5,47 gelesen werden kann.25 Der Diskurs in V. 14–24 erweist sich daher als Fortführung von Joh 5,1–47, die sich nun jedoch in inhaltlicher Hinsicht neben dem Sabbatvorwurf (vgl. V. 21–24) maßgeblich um die Lehre Jesu (V. 15) unter dem Vorwurf der Verführung zentriert.26 Die absichtsvoll mit ἀπεκρίθη (V.16) eingeführte Rede Jesu in V. 14– 24 erscheint damit als gerichtliche Verteidigung seiner διδαχή (V. 16.17) gegenüber der jüdischen Anklage.27 Durch die interne Analepse in Joh 18,19–20 wird diese als Verteidigungsrede zugleich in ein metaphorisches Setting des Makro-Prozesses integriert, bei dem die Rede Jesu als Antwort auf die Frage des Hohenpriesters gestellt wird. 28 Obwohl damit die Juden ganz selbst23

Siehe zur Verwendung als terminus technicus BRAUN (1965), 236–238; ZUMSTEIN (2008), 292; siehe ebenso SHERIDAN (2015), 181. 24 Einen Bezug zu Dtn 13,3.7 in Joh 7,12 sehen KEENER (2010a), 711; KÖSTENBERGER (2004), 232; ferner auch MEEKS (1967), 47–53 in einer ausführlichen Untersuchung. Siehe zum atl. Kontext von Dtn 13,3.7 Kapitel II,2.1. Die Stelle stand bereits in Bezug auf den Sabbatkonflikt durch die Verführung des Geheilten zum Tragen der Matte und den Autoritätsanspruch Jesu in Joh 5,1–18 im Hintergrund (so auch LINCOLN [2005], 74). 25 So sieht etwa SCHNACKENBURG (1985), 185 hinter Joh 7,15 eine direkte Replik auf die Schriftargumentation Jesu in Joh 5,39–47. Der Bezug wird durch die Tatsache bestärkt, dass γράμματα neben Joh 7,15 im Evangelium nur noch in Joh 5,47 begegnet (LINDARS [1987], 287. Damit bekommt die Szene in Joh 7,14–24 den Anschein einer direkten Fortsetzung des Rechtsstreites aus Joh 5,19–47. 26 Siehe dazu auch PANCARO (1975), 87f. 27 PANCARO (1975), 88 sieht hier eine „declaration Jesus makes in his own defence. […] Jesus ist defending himself“; ähnlich sieht KEENER (2010a), 712 eine Verteidigung gegenüber der auf Dtn 13 basierenden Anklage als falscher Prophet; ebenso auch MEEKS (1967), 48–61 mit besonders ausführlicher Darstellung. 28 Dass der Verweis Jesu in Joh 18,20 als direkter intratextueller Verweis auf die Reden Jesu in Joh 7,14–52 fungiert, wurde bereits in Kapitel II,1.2.2 dargelegt. Der Bezug ist auf mehrfache Weise deutlich: Zum einen wird die in Joh 18,20 genannte διδαχή im Johannesevangelium nur noch in Joh 7,16.17 genannt (vgl. auch LINDARS [1987], 288). Ferner wird der Diskurs in Joh 7,14–52 wie in Joh 18,20 als ἐν τῷ ἱερῷ lokalisiert (vgl. 7,14.28) und zeigt weitere Verbindungen in der geradezu als Schlüsselwort fungierenden παρρησία (Joh 7,4.13.26), die nach Joh 18,20 die Lehrtätigkeit Jesu kennzeichnet (vgl. THEOBALD [2009], 509f.; MEEKS [1967], 60). Und schließlich erklärt die Aufnahme des κόσμος als in Joh 7,7 eingeführter Adressat die auffällig universelle Betonung durch dasselbe Lexem in Joh 18,20. Vgl. für weitere Verbindungslinien durch die Erwähnung der ὑπηρέται

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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verständlich als Ankläger und Jesus als Angeklagter vorausgesetzt werden, tritt diese bereits in Joh 5,1–47 entfaltete Rollenkonstellation zugunsten einer neuen Akzentsetzung nicht in den Vordergrund der Darstellung. Insofern die Juden anstelle einer direkten Konfrontation nur Verwunderung zeigen (ἐθαύμαζον οὖν οἱ Ἰουδαῖοι, V. 15), bleibt die implizierte Anklage zunächst im Hintergrund der forensischen Sachverhalte.29 Dagegen zeigt sich eine neue Akzentsetzung darin, dass die Lehre Jesu nun Gegenstand der Meinungsbildung der Volksmenge wird und auch maßgeblich vor dem Forum der Volksmenge verhandelt wird. Die Verteidigung Jesu erscheint somit geradezu als Verteidigung dem ὄχλος gegenüber, der nun zum eigentlichen Adressaten der Auseinandersetzung wird. Es ist folgerichtig das Volk, das Jesus in V. 20 befragt, dem sich Jesus in V. 19–24 explizit zuwendet und demgegenüber Jesus mit τὴν δικαίαν κρίσιν κρίνετε (V. 24) an ein gerechte Urteils- und Meinungsbildung appelliert. Jesus nimmt damit die literarische Rolle des Angeklagten ein, der an die Prozesszuschauer appelliert,30 während die Juden unter Berufung auf das Gesetz als Richter fungieren (vgl. κρίνω in V. 51). Das narrative Prozess-Setting in Joh 7,14–52 erweitert somit das in Joh 5,1–47 präsente Setting durch die neu hinzugetretene Rolle der Prozesszuschauer (vgl. Abb. 10). Juden (Ankläger)

Anklage

Jesus (Angeklagter)

Volksmenge (Prozesszuschauer)

Abb. 10: Prozess-Setting in Joh 7,14–52.

Dieses Prozess-Setting wird in der narrativen Struktur von Joh 7,14–52 durch eine parallele Anlage rudimentärer Prozessschritte als doppelter Verlauf eines Gerichtsprozesses skizziert (vgl. Tab. 6).31 (Joh 7,45.46; 18,3.12.18.22) auch MANNING (2013), 388f. Ein Bezug von Joh 7,14 zur Befragungsszene vor Hannas wurde folgerichtig in Forschung schon häufig erkannt (siehe inter alia THEOBALD [2009], 510; THYEN [2005], 391). 29 Vgl. RIDDERBOS (1997), 263. 30 Siehe zur literarischen Rolle der Prozesszuschauer Kapitel II,1.4.5. 31 Diese parallele Struktur, wenn auch ohne ihre forensische Dimension, sehen auch LINDARS (1987), 286; KEENER (2010a), 721; THEOBALD (2009), 505; vgl. auch KÖSTENBERGER (2004), 233. Dass dabei jedoch forensische Elemente eine tragende Funktion haben, hat

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Abfolge der Ereignisse Plädoyer Jesu Urteilsbildung des Volkes (Versuchte) Abführung des Angeklagten

Joh 7,14–36

Joh 7,37–52

V. 14–24 V. 25–31 V. 32–36

V. 37–39 V. 40–44 V. 45–52

Tab. 6: Narratives Prozess-Setting in Joh 7,14–52.

In dieser Struktur gewinnt die Meinungsbildung des Volkes durch die narrative Einbettung zwischen Rede Jesu und Zugriffsversuch der Juden den Zug einer auf das Plädoyer des Angeklagten folgenden Urteilsbildung der Prozesszuschauer, der die anschließende Abführung zur Urteilsvollstreckung folgt.32 Prozessmodulation Zeigt das so kreierte Prozess-Setting eine forensische Rollenverteilung, bei der Jesus die Rolle des Angeklagten einnimmt, wird diese bereits in der narrativen Hinführung in Joh 7,1–13 durch gegenläufige Tendenzen infrage gestellt. So erweist die Aussage Jesu in Joh 7,7 die Begegnung mit den Juden in Jerusalem durch die Verwendung des Semantems μαρτυρέω schon von Beginn an als Rechtsstreit, bei dem die Juden als Repräsentanten des κόσμος aufgefasst werden33 und Jesus nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge auftritt.34 Ganz in Entsprechung zur Funktion des Zeugen im alttestamentlich-jüdischen Prozessrecht und in Fortsetzung der bereits in Joh 3,11.32 genannten Zeugenfunktion Jesu fungiert das Zeugnis in seiner forensischen Funktion als juristische An-

NEYREY (1996), 109 herausgestellt und diese als „repetitive elements of a typical forensic process“ bezeichnet. Mit der Rede Jesu in einer Befragung, einer implizierten Anklage, der Urteilsbildung, juristischen Warnungen und Festnahmeversuchen sind nahezu alle Elemente des in Kapitel I,1.2.4 angegebenen Grundmusters eines Gerichtsverfahrens präsent (vgl. auch NEYREY [1996], 109). 32 Die Rolle der Urteilsbildung bleibt ambivalent zwischen distanzierter Meinungsbildung von passiven Zuschauern und der den Prozess entscheidenden Urteilsbildung durch ein aus dem Volk gebildetes Richterkollegium. Siehe zur literarischen Rolle eines Richterkollegiums Kapitel II,1.4.4 sowie für die Rolle der Prozesszuschauer Kapitel II,1.4.5. Wie die Untersuchung in Kapitel II,1 erwies, überschneiden sich die Rollen eines Richterkollegiums und der Prozesszuschauer stark und sind durch die Tatsache, dass ein Richterkollegium sich meist aus dem Volk zusammensetzt (und dabei auch juristische Laien umfasst) und das Volk repräsentiert, intrinsisch verbunden. Die Rolle des ὄχλος in Joh 7,14–52 ist so ambivalent angelegt, dass beide Rollenfunktionen sichtbar sind (vgl. auch NEYREY [1996], 110f.). Während die Rolle als Prozesszuschauer evident ist, wird die Richterrolle des Volkes durch die doppelte Verwendung von κρίνω in V. 24 impliziert. 33 Siehe hierzu die Studie von KIERSPEL (2006) sowie die Ausführungen zur Stelle (aaO., 100). 34 THEOBALD (2009), 511 sieht darin zu Recht einen „Gerichtsvollzug über die Welt“ angedeutet.

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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klage (ἐγὼ μαρτυρῶ περὶ αὐτοῦ ὅτι τὰ ἔργα αὐτοῦ πονηρά ἐστιν, V. 7).35 Der Hass der Welt (ἐμὲ δὲ μισεῖ, V. 7) als kausale Folge (ὅτι) des anklagenden Zeugnisses Jesu knüpft dabei inhaltlich an die Lichtmetaphorik von Joh 1,4–5; 3,19–21 an und setzt eine Überführung der Welt in Bezug auf ‚böse Werke‘ bereits in der erzählten Vergangenheit voraus. 36 Damit fungiert Joh 7,7 als Deutungshinweis, nach dem sich in der Makrostruktur die Darstellung eines kosmischen Prozesses fortsetzt, bei dem Jesus selbst als Richter, Ankläger und Zeuge auftritt. Die subtile Konterkarierung der in der erzählten Welt von den Juden vorgenommenen Strafverfolgung setzt sich auch in Joh 7,14–24 fort. Während das bewusst allgemein formulierte ὁ ἀφ᾽ ἑαυτοῦ λαλῶν τὴν δόξαν τὴν ἰδίαν ζητεῖ (V. 18a) zunächst als Verteidigung der Aufrichtigkeit Jesu erscheint,37 bezieht die kontrastierende Fortführung ὁ δὲ ζητῶν τὴν δόξαν τοῦ πέμψαντος αὐτὸν κτλ (V. 18b) als implizite Beschreibung des aufrichtigen Verhaltens Jesu die erste Satzhälfte gleichzeitig auf das Verhalten der Juden und formt so die Verteidigung zugleich in einen Angriff um.38 Wie die Juden in ihrer Anklage an Joh 5,1–47 ansetzen, so führt nun auch Jesus seinerseits die Anklage aus Joh 5,44 fort und zieht die Motive seiner Ankläger in Zweifel.39 Dass dabei eine direkte Anklage impliziert ist, macht auch die Wandlung zu einer direkten Beschuldigung in V. 19 deutlich, die als Anklage wegen Missachtung des Gesetzes allgemeingültiger kaum formuliert werden kann (οὐδεὶς ἐξ ὑμῶν ποιεῖ τὸν νόμον, V. 19).40 Insbesondere scheint damit der Versuch, Jesus zu töten, in ironischer Umkehrung selbst als Gesetzesverstoß.41 Auf diese Weise gewinnt 35 Trotz der inhaltlich offenen Formulierung μαρτυρῶ περί wird die Bedeutung ‚zeugen gegen‘ durch die Näherbestimmung ὅτι τὰ ἔργα αὐτοῦ πονηρά ἐστιν deutlich. 36 Eine weitere Verbindung zu Joh 3,19–20 ergibt sich durch das Stichwort μισέω, das als Bezeichnung der ablehnenden Reaktion der Welt Jesus gegenüber bisher nur in Joh 3,20; 7,7 verwendet wurde (BEUTLER [2013], 246). Die Verbindung zu Joh 3,19–20 ist durch die mehrfachen Bezüge daher besonders eng (LINDARS [1987], 284; THEOBALD [2009], 511). 37 Vgl. dazu wie auch zu der ambivalenten Natur des Ausspruchs NEYREY (1996), 111. 38 So auch KEENER (2010a), 714: „Jesus returns the charges of his accusers“; ähnlich LINDARS (1987), 289. 39 Diesen Bezug sieht auch KÖSTENBERGER (2004), 233; ferner LINDARS (1987), 289: „Jesus makes an attack on the blinding ambition of the rabbis, which evoked his complaint in 5.44. […] The falsehood of their motive has already been exposed.“ Dass dabei das Suchen (ζητέω) der eigenen Ehre auch sprachlich an das Suchen (ζητέω) nach einer Möglichkeit, Jesus zu töten (7,1.11.19.20.25.30), anknüpft, ist eine zusätzliche Ironie der Anklage, die durch die direkte Gegenüberstellung beider Bedeutungen von ζητέω in 7,18–19 offen zutage tritt. Siehe zum literarischen Motiv des ungerechten Anklägers, der sich selbst Gericht zuzieht, Kapitel II,1.4.1. 40 Siehe dazu THEOBALD (2009), 521, der darin zugleich eine Fortsetzung von Mose als Ankläger aus Joh 5,45 sieht. 41 So erwägt LINDARS (1987), 289 einen Bezug auf Ex 20,13 bzw. Dtn 5,17; vgl. auch NEYREY (1996), 111.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

der Verweis auf das Gesetz des Mose als Rechtsgrundlage in V. 19a (οὐ Μωϋσῆς δέδωκεν ὑμῖν τὸν νόμον) eine höchst ironische Note, insofern die Juden mit Berufung auf das Gesetz im Akt ihres Richtens selbst das Gesetz übertreten.42 Indem ihre Übertretung des Gesetzes gerade in der Tötungsabsicht besteht (V. 19), werden die Richter im Akt des Richtens über Jesus selbst zu Verurteilten und stehen unter eben jenem Urteil, das sie ihm zuzufügen gedachten.43 Es ist eine besondere Ironie, dass damit ein metaphorisches GerichtsSetting kreiert wird, in dem die Ankläger im Verfolgen ihrer Anklage selbst zu Angeklagten werden und Jesus zum Richter über die Richter wird.44 So selbstverständlich der wiederholte Zugriffsversuch (7,32.44) eine bereits feststehende Überzeugung der Juden bezüglich der Schuld Jesu voraussetzt, so überraschend wirkt doch auf den Lesenden, dass das so präjudizierte Urteil in der Erzählung selbst nirgends als juristische Beratung hergeleitet, durch Zeugenaussagen begründet und durch einen Richtspruch rechtskräftig gefällt wird. Dass die einzigen in der juristischen Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden im Evangelium überhaupt konkret benannten Zeugen – nämlich die in Joh 5,31–47 genannten Zeugen45 – allesamt Zeugen für Jesus und gegen die Juden sind, deren Aussagen die Juden durch das symbolträchtige Schweigen nach Joh 5,47 nichts entgegenzusetzen haben, lässt die Festnahme- und Hinrichtungsversuche der Juden als paradox erscheinen. Dieselbe Akzentsetzung zeigt sich in der für die Pharisäer implizierten Tätigkeit des Richtens (κρίνω in V. 51), das in der bisherigen Erzählung ausschließlich mit Jesus oder dem Vater verbunden war (Joh 3,17.18[2x]; Joh 5,22.30), und nun ohne vorheriges Verhör an Jesus vollführt wird.46 Das damit vorgenommene Urteil kann an42 Vgl. auch NEYREY (1996), 112, der diese Anklage neben der Frage des Sabbatbruchs und der Lehre Jesu als eigentliche, im Erzählabschnitt betonte Anklage sieht. 43 Siehe dazu Dtn 19,19 sowie die Thematisierung des falschen Anklägers, der sich selbst das Urteil zuzieht, in Kapitel II,2.1. Vgl. ferner NEYREY (1996), 112; ebenso NEYREY (1996), 121: „The judges themselves are put on trial and judged according to the judgment they render […].“ 44 „Jesus turns the tables on the rabbis and accuses them of just the opposite“ (LINDARS [1987], 289); vgl. auch NEYREY (1996), 112: „Jesus has taken over the role of judge who judges the local judges. He has accused them of a very serious crime, partial and unjust judgment, the sentence for which was death.“ 45 Außer den vier in Joh 5,31–47 genannten Zeugen werden im Evangelium in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden keine weiteren Zeugen für oder gegen Jesus genannt. Die vier Zeugen sind: Johannes (5,33.36; vgl. auch 1,6.8.19.32.34; 3,26), der Vater (5,32.37; vgl. auch 8,18), die Werke Jesu als Werke des Vaters (5,36; vgl. auch 10,25) und die Schriften (5,39). 46 Dass gerade der Pharisäer Nikodemus, der bereits gehört hatte, was Jesus zu sagen hat (vgl. den expliziten Rückverweis in Joh 7,50 auf Joh 3,1–21), mit ἐὰν μὴ ἀκούσῃ πρῶτον παρ᾽ αὐτοῦ καὶ γνῷ τί ποιεῖ; (Joh 7,51) auf die Ungerechtigkeit eines Richtens ohne vorherige Anhörung hinweist, illustriert in augenfälliger Weise, dass eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Jesus zu einer gänzlich anderen Beurteilung seiner Person führt.

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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gesichts der Aufforderung Jesu zu gerechtem Gericht (7,24) nur als höchst ironische Pointe verstanden werden.47 Die subtile Umkehrung des Prozess-Settings setzt sich in V. 20 nicht nur in Bezug auf die Juden, sondern auch durch den in der Rolle der Prozesszuschauer nun erstmals direkt am Geschehen beteiligten ὄχλος fort. Dass gerade die Volksmenge (V. 20) auf die Frage Jesu an die Juden (V. 19) antwortet, zeigt trotz der gezielt eingesetzten semantischen Unterscheidung des Erzählers zwischen ὄχλος und den Ἰουδαῖοι,48 dass die dabeistehende Volksmenge sich unweigerlich selbst angesprochen und beschuldigt fühlt. So unschuldig die Menge durch ihre entrüstete Verteidigung (τίς σε ζητεῖ ἀποκτεῖναι in V. 20) zunächst erscheint, so eng assoziiert Jesus sie doch mit der Haltung der Juden. Bereits mit dem doppeldeutigen γογγυσμός (V. 12; vgl. auch V. 32) der Volksmenge wird durch die Anspielung auf das Murren der Wüstengeneration ein ironischer Unterton kreiert, der das Volk unter solche subsumiert, die sich in feindlicher Haltung gegen Gott stellen.49 Ferner scheinen ὄχλος und Ἰουδαῖοι in V. 14–25 nahezu austauschbar zu sein. Dass damit ὄχλος und Ἰουδαῖοι vom Erzähler so eng mit der Haltung der Ἰουδαῖοι identifiziert werden, darf nicht als Hinweis gewertet werden, dass beide Gruppen tatsächlich identisch sind,50 sondern ist eine kunstvolle Technik des Erzählers, durch die er die bis dahin nicht selbst beteiligten Akteure persönlich ins Geschehen involviert und eine sympathisierende Haltung mit den Ἰουδαῖοι verurteilt wird. In ironischer Weise nimmt die Volksmenge den Vorwurf der Besessenheit seitens der Juden aus Joh 8,49 vorweg (V. 20) und wird selbst zu solchen, die Jesus des Sabbatbruchs anklagen (V. 21–23). In entlarvender Weise impliziert Jesus mit seiner Aufforderung an das Volk (μὴ κρίνετε κατ᾽ ὄψιν V. 24a), dass die Hinrichtungsabsicht auf einem vordergründigen und ungerechten (τὴν δικαίαν κρίσιν κρίνετε, V. 24b) Urteil beruht.51 Damit wird der literarische Topos eines ungerechten

47 Ebenso ironisch ist, dass sich mit dem Schluss der Episode (Joh 7,45–52) auch der Vorwurf der Volksverführung vom Angeklagten auf die Ankläger wendet. Die dabei herangezogenen Motive des Verführtseins, Verfluchtseins und der Unkenntnis der Schriften erfahren nach einer vordergründigen Referenz auf die Diener (V. 47) und die Volksmenge (V. 49) – und den anschließenden zu ihren Gunsten intervenierenden Nikodemus (V. 52) – allesamt eine Umkehrung und beziehen sich in Wirklichkeit – so jedenfalls muss der implizierte Leser schließen – auf die Juden selbst. 48 Siehe dazu insbesondere die Untersuchung von BENNEMA (2013b), 349; vgl. ferner auch THYEN (2005), 390; THEOBALD (2009), 520. 49 Auch nach BEUTLER (2013), 247 scheint γογγυσμός „die feindliche Note zu haben wie im Exodus, als Aufstand gegen Mose, Aaron und letztlich Gott selbst“. 50 Gegen KÖSTENBERGER (2004), 232, der die Gruppen teilweise als deckungsgleich ansieht; BEUTLER (2013), 251 bezeichnet den ὄχλος in V. 20 sogar arglos als „die Juden“. Richtig dagegen THEOBALD (2009), 522, der eine Unterscheidung zwischen beiden Gruppen sieht. 51 So auch KEENER (2010a), 717f.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Anklägers und Richters evoziert, der sich selbst das Gericht zuzieht.52 Dass die Angesprochenen dabei gar nicht direkt selbst in die Tötungsabsichten involviert sind, enthebt sie nicht der eigenen Verantwortung Jesus gegenüber: Bereits eine falsche Beurteilung Jesu setzt sie selbst unter die Anklage des falschen Urteils. Reflexion der Prozess-Narration Die Episode in Joh 7,14–52 führt durch den engen Anschluss an Joh 5,1–47 die Darstellung eines im Evangelium eingebetteten und auf multipler Erzählebene angesiedelten Makro-Prozesses fort. In der innerweltlichen Ebene der erzählten Welt wird die Strafverfolgung nun durch mehrfache Zugriffsversuche konkretisiert. Mit der gehäuften Verwendung von πιάζω (7,30.32.44) und der Erwähnung der ὑπηρέται (Joh 7,32.45.47) wird die in Joh 5,16 begonnene Strafverfolgung konkreter und bewegt sich dramaturgisch deutlich auf die Verhaftungsszene in Joh 18 zu.53 Auf der metaphorischen Ebene der Prozessdarstellung erweitert sich dagegen die Szenerie auf die Prozesszuschauer, die durch den bildgebenden Begriff des die Auseinandersetzung verfolgenden ὄχλος (7,12.20) präsent sind. Erscheinen diese zunächst als Beobachter, werden sie doch deutlich in die Rolle von selbst beteiligten Richtern gedrängt. Die Volksmenge wird dabei zum Typus des unbeteiligten Beobachters, der den Prozess um Jesus verfolgt und sich unweigerlich ein eigenes Urteil bildet.54 Die Fiktion eines unbeteiligten Beobachters ist damit als Widerspruch in sich entlarvt. Die spezifische Akzentsetzung, in der die Beobachter selbst in den Prozess involviert werden und aufgrund falscher Parteinahme selbst unter der im Prozess ausgesprochenen Verurteilung zu stehen drohen, wird zur narrativen Technik, durch die auch die Lesenden selbst in den Prozess hineingezogen werden.55 Durch die Aufforderung τὴν δικαίαν κρίσιν κρίνετε (V. 24) an die Gesprächspartner Jesu der erzählten Welt wird auch der Lesende in der Erzählwelt sekundär adressiert.56 52

Vgl. dazu auch Kapitel II,1.4. Die Verbindung zu Joh 18 durch die Erwähnung der ὑπηρέται sieht auch MANNING (2013), 388f. 54 Siehe dazu die Darstellung bei BENNEMA (2013b), 353–355, der die Volksmenge als inhomogenen, anonymen und korporativen Charakter bezeichnet, der besonders geeignet ist, zur Identifikation für den Lesenden zu werden. Die Menge wird damit in ihrer Rolle als urteilende Prozesszuschauer zur Identifikationsfigur für den Lesenden. Nach CULPEPPER (1987), 105; SHERIDAN (2016), 215 fungiert der Lesende als Jury dessen, was in der erzählten Welt geschieht. Der Lesende wird damit Teil des forensischen Prozess-Settings (vgl. dazu auch CULPEPPER [1987], 105). 55 Siehe dazu auch LINCOLN (2000), 174. 56 Dies entspricht der Zielsetzung der Narration, durch die der Erzähler den Lesenden selbst zu einer veränderten Sicht bewegen und indirekt ansprechen will (vgl. CULPEPPER [1987], 209). Siehe dazu auch Kapitel I,3.1, insbesondere Anm. 7. 53

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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Das Prozess-Setting weitet sich damit über die Charaktere der erzählten Welt aus und umfasst nun zunehmend deutlicher auch den Lesenden selbst und schließt ihn in die anonyme Volksmenge ein.57 Wie die vor Jesus stehende Volksmenge sehen sich auch die Lesenden selbst nicht unmittelbar in der Rolle der Richter, werden jedoch durch die Rede Jesu als solche offenbar, die in ihrem Urteil und ihren Sympathien faktisch selbst zu Richtern werden. Der Text hat damit eine starke rezeptionsästhetische Funktion auf der Sekundärebene der Erzählwelt zwischen Erzähler und Lesendem: Auch der Lesende ist in seinem Urteil unwillkürlich in die Rolle eines Richters gezogen worden, der die Identität Jesu beurteilt.58 Auch der Lesende steht in der Gefahr, Jesus anhand des äußeren Scheins zu be- oder verurteilen (κρινεῖν κατ᾽ ὄψιν, V. 24). Dieses Urteil ist im Makro-Narrativ des Evangeliums identisch mit einer Sichtweise von ‚unten‘, die als Denk- und Urteilsparadigma der Welt aufgewiesen wird. Dagegen geht das gerechte Gericht tiefer: Es muss mit der Wirklichkeit der Sendung Jesu rechnen, die der implizite Leser kennt, und somit die himmlische Wirklichkeit und eine Perspektive von ‚oben‘ mit einbeziehen.59 Damit werden in der Inklusion des Lesenden in das Prozess-Setting zugleich wesentliche Unterschiede zu den Charakteren der erzählten Welt deutlich: Im Gegensatz zur Volksmenge weiß der Lesende um die Herkunft Jesu.60 Indem er im Unterschied zu den Figuren der erzählten Welt die Sichtweise Jesu kennt und kognitiv nachvollzieht, beginnt er unweigerlich, über sich selbst zu urteilen und gerade darin zum Glauben an Jesus als Sohn Gottes (Joh 20,31) vorzudringen.

4.2. Jesus als Zeuge (Joh 8,12–20) Narrative Einbettung In Joh 8,12–20 setzt sich der mit Joh 7,14 im Tempel begonnene Diskurs fort.61 Durch den narrativen Neuansatz mit πάλιν οὖν αὐτοῖς ἐλάλησεν ὁ Ἰησοῦς

57 Siehe dazu als narrative Technik des Erzählers auch SHERIDAN (2016), 214. HARVEY (1976), 17 bezeichnet dies als „extended ‚trial‘“. 58 MOTYER (1997), 152f. sieht den Abschnitt von Joh 7,14–24 geradezu daraufhin konstruiert, den Lesenden selbst in die Beurteilung Jesu hineinzunehmen und in die Rolle des Richters zu führen. Ebenso LINCOLN (2000), 174. 59 Die Darstellung knüpft damit im Makro-Narrativ an diese in Joh 3,1–36 getroffene Unterscheidung an (siehe dazu oben Abschnitte 2.2–2.3). Siehe zur Unterscheidung zwischen einer irdischen und geistlichen Sichtweise beim Lesenden auch SHERIDAN (2016), 214. 60 Vgl. zu dieser narratologischen Grundkonstellation auch KLINK (2016a), 253: „[T]he historical characters did not see what the readers can see.“ 61 Vgl. ZUMSTEIN (2016), 323. Als Textgrundlage wird hier die ursprüngliche Fassung des Evangeliums ohne pericope adulterae angenommen, in der Joh 8,12 als direkter Anschluss an Joh 7,52 zu verstehen ist (vgl. ähnlich BLANK [1964], 183). In der folgenden

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

λέγων (8,12) wird nicht nur der Fokus von der Beratung der Pharisäer in Joh 7,45–52 zurück auf Jesus verlagert, sondern die Rede Jesu durch die unbestimmte Adressierung αὐτοῖς als direkte Erwiderung dargestellt, mit der Jesus gleichsam unter die in der vorangegangenen Szene (Joh 7,45–52) debattierenden Pharisäer tritt.62 Damit verlässt die Szene in Joh 8,12–20 die Volksmenge als Adressaten und wendet sich nun zu einer direkten Konfrontation zwischen Jesus und den Pharisäern. Während diese als Teil der Behörde, die bereits vorher vergebliche Zugriffsversuche unternahm (7,30.44), im szenischen Hintergrund agierten, treten sie Jesus nun in einer dramaturgischen Steigerung mit der offenen Absicht der Festnahme als direkte Gesprächspartner gegenüber (V. 13.20). Der in Joh 8,12–20 folgende Diskurs knüpft nicht nur szenisch, sondern auch inhaltlich nahtlos an das in Joh 7,14–52 kreierte Prozess-Setting an, wie sich auch durch eine parallele inhaltliche Strukturierung beider Abschnitte zeigt (vgl. Tab. 7).63 Abfolge der Ereignisse Lehre Jesu im Tempel Frage nach der Legitimität Jesus verteidigt die Authentizität seiner Rede Zwischenfrage der Gesprächspartner Vorwurf des falschen Urteilens Erfolglose Festnahme

Joh 7,14–30 V. 14 V. 15 V. 17 V. 20 V. 24 V. 30

Joh 8,12–20 V. 12 V. 13 V. 14 V. 19 V. 15.19 V. 20

Tab. 7: Paralleler Aufbau von Joh 7,14–30 und Joh 8,12–20.

Durch den engen narrativen Anschluss und die inhaltlichen Bezüge muss das Streitgespräch in Joh 8,12–20 wie auch die gesamte Episode in Joh 8,12–59 als direkter Anschluss an den vorangegangenen Diskurs in Joh 7,14–52 (und wie dieser als Fortführung von Joh 5,19–47) verstanden werden und bekommt

Untersuchung werden jedoch stellenweise auch Bezüge auf die kanonische Textgestalt hergestellt, in der die pericope adulterae Teil des Evangeliums ist. 62 So auch THYEN (2005), 422 mit dem Hinweis, dass Jesus nun gleichsam unter die mit αὐτοῖς bezeichneten, disputierenden Pharisäer in die vorherige Szene hineintritt; vgl. auch WENGST (2000), 324. 63 Dies wurde herausgearbeitet von NEYREY (1987), 512–514. Nicht jede Parallele ist exakt (die von Neyrey vorgenommene Zuteilung von Joh 7,26–27 unter die Nennung von zwei Zeugen etwa scheint künstlich), auch ist durch eine unterschiedliche Reihenfolge keine diskursive Parallelität gegeben. Dennoch enthalten beide Abschnitte grundsätzliche forensische Elemente, wie Neyrey zu Recht bemerkt: „8,12–20 is linked with ch 7 not only in terms of Jesus’ claims to be the replacement of the Feast of Tabernacles, but is formally shaped like ch 7 according to elaborate forensic procedure“ (NEYREY [1987], 514).

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damit den Anschein einer nahtlosen Fortsetzung des Rechtsstreites zwischen Jesus und den Juden in der Makrostruktur des Evangeliums.64 Konstruktion eines Prozess-Settings Die Szene in Joh 8,12–20 fällt trotz ihrer Kürze durch eine auffallend hohe Dichte an forensisch konnotierten Semantemen auf. Dazu gehören neben μαρτυρέω (V. 13.14.18[2x]), μαρτυρία (V. 13.14.17) sowie der Verbindung mit ἀληθής (V. 13.14.17), ἀληθινός (V. 16), οἶδα (V. 14[2x].19[3x]) als Semantemen des Zeugnismotivs ferner κρίνω (V. 15[2x].16), κρίσις (V. 16) und νόμος (V. 17).65 Mit der narrativen Rahmung durch den Festnahmeversuch der Pharisäer (7,45; 8,20) sowie durch das narrative Hinzutreten Jesu in die Gerichtsverhandlung der Pharisäer (7,46–52) erscheint das Streitgespräch in Joh 8,12–20 als gerichtliche Vernehmung.66 Dieser Charakter wird auch durch die doppelte Frage der Pharisäer (V. 13.19) bestätigt, durch die das schnelle dialogische Wechselspiel den Charakter eines Verhörs erzeugt, in dem sich Jesus gegen die Anklagen der Pharisäer verteidigen muss.67 Vor diesem Hintergrund scheinen die forensischen Rollen klar verteilt zu sein: Jesus steht durch seine Behauptung, das Licht der Welt zu sein (ἐγώ εἰμι τὸ φῶς τοῦ κόσμου, 8,12), unter dem Verdacht der Anmaßung und somit unter dem Zwang, sich und die beanspruchte Autorität zu rechtfertigen.68 Der Ausspruch Jesu wird im Einwand der Pharisäer σὺ περὶ σεαυτοῦ μαρτυρεῖςꞏ ἡ μαρτυρία σου οὐκ ἔστιν ἀληθής (V. 13) als Selbstzeugnis aufgefasst, dem kein Gewicht zukommt. Im Hintergrund steht die Notwendigkeit von zwei oder drei Zeugen zur Legitimierung einer Aussage nach Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15, wie der direkte intertextuelle Verweis auf die Vorschriften des Gesetzes (ἐν τῷ νόμῳ … γέγραπται, V. 17) erweist.69 Der Rekurs auf das alttestamentliche Zeugenrecht stellt den 64

Den Charakter des Rechtsstreites hat NEYREY (1987), 512–535 begründet. Ebenso auch THEOBALD (2009), 566, der in Joh 8,12–20 wie in Joh 5,31–47; 7,15–24 die „Gattung des literarischen Rechtsstreites“ erkennt (ebenso BECKER [1991a], 299). Ähnlich urteilt ZUMSTEIN (2016), 323: „Dieses Streitgespräch ist ein Rechtsstreit […].“ 65 Vgl. dazu auch Kapitel III,2.1 und die dort erhobenen forensischen Semanteme. 66 NEYREY (1987) spricht von einem „forensic process“ (aaO., 512), bei dem Jesus als Angeklagter vor den versammelten Juden als Richter befragt wird (aaO., 514). 67 So auch BEUTLER (2013), 267, der aufgrund der häufigen Unterbrechungen durch die Pharisäer von einem Verhör spricht: „Angesichts des juridischen Charakters des vorliegenden Abschnitts kann man auch von einem Verhör sprechen, mit der Anklage gegen Jesus und seiner Verteidigung.“ Dieselbe Einbettung in einen Rechtsstreit, bei dem sich Jesus verteidigen muss, sieht auch ZUMSTEIN (2016), 323. Durch den stark dialogischen Charakter unterscheidet sich die Szene ferner von dem Monolog in Joh 5,19–47 und setzt den Charakter der Vernehmung aus Joh 7,14–24 fort. 68 NEYREY (1987), 514f.; TRITES (1977), 106; KEENER (2010a), 740. 69 Vgl. zum intertextuellen Verweis die ausführliche Behandlung bei SHERIDAN (2015), 170–184.

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Dialog in den Kontext einer forensischen Untersuchung auf blasphemische Aussprüche und evoziert eine gerichtliche Befragung Jesu, bei der Jesus sich selbst und den Vater als Zeugen seiner Sache anführt (V. 18). Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung zentriert sich auf die Rolle des gerichtlichen Zeugen. So wird mit οἶδα (V. 14) der literarische Topos des zuverlässigen Augenzeugen aufgenommen. 70 Mit der Nennung des Vaters als Zeuge (V. 18) wird ferner der literarische Topos mehrfacher Zeugen aufgenommen und durch die Frage der Juden nach dem Vater (V. 19) der genannte Zeuge kritisch hinterfragt. In dem so evozierten Gerichts-Setting werden die Pharisäer zunächst als Richter Jesu vorausgesetzt, wie die Bezeichnung (ὑμεῖς … κρίνετε, V. 15) erweist. Als Vertreter des jüdischen Synedriums erscheinen sie dabei zugleich (wie in Joh 1,24) als menschliche Gerichtsbarkeit, die als Repräsentanten Gottes und für Gott Recht in religiösen Angelegenheiten sprechen. 71 Dieses vordergründige Verständnis der zugewiesenen forensischen Rollen gründet sich auf die oberflächliche Textstruktur und deutliche Sinnmarker im Kontext72 und entspricht zugleich der Rollenzuweisung, die die Pharisäer selbst vornehmen.73 Die narrative Textgestalt führt damit den Lesenden dazu, intuitiv die Sichtweise der Pharisäer zu übernehmen. Dieses Verständnis trifft jedoch bei genauerem Hinsehen auf mehrere Aporien, durch die die sogenannte Rollenkonstruktion konterkariert wird. Prozessmodulation Der Auftakt der Auseinandersetzung führt durch das Ich-bin-Wort Jesu (Joh 8,12) folgerichtig dazu, dass sich der folgende Diskurs als Rechtsstreit um die Gültigkeit der in diesem Selbstzeugnis beanspruchten Identität und Autorität Jesu zentriert. Mit der programmatischen Eröffnung des Diskurses durch ἐγώ εἰμι τὸ φῶς τοῦ κόσμου (8,12) beginnt Jesus den Diskurs mit einer nicht nur inhaltlich, sondern auch literarisch symbolträchtigen Vorrangstellung der Selbstbezeichnung Jahwes als ἐγώ εἰμι, die besonders im Rechtsstreit von Jes 40–55 von maßgeblicher Bedeutung ist. 74 Zugleich erscheint damit zum 70 Siehe für οἶδα als mit der zuverlässigen Aussage eines Augenzeugen konnotierten Begriff Kapitel II,1.4.3; vgl. ferner BARRETT (1978), 338; PANCARO (1975), 271f. 71 Siehe zu dieser Funktion jüdischer Jurisdiktion Kapitel II,1.3 und II,2.1. 72 Alle relevanten Elemente liegen an der Oberfläche des Textes einer ersten Lektüre. Dazu kommt, dass der Lesende aus dem vorangegangenen Kontext (sowohl mit als auch ohne pericope adulterae) die Pharisäer als solche kennt, die einen Anklagegrund gegen Jesus suchen (Joh 7,31.46–52; 8,6). Die oben genannte Rollenzuweisung entspricht damit in gewisser Weise dem intuitiven Textverständnis eines Erstlesers. 73 Dass die Pharisäer sich als Ankläger und Jesus als Angeklagten verstehen, ist aus 8,13 zu entnehmen. Dass sie Jesus und den Vater als aufgerufene Zeugen verstehen, ist ferner in ihrer Frage ποῦ ἐστιν ὁ πατήρ σου (8,19) vorausgesetzt. 74 Die Bedeutung von Jes 40–55 als Motivhintergrund für Joh 8,12–20 haben BLANK (1964), 199f.; WILLIAMS (2000), 271–273 dargelegt.

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ersten Mal im Evangelium im Kontext des Rechtsstreites gegenüber den Juden die Selbstbezeichnung ἐγώ εἰμι und gibt dem Diskurs eine noch stärkere Zuspitzung auf die Identität Jesu.75 Dominiert in der Selbstprädikation als φῶς τοῦ κόσμου die heilschaffende Komponente, 76 knüpft die Lichtmetaphorik ebenso an ihre ambivalente Bedeutung in Joh 1,4–9 und 3,19 als richtend und heilschaffend zugleich an.77 Insofern das Licht auch im direkten Kontext als Bloßstellung der durch die Pharisäer repräsentierten geistlichen Finsternis fungiert,78 bringt es Gericht und Heil zugleich.79 Dem falschen Urteil der Pharisäer (V. 15a) stellt Jesus damit folgerichtig sein eigenes Urteilen entgegen (V. 15b) und lässt durch die Behauptung, als Zeuge in eigener Sache auftreten zu können (V. 14), eine Doppelrolle als Zeuge und Richter erkennen. Zusammen mit dem Bezug zum Kontext des Rechtsstreites von Jes 40–5580 bekommt damit 75 Dies ist ferner die erste Verwendung eines ἐγώ εἰμι-Wortes nach dem Ich-bin-Wort der Brotrede (Joh 6,41.48.51). 76 Siehe dazu THEOBALD (2009), 568; MICHAELS (2010), 477. 77 Siehe hier LINCOLN (2000), 84: „But readers have already been shown that light is also intimately associated with the motif of judgement (cf. 3:19–21)“; ebenso auch BEASLEYMURRAY (1999), 129 mit Verweis auf Joh 3,19–21. Die ambivalente Bedeutung drückt auch THEOBALD (2009), 569 trotz der Betonung der heilschaffenden Bedeutung aus: „Wer dagegen 8,12 als Auftakt zum nachfolgenden Disput begreift, vermag der Lichtmetaphorik vom Offenbarungsverständnis des Evangelisten her tieferen Sinn abzugewinnen.“ Dass dieser gerade darin besteht, dass in Anschluss an Joh 1,5–9; 3,19–21 die Finsternis ins Licht der Wahrheit gestellt wird, stellt WENGST (2000), 324f. heraus. PANCARO (1975), 264 weist ferner darauf hin, dass die Lichtmetaphorik bereits durch das Zeugnis des Johannes für das Licht (Joh 1,7–8) mit einer juridischen Konnotation des Zeugnisses verbunden ist. 78 Dies gilt unabhängig davon, ob der Lesende den Text mit oder ohne pericope adulterae liest. Im textkritischen Zusammenhang (ohne pericope adulterae) ist damit ein Gegensatz zur geistigen Dunkelheit der Unkenntnis geschaffen, die die Pharisäer in Joh 7,52 auszeichnet. Im kanonischen Zusammenhang (mit pericope adulterae) kommt man dagegen nicht umhin, die Ehebrecherperikope als Exemplifikation des Lichtwortes zu verstehen, bei der das Licht die Sünde der Ankläger bloßstellt (LINDARS [1987], 317). 79 Vgl. ähnlich LINCOLN (2000), 84: „In the judgment provoked by the coming of the light, there is the negative effect of revealing and condemning what belongs to the darkness; there is also the positive effect (which is in view in Jesus’ claim here) that the illumination produces life – the salvific verdict in the cosmic trial.“ Siehe ebenso die Ausführungen von WILLIAMS (2000), 266.273f. zu Joh 8,12: „But the φῶς image is immediately linked in the Johannine discourse to the theme of judgement, because a key function of ‚the light‘ is to expose truth and falsehood, belief and unbelief“ (aaO., 266). Ähnlich BLANK (1964), 194, der in der Selbstbezeichnung Jesus als τὸ φῶς τοῦ κόσμου den Aspekt des Gerichts auch in der Verwendung von κόσμος als Bezeichnung der gottfeindlichen Welt erkennt. 80 Der Bezug zu Jes 40–55 ist bereits durch den Bezug des Ausdrucks φῶς τοῦ κόσμου zu den Passagen in Jes 42,6; 49,6 vorgegeben (THEOBALD [2009], 567; WENGST [2000], 324; BARRETT [1978], 337), die fest im Kontext des Rechtsstreites Gottes mit der Welt verwurzelt sind. So wird die Lichtmetaphorik in Jes 42,6 im atl. Kontext zugleich dadurch konkretisiert, das Recht (‫מ ְשׁ ָפּט‬, ִ LXX: κρίσις) hinauszubringen (‫ יוֹצִ יא ִמ ְשׁ ָפּט‬in Jes 42,3), auf Erden aufzurichten (‫ י ִָשׂים בָּ אָ ֶרץ ִמ ְשׁ ָפּט‬in Jes 42,4) und damit die Völker unter den Recht- und

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

das Lichtwort eine herausfordernde Komponente, durch die Jesus seine Identität als ἐγώ εἰμι beansprucht und damit in der Rolle Gottes als Richter, Ankläger und Zeuge des Rechtsstreites erscheint.81 Der in Joh 8,13–14 verwendete Ausdruck μαρτυρέω περί zeichnete sich bereits in den vorangegangenen Verwendungen in der Erzählung dadurch aus, dass er nicht eindeutig mit einer verteidigenden Funktion des Zeugen verbunden ist, sondern hinsichtlich der forensischen Funktion des Zeugnisses ambivalent bleibt. Im Gegensatz zu μαρτυρέω κατά oder μαρτυρέω ἐπί wird mit περί der semantische Inhalt, nicht der funktionelle Aspekt des Zeugnisses im Prozess angezeigt.82 Insofern ist die Person Jesu selbst Inhalt des Zeugnisses, wodurch dessen genaue Funktion erst aus dem Kontext erschlossen werden kann. Tatsächlich ist auch die Fortsetzung in V. 14–20 in Bezug auf die forensische Funktion des Zeugnisses ambivalent und erweist ein Verständnis, bei dem das Zeugnis Jesu als reine Verteidigung gesehen wird, als verkürzt. Zum einen ist die forensische Funktion eines Zeugen sowohl im Frühjudentum als auch im Johannesevangelium niemals auf eine verteidigende Rolle beschränkt, sondern fungiert immer zugleich als Anklage.83 Zum anderen lässt sich dem von den Pharisäern eingebrachten Einwand, der mit Verweis auf das atl. Zeugenrecht84 das Zeugnis Jesu als Zeugnis eines einzelnen zurückweist (V. 13), im Fall einer Verteidigung Jesu kein rechter Sinn abgewinnen: Das jüdische Prozessrecht sah die Notwendigkeit von Zeugen nur für den Ankläger vor, während der Angeklagte durchaus für sich selbst sprechen konnte.85 Versuche, Richtspruch des Gottesknechtes zu stellen. Neben diesem Bezug weist auch die Verwendung der Selbstbezeichnung Jesu als ἐγώ εἰμι in Joh 8,12 fest in den Kontext des Rechtsstreites Gottes mit der Welt aus Jes 40–55, in dem die Identität Gottes selbst im Rechtsstreit verhandelt wird (siehe dazu oben Kapitel II,2.2). 81 Vgl. auch NEYREY (1987), 534; WILLIAMS (2000), 273. 82 Siehe dazu auch Kapitel III,2.1 zur Konstruktion μαρτυρέω + περί. 83 Siehe zu diesem Befund im Frühjudentum Kapitel II,1.3.2; vgl. zum Befund im Johannesevangelium die Übersicht in Kapitel III,2.1 sowie die ausführliche Diskussion zu Joh 5,31 oben in Abschnitt 3.4. 84 Obwohl das atl. Zeugenrecht (Notwendigkeit von mindestens zwei Zeugen nach Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15) in Joh 8,13 nicht direkt zitiert wird, liegt es nach einem breiten Konsens in der Forschung als hinter dem Einwand der Pharisäer liegende Prämisse zugrunde (vgl. BARRETT [1978], 338; THOMPSON [2015], 184; KÖSTENBERGER [2004], 255; KEENER [2010a], 740 sowie die ausführliche Untersuchung von SHERIDAN [2015], 170–184). Der Bezug wird spätestens durch den expliziten Verweis in Joh 8,17 offensichtlich. 85 Die Argumentation der Pharisäer bleibt unverständlich, solange die forensische Rolle Jesu auf eine rein verteidigende Rolle reduziert wird. Die Schwierigkeit besteht darin, dass eine Selbstaussage des Angeklagten im jüdischen Prozessrecht nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten war (siehe zu diesem Befund Kapitel II,2.1 sowie die Behandlung einer ähnlichen Problemstellung zu Joh 5,31 oben in Abschnitt 3.4, Anm. 186). Die implizite Forderung der Pharisäer nach Zeugen auf der Seite Jesu wäre damit unsinnig, wie MICHAELS (2010), 480 zutreffend beobachtet: „The flaw in the Pharisees’ argument is that at least two witnesses were required for the conviction of an offender, not for his acquittal.“ Solange

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diese Problematik mit dem Hinweis zu umgehen, dass die Pflicht zur Aufstellung mehrerer Zeugen im Frühjudentum auch für Angeklagte galt,86 der Zeugnisbegriff hier nicht im juristischen Sinn gebraucht sei87 oder das atl. Zeugenrecht gar nicht im Blick stehe,88 sind nicht zufriedenstellend. Demgegenüber liegt ein anderes Verständnis im Kontext deutlich näher: Der Einwand der Pharisäer scheint nach frühjüdischem Verständnis und durch den Verweis auf das atl. Zeugenrecht vielmehr vorauszusetzen, dass das Zeugnis Jesu zugleich als Anklage fungiert.89 Das ist nach der Selbstprädikation Jesu als ἐγώ εἰμι sowie Jesus in einer verteidigenden Rolle gesehen wird, will der pharisäische Vorwurf des ungültigen Selbstzeugnisses somit keinen rechten Sinn ergeben. Dies wird durch die Behandlung der Stelle bei PANCARO (1975), 275 trefflich illustriert, der eine verteidigende Rolle Jesu mit dem Verweis auf das Zeugenrecht der Thora nur in Einklang bringen kann, indem er der Erzählung eine merkwürdige und singuläre Umdeutung des atl. Zeugenrechts unterstellt: „[T]he principle of the two witnesses undergoes a curious transformation in our text. Everywhere in the NT where this legal principle is referred to, we are dealing with witnesses for the prosecution […]. The same may be said of the texts of the OT […].“ Gegen eine solche Umdeutung des atl. Zeugenprinzips weist SHERIDAN (2015), 180 jedoch zu Recht darauf hin, dass es keinen hinreichenden Grund gibt, die anklagende Funktion der Zeugen vom intertextuellen Verweis zu dissoziieren. Stattdessen muss gefragt werden, ob eine Engführung des Zeugnisses auf eine defensive Funktion die wahrscheinlichste Deutung ist. 86 So verweisen KÖSTENBERGER (2004), 254 und BARRETT (1978), 338 auf außergerichtliche Ausweitungen des Zeugenprinzips in mKet 2,9; mRHSh 3,1. Die genannten Belege beziehen sich jedoch nicht auf den Kontext des Rechtsstreites und sind damit ungeeignet (siehe zur Diskussion der Belege Kapitel II,1.3.3; vgl. ferner die Diskussion zu Joh 5,31 oben in Abschnitt 3.4). Selbst dann, wenn sie die Möglichkeit von Zeugen aufseiten der Verteidigung im Rechtsstreit nachweisen könnten, wären sie doch ungeeignet als Nachweis für die Notwendigkeit mehrerer Zeugen aufseiten des Angeklagten. Dagegen beziehen sich die von ZUMSTEIN (2016), 326 genannten Belege in 11QTa LXI 6–7; 11QTa LXIV 8; CD IX 3– 4.17–32 sowie Flav.Jos.Ant. IV 219 zwar stärker auf juristisch fokussierte Sachverhalte, betreffen aber allesamt Zeugen in der Anklage und scheiden daher als Belege aus (so richtig bemerkt von SHERIDAN [2015], 180). Dies gilt ebenso für die bei STRACK/BILLERBECK (1922), 790f. angeführten Quellen, auf die Zumstein verweist. Siehe für eine ausführliche Diskussion der relevanten Belege zum Zeugenrecht im Alten Testament und Frühjudentum die Ausführungen in Kapitel II,1.3.3. 87 So etwa die Erklärung von PANCARO (1975), 217, nach der μαρτυρέω in Joh 8,14 synonym zu λαλέω verwendet sei. Dies ist jedoch eine Verlegenheitslösung, die die forensische Akzentsetzung der Szene gänzlich verfehlt. Richtig dagegen RIDDERBOS (1997), 293: „[T]hough figuratively […], the issue is the forensic meaning of ‚testimony‘.“ 88 LINCOLN (2000), 84 weist zu Recht darauf hin, dass eine Spekulation darüber, ob die Pharisäer andere als die im atl. Gesetzestext dargelegte Traditionen voraussetzen, hier nicht relevant ist. Der direkteste Bezug des mehrfachen Zeugnisses ist das atl. Zeugenrecht, wie SHERIDAN (2015), 170–184 ausführlich nachgewiesen hat. 89 Die plausibelste Erklärung ist somit, dass die Pharisäer die im Ich-bin-Wort implizit enthaltene Anklage durchaus richtig gedeutet haben und nun die für eine Anklage notwendigen Zeugen fordern; vgl. dazu BEASLEY-MURRAY (1999), 129. Dies entspricht sowohl dem atl. Zeugenrecht als auch dem johanneischen Kontext.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

vor dem Hintergrund der richtenden und überführenden Konnotation der Lichtmetaphorik in Joh 8,12 kaum verwunderlich.90 Das Zeugnis Jesu würde selbst dann, wenn es zunächst apologetische Funktion hätte, bei erfolgreicher Verteidigung des Absolutheitsanspruches ἐγώ εἰμι zwangsläufig einer Anklage der Ankläger gleichkommen, 91 wie sich insbesondere in der Theodizee im atl. Rechtsstreit zeigt.92 Dass die Pharisäer die Notwendigkeit des Zeugnisses so scheinbar unvermittelt einbringen (V. 13), muss damit als Hinweis gewertet werden, dass sie sich in der Aussage Jesu selbst als Angeklagte ansehen.93 Die Darstellung zeigt dadurch starke Momente der Rezeption der Rechtsstreitmotivik aus Jes 40–55, bei dem Gott selbst als ἐγώ εἰμι im Rechtsstreit in Jes 43,10.12 als Richter und Zeuge auftritt.94 Dass sich der Verweis Jesu auf das Zeugnis des Vaters in Joh 8,16–18 nicht recht in ein menschliches Gerichtsverfahren einfügen will,95 wie die folgende Frage der Juden (V. 19) zeigt, 90

So richtig BEASLEY-MURRAY (1999), 129, der den Einwand der Pharisäer auf die anklagende und richtende Konnotation des Lichtmetaphorik bezieht: „[I]t belongs to the function of the Light to discriminate and judge […].“ 91 Diese Konsequenz sieht auch PANCARO (1975), 275 (trotz der Betonung der maßgeblich verteidigenden Komponente des Zeugnisses), indem er das Zeugnis charakterisiert als „μαρτυρία which is, directly, a μαρτυρία in his favour (in his defence) but indirectly a μαρτυρία against those who reject it“. Die Anklage ergibt sich insbesondere aus der Zurückweisung im Unglauben, wie BLANK (1964), 208 betont: „Wird dem Sohn der Glaube verweigert, dann wird das Zeugnis […], das auf den Sohn verweist, im selben Augenblick aus einem positiven Offenbarungszeugnis zu einem Belastungszeugnis gegen diejenigen, die nicht glauben […].“ 92 Vgl. dazu TRITES (1977), 107. Diese Wendung entspräche nicht nur der alttestamentlichen Verteidigung im Rechtsstreit als Anklage des Anklägers (siehe Kapitel II,2.1), sondern auch der Zeugenfunktion im Rechtsstreit von Jes 40–55, bei dem die Zeugen in der Verteidigung des göttlichen Anspruchs als ἐγώ εἰμι den Völkern gegenüber zugleich zu Zeugen in der Anklage werden (siehe Kapitel II,2.2.3). 93 Vgl. dazu auch PANCARO (1975), 274. 94 So etwa in Jes 43,10.12 LXX (vgl. dazu Kapitel II,2.2.3, Anm. 70); siehe dazu auch LINCOLN (2000), 40. Die Äußerung Jesu zeigt insbesondere darin Anklänge zu den atl. Passagen, dass mit der betonten Formulierung ἐγώ εἰμι ὁ μαρτυρῶν (Joh 8,18) gleichzeitig die Identität Jesu als ἐγώ εἰμι wie in Jes 43,10–13 im Zusammenhang mit seiner Rolle als göttlicher absoluter Zeuge und Richter steht (vgl. LINCOLN [2000], 86; ebenso LINDARS [1987], 318, der von „remarkable similarity“ spricht; ferner BLANK [1964], 199; WILLIAMS [2000], 273). Siehe auch Kapitel II,2.2.1 für weitere Beispiele der Doppelrolle Gottes als Richter und Zeuge im Rechtsstreit mit Menschen. 95 So wirkt nach WENGST (2000), 328 „diese Argumentation sehr gesucht. […] Sicher wird auch Johannes gewusst haben, dass er – streng genommen – dem Zeugenrecht nicht genügt.“ Wengst bemängelt, dass Jesus zum einen selbst Zeugnis für sich gibt und zum anderen das Zeugnis des Vaters nicht als unabhängiges Zeugnis gelten kann. Man muss mit BEUTLER (1972), 271 hinzufügen, dass der Vater zudem für die Juden gar „nicht unmittelbar greifbar ist“ (vgl. V. 19); vgl. ebenso die Darstellung der Probleme bei PANCARO (1975), 276f. Es kann daher nicht darum gehen, dass Jesus durch den Verweis auf den Vater „dem biblisch-jüdischen Prozessrecht Genüge“ tun will (WENGST [2000], 327). Die

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muss ferner als Hinweis gewertet werden, dass sich Jesus einer menschlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich verweigert und stattdessen in der Rolle Gottes als absoluter Zeuge und Richter auftritt, die auch im Rechtsstreit mit Menschen nicht hinterfragt werden kann.96 Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Jesus – in Widerspruch zum atl. Zeugenrecht (vgl. V. 17–19) – für sich selbst zeugen kann und gleichzeitig die richtende Tätigkeit Jesu (V. 15–16) nahtlos in den vom Zeugnis beherrschten Kontext (V. 14.17–18) eingebettet wird. 97 Die mit ἐγὼ οὐ κρίνω οὐδένα … καὶ ἐὰν κρίνω δὲ ἐγώ (V. 15b–16a) ausgedrückte Dialektik ist dabei als intratextueller Verweis auf die systematische Reflexion zwischen heilschaffender und richtender Auswirkung der Sendung des Sohnes aus Joh 3,11–21.31–36 zu verstehen und keineswegs geeignet, die Tätigkeit Jesu als Richter zu unterminieren. 98 Vielmehr Schwierigkeiten lösen sich auf, wenn man in Rechnung stellt, dass Jesus als Anklagezeuge gegen die Juden auftritt (und damit vom Vorwurf des Selbstzeugnisses frei ist), und sich ferner nach Vorbild von Jes 43,10.12 selbst als göttlicher Zeuge sieht. Die Nennung des Vaters ist in der in Joh 5,19–30 begründeten Wirkeinheit gerade nicht als unabhängiges Zeugnis gedacht, sondern entspricht ganz dem absoluten göttlichen Zeugnis im Rechtsstreit, das keiner menschlichen Bestätigung bedarf (LINCOLN [2000], 85) und in einem Schluss a minori ad maius den menschlichen Zeugen überlegen ist (vgl. PANCARO [1975], 277). Dass damit die Pharisäer freilich nicht überzeugt werden, sondern vielmehr ein grundlegender Paradigmenkonflikt zwischen zwei Sichtweisen offenbar wird, ist eine wesentliche Akzentsetzung der Darstellung (siehe dazu unten). 96 So auch NEYREY (1987), 534; LINCOLN (2000), 85f.; WILLIAMS (2000), 273; BEUTLER (1972), 268. Nach THEOBALD (2009), 569 soll damit jedoch ausgedrückt werden, dass das Zeugnis Jesu selbstevident ist. Darin zeigt sich ein inhaltlicher Anschluss an die Lichtmetaphorik, durch die das Zeugnis Jesu parallel zum Licht erscheint, das ebenfalls selbstevident ist (vgl. auch BARRETT [1978], 338; WENGST [2000], 326). Die damit betonte Zeugenfunktion knüpft inhaltlich an Joh 3,11 an und verbindet sich nun mit der in Joh 5,19–47 herausgestellten Wirkeinheit zu einem einheitlichen Zeugnis mit dem Vater (LINDARS [1987], 316). 97 Bis auf die gemeinsame juridische Kategorie von κρίνω und μαρτυρέω kann PANCARO (1975), 264 dem Wechsel beider Motive keinen rechten Sinn abgewinnen und hält den Wechsel für „not so smooth“ und „intrusive“ und urteilt: „vv. 15–16 fit […] poorly into the immediate context“ (aaO., 265). Ebenso hält BULTMANN (1986), 211 das in den Kontext des Zeugnismotivs eingefügte Gerichtsmotiv für „befremdlich“. Der Wechsel wird jedoch durch die im Rechtsstreit fest mit Gott assoziierte Doppelrolle als Richter und Zeuge verständlich; vgl. dazu LINCOLN (2000), 86: „The shifts back and forth between Jesus as witness and Jesus as judge would appear sudden and awkward were it not for two points: first, the fact that the trial scene of Joh 5 has already prepared us for the irony of Jesus’ dual role, and second, our knowledge of the cosmic trial in Isaiah, where Yahweh also has the roles of both witness and judge.“ 98 So auch WENGST (2000), 327. Siehe dazu oben Abschnitte 2.2–2.3 zu der kausalen Beziehung zwischen primär heilschaffender und zwangsläufig richtender Funktion des Kommens Jesu als Licht. Die darin vorausgesetzte Kausalität erweist sich als integraler Bestandteil der Rechtsstreitmotivik und wird durch diese verständlich (siehe dazu oben Abschnitt 2.2, Abb. 9; vgl. ferner THEOBALD [2009], 571).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

wird Jesus mit der Kritik an der Urteilsbildung seiner Kontrahenten (ὑμεῖς κατὰ τὴν σάρκα κρίνετε, 8,15a) zum Richter seiner Richter und führt damit das in Joh 5,44; 7,18.24 bereits aufgegriffene Motiv des falschen Gerichts fort, durch das sich das Urteil auf die unrechten Richter zurückwendet.99 Dabei erscheinen die Pharisäer in ironischer Weise als solche, die nichts über die Person Jesus wissen (οὔτε ἐμὲ οἴδατε οὔτε τὸν πατέρα μου, 8,19) und damit nicht nur als Richter, die über die Identität Jesu als zentralem Prozessinhalt nicht informiert sind und sich damit als untauglich erweisen, sondern auch als solche, die sich aufgrund ihrer Unkenntnis des Vaters (8,19) disqualifizieren, als menschliche Stellvertreter im Rechtsstreit das Urteil Gottes auszusprechen.100 Die Szene in Joh 8,12–20 setzt somit in mehrfacher Weise die Akzentsetzung von Joh 5,31–47 fort, wie sie sich in der Betonung der Abhängigkeit des Sohnes vom Vater (V. 16) 101 sowie in der Nennung himmlischer Zeugen (V. 18) zeigt, und erweist den Rechtsstreit in Fortsetzung der Akzentsetzung der bisherigen Darstellung als Paradigmenkonflikt, bei dem sich zwei unterschiedliche Paradigmen des Rechtsstreites gegenüberstehen. Durch diesen Konflikt konkurrierender Rollenverständnisse stehen sich (schon rein sprachlich) in Joh 8,15 ganz folgerichtig zwei Richter(gruppen) gegenüber, wie auch durch die antithetischen Formulierungen (οἶδα … ποῦ ὑπάγωꞏ ὑμεῖς δὲ οὐκ οἴδατε … ποῦ ὑπάγω, V. 14; ὑμεῖς … κρίνετε, ἐγὼ … κρίνω, V. 15) herausgestellt wird. Die damit evozierte Bildebene ist so offensichtlich widersprüchlich, dass der Lesende versucht sein könnte, κρίνω hier im Sinne von ‚beurteilen‘ abzuschwächen.102 Doch im ganzen Kontext des Evangeliums scheint es genau auf die Paradoxie der evozierten Bildebene und auf die damit implizierte Kollision zweier Rollenkonstruktionen anzukommen,103 die sich lediglich darin einig sind, dass es nur einen göttlichen Richter geben kann. Reflexion der Prozess-Narration Die Auseinandersetzung in Joh 8,12–20 schließt sich nahtlos an die bisherige Prozessdarstellung des Evangeliums an und führt diese darin weiter, dass Jesus nun deutlicher als zuvor in der Dreifachrolle von Zeuge, Ankläger und Richter auftritt. Zunehmend zeichnet sich damit auch ein konfliktäres Rollenver99

So auch THEOBALD (2009), 571; BARRETT (1978), 338. Dass mit V. 19 eine ironische Unkenntnis Gottes zutage tritt, haben auch WENGST (2000), 330 und TRITES (1977), 106 herausgestellt. 101 Wie in Joh 5,30–31 demonstriert das gemeinsame Zeugnis des Sohnes und des Vaters die Wirkeinheit zwischen beiden. Zu widersprechen ist damit THEOBALD (2009), 570 in der Ansicht: „Vers 14 widerspricht 5,31 diametral […].“ 102 So etwa BEUTLER (1972), 268; dies wird jedoch zu Recht bei LINCOLN (2000), 85 zurückgewiesen. 103 So auch angedeutet bei LINCOLN (2000), 85, der darin eine Sichtweise zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ (vgl. Joh 3,31; 8,23) erkennt. 100

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4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

ständnis ab und wird sogar zum Zentrum der Auseinandersetzung selbst gemacht. War der bisherige Konflikt zwischen Jesus und den Juden noch an einzelnen Rechtssachen interessiert,104 so zeigt sich in der Auseinandersetzung für den Lesenden vermehrt ein Aneinander-Vorbeireden, bei dem die Argumente Jesu und der Juden auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und auch nur durch ihren jeweiligen Deutungshorizont verständlich werden. So wird die für die Juden unmögliche Vorstellung, in Jesus den ἐγώ εἰμι selbst zu verurteilen, von Jesus als Realität vorausgesetzt. Umgekehrt gehen die Juden von der für ihn völlig unmöglichen Vorstellung aus, dass er als Mensch Gott lästert und daher durch sie verurteilt wird. Die narrative Darstellung veranschaulicht damit eine grundlegende Uneinigkeit über das grundsätzliche Setting und Paradigma des Rechtsstreites (vgl. Abb. 11). Rollenbild B

Rollenbild A

Wirkeinheit Gott

Vater

Sohn Zeugen richten

Zeugen

Jesus

klagen an

Juden

Juden/Welt

Abb. 11: Paradigmenkonflikt als konkurrierende Rollenbilder.

Die Opposition antagonistischer Rollenbilder offenbart einen hinter allen Streitgesprächen liegenden fundamentalen Paradigmenkonflikt, über den es (von Joh 2,13–22 an) innerhalb der erzählten Welt keine Verständigung gibt.105 Dass dieser nicht anders als der bereits in Joh 3,1–36 explizierte Paradigmenkonflikt zwischen einer Sichtweise ἐκ τῶν κάτω und ἐκ τῶν ἄνω (8,23) zu verstehen ist,106 macht der direkte Anschluss in Joh 8,23 klar.107 Eine Auflösung 104

So stand in Joh 5,19–30 der Vorwurf der Blasphemie und der Sabbatheilung im Vordergrund; vgl. ebenso die sachliche Argumentation zur Sabbatheilung in Joh 7,21–23. 105 So auch SCHNELLE (2016), 205. Dies wird durch die Verwendung der johanneischen Missverständnisse (vgl. V. 19) offenbar; siehe dazu LINCOLN (2000), 86f. Siehe zur Funktion der johanneischen Missverständnisse ausführlich CARSON (1982) sowie KÖSTENBERGER (2009), 141–145. 106 Darauf verweis auch LINCOLN (2000), 85; ebenso auch VON WAHLDE (2001), 421. 107 Siehe dazu WILLIAMS (2000), 267; LINCOLN (2000), 85. Siehe zu den unterschiedlichen Sichtweisen der Antagonisten auch KEENER (2010a), 741.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

des Rollenkonflikts ist nur dort möglich, wo er in seiner vollen Widersprüchlichkeit überhaupt wahrgenommen wird – beim Lesenden.108 Die konkurrierenden Rollen werden damit in ein drittes Rollenverständnis transformiert, das beide Rollenbilder transzendiert (vgl. Abb. 12). Rollenbild A

Rollenbild B

Lesende

Abb. 12: Meta-Prozess zwischen konkurrierenden Paradigmen.

Damit zeigt sich auf Basis der Inklusion des Lesenden in den Rechtsstreit eine Weiterentwicklung gegenüber der bisherigen Prozessdarstellung, insoweit der Lesende nun nicht mehr über einzelne Rechtssachen urteilt, sondern in einen Meta-Rechtsstreit um konkurrierende Rechtsstreit-Paradigmen hineingezogen wird. Dieser Transfer fungiert als Vehikel einer wesentlichen theologischen Botschaft, die das Urteil über Jesus in Transzendierung einer Bewertung einzelner Tatvorwürfe zu einem Urteil eines umfassenden Wirklichkeits-, Gottesund Weltverständnisses erweist. Die Rolle des Richters über Jesus einzunehmen heißt zugleich, das Paradigma der Welt zu wählen. Dass Jesus in der Rolle des ἐγώ εἰμι auftritt und auch von den Lesenden den Glauben an ihn als solchen fordert (Joh 8,21), kommt dabei dem Zugeständnis des Lesenden gleich, die Rolle des Richters über Jesus bewusst nicht einzunehmen, und setzt damit den Glauben an ihn mit der Übernahme der Sichtweise von ‚oben‘ gleich. In der Wahl des Paradigmas begegnet der Lesende somit der Glaubensentscheidung, und der Rechtsstreit wird damit zur funktionalen Metapher, beim Lesenden den Glauben an Christus zu wecken (Joh 20,31). Es zeugt von der zielgerichteten narrativen Darstellung des Evangeliums, dass sich dieser Paradigmenkonflikt 108 Dagegen sind sich die Pharisäer als Charaktere der erzählten Welt des Rollenkonflikts nicht in seiner vollen Tragweite bewusst, wie ihr Missverständnis der Rede Jesu vom Vater zeigt. Sie halten ein konkurrierendes Paradigma für gänzlich ausgeschlossen. Es ist einer der besonderen Kennzeichen der narrativen Darstellung, dass sie dem Lesenden verständlich macht, was den Figuren verborgen ist (KLINK [2016a], 251). Die Erzählung trägt durch dieses Charakteristikum wesentlich zu einer persuasiven Funktion bei (SHERIDAN [2016], 213f.; KLINK [2016a], 251).

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gerade aus einem grundlegenden Dissens darüber ergibt, wer Jesus ist (vgl. Joh 20,31).109

4.3. Umfassende Verhandlung weiterer Anklagen (Joh 8,37–59) Narrative Einbettung An die direkte Konfrontation in Joh 8,12–20 schließt sich in Joh 8,21–59 ein langer Diskurs an, der dennoch eine einzige Szene bildet.110 Diese lange Szene ist durch den szenischen Abschluss in Joh 8,20 von der vorherigen Szene abgegrenzt, aber wie jene anhand der Einleitung εἶπεν οὖν πάλιν αὐτοῖς (8,21; vgl. ähnlich schon 8,12) als Teil des großen Diskurses von Joh 7,14–8,59 ausgewiesen. Dabei knüpft die fortgesetzte Tötungsabsicht der Juden (8,40) an den Diskurs in Joh 7,14–52 an (vgl. 7,1.11.19.20.25) und stellt das Streitgespräch weiterhin unter den Versuch der Strafverfolgung durch die Juden. Mit αὐτοῖς zeigt sich zudem eine Kontinuität der Gesprächspartner aus Joh 8,12– 20, auch wenn diese nun nicht mehr als Φαρισαῖοι (V. 13), sondern konsistent als Ἰουδαῖοι bezeichnet werden (V. 22.31.48.52.57). Eine ähnliche Kontinuität zu Joh 8,12–20 zeigt sich auch auf inhaltlicher Ebene. Zum einen setzt sich die Selbstprädikation Jesu als ἐγώ εἰμι fort, die nach den stärker ambivalent angelegten Formulierungen in Joh 8,12.18 nun in Joh 8,24.28.58 deutlich zum absoluten Gebrauch ohne Näherbestimmung tendiert und damit als direkte Anspielung auf den Gottesnamen zu werten ist.111 Die Selbstbezeichnung steuert in dieser Intensivierung zielstrebig zum Höhepunkt des Diskurses in Joh 8,58 hin und erweist sich durch diesen Kulminationspunkt als Leitmotiv des Abschnitts.112 Daneben wird durch die Unterscheidung zwischen ἐκ τῶν κάτω und ἐκ τῶν ἄνω (V. 23) der in Joh 8,12–20 herausgestellte Akzent konträrer Paradigmen direkt formuliert.

109 Insofern steuert das Evangelium folgerichtig und virtuos auf die in 20,31 genannte Schlussfolgerung zu. Dem entspricht, dass die Selbstprädikation Jesu als ἐγώ εἰμι in Joh 8,12–20 zunehmend ins Zentrum der Prozessdarstellung des Evangeliums tritt und diese nicht nur in den folgenden Disputen bis zum Ende von Joh 8,59 (vgl. 8,23–24.28.59), sondern weit darüber hinaus prägen wird (vgl. 10,7.9.11.14; 11,25; 14,6; 15,5 sowie die absolute Verwendung der Prädikation in 18,5–8). 110 Siehe dazu auch VON WAHLDE (2001), 419. 111 Vgl. LINCOLN (2000), 87; THYEN (2005), 426f. und ausführlich WILLIAMS (2000), 266–283. Der ganze Diskurs in Joh 8,12–59 erscheint damit stark unter dem Vorzeichen des Rechtsstreites in Jes 40–55 (WILLIAMS [2000], 273). 112 Nach SCHNELLE (2016), 206f. bildet das absolute ἐγώ εἰμι das „Grundthema von Joh 8“.

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Durch einen in Joh 8,31 angedeuteten Wechsel der Gesprächspartner Jesu hin zu den ‚ihm glaubenden Juden‘ (τοὺς πεπιστευκότας αὐτῷ Ἰουδαίους, V. 31) ergibt sich eine Unterteilung der Szene in zwei Teile (V. 21–30; V. 31– 59),113 durch die nun erstmals eine absichtsvolle Ambivalenz zwischen den Jesus gegenüberstehenden feindlichen Juden und vordergründigen Anhängern entsteht. Indem aufgrund eines fehlenden Hinweises auf einen weiteren Wechsel der Gesprächspartner Jesu schließlich auch in der versuchten Steinigung in Joh 8,37–59 die ‚ihm glaubenden Juden‘ aus V. 31 als Akteure suggeriert werden, bekommt die Darstellung eine ganz eigene Pointe.114 Sie führt die Akzentsetzung von Joh 7,14–24 fort, nach der die Zuschauer nicht nur in die Auseinandersetzung involviert werden, sondern selbst unausweichlich unter Jesus als Richter stehen, sofern sie im vordergründigen Glauben verhaftet bleiben.115 Konstruktion eines Prozess-Settings Die Szene in Joh 8,21–59 weist bis auf die Verwendung von κρίνω zu Beginn und am Ende des Diskurses (V. 26.50) sowie mit ἐλέγχω (V. 46) nur wenige forensisch konnotierten Semanteme auf116 und trägt im Vergleich zu den Passagen in Joh 5,31–47; 7,14–24 sowie der direkt vorangegangenen Szene in Joh 8,12–20 zunächst weniger deutliche Züge einer Gerichtsszene.117 Dennoch zeichnet sie sich durch zahlreiche Bezeichnungen moralischer Vergehen aus, von denen neben generischen Ausdrücken wie ποιῶν τὴν ἁμαρτίαν (V. 34), ἀποκτεῖναι (V. 37.40) insbesondere durch die Verwendung der spezifischen Termini ἀνθρωποκτόνος (V. 44), ψεύστης (V. 44.55), ψεῦδος (V. 44), πορνεία (V. 41) und ἐπιθυμία (V. 44) solche Semanteme die Darstellung prägen, die im Evangelium nur in Joh 8 belegt sind. Die darin ausgedrückten Tatvorwürfe werden sowohl von den Juden als auch von Jesus genannt und stellen die Szene durch die starken Bezüge zum Dekalog118 in der erzählten Welt als bilateralen 113

Vgl. dazu ausführlich THEOBALD (2009), 564. Siehe zur bewusst ambivalenten Darstellung der Adressaten THEOBALD (2009), 564f. 115 Vgl. zu dieser Deutung auch ZUMSTEIN (2016), 337; BEUTLER (2013), 272. 116 So fehlt von den in Kapitel III,2.1 untersuchten forensischen Semantemen etwa das Zeugenmotiv gänzlich. 117 So auch THEOBALD (2009), 566; BECKER (1991a), 298; ZUMSTEIN (2016), 231, die in Joh 8,21–59 im Gegensatz zu den genannten Szenen nicht die Gattung des literarischen Rechtsstreites sehen. Trotz dieser Unterschiede ist durch die implizite Voraussetzung einer richtenden Instanz (vgl. von κρίνω in V. 26.50 sowie die versuchte Vollstreckung einer Steinigung in V. 59) das Bild einer Gerichtsverhandlung präsent und wird dementsprechend als „forensic process“ (NEYREY [1987], 515) oder „forensische […] Szene mit Jesus als dem ‚Richter‘“ (THYEN [2005], 440) bezeichnet. SHERIDAN (2015), 184 sieht darin zu Recht die Projektion eines Rechtsstreites und verweist auf „the forensic tone of its dialogue, and the narrative of Jesus’s ‚trial‘ projected within it“. 118 In den Tatvorwürfen sind mit Mord (Ex 20,13), Lüge (Ex 20,16), Hurerei (Ex 20,14) und Begierde (Ex 20,17) vier der sechs Gebote aus dem zweiten Teil des Dekalogs präsent. 114

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Rechtsstreit dar, bei dem beide Parteien sich gegenseitig anklagen und der Schuld zu überführen suchen.119 Neben gegenseitigen Anklagen werden zudem die Konsequenzen der Tatvorwürfe genannt, bei denen die dreifache Warnung Jesu vor dem Sterben in den Sünden (ἐν τῇ ἁμαρτίᾳ ὑμῶν ἀποθανεῖσθε in V. 21; zweifaches ἀποθανεῖσθε ἐν ταῖς ἁμαρτίαις ὑμῶν in V. 24) dem dreifach genannten Hinrichtungsversuch der Juden (V. 37.40.59) gegenübersteht. Eine ähnliche Reziprozität kennzeichnet den gesamten Diskurs.120 Damit wird neben der bilateralen Dimension der erzählten Welt zugleich das Bild eines metaphorischen Gerichtsprozesses hervorgerufen, bei dem eine Vielzahl gegenseitiger Anklagen mit der Erwartung des Todesurteils (V. 21.24.59) verhandelt werden.121 Dies beginnt in V. 38–51 mit dem gegenseitigen Vorwurf illegitimer Abstammung. Als Reaktion122 auf die von Jesus infrage gestellte Abstammung von Abraham, die nach jüdischer Sicht dem Ausschluss von der Bundesgemeinschaft gleichkommt (V. 39),123 begegnen die Juden Jesus mit dem Vorwurf der illegitimen und mit Hurerei assoziierten Geburt (V. 41)124 und der Bezeichnung als Σαμαρίτης (V. 48). Der Angriff der physischen Abstammung ist auf beiden Seiten nur der Ausgangspunkt, um auf die geistliche Herkunft zu

Mit der Zuspitzung auf das Thema der Vaterschaft, das den ganzen Diskurs prägt (das Lexem πατήρ begegnet 13-mal in Joh 8,37–59) liegt ferner ein Bezug zur mangelnden Verehrung von Vater und Mutter (Ex 20,12) vor, sodass aus der zweiten Dekaloghälfte einzig der Tatvorwurf des Stehlens (Ex 20,15) nicht aufgenommen wird. 119 Vgl. dazu ASIEDU-PEPRAH (2001), 16–24; dementsprechend bezeichnet SCHNELLE (2016), 227 die Auseinandersetzung zu Recht als „Rechtsstreit“. Der Beginn eines Rechtsstreites mit einer ersten, häufig informellen Phase ist neben dem jüdischen Prozessrecht (vgl. dazu oben Kapitel II,1.3) auch Teil des griechischen und römischen Prozessrechts (vgl. Kapitel II,1.1–1.2) und damit Teil des literarischen Prozess-Settings; siehe dazu oben Kapitel II,1.4.1. 120 VON WAHLDE (2001), 421 spricht dabei von einem schnellen Wechsel der Themen durch „charge“ und „countercharge“. 121 Vgl. NEYREY (1987), 516; SHERIDAN (2015), 180f. 122 Die Reziprozität der Vorwürfe wird durch die Gegenüberstellung augenscheinlich; nach THYEN (2005), 447 versuchen die Juden, „ihm so mit ‚gleicher Münze‘ heimzuzahlen“, was Jesus ihnen anlastet. 123 Die Kehrseite der Infragestellung der Abstammung von Abraham ist der Vorwurf Jesu an die Juden, den Teufel zum Vater zu haben (V. 38.44). KÖSTENBERGER (2004), 266 sieht diese Bezeichnung als inhaltlich äquivalent mit der Bezeichnung als Söhne Belials (Jub 15,33) oder Söhne der Finsternis (1QS I 10) und damit als Ausdruck solcher, die außerhalb der Bundesgemeinschaft stehen; vgl. ebenso WENGST (2000), 349. In diese Richtung weist auch der Vorwurf geistlicher Hurerei, der fest im Kontext des prophetischen Bundesrechtsstreites verortet ist (siehe dazu oben Kapitel II,2.2.1); vgl. THYEN (2005), 441. Der Bundeskontext wird auch durch die Betonung des einen Vaters als Bekenntnis zum Monotheismus in V. 41 impliziert (vgl. KÖSTENBERGER [2004], 265; RIDDERBOS [1997], 313). 124 So BROWN (1966), 357; CARSON (1992), 352; gegen THYEN (2005), 440.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

schließen125 und zeigt eine Zuspitzung auf die dahinterliegende geistliche Dimension (V. 39–47).126 Während Jesus ihren Vater als den Teufel (V. 38.44) benennt, bezichtigen die Juden Jesus der Besessenheit (V. 48.52) und spitzen die Diskussion damit in ähnlicher Weise wie bereits in Joh 7,20 auf den Vorwurf einer teuflischen Herkunft zu.127 Waren schon die Vorwürfe illegitimer Abstammung nach alttestamentlichem Gesetz als todeswürdige Vergehen vorausgesetzt,128 gilt dies erst recht für die mit der geistlichen Abstammung assoziierten Vorwürfe der Verunehrung Gottes (vgl. V. 41.49) und des Götzendienstes (V. 41).129 Der Diskurs kulminiert damit nur folgerichtig im Vorwurf falscher Gottesverehrung, der sich am Anspruch Jesu selbst entzündet und an der Beurteilung seiner Person scheidet: Während Jesus den Vorwurf der falschen Verehrung Gottes damit begründet, dass die Juden ihm selbst als ἐγώ εἰμι (V. 23.24.28.58) die Verehrung verweigern (V. 49), ist eben jener darin implizierte Selbstanspruch Jesu für die Juden selbst der Grund der falschen Verehrung Gottes in Form von Blasphemie (V. 59). 130 Im Mittelpunkt des Rechtsstreites steht damit die Frage nach der Identität Jesu. Anklagen der Juden

Anklagen Jesu

Keine Abstammung von Abraham und damit Ausschluss von der Bundesgemeinschaft (V. 48) Aus Hurerei geboren (V. 41) Dämonische Besessenheit (V. 48.52) Vermessenheit und Blasphemie (V. 59)

Keine Abstammung von Abraham und damit Ausschluss von der Bundesgemeinschaft (V. 39) Geistliche Hurerei (V. 39–42) Teufel als Vater (V. 38.44) Vermessenheit und Blasphemie (V. 49)

Tab. 8: Reziproke Anklagen in Joh 8,21–59.

Die Darstellung zeichnet sich damit durch dieselbe Reziprozität der kontroversen Vorwürfe mit gegenseitiger Todesdrohung aus (vgl. Tab. 8), die sich bereits in der ersten Begegnung Jesu mit den Juden in Joh 2,13–22 zeigte, nun 125 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Dialektik in V. 37.39, in der Jesus die Abstammung seiner Kontrahenten von Abraham in einem physischen Sinn anerkennt, zugleich aber in einem geistlichen Sinn abspricht. 126 Der Konflikt weist damit über die direkten Dialogpartner hinaus, indem diese zu Stellvertretern eines Konflikts in der übernatürlichen Sphäre werden (vgl. THYEN [2005], 447). In Wirklichkeit stehen sich in einem übernatürlichen, himmlischen Rechtsstreit in letzter Instanz Gott und der Teufel gegenüber. 127 Vgl. RISSI (2011), 793. 128 Vgl. auch THYEN (2005), 441 zu möglichen Belegen für eine Todesstrafe für den Sprössling der illegitimen Beziehung. 129 Mit πορνεία (V. 41) wird in Aufnahme der Darstellung im atl. Rechtsstreit das Verhalten des Götzendienstes bezeichnet; siehe dazu ZUMSTEIN (2016), 342; BEUTLER (2013), 275. 130 Vgl. SHERIDAN (2015), 182f.

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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jedoch in Ausweitung auf weitere Vorwürfe. Der Diskurs evoziert dabei eine angespannte Prozess-Situation nahe an der Eskalation, bei der die Prozessgegner sich gegenseitig mit einer Vielzahl todeswürdiger Vergehen beschuldigen. Prozessmodulation Der Diskurs erhält eine doppelte Zuspitzung darin, dass in der Prozessdarstellung des Evangeliums einerseits Jesus und die Juden im Vorwurf gegenseitiger Kapitalverbrechen erstmals in gleicher Weise als Ankläger erscheinen und damit eine einfache Auflösung des Konflikts nicht mehr im Blick ist. Andererseits ergibt sich eine Zuspitzung daraus, dass nach alttestamentlichem Recht eine falsche Anklage selbst mit dem Tod bestraft wird und damit eine doppelte Todesdrohung für die schuldige Partei im Hintergrund steht. Ein Todesurteil als Ausgang des Rechtsstreites ist für eine der beiden Parteien unausweichlich geworden, offen scheint jedoch die Frage nach der schuldigen Partei. Scheint auf diese Weise eine Patt-Konstellation vorgegeben, wird die darin angelegte Symmetrie der gegenseitigen Anklagen in der Darstellung dennoch gezielt zugunsten einer Wertung durch den Erzähler aufgebrochen, indem den reziproken Anklagen weitere, nur von Jesus geäußerte Anklagen hinzugefügt werden. Dies umfasst131 die Anklagen wegen Mord (V. 37.44), Auflehnung gegen Gott (V. 47), unrechtmäßiger Anklage eines Unschuldigen (V. 40), Lüge (V. 44– 45.55) sowie Bundesbruch (V. 39) und somit eine Sammlung von Anschuldigungen, die allesamt Kapitalverbrechen sind (vgl. Tab. 9).132 Vergehen

Beleg

Mord Joh 8,37.44 Mord des Richters Joh 8,40 Auflehnung gegen Gott Joh 8,47 Anklage eines Unschul- Joh 8,40 digen Lüge, Meineid Joh 8,44–45.55 Bundesbruch Joh 8,39

Rechtsgrundlage

Strafmaß

Ex 20,13; 21,12 Ex 20,13; 21,12; 22,27 Num 15,30 Ex 22,20–26; Dtn 19,15–21 Ex 20,16; Dtn 19,19 Dtn 27,26

Kapitalverbrechen Kapitalverbrechen Kapitalverbrechen Kapitalverbrechen Kapitalverbrechen Kapitalverbrechen

Tab. 9: Die Anklage Jesu in Joh 8,21–59.

Die Serie der Anklagen wird eröffnet, indem Jesus die in der Formulierung ζητεῖτέ με ἀποκτεῖναι (V. 37.40) an Joh 7,1.11.19.25.30 anknüpfende Strafverfolgung der Juden nun erstmals selbst unter die Anklage des Mordes (V. 44) 131

Einige der folgenden Anklagen nennt auch NEYREY (1987), 536. Dies zeigt sich auch darin, dass die Juden in den meisten Sätzen Fragen stellen oder eine verteidigende Rolle einnehmen. Sie sehen sich offenbar trotz der Reziprozität der Anklagen stärker in der Verteidigung. Erst gegen Ende treten sie mit dem Versuch, Jesus zu steinigen, klar als Ankläger hervor (V. 59). 132

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

stellt.133 Als illegitime Form der Strafverfolgung werden damit zugleich die übrigen Anklagen der Juden unter den Vorwurf der Lüge subsumiert (V. 44– 45.55) und die gesamte Anklage der Juden als falsche Anklage dargestellt. Der Vorwurf der Lüge steht in diesem forensischen Kontext dem Motiv des Lügenzeugen und falschen Anklägers nahe, der sich das Todesurteil selbst zuzieht.134 Diese Wendung wird durch einen kontrastierenden Vergleich verstärkt, bei dem in Anspielung an Gen 18,1–8 das Verhaltens der Juden mit dem Verhalten Abrahams Gott gegenüber verglichen wird (V. 39–40), 135 und weist einmal mehr auf die Zuspitzung der Auseinandersetzung auf den göttlichen Anspruch Jesu hin. Insoweit die Erscheinung Gottes in Gen 18,25 fest mit seiner Rolle als Richter der ganzen Erde verbunden ist, wird Abrahams Verhalten zum Paradigma einer angemessenen menschlichen Haltung gegenüber dem göttlichen Richter der ganzen Erde, der als Mensch auf der Erde erscheint.136 Zeichnete sich Abrahams Verhalten dadurch aus, dass er den als Menschen erschienenen Richter und seine Gesandten gastlich aufnahm, ihm diente und ihn verehrte, so zeigen die Juden ein Verhalten der Ablehnung und Verunehrung (ὑμεῖς 133

Ähnlich auch VON WAHLDE (2001), 424. Damit wird die literarische Rolle des falschen Anklägers aufgenommen, der sich selbst das Urteil zuzieht, dessen er einen Unschuldigen bezichtigte; vgl. dazu oben Kapitel II,1.4.1 und II,1.4.3. Durch die enge Verbindung von Ankläger und Zeugen im atl.-jüdischen Rechtsstreit und vor dem Hintergrund des in Joh 8,16 genannten Zeugenrechts erscheinen hier die Juden durch die erfolgreiche Gegenanklage Jesu sogar als falsche Anklagezeugen, wie SHERIDAN (2015), 181–184 herausgearbeitet hat. War die Forderung nach Zeugen in Joh 8,13 als Reaktion auf den Anspruch Jesu als ἐγώ εἰμι und φῶς τοῦ κόσμου (8,12) eine implizite Beschuldigung Jesu als falscher Zeuge, sind es nun die Pharisäer selbst, die als solche erscheinen: „The Pharisees thus appear as the actual ‚false witnesses‘, accusing Jesus of crimes of which he is not guilty, and effectively rendering themselves guilty of perjury“ (SHERIDAN [2015], 182). Nach Dtn 19,15–21 (siehe dazu Kapitel II,2.1) ziehen sie sich damit die Strafe sämtlicher Vergehen zu, derer sie Jesus anklagen. 135 Nach THYEN (2005), 439f.; KÖSTENBERGER (2004), 264; BROWN (1966), 357; NEYREY (1987), 524; WILLIAMS (2015), 202 liegt dahinter ein Bezug zu Gen 18: Während Abraham Gott aufnahm, nehmen sie ihn nicht an (siehe Joh 1,11). Sollte dieser Bezug richtig sein, so ist damit von Thyen nicht gesehen worden, dass Abraham Gott als Richter der ganzen Welt (Gen 18,15 LXX: ὁ κρίνων πᾶσαν τὴν γῆν) auf- und annimmt. Wenn die Juden im Gegensatz dazu stehen, so suchen sie den Richter der ganzen Welt zu töten. 136 Dass Jesus im Kontext von Joh 8,21–59 in der Rolle des menschgewordenen Richters auftritt, ist nicht nur aus der starken Kontinuität zu Joh 5,19–30 klar, sondern auch durch die Akzentsetzung im direkten Kontext und der Rahmung durch das Motiv des Gerichts (V. 26.50) sowie dem expliziten Verweis auf die Richterrolle mit ἔστιν ὁ … κρίνων (V. 50). Der Hinweis auf den κρίνων ist dabei ambivalent und lässt in Anschluss an die konkurrenzlos Gott selbst vorbehaltene Rolle als Richter im AT (vgl. Kapitel II,2.3.2) zunächst an den Vater denken. Nach der im Evangelium betonten Wirkeinheit des Sohnes mit dem Vater ist im johanneischen Kontext jedoch Jesus selbst derjenige, der das Gericht des Vaters ausübt und damit in der Richterrolle erscheint (so auch KLINK [2016b], 422; vgl. auch LINCOLN [2000], 86). 134

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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ἀτιμάζετέ με, V. 49) in ihrem Versuch, den als Menschen und Gesandten erschienenen Richter der Welt zu töten.137 Der Versuch, Jesus zu töten, wird damit nicht nur von legitimem Töten (als Teil der Strafverfolgung) zu illegitimem Töten (als Mord),138 sondern – noch bedeutungsvoller – vom Vergehen gegen einen Menschen zu einem Vergehen gegen Gott selbst transformiert. Die Darstellung zeichnet damit konsistent das Szenario weiter, in dem Jesus als ἐγώ εἰμι (V. 23.24.28.58) und damit als absoluter Richter und Ankläger vor den Juden steht. Die Erzählung assoziiert die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden durch die Selbstprädikation mit dem alttestamentlichen Motivhintergrund des Rechtsstreites, bei dem Gott von Menschen angeklagt wird,139 führt diese aber zu der unsäglichen Vorstellung weiter, dass Gott selbst als Angeklagter gesteinigt wird (vgl. V. 58f.). Die von den Juden beabsichtigte Strafe für Blasphemie wird damit in ironischer Umkehrung selbst zur höchsten Form der Blasphemie. Die Opposition der Juden wird auf diese Weise zur Exemplifizierung einer bewussten und absichtsvollen Ablehnung aufgrund des Anspruches Jesu.140 Weist die versuchte Steinigung (V. 59) vordergründig Jesus die Rolle des Angeklagten zu, wird sie in Umkehrung dieser Rollenverteilung in dem evozierten Rechtsstreit von Menschen mit Gott tatsächlich zum juristischen Beweis für die Aussage Jesu, dass die Juden ihn als ihren Richter töten wollen (V. 40).141 Das Urteil der Juden wird damit gleichzeitig zum juristischen Urteil über sie selbst142 und beendet die Szene in ironischer Umkehrung mit einem Urteil. Vor diesem Hintergrund bekommt das Verbergen Jesu (V. 59) die Kon137

Siehe dazu THYEN (2005), 439f. So auch SHERIDAN (2015), 182: „‚The Jews‘/the Pharisees – not Jesus – stand trial for murder, or at least for unjustly desiring the murder of an innocent man“. Vgl. auch NEYREY (1987), 528 sowie SCHNELLE (2016), 212. 139 Dabei sind starke motivische Bezüge zum Rechtsstreit Gottes mit der Welt in Jes 40– 55 präsent, die sich im Kontext insbesondere durch die ἐγώ εἰμι-Formulierung ergeben und durch die in V. 25 vorausgesetzte Richterfunktion Jesu bestätigt wird. Vgl. BLANK (1964), 199f.; WILLIAMS (2000), 271–273; nach THYEN (2005), 428 gehören die ἐγώ εἰμιFormulierung sowie die Verweise auf die Richterfunktion Jesu „[i]n den Zusammenhang des Jes 42 f bestimmenden ‚Rechtsstreites‘ JHWHS“. 140 So auch KÖSTENBERGER (2004), 267: „The Jews fail to believe, not in spite of the truthfulness of Jesus’ message, but because of it.“ 141 So auch NEYREY (1987), 528: „[T]hey prove the truth of Jesus’ charge of murder.“ Vgl. dazu auch LINCOLN (2000), 91, der den Tötungsversuch als Bestätigung der Aussage Jesu ansieht. Im Kontext der kanonischen Fassung des Evangeliums (Text mit Einschluss der pericope adulterae) wird durch das Motiv der Steinigung ein intratextueller Bezug zu Joh 8,5.7 hergestellt. Wieder sind die Juden vordergründig die Ankläger und die das Urteil Ausführenden, tatsächlich aber ist Jesus allein der zur Anklage und zum Richtspruch bevollmächtigte. 142 Damit wird die Ablehnung des Lichts als Selbstverurteilung in Joh 3,18–21 exemplifiziert. 138

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

notation theophaner Abwendung, die ein bevorstehendes Strafgericht anzeigt.143 Überblickt man den Diskurs, zeigt das Auftreten Jesu in Joh 8,21–59 enge Parallelen zum Auftreten Gottes im alttestamentlichen Rechtsstreit, indem sich Jesus nicht nur vor den menschlichen Anklagen als unschuldig (τίς ἐξ ὑμῶν ἐλέγχει με περὶ ἁμαρτίας; in V. 46) und somit die menschlichen Anklage gerichtlich als nichtig erweist,144 sondern in typischer Manier göttlicher Rechtsstreitreden145 die Anklage zugleich in Form einer gesteigerten Gegenanklage auf seine Ankläger zurückwendet. Zusätzlich werden dabei Momente des übernatürlichen Rechtsstreites instrumentiert, der durch die Repräsentanten des Teufels und den Gesandten Gottes nur vordergründig auf menschlicher Ebene ausgetragen wird, zugleich aber eine tiefere geistliche Dimension offenbart.146 Reflexion der Prozess-Narration Mit Joh 8,21–59 setzt sich die Darstellung als groß angelegter Prozess zwischen Jesus und den Juden fort und konkretisiert damit wesentliche Akzente von Joh 8,12–20.147 Nach der starken Konzentration des Rechtsstreites auf die 143

Vgl. hier MOLONEY (1998), 361, der die Rede vom Weggehen als „final condemnation of the refusal of ‚the Jews‘“ in Joh 12,36 versteht. KÖSTENBERGER (2004), 274 sieht hier das Motiv der aus dem Tempel ausziehenden Herrlichkeit Gottes in Ez 10–11. 144 Der Ausspruch ist umso erstaunlicher, als in 7,21 noch die Anklage wegen Sabbatbruch im Hintergrund stand. Dass die Juden aber selbst auf die Frage Jesu von dieser Anklage schweigen, macht die Fortsetzung Jesu in 8,46b deutlich. Damit liegt ein starker rhetorischer Nachweis der Unschuld Jesu vor. Nach CARSON (1992), 354 liegt der Akzent der Frage nicht in der Anklage einer Sünde, sondern in der gerichtlichen Überführung (ἐλέγχω) einer Sünde (vgl. dagegen KÖSTENBERGER [2004], 267 und SCHNACKENBURG [1985], 290, die einen Unterschied zwischen einzelnen Sünden und der gesamten Lebensführung geltend machen wollen). Damit kommt Joh 8,46 einem Nachweis der Unschuld Jesu im metaphorischen kosmischen Prozess gleich (vgl. zur rhetorischen Funktion der Frage im kosmischen Prozess Gottes mit der Welt auch Kapitel II,2.3.4). 145 Vgl. dazu oben Kapitel II,2.2. 146 KÖSTENBERGER (2004), 267 verweist auf die ganze übernatürliche Dimension, die im Hintergrund steht: Es geht um den Fall Satans und die bei Joh so grundlegende Teilung zwischen Licht und Finsternis, Gott und Satan; ähnlich MATHEWSON (2013), 422. Damit wird über die erzählte Welt hinaus auf eine weit größere Dimension des Rechtsstreites verwiesen (MATHEWSON [2013], 425–427), der an die Darstellung des übernatürlichen Rechtsstreites nach atl. Darstellung erinnert (siehe dazu oben Kapitel II,2.2.3). Dieser ist von Beginn an bereits darin angelegt, dass Jesus als Licht die Welt im kosmischen Prozess vor Gericht stellt und damit auch den ἄρχων τοῦ κόσμου richtet (12,31); vgl. dazu DAHL (1986), 135; SEGOVIA (1991), 47. 147 Dies umfasst die Darstellung als Paradigmenkonflikt in Form häufiger Missverständnisse (siehe dazu NEYREY [1987], 529), die christologische Zuspitzung durch die ἐγώ εἰμι– Formulierungen (V. 12.18.24.28.58) und die Vorwegnahme von Aspekten des Pilatusprozesses (SCHNACKENBURG [1985], 291 verweist zu 8,47 auf die Parallele vor Pilatus in

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Vergehen des Sabbatbruchs und der Blasphemie in Joh 5,1–47; 7,14–24; 8,12– 20 erscheint der Diskurs in Joh 8,21–59 als unvermittelte Ausweitung der Tatvorwürfe und erweitert damit das Prozess-Setting des Evangeliums in Bezug auf die eigentliche causa des Prozesses. Damit geht gleichzeitig eine Ausweitung der verhandelten Rechtssache von Vergehen Gott gegenüber auf zwischenmenschliche Vergehen einher. Standen in Joh 2–7 mit der Konzentration auf die rechte Anbetung Gottes (Joh 2,13–22), den Sabbatkonflikt (Joh 5,1–47) und Blasphemie als Missbrauch des Namens Gottes (Joh 5,18–47) die auf Gott gerichteten Vergehen aus dem ersten Teil des Dekalogs im Mittelpunkt, zeigt der Diskurs in Joh 8,21–59 nun eine Erweiterung der Tatvorwürfe auf den zweiten, auf das zwischenmenschliche Verhalten gerichteten Teil des Dekalogs. Dass die Vergehen damit weder in der Tiefe noch in der Zuspitzung von Joh 5,19–47 und Joh 7,14–20 verhandelt werden, zeigt eine wesentliche paradigmatische Funktion der vorherigen Rechtsstreitpassagen, durch die der implizite Leser die dort präsentierte Konkretisierung nun auf sämtliche Vergehen des Dekalogs überträgt. Der Andeutungscharakter der Vergehen fungiert folglich als Hinweis für den Lesenden, durch den das Setting des in der Erzählung angelegten Makro-Prozesses als umfassende Verhandlung sämtlicher Tatvorwürfe des atl. Gesetzes erscheint und damit den Charakter einer ganz universellen, ultimativen Gerichtsverhandlung bekommt, die sich aufgrund des dreifachen Verweises auf das Sterben in den Sünden (V. 21.24[2x]) als Antizipation der eschatologischen Gerichtsverhandlung darstellt. Deutlicher als zuvor bekommt der kosmische Prozess sogar Kennzeichen des überkosmischen Rechtsstreites zwischen Gott und dem Teufel.148 Waren in Joh 7,14–24 die Prozesszuschauer selbst in die Beurteilung involviert, zeigt sich nun, dass sich das Urteil Jesu auch gegen solche wendet, die oberflächlich mit ihm sympathisieren (V. 30–31), und setzt damit das erweiterte Setting eines Makro-Prozesses fort, das die Lesenden selbst involviert und sich an der Beurteilung Jesu selbst misst.149 Dabei wird gerade in Joh 8,37–59 als strukturellem Mittelpunkt der Auseinandersetzung von Joh 1–12 eine starke persuasive Funktion deutlich.150

Joh 18,37, wodurch gleichzeitig die Auseinandersetzung in Joh 8,31–59 als Exemplifikation des Zeugnisses Jesu für die Wahrheit erscheint). 148 Vgl. etwa JOHNS/MILLER (1994), 524: „Jesus insists that his debate with his contenders is part of an encompassing cosmic battle (8:21–30,39–47) […].“ 149 Diese ist insbesondere durch die refrainartigen ἐγώ εἰμι-Formulierungen (V. 12.18.24. 28.58) an die Identität Jesus rückgebunden. Diese Zuspitzung bezeichnet NEYREY (1987), 517 als „the newest and most transcendent forensic norm of judgment according to which Jesus’ listeners will be judged. The ultimate and fatal sin becomes non-compliance with the demand to acknowledge Jesus according to the special formula, ‚I AM‘.“ 150 So JOHNS/MILLER (1994), 524: „The persuasive potential of the debate between Jesus and the religious leaders, located in the center of the book, is enhanced for the reader […].“

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

4.4. Ertrag Mit der großen Erzähleinheit Joh 7,1–8,59 setzt sich die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden als Rechtsstreit und Prozessgeschehen fort. Durch eine Vielzahl von inhaltlichen Anknüpfungen zeigt die Darstellung einen auffallend direkten Anschluss an Joh 5,19–47, durch den die metaphorische Schilderung eines Makro-Prozesses in mehrfacher Hinsicht fortgeführt und erweitert wird. Die Erweiterung zeigt sich zunächst in den verhandelten Prozessinhalten, die sich von Sabbatbruch und Blasphemie nun auf nahezu alle Vergehen des Dekaloges ausweiten. Der monologische Charakter von Joh 5,19–47 weicht dabei zusehends dem dialogischen Streitgespräch und gewinnt damit den Charakter eines Kreuzverhörs. Neben die Konzentration auf den ersten Dekalogteil in Joh 2–5 treten nun insbesondere die zwischenmenschlichen Vergehen des zweiten Dekalogteils. Dabei ist eine solche Vielzahl von Anklagen präsent, dass der Prozess zu einer umfassenden Verhandlung des gesamten Lebens Jesu in jeder denkbaren Strafsache wird. Dass damit jedoch nur eine vordergründige Rollenkonstruktion ausgedrückt wird, die konsequent durch das Motiv des alttestamentlichen Rechtsstreites zwischen Gott und der Welt konterkariert wird, erweist die Anklagen zugleich als umfassende Anklage der Welt vor dem Tribunal Gottes. War der angedeutete Rollenkonflikt bereits als grundsätzlicher Paradigmenkonflikt in Joh 2–5 gegenwärtig, zeigt sich in Joh 7–8 eine wesentliche Fortführung darin, dass nun die konkurrierenden Rollenkonstruktionen und Paradigmen des Prozess-Settings selbst verhandelt werden. Damit wird ein Meta-Prozess evoziert, in dem die Lesenden zwischen unterschiedlichen Prozesskonstruktionen und den als Paradigmen im Hintergrund stehenden Glaubenshaltungen selbst urteilen. Während die Vielzahl der verhandelten Rechtssachen mit auffallend reziprokem Gegenüber von Anklage und Gegenanklage aufzeigt, dass die Wahl des Paradigmas nicht nur für eine einzelne Rechtsangelegenheit in Form eines Vergehens relevant ist, sondern sich umfassend auf jedes Detail der Weltsicht niederschlägt, zeigt umgekehrt die Rückführung aller Streitpunkte auf die Frage nach der Identität Jesu, wo sich die Paradigmen von ‚oben‘ und ‚unten‘ scheiden. Ob Jesus der Christus und der ‚Ich bin‘ ist, wird zum Kristallisationspunkt aller weiteren und bis ins Letzte gehenden Beurteilungen seiner selbst und der Welt, die gegensätzlicher nicht sein können. Die Prozessmetaphorik wird so auf einer Vielzahl von Ebenen instrumentiert, um dem Lesenden selbst die Konsequenzen unterschiedlicher Glaubenshaltungen Jesus gegenüber aufzuzeigen und ihn selbst vor eine Entscheidung in der Beurteilung zu stellen, der er sich nicht entziehen kann, die gleichzeitig aber auch über sein Schicksal entscheidet. Dass in der Darstellung nicht nur das Konstrukt eines unbeteiligten Beobachters als Widerspruch in sich aufgewiesen wird, sondern zugleich solche sich vor Jesus verantworten müssen, die ihm sympathisierend gegenüberstehen, weist die Haltung eines autonomen

4. Beweissammlung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59)

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Urteils über Jesus selbst als oberflächlichen und unzureichenden Glauben aus und führt die paradoxe Notwendigkeit vor Augen, dass das gerechte Richten gerade im Anerkennen besteht, dass dieses nur Jesus selbst zusteht. Einem oberflächlichen Glauben gegenüber besteht der wahre Glaube an Jesus folglich darin, seine eigene Autonomie des Urteils aufzugeben. Dass sich gerade darin bereits der Glaube an Jesus als vollmächtigen ‚Ich bin‘ zu verwirklichen beginnt, führt die narrative Funktion der Prozessmetaphorik konsequent auf die in Joh 20,31 formulierte Absicht des Evangeliums hin.

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39) Der Abschnitt in Joh 9,1–10,21 stellt einen inhaltlich wie auch in der Einheit des zeitlich-örtlichen Settings geschlossenen Erzählkomplex dar, der eng mit dem vorausgehenden (Joh 7,14–8,59) verbunden ist und direkt durch den nachfolgenden Diskurs (Joh 10,22–42) fortgesetzt wird. Durch die Eröffnung mit καὶ παράγων (9,1) ergibt sich ein direkter zeitlicher und lokaler Anschluss an Joh 8,59, der weiterhin Jerusalem als Ort der Erzählung voraussetzt. Der Erzählkontext ist damit als Fortsetzung der vorangegangenen Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden zu verstehen,1 wie sich auch durch zahlreiche inhaltliche Bezüge zeigt. Eine erste dieser Verbindungen findet sich in Joh 9,5 durch die Aufnahme der Lichtmetaphorik (vgl. 8,12).2 Die Heilung des Blindgeborenen (9,1–39) bildet dabei eine Episode, die anhand der Lichtmetaphorik geistliches Sehen im Kontrast zu Blindsein am Beispiel des Blindgeborenen und der Pharisäer 3 exemplifiziert und damit οὐ δύνασθε ἀκούειν aus Joh 8,43 (vgl. auch 8,47) durch τυφλοὶ γένωνται (9,39) ergänzt. An die Heilungsepisode schließt sich die Hirtenrede szenisch direkt an (9,39–10,21) und wird ihrerseits durch die thematisch bruchlose Fortsetzung im Diskurs von Joh 10,22–42 weitergeführt. Neben der Kontinuität zum vorausgehenden und nachfolgenden Kontext zeigt sich auch der Gesamtaufriss von Joh 9,1–10,39 in der Makrostruktur als erzählerische Einheit, die fest im Kontext des Rechtsstreites verortet ist. Eine auffallende Anzahl inhaltlicher Parallelen zwischen Joh 5,1–16 und Joh 9,1–394 stellt die Heilung des Blindgeborenen der Heilung 1 Siehe THYEN (2005), 455 mit der Beobachtung, dass die neue Erzähleinheit nicht mit der Benennung von ‚Jesus‘ oder μετὰ τοῦτο beginnt, sondern sich durch das Partizip παράγων (9,1) und die in der Verbform εἶδεν (9,1) sowie im Personalpronomen αὐτός (9,2) vorausgesetzte Kontinuität zu Jesus als handelnder Hauptperson direkt an Joh 8,59 anschließt. 2 Siehe THYEN (2005), 456f. Die Funktion des Lichts wird in Joh 9,5 nicht explizit genannt, aber der Nacht (νύξ in 9,4) als Finsternis gegenübergestellt. 3 CULPEPPER (1998), 174; KÖSTENBERGER (2004), 278. 4 Siehe hier KÖSTENBERGER (2004), 277 sowie die Auflistung der Parallelen bei CULPEPPER (1987), 139f.; KEENER (2010a), 639. Die Parallelen umfassen die Betonung der Länge der Krankheit, die Heilung eines Kranken ohne Hoffnung, eine kurze Heilungserzählung gegenüber einem ausführlich dargestellten Streitgespräch um die Identität und den Anspruch Jesu, die zeitliche Einordnung der Heilung an einem Sabbat, das bewusste Nach-

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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des Gelähmten samt den Folgen gegenüber, was sich auch in der Korrespondenz beider Erzählungen in der chiastischen Struktur von Joh 1–12 widerspiegelt.5 In beiden Fällen erscheint die Heilung als Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden, führt dabei jedoch nicht zu einem Streitgespräch, sondern zu einem Monolog Jesu (vgl. Tab. 10). Juristischer Konflikt

Joh 5

Joh 9–10

Sabbatkonflikt - Erzählung einer Sabbatheilung - Verhör des Geheilten durch die Juden - Zweite Begegnung Jesu mit dem Geheilten - Monolog Jesu als Gerichtsrede6

5,1–8 5,10–13 5,14–15 5,19–477

9,1–7 9,13–34 9,35–39 9,40–10,18

Blasphemiekonflikt - Jesus behauptet Einheit mit dem Vater - Hinrichtungsversuch der Juden - Rede(n) Jesu8

5,17 5,18 5,19–47

10,30 10,31 10,25–30; 10,34–38

Tab. 10: Parallelen des juristischen Konflikts in Joh 5 und Joh 9–10.

Damit parallelisiert die Hirtenrede Jesu in Joh 9,40–18 die Rede in Joh 5,19– 47 und erscheint wie diese als Anklage- und Gerichtsrede. Im Vergleich zu Joh 5,1–16 wird in Joh 9,8–34 das Verhör des Geheilten durch die Juden durch schieben dieser zeitlichen Einordnung sowie eine doppelte Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten, bei der Jesus die Initiative ergreift. 5 Siehe dazu Kapitel III,2.5. Die Parallelität zwischen Joh 5 und Joh 9–10 hebt auch DU RAND (1991), 94 hervor, der bemerkt: „[C]hapters 9–10 should be taken as the co-text of John 10 […].“ 6 Die Gestaltung der Monologe in Joh 5,19–47 und Joh 9,40–10,18 weist auch inhaltlich zahlreiche Parallelen auf: Beide sind durch die Formel ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν strukturiert (5,19.24.25; 10,1.7), in beiden Reden (und auch nur dort in Joh 1,19–12,50) findet sich der Verweis auf die ἐξουσία Jesu (5,27; 10,18[2x]), in beiden wird die heilschaffende Wirkung des Hörens (ἀκούω) der Stimme Jesu betont (5,24.25.29.30.37; 10,3.8.16) und schließlich findet sich in beiden die Verheißung des Lebens (ζωή in 5,24.26.29; 10,10) mit der betonten Aussage, dass der Sohn Leben in sich selbst hat (5,26; 10,17–18). 7 Die Rede Jesu in Joh 5,19–47 ist sowohl als Antwort auf den Doppelvorwurf des Sabbatbruchs wie auch der Blasphemie ausgerichtet und parallelisiert in dieser Doppelfunktion sowohl die Rede nach dem Sabbatkonflikt (9,40–10,18) wie auch die auf den Blasphemievorwurf folgende Entgegnung Jesu (10,32–38) in Joh 9–10. 8 Die Parallelität zwischen der Rede Jesu in Joh 5,19–47 und den Reden in Joh 10,25–38 zeigt sich auch auf inhaltlicher Ebene: In beiden Situationen findet sich die Betonung der Werke als Zeugen für Jesus (mit inhaltlich gleicher Wortwahl τὰ ἔργα ἃ … ποιῶ … μαρτυρεῖ περὶ ἐμοῦ in 5,36; 10,25), die Betonung der Wirkeinheit mit dem Vater (5,19–20; 10,32.38), der Verweis auf die Schrift (5,47; 10,34–35) sowie der pointierte Vorwurf des Unglaubens (5,44.46–47; 10,25.26).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

mehrere Szenen deutlich stärker ausgestaltet. War in Joh 5,10–13 ein solches zwar angedeutet, aber sowohl aufseiten des Geheilten wie aufseiten der Juden eher durch eine Kooperation gekennzeichnet, die die Strafverfolgung der Juden auf Jesus lenkte,9 so wird dieses in Joh 9,8–34 in einer Ausführlichkeit geschildert, die das Verhör des Geheilten tatsächlich als Verhör Jesu in absentia darstellt. 10 Daneben parallelisiert auch die Erzähleinheit von Joh 9,1–10,39 als ganze den Konflikt in Joh 5,1–47 darin, dass ein anfänglich durch eine Heilung begonnener Sabbatkonflikt in der folgenden Auseinandersetzung auf den Vorwurf der Blasphemie umschwenkt (vgl. Tab. 10). Damit wirkt Joh 9,1–10,39 als Erzählkomplex, der strukturelle Parallelen zum Rechtsstreit von Joh 5,1– 47 aufweist und eine inhaltliche Konkretisierung und Fortführung des in Joh 5 angelegten Prozess-Settings erwarten lässt.

5.1. Verhandlung in absentia (Joh 9,1–39) Narrative Einbettung Die Erzählung der Heilung des Blindgeborenen wird durch eine Erklärung Jesu gerahmt (9,3–5; 9,39), die jeweils die Lichtmetaphorik instrumentiert und so als Interpretationsschlüssel für die eingeschlossene Szenenfolge fungiert. Zusammen mit dieser Rahmung ergibt sich eine Abfolge von sieben Szenen, die chiastische Strukturmerkmale aufweist:11 A Erklärung Jesu: Licht und Finsternis (9,3–5) B Jesus und der Blindgeborene (9,6–7) C Der Blindgeborene und die Pharisäer (9,13–17) D Die Pharisäer und die Eltern (9,18–23) C' Der Blindgeborene und die Pharisäer (9,24–34) B' Jesus und der Blindgeborene (9,35–39) A' Erklärung Jesu: Licht und Finsternis (9,39)

Dass sich die Darstellung auf drei Verhörszenen im Mittelpunkt der Szenenabfolge (C, D, C') zentriert, weist den deutlich forensischen Schwerpunkt der 9

Siehe dazu die Untersuchung in Abschnitt 3.1. Die Szenenfolge in Joh 9,8–34 stellt nach DUKE (1985), 119 die längste Abwesenheit Jesu im Evangelium dar und wird damit absichtsvoll in einer Verhandlung in absentia gebraucht. Folgerichtig sieht TRITES (1977), 107 trotz der Abwesenheit Jesu eine Fortführung des narrativen Prozesses zwischen Jesus und den Juden: „In John 9 the lawsuit of Christ’s public ministry continues.“ Das Verhör wird damit faktisch zu einem Stellvertreterprozess, bei dem der Geheilte als Repräsentant Jesu vor Gericht steht. 11 Siehe für eine ähnliche, aber nicht chiastische Aufteilung der Episode in sieben Szenen auch RESSEGUIE (1993), 115; CULPEPPER (1998), 174. Die chiastische Anlage folgt keinem strengen Muster, insoweit die folgende Darstellung den Dialog zwischen Pharisäern und den Nachbarn des Geheilten (V. 8–12) unberücksichtigt lässt. 10

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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Episode auf.12 Neben dieser konzentrischen Anlage weist die Szenenabfolge ferner auf einen anderen, dramaturgischen Zug der Darstellung hin. Die Episode zeigt eine Sequenz wechselnder Akteure, indem sich in jeder Szene ein Akteur der vorherigen Szene mit einem neuen Akteur zusammenfindet und die erzählerische Bühne selbst in der darauffolgenden Szene verlässt. 13 Damit ergibt sich eine Sequenz der beteiligten Charaktere, die durch das Auftreten Jesu zu Beginn und Ende der Szenenfolge gerahmt wird und ihn damit als eigentlichen Hauptakteur ausweist: Jesus – Blinder – Nachbarn – Pharisäer – Eltern – Pharisäer – Blinder – Jesus

Der Szenenfokus und mit ihm die Perspektive des Lesenden folgt damit gleichsam dem Gang der Geschehnisse, aber nie einem festen Akteur. Durch diese iterativ versetzte Verschiebung der Akteure gewinnt der Szenenaufbau eine Dynamik, durch die die Handlung nach vorne getrieben wird und (ähnlich wie in Joh 5,1–18) zielstrebig auf ein direktes Aufeinandertreffen zwischen Jesus und den Pharisäern hinarbeitet, das schließlich in 9,40–10,18 als Höhe- und Zielpunkt der Episode erscheint.14 Konstruktion eines Prozess-Settings Die Episode zentriert sich inhaltlich um die Sabbatheilung Jesu (V. 1–7) und wird im Ablauf der Ereignisse in der gesamten Szenenfolge durch die gerichtliche Untersuchung der Pharisäer vorangetrieben. Die Pharisäer wirken zunehmend als offizielles Gremium der Jurisdiktion,15 dessen Verfügungsgewalt in Fragen der religiösen Gemeinschaft stets vorausgesetzt wird. 16 Die Episode weist durch die Tatsache, dass die drei Mittelszenen der chiastischen Struktur17 allesamt Verhörszenen darstellen, einen stark forensischen Akzent mit Schwerpunkt auf den Gerichtsszenen auf. Dieses Gerichts-Setting wird durch ἄγω (V. 13) als Begriff der gerichtlichen Vorführung, 18 durch ἐρωτάω (V. 15.19.21) 12 Das Auftreten der Pharisäer in den drei Mittelszenen sowie im Übergang zu Joh 9,40– 10,18 legt nahe, dass sich der Erzähler mit den Pharisäern in Form einer ausführlichen Charakterisierung auseinandersetzt, die selbst im Dienst der Rechtsstreitmotivik steht. 13 Vgl. zu dieser Beobachtung auch CULPEPPER (1998), 174; MONTONINI (2013), 439. Dass dieser Aufbau mit literarischer Intention erfolgt, ist an der (erzähltechnisch redundanten) Notiz von V. 13 ersichtlich, durch die die Nachbarn mit den Pharisäern zusammen erscheinen. 14 Vgl. ähnlich auch MONTONINI (2013), 439. 15 Vgl. auch BULTMANN (1986), 253f.; THYEN (2005), 463. 16 Dies wird durch den von den Pharisäern angedrohten Ausschluss aus der Synagoge (ἀποσυνάγωγος γένηται, V. 22) deutlich. 17 Vgl. dazu die Textgliederung oben. 18 Der Terminus wird in Joh 18,13.28 als terminus technicus der Gerichtssprache im Sinne von ‚abführen‘, ‚verhaften‘ gebraucht (BAUER [1988], 25; BORSE [2011], 58); hier liegt die schwächere Bedeutung ‚gerichtlich vorführen‘ vor (BORSE [2011], 58).

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

und ὁμολογέω (V. 22) als Termini der gerichtlichen Befragung19 sowie durch die einzige Verwendung von κρίμα im Evangelium (V. 39) kreiert. Dabei fungieren die Pharisäer als Richterkollegium und beginnen mit der Befragung des Blindgeborenen eine Serie von Einzelvernehmungen, die sich nicht gegen die verhörten Personen (der Blindgeborene in V. 13–17.24.34; die Eltern in V. 18– 23) richten, sondern Teil einer gerichtlichen Untersuchung gegen Jesus sind, der damit als eigentlicher Angeklagter fungiert. Die Verhöre verbinden sich somit zu einem Prozess, bei dem Jesus in absentia angeklagt und in Form eines Stellvertreterverhörs vernommen wird. Dabei werden sowohl der Blindgeborene wie auch dessen Eltern im Zuge der Beweissammlung vernommen (V. 13–15; V. 19–21) und als potenzielle Zeugen gegen Jesus aufgerufen, um Jesus des Sabbatbruchs überführen zu können (vgl. V. 24.26.29).20 Obwohl zunächst die Sabbatheilung Jesu als Anlass der Untersuchung dient, zentriert sich diese immer stärker auf die Identität Jesu (V. 12.16.21) und präsentiert dabei die gegensätzlichen Alternativen ἁμαρτωλός (V. 16.24.25.31), προφήτης (V. 17) und Χριστός (V. 22).21 Die ausführliche szenische Darstellung entfaltet in einzigartigem juristischen Detailgrad die Befragungen als cognitio und somit das Vorgehen der Pharisäer mit dem Ziel, sicheres Wissen (11malige Verwendung von οἶδα in V. 12.20.21[2x].24.25[2x].29[2x].30.31) über Jesus zu gewinnen und ihn gerichtlich als Sünder (ἄνθρωπος ἁμαρτωλός in V. 16.24; ἁμαρτωλός in V. 25.31) zu überführen.22 Die verschiedenen Befragungsszenen verbinden sich damit in der Erzählung zu einem Stellvertreter-

19 Diese Verwendung von ἐρωτάω erscheint bereits in Joh 1,19.21.25; 5,12 und im Prozess in Joh 18,19.21[2x] (siehe zur Verwendung im forensischen Sinne Kapitel III,2.1). 20 So auch PANCARO (1975), 19: „That the man stands before the tribunal as a witness […] is obvious. The Pharisees solicit his testimony in order to pass a judgement upon the activity of Jesus […].“ Ebenso ASIEDU-PEPRAH (2001), 164. 21 So auch MONTONINI (2013), 439: „These interactions […] will be centered on identity: first, the healed man’s (vss. 8–9), and eventually, Jesus’ (vss. 12; 15–17; 24–34)“; vgl. ferner SCHNELLE (2016), 226. Ebenso auch WENGST (2000), 377: „Nicht die Heilung, bei der darüber gestritten werden kann, ob ein Sabbatbruch vorliegt oder nicht, steht im Mittelpunkt, sondern die Bedeutung ‚dieses Menschen‘.“ Das Kreisen der Szenen um die Identität Jesu wird auch durch eine Anzahl von Gegensatzpaaren augenscheinlich: (1) ὁ ἄνθρωπος ὁ λεγόμενος Ἰησοῦς (V. 11) – ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου (V. 35); (2) οὐκ ἔστιν οὗτος παρὰ θεοῦ (V. 16) – παρὰ θεοῦ (V. 33); (3) kein ἄνθρωπος ἁμαρτωλός (V. 16) – ein ἄνθρωπος ἁμαρτωλός (V. 24); (4) offenes Bekenntnis als προφήτης (V. 18) – vermiedenes Bekenntnis als Χριστός (V. 22). Dass diese „contrasting responses“ (CULPEPPER [1998], 177) in Verhörszenen wiedergegeben werden, stellt die Rechtsstreitmotivik entscheidend unter eine textpragmatische persuasive Funktion, in der der Erzähler den Lesenden christologische Wahrheiten vermittelt (vgl. 20,31). 22 DUKE (1985), 118 bezeichnet die Sünde/den Sünder als „recurring motif“ in Joh 9; ähnlich PANCARO (1975), 30: „[T]he importance of the term the Pharisees use to express what Jesus is in their eyes (ἁμαρτωλός ἐστιν) can hardly be over-estimated.“

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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prozess, bei dem durch die Befragung des Blindgeborenen und seiner Eltern Jesus selbst als Angeklagter vorgeführt und gerichtlich überführt werden soll.23 Prozessmodulation So offensichtlich das Verhör der Pharisäer darauf abzielt, Jesus als Sünder zu überführen, so deutlich zeigt die Darstellung des Erzählers durch subtile Wendungen, dass dieses Ziel nicht erreicht wird. Nicht nur sind die Aussagen der vorgeladenen Verhörten als Zeugenaussagen gegen Jesus ungeeignet, weil sie mit keinem Wort ein Vergehen erkennen lassen (V. 14.16.25), 24 sondern es zeigt sich auch eine zunehmende Wendung der Verhörten zu Zeugen für Jesus und damit gegen die Pharisäer (V. 20–21; V. 30–34). 25 Insbesondere wird durch den ausführlichen Erzählerkommentar in der Befragung der Eltern (V. 22–23) ein implizites Bekenntnis zu Jesus als Christus formuliert. Daneben unterminiert der Erzähler durch vielfache Verwendung von Ironie26 die An-

23

Vgl. zur Funktion des Blindgeborenen als Stellvertreter Jesu die Darstellung bei REI434; MONTONINI (2013), 443. 24 Als eigentliches Vergehen wird von den Juden das Zubereiten eines Teiges (vgl. V. 6.1.11.14.15) als Sabbatverstoß vorausgesetzt und verfolgt; vgl. dazu PANCARO (1975), 18f.; KEENER (2010b), 786. Dabei ist jedoch auffällig, dass die Aussagen des Blindgeborenen die eigentliche (nur vom Erzähler in V. 6 mit ἐποίησεν πηλὸν ἐκ τοῦ πτύσματος genannte) Tätigkeit der Zubereitung eines Teiges auslassen (V. 15), obwohl er sie gegenüber den Nachbarn in einem nicht-juristischen Kontext explizit formuliert (πηλὸν ἐποίησεν, V. 11). Die bewusste Auslassung eines Vergehens in der Aussage des Blindgeborenen betont auch REIMER (2013), 435. Die Pharisäer haben damit (unabhängig von der Frage der damit überhaupt implizierten Schuld Jesu) nicht einmal einen einzigen belastbaren Hinweis auf den von ihnen vermuteten Sabbatbruch. 25 So benennt auch LABAHN (2013), 449f. die Eltern des Blindgeborenen wie auch diesen selbst als Zeugen für Jesus. Vgl. ähnlich auch PANCARO (1975), 25 sowie die ausführliche Verfolgung der Rolle des Geheilten als Hauptzeuge der Verhörszenen bei KLINK (2016b), 440–451. Während der Blindgeborene die Aussage, dass Jesus ein Sünder ist, bewusst verweigert (V. 25), sind die Aussagen über Jesus ausschließlich positive Bekenntnisse als Prophet (V. 17). Anstelle einer für einen Schuldspruch Jesu verwertbaren Aussage liefert der Blindgeborene ein Kunststück eines rhetorischen Syllogismus (V. 30–33), der als Enthymem stattdessen unwiderlegbar nachweist, dass Jesus παρὰ θεοῦ ist (V. 33), und damit zugleich als unverhohlene Kritik an der Urteilsfindung der Pharisäer fungiert (vgl. zum Syllogismus THEOBALD [2009], 651). Während sie dem Wunder auf die Spur kommen wollen, ist das einzige Wunder (ἐν τούτῳ γὰρ τὸ θαυμαστόν ἐστιν, V. 30) ihre eigene Unwissenheit. Die Rede des Verhörten schlägt dabei immer mehr von einer Verteidigung in ein Plädoyer der Anklage um (vgl. die Bezeichnung als „Schlussplädoyer“ bei THEOBALD [2009], 651). 26 Siehe zur Auflistung ironischer Darstellungselemente ausführlich DUKE (1985), 117– 126. Darunter fällt neben dem herausgestellten Nichtwissen derer, die sich als Wissende ausgeben (V. 24.29) vor allem, dass der Nichtwissende (V. 25) mehr weiß als die Wissenden (V. 29–39), dass der Ungebildete die Schriftgelehrten belehrt (V. 34), dass der, der nicht gesehen hat, nun die belehrt, die nicht gehört haben (V. 27), und schließlich, dass das einzig MER (2013),

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

klage der Pharisäer und gibt die Verfahrensweise des Prozesses selbst der Lächerlichkeit preis.27 Durch Herausstellung der Voreingenommenheit mit ἤδη γὰρ συνετέθειντο οἱ Ἰουδαῖοι (V. 22), bei der das Ergebnis der Befragung schon im Voraus feststeht (ἡμεῖς οἴδαμεν ὅτι οὗτος ὁ ἄνθρωπος ἁμαρτωλός ἐστιν, V. 24)28 und das Verfahren selbst zur Reproduktion der Lüge ausartet,29 wird das Gerichtsverfahren vom Erzähler als Farce entlarvt.30 Anstelle des Erkenntnisgewinns wird in der zweiten Befragung des Blindgeborenen (V. 24– 34) das Wissen der Pharisäer (ἡμεῖς οἴδαμεν, V. 24.29) als Unwissen karikiert (οὐκ οἴδαμεν πόθεν ἐστίν, V. 29). In ironischer Umkehrung bewegt sich die Antwort auf die Frage, wer der Sünder ist, vom Blindgeborenen (V. 2.3.34) weg, konzentriert sich anschließend auf Jesus (V. 16.24.25.31) und konkretisiert sich schließlich in den Pharisäern selbst (V. 41).31 Der hohe szenische Detailgrad der cognitio wird damit zum Mittel des Erzählers, das Verhör und die Rechtsfindung der Pharisäer selbst zu sezieren. Hat die Jurisdiktion der Pharisäer vordergründig das Ziel, Jesus als Angeklagten vorzuführen und zu überführen, so wird doch vom Erzähler die Jurisdiktion der Pharisäer selbst vorgeführt und überführt. In ironischer Umkehrung wird damit die Beweissammlung der Pharisäer selbst zur Beweissammlung in einem Prozess, bei dem Jesus als Licht in die Welt kommt und die Pharisäer es sind, die unter dem Urteil (κρίμα) stehen (V. 39). Indem die Szene mit einem Richtspruch Jesu abschließt (εἰς κρίμα ἐγὼ εἰς τὸν κόσμον τοῦτον ἦλθον, V. 39a)32 wundersame (θαυμαστός, V. 30) nicht die Heilung eines Blindgeborenen, sondern die geistliche Blindheit der Pharisäer ist. 27 So etwa in der zunehmend kecken Frechheit des befragten Blindgeborenen mit τί πάλιν θέλετε ἀκούειν; μὴ καὶ ὑμεῖς θέλετε αὐτοῦ μαθηταὶ γενέσθαι (V. 27). STALEY (1991), 68 sieht darin eine Verspottung der Pharisäer als Richter; ebenso MOLONEY (1998), 298; RIDDERBOS (1997), 345. Das Verhalten des Vernommenen spiegelt den mangelnden Erkenntnisfortschritt sowie überhaupt das mangelnde Interesse an der Wahrheit im Verhör der Pharisäer wider und „ironisiert […] den Unernst ihrer Untersuchung aufs Schärfste“ (BULTMANN [1986], 255). 28 So auch BULTMANN (1986), 255: „Aber in Wahrheit ist ihre Entscheidung schon gefallen […].“ 29 Der Erzählerkommentar in V. 22–23 dient nach THYEN (2005), 466 dazu, die Aussage der Eltern gegen deren besseres Wissen als Notlüge erscheinen zu lassen. Das Verhör führt damit nicht zur Wahrheit, sondern bringt die Lüge hervor. 30 So auch BULTMANN (1986), 255, der von „scheinbare[r] Objektivität“ spricht und darauf hinweist, dass für die Pharisäer ‚Gott die Ehre geben‘ (V. 24) zum Synonym für die Zustimmung zu ihrer Meinung wird. 31 So auch BEUTLER (2013), 293f.; vgl. ebenso PARSENIOS (2016), 259: „The question, ‚Who is the sinner?‘ dominates Joh 9. The scene closes with the exposure of the sin of the Pharisees […].“ Ähnlich auch CULPEPPER (1998), 178: „In the course of the story the nature of sin has also become clear. Sin lies not in being born blind but in refusing to see when one is confronted with the light.“ 32 SCHNACKENBURG (1985), 324 sieht darin zu Recht einen „Gerichtsspruch“, sodass der Ausspruch Jesu gleichsam zum Urteilsspruch nach vorangegangener Verhandlung wird.

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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und diesen mit seinem Kommen in die Welt verbindet, wird die ganze Episode auf höherer metaphorischer Ebene zu einem Prozess, bei dem die Welt in das Licht Jesu in seiner Rolle als Richter gestellt wird.33 Die Episode wird zur symbolischen Entfaltung der Wirkung Jesu als φῶς τοῦ κόσμου (9,5; vgl. 8,12),34 indem sowohl der Blindgeborene als auch die Pharisäer zu kontrastierenden Paradigmen solcher werden, die mit dem Licht konfrontiert sind.35 Während der Blindgeborene zunehmend in der Erkenntnis Jesu wächst und zum Glauben durchdringt (V. 38), erweisen sich die Pharisäer zunehmend als Blinde, die sich Jesus gegenüber verschließen. 36 Im Kommen Jesu vollzieht sich damit eine Scheidung, die abhängig von der Reaktion zur Rettung oder zum Gericht führt.37 Dass aber eben dieses Gericht durch den stets symbolisch verstandenen Gegensatz von Licht und Finsternis als Gegensatz zwischen Sehen als Wahrnehmung des Lichts und Blindheit als innerer Finsternis erklärt wird (ἵνα οἱ μὴ βλέποντες βλέπωσιν καὶ οἱ βλέποντες τυφλοὶ γένωνται, V. 39b),38 macht die ganze Szenenfolge zu einer narrativen Exemplifizierung der forensisch konnotierten Lichtmetaphorik aus Joh 1,4–5.9; 3,19–21; 8,12; 9,4.39 Die Heilung des Dies wird darin bestätigt, dass mit κρίμα der Terminus des gerichtlichen Verdiktes verwendet wird (LINDARS [1987], 351). BROWN (1966), 375 sieht in der Verwendung des Ausdrucks υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου in 9,35 einen Hinweis auf die Richterfunktion Jesu, durch die das „theme of judgment“ in V. 39–41 unterlegt wird. 33 Eine Rollenumkehrung, bei der Jesus als Richter erscheint, sieht auch PARSENIOS (2016), 264f. Vgl. ebenso ZUMSTEIN (2016), 359: „Jesus wird als eschatologischer Richter dargestellt, der den Zugang zum Glauben und zum Leben eröffnet, dadurch aber das Endgericht in Gang setzt.“ 34 Durch das von LINDARS (1987), 435 als „parable of crisis“ bezeichnete Lichtwort in Joh 9,5 wird die ganze Heilungsepisode unter ein Gerichts-Setting gestellt; vgl. zu den Bezügen zu Joh 8,12 ebenfalls Lindars (ebd.). 35 Ebenso auch REIMER (2013), 436f.; LINCOLN (2000), 98. 36 So auch THOMPSON (2015), 219. Bemerkenswert ist, dass neben dem Durchdringen des Blindgeborenen zum Glauben auch das metaphorische Erblinden der Pharisäer als Prozess beschrieben wird: Während im ersten Verhör des Blindgeborenen (V. 13–17) die Pharisäer noch unterschiedlicher Meinung sind (V. 16), sind sie im zweiten Verhör (V. 24–34) bereits sicher, dass Jesus ein Sünder ist (V. 24); vgl. auch RESSEGUIE (1993), 121. Den paradigmatischen Charakter der damit sichtbaren Glaubenshaltungen betont auch ZUMSTEIN (2016), 359; vgl. ebenso RESSEGUIE (1993), 116. 37 Vgl. RESSEGUIE (1993), 121: „Light and judgement are interrelated concepts in this Gospel, for light causes division or separation […].“ Ebenso LABAHN (2009), 509. So wenig die Ansicht von BULTMANN (1986), 77, hinter dem Gericht (κρίσις) eine „Scheidung“ zu sehen, lexikalisch begründet ist, so sachlich richtig beschreibt sie doch die Auswirkung des Gerichts im Johannesevangelium. 38 Siehe zu diesem Zielgedanken der Erzählung REIMER (2013), 437; MONTONINI (2013), 442; LABAHN (2009), 456. 39 So auch ZUMSTEIN (2016), 357, der die Bezüge zum Prolog als „hermeneutischen Hintergrund“ betont; ebenso MONTONINI (2013), 441 mit Verweis auf die zentralen Stellen der Lichtmetaphorik im Evangelium.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Blindgeborenen ist also ein Paradigma für die Wirkung des in die Welt kommenden Lichts (1,4.5.9; 3,19),40 das die einen sehend, andere dagegen blind zurücklässt. 41 War die Lichtmetaphorik bereits seit dem Prolog ambivalent zwischen heilschaffender und richtender Konnotation,42 ist nun gegenüber der in der Heilung immer noch präsenten heilschaffenden Funktion des Lichts in der narrativen Fokussierung die Verurteilung dominant (εἰς κρίμα ἐγὼ εἰς τὸν κόσμον τοῦτον ἦλθον, V. 39).43 Ferner zeigt sich nun erstmals der prozessuale Charakter der Verurteilung durch das Licht darin, dass das Licht nicht nur auf die Finsternis trifft (vgl. 1,4–5; 3,19), sondern diese sich in Form von Blindheit selbst als Form des Urteils manifestiert (οἱ βλέποντες τυφλοὶ γένωνται, 9,39b)44 und damit motivische Verbindungen zum alttestamentlichen Rechtsstreit aufweist.45 Damit wird nun explizit, was in Joh 7–8 implizit war: Indem sich die Pharisäer als βλέποντες ausgeben, nehmen sie zugleich die Autorität der Gerichtsbarkeit für sich in Anspruch, die imstande ist, über Jesus zu urteilen.46 Gerade die Annahme, über ihn richten zu können, manifestiert ihre Sünde (νῦν δὲ λέγετε ὅτι βλέπομεν, ἡ ἁμαρτία ὑμῶν μένει, 9,41).47 40 Siehe zum Bezug zum Prolog auch RESSEGUIE (1993), 116; zur Exemplifizierung THYEN (2005), 474. RESSEGUIE (1993), 121: „Although John 3.19 brings together the concepts of light and judgement […] it is John 9 that shows the reader the relationship between light and judgement.“ 41 So auch LABAHN (2009), 463, der Joh 9 geradezu als Erklärung und Ausdeutung des in die Welt kommenden Lichts ansieht. 42 Siehe dazu die Untersuchung oben zu Joh 1,4.5.9; 3,19–21 sowie zu Joh 8,12. 43 So auch MICHAELS (2010), 573: „That is, the emphasis is on the intent that ‚those who see might go blind‘, rather than that ‚those who do not see might see‘.“ Diese narrative Akzentsetzung zeigt sich nicht nur in dem als Schlusspointe fungierenden Ausspruch Jesu in V. 9,39, sondern auch in der narrativen Gewichtung von Heilung (V. 1–7; 107 Wörter in NA28) und Verhör- bzw. Gerichtsszenen (V. 13–34; 391 Wörter in NA28). 44 So auch herausgestellt von BULTMANN (1986), 259: „‚Blindsein‘ ist jetzt nicht mehr nur ein Irren im Dunkel, das um sich als Irren immer wissen kann […]. Wer nicht glaubt, ist gerichtet […], und eben in der Festhaltung des Wahnes, sehend zu sein, vollzieht sich an ihm das Gericht.“ Ebenso LINCOLN (2000), 103. Damit wird der zweite in Abschnitt 2.2, Abb. 9 dargestellte Akt der Verurteilung betont, während in Joh 1,4–5; 3,19 der Zustand der Finsternis vor dem Kommen des Lichts und der damit einhergehenden Verurteilung betont wird. 45 LINCOLN (2000), 104 sieht dabei motivische Bezüge zur Rechtsstreitdarstellung in Jes 40–55; 43,8, die einige Blinde zum Licht führt (Jes 42,6–7; 49,6–9) und Sehende als blind erweist (Jes 42,18f.; 43,8) Weitere Bezüge ergeben sich zur Blindheit in Jes 6,10 als göttlichem Gerichtsurteil (so auch THOMPSON [2015], 219; MICHAELS [2010], 573). Dass diese Bezüge bewusst angelegt sind, scheint die Verwendung des Blindheitsmotivs in Joh 12,40 mit direkter Bezugnahme auf Jes 6,10 nahezulegen. 46 Eine ähnliche Akzentsetzung sieht LABAHN (2009), 483. 47 So auch LABAHN (2009), 484f. Inhaltlich parallelisiert ἡ ἁμαρτία ὑμῶν μένει (9,41) dabei ἡ ὀργὴ τοῦ θεοῦ μένει ἐπ᾽ αὐτόν (3,36) als gerichtliche Manifestation einer bereits vorher offenbaren Schuld; vgl. LINCOLN (2000), 103.

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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Die Episode in Joh 9,1–39 wird durch die Voranstellung des Lichtwortes (V. 5) zur Exemplifikation der Lichtmotivik im Prolog (1,4–5.9) sowie der Aufnahme in Joh 3,19 und Joh 8,12 und stellt damit das Kommen des Lichts in einen forensischen Kontext als Kommen zum Gericht. 48 Während in Joh 1,4–5; 3,19 der Zustand der Finsternis vor dem Kommen des Lichts und der damit einhergehende verdammungswürdige Zustand akzentuiert wird, liegt der Fokus der Darstellung in Joh 9,1–39 auf dem den kosmischen Prozess beschließenden Akt der Verurteilung nach dem Eintreffen des Lichts, durch den das Gericht über jene ausgesprochen ist, die sich dem Licht verweigern und so erst zu Blinden werden (V. 39). 49 Im Bild des Prozesses ist damit die Welt durch Jesus überführt, dennoch wird das Urteil als forensisches Verdikt nur über solche ausgesprochen, die sich Jesus als Richter verweigern. In diesem Fall wird das Urteil des Endgerichts durch das Bild des Prozesses bereits in der Gegenwart manifest. 50 Umgekehrt führt der Prozess für solche, die in einer Haltung des Glaubens zum Anerkennen der eigenen Blindheit und dem Festsitzen in der Finsternis, somit auch zu einem Anerkennen des Urteils über sich gekommen sind, gerade im Erkennen der eigenen Blindheit zur paradoxen Erlangung der Rettung.51 Reflexion der Prozess-Narration Die Darstellung in Joh 9,1–39 liefert ein weiteres Mosaikteil des in der Erzählung dargestellten metaphorischen Makro-Prozesses, indem sie einen bisher nicht geschilderten Detailgrad der gerichtlichen Befragung enthält und damit der Gerichtsmotivik bildhaft-einprägsame und plastische Züge verleiht. Das Verfahren fungiert nach der Aufforderung Jesu zur gerichtlichen Überführung von Sünde in Joh 8,46 (τίς ἐξ ὑμῶν ἐλέγχει με περὶ ἁμαρτίας) im narrativen Zusammenhang als reaktiver Versuch der Pharisäer, ihn als Sünder ἁμαρτωλός zu überführen. 52 Dass dieser Versuch so fundamental misslingt, dass er die Voreingenommenheit und Rechtsbeugung aufseiten der Pharisäer entlarvt und den Vorwurf der Sünde auf die Pharisäer selbst zurückwendet, ist damit im 48

Auch ZUMSTEIN (2016), 380 spricht von einem „Kommen zum Gericht“. Vgl. SCHNACKENBURG (1985), 325 sowie die Ausführung bei MICHAELS (2010), 575f. Obwohl die Welt schon vor dem Kommen Jesu als blind vorausgesetzt wird, so ist es doch hier gerade das Urteil im metaphorischen Prozess, durch das die Blindheit erst entsteht. So auch BULTMANN (1986), 259, der diese Funktion des κρίμα (V. 39) bemerkt: „Aber in Wahrheit kommt es erst beim Kommen des Lichtes zutage, ja entscheidet es sich erst jetzt, wer sehend oder blind ist. […] Die ‚Blinden‘ und die ‚Sehenden‘, für die Jesu Kommen das κρίμα bedeutet, sind also keine vorhandenen und aufweisbaren Gruppen […].“ Die Unterscheidung ist erst durch eine unterschiedliche Reaktion auf Jesus gegeben. 50 Vgl. auch ZUMSTEIN (2016), 380. Die Prozessmetaphorik ist damit wesentlicher Träger präsentischer Akzente der Eschatologie. 51 Vgl. ähnlich schon BULTMANN (1986), 259f. 52 Ähnlich auch PANCARO (1975), 49. 49

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Makro-Prozess nicht nur ein Beweis der Unschuld Jesu, sondern zugleich eine völlige Infragestellung des von menschlicher Seite angestrengten Prozesses selbst. Während auch in den forensischen Szenen in Joh 5,19–47 und 7,14– 8,59 das Motiv der ungerechten und voreingenommenen Richter aufgenommen wurde, tritt in Joh 9,1–39 ein neuer Zug dadurch hinzu, dass die Gerichtsbarkeit der Juden selbst als Farce entlarvt und damit in ihrer Berechtigung hinterfragt wird. Das Verhör wird selbst verhört, die Urteilsfindung selbst Gegenstand der Urteilsfindung, die Methoden der gerichtlichen Überführung werden selbst überführt, und der Versuch der Überführung des Sünders (Jesus) wird selbst zur Überführung der Sünder (Pharisäer). Dass diese Akzentsetzung nicht auf die jüdischen Gremien der erzählten Welt beschränkt bleibt, sondern vielmehr als ein weit darüber hinausgehendes und auch für die Lesenden selbst relevantes Prinzip verstanden sein will, macht die Reflexion in Joh 9,40–41 deutlich, in der das Beharren auf der eigenen Fähigkeit, Jesus beurteilen zu können, als Blindheit gebrandmarkt wird.53 Damit setzt sich zugleich die in Joh 8,12–59 vorgenommene Transformation fort, bei der der kosmische Prozess mit seinen charakteristischen doppelten Darstellungsebenen von zwei sich an der Frage der Identität Jesu scheidenden Paradigmen zu einem Meta-Prozess umgeformt wird, bei dem der Lesende nicht mehr über einzelne Taten der erzählten Welt, sondern über konkurrierende Paradigmen von ‚oben‘ und ‚unten‘ selbst urteilt.54 War die bisherige Erzählung als Darstellung eines metaphorischen Makro-Prozesses durch ihre zwei sich diametral in einem Paradigmenkonflikt gegenüberstehenden Darstellungsebenen charakterisiert, bei dem der Lesende in einem Meta-Rechtsstreit letztlich über Paradigmen selbst urteilt, wird in Joh 9,1–39 das Paradigma von ‚unten‘ als Wahrnehmungsebene der Welt in eben jenem Meta-Rechtsstreit verurteilt.

5.2. Die Hirtenrede als Anklagerede (Joh 9,40–10,21) Narrative Einbettung Mit Joh 10,1–18 folgt ein Redestück, in dem sich Jesus als der wahre Hirte Israels von den falschen Hirten absetzt. Obwohl in Joh 10,1 mit der solennen Formel ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν und der thematischen Verlagerung auf die Hirtenmotivik zunächst eine neue Rede zu beginnen scheint, ist die Hirtenrede besser als direkte Fortsetzung von Joh 9,40–41 zu verstehen.55 Sowohl die von 53

Vgl. dazu schon BULTMANN (1986), 259. Siehe dazu oben Abschnitt 4.2 und dort Abb. 12. 55 So auch THYEN (1991), 123. Die Beteuerungsformel ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν wird an keiner Stelle im Evangelium zu Beginn einer Rede verwendet, sondern folgt stets inmitten 54

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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Jesus vorgenommene geistliche Deutung von Blindsein und Sehen in Joh 9,39 als auch der kurze Einwand der Pharisäer in Joh 9,40 haben damit Überleitungscharakter, indem sie einerseits die Episode der Blindenheilung beschließen, andererseits aber die Hirtenrede eröffnen56 und diese in den Kontext eines Streitgespräches stellen. Der Hauptteil der Rede (9,41–10,13) wird durch den Kontrast zwischen dem guten Hirten und seinen Antagonisten (λῃστής in 10,1.8; κλέπτης in 10,1.8.10; λύκος in 10,12; μισθωτός in 10,12.13) geprägt und damit in den Dienst eines implizierten Kontrastes zwischen Jesus und den Pharisäern gestellt.57 Während die Rede durch die Auseinandersetzung mit den Pharisäern als Fortsetzung von Joh 9,13–38 in den Rechtsstreit eingebettet ist, zeigt sich auch im Szenenschluss der Hirtenrede (10,19–21) sowie in der anschließenden Szene im Tempel (10,22–39) durch den Bezug auf die Blindenheilung (10,21),58 das Zeugnis der Werke (10,25) und die Fortführung der Hirtenmotivik im Kontext einer juristischen Auseinandersetzung um die Identität Jesu (10,24–39) eine feste Einordnung der Rede in den größeren Kontext des Rechtsstreites zwischen Jesus und den Juden. Zugleich fungiert die Hirtenrede damit in der Makrostruktur als diskurstechnisches Scharnier zwischen der Erzählung der Blindenheilung (Joh 9,1–39) und dem anschließenden Diskurs im Tempel anlässlich des Tempelweihfestes (Joh 10,22–42). Konstruktion eines Prozess-Settings Durch die diskurstechnische Einbindung der Hirtenrede in den sie umgebenden Kontext offenbart der Erzähler, dass die Rechtsstreitmotivik im großen Erzählkomplex von Joh 9,1–10,39 als markantes Motiv fungiert. Bedenkt man, dass sowohl die Blindheits- als auch die Hirtenmetaphorik einen gemeinsamen Hintergrund in alttestamentlicher Rechtsstreitdarstellung haben,59 so zeigt sich im Rechtsstreit sogar das Leitmotiv, das die Hirtenrede mit dem vorherigen Kontext überhaupt erst verbindet. Die Hirtenrede beginnt in Joh 9,41 als direkte Antwort Jesu auf die in Joh 9,13–34 dargestellte Gerichtsverhandlung in absentia und wird damit zur Gerichtsrede Jesu in einem Rechtsstreit mit den einer begonnenen Redeeinheit oder innerhalb von Dialogen als Bekräftigung (THYEN [2005], 476). 56 So sinngemäß auch THYEN (2005), 473f., der Joh 9,39–41 mit der Übergangsfunktion von Joh 5,16–18 vergleicht. Wenn dieser Vergleich zutrifft, entspräche dem prozesshaften Streitgespräch von Joh 5,18–47 im vorliegenden Kontext der Hirtendiskurs in Joh 10,1–18, der damit klar in seiner forensischen Charakteristik bestätigt wird. Ähnlich ZUMSTEIN (2016), 358, der auf den Übergangscharakter der Verse als Abschluss von Joh 9,1–38 wie auch als Eröffnung zur Hirtenrede hinweist. 57 Vgl. dazu auch KÖSTENBERGER (2002a), 70f. 58 Der direkte Bezug auf die Blindenheilung in 10,21 zeigt, dass die Zuhörer der erzählten Welt die Hirtenrede in einen direkten Zusammenhang zum Motiv der Blindheit stellen (SCHNELLE [2016], 230). 59 Siehe dazu oben Kapitel III,2.4.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Pharisäern.60 Indem der Fokus der Rede auf dem guten Charakter des Hirten liegt, wird sie zur Verteidigung Jesu gegen den Vorwurf, ein ἄνθρωπος ἁμαρτωλός (9,16.24) zu sein.61 In diesem Dienst steht auch der die Rede strukturierende Kontrast zwischen ἡ θύρα τῶν προβάτων (10,7; vgl. 10,1.2.9) und ὁ ποιμὴν ὁ καλός (10,11.14; vgl. 10,2) einerseits und dem ἀλλότριος (10,5.6), κλέπτης (10,1.8.10), λῃστής (10,1.8), μισθωτός (10,12.13), λύκος (10,12) andererseits. 62 Dass die Rede sich überhaupt auf den Hirten und die Schafe zentriert, lässt einen Bezug zur Handlung Jesu am Blindgeborenen erkennen, durch den Jesus nicht als Verführer, sondern als guter Hirte erscheint. In der Figur des Hirten sind starke messianische Bezüge zu Jes 40,11; Sach 11,4–17; 13,7; Jer 23,1–8 und insbesondere Ez 34,2–31 präsent,63 durch die die Selbstbezeichnung Jesu als ὁ ποιμὴν ὁ καλός (Joh 10,11.14) gleichzeitig einer Verteidigung seines Anspruches als Messias gleichkommt.64 Durch die Selbstbezeichnung bezieht Jesus nun selbst Position in Bezug auf die bei der Verhandlung in absentia von Joh 9,13–34 diskutierten Alternativen ἁμαρτωλός (9,16.24.25.31), προφήτης (9,17) und Χριστός (9,22). 65 Die Hirtenrede erscheint damit als Verteidigungsrede Jesu, durch die er gleichsam in den zunächst in seiner Abwesenheit geführten Anklageprozess tritt und den Pharisäern gegenüber seinen messianischen Anspruch persönlich verteidigt. War diese Verteidigung Jesu in Joh 9,13–34 noch anderen vorbehalten, die im Prozess für Jesus eintraten (die Eltern des Geheilten in 9,20–23; der Geheilte in 9,25–34), erfährt die Verhandlung durch die direkte Konfrontation in der Hirtenrede eine dramaturgische Intensivierung.

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Vgl. BARRETT (1978), 366, der vom Kommen Jesu als „trial“ spricht. Dies ist die Auffassung von ASIEDU-PEPRAH (2001), 156f., der in der Rede eine juristische Verteidigung Jesu sieht: „The use of a juridical parable by the accused […] is intended to bring the accuser to take a position which reinforces the defence of the accused and justifies his/her protestation of innocence. […] As the accused in the ongoing juridical controversy, Jesus’ use of a juridical parable is intended to convince his opponents and to bring them to accept the truthfulness of his christological claims […].“ 62 Nach ZUMSTEIN (2016), 386 „steht der Gegensatz zwischen guten und schlechten Hirten im Zentrum“ der Darstellung. Die Gegensätze hat KYSAR (1991), 86–88 als Strukturelement der Rede aufgezeigt; vgl. ebenso ZIMMERMANN (2004), 334, der eine „oppositäre Grundstruktur“ sieht. 63 Vgl. zum alttestamentlichen Hintergrund KÖSTENBERGER (2004), 305; HOFIUS (1967), 289f. und ausführlich ZIMMERMANN (2004), 320–326.336–342 sowie BEUTLER (1991), 24– 31. Von den alttestamentlichen Prätexten ist insbesondere Ez 34,2–31 als maßgeblicher motivischer Hintergrund anzunehmen (THYEN [2005], 483; ZUMSTEIN [2016], 386; SCHNELLE [2016], 233; TURNER [1991], 49; CULPEPPER [1998], 179 und ausführlich KÖSTENBERGER [2002a], 75–78). 64 Ähnlich auch SCHNELLE (2016), 231: „Der Hirte verweist auf […] den Messias […].“ 65 Dass damit ein unverrückbarer christologischer Selbstanspruch impliziert ist, zeigt die Aufforderung der Juden zu einem Bekenntnis in Joh 10,24. 61

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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Prozessmodulation Dient die Hirtenrede zunächst als Verteidigung des Selbstanspruches Jesu, werden in der auffälligen Abgrenzung von negativ konnotierten Figuren (ἀλλότριος, κλέπτης, λῃστής, μισθωτός, λύκος) gleichzeitig polemische Spitzen gegenüber den Pharisäern sichtbar.66 Dass somit die Pharisäer die eigentlichen Adressaten der Kritik sind, wird durch den Erzählerkommentar in Joh 10,6 bestätigt.67 Insoweit der Monolog Jesu bereits in Joh 9,41 beginnt, wird die Rede neben der Verteidigung des messianischen Anspruchs Jesu gleichzeitig zu einer Begründung des mit ἡ ἁμαρτία ὑμῶν μένει (9,41) geäußerten Schuldspruches. 68 Durch eine fehlende Antwort der Pharisäer bekommt der lange Monolog Jesu damit (parallel zu Joh 5,19–47)69 den Charakter einer Gerichtsrede, durch die Jesus nun gleichsam als Richter in die in Joh 9,13–34 geführte Gerichtsverhandlung tritt, um einen Urteilsspruch zu verkünden.70 Der Zusammenhang mit der in 9,39–40 ausgesprochenen Erblindung als Gerichtsmotiv des Rechtsstreites Gottes mit seinem Volk (vgl. Jes 6,10; 42,19; Jer 5,21) wie auch die starken Bezüge zu Ez 34 als Gerichtsrede Gottes platzieren die Rede im Kontext eines Rechtsstreites Gottes mit seinem Volk,71 bei 66 KYSAR (1991), 88 hat in seinem Strukturvorschlag aufgezeigt, dass die negativen Figuren in den alternierenden Vergleichen stets vorangestellt werden: „A series begins with a negative image, continuing the polemic quality of the context of the passage found in chapter 9 and specifically 9:40–41.“ Die Rede zielt damit strukturell auf eine Kritik der Pharisäer ab; vgl. dazu auch THEOBALD (2009), 659: „Ziel der ‚Hirtenrede‘ ist eine vertiefte Deutung der voranstehenden Auseinandersetzung Jesu mit den ‚Pharisäern‘ auf neuem Niveau. […] [D]ie ‚Pharisäer‘ werden zu Typen für alle selbsternannten ‚Hirten‘ […].“ Auch wenn die schlechten Hirten damit nicht explizit mit den Pharisäern identifiziert werden (ZUMSTEIN [2016], 384), liegt eine solche Gleichsetzung im Kontext auf der Hand; so auch SCHNACKENBURG (1985), 348; SCHNELLE (2016), 230; vgl. auch das Urteil von KÖSTENBERGER (2002a), 70: „[T]he earlier part of chap. 10 is polemically directed against the Pharisees […].“ Ebenso ASIEDU-PEPRAH (2001), 170, der in den kontrastierenden Bildern „Jesus’ polemic against ‚the Jews‘“ sieht. 67 In dem Erzählereinschub Ταύτην τὴν παροιμίαν εἶπεν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς, ἐκεῖνοι δὲ οὐκ ἔγνωσαν τίνα ἦν ἃ ἐλάλει αὐτοῖς (V. 6) ist ἐκεῖνοι anaphorische Deixis auf jene ἐκ τῶν Φαρισαίων aus 9,40; vgl. auch THYEN (2005), 476. Ist der von SCHNELLE (2016), 230 gesehene Bezug des Unverständnisses der Pharisäer in 10,6 als Erweis ihrer Blindheit richtig, läge damit eine direkte Verbindung zwischen den Pharisäern als direkten Adressaten der Hirtenrede und dem Motiv der Blindheit vor. 68 So auch BUSSE (1991), 13. 69 Siehe zur Parallelität des Monologs in Joh 5,19–47 und der Hirtenrede im Kontext des Rechtsstreites die Einordnung in den narrativen Kontext zu Beginn dieses Kapitels. 70 ZIMMERMANN (2004), 351 bemerkt, dass Jesus „nach der Einleitung Joh 9,39 als ‚Richter‘ auftritt“, wie sich insbesondere im Kontext des in 10,34 genannten Zitats aus Ps 82,6 und der impliziten Selbstbezeichnung Jesu als Richter (vgl. dazu unten Abschnitt 5.3) erweist. 71 Sowohl BARRETT (1978), 366 als auch KÖSTENBERGER (2004), 295 sehen hier enge Parallelen zu Joh 12,37–40 und damit eine direkte Bezugnahme auf den Gerichtstext in

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dem Jesus selbst in göttlicher Autorität in einer Bildrede das Urteil über die falschen Führer des Volkes spricht.72 Durch die starke königliche Konnotation des Hirten stellt sich Jesus durch die prononcierte Selbstbezeichnung als ὁ ποιμὴν ὁ καλός selbst als messianischer König Israels dar73 und impliziert damit zugleich seine eigene Legitimation zur höchsten Gerichtsbarkeit. Als direkte Reaktion auf den Hinauswurf des Geheilten aus der Synagoge (Joh 9,34)74 geht Jesus in dieser Funktion des messianischen Hirten und Königs mit den falschen Führern des Volkes ins Gericht. Der ganze Diskurs von Joh 9,1– 10,39 fungiert damit als forensische Auseinandersetzung mit den Pharisäern als schlechten Führern Israels.75 Diese werden in Joh 10,8–10 κλέπται … καὶ λῃσταί (V. 8) bezeichnet, die stehlen (κλέπτω, V. 10), schlachten (θύω, V. 10) und verderben (ἀπόλλυμι, V. 10). In Joh 10,12–13 folgt ein Wechsel des Bildes, der die Pharisäer in der Tradition prophetischer Kritik an den Leitungsfiguren Israels in der Funktion eines μισθωτός (V. 12) sieht, dem nichts an der Herde liegt (οὐ μέλει αὐτῷ περὶ τῶν προβάτων, V. 13).76 Die Hirtenrede setzt damit das Prozess-Setting des alttestamentlichen Rechtsstreites voraus, bei dem Jesus in der Rolle des göttlichen Richters auftritt. Entgegen der vordergründigen Assoziation der Rede mit einer messianischen Verteidigung trägt sie so Züge einer göttlichen Anklage- und Gerichtsrede, die ein autoritatives Urteil einschließt. Reflexion der Prozess-Narration Die Hirtenrede setzt die in Joh 9,1–39 begonnene forensische Darstellung, in der die Schuld der Juden offenbar wird, nahtlos fort. Mit Joh 10,1–18 werden zugleich Motive des Makro-Prozesses in Joh 1–12 weiterentfaltet. Während die Szenenabfolge einer aus mehreren Verhören zusammengesetzten GerichtsJes 6,10. Ähnlich auch SCHNACKENBURG (1984), 148: „Sicherlich hat der Evangelist schon an dieser Stelle das Jesaja-Zitat im Sinn, das er dann in 12,40 ausdrücklich anführt.“ 72 Zu Recht erkennt THYEN (1991), 131 eine „neue Vertextung der alten Gottesrede ‚Wider die Hirten Israels‘“ (Ez 34; Jer 23; Sach 11)“. Ähnlich sieht ASIEDU-PEPRAH (2001), 155 die Bildrede als „juridical parable“ in der Tradition alttestamentlicher Gerichtsreden Gottes. 73 Vgl. dazu MEEKS (1967), 308. Nach ZIMMERMANN (2004), 333 spielt die Königs-Metapher „innerhalb des JohEv eine nicht unwesentliche Rolle“; vgl. etwa Joh 1,49; 6,15; 12,13. Sie ist insbesondere in 18,33; 19,19.21wichtiger Prozessgegenstand. 74 Hinter dem Hinauswurf aus der Örtlichkeit des Verhörs wird zugleich der Hinauswurf aus der Synagoge (vgl. 9,22) angedeutet (THEOBALD [2009], 653; BEUTLER [2013], 294). Der Verweis in 9,34 antizipiert damit bereits die Darstellung der Pharisäer als schlechte Hirten des Volkes in Joh 10,1–18. 75 So auch ZUMSTEIN (2016), 394 und KÖSTENBERGER (2002a), 87 mit Bezug auf den atl. Hintergrund in Ez 34,5–10; ähnlich auch SCHNELLE (2016), 231: „Der Hirte verweist auf […] den Messias, die Diebe und Räuber hingegen sind jene, die unrechtmäßig die Führung des Gottesvolkes beanspruchen.“ 76 KÖSTENBERGER (2002a), 87 sieht darin ein „prophetic word of judgment“.

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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verhandlung in Joh 9,1–39 der Beweisaufnahme und -verhandlung im metaphorischen Makro-Prozess entspricht, fungiert Joh 10,1–18 als Anklage- und Gerichtsrede des Richters. Nachdem die Gerichtsbarkeit der Juden bereits in Joh 7,14–52; 9,1–39 selbst Gegenstand des Prozesses war, sind es nun die Autoritäten in ihrer Leitungsfunktion, die in der Hirtenrede vor das Gericht Jesu geführt werden. In einem Bildmosaik verschiedener negativ konnotierter Figuren77 werden die menschlichen Richter vor die Gerichtsbarkeit Jesu gezogen. In paradoxer Weise zeigt der Erzähler dem Lesenden in einem kommentierenden Einschub jedoch an, dass die direkten Adressaten der erzählten Welt die dabei verwendete Bildlichkeit nicht zu deuten wissen (Joh 10,6), und verortet damit die eigentliche Wirkung der Bildlichkeit auf einer anderen Wahrnehmungsebene, die nur dem Lesenden offensteht. Indem sich die affektive Kraft der Hirtenrede in ihrer Bildlichkeit nicht bei den Charakteren der erzählten Welt, sondern erst beim Leser entfaltet, wird der Lesende selbst zu einer Urteilsbildung sowohl über Jesus als auch über die Pharisäer geführt.78 Dass die Rede in Joh 10,14–18 mit dem positiven Akzent des guten Hirten endet, der sein Leben für die Schafe lässt, schließt an die bereits in Joh 5,24.34.39–40 ausgesprochenen Einladungen zum Heil an79 und verdeutlicht, dass die rhetorischen Funktion der Rede über die direkten Adressaten der erzählten Welt hinaus auf eine Überzeugung der Lesenden in der Erzählwelt des Evangeliums zielt.80

5.3. Das Geständnis des Angeklagten (Joh 10,22–39) Narrative Einbettung Der Diskurs in Joh 10,22–42 ist mit der Bestimmung des zeitlichen (τὰ ἐγκαίνια ... χειμὼν ἦν, V. 22) und örtlichen (ἐν τῷ ἱερῷ ἐν τῇ στοᾷ τοῦ Σολομῶνος, V. 23) Settings mit einer narrativen Einleitung eingeführt, die ihn einerseits mit dem vorausgehenden Kontext der Hirtenrede (9,40,1–10,21) verbindet, andererseits aber als neue Erzähleinheit präsentiert. Diese doppelte narrative Verortung liegt in der Ambivalenz der Einleitung begründet, die zu77

KYSAR (1991), 92 spricht von einem „mixing of metaphors“. Die auf einer rezeptionsästhetischen Ebene angelegte affektive Wirkung der Rede hat KYSAR (1991), 95f. einsichtsvoll herausgearbeitet. Kysar erkennt insbesondere in der bipolaren, kontrastierenden Verwendung von Bildern den „decisional character“ der Metaphern und damit des Abschnitts: „These metaphors force upon the reader the necessity of response to the claims of Jesus“ (aaO., 100). 79 Dies bemerkt auch ASIEDU-PEPRAH (2001), 165. 80 Diese rhetorische Funktion der Rede im Rechtsstreit weist enge Parallelen zur alttestamentlichen Gerichtsrede auf, die nicht primär zur Verdammung, sondern zur Überzeugung ihrer Adressaten und somit zur Rettung führen soll; siehe dazu Kapitel II,2.3.5. 78

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

nächst ein neues zeitliches und örtliches Setting zu eröffnen und damit den Diskurs in Joh 10,22–38 von dem durch die zeitlich-örtliche Einheit zusammengehaltenen Erzählkomplex von Joh 7,1–10,21 abzusetzen scheint.81 Durch die starke inhaltliche Kohärenz und die Fortsetzung der Hirtenmetapher dagegen kann die Einleitung in Joh 10,23 ebenso als nachträgliche zeitliche und örtliche Bestimmung zu dem großen Diskurs in Joh 10,1–21 gelesen werden.82 Damit würde sich die den Dialog eröffnende Frage der Juden nach der Identität Jesu in Joh 10,24 bruchlos an ihre Überlegungen zum messianischen Anspruch Jesu in Joh 10,19–22 anfügen. Dass die kontextuelle Einordnung von Joh 10,22–39 so absichtsvoll in der Schwebe bleibt, führt dazu, dass Joh 9,40– 10,39 (und damit auch Joh 7,1–10,39 insgesamt) vom impliziten Leser als einzige große und zusammenhängende Auseinandersetzung in einem gerichtlichen Kontext gelesen werden können.83 Damit wird in der Makrostruktur des Evangeliums Joh 7,1–10,39 zu einer ausführlichen metaphorischen Prozessbeschreibung.84 Neben dieser Einbettung zeigt der Dialog in Joh 10,22–39 noch weitergehende Verbindungen zur vorangegangenen Prozessdarstellung. Mit dem Fest der Tempelweihe und der auffälligen doppelten lokalen Bestimmung (ἐν τοῖς Ἱεροσολύμοις, V. 22; ἐν τῷ ἱερῷ, V. 23) werden Assonanzen zur Begegnung Jesu mit den Juden in Joh 2,13–22 kreiert, durch die Joh 10,22–39 als letzte öffentliche Auseinandersetzung mit den Juden und damit in der Makrostruktur von Joh 1–12 als Gegenstück zur ersten Begegnung Jesu mit den Juden in Joh 2,13–22 erscheint: 85 Beide Begegnungen werden im Tempel lokalisiert (2,13; 10,23), in beiden findet sich die Anspielung auf eine gewaltsame Zerstörung des Leibes Jesu als Tempel (2,19–22; 10,31), und trotz der feindlichen Natur der Auseinandersetzung werden beide mit dem Erzählerhinweis ab81 THYEN (2005), 495 spricht daher von einer „eigenständigen neuen Szene“; ähnlich auch ZUMSTEIN (2016), 398f. 82 So etwa KÖSTENBERGER (2004), 278; SCHNELLE (2016), 230. Auch SCHNACKENBURG (1985), 348 meint (jedoch mit Betonung der Ambivalenz der Einordnung), die Zeitangabe in Joh 10,22–23 würde sich zurück auf Joh 10,1–21 beziehen. Eine ähnlich nachgelagerte örtliche Bestimmung findet sich auch in Joh 8,20. 83 So auch NEYREY (1989), 650, der den Dialog in Joh 10,22–28 zusammen mit dem Vorangehenden als einen einzigen „forensic process“ liest. THYEN (1991), 128 sieht Joh 9,40– 10,39 als Einheit an; ebenso betont ZUMSTEIN (2016), 399 die durch Kontinuität der Gesprächspartner, der Thematik und der Örtlichkeit in Jerusalem gegebene inhaltliche Nähe zwischen Joh 10,1–21 und 10,22–39. Ähnlich hat auch DU RAND (1991), 106f. die starken Verbindungslinien hervorgehoben und formuliert: „It is important to read chapters 9–10 syntactically as a unity“ (aaO., 97). 84 Die so aufgewiesene Struktur von Joh 7,1–10,39 als Erzähleinheit hat SCHENKE (1989) einsichtsvoll herausgearbeitet und dabei auch die starke juridische Dimension der Auseinandersetzung aufgezeigt (aaO., 178–180). 85 Vgl. dazu auch Kapitel III,2.5 und die Korrespondenz beider Erzähleinheiten im chiastischen Aufbau von Joh 1–12.

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

287

geschlossen, dass viele an Jesus glaubten (2,23; 10,42). Vor diesem Hintergrund erscheint Joh 10,22–39 als inclusio zu Joh 2,13–23 und damit als Umrahmung aller öffentlichen Auseinandersetzungen Jesu mit den Juden.86 Dem entsprechen deutliche Strukturmerkmale, durch die in Joh 10,40–42 das „Buch der Zeugnisse“87 (Joh 1,19–10,42) in Form einer inclusio durch Verweise auf die (Zeugen)-Aussage des Johannes und den Rückzug Jesu aus der Öffentlichkeit förmlich geschlossen wird.88 Die Szene in Joh 10,22–39 weist eine Zweiteilung auf, bei der beide Teilszenen parallel strukturiert sind und die zentralen Elemente einer gerichtlichen Verhörszene aufweisen (vgl. Tab. 11).89 Ablauf der Verhörszene

10,22–31

10,32–39

Problem der messianischen Identität Jesu Frage nach der Identität Jesu Antwort Jesu mit Betonung der Einheit mit dem Vater Pointierter Ausdruck der Einheit von Sohn und Vater Hinrichtungsversuch der Juden

V. 24–31 V. 24 V. 25–30 V. 30 V. 31

V. 32–39 V. 33 V. 34–38 V. 38 V. 39

Tab. 11: Parallele Verhörszenen in Joh 10,22–31 und Joh 10,32–39.

Der Abschnitt Joh 10,22–39 erscheint damit als geteilte Verhörszene, in der die juristische Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in der Makrostruktur zur Kulmination geführt wird. Konstruktion eines Prozess-Settings Das Streitgespräch in Joh 10,22–39 ist durch das dialogische Wechselspiel einer Befragungssituation, durch das Semantem μαρτυρέω (V. 25), den gerichtlichen Vorwurf der Lästerung (βλασφημία in V. 33; βλασφημέω in V. 36; vgl. auch ποιεῖς σεαυτὸν θεόν in V. 33), den Versuch der Abführung zur Verurteilung (ἐζήτουν οὖν αὐτὸν πάλιν πιάσαι in V. 39) sowie den Versuch der Steinigung als gerichtliches Urteil (ἐβάστασαν πάλιν λίθους in V. 31; λιθάζω in V. 32.33) als Verhörszene mit anschließender Verurteilung charakterisiert.90 Während die eröffnende Frage der Juden (V. 24) in der erzählten Welt als informelle juristische Auseinandersetzung im Tempel vorausgesetzt wird, 86

Vgl. THYEN (2005), 495; ebenso ZIMMERMANN (2013a), 457. Dies wird auch durch die Anspielung auf den Tod Jesu (2,19–22; 10,17–18) bestärkt. 87 So bezeichnet von THYEN (2005), 111. 88 Siehe dazu KLINK (2016b), 486 sowie die strukturellen Beobachtungen in Kapitel III,2.5. 89 Siehe dazu die bei ZUMSTEIN (2016), 399 angegebenen Parallelen. 90 Ähnlich spricht ZUMSTEIN (2016), 399 von einer gerichtlichen Vorführung: „Bei der literarischen Gattung handelt es sich um einen ‚Rechtsstreit‘, genauer gesagt um eine Vorführung vor Gericht […].“ Ähnlich TRITES (1977), 108; BECKER (1991b), 392f.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

scheint die Szene deutlich metaphorische Anklänge an ein Prozess-Setting als förmliches gerichtliches Verhör91 aufzuweisen, bei dem Jesus als Angeklagter erscheint, der sich vor den ihn befragenden Juden als Richterkollegium verteidigen muss.92 Dass die nun erstmals im Evangelium formulierte direkte Aufforderung εἰ σὺ εἶ ὁ χριστός, εἰπὲ ἡμῖν παρρησίᾳ (V. 24) auf eine bekenntnishafte Antwort abzielt, weist deutlich auf die Schlussphase eines Gerichtsprozesses hin, bei dem der Angeklagte mit den Vorwürfen konfrontiert wird und zu einem Geständnis gebracht werden soll. Erstmals und in auffälligem Kontrast zu Joh 5,16; 7,1–24; 9,16 steht in der Befragung selbst keine bestimmte Tat Jesu mehr als Anklagegrund im Hintergrund (περὶ καλοῦ ἔργου οὐ λιθάζομέν σε, V. 33), sondern einzig die Identität und der als βλασφημία (V. 33) ausgedrückte Selbstanspruch Jesu (ποιεῖς σεαυτὸν θεόν, V. 33). Dass nach der das Verhör eröffnenden Frage nach der Identität als χριστός (V. 24) nun Jesus selbst mit dem Ausspruch ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν (V. 30) eine einfach bejahende Antwort weit überbietet 93 und eine unverhohlene βλασφημία zu äußern scheint, wirkt damit in den Augen der Juden als Geständnis des Angeklagten. Zugleich wird durch die Rede Jesu über den πατήρ der Verhandlungsgegenstand neben der Frage nach dem χριστός (V. 24) auf den Anspruch als υἱὸς τοῦ θεοῦ (V. 36)94 und damit auf jeden der beiden Titel konzentriert, die auch in der Zielsetzung des Evangeliums im Mittelpunkt stehen (20,31). In konsequenter Fortsetzung zu dem in der Szene evozierten Prozessablauf folgt auf dieses Geständnis (V. 25–30) die versuchte Urteilsvollstreckung (V. 31), die von der Verkündung der Urteilsbegründung begleitet wird (V. 33). Die Szene weist damit deutlich den Ablauf der Schlussphase eines Gerichtsprozesses auf: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Konfrontation des Angeklagten mit den Vorwürfen (V. 24) Geständnis des Angeklagten (V. 25–30) Beginn der Urteilsvollstreckung (V. 31) Frage nach der Begründung des Urteils durch den Angeklagten (V. 32) Begründung des Urteils (V. 33) Letzter Abwendungsversuch des Urteils durch den Angeklagten (V. 34–38) Versuchte Abführung zur Urteilsvollstreckung (V. 39)

In diesem bewusst angelegten Prozess-Setting werden mit der versuchten Abführung und Hinrichtung Jesu sowie dem Blasphemievorwurf intratextuelle 91

THYEN (2005), 493 spricht von einem „förmlichen Verhör Jesu durch die Ἰουδαῖοι“. So auch ZUMSTEIN (2016), 399: „Jesus wird als Angeklagter dargestellt, der aufgefordert ist, sich gegenüber den befragenden Behörden (V.24 und V.33) zu rechtfertigen.“ 93 So auch das Urteil von ZIMMERMANN (2013a), 457: „[T]he Christological question is asked and not only answered positively (v. 25), but also surpassed by assertions of Jesus’ unity (v. 30) […] with the Father.“ 94 Dass in den Augen der Juden die βλασφημία identisch mit dem Anspruch Jesu als Sohn Gottes ist, erweist die Äußerung Jesu in V. 36 (ὑμεῖς λέγετε ὅτι βλασφημεῖς, ὅτι εἶπονꞏ υἱὸς τοῦ θεοῦ εἰμι). 92

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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Verbindungen zu allen vorangegangenen Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden in Joh 2,13–22; 5,16–47; 7,14–8,59; 9,40–10,21 hergestellt.95 Dass diese Motive vom Erzähler als absichtsvolle Kulmination vorheriger Motive aufgegriffen werden, macht die doppelte Verwendung von πάλιν in V. 31 (ἐβάστασαν πάλιν λίθους) und V. 39 (ἐζήτουν οὖν αὐτὸν πάλιν πιάσαι) deutlich, die als direkter intratextueller Verweis auf die vorherigen Versuche der Steinigung (8,59) und Abführung (7,30.32.44; 8,20) zu werten ist.96 Neben diesen Bezügen wird mit der Zuspitzung der Befragung auf die Identität Jesu auch der Diskurs von Joh 7,14–52 sowie von Joh 9,1–10,21 zum Ziel geführt.97 Daneben wird in Joh 10,22–39 durch die Gestaltung als finale Verhörszene der Eindruck einer gerichtlichen Befragung vor dem jüdischen Synedrium evoziert und auf diese Weise das in Joh 18,19–24 fehlende Verhör vor dem Hohen Rat narrativ nach vorne verlagert.98 Diese Vielzahl an intratextuellen Verbindungen weist die letzte öffentliche Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden im Evangelium damit als Kulmination aller vorherigen Streitgespräche und Verhörszenen aus und bestärkt damit den Eindruck, dass der metaphorische Prozess nun seine letzte Phase erreicht hat. Prozessmodulation Scheint die Szene eine finale Anklage und Überführung Jesu in einem Gerichtsprozess zu evozieren, werden in der Antwort Jesu zugleich gegenläufige 95 Das Motiv der Hinrichtung Jesu erscheint vor dem Hintergrund des Tempelweihfestes als Tempelzerstörung mit starken Anklängen an Joh 2,19–22 und wird wie dort von der Notiz begleitet, dass dennoch viele an ihn glaubten (2,23; 10,42). Der Vorwurf der Lästerung (βλασφημία in V. 33; βλασφημέω in V. 36) und insbesondere die Formulierung ποιεῖς σεαυτὸν θεόν in V. 33 weist ebenfalls auf Joh 5,18 (ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ) zurück. Der Versuch der Abführung zur Verurteilung (ἐζήτουν οὖν αὐτὸν πάλιν πιάσαι, V. 39) ist dagegen das prominente Motiv von Joh 7–8 (vgl. ζητέω ἀποκτεῖναι in 7,1.19.20.25; 8,37.40 sowie πιάζω in 7,30.32.44; 8,20), ebenso wie der Versuch der Steinigung (8,59; 10,31). Ein weiterer Bezug liegt in dem Verweis Jesu auf das Gesetz mit γεγραμμένον ἐν τῷ νόμῳ ὑμῶν (10,34) auf die ähnliche Wendung in 8,17 (ἐν τῷ νόμῳ δὲ τῷ ὑμετέρῳ γέγραπται). Schließlich wird mit der Hirtenmetapher ein direkter Bezug zur Auseinandersetzung in Joh 9,40– 10,21 hergestellt. Die Vielzahl an Bezügen von Joh 10,22–39 auf vorherige Auseinandersetzungen wurde in der Forschung bereits hervorgehoben. So sieht TURNER (1991), 67 starke Verbindungen zwischen Joh 10,22–39 und Joh 5,16–47 sowie Joh 7; vgl. zu Verweisen auf Joh 7,1–8,59 auch SABBE (1991), 77. 96 So auch ZIMMERMANN (2013a), 455; ähnlich auch TURNER (1991), 69. 97 Siehe zu diesen Bezügen auch TURNER (1991), 67. 98 Vgl. dazu SABBE (1991), 75; TURNER (1991), 68; SCHNELLE (2016), 238. THYEN (2005), 496 spricht davon, dass der Erzähler hier „ganz offenkundig den in Joh 18 durch das Hannas-Gespräch ersetzten Prozeß der Juden gegen Jesus verarbeitet hat“. Ebenso ZUMSTEIN (2016), 399; BROWN (1966), 406; SCHNACKENBURG (1985), 384. THYEN (2005), 496 sieht in Joh 18,20 ferner einen intratextuellen Verweis auf die Szene beim Tempelweihfest, insbesondere durch die Stichwortverbindung durch παρρησία in Joh 18,20 und Joh 10,24.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Akzente sichtbar. So wird bereits in dem ersten Satz Jesu mit εἶπον ὑμῖν καὶ οὐ πιστεύετε (10,25) nicht nur die Frage nach dem Selbstanspruch als Christus beantwortet, sondern zugleich die Rolle der Juden als Ankläger subtil hinterfragt, indem der tatsächliche Konflikt von einer juristischen Streitfrage auf den Glauben transferiert wird. Nicht nur setzt Jesus damit seine Identität als χριστός so selbstverständlich voraus, dass sie gar nicht hinterfragt werden kann, sondern stellt diese in ironischer Umkehrung als Grundlage einer in dem doppelten οὐ πιστεύετε (10,25.26) ausgedrückten Anklage der abweisenden Haltung der Juden dar. 99 In diesem Kontext gewinnt auch das Zeugnis der Werke (τὰ ἔργα ἃ ἐγὼ ποιῶ … μαρτυρεῖ περὶ ἐμοῦ, 10,25) durch die wortgleiche Aufnahme der früheren Worte aus Joh 5,36 eben jene dort bereits präsente Ambivalenz eines positiven Ausweises, der zugleich als Anklagezeugnis gegen den Unglauben der Juden fungiert.100 Vor dem Hintergrund der als Anklageund Gerichtsrede konzipierten Hirtenrede (9,40–10,21) wird dieser Akzent nicht nur bestätigt, sondern darin fortgeführt, dass den Juden mit der Vorhaltung Jesu οὐκ ἐστὲ ἐκ τῶν προβάτων τῶν ἐμῶν (10,26) das ewige Leben verweigert wird (10,28) und damit Jesus in der Rolle des eschatologischen Richters erscheint, der über das ewige Schicksal befindet.101 Dass diese eschatologische Richterolle in ihrer denkbar weitreichendsten Bedeutung gefasst wird, macht das in 10,34 folgende Zitat von Ps 82,6 aus dem alttestamentlichen Kontext des übernatürlichen, himmlischen Rechtsstreites in der Götterversammlung deutlich. Das Zitat steht im Zentrum des chiastischen Aufbaus von Joh 10,31–39 und wird damit als zentrales Argument gekennzeichnet: A Urteil der Juden (10,31) B Die Werke Jesu (10,32) C Vorwurf der Lästerung (10,33) D Zitat aus Ps 82,6 (10,34–35) C' Vorwurf der Lästerung widerlegt (10,36) B' Die Werke Jesu (10,37–38) A' Urteil der Juden (10,39)

Das Zitat fungiert zunächst als qal wahomer-Argument und zeigt, dass Jesus als der ὃν ὁ πατὴρ ἡγίασεν καὶ ἀπέστειλεν εἰς τὸν κόσμον (10,36) mit weit größerem Recht als υἱὸς τοῦ θεοῦ bezeichnet werden kann (10,36) als die in Ps 82,6 als θεοί (V. 34; Ps 82[81],6a LXX) und υἱοὶ ὑψίστου (Ps 82[81],6b

99 Die mit dem doppelten οὐ πιστεύετε in V. 25.26 formulierte Anklage rahmt den Abschnitt in Joh 10,24–39, insoweit in V. 37–38 ein dazu korrespondierendes Doppelglied mit μὴ πιστεύετε (V. 37) und μὴ πιστεύητε (V. 38) folgt (vgl. dazu auch DU RAND [1991], 107). 100 Nach NEYREY (1989), 650 wird damit das Gericht auf die menschlichen Richter umgekehrt: „Jesus’ defense of his claim […] is itself a judgment on his judges […].“ Siehe zum Bezug zu Joh 5,36 auch SABBE (1991), 80.. 101 Vgl. NEYREY (1989), 651.

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

291

LXX) Angesprochenen.102 Dass im Kontext von Ps 82,6 die Angesprochenen jedoch als ungerechte Richter (κρίνετε ἀδικίαν, Ps 82[81],2 LXX) sowie als Unverständige und in Finsternis Wandelnde (οὐκ ἔγνωσαν οὐδὲ συνῆκαν ἐν σκότει διαπορεύονται, Ps 82[81],5 LXX) beschrieben werden, die sterben und wie Oberste fallen werden (ἀποθνῄσκετε καὶ ὡς εἷς τῶν ἀρχόντων πίπτετε, Ps 82[81],7 LXX), lässt eine deutliche Parallele zur Auseinandersetzung Jesu mit den unverständigen, blinden und in Finsternis wandelnden Juden als 102 Während unumstritten ist, dass im atl. Kontext von Ps 82 als Angesprochene die ‫ֱא הִ ים‬ der Götterversammlung (Ps 82,1) als Richter der Nationen im Blick sind (GOLDINGAY [1989], 167; HEISER [2011], 2f.; vgl. dazu oben Kapitel II,2.2.3), ist unklar, worauf sich θεοί im johanneischen Kontext bezieht. Neben vereinzelten Vorschlägen, die Bezeichnung nah am atl. Kontext auf himmlische Wesen (HEISER [2011], 10–12) oder Engel (EMERTON [1960], 332) zu beziehen, sieht die Mehrheit der Forscher im johanneischen Kontext einen Bezug auf Israeliten in Form von Richtern Israels (MORRIS [1995], 468; SCHNELLE [2016], 238) oder den Israeliten am Sinai bei der Gesetzgebung (NEYREY [1989], 662; THYEN [2005], 503; SCHNACKENBURG [1985], 390; WENGST [2000], 408; ZUMSTEIN [2016], 406; THOMPSON [2015], 235); vgl. für eine Diskussion der Möglichkeiten BEASLEY-MURRAY (1999), 175f.; HEISER (2011), 3–10; NEYREY (1989), 647–649; ZIMMERMANN (2004), 349– 351; KÖSTENBERGER (2007), 464–467. Da die Argumentation durch das Schriftzitat auf einen Schluss a minore ad maius abzielt, mit dem Jesus den Gebrauch der Selbstbezeichnung υἱὸς τοῦ θεοῦ (Joh 10,36) legitimiert, ist die genaue Referenz der Bezeichnung θεοί zunächst nicht von vorderster Relevanz (so auch LINCOLN [2005], 308; MICHAELS [2010], 603f.; vgl. auch ZIMMERMANN [2004], 350f.). Das damit formulierte qal wahomer-Argument zielt weniger auf einen Erweis der Gottessohnschaft als auf einen Nachweis, dass Jesus keine Lästerung in Form eines Di-Theismus äußert und damit die Anklage seiner Gegner unzureichend begründet ist (CARSON [1992], 399; RIDDERBOS [1997], 375; KÖSTENBERGER [2007], 467). Damit ist jedoch die Verwendung des Zitates noch nicht vollständig erfasst, wie das Unbehagen jener Forscher zeigt, hinter den θεοί einen Bezug auf Israeliten zu sehen. Ein Bezug auf menschliche Richter oder Israeliten am Sinai läuft nicht nur Gefahr, die einzigartige Gottessohnschaft Jesu durch den Bezug von θεοί auf etwas, „was ganz Israel sein sollte“ (THYEN [2005], 504), zu reduzieren und damit inhaltlich zu entleeren (so zu Recht auch BUSSE [1991], 15), sondern erweckt zugleich den Anschein einer oberflächlichen Schlichtung der Streitigkeit. Dass Jesus somit in Ps 82 menschliche Richter voraussetzt und damit in einem qal wahomer-Argument auf seine eigene Gottessohnschaft schließt, erweist sich daher im Kontext des Johannesevangeliums schlechterdings als antiklimaktisch und schwer vorstellbar (so richtig NEYREY [1989], 654; RIDDERBOS [1997], 374). Vielmehr haben die Juden durchaus richtig verstanden, dass der Anspruch Jesu für jeden anderen Menschen tatsächlich eine Blasphemie darstellen würde (Joh 10,33). Die Verwendung des Zitates weist folglich auf den bereits im Kontext von Ps 82 angelegten Rechtsstreit zwischen Gott und den Göttern hin (so auch ZIMMERMANN [2004], 351; HEISER [2011], 10–14) und stellt Jesus als höchsten Richter dar, der nicht nur über allen irdischen Richtern, sondern auch über allen Autoritäten der übernatürlichen Welt steht. Das qal wahomer-Argument zeigt damit, dass Jesus als einzigartiger Sohn aufgrund seiner Einheit mit dem Vater wie dieser über alle mit θεοί und υἱοὶ ὑψίστου (Ps 82[81],6 LXX) bezeichneten Richtern der übernatürlichen Welt richtet und damit a fortiori auch über die menschlichen Richter, als die sich die vor ihm stehenden Juden wähnen, urteilen kann (ähnlich auch LINCOLN (2005), 308; KLINK (2016b), 481). Siehe zur Deutung des Zitats im johanneischen Kontext die Ausführungen unten.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Oberste im Kontext von Joh 9,1–10,39 erkennen.103 Dass sich dabei Jesus nicht etwa den Söhnen Gottes aus Ps 82,6 gleichstellt, sondern sich vielmehr als eins mit dem Vater (10,30) und folglich als obersten Richter der Welt (vgl. ὁ θεός κρῖνον τὴν γῆν in Ps 82[81],8 LXX) sieht, der die als Blinde (9,40–41), in Finsternis Umhergehende (9,4; vgl. 8,12; 12,46) und Unverständige (vgl. das doppelte γινώσκω in 10,38) charakterisierten ἄρχοντες (7,26.48; 12,42) selbst zur Rechenschaft zieht,104 lässt in Joh 10,22–39 ein zu Ps 82 parallel angelegtes metaphorisches Prozess-Setting sichtbar werden.105 Jesus tritt in der Rolle Gottes im Rechtsstreit auf, der nicht nur jeden irdischen Richter richtet,106 sondern sogar im übernatürlichen, himmlischen Rechtsstreit als oberster Richter fungiert.107 In der Folge wird der Versuch der Steinigung selbst zu einem Vergehen der Juden gegen Gott und kehrt das vermeintliche Urteil für Blasphemie um: Indem Jesus aufgrund seiner Einheit mit dem Vater (10,31) zugleich πάντων μείζων ἐστιν (10,29)108 und damit auch seinen Gesprächspartnern un103

Vgl. dazu auch ausführlich KLINK (2016b), 481; sieher ferner ZIMMERMANN (2004),

350. 104

Damit hat auch das in Ps 82[81],7 LXX genannte Urteil ὡς ἄνθρωποι ἀποθνῄσκετε eine deutliche Assonanz im Kontext von Joh 10 und fungiert damit (inhaltlich auf einer Ebene mit Joh 8,21) als Urteil über die im Unglauben verharrenden Juden (THYEN [1991], 133f.). 105 Nach ZIMMERMANN (2004), 351 sind es eben jene kontextuellen Parallelen, die „dem Zitat noch eine besonders pikante Note verleihen“. 106 So auch ZIMMERMANN (2004), 351, der bemerkt, dass Jesus „nach der Einleitung Joh 9,39 als ‚Richter‘ auftritt“. Ebenso KLINK (2016b), 481: „Jesus’s use of Psalm 82 finds remarkable agreement with this entire section of the Gospel (8:12–10:42), which has employed forensic themes and judicial procedures […]. The irony is stark. Jesus is not only the intended replacement of these judges but also a perfect fulfillment of their office.“ Unverständlich ist angesichts der engen kontextuellen Parallelen und der in der Forschung häufig genannten Einordnung sowohl von Joh 10,22–39 als auch von Ps 82 in den Kontext des Rechtsstreites die Äußerung von SCHNACKENBURG (1985), 390: „Es liegt keine Drohung gegen die Juden als anmaßliche Richter (vgl. 7,24) und kein Anspruch Jesu auf das eschatologische Richteramt (vgl. 5,22.30) vor.“ 107 Dass damit der Kontext des übernatürlichen Rechtsstreites von Ps 82 durchaus im Blick steht, wird nicht nur durch die auffälligen kontextuellen Parallelen wahrscheinlich gemacht, sondern nach EMERTON (1960), 329–332 in der neueren Forschung vermehrt erkannt; vgl. etwa HEISER (2011), 10–14; ZIMMERMANN (2004), 351; LINCOLN (2005), 309f.; KEENER (2010a), 829; KLINK (2016b), 481. 108 Der Ausdruck ist mit textkritischen Schwierigkeiten belegt; siehe zur Diskussion BARRETT (1978), 381f. Weitgehende Übereinstimmung besteht aber darin, dass die zugrunde liegende syntaktische Konstruktion ὁ πατήρ μου … πάντων μείζων (bzw. μείζων πάντων) ἐστιν lautet und damit der Vater als ‚größer als alle‘ bezeichnet wird (SCHNACKENBURG [1985], 386f.; BEASLEY-MURRAY [1999], 164; LINCOLN [2005], 302; THOMPSON [2015], 233; BROWN [1966], 403; THEOBALD [2009], 693f.; ZUMSTEIN [2016], 397; SCHNELLE [2016], 236). Im vorliegenden Kontext ist bezeichnend, dass Jesus im Anschluss an die Hervorhebung dieser Vorrangstellung des Vaters mit ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν (V. 30) in unverhohlener Weise dieselbe Vorrangstellung beansprucht (so auch NEYREY [1989], 651).

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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endlich überlegen ist, wird der folgende Steinigungsversuch wegen Blasphemie selbst zur größtmöglichen Blasphemie. Im Kontext des Tempelweihfestes (τὰ ἐγκαίνια, 10,22) gewinnt die versuchte Steinigung zudem eine höchst ironische Note darin, dass die Juden bei der Erinnerung an die Zerstörung und Entweihung des Tempels den wahren Tempel Gottes zu zerstören suchen.109 In dem so kreierten Prozess-Setting wendet sich damit nicht nur der Vorwurf der Blasphemie auf die Juden selbst zurück, sondern wird durch den Vorwurf der Tempelschändung ergänzt und formt damit eine inclusio zu Joh 2,13–22.110 Im Kontext der strukturellen Gestaltung als Geständnis am Ende eines Gerichtsprozesses mit anschließendem Schuldspruch wird die versuchte Steinigung damit zum nonverbalen Geständnis der Schuldigen. Reflexion der Prozess-Narration Der Prozess zwischen Gott und der Welt hat in der Dramaturgie des Evangeliums seine letzte Phase erreicht. Die Darstellung in Joh 10,22–39 knüpft an der Kritik der Juden als blinde und falsche Hirten in der Hirtenrede (Joh 9,40– 10,18) an und führt das Gericht über die menschliche Gerichtsbarkeit im metaphorischen Makro-Prozess der Erzählung weiter.111 Dabei wird die menschliche Gerichtsbarkeit selbst disqualifiziert und einer absoluten eschatologischen Richterrolle Jesu gegenübergestellt, die sowohl die kosmische als auch übernatürliche Dimension umfasst. In der metaphorischen Makro-Prozessdarstellung des Evangeliums wird damit zugleich die bildliche Vorstellung des letzten Prozessabschnittes evoziert, in dem der Angeklagte bereits mit allen Anklagen konfrontiert wurde und zum Geständnis aufgefordert wird. Dieser Kulmination entspricht die starke inhaltliche Verflechtung von Joh 10,22–39 Dabei hat πάντων als polemische Spitze insbesondere die Gesprächspartner Jesu im Blick und impliziert damit nicht nur eine direkte Rangordnung zwischen Jesus und seinen Gesprächspartnern, sondern stellt zugleich die Anklage der Juden als Anmaßung und Versuch dar, mit der Größe Gottes konkurrieren zu wollen. Der Vorwurf der Blasphemie kehrt sich damit auf subtile Weise auf die Ankläger zurück. 109 So auch KÖSTENBERGER (2004), 313: „In light of the relationship between the Feast of Dedication and the consecration of the temple and John’s portrayal of Jesus as the temple’s replacement (2:19–21), the Jews’ attempt to stone Jesus for blasphemy is presented by the evangelist as an effort on the Jews’ part to blaspheme the ‚holy sanctuary of God‘, Jesus – and that at the feast commemorating the rededication of the temple […]!“ 110 Siehe dazu auch Kapitel III,2.5. 111 So auch KLINK (2016b), 481, der urteilt: „[T]his entire section of the Gospel (8:12– 10:42), which has employed forensic themes and judicial procedures to depict Jesus’s rebuke of the Jewish authorities for their failed leadership and to present Jesus as the true authority and leader of Israel. The previous pericope presented Jesus as the true Shepherd (10:1–21) in contrast to the failed shepherding of the Jewish authorities (ch. 9). This pericope presents Jesus as the true Judge of Israel and the only one who is deserving of the office (and title) of ‚god‘, in contrast to the failed contemporary rulers of the Jewish people.“

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

mit allen vorangegangenen Rechtsstreitszenen des Evangeliums, durch die Joh 10,22–39 als Resümee der Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Juden erscheint und in Form einer mehrfachen inclusio der Abschluss des Prozesses signalisiert wird:112 Tempelschändung (Joh 2,13–22) Blasphemie (Joh 5,18–47) Frage nach dem Christus (Joh 7,14–52) Versuch der Steinigung (Joh 8,12–59) Kritik der Richter Israels (Joh 9,1–41) Hirtendiskurs (Joh 10,1–21) Prozessende (Joh 10,22–39)

Dass sich die Darstellung nun ausschließlich um die Identität Jesu zentriert und nun erstmals alle weiteren Vorwürfe im Hintergrund lässt, ist in der Gesamtkomposition des Prozess-Settings des Evangeliums wie auch vor dem Hintergrund der Schreibabsicht (Joh 20,31) nur folgerichtig. Durch die Frage, ob Jesus der χριστός (V. 24) und υἱὸς τοῦ θεοῦ (V. 36) ist, wird die enge Verflechtung der Prozessdarstellung mit der Absicht des Evangeliums (ἵνα πιστεύσητε ὅτι Ἰησοῦς ἐστιν ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ, 20,31) offensichtlich. Die Prozessmotivik und -metaphorik wird damit zum Vehikel des Evangelisten, um seine Leser zur Überzeugung zu führen, dass Jesus der Christus ist. Dieser Akzent wird auch durch die Anfügung von Joh 10,40–42 als konkludierendes Erzählelement verstärkt.113 Wie in Joh 2,11.23; 7,31; 8,30 ist in der Notiz πολλοὶ ἐπίστευσαν εἰς αὐτὸν (V. 42) ein zum Urteil der Pharisäer konträres Urteil solcher angelegt, die als Prozesszuschauer anwesend sind.114 Indem damit eine Deutungsalternative zur Beurteilung der Juden erkennbar wird, setzt sich die rhetorisch-persuasive Funktion der Prozessmotivik fort, bei der die Lesenden selbst zur Beurteilung aufgefordert werden. Beide Gruppen – die der Juden wie auch der anonymen πολλοί – werden damit zu Paradigmen konträrer Sichtweisen. Beide beurteilen Jesus, doch die einen stellen sich über ihn 112 Etliche der in der mehrfachen inclusio aufgezeigten Verbindungslinien werden in der Forschung genannt; vgl. dazu inter alia TURNER (1991), 67; SABBE (1991), 77–93. Daneben existieren weitere Verweise durch die inclusio in Joh 10,40–42 mit Joh 3,22 und dem Dienst des Johannes in Joh 1,19–34 (vgl. CULPEPPER [1998], 183). Auch der Hinweis auf eine gespaltene Meinung über Jesus in Joh 10,19 (σχίσμα πάλιν ἐγένετο) ist als intratextueller Verweis auf die Meinungsbildung der Volksmenge als dominantes Thema von Joh 7,14–52 zu werten (vgl. σχίσμα οὖν ἐγένετο in 7,43); siehe auch MALINA/ROHRBAUGH (1998), 183. 113 Durch den Verweis auf das Zeugnis des Johannes und den Ort πέραν τοῦ Ἰορδάνου (10,40) schließt sich in Form einer inclusio zugleich der Kreis um die Erzählung in Joh 1,19– 10,42, die bereits mit diesem Zeugnis begann (1,28); vgl. dazu Kapitel III,2.5 und ZIMMERMANN (2016), 111.115. 114 Vgl. dazu auch ZIMMERMANN (2013a), 451f. Dieses Urteil bestätigt ausdrücklich die Wahrheit des Zeugnisses von Johannes (10,41) und wird damit im Makro-Prozess als Urteil auf eine Zeugenaussage hin eingeordnet.

5. Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39)

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und verurteilen ihn, die anderen unterstellen sich ihm und lassen sich von ihm beurteilen. Die Prozessdarstellung arbeitet zielstrebig auf die Verkündung eines Urteils hin und deutet bereits an, dass dieses zwangsläufig als konträres Urteil aus unterschiedlichen Perspektiven formuliert werden muss.

5.4. Ertrag In Joh 9–10 wird der Makro-Prozess des Evangeliums nach der in Joh 7–8 dargestellten Ausweitung in der Rechtssache zum Abschluss geführt. Dabei spitzt sich die Darstellung einerseits und unausweichlich in der Verhandlung in absentia in Joh 9,1–39, der folgenden Hirtenrede (Joh 9,40–10,18) und dem Diskurs um den Anspruch Jesu (Joh 10,22–38) schließlich ganz auf die Identität Jesu zu. Durch die Konzentration auf den Vorwurf des Sabbatbruchs (Joh 9) und der Blasphemie (Joh 10) werden bereits vorher verhandelte Rechtsinhalte aufgenommen, sodass die forensischen Szenen innerhalb der Makrodarstellung des Prozesses den Charakter einer letzten Konfrontation des Angeklagten gewinnen und als Abschlussplädoyers der Prozessparteien erscheinen. In der metaphorischen Makro-Prozessdarstellung des Evangeliums wird damit die bildliche Vorstellung des letzten Prozessabschnittes evoziert, in dem der Angeklagte bereits mit allen Anklagen konfrontiert wurde und zum Geständnis aufgefordert wird. Dass sich die Darstellung nun ausschließlich um Jesus als ὁ χριστός (10,24) und υἱὸς τοῦ θεοῦ (10,36) zentriert, ist fest in der Gesamtkomposition des Prozess-Settings im Johannesevangelium begründet. Deutlicher als zuvor erweist sich die Prozessmotivik und -metaphorik als Vehikel des Evangelisten, um seine Leser zur Überzeugung zu führen, dass Jesus der Christus ist, und korrespondiert damit direkt mit der Schreibabsicht des Evangeliums (Joh 20,31). Während die Beweisaufnahme der Juden in Joh 9,13–34 zugleich Beweisaufnahme gegen sie selbst wird, erscheint die Hirtenrede in Joh 9,39–10,18 als darauffolgende Gerichtsrede Jesu. Mit Joh 10,22–39 folgt die letzte Konfrontation des/der Angeklagten mit den Schuldvorwürfen vor der Urteilsverkündung. Während in Fortsetzung der ambivalenten Darstellung der so evozierte Ablauf einer Gerichtsverhandlung sowohl aus der Perspektive der Juden als Ankläger wie auch aus der Sichtweise ‚von oben‘ als Anklage durch Jesu gelesen werden kann, wird doch die Asymmetrie beider Ebenen zunehmend offenbar. So zeigt sich ein neuer Akzent darin, dass in Joh 9 die Jurisdiktion der Juden vorgeführt und damit selbst Gegenstand der Jurisdiktion in der Prozessdarstellung des Evangeliums wird. Nachdem bereits in Joh 7–8 die dualistischen und in konkurrierenden Rollenkonstruktionen aufgewiesenen Paradigmen des Rechtsstreites in einem Meta-Rechtsstreit selbst zum Gegenstand des Urteils durch den Lesenden werden, wird vor den Augen des Lesenden das Paradigma von ‚unten‘ als Wahrnehmungshorizont der Welt in Form der dazu

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

korrespondierenden menschlichen Gerichtsbarkeit selbst zum Gegenstand des Gerichts. Dass in Joh 9,1–39 das jüdische Verhör selbst verhört, die Beweissammlung gegen Jesus selbst zur Beweissammlung gegen sie und ihre Jurisdiktion der Jurisdiktion unterworfen wird, kommt einem Gericht über die menschliche Gerichtsbarkeit gleich und wird so zu einer weit über die Einzelvorwürfe der erzählten Welt hinausgehenden Aburteilung einer durch das Paradigma von ‚unten‘ induzierten Rollenkonstruktion des Rechtsstreites an sich.

6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50) Durch den groß angelegten Erzählkomplex von Joh 7,1–10,21 wurde die Prozessdarstellung des Johannesevangeliums in Bezug auf die verhandelten Anklagen und Abläufe des Prozesses detailliert und hinsichtlich der forensischen Rollen extendiert. Indem im nahtlosen Anschluss in Joh 10,22–39 die Schlussphase des Prozesses durch das Geständnis des/der Angeklagten evoziert wird, läuft die Prozessdarstellung dramaturgisch zielstrebig auf einen Schlusspunkt zu. Nach dem Höhepunkt der Darstellung in Joh 10,22–39, die durch die christologische Zuspitzung auf Jesus als ὁ χριστός (10,24) und υἱὸς τοῦ θεοῦ (10,36) sowohl ein positives Bekenntnis Jesu als auch ein durch den Steinigungsversuch der Juden (10,31) ausgedrücktes nonverbales Geständnis enthält, steht in der Prozessdarstellung nur noch die Urteilsfindung und -verkündung aus. Folgerichtig wird mit Joh 10,40–42 die narrative Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu mit dem Verweis auf das Zeugnis des Johannes förmlich geschlossen.1 Der Rückzug Jesu aus der Öffentlichkeit (Joh 10,40–42) signalisiert damit das Ende der direkten Begegnung zwischen Jesus und den Juden und prägt auch die in Joh 11,1–46 angeschlossene Erzählung von der Auferweckung des Lazarus. In Joh 11,47–54 folgt, veranlasst durch die Auferweckung des Lazarus, eine in der erzählten Welt eindeutig als Gerichtsszene ausgewiesene Urteilsfindung des Synedriums mit Todesbeschluss.2 Die doppelte Ebene der Darstellung des Prozessgeschehens in Joh 1–12 weist bereits darauf hin, dass die noch ausstehende Urteilsverkündung ebenfalls auf einer doppelten Ebene angelegt sein muss, die sowohl das Urteil der Juden in der erzählten Welt wie auch als Urteil Jesu in der metaphorischen Prozesswelt des Evangeliums enthält. Dementsprechend schließt sich der Urteilsbildung der Juden in Joh 12,37–43 ein resümierender Erzählerkommentar an, der zusammen mit der folgenden Rede Jesu in Joh 12,44–50 als Urteil aus der Perspektive des Erzählers erscheint und damit den ersten Teil der Erzählung (Joh 1–12) durch den Verweis auf die Lichtmetaphorik (12,46) in Form einer inclusio abschließt.3

1

Siehe dazu auch ZUMSTEIN (2016), 408f. sowie die Darstellung in Kapitel III,2.5. Vgl. THOMPSON (2015), 253; siehe zum genauen Charakter der Sitzung unten Abschnitt 6.1. 3 Siehe zu dieser strukturellen Anlage oben Kapitel III,2.5. 2

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

6.1. Das Urteil der Juden (Joh 11,47–53) Narrative Einbettung In Joh 11,47–53 wird eine Gerichtssitzung des συνέδριον (11,47) erzählt, die eng an den Kontext der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–46) angebunden ist.4 In der Folge des Zugriffsversuches und der Kulmination der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 10,39 wird die Erzählepisode der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–46) als Rückzug Jesu aus der Öffentlichkeit dargestellt. 5 Dass die Auferweckung jedoch keineswegs deeskalierend wirkt, sondern zum Anlass einer formellen Ratssitzung des Synedriums wird, macht der Übergang in Joh 11,46–47 deutlich.6 Die Sitzung ist damit Reaktion auf das Zeichen Jesu (11,47) und reiht sich innerhalb der Makrostruktur des Evangeliums in die ebenfalls als Reaktionen auf die Zeichen Jesu in Joh 5 und Joh 9 ausgetragenen juristischen Auseinandersetzungen ein:7 Heilung des Gelähmten (Joh 5) Heilung des Blindgeborenen (Joh 9) Auferweckung des Lazarus (Joh 11)

Informelle Strafverfolgung Formelles Verhör des Geheilten über Jesus Formelle Ratssitzung über Jesus in absentia

In dieser Reihe wird die Sitzung des Synedriums zum Abschluss einer zunehmenden juristischen Intensivierung des Vorgehens gegen Jesus. So wird in Intensivierung des Vorgehens von Joh 5 und Joh 9 nun kein Verhör der Person, an der das Zeichen geschah, vorgenommen, sondern (wie schon in Joh 9) direkt über Jesus in absentia verhandelt.8 Mit Joh 11,47–53 wird eine formelle Gerichtssitzung beschrieben,9 die in der Reihe der jüdischen Strafverfolgung als folgerichtiges Urteil des Synedriums erscheint. Konstruktion eines Prozess-Settings Während der Erzähler bereits in Joh 7,45–52 Einblicke in die Auseinandersetzungen der jüdischen Gerichtsbarkeit liefert10 und in Joh 9,18–34 drei formelle 4

Trotz der engen Verbindung sieht THYEN (2005), 541 eine „‚Teilszene‘ eigenen Rechtes“; ähnlich THEOBALD (2009), 748f. 5 Ebenso KLINK (2016b), 486. 6 So sieht BEUTLER (2013), 338 die Sitzung aufgrund der in Joh 11,46 genannten Anzeige der Pharisäer als direkte Folge der Auferweckung des Lazarus; ebenso SCHNELLE (2016), 253; LINCOLN (2005), 331. 7 Vgl. auch KÖSTENBERGER (2004), 349, der die σημεῖα als Anlass der Ratssitzung (11,47) auf die drei Zeichen in Joh 5, Joh 9 und Joh 11 bezieht. Der Zusammenhang der drei Zeichen ergibt sich darin, dass für die jüdischen Behörden nur solche Zeichen relevant sind, die in Judäa und im Umkreis von Jerusalem geschahen (vgl. RIDDERBOS [1997], 408). 8 So auch SCHNACKENBURG (1985), 447. 9 Vgl. dazu die Diskussion in Anm. 11. 10 Nach WENGST (2001), 45 war „[s]chon in der Schilderung von 7,45–52 […] offenbar eine Sitzung des Synhedriums vorausgesetzt“.

6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50)

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Verhörszenen folgen lässt, findet sich doch die erste und einzige Verwendung des Lexems συνέδριον im Evangelium erst in Joh 11,47.11 Mit der Bezeichnung οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι (11,47) wird als Bezeichnung der jüdischen Autoritäten an die in Joh 7,32.45 bereits im Kontext der Strafverfolgung genannte jüdische Behörde angeknüpft.12 Als Anlass der Ratssitzung wird πολλὰ ποιεῖ σημεῖα (11,47) angeführt, wodurch im direkten Kontext zunächst auf die Auferweckung des Lazarus verwiesen wird,13 durch die Verwendung des Plurals aber zugleich eine Gerichtssitzung als Verhandlung aller bisher erzählter Zeichen im Blick steht.14 Die Verhandlung ist damit als umfassendes Urteil über das gesamte öffentliche Wirken Jesu ausgewiesen. Indirekt wird hinter der politisch motivierten Argumentation des Synedriums jedoch zugleich eine Jesus vom Volk zugesprochene Königstitulatur sichtbar, die zu einer Konfrontation mit den Römern führt (καὶ ἐλεύσονται οἱ Ῥωμαῖοι καὶ ἀροῦσιν ἡμῶν καὶ τὸν τόπον καὶ τὸ ἔθνος, V. 48).15 Dass nun zum ersten und einzigen Mal auch der Hohepriester selbst in einer Gerichtsverhandlung auftritt (11,49–50),16 erweist die zentrale Stellung der Verhandlung und ihre repräsentative Funktion für das finale Urteil der Juden in der Prozessdarstellung des Evangeliums.17 11 Dabei ist umstritten, ob mit συνέδριον als technischem Begriff einer Sitzung des Synedriums (MORRIS [1995], 501; THYEN [2005], 541) an eine informelle Sitzung des ganzen Gremiums (KÖSTENBERGER [2004], 349) oder an ein informelles Zusammenkommen führender Juden ohne technische Bedeutung von συνέδριον gedacht ist (THEOBALD [2009], 752). In jedem Fall darf nicht übersehen werden, dass der Erzähler das Semantem συνέδριον absichtsvoll und nur in Joh 11,47 verwendet und damit die Sitzung von früheren Zusammenkommen in Joh 7,32.45; 9,18–34 abhebt (vgl. auch RIDDERBOS [1997], 407). Ferner ist die Verwendung durch einen dezidiert forensischen Kontext als Sitzung eines Gerichtsgremiums vorausgesetzt (so auch THOMPSON [2015], 253). 12 Ebenso SCHNACKENBURG (1985), 447; THEOBALD (2009), 752; vgl. insbesondere die Untersuchung von BENNEMA (2013a), 383–387. 13 Vgl. THYEN (2005), 541. 14 So auch KEENER (2010a), 852: „[I]t suggests a rejection of his whole public ministry […].“ 15 So THEOBALD (2009), 752. Der Bezug auf eine implizit im Hintergrund stehende Königstitulatur würde den Fortgang der Erzählung in Joh 12,12–19 mit der Ausrufung Jesu als βασιλεὺς τοῦ Ἰσραήλ (12,13) durch die Volksmenge erklären (vgl. auch BEKKEN [2014], 239). 16 Der Name des Καϊάφας wird anschließend nur noch in Joh 18,14 in einer internen Analepse auf Joh 11,49–50 sowie im Zusammenhang einer nicht weiter ausgeführten Station in der Überstellung Jesu an Pilatus in Joh 18,13.24.28 verwendet. Der Hohepreister bleibt in den weiteren Erwähnungen in Joh 18 jedoch so blass, dass damit die Kapitel III,1.2.1 behandelte narrative Fehlstelle kreiert wird, die durch das einzige Auftreten (und die einzigen Worte) in Joh 11,49–52 gefüllt wird. 17 Die Verhandlung bekommt damit mehr Gewicht als die informelle Befragung durch Hannas in Joh 18,19–23 und erscheint so in der erzählten Welt als einzige und offizielle jüdische Gerichtssitzung. In der metaphorischen Prozessdarstellung des Evangeliums erhält sie damit den Stellenwert des Urteils und nennt damit bereits in Joh 11 den formellen

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Die Erzählung schildert eine Gerichtsszene, in der Jesus als Angeklagter in absentia für schuldig befunden und verurteilt wird. 18 Durch den offiziellen Charakter der Versammlung wird in der erzählten Welt die bereits in den vorangegangenen bilateralen Auseinandersetzungen genannte Tötungsabsicht aus Joh 5,18; 7,32.45; 8,59; 10,31.39 nun unter ein formell anmutendes Todesurteil eines Richterkollegiums gestellt (ἀπ᾽ ἐκείνης οὖν τῆς ἡμέρας ἐβουλεύσαντο ἵνα ἀποκτείνωσιν αὐτόν, V. 53).19 Prozessmodulation Durch den szenischen Übergang von den gläubigen Reaktionen auf die Auferweckung des Lazarus in Joh 11,45 (πολλοὶ … ἐπίστευσαν εἰς αὐτόν) zur Synedriumsversammlung der ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι in Joh 11,47 wird ein Kontrast kreiert,20 durch den die Verhandlung von Beginn an unter dem Vorzeichen einer offenen Feindschaft sowie eines bereits ohne Beratung feststehenden (Vor-)Urteils steht und damit die Anforderung an unparteiische Richter unterläuft.21 Dieser Eindruck wird auch dadurch vom Erzähler evoziert, dass das explizit formulierte Ziel der Verhandlung nicht in der Ahndung eines Vergehens, sondern in der Sicherung eigener politischer Macht und der Vermeidung eines Entzugs der Teilsouveränität unter römischer Herrschaft22 besteht (V. 47–48).23 Insoweit von einem Vergehen Jesu gar nicht die Rede ist,24 wird in Fortsetzung von Joh 8,46 die Unfähigkeit, Jesus gerichtlich zu überführen, Todesbeschluss, der in Joh 18,19–23 in so auffälliger Weise fehlt. Die narrative Untersuchung bestätigt somit die zu Joh 18,19–23 (Kapitel III,1.2.2) genannte Vermutung, dass die Lesererwartung eines jüdischen Prozesses mitsamt einem formellen Urteil bereits in Joh 1– 12 erfüllt wird. 18 LINCOLN (2005), 331: „In the absence of Jesus, the defendant, and without any formal legal procedures, the religious authorities have already reached their verdict on his fate.“ Ähnlich auch TRITES (1977), 98. 19 Vgl. LINCOLN (2005), 331: „Caiphas’ plan is accepted by the Sanhedrin and from this point on Jesus lives under the sentence of death. In one sense this only confirms the intentions of Jesus’ opponents that have been in view […]. But now their previous informal attempts to have done with Jesus are given official sanction.“ 20 So auch MORRIS (1995), 501. 21 Aufschlussreich ist hier die bei GIOVANNINI/GRZYBEK (2008), 82 zur jüdischen Prozessordnung genannten Anforderung an Gerichtsverhandlungen: „[I]n einem ordentlich geführten Prozess müssen die Richter beraten, bevor sie ihr Urteil aussprechen.“ 22 Siehe zu der in der erzählten Welt vorausgesetzten politischen Funktion des Synedriums Kapitel II,1.3.2. 23 So auch BEUTLER (2013), 341. Ähnlich sieht WENGST (2001) ein Handeln „aus Gründen politischer Opportunität“ (aaO., 44) und „mit dem Interesse persönlicher Machtentfaltung“ (aaO., 47). Die Haltung nimmt damit den Ruf οὐκ ἔχομεν βασιλέα εἰ μὴ Καίσαρα aus Joh 19,15 als Absage gegen den wahren Gott vorweg. 24 So auch RIDDERBOS (1997), 408, der nach der Konzentration auf verschiedene Vergehen in Joh 2–10 den Schwenk auf eine rein politische Ebene der Verhandlung bemerkt.

6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50)

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hervorgehoben. Die Darstellung der Verhandlung dient so in ironischer Umkehrung vielmehr als Beweis der Unschuld Jesu. Die Offenlegung der Motive des Synedriums wird dabei als indirektes Mittel der Charakterisierung eingesetzt, durch das der Erzähler die Richter selbst unter das Urteil parteiischen und voreingenommenen Urteils stellt.25 Dass ihnen dabei nicht nur das Ziel der Sendung Jesu völlig verborgen bleibt (V. 51–52), sondern sie in erneut ironischer Umkehrung geradezu zu Gehilfen des göttlichen Planes werden, durch den Jesus τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ τὰ διεσκορπισμένα συναγάγῃ εἰς ἕν (V. 52), stellt selbst das offen feindliche Urteil des Synedriums unter die Souveränität Jesu. Der Erzählerkommentar über die damit unbeabsichtigt ausgesprochene Weissagung des Hohenpriesters (ἀφ᾽ ἑαυτοῦ οὐκ εἶπεν, ἀλλ᾽ ἀρχιερεὺς ὢν … ἐπροφήτευσεν, V. 51) kann als Deutungshinweis gelesen werden, eine ähnlich ironische Wahrheit auch in den eröffnenden Worten des Hohenpriesters ὑμεῖς οὐκ οἴδατε οὐδέν, οὐδὲ λογίζεσθε (V. 49–50) zu erkennen, durch die Unkenntnis und Vernunftlosigkeit des Synedriums gebrandmarkt werden. 26 Der Urteilsspruch des Hohenpriesters wird folglich zur offenen Selbstverurteilung der Richter selbst. Wurde bereits in der Verhandlung Jesu in absentia in Joh 9,1– 39 mit dem Geheilten einer der Anwesenden zum Sprecher Jesu, so erfüllt nun in ironischer Weiterführung der Hohepriester selbst diese Rolle, indem er als ungerechter Richter dennoch die Wahrheit spricht. Reflexion der Prozess-Narration In der Prozessdarstellung des Evangeliums fungiert Joh 11,47–53 als Zielpunkt der vorherigen Strafverfolgung und Anklagen. Im Makro-Prozess des Evangeliums wird damit das bereits in Joh 10,22–39 signalisierte Prozessende mit der Urteilsbildung vonseiten der jüdischen Behörden abgeschlossen. Das Urteil erweist sich als juristisch wert- und haltlos sowie von machtpolitischer Voreingenommenheit instrumentalisiert und erscheint gerade deshalb als Nicht-Urteil. War in der Makrostruktur der Prozessdarstellung nach Joh 10,39 ein Urteil zu erwarten, spricht die Erzählung dem Beschluss der jüdischen Gerichtsbarkeit ein solches durch die Art der narrativen Darstellung subtil ab und führt damit auf das in Joh 12,37–50 folgende Urteil Jesu und des Erzählers als einzig gültigem Urteil hin. In ironischer Umkehrung wird die Tatsache, dass nach der Vielzahl der geäußerten Anklagen in Joh 2–10 kein einziges Vergehen in der 25 BENNEMA (2013a), 385 sieht in der Haltung des Synedriums einen „murderous intent“ und stellt die Richter im Gegensatz zu der ihnen zugedachten Rolle als Verbrecher dar. Vgl. zur Anforderung des gerechten Gerichts als Teil der literarischen Rolle des Richters Kapitel II,1.4.4; siehe für die atl.-jüdische Vorgabe Ex 23,2. Insoweit sich im jüdischen Prozessrecht die Rolle von Richter, Ankläger und Zeuge überschneiden, würde nach den atl. Prozessanordnungen in Dtn 19,15–20 die ungerechte Anklage des Rates selbst unter die Todesstrafe gestellt. 26 So auch THEOBALD (2009), 754.

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Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Beratung des Synedriums aufgenommen wird, zum starken Beweis der Unschuld Jesu. Dieser auffällige Kontrast offenbart narrativ, dass die Verurteilung Jesu mit einer Haltung des Unglaubens koinzidiert und von dieser getrieben wird. Auf diese Weise ist das bereits im Erzählerkommentar von Joh 3,18– 19.36 formulierte Prinzip, nach dem eine Verurteilung Jesu immer zugleich Selbstverurteilung ist,27 nun durch den Hohenpriester als Exemplifikation an der jüdischen Gerichtsbarkeit selbst verdeutlicht. Als Botschaft für den Lesenden wird so die Unmöglichkeit einer tatsächlichen Verurteilung Jesu narrativ ausgedrückt. Deutlicher als in der vorangegangenen Darstellung erweist sich nun die Strafverfolgung der Juden nicht nur als Feindschaft, sondern als Teil des göttlichen Planes in der Sendung Jesu.28 Dass durch die Betonung dieser heilsgeschichtlichen Souveränität Jesu eine Haltung der Verurteilung Jesu nicht legitimiert wird, sondern unter dem Urteil der (Selbst-)Verurteilung steht, wird in zwei weiteren Urteilen deutlich, die sich an das Urteil der Juden anschließen (Joh 12,37–43; 12,44–50).

6.2. Das Urteil Jesu und des Erzählers (Joh 12,37–50) Narrative Einbettung Mit Joh 12,37–43 wird der seit Joh 3,13–21 ausführlichste Erzählerkommentar vor die letzte Rede des öffentlichen Wirkens Jesu (12,44–50) geschaltet und bekommt damit in Joh 1–12 die Funktion eines Epilogs.29 Der Erzählerkommentar bildet damit zusammen mit dem Prolog (1,1–18) eine Rahmung um die erste Hälfte des Evangeliums. Während der Prolog als vorangestellter Deutungshinweis für das gesamte Evangelium fungiert, ist der Epilog von Joh 1– 12 als nachgelagerter und resümierender Interpretationsschlüssel konzipiert. Zahlreiche inhaltliche Verbindungen zum folgenden Monolog Jesu (12,44–50) lassen Erzählerkommentar und Rede Jesu zu einem einheitlichen Epilog werden,30 bei dem sich die Stimme des Erzählers im Resümee über Joh 1–12 mit 27

Siehe dazu oben Abschnitte 2.2–2.3. So auch SCHNELLE (2016), 255: „Obwohl die Juden meinen, durch Jesu Tod vordergründig einen Nutzen zu haben, vollzieht sich in Wahrheit das gesamte Geschehen nach dem Willen Gottes.“ So zeigt der Erzählerkommentar in Joh 11,51–52, dass das, was die Ratsmitglieder zu verhindern suchen (πάντες πιστεύσουσιν εἰς αὐτόν, V. 48), durch ihr Zutun gerade erfüllt wird (τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ τὰ διεσκορπισμένα συναγάγῃ εἰς ἕν, V. 52). 29 So bezeichnet von THYEN (2005), 568; BEASLEY-MURRAY (1999), 215; KÖSTENBERGER (2004), 389; BARRETT (1978), 429. 30 Verbindungslinien zwischen Joh 12,37–43 und 12,44–50 ergeben sich etwa durch die Verwendung von πιστεύω (12,37.38.39.42 und 12,44[2x].46), die Lichtmotivik (12,40 und 12,45–47), das Motiv des göttlichen Gerichts (12,40 und 12,48) und der Verkündigung Jesu (12,38 und 12,47). Meist wird daher Joh 12,37–50 als Einheit behandelt (so etwa bei WENGST [2001], 80; THYEN [2005], 568; LINCOLN [2000], 105; MICHAELS [2010], 706f.; 28

6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50)

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der Stimme Jesu verbindet.31 Die Rede in Joh 12,44–50 ist als zusammenhängender Monolog Jesu gestaltet und durch die Einleitung Ἰησοῦς δὲ ἔκραξεν καὶ εἶπεν (V. 44) auffällig situationslos, insoweit kein zeitlicher, örtlicher oder kontextueller Anschluss genannt wird.32 Nachdem im vorangegangenen Kontext mit ἀπελθὼν ἐκρύβη ἀπ᾽ αὐτῶν (V. 36) das Ende des öffentlichen Wirkens Jesu angedeutet wird,33 bekommt die Rede den Charakter einer finalen Proklamation mit stark forensischem Fokus.34 Konstruktion eines Prozess-Settings Die Rede Jesu setzt inhaltlich an den Worten zur Volksmenge in Joh 12,31.35– 36 an, die mit νῦν κρίσις ἐστὶν τοῦ κόσμου (V. 31a) bereits den Zeitpunkt des Urteils über die Welt ankündigen und auch noch einmal die forensisch konnotierte Lichtmetaphorik (V. 35–36) instrumentieren. Dabei wird mit νῦν ὁ ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου ἐκβληθήσεται ἔξω (V. 31b) ein Urteil ausgedrückt, durch das der kosmische Rechtsstreit zugleich in seiner übernatürlichen Dimension 35 kulminiert. 36 Mit Joh 12,37–50 folgt damit in dem Erzählerkommentar (V. 37–43) sowie in dem anschließenden Monolog Jesu (V. 44–50) das Urteil im kosmischen Rechtsstreit von Joh 1–12. Insofern das Urteil des Prozesses nach Joh 5,25 direkt darauf folgt, dass die Toten die lebengebende THOMPSON [2015], BALD [2009], 820).

274f.; BEASLEY-MURRAY [1999], 215; BARRETT [1978], 429; THEOAm ausführlichsten hat NEYREY (2007) aufgrund der starken inhaltlichen Bezüge der Abschnitte untereinander für Joh 12,37–50 als Einheit plädiert (aaO., 103– 105) und bemerkt zu einer Unterteilung in zwei Teile: „We think such distinctions to be overly subtle, which further consideration of the rhetorical ‚conclusion‘ can better explain how the whole of 12:36–50 is a unified argument“ (aaO., 103). 31 THEOBALD (2009), 820 spricht von einem „zweiteiligen Finale der ersten Buchhälfte“; ähnlich THOMPSON (2015), 273. 32 So auch THYEN (2005), 568; ebenso FREY (2000b), 311. 33 Nach THEOBALD (2009), 761 „kommt […] das öffentliche Wirken Jesu jetzt definitiv zum Abschluss“; ähnlich ZUMSTEIN (2016), 464. 34 Vgl. auch FREY (2000b), 311. MOLONEY (1998), 361 sieht den Rückzug als „final condemnation of the refusal of ‚the Jews‘“. 35 Diese war insbesondere in Joh 8,38–52 sowie in Joh 10,34–36 präsent und wird in Joh 12,34 durch die Aufnahme der Bezeichnung ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου mit Assonanzen an Dan 7,13 aufgenommen. Vgl. zu Dan 7,13 im Kontext des übernatürlichen Rechtsstreites Kapitel II,2.2.3 und zur Funktion des Menschensohntitels in der Prozessdarstellung im Johannesevangelium die Untersuchung zu Joh 5,27 in Abschnitt 3.2. 36 Siehe dazu BORCHERT (2002), 59, der zugleich eine Kulmination präsentischer und eschatologischer Zeithorizonte des Gerichts in der Erhöhung Jesu (ἐὰν ὑψωθῶ ἐκ τῆς γῆς, 12,32) sieht. Der Akt der Verurteilung über den ἄρχων τοῦ κόσμου steht stellvertretend für die Verurteilung der Welt (κρίσις ἐστὶν τοῦ κόσμου, 12,31) und fällt mit dem Kreuz zusammen (LINCOLN [2000], 106; MATHEWSON [2013], 426); vgl. auch FREY (2000b), 189: „Im Kreuzesgeschehen wurde der Satan ‚besiegt‘, während der ‚von der Erde weg‘ erhöhte Christus hingegen in seine himmlische Machtposition inthronisiert wurde.“

304

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Stimme Jesu hören und auferstehen (οἱ νεκροὶ ἀκούσουσιν τῆς φωνῆς τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ καὶ οἱ ἀκούσαντες ζήσουσιν), ist nach der Auferweckung des Lazarus (11,43) folgerichtig der Urteilsspruch Jesu zu erwarten. 37 Insbesondere gewinnt so die auffallend kontextlose Einordnung der Rede Jesu38 den Charakter einer absoluten und ultimativen Urteilsverkündung. Dass die Rede als Monolog gestaltet ist und keine anschließende Reaktion nennt, verleiht ihr die Kennzeichen eines letztgültigen göttlichen Urteils in Anschluss an atl. Gerichtsreden.39 In Joh 12,37–50 wird damit in bewusster Gegenüberstellung zum Urteil des jüdischen Synedriums in Joh 11,47–54 das Urteil des Erzählers (V. 37–43) und das Urteil Jesu (V. 44–50) als Abschluss der Prozessdarstellung in Joh 1– 12 hörbar.40 Darauf weist auch die Häufung einer vierfachen Verwendung von κρίνω in der Rede Jesu (V. 47[2x].48[2]) hin. Zunächst wird im Urteil des Erzählers mit οὐκ ἐπίστευον εἰς αὐτόν (V. 37) ein ernüchterndes Resümee gezogen, durch das die öffentliche Wirksamkeit Jesu das Stigma einer Niederlage zu bekommen scheint. 41 Vordergründig scheint in der Aufnahme der resignierenden Frage aus Jes 53,1 (κύριε, τίς ἐπίστευσεν τῇ ἀκοῇ ἡμῶν; καὶ ὁ βραχίων κυρίου τίνι ἀπεκαλύφθη in V. 38) das jüdische Synedrium zum Ziel gekommen zu sein, den Glauben an Jesus zu verhindern (11,48). Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass mit 12,36 bereits ein Rückzug Jesu aus der Öffentlichkeit erfolgte (ἀπελθὼν ἐκρύβη ἀπ᾽ αὐτῶν) und damit die machtpolitischen Ziele im Urteil des Synedriums (12,48– 50) die Oberhand im Makro-Prozess gewonnen haben. Das Urteil des Prozesses bekommt so den Klang einer Niederlage Jesu im kosmischen Prozess. Prozessmodulation Scheint der Erzählerkommentar aufgrund des Unglaubens (V. 37) ein Versagen Jesu nahezulegen, so wird doch gleichzeitig durch die mit den Worten von Jes 53,1 formulierte Frage nach dem Unglauben (τίς ἐπίστευσεν τῇ ἀκοῇ ἡμῶν; in Joh 12,38 = Jes 53,1 LXX) angedeutet, dass genau jener Unglaube als Reaktion auf den Gottesknecht bereits durch Ἠσαΐου τοῦ προφήτου vorausgesagt 37

Diesen Bezug sieht THYEN (2005), 314; ebenso LINCOLN (2000), 76. THYEN (2005), 568 bezeichnet diese als „ebenso ortslos, wie zeit- und adressatenlos“. 39 Vgl. dazu Kapitel II,2.3. 40 So sieht MICHAELS (2010), 706 in Joh 12,37–50 das „verdict on the world“. Ähnlich BLANK (1964), 310: „In 12,36b–43 wurde das Ergebnis der großen öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Jesus und den ‚Juden‘ festgestellt.“ 41 Nach SCHNELLE (2016), 271 wendet sich nun der Evangelist „dem Phänomen des Unglaubens zu, das ihn zutiefst beunruhigt. […] Dieser Tatbestand ist für Johannes ein großes Rätsel, das nach einer Erklärung sucht.“ Dabei nimmt Schnelle an, dass der Evangelist tatsächlich eine Niederlage empfindet: „Johannes ringt mit dem Phänomen des Unglaubens, der […] die Wirksamkeit der Verkündigung zu relativieren scheint. Eine überzeugende Erklärung für den Unglauben vermag er nicht zu geben“ (aaO., 273). Auch THEOBALD (2009), 821 bemerkt: „Der Evangelist zieht eine negative Bilanz […].“ 38

6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50)

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war (V. 38). Dass damit der Unglaube nicht Niederlage, sondern als Teil des souveränen Handelns Gottes 42 vielmehr Urteil im kosmischen Rechtsstreit über solche ist, die sich Jesus durch Ablehnung verschließen, wird vom Erzähler mit einem weiteren Zitat aus Jes 6,10 begründet (τετύφλωκεν αὐτῶν τοὺς ὀφθαλμοὺς καὶ ἐπώρωσεν αὐτῶν τὴν καρδίαν, V. 40). Das Zitat entstammt dem alttestamentlichen Kontext des Rechtsstreites, in dem Gott sein Volk aufgrund von Ungehorsam mit Verblendung und Verhärtung straft,43 erfährt jedoch seine besondere Zuspitzung darin, dass nun Jesus selbst als Agens der Verblendung vorausgesetzt wird.44 Über das Motiv des Rechtsstreites aus Jes 6 und Jes 40–55 wird damit ein Urteil in Form einer geistlichen Erblindung solcher gesprochen, die sich Jesus gegenüber verschließen.45 Die inhaltlichen Bezüge zu Joh 9,39–4146 erweisen, dass dabei insbesondere solche im Blick stehen, die meinen, als Sehende über Jesus urteilen zu können. 47 Indem dabei maßgeblich die Hohenpriester und Pharisäer im Fokus stehen, tritt das Urteil direkt dem in Joh 11,47–54 genannten Urteil des Synedriums (vgl. ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι in 11,47) gegenüber und stellt zugleich die Richter Jesu selbst unter ein Gerichtsurteil. Im Erzählerkommentar wird damit in engem Anschluss an Joh 9,39 (εἰς κρίμα ἐγὼ εἰς τὸν κόσμον τοῦτον ἦλθον, ἵνα … οἱ

42

So auch ZUMSTEIN (2016), 468. Siehe zu Jes 6,10 im alttestamentlichen Kontext des Rechtsstreites Kapitel II,2.2.1. 44 Durch die vom Erzähler verwendete Formulierung zur Erklärung des Zitats ταῦτα εἶπεν Ἠσαΐας ὅτι εἶδεν τὴν δόξαν αὐτοῦ, καὶ ἐλάλησεν περὶ αὐτοῦ in Joh 12,41 soll vermutlich impliziert werden, dass auch bei den Verben τετύφλωκεν und ἐπώρωσεν im vorangegangenen Zitat (12,40) Jesus als Subjekt vorausgesetzt ist; vgl. THYEN (2005), 571; CARSON (1992), 450; THEOBALD (2009), 829. Vgl. ferner MICHAELS (2010), 710; SCHNACKENBURG (1984), 148, die darin eine Verbindung zu der geistlichen Erblindung durch das Wirken Jesu in Joh 9,39–41 sehen. 45 So auch KÜHSCHELM (1990), 192; vgl. ferner THOMPSON (2015), 275: „[J]udgment falls on those who do not perceive it, on those who do not understand him as the one sent […] to do God’s work of bringing light into darkness, life into death.“ Nach RINGLEBEN (2017), 229 „ist das Nichtglauben […] immer schuldhaftes (eigen-williges) Sich-Verweigern […], so sehr auch ein Verblendetwerden durch Gott mit hineinspielt (12,39 [Jes 6,10]; cf. 3,27) […].“ Vgl. auch LINCOLN (2000), 107: „Unbelieving blindness […] is willful and culpable but also part of God’s overall purposes.“ 46 Ein absichtsvoller Bezug des Erzählers von τετύφλωκεν (12,40) auf τυφλοὶ γένωνται in Joh 9,39 ist wahrscheinlich, da im Zitat aus Jes 6,10 nur das Motiv der Erblindung, aber nicht das der Taubheit übernommen wird (SCHNELLE [2016], 272). Der Erzähler steuert damit bereits auf die Verwendung der Lichtmotivik in der Rede Jesu in Joh 12,46–48 zu, die ebenfalls in Joh 9,39–41 im Hintergrund steht. Auch nach THEOBALD (2009), 828 „[k]nüpft der Evangelist mit dem Motiv der Blendung an 9,39–41 an“; ähnlich auch LINCOLN (2005), 358. Da nach LINDARS (1987), 352 bereits in Joh 9,39 das Zitat von Jes 6,9–10 im Hintergrund steht, erweist sich die Verwendung des Zitates in Joh 12,40–41 als Fortführung der bereits früher formulierten Thematik (aaO., 436.438). 47 So auch NEYREY (2007), 104. 43

306

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

βλέποντες τυφλοὶ γένωνται) Jesus als Richter dargestellt,48 der das Urteil der Verblendung über solche ausführt, die über ihn urteilen.49 Dass folglich mit der Verblendung und Verhärtung weder ein umfassendes Gericht über alle Menschen noch ein Determinismus zum Unglauben im Blick steht,50 zeigt der Hinweis des Erzählers darauf, dass selbst aus den Kreisen der Obersten als stärkster Opposition Jesu im Rechtsstreit einige an ihn glaubten (καὶ ἐκ τῶν ἀρχόντων πολλοὶ ἐπίστευσαν εἰς αὐτόν, V. 42).51 Dem entspricht, dass Jesus im Zitat aus Jes 6,10 gleichzeitig als derjenige vorausgesetzt wird, der auch heilen kann (καὶ ἰάσομαι αὐτούς, V. 40).52 Ist damit im Erzählerkommentar (12,37–43) bereits die Doppelrolle Jesu als Richter und Retter angedeutet, die die gesamte Prozessdarstellung im Evangelium prägt, so wird diese durch die Rede Jesu (12,44–50) am Schluss von Joh 1–12 noch einmal programmatisch herausgestellt.53 Während die Rede Jesu in ihrer Situationslosigkeit als ultimatives Urteil des Rechtsstreites mit der Welt erscheint, treten mit der Einladung zum Glauben (ὁ πιστεύων εἰς ἐμέ, V. 44.45) und der Betonung des prädominant heilschaffenden Kommens Jesu (οὐ γὰρ ἦλθον ἵνα κρίνω τὸν κόσμον, ἀλλ᾽ ἵνα σώσω τὸν κόσμον, V. 47) 48 Die Betonung Jesu, dass sein Wort zum Richter wird (ὁ λόγος ὃν ἐλάλησα ἐκεῖνος κρινεῖ … ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρα, 12,48) soll bezüglich der Richterrolle nicht von Jesus weg-, sondern gerade auf ihn hinweisen. Jesus wird damit selbstverständlich als endzeitlicher Richter impliziert (so auch THYEN [2005], 580). 49 CARSON (1992), 448 spricht daher von „divine, judicial hardening“. 50 Die Umfänglichkeit der Erblindung wird sowohl im Kontext von Jes 6,10 wie auch in Joh 12,38–43 dadurch relativiert, dass sie kollektiv (und nicht individuell) gefasst und als zeitlich beschränkt vorausgesetzt wird (so auch betont von LINCOLN [2005], 358; THEOBALD [2009], 833). Dass dabei in Jes 6 als Zeitpunkt ihres Endes (ἕως πότε, Jes 6,11 LXX) das Eintreten des Gerichts (Jes 6,11–13) genannt wird, findet seine Entsprechung in der in Joh 12,31 vorausgesagten Stunde des Gerichts über die Welt (νῦν κρίσις ἐστὶν τοῦ κόσμου, Joh 12,31), die für einige Gericht, für andere aber Heil (vgl. πάντας ἑλκύσω πρὸς ἐμαυτόν in Joh 12,32) bedeutet (KÖSTENBERGER [2004], 384f.; SCHNACKENBURG [1985], 493). Ferner ist im Zitat von Jes 6,10 der Ausdruck καὶ ἰάσομαι αὐτούς (Joh 12,40 = Jes 6,10 LXX) sowohl im atl. wie auch im joh. Kontext als eine gegenüber der Gerichtsankündigung akzentuierte Heilsverheißung zu verstehen, wie FÖRSTER (2018), 57–75 ausführlich nachgewiesen hat. 51 So auch ZUMSTEIN (2016), 469; SCHNACKENBURG (1985), 521. Ebenso auch SCHNELLE (2016), 273: „Offenbar hebt die in der Schrift vorhergesagte Verstockung die Glaubensentscheidung des einzelnen Menschen keineswegs auf, wie der Glaube vieler Oberer zeigt.“ 52 Einen positiven Akzent sieht in diesem Verweis mit ausführlicher Diskussion auch WENGST (2001), 84–86. Einen impliziten Hinweis der Formulierung auf eine heilende Tätigkeit Jesu sehen auch WILLIAMS (2016), 91. 53 Vgl. dazu LINCOLN (2000), 108: „Jesus’ last speech on his own behalf in the trial of the public ministry summarizes his role in the trial.“ Ebenso NEYREY (2007), 104, der zur Rede Jesu bemerkt: „[It] concludes the trial of the World […].“ Vgl. zur Rede Jesu als Abschluss von Joh 1–12 auch NEYREY (2007), 102.

6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50)

307

zugleich auffallend positive Akzente in den Vordergrund. 54 In Form einer inclusio wird die Lichtmetaphorik nach ihrer Verwendung im Prolog (1,4–5.9) nun auch am Ende von Joh 1–12 in ihrer dominant heilschaffenden Bedeutung verwendet (V. 46),55 sodass die Rede Jesu zu einer letzten Aufforderung zum Glauben wird. 56 Dass neben der dominierenden heilschaffenden Akzentuierung dennoch eine richtende Wirkung des Lichtes mitgedacht ist, zeigt die Fortsetzung in V. 47–48, in der Jesus von einem Urteil als Folge der Ablehnung des Lichtes spricht (4-mal κρίνω in V. 47–48). 57 Dabei ist Jesus selbst als Richter und sein gegenwärtiges Wort als ultimatives Verdikt vorausgesetzt, das jedoch erst im Endgericht zum vollstreckten Urteil wird (ὁ λόγος ὃν ἐλάλησα ἐκεῖνος κρινεῖ αὐτὸν ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ, V. 48a). In einer besonderen Akzentsetzung wird damit jedoch nicht nur die Zeit zwischen Gegenwart und Endgericht als Zeit des Heils eröffnet, sondern zugleich das Urteil Jesu im Rechtsstreit von Joh 1–12 als konditionales Urteil formuliert, das von der Alternative zwischen πιστεύων εἰς ἐμέ (V. 47) und ἀθετῶν ἐμέ (V. 48) abhängt.58 Mehr noch: Wird ἀθετῶν ἐμέ durch μὴ λαμβάνων τὰ ῥήματά μου parallelisiert (V. 48b), so ist es eben jenes verworfene Wort Jesu, das dem im Unglauben Verharrenden zum Urteil im eschatologischen Gericht wird.59 Mit Joh 12,44–50 ist damit das Urteil Jesu als konditionales Urteil ausgesprochen, das als solches erst zeitversetzt und abhängig von der Glaubensentscheidung im Endgericht als endgültiges Verdikt offenbar wird. 60 Das Urteil im Endgericht ist von Jesus in eben jenen Worten aus Joh 12,44–50 zwar schon ausgesprochen, ob es jedoch als solches im Endgericht verhängt wird, ist maßgeblich von der Glaubensentscheidung in der Gegenwart abhängig. 61 54 Bereits die Einleitung Ἰησοῦς δὲ ἔκραξεν (V. 44) erinnert an Einladung zum Glauben in Joh 7,37–39; vgl. auch BEUTLER (2013), 371. 55 Vgl. zum Bezug zum Prolog auch THEOBALD (1988), 320. 56 So sieht BEUTLER (2013), 371 die Rede Jesu als letzten „Aufruf zum Glauben“. 57 So auch LINCOLN (2000), 108: „[T]his image conveys connotations of judgment.“ Ebenso FREY (2000b), 314. Die Kausalität von Gericht als Folge der Ablehnung des Heils liegt auf einer Linie mit der Kausalität des Rechtsstreites in Joh 3,18–21; siehe dazu oben Abschnitt 2.2 und Abb. 9. Eine Bezugnahme auf Joh 3,16–21 und 3,31–36 sieht auch FREY (2000b), 311–314. 58 So auch FREY (2000b), 313, der darin eine „bedingte Unheilsankündigung“ sieht. 59 Die Worte Jesu werden damit gleichzeitig zur Urteilsverkündung im eschatologischen Gericht: „Jesu hier gesprochenes Wort gilt ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ (12,48b)“ (RINGLEBEN [2017], 230). 60 So macht nach ZUMSTEIN (2016), 473 das eschatologische Gericht „lediglich rechtsgültig“, was bereits vorher ausgesprochen wurde; ähnlich SCHNELLE (2016), 274. Nach FREY (2000b), 317 kommt damit „diesem Wort, das jetzt ergangen ist, eine letztgültige, lebensspendende (5,24) und – im Falle der Abweisung – richtende Kraft zu.“ 61 So auch WENGST (2001), 89. Ebenso verweist FREY (2000b), 316f. darauf, dass das „eschatologische Unheil […] nach Maßgabe der gegenwärtigen Entscheidung zur Auswirkung kommt“, und spricht von dem „Todesurteil über den Unglauben, das zwar in der

308

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

Umgekehrt werden die Worte Jesu in Joh 12,44–50 bereits in der Gegenwart vorweggenommenes Urteil des Endgerichts über solche, die seine Worte nicht annehmen, eröffnen aber durch das enthaltene konditionale Element in der Gegenwart eine Zeit des Heils. Reflexion der Prozess-Narration Zahlreiche Bezüge zum Prolog (Joh 1,1–18) und zur metaphorischen Prozesseröffnung (Joh 1,19–34)62 schließen den kosmischen Prozess in Joh 12,37–50 mit der Urteilsverkündung förmlich ab. Nachdem der Prozess wesentlich vom unversöhnlichen Gegeneinander konträrer Paradigmen geprägt war, ist ein Ausgang in einem doppelten Urteil nur folgerichtig. Dem von den Juden gefällten Urteil in Joh 11,47–54 stellt der Erzähler mit Joh 12,37–50 ein konträres Urteil in Form eines eigenen Kommentars und den finalen öffentlichen Worten Jesu entgegen. Beide so gegenübergestellten Urteile zeigen auffällige Parallelen darin, dass sie sich jeweils als Vorwegnahme einer späteren Vollstreckung erweisen. Während das Urteil der Juden in der erzählten Welt auf den Prozess in Joh 18–19 zuläuft und dessen Urteil bereits vorwegnimmt, wird das Urteil Jesu zu einer Vorwegnahme des eschatologischen Urteils im Endgericht. Als dem Urteil des Synedriums narrativ nach- und damit prioritär vorgeordnet, wird das Urteil Jesu in der eschatologischen Konvergenz als Urteil ‚von oben‘ dem Urteil ‚von unten‘ übergeordnet. Mit Bezug auf das Verblendungsmotiv wird das Urteil über solche gesprochen, die über Jesus urteilen, und damit das Motiv des Gerichts über die Gerichtsbarkeit aus Joh 9–10 zu seiner folgerichtigen Konklusion im Urteil geführt.63 Indem Jesus das eschatologische Urteil bereits in die Gegenwart hineinspricht, 64 kulminieren präsentische und futurische Dimension in der Person Jesu, eröffnen in ihrer zeitlichen Trennung jedoch zugleich einen Zwischenraum als Heilszeit. Dass diese Akzentsetzung mit einer auffällig konditionalen Abweisung Jesu jetzt schon festliegt, aber noch ebenso verborgen ist, […] das ‚am letzten Tag‘ offenbar wird“. Damit existiert nach Frey „nach dieser Stelle kein anderer Urteilsspruch als das bereits ausgesprochene, abgeschlossene Offenbarungswort Jesu, das über dem NichtGlaubenden am letzten Tag als Todesurteil ergehen wird, so daß man […] von einem bereits festliegenden Urteil zu sprechen hat“ (aaO., 321). 62 BARRETT (1978), 429; WENGST (2001), 81 sehen in Joh 12,37–43 insbesondere in der Thematisierung der breiten Ablehnung und des Unglaubens im Gegensatz zum Glauben einiger weniger einen Bezug zu Joh 1,10–11. Daneben führt Joh 12,37–50 die Darstellung auch durch den Verweis auf die Lichtmotivik (vgl. dazu BEUTLER [2013], 372), das Motiv des Gerichts aus Joh 3,13–21.31–36 (vgl. NEYREY [2007], 104; BEUTLER [2013], 372) und den in den Zitaten aus Jes 6,10; 53,1 vermittelten Bezug zum atl. Rechtsstreit (vgl. dazu LINCOLN [2000], 107) in Form einer inclusio zu Ende. Siehe zu diesen strukturellen Rahmungen von Joh 1–12 unter forensischen Kategorien auch die Darstellung in Kapitel III,2.5. 63 So auch NEYREY (2007), 104. 64 Ähnlich auch BLANK (1964), 308.

6. Die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57; 12,37–50)

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Natur des Urteils einhergeht, ist darum nur konsequent und zeigt die deutlich persuasive Funktion der Rede Jesu wie auch der Rechtsstreitmetaphorik insgesamt.65 Wird in der Makrostruktur der Rechtsstreitmotivik der Welt gerade die Unmöglichkeit vor Augen gestellt, über Jesus zu richten, und ihr damit das Urteil entzogen und ganz auf die Urteilsverkündung Jesu hingeführt, wird dieses in der Rede Jesu in gewisser Weise an den einzelnen Menschen zurückgespielt.66 Erst wer Jesus als Richter und sein Urteil als gültig anerkennt, für den wird der Richter zum Retter. Wer dagegen dem Richter als Ankläger gegenübertritt, für den manifestiert sich damit sein eigenes Urteil.67 Es hängt damit von der Glaubensentscheidung des Einzelnen ab, ob das von Jesus verkündigte eschatologische Urteil als solches gefällt (κρινεῖ αὐτὸν ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ, V. 48) oder aufgehoben (ἐγὼ οὐ κρίνω αὐτόν, V. 47) wird.68 Der durch die Adressatenlosigkeit der Rede Jesu kreierten universellen Bedeutung des Urteils entsprechen mit ὁ πιστεύων (V. 44), ὁ θεωρῶν (V. 45), πᾶς ὁ πιστεύων (V. 46), ἐάν τίς (V. 47), ὁ ἀθετῶν (V. 48) ebenfalls deutlich universelle Formulierungen, durch die gleichzeitig die Lesenden in die Konditionalität des Urteils einbezogen werden.69 Die Rechtsstreitmotivik gewinnt damit eine wesentlich persuasive Funktion, „die auf den Glauben zielt“70 und den Lesenden selbst vor die Entscheidung stellt. 71 Lief in der Darstellung des Makro-Prozesses in Joh 1–12 alles zielstrebig auf ein finales Verdikt als Überführung der Welt zu, bleibt in einer überraschenden Wende das Urteil der Prozessdarstellung in Joh 12,44–50 offen. Darin erweist sich zugleich die Prozessmetaphorik des Evangeliums in ihrer erweiterten, den Lesenden einschließenden Form als wesentliche persuasive Technik, um den Lesenden an den Glauben an Jesus als Christus und Sohn Gottes (20,31) zu führen.

65

Vgl. dazu LINCOLN (2000), 173. Nach BEUTLER (2013), 371 ist es gerade die Betonung der Einladung zum Glauben in der Rede Jesu, „die der Entscheidung ihm gegenüber das letzte Gewicht gibt“. 67 Vgl. für eine ähnliche Akzentuierung auch die Reflexion bei BLANK (1964), 306f. 68 Siehe dazu ausführlich RINGLEBEN (2017), 230. 69 Vgl. auch FREY (2000b), 311, der darin „eine bewußt situationslos stehende, an die Öffentlichkeit der Hörer und Leser des Evangeliums adressierte Proklamation der eschatologischen Tragweite der Sendung und des Wortes Jesu“ sieht. Ebenso sieht BEUTLER (2013), 372 einen deutlichen Leserbezug: „Gerade hier zeigt sich das Johannesevangelium als Text, der nicht einfach Bericht, sondern Werkzeug der Kommunikation zwischen Schreiber und Leserschaft sein will.“ 70 THEOBALD (2009), 820. 71 BEUTLER (2013), 373 sieht daher einen „Entscheidungsdualismus“ im Zentrum der Darstellung. 66

310

Kapitel IV: Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess

6.3. Ertrag Die in der Dramaturgie von Joh 1–12 angelegte Darstellung eines metaphorischen Makro-Prozesses wird in Joh 11–12 durch die Urteilsfindung und -verkündung abgeschlossen. In konsequenter Fortführung der Prozessdarstellung auf doppelter Ebene mit konkurrierenden forensischen Settings der erzählten Welt und der metaphorischen Prozesswelt ist dabei ein doppeltes Urteil angelegt. Sowohl das jüdische Synedrium (Joh 11,47–53) als auch der Joh 1–12 abschließende Erzählerkommentar (Joh 12,37–43) mit folgendem Monolog Jesu (Joh 12,44–50) bringen als Urteile von ‚unten‘ und von ‚oben‘ die Prozessdarstellung dramaturgisch zum Abschluss. Der darin angelegte vordergründige Dualismus wird jedoch dadurch gebrochen, dass das menschliche Urteil des Synedriums als Nicht-Urteil erscheint und zum letzten Beweisstück und zur menschlichen Selbstanklage des kosmischen Prozesses zwischen Gott und der Welt wird und auf diese Weise einem letzten menschlichen Geständnis der Welt gleichkommt. Dabei wird das Urteil der Juden fern jeglicher juristischen Verhandlung als rein politisch motivierter Machtmissbrauch forensisch entwertet und lässt das Urteil Jesu als einziges Urteil der Prozessdarstellung dastehen. In einer überraschenden Wende wird im darauffolgenden Urteil Jesu dennoch keine Verurteilung der Welt ausgesprochen, sondern das letzte Verdikt in ein konditionales Urteil transformiert, das markante Züge einer universellen Adressierung trägt und damit das Urteil des kosmischen Prozesses an die Glaubensentscheidung des einzelnen Menschen zurückspielt. Das so formulierte konditionale Urteil zeigt sich somit gleichzeitig als Einladung zum Glauben und trägt dadurch deutlich persuasive Züge mit erkennbarer Leseradressierung. Indem das Urteil der Prozessdarstellung und das eschatologisch verhängte Verdikt in den Worten Jesu kulminieren, wird die Rechtsstreitmotivik innerhalb eines eschatologischen Rahmens verortet, in dem die Glaubensentscheidung in der Gegenwart bereits das eschatologische Urteil des Endgerichts vorwegnimmt. Der metaphorische Prozess wird dadurch zur Imagination des eschatologischen Prozesses, der in konditionaler Weise die Konsequenzen von Glaubens- und Unglaubenshaltung Jesus gegenüber antizipiert und gerade darin starke persuasive Züge entfaltet, die auf den Glauben an den Christus abzielen und damit das deutlich christologische Zentrum der johanneischen Rechtsstreit- und Prozessmotivik aufweisen.

Kapitel V:

Zusammenfassung und Auswertung

1. Die forensische Dimension: Rollen und Sachverhalte Die narratologische Untersuchung relevanter Passagen im Johannesevangelium zeigt eine Vielzahl von Charakteristiken, die im Folgenden zunächst in Bezug auf ihre forensische Dimension hin ausgewertet werden. Dies betrifft neben der Verwendung forensischer Rollen und der durch sie evozierten Settings auch forensische Sachverhalte.

1.1. Forensische Rollen und Prozess-Settings Die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden in Joh 1–12 evoziert ein elementares Prozess-Setting, bei dem in jeder der untersuchten Passagen durch gegenseitige Anklagen die forensischen Rollen von Ankläger und Angeklagtem präsent sind und über termini technici der Prozesssprache charakterisiert werden. Daneben steht mit dem jüdischen Synedrium sowie der stets implizit vorausgesetzten Richterfunktion Gottes die forensische Rolle des Richters im Hintergrund. Die Prozessdarstellung gewinnt dadurch weitere Konturen, dass in der Mehrzahl der untersuchten Abschnitte weitere forensische Rollen hinzutreten, durch die sich in vielen Szenen durch die Verwendung forensischer termini technici, juristischer Topoi, symbolisch-forensischer Rollenfunktionen und alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik ein voll ausgeprägtes Prozess-Setting ergibt. So finden sich in allen Prozessszenen mindestens drei, meist jedoch vier der forensischen Rollen Richter, Ankläger, Angeklagter, Zeuge(n) und Prozesszuschauer, die auf wenige Charaktere der Erzählung verteilt sind (vgl. Tab. 12). Während hinter der Assoziation von Jesus, Johannes, dem Vater und der Schrift mit der Rolle des Zeugen deutlich das Prinzip eines mehrfachen Zeugnisses von Zeugen mit hohem Ansehen erkennbar ist, wirkt die Konstanz in der Verteilung der übrigen Rollen zugleich auf eine Kontinuität der Darstellung hin, durch die ein episodenübergreifendes, einheitliches Prozess-Setting erzeugt wird. Zeigen sich damit deutliche Assonanzen zu symbolisch-forensischen Rollen eines generischen Prozess-Settings antiker Gerichtsprozesse,1 geht die Prozessdarstellung im Johannesevangelium doch weit darüber hinaus und lässt in einer auffälligen und teils paradoxen Rollenunion, 1

Siehe dazu Kapitel II,1.4.

314

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

-konzentration und -transformation Akzente erkennen, die Proprium des alttestamentlichen Rechtsstreites Gottes mit der Welt sind.2 So tritt Jesus nicht nur in der paradoxen Rollenunion von Angeklagtem und Ankläger auf, sondern zuweilen auch in einer Dreifachrolle, in der er zusätzlich als Richter fungiert (vgl. Joh 5,19–47; 12,44–50), oder sogar in einer Vierfachrolle von Angeklagtem, Ankläger, Richter und Zeugen (vgl. Joh 8,12–20). Fest in alttestamentlicher Tradition verankert ist auch die inhärent vorausgesetzte Anklagefunktion des Zeugen, die sich als Proprium des jüdischen Prozessrechts erweist.3 Der Vater

Jesus

Juden

Johannes

Schrift

Volksmenge

Richter

8,50

8,15



7,51

7,24

Zeuge

5,32.36f.; 8,18

5,22–27; 8,16.26; 12,47f.; 2,13–16; 3,19.35 3,13; 3,32–34; 8,14.18 passim passim –



1,7.15; 1,19.32; 3,26; 5,33 1,19–27 – –

5,39.45f. –

Angeklagter – – Ankläger Zuschauer –

passim passim –

– 5,45f. –

7,19–24 7,19.24 7,14–52

Tab. 12: Forensische Rollen in Joh 1–12.

Während die Richterrolle in atl. Tradition selbstverständlich und in letzter Instanz ausschließlich Gott selbst vorbehalten ist, wird diese in der Prozessdarstellung des Johannesevangeliums pointiert auf Jesus als den eschatologischen Menschensohn (Joh 3,13; 5,27; 9,35) 4 und einzigartigen, in der Wirkeinheit mit dem Vater stehenden Sohn (Joh 5,22–27)5 übertragen. Damit zeigen sich neben der starken Verwurzelung in alttestamentlicher Rechtsstreitkonzeption zugleich spezifisch johanneische Akzente, die typische Rollenbeziehungen transzendieren und wesentliche Bestandteile einer multiplen Erzählebene konstituieren. Insbesondere die vordergründige Rollenzuteilung der Juden als An2

Eine ausführliche Auswertung der johanneischen Darstellung in Bezug auf Kontinuität und Diskontinuität zu alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik erfolgt unten in Abschnitt 3.1. 3 Dem griechisch-römischen Prozessrecht ist eine maßgeblich auf die Domäne der Anklage beschränkte Funktion des Zeugen dagegen fremd; vgl. dazu Kapitel II,1. 4 Der Menschensohntitel ist an diesen Stellen mit der Richterfunktion konnotiert, wie sich in den Einzeluntersuchungen zur Stelle erwies. 5 Da die Richterrolle Jesu wesentlich in der Wirkeinheit mit dem Vater begründet ist, entsteht kein Rollenkonflikt, wenn in Joh 8,50 mit ἔστιν ὁ … κρίνων der Vater als Richter im Blick zu stehen scheint. Die Stelle ist jedoch hinsichtlich der genauen Referenz des Ausdrucks ambivalent (siehe dazu Kapitel IV,4.3, Anm. 136) und wäre die einzige Ausnahme zur sonst pointiert auf den Sohn übertragenen göttlichen Richterrolle im Evangelium.

1. Die forensische Dimension: Rollen und Sachverhalte

315

kläger und Jesu als Angeklagter wird dabei durch eine ausgeprägt ambivalente und auf dualer Ebene fungierende Prozessmodulation in eine dazu diametral entgegengesetzte Rollenbelegung mit Jesus als Ankläger und Richter sowie den Juden als Angeklagten transformiert (vgl. Abb. 13). Vater

Richterkollegium (Synedrium)

Richter (Jesus)

Anklage

Jesus

Prozesszuschauer (Volksmenge)

Prozessmodulation

Juden

Gott

Zeugen

Anklage

Juden/ Welt

Prozesszuschauer (Lesende)

Abb. 13: Konkurrierende Prozess-Settings.

Die Darstellung weist somit auf ein vordergründiges Prozess-Setting hin, das in den Gegebenheiten der erzählten Welt verwurzelt ist und durch subtile Prozessmodulation in ein weiteres, metaphorisches Prozess-Setting transformiert wird. 6 Folglich stehen sich zwei konkurrierende Prozess-Settings mit konfliktärer Rollenzuteilung gegenüber. Dass diese Dualität konkurrierender Prozess-Settings jedoch von einer deutlichen Asymmetrie geprägt ist, wird nicht nur durch die Unidirektionalität der narrativen Prozessmodulation erwiesen, sondern auch durch Asymmetrien in der forensischen Rollenzuteilung selbst. So bleibt das Prozess-Setting der erzählten Welt inhaltlich konturlos, insofern weder die Richterrolle Gottes expliziert wird, noch Zeugen zugunsten der Juden auftreten, und wird damit in der narrativen Darstellung sinnfällig als defizitär erwiesen. Dagegen finden sich Zeugen ausschließlich und mit Johannes, den Schriften, dem Vater und Jesus selbst in einer auffälligen Vielzahl auf der Seite Jesu, der selbst Ankläger, Zeuge und eschatologischer Richter ist. In starker Kontinuität zum alttestamentlich-jüdischen Zeugenrecht treten die Zeugen dabei in ambivalenter forensischer Funktion auf, bei der neben einer apologetischen Funktion immer zugleich eine Anklage impliziert ist. Diese signifikanten Züge der Darstellung weisen damit nicht nur auf einen grundlegenden, dual ausgerichteten Komplex distinkter Darstellungsebenen hin, sondern enthalten zugleich eine Wertung, in der ein vordergründiges Prozess-Setting als defizitär 6

Siehe zu den Einzelheiten unten Abschnitt 2.1.

316

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

erwiesen und durch narrative Techniken juristisch entleert wird. Die damit aufgewiesenen johanneischen Akzente der Darstellung sind im Folgenden noch einmal aufzugreifen.7

1.2. Forensische Sachverhalte Neben der ausgeprägten Zuteilung forensischer Rollen wird der Charakter einer Prozessdarstellung in Joh 1–12 durch teils metaphorische, teils reale Bestandteile und Abläufe des Rechtsstreites und Gerichtsprozesses evoziert. Dabei sind die essenziellen Bestandteile eines Gerichtsprozesses vollständig präsent (vgl. Tab. 13).8 Komponenten des Gerichtsprozesses

Belege

Juristische Prüfung eines Sachverhalts und Beweisaufnahme Strafverfolgung

1,19–28; 5,10; 9,13

Bilaterale Konfrontation mit Anklagen Juristische Verwarnung Streitgespräch mit Anklageumkehrung Nennung von Zeugen, Zeugenbefragung Gerichtliche Vernehmung Geständnis des Angeklagten Urteilsbildung der Prozesszuschauer Urteilsbildung der Richter Urteil durch Richter Begründung des Urteils Urteilsvollstreckung

5,16.18; 7,1.19.25.30.32.44; 8,20.37; 10,39; 11,53.57 2,13–22; 5,10; 5,16–47; 8,12–20, 8,31–58; 9,40; 10,18 2,14–16; 5,14; 8,21.24–25 5,18–47; 7,14–24; 8,12–59 1,7–8.15; 1,32; 2,25; 3,11.32–34; 5,31–40; 7,7; 8,14–18 9,13–17; 9,18–23; 9,24–34 10,24–38 7,12–43; 10,19–21 7,24; 7,45–52; 8,15–16; 11,47–53 3,19.36; 5,27; 9,39.41; 11,50.53 3,18–21; 10,33; 9,41; 12,37–43; 12,48 5,29; 8,59; 10,31; 12,48

Tab. 13: Bestandteile des Rechtsstreites und des Gerichtsprozesses.

In Entsprechung zur Dualität der Darstellungsebenen sind sowohl in Bezug auf Jesus und die Juden (als Primärakteure) als auch im Hinblick auf weitere Cha7

Der dual ausgerichtete Komplex unterschiedlicher Erzählebenen wird unten in Abschnitt 2.1 zu einer multidimensionalen, neunfachen Kombination narrativer Ebenen differenziert; die Wertung in der Existenz divergierender und konkurrierender Prozess-Settings und der daraus resultierenden Konterkarierung wird in Abschnitt 2.2 expliziert. 8 Die meisten der genannten Elemente sind ferner in Joh 18–19 präsent; siehe zur Nennung exemplarischer Korrespondenzen unten Abschnitt 2.3.

1. Die forensische Dimension: Rollen und Sachverhalte

317

raktere (als Sekundärakteure) ambivalente und teils konkurrierende Rollenzuweisungen erkennbar. Die Aufnahme typischer Bestandteile eines Gerichtsprozesses ist dabei jedoch nicht als stereotypes Schema oder allegorische Ebene präsent, sondern lässt in der Verteilung auf unterschiedliche Passagen und Akteure vielmehr ein Prozessmosaik erkennen, das erst in der Gesamtheit der Darstellung erkennbar wird.9 Von besonderer Bedeutung unter den forensischen Sachverhalten ist neben Grundelementen des Gerichtsprozesses auch die eigentliche causa als verhandelte Rechtssache. Obwohl sich einzelne Anklagen als durchgängiger Teil der Prozessmotivik zeigen, sind doch deutliche Schwerpunkte in Bezug auf die in den einzelnen Rechtsstreitszenen verhandelten Vergehen erkennbar: A Anbetung Gottes und Tempelkonflikt (Joh 2,13–22) B Sabbatkonflikt (Joh 5,1–47) C Zwischenmenschliche Vergehen (Joh 7,14–8,59) B' Sabbatkonflikt (Joh 9,1–39) A' Anbetung Gottes und Tempelkonflikt (Joh 9,40–10,39)

Dabei fällt auf, dass mit Sabbatbruch und Blasphemie zwei Kapitalverbrechen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen und diese auch strukturell rahmen. In der jeweils maßgeblich thematisierten causa der einzelnen Rechtsstreitszenen spiegelt sich durch diese Rahmung eine in der Darstellung angelegte Dramaturgie wider, die mit dem Doppelvorwurf von Blasphemie und Sabbatbruch beginnt und auch wieder auf diesen zurückführt. Die dominierende Stellung, die dabei dem Konflikt um wahre Anbetung und Blasphemie zukommt, stellt die verhandelten Tatvorwürfe und ihre Zuspitzung auf die Identität Jesu letztlich in den Dienst einer christologischen Fragestellung. Neben dem Doppelvorwurf von Blasphemie und Sabbatbruch ist in der Prozessdarstellung des Evangeliums eine Vielzahl weiterer Anklagen präsent (vgl. Tab. 14). Insgesamt ist in Joh 1–12 eine solche Vielzahl von Anklagen aufgenommen, dass der Bildbereich eines einzigen Gerichtsprozesses deutlich gesprengt wird. Die Fülle der verhandelten Anklagen transzendiert in auffälliger Weise den bildgebenden Bereich eines Gerichtsprozesses und zeigt den repräsentativen Charakter der Prozessdarstellung als umfassende Verhandlung aller denkbaren Vergehen eines Menschen. Damit wird in den jüdischen Anklagen ein Prozess evoziert, in dem das ganze Leben Jesu umfassend verhandelt wird. Aus dem Mosaik einer Vielzahl von Gerichtsszenen entsteht so das Bild eines Makro-Prozesses, in dem das Leben Jesu insgesamt vor Gericht steht. Die auffällige Reziprozität der verhandelten Anklagen weist jedoch zugleich auf die doppelte Darstellungsebene der Prozess-Narration hin, in der eine Anklage der Juden sich im selben Kontext stets zu einer Gegenanklage in derselben causa wendet. Korrespondierend zur Asymmetrie der zugrunde liegenden Prozess9

Dieser Zug der Darstellung wird in Abschnitt 3.2 näher analysiert.

318

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

Settings10 wird sogar ein auffallender Überhang der Anklagen Jesu deutlich, durch die sich auch in Bezug auf die umfassende Dimension der verhandelten causa eine Umkehrung zeigt: Auf einer höheren Ebene wird auf diese Weise nicht nur das Leben Jesu, sondern in einer universellen Akzentsetzung das Schicksal der Welt verhandelt und dabei gleichzeitig von einer kosmischen Perspektive auf die individuell-persönliche Ebene heruntergebrochen.11 Steht das ganze Leben Jesu durch eine Vielzahl der Anklagen ganz umfassend vor Gericht, so gilt dies erst recht für das Leben jedes einzelnen Menschen. Anklage

Jesus als Angeklagter

Juden als Angeklagte

Vermessenheit und Blasphemie

5,18; 8,49; 10,31–36

5,23; 8,59; 10,31–38

Sabbatbruch

5,16; 7,21–23; 9,16

5,10.16

Tempelschändung (real und metaphorisch)

2,18

2,14–16; 2,19–21; 10,31

Assoziation mit Dämonen/Teufel

7,20; 8,48–52

8,38.44

Aus Hurerei geboren

8,41

8,38–42

Illegitime Abstammung

8,48

8,39

Falsche Anklage eines Unschuldigen



7,21–23; 8,40; 10,32

Ungerechte Richter



7,24; 8,15

Mord



8,37–40

Lüge



8,44–45.55

Bundesbruch



8,39.47

Tab. 14: Verhandelte Rechtssachen.12

Die in der Prozessdarstellung genannten Vergehen sind in ihrer Natur allesamt so schwerwiegend, dass sie nach alttestamentlichem Gesetz als Kapitalverbrechen ausgewiesen sind. Während das Urteil des Prozesses gegen die Welt damit folgerichtig als Sterben in den Sünden expliziert wird (Joh 8,21.24), ist in ironischer Umkehrung der einzige im Evangelium tatsächlich erzählte Tod der Kreuzestod Jesu. Dass sich das Gericht über die Welt gerade im Tod Jesu ereignet (Joh 12,31) und damit zugleich das Heil ermöglicht (Joh 12,32), ist damit eine ironische Wendung in der johanneischen Prozessdarstellung, die bereits auf einen starken Akzent der Rettung hinweist.

10

Siehe dazu oben Abschnitt 1.1. Dies konvergiert folgerichtig in einer Adressierung des Lesenden; siehe dazu unten Abschnitt 4.2. 12 Die Reihenfolge der aufgelisteten Anklagen spiegelt das jeweilige Gewicht in der narrativen Darstellung von Joh 1–12 wider. 11

2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als ProzessNarration 2.1. Narrative Ebenen des Rechtsstreites In der bisherigen Forschung findet sich bereits der Hinweis auf eine doppelte Darstellungsebene im Johannesevangelium, die sich insbesondere in Bezug auf die Prozessmotivik in einer horizontalen Parallelität einer Sichtweise von ‚oben‘ und von ‚unten‘ als Dualismus erweist und mit einer Umkehrung der forensischen Rollen korrespondiert.1 Die in der Forschung bereits vereinzelt geäußerte Vermutung, dass damit ein grundlegender Zusammenhang zwischen dem forensischen Charakter und einem grundlegenden Dualismus der Darstellung besteht, wird durch den Aufweis der in zwei konkurrierenden ProzessSettings angelegten Prozessdarstellung in den narratologischen Analysen von Joh 1–12 nicht nur eingehend bestätigt, sondern lässt sich zugleich deutlich nuancierter fassen und in Bezug auf die Taxonomie der multidimensionalen Darstellungsebenen wesentlich erweitern. Die narrative Darstellung im Johannesevangelium konstituiert sich in einem komplexen Flechtwerk diverser Ebenen der Prozessmotivik und -metaphorik, durch die sich die häufig konstatierte Dualität in einer Multidimensionalität realisiert. Diese lässt nicht weniger als neun unterschiedliche Darstellungsebenen erkennen, die teils koinzidieren und parallelisieren, teils kontrastieren und sich konterkarieren (vgl. Tab. 15). In einer horizontalen Schichtung zeigt sich zunächst eine grundlegende Dualität zwischen erzählter Welt und metaphorischer Prozesswelt, die sich in der vertikalen Schichtung als Zunahme des Abstraktionsniveaus der Darstellung in neun Darstellungsebenen erweist. Die vier grundlegenden Ebenen (Ebenen 1– 4) instrumentieren dabei die Rechtsstreit- und Prozessmotivik als basales Geschehen der erzählten Welt, in der die Juden einen Rechtsstreit in Form einer juristischen Strafverfolgung gegen Jesus oder stellvertretend in Bezug auf einen anderen Charakter beginnen. Während in den meisten Konflikten Jesus selbst als Partei des Rechtsstreites erscheint (Ebene 3), wird ein auffallender Zug der Darstellung darin sichtbar, dass andere Charaktere in einen Stellver1

Die doppelte Darstellungsebene ist dabei so zentral, dass sie in der Forschung immer wieder als solche thematisiert und als tragendes Element der johanneischen Prozessdarstellung erkannt wurde; siehe hierzu den Forschungsüberblick in Kapitel I,1–2.

320

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

Joh 1,1–18

Joh 1,19–34

Joh 2,13–22

Joh 3,11–36

Joh 5,1–17

Joh 5,18–47

Joh 7,14–24

Joh 8,12–59

Joh 9,13–34

Joh 9,35–10,21

Joh 10,22–39

Joh 11,47–54

Joh 12,37–50

treterkonflikt involviert werden, in dem etwa Johannes (Joh 1,19–34) oder ein Geheilter (Joh 5,1–17; 9,1–34) zu Repräsentanten werden und in denen Jesus in absentia vor Gericht steht (Ebene 1–2).2

1. Innerweltlicher Stellvertreterkonflikt

 



 

 



 

 

 



 

 

 

 

2. Verhandlung über Jesus in absentia

 



 

 

 

 

 

 



 

 



 

3. Innerweltlicher direkter Konflikt

 

 



 

 







 





 

 

4. Bilateraler juristischer Konflikt

 





 









 





 

 

5. Erzählerreflexion



 

 



 

 

 

 

 

 

 

 



6. Metaphorisch reflektierter Konflikt





 



 

 

 

 





 

 



7. Einbettung in Makro-Prozess



























8. Erweiterter Makro-Prozess mit Einschluss des Lesenden



 

 



 

 





 

 



 



9. Meta-Prozess über Paradigmen

 

 

 

 

 

 

 



 

 

 

 

 

metaphorische Prozesswelt

erzählte Welt

Ebenen des Rechtsstreites

Tab. 15: Ebenen der Rechtsstreit- und Prozessmotivik.

Eine Sonderstellung nimmt die Verhandlung in Joh 11,47–54 als Prozess ohne Anwesenheit eines Angeklagten ein und erweist dabei den Anspruch als Prozess gegen Jesus in der finalen jüdischen Verhandlung in sinnfälliger Bildlichkeit als leer und gegenstandslos. Mit Ausnahme dieses so aufgewiesenen Scheinprozesses und der gerichtlichen Befragung in Joh 9,1–34, die ein Richterkollegium voraussetzt, erweisen sich alle übrigen Auseinandersetzungen der erzählten Welt als weitgehend bilaterale und verbal-argumentativ ausgetragene Auseinandersetzungen und somit als erste Phase des jüdischen Rechtsstreites bzw. als informelle Phase der Prozesseröffnung nach antiker Prozessordnung. Der hohe Redeanteil weist dabei den rhetorisch-persuasiven Charakter aus, in dem die Konfliktparteien durch Reden und Argumente versuchen, die Gegenpartei zu überzeugen. Die Ebenen der erzählten Welt (Ebenen 1–4) sind ferner durch ein gemeinsames Setting der forensischen Rollen geeint, in dem die jüdischen Behörden als Ankläger fungieren, Beweise gegen Jesus sammeln, Jesus in ausführlichen Streitgesprächen mit ihren Anklagen konfrontieren, 2 Die Verhandlung in Joh 11,47–54 setzt sich aus Gründen der narrativen Dramaturgie davon ab; siehe dazu unten.

2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als Prozess-Narration

321

schließlich zum Tod verurteilen und zur Kreuzigung an den römischen Statthalter überstellen. Die einzelnen Prozessszenen sind so zu einem Makro-Narrativ jüdischer Strafverfolgung gegen Jesus verbunden. Dem stellt sich mit der metaphorischen Prozess-Narration (Ebenen 5–9) eine konträre Sichtweise entgegen, durch die hinter den Ereignissen der erzählten Welt eine tiefere Wirklichkeit mit vertauschten Rollen sichtbar wird und sich somit eine inhärente Dualität konstituiert. Transzendiert bereits die Darstellung von juristischen Auseinandersetzungen als Stellvertreterprozess oder Vernehmungen Jesu in absentia die erzählte Welt, so wird die damit ausgewiesene metaphorische Komponente nicht nur in der Aufnahme der forensisch konnotierten Lichtmetaphorik in den als Stützpunkten der Makrostruktur fungierenden Erzählerkommentaren im Prolog (Joh 1,18), einer Zwischenreflexion (Joh 3,13–22.31–36) sowie im Epilog von Joh 1–12 (Joh 12,37–43) offenbar, sondern auch durch die ebenfalls unter die Lichtsymbolik gestellte ausführliche Auseinandersetzung in Joh 9 (Ebenen 5–6). Ist damit ein Interpretationsschlüssel auf eine bewusst angelegte Lesart des Evangeliums als metaphorischem Prozess ausgewiesen, lässt eine konsequente Fortführung dieser Lesart eines Makro-Prozesses in Joh 1–12 erkennen (Ebene 7), in dem sich alle dezidiert forensisch formulierten Szenen zu einem einheitlichen Ablauf eines Gerichtsprozesses verbinden.3 Mit den Mitteln ambivalenter Darstellung und der Verwendung von forensischen termini technici sowie forensischen Rollen wird damit parallel zur bilateralen Auseinandersetzung in der erzählten Welt ein metaphorisches Gerichts-Setting als trilateraler forensischer Prozess evoziert, in dem mit Jesus eine Richterinstanz beteiligt ist und sich ferner die forensischen Rollen der erzählten Welt in ihr Gegenteil verkehren. Durch die ambivalente Darstellungsweise wird damit zugleich die Darstellung der erzählten Welt als oberflächliches Paradigma entlarvt, konterkariert und kritisiert. Dass sich diese Sichtweise neben der Beteiligung der Charaktere der erzählten Welt zu einem erweiterten Prozess-Setting öffnet, das auch auf die Erzählwelt ausgreift und den Lesenden selbst als Prozesszuschauer und Richter umfasst (Ebene 8), erweist die intrinsische Integration der Prozessmotivik in die rhetorische Funktion des Evangeliums. Dass dabei der Lesende nicht nur in ein Urteil über Jesus und seine Prozessgegner, sondern letztlich auch über konkurrierende Paradigmen des Rechtsstreites hineingezogen wird, stellt nichts weniger als die Selbst- und Weltsicht des Lesenden, wie sie sich an der Person Jesu scheidet, in der Bildlichkeit eines Gerichtsprozesses auf den Prüfstand (Ebene 9).4

3

Siehe dazu die ausführliche Darstellung in Abschnitt 2.2. Insofern durch zahlreiche Schriftbezüge und die starke Kontinuität durch Rezeption alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik (siehe dazu unten Abschnitt 3.1) zugleich die Fortführung eines biblischen Meta-Narrativs erkennbar ist, könnte eine zusätzliche zehnte Ebene abstrahiert werden. 4

322

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

2.2. Narrativer Verlauf des Makro-Rechtsstreites Die Szenenfolge der narrativen Prozessdarstellung kreiert aufgrund einer inhärenten dramaturgischen Triebkraft neben einer paradigmatischen Sammlung an Einzelszenen5 eine Makro-Narration eines metaphorischen Gerichtsprozesses, der aufgrund der dualen Darstellungsebene komplementärer Rollenzuweisungen6 auch zu einem rezeptionsästhetischen Dualismus korrespondiert, der sich in Form einer doppelten Interpretationsmöglichkeit konkurrierender Storys konstituiert. Diese metaphorische Dimension der intertextuell angelegten Rechtsstreitmotivik zeichnet sich durch ihre semiotische Polyvalenz und Transitionsfunktion aus, durch die eine vordergründige Anklage sich im Bildkomplex des metaphorischen Rechtsstreites zu einer Anklage der Ankläger wendet. Beide Deutungsstränge sind dabei in eine gemeinsame metaphorische Prozessstruktur eingebunden, durch die sich Joh 1–12 als narrative Schilderung eines in der Makrostruktur eingebetteten Gerichtsprozesses liest und dabei die folgenden typischen Elemente im Ablauf eines Prozesses erkennen lässt: Prozesseinführung Der Prolog (Joh 1,1–18) fungiert mit seiner starken forensischen Akzentsetzung durch die Lichtmotivik (1,4–5.9), das Zeugenmotiv (1,6–9), Akzente alttestamentlicher Motivik des Rechtsstreites zwischen dem Schöpfer und der Welt sowie durch die starke Betonung des Konflikts und der Polarisierung (1,5.10–12) als Leserhinweis, dass die folgende Erzählung als forensische Auseinandersetzung gelesen werden will, und stellt sich damit als Einführung des Erzählers im kosmischen Prozess dar. Der Prolog wirkt damit als Eröffnung eines metaphorischen Gerichtsprozesses, der mit Joh 1,19–34 in der Vorstellung der Hauptcharaktere mit Jesus und den Juden als Prozessgegner konkretere Gestalt gewinnt und zugleich mit der Befragung des bereits im Prolog angekündigten Hauptzeugen Johannes die Vernehmung formell eröffnet (1,15.19–34). Erste Begegnung der Prozessparteien Indem sowohl die Juden als auch Jesus in der Zeugenbefragung von Joh 1,19– 34 nur durch Stellvertreter auftreten, erscheint Joh 2,13–22 als überfällige direkte Begegnung der Prozessparteien und offenbart in der ersten verbalen Auseinandersetzung mit gegenseitiger Anklage bereits einen tiefgreifenden, unüberwindbaren Konflikt, der in einer Dualität unterschiedlicher Paradigmen begründet ist. In Transzendierung der alttestamentlichen Motivik eines kosmischen Prozesses zwischen Gott und der Welt tritt nun Jesus in der göttlichen 5 6

Diese bilden ein Bildmosaik, das in Abschnitt 3.2 ausgewertet wird. Siehe dazu oben Abschnitt 2.1.

2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als Prozess-Narration

323

Doppelrolle des Zeugen und Richters gegen ‚den Menschen‘ (2,25) auf (2,25; 3,11–13), überführt ihn (3,19–21) und wird darin ein weiteres Mal vom Zeugnis des Johannes unterstützt (3,31–36). Dabei verschmelzen die Worte Jesu und des Johannes jeweils so eng mit der Stimme des Erzählers, dass nach der Vorstellung der Prozessparteien gleichzeitig ein reflektierender Erzählerkommentar hörbar wird (3,16–21; 3,31–36), der dem Lesenden nicht nur die bisherige Lesart als metaphorischen Prozess bestätigt, sondern zugleich wesentliche inhaltliche Leitlinien für den folgenden Prozessablauf vorgibt. Insbesondere wird die anklagende und richtende Rolle Jesu und so die Rechtsstreitmotivik insgesamt in einen kausalen Zusammenhang mit der primär heilschaffenden Funktion seiner Sendung gebracht. Damit ist die Szenerie bereitet, vor der nun die ersten konkreten Anklage- und Verteidigungsreden vorgetragen werden können. Darlegung der Hauptanklage In einem dramaturgischen Höhepunkt mit repräsentativem Charakter werden in Joh 5,1–18 die Hauptanklagepunkte des Sabbatbruchs und der Blasphemie genannt. Steht damit ein dialogischer Schlagabtausch von Anklage und Gegenanklage zu erwarten, wird diese Erwartung pointiert unterlaufen, indem mit Joh 5,19–47 ein einziger Monolog als ausführlichste und rhetorisch am stärksten ausgestaltete Gerichtsrede der Prozessdarstellung folgt, in der Jesus unter Aufruf von vier Zeugen seinen Anspruch als Sohn nicht nur erfolgreich verteidigt, sondern in der Doppelrolle als Ankläger und Richter den Vorwurf der Blasphemie auf die Juden zurückwendet und dabei die Juden stumm und überführt erscheinen lässt. Das Urteil der Prozesszuschauer Der stark monologische Charakter von Joh 5,19–47 weicht in Joh 7–8 dem schellen Wechselspiel des Dialogs in einem Kreuzverhör. Mit Joh 7,14–24 sowie der Fortsetzung in Joh 7,25–52 schwenkt der Blickwinkel auf das Urteil der beim Prozess vorausgesetzten Zuschauer, die sich selbst ein Urteil über die im Prozess verhandelten Anklagen und -reden machen. Insoweit sich die verhandelten Anklagen in der Fortsetzung in Joh 8,12–59 immer stärker auf die Identität Jesu als χριστός (7,26–27.31.41f.) und göttlichem ἐγώ εἰμι (8,12.18.24.28.58) als eigentlicher causa des Prozesses zentrieren, können sich auch die Prozesszuschauer der eigenen existenziellen Involvierung in den Ausgang des Prozesses nicht mehr entziehen. Ihr eigenes Schicksal hängt in ironischer Umkehrung und weitreichender christologischer Dimension von ihrem eigenen Urteil über Jesus ab (8,24; vgl. auch 7,19.24). Ganz in dieser Akzentsetzung tritt in Joh 8,12–20 in einer Steigerung Jesus erstmals in der Rollenunion von Richter, Zeuge und Ankläger auf, durch die der Prozess gleichzeitig

324

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

als christologisch konzentrierte Relektüre des Rechtsstreites des ἐγώ εἰμι mit der Welt aus Jes 40–55 erscheint.7 Verhandlung der übrigen Anklagen Im Prozessablauf zeigt sich in Joh 8,34–59 darin ein Fortschritt, dass mit einer Vielzahl weiterer Anklagen in einem verbalen Schlagabtausch ganz umfassend über jeden möglichen Gesetzesbruch Jesu sowie der jüdischen Ankläger und Prozesszuschauer prozessiert wird. Dabei zeichnet sich nun deutlicher als zuvor ab, dass Jesus in keiner der verhandelten Anklagen überführt werden kann (8,46), während umgekehrt seine Ankläger unfreiwillig selbst den Beweis ihrer Schuld erbringen (8,59) und sich damit das Urteil ihrer eigenen Anklage selbst zuziehen. In der kosmischen Perspektive wird damit eine Verurteilung wegen zentraler Vergehen des Dekalogs über den Menschen gesprochen. Zurückweisung menschlicher Jurisdiktion Mit Joh 9,1–10,39 kommt die Verhandlung auf die im Mittelpunkt der Verhandlung stehenden Doppelvergehen des Sabbatbruchs und der Blasphemie zurück und führt den Prozess mit der Hirtenrede (9,40–10,18) und dem Blasphemie-Vorwurf (10,23–38) in Form von letzten Anklagen und abschließenden Plädoyers der Parteien bereits dem Ende zu. Gleichzeitig wendet sich die Verhandlung nun zunehmend gegen die Jurisdiktion der Juden, die mit Joh 9,13– 34 zum Gegenstand der Verhandlung wird. Dass dabei in ironischer Umkehrung die menschliche Beweissammlung selbst zum Beweis und die jüdische Jurisdiktion selbst zum Gegenstand der Jurisdiktion wird, kommt dem Nachweis juristisch illegitimer Vorgehensweisen gleich, erweist damit den menschlich vorgetragenen Rechtsfall bereits vor dem Prozessende als substanzlos und läuft bereits zielstrebig auf einen eindeutigen Urteilsspruch zu. Finale Anklagerede und Geständnis In der Fortsetzung erscheint die Hirtenrede (9,41–10,18) als alttestamentlichbildhafte, einseitige und autoritative Gerichtsrede und zeigt erstmals eine initiative Anklage Jesu ohne vorausgehenden Vorwurf der Juden. Symptomatisch steht in den letzten Worten des Prozesses (10,23–38) die Frage nach der Identität Jesu (10,37–38) im Mittelpunkt und erweist auch durch die Engführung aller Prozessinhalte auf die Frage, ob Jesus der Christus (10,24) und Sohn Gottes (10,36) ist, die zielsichere Verortung in der christologischen Zielsetzung des Evangeliums nach Joh 20,31. Umgekehrt wird nach diesem christologischen Bekenntnis der erneute Versuch metaphorischer Tempelschändung 7 Siehe zu dieser Akzentsetzung im alttestamentlichen Kontext Kapitel II,3.2.3 und zum johanneischen Kontext Kapitel IV,4.3.

2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als Prozess-Narration

325

(10,22.31) zum offenen Geständnis der Welt und zum letzten göttlichen Beweisstück im kosmischen Prozess. Urteilsverkündung Entsprechend der doppelten Darstellungsebene des Evangeliums folgt mit dem Urteil der Juden (Joh 11,47–54) einerseits sowie der Unisono-Stimme aus Erzählerresümee und Worten Jesu (12,37–50) andererseits ein doppeltes Urteil, das zunächst den Bildbereich des Gerichtsprozesses zu transzendieren scheint. Erwies sich jedoch auch im letzten Prozessteil in Joh 9,1–10,39 noch deutlicher die Unschuld Jesu, wird in dem folgenden Urteil der Juden (11,47–54) somit keine juristische Anklage mehr verhandelt, sondern die Verurteilung Jesu aus rein machtpolitischen Erwägungen vorgenommen. Das Urteil wird damit nicht nur inhaltlich entleert und juristisch entwertet, sondern selbst zum letzten juristischen Beweis in dem folgenden Urteil Jesu. Das Resümee des Erzählers (12,37–43) bildet mit den Erzählerkommentaren zu Beginn des Evangeliums (1,1–18) und zu Beginn des Hauptabschnitts des Prozesses (3,15–22.31–36) die interpretative Rahmenstruktur, mit deren Hilfe der Lesende durch den Prozess geleitet und in seiner Interpretation des Geschehens geführt wird. Konsistent zur Doppelrolle Jesu als Richter und Ankläger endet der Prozess mit dem Judikat Jesu, das nach der Entwertung des jüdischen Scheinurteils (11,47–54) als einziges und ultimatives Urteil den Prozess beschließt (Joh 12,44–50). Steht damit eine endgültige Verurteilung der Welt zu erwarten, wird diese in einer bemerkenswerten Wendung nun jedoch zu einem konditionalen Urteil abgeschwächt, das den Ausgang des kosmischen Prozesses von der Glaubenshaltung Jesus gegenüber abhängig macht. Die Prozessdarstellung lässt damit ihre maßgeblich persuasive Funktion erkennen, durch die der Lesende selbst zu einem Urteil über den christologischen Anspruch Jesu als Christus und Sohn Gottes geführt werden soll (20,31). Dass dieser Glaube sich jedoch nicht als Urteil über Jesus, sondern vielmehr als Absage der eigenen Urteilsfähigkeit und Übereinstimmung mit dem Urteil Jesu über die Welt realisiert, ist dabei ein notwendiges Korrelat der Prozessdarstellung insgesamt.

2.3. Der narrative Zusammenhang zwischen Joh 1–12 und Joh 18–19 In der narrativen Makrostruktur führt Joh 18–19 auf der Plot-Ebene die Darstellung in Joh 1–12 direkt fort. Die Prozessdarstellung in Joh 1–12 ist in ihrer inneren Dramaturgie als Prozessablauf sowie in ihrer mosaikhaften Zusammenstellung von Prozessinhalten so vollständig ausgeprägt, dass sich jede weitere Darstellung eines jüdischen Prozesses gegen Jesus erübrigt. Ein solcher würde nach der vollwertigen narrativen Prozessschilderung in Joh 1–12 nicht

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Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

nur antiklimaktisch wirken, sondern auch die Rollenumkehrung und das Ende des Prozesses in einem Urteil Jesu durch eine Anfügung eines jüdischen Urteils über Jesus unterminieren.8 Der Erzähler verzichtet in Joh 18,12–24 daher auf eine weitere Prozessdarstellung vor der jüdischen Gerichtsbarkeit und führt stattdessen die in Joh 1–12 gesetzten Akzente konsequent fort: Sowohl die Verhaftung Jesu als auch das gesamte Verfahren vor Pilatus wird nicht nur als von freiwilliger Selbsthingabe getriebenes und nur durch die Initiative Jesu ermöglichtes Geschehen geschildert,9 sondern zugleich setzt sich die für Joh 1– 12 so charakteristische Rollenumkehrung pointiert bis in den Prozess vor Pilatus (18,28–19,16) fort. Jegliche inhaltliche Konkretisierung des jüdischen Verfahrens (18,19–24) wird dagegen gezielt umgangen und durch intratextuelle Verweise ersetzt. Die Prozessdarstellung der Verhandlung vor jüdischen Gremien erscheint damit in Joh 18 als inhaltsloses Rahmenwerk, das in Form von internen Analepsen als Platzhaltern durch die detaillierten Verhandlungen in Joh 1–12 ausgefüllt wird. Infolge der zahlreichen intratextuellen Verweise entsteht so für den Lesenden in Joh 18–19 das Bild einer Verhandlung, deren Inhalte aus Joh 1–12 memoriert werden. Damit zeigt die Darstellung in Joh 1–12 wesentliche Elemente, die in Joh 18 allesamt bewusst ausgelassen oder nur in Form von intratextuellen Analepsen angedeutet werden: Während in Joh 18 das Motiv des Verrats ausgelassen (18,2–3) wird, die Festnahme an Jesu Vollmacht als ἐγώ εἰμι zuerst scheitert (18,4–6) und nur angedeutet wird (18,12), kein offizielles Verhör genannt und selbst im inoffiziellen Verhör vor Hannas (18,19–23) eine Thematisierung von konkreten Vergehen umgangen wird, stattdessen aber analeptisch auf die διδαχή Jesu (18,19) ἐν τῷ ἱερῷ (18,20) in παρρησίᾳ (18,20) vor dem κόσμος (18,20) verwiesen wird, keine Beratung des Synedriums, keine Frage nach der Identität Jesu als Christus und keine Empörung des Synedriums oder ein sonstiger Todesbeschluss erwähnt wird, finden sich alle diese Elemente in Joh 1– 12. So wird das Motiv des Verrats bereits in Joh 5,15 aufgenommen und führt in Joh 7,30–47 zum Festnahmeversuch und einem Verhör, in dem sich Jesus über seine διδαχή äußert (7,16–17), die er ἐν τῷ ἱερῷ (7,28) in παρρησίᾳ (7,4.13.26) vor dem κόσμος (7,7) vorträgt. Indem die in Joh 18,19 ausgesparte inhaltliche Konkretisierung der Verhandlung schon früher genannt wird, erscheint so bereits Joh 7,14–39 als Gerichtsverhandlung und folgerichtig Joh 7,16–17 als asynchrone Antizipation einer Antwort auf die Frage des Hohenpriesters nach der Lehre Jesu in Joh 18,19.10 Eine ähnliche Art der inhalt8

Die Darstellung bleibt dem narrativen Stilmittel treu, nach dem das letzte Urteil zugleich die maßgebliche Sichtweise und das unwidersprochene Wort zugleich das letztgültige ist. 9 Siehe zur narrativen Darstellung von Joh 18–19 die Untersuchung in Kapitel III,1. 10 Es wäre eine eigene Erwägung wert, dass mit der Tatsache, dass die Antwort somit der Frage vorausgeht, ein eigener christologischer Akzent gesetzt wird, durch den die Darstel-

2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als Prozess-Narration

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lichen Verlagerung des Prozessgeschehens auf Joh 1–12 findet sich auch noch an anderen Stellen. So wird bereits in Joh 2,13 das Passah als Zeitpunkt des Verhörs (18,28) in einer Rechtsstreitszene vorweggenommen, sodass die Zeitangabe eine inclusio um die erste und letzte Verhörszene des Evangeliums formt. 11 Der narrative Prozess erörtert ferner die Vergehen der Blasphemie (5,18–47; 8,52–59; 10,24–39), des Sabbatbruchs (5,1–47; 7,19–24; 9,1–39), der Tempelschändung (2,13–22; 10,22–39) sowie zahlreiche weitere Straftatbestände12 in ausführlicher Weise in Joh 2–10, erweist dabei jedoch bei jeder Anklage die Unschuld Jesu (5,10–16; 7,23; 8,46; 9,30–33; 10,32) und karikiert das überzogene Strafmaß der Juden für einen Unschuldigen (5,10–18).13 Der Prozess führt schließlich zielstrebig auf die verzweifelte direkte Konfrontation Jesu mit der Frage hin, ob er der Christus sei (10,24), die Jesus emphatisch mit seiner Selbstbezeichnung als Sohn Gottes (10,36) beantwortet und die von den Juden in höchster Empörung als Ausdruck von Blasphemie gewertet wird (10,39). Das Prozessgeschehen gipfelt in einem formellen Todesbeschluss des Synedriums (11,47–50), bei dem der Hohepriester selbst die Verurteilung ausspricht (11,50). Der jüdische Prozess gegen Jesus wird damit in Joh 18,1–24 bis auf ein inhaltsloses Rahmenwerk entleert und auf die narrative Darstellung in Joh 1–12 transferiert. Der hohe Detailgrad der Darstellung, die Ausführlichkeit und rhetorische Kraft, die Bildhaftigkeit der Präsentation, die Dramaturgie des argumentativen Wechselspiels und die Konkretion der genannten Anklagen werden somit weit ausführlicher in Joh 1–12 entfaltet, als es eine narrative Prozessdarstellung in Joh 18,1–24 erreichen könnte, und lassen damit die Auseinandersetzung in Joh 1–12 nicht nur als die eigentliche Prozessdarstellung erscheinen, sondern führen dazu, dass diese durch eine in narrativen Texten beispiellose Fokussierungs- und Intensivierungstechnik gleichsam übermäßig vergrößert wird. Das intratextuelle Wechselspiel des Rahmenwerks in Joh 18,1–24 mit der narrativen Füllung in Joh 1–12 kreiert dabei eine Überblendung verschiedener Horizonte der Erzählzeit und wird so in der Retrospektive zu einer narrativen Zeitlupe auf das Prozessgeschehen. Gepaart mit der Dualität der forensischen Rollenkonstruktionen14 werden durch den Rückverweis Jesu in Joh 18,20 die ausführlichen Reden in Joh 1–12 einerseits zu den eigentlichen Verteidigungsreden Jesu im Gerichtsprozess vor dem Synedrium. Obwohl die Darstellung in Joh 1–12 ein Verhör Jesu als lung Jesu nicht der menschlichen Provokation bedarf, sondern aus sich heraus als Offenbarungswort gegeben wird. 11 Richtig erkennt THYEN (2005), 167, dass durch die so geschaffene inclusio „das Gerichtsgeschehen zwischen Jesus und den Juden zur bestimmenden Mitte des gesamten Evangeliums geworden“ ist. 12 Siehe dazu die Übersicht oben in Abschnitt 1.2, Tab. 14. 13 Siehe dazu insbesondere die Transformation der Anklage in Kapitel IV,3.2, Tab. 4. 14 Siehe dazu Abschnitt 2.1.

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Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

Angeklagten transzendiert und sogar durch Rollenumkehrung ersetzt, ist die Darstellung in ihrer Ambivalenz durch die auffälligen Bezüge zu Joh 18 dennoch geeignet, Joh 1–12 als Verteidigung Jesu vor der jüdischen Anklage des Synedriums erscheinen zu lassen, die motivisch so vollständig ausgestaltet ist, dass sich jede weitere Schilderung in Joh 18 erübrigt. Zugleich zeigt sich aber in der bis in Joh 18,1–24 beibehaltenen Rollenumkehrung ein weit stärkerer Akzent darin, dass die Juden als Repräsentanten der Welt die eigentlich Angeklagten in einem kosmischen Prozess werden. Dass der bereits narrativ geschilderte Prozess zwischen Jesus und den Juden zugleich als kosmischer Prozess gedacht ist, erweist die narrative Darstellung in Joh 1–12 zwar ausführlich, zeigt aber keine direkte Auseinandersetzung mit nichtjüdischen Repräsentanten. Aus diesem Grund folgt in Joh 18,28–19,16 eine ausführliche Beschreibung der Auseinandersetzung mit dem römischen Statthalter als Repräsentanten der nichtjüdischen Welt und weist dabei dieselben Akzente der Darstellung von Joh 1–12 in Form einer ambivalenten Schilderung mit inhärenter Dualität der Erzählebenen sowie in Form einer Rollenumkehrung mit logisch konsequenter Umkehrung des Urteils auf. Zugleich wird die Prozessdarstellung durch neue Akzente in der Verhandlung vor Pilatus vervollständigt: Erweist die gesamte Prozessschilderung in Joh 1–12 sowohl im Verhalten der jüdischen Behörden wie auch bei Pilatus, dass die Glaubenshaltung Jesus gegenüber die Entscheidung des Prozesses bringt, so konnte ein jüdisches Verhör aufgrund der bereits seit Joh 2,13–22 unüberwindbar gewordenen Fronten zu keinem anderen Ergebnis als der in Joh 11,47–54 genannten Verurteilung führen. Dagegen liegen in Bezug auf Pilatus als Repräsentanten des nichtjüdischen Kosmos die Dinge anders. Dies führt folgerichtig dazu, dass in der besonders ausführlichen Prozessbeschreibung in Joh 18,28–19,16 in ähnlicher Weise wie in Joh 1–12 die Entwicklung und Verhärtung einer schließlich ablehnenden Glaubenshaltung bei Pilatus nachgezeichnet wird. Dass es damit in augenfälliger Weise in der gesamten Prozessdarstellung in Joh 1–12 und Joh 18–19 nie die eigentliche causa des Prozesses, sondern die Glaubenshaltung Jesus gegenüber ist, an der sich das Urteil des Prozesses entscheidet, weist auf eine intrinsische Verzahnung der Prozessdarstellung mit der theologischen Zielsetzung des Evangeliums nach Joh 20,31 hin.15 Die Prozessschilderung in Joh 18–19 ist damit trotz der Vollständigkeit des in Joh 1–12 dargestellten metaphorischen Gerichtsprozesses in theologischer Hinsicht keineswegs redundanter Anhang, sondern inhaltlich wie auch auf der Plot-Ebene in starker Kontinuität zu Joh 1–12 ausgestaltete und notwendige Vervollständigung. Insbesondere die in Joh 19,17–20,29 folgende Schilderung der Passion in Lebenshingabe und Auferstehung ist bereits durch die fest im Prozessgeschehen integrierte Voraussage der Selbsthingabe Jesu (2,19–21; 10,11.17–18) als Kulmination des Gerichts über die Welt (Joh 12,31–32) die 15

Siehe dazu unten Abschnitt 4.

2. Die narrative Dimension: Joh 1–12 als Prozess-Narration

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notwendige Vollendung der in Joh 1–12 eröffneten Handlungsstränge und theologischen Akzente. Zugleich koinzidieren damit das Gericht als Verurteilung der Welt durch das finale Urteil Jesu wie auch die Verurteilung Jesu als jüdisches Urteil im souveränen Plan Gottes, durch den das im konditionalen Urteil Jesu eröffnete Heil für die Welt (12,44–50) erst möglich wird, und führen damit das bereits in Joh 11–12 angedeutete Prozessurteil zum theologischen Kulminationspunkt.

3. Die metaphorische Dimension: Der Bildbereich des Rechtsstreites Rechtsstreit- und Prozessmotivik sind schon länger als wichtiger Teil der Darstellung im Johannesevangelium erkannt worden. Dennoch wurde die Rechtsstreitmotivik bisher nicht als komplexes metaphorisches Netzwerk verstanden, das seine Botschaft für den Lesenden gerade im Nebeneinander und Zusammenwirken eines Makro-Prozesses und seiner forensischen Rollen entfaltet. Die komplexe Verwendung von Rechtsstreitmotivik auf verschiedenen narrativen Ebenen entzieht sich letztlich einer Dispensation in bilateralen und trilateralen Rechtsstreit, wie sie in der Forschung häufig vorgenommen wurde,1 und zeigt in Transzendierung dieser Simplifizierung ganz eigene johanneische Akzente, die sowohl in Kontinuität wie auch in Diskontinuität zu alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik stehen.

3.1. Der Motivhintergrund des alttestamentlichen Rechtsstreites Die Prozessdarstellung des Evangeliums zeigt sich tiefer in der alttestamentlichen Motivik des Rechtsstreites verwurzelt, als vielfach wahrgenommen wurde. Das alttestamentliche Gesetz wird nicht nur stets als Rechtsgrundlage vorausgesetzt, sondern auch die Bestimmungen zum Zeugen- und Prozessrecht für den zwischenmenschlichen Rechtsstreit werden als autoritatives und nicht hinterfragtes Prozessrecht zugrunde gelegt (Joh 5,31; 8,13). Neben einer Vielzahl von Einzelthemen und -motiven wie dem eröffnenden Motiv des Kommens Jahwes zum Rechtsstreit (1,23; 2,13) und dem Verweis auf die Wüstengeneration Israels (5,5; 7,12) zeigt sich der weitreichendste Rückgriff auf alttestamentliche Motivik jedoch in auffallenden Parallelen zwischen der Prozessdarstellung des Evangeliums und dem alttestamentlichen Rechtsstreit Gottes mit Menschen, bei dem Gott sowohl als Ankläger wie auch als Angeklagter fungieren kann. Als wesentliche narrative Technik wird im Johannesevangelium wie in alttestamentlichen Rechtsstreitszenen eine Prozessszene wirkungsvoll durch Schlüssellexeme, forensische termini technici, eine funktionale Andeutung fo1

Siehe dazu den Forschungsüberblick in Kapitel I,1.

3. Die metaphorische Dimension: Der Bildbereich des Rechtsstreites

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rensischer Rollen oder durch die Andeutung eines gerichtlichen Schauplatzes und Gerichts-Settings evoziert, ohne dabei vollständig beschrieben zu werden. So wird sowohl in alttestamentlicher als auch in johanneischer Narration mit häufig minimalen Mitteln ein ganzes Setting skizziert, das erst in der Vorstellung des Lesenden zu einer voll ausgestalteten Gerichtsszene wird. Zu diesen Techniken gehört ferner, dass ein vollständiger Rechtsstreit aus nur einer Gerichtsrede erzeugt werden kann (vgl. Joh 5,19–47), die so als Anklage, Urteil und Richtspruch in einem erscheint. Ein weiteres gemeinsames Kernelement alttestamentlicher und johanneischer Rechtsstreitdarstellung ist das narrative Stummbleiben der Prozessgegner als rhetorisches Mittel, um ihre erfolgreiche Überführung anzuzeigen. Dabei erweist sich insbesondere die Koinzidenz von Rechtsstreitszene und Gerichtsrede als Indikator einer maßgeblich rhetorischen Funktion und affektiven Wirkung der Prozessmotivik auf die Lesenden. Wie im Rechtsstreit in Jes 40–55 verbinden sich auch im johanneischen Kontext forensische Einzelszenen in ihrer Abfolge zu einem Prozessmosaik, das zugleich einen dramaturgischen Spannungsbogen erkennen lässt. Angesichts dieser auffallenden motivischen Parallelen sollte der Zusammenhang johanneischer Prozess-Narration zum alttestamentlichen Rechtsstreit neu überdacht werden.2 Trotz zahlreicher motivischer Rekurse zeigen sich in der Prozessmetaphorik des Johannesevangeliums jedoch auch auffallend proprietäre und eigene Akzente in der Weiterführung und Transzendierung alttestamentlicher Motivik: In Übereinstimmung zu alttestamentlicher Motivik wird die Metapher des Rechtsstreites in der johanneischen Darstellung zum Vehikel, um Anfragen, Zweifel, Vorbehalte, Fragen und Anklagen gegenüber Gott von Menschen abhandeln und in argumentativer Form zur Entfaltung bringen zu können. Während sich in der alttestamentlichen Rechtsstreitmotivik dabei stets ein respektvoll eingehaltener und niemals überschrittener Abstand zur Unvergleichlichkeit und Konkurrenzlosigkeit des göttlichen Anspruchs zeigt, wird in der johanneischen Darstellung in der wohl auffallendsten Akzentsetzung ein Prozess-Setting kreiert, bei dem von Beginn an eine bizarre und unverhohlene Ablehnung artikuliert wird, in deren Zentrum das alttestamentlich unvorstellbare Motiv der Todesdrohung Gott gegenüber und am Ende die menschlich gewaltsam eingeforderte Lebenshingabe Jesu steht. Damit wird die Frage aufgeworfen, ob und wie die Welt ihren Schöpfer und Erhalter ablehnen kann und was geschieht, wenn die Welt sich Gott im Rechtsstreit nicht unterordnet. Die so aufgeworfene Frage beinhaltet alttestamentlich tatsächlich un-denkbare Vor2 Zu revidieren ist etwa die Ansicht von BEUTLER (1972), 306, „daß zwischem dem ‚Rechtsstreit Gottes mit Israel‘ (rîb) oder ‚mit den Göttern der Heiden‘ im AT und der joh Zeugenverhandlung kein nachweisbarer unmittelbarer Zusammenhang besteht“. Richtig sieht dagegen BLANK (1964), 200 und mit ihm eine Vielzahl weiterer Forscher einen engen Zusammenhang.

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Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

stellungen: Kann Gott als absoluter Richter vor eine menschliche Gerichtsbarkeit gezogen werden? Kann Gott selbst zum Tod verurteilt werden? Ist solch ein Verhalten nicht nur als Anmaßung der Welt möglich, bei dem Gott das bizarre Spiel mitspielt? Kann ein solches Verhalten der Welt ohne Konsequenzen bleiben? Ist umgekehrt eine solche „bis an den Rand der Selbsterniedrigung führende Bindung Gottes“ 3 an die Welt nicht zugleich ein überwältigendes Zeugnis seiner Liebe und Gnade für die Welt und darum Zeugnis für seine rettende Absicht? Die Rechtsstreitdarstellung im Johannesevangelium beantwortet diese Fragen mit der Selbsthingabe Jesu als Mittel des Heils für die Welt. Die johanneische Darstellung greift dazu zunächst auf das im alttestamentlichen Rechtsstreit Gottes mit der Welt bereits charakteristische Mittel der Rollenmodulation zurück. Ein wesentlicher Zug der johanneischen Darstellung zeigt sich im Rückgriff auf die alttestamentliche Motivik darin, dass Jesus zu Beginn jeder Auseinandersetzung als Angeklagter erscheint oder vorausgesetzt wird, die Rechtsstreitszene aber mit einer Rollenumkehrung endet, in der Jesus als Ankläger und Richter erscheint. Während sich in jeder alttestamentlichen Rechtsstreitdarstellung von Menschen mit Gott am Schluss das schweigende Zugeständnis der Menschen oder die direkte Unterordnung unter die Ansprüche Gottes findet,4 wird im Johannesevangelium die eschatologische Verurteilung der Welt in Joh 12,31–32 zwar vorgenommen, aber durch die Selbsthingabe Jesu überboten. Die Instrumentierung von multiplen forensischen Rollen mit paradoxen Rollenunionen von Ankläger und Angeklagtem wird im Johannesevangelium erst vor dem alttestamentlichen Hintergrund verständlich, in der Jahwe als Angeklagter, Ankläger, Richter und Zeuge auftreten kann. Wie im alttestamentlichen Rechtsstreit führt die ultimative Richterrolle Jesu dazu, dass er Zeugen nicht bedarf, aber aus Gründen der rhetorischen Persuasion von Menschen im Rechtsstreit aufrufen kann. Während die alttestamentliche Darstellung die absolute Rolle des ἐγώ εἰμι, ultimativen Richters, höchsten Zeugen und unwiderlegbaren Anklägers stets und selbstverständlich auf Gott selbst bezieht, zeigt sich im Johannesevangelium eine Transferierung auf Jesus als den in der Wirkeinheit mit dem Vater stehenden und vollmächtigen Sohn als auffällig eigenständiger Akzent. Besonders markant ist dies in Bezug auf die Rolle des Richters, die im Johannesevangelium im Gegensatz zur alttestamentlichen Darstellung dominant christologisch ausgerichtet ist. Eine Parallele der johanneischen Prozess-Narration zu alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik des kosmischen Prozesses zeigt sich darin, dass neben vordergründigen Rechtsangelegenheiten der eigentliche Streitpunkt in der Frage nach der Identität als ἐγώ εἰμι und der Frage nach der Legitimität des Anspruchs als wahrer Gott steht. Im Unterschied zur alttestamentlichen Akzent3 4

So SCHART (2014), 12 zum Verhalten Gottes im alttestamentlichen Rechtsstreit. Siehe zu diesem Befund Kapitel II,2.3.2.

3. Die metaphorische Dimension: Der Bildbereich des Rechtsstreites

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setzung ist diese aber dezidiert christologisch ausgerichtet. Ganz analog zur alttestamentlichen Darstellung fungiert die Metaphorik des Rechtsstreites im johanneischen Kontext auf unterschiedlichen Darstellungsebenen, bei denen neben den direkten Prozessgegnern auch ein erweitertes Publikum an Lesenden im Blick ist. Dass sich dabei die Darstellung von einzelnen Rechtsstreitszenen als repräsentativer Rechtsstreit zwischen Gott und der Welt mit kosmischer oder übernatürlicher Dimension erweisen kann, ist ebenfalls in alttestamentlicher Motivik grundgelegt. Wie in Jes 40–55 und überhaupt im alttestamentlichen Rechtsstreit Gottes mit Menschen steht damit letztlich eine persuasive Funktion im Hintergrund, durch die sowohl die Adressaten innerhalb der Prozessmetaphorik wie auch die als Lesende/Hörende vorausgesetzten Adressaten der literarischen Darstellung zur Umkehr und zum Glauben geführt werden sollen (20,31). Im Unterschied zur alttestamentlichen Prozessmotivik ist dabei jedoch eine einzigartige christologische Zuspitzung sichtbar.

3.2. Das Bildmosaik des Rechtsstreites als Träger theologischer Aussagen Obwohl die innere Dramaturgie von Joh 1–12 die Aufnahme einer Vielzahl von forensischen Motiven, alttestamentlicher Rechtsstreitsymbolik und literarischen Figuren in einer Weise arrangiert, durch die sich in der Makrostruktur ein Prozessablauf herauskristallisiert, wird diese Dramaturgie doch nie zum beherrschenden Element, dem alle forensischen Bezüge untergeordnet würden. Bereits die chiastische Anordnung von Joh 1–12 oder die Verteilung der Zeugenmotivik in Joh 1–12 muss als Hinweis gewertet werden, dass die Darstellung des Makro-Prozesses nicht als Gerichtsprotokoll in seinen korrekten Abläufen gelesen werden will, sondern vielmehr als thematische Anordnung, bei der einzelne Elemente des literarischen Prozess-Settings durch den Lesenden zu einem metaphorischen Ganzen zusammengesetzt werden sollen. Die Darstellung verliert sich also nicht in einer artifiziellen Prozess-Allegorie, die die erzählten Ereignisse auf eine ins Prozess-Setting zu übersetzende Chiffre reduziert, sondern bleibt bild- und symbolhaft darin, dass sich die einzelnen Prozessszenen zu einem Mosaik verbinden, das in der Überschneidung und Zusammenwirkung komplementärer Einzelakzente zunehmend das Bild eines metaphorischen Ganzen als Makro-Prozess und seiner Dramaturgie erkennen lässt. Der Makro-Prozess wird damit nicht simplizistisch als Ablauf imitiert, sondern als komplexes metaphorisches Geflecht evoziert und damit in seiner Gesamtheit erst in der Vorstellung des Lesenden imaginiert. Dies gilt umso mehr, insofern die stark forensisch konnotierten Diskurse (Joh 1,1–34; 2,13– 22; 3,11–36; 5,1–47; 7,14–10,42; 11,47–57; 12,37–50) in der Erzählung zwischen anderen Episoden eingebettet sind, die keine forensische Zuspitzung

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Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

erkennen lassen (Joh 1,35–51; 2,1–12; 4,1–54; 6,1–71; 11,1–46) und auch selbst durch die verwendeten Semanteme und Bilder stets so ambivalent bleiben, dass sie eine gleichzeitig forensische Metaphorik der Darstellung zwar nahelegen, aber nie als einzigen Verständniszugang erzwingen. Es wäre darum auch verfehlt, Prozess- und Rechtsstreitmotivik zum Deutungsschlüssel des Evangeliums zu erheben oder als motivischen Schlüssel der Darstellung zu strapazieren.5 Stattdessen spricht es für die Komplexität und Vielschichtigkeit des Evangeliums, dass die Botschaft und pragmatische Funktion des Evangeliums durch eine Sensibilisierung für forensische Motivik weitere Tiefe und Kontur gewinnt. Die ganze Darstellung fungiert damit als Mosaik, bei dem sich eine Vielzahl forensischer Motive, symbolischer Rollen, Topoi und Prozessabläufe zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Das umfasst neben den bereits genannten forensischen Rollen und Sachverhalten6 zahlreiche juristische Motive (Zeugenbefragung, Zeugenaussagen, Anklagen, Beschuldigungen, Urteile) sowie eine Vielzahl von Topoi des literarischen antiken Prozess-Settings (Glaubwürdigkeit von Zeugen, Kompetenz und Versagen von Richtern) auch solche Aspekte, die im Wesentlichen den Detailgrad der bildlichen Darstellung an paradigmatischen Passagen erhöhen.7 Diese Bildlichkeit steht maßgeblich im Dienst von theologischen Aussagen und einer narrativen Christologie, durch die der Lesende selbst in den Rechtsstreit involviert wird.8

3.3. Prozessmetaphorik als Theologie Überblickt man die Bildlichkeit als Gesamtmosaik, wie es in der Imagination des impliziten Lesers zusammengesetzt wird, ergibt sich neben der dramaturgischen Dimension zugleich ein thematisch kohärentes Gesamtbild eines Gerichtsprozesses. Dieses kann als Teil johanneischer Gerichtstheologie aufgefasst werden und verleiht dieser durch Konzentration auf die Prozessdarstellung neue Konturen: Im Rechtsstreit stehen sich Gott und die durch die Juden repräsentierte Welt gegenüber. Der Rechtsstreit wird durch das Kommen Jesu in die Welt als Offenbarer initiiert, das sowohl heilschaffende als auch bloßstellende Funktion 5 Damit ist die Sicht von LINCOLN (2000), 13 zurückzuweisen, die die Rechtsstreitmotivik zum „umbrella“ (aaO., 13) zahlreicher Themen johanneischer Theologie erhebt und nur der Christologie des Evangeliums unterordnen will: „[S]econd only to the narrative’s Christology, this metaphor of a lawsuit on a cosmic scale is the most distinctive characteristic holding many of the elements of its plot and discourse together“ (aaO., 13). 6 Siehe dazu oben Abschnitt 1. 7 Vgl. dazu etwa den hohen Detailgrad der Befragungsszene in Joh 9,1–34 oder die paradigmatische Sammlung von Anklagen in Joh 8,37–59. 8 Vgl. dazu die ähnlichen Schlussfolgerungen bei ASIEDU-PEPRAH (2001), 184–186 und LINCOLN (2000), 13.

3. Die metaphorische Dimension: Der Bildbereich des Rechtsstreites

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hat (Joh 1,4–5; 3,11–21; 8,12; 9,39–41; 12,46–48). Am Beginn steht damit das Zeugnis für die Wahrheit (Joh 19,37), das zugleich durch das Zeugnis des Johannes ergänzt wird (Joh 1,6–8.15; 1,19–34; 3,31–36). Durch Verwendung des Zeugenmotivs wird deutlich, dass das Zeugnis für die Wahrheit zunächst ein offenbarendes Zeugnis eines Augenzeugen ist, der in seiner Zeugenfunktion Ausschließlichkeit und zuverlässiges Wissen repräsentiert (Joh 1,18; 3,11–13; 3,31–36). Die Funktion Jesu als Offenbarer wird damit in dieser Symbolik ganz wesentlich über die Zeugenfunktion konkretisiert (Joh 3,13; 3,32–34; 8,14.18; 19,37). Zum anderen ist dieses Zeugnis immer zugleich anklagendes Zeugen gegen die Welt (Joh 3,19–21; 3,36; 5,45–47; 7,7; 8,14–18). Die Formulierung der Sendung Jesu als Kommen zum Gericht (Joh 3,19; 5,30; 8,16; 9,39; 12,31) und wiederum nicht zum Gericht (Joh 3,17; 8,15; 12,47) kreiert eine Dialektik, die erst über die Rechtsstreitsymbolik eine konsistente Kausalität entfaltet. Grundlegendes Ziel des kosmischen Prozesses ist in starker Kontinuität zu alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik die Versöhnung der Prozessparteien und die Wiederherstellung des Rechts. Die Rechtsstreitmotivik ist damit in der Lage, das Ziel der Sendung Jesu metaphorisch darzustellen und in logische und prioritäre Relation zu weiteren Zielen des christologischen Sendungsmotivs zu bringen. So steht logisch und zeitlich vorgeordnet die Anklage, insofern sich erst über den Erweis der Schuld das Heil eröffnet. Dagegen steht hinter der Anklage intentional prioritär das Ziel der Rettung (Joh 3,16–17), welcher selbst die Anklage untergeordnet ist. Die Rechtsstreitmotivik trägt somit wesentlich dazu bei, die als widersprüchlich erscheinenden Aspekte des Kommens Jesu zum Gericht und zur Rettung miteinander in Beziehung zu setzen und in ein Gesamtbild einzufügen. Um das Ziel der Rettung der Welt zu erreichen, ist die Anklage zunächst als rechtmäßig vom Angeklagten anzuerkennen (Joh 3,18–21; 8,21–24; 9,39–41; 12,48). Dazu wiederum sind Beweise in Form von Zeugenaussagen notwendig (Joh 1,6–9.15; 1,19–34; 3,11–12.33; 5,31–40; 8,14–18), deren Wert maßgeblich von Glaubwürdigkeit, Integrität und Kompetenz der Zeugen (Joh 5,31–40) sowie von der rhetorischen Präsentation der Beweismittel und der durch die Darlegung des Zeugen geweckten Überzeugung abhängig sind. Durch die Verarbeitung dieser Motive lässt sich die Prozessmotivik als Überzeugung und Überführung der Welt begreifen, durch die sie zum Glauben an Jesus als Retter der Welt geführt wird. Die Rechtsstreitmotivik deckt ferner die unterschiedlichen Konsequenzen der Reaktion des Kosmos (und als Teil solcher die Reaktion der Lesenden) ab und leitet damit in Brechung eines literarischen antiken Prozess-Settings zu einem konditionalen Urteil (12,47–48) über. Wird die Sünde anerkannt und von der Reaktion des Glaubens an Jesus abgelöst, steht am Ende des Prozesses nicht die Verurteilung, sondern die Rettung (3,16–17; 5,24; 12,46). Wer sich dagegen der Erkenntnis der eigenen Sünde verweigert, stellt sich selbst unter die Gültigkeit der Anklage (3,18.36; 8,24; 9,41; 12,48). Die Darstellung zentriert sich nicht nur in der forensischen Rollenfunktionalität

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Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

auf die Person Jesu in der Rollenunion von Ankläger, Zeuge und Richter, sondern auch darin, dass die Identität Jesu eigentlicher Prozessgegenstand ist und die (Glaubens-)Haltung Jesus gegenüber den Ausgang des Prozesses bestimmt (1,1–9; 5,17–29; 8,13.24.28; 10,24.30.36). Damit hat die johanneische Rechtsstreitmotivik eine wesentliche christologische Funktion in der Beschreibung der Rolle Jesu.9 Ferner wird diese Rolle in den Motivkomplex des Rechtsstreites eingebettet und weist damit nicht nur eine Einzelrolle aus, sondern liefert einen Rollenkomplex mit vielschichtigen Beziehungen.10 Erst so wird auch der Welt und den Lesenden eine Rolle im Rechtsstreit zugewiesen und ein Beziehungsgeflecht zwischen Welt und Leser auf der einen und Jesus auf der anderen Seite metaphorisch dargestellt. In unterschiedlichen Rollenparadigmen wird konkretisiert, wie das Zeugnis Jesu für die Wahrheit auf Menschen trifft, in welcher Weise sie darauf reagieren können und welches die Konsequenzen verschiedener Reaktionen sind.

9 Siehe zur christologische Funktion symbolischer Rollen insbesondere ZIMMERMANN (2004), 96–98. 10 Die Existenz solcher metaphorischer Netzwerke hat VAN DER WATT (2000) im Johannesevangelium in großer Breite dargestellt.

4. Die rezeptionsästhetische Dimension: Funktion und Wirkung der Rechtsstreitmotivik 4.1. Rechtsstreitmetaphorik als persuasive Technik Ein auffälliger Zug der Prozessdarstellung ist, dass diese sich zunehmend um die Identität Jesu zentriert und damit die Funktion der Rechtsstreitmotivik in den Dienst der Absicht des Evangeliums nach Joh 20,31 stellt. Die Rechtsstreitmotivik wird zu einem Vehikel, bei den Lesenden Glauben zu wecken und zu fördern,1 und hat damit eine wesentlich persuasive Absicht.2 Das Bild des Rechtsstreites erweist sich als persuasive Technik aus mehreren Gründen als besonders geeignet. Zum einen ist das Prozessgeschehen bereits im bildgebenden Bereich wesentlich auf rhetorisch-persuasive Wirkung als Versuch, den Prozessgegner zu überzeugen, angelegt, die sich auf den metaphorischen Bereich vererbt. Dabei ist ein komplexes Beziehungsgeflecht persuasiver Intentionalität der beteiligten Rollen am Werk, bei der die Reden von Angeklagtem und Ankläger nicht nur auf den Prozessgegner, sondern zugleich auf die beteiligten Richter und Prozesszuschauer zielen und wesentlich den zentralen und nahezu ausschließlichen Anteil rhetorischer Rede im Prozessverlauf in den Dienst affektiver und kognitiver Überzeugung stellen. Der hohe Anteil der Reden Jesu, die in ihnen verwendeten rhetorischen Stilmittel sowie die diskursive Gesamtanlage von Joh 1–12 stellen die johanneische Prozessdarstellung in den Dienst einer Persuasion, durch die zunächst die unmittelbaren Prozessgegner Jesu überzeugt und zum Glauben geführt werden sollen (vgl. Joh 5,24.34), dahinter aber auch die Lesenden selbst adressiert werden. Dass in einem Gerichtsprozess im Gegensatz zur einfachen Rede durch einen stark argumentativen Überhang mit interrogativer Dimensionalität von Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument in Form eines verbalen Schlagabtauschs gerade die oppositionelle Anlage konkurrierender Sicht1 Dieses Doppelziel nach Joh 20,31 gilt unabhängig von der textkritischen Entscheidung zwischen Aorist und Präsens von πιστεύω für das Evangelium (CARSON [1987], 639–651; CARSON [2005], 693–714). 2 Den engen Zusammenhang zwischen rhetorischer Persuasion und Prozessdarstellung hat von anderer Seite auch SHEPPARD (1999) in seiner Monografie erarbeitet, die das Johannesevangelium vor dem Hintergrund eines römischen Gerichtsprozesses und seiner Reden liest.

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Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

weisen präsentiert wird, ist ein weiteres Charakteristikum, durch das sich die Bildlichkeit des Prozesses in besonderer Weise als persuasive Technik eignet. Durch die verbale Präsentation konträrer Sichtweisen sowie die durch die Standpunkte von Zeugen noch gesteigerte Komplexität wird ein argumentativer Diskurs ermöglicht, der neben der kognitiv-propositionalen Präsentation von Argumenten und ihrer Widerlegung zugleich Handlungen, Affekte und emotionale Expression mit einschließt. Die Bildlichkeit des Rechtsstreites ist damit von einer plastischen Anschaulichkeit und figurativen Fasslichkeit geprägt, die in der Verschmelzung kognitiver, affektiver und existenzieller Dimensionen einzigartig ist. Insofern der Prozess maßgeblich durch die antagonistischen Sichtweisen von Ankläger und Angeklagtem geprägt wird, die für sich jeweils mehr als die Summe der Einzelargumente offenbaren, lässt sich der Rechtsstreit ferner als Auseinandersetzung konkurrierender Denkhaltungen und -paradigmen instrumentieren. In ausführlicher Manier können in der Prozess-Narration so nicht nur Vorbehalte, Vorwürfe oder Einwände der Lesenden Jesus gegenüber in Form von Anklagen ausgedrückt, unter verschiedenen Blickwinkeln thematisiert und widerlegt, sondern zugleich auf dahinterliegende Paradigmen zurückgeführt und damit auf die Frage des Glaubens transferiert werden. Weiterhin zeigt der bildgebende Bereich eines Gerichtsprozesses im Gegensatz zur einfachen Rede oder zum informellen Streitgespräch durch den stets zugrunde liegenden juristischen Anspruch, die Wahrheit ans Licht zu bringen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun, ein konzeptionelles Ziel als inhärente Voraussetzung, das sich in der johanneischen Darstellung mit dem Offenbarungsanspruch Jesu verbindet und diese Verschmelzung insbesondere im Zeugnismotiv zutage treten lässt.3 Die Prozessmotivik führt über den bloßen Ablauf eines Prozesses jedoch noch hinaus und deckt im Gegensatz zu einer Einzelmetapher oder einem Streitgespräch auch mögliche Leserreaktionen ab. Insofern der Angeklagte seine Schuld eingestehen oder sich der Anklage verweigern kann, weist die Prozessmetaphorik einen potenziell doppelten Ausgang auf, der sich bis in die Reaktion der beteiligten Parteien auf das Urteil fortsetzt. Als wesentlich erweist sich die persuasive Dimension damit insbesondere in der Reaktion des Angeklagten auf das Urteil, die vor dem Hintergrund alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik sogar als Kulminations- und Zielpunkt des Rechtstreites zu werten ist, insofern das konditional formulierte Urteil von der Reaktion des Angeklagten abhängig gemacht wird.

3

Durch die programmatische Selbstbezeichnung Jesu als Zeuge für die Wahrheit (19,37) wird die forensische Rolle Jesu expressis verbis in diesen Dienst gestellt. In der narrativen Untersuchung in Kapitel IV zeigte sich die darin angelegte Multidimensionalität des Zeugnismotivs als juristische und revelatorische Komponente auch in Passagen wie Joh 3,11– 21.31–36; 5,17–47.

4. Die rezeptionsästhetische Dimension: Funktion und Wirkung

339

Es ist damit die charakteristische Kombination der bildgebenden Vorfindlichkeit des Gerichtsprozesses, die rhetorisch-persuasive Gewichtung, argumentativ-affektive, kognitiv-paradigmatische und multidimensionale Adressierungsebenen sowie die Kulmination in der Reaktion des Angeklagten, durch die sich Prozessmetaphorik als geeignete Persuasionstechnik erweist. Dass diese Elemente bereits vollständig in alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik in metaphorischer Bildlichkeit instrumentiert werden, um nicht nur Auseinandersetzungen Gottes mit Menschen zu verbildlichen, sondern dabei zugleich in Form einer Anklage-Umkehrung die menschliche Kritik an Gott und seinem Handeln als absurde Anmaßung zu entlarven und durch die pädagogisch angelegte Metaphorik auf den menschlichen (Un-)Glauben Gott gegenüber hinzuführen, erweist sich die Prozessmetaphorik im Johannesevangelium nicht nur als adäquates, sondern geradezu ideales Mittel, um der kosmischen Auseinandersetzung zwischen Jesus als dem Sohn Gottes und der Welt Ausdruck zu verleihen. Als Pointe zeigt sich die zentrale Funktion der Rollenumkehrung und die damit verbundene Anklageumkehrung, durch die die Autonomie menschlicher Maßstäbe als unzulänglich dekuvriert und in ihrem Kern als Anmaßung bloßgestellt wird. In der spezifisch johanneischen Ausprägung ambivalenter Rollenzuteilungen und Anklage-Umkehrungen gewinnt der Rechtsstreit in der Verhandlung über Jesus als Sohn Gottes eine persuasive Gesamtwirkung,4 die sowohl auf eine apologetische wie accusatorische Wirkung abzielt. Einerseits bekräftigt die forensische Formalität die Glaubwürdigkeit der Aussagen für Jesus und erweist in jeder Rechtssache die Unschuld und Integrität Jesu. Scheint damit das Evangelium unter einer apologetischen Funktion zu stehen, bei der die Vorbehalte des impliziten Lesers in der Prozessmotivik als Anklagen dargestellt und zerstreut werden, so erweist sich eine Reduktion auf eine apologetische Konzeption aufgrund der dominanten Rollenumkehrung als verkürzt,5 insofern die Darstellung erst in Kombination mit einer accusatorischen Funktion die volle überzeugende Wirkung des Evangeliums entfaltet. Die Dualität von apologetischer und accusatorischer Funktion entspricht dabei der Doppelebene der narrativen Darstellung des Prozesses mit Jesus als Angeklagtem und Ankläger und wird in dieser Dialektik im Motivmosaik des Rechtsstreites in einen Kausalzusammenhang eingeordnet, der wesentlich den Glauben der Lesenden zum Ziel hat. Die Darstellung weist damit bereits auf eine starke Fokussierung auf den Lesenden als Rezipienten hin. 4 Eine solche Grundkonzeption des Evangeliums liefert Koinzidenzen mit Einsichten der Forschung. So wurde die persuasive Funktion der narrativen Gestaltung des Evangeliums auch von SHERIDAN (2016), 213–223 entfaltet. 5 Eine Reduktion der juristischen Motivik auf eine apologetische Funktion nimmt SCHNACKENBURG (1985), 274 vor, „auch dann, wenn es sich an juristische Vorstellungen bindet […] ja nur die Zuverlässigkeit des dargebotenen Zeugnisses bekräftig[en]“.

340

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

4.2. Die Inklusion des Lesenden im Rechtsstreit Der wesentliche Bestandteil der Rechtsstreit- und Prozessmotivik in der persuasiven Gesamtkonzeption des Evangeliums weist bereits auf eine maßgebliche Leserfunktion der Narration und damit über die erzählte Welt und ihre Figuren hinaus in die Erzählwelt zwischen Erzähler und Leser hin. Die Darstellung des kosmischen Prozesses vermittelt sich in ihrer überzeugenden, auf den Glauben zielenden Wirkung auf den Lesenden einerseits durch die Inklusion des Lesenden in den Rechtsstreit und andererseits durch die Charaktere der Darstellung. Bereits im Prolog wird dem impliziten Leser die Rolle als Prozesszuschauer zugewiesen, vor dessen Augen sich ein kosmischer Konflikt angekündigt, der in der Erzählung ausgetragen wird. Das Verhalten der Prozessgegner Jesu wird dabei beobachtend reflektiert und ethisch evaluiert. Vor den Augen des Lesenden ereignet sich ein Prozess, der durch Zeugenaussagen für Jesus auf unterschiedliche Reaktionen der Charaktere trifft: „The various characters in the narrative, most notably the leaders of the Jewish people, have to decide whether they will believe Jesus’ witness or the witness about him […].“6 In der Erzählwelt zwischen Erzähler und Lesenden werden die Figuren des Rechtsstreites damit zu repräsentativen und paradigmatischen Modellen unterschiedlicher Positionierung und Reaktion auf Jesus, anhand derer die Folgen unterschiedlicher (Glaubens-)Haltungen entfaltet werden (vgl. Tab. 16).7 Haltung

Vertreter

Prozessausgang

Verurteilung Jesu im Rechtsstreit Denunziation und Zeugnis gegen Jesus im Rechtsstreit Scheinbare Neutralität als tatsächliche Opposition Vordergründige Zustimmung als oberflächlicher Glaube Eintreten für Jesus in echtem Glauben

Juden als Prozessgegner Jesu (passim) Geheilter Gelähmter (5,1–16)

Verurteilung (12,48) Verurteilung (5,14)

Volksmenge (7,12–43)

Verurteilung (7,20)

Juden, die ihm geglaubt haben (2;23–25; 8,30–59) Blindgeborener (9,24–38)

Verurteilung (2,24–25; 8,37–45) Rettung (9,39)

Tab. 16: Paradigmatische Figuren im Rechtsstreit.

6

LINCOLN (1994), 6. Ähnliche Beobachtungen hat auch NEYREY (2007), 105 zu Joh 11–12 gemacht. Vgl. zu Figuren als Handlungsmodellen auch die Monografie von WAGENER (2015) sowie das Urteil von KUMLEHN (2013), 192: „Durch sie werden dem Leser unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten der Person Jesu sowie entsprechende Wege zum Glauben bzw. Muster der Ablehnung präsentiert.“ 7

4. Die rezeptionsästhetische Dimension: Funktion und Wirkung

341

Jede der Haltungen wird dabei nicht als monolithischer Zustand, sondern in der zeitlichen Darstellungskomponente als Entwicklung entfaltet, sodass insgesamt ein Spektrum beginnender, fortgesetzter, verdeckter, offener und verhärteter Ablehnung sowie umgekehrt ein beginnender, oberflächlicher, versteckter und offen bekannter Glaube sichtbar wird. Dass dabei einzig der echte Glaube zur Rettung führt, während alle anderen Haltungen zu einer Verurteilung im Rechtsstreit führen, bewirkt eine durchweg in der Darstellung präsente Polarisierung an der Person und Identität Jesu. Insbesondere erweist sich in den Handlungsmodellen die Haltung der Neutralität als fiktives Konstrukt, das letztlich mit der Haltung des Unglaubens gleichgesetzt wird. In Bezug auf die Konsequenzen diverser Glaubenshaltungen wird nicht nur der konditionale Ausgang des Rechtsstreites exemplifiziert, sondern auch ein deutlich negativer Übergang der Verurteilung offenbar, der symptomatisch für die Motivik des Rechtsstreites insgesamt ist: Das Motiv des Rechtsstreites dominiert im Evangelium mit Joh 1,1–34; 2,13–22; 3,11–36; 5,1–47; 7,14–10,42; 11,47–57; 12,37–50 in solchen Passagen, in denen Feindschaft Jesus gegenüber thematisiert wird, und dient dazu, die ablehnende Haltung Jesus gegenüber metaphorisch zu durchleuchten und hinsichtlich ihrer inhärenten Glaubenshaltung und ihrer Konsequenzen offenzulegen. Dies muss als Hinweis gewertet werden, dass die metaphorische Rechtsstreitdarstellung zugleich warnenden Charakter hat und insbesondere als Persuasion einer zweifelnden und ablehnenden Haltung fungiert. Durch Figuren als Paradigmen unterschiedlicher (Glaubens-)Haltungen im Prozess entfaltet die Darstellung eine pädagogische Funktion. Da der implizite Leser nur indirekt adressiert wird, kann er sich einerseits innerlich mit bestimmten Haltungen und Handlungen der Figuren identifizieren und dabei selbst überführt werden, kann sich andererseits aber zugleich wieder innerlich distanzieren,8 da er gerade durch das konditionale Urteil am Ende der Prozessdarstellung nicht endgültig in einer ablehnenden, zweifelnden Haltung festgeschrieben wird, sondern stets den Weg zur Rettung eröffnet bekommt. Wird der Lesende bereits durch die Figuren der erzählten Welt in die Reflexion von Handlungsmodellen geführt und durch die Identifizierung mit den Figuren selbst Teil der Prozess-Narration, so wird die Involvierung ins metaphorische Prozessgeschehen am deutlichsten in der dem Lesenden zugewiesenen Rolle des am Prozessverlauf beteiligten Prozesszuschauers. Als Beobachter wird der Lesende zugleich mit in das Prozessgeschehen involviert, insofern er den Konflikt, die Reden, die vorgetragenen Beweise und auftretenden Zeugen sowie den Charakter von Ankläger und Angeklagtem unweigerlich selbst beurteilt und somit selbst innerlich am Judikat über Jesus oder andere Charaktere partizipiert. Der Lesende nimmt damit implizit die Rolle eines Meta-Richters ein, der auch das im Prozess vorgestellte Urteil seinerseits beurteilen und 8

Vgl. ähnlich auch JOHNS/MILLER (1994), 523f.

342

Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

befragen kann. Insoweit die Richter des Prozesses Repräsentanten der Zuschauer sind, kann sich der Zuschauer mit der Meinung der Richter assoziieren oder sich von jener dissoziieren. Auf diese Weise führt die narrativ entfaltete Prozessmetaphorik den Lesenden unweigerlich zu einer eigenen Positionierung, die sich in Bewertung der Argumente, Anklagen und Gegenanklagen graduell zu einem eigenen Urteil hin entwickelt. Eine Prozessverurteilung kann damit jedoch (in starker Kontinuität zu alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik)9 zugleich zu einer Verurteilung des Zuschauers selbst werden, insofern er sich stark mit dem Angeklagten identifiziert. Insoweit der Lesende sich partiell in der Haltung des Unglaubens wiederfindet, wird er selbst zum Angeklagten des metaphorischen kosmischen Prozesses. Repräsentiert in den Juden, findet sich schließlich der Lesende in der Rolle des Angeklagten wieder. Während die symbolische Rolle des Angeklagten vom Leser noetisch auf die Juden als Repräsentanten der Welt bezogen wird, zeigt sich in der Erzählwelt zwischen Erzähler und Lesenden in der pragmatischen Funktion der Narration damit eine Zuweisung des Lesenden zur Rolle des Angeklagten (vgl. Abb. 14). Gerade in der Verwendung subtiler Rollenumkehrung wird so der Lesende in seinen Vorbehalten als Ankläger und gerade darin selbst als Angeklagter entlarvt, der selbst vor dem Urteil Jesu steht. Die johanneische Instrumentierung der Prozessmotivik zeigt damit, dass sich nicht Jesus vor der menschlichen, sondern der Mensch vor der göttlichen Gerichtsbarkeit zu verantworten hat. Angeklagter Symbolisch-noetische Kongruenz in der erzählten Welt

Juden/Welt

Symbolisch-pragmatische Kongruenz in der Erzählwelt

Lesender

Abb. 14: Rollenkongruenzen anhand der Rolle des Angeklagten.

In einer theologischen Pointe muss der Mensch als Teil des Kosmos somit zunächst seine selbst beanspruchte Judikation aufgeben und Jesus als vollmächtigen Richter und Offenbarer akzeptieren, um zum Glauben durchdringen zu können. Die johanneische Rollenumkehrung steht damit in engem Zusammenhang mit der textpragmatischen Funktion und der Perspektive des Lesenden. Nur der Lesende nimmt die doppelte Ebene der Darstellung wahr und fällt damit unwillkürlich selbst ein Urteil über die Charaktere der erzählten Welt, indem er sich dem Urteil Jesu anschließt. Die Prozessdarstellung bindet den 9

Siehe dazu insbesondere Jes 40–55 und dazu oben Abschnitt 3.1.

4. Die rezeptionsästhetische Dimension: Funktion und Wirkung

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Lesenden, der bereits vorher in einem eigenen Urteil über die Charaktere einbezogen war, nun auch persönlich in die Beurteilung ein. Auch in der Leserperspektive findet damit eine Rollenumkehrung von der urteilenden Position in die Position statt, über die geurteilt wird. Anhand der eigenen Position zu Jesus beantwortet sich für den Lesenden selbst die Frage, ob er Jesus feindlich gegenübersteht und sich damit selbst verurteilt oder sich dem Urteil Jesu anschließt.

4.3. Wahrnehmungshorizonte und Erkenntnisprozesse des Lesenden Die Inklusion in den Rechtsstreit bewirkt in der Prozess-Narration einen Erkenntnisprozess, der den Lesenden über verschiedene Wahrnehmungshorizonte der multidimensional angelegten Darstellungsebenen zum Glauben an Jesus als Christus und Sohn Gottes (Joh 20,31) hinführt. Unterschiedliche Wahrnehmungsebenen zeigen sich nicht nur in den unterschiedlichen Motiven des Rechtsstreites, sondern auch in dem dahinterliegenden Meta-Narrativ. Art des Rechtsstreites

Wahrnehmungshorizont

A B C

Rechtsstreit zwischen Menschen Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen Rechtsstreit zwischen Gott und der Welt

D

Prozess über Prozess-Settings und Wahrnehmungsparadigmen

Charaktere der erzählten Welt Lesender mit Kenntnis des Prologs Metaphorische Makroperspektive des Evangeliums Meta-Prozess um Glaubensentscheidung

Tab. 17: Wahrnehmungshorizonte des Rechtsstreites.

In der Narration des forensischen Prozesses ereignet sich zugleich ein kognitivepistemischer Prozess, der parallel zum juristischen Prozess voranschreitet. Der Wahrnehmungshorizont des Lesenden (vgl. Tab. 17) wird dabei über den Wahrnehmungshorizont der Charaktere der erzählten Welt (A) durch Leseranweisungen des Erzählers (B) erweitert und auf die metaphorische Dimension der Prozessdarstellung (C) hingeführt. Auf abstraktester Ebene (D) begreift der implizite Leser den Rechtsstreit schließlich als Paradigmenkonflikt, bei dem es nicht nur um die Beurteilung der Person Jesu geht, sondern sich mit dieser Beurteilung im Glauben zugleich die ganze Sichtweise auf die Welt ändert. Es geht beim Glauben an Jesus somit nicht nur darum, ihn in die eigene Vorstellungswelt zu integrieren, sondern sich zugleich auf ein grundsätzlich anderes (himmlisches) Denkparadigma (vgl. Joh 3,11–12) einzulassen. Gerade dazu wird die Auseinandersetzung in der Sprache eines Meta-Rechtsstreites geschildert, bei dem die forensischen Rollenkonstruktionen und damit das Paradigma

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Kapitel V: Zusammenfassung und Auswertung

der Art des Rechtsstreites selbst zur Diskussion stehen. Dieser Konfrontation kann sich der Lesende als Prozesszuschauer auch selbst nicht entziehen. Durch die Infragestellung des Paradigmas wird der Lesende in der Beurteilung konkurrierender Prozess-Settings selbst zur Entscheidung geführt, wer denn im großen kosmischen Prozess wirklich der Angeklagte ist und sich vor dem Richter zu verantworten hat. Im Mittelpunkt steht als entscheidende Verwurzelung der Rechtsstreitmotivik in der Zielsetzung des Evangeliums nach Joh 20,31 die Identität Jesu als Kulminations- und Scheidepunkt zwischen unterschiedlichen Denkparadigmen. Ist die Frage nach der Identität Jesu somit zwar zwangsläufig mit unterschiedlichen Denkparadigmen verbunden, wie die narrative Darstellung zeigt, so ist die Wahl zwischen diesen Paradigmen dennoch in der Frage nach der Identität Jesu zentriert und wird nur von dort her beantwortet. Durch die Multidimensionalität der Erzählebenen der narrativen Prozessdarstellung und ihrer Rollenkonflikte wird auch der implizite Leser in einen Identifizierungskonflikt geführt: Einerseits ist er als Mensch zunächst mit dem Kosmos identifiziert. Andererseits wird durch das Evangelium Sympathie für den Hauptakteur, die Person Jesu, geweckt, die sich nach der Zielsetzung von Joh 20,30–31 als erster Schritt zur Hinführung zum Glauben an seine Person darstellt. Überzeugung wächst damit durch partielle und sukzessive Identifizierung mit Handlungsfiguren, allen voran der Identifizierung mit der bereits im Prolog in seiner Herkunft und seinem Wesen darstellten Hauptperson Jesus selbst. Der Lesende wird auf diese Weise geschickt in eine Mittelposition rangiert, von der aus er die beiden konkurrierenden Prozess-Settings verstehen kann: Einerseits kennt er den Ursprung des Logos und seinen himmlischen Ursprung zusammen mit seiner Nähe zum Vater. Andererseits ist er selbst Mensch und kennt die Gegebenheiten und Verfahrensweisen gerichtlicher Beweisverfahren und die an Jesus herangetragene Skepsis gegenüber dem Anspruch als Gottesohn. Indem der Lesende vor die in unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen induzierte Widersprüchlichkeit unterschiedlicher Sichtweisen gestellt wird, ist er herausgefordert, auf die dahinterliegende Wirklichkeit zu blicken. Er wird durch den Prolog in die Perspektive von ‚oben‘ hineingenommen und kann damit beginnen, zu glauben.10 Der Lesende kann im Gegensatz zu den Charakteren der erzählten Welt die Existenz und auch die Notwendigkeit eines durch Unverständnis und Unvermittelbarkeit charakterisierten Paradigmenkonflikts verstehen. Die Darstellung ist dadurch im besten Sinne pädagogisch, dass der Lesende sich bereits innerlich dem Urteil Jesu angeschlossen hat. Sie lenkt den Lesenden bereits auf gedankliche Bahnen und Überzeugungen, die vorerst nur in der erzählten Welt funktionieren und doch bereits über diese hinausweisen. Den Lesenden zu solchen Gedanken zu führen ist damit ein erstes grundlegendes Ziel der Narration. Das Evangelium führt 10 KUMLEHN (2013), 191f. vergleicht dies mit einem verstehenden ‚Sehen‘ als Wahrnehmungshorizont.

4. Die rezeptionsästhetische Dimension: Funktion und Wirkung

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jedoch dahin, auch die Gedanken des Lesenden in der realen Welt zu ändern, und verfolgt damit ein zweites grundlegendes Ziel. Dieses besteht darin, den Lesenden in seiner realen Existenz und Situation mit der von ihm bereits richtig beurteilten Situation in der erzählten Welt zu verbinden. Durch diesen Transfer wird der Lesende selbst vor die Wahl gestellt und mit Konsequenzen für sein eigenes Leben konfrontiert. Der Lesende wird damit in einen Erkenntnisprozess geführt, der seine Sicht in der Narration transformiert. Dabei wird die Frage nach der Un-/Schuld Jesu zum Kristallisationspunkt einer Frage, die auf einer rezeptiven Metaebene angesiedelt ist und das Setting selbst infrage stellt. Mit einer Wandlung dieses Settings wird zwar auch die Frage nach der Schuld beantwortet, in erster Linie aber eine völlig andere Sichtweise auf dieselben Fakten ermöglicht. Es ist eben diese Sichtweise, die das Evangelium mit dem Glauben an Jesus als Christus und Sohn Gottes (Joh 20,30–31) zum Zielpunkt hat.

Ergebnis und Ausblick Die narratologische Untersuchung von Joh 1–12 und Joh 18–19 ergab, dass die Rechtsstreit- und Prozessmotivik des Johannesevangeliums einen außergewöhnlichen Schwerpunkt in der Erzählung bildet und in ihrer Funktionalität intrinsisch mit der Zielsetzung des Evangeliums (Joh 20,31) verbunden ist. Besonders signifikant ist dabei der Befund, dass eine Häufung forensischer Motive in Joh 1–12 einer antiklimaktischen und von intratextuellen Rückverweisen geprägten Erzählweise in Joh 18–19 gegenübersteht. So wird bereits in einer Vielzahl von Rechtsstreit- und Prozessszenen in Joh 1–12 das Bild eines Gerichtsprozesses evoziert, der alle Elemente einer Gerichtsverhandlung trägt und auch in der Gesamtheit forensischer Szenen die Dramaturgie eines in der narrativen Makrostruktur angelegten Prozessverlaufs erkennen lässt. Als wichtigstes Ergebnis der vorliegenden Arbeit kann damit festgehalten werden, dass in der narrativen Konzeption des Johannesevangeliums die Schilderung eines Prozesses zwischen Jesus und den Juden nicht in Joh 18,19–24, sondern in narrativer Form in einer Vielzahl von Rechtsstreit- und Prozessszenen geschildert und damit auf eine ausführliche metaphorische Prozessdarstellung Joh 1–12 verlagert wird.1 Zugleich zeigt die Art der narrativen Darstellung den defizitären Charakter der Bezeichnung eines ‚jüdischen Prozesses‘ gegen Jesus, insofern die narrative Darstellung in Joh 1–12 durch eine ausgeprägte Ambivalenz der forensischen Rollen gekennzeichnet ist, sodass sachgemäßer von einem Prozess zwischen Jesus und den Juden als Repräsentanten der Welt gesprochen werden muss, bei dem nicht Jesus, sondern die Welt vor Gericht steht. Der so evozierte metaphorische Prozess vermittelt sich zunächst durch eine Vielzahl von prominent in der Erzählung positionierten juristischen Sachverhalten, Anklagen, forensischen Rollen, Motiven, gerichtlichen Topoi, Bestandteilen eines literarischen antiken Prozess-Settings und stark forensisch ausgerichteten Erzählerkommentaren und fügt sich durch Erzählstränge auf mehreren narrativen Ebenen zu einem Bildmosaik zusammen, das in der Darstellung von Joh 1–12 einen voll ausgestalteten Gerichtsprozess erkennen lässt und hinter Einzelepisoden und -szenen auch in dramaturgischer Hinsicht den Ablauf 1 Die in der Forschung immer wieder und meist durch Zugrundelegung eines synoptischen Vergleichs geäußerte Vermutung (siehe dazu Kapitel III,1.4, insbesondere Anm. 97) lässt sich damit nicht nur bestätigen, sondern zugleich für eine Untersuchung des Evangeliums in seinem eigenen Kontext und ohne Bezugnahmen auf synoptische Prätexte erweisen.

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Ergebnis und Ausblick

eines Gerichtsprozesses entfaltet.2 Dabei fungiert der Prolog (Joh 1,1–18) in seiner auffälligen forensischen Akzentsetzung zugleich als Prozesseinführung, auf die der Auftritt des Hauptzeugen Johannes (Joh 1,19–34), die erste Begegnung der Prozessparteien (Joh 2,13–22) und die Darlegung und Verhandlung der Hauptanklagen (Joh 5,1–47) der Blasphemie und des Sabbatbruchs folgen. Nach einem narrativen Seitenblick auf das Urteil der anwesenden Prozesszuschauer (Joh 7,14–24) zeigt die Ausweitung auf weitere Anklagen (Joh 8,12– 59), die repräsentativ für sämtliche nur denkbaren zwischenmenschlichen und auf Gott bezogenen Delikte stehen, zunehmend den universellen Charakter der Verhandlung, in deren Mittelpunkt nicht mehr einzelne Taten stehen, sondern das Schicksal jedes Menschen in Verbindung zu der Frage nach der Identität Jesu als vollmächtigem ICH BIN gesetzt wird. Dass schließlich die menschliche Jurisdiktion selbst zum Prozessgegenstand (Joh 9,1–39) wird, führt den Prozess über letzte Anklageplädoyers (Joh 9,40–10,21), das Geständnis des Angeklagten (Joh 10,22–39) und die Urteilsverkündung (Joh 11,47–53; 12,37– 50) seinem Ende zu. Indem in einer dramaturgischen und theologischen Pointe das abschließende Urteil Jesu (Joh 12,44–50) zu einem konditionalen Urteil wird, bei dem der Glaube an ihn als Christus und Sohn Gottes über das eschatologische Verdikt entscheidet, wird die Frage des Glaubens für den Lesenden in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt (vgl. Joh 20,31). Das hervorstechende Merkmal der johanneischen Prozessdarstellung ist eine der narrativen Präsentierung inhärente Ambivalenz, die eine grundlegende Dualität entgegengesetzter Prozess-Settings und damit einhergehender konfliktärer Belegungen der forensischen Rollen erkennen lässt. Während in der erzählten Welt die Juden in zahlreichen Streitgesprächen als Ankläger gegen Jesus agieren, wird dieses Prozess-Setting auf einer höheren, metaphorischen Erzählebene durch ein dazu konkurrierendes Prozess-Setting unterlaufen, bei dem Jesus in einer Rollenunion als Richter, Ankläger und Zeuge gegen die durch die Juden repräsentierte Welt auftritt. Bleibt die forensische Rollenbelegung dabei durch die Dualität der Erzählebenen stets ambivalent, sodass der metaphorische Prozess in Joh 1–12 sowohl als Verurteilung Jesu als auch als Verurteilung der Juden gelesen werden kann, zeigt sich in der Dramaturgie am Prozessende zunehmend eine grundlegende Asymmetrie, bei der die Möglichkeit einer menschlichen Jurisdiktion über Jesus hinterfragt wird und das Urteil Jesu über den Kosmos als alleiniges Urteil stehen bleibt. Die Ambivalenz der dualen Prozessdarstellung erweist die in der Forschung diskutierte Einordnung johanneischer Rechtsstreitdarstellung in die statische Alternative zwischen bilateralen Streitgesprächen und trilateraler Prozessmetaphorik als verkürzt.3 Ebenso unzureichend ist die Postulierung von punktuel2

Die dramaturgische Gesamtanlage von Joh 1–12 als Prozessverlauf wurde in der bisherigen Forschung übersehen (vgl. den Forschungsüberblick in Kapitel I,1). 3 Siehe zur Begrifflichkeit und Forschungssituation den Überblick in Kapitel I,1.

Ergebnis und Ausblick

349

len Übergängen und Rollenwechseln, durch die in einzelnen Passagen der Narration zwischen konkurrierenden Prozess-Settings eines Prozesses mit Jesus als Angeklagtem zu einer Prozessdarstellung mit Jesus als Richter gewechselt wird. Stattdessen zeigt die durch Ambivalenzen geprägte Darstellung eine durchgängige Gleichzeitigkeit multipler Erzählebenen, die von Beginn der Erzählung an parallel zueinander verlaufen, den Rechtsstreit in kontradiktorischen Prozess-Settings entfalten und damit zugleich zu zwei grundlegenden Wahrnehmungsparadigmen und Sichtweisen über Jesus korrespondieren. Die bisherige Forschung musste notwendig einseitige Übergänge sehen, solange die im Evangelium dominierende forensische Wortgruppe der Zeugnismotivik auf eine rein revelatorische Metapher oder eine streng apologetische Funktion vor dem Hintergrund antiker Entlastungszeugen enggeführt wurde. Dagegen wurde der in der alttestamentlichen Wissenschaft nachgewiesene Befund, nach dem Zeugen im alttestamentlichen Zeugenrecht prädominant anklagende Funktion haben, bisher nicht in die johanneische Forschung eingebracht. Dies ist umso bemerkenswerter, insofern gerade die in der Konzeption der gerichtlichen Verteidigung als Gegenanklage konstituierte inhärente Verbindung von Verteidigung und Anklage ein wesentliches Proprium sowohl alttestamentlicher als auch johanneischer Darstellung ist und die forensische Rolle des Zeugen zum Scharnier der multiplen Darstellungsebenen macht. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass die Rechtsstreitmotivik wesentlich stärker in alttestamentlicher Motivik verwurzelt ist, als bisher wahrgenommen wurde, und gerade die im alttestamentlichen Hintergrund angelegten funktional fluiden forensischen Rollen, paradoxe Rollenunionen, die zentrale Funktion rhetorisch ausgestalteter Gerichtsreden, multiple Sinnebenen mit unterschiedlichen Adressatengruppen und eine stark persuasive Grundkonzeption der Rechtsstreitmetaphorik ein starkes Wirkpotenzial in der johanneischen Darstellung entfalten. Von hier aus eröffnen sich neue Verständnishorizonte, insofern die für das Johannesevangelium so charakteristischen Züge der ambivalenten forensischen Rollen, der inhärenten Verschmelzung von Verteidigung als Gegenanklage sowie zahlreiche Charakteristika forensischer Szenen bereits in der alttestamentlichen Motivik des kosmischen Rechtsstreites Gottes mit der Welt vorgeprägt sind. Der im Johannesevangelium evozierte kosmische Prozess zeigt damit einerseits zahlreiche motivische und konzeptionelle Parallelen zu alttestamentlicher Rechtsstreitmotivik, transzendiert diese jedoch andererseits durch eine einzigartige christologische Zuspitzung und die alttestamentlich un-denkbare Vorstellung, den göttlichen Richter der menschlichen Strafverfolgung und Kapitalgerichtsbarkeit auszuliefern. Die Paradoxie des angeklagten Richters wird damit zum narratologischen Mittel, um die autonome menschliche Jurisdiktion und Urteilsbildung über Jesus als absurdes Konstrukt zu erweisen, das vielmehr selbst zum Gegenstand der Judikation durch Jesus als vollmächtigen Richter wird. So lässt sich in der Zurückweisung der Anklagen gegen Jesus

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Ergebnis und Ausblick

nicht nur eine apologetische Zielrichtung erkennen, die in jeder vorgebrachten Rechtssache die Unschuld Jesu erweist, sondern in der Paradoxie der Dualität konkurrierender Prozess-Settings und der Modulation zwischen grundlegenden Paradigmen des Rechtsstreites eine Dynamik erkennen, die nicht nur den Lesenden selbst in den Rechtsstreit involviert und als Teil des Kosmos accusatorisch vor Jesus als Richter stellt, sondern auch konsequent auf eine höhere Abstraktionsstufe metaphorischer Rechtsstreitdarstellung zuläuft, bei der nicht Einzelvergehen, sondern konkurrierende Paradigmen einer Sichtweise auf Jesus verhandelt werden. Die im Prozess thematisierte Frage nach der Identität Jesu wird damit narratologisch auf die Verhandlung von zwei diametral entgegengesetzten Sichtweisen über Jesus transferiert, die sich in einem horizontal vorgenommenen Dualismus als Perspektiven von ‚oben‘ und von ‚unten‘ gegenüberstehen. Durch die Dualität der Erzählebenen wird damit die im metaphorischen Rechtsstreit verhandelte Frage nach der Identität Jesu zum Kristallisationspunkt der Glaubensfrage, die juristische Kategorien ebenso wie Rechtsstreitparadigmen transzendiert und den Lesenden mit der Frage nach dem Glauben an Jesus als Christus zugleich in eine damit intrinsisch verbundene Wahl zwischen kontradiktorischen Paradigmen stellt, der er sich nicht zu entziehen vermag. Die Verwendung von Prozess-Motivik zeigt eben darin eine stark persuasive Funktionalität, in der die Prozessmotivik zum Instrument wird, den Lesenden zum und im Glauben zu führen, und steht damit fest in der Schreibabsicht des Evangeliums nach Joh 20,31. Die Verwendung der Rechtsstreitmotivik konstituiert somit ein äußerst komplexes narratives, motivisches, metaphorisches, funktional persuasives und rezeptionsästhetisch vitales Flechtwerk, das mit narrativer Christologie, symbolischen Rollen, Momenten präsentischer und eschatologischer Gerichtsdarstellung, dualistischen Konzepten, diversen (Miss-)Verständnis-konzeptionen und zahlreichen weiteren Akzenten zentrale Themen johanneischer Theologie berührt. Durch eine Würdigung johanneischer Rechtsstreit- und Prozessmotivik ergeben sich damit nicht nur neue Anknüpfungspunkte und Forschungsperspektiven in der Exploration metaphorischer Rechtsstreitmotivik in anderen thematischen Zusammenhängen, sondern auch aussichtsreiche Möglichkeiten, die in Joh 1–12 zutage geförderten Akzente auf die im vorliegenden Kontext nicht untersuchten Passagen zu erweitern. Dabei wäre insbesondere zu fragen, in welchem Licht das Zeugnismotiv und die Fortführung der dualen Erzählebene in Joh 13–17 wirken und wie sich die auf den Pilatusprozess folgende Passions- und Auferstehungserzählung in Joh 19–21 anschließt. Die Rechtsstreitmotivik und Prozessdarstellung im Johannesevangelium erweisen sich damit als tiefgehender Bildkomplex, der zentrale Akzente johanneischer Theologie vereint und plastische Anschaulichkeit mit tiefgreifender theologischer Reflexion verbindet. Sie eröffnen neben einem Mikrokosmos narrativer Christologie einen neuen Blickwinkel darauf, wie das Evangelium der in Joh 20,31 geäußerten Schreibabsicht dient, dem Lesenden Jesus als

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Christus und Sohn Gottes zu präsentieren. Im Zentrum der narrativen Darstellung ist es gerade die Paradoxie diametral entgegengesetzter Prozess- und dahinterstehender Wahrnehmungs- und Glaubensparadigmen, durch die der Lesende zum Glauben an Jesus geführt wird und die sich in ihrem Kern auf jene Paradoxie zurückführen lässt, die wie keine andere die Prozessdarstellung prägt – die des Richters und seiner Ankläger.

Literaturverzeichnis In Zitaten verwendete Hervorhebungen in Form von Kursivdruck entstammen, soweit nicht anders vermerkt, dem Original. Die im Literaturverzeichnis verwendeten Abkürzungen richten sich nach SCHWERTNER, S. (2014): Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 3., überarb. u. erw. Aufl. Berlin: Walter de Gruyter.

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Stellenregister Die Abkürzungen biblischer Bücher und außerkanonischer Schriften folgen dem Abkürzungsverzeichnis der RGG4 (Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007). Wenn nicht anders vermerkt, wird nach den im Literaturverzeichnis unter Primärquellen aufgeführten Textausgaben zitiert.

I. Altes Testament Genesis 1 1,1 1,2 1,3–5 1,13 1,30 2,2 2,7 2,9 3,8–9 4,8–16 18 18,1–8 18,15 18,25

142 142 142–143 142–143 142 142–143 209 142–143 142–143 66 66 264 264 264 66, 264

Exodus 20,2–4 20,8–11 20,10 20,12 20,13 20,14 20,15 20,16 20,17 21,12 21,15–16 21,23–25 22,17

211 196 200 261 243, 260, 263 260 261 260, 263 260 43, 263 43 49 43

22,19 22,20–26 22,27 23,2 31,14–15 31,14 31,16–17 35,2

43 263 263 301 43 202 200 202

Leviticus 18,23 20,1–5 20,8 20,10 20,11–17 20,15–16 20,37 24,15–16 24,16 24,17–22 24,17 26,16

44 43 43 43 44 44 43 43 168, 205 44 43 171

Numeri 15,30–31 15,30 21,4–9 35,16–21 35,20 35,30

205 263 180 43 61 43, 50, 61–62, 129, 225, 249, 252

374 Deuteronomium 2,14 5,14–15 5,17 13 13,2–19 13,2–15 13,2–11 13,3 13,6–16 13,7 13,10 13,13–17 13,15 16,18 17,1–6 17,1–5 17,1 17,2–13 17,2–7 17,2 17,3 17,6

Stellenregister

19,17 19,18–19 19,19–20 19,19 21,3–8 21,5

198 200 243 240 43 61 43 240 157 240 43 43 157 43 62 61 61 157 43 61 61 43, 50, 52, 61–62, 129, 157, 225, 228– 229, 249, 252 43–44, 62 64 43, 157 157 43 232 43 43 263–264 63, 301 54 43, 50, 61–62, 129, 225, 228–230, 249, 252 43, 64 44 54 63, 244, 263 43 43, 157

21,18–21 21,19 22,22

43 43 43

17,7 17,8–9 17,9 17,10 17,12 18,15–18 19,11–12 19,12 19,15–21 19,15–20 19,15–19 19,15

24,7 24,8 25,7–8 27,26 30,19 32,1 32,26 33,10

43 157 43 263 66 66 75 46

Ruth 4,1–12

43

1. Könige 21,10

43,61

2. Chronik 19,8 19,11

43, 157 43, 46

Hiob 9,2–4 9,3–4 9,14–15 9,19 13,3–8 13,18 13,22 23,4–6 23,4 38–41 38,2–39,30 40,2–5 40,6–41,26 42,1–6

69 83 69, 83 43 69 43 69 69 43 69 69 69 69 69

Psalmen 18,10–12 68,5 68,34 69,10 72,2–7 82 82,1 82,1–7 82,2 82,3 82,6 82,7 82,8

75 75 75 169, 172 76 76, 291–292 76, 291 76 76, 291 76 131, 283, 290–292 291–292 76, 292

Stellenregister 104,3 109,31 142,5

75 45 45

Sprüche 25,8 14,25

43 44

Jesaja 1,2 1,21 3,13–26 3,13–14 3,13 5,3 5,8–25 6 6,8–13 6,9–10 6,10 6,11–13 6,11 8,2 19,1 40–55

40–54 40–45 40 40,1–11 40,3–5 40,3 40,5 40,10–13 40,11 40,12–31 40,12–26 40,18 40,21 40,22

66, 227 66 65 227 73 82 65 305–306 68 132, 305 133, 159, 278, 283– 284, 305–306, 308 306 306 62 75 10, 12, 18, 60, 71– 74, 77–79, 81, 85– 87, 130, 148, 151, 153, 159, 166, 168, 179, 211, 216, 227, 233, 250–252, 254, 259, 265, 278, 305, 324, 331, 333, 342, 76, 80 77–78, 80–81, 86, 148, 179 162 78 169 133, 148, 159–160, 163, 169 169 74 282 159 78 80 74, 80, 179 80, 179

40,27–31 40,27–28 40,27 40,28–41,7 41–43 41,1–7 41,1–4 41,4 41,8–20 41,21–29 41,22–23 41,26–27 41,26 42–43 42,1–9 42,3 42,4 42,6–7 42,6 42,8 42,9 42,10–17 42,18–25 42,18–19 42,19 43,1–7 43,8–13 43,8–12 43,8 43,9–10 43,9 43,10–13 43,10

43,11 43,12 43,13 43,14–21 43,22–28 43,22–24 43,24–28 43,25 43,26 43,28–41,7 44,1–5 44,6–23 44,6

375 78 70, 73 70 70 70, 79 73, 77–78 80 73–74, 80 78 73–74, 77–79 74 74 74, 80, 179 265 78 251 251 278 148, 251 168 74, 179 78 70, 73, 77–79 80–81, 278 283 78 73–74, 77–80, 227 227 74, 80, 278 44 44, 74 80, 254 67, 73–74, 80, 94, 148, 159, 168, 230, 254–255 74, 148 44, 67, 74, 80, 159, 179, 230, 254–255 73–74, 80, 94 78 70, 77–78 70, 72 70–71 73–74, 94 70 70 78 77–78 80, 94, 148

376

Stellenregister

44,7–9 44,7–8 44,8 44,24–45,8 44,24 45,5 45,7 45,9–13 45,9 45,14 45,18 45,19 45,21 45,25 46,6–11 46,9–11 48,2 48,3 49,6–9 48,6 49,6 50,1–3 50,1 50,2–3 50,7–9 50,10 51,11–15 51,12 53,1 59,9–11

227 74, 80, 179 67, 74, 80, 159, 230 78 94 94, 148 148 70–71, 77–78 72, 83 148 94 73 74, 148, 179 73 227 74, 179 168 74, 179 278 74, 179 148, 251 70 70 71 152 153, 168 74 73 133, 159, 304, 308 131

Jeremia 2 2,4–3,3 2,4–13 2,12 2,20 3,2–9 5,21 17,21–22 19,10–14 23 23,1–8 23,1–4 26,1–19 26,17 29,21 29,23 32,10

227 65 86 66, 227 66 66 283 196 166 284 282 131 171 44 67 67 62

32,25 32,44 34,8–22 42,12–18 44,10–14 45,5 49,19 49,38

62 62 65 66 65 67 43 75

Ezechiel 1,28 2,1 5,5–17 10–11 16,1–52 16,15–41 23,7–44 34 34,1–10 34,2–31 34,5–10 34,11 34,17–22

94 94 65 266 65 66 66 283–284 131 282 284 131 131

Daniel 7 7,9–14 7,9–10 7,13–14 7,13 7,14 10,9 10,10 12,2

219 75 75–76 76, 188, 219 75, 179, 219, 303 75–76, 219 94 94 76, 219

Hosea 2,4–17 2,4–6 4,1–10 4,10–18 6,1–2

65 66 65, 227 66 227

Joel 4,1–2

75

Micha 1,1 1,2–7 1,2

72 72–73 67, 72

377

Stellenregister 1,3–7 1,5 1,9 6,1–8 6,1–5 6,1 6,3–8

72 72 72 71 71, 227 66 71

Nahum 1,3

75

Habakuk 1–2 1,2–2,5 1,2–4 1,5–11 1,12–2,1 2,1–20

67 71 68 68 68 68

Sacharja 11 11,4–17 11,15–17 13,7 14,1–5

284 282 131 282 75

Maleachi 1,2–2,17 1,2–14 1,2–5 1,2 1,6–2,16 2,14 2,17 3,1–5 3,1 3,3–5 3,3 3,5

71 72 71 67 71 67 67 172 159, 163, 172 159 170 67, 170

II. Alttestamentliche Apokryphen und Pseudepigraphen Aristeasbrief

116

Psalmen Salomos

117

Testament Abrahams

117

Sapientia Salomonis 1,6 55

Testament Judas 20,5

51

Testament Levis

116

Zusätze zu Daniel 1,21–62 50 1,61–62 54

III. Qumranschriften CD (Damaskusschrift) IX 2–20 50 IX 3–4 49, 51, 253 IX 16–23 50 IX 17–23 51, 253 IX 20–23 50 X1 53 X 2–3 53 X 4–8 54

1QS (Gemeinderegel) I 10 261 VI 1 54 VI 8–9 54 VI 23 54 XI 1 50 4Q381 LXXVII 7–13

55

378 4Q443 II 6–7

Stellenregister LXI 6–10 LXI 6–7 LXI 8–9 LXI 9–10 LXIV 8–9 LXIV 8

55

11QTa (Tempelrolle) LI 16–18 55 LXI 6–11 51

50, 54 50, 253 49, 54 54 50 51, 253

IV. Jüdisch-hellenistische Literatur Flavius Josephus Antiquitates Judaicae IV 115, 117 IV 219 50, 53–54, 253 X 90 171 XIV 115, 117 Bellum Judaicum I IV 151 IV 160 V 194 VI 124–126

116 97 97 47 47

Contra Apionem II 27

55

Philo von Alexandrien Apologia pro Judaeis

46

De decalogo 138–141

115, 117 50

De posteritate Caini

115, 116

De specialibus legibus IV 115, 117 IV 41–44 50 IV 54 50 Legatio ad Gajum 31 47 Legum allegoriae II III III 208–228

115 116 115, 117

Quod deterius potiori insidiari soleat 115, 116

V. Griechisch-römische Autoren Apuleius

Cicero

Apologia 61–62

41

Aristoteles Rhetorica I 14,6 I 15,15 I 15,21 II 1,1–8

35 35 35 36

De Republica 1,59

42

In Verrem II 5,57

57

Pro M. Fonteio 21

59

Pro P. Quinctio 75

41

379

Stellenregister Pro P. Sulla 79

Leges duodecim tabularum 41

I 6–9

Pro Sex. Roscio Amerino 36 226 101–102 226 Topica 73

Pindar Pythien 4,167

Apologia 31c

35, 58

Plutarch

226

Cato minor 19,4

Isocrates Orationes 6,31–32 17,54 18,15 21,4 21,14

35

Plato

41

Demosthenes Orationes 46,9

36

41

Valerius Maximus

226 226 226 226 226

Facta et dicta memorabilia VIII 5,6 41

VI. Neues Testament Matthäus 1–28 18,15–17 18,15 26,59–61 26,65 27,12

115–117, 125 50 51 170 51 121

Markus 1–16 14,55–61 14,55–58 14,61 14,63

115, 117, 125 124 170 121 51

Lukas 1–24 3,16 22,71–23,9 23,9 23,14–15 23,40 24,20

115, 117, 125 122 124–125 121 39 125 125

Johannes 1–12

1–8 1–4 1–2 1 1,1–34 1,1–18

2–4, 14–16, 19, 28– 29, 33, 91, 93, 97– 103, 110–113, 115, 117–121, 123–125, 127–129, 131–133, 135–137, 140–144, 146, 148, 150–152, 154, 156, 158–159, 235, 267, 271, 284, 286, 297, 300, 302– 304, 306–310, 313– 314, 316–319, 321– 323, 325–329, 333, 337, 347–348, 350 117 192 133 8–9, 13, 117, 158, 164, 190 133, 333 16, 124, 130, 132– 134, 139, 160–161,

380

1,1–13 1,1–9 1,1–5 1,1–4 1,1–3 1,1–2 1,1 1,2 1,3 1,4–9 1,4–8 1,4–5

1,4 1,5

1,5–13 1,5–9 1,6–9 1,6–8

1,6 1,7–10 1,7–8 1,7 1,8 1,9–13 1,9–12 1,9–11 1,9

1,10–12 1,10–11 1,10

Stellenregister 184, 190, 192, 302, 308, 320, 322, 325, 348 141 336 141–142, 144–145 144 141, 149 148 139–140, 142–143, 148, 174 142 142 131, 251 177 133, 140–141, 143, 152–153, 163, 173, 180, 194, 199, 232, 243, 277–279, 307, 322, 335 139, 141, 143, 145 141, 143–145, 148– 149, 159, 171, 174, 182, 199, 322 143 251 322 125, 141, 146, 148, 154–155, 157–158, 322 142, 244 130 118, 135, 140, 146, 150, 251, 316 118, 123, 135, 139, 147, 152, 314 123, 139, 154, 158, 231, 244 141, 145 171 170 141–142, 145, 152, 173, 180, 277–279, 307, 322 141, 322 103, 143, 145, 151, 174, 182, 308 144, 148, 151, 159– 160, 163, 199

1,11–12 1,11

1,12 1,14–18 1,14 1,15

1,16–18 1,18 1,19–12,50 1,19–10,42 1,19–3,36 1,19–2,11 1,19–51 1,19–34

1,19–28

1,19–27 1,19–23 1,19

1,20 1,21–23 1,21 1,22 1,23 1,24 1,25–26 1,25 1,26 1,27

151, 173 142, 148, 159, 163, 170, 178, 186–187, 192, 199, 264 151, 153, 168 141, 153–154 141–142, 148, 169 118, 123, 125, 135, 139–141, 146, 153, 155, 157–158, 314, 316, 322 141 106, 139, 141, 148, 174, 321, 335 132–133, 271 134–135, 155, 158, 287, 294 134 163 124 135, 146, 153, 155, 160–161, 163–164, 178, 184, 190, 192, 228, 231, 233, 294, 308, 320, 322, 335, 341, 348 125, 140, 146, 155, 158, 161, 163–164, 166, 169, 200, 231, 316 125, 314 154, 169 92, 117–118, 121– 122, 135, 140, 155– 157, 163, 166, 179, 193, 239, 244, 274, 314 121, 142, 156–158 157, 169 121, 157–158, 274 121, 142, 158 133, 148, 158–159, 163, 294 142, 157, 179, 239, 250 146 121, 157, 274 142, 159–160 159

Stellenregister 1,28 1,29 1,29–34 1,30 1,32

1,34 1,35 1,49 1,51 2–12 2–10 2–7 2–5 2–4 2–3 2 2,1–12 2,11–22 2,11 2,13–3,21 2,13–25 2,13–23 2,13–22

2,13–21 2,13 2,14 2,15–29 2,15 2,16 2,17 2,18–22 2,18–19 2,18

2,19–22 2,19–21 2,19 2,20–21 2,20

142, 155, 294 142, 159 140, 159, 161 159 118–119, 123, 127, 155, 159, 244, 314, 316 118–119, 123, 155, 159–160, 169, 244 334 284 179 13 300–301, 327 267 268 134, 193–194 209 117 163 170 169, 193 133, 163–164 102, 164, 175, 184, 188, 216 193, 287 134, 159, 163–165, 169, 190, 192, 194, 233, 235–237, 257, 262, 267, 286, 328 125 163, 165–166, 169– 170, 172, 193, 286 102, 121, 166, 170 130 170 167–169, 171, 174 169, 172 169 174 92, 163, 171, 174, 179, 126, 166–168, 171, 179 286 165 102, 126, 168, 171, 174 172 92, 163, 166

2,21 2,23–25 2,23–24 2,23

2,24–25 2,24 2,25–3,21 2,25

3 3,1–36 3,1–21 3,1–10 3,1 3,2 3,3 3,7 3,10–15 3,11–36 3,11–33 3,11–21

3,11–18 3,11–17 3,11–15 3,11–13 3,11–12 3,11

3,12–21 3,12–18 3,12 3,13–22 3,13–21 3,13–14 3,13 3,14–21 3,14 3,15–22

381 167 165, 168, 172, 174– 175, 185 177 163, 165, 168, 172– 173, 175, 193, 217, 287, 289 340 168, 173 185 118–119, 165, 172– 173, 175, 316, 323– 323 117, 120, 183–184, 211 247, 257 163–165, 175, 185– 186, 189, 244 185 179 175 178 178 175 320, 333, 341 118 174, 179, 184, 191, 194, 211, 216, 229, 233, 255, 335, 338 177 180 175, 185 323, 335 178, 335, 343 118–119, 123, 126, 176–178, 180, 186– 187, 216, 228, 230, 242, 255, 316 126 176 176–178, 186, 219 321 186, 302, 308 179 175, 178–179, 314, 335 212, 223 175, 178, 180 325

382 3,15 3,16–21

3,16–19 3,16–17 3,16 3,17–21 3,17–19 3,17 3,18–21

3,18–19 3,18 3,19–21 3,19–20 3,19

3,20 3,21 3,22–36 3,22–24 3,22 3,23 3,25–26 3,26 3,27–36 3,27–30 3,28 3,31–36

3,31 3,32–33 3,32–34 3,32 3,33 3,34 3,35

Stellenregister 220 176,178, 185–186, 188, 190, 192, 307, 323 220 183, 335 176, 220 176, 213 120 126, 181, 244, 335 126, 131–132, 177– 178, 180, 183–184, 265, 307, 316, 335 180, 302 180, 182–183, 186, 219–220, 244, 335 151, 243, 251, 277– 278, 323, 335 144, 243 139, 143, 145, 177, 180–182, 232, 278– 279, 314, 316, 335 122, 173, 177, 181– 182, 243 122, 177, 181–182 146, 185 185 294 125, 146 185 118–119, 123, 125, 146, 187, 244, 314 231 185 118–119 15, 164, 185–192, 211, 216, 229, 233, 255, 307–308, 321, 323, 325, 335, 338 106, 109, 186–187, 189, 256 186, 188 188, 314, 316, 335 118–119, 186–187, 228, 230, 232, 242 118, 335 188–189 188, 314

3,36 4 4,1–6,71 4,1–54 4,4–45 4,10 4,18 4,21 4,39–44 4,39 4,41 4,42 4,43–54 4,44 4,48 4,50 4,53 4,54 5–10 5–8 5–7 5

5,1–47

5,1–18 5,1–17 5,1–16 5,1–15 5,1–9 5,1–8 5,1–4 5,1 5,3 5,5–9 5,5 5,6–39

186, 188, 219–220, 278, 302, 316, 335 117, 194 134 334 194 199 194 194 118 118–119, 194 194 194 198 118–119, 169, 209 194 194 194 193 124, 134, 164, 192– 193, 203 118 134 11, 13–14, 117, 120–121, 125–126, 193–195, 209–210, 226, 236, 255, 271– 272, 298 13, 102, 126, 133– 134, 189, 191–196, 201, 203, 215–216, 221, 227, 236, 239– 241, 243, 246, 267, 317, 327, 333, 341, 348 240, 273, 323 320 193–194, 270, 271, 340 194, 201, 222, 232 194–196, 200, 202, 216 239, 271 195 193 217 195 330 124

Stellenregister 5,6 5,7 5,8 5,9–47 5,9 5,10–47 5,10–18 5,10–16 5,10–13 5,10

5,11 5,12 5,13 5,14–47 5,14–15 5,14 5,15–16 5,15 5,14 5,15 5,16–47 5,16–18 5,16

5,17–47 5,17–29 5,17–19 5,17–18 5,17

5,18

5,18–47 5,19–47

198–199 199 198, 207, 215 227 203, 222 194–195 197, 204, 207, 327 195, 327 126, 195, 271 92, 126, 196, 200– 201, 207–208, 215, 239, 316, 318 196, 207 121, 215, 215, 274 199, 203 164 197, 271 193, 195, 198–199, 340 92 195, 197–199, 207 102, 217, 236, 316 93, 205, 326 195–106, 211, 289, 316 194, 201, 209, 211, 281 121, 126, 129, 197, 201–203, 205–209, 215, 239, 246, 288, 316, 318 126, 195, 215, 338 336 126 167, 205 121–122, 201, 203– 205, 209, 211, 213– 214, 271 92, 102, 122–123, 126, 130, 134, 193, 201–207, 209, 213– 215, 219, 236, 238– 239, 271, 300, 316, 318 267, 281, 289, 294, 316, 320, 327 193–194, 196, 201, 203, 206, 215, 223, 233, 235–237, 240,

5,19–30

5,19–29 5,19–23 5,19–20 5,19 5,20 5,21 5,22–29 5,22–27 5,22–24 5,22–23 5,22 5,23 5,24–26 5,24

5,25–29 5,25 5,26–29 5,26 5,27–29 5,27

5,28–29 5,28 5,29 5,30–47 5,30–31 5,30

5,31–47

383 248–249, 255, 267– 268, 271, 280, 283, 314, 323, 331 212–213, 217, 220, 223–224, 227, 255, 257, 264 206, 214 212, 218 214, 217 121, 196, 204, 212– 214, 271 106, 206, 214, 216– 217 213–214, 217 123 2, 126, 130, 230, 314 120 217 188, 207, 213–214, 218, 244, 292 214, 219, 222–223, 318 217 213–214, 218–219, 223, 271, 285, 307, 335, 337 218 15, 213–214, 219, 271, 303 212 213–214, 271 199 109, 179, 188, 213– 214, 216–217, 219, 271, 303, 314, 316 219 217 122, 213, 217, 271, 316 222 256 212–213, 217, 219, 223, 230, 244, 271, 292, 335 2, 202, 212–213, 222–223, 227–229, 233, 238, 244, 249, 256, 260

384 5,31–40 5,31–39 5,31–36 5,31

5,32–36 5,32 5,33 5,34 5,35 5,36

5,37–38 5,37 5,39–47 5,39–40 5,39

5,41–47 5,44 5,45–47 5,45–46 5,45 5,46–47 5,47 6 6,1–71 6,2 6,4 6,25–59 6,41 6,48 6,51 6,53 6,59 7–10 7–8

Stellenregister 15, 53, 126, 224, 316, 335 118 226 61, 106, 118, 123, 129, 157, 224–226, 228–230, 252–253, 256, 330 226 118, 123, 209, 224, 230–231, 244, 314 118–119, 123, 224, 231, 244, 314 172, 223–224, 229, 233–234, 285, 337 232 118–119, 123, 214, 224, 229, 231–232, 244, 271, 290, 314 229 118, 123, 224, 232, 244, 271, 314 240 213, 229, 285 118–119, 121, 123, 202, 224, 226–227, 232, 244, 314 212 243, 256, 271 232, 335 227, 314 120, 126, 129, 224, 231–232, 243 271 121, 202, 212, 237, 240, 244, 271 124, 193, 236 334 194, 200 193 102 251 251 251 179 102 193 237, 268, 278, 289, 295, 323

7 7,1–10,42 7,1–10,39 7,1–10,21 7,1–8,59 7,1–13 7,1

7,2–52 7,2 7,4–47 7,4 7,7

7,10–8,58 7,10 7,11–24 7,11 7,12–43 7,12 7,13 7,14–10,42 7,14–10,21 7,14–8,59

7,14–52

7,14–48 7,14–39 7,14–36 7,14–31 7,14–30 7,14–24

7,14–20 7,14 7,15–25

8, 117, 120, 236 134 134, 286 126, 128, 133–134, 193, 237, 286, 297 268, 289 242 92, 122, 126, 236, 238–239, 243, 259, 263, 289, 316 238 236 101 102, 240, 326 101, 118–119, 123, 150, 230, 232, 240, 242–243, 316, 326, 335 238 102 288 92, 165, 238–239, 243, 259, 263 316, 340 238, 240, 245–246, 327, 330 92, 101–102, 239– 240, 326 341 134, 333 134, 175, 237, 241, 259, 270, 280, 289, 317 238–242, 246, 248, 259, 285, 289, 294, 314 102 102, 326 242 16 248 236–238, 240, 242– 243, 247, 249, 260, 267, 316, 320, 323, 348 238, 267 236, 240–241, 247– 248 237

Stellenregister 7,15–24 7,15 7,16 7,16–17 7,17 7,18–19 7,18 7,19–24 7,19–22 7,19

7,20

7,21–24 7,21–23 7,21 7,23 7,24–51 7,24

7,25–52 7,25–31 7,25 7,26–27 7,26 7,28 7,30–47 7,30

7,31 7,32–36 7,32

7,35 7,37–52 7,37–39 7,40–44 7,40–41 7,40 7,41–42

249 92, 239–241, 248 240 101, 326 240, 248 243 243, 256 241–242, 314, 327 126 121–122, 129, 236, 238, 243–245, 259, 263, 289, 314, 316, 323 122, 238, 241, 245– 246, 248, 259, 262, 289, 318, 340 102, 240 129, 206, 236, 239, 245, 257, 318 194, 266 121, 129, 327 120 126, 208, 241, 245– 248, 256, 292, 314, 316, 318, 323 323 242 122, 238, 243, 259, 263, 289, 316 248, 323 101–102, 239–240, 292, 326 101–102, 240, 326 326 121, 126, 238–239, 243, 246, 248, 263, 289, 316 238, 250, 294, 323 242 121–122, 126, 156, 237, 239, 244–246, 289, 299–300, 316 92 242 242, 307 242 238 238 323

7,43 7,44 7,45–52 7,45 7,46–52 7,46 7,47 7,48–49 7,48 7,49 7,50–51 7,50 7,51 7,52 7,53–8,11 8–10 8 8,4 8,5 8,6 8,7 8,10 8,11 8,12–59

8,12–58 8,12–20

8,12–18 8,12–16 8,12

8,13–50 8,13–18 8,13–16 8,13–14 8,13

385 238, 294 121, 126, 239, 244, 246, 248, 289, 316 242, 245, 248, 298, 316 122, 156, 239, 241, 246, 249, 299–300 249–250 122, 241 239, 245–246 239 239 121, 129, 238, 245 126 244 121, 126, 129, 241, 244, 314 245, 251 124, 237 134 9, 13, 117, 120, 260 129 121–122, 127, 130, 265 121, 250 265 120 120 248, 259, 280, 292, 294, 316, 320, 323, 348 124, 127 15, 237, 247–250, 256, 259–260, 266– 267, 314, 316, 323 53 132 131, 139, 143–144, 247–252, 259, 264, 270, 277–279, 292, 323, 335 124 118 123 252 61, 118, 123, 127, 129, 157, 226, 248– 250, 252, 254, 259, 264, 330, 336

386 8,14–20 8,14–18 8,14–16 8,14

8,15–50 8,15–16 8,15

8,16–18 8,16 8,17–19 8,17 8,18

8,19 8,20

8,21 8,21–59 8,21–30 8,21–25 8,21–24 8,22 8,23–24 8,23 8,24–25 8,24

8,26 8,28 8,30–59 8,30–31 8,30 8,31–59 8,31–58 8,31 8,34–59 8,34

Stellenregister 252 316, 335 15 118, 123, 127, 229– 230, 248–251, 253, 255–256, 314, 335 120 255, 316 127, 208, 248–249, 251, 256, 314, 318, 335 254 249, 256, 264, 314, 335 255 121, 127, 129, 249, 252, 255, 289 118, 123, 127, 244, 250, 254–256, 259, 314, 323, 335 248, 250, 254, 256– 257 102, 121, 127, 248– 249, 259, 286, 289, 316 122, 258–259, 261, 267, 292, 316, 318 15, 127, 259–260, 262–264, 266–267 260 127 335 92, 122, 259 259 256–257, 259, 265 316 122, 259, 261, 265, 267, 318, 323, 335– 336 314 259, 265, 323, 336 340 267 294 260, 267 316 92, 259–260 324 122

8,35–36 8,37–59 8,37–45 8,37–40 8,37 8,38–52 8,38–42 8,38 8,39–40 8,39 8,40 8,41 8,43 8,44–45 8,44 8,45 8,46 8,47 8,48–52 8,48 8,49 8,50 8,52–59 8,52 8,53 8,54 8,55 8,57 8,58–59 8,58 8,59

9–10 9 9,1–10,39 9,1–10,21 9,1–41

130 237, 260–261, 267, 334 127, 340 318 122, 127, 238, 262– 263, 289, 316 303 318 261–262, 318 264 261–263, 318 122, 127, 238, 259, 263, 265, 289, 318 127, 130, 261–262, 318 270 263, 318 122, 127, 130, 261– 264, 266, 318 122 122, 127, 260, 266, 279, 300, 324, 327 263, 266, 270, 318 318 92, 127, 259, 261– 262, 318 245, 262, 265, 318 264, 314 327 92, 262 130 127 127, 260, 264, 318 92 127, 130 139, 259, 265, 323 130, 206, 259, 262, 265, 270, 289, 300, 316, 318, 324 11, 13–14, 271, 295, 308 128, 195, 197, 278, 295, 298, 321 270, 272, 281, 284, 292, 324–325 13, 134, 237, 270, 289 128, 294

Stellenregister 9,1–39

9,1–38 9,1–34 9,1–7 9,1 9,2–5 9,2–3 9,2 9,3–5 9,4–39 9,4 9,5 9,6–7 9,6 9,8–10,21 9,8–34 9,10–14 9,11 9,12 9,13–38 9,13–34 9,13–17 9,13 9,15 9,16 9,17 9,18–34 9,18–23 9,18 9,19 9,20–23 9,20–21 9,21 9,22 9,22 9,22–23 9,24–38 9,24–34 9,24 9,25–34 9,25 9,27 9,29–39

270, 279–281, 284– 285, 295–296, 301, 317, 327, 348 193, 281, 325 320, 334 195, 271, 273 237, 270 132 198 270 272 131 270, 277, 292 132, 144, 270, 277, 279 272 275 195 271–272 166 274–275 274 281 271, 281–283, 295, 324 128, 272, 274, 316 273, 316 121, 273, 275 122, 129, 274, 277, 282, 288, 318 274–275 298–299 128, 274, 316 92, 274 121, 273 282 275 121, 273 273–274 92, 121, 274–276, 284 275–276 340 128, 272, 277, 316 122, 274–277, 282 282 122, 274–275 275–276 275

9,29 9,30–41 9,30–34 9,30–33 9,30 9,31 9,33 9,34 9,35–39 9,35–10,21 9,35 9,38 9,39–10,21 9,39–10,18 9,39–41 9,39–40 9,39

9,40–10,39 9,40–10,21 9,40–10,18 9,40–41 9,40 9,41–10,18 9,41–10,13 9,41 10–12 10 10,1–42 10,1–41 10,1–21 10,1–18 10,1 10,2 10,3 10,5 10,6 10,7 10,8–10 10,8 10,10 10,11 10,12–13

387 276 132 275 275, 327 275–276 122 274–275 122, 284 271–272 320 274, 277, 314 277, 200 128, 270 295 132, 277, 281, 305, 335 283 120, 270, 272, 276– 279, 281, 283, 292, 305, 316, 335, 340 286, 317 285, 289–290, 348 271, 273, 293, 295, 324 280, 292 281, 283, 316 324 283 122, 276, 278, 281, 316, 335 100 9, 117, 134, 292 16 16 286, 294 131, 280–281, 284– 285 271, 280–281 282 271 282 282–283, 285 259, 271 282 128, 271, 281–282, 284 271, 281, 284 259, 282, 328 284

388 10,12 10,13 10,14–18 10,14 10,16 10,17 10,17–18 10,18 10,19–22 10,19–21 10,19 10,21 10,22–42 10,22–39

10,22–38 10,22–31 10,22–28 10,22–23 10,22 10,23–38 10,23 10,24–39 10,24–38 10,24–31 10,24–25 10,24

10,25–38 10,25–30 10,25 10,26 10,28 10,29 10,30 10,31–39 10,31–38 10,31–36 10,31–33 10,31

10,32–39

Stellenregister 128, 281–282, 284 281–282, 284 285 259, 282 271 282 271, 287, 328 109, 271, 316 286 281, 316 294 281 133, 165, 270, 281, 285 128, 165, 281, 286– 287, 289, 292–295, 297, 301, 320, 327 132, 237, 286, 295 287 286 282, 286 282, 286, 293, 325 164, 324 102, 286 101, 281, 290, 327 316 287 102 92, 282, 286–289, 294–295, 297, 324, 327, 336, 349 271 271, 287–288 118, 123, 244, 271, 281, 287–288, 290 271, 290 290 292 139, 271, 287–288, 292, 336 15, 101, 165 318 318 128 92, 122, 130, 134, 172, 193, 271, 286– 290, 292, 297, 300, 316, 318, 325 287

10,32–38 10,32 10,33 10,34–38 10,34–36 10,34–35 10,34 10,35–38 10,35 10,36

10,37–38 10,38–39 10,38 10,39–42 10,39

10,40–42 10,40 10,41 10,42 11–12 11 11,1–46 11,8 11,25 11,43 11,45 11,46–47 11,46 11,47–57 11,47–54

11,47–53

11,47–48 11,47 11,48–50 11,48 11,49–52 11,49–50

271 122, 271, 287–288, 290, 318, 327 92, 102, 122, 130, 214, 287–291, 316 271, 287–288 303 271, 290 121, 129, 131, 283, 289–290 128 121 102, 122, 288–291, 294–295, 297, 324, 327, 336 290, 324 206 271, 287, 292 140 121, 128, 287–290, 298, 300–301, 316, 327 135, 140, 155, 287, 294, 297 135, 155, 294 294 287, 289, 294 133, 310, 329, 340 101, 298–299 297–298, 334 122 259 304 300 298 298 333, 341 112, 128, 297, 304– 305, 308, 320, 325, 327–328 99, 101–102, 134, 298, 301, 310, 316, 348 300 101, 298–300, 305 92, 304 299, 304 299 299, 301

Stellenregister 11,50 11,51–52 11,52 11,53 11,57 12 12,4 12,10 12,12–36 12,12–19 12,13 12,17 12,31–32 12,31 12,32 12,34 12,35–36 12,35 12,36–43 12,36 12,37–50

12,37–43

12,37–40 12,37 12,38–43 12,38–40 12,38 12,39–40 12,39 12,40–41 12,40 12,41 12,42 12,44 12,44–50

12,44–47 12,45–47 11,45

101, 316, 327 301–302 301 101, 122, 128, 300, 316 101, 121, 316 117, 120 93 101 133 299 284, 299 118–119 328, 332 266, 303, 306, 318, 335 303, 318 303 303 143–144 304 266, 303–304, 306 133–134, 301–304, 308, 320, 325, 333, 341, 348 128, 133–134, 140, 297, 302–304, 306, 308, 310, 316, 321, 325 283 302, 304 306 159 133, 302–305 133 302, 305 305 278, 284, 302, 305– 306 305 121, 292, 302, 306 302–303, 306–307, 309 128, 134, 297, 302– 304, 306–310, 314, 325, 329, 348 131 302 309

12,46–48 12,46–47 12,46 12,47–48 12,47 12,48 13–21 13–17 13,1–20,31 13,2 13,11 13,21 13,38 14,6 14,9–16,15 15,5 15,20 15,26 16,4–11 16,8–11 16,8 16,11 17,5 18–19

18

18,1–19,30 18,1–19,4 18,1–27 18,1–24 18,1–14 18,1–12 18,1–3 18,1 18,2–3 18,2 18,3 18,4–9

389 305, 335 133, 140 139, 143, 292, 297, 302, 307, 309, 335 120, 128, 307, 314, 316, 335 302, 304, 306, 309, 335 302, 306–307, 309, 335, 340 143 120, 132, 350 132 93 93 93 121 259 215 259 121, 203 118 7 7, 120 122 7, 120 139 2–4, 13–15, 28, 33, 91, 100–102, 109– 113, 121, 124–125, 132, 133, 136, 208, 308, 316, 325–326, 328, 347 2, 111, 117, 165, 198, 239, 246, 289, 299, 326, 328 91 39 148 327–328 93 216 93 93 197, 326 93, 197 93, 101, 104, 122, 156, 239, 241 94

390 18,4–8 18,4–6 18,4 18,5–8 18,5 18,8 18,9–11 18,11 18,12–27 18,12–24 18,12–14 18,12–13 18,12 18,13–24 18,13–23 18,13 18,14–16 18,14 18,15–18 18,17–18 18,18–37 18,18 18,19–24

18,19–23 18,19–20 18,19 18,20–21 18,20

18,21–23 18,21 18,22 18,23 18,24 18,25–27 18,25 18,27 18,28–19,16

18,28–32 18,28–30

Stellenregister 198 326 93 259 93–94 94 94 94, 109 97, 100 164, 326 91, 97, 99 101 92, 101, 104, 122, 239, 241, 326 92 229 97–98, 273, 299 99 92, 101, 104, 299 97 99 124 122, 241 91, 95, 97, 102, 113, 164, 289, 326, 347 1, 91, 98–101, 106, 299–300, 326 240 95, 97, 101, 121, 156, 274, 326 95, 100 95, 100–103, 130, 164, 240, 289, 326– 327 100 95–96, 121, 156, 274 95, 122, 241 95–96, 118, 123 1, 98–99, 102, 299 97, 99 121 121 2, 8, 13, 91–92, 100, 103, 110, 326, 328 99, 105 101

18,28 18,29–19,22 18,29 18,29–30 18,30 18,31 18,32 18,33–19,11 18,33–38 18,33–34 18,33 18,35 18,36–37 18,36 18,37 18,38–40 18,38 18,40 19–21 19,1–3 19,4–8 19,4 19,6 19,7–16 19,7 19,9–11 19,9 19,10 19,11 19,12 19,12–16 19,12–15 19,13–14 19,13 19,14 19,15 19,16 19,17–20,29 19,17–25 19,19 19,35 19,37 20,28

98, 100, 104, 165, 273, 299, 327 112 105, 121 91 99, 104, 109 92, 99–101, 104, 120–122 105 91 105 105 104–105, 284 104, 106 103 92, 104–105, 109, 122 104, 106–109, 118– 119, 123, 267 105 92, 104–105, 107– 108, 121–122 104 120, 350 105, 108 105 105, 121–122 121–122 39 104, 106, 121, 214 105, 108 105, 108, 121 108 103, 108–110, 122, 229 104, 109 91, 105 104 104 109 104 100, 110, 129, 300 104 328 91 104, 284 118–119 130, 335, 338 139

391

Stellenregister 20,30–31 20,31

21,1–25 21,3 21,10 21,24

344–345 21, 117, 119, 147, 168, 247, 258–259, 269, 274, 288, 294, 295, 309, 324, 325, 328, 333, 337, 343– 345, 347–348, 350 132, 140 121 121 118, 135, 140

Apostelgeschichte 1–28 3,12 6,13 7,58 12,4 22,1–21 24,2–8 24,10–21 26,1–23

115–116 122 51 51 121 39 39 39 39

2. Korintherbrief 10–13 13,1 11,32

226 51, 226 121

1. Timotheusbrief 5,19

51

Hebräerbrief 1–13 10,28

115 51

1. Petrusbrief

115

2. Petrusbrief

115

1. Johannesbrief

115

2. Johannesbrief

115

3. Johannesbrief

115

Judasbrief

116

Johannesapokalypse

115

VII. Neutestamentliche Apokryphen Pilatusakten

116, 117

Protoevangelium des Jakobus

117

VIII. Apostolische Väter 1. Clemensbrief Fragmente des Papias

116

116

Martyrium des Polykarp

116

392

Stellenregister

IX. Rabbinische Literatur Mischna Avot 4,22

55

Bava Batra 3,4–5 10,1–2

52 54

Bava Meziʼa 9,12

52

Bava Qamma 1,3 7,2–4 7,3 8,6 9,7

50, 52 50, 52 54 52 52

Gittin 6,2–9,8

54

Jevamot 3,8 15,3 15,4–5

50, 54 50 54

Keritot 3,1

52

Ketubbot 2,1–9 2,1 2,3–4 2,9

54 52 54 50, 228, 253

Makkot 1,1–10 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 1,8–9 1,8

50 52, 54 52 52, 54 52, 54 52 54 52 50 53

1,9 1,10

52, 54 52, 54

Nasir 3,7

54

Rosh ha-Shana 1,3 1,6–2,6 3,1

52 52, 54 50, 54, 253

Sanhedrin 1,6 1,1–6 3,1–2 3,1 3,3 3,4–5 3,5 3,6 3,8 4,1 4,3 4,4 4,5–5,1 5,2–5 5,2 5,4 5,5 6,4 7,1–4 7,5 7,10 10,4 11,6

49 49 49 55 55 55 55 52, 54 52, 54 49–50, 52, 54–55 49 52 54 54 52 52 49, 55 53 55 52 52 50 54

Shabbat 7,2 10,5

196 196

Shevu‘ot 4,1–3 4,1–2 4,1 4,5 4,6

52, 54 54 53 52 52

393

Stellenregister 4,7–8 4,9–12 7,2 7,3 8,3

52 53 52 52 52

1,1 1,2 1,3 6,2–4 9,8

52 50, 52 52 50, 52 52

Sota 1,1–2

50, 52

Toharot 5,9

52

Autorenregister Ådna, Jostein 163, 167 Allen, Leslie C. 71 Alonso-Schökel, Luis 20 Alter, Robert 20, 22–24, 166 Andersen, Francis I. 71 Anderson, Paul N. 22 Ando, Clifford 40 Ashton, John 139 Asiedu-Peprah, Martin 10–11, 13–14, 17, 43, 60, 77, 81, 118, 121–122, 126, 128–130, 133, 193, 195–198, 200–206, 208, 210–212, 214, 217, 220–221, 224, 227–228, 230–231, 261, 274, 282–285, 334 Attridge, Harold W. 218, 226 Avemarie, Friedrich 121, 170 Baldwin, Joyce G. 76 Baltzer, Klaus 43, 74, 76–77 Balz, Horst 121, 239 Bar-Efrat, Shimon 20–21, 23–25, 215 Barrett, Charles K. 98–99, 143–145, 149, 181, 187, 225, 250–253, 255– 256, 282–283, 292, 302–303, 308 Bauckham, Richard 58, 115 Bauer, Walter 56, 104, 120–122, 170, 181, 239, 273 Beasley-Murray, George R. 73, 141, 144, 156, 166, 174, 181, 199, 202, 251, 253–254, 291–292, 302–303 Becker, Jürgen 164, 177–178, 226–227, 249, 260, 287 Bekken, Per J. 10, 12, 15, 17, 126, 133, 189, 194, 201–202, 204–207, 211, 224, 227, 230, 299 Bennema, Cornelis 238, 245–246, 299, 301 Betz, Hans D. 226 Betz, Otto 47–48, 50

Beutler, Johannes 8–9, 16, 18, 44, 50– 51, 54, 62, 76, 92, 114, 118–119, 121–122, 126–129, 135, 139–141, 144, 147, 156–157, 166, 168, 170, 173, 177–182, 186, 188, 199, 203– 204, 210, 212, 224–226, 232, 236, 238, 243, 245, 249, 254–256, 260, 262, 276, 282, 284, 298, 300, 307– 309, 331 Bieringer, Reimund 92 Bietenhard, Hans 57, 121 Billerbeck, Paul 50, 53, 253 Blank, Josef 8, 13, 15, 17–18, 59, 107– 109, 126, 145, 176, 181, 183, 187– 189, 214, 217–218, 220, 224, 227, 231–231, 247, 250–251, 254, 265, 304, 308–309, 331 Blass, Friedrich 121, 170, 204 Blinzler, Josef 46–50, 99, 168, 171 Blomberg, Craig 47, 96, 98 Bock, Darrell L. 51, 171 Boecker, Hans J. 44–45, 53, 64, 66–67, 71, 82 Boice, James M. 15, 61, 60, 114, 129– 130, 177 Borchert, Gerald L. 180, 187, 303 Borgen, Peder 17, 189 Bormann, Lukas 114, 121 Bornhäuser, Karl 121, 202 Borse, Udo 104, 273 Bovati, Pietro 10–11, 13, 18, 43–45, 50, 62–64, 67, 70–72, 74–75, 86, 96, 131 Bracke, John M. 70 Brannan, Rick 116–117 Braulik, Georg 62 Braun, Herbert 240 Brown, Raymond E. 47, 51, 73, 92–93, 95, 90–99, 102, 104, 109, 144–145,

Autorenregister 166, 171, 178, 181, 187–188, 196, 202, 211, 219, 228–229, 261, 264, 277, 289, 292 Brown, Sherri 156 Bruce, Frederick F. 145, 150 Bruner, Frederick D. 199, 220 Büchsel, Friedrich 56, 181 Bultmann, Rudolf 7–9, 98, 103, 115, 122, 130, 145–148, 150, 152, 156, 177, 180–181, 198, 204, 220, 223– 224, 232, 236, 255, 273, 276–280 Burckhardt, Leonhard 34–36 Burge, Gary M. 176, 181 Busse, Ulrich 283, 291 Carson, Donald A. 23, 99, 134, 166, 176, 179–181, 183, 195, 197–198, 207–208, 214, 218, 257, 261, 266, 291, 305–306, 337 Chapman, David W. 46–48, 50–52, 205 Charles, Daryl J. 156, 158 Chennattu, Rekha M. 24, 60, 154 Coenen, Lothar 35, 44, 51, 58, 114–115 Collins, Nina L. 207 Connick, Milo C. 24 Craigie, Peter C. 62, 64 Cullmann, Oscar 143 Culpepper, Richard A. 17, 21–25, 92, 108, 139, 141, 143–144, 146–147, 149, 158, 167–168, 175–176, 185– 186, 192–195, 197–202, 214, 222, 246, 270, 272–274, 276, 282, 294 Dahl, Nils A. 8, 266 Danker, Frederick W. 56, 121, 170 Daube, David 52–54 David, Jean-Michel 38, 59, 65 Davidson, Richard M. 64–68, 70, 72, 75–76 De Jonge, Henk J. 92 De La Potterie, Ignace 144 De Vaux, Roland 43–46, 64, 82 Debrunner, Albert 121, 170, 204 DeClaissé-Walford, Nancy L. 76 Dillard, Raymond B. 42 Du Rand, Jan A. 271, 286, 290 Duke, Paul D. 23, 199, 208, 211, 272, 274–275

395

Eder, Jens 22 Eder, Walter 38, 59 Egger, Peter 47–48 Emerton, John A. 291–292 Estes, Douglas 21, 25 Floyd, Michael H. 69 Förster, Hans 306 Freedman, David N. 71 Frevel, Christian 42 Frey, Jörg 20–21, 142, 180–184, 210, 214, 217, 219–220, 224, 303, 307– 309 Gärtner, Burkhard 121, 170 Gese, Hartmut 143, 148 Giovannini, Adalberto 40, 46–49, 51, 55, 300 Gniesmer, Dirk F. 15–16, 23, 55, 93, 97, 105–110, 112 Goldingay, John E. 70–71, 75, 80, 291 Griffiths, David R. 77 Gröschler, Peter 47 Grzybek, Erhard 40, 46–49, 51, 55, 300 Haacker, Klaus 57, 121 Habel, Norman C. 69 Hahn, Ferdinand 132–133, 143, 145 Hamilton, James M. 77, 183 Harjung, J. Dominik 26 Hartley, John E. 69–70 Hartsock, Chad J. 144, 149–150 Harvey, Anthony E. 9, 13, 17, 51, 53– 54, 60, 77, 81, 126, 129, 133, 201, 204–206, 208, 211, 225, 227–228, 247 Hatina, Thomas R. 24 Hays, Richard B. 24, 209 Heiser, Michael S. 115, 117, 131, 291– 292 Hendriksen, William 151, 170–171 Hengel, Martin 60, 144, 148–149, 153, 159, 168, 198–199 Herrick, Gregory J. 51, 171 Hill, Andrew E. 71 Hill, Charles E. 24 Hofius, Otfried 121, 142–144, 148– 149, 166, 175, 177–178, 180–182, 184, 282

396

Autorenregister

Honoré, Tony 36 Hooker, Morna D. 141 Horn, Friedrich 27 Hossfeld, Frank-Lothar 76 Huffmon, Herbert B. 66–67, 75, 82, 86 Hunt, Steven A. 22, 94 Jacobson, Rolf A. 76 Jakob, Éa 36–37 Jindo, Job Y. 75–76, 219 Johns, Loren L. 114–115, 118, 175, 267, 341 Kacprazak, Agnieszka 38 Karakolis, Christos 130, 143, 157, 160, 173, 210–211 Keener, Craig S. 58, 92, 105, 144, 149, 165–166, 170, 178, 193, 197, 199, 208–209, 219–220, 237–238, 240– 242, 243, 245, 249, 252, 257, 270, 275, 292, 299 Kellermann, Ulrich 42, 46–52, 54–55 Kessler, Rainer 66 Kierspel, Lars 132, 134, 139, 141, 148, 242 Klink, Edward W. 21–22, 92, 121, 133, 139, 141, 143–144, 148, 153, 156, 159, 166–167, 172–173, 176, 178, 180–181, 184–185, 187, 189, 199, 233, 247, 258, 264, 275, 287, 291– 293, 298 Knoch, Otto 209 Koester, Craig R. 26 Köhler, Ludwig. 44 Kollmann, Bernd 47–48, 51, 92 Köstenberger, Andreas J. 8, 14–16, 23, 47, 94, 98, 100, 102–103, 107–108, 110–112, 126, 128–130, 132–134, 140–141, 143–144, 148, 154, 157, 159, 163, 165–166, 170–171, 176– 177, 179–181, 193, 204, 211, 214, 219, 225, 231, 236–237, 239–241, 243, 245, 252–253, 257, 261, 264, 266, 270, 281–284, 286, 291, 293, 298–299, 302, 306 Krispenz, Jutta 65 Kruse, Colin G. 108, 168 Kühschelm, Roman 305 Kumlehn, Martina 185, 340, 344

Kurz, William S. 18, 142 Kysar, Robert. 282–283, 285 Labahn, Michael 128, 133, 143, 275, 277–278 Lamarche, Paul 142 Lappenga, Benjamin J. 164, 167, 172 Larsen, Kasper B. 23 Lausberg, Heinrich 138, 151–153 Lee, Dorothy A. 17, 23, 25–27, 212, 215 Levine, Lee I. 46 Licht, Jacob 23 Liddell, Henry G. 56, 121, 202 Liedke, Gerhard 43, 83 Lincoln, Andrew T. 10, 12, 14–18, 57, 60, 67–68, 73–75, 77, 81, 97, 101, 107–108, 110, 121, 126–127, 129– 130, 133, 141, 145–145, 148, 150, 153, 156–157, 175, 177–178, 181– 183, 186–189, 204, 206, 210–213, 215, 217–220, 224–225, 230–233, 240, 246–247, 251, 253–257, 259, 264–265, 277–278, 291–292, 298, 300, 302–309, 334, 340 Lindars, Barnabas 144, 179, 181, 209, 238, 240–241, 243–244, 251, 254– 255, 277, 305 Lintott, Andrew 37 Loader, William R. G. 147 Longman, Tremper 42 Luther, Susanne 239 MacDowell, Douglas M. 34–35 MacRae, George W. 23 Malina, Bruce J. 294 Manning, Gary T. 94, 241, 246 Manthe, Ulrich 36–37 Maritz, Peter 143 Massa, Dieter 27 Mathewson, Dave L. 266, 303 Matson, Mark A. 168 McConville, J. Gordon 62 McHugh, John 8, 114–115, 119, 124, 126, 130, 141, 144, 147–148, 156– 157, 176, 179, 181 Meeks, Wayne A. 186, 189, 237, 240, 284 Melba, Maggay 15, 107

Autorenregister Mendenhall, George E. 67 Metzger, Ernest 36–37, 39–40 Metzner, Rainer 196–197, 199, 201, 203, 216 Meyer, Elizabeth A. 41–42, 57, 59 Michaels, J. Ramsey 99, 127, 144, 148, 168, 172, 175, 185, 187, 193, 197, 202, 208, 229–230, 232–233, 251– 252, 278–279, 291, 302, 304–305 Miglietta, Massimo 34, 37–39, 47–48 Miller, Douglas B. 114–115, 118, 175, 267, 341 Miller, Edward L. 139 Milligan, George 56, 122, 204 Milne, Bruce 170 Moloney, Francis J. 141, 144, 150, 201, 203–204, 217, 219, 225, 232, 266, 276, 303 Montonini, Matthew D. 273–275, 277 Moore, Stephen D. 21 Morris, Leon 96, 108, 142–145, 147, 156, 176, 181, 198, 202, 219, 225, 291, 299–300 Motyer, J. Alec 75, 81 Motyer, Stephen 20, 247 Moulton, James H. 56, 122, 204 Mounce, Robert H. 94 Müller, Karlheinz 46–48 Muropa, Clyde 26, 132 Murphy, Roland E. 44 Myers, Alicia D. 24, 60, 133, 139, 154, 156, 159–160, 185, 213, 229 Nelson, Richard D. 61–62 Neyrey, Jerome H. 15, 39, 42, 91, 126– 127, 176–177, 180–181, 184, 186, 236, 238–239, 242–244, 248–249, 252, 255, 260–261, 263–267, 286, 290–292, 303, 305–306, 308, 340 Nicholas, Barry 37 Nielsen, Kirsten 45, 65–70, 72–74, 77– 79, 81–83, 85–86 O’Connell, Robert H. 77–78, 80, 86 Odeberg, Hugo 209, 212, 214 Oepke, Albrecht 121 Omerzu, Heike 39 Otte, Karina 40 Otto, Eckart 42–46

397

Pancaro, Severino 15–16, 51, 60, 99, 102, 112, 128–129, 154, 194, 196, 199–200, 202, 207, 217, 239–240, 250–251, 253–255, 274–275, 279 Parsenios, George L. 14–16, 158, 186, 276–277 Paulus, Christoph G. 36–41 Payne, David 70–71, 80 Pedersen, Sigfred 121, 170 Penner, Ken M. 115, 117 Petersen, Silke 133, 140 Pfitzner, Victor C. 124 Pina Polo, Francisco 37–38, 59 Pollefeyt, Didier 92 Powell, Mark A. 21–23 Preiss, Théo 8, 129, 219 Preuß, Horst D. 65, 86 Rae, Murray 210 Rehkopf, Friedrich 121, 170, 204 Reimer, Andy M. 275, 277 Reinhartz, Adele 1, 92, 101 Rensberger, David 101 Resseguie, James L. 15, 106 Richardson, John 38–40 Ridderbos, Herman N. 126, 144–145, 156, 166–167, 170, 172, 176, 184– 186, 198, 219–221, 232, 241, 253, 261, 276, 291, 298–300 Ringgren, Helmer 65, 69 Ringleben, Joachim 149, 151, 305, 307, 309 Rissi, Mathias 56, 120, 181, 183, 219, 262 Rohrbaugh, Richard L. 294 Rüfner, Thomas 39, 41–42 Runge, Steven E. 24 Sabbe, Maurits 289–290, 294 Schart, Aaron 43, 45–46, 55, 64–67, 77, 83, 85–87, 332 Schenke, Ludger 286 Schiemann, Gottfried 34–35, 37 Schlatter, Adolf 145 Schlier, Heinrich 15, 99–100, 149, 152 Schnabel, Eckhard J. 46–48, 50–52, 205 Schnackenburg, Rudolf 99, 106, 144– 145, 148–149, 156–157, 167, 173,

398

Autorenregister

175, 180–181, 184, 186–189, 193, 197–198, 202, 214, 218, 231, 236– 240, 266, 276, 279, 283–284, 286– 289, 291–292, 298–299, 305–306, 339 Schneider, Gerhard 121, 239 Schnelle, Udo 20–21, 58, 92, 98, 101– 102, 112, 125–126, 133–134, 139, 141–144, 150–151, 156, 168, 172– 173, 175, 178, 185, 189, 193–194, 196, 198–199, 201, 203, 207, 209, 216, 220, 225–227, 232, 257, 259, 261, 265, 274, 281–284, 286, 289, 291–292, 298, 302, 304–307 Schökel, Luis A. 20, 69 Schröter, Jens 47 Schuchard, Bruce G. 24, 60, 154 Schunack, Gerd 21–23, 25 Schürer, Emil 47 Scott, Robert 56, 121, 202 Segovia, Fernando F. 134, 266 Selman, Martin J. 42 Sheppard, Beth M. 11–12, 17, 139, 175, 337 Sheridan, Ruth 18, 21, 51, 127, 129, 153, 185, 190, 228, 240, 246–247, 249, 252–253, 258, 260–262, 264– 265, 339 Sherwin-White, Adrian N. 40, 47, 92, 104 Shirbround, Franklin C. 149–150 Silva, Moisés 56, 122, 182 Simpson, Thomas W. 15 Skinner, Christopher W. 22, 149 Smith, Ralph L. 71 Smith-Christopher, Daniel L. 71 Söding, Thomas 15–16, 20, 91, 95, 103–110, 112 Söllner, Alfred 36–40 Sophocles, Evangelinus A. 121, 202 Staley, Jeffrey L. 197, 276 Steck, Odil H. 209 Steinmann, Andrew E. 75 Sternberg, Meir 20, 22, 24 Stettler, Christian 11, 17, 43 Stibbe, Mark W. 15, 20–24, 60, 77, 93, 98, 101, 108–109, 125–126, 130, 133, 148, 204, 211, 225 Strack, Hermann L. 50, 53, 253

Strathmann, Herrmann 44, 46, 50–51, 57–58, 62, 114 Synofzik, Ernst 56 Talbert, Charles H. 105, 141 Tanner, Beth L. 76 Thatcher, Tom 21 Thayer, Joseph H. 56, 121, 170 Theobald, Michael 100, 153, 140–141, 144, 150, 154, 156–157, 164, 166, 168, 171, 173, 178, 181, 186, 188, 193, 195–199, 201, 203, 205, 209, 212, 215–218 Thomas, John C. 194, 197–199 Thommen, Marc 40 Thompson, Marianne M. 92, 94, 125, 144, 146, 149–150, 156–157, 166, 170, 181, 185–186, 188–189, 219– 220, 225, 252, 277–278, 291–292, 297, 299, 303, 305 Thür, Gerhard 33–36, 59 Thyen, Hartwig 8, 10, 15–16, 20, 92, 98–100, 112, 122, 125, 127–128, 130, 132, 134–135, 139–145, 147– 148, 150, 154–156, 158, 163–170, 175, 178–179, 181–182, 186–187, 194, 197–198, 200–205, 208–209, 212–220, 222–224, 227, 230, 233, 236, 238, 241, 245, 248, 259–262, 264–265, 270, 273, 276, 278, 280– 284, 289, 291–292, 298–299, 302– 306, 327 Tigay, Jeffrey H. 63 Todd, Stephen 33–34 Tolmie, Donald F. 21–23, 25, 105 Trites, Allison A. 8, 10, 17–18, 44, 50– 51, 60, 63, 69–70, 74, 77, 81, 86, 114, 118, 120, 126, 129–130, 169, 176–177, 185, 187, 216, 227, 231– 232, 249, 254, 256, 272, 287, 300 Turner, John D. 282, 289, 294 Van Belle, Gilbert 143 van der Watt, Jan G. 17, 25–27, 113, 142, 336 van Leeuwen, Cornelius 44, 67, 74 Vandesasteele-Vanneuville, F. 92 Vervaet, Frederik J. 36–37 Volf, Miroslav 108

Autorenregister

399

Völkl, Artur 38–39, 41 Volp, Ulrich 27 von Wahlde, Urban C. 115, 118, 127, 144, 147–148, 156–157, 188, 193, 219, 257, 259, 261, 264 Vrede, Keith V. 146–147, 177, 179– 180, 182

133, 146–147, 155–156, 159, 186, 250–252, 254–255, 257, 259, 264– 265, 306 Wright, Christopher J. H. 63

Wagener, Frederik 22 Wallace, Daniel B. 198 Waltke, Bruce K. 44, 71–72 Weinrich, William C. 121, 125, 144, 146, 148, 156, 170, 176, 181, 200, 224 Wengst, Klaus 92, 142–146, 148, 150, 156, 165–166, 168–170, 173, 175, 178–179, 181, 189, 193, 195–199, 202, 206, 208, 215, 224, 231–232, 248, 151 Westermann, Claus 70, 73, 75, 78–79 Whitacre, Rodney A. 167, 197 Wieacker, Franz 36 Wilckens, Ulrich 177 Williams, Catrin H. 60, 73, 94, 130,

Zahn, Theodor 156–157 Zangenberg, Jürgen 47 Zenger, Erich 42, 76 Zimmermann, Ruben 17–18, 21–23, 25–27, 85, 92, 113, 128, 131, 146, 155, 158, 169, 282–284, 287–289, 291–292, 294, 336 Zumstein, Jean 20, 24–25, 92, 94, 126– 127, 130, 139, 141, 143–145, 148, 150, 156–157, 164–167, 169, 171, 173, 175, 177–182, 184–187, 199, 201–203, 205, 207, 213, 218–219, 224–227, 236, 238–240, 247, 249, 253, 260, 262, 277, 279, 281–284, 286–289, 291–292, 297, 303, 305– 307

Young, Franklin W. 60, 77, 81, 129– 130

Sachregister Älteste 43, 46, 49, 51 Analepse – externe 25 – interne 25 – komplettierende 25 Anklageumkehrung 62–64, 71–72, 74, 83, 127, 216, 228–229, 231, 264, 266, 268, 316–317, 323, 339, 342, 349 Apokryphen, neutestamentliche 116– 117 Autor – impliziter 21, 91, 153 – realer 21 Beweise, juristische 35, 37–38, 56, 62, 64, 74, 96, 106, 196, 320, 335, 341 Beweissammlung 36, 40, 48, 93, 157, 197, 200, 205, 236–239, 241, 243– 253, 285, 295, 316 Blasphemie 1–3, 134, 171, 193, 205– 207, 211–214, 220–221, 235, 257, 262, 265, 267–268, 271–272, 288, 291–293, 317–318, 323–324, 327, 348 Bundesbruch 65–66, 70, 263, 318 Bundesgemeinschaft 261–262 Bundesrechtsstreit 44, 65–66, 70, 72, 75, 130, 151, 166–167, 261 Bundestreue 65, 72 Bundeszeugen siehe Zeuge, Bundeszeuge Charaktere 22 – als Handlungsmodelle 22, 340–341 Charakterisierung 22 Chiasmus 24, 105, 133, 141, 165, 180, 212, 271–273, 286, 290, 333

Deixis – anaphorische 111, 153, 155, 220, 283 – kataphorische 143, 158 Doppelrolle 18, 64–66, 74, 82–84, 169– 170, 216–217, 251, 255, 313–315, 323, 325 Erzählebene – doppelte 3, 12–16, 18–19, 28–29, 82, 78–79, 162–163, 190–191, 199– 201, 215–216, 234, 280, 310, 317, 319–321, 325, 342 – multiple 319–321 Erzähler 21 Erzählerkommentar 23, 93, 105, 117, 133, 139–140, 154, 163–165, 168, 172, 175–176, 178, 184–186, 188– 192, 201–206, 209, 211, 275–276, 297, 301–306, 310, 321, 323, 325, 347 Erzählerrede 24, 117, 128 Erzählzeit/ erzählte Zeit 25 Eschatologie 7, 183, 218, 220, 279 Exposition 23, 93, 155, 166, 170, 185, 195 Fehlstelle, narrative 2, 93, 97–102, 197–198, 299 Forensische Rollen (siehe auch Rollen) – des jüdischen Prozessrechts 49–55 – des römischen Prozessrechts 40–42 – Angeklagter 40, 49, 57 – Ankläger 40, 49, 57 – Prozesszuschauer 42, 59 – Richter 40, 54–55, 58 – Zeuge 41, 44–45, 49–54, 57–58 Formularprozess 37–38

Sachregister Galiläa 163, 236 Gegenanklage siehe Anklageumkehrung Gerichtsgremium 34, 39, 38–39, 43, 46–47 Gerichtsort 34, 46, 56, 64, 105, 157 Gerichtsprozess, kosmischer 7–8, 60, 110, 130, 139–161, 266–267, 279– 280, 303–310, 322–325, 332–335, 339–340, 342, 344, 349 Gerichtsrede 36, 67, 69–71, 82–83, 86, 128, 203, 215–216, 232–235, 283– 285, 323–324, 331 Gerichtsurteil siehe Urteil Geschworene 34–39 Geschworenengericht 34 Geschworenenrichter 36 Götzendienst 43, 50,52, 55, 61, 66, 72, 262 Handlung 23 Hannas 1, 91, 95–101, 103, 130, 156, 164, 241, 289–299, 326 Hiob 18, 69–72, 76, 84–85 Hoherpriester 93, 95, 97–101, 104, 110, 239–240, 301–302, 305, 326–327 Ich-bin-Prädikation 73–74, 78, 80–81, 85, 268–269, 348 Intertextueller Bezug 24 Intratextueller Bezug 24 Ironie 23, 96, 108 179, 195, 197, 207– 208, 211, 220, 243–244, 275 Jerusalem 46–48, 92, 124, 133–134, 147–148, 156–160, 163–165, 169– 172, 175, 192–193, 196, 209, 236– 238, 242, 270, 286, 298 Johannes (der Täufer) 123, 125, 140– 141, 146–150, 155–164, 185–186, 189, 191, 194, 224, 287, 294, 297, 314, 322.323 Kaiphas 97–101 Kaiser 39–40 Kaiserzeit 37 Kapitalverbrechen 38, 43, 48, 53–54, 61, 168, 202, 206–208, 263, 317–318

401

Kognitionsverfahren 36, 39–40, 92, 104, 127, 171 Konstruktion eines Prozess-Settings 29 Kosmologie 7 Kreuzigung 303, 321 Kreuzverhör 41, 268, 323 Kultkritik 65–66, 166–167 Laubhüttenfest 126, 193 Legisaktionenverfahren 36–37 Leser – idealer 21 – impliziter 21, 111, 140, 149, 151, 153–154, 157–158, 171, 174, 201– 202, 210–211, 339–344 – realer 17, 21 Leserperspektive 13, 17, 21, 96, 108, 343 Leviten 43, 54, 156, 157, 160, 163 Lichtmetaphorik 18, 131–133, 139– 144, 146, 148, 152, 180, 184, 232, 243, 251, 270, 272, 277–278, 303, 307, 321 Magistrat 34, 37–39 Makro-Prozess 29, 86, 161–163, 184, 234–235, 267–268, 284–285, 293– 295, 309–310, 320, 330, 333 Metapher 26 Mimesis 95, 150, 215, 222 Mischna 48–52, 54 Missverständnis 23, 172, 174, 189, 257–258, 266 Mord 43, 55, 61, 66, 260, 263, 265 Narrative Einbettung 29 Netzwerk, metaphorisches 18–19, 80, 113, 330 Nikodemus 163–165, 175–179, 184– 186, 244–245 Paradoxie 3, 66, 85, 151–153, 218, 220, 222, 233, 256, 349–351 Passah 165–166, 172, 175, 193, 327 Petrus 94, 97, 99 Pharisäer 49, 93, 101, 104, 128, 239, 244, 248–258, 264, 270, 272–285, 294, 298, 305

402

Sachregister

Philo von Alexandrien 15, 46–47, 50, 115–117, 211, 226 Pilatus 12, 14–15, 91–92, 97–112, 120, 130, 156, 266, 299, 326–328, 350 Polis 33 Priester 43, 45, 54, 157, 160, 163 Prolepse – externe 25 – interne 25 Prozess – kosmischer siehe Gerichtsprozess, kosmischer – metaphorischer siehe Rechtsstreit, metaphorischer Prozessmodulation 29 Prozessmotivik, alttestamentliche 10, 13 Prozessrecht – der Thora 42–45 – griechisches 33 – im Frühjudentum 46–48 – jüdisches 35, 37, 39, 41–45, 49–55, 82, 195, 204, 227, 242, 252 – römisches 36, 40 Prozess-Setting, literarisches 33, 52, 55–59, 60, 104, 107, 125–126, 129, 195, 204, 233, 261, 333 Prozesszuschauer 28–29, 33–34, 40, 42, 54–55, 59, 82, 104, 173, 175, 191, 200, 233, 236–269, 313–316, 321–324, 337, 340–341, 348 Pseudepigraphen, alttestamentliche 115–117 Quaestionsprozess 38–39 Quellen, rabbinische 9, 53, 214, 225, 228 Rechtsstreit – bilateraler 10, 13–14, 43, 56, 64, 69, 84, 118, 167–169, 190, 195, 204– 206, 210–211, 227, 233, 235, 260– 261, 300, 320–321, 330, 348 – metaphorischer 65–68, 75–80, 85, 87, 111, 150, 159–162, 169, 175, 178, 180, 205–206, 210–211, 221, 225, 227–228, 233–236, 244, 289, 293, 295, 310, 315, 319–321, 331– 339

– prophetischer 65, 67, 85 – rhetorische Funktion 67, 81, 86–87, 233, 321 – trilateraler 10, 13, 14, 43, 56, 64, 69, 84, 118, 133, 154, 161, 169, 204, 210–211, 233–235, 321, 330, 348 – übernatürlicher 75–76, 130–131, 262, 266, 290–293, 303, 333 – zwei Phasen 34, 36–38, 43 Rede siehe Gerichtsrede Reflexion der Prozess-Narration 29 Richter – absoluter 54, 66–67, 82, 172, 188 190, 210, 265, 332 – unvoreingenommener 1, 127, 224 – voreingenommener 276, 279–280, 301 Rolle, doppelte siehe Doppelrolle Rollen – forensische siehe Forensische Rollen – funktionale 45, 51, 81–82, 160, 349 – multiple 82–84, 313–315 – symbolische 19, 25, 27–29, 33, 55– 59, 107, 113, 129, 334, 336, 342, 350 – Zuweisung 9, 14, 105, 169, 188, 190–191, 206, 250, 317, 322 Rollenunion 82–84, 313–315 – Angeklagter und Richter 64, 83, 314 – Ankläger und Angeklagter 314, 323 – Ankläger und Richter 69–70, 190, 210 – Richter und Zeuge 67, 190, 323 – Richter, Zeuge und Ankläger 44, 55, 110, 323, 336, 348 – Zeuge und Ankläger 44, 49–53, 226–229 Sabbatbruch 1–2, 55, 102, 126, 129, 193, 196–203, 205–207, 213–214, 240, 244–245, 266–268, 271–275, 317–318, 323–324, 327, 348 Sadduzäer 48–49 Scheidung, große 7, 181 Schiedsrichter 34, 56 Schlichtung 34, 43, 48, 56, 291 Schöpfer 55, 66, 71–72, 83, 141–143, 149–152, 161, 211, 322, 331

Sachregister Schöpfung 142–143, 153, 209 Schuld 11, 35, 37–39, 55–56, 58–59, 82, 122, 150, 244, 261, 284, 335 Schuldeingeständnis 40, 56, 69, 338 – durch Stummbleiben 11, 63, 70, 74– 76, 82, 86, 96, 215, 232–233, 235, 323 Semantemen, forensische siehe Termini technici, forensische Statthalter 39–40, 47–48, 92, 103–104, 321, 328 Strafverfolgung 40, 91,–92, 99, 121, 126–129, 156–157, 161, 163, 171, 196–198, 200–209, 233–239, 243, 246, 259, 263–265, 298–302, 316, 319, 321, 349 Symbol 26 Synedrium 46–49, 92, 95, 98–99, 103, 125, 128, 157, 166, 297–302, 304– 305, 308, 310, 313, 315, 326 Tempel 100, 134, 164–172, 175, 190, 192–193, 236–238, 247–248, 286– 287, 293 Tempelschändung 34, 47, 126, 129, 167–173, 190, 293–294, 318, 324, 327 Tempelweihfest 165, 281, 286, 289, 293 Termini technici, forensische 21, 56– 58, 63, 70, 85, 104, 106, 114, 121– 126, 135–136, 156, 170, 176–177, 201–203, 205, 213, 219, 240, 260, 273–274, 313, 321, 330 Thora 2, 42–45, 49–50, 55, 66, 253

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Urteil – konditionales 68, 183, 191, 220, 307–310, 325, 335, 338, 341, 348 – eschatologisches 11, 171, 199, 307 Urteilsbildung 242, 256, 285, 297, 301, 316, 349 Urteilsverkündung 195, 197, 299, 301, 303–305, 307–309, 325, 348 Urteilsvollstreckung 39, 44, 53, 55, 62, 82, 104, 122, 128,–129, 219, 242, 288, 316 Verhandlung in absentia 128, 272, 274, 281–282, 295, 298, 300–301, 320– 321 Verwarnung, juristische 39, 50, 52, 171, 196, 207–208, 316 Volksmenge 59, 238–239, 241, 245– 248, 294, 299, 314–315, 340 Zeuge – Belastungszeuge 44–45, 50–52, 61– 62, 64, 106, 226, 255, 230, 264, 290 – Bundeszeuge 44, 58 – Entlastungszeuge 2, 41, 44–45, 52, 74, 106, 225–226, 228–229, 349 – falscher Zeuge 44, 52–53, 57, 63 – Mindestanzahl 41, 43, 50–53, 61– 62, 224–225, 248–249, 252 – Vertragszeuge 44 Zeugenrecht, alttestamentliches 50, 225–226, 249 Zeugnismotiv 7–10, 106, 135, 139–141, 146–150, 155, 158, 165, 175, 177, 186, 224, 249, 255, 338, 349–350