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German Pages 278 Year 2019
Der reformierte Schleiermacher
Schleiermacher-Archiv
Herausgegeben von Notger Slenczka und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Günter Meckenstock
Band 28
Der reformierte Schleiermacher Prägungen und Potentiale seiner Theologie Herausgegeben von Anne Käfer, Constantin Plaul und Florian Priesemuth
ISBN 978-3-11-060757-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060865-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060801-4 ISSN 1861-6038 Library of Congress Control Number: 2019950093 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Friedrich Schleiermacher gilt als Vordenker der Union protestantischer Konfessionen, er ist geradezu als „Anwalt der Union“ (Hans-Joachim Birkner) bezeichnet worden. Mitunter konnte sich damit der Eindruck verbinden, Schleiermacher habe für eine einfache Aufhebung der individuellen Vielfalt protestantischer Frömmigkeitskultur votiert. Unbeschadet des Sachverhalts, dass Schleiermacher zweifelsohne ein unionstheologisches Projekt verfolgt hat, stellt jene Sichtweise eine erhebliche Verkürzung dar. Sie lässt sich schon durch den äußeren Hinweis irritieren, dass Schleiermacher Zeit seines akademischen Lebens zugleich als reformierter Pfarrer gewirkt hat. Darüber hinaus lassen sich auch in seiner Theologie Spuren reformierter Prägung aufweisen. Diesen komplexen Problemzusammenhang aufzuhellen, ist das Ziel des vorliegenden Bandes. Er versammelt Beiträge, die Friedrich Schleiermacher als reformierten Theologen thematisieren. Dogmatische, ethische und ekklesiologische Themen seines vielseitigen Werks sind auf ihre reformierte Prägung hin untersucht. Seine Herkunft, sein Bildungsgang sowie seine beruflichen und akademischen Stationen kommen dabei ebenso in den Blick wie zentrale Theologumena der reformierten Tradition. Daneben wird Schleiermachers Engagement für die Union der lutherischen und der reformierten Konfessionen herausgestellt. Zudem ist die Bedeutung der Theologie Schleiermachers bis in die Gegenwart deutlich. Trotz ihres hohen Alters birgt sie erstaunliches Potential zur Beantwortung von Fragen, vor die (auch) heute reformierte, unierte sowie lutherische Kirchen und Gemeinden gestellt sind: Welche Bedeutung hat das konfessionelle Profil einer Gemeinde für ihr gottesdienstliches Handeln in Predigt und Abendmahl? Welche Bedeutung kommt der konfessionellen Geschichte zu? Was kennzeichnet eine reformierte Ethik? Das alles sind Fragen, die auch gegenwärtige Diskussionen bestimmen, nicht zuletzt im Zusammenhang der Gedenkjahre zu den Reformationsjubiläen 2017 in Deutschland und 2019 in der Schweiz. In Schleiermachers Theologie lassen sich dafür bedeutende Anregungen finden. Die Beiträge gehen auf zwei Veranstaltungen anlässlich Friedrich Schleiermachers 250. Geburtstages im Jahr 2018 zurück: die Reformierte Sommeruniversität vom 19. bis 24. August in Münster und das Reformierte Forum am 16. und 17. November 2018 in Halle. Wir danken den Veranstalterinnen und Veranstaltern, der WWU Münster, der Theologischen Universiteit Apeldoorn, der Johannes a Lasco Bibliothek, der MLUHalle-Wittenberg, dem Reformierten Kirchenkreis der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft. Gefördert wurden die Veranstaltungen von der Union Evangelischer Kirchen in Deutschland (UEK), der Evangelisch Reformierten Kirche, der Schleiermacherschen Stiftung, dem Freundes- und Förderkreis der Evangelisch-Theologischen Fakultät Münster e.V. und dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. https://doi.org/10.1515/9783110608656-001
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Besonderer Dank gilt den Referentinnen und Referenten, die sich zu dieser gemeinsamen Publikation haben einladen lassen. Den Herausgebern der Reihe „Schleiermacher-Archiv“ danken wir für die Aufnahme unseres Bandes und dem Verlag für die professionelle Betreuung. Wir würden uns freuen, wenn unser Band Impulse setzen kann, die Diskussion um die reformierten Prägungen und Potentiale der Schleiermacher’schen Theologie weiter anzuregen. Münster und Halle (Saale) im Juni 2019 Anne Käfer, Constantin Plaul und Florian Priesemuth
Inhalt Eröffnungsvorträge Martin Laube Der Reformierte Schleiermacher
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Simon Gerber „… qui Zuinglii magis quam Lutheri […] doctrinae sim addictus“. Wie die reformierte Konfession Schleiermachers Werdegang und Denken prägte
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Religionsphilosophische und dogmatische Fragestellungen Arnold Huijgen Das „semen religionis“ und die „pietas“ in Calvins Theologie und der „Anknüpfungspunkt“ und die „Frömmigkeit“ bei Schleiermacher. Ein Vergleich zweier reformierter Theologen 41 Constantin Plaul Darstellung des Glaubens. Schleiermachers religionstheoretische Aneignung einer 59 ästhetischen Kategorie Anne Käfer Von der Vorherversehung Gottes und der Evolution der Seele
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Matthias Hofmann Die Integrität des Menschlichen. Überlegungen zur Frage: Wie reformiert ist Schleiermachers Jesusbild? 89 Florian Priesemuth Wie reformiert ist Schleiermachers Abendmahlslehre?
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Arne Lademann Anfragen an die Trinitätslehre. Ihre Kritik bei Friedrich Schleiermacher und Möglichkeiten ihrer Neubestimmung 113
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Inhalt
Ethische Fragestellungen Caroline Teschmer „Die Seele ist uns nur mit dem Leib gegeben“. Ganzheitlichkeit und Zweigeschlechtlichkeit im Denken Friedrich Schleiermachers 125 André Munzinger Schleiermachers Geselligkeitskonzeption
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Arnulf von Scheliha „Kirchenzucht“? Reformierte Themen in der Christlichen Sittenlehre 153 Friedrich Schleiermachers Karl Tetzlaff Minderheiten in der Kirche. Schleiermachers „Princip der Oeffentlichkeit“ als Plädoyer für eine christliche Diskussionskultur 173
Ekklesiologische Fragestellungen Simon Gerber Wie reformiert ist Schleiermachers Kirchengeschichte?
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Michael Beintker Reformierte Akzente in der Kirchentheorie Friedrich Schleiermachers Marianne Schröter Schleiermacher als reformierter Prediger an der Charité Sabine Schmidtke Schleiermacher als Ökumeniker
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Jan Rohls Friedrich Schleiermacher. Reformierte Theologie und preußische 235 Kirchenunion Autorinnen und Autoren Personenregister
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Eröffnungsvorträge
Martin Laube
Der Reformierte Schleiermacher I Aus reformierter Sicht war das zurückliegende Reformationsjubiläum des Jahres 2017 eine durchaus ambivalente Angelegenheit. Natürlich wollte man bei diesem gedächtniskulturellen Großereignis nicht abseitsstehen. Doch zugleich war dem Jubiläum mit seinem unverkennbaren Schwerpunkt auf Luther, Luthertum und Wittenberg eine innere Lastigkeit eingeschrieben, welche die reformierte Tradition des Protestantismus ungebührlich an den Rand zu drängen schien. In diesem Jahr nun verlagern sich die Gewichte auf die andere Seite. Es gilt, des 50. Todestages Karl Barths (1886 – 1968) zu gedenken und den 250. Geburtstag Friedrich Schleiermachers (1768 – 1834) zu feiern – der eine der große „Kirchenvater“ des 19. Jahrhunderts, der andere der maßgebliche Theologe des 20. Jahrhunderts, beide dem reformierten Protestantismus zugehörig. Bald möchte es so scheinen, als finde das verbreitete Narrativ von der besonderen Moderneaffinität des Reformiertentums hier nun endlich seinen sprechenden Ausdruck: Während das Augenmerk der Lutherischen auf der Reformation des 16. Jahrhunderts liegt, ist der Übergang des Protestantismus in die Neuzeit und Moderne mit der Erinnerung an Schleiermacher und Barth fest in reformierter Hand. Bei näherem Hinsehen freilich stellt sich die Sachlage durchaus verwickelter dar. So erscheint es noch immer überaus gewöhnungsbedürftig, die Namen Karl Barths und Friedrich Schleiermachers in einem Atemzug zu nennen.¹ Sie gelten als Begründer und Häupter zweier gänzlich unvereinbarer, einander erbittert bekämpfender Schulen – der liberalen Theologie auf der einen, der dialektischen Theologie auf der anderen Seite. Dem Bemühen um eine Vermittlung von christlicher Religion und moderner Kultur tritt dabei eine schroffe Diastasentheologie gegenüber, die um Gottes willen Offenbarung und Religion, Glaube und Geschichte meinte gegeneinander ausspielen zu müssen. Bis heute werden anhand der Frage „Schleiermacher oder Barth?“ Frontlinien gezogen und Loyalitäten geprüft. Die allgemeine Dominanz der dialektischen Theologie nach dem Ende des 2. Weltkriegs hat dazu geführt, dass auch im deutschen Reformiertentum Karl Barth eindeutig den Sieg davontrug. In der Folge ging die Ende der 1960er Jahre einsetzende Wiederentdeckung Schleiermachers an der reformierten Theologie und Kirche nahezu völlig vorbei. Bis heute ist Karl Barth der omnipräsente Übervater im deutschen reformierten Protestantismus und so
Zum Verhältnis von Barth und Schleiermacher vgl. den instruktiven Band von Matthias Gockel/ Martin Leiner (Hg.), Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, Göttingen 2015. https://doi.org/10.1515/9783110608656-002
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scheinen reformierte und ‘Barthianische’ Theologie weitgehend deckungsgleich zu sein. Dem entspricht auf der Gegenseite, dass von einer nennenswerten liberalen, dem Denken und Erbe Schleiermachers verpflichteten Tradition im reformierten Protestantismus – bisher jedenfalls – kaum eine Rede sein kann. Dass Schleiermacher ein reformierter Theologe ist, dass der reformierte Geist also nicht mit einer bestimmten theologischen Schule verwechselt werden darf – ja mehr noch, dass das Reformiertentum mit Schleiermacher und Barth das dynamische Kraftzentrum des neuzeitlichen Protestantismus repräsentiert, scheint auf reformierter Seite selbst schlicht nicht bewusst zu sein. Das hat seinen Grund zunächst natürlich in der vernichtenden Kritik, mit der Barth und die Seinen Schleiermacher zum Ahnvater des so verhassten „Kulturprotestantismus“ meinten stilisieren zu müssen. Dabei sind freilich die pauschalen – von jedweder genaueren Schleiermacher-Kenntnis unbelasteten – Invektiven mancher Barthianer von der Haltung Karl Barths selbst zu unterscheiden. Dieser würdigte Schleiermacher gleichwohl als „Heros, wie sie der Theologie nur selten geschenkt werden“², und zollte ihm höchste Anerkennung und Respekt: „Er ist für uns nicht überwunden. Wenn irgendeiner heute mitredet in der protestantischen Theologie, als ob er mitten unter uns stünde, so ist es Schleiermacher. Paulus und die Reformation studiert man, mit den Augen Schleiermachers aber sieht man, und in seinen Bahnen denkt man. Das gilt auch da, wo man den wichtigsten seiner Theologumena oder gar ihrer Gesamtheit kritisch oder ablehnend gegenübersteht“³. Doch es gibt wohl noch einen zweiten Grund, warum Schleiermacher als reformierter Theologe kaum präsent ist. Dieser Grund hat mit Schleiermacher selbst zu tun – und zwar mit seinem weithin bekannten Eintreten für die kirchliche Union in Preußen. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass die überkommenen Lehrunterschiede zwischen Lutherischen und Reformierten keine Kirchentrennung mehr rechtfertigten – und konzipiert daher auch seine Glaubenslehre bewusst als evangelische Unionsdogmatik, welche jene Differenzen nunmehr „als eine Sache der Schule“⁴ behandelt. Dieser Schritt hat in der Folgezeit zu der Auffassung verleitet, es sei Schleiermacher darum gegangen, die innerprotestantischen Lehrdifferenzen als solche aufzuheben und die Unterscheidung zwischen lutherischer und reformierter Tradition zum Verschwinden zu bringen. Er könne und dürfe daher gerade seinem eigenen Selbstverständnis nach nicht mehr als konfessionell reformierter Theologe angesehen werden. Doch hier handelt es sich um ein Missverständnis. Schleiermacher hat nicht nur zeitlebens als reformierter Pfarrer und Prediger gewirkt; auch sein theologisch-dog Karl Barth [1961], Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 61994, 380. Karl Barth [1923/24], Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, Karl Barth Gesamtausgabe II/11, Zürich 1978, 1. Barth 1978, 1 (Anm. 3).
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matisches Denken weist deutlich erkennbar ein reformiertes Profil auf. Das gilt es im Folgenden zu zeigen. Dabei soll im ersten Schritt Schleiermachers Werdegang als reformierter Pfarrer und Prediger kurz resümiert werden. Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang auch seine Überlegungen zur kirchlichen Union zu berücksichtigen, da sie weithin aus kirchlichen Praxiserfahrungen erwachsen sind (II.). Der zweite Schritt gilt sodann der Frage, ob und in welcher Weise Schleiermachers theologisches Denken möglicherweise einen reformierten Grundzug erkennen lässt. Dafür wird exemplarisch die Glaubenslehre in den Blick genommen. Wenngleich Schleiermacher sie als Unionsdogmatik konzipiert, lässt sie doch in einigen zentralen Grundmotiven ein unverkennbar reformiertes Profil durchscheinen (III.). Den Abschluss bilden knappe Überlegungen dazu, welche Bedeutung die (Wieder‐)Entdeckung Schleiermachers als eines reformierten Theologen für das Profil und Selbstverständnis gegenwärtiger reformierter Theologie und Frömmigkeit haben könnte (IV.).
II Friedrich Schleiermacher entstammt einem von Grund auf reformierten Pfarrhaus.⁵ Nicht nur sein Vater war bereits reformierter Pfarrer, sondern auch die beiden Großväter – der eine als Hofprediger am Berliner Dom, der andere als Prediger der reformierten Gemeinde in Elberfeld. Er selbst wächst als Zögling der Herrnhuter Brüdergemeine auf. Nach seinem krisenbehafteten Abschied von dort tritt der Weg ins Pfarramt zunächst in den Hintergrund. Dennoch absolviert er die üblichen Ausbildungsstationen: Vor dem reformierten Kirchendirektorium in Berlin legt er seine beiden Examina ab – und erhält im Fach Dogmatik übrigens erst nur ein „ziemlich“, dann sogar nur ein „hinlänglich“. Es folgt die Ordination; im Anschluss tritt er zu Ostern 1794 seine erste Stelle als reformierter Hilfsprediger in Landsberg an der Warthe an. Von nun an wirkt Schleiermacher bis zu seinem Tod als reformierter Pfarrer und Prediger – unbeschadet der zusätzlichen Übernahme eines akademische Lehramts. Als prägend erweist sich dabei die enge Zusammenarbeit mit seinen lutherischen Amtskollegen. 1796 übernimmt er die Stelle als reformierter Krankenhauspfarrer an der Berliner Charité. Neben anderen Aufgaben hat er hier im Wechsel mit seinem lutherischen Pendant die sonn- und feiertäglichen Gottesdienste abzuhalten. Als Frucht ihrer Kooperation verfassen beide ein Memorandum mit Vorschlägen zur Verbesserung der gemeinsamen Amtsführung. Am Ende steht die – vergebliche – Bitte, es möge den Predigern gestattet werden, „zweckmäßige Formulare zu einer
Vgl. zu den nachfolgenden biographischen Angaben vor allem die imposante Darstellung von Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001. Einen informativen Überblick bieten auch die entsprechenden Abschnitte in Martin Ohst (Hg.), Schleiermacher-Handbuch, Tübingen 2017.
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gemeinschaftlichen Liturgie zu verfaßen“⁶. Damit wird hier erstmals Schleiermachers Bemühen um eine evangelische Union greifbar. Auf die Berliner Jahre folgt das Exil in Hinterpommern. Schleiermachers Verhältnis zu einer verheirateten Pfarrfrau hatte bei seinen Vorgesetzten Anstoß erregt; daraufhin wird er im Jahre 1802 als reformierter Hofprediger nach Stolp versetzt. Der Ort zählt etwa 4.000 Einwohner, unter ihnen 250 Reformierte. Damit befindet sich Schleiermacher nun in der reformierten Diaspora. Die Gottesdienste finden – wieder im Wechsel mit dem lutherischen Amtskollegen – in der gemeinsam genutzten Schlosskirche statt. Zudem hat Schleiermacher noch andere versprengte Gemeinden, teilweise in weit entfernten Orten zu versorgen. Die ständigen Dienstreisen werden ihm zunehmend zur drückenden Last. Unter dem Eindruck dieser Erfahrungen publiziert Schleiermacher 1804 – zunächst anonym – ein Gutachten „Über die Trennung der beiden protestantischen Kirchen“⁷ und entwirft darin das Modell einer wechselseitigen Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft. Eindrücklich weist er zunächst auf die gravierenden Nachteile der derzeitigen Lage hin. Sie schade erstens der Kirche selbst. Denn die engstirnige Fixierung auf längst unverständlich gewordene dogmatischen Trennlinien führe zu einer „abergläubigen Ueberschätzung des bloßen Wort- und Formelwesens […] zum Nachtheil der wahren Religiosität“⁸. Sie verleite dazu, „ein Nichts für ein Etwas zu halten“⁹, und befördere so „die Herrschaft der Gedankenlosigkeit, des Stumpfsinns und der dunkeln Vorstellungen und Gefühle“¹⁰. Zweitens sei aber auch der Staat von der kirchlichen Spaltung betroffen, gehe sie doch mit einer höchst unproduktiven Ressourcenverschwendung einher. So seien in vielen Gegenden die lutherischen Pfarrer überlastet, während sich die reformierten Prediger geradezu langweilten und – der vielen Reisen wegen – die Hälfte ihres Lebens im Wagen zubrächten, „wo der Mensch doch sehr unnütz ist“¹¹. Zur Verbesserung dieser Lage plädiert Schleiermacher nun keineswegs auf die Schaffung einer Bekenntnisunion. Zum einen liege der Grund des Übels nicht in der konfessionellen Pluralität selbst, zum anderen führe die Suche nach einem dogmatischen Lehrkonsens nur zur künstlichen Aufwertung der alten Gegensätze und beschwöre „die Gefahr einer neuen Trennung“¹² herauf. Stattdessen gelte es, eine Kirchengemeinschaft zu begründen, welche die Unterschiede in Lehre und Kultus unangetastet lasse und niemanden „in der Freiheit seines Glaubens und seines
Friedrich Schleiermacher [1799], Brief 686. An das Armendirektorium (mit J.G.W. Prahmer), KGA V/3, Berlin/New York 1992, 174. Vgl. Friedrich Schleiermacher [1804], Über die Trennung der beiden protestantischen Kirchen, KGA I/ 4, Berlin/New York 2002, 369 – 408. Schleiermacher 2002, 373 (Anm. 7). Schleiermacher 2002, 377 (Anm. 7). Schleiermacher 2002, 377 (Anm. 7). Schleiermacher 2002, 385 (Anm. 7). Schleiermacher 2002, 389 (Anm. 7).
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Thuns“¹³ beschränke. Entsprechend lautet Schleiermachers Vorschlag, einfach nur den freien und wechselseitigen Gebrauch des Abendmahls einzuführen. Dieser Schritt sei hinreichend, um dann auch Pfarrstellen konfessionsübergreifend zu besetzen und die Verwaltungsbehörden zusammenlegen zu können. Als Beispiel verweist Schleiermacher auf die Praxis der Herrnhuter Brüdergemeine: „Etwas ähnliches ist ohnedies längst vorhanden […]; nemlich in der evangelischen Brüdergemeine, von welcher überhaupt noch viel vortreffliches abzulernen wäre. Hier ist diese Kirchengemeinschaft längst realisirt […]. Lutheraner und Reformirte, welche sich zu dieser Gemeine halten, communiciren gemeinschaftlich, ohne daß von einer Veränderung des Glaubensbekenntnisses die Rede wäre“¹⁴. Das bedeutet: Schleiermacher hat eine kirchliche Union im Sinn, welche nicht die konfessionellen Unterschiede selbst, sondern lediglich deren kirchentrennende Bedeutung aufhebt. Nachdrücklich verwahrt er sich gegen die einfältige Suche nach einem „mittleren Proportionalglauben“¹⁵. In keiner Weise geht es ihm darum, lutherische und reformierte Tradition und Frömmigkeit in einen „gemeinevangelischen“ Protestantismus aufgehen zu lassen. Auf dieser Grundlage sind auch Schleiermachers kritische Bemerkungen zu den überkommenen dogmatischen Lehrdifferenzen zu verstehen. Deren kirchengründende bzw. kirchentrennende Bedeutung wird erkennbar relativiert. Doch zielt Schleiermacher damit keineswegs auf eine grundsätzliche Entwertung der Lehre; stattdessen sucht er, deren unaufhebbare Pluralität zur Geltung zu bringen. Die Vielgestaltigkeit der Glaubensüberzeugungen, Traditionen und Lehrmeinungen gilt ihm nicht als Hindernis, sondern vielmehr als Lebenselement der evangelischen Kirche. Darin wirke sich zum einen die geschichtliche Entwicklungsdynamik des Protestantismus, zum anderen dessen Grundprinzip der evangelischen Freiheit aus. In diesem Sinne heißt es in einer Predigt des späten Schleiermacher sogar: „Ja, gesegnet sey uns [der dogmatische] Streit und willkommen als ein großes köstliches Gut, welches Gott uns mit gegeben hat auf unsern Lebensgang; denn er hält uns rege und lebendig, […] daß wir nicht einschlummern in mitten der betäubenden Dinge dieser Welt“¹⁶. Die Aufgabe der Kirche und ihrer Unionsverfassung besteht dann darin, diesen binnenprotestantischen Pluralismus nicht in einem Gegenüber sich abschließender Konfessionen oder Schulen erstarren zu lassen, sondern dafür Sorge zu tragen, dass er in einer die evangelische Frömmigkeit belebenden und ihre Gemeinschaft fördernden Weise Gestalt gewinnt. Man mag hier unschwer den Eindruck gewinnen, dass Schleiermacher mit seinem Unionsprogramm den Geist der Leuenberger Konkordie vorwegnimmt. Denn auch diese sieht sich dem Ziel verpflichtet, die konfessionelle Vielfalt nicht aufzuheben, Schleiermacher 2002, 392 (Anm. 7). Schleiermacher 2002, 394 (Anm. 7). Schleiermacher 2002, 370 (Anm. 7). Friedrich Schleiermacher [1832], Predigt am 11. Juni 1832 vormittags, KGA III/13, Berlin/New York 2014, 294– 295.
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sondern vielmehr als legitime Ausdrucksgestalt des evangelischen Christentums zu begreifen und zu fördern. In der Tat liegen bei Schleiermacher die Wurzeln für das spätere Modell der Leuenberger Kirchengemeinschaft – mit der Pointe freilich, dass sich bei ihm selbst dabei eine Prägung durch seine Herrnhuter Jugendzeit bemerkbar zu machen scheint. Das Hinterpommersche Exil kommt zu einem Ende, als Schleiermacher im Jahre 1804 als außerordentlicher Professor und zugleich Universitätsprediger nach Halle berufen wird. Er besitzt zu diesem Zeitpunkt noch keinen akademischen Titel; erst drei Jahre später wird er von seiner eigenen Fakultät promoviert. Schleiermacher durfte die Berufung durchaus als Ausdruck persönlicher Wertschätzung durch den preußischen König betrachten; zugleich suchte dieser so seine eigenen Unionspläne voranzutreiben. Denn der lutherischen Fakultät in Halle wird der reformierte Theologe Schleiermacher regelrecht aufgenötigt – was diese ihn gelegentlich auch durchaus spüren lässt. Gleichwohl bleibt der Aufenthalt in Halle kurz bemessen. Nach der Eroberung Halles durch Napoleon wird die Universität im Jahre 1806 geschlossen. Für Schleiermacher beginnt eine Zeit der Unsicherheit, bis er 1809 schließlich zum reformierten Prediger an die Berliner Dreifaltigkeitskirche – einer lutherisch-reformierten Simultankirche – berufen wird. Diese Pfarrstelle hat er bis zu seinem Tod inne. Alle weiteren Aufgaben als Staatsrat und Professor an der 1810 neugegründeten Berliner Universität übernimmt er zusätzlich. Das bedeutet: Schleiermacher war nicht erst Theologieprofessor und als solcher dann auch Universitätsprediger, sondern vielmehr Gemeindepfarrer und darüber hinaus zusätzlich Universitätsprofessor. Er gilt insbesondere als begnadeter Prediger; seine Gottesdienste sind legendär gut besucht. Für Schleiermacher verwirklicht sich darin die lang erstrebte Einheit von Kanzel und Lehrstuhl. In seinem kirchenpolitischen Wirken setzt sich Schleiermacher weiterhin für die kirchliche Union ein und begrüßt den entsprechenden Aufruf des preußischen Königs vom Herbst 1817. Zudem gelingt es ihm, die Union in seiner Gemeinde einzuführen. Gleichwohl verschieben sich nun die Schwerpunkte: Schleiermacher setzt mehr und mehr auf eine grundlegende Kirchenreform und rückt diese – nach den Befreiungskriegen – in den Horizont einer umfassenden Staats- und Gesellschaftsreform im Geist bürgerlicher Freiheit und Mitgestaltung. In Aufnahme des kirchenrechtlichen Kollegialismus entwirft er eine presbyterial-synodale Kirchenverfassung, die vor allem auf eine Eindämmung des landesherrlichen Kirchenregiments zielt. Nachdrücklich betont Schleiermacher die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat. Hier liegt auch das Motiv für den nachfolgenden Agendenstreit, als der preußische König ab 1821 eine von ihm entworfene Agende einzuführen versucht. Schleiermacher bestreitet das ius liturgicum des Landesherrn; zudem erklärt er die Herstellung liturgischer Uniformität für hochgradig unprotestantisch. Damit blitzt schließlich auch hier wieder Schleiermachers Eintreten für die innere Pluralität als Kennzeichen der evangelischen Kirche auf.
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III Die Frage nach dem reformierten Schleiermacher kann sich natürlich nicht in der Nachzeichnung seines beruflichen Wirkens als reformierter Pfarrer und Prediger erschöpfen.Vielmehr lautet die entscheidende Frage, ob und in welcher Weise auch sein theologisches Denken, insbesondere die erstmals 1821/22 erschienene dogmatische Glaubenslehre, eine – mehr oder weniger deutlich erkennbare – reformierte Prägung aufweist. Diese Frage empfängt ihre besondere Pointe daraus, dass Schleiermacher die Glaubenslehre programmatisch als Unionsdogmatik konzipiert. Hatte er im Unionsgutachten von 1804 noch gefordert, der Dogmatiker müsse sich in seiner Darstellung der kirchlichen Lehre „zu einer bestimmten Confession bekennen, […] um zu beweisen, daß es auf eine Vertilgung dieses Unterschiedes nicht abgesehen ist“¹⁷, erklärt er nun, „das Wesen der evangelischen Glaubens- und Lebensansicht […] als in beiden Confessionen dasselbe darzustellen, und den verschiedenen Meinungen der beiden Confessionen innerhalb [Hervorhebung d.Vf.] dieses Gebietes ihren Ort anzuweisen“¹⁸. Von einer Verwischung oder Einebnung der Lehrdifferenzen ist freilich keine Rede. Schleiermacher hebt lediglich auf den Nachweis ab, dass sie in der evangelischen Kirche „neben einander bestehen können und vielleicht müssen“¹⁹. Auch einer Wahrung strikter Neutralität sieht er sich nicht verpflichtet. Im Umgang mit den klassischen innerprotestantischen Kontroverslehren – Christologie, Abendmahls- und Prädestinationslehre – verfährt er vielmehr höchst unterschiedlich. So schlägt Schleiermacher in der Abendmahlslehre einen ausgleichenden Mittelweg ein, der den harten Streitpunkt – die Frage nach dem Verständnis der Gegenwart Christi in, mit und unter den Elementen – gerade ausblendet. Zunächst präpariert er das gemeinevangelische Anliegen heraus, gegen die römische Verselbständigung der konsekrierten Elemente einerseits und der schwärmerischen Entwertung des Sakraments andererseits, den ‘Genuß’ von Leib und Blut Christi im Vollzug des Abendmahls zur Geltung zu bringen. Erst daraufhin wendet er sich der innerevangelischen Streitfrage nach dem Verständnis der Gegenwart Christi zu. Alle drei Erklärungsvarianten – die lutherische, zwinglische und calvinische – erklärt er dabei gleichermaßen für unbefriedigend. Bis es eine überzeugendere Fassung gebe, könne die gemeinsame Lehre daher nur „in Bezug auf die Wirkungen [Hervorhebung d. Vf.] des Abendmahls“²⁰ entfaltet werden. Entsprechend lautet der einschlägige Lehrsatz: „Der Genuß
Schleiermacher 2002, 401 (Anm. 7). Friedrich Schleiermacher [1821/22], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (1821/22), Teilband 1, KGA I/2,1, Berlin/New York 2003, 6. Schleiermacher 2003, 6 (Anm. 18). Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt Zweite Auflage (1830/31), Teilband 2, KGA I/13,2, Berlin/New York 2003, 393.
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des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl gereicht allen Gläubigen zur Befestigung ihrer Gemeinschaft mit Christo“²¹. Auch im Lehrstück von der Erwählung arbeitet Schleiermacher zunächst die gemeinsame Frontstellung gegen zwei gleichermaßen abzulehnende Häresien heraus.²² Dabei handelt es sich auf der Seite um die harte Dordrechter Lehre von der doppelten Prädestination, auf der anderen Seite um die kantische These einer aus eigener Willenskraft vollziehbaren Revolution der Gesinnung ²³. Demgegenüber bestehe das evangelische Anliegen darin, den im Erlösungsbewusstsein implizierten, auf eine allgemeine Weltvollendung zielenden Richtungssinn der göttlichen Erwählung herauszustellen, ohne im Gegenzug die These eines gänzlichen Unvermögens des Menschen zum Heil preiszugeben. In der folgenden Durchführung sucht Schleiermacher dann allerdings zu zeigen, dass am ehesten Calvins Fassung der Erwählungslehre dazu geeignet sei, dieses Anliegen zur Geltung zu bringen und die lutherische Betonung der Gnadenuniversalität mit dem reformierten Akzent auf der Gnadensouveränität zu vermitteln. Beim dritten dogmatischen Kontroversthema schließlich, der Christologie, stellt sich die Sachlage nochmals anders dar. Eine – wie immer geartete – Vermittlungsabsicht Schleiermachers ist hier nicht erkennbar. Er scheint nicht zwischen lutherischem genus maiestaticum und reformiertem Extra Calvinisticum hindurchsteuern oder beides füreinander aufschließen zu wollen. Zudem bleibt die innere Grundausrichtung des Lehrstücks eigentümlich schillernd. Der Verdacht, Schleiermachers Umbildung des vere deus zur „stetige[n] Kräftigkeit“²⁴ des Gottesbewusstseins Jesu breche dem Inkarnationsgedanken die Spitze ab, steht diametral dessen Selbstauskunft entgegen, es sei „der Spruch Joh 1,14 der Grundtext der ganzen Dogmatik“²⁵. Freilich ist damit die Ebene dogmatischer Einzelkontroversen bereits verlassen. Stattdessen weitet sich nun der Blick in Richtung bestimmender Grundfiguren und Leitmotive, die das Gesamtprofil der Glaubenslehre prägen und nicht auf einzelne Schleiermacher 2003, Teilband 2, 394 (Anm. 20). Vgl. zu Schleiermachers Erwählungslehre auch die auf dessen Akademieabhandlung gestützte Rekonstruktion von Eilert Herms, Freiheit Gottes – Freiheit des Menschen. Schleiermachers Rezeption der reformatorischen Lehre vom servum arbitrium in seiner Abhandlung „Über die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen“, in: Denkraum Katechismus: Festgabe für Oswald Bayer zum 70. Geburtstag, hg. v. Johannes von Lüpke/Edgar Thaidigsmann, Tübingen 2009, 197– 228. In der Glaubenslehre verweist Schleiermacher summarisch auf diese Abhandlung (vgl. Schleiermacher (2003), Teilband 2, 249 (Anm. 20)). Die Abhandlung selbst findet sich in Bd. I/10 der Kritischen Gesamtausgabe (vgl. Schleiermacher [1819], Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, KGA I/10, Berlin/New York 1990, 145 – 222). Zum Verhältnis beider Fassungen der Erwählungslehre vgl. die Bemerkungen von Herms 2009, 226 – 228. Vgl. Immanuel Kant [1793], Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Bettina Stangneth, Hamburg 2003, 61. Schleiermacher 2003, Teilband 2, 52 (Anm. 20). Friedrich Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, KGA I/10, Berlin/ New York 2002, 343.
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Lehrstücke beschränkt werden können. Im Folgenden sollen drei solcher Grundmotive benannt werden, dabei wird auch von der Christologie nochmals die Rede sein. Das erste Motiv betrifft Schleiermachers Gottesverständnis. Im Hintergrund der Glaubenslehre steht die – in den frühen Berliner Dialektik-Vorlesungen erarbeitete – strukturelle Differenz der beiden Totalitätsideen von Gott und Welt. Sei Gott als Einheit unter Ausschluss aller Gegensätze zu denken, so die Welt als Einheit unter Einschluss aller Gegensätze: „[D]ie Welt ist Raum und Zeit erfüllend, die Gottheit raum und zeitlos; die Welt ist die Totalität der Gegensätze die Gottheit die reale Negation aller Gegensätze“²⁶. In dieser Differenz liegt zum einen die welthafte Unzugänglichkeit Gottes begründet. Denn das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl kann das in ihm mitgesetzte ‘Woher’ seiner Abhängigkeit nicht gedanklich fassen, ohne es damit immer schon in den Wechselwirkungszusammenhang der Welt einzupassen – und so als dessen ‘Woher’ gerade zu verfehlen. Zum anderen hält Schleiermacher nun aber zugleich an einer konstitutiven Verschränkung beider Ideen fest. Als Totalitätsideen seien sie zwar nicht dem Gehalt, wohl aber dem Umfang nach identisch. Das bedeutet: Auch wenn Gott und Welt ‘himmelweit’ geschieden sind, gibt es doch „kein Verhältnis zu Gott außerhalb der Welt und kein Sein der Welt unabhängig von Gott“²⁷. Damit gelingt es Schleiermacher, neben der schlechthinnigen Transzendenz Gottes zugleich dessen schlechthinnige Ursächlichkeit zur Geltung zu bringen. Es gibt nichts in der Welt, was nicht von ihm her bestimmt wäre. Unverkennbar schlägt sich hier eine von Calvin herkommende reformierte Prägung des Gottesgedankens nieder. Gott erscheint als der weltjenseitig Transzendente und in der Welt schlechthin Tätige zugleich, als actus purus, dessen Allmacht – mit den Worten Calvins – „wachsam, […] wirksam und stets im Handeln begriffen“²⁸ ist, „so daß nichts ohne seinen Willen geschieht“²⁹. Nicht ganz zu Unrecht spricht Ferdinand Christian Baur von der „unläugbare[n] Monotonie“³⁰ einer absoluten Kausalität Gottes, welche für die reformierte Theologie und Frömmigkeit charakteristisch sei. Doch es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Denn als schlechthinniges Tätigsein ist Gott zugleich absolut einfach und mithin unveränderlich. Das aber be-
Friedrich Schleiermacher, Dialektik (1814/15), KGA II/10,1, Berlin/New York 2002, 147– 148. Vgl. zudem Ulrich Barth, Gott – die Wahrheit? Problemgeschichtliche und systematische Anmerkungen zum Verhältnis Hirsch/Schleiermacher, in: Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein, hg. v. Joachim Ringleben, Berlin 1991, 98 – 157, bes. 139 – 143. Ulrich Barth, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ‚Glaubenslehre‘. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie, in: Aufgeklärter Protestantismus, hg. v. Ulrich Barth, Tübingen 2004, 346. Johannes Calvin [1559], Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis, hg. v. Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 22009, 105. Calvin 2009, 105 (Anm. 28). Ferdinand Christian Baur, Princip und Character des Lehrbegriffs der reformirten Kirche in seinem Unterschied von der lutherischen, mit Rücksicht auf A. Schweizer’s Darstellung der reformirten Glaubenslehre, ThJb(T) 6, Tübingen 1847, 376.
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deutet, dass auch das geschichtliche Erlösungsgeschehen – also die Menschwerdung und das Leiden Jesu Christi – für Gott selbst belanglos und ohne Bedeutung bleibt. Zugespitzt formuliert, gelangt bei Schleiermacher durch die Erlösung nur die göttliche, immer schon auf Vollendung angelegte Determination des Weltprozesses zu Bewusstsein. Eine Relevanz dieses Geschehens für Gott selbst ist dabei in keiner Weise impliziert. Es betrifft ihn nicht und es verändert ihn nicht. Stattdessen arbeitet Schleiermacher in der Erwählungslehre betont die Einheit und Ewigkeit des göttlichen Ratschlusses heraus. Demgegenüber war Luther daran gelegen, die Geschichte Jesu Christi konsequent als „Gottes eigene, sein eigenes Sein angehende Geschichte“³¹ zu begreifen. In der Rede vom Tod Gottes findet dieses Anliegen seine radikale Zuspitzung. Sie ist für Luther zum einen soteriologisch notwendig. Denn hätte in Christus nur die menschliche Natur gelitten, wäre er „ein schlechter heiland“³² und bedürfte wohl selbst eines solchen. Zum anderen werde so vom Tod Jesu her erkennbar, wer Gott selbst sei – eben nicht der über den Wolken thronende Herrscher, sondern der liebende Vater, der sich um unseretwillen dem Tod aussetzt und ihn in sich aufnimmt. Schleiermachers Berliner Antipode Hegel hebt die Rede vom Tod Gottes nachdrücklich als das große Erbe der lutherischen Theologie heraus – und bestätigt so, wie sehr Schleiermacher seinerseits der reformierten Tradition verpflichtet bleibt.³³ Denn diese beharrt auf der unwandelbaren Majestät Gottes und verwahrt sich gegen das lutherische Anliegen, Gott selbst vom Leiden und Sterben seines Sohnes betroffen sein zu lassen. Vielmehr sei eben das das große Wunder, schreibt Calvin: „Der Sohn Gottes ist vom Himmel herniedergestiegen – und hat ihn doch nicht verlassen“³⁴. Damit ist zugleich der Übergang zum zweiten Grundmotiv erreicht – Schleiermachers Christologie. Sie stellt jeden Deutungsversuch vor eine große Herausforderung. Schleiermacher ersetzt die klassische Zweinaturenlehre durch eine Urbildchristologie, welche die Person Jesu als Modell und Urheber christlicher Frömmigkeit zugleich begreift. So begegne in Jesus „der schlechthin allgemeingültige Modellfall eines vollendeten Gottesbewußtseins“³⁵; dessen erlösende Tätigkeit bestehe darin, durch die Mitteilung seines Gottesbewusstseins die Gläubigen in die Lebensgemeinschaft mit ihm aufzunehmen. Schleiermacher sieht auf dieser Grundlage die Möglichkeit gegeben, das vere deus des christologischen Dogmas neu zur Geltung zu bringen: „Der Erlöser ist sonach allen Menschen gleich vermöge der Selbigkeit der menschlichen
Eberhard Jüngel,Vom Tod des lebendigen Gottes. Ein Plakat, in: Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, hg. v. Eberhard Jüngel, Gütersloh 1988, 115. Martin Luther [1528], Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis, WA 26, Weimar 1909, 319. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 3, Die vollendete Religion, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1995, 249. Calvin 2009, 256 (Anm. 28). Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996, 72.
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Natur, von Allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war“³⁶. Die Schwierigkeit besteht nun darin, wie dieses „eigentliche Sein Gottes in ihm“ zu verstehen ist. Zunächst sollte man meinen, dass damit eigentlich nichts anderes gemeint sein kann als das „eigentliche Sein des Gottesbewusstseins in ihm“. Dann wäre der Fall klar: Schleiermacher suggeriert durch seine Formulierung den Anschluss an das christologische Dogma und verdeckt doch zugleich, dass von einer vollgültigen Präsenz Gottes im Menschen Jesus keine Rede mehr sein kann. An die Stelle des einstigen vere deus tritt die Vollkommenheit des menschlichen Gottesbewusstseins – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dann ließe sich Schleiermachers Christologie so verstehen, dass sie ganz auf der Linie der reformierten Tradition den bleibenden Abstand zwischen Gott und Mensch einschärft, indem auch in Jesus dessen menschliche Natur unvermischt und unverwandelt bleibt, ja durch die stetige Kräftigkeit des Gottesbewusstseins überhaupt erst zu ihrer vollgültigen Realisierung gelangt. Doch ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Das zeigt sich darin, dass Schleiermacher eigens zu explizieren versucht, wie das Sein Gottes in einem Anderen gedacht werden kann: Da Gottes Sein reine Tätigkeit ist, jeder Mensch aber immer schon ein Ineinander von Tätigkeit und Empfangen darstellt, kann es eigentlich kein Sein Gottes in einem Menschen geben. Wenn sich nun allerdings ein Mensch kraft der ihm eigenen „lebendigen Empfänglichkeit“³⁷ vollkommen in den Dienst der göttlichen Ursächlichkeit stellte – also die göttliche Tätigkeit in der eigenen Tätigkeit vollständig fortsetzte –, dann würde er letztlich in gleicher Weise der Welt gegenüberstehen wie Gott selbst, würde sein Verhältnis zur Welt dem Verhältnis Gottes zur Welt entsprechen. Er könnte dann als „Abbild Gottes“³⁸ gelten. Eben das sei nun bei Jesus der Fall. Anders ausgedrückt: Kraft Jesu lebendiger Empfänglichkeit ist Gott selbst in und durch Jesus in der Welt tätig. Sein Handeln fällt mit dem Handeln Gottes selbst zusammen. Damit stellt sich die Sachlage plötzlich ganz anders dar. Nun steht nicht die reformiert-antiochenische, sondern vielmehr die lutherisch-alexandrinische Traditionslinie im Hintergrund. Der Akzent liegt nicht mehr auf Jesu menschlicher Selbsttätigkeit, sondern auf deren vollständiger – gleichsam hypostatischer – Absorption durch die Tätigkeit Gottes. „Kaum ein Theologe seit Cyrill von Alexandrien“, fasst Bruce McCormack den Gedanken zusammen, „hat die menschliche ‘Natur’ Christi so vollständig instrumentalisiert“³⁹.
Schleiermacher 2003, Teilband 2, 52 (Anm. 20). Schleiermacher 2003, Teilband 2, 55 (Anm. 20). Bruce McCormack, Barth und Schleiermacher, in: Barth-Handbuch, hg. v. Michael Beintker, Tübingen 2016, 69. Vgl. zum Folgenden auch die leicht variierten Ausführungen ders., Barths Kritik an Schleiermacher. Eine Meta-Kritik, in: Karl Barth und Friedrich Schleiermacher, hg. v. Matthias Gockel/ Martin Leiner, Göttingen 2015, 303 – 315. McCormack 2015, 311.
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Doch so schlüssig diese Deutung ist, so wenig kommt sie an dem Umstand vorbei, dass Jesu schöpferisch-spontane Selbsttätigkeit die göttliche Kausalität nur um- und fortsetzt, nicht aber selbst mit ihr identisch ist.⁴⁰ Ganz abgesehen von der Frage, ob die Figur einer lebendigen Empfänglichkeit, die sich dem weltlichen Ineinander von Aktivität und Passivität zu entziehen vermag, noch der von Schleiermacher behaupteten „Selbigkeit“ Jesu mit der menschlichen Natur entspricht, bleibt es doch dabei, dass mit der göttlichen Kausalität auch Gott selbst in den Grenzen der Welt nicht greifbar ist. Anders formuliert: Es kann allenfalls von einer Repräsentation, nicht aber von einer Präsenz Gottes in Christus die Rede sein.⁴¹ Damit aber setzt sich schließlich doch das reformierte Erbe in Schleiermachers Christologie durch – ja mehr noch: Es ist Schleiermacher letztendlich die Frage nicht zu ersparen, ob er unter Voraussetzung seiner strikten Trennung von Gott und Welt überhaupt noch die begrifflichen Mittel besitzt, um dem Anliegen des christlichen Inkarnationsgedankens Rechnung tragen zu können. Das Stichwort der lebendigen Empfänglichkeit leitet schließlich zum dritten Grundmotiv über. Es betrifft die ethische Grundsignatur der Frömmigkeit bei Schleiermacher. Nun ist seine Religionstheorie zunächst durch eine programmatische Abgrenzung der Frömmigkeit von Metaphysik und Moral gekennzeichnet. Es handle sich bei ihr weder um ein Wissen noch um ein Tun, erklärt Schleiermacher im einschlägigen Paragraphen der Glaubenslehre, sondern um „eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“⁴². Im Hintergrund steht die Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants. Schleiermacher folgt Kant zwar in dessen Kritik des Anspruchs auf menschliche Gotteserkenntnis; entsprechend gehe es in der Religion auch nicht um ein „objektives“ Wissen von Gott. Zugleich jedoch wendet er sich vehement gegen Kants Ausweg, die Religion stattdessen in den Dienst der Moral zu stellen. Unmissverständlich erklärt Schleiermacher: Die Religion „darf das Universum nicht brauchen um Pflichten abzuleiten, sie darf keinen Kodex von Gesetzen enthalten“⁴³. Stattdessen habe sie ihren Ort im Gefühl. Schleiermacher versteht darunter ein elementares, vor-reflexives Sich-inne-Werden des Menschen. Ihm gehe auf, in eine Welt eingespannt zu sein, die ihn in vielfältiger Weise prägt und
Das betont mit Recht Sabine Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ‘Lebendige Empfänglichkeit’ als soteriologische Schlüsselfigur der ‘Glaubenslehre’, Tübingen 2015, 162. Zur Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation vgl. vor allem Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, 127– 142. Eine Aufnahme dieser Unterscheidung zur Kennzeichnung der jeweiligen konfessionellen Profile in der reformatorische Abendmahlskontroverse vgl. Joachim von Soosten, Präsenz und Repräsentation. Die Marburger Unterscheidung, in: Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, hg. v. Dietrich Korsch, Leipzig 2005, 99 – 122. Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt Zweite Auflage (1830/31): Teilband 1, KGA I/13,1, Berlin/New York 2003, 19 – 20. Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin 2001, 76.
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bestimmt – und die er zugleich selbst aktiv zu gestalten und verändern vermag. Er erfährt sich mithin als abhängig und frei zugleich, ohne sich doch selbst dazu bestimmt zu haben. Eben darin besteht das berühmte Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit“: Der Mensch ist nicht Herr – oder Herrin – seiner selbst; vielmehr findet er sich immer schon eingestellt in eine Weilt, die ihm ebenso passiv vorgegeben wie aktiv aufgegeben ist. Damit deutet sich an, dass die Abgrenzung der Religion von der Moral nun keinesfalls mit einer prinzipiellen „Ent-Ethisierung“ der Frömmigkeit verwechselt werden darf. Schleiermacher wendet sich gegen eine moralische Funktionalisierung der Religion, bringt aber nachdrücklich zur Geltung, dass ihr – gerade im Christentum – ein elementarer ethischer Tätigkeitsimpuls eingeschrieben sei. Das Christentum gehöre in diesem Sinne dem „teleologischen“ Frömmigkeitstypus zu. Das bedeutet: Das allen Religionen gemeinsame Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit werde im Christentum so aufgenommen, dass es nur die Veranlassung biete, „um eine bestimmte […] Thätigkeit zu entwikkeln“⁴⁴. Die Frömmigkeit hemmt also das Handeln nicht oder setzt es außer Kraft; vielmehr entbindet es gerade den ethischen Antrieb, einen „werkthätige[n] Beitrag zur Förderung des Reiches Gottes“⁴⁵ zu leisten. Dabei kommt der Erlösung durch Christus entscheidende Bedeutung zu.⁴⁶ Sie besteht darin, dass Christus durch die Mitteilung seines „schlechthin kräftige[n] Gottesbewußtsein[s]“⁴⁷ dem Menschen ein „neues Lebensprincip“⁴⁸ einpflanzt und so „in die Gemeinschaft seiner Tätigkeit und seines Lebens aufnimmt“⁴⁹. Anders ausgedrückt: Jesus regt den Menschen dazu an, nun auch seinerseits ein Gottesbewusstsein auszubilden, sich also für die göttliche Wirkkausalität zu öffnen und das eigene Handeln in den Dienst der tätigen Verwirklichung des Reiches Gottes zu stellen. Die interessante Pointe liegt hier freilich im Detail. Schleiermacher bestimmt die erlösende Tätigkeit Jesu so, dass sie den Menschen nicht einfach passiv „überkommt“, sondern vielmehr dessen eigene Freiheit anregt und belebt. Die lutherische Rechtfertigungslehre mit ihrer strikten Betonung der Passivität des Menschen im Gnadengeschehen erfährt so eine kleine, aber feine Korrektur: Die Erlösung setzt die Freiheit des Menschen nicht außer Kraft, sondern vielmehr in Kraft. Sie vollzieht sich als ein „Thaterzeugen in uns“⁵⁰ und erscheint damit schließlich gar als „die zur eigenen [Hervorhebung d. Vfs.] That gewordene That des Erlösers“⁵¹. Schleiermacher 2003, Teilband 1, 76 – 77 (Anm. 42). Schleiermacher 2003, Teilband 1, 77 (Anm. 42). Eine ausführliche, überaus präzise und instruktive Rekonstruktion von Schleiermachers Soteriologie bietet Schmidtke 2015 (Anm. 40). Ihre Arbeit zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie den Begriff der ‘lebendigen Empfänglichkeit’ als lange übersehene Schlüsselkategorie der Glaubenslehre zur Geltung bringt. Vgl. überdies die ausgezeichnete Skizze bei Schröder 1996, 55 – 100 (Anm. 35). Schleiermacher 2003, Teilband 2, 55 (Anm. 20). Schleiermacher 2003, Teilband 2, 107 (Anm. 20). Schleiermacher 2003, Teilband 1, 105 (Anm. 42). Schleiermacher 2003, Teilband 2, 104 (Anm. 20). Schleiermacher 2003, Teilband 2, 104 (Anm. 20).
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Göttliche Gnade und menschliches Handeln werden mithin von Schleiermacher aufs Engste miteinander verschränkt. Die Erlösung vollzieht sich nicht als Befreiung von einem Tun-Müssen, sondern vielmehr als Befreiung zu einem Tun-Können. Es ist nicht nur so, dass auf den Zuspruch der göttlichen Gnade ein menschliches Handeln folgt; vielmehr gewinnt die göttliche Gnade nicht anders als in der „belebten Selbsttätigkeit“⁵² des menschlichen Handelns Gestalt. Hier macht sich unverkennbar ein reformiertes Erbe bemerkbar. Exemplarisch sei nur auf den Heidelberger Katechismus verwiesen. Er betont schon im Aufbau den engen Zusammenhang von Glaube und Handeln. Das Tun gilt nicht als etwas Zusätzliches zum Glauben. Vielmehr lebt der Glaube im Tun, es gibt ein gleichsam nur im praktischen Handeln. In diesem Sinne heißt es in Frage 64: „Macht aber diese Lehre [sc. von der Rechtfertigung allein aus Glauben; ML] nicht leichtfertig und gewissenlos? – Nein; denn es ist unmöglich, dass Menschen, die Christus durch wahren Glauben eingepflanzt sind, nicht Frucht der Dankbarkeit bringen“⁵³. Gerade in seiner Betonung der ethischen Grundsignatur des Glaubens also – in der Grundüberzeugung, dass das Christentum auf die ethische Gestaltung der Welt ausgerichtet und die Erlösung letztlich als Instandsetzung zur tätigen Mitarbeit an dieser Gestaltungsaufgabe zu verstehen ist –, erweist sich Schleiermacher als ein von Grund auf reformierter Theologe.
IV Zum Abschluss seien noch einige knappe Bemerkungen angefügt zu der Frage, welche Impulse sich nun aus einer Wiederentdeckung des „reformierten“ Schleiermacher für die gegenwärtige reformierte Theologie und Kirche ergeben könnten. Zunächst und vor allem verbreitert sich auf erhebliche Weise der Horizont dessen, was als reformierte Tradition und reformiertes Erbe gelten kann. Dass hier im Umgang mit Schleiermacher ein erheblicher Nachholbedarf besteht, liegt offen zu Tage: 2009 wurde ein Calvin-Jahr gefeiert, 2013 stand im Zeichen des Heidelberger Katechismus, das kommende Jahr ist zum Karl-Barth-Jahr ausgerufen – warum auch immer. Von einem Schleiermacher-Jahr jedoch war im Raum der reformierten Kirche nirgends die Rede. Diese anhaltende „Selbstverstümmelung“ des deutschen Reformiertentums ist ebenso bezeichnend wie unverständlich. Sie läuft auf eine Engführung hinaus, welche den Wirkungsreichtum der eigenen Tradition unnötig beschneidet und stattdessen eine quasi-orthodoxe Selbstmarginalisierung befördert. Im Gegenzug kann eine Neubesinnung auf das Erbe Schleiermachers der reformierten Theologie und Kirche frische Impulse und Perspektiven eröffnen. Vielleicht
Schleiermacher 2003, Teilband 2, 190 (Anm. 20). Heidelberger Katechismus [1563], in: Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Georg Plasger, Matthias Freudenberg, Göttingen 2005, 151– 186.
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mag uns der allzu harmonisch-friedliche Grundton einer fortschreitenden Versittlichung der Kultur suspekt vorkommen, vielleicht mag uns die Überzeugung von einer dem Humanum des Menschen eingeschriebenen Anlage zur Religion überholt erscheinen – und vielleicht mögen vor allem nüchterne reformierte Gemüter mit der romantisch-innerlichen Betonung des religiösen Gefühls nachhaltig fremdeln. Trotzdem verbindet sich mit dem Namen und Erbe Schleiermachers die beständige Erinnerung daran, sich nicht mit einer vermeintlichen Entchristlichung der modernen Welt abzufinden, sich nicht trotzig, ängstlich oder frustriert hinter dicke Kirchenmauern oder deren Ruinen zurückzuziehen – und schon gar nicht das Vertrauen in die anhaltende Erneuerungsdynamik und sinnstiftende Erschließungskraft der christlichen Überlieferung zu verlieren. Schleiermachers Theologie steht für die gedankliche Weite und Freiheit des evangelischen Christentums. Sie betont dessen lebendige Vielfalt und geschichtliche Veränderungsdynamik. Sie öffnet Horizonte, baut Brücken und bemüht sich unermüdlich darum, Glaube und Wissen, Christsein und Menschsein nicht auseinanderfallen zu lassen. Nach innen hin hält sie so das Bewusstsein für die ständige Aufgabe wach, erstarrte Formen und Formeln einer zeitgemäßen Umbildung zu unterziehen, die Ausbildung individueller Frömmigkeit zu fördern statt sie normativ zu gängeln und eine lebendige Pflege der Tradition nicht mit ihrer Mumifizierung zu verwechseln. Nach außen hin öffnet sie den Blick für die Wahrnehmung der kulturellen Prägekraft des Christentums und schärft den Sinn für seinen ethischen Gestaltungswillen, für die ihm innewohnende Verantwortung für das Gemeinwohl – ohne diese jedoch in einen gesetzlichen Moralismus abgleiten zu lassen. Bei alledem wahrt Schleiermacher die uneinholbare Freiheit und Selbständigkeit des frommen Subjekts. Er rückt dem individuellen Gewissen nicht „auf die Pelle“ und wird in keiner Weise religiös oder moralisch übergriffig – weder im Namen einer den Glauben bindenden Lehrnorm noch im Interesse der Herstellung gehorsamer Konformität in ethicis. Vielmehr ist Schleiermacher zutiefst davon überzeugt, dass gerade in der freiheitsgewährenden Selbstbeschränkung von Theologie und Kirche die reformatorische Grundeinsicht in die Differenz von Göttlichem und Menschlichem, Letztem und Vorletztem ihre angemessene Umsetzung findet. Nicht zuletzt dieser Impuls, gegen alle religiösen und moralischen, kirchlichen und politischen Absolutheitsansprüche, Endgültigkeitsbehauptungen oder Letztverbindlichkeitszumutungen die heilsame, stets überholbare Endlichkeit des Endlichen herauszustellen, sollte Anlass genug sein, die bisher herrschende reformierte Ignoranz gegenüber Schleiermacher aufzugeben und anzuerkennen, dass der liberale Geist des Christentums gerade auch zum wohlverstandenen eigenen Erbe der reformierten Theologie und Kirche gehört.
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„… qui Zuinglii magis quam Lutheri […] doctrinae sim addictus“ Wie die reformierte Konfession Schleiermachers Werdegang und Denken prägte „Ich freilich bin mehr der Lehre Zwinglis als Luthers ergeben“. So sprach Friedrich Schleiermacher, Professor der Theologie mit Schwerpunkt auf dem Neuen Testament, am Montag, den 3. November 1817 in seiner lateinischen Rede zum Festakt, den die Universität Berlin anlässlich des 300-jährigen Jubiläums des Lutherschen Thesenanschlags veranstaltete.¹ Vielleicht muss man sich hier ein Augenzwinkern dazudenken: Bei aller Verehrung für den deutschen Reformator und dessen zu feiernde Tat – er, Schleiermacher, gehöre ja gar nicht zu der nach ihm benannten Konfession, sondern zu einer anderen (und darüber hinaus dürfe man sowieso bei der Reformation über Luther nicht die zahlreichen anderen vergessen, die an ihr Anteil hatten²). Wenige Tage zuvor freilich, am 30. Oktober, dem Vorabend des Jubiläums, war derselbe Schleiermacher, diesmal in seiner Eigenschaft als Synodalpräses, maßgeblich an der gemeinsamen Feier des heiligen Abendmahls beteiligt gewesen, mit der die Berliner Stadtsynode, Lutheraner und Reformierte, feierlich vollzogen und dargestellt hatten, dass der alte Zwiespalt zwischen beiden Konfessionen nunmehr überwunden sei.³ Bewusste Zugehörigkeit zur reformierten Partei und die Überzeugung von der Zusammengehörigkeit aller protestantischen Partialkirchen und Bekenntnisse in einer Kirche, das widersprach einander für Schleiermacher nicht. – Später geriet Schleiermachers reformiertes Profil eher aus dem Blickfeld der Theologiegeschichtsschreibung. Schleiermacher selbst hätte das nicht verwundert, hatte er doch schon
Friedrich Schleiermacher, „Oratio in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi die III. Novembris A. MDCCCXVII. habita“, in: Orationes in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi d. III. Novembr. A. MDCCCXVII. habitae, Berlin o.J. (1817), 14– 27, hier 14 (Friedrich Schleiermacher, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, Kritische Gesamtausgabe [KGA] I/ 10, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin/New York 1990, 5). Vgl. Bernhard Schmidt, Schleiermachers Liedblätter 1817, Schleiermacher-Archiv 23, Berlin/New York 2008, 224– 227; Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, BHTh 177, Tübingen 2015, 357– 359. 363. 371; Ders., „Marheineke, Schleiermacher und das Reformationsjubiläum von 1817“, in: Reformation und Moderne. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2017, hg. v. Jörg Dierken/Arnulf von Scheliha/Sarah Schmidt, Schleiermacher-Archiv 27, Berlin/Boston 2018, 169 – 181, hier 179. [Friedrich Schleiermacher,] Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30sten October von ihr zu haltende Abendmahlsfeier, Berlin 1817 (Friedrich Schleiermacher, Kirchenpolitische Schriften, KGA I/9, hg. v. Günter Meckenstock unter Mitwirkung von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 2000, 173 – 188). https://doi.org/10.1515/9783110608656-003
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darauf hingewiesen, dass die aktuellen Gegensätze innerhalb der evangelischen Theologie wie der zwischen Rationalisten und Supranaturalisten – oder in späterer Zeit zwischen Spekulativen und Erweckten, zwischen Liberalen und Positiven, zwischen Dialektikern und Nicht-Dialektikern – quer über die Konfessionsgrenze gingen;⁴ andererseits hätte es ihn erstaunt, dass der Konfessionalismus, der doch nach dem Gesetz der Entwicklung allmählich erlöschen musste, etwas sehr Lebendiges blieb und dass für die eher mit der reformierten Tradition verbundene dialektisch-theologische Richtung des 20. Jahrhunderts er, Schleiermacher, zur anderen Seite gehören sollte, die irgendwie natürlich-theologisch, religionshistorisch, liberal, idealistisch, subjektivistisch, mystisch und dann vor allem lutherisch geprägt sei.
1 Lutherisches und reformiertes Kirchentum in den königlich preußischen Staaten Bevor wir nach der reformierten Prägung bei Schleiermacher suchen, werfen wir einen Blick auf Schleiermachers Heimatkirche, die deutsch-reformierte Kirche in den preußischen Staaten.⁵ An ihrem Ursprung stand der Übertritt des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund zu einer milden Form des reformierten Protestantismus; das war im Jahr 1613. Kurbrandenburg war gut sieben Jahrzehnte von einem eher konservativen Luthertum geprägt worden, das mehr katholische Zeremonien als die anderen Kirchen beibehalten hatte, und gehörte zu den Unterzeichnern der Konkordienformel; Kurfürst Johann Sigismund war verdrossen, dass sich Geistlichkeit und Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit in unbelehrbarer Hartnäckigkeit weigerten, seinen Schritt zu einer noch reineren Form des Protestantismus mitzuvollziehen. Die Religionspartei des Kurhauses und späteren königlich preußischen Hofes wurde durch die Besetzung und Besoldung von Pfarr- und Beamtenstellen sowie Ministerien noch vielfach begünstigt, blieb aber eine kleine, auf relativ wenige Gemeinden beschränkte Minderheit. Im Jahr 1794, unter Friedrich Wilhelm II., trat das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten in Kraft, das unter Friedrich dem Großen ausgearbeitet worden war. Im zweiten Teil unter Titulus 11 finden sich dort Bestimmungen über die Kir-
Z. B. [Friedrich Schleiermacher,] Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, 12– 13 (Friedrich Schleiermacher, Schriften aus der Stolper Zeit 1802 – 1804, KGA I/4, hg. v. Eilert Herms/Günter Meckenstock/Michael Pietsch, Berlin/New York 2002, 374– 375). Vgl. zum Folgenden: Handbuch über den königlich preußischen Hof und Staat für das Jahr 1804, Berlin 1804, 31– 32. 283 – 303; Carl Friedrich Stäudlin, Kirchliche Geographie und Statistik, Bd. 2, Tübingen 1804, 478 – 499; Erich Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, Bd. 1, Tübingen 1905, 23 – 51; Julius Langhäuser, Das Militärkirchenwesen im kurbrandenburgischen und Königlich Preussischen Heer, Metz 1912, bes. 48 – 49. 65. 69; Andreas Stegmann, Die Reformation in der Mark Brandenburg, Leipzig 2017, 225 – 234.
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chengesellschaften. Darunter versteht das Landrecht nicht etwa die großen Konfessionsverbände, auch nicht die Provinzialkirchen oder Propsteien, sondern vielmehr die Einzelgemeinden, seien sie nun lutherischer, katholischer, deutsch-reformierter oder französisch-reformierter Religion. Zu solchen Gesellschaften schließen sich die Untertanen des Staates zusammen, um den öffentlichen Gottesdienst zu begehen; der Zweck dieser Gesellschaften, die Pflege der Gesinnung, liegt auch im Staatsinteresse. Die Kirchengesellschaften (also Einzelgemeinden) sind auch die Eigentümerinnen der Kirchengebäude. Ihre Mitglieder genießen völlige Gewissensfreiheit, nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber ihren Geistlichen; diese dürfen sich nur sehr beschränkt in Privatangelegenheiten einmischen. Geistliche Obere gibt es auch (Superintendenten, Pröpste und Erzpriester); deren Hauptaufgabe ist es, über die Eignung der Kandidaten auf Pfarrstellen zu entscheiden und die Aufsicht über Pfarrer, Gebäude, Vermögen und Stiftungen zu führen, allerdings mit sehr beschränkter Disziplinargewalt. Um 1800 gab es als höchste Kirchenverwaltungsbehörden des Staates zwei geistliche Departements, die dem Justizministerium zugeordnet waren: Das lutherische Departement war auch für katholische Belange zuständig und stand unter einem Departementsminister, der zugleich dem lutherischen Oberkonsistorium präsidierte. Das zweite geistliche Departement war das reformierte; der reformierte Departementsminister hatte den Vorsitz sowohl im deutsch-reformierten Kirchendirektorium als auch im französisch-reformierten consistoire supérieur. (Bis 1764 hatte es noch ein einziges geistliches Departement gegeben; der Minister war gleichzeitig Vorsitzender des Oberkonsistoriums, des Kirchendirektoriums und des consistoire supérieur gewesen.) Das lutherische Oberkonsistorium war aus dem Konsistorium für Kurbrandenburg hervorgegangen und blieb, was die Mitglieder betraf, mit diesem nahezu identisch. Für die lutherischen Gemeinden der übrigen Gebiete von Ostpreußen bis Franken und Ostfriesland gab es noch eigene Konsistorialbehörden, die teilweise mit den örtlichen Regierungen verschmolzen waren.Von einer lutherischen Gesamtkirche in den preußischen Staaten konnte dabei keine Rede sein, der Geschäftskreis des Oberkonsistoriums und der Provinzial- und Stadtkonsistorien war ein durchaus beschränkter und ging nicht wesentlich über die Prüfung der Kandidaten und die Mitteilung obrigkeitlicher Verfügungen hinaus; ansonsten hing alles bei weitgehender lokaler Autonomie nur lose miteinander zusammen. – Näher in Verbindung mit den ihm unterstellten Gemeinden und Geistlichen stand das deutsch-reformierte Kirchendirektorium; mit etwa 125 Gemeinden war dieses Kirchenwesen überschaubar. Eine presbyterial-synodale Verfassung gab es nur im Westen der Monarchie, in Westfalen und Ostfriesland. – Von den Universitäten der königlich-preußischen Staaten waren zwei reformiert, die Viadrina in Frankfurt an der Oder als alte brandenburgische Landesuniversität und die klevische Universität in Duisburg, lutherisch waren die preußische Landesuniversität Königsberg und die Reformuniversität Halle im Herzogtum Magdeburg; hinzu kam 1792, als die Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth an Preußen fiel, noch Erlangen. – Außerhalb dieser Organisationsstruktur stand die Feldgeistlichkeit; ihre Parochien gliederten sich nach Regimentern und Garnisonen,
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ihr oberster Geistlicher war der Feldpropst, ihre oberste Behörde das Kriegskonsistorium in Berlin. (Das Kriegskonsistorium in Berlin unterstand erst dem Oberkriegskollegium, d. h. Verteidigungsministerium, dann seit 1792 dem Militär-Justiz-Departement.) All das wurde seit 1809 im Zuge der Steinschen Reformen völlig umorganisiert: Lutherisches Oberkonsistorium, deutsch-reformiertes Kirchendirektorium und französisch-reformierter consistoire supérieur verloren ihre Eigenexistenz und gingen in der staatlichen Kirchenverwaltung auf, diese wurde vom Justizministerium abgelöst und dem Innenministerium mit der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht übertragen, und aus den losen Kirchenverbänden wurden jetzt einheitliche Provinzialkirchen geformt mit je einem Konsistorium und einem Generalsuperintendenten an der Spitze. Die Einführung der lutherisch-reformierten Union und der königlichen Agende waren zwei der Schauplätze in diesem Prozess der Umorganisation, Verstaatlichung und Vereinheitlichung.⁶
2 Familienbande Friedrich Schleiermacher war Zeitgenosse, Zeuge und teilweise Ideengeber und Protagonist dieses Prozesses. Er stammte aus einer reformierten Predigerfamilie, und zwar mütterlicher- und väterlicherseits. Seine Mutter Elisabeth Schleyermacher war eine geborene Stubenrauch und gehörte damit einer der angesehensten Predigerfamilien an. Sie war die Tochter von Timotheus Christian Stubenrauch, Hofprediger in Stolp in Hinterpommern, dann Hof- und Domprediger in Berlin. Ihre Schwester Sophie Luise war mit dem reformierten Prediger in Landsberg an der Warthe Johann Lorenz Schumann verheiratet, ein Bruder, reformierter Hofprediger in Altlandsberg, war bei Schleiermachers Geburt schon verstorben. Die Stubenrauchs waren verwandt oder verschwägert mit Karl August Reinhardt, dem uralten Prediger an der Berliner reformierten Parochialkirche, der 1811 hoch in den Neunzigern verstarb (Schleiermacher wusste von der Verwandtschaft, konnte aber wohl schon nicht mehr genau erklären, um wieviele Ecken sie ging). Zu nennen ist hier aber besonders Ernst Stubenrauch, der Bruder von Schleiermachers Mutter, Schleiermachers Onkel und Patenonkel, selbst Patenkind des berühmten Berliner Hofpredigers und Akademiepräsidenten Ernst Jablonsky und für Schleiermacher besonders in den kritischen Jahren nach dem Bruch mit Herrnhut eine Art zweiter Vater. Stubenrauch war damals Professor am reformierten Gymnasium in Halle und hielt in dieser Funktion auch an der lutherischen Universität kirchengeschichtliche Vorlesungen für die reformierten Studenten.
Vgl. Foerster 1905, 124– 286 (Anm. 5); Ders., Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, Bd. 2, Tübingen 1907; Anselm Schubert, „Preußische Kirchenunion und Kirchenagende 1815 – 1834“, in: JSKG 95/96 (2016/17), 209 – 220.
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Weniger prominent war die Verwandtschaft auf väterlicher Seite. Der Vater Gottlieb Schleyermacher war reformierter Feldprediger mit Dienstsitz in Breslau. Als einziger Feldprediger seiner Konfession in Schlesien musste er oft wochenlange Dienstreisen unternehmen. Zu seinen Pflichten gehörte auch die Betreuung der reformierten Militärangehörigen samt Familien in der Garnisonsstadt Pleß in Oberschlesien nahe der polnischen Grenze. Im Jahr 1770 siedelten sich in Pleß etwa 300 Reformierte an, die aus Glaubensgründen von ihrer Ortsherrschaft aus dem nahen polnischen Seibersdorf vertrieben worden waren. Schleyermacher und der Fürst von Anhalt-Köthen Pleß, der Inhaber der Ortsherrschaft in Pleß und selbst reformiert, hatten an der Aufnahme der Seibersdorfer Glaubensflüchtlinge maßgeblichen Anteil. 1778 siedelte die Familie Schleyermacher auf Einladung des Fürsten von Breslau nach Pleß über; Schleyermacher wurde zusätzlich zur Feldpredigerstelle auch Prediger der neugebildeten reformierten Gemeinde in Pleß.⁷ Kurz darauf begann der sog. Kartoffelkrieg zwischen Preußen und Österreich um die Erbfolge im Kurfürstentum Bayern, ein Krieg, von dem vor allem im Gedächtnis blieb, dass beide Seiten Kampfhandlungen peinlichst vermieden. Stabsfeldprediger Schleyermacher begleitete mehrere Regimenter auf ihren Märschen durch Schlesien und lernte dabei die Herrnhuter Kolonie Gnadenfrei bei Peilau kennen. War Schleyermacher bisher aufgeklärt-neologisch gesinnt gewesen (laut seinem späteren Rückblick sogar zwölf Jahre lang ganz ungläubig), so bekam seine Frömmigkeit nunmehr eine neue Richtung; nicht zuletzt sorgte er dafür, dass seine Kinder auf herrnhutische Erziehungsinstitute kamen. Dafür musste er sich im Jahr 1785 gegen Vorwürfe verteidigen, mit denen ihn der Breslauer Hofprediger Daniel Heinrich Hering aufgrund eingegangener Klagen konfrontierte: Schleyermacher halte sich öffentlich zu den Gnadenfreier Herrnhutern, führe sein reformiertes Predigtamt nur noch lau, gebe seiner Gemeinde mancherlei Anstoß, kurz, er sei ein Sektierer geworden.⁸ Das rührte an das Trauma der Familie: Gottlieb Schleyermachers Vater Daniel Schleyermacher hatte sich als reformierter Prediger in Elberfeld der Zionsgemeinde angeschlossen, einer radikal-pietistischen, chiliastischen Gruppierung, die sich um den Textilfabrikanten Elias Eller und die Bäckerstochter Anna von Büchel gesammelt hatte. Die Gemeinde verstand sich selbst als die prophezeite reine Geistkirche und als neues Jerusalem, verehrte Anna von Büchel als Prophetin und Zionsmutter und erwartete ein von ihr zu gebärendes messianisches Kind; nach ihrem Ausschluss aus der Elberfelder reformierten Gemeinde gründete sie vor der Stadt, in Ronsdorf, ein wirtschaftlich prosperierendes Gemeinwesen mit Eller als Bürgermeister. Schleyermacher wurde zum Prediger der Gruppierung; ein Heft mit sorgfältigen Aufzeichnungen Schleyermachers über Anna von Büchels Prophezeiungen und die Aktivitäten der Vgl. Andreas Wackwitz, „Johann Gottlieb Adolph Schleyermacher“, in: JSKG 43 (1964), 89 – 153, hier 92– 96. 106 – 135. Brief 138 (Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1774 – 1796 [Briefe 1 – 326], KGA V/1, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1985, 138 – 139); E. Rudolf Meyer, Schleiermachers und C.G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine, Leipzig 1905, 273; vgl. Wackwitz 1964, 97– 99 (Anm. 7).
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Zionsgemeinde wurde jüngst wiederentdeckt und publiziert. Der Tod der Prophetin und „Zionsmutter“ bedeutete für die Gemeinde eine schwere Krise; Schleyermacher überwarf sich schließlich mit Eller, der die alleinige Führung beanspruchte, und kehrte mit einem Teil der Ronsdorfer nach Elberfeld zurück. Eller strengte bei der kurpfälzischen Regierung in Mannheim daraufhin gegen Schleyermacher einen Hexenprozess an, und Schleyermacher entwich ins niederländische Arnheim zu einer seiner Schwestern und verfasste eine Verteidigungsschrift. Der Prozess gegen den Abwesenden endete mit einem Freispruch. Jahre später rief die Elberfelder Gemeinde Schleyermacher als Prediger zurück, doch zum Amtsantritt kam es nicht mehr.⁹ Gottlieb Schleyermacher hatte all diese Wirren miterlebt, teils als Beteiligter vor Ort, teils von seinen Studienorten Duisburg und Halle aus. 1750 wurden seine Mutter und er vom Konsistorium in Elberfeld als Zeugen zu den Vorfällen verhört.¹⁰ Seinem Sohn offenbarte Schleyermacher die Geschichte erst spät: Der Sohn hatte zum großen Kummer des Vaters mit dem Herrnhutertum vorläufig gebrochen und war vom Seminarium in Barby an die Universität Halle gewechselt. Als beide sich einander allmählich wieder annährten, warnte der Vater den Sohn vor zu stolzer, glaubensvergessener Spekulation und empfahl ihm neben dem Studium der Kantschen Kritik auch die Lektüre von Jung-Stillings Buch Theobald oder die Schwärmer: „Es enthält unter fingirten Nahmen lauter wahre Geschichte, deren eine ich selbst erlebt habe; es ist die Geschichte meines seligen Vaters, welche im 2ten Bändchen unter dem Nahmen Darius vorkommt.“¹¹
3 Der lange Weg ins Amt Seine drei Vornamen hatte Schleiermacher zu Ehren dreier reformierter Männer erhalten: Friedrich hieß er nach dem großen König, der sich als Indifferentist freilich wenig um seine Konfession scherte, Daniel nach dem schwärmerischen Großvater und Ernst nach dem Onkel und Patenonkel. Auf die Laufbahn als reformierter Theologe geriet er aber eher unverhofft. Die Herrnhuter hatten Schleiermachers außerordentliche Begabung erkannt und ihn zur Vorbereitung auf eine se-
Vgl. Karl Krafft, „Schleyermacher, Daniel“, in: ADB, Bd. 31, Leipzig 1890, 478 – 481; Claus Bernet, „Büchel, Anna Catharina von“, in: BBKL, Bd. 22, Nordhausen 2003, 156 – 160; Ders., „Das neue Jerusalem im Rheinland: Eine Untersuchung zu den Motiven der Stadtgründung von Ronsdorf bei Wuppertal“, in: MEKGR 56 (2007), 129 – 147; Daniel Schleyermachers Manuskript 1738 bis 1743 und 1735 bis 1737. Einsprachen der Anna vom Büchel, Ereignisse um Elias Eller in Elberfeld und in der neuen Gemeinde Ronsdorf, hg. v. Günter Twardella, Sprockhövel 2009. Vgl. Wackwitz 1964, 91– 92 (Anm. 7). – Protokolle der Verhöre stehen in der anonymen Schrift Gräuel der Verwüstung an heiliger Stätte, oder die Geheimnisse der Bosheit Der Ronsdorffer Secte, entdeckt in einem Sendschreiben aus C. an einen vornehmen Gottesgelehrten der protestirenden Kirche in B. worinnen die Abscheulichkeit dieser neuen Ketzerey aus Urkunden historisch fürgetragen, und aus der heiligen Schrift und gesunden Vernunft gründlich widerleget wird, Frankfurt am Main/Leipzig 1750. Brief 79 (KGA V/1, 87– 90).
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gensreiche Tätigkeit in ihrer Gemeine schon mit 16 Jahren in ihr Seminarium in Barby versetzt. Der Weg in den reformierten Kirchendienst begann damit, dass Schleiermacher den Vater nach einem Jahr auf dem Seminarium bat, ihn doch Theologie studieren zu lassen, denn in Barby sei die Lektüre allzu beschränkt, von den neuesten Debatten in Exegese und Dogmatik sei man geradezu abgeschirmt.¹² Ein halbes Jahr später, Anfang 1787, eröffnete Schleiermacher dem Vater, er habe seit einem Jahr den Glauben an die Gottheit Christi und dessen genugtuendes stellvertretendes Opfer ganz verloren; auf ein Amt in der Gemeine dürfe er so nicht mehr hoffen. Ein Theologiestudium in Halle unter der Aufsicht des Onkels werde ihm helfen, über die Fragen ins Reine zu kommen.¹³ So geschah es dann auch. Der Onkel hatte den Neffen schon vorher gelinde gemahnt, sich nicht zu früh auf ein strenges Herrnhutertum festzulegen;¹⁴ nun vermittelte er zwischen seinem Schwager und seinem Neffen, gab dem Neffen Hinweise für das Studium und nahm ihn bei sich auf.¹⁵ In Halle scheint Schleiermacher dann freilich vor allem Philosophie und Philologie getrieben zu haben.¹⁶ Im Sommer 1788 bekam Onkel Ernst Stubenrauch eine Predigerstelle in Drossen in der Neumark; Schleiermacher blieb noch ein viertes Semester in Halle, dann war er auf sich selbst gestellt, denn das väterliche Geld war aufgebraucht. Eine Lehrerstelle in Schlesien gebe es nicht, schrieb der Vater, zumal der Hofprediger Hering, Inspektor der reformierten Schulen, Schleiermacher für zu klein und zu krumm gewachsen halte. In Halle fand Schleiermacher die Konkurrenz um die wenigen Hauslehrerstellen zu groß, und an der Universität sei für Reformierte kaum etwas zu bekommen.¹⁷ So zog Schleiermacher für ein Jahr nach Drossen zu seinem Onkel, studierte dessen gut sortierte Bibliothek durch und arbeitete sich für das anstehende Examen in die Theologie ein, wenn auch mit Widerwillen, wie er einem Studienfreund schrieb, und nur deshalb, weil ihm sonst für sein weiteres Leben nichts mehr bliebe als auf dem Jahrmarkt mit dem Dudelsack einem Bären zum Tanz aufzuspielen.¹⁸ Als der Vater zum Examen mahnte, schrieb Schleiermacher, er werde sich jetzt melden und nach Berlin aufmachen, um vor dem Kirchendirektorium anzutreten, auch wenn seine Kleider inzwischen so abgenutzt seien, dass er sich kaum in Drossen auf die Straße traue, viel weniger in Berlin.¹⁹ Der Vater adressierte nach Berlin Gnaden- und Segenswünsche zum Examen und trug Grüße an den Hofprediger Friedrich Sack auf, von dessen Vater er einst examiniert und ordiniert worden sei,²⁰ während der Onkel aus
Brief 45 (KGA V/1, 38). Brief 53 (KGA V/1, 50 – 52). Brief 33 (KGA V/1, 29 – 30); 39 (KGA V/1, 32– 34). Brief 55 (KGA V/1, 57– 58); 57 (KGA V/1, 59); 61 (KGA V/1, 65 – 66); 67 (KGA V/1, 67– 68). Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, „Einleitung der Bandherausgeber“, in: KGA V/1, XXV – LIX, hier XXIX – XXXI; Gerber 2015, 48 – 49 (Anm. 2). Brief 108 (KGA V/1, 113 – 114). Brief 128 (KGA V/1, 178); vgl. 134 (KGA V/1, 193). Brief 129 (KGA V/1, 180); 131 (KGA V/1, 185). Brief 138 (KGA V/1, 197– 198).
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Drossen schrieb, seine Frau keife auf Schleiermacher, dass er sich zum Examen noch immer keinen Haarbeutel gekauft habe.²¹ Indessen gingen alle Prüfungen gut, und der Hof- und Domprediger Sack, Mitglied sowohl des Kirchendirektoriums als auch des lutherischen Oberkonsistoriums, dazu Konfirmator des Kronprinzen (des späteren Königs Friedrich Wilhelms III.), mit den Stubenrauchs seit je befreundet, lobte die Probepredigt des Kandidaten Schleiermacher.²² Er war von nun an Schleiermachers Mentor und väterlicher Freund. Dem ersten Examen folgte nach altem Brauch die Hauslehrerzeit; da die Zahl der reformierten Predigerstellen begrenzt war, konnte sie lange dauern. Der erwähnte Breslauer Hofprediger Hering z. B. war 14 Jahre lang Hauslehrer gewesen, ehe er mit 35 Jahren auf die erste Stelle berufen wurde. Schleiermacher ging zur gräflichen Familie Dohna-Schlobitten nach Ostpreußen. Die Zeit in Schlobitten wurde prägend für ihn, nicht nur durch das Familienleben, in das er sich aufgenommen fand, er bestieg auch öfter mit Beifall die Kanzel, fand Gefallen am Predigen und kam dabei bald ohne Konzept aus.²³ Einer Pfarre oder einer Professur an der reformierten Viadrina fühlte er sich einstweilen gesundheitlich nicht gewachsen.²⁴ Nach einem Streit, sei es über die Erziehung, sei es über die Französische Revolution, beschlossen Schleiermacher und Graf Dohna, sich in Freundschaft zu trennen.²⁵ Schleiermacher wollte sich, wie er seinem Mentor Sack bei einem Besuch in Berlin sagte, sowohl eine kirchliche als auch eine schulische Karriere offenhalten, und Sack, inzwischen zum Oberhofprediger befördert, vermittelte ihm eine Stelle als Schulamtskandidat an Friedrich Gedikes reformpädagogischem Lehrerseminar in Berlin.²⁶ Ein Jahr später, 1794, schlug Schleiermacher endgültig die kirchliche Laufbahn ein: Sein über 70jähriger Onkel in Landsberg an der Warthe, Prediger Johann Lorenz Schumann, brauchte für seine Amtsgeschäfte nunmehr einen Adjunkt (Hilfsprediger) und schlug dazu Schleiermacher vor. Sack nahm sich der Sache an, und Schleiermacher legte in Berlin vor Sack und zwei weiteren Hof- und Dompredigern sein zweites Examen ab, empfing von Sack die Ordination und ging nach Landsberg.²⁷ Sack gab zu dieser Zeit Sammlungen von Predigten englischer Aufklärungstheologen heraus, und Schleiermacher unterstützte ihn bei der Übersetzung. Als Johann Lorenz Schumann ein Jahr später verstarb, wünschte sich die Gemeinde Schleiermacher als Nachfolger. Das Kirchendirektorium
Brief 143 (KGA V/1, 202). Brief 145 (KGA V/1, 203). Brief 147 (KGA V/1, 204); 154 (KGA V/1, 213 – 214); 160 (KGA V/1, 216 – 221); 216 (KGA V/1, 291); [Friedrich Schleiermacher,] Monologen, Berlin 1800, 108 (Friedrich Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, KGA I/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1988, 44). Brief 179 (KGA V/1, 248). Brief 216 (KGA V/1, 292– 293). Brief 231 (KGA V/1, 311– 312). Brief 254 (KGA V/1, 342); 255 (KGA V/1, 343). – Bei der Ordination verpflichteten sich die reformierten Prediger in Verkündigung und Unterricht auf die Confessio Sigismundi, insofern sie mit der Heiligen Schrift übereinstimme, und im Verhalten gegen die Lutheraner auf die einschlägigen kurfürstlichen und königlichen Edikte; vgl. Foerster 1905, 51– 55 (Anm. 5).
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entschied anders: Die erledigte Stelle in Landsberg bekam Onkel Ernst Stubenrauch, der Schwager des Verewigten, und Sack bot Schleiermacher statt ihrer die Stelle als Prediger an der Berliner Charité an; die war zwar, weil die Dienstwohnung ebenso klein war wie das Gehalt, nur für Unverheiratete geeignet, aber Sack schrieb ausdrücklich, er wünsche sich Schleiermacher in seiner Nähe. Kurz darauf konnte er Schleiermacher gratulieren, dass er den Ruf angenommen hatte.²⁸ Mit 27 Jahren trat Schleiermacher also seine erste, noch schlecht bezahlte Predigerstelle an.
4 Erfahrungen und Reflexionen Schleiermacher hatte im Laufe seines Lebens drei Stellen im Kirchendienst inne: die reformierte Predigerstelle an der Berliner Charité, die Hofpredigerstelle im hinterpommerschen Stolp und die reformierte Pfarrstelle an der Berliner Dreifaltigkeitskirche. Dazu kann man noch die Hilfspredigerstelle in Landsberg zählen und die Stelle als Universitätsprediger in Halle, die sich Schleiermacher bei den Verhandlungen über seine dortige Professur ausgebeten hatte, und schließlich auch noch die Garnisonkirche in Potsdam, wo Schleiermacher 1799, für drei Monate vom Dienst an der Charité freigestellt, die vakante Hofpredigerstelle versah, die Reden Über die Religion schrieb und am Karfreitag dem König das Abendmahl reichte. An der Charité war Schleiermacher mit dem Patron der Stelle, dem Armendirektorium, immer wieder in Händel verwickelt: Er beschwerte sich über nicht angekettete Hunde auf dem Gelände, unzumutbare Wohnverhältnisse und einbehaltenes Essen, das ihm zugestanden hätte; das Armendirektorium entgegnete, Schleiermacher falle durch ein für einen Prediger unschickliches unzufriedenes Wesen auf.²⁹ Auch mit Sack, dem väterlichen Freund, gab es Verstimmungen; Schleiermachers Freundschaft mit Juden und mit Personen von verdächtigen Grundsätzen und Sitten (d. h. Friedrich Schlegel und den Frühromantikern), noch mehr aber sein Liebesverhältnis zur Frau des lutherischen Pfarrers am Invalidenhaus, erregten Skandal.³⁰ Um ihn aus den Berliner Verwicklungen zu entfernen, bot Sack Schleiermacher eine besser bezahlte Hofpredigerstelle in Schwedt an der Oder an, doch der wollte seinen Berliner geselligen und literarischen Verhältnissen nicht entsagen und lehnte ab.³¹ Später äußerte
Brief 293 (KGA V/1, 382– 383); 299 (KGA V/1, 389 – 390); 302 (KGA V/1, 391– 392); 305 (KGA V/1, 395 – 397); 307– 310 (KGA V/1, 397– 400). Vgl. Simon Gerber, „Seelsorge ganz unten – Schleiermacher der Charité-Prediger“, in: Wissenschaft und Geselligkeit, hg. v. Andreas Arndt, Berlin/New York 2009, 15 – 41, hier 20 – 24. Brief 496 (Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1796 – 1798 [Briefe 327 – 552], KGA V/2, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1988, 371); 1005 (Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1801 – 1802 [Briefe 1005 – 1245], KGA V/5, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/ New York 1999, 3). Brief 493 (KGA V/2, 358 – 359); 496 (KGA V/2, 367. 371); 530 (KGA V/2, 419 – 420).
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Sack sein Missfallen über Schleiermachers offenbaren Pantheismus in den Reden Über die Religion. ³² 1802 konnte Schleiermacher Sacks Forderung, sich weg zu bewerben, nicht mehr ignorieren; diesmal handelte es sich um die Hofpredigerstelle in Stolp in Hinterpommern (eine Stelle, die rund 80 Jahre zuvor Schleiermachers Großvater Timotheus Christian Stubenrauch innegehabt hatte).³³ In Stolp war Schleiermacher, wie er in vielen Briefen an die fernen Freunde schrieb, einsam und ganz unglücklich; die Menschen seien ohne Sinn für Höheres, das Klima an der Ostsee ungesund und geisttötend. Und dann musste er auch noch ausgedehnte, strapaziöse Dienstreisen bis nach Westpreußen machen, um verstreut lebende Reformierte kirchlich zu versorgen. Schleiermacher bewarb sich bei erster Gelegenheit, allerdings erfolglos, auf die Hofpredigerstelle in Königsberg; im Geist sah er sich auch schon in Stolp auf dem Friedhof liegen.Wissenschaftlich und literarisch waren die zwei Stolper Jahre für ihn immerhin ertragreich.³⁴ Die Erlösung von Stolp brachte ein Ruf an die an Bayern gefallene Universität Würzburg; wunschgemäß verweigerte Preußen Schleiermachers Entlassung aus der Staatsbürgerschaft und berief ihn dafür als Professor der Theologie und Universitätsprediger nach Halle.³⁵ Wegen seiner Konfession war Schleiermacher hier zunächst nur außerordentlicher Professor; in seinem ersten Dogmatik-Kolleg saßen, wie er seinem Freund Joachim Christian Gaß, damals lutherischer Feldprediger in Stettin, schrieb, nur eine Mandel (d. h. etwa 15) Zuhörer; die Studenten seien eben nicht sicher, ob die ketzerische Dogmatik eines Reformierten auch von den Studien- und Kirchenbehörden als gültig anerkannt würde, und als Schellingianer sei er auch schon bezeichnet worden.³⁶ Nach drei Semestern wurde Schleiermacher immerhin zum Ordinarius befördert. Der ordentliche Universitätsgottesdienst, für den Schleiermacher lange kämpfte, kam erst im Spätsommer 1806 zustande, und kurz darauf war dann schon alles vorbei: Napoleon besetzte Halle und schloss die Universität. Die darauf folgende prekäre Existenz als freier, zwischen Halle und Berlin pendelnder Schriftsteller und öffentlicher Lehrer beendete im Jahr 1809 die Berufung auf die reformierte Predigerstelle an der Berliner Dreifaltigkeitskirche. Patron der Kirche war der König selbst. Schleiermacher behielt die Stelle neben seiner späteren Berliner Professur bis an sein Ende. Die Stellen, in denen Schleiermacher im Kirchendienst stand, von Landsberg über die Charité und die Stolper Hofgemeinde bis zur Dreifaltigkeitsgemeinde, waren sämtlich an Simultankirchen angebunden, die zugleich den Lutheranern dienten.
Brief 1005 (KGA V/5, 3 – 7). Brief 1172 (KGA V/5, 336); 1177 (KGA V/5, 343 – 344); 1180 (KGA V/5, 345 – 346); 1182 (KGA V/5, 350). Vgl. Simon Gerber, „Lebens- und Wirkungskreise“, in: Schleiermacher Handbuch, hg. v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 138 – 145. Vgl. Dankfried Reetz, Schleiermacher im Horizont preußischer Politik, Waltrop 2002, 11– 67. Brief 2072 (Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1804 – 1806 [Briefe 1831 – 2172], KGA V/8, hg. v. Andreas Arndt/Simon Gerber, Berlin/New York 2008, 366).
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Schleiermachers Verhältnis zu den lutherischen Kollegen war stets problemlos gut – mit der einzigen Ausnahme August Wilhelm Christian Grunows, Predigers am Berliner Invalidenhaus, dessen reformierte Insassen Schleiermacher als Charitéprediger mit zu versorgen hatte; jahrelang hatte Schleiermacher um Frau Grunow geworben, bis die sich endgültig entschied, doch bei ihrem Mann zu bleiben. Aus seinen Erfahrungen zog Schleiermacher den Schluss, dass die bisherige Weise, beide Konfessionen zu trennen, für das Kirchenwesen unzweckmäßig und hemmend sei. In einer Kleinstadt (wie Stolp, wo Schleiermacher diese Überlegungen zu Papier und dann anonym an die Öffentlichkeit brachte) gebe es üblicherweise mehrere lutherische Pfarrer und einen reformierten. Die lutherischen hätten unter sich noch die Aufsicht über das Schulwesen und die Betreuung der Vorstädte und Nachbardörfer aufgeteilt; der reformierte habe sich nur um wenige Seelen zu kümmern, entsprechend habe er wenig Dienstgeschäfte und viel Muße, wenn er nicht gerade auf einer seiner obligatorischen, beschwerlichen Dienstreisen sei. Die Trennung beider Parteien zerreiße Familien, die doch die eigentliche Keimzelle der Kirche seien. Von dem, worin der Unterschied eigentlich bestehe, herrschten die abenteuerlichsten Vorstellungen, und aus dem Wunsch, das eigene Profil gegenüber der anderen Seite zu bewahren, gebe es eine sonst gar nicht zu erklärende Anhänglichkeit an den äußerlichen Buchstaben, bei den Lutheranern etwa an vom Mittelalter her fortgeerbte Rituale, die sonst längst verschwunden wären. Die Reformierten wiederum litten aufgrund ihrer Minderzahl an der fixen Idee, unterdrückt zu sein; sie eiferten um ihre Fortexistenz, würden aber auf sich gestellt ihre Bildungsanstalten schwerlich noch lange aufrechterhalten können.³⁷ Schon an der Charité unterbreiteten Schleiermacher und sein lutherischer Kollege dem Armendirektorium den Vorschlag, die bisherige strenge Trennung der Geschäfte, die dem reformierten Prediger immer nur ein paar Einzelfälle ließ, fahrenzulassen und den Dienst auf den Krankenstationen nebst Kommunion am Krankenbett lieber wochenweise zwischen den Predigern aufzuteilen, unter Verwendung eines gemeinsamen Abendmahlsrituals und brüderlicher Teilung der Gebühreneinnahmen. Das Armendirektorium approbierte den Vorschlag der wochenweisen Geschäftsverteilung, nicht jedoch den eines gemeinsamen überkonfessionellen Ritus bei der Kommunion am Krankenbett.³⁸ In seinen Stolper unvorgreiflichen Gutachten riet Schleiermacher nun davon ab, die Konfessionen von oben zu vereinigen; alles solle im Prinzip so bleiben wie gehabt mit dem einzigen Unterschied, dass die Differenzen nicht mehr als kirchentrennend und die Teilnahme an Handlungen der anderen Konfession nicht mehr als Übertritt angesehen werden sollten. Die Differenzen beträfen ja einerseits Fragen der Dogmatik (also der wissenschaftlich zusammenhängenden Darlegung der Lehre, aber nicht des
[Schleiermacher] [1804] 2002, 6 – 37 (Anm. 4) (KGA I/4, 371– 386). Brief 686 (Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1799 – 1800 [Briefe 553 – 849], KGA V/3, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1992, 172– 174); 735 (KGA V/3, 269).
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Glaubens selbst, Fragen also, die nur die Theologen angingen und immer umstritten blieben, und davon nicht einmal die, die in der jetzigen Zeit im Mittelpunkt der Kontroversen stünden) und teils Angelegenheiten der Liturgie und Kirchenverfassung, bei denen der Protestantismus von je Unterschiede zugelassen habe. Was die einzelnen Gläubigen sich beim Empfang des Sakraments dächten, wisse sowieso niemand so genau, darauf die Einheit zu gründen, würde jede Kirche sprengen. Wenn also Lutheraner nach Belieben Gottesdienste und Amtshandlungen der reformierten Geistlichen besuchen und in Anspruch nehmen könnten und vice versa, dann würden binnen kurzem beide Kirchen zusammenwachsen; religiöse und dogmatische Vielfalt werde bleiben, aber das Eifern um Buchstaben und die organisatorische Zerfahrenheit würden aufhören, und über die Gebühren für Amtshandlungen werde man sich irgendwann auch einigen.³⁹ Im Jahr 1821 bereiteten die beiden Gemeinden an der Berliner Dreifaltigkeitskirche ihre Union vor, also ihre Vereinigung unter Aufhebung der bisherigen Unterscheidung von Pfarrstellen und Dienstgeschäften nach lutherisch und reformiert. Schleiermacher schrieb seinem ehemaligen Studenten Johann Wilhelm Rautenberg, der jüngst zum Pastor in der Hamburger Vorstadt St. Georg gewählt worden war, die Union werde für ihn vor allem bedeuten, dass es mit der bisherigen Gemütlichkeit im Konfirmandenunterricht vorbei sein werde; statt einer kleinen Runde „großentheils ziemlich fortgeschrittner Kinder“ werde es dann (ähnlich wie vermutlich in Rautenbergs Vorstadtgemeinde) „eine große Menge Catechumenen aus den niedern Ständen“ sein, die zu ihm strömen werde, sodass er sich manchmal wünsche, man ließe die Menschen wie in Nordamerika einfach unkonfirmiert herumlaufen.⁴⁰ Der Unterschied von lutherisch und reformiert war mithin nicht zuletzt ein soziologischer; wer zu den breiten unteren Schichten gehörte, war eben Lutheraner. – Am Palmsonntag 1822 vereinigten sich dann wirklich beide Gemeinden zu einer Dreifaltigkeitsgemeinde; Schleiermacher hielt selbst die Festpredigt dazu.⁴¹
5 Reformiertes Profil 5.1 Was ist reformiert? In dieser Predigt – und auch sonst – legte Schleiermacher dar, die Reformation habe zwar gemeinsame Prinzipien gehabt – die Rechtfertigung allein aus Glauben, das Schriftprinzip und die religiöse Mündigkeit der bibellesenden Laien –, sei aber
[Schleiermacher] [1804] 2002, 2– 8. 40 – 82 (Anm. 4) (KGA I/4, 369 – 373. 388 – 408). Brief vom 11. 3.1821 (Friedrich Anton Löwe, Denkwürdigkeiten aus dem Leben und Wirken des Johann Wilhelm Rautenberg, Hamburg 1866, 21– 22). Vgl. Andreas Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Schleiermacher-Archiv 12, Berlin/New York 1992, 150 – 170; Bernhard Schmidt, Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers, Schleiermacher-Archiv 20, Berlin/New York 2002, 285 – 318.
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gleichzeitig und unabhängig voneinander an mehreren Orten emporgekommen. Die einen hätten sich energisch gegen das offenbar Verkehrte gewandt, das andere aber fürs erste beibehalten (die späteren Lutheraner), die anderen hätten gleich alles von Grund auf ändern und abschaffen wollen, was nur irgend zum Einfallstor für den Aberglauben werden könnte (die späteren Reformierten); hinzugekommen seien noch dogmatische Differenzen. Beide Seiten seien dann über Jahrhunderte nicht zu voller Gemeinschaft zusammengewachsen.⁴² – Innerhalb des Protestantismus, der eigentlich eine einzige Kirche und einen einzigen Typus des Christentums darstelle, hat sich Schleiermacher zur reformierten Schule bekannt.⁴³ Wilhelm Niesel hat im Jahr 1930 in einem Vortrag, der dann in Zwischen den Zeiten gedruckt wurde, dem Zentralorgan der Dialektischen Theologie, das Vorurteil untersucht, Schleiermacher sei nicht aus der reformatorisch-reformierten Tradition zu verstehen, sondern aus den geistigen Bewegungen seiner Zeit, und hat es am Ende bestätigt befunden.⁴⁴ Schleiermachers reformierter Schüler Alexander Schweizer dagegen hatte in Schleiermachers Glaubenslehre die genuin reformierte Dogmatik wiederhergestellt gefunden, deren Prinzip die Souveränität Gottes und die schlechthinnige Abhängigkeit aller Dinge von Gott sei.⁴⁵ Wo können wir Schleiermachers reformierte Identität wiederfinden? Eine Tendenz zu Gesetzlichkeit und Puritanismus, wie sie für den reformierten Protestantismus oft festgestellt wurde,⁴⁶ hat Schleiermacher nicht, im Gegenteil: An Luthers ansonsten von ihm als Volkslehrbuch im besten Sinne des Wortes gelobten Katechismus kritisiert er die prominente Rolle, die den zehn Geboten darin zuteil wird;⁴⁷ seine Sympathien
Friedrich Schleiermacher, Predigt 62 (Friedrich Schleiermacher, Predigten 1822 – 1823, hg. v. Kirsten Kunz, KGA III/7, Berlin/Boston 2012, 90 – 92); vgl. Ders., Praktische Theologie 1817/18, Nachschrift Jonas, BBAW Archiv, Schleiermacher-Nachlass 550, 29v–30v; Ders., Kirchengeschichte 1821/22, 92. – 93. Stunde (Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, KGA II/6, hg. v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006, 629 – 633); Ders., Praktische Theologie 1824, Nachschrift Palmié, BBAW Archiv, Schleiermacher-Nachlass 554, 92– 94. Friedrich Schleiermacher, An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Sätze, Berlin 1818, 17 (KGA I/10, 32); Ders., „Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke“, in:TSK 2 (1829), 255 – 284. 481– 532, hier 481 (KGA I/10, 337); Ders., Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831,VI (Friedrich Schleiermacher, Predigten. Fünfte bis Siebente Sammlung (1826 – 1833), KGA III/2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2015, 263). Wilhelm Niesel, „Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition“, in: ZZ 8 (1930), 511– 525. Alexander Schweizer, Die Glaubenslehre der Evangelisch-Reformierten Kirche, Bd. 1, Zürich 1844, 5 – 96. Z. B. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften 1, Tübingen 1912, 617– 621; Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, 108 – 128 (hier geht es freilich um den westeuropäischen und nordamerikanischen Calvinismus, nicht um das deutsche Reformiertentum); Paul Althaus, Die christliche Wahrheit, Bd. 1, Gütersloh 21949, 284; Werner Elert, Der christliche Glaube, Hamburg 31955, 21. Schleiermacher 1817/18, 124v – 125 (Anm. 42); Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 96. – 97. Stunde (KGA II/6, 647).
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für Johann Agricola und die Antinomer hat Schleiermacher nicht verhehlt.⁴⁸ Wenn er dagegen das sinnliche Prinzip zum Widerpart des höheren, geistigen Prinzips erklärt⁴⁹ und von der Kirchenmusik fordert, sie dürfe die Aufmerksamkeit nicht durch Virtuosität, große Tonsprünge und sonstige äußerliche Effekte fesseln,⁵⁰ erscheint das eher als typisch reformiert. Aber was war in der Zeit um 1800 überhaupt das Charakteristische am Reformiertentum? Der lutherische Aufklärungstheologe Gottlieb Jacob Planck, einer der Väter der kritischen Kirchengeschichtswissenschaft, wollte in seinem Leitfaden für konfessionskundliche Vorlesungen nicht bloß Einzelheiten, worin sich der Lehrbegriff der anderen vom lutherischen unterschied, nacheinander aufzählen, sondern vielmehr das Wesentliche jeder Religionspartei herausarbeiten und so zwischen grundsätzlichen und sekundären Unterschieden differenzieren.⁵¹ Die Hauptabweichung der reformierten Lehre von der lutherischen sieht Planck in der Annahme eines bloß partikularen göttlichen Heilsratschlusses, einer nicht durch das vorausgesehene Verhalten des Menschen motivierten Vorherbestimmung und einer gratia Dei irrestibilis für die Auserwählten, sprich: in der Prädestinationslehre; weniger bedeutsam sei demgegenüber die Sakramentenlehre, die bei den Reformierten auch selbst nicht einheitlich sei.⁵² Carl Friedrich Stäudlin nennt in seiner Kirchlichen Geographie und Statistik von 1804 die Prädestinationslehre, die Abendmahlslehre, die Ablehnung des Bischofsamts und die Einfachheit der gottesdienstlichen Gebräuche als reformierte Charakteristika; Episkopale und Independenten zählt er als eigene Parteien.⁵³ Planck und Stäudlin machen aber auch auf die Aufweichung der konfessionellen Profile in der neueren Theologie aufmerksam.⁵⁴ – Die auf die Unionsschlüsse folgenden Annäherungen und Verwerfungen brachten neue Versuche hervor, Reformiertes und Lutherisches in ihrer jeweiligen Besonderheit gegeneinander zu profilieren: Gab es doch tiefere Differenzen und nicht bloß die von Schleiermacher zugestandenen, den Vgl. Hermann Peiter, „Schleiermacher und der Antinomismus“, in: Internationaler SchleiermacherKongreß Berlin 1984, Bd. 2, Schleiermacher-Archiv 1,2, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1985, 1017– 1029; Gerber 2015, 362 (Anm. 2). Z. B. Schleiermacher 1817/18, 14. 25v–26. 32v. 143v (Anm. 42); Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, Berlin 21830, § 5; 8,2. 4 (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Bd. 1, KGA I/13,1, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, 41– 53. 66 – 68. 70 – 71). Schleiermacher 1817/18, 16v. 18. 116 (Anm. 42); Schleiermacher 1824, 149. 216 – 220 (Anm. 42); vgl. Schleiermacher, Christliche Sitte 1822/23 (Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Sämmtliche Werke I/12, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1843, 538 – 541). Gottlieb Jacob Planck, Abriß einer historischen und vergleichenden Darstellung der dogmatischen Systeme unserer verschiedenen christlichen Hauptpartheyen nach ihren Grundbegriffen, ihren daraus abgeleiteten Unterscheidungslehren und ihren praktischen Folgen, Göttingen 1796, 44– 46. Planck 1796, 73 – 75 (Anm. 61). Carl Friedrich Stäudlin, Kirchliche Geographie und Statistik, Bd. 1, Tübingen 1804, 76 – 80. Planck 1796, 113 – 128 (Anm. 61); Stäudlin 1804, 106 – 118 (Anm. 53).
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Glauben selbst gar nicht betreffenden Unterschiede in dogmatischer Theorie und äußeren Gebräuchen? Genannt als typisch reformiert wurden Republikanismus, ein freierer, subjektiverer Umgang mit der Tradition, die Wahrung der Ehre und der durch nichts Geschaffenes zu bindenden, absoluten Souveränität Gottes, eine mehr rationale und praktische Haltung.⁵⁵ Nicht genannt wird etwa die in der klassischen reformierten Dogmatik vertretene Föderaltheologie.
5.2 Kirchengebräuche und Kirchenverfassung Zurück zu Schleiermacher! Bei der Ausschmückung des Kirchenraums, der Liturgie und dem jährlichen Festzyklus unterscheidet er in der Praktischen Theologie tatsächlich einen lutherischen und einen schlichteren reformierten Typus. Er lässt beide gelten, hat aber für den letzteren offenbar eine Vorliebe und meint, Luther habe, unbeschadet seiner Toleranz gegen die Tradition, selbst auf die lange Sicht für schlichtere Formen optiert, auch passe nicht jede Liturgie in jeden Kirchenraum.⁵⁶ Bildlicher Schmuck dürfe die Aufmerksamkeit im Gottesdienst nicht fesseln; allerdings stehe bei der Frage, ob man das Göttliche abbilden könne, der Lutheraner, der das Unvollkommene einer Abbildung im Geist vervollkommne, gleichrangig neben dem Reformierten, für den das Göttliche als rein Geistiges nicht abzubilden sei.⁵⁷ In der Frage, wie ein evangelischer Festkalender auszusehen habe, ist Schleiermacher reformiert: Marien- und Aposteltage sollten auf die Dauer verschwinden.⁵⁸ Betreffend die Frage, welche Kirchenverfassung die dem Protestantismus angemessene sei, legte Schleiermacher, besonders ausführlich in der Vorlesung zur Praktischen Theologie von 1824, dar, dass eine presbyteriale Verfassung einer bischöflichen oder konsistorialen überlegen sei, und zwar in jeder Hinsicht: bei der Selbstbehauptung der Kirche in Gesellschaft und Staat, bei ihrer inneren Entwicklung, im Schul- und Bildungswesen, bei der Besetzung der Stellen und auch bei der Gesetzgebung des Kirchenregiments über Lehre und Kultus.⁵⁹ Das ist zweifellos reformiertes Erbe – allerdings hat Schleiermacher in seiner Statistik-Vorlesung ausdrücklich bestritten, dass der Unterschied der Kirchenverfassungen mit dem lutherisch-
Vgl. Gerber 2015, 414– 415 (Anm. 2). Schleiermacher 1817/18, 57– 57v (Anm. 42); Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 92.– 93. Stunde (KGA II/6, 634); Ders., Praktische Theologie 1821/22, 9. – 10. Stunde, Nachschrift Saunier, BBAW Archiv, Schleiermacher-Nachlass 552, 35 – 36. 41– 43. Schleiermacher 1817/18, 30 – 30v (Anm. 42); Schleiermacher 1824, 171– 174 (Anm. 42). Schleiermacher 1824, 207– 208 (Anm. 42). Schleiermacher 1824, 44– 137 (Anm. 42). – Ein Verfassungsentwurf für die evangelische Kirche in Preußen, den Schleiermacher 1808, wohl auf Aufforderung des Freiherrn vom Stein und der Reformer hin, vorgelegt hatte (KGA I/9, 3 – 18), sah eine vom Staat weitgehend unabhängige, selbstverwaltete, presbyterial und synodal verfasste Kirche vor (auf Provinzebene sollte es dann eine „Kapitel“ genannte Provinzialsynode mit einem Bischof als Geistlichen an der Spitze geben).
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reformierten Gegensatz zusammenhänge,⁶⁰ und die reformierten Kirchen der Provinzen, in denen er aufgewachsen war und in denen er wirkte, bis sie in der unierten Landeskirche aufgingen, waren auch nicht presbyterial und synodal verfasst, sondern hingen genauer mit dem Kirchendirektorium zusammen als die lutherischen Gemeinden mit ihren jeweiligen Behörden. Von solchen Maximen zu Kirchenverfassung und Liturgie ausgehend, kam Schleiermacher seit etwa 1814 immer stärker in Gegensatz zur staatlichen Kirchenpolitik: Die angestrebte Synodalverfassung wurde stillschweigend begraben. Statt ihrer bekam die Kirche bloß eine neue Einheitsliturgie verordnet, und zwar vom König, der nach Schleiermachers Meinung dafür gar nicht zuständig war; obendrein katholisierte die Liturgie mit ihren altlutherischen und anglikanischen Elementen für Schleiermachers Geschmack und drehte das Rad der Geschichte zurück. Schleiermacher gehörte zu den führenden Köpfen der Opposition, publizierte immer neue Streitschriften und verärgerte den König nachhaltig.⁶¹ Nichtsdestotrotz, am Ende seines Lebens wurde er noch herangezogen, um eine Gruppe renitenter Lutheraner in Schlesien zur Annahme der Agende und zum Verbleib in der preußischen Staatskirche zu bewegen.⁶²
5.3 Lehrbegriff Beim alten dogmatischen Kontroversthema Abendmahl befand Schleiermacher die lutherische Ubiquitätslehre für eine wohl tiefsinnige, aber in ihren Konsequenzen doch fragwürdige Spekulation.⁶³ Die Glaubenslehre lässt das lutherische, zwinglianische und calvinische Verständnis gelten, findet aber keins ganz befriedigend (Zwingli sei am fasslichsten, nur könne er nicht recht erklären, wozu Christus den geistlichen Genuss überhaupt mit leiblichen Elementen verbunden habe) und er-
Friedrich Schleiermacher, Kirchliche Statistik 1827, 67. Stunde (Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, KGA II/16, hg. v. Simon Gerber, Berlin/New York 2005, 442). Vgl. Foerster 1905, 183 – 264 (Anm. 5); Foerster 1907, 1– 176 (Anm. 6); Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, Un Co 20, Bielefeld 1997, 78 – 291; Günter Meckenstock, „Einleitung des Bandherausgebers“, in: KGA I/9, IX – CXVII, hier XXXIII – CXII; Kurt Nowak, Schleiermacher, Göttingen 2001, 356– 371. 385 – 390. Vgl. dazu auch den Beitrag von Jan Rohls in diesem Band. Vgl. Wichmann von Meding, „Schleiermacher und die Schlesische Separation. Unbekannte Dokumente in ihrem Zusammenhang“, in: KuD 39 (1993), 166 – 201; Simon Gerber, „Steffens, Schleiermacher und das Altluthertum“, in: System und Subversion, hg. v. Sarah Schmidt/Leon Miodoński, Berlin/Boston 2018, 215 – 232, bes. 229 – 231. Nach Foerster 1907, 251– 260. 280 – 281 (Anm. 6) war Ursprung und Wesen dieser Renitenz nicht konfessionelle Abgrenzung gegenüber dem Reformiertentum, sondern Widerstand gegen das staatliche Kirchenregiment überhaupt, das es in Schlesien bis dahin so nicht gegeben hatte. Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 96. – 97. Stunde (KGA II/6, 649).
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wartet mithin, dass die künftige Lehrentwicklung die Frage weiter klären werde.⁶⁴ Den Aberglauben, dass das in schwerer Krankheit dargereichte Abendmahl zur Krisis führe und entweder Genesung oder schnellen Tod zeitige, findet Schleiermacher eher bei Lutheranern, die überhaupt oft mehr am Genuss der sakramentalen Speise als an der begleitenden Belehrung durch den Prediger interessiert seien.⁶⁵ Schleiermachers eigene Abendmahlsfrömmigkeit, wie sie sich etwa in den Briefen an seine Braut ausspricht, erinnert mit ihrer Fokussierung auf die Darstellung und den Genuss der Gemeinschaft in Christus an Luthers frühen Abendmahlssermon.⁶⁶ – Reformierter Tradition folgend, lehnt Schleiermacher die Nottaufe ab, hat sie aber laut seinen Tageskalendern gelegentlich vollzogen.⁶⁷ Schleiermachers rationalistische Zeitgenossen, auch die Lutheraner, sympathisierten in der Abendmahlsfrage mit der calvinischen Auffassung; beim anderen klassischen Kontroversthema, der Prädestinationsfrage, fand der Calvinismus bei ihnen aber wenig Beifall.⁶⁸ Schleiermacher dagegen weiß sich gerade hier entschieden reformiert: Sein Aufsatz zur Erwählungslehre verteidigt die reformierte Lehre gegen den pelagianisierenden lutherischen Rationalisten Karl Gottlieb Bretschneider, und Schleiermachers Freund Gottfried Ludwig Blanc, französisch-reformierter Prediger und romanistischer Philologe in Halle, lobte, Schleiermacher habe die Inkonsequenz des lutherischen Systems und die Konsequenz der calvinischen Theorie unwiderleglich bewiesen.⁶⁹ – Mit Calvin also hält Schleiermacher jede Unterscheidung zwischen Vorherwissen, passiver Zulassung und aktivem Wirken bei Gott für unhaltbar; Gottes Wirken und Erwählen habe keinen Bestimmungsgrund außerhalb seiner selbst. Den harten Knoten bei Calvin, dass Gott von Anfang an einen Teil der Menschheit zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt habe, umgeht Schleiermacher mit der Behaup-
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 2, Berlin 21831, § 140 (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), Bd. 2, KGA I/13,2, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, 385 – 393). Brief 1018 (KGA V/5, 41– 43). Vgl. Simon Gerber, „Religiöses in Schleiermachers Briefwechsel 1808 – 1810“, in: Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik. Schleiermacher im preußischen Reformprozess, hg. v. Andreas Arndt/Simon Gerber/Sarah Schmidt, Berlin/Boston 2019, 291– 305, hier 297– 298. Schleiermacher 1817/18, 51v (Anm. 42); Schleiermacher [21831] 2003, § 138,2 (Anm. 64) (KGA I/13,2, 377). Nottaufen vermerken die Tageskalender (BBAW Archiv, Schleiermacher-Nachlass 438 – 453) für den 12. 8.1809, den 3.1.1822, dem 8.4.1823, den 29. 5.1825, den 16.5. und 26.11.1827, den 19.1.1828, den 19.8.1829, den 27.10.1830, den 4.2., 29.7. und 3.12.1831 und den 22.7.1833. Vgl. Karl Gottlieb Bretschneider, Aphorismen über die Union der beiden evangelischen Kirchen in Deutschland, ihre gemeinschaftliche Abendmahlsfeier und den Unterschied der Lehre, Gotha 1819,VI–IX (KGA I/10, 445 – 446); Julius Wegscheider, Institutiones theologiae Christianae dogmaticae, Halle 71833, 515 – 525. 596 – 620; Karl Hase, Hutterus redivivus oder Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, Leipzig 101862, 226 – 230. 322– 327. Brief vom 10. 2.1821 (Briefe von Ludwig Gottfried Blanc an Friedrich Schleiermacher, Mitteilungen aus dem Literaturarchive in Berlin NF 2, Berlin 1909, 73).
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tung eines unteilbaren, universalen Heilsratschlusses.⁷⁰ Allerdings ist Schleiermachers Konzept von seinen Voraussetzungen her sowieso ein anderes als dasjenige Calvins: Die von Alexander Schweizer für so echt reformiert erklärte schlechthinnige Abhängigkeit von Gott ist für Schleiermacher identisch mit dem weltumfassenden Kausalzusammenhang (und das Abhängigkeitsgefühl kein protestantisches oder christliches Spezifikum, sondern das Wesen der Religion überhaupt).⁷¹ Bei Gott als unendlichem Geist fallen nicht nur Wissen, Wollen und Wirken in eins, sondern auch Möglichkeit und Wirklichkeit, Vergangenheit und Zukunft; ein souveräner, determinierender Willensakt Gottes, der im Voraus auf ein bestimmtes, abgesondertes Einzelnes aus dem Weltzusammenhang gerichtet wäre, ist damit undenkbar.⁷² Die Ausdifferenzierung der Menschheit in verschiedene Individuen schließlich gehört für Schleiermacher der erscheinenden Welt im Hier und Jetzt und dem Dasein im Fleisch an; eine Fortdauer als einzelne Persönlichkeit über dieses Leben hinaus und verschiedene individuelle Widerfahrnisse im Jenseits werden damit problematisch.⁷³ Näher als an Calvin steht Schleiermacher hier an Zwingli, für den die Prädestination ein Nebenaspekt der göttlichen Allwirksamkeit und eines alles umfassenden Determinismus war.⁷⁴
5.4 Schluss In summa: Es lässt sich in Schleiermachers Praxis und Lehre tatsächlich eine reformierte Prägung erkennen, allerdings auf mancherlei Weise gebrochen. Wenn Schleiermacher gelegentlich seine Zugehörigkeit zur reformierten Seite geltend machte,
Friedrich Schleiermacher, „Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen“, in: Theologische Zeitschrift 1 (1819), 1– 119, bes. 18 – 21. 42– 49. 62– 114 (KGA I/10, 159 – 161. 174– 179. 187– 219); Schleiermacher 21831, § 119 – 120 (Anm. 63) (KGA I/13,2, 258 – 277). Schleiermacher [21830] 2003, § 4– 5; 8,2; 32; 34; 38,2; 46 – 49; 81,3 (Anm. 49) (KGA I/13,1, 32– 53. 66 – 68. 201– 205. 212– 215. 227– 228. 264– 299. 501– 505). Schleiermacher [21830] 2003, § 46 Zusatz; 47,1; 54– 55; 85 (Anm. 49) (KGA I/13,1, 271– 280. 324– 349. 527– 529); Schleiermacher [21831] 2003, § 117,4; 147,2 (Anm. 63) (KGA I/13,2, 247– 248. 422– 425). – Nach der philosophischen Gotteslehre der Dialektik sind Gott und Welt korrelierende Ideen, die als Subjektbegriff bzw. als Urteil jeweils das Ganze umfassen und die dem Denken selbst nicht mehr gegenständlich werden können, aber bei jedem Denkakt implizit mitgesetzt sind; vgl. Schleiermacher, Dialektik 1814/15, § 216 – 227 (Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik, Bd. 1, KGA II/ 10,1, hg. v. Andreas Arndt, Berlin/New York 2002, 216 – 227). Friedrich Schleiermacher, „Rez. Joh. Joach. Spaldings Lebensbeschreibung, Halle 1804“, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 2 (1805), Bd. 1, Nr. 18 (21.1.), 137– 144, hier 142 (Friedrich Schleiermacher, Schriften aus der Hallenser Zeit 1804 – 1807, KGA I/5, hg. v. Hermann Patsch, Berlin/New York 1995, 37); Brief 2435 (Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1806 – 1807 (Briefe 2173 – 2597), KGA V/9, hg. v. Andreas Arndt/Simon Gerber, Berlin/New York 2011, 379 – 380); Schleiermacher 1817/18, 140v (Anm. 42); Schleiermacher 21831, § 161; 163,2. Anhang (Anm. 63) (KGA I/13,2, 474– 480. 488 – 493). Vgl. Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 4,1, Leipzig 2-31917, 364– 369.
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dann wird es sich nicht zuletzt um das Phänomen handeln, das er selbst in den unvorgreiflichen Gutachten beschrieben hat: Die Reformierten erleben sich selbst allenthalben als die Minderheit, die sich behaupten muss, um nicht in der Masse aufzugehen und zu verschwinden; bei aller brüderlichen Verbundenheit mit den Lutheranern achten sie darauf, ihre Eigenart und Eigenexistenz nicht zu verleugnen und zu verlieren.⁷⁵ Zur Treue gegen die reformierte Identität trägt schließlich auch die Treue zum eigenen Werdegang bei und die Pietät gegenüber Familie und Vorfahren, deren Lebenswegen, Umwegen und Führungen Gottes.
[Schleiermacher] [1804] 2002, 16 – 17. 32– 33 (Anm. 4) (KGA I/4, 376 – 377. 384).
Religionsphilosophische und dogmatische Fragestellungen
Arnold Huijgen
Das „semen religionis“ und die „pietas“ in Calvins Theologie und der „Anknüpfungspunkt“ und die „Frömmigkeit“ bei Schleiermacher Ein Vergleich zweier reformierter Theologen Weil dieser Band dem Thema Schleiermacher explizit als reformierter Theologe gewidmet ist, lohnt es sich einen Vergleich zwischen der Theologie eines Urvaters des Reformiertentums, Calvin, und der Theologie des Reformierten Schleiermacher anzustellen. Dieser Vergleich geht nicht von einer intensiven Auseinandersetzung von Schleiermacher mit Calvins Schriften aus (dieser Beitrag ist also nicht historisch-genetischer Natur, und nicht der Rezeption Calvins gewidmet),¹ sondern wird von auffälligen inhaltlichen Parallelen zwischen beiden Auffassungen von religio und pietas, von Religion und Frömmigkeit, bedingt. Diese Parallelen sind bisher vor allem in den Kreisen von Calvinforschern gewürdigt worden. 1981 veröffentlichte Brian A. Gerrish einen Aufsatz über „Theology within the limits of piety alone: Schleiermacher and Calvin’s doctrine of God (Theologie nur innerhalb der Grenzen der Frömmigkeit allein: Die Gotteslehre von Schleiermacher und Calvin).“² Gerrish argumentiert, dass die ganze Theologie Calvins von seinem Frömmigkeitsverständnis geprägt ist, und dass Schleiermacher deswegen als einer der wichtigsten Erben des Genfer Reformators gelten muss. Gerrish identifiziert und analysiert auch die Unterschiede zwischen beiden, aber er insistiert, dass pietas methodologisch für Calvin wie für Schleiermacher als primäres Kriterium theologischen Denkens funktioniert. Die Ehefrau von Gerrish, Dawn DeVries, hat ihre Dissertation über Calvin und Schleiermacher geschrieben: Sie ist der Meinung, dass Calvin und Schleiermacher eine ähnliche Sicht auf das Wort Gottes und die Predigt des Wortes Gottes haben.³ Das reformierte, vielleicht könnte man sagen reformatorische, Profil Schleiermachers kann klarer werden, wenn es gelingt, unter Berücksichtigung der Eigenheiten beider Theologien, einen Vergleich zwischen ihm und Calvin aufzustellen. In dem beschränkten Raum dieses Beitrags wird dieser Vergleich in drei Runden gestaltet.
Einen starken Einfluss von Calvin auf Schleiermacher findet man z. B. in der Erwählungslehre; siehe den Beitrag von Anne Käfer in diesem Band. Brian A. Gerrish, „Theology Within the Limits of Piety Alone: Schleiermacher and Calvin’s Doctrine of God“, in: Reformatio Perennis. Essays on Calvin and the Reformation in Honor of Ford Lewis Battles, hg. v. Brian A. Gerrish, Pittsburgh 1981, 67– 87. Siehe auch Brian A. Gerrish, „Schleiermacher and the Reformation: A Question of Doctrinal Development“, in: The Old Protestantism and the New: Essays on the Reformation Heritage, Edinburgh 1982, 179 – 195. Dawn DeVries, Jesus Christ in the Preaching of Calvin and Schleiermacher, Louisville 1996, 95. https://doi.org/10.1515/9783110608656-004
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Arnold Huijgen
Zuerst vergleichen wir die Art und Weise, wie man Gott kennen kann: Nach Calvin durch die Korrelation von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis und wegen des „Keimes der Religion“, nach Schleiermacher durch das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (das ist der größte Teil dieses Beitrags). Zweitens betrachten wir die Frömmigkeit und vergleichen Calvins Pietasbegriff mit Schleiermachers Frömmigkeitsverständnis. Drittens fangen wir bei Schleiermachers famosem „Anknüpfungspunkt“ in seiner Behandlung der Bekehrung an und beleuchten, inwieweit er hier typisch reformierte Zeichen zeigt.
1 Gott kennen 1.1 Calvin Calvin eröffnet das erste Kapitel des ersten Buches seiner Institutio mit der „Erkenntnis Gottes und unsere[r] Selbsterkenntnis.“⁴ Diese beiden „hängen vielfältig zusammen,“ und deswegen sei es nicht einfach zu sagen, welche an erster Stelle kommt. Denn einerseits könne kein Mensch sich selbst betrachten, „ohne sogleich seine Sinne darauf zu richten, Gott anzuschauen, in dem er doch ‚lebt und webt.ʻ“ Unser „Bewusstsein“ (sensus) führe aber vor allem ex negativo zur Gotteserkenntnis: [J]eder Mensch [muss] vom Bewusstsein seines heillosen Zustandes wenigstens zu irgendeinem Wissen um Gott getrieben werden: Wir empfinden unsere Unwissenheit, Eitelkeit, Armut, Schwachheit, unsere Bosheit und Verderbnis – und so kommen wir zu der Erkenntnis, dass nur in dem Herrn das wahre Licht der Weisheit, wirkliche Kraft und Tugend, unermesslicher Reichtum an allem Gut und reine Gerechtigkeit zu finden ist.⁵
Andererseits „kann der Mensch auf keinen Fall dazu kommen sich selbst wahrhaft zu erkennen, wenn er nicht zuvor Gottes Angesicht geschaut hat und dann von dieser Schau aus dazu übergeht, sich selbst anzusehen.“⁶ Calvin schließt das erste Kapitel mit folgender Zusammenfassung ab: „Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis sind fest miteinander verknüpft. Aber die rechte Ordnung für den Unterricht (ordo recte docendi) verlangt, dass wir zunächst die Gotteserkenntnis und dann die Selbsterkenntnis behandeln.“⁷ Calvin betrachtete dieses Einsetzen bei der Korrelation von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis als charakteristisch für sein ganzes theologisches Unternehmen. Als
Johannes Calvin [1559], Institutio Christianae Religionis, in: Joannis Calvini Opera Selecta, Bd. 3, hg. v. Petrus Barth und Guilelmus Niesel, München 1928, 1.1.1. Hier wird die folgende Übersetzung der Institutio benutzt: Otto Weber, Unterricht in der christlichen Religion = Institutio Christianae Religionis, Neukirchen-Vluyn 1955. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.1.1. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.1.2. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.1.3. Statt „für Unterricht“ übersetzt O. Weber „in der Lehre“.
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Albert Pighius aus Kampen ihn bei diesem Punkt plagiierte, reagierte Calvin wütend.⁸ Gottes- und Selbsterkenntnis sind für ihn wie zwei Brennpunkte einer Ellipse, und deswegen ist die Erkenntnis Gottes streng an konkretes menschliches Leben gebunden. Gotteserkenntnis habe also durchaus einen praktischen Charakter. In diesem Zusammenhang ist es beachtenswert, dass Calvin im ersten Satz seiner Institutio die Theologie keine Wissenschaft (scientia), sondern eine Weisheit (sapientia) nennt. Für Calvin passt der korrelative Zusammenhang von Gottes- und Selbsterkenntnis zu seinem Verständnis dieser Welt als Theater für die Herrlichkeit Gottes.⁹ Die Erkenntnis Gottes ist für ihn eigentlich offensichtlich. Trotz des Elends, des Leidens und Sterbens in der Welt sei sie der Platz, wo der Mensch Gottes Herrlichkeit problemlos sehen kann. Aufgrund der Sünde seien wir aber blind, und der Geist sei nötig, um uns unsere blinden Augen zu öffnen. Aber das tue er auch und wir dürften darauf vertrauen. „[Gott] hat sich […] derart im ganzen Bau der Welt offenbart und tut es noch heute, dass die Menschen ihre Augen nicht aufmachen können, ohne ihn notwendig zu erblicken.“¹⁰ Es ist bemerkenswert, dass Calvin seine Korrelation von Gottes- und Selbsterkenntnis gegen die Front der scholastischen Theologie entwickelte, die nach Calvins Meinung allzu spekulative und theoretische Erkenntnisse über Gott, Mensch und Welt sammelte und diese losgelöst von der Korrelation zwischen Gott und Mensch nebeneinanderstehen ließ. Calvins Anliegen ist der praktische Charakter der Theologie, was sich z. B. in seinen Ausführungen über die Trinitätslehre zeigt: Er konzentriert sich auf die Heilsökonomie und ist kaum an klassischen, terminologischen Diskussionen interessiert, weil der eigentliche Sitz im Leben der Trinitätslehre die konkrete Kommunikation zwischen Gott und Mensch ist.¹¹ Im Zusammenhang der Korrelation zwischen Gottes- und Selbsterkenntnis spricht Calvin (wir sind noch immer am Anfang der Institutio) von einer „Empfindung für die Gottheit (sensus divinitatis)“, die der menschliche Geist „durch natürliches Ahnvermögen“ besitze.¹² Calvin zitiert Cicero, der sagte, dass „kein Volk […] so barbarisch [ist], kein Stamm so verwildert, dass nicht die Überzeugung fest eingewurzelt wäre: es ist ein Gott.“¹³ Sogar Völker, die sich „kaum von den Tieren abzuheben scheinen, behalten doch stets wenigstens eine Art Keim der Religion (semen religionis).“¹⁴ Sogar Götzendienst beweise, dass Menschen doch eine Ahnung von Gott haben. Deshalb sei
Johannes Calvin [1543], „Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de servitute et liberatione humani arbitrii adversus calumnias Alberti Pighii Campensis“, in: Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia [=CO], Bd. 6, hg. v. Guilielmus Baum/Eduardus Cunitz/Eduardus Reuss, Braunschweig 1867, 246 – 247. Siehe Calvin [1543] 1867, Comm. Ps. 135:13 – 14, CO Bd. 32, 361. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.5.1. A. Baars, Om Gods verhevenheid en Zijn nabijheid: De Drie-eenheid bij Calvijn, Kampen 2004, 672– 677. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.3.1. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.3.1. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.3.1.
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auch Religion keine willkürliche Erfindung, sondern ein Hinweis auf eine eingepflanzte Gotteserkenntnis. Religion und Gotteserkenntnis gehören zur inhärenten Rüstung des Menschen als Mensch; sie seien anthropologisch fundamental. Für Calvin hat dieser sensus divinitatis zuerst eine negative Funktion: Es gäbe für keinen Menschen eine glaubwürdige Entschuldigung, warum er Gott nicht diene. Nach Calvin unterstreicht das semen religionis unsere menschliche Verdorbenheit und Schuld, denn wir sündigten bereitwillig und wissentlich. Diese Schuld wird umso größer, wenn Gott noch immer diese Kenntnis „auffrischt“ und „benetzt […] mit neuen Tröpflein.“¹⁵ Außerdem werden Menschen die Empfindung für die Gottheit gerade nicht benutzen, um sich Gott anzunähern, sondern, um sich von ihm abzuwenden. Wegen des religiösen Bewusstseins werde unser Herz gerade zu einer Manufaktur von Abgöttern, die im Herz hergestellt werden.¹⁶ Für Calvin ist „Religion“ zugleich ein gefüllter und ein leerer Begriff: gefüllt, weil kein Mensch in diesem Leben seinen Schöpfer ganz los werde, und es also um eine Bindung (im Lateinischen stammt religio von religare, binden) an Gott gehe. Trotzdem ein leerer Begriff, weil religio ohne Glauben und ohne pietas immer zu Abgötterei werde, sodass irgendeine Religion nur die Abwesenheit von wahrem Glauben indiziere, und deswegen unter einem negativen Vorzeichen stehe. Atheismus ist für Calvin keine rationale Möglichkeit. Calvin weiß, dass es Leute gibt, die ohne Gott leben, in einer Art praktischem Atheismus. Einen theoretischen (oder reflektierten) Atheismus könne es aber nicht geben, denn jeder fühle, dass Gott existiere. Calvin knüpft an die christlich-humanistische Tradition an, die gegen das moralisch minderwertige Pantheon der klassischen Antike und für die Religion im Herzen argumentiert, die auf den Gott des christlichen Glaubens verweist. Es fällt aber auf, dass Calvins Argument gegen den theoretischen Atheismus selbst ziemlich theoretisch ist, und dass er sich ziemlich viel Mühe gibt, Argumente gegen ein – laut Calvins Meinung – nicht kontroverses Thema zu finden.
1.2 Schleiermacher Ganz anders ist der Problemhorizont bei Friedrich D. E. Schleiermacher. Für das Publikum der Berliner Salons will er in seinen Reden über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) plausibel machen, dass der christliche Glaube nicht nur zur Vergangenheit gehört, sondern gerade für seine frühromantischen Zeitgenossen fundamental, relevant und erneuernd sei. Wie bekannt, markierte Kants Transzendentalphilosophie den Abschied vom traditionellen metaphysischen Zugang zu Gott (oder zumindest zum Gottesbegriff), während Kant selber Gott noch als Postulat der praktischen Vernunft, also für die Moral, brauchte. Schleiermacher sah, dass die
Calvin [1559] 1955, Inst., 1.3.1. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.4.1.
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Gebildeten immer mehr dazu neigten, Religion für überflüssig zu erklären, als ob mit dem Abschied der traditionellen Metaphysik auch Gott und die Religion obsolet geworden wären. Das Geniale an Schleiermachers Religionsbegriff besteht darin, dass er die Eigenständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik (mit Kant) und Moral (gegen Kant) behauptet. Die Religion sei entartet, und werde deswegen von den Gebildeten missverstanden, weil sie mit der Metaphysik vermischt war oder nur als Stütze der Sittlichkeit präsentiert wurde. Schleiermacher behauptet die Eigenständigkeit der Religion als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“,¹⁷ als „eine eigne Provinz im Gemüthe.“¹⁸ Damit meint er alles andere als einen Rückzug ins Ghetto der Religion: Es „soll die wahre Quelle ihrer Ausstrahlung auf das Lebensganze erschließen.“¹⁹ Die menschliche Natur sei ohne Religion einfach nicht komplett. In der zweiten Rede kann Schleiermacher die Relevanz des Gottesgedankens noch relativieren, bis zu der Äußerung, dass „eine Religion ohne Gott besser sein kann, als eine andre mit Gott.“²⁰ Schleiermacher pflichtet hier Fichtes Kritik am traditionellen Gottesbegriff bei, durch den er im sog. „Atheismusstreit“ in Probleme geraten war. In der Glaubenslehre finden wir derart weitgehende Äußerungen jedoch nicht mehr. Der Gottesgedanke ist dort fundamental, nicht nur für Schleiermachers Argumentationsweise, sondern die Gotteserkenntnis ist auch anthropologisch fundamental gedacht. Außerdem steht in der Glaubenslehre der Frömmigkeitsbegriff an der Spitze, an welcher zuvor der Religionsbegriff stand. Das hat offensichtlich mit sich verschiebenden Fronten zu tun, einer anderen und reiferen Phase im Leben Schleiermachers, wenn er nicht mehr die Berliner Gebildeten überzeugen möchte, sondern eher den kirchlichen Kontext im Auge hatte. Ein Vergleich von zwei Sätzen hilft, um die Eigenart der Glaubenslehre gegenüber den Reden zu zeigen. Den Religionsbegriff der Reden kann man wie folgt zusammenfassen: „Religion ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl des Universums.“²¹ In der Glaubenslehre finden wir als Leitsatz des dritten Paragraphen: „Frömmigkeit ist weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins.“²² Was die verschiedenen Begriffe dieses Leitsatzes betrifft: Der Frömmigkeitsbegriff wird nachher
Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion, KGA I/2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 212. Schleiermacher [1799] 1984, 204 (Anm. 17). Gerhard Ebeling, Wort und Glaube, Bd. 3, Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 87. Siehe Jörg Dierken, „Daß eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andre mit Gott“. Der Beitrag von Schleiermachers ‚Reden’ zu einer nichttheistischen Konzeption des Absoluten“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, hg. v. Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener, Berlin/New York 2000, 668 – 684. Friedrich Beisser, Schleiermachers Lehre von Gott dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre, Göttingen 1970, 57. Friedrich Schleiermacher [1830], Der christliche Glaube. Nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche in Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, hg. v. Martin Redeker, Berlin 71960, § 3, 6 – 14, hier 6.
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besprochen werden, „Denken und Handeln“ sind fast synonym mit „Wissen und Tun“, der Unterschied liegt in der stärkeren Betonung des Gefühls und des unmittelbaren Selbstbewusstseins, während „Anschauung“ und „Universum“ weggelassen sind. Wenn wir uns jetzt auf den dritten Paragraphen der Glaubenslehre konzentrieren, zeigt sich, dass Schleiermacher zuerst die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und der Wissenschaft, d. h. die Eigenständigkeit des Gefühls gegenüber dem Tun (dem Staat) und dem Wissen (der Wissenschaft) betont. Schleiermacher stellt Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein nebeneinander, weil es sich hier nicht um irgendwelche Gefühle handle: Keine Gefühle eines unbewussten, vorbewussten, oder ekstatischen Zustands, sondern Gefühle in denen das Ich bei sich selbst ist, also Selbstbewusstsein. Aber auch das Selbstbewusstsein müsse abgegrenzt werden: Hier handle es sich nicht um ein „gegenständliches Bewusstsein“, also nicht um ein Bewusstsein, das sich auf Gegenstände richtet. Auch das Selbstbewusstsein als „das Bewusstsein von sich selbst“, worin das Ich sich selbst objektiviert, ist hier nicht gemeint. Das wäre immer noch ein Bewusstsein, das nicht unmittelbar, sondern begleitend sei: Es begleite einen Akt des Denkens oder Wollens. Es handelt sich für Schleiermacher beim unmittelbaren Bewusstsein um das Bewusstsein, das vor dem gegenständlichen Bewusstsein liegt, das keine Vorstellung ist, sondern ein Gefühl. Alles Denken, Analysieren und Wollen tritt hier zurück.²³ In einem nächsten Schritt betont Schleiermacher, dass Gefühl, im Gegensatz zu Wissen und Tun, völlig durch Empfänglichkeit charakterisiert werde. „Das Leben ist aufzufassen als ein Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts.“²⁴ Dabei sei Tun ein Aussichheraustreten, während Gefühl und Wissen ein Insichbleiben seien. Das Erkennen werde aber „nur durch ein Aussichheraustreten desselben wirklich“, und insofern sei es ein Tun, oder zumindest tendiere es zum Tun, während Gefühl das pure Insichbleiben sei, weil es ganz und gar der Empfänglichkeit angehöre.²⁵ Schleiermacher betont, dass er hiermit nicht die Frömmigkeit in der Innerlichkeit einsperren will: Gefühl verbinde sich in der Ganzheit des menschlichen Lebens freilich immer mit Wissen und Tun.²⁶ Aber nur das reine Insichbleiben könne ungegenständlich sein; das sei der Ort des religiösen Gefühls. Hier formuliert Schleiermacher schärfer als in den Reden, wo das Erlebnis des Universums in Anschauung und Gefühl aufgespalten wurde, womit das religiöse Leben eine Analogie zu Wissen und Tun bildet. In der Glaubenslehre steht das Gefühl aber wirklich im religiösen Mittelpunkt. Dieses Gefühl ist letztlich unbestimmt und ungegenständlich, raumlos und zeitlos. Nur so, im Bereich des Nichtobjektivierbaren und Nichtkonkreten kann das Gefühl Organ für Gotteserkenntnis sein. In Paragraph 4 definiert Schleiermacher klassisch, wie sich Frömmigkeit von anderen Gefühlen unterscheide, nämlich als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit,
Schleiermacher [1830] 1960, § 3.2 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 3.3 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 3.3 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 3.4 (Anm. 22).
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d. h. Abhängigkeit in Bezug auf Gott. Im Selbstbewusstsein sei das Gottesbewusstsein anwesend. Nochmals argumentiert Schleiermacher, dass es sich hier um ein Selbstbewusstsein handle, das unbestimmt und ungegenständlich sei. Das Ich finde, dass es immer in einer Bestimmtheit existiere.²⁷ Ein bestimmtes Sosein müsse also vom Ich selbst unterschieden werden. Zwei Perspektiven treffen auf das Ich, das Subjekt, zu: Einerseits das „Sichselbstsetzen“, d. h. die Selbsttätigkeit und die Freiheit; andererseits das „Sichselbstnichtsogesetzthaben“, d. h. die Empfänglichkeit und die Abhängigkeit.²⁸ Beide Seiten seien mit dem konkreten Existieren des Ich vermischt: Unsere Freiheit und Abhängigkeit seien in der Welt immer relativ. Absolute Freiheit sei unmöglich, weil es auch andere Seiende und andere Gegenstände in der Welt gebe: wir können nicht die Welt aus dem Nichts erschaffen. Schlechthinnige Abhängigkeit finde man auch nicht in den vielen Bezügen der Welt, denn die Abhängigkeit in der Welt sei immer relativ, nicht absolut, und deswegen gebe es keine absolute Abhängigkeit in dem weltlichen Bereich. Andererseits indiziere die relative Freiheit (oder die Abwesenheit der schlechthinnigen Freiheit) eine schlechthinnige Abhängigkeit. Schleiermacher schreibt: Allein eben das unsere gesamte Selbsttätigkeit, also auch, weil diese niemals Null ist, unser ganzes Dasein begleitende, schlechthinnige Freiheit verneinende Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit; denn es ist das Bewußtsein, daß unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts her ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müßte, in Bezug worauf wir ein schlechthinniges Freiheitsgefühl haben sollten. Ohne alles Freiheitsgefühl aber wäre ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich.²⁹
Nun stellt Schleiermacher im Leitsatz des vierten Paragraphen die schlechthinnige Abhängigkeit gleich mit der „Beziehung mit Gott.“ Er erklärt das so, „daß eben das in diesem Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll.“³⁰ Also durch den Ausdruck „Gott“, denn es geht hier um den Gottesbegriff und nicht um Gott als Person. Auf den ersten Blick scheint Schleiermacher hier völlig angreifbar zu sein für die Kritik Ludwig Feuerbachs, dass dieser Gott nur Projektion des menschlichen Geistes sei. Schleiermacher meint aber nicht, dass Gott ein Seiender sei wie andere Seienden, sondern, dass er kein bestimmtes existierendes Wesen sei. Das würde die Göttlichkeit Gottes zerstören. Also, Gott müsse nicht objektivierbar, nicht gegenständlich, sein. Er sei keine eigene Größe in der Welt oder im Weltall (so wie das Universum es in den Reden noch hätte sein können), sondern er sei das „Woher“ des Abhängigkeitsgefühls.³¹ Das Woher unserer Abhängigkeit könne kein Stück der Welt sein.
Schleiermacher [1830] 1960, § 4.1 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 4.1 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 4.3 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 4.4 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 4.4 (Anm. 22).
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Positiv ist der Begriff Gott „das unmittelbare innere Aussprechen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls.“³² Wenn das Gefühl zu einer gewissen Klarheit kommt, wird es „von einem solchen Aussprechen begleitet.“ Gerhard Ebeling hat dies als eine „Bewegung in die Sprache hinein“ bezeichnet. Wo also das schlechthinnige Abhängigkeitgefühl zur Sprache kommt, noch nicht in der Äußerlichkeit, sondern nur im Innersten des Ichs, da findet man den Begriff „Gott“. Auf einem Formel gebracht: „Sich-schlechthin-abhängig-Fühlen und Sich-seiner-selbst-als-in-Beziehung-mitGott-bewußt-sein [ist] einerlei“, und das Gottesbewusstsein liegt im Selbstbewusstsein eingeschlossen.³³ Schleiermacher leitet also das Gottesbewusstsein aus dem Selbstbewusstsein ab, in das es eingeschlossen ist. Vor dem Wissen und dem Tun des Menschen liege das Gefühl. Im Bewusstsein unserer schlechthinnigen Abhängigkeit sei uns unsere Beziehung zu Gott bewusst.
1.3 Vergleich Wenn wir Calvin und Schleiermacher vergleichen, weisen sie einige Gemeinsamkeiten auf. Erstens sprechen beide ihren eigenen Kontext an. Die Kontexte sind aber selbstverständlich völlig unterschiedlich. Calvin befindet sich in einem breiten humanistische Strom, wenn er die Empfindung Gottes befürwortet. Er argumentiert für etwas, was zur communis opinio gehört. Schleiermacher dagegen versucht, die Gebildeten für die Religion und die Religion für die Gebildeten zu retten. Auch in der Glaubenslehre ist der Problemhorizont durch die Herausforderungen der Modernität bestimmt, besonders durch die der Philosophie Immanuel Kants. Ebenso durch den Kontext bedingt ist Calvins negativer Gebrauch des sensus divinitatis als Befestigung der Schuldhaftigkeit aller Menschen. Diese wissen wohl, dass Gott ist, wenden sich aber trotzdem von ihm ab. Schleiermacher dagegen versucht, den christlichen Glauben auf eigene Füße zu stellen, damit er nicht länger der Metaphysik oder der Moral zugeordnet wird. Zweitens suchen Calvin und Schleiermacher nach einer Vereinbarung mit der zeitgenössischen Philosophie. Für Calvin bedeutet das, dass er Cicero zitiert und dass er seine Anthropologie leicht platonisch färbt, damit seine Theologie für andere Humanisten akzeptabel bleibt. Überaus wichtig ist ihm dieser Vorgang aber nicht: Er sieht einfach eine Übereinstimmung mit der antiken Philosophie, auf die er gerne aufmerksam macht, aber auch ohne diese Übereinstimmung kann er seine Theologie treiben. Für Schleiermacher hängt an der Übereinstimmung mit der Philosophie ein viel größeres Gewicht. Ihm ist sehr wichtig, dass Theologie und Philosophie sich
Schleiermacher [1830] 1960, § 5 Zusatz (Anm. 22). Ebeling 1975, 133 (Anm. 19).
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positiv zueinander verhalten, und er ist – mehr noch in den Reden als in der Glaubenslehre – bereit, dafür seine Theologie in Bewusstseinsbegriffen zu gestalten. Für Schleiermacher hängt alles daran, dass Glaube und Wissenschaft nicht auseinandergehen. Exemplarisch zeigt sich das in Schleiermachers famoser Aussage: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? Das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“³⁴ Es gibt auch zwei wichtige Unterschiede. Calvin unterstellt ziemlich naiv, dass Gott ist und dass die Menschen deshalb eine Ahnung von ihm haben. Schleiermacher bietet dagegen eine Phänomenologie und Analyse des Selbstbewusstseins als Gottesbewusstsein. Man könnte fragen, ob Schleiermacher hier dem reformierten Erbe gerecht wird, oder ob er sich vom Kern des reformierten Glaubens zu weit entfernt. Karl Barth hat in Bezug hierauf ein hartes Urteil über Schleiermacher gefällt: „Das christliche fromme Selbstbewusstsein betrachtet und beschreibt sich selbst: das ist grundsätzlich das Eins und Alles dieser Theologie.“ Und: „wo die reformatorische Theologie ,Evangelium‘ oder ,Christus‘ gesagt hatte, heißt es jetzt, dreihundert Jahre nach der Reformation, Religion oder Frömmigkeit.“³⁵ Obwohl der Gegensatz nicht so scharf ist wie Barth ihn beschreibt, denn auch Calvin schreibt über den semen religionis und pietas, fällt es trotzdem auf, dass Schleiermacher eine derart lange Einleitung braucht, um die Eigenständigkeit des Gefühls darzulegen. Wie weit geht diese Eigenständigkeit, wenn sie einer derartigen Verantwortung bedarf? Wie man Schleiermachers Einleitung beurteilt, hängt davon ab, in welchem Maße man von modernen Einwänden gegen die Religion überhaupt und von Bedenken der Gebildeten gegen den christlichen Glauben beeindruckt ist. Ein zweiter Unterschied zwischen Calvin und Schleiermacher liegt in ihrem Gottesverständnis. Es ist selbstverständlich, dass Schleiermachers absoluter Gott, das „Woher“ unseres Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit, keine Person sein kann. Im Licht seiner Ausführungen in der Einleitung seiner Glaubenslehre kann auch die Trinitätslehre nicht mehr als ein zum Polytheismus neigendes Relikt der Dogmengeschichte sein.³⁶ Damit werden Gottes Heilstaten in der Geschichte, vor allem (aber nicht ausschließlich) die Inkarnation, problematisch. Auch wenn Schleiermacher diese beiden in seiner Glaubenslehre zusammenbringen kann, sind Gottes Geschichtstaten trotzdem nicht entscheidend. Es ist verständlich, dass Schleiermacher
Friedrich Schleiermacher [1829], Zweites Sendschreiben an Lücke, KGA I/10, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin/New York 1990, 347. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 1947, 409 – 410. Schleiermacher betrachtet die Trinitätslehre deswegen am Schluß seiner Glaubenslehre vor allem als Garantie der Gleichstellung des göttlichen Wesens in der Inkarnation und in der Kirche mit dem göttlichen Wesen an sich; Schleiermacher [1830], Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche in Zusammenhange dargestellt, Bd. 2, hg. v. Martin Redeker, Berlin/New York 6 2018, § 170, 496 – 501.
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unter Pantheismusverdacht geriet, obwohl er kein Pantheist sein will.³⁷ Calvins Gottesverständnis sieht anders aus. Obwohl er seine Trinitätslehre nicht-spekulativ gestaltet (und auch wegen seiner lockeren Haltung altkirchlicher Terminologie gegenüber attackiert wurde),³⁸ ist Gott für ihn sicherlich der drei-einige Gott, der sich in der Geschichte Israels schon offenbart hat. Ein Beispiel: Calvins Anthropologie ist trinitarisch gegliedert; Menschen sind Geschöpfe im Lichte des Vaters, Sünder, die vom Sohn gerettet werden und Gläubige, die vom Geist geführt werden. Dass Menschen nach dem Bild Gottes geschaffen sind, reflektiert das dreifaltige Amt (munus triplex) Christi.³⁹ Andererseits verweist Calvin auf Gott nicht nur mit personalen Begriffen. Offenbarung ist für ihn nicht streng Selbstoffenbarung, so wie es später für Karl Barth sein wird. Calvin wechselt personale Terminologie (Gott als Vater, Richter) in der Sprache der Liebe ab mit den nichtpersonalen Bezeichnungen Gottes und seiner Offenbarung als Tröpfe, Licht und Kraft. Sowohl Gottes Personalität als auch seine Überpersonalität zu behaupten, scheint mir eine wichtige Aufgabe für die heutige Theologie zu sein.
2 Frömmigkeit 2.1 Calvin Jetzt vergleichen wir die Frömmigkeitsbegriffe (pietas) von Calvin und Schleiermacher. Vorher sollte bemerkt werden, dass die in Calvins Theologie oft verwendete Übersetzung vom Lateinischen Begriff pietas durch „Frömmigkeit“ fragwürdig ist. Für Calvin hat pietas nicht nur mit innerlichen religiösen Lebenshaltungen und frommen Gemütszuständen zu tun, aber zuerst sei pietas die richtige, gehorsame Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gott. Pietas bezeichnet nicht nur einen Weg in die Innerlichkeit hinein (die meint übrigens Schleiermacher auch nicht), sondern zuallererst eine Ehrfurcht vor Gott. Auch wenn Calvin Frömmigkeit mit Religion verbindet, verwendet er Religion vor allem in der Bedeutung von „Ehrfurcht“: „[E]s kann von einem eigentlichen Erkennen Gottes keine Rede sein, wo Ehrfurcht und Frömmigkeit (religio nec pietas) fehlen.“ Calvin definiert pietas wie folgt: „Frömmigkeit nenne ich die mit Liebe verbundene Ehrfurcht (coniunctam cum amore Dei reverentiam) vor Gott, welche
Schon H. Scholz, Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre, Berlin 1909, 147: „Schleiermacher ist nicht Spinozist gewesen; aber er hat die Spinozistische Stimmung geteilt.“ Richard C. Gamble, „Calvin’s Theological Method. The Case of Caroli“, in: Calvin. Erbe und Auftrag. Festschrift für Wilhelm Neuser, hg. v. Willem van ’t Spijker, Kampen 1991, 130 – 137. Arnold Huijgen, „John Calvin’s Trinitarian Theological Anthropology Reconsidered“, in: T. & T. Clark Handbook to Theological Anthropology, hg. v. Mary Ann Hinsdale und Stephen Okey, London 2019, i. E.
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aus der Erkenntnis seiner Wohltaten herkommt.“⁴⁰ Man lerne diese Frömmigkeit durch die Wahrnehmung der Macht und Güte Gottes in der Schöpfung aller Dinge. „Wahrnehmung“, das heißt auf Lateinisch sensus, man könnte auch übersetzen: „Gefühl“, mit dem disclaimer, dass es sich hier um ein Gefühl im 16. Jahrhundert handelt und nicht um ein frühromantisches Gefühl. Menschen sollten fühlen wie Gott für sie sorgt, sonst werden sie sich Gott niemals „in freiwilliger Dienstbereitschaft“ (voluntaria observantia) unterwerfen.⁴¹ Pietas ist also für Calvin kein leerer, sondern ein theologisch gefüllter Begriff: Frömmigkeit gehe immer Hand in Hand mit der Erkenntnis, d. h. die Erkenntnis Gottes des Schöpfers in seiner Güte, die sich im Theater seiner Schöpfung zeigt. Für Calvin gibt es keine wahrhafte Religiosität, die nicht sowieso schon auf den sich offenbarenden Gott hin ausgerichtet ist. Man könnte sich fragen, ob Calvin das als exklusiv (pietas könne es nicht geben ohne Orientierung auf den lebendigen Gott), oder inklusiv (auch Formen von pietas, die von uns Menschen nicht als auf Gott orientiert erkennbar sind, seien es trotzdem) betrachtet. Ganz klar macht er das nicht, weil nur der christliche Glaube und nicht Atheismus oder andere Arten von Glauben für Calvin als Möglichkeiten vorhanden sind. Das exklusive Element scheint stärker zu sein, weil Calvin pietas als observantia erklärt, die zu oboedientia (Gehorsamkeit) tendiere. Calvins Verständnis von pietas ist einerseits für irgendwelche Religiosität offen, wird aber andererseits von einem normativen Verständnis des intendierten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch erklärt: Gehorsam und Liebe seien konstitutiv für pietas. Diese beiden bilden für Calvin keinen Gegensatz, sondern – um dieses Bild noch einmal anders zu benutzen – verhalten sich wie zwei Brennpunkte einer Ellipse. Wie Kees van der Kooi in seinem Buch über Calvin und Barth behauptet, zeigt das Ganze auch die praktische Ausrichtung der Theologie Calvins. Seine Theologie ist keine Theorie, keine Lehre, in der es sich nur um die Orthodoxie als solche handelt, sondern die Lehre steht im Dienst des großen Ziels, um die Menschen wieder gerecht vor Gott zu stellen, damit sie in seinem Licht leben. Alles in Calvins Theologie ist auf den zu den Menschen niederbeugenden Gott konzentriert und der korrespondierenden menschlichen Antwort in Frömmigkeit, Gehorsamkeit und Liebe.⁴² Wie kommt es zur richtigen Frömmigkeit? In Calvins Definition der Frömmigkeit, die wir aus der Übersetzung Otto Webers übernommen haben, gibt es noch ein wichtiges Element: Pietas sei Ehrfurcht, „welche aus der Erkenntnis seiner Wohltaten herkommt (conciliat).“ Das Wort conciliat passt zu einer Tendenz in Calvins Theologie, die Gottes Wirksamkeit als das Ziehen, Einladen, Herausfordern des Menschen denkt. In der Welt umgebe Gott die Menschen mit mancherlei Zeichen seiner Güte und Gnade und mit vielerlei Mitteln, die die Menschen stimulieren zu lernen und zu lieben. Frömmigkeit und Glaube funktionieren deshalb als Lernprozesse, die lebenslang Calvin [1559] 1955, Inst., 1.2.1. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.2.1. Cornelis van der Kooi, Als in een spiegel. God kennen volgens Calvijn en Barth. Een tweeluik, Kampen 2002, 26 – 33.
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andauern.⁴³ Gottes Verhalten habe einen väterlichen Charakter, und pietas fange mit der Anerkennung Gottes väterlicher Güte an: „Der erste Schritt zur [Gottesfurcht] (pietas) ist es, Gott als unseren Vater anzuerkennen, der uns schützt, lenkt, und erhält, und uns schließlich zur ewigen Erbschaft seines Reiches versammelt.“⁴⁴ Calvin beschreibt ausführlich, wie sich der Fromme zu Gott und dessen Offenbarung verhalte: Der Fromme erträumt sich nicht irgendeinen Gott, sondern richtet sich auf den Einzigen und Wahren aus.⁴⁵ Pietas mache docilis: Frömmigkeit mache bereit zu lernen; sie sei eine gehorsame Einstellung. Zusammenfassend ist pietas für Calvin Ehrfurcht, ein gefüllter Begriff, normiert an Gehorsam und Liebe gegenüber Gott dem Vater. Frömmigkeit sei eine ehrfürchtige Einstellung gegenüber dem wahren Gott.
2.2 Schleiermacher Auch für Schleiermacher ist Frömmigkeit weit mehr als eine rein subjektive Einstellung. Im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit drehe es sich freilich nicht um das Subjekt, sondern um das Woher der menschlichen Existenz in der Welt. Das Selbst sei allerdings vorgegeben, aber Frömmigkeit sei mehr als nur das Selbst; sie sei die Frucht des Selbstbewusstseins als schlechthinnige Abhängigkeit. Nochmals kommen wir zum Leitsatz des dritten Paragraphen der Glaubenslehre: „Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins.“ Zunächst fällt auf, dass Schleiermacher die Frömmigkeit mit der Gemeinschaft der Kirche (besser: der Kirchen) verbindet und so zeigt, dass die Gemeinschaft immer mitbedacht ist, obwohl sie erst in Paragraph 6 eigens thematisiert wird. Frömmigkeit umfasse nicht nur die fromme Seele des einzelnen Individuums, sondern tendiere zur kirchlichen Gemeinschaft. Für Schleiermacher ist das wichtig, weil er seine Theologie nicht an einem Gottesverständnis orientiert, sondern an der Gefühlserfahrung, die in den Kirchen zur Geltung kommt. Frömmigkeit ist eine Bestimmtheit des Gefühls. Man kann beobachten, dass Schleiermacher sich gerade hier, wie er selbst sagte, als Herrnhuter zeigt, „nur von einer höheren Ordnung“.⁴⁶ Es sollte aber klar sein, dass es sich bei Frömmigkeit für Schleiermacher nicht nur um akzidentelle Gefühle handelt, sondern um das ganze religiöse Leben in ihrer Eigenständigkeit. Auf den ersten Blick könnte man Subjektivismus in Schleiermachers Frömmigkeitsbegriff vermuten, aber derartige Kritik wird Van der Kooi 2002, 31 (Anm. 42). Calvin [1559] 1955, Inst., 2.6.4. Calvin [1559] 1955, Inst., 1.2.2. Friedrich Schleiermacher, Brief an Reimer (30. 4. 1802), Briefwechsel 1801– 1802 (Briefe 1005 – 1245), KGA V/5, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1999, 392.
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Schleiermachers Anliegen und Ausarbeitung seiner Theologie nicht gerecht. Frömmigkeit sei nicht isoliert, sondern durchzieht das ganze Leben. Sie sei nicht nur momentan, weder theoretisch noch praktisch, sondern sie sprenge diesen Gegensatz. Frömmigkeit sei das religiöse Leben in seiner Totalität, das auch dasjenige, was auch nicht-religiös ausgerichtet ist, in sich aufnimmt. „Die Frömmigkeit wäre nicht Frömmigkeit, wenn sie ,etwas für sich‘ bliebe, ,ohne allen Einfluss auf die übrigen geistigen Lebensverrichtungen.‘“⁴⁷ Letztes ist Schleiermacher wichtig, denn hier zeigt sich die Frömmigkeit tatsächlich integrativ und nicht nur in einem einfachen Übergang von der Theorie in die Praxis wirkend. Der Lebensbezug der Frömmigkeit zeigt sich im fünften Paragraphen der Glaubenslehre, wo Schleiermacher eine Stufung des Selbstbewusstseins entwirft. Diese Stufung zeigt, welche Stellung Schleiermacher dem Gottesbewusstsein im ganzen Gefüge des menschlichen Selbstbewusstseins zuweist. Die unterste Stufe sei das tierartig verworrene Selbstbewusstsein. Dieses animalische Selbstbewusstsein passe zu der ersten Lebensphase des Menschen, wo das geistige Leben noch nicht sichtbar ist und Subjekt und Objekt noch nicht unterschieden werden. Die zweite, mittlere Stufe sei die des sinnlichen Selbstbewusstseins. Hier gehe es auf den Wegen der Anschauung gegenständlich zu: Der Mensch erfährt seine Zeitlichkeit, Endlichkeit, Subjektivität, und die Objektivität aller weltlichen Gegenstände. Die dritte Stufe überbiete die beiden ersten, da sie das Ganze in einer höheren Einheit aufnimmt. Sie ist die Stufe des unmittelbaren Selbstbewusstseins, wo der Gegensatz zwischen partieller Abhängigkeit und partieller Freiheit aufgehoben werde. Diese Frömmigkeit als höchste Stufe des Selbstbewusstseins sei auf das ganzen Leben bezogen.⁴⁸ Die verschiedenen Stufen verschmelzen nicht miteinander und heben sich nicht gegenseitig auf. Calvin und Schleiermacher stimmen einander also im Lebens- und Gottesbezug der Frömmigkeit zu. Trotzdem gibt es einen wichtigen Unterschied. Während Frömmigkeit für Calvin nie leer und formal wird, sondern nur durch die Erkenntnis des wahren Gottes im Gehorsam gegenüber seinen Geboten charakterisiert wird, ist Schleiermachers Frömmigkeitsbegriff ziemlich formal. Es liegt in der menschlichen Existenz, dass das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zum Selbstbewusstsein gehört; Frömmigkeit ist das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit, der Bezug auf das Woher „unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins“ hat, das „durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll.“⁴⁹ Sicherlich ist die Bezeichnung Gott nicht beliebig oder freibleibend; es handelt sich in diesem Zitat nicht nur um „werden kann,“ sondern um „werden soll.“ Aber der Ausdruck „Gott“ ist noch nicht identifizierbar mit Gott selbst. Dass Schleiermachers Trinitätslehre schwach entwickelt ist, ist eine weitere Indikation für einen relativ unklaren Gottesbegriff und einen formellen
Ebeling 1975, 124 (Anm. 19). Schleiermacher [1830] 1960, § 5.1– 2 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 1960, § 4.4 (Anm. 22).
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Frömmigkeitsbegriff. In der Einleitung ist Schleiermacher aber gar nicht an einem klaren Gottesbegriff interessiert. Er hat erfolgreich behauptet, dass Religion und Frömmigkeit nicht zur Kindheitsphase der Menschheit gehören, sondern zu derer Erwachsenenphase. Schleiermacher hat „die Kreatürlichkeit als Existential des Menschen“ demonstriert, und das reicht für ihn.⁵⁰ Gott sei das Sein der Seienden, das Unendliche des Endlichen – aber ist der lebendige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, nicht weitaus konkreter? Auf der anthropologischen Ebene siegt Schleiermacher über seine Opponenten, aber über Gott kann er praktisch nichts Positives aussagen. Gerade darin liegt der Unterschied zu Calvin. Dieser Unterschied korrespondiert mit dem soeben erwähnten Unterschied zwischen dem primär personalen Gottesverständnis bei Calvin und dem unpersönlichen Gottesverständnis bei Schleiermacher. Während für Calvin pietas fast selbstverständlich auf den Vater von Jesus Christus bezogen ist, ist es Schleiermacher wichtig, in den Prolegomena den Gottesbegriff so formal wie möglich und deswegen unpersönlich zu halten. Wenn Calvin ausarbeitet, was pietas ist, kommt er auch ziemlich schnell auf die Heilige Schrift als Maßstab für Glauben und Leben zu sprechen. In Schleiermachers „Einleitung“ findet man derartiges nicht, weil er ein anderes Ziel hat und weil er sich in der Glaubenslehre weniger als Calvin durch die Bibel stören lässt. Der reformatorischen Idee, dass die Kirche aus dem Wort Gottes geboren ist, widerspricht er in seiner Einleitung nicht explizit, aber er scheint trotzdem der Meinung zu sein, dass die Kirche letztlich die Legitimität des Wortes liefern müsse, statt umgekehrt. Im Leitsatz des Paragraphen 15 heißt es also: „Christliche Glaubenssätze sind Auffassungen der christlich frommen Gemütszustände in der Rede dargestellt.“ Die Glaubenserfahrung der christlichen Gemeinde wird bei Schleiermacher zum Kriterium für die Legitimität christlicher Glaubenssätze. Damit ist ein hermeneutischer Zirkelgang gegeben, der verständlich macht, dass Schleiermacher nicht nur als Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, sondern auch als einer der Väter der modernen Hermeneutik gelten kann. Zusammenfassend lässt sich sagen: Calvins und Schleiermachers Frömmigkeitsbegriffe sind gleichermaßen auf das Leben, aber ungleich auf Gott bezogen. Es ist der Unterschied zwischen Ehrfurcht und Gehorsam einerseits, gegenüber Selbstbewusstsein und Dasein in der Spannung vom Empfänglichen und Selbsttätigen andererseits.
3 Der Anknüpfungspunkt Man könnte Schleiermachers Anliegen grob gesagt als das Herausarbeiten eines Anknüpfungspunkts zusammenfassen. In den Reden versucht er bei den Interessen und Einwänden der Gebildeten anzuknüpfen, in der Glaubenslehre will er dem christli-
Beisser 1970, 67 (Anm. 21).
Das „semen religionis“ und die „pietas“ in Calvins Theologie
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chen Glauben einen eigenen Platz gewähren, der nicht im Wissen oder Tun fundiert ist, sondern ein eigenes Fundament im Gefühl hat, an das seine ganze Glaubenslehre angeknüpft werden kann. Alles andere sei abhängig vom Verständnis des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls und der Frömmigkeit. Im vorletzten Schritt dieses Beitrags kommen wir zu Schleiermachers Besprechung der Bekehrung, die mit der Rechtfertigung der Wiedergeburt untergeordnet sei. Bekehrung sei „der Anfang des neuen Lebens in der Gemeinschaft mit Christo,“ die sichtbar werde „durch die Busse, welche besteht in der Verknüpfung von Reue und Sinnesänderung und durch den Glauben, welcher besteht in der Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi.“⁵¹ Mit der reformierten Orthodoxie und gegen Luther und die Lutheraner lehnt Schleiermacher den Begriff der Buße als Oberbegriff zu Reue und Glaube ab. Er geht hier in den Spuren Calvins: „Schon Calvin problematisiert – vor dem biblischen Hintergrund – den Gedanken, dass der Glaube in der Buße enthalten sein soll.“⁵² In diesem Zusammenhang behandelt Schleiermacher eine Frage, die für die reformierten Strömungen des Protestantismus typisch ist: Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Tätigkeit des Erlösers und dem Zustand der Erlösten in der Bekehrung. Schleiermacher will, wie Calvin und andere reformierte Theologen, den Synergismus, also die Idee, dass Menschen zur Erlösung mit dem Erlöser zusammenarbeiteten, ablehnen. Schleiermacher arbeitet in diesem Kontext mit den zwei Begriffen von „lebendiger Empfänglichkeit“ und „belebter Selbsttätigkeit“. Diese Begriffe entsprechen den zwei Elementen im Selbstbewusstsein, die Schleiermacher bereits in Paragraph 4 nannte. Empfänglichkeit, schrieb er dort, ist „in jedem für sich hervortretenden Selbstbewusstsein […] das erste.“⁵³ Die Priorität der Empfänglichkeit war für Schleiermacher ein wichtiger Schritt in der Argumentation für die schlechthinnige Abhängigkeit, denn Empfänglichkeit impliziere Abhängigkeit, so wie Selbsttätigkeit Freiheit impliziere. Diese Begriffe benutzt Schleiermacher in Paragraph 108, um den Verlauf der Bekehrung zu beschreiben. Bekehrung bedeute, dass Menschen in der gläubigen Lebensgestaltung aktiv sind, ohne damit von Gott unabhängig zu werden. Schleiermacher beschreibt Bekehrung folgendermaßen: „Die lebendige Empfänglichkeit geht über in belebte Selbsttätigkeit.“⁵⁴ Zuvor hatte Gottes vorbereitende Gnade in der Empfänglichkeit gewirkt, die deshalb in Selbsttätigkeit übergeht. Warum spricht Schleiermacher hier nicht einfach von Passivität und Aktivität? Weil sich lebendige Empfänglichkeit von der Passivität unterscheide, da „das, wenn auch noch so sehr an die Grenze der Bewusstlosigkeit zurückgedrängt, doch nie gänzlich erloschene Verlangen nach der Gemeinschaft mit Gott, welches mit zur ur Schleiermacher [1830] 1960, § 108 Leitsatz (Anm. 36). Sabine Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ,Lebendige Empfänglichkeit‘ als soteriologische Schlüsselfigur der ,Glaubenslehre‘, Tübingen 2015, 216. Schleiermacher [1830] 1960, § 4.1 (Anm. 22). Schleiermacher [1830] 2018, § 108.6 (Anm. 36).
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sprünglichen Vollkommenheit der menschlichen Natur gehört“ im Hintergrund stehe.⁵⁵ Das sei der erste „Anknüpfungspunkt für alle göttlichen Gnadenwirkungen.“⁵⁶ Hier umschreibt Schleiermacher also, was er am Anfang der Glaubenslehre in philosophischen Begriffen beschrieben hat. Die Spannung zwischen Gefühl, Wissen und Tun spiegelt sich in der Würdigung des Verlangens. Verlangen sei selbstverständlich keine reine Passivität, sondern Abhängigkeit und Empfänglichkeit. Andererseits sei das „bloße Verlangen [auch] keine Tat, sondern nur das Vorgefühl einer unter Voraussetzung einer von anderswärts her kommenden Aufregung möglichen Tat.“⁵⁷ Hier zeigt sich, dass das, was in der Einleitung „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ heißt, in der Bekehrung praktisch als Verlangen nach Gott funktioniert. Die Lebendigkeit der Empfänglichkeit ist also die „Erlösungsbedürftigkeit“, die Subjektivität des Menschen als Ausrichtung auf Gott. Der Anknüpfungspunkt im Verlangen nach Gott, in der lebendigen Empfänglichkeit, bietet also einen anthropologischen Angelpunkt, sowohl in den Prolegomena als auch in der Bekehrung.Weiterhin verknüpft Schleiermacher diese soteriologischen Gedanken mit der Christologie. Das Verhältnis zwischen lebendiger Empfänglichkeit und belebter Selbsttätigkeit in der Bekehrung, also das „Entstehen des göttlichen Lebens in uns“ habe eine Parallele in „der Menschwerdung des Erlösers.“ Die menschliche Natur wäre lebendig empfänglich „für ein absolut kräftiges Gottesbewusstsein.“ Die Empfänglichkeit, die dieses Verlangen bildet, wurde „durch jenen schöpferischen Akt in personbildende Selbsttätigkeit verwandelt.“⁵⁸ Dieser Anknüpfungspunkt reicht also weit: er macht es denkbar, „wie eine anfangende göttliche Tätigkeit als etwas übernatürliches […] ein geschichtlich natürliches werden kann.“⁵⁹ Hier werden das Absolute und das Relative, das Göttliche und das Zeitliche, miteinander verknüpft ohne irgendwie abgeschwächt zu werden. Es ist positiv zu bewerten, dass Schleiermacher mit dem Begriff der „lebendigen Empfänglichkeit“ alte Gegensätze im Sinne der Aktivität oder Passivität des Menschen in der Bekehrung überbietet. Es fällt aber auf, dass er den biblischen Begriff des Glaubens hier nicht benutzt und die Verhältnisse zwischen lebendiger Empfänglichkeit und dem Glauben nicht klärt. Auch gibt die Art und Weise, in der Soteriologie und Christologie miteinander verknüpft werden, Anlass zu einigen Bedenken. Offensichtlich ist nicht die Sünde das Problem zwischen Gott und Mensch, sondern das Verhältnis zwischen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit. Erlösung knüpft an ein ursprüngliches Verlangen an, aber bedeutet das nicht, dass Erlösung vor allem in pädagogischen Begriffen verstanden wird? Sicherlich verbindet Schleiermacher die Bekehrung mit dem Wort und mit Christus, aber er tut das vor allem im Licht der Genese der religiösen Persönlichkeit. Das passt zu Schleiermachers Christologie, in
Schleiermacher [1830] 2018, § 108.6 (Anm. 36). Schleiermacher [1830] 2018, § 108.6 (Anm. 36). Schleiermacher [1830] 2018, § 108.6 (Anm. 36). Schleiermacher [1830] 2018, § 108.6 (Anm. 36). Schleiermacher [1830] 2018, § 89.4 (Anm. 36).
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der Jesu Gottesbewusstsein die zentrale Stelle einnimmt. Bestimmte Akzente der reformierten Tradition, wie das Verständnis der Inkarnation im Licht von Gottes eschatologischen Taten, fehlen völlig.
4 Fazit Einige Schlussbemerkungen: Dieser Band ist Schleiermacher als reformiertem Theologen gewidmet. Reformiert war Schleiermacher nicht nur wegen der Tradition, in der er sich befand, sondern auch aufgrund des Inhalts seiner Theologie. Bekanntlich hat Alexander Schweizer den absoluten Primat Gottes und die absolute Abhängigkeit des Menschen von Gott als Charakteristika der reformierten Theologie hervorgehoben, und anhand dieser Definition ist Schleiermachers Theologie sicherlich als reformiert einzuschätzen.⁶⁰ Trotzdem, wenn fundamentale Elemente seiner Theologie aus der Perspektive historisch-reformierter Theologie beleuchtet werden, zu der auch Calvins Theologie zählt, zeigen sich Eigenheiten, die Bedenken hervorrufen. Obwohl es im Licht seines Kontextes verständlich ist, dass er Gott nur unpersönlich und in stetiger Verbindung mit dem Bewusstsein zur Sprache bringt, mangelt es seiner Theologie doch an trinitarischem Gehalt in der Gotteslehre. Schleiermacher hat uns zurecht exemplifiziert, dass der lebendige Herr Jesus Christus auch der universale Herr aller Wirklichkeit ist und dass man weit gehen muss, um Theologie und Philosophie zusammen halten zu können und um sich so weit wie möglich mit den Gebildeten unter den Verächtern der Religion zu verständigen. Doch scheint mir Calvins Korrelation von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis direkter ins Herz der Theologie zu führen als Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, weil es sich um eine persönliche Erkenntnis Gottes handelt. Schleiermacher hatte eine schwierigere Aufgabe als Calvin, einen zeitgenössischen Anknüpfungspunkt für den christlichen Glauben zu finden, und er hat dazu alle theologischen und philosophischen Mittel eingesetzt. Was er aber auf der einen Seite der Anknüpfung gewinnt, droht er auf der Seite der Offenbarung Gottes in seinen Taten zu verlieren. Der reformierten Theologie heutzutage ist die Aufgabe gegeben, im Lichte des Plausibilitäts- und Relevanzverlustes des christlichen Glaubens die Verbindung mit anderen zu suchen, ohne die Eigenheit der Gotteserkenntnis durch Offenbarung loszulassen, um sowohl Gottes Personalität als auch Gottes Überpersönlichkeit zu denken und sich lebendig empfänglich zu dem lebenden Gott zu verhalten.
Kevin W. Hector, „Friedrich Schleiermacher“, in: The Cambridge Companion to Reformed Theology, hg. v. Paul T. Nimmo/David A. S. Fergusson, Cambridge 2016, 164– 165.
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Darstellung des Glaubens Schleiermachers religionstheoretische Aneignung einer ästhetischen Kategorie Für Schleiermacher hat es Religion mit Darstellung zu tun, ja, sie kann geradezu als ein Darstellungsprozess verstanden werden. „[A]lles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“¹, so der junge Schleiermacher in einer vielzitierten Äußerung der zweiten seiner Reden über die Religion. „[I]n seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie [sc. die Religion] es [sc. das Universum] andächtig belauschen“.² In der Forschung haben sich unterschiedliche Interpretationsrichtungen dieser Sätze herausgebildet, realistisch orientierte oder solche, die eher die konstruktiven Leistungen des Subjekts betonen. Auf diese Differenz kommt es mir hier aber nicht an. Entscheidend ist zunächst die kategoriale Begriffswahl Schleiermachers. Sie findet sich bei ihm auch an anderen Stellen seines Werks, und zwar nicht etwa nur der Frühzeit. Exemplarisch sei vor allem auf die Christliche Sitte verwiesen, wo Schleiermacher Religion und Christentum unter handlungstheoretischer Perspektive als ein solches Handeln beschreibt, das nicht nur unterschiedliche Formen der Praxis motiviert und begleitet, sondern auch als ein solches, das für sich selbst hervortritt. Schleiermacher spricht bekanntlich von ‚darstellendem Handeln‘ und hat damit nicht zuletzt Zusammenhänge des Kultus vor Augen. Zusammen mit dem Begriff des Ausdrucks – den Schleiermacher ebenfalls prominent verwendet – verweist der Darstellungsbegriff dabei auf den Bereich des Ästhetischen,³ dem er ursprünglich entstammt und dessen Dimensionen in seiner Verwendung immer irgendwie mitschwingen. Dem weitreichenden Einbezug ästhetischer Kategorien in die Religionstheorie bzw. Theologie korrespondiert darüber hinaus Schleiermachers enges Zusammenrücken von Kunst und Religion, die sich seit den frühen Texten findet. Aus reformierter Sicht mag dies Irritationspotential besitzen, zumindest in ihrer traditionellen Gestalt – ist dieser doch eine gewisse Reserve gegenüber religiöser Inszenierung und Performanz zueigen. Diesbezüglich sei nur an die Hervorhebung des Bilderverbots erinnert, und zwar sowohl in exegetischer Hinsicht als auch im Blick auf
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, Berlin/New York 1984, 56 (Originalpaginierung). Schleiermacher 1984, 50 (Anm. 1). Vgl. Gunter Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, 63 ff; Petra Bahr, Darstellung des Undarstellbaren, Tübingen 2004, 119; Johannes Greifenstein, Ausdruck und Darstellung von Religion im Gebet. Studien zu einer ästhetischen Form der Praxis des Christentums im Anschluß an Friedrich Schleiermacher, Tübingen 2016, 21– 88. https://doi.org/10.1515/9783110608656-005
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die Frömmigkeitskultur. Zwingli und Calvin riefen geradezu zum Bildersturm auf ⁴ und der Heidelberger Katechismus weist in den Fragen 96 – 98 jede konstruktive Bezugnahme auf bildliche Elemente schroff zurück. Es waren aber nicht nur die Bilder, denen die Schweizer Reformatoren kritisch gegenüberstanden. Auch andere Formen der ästhetischen Inszenierung betrachteten sie mit Misstrauen. So gab Zwingli dem geistlichen Lied im gottesdienstlichen Vollzug bewusst keinen Raum; anfangs wollte er die christliche Versammlung sogar schweigend zusammentreten lassen; Calvin ließ Gesang dann zwar zu, restringierte ihn aber ganz auf das Singen von Psalmenliedern.⁵ Diese Restriktion kirchenmusikalischer Elemente auf das reine Psalmenlied und eine große Zurückhaltung gegenüber anderen Lied- und Musikformen überwog in vielen der reformiert geprägten Regionen Europas bis in die Moderne hinein,⁶ so dass Paul Westermeyer in seinem Artikel zur Kirchenmusik in der Reformation zusammenfassend resümieren konnte, Zwingli habe „in den ref.[ormierten] Kirchen ein generelles Mißtrauen gegenüber Kunst und Musik im Gottesdienst“⁷ hinterlassen. Vor diesem Hintergrund muss das Denken des – reformierten – Theologen Schleiermacher geradezu wie ein Fremdkörper erscheinen. Und wenn Theologen wie Emil Brunner und Karl Barth seine Theologie später noch als Ästhetizismus abtaten,⁸ dann liegt auch diese Kritik gewissermaßen in den Fluchtlinien der eben beschriebenen Tradition. Angesichts der Irritation, die Schleiermachers Art der Religionsauffassung ausgelöst hat und in manchen Kreisen bis heute auslöst, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, was ihn eigentlich dazu veranlasst hat, Religion und Ästhetik in der beschriebenen Weise zusammenzurücken. Inwiefern lässt es sich plausibilisieren, Religion mithilfe ästhetischer Kategorien zu beschreiben und sie in ihren performativen Vollzügen unmittelbar auf die Kunst zu verpflichten?
Vgl. Heinz Ohme, Art. „Bilderkult, VI. Christentum“, in: RGG4, Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 1572– 1574, bes., 1574. Vgl. Martin Doerne, Art. „Kirchenlied, I. Geschichte des christlichen Kirchenlieds, 1– 3“, in: RGG3, Bd. 3, Tübingen 1959, Sp. 1454– 1465, bes.1459. Dies trifft zumindest auf das französische (vgl. Paul Glaue, Art. „Kirchenlied I., Geschichte des christlichen K.es“, in: RGG2, Bd. 3, Tübingen 1929, Sp. 913 – 929, bes. 921; Hasse, Art. „Kirchenlied II. Musikalisch“, in: RGG2, Bd. 3, Tübingen 1929, Sp. 929 – 948, bes. 936) und das niederländische Reformiertentum (vgl. Glaue 1929, 925 f). Paul Westermeyer, Art. „Kirchenmusik, IV Westliche Kirchen, 3. Reformation“, in: RGG4, Bd. 4, Tübingen 2001, Sp. 1238 – 1241, hier 1239 f. Vgl. Karl Barth, Schleiermachers „Weihnachtsfeier“, in: Ders., Die Theologie und die Kirche, Bd. 2, München 1928, 106 – 135; Emil Brunner, Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, 3 (zit. n. Gunter Scholtz, „Musik und Religion“, in: Ders., Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1995, 212– 234, bes. 214).
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I Fragt man nach den Gründen, die Schleiermacher dazu veranlasst haben mögen, Religion und ihren Vollzug mithilfe der ästhetischen Kategorien von Ausdruck und Darstellung zu beschreiben, so dürfte es zweckmäßig sein, zunächst an einen Umschwung innerhalb des religiös-theologischen Denkens zu erinnern, wie er sich im Zuge der Aufklärung ergeben und in der Philosophie Kants eine wirkmächtige Gestalt gefunden hatte. Die Rede ist von der Vorordnung des Religionsbegriffs vor den Gottesgedanken. Bevor Kant das Zutrauen in die rationale Tragfähigkeit der Gottesbeweise nachhaltig erschütterte, hatte der Gottesgedanke als logische Grundlage von Theologie bzw. Dogmatik gegolten. Zur Voraussetzung hatte dies die Auffassung, mit dem Begriff von Gott zugleich seine objektive Realität sichergestellt zu haben. Dieser Voraussetzung hat Kant den Boden entzogen, indem er auf formaler Weise herausarbeitete, dass der Konstruktion eines Begriffs nicht per se eine objektive Realität entspricht. Damit war es haltlos geworden, die Annahme von Gottes Existenz als Teilprädikat von dessen Begriff zu konstruieren, um auf diese Weise die Annahme seines Daseins logisch abzusichern. Kant hatte damit bekanntlich keineswegs den Gottesgedanken überhaupt preisgegeben, sondern nur einer bestimmten Art seiner Konstruktion den Boden entzogen. Auf den Bahnen des vorkritischen Denkens war ‚Gott‘ wie ein möglicher Vorstellungsgehalt des Objektbewusstseins aufgefasst worden. Diese Form der Bezugnahme aber ist vor dem Hintergrund der kantischen Kritik nicht mehr möglich. ‚Gott‘ ist keine dingliche Entität, auf die man sich wie auf einen irgendwie für sich bestehenden Gegenstand beziehen könnte. Dass und was Gott sei, das erschließt sich nur auf dem Wege einer Betrachtung des humanen Bewusstseins von ihm. Dieser zunächst noch ganz allgemein gehaltene Gedanke hat bei Kant dann die Konkretion einer Ethikotheologie gefunden, in der die grundlegenden Eigenschaften und Funktionen Gottes samt der Annahme seiner Existenz als spezifische Ausdeutung der im praktischen Selbstbewusstsein enthaltenen Implikationen erscheint. Dieter Henrich hat diesbezüglich geurteilt, hierin sei „der Ursprung einer Theologie zu suchen, die Gottes Wesen nur aus seiner Beziehung auf den Menschen versteht“⁹. Das ist der Grund dafür, dass eine Theologie nach der Aufklärung – so sehr sie es zweifelsohne mit Gott zu tu hat –¹⁰ ihre Basis nicht im Gottesbegriff, sondern im Religionsbegriff besitzt. Schleiermacher ist dem ethikotheologischen Programm Kants bekanntlich nicht gefolgt. Bereits in den Reden hat er gegenüber einer vorschnellen Identifikation von Religion und Moral massive Kritik angemeldet. Und auch in der Glaubenslehre hat er der Religion im Bewusstseinshaushalt den Ort des Gefühls zugewiesen und sie von
Dieter Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1967, 139 – 144, bes. 188. Ingolf U. Dalferth, Radikale Theologie, Leipzig 2010, 15.
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Wissen und äußerem Tun scharf unterschieden. Aber auch wenn er in der Durchführung durchaus andere Wege geht als Kant, so folgt er diesem doch in der Überzeugung, dass die Theologie ihre systematische Grundlage in einer Analyse des religiösen Bewusstseins oder eben des Gefühls zu suchen habe.¹¹ Wie dies aussehen kann, das hat er in seiner Glaubenslehre eindrücklich vorgeführt, und angesichts des damit vollzogenen Umbaus des theologischen Begründungszusammenhangs ist er nicht zu Unrecht als der „Kant der protestantischen Theologie“¹² bezeichnet worden. Genau darin aber, dass Schleiermacher den durch Kant eingeläuteten Paradigmenwechsel mitvollzogen hat, scheint mir ein wesentlicher, freilich ganz allgemeiner Grund dafür zu liegen, dass Schleiermacher darstellungstheoretische Begriffe heranzieht, um das religiöse Lebens kategorial zu erfassen. Denn wie gesagt verdanken sich alle theologischen Gehalte in kritisch-philosophischer Hinsicht keiner quasiobjektiven Bezugnahme, sondern werden – wie Schleiermacher zu Beginn des materialen Teils der Glaubenslehre sagt – allein aufgrund einer „Analyse der Subjectivität“¹³ gewonnen. Angesichts dieser Rückführung religiös-theologischer Gehaltlichkeit auf mentale Zustände und Prozesse des Subjekts wird es nachvollziehbar, das religiöse Leben mithilfe von Kategorien wie ‚Ausdruck‘ oder ‚Darstellung‘ zu beschreiben. Denn diese standen von Hause aus für gehaltvolle Präsentation dessen, was seinen Ursprung in subjektiven Wirklichkeitserfahrungen besitzt. Insofern auch die Religion eine – wenn freilich spezifische – Wirklichkeitserfahrung artikuliert, kann auch sie als ein Darstellungsvorgang aufgefasst werden. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten könnte sich freilich der Eindruck aufdrängen, als ob Schleiermacher ein diastatisches Modell vertreten würde, wonach auf der einen Seite subjektive Bewusstseinszustände und -prozesse zu stehen kämen und auf der anderen Seite deren wie auch immer gearteten Darstellungen. Dem ist allerdings nicht so. Schleiermacher zufolge wäre es zu einfach, Bewusstsein und dessen Darstellung einfach einander gegenüberzustellen. Vielmehr reichen Darstellungsvorgänge tief in das je subjektive Bewusstseinsleben hinab, so dass dieses schon für sich selbst als ein Darstellungsvorgang beschrieben werden kann. Darauf wird zurück zu kommen sein. Zuvor sei der Blick aber auf andere Begründungsdimensionen seines ästhetisch-kategorialen Zugangs gewendet.
Dies hat er schon in seiner Frühzeit kritisch gegenüber den substanzontologischen Bestimmungen des – von ihm sonst sehr geschätzten – Spinoza zur Geltung gebracht., vgl. dazu Christof Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin 2006, 140 – 271. David Friedrich Strauß, Charakteristiken und Kritiken. Eine Sammlung zerstreuter Aufsätze aus den Gebieten Theologie, Anthropologie und Ästhetik, Leipzig 21844, 205. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/22), KGA I/7.1– 3, Berlin/New York 1980 – 84, Bd. 1, 127, § 38.
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II Dass sich die Verwendung von ‚Ausdruck‘ und ‚Darstellung‘ nicht einfach ästhetizistischer Spielerei verdankt, sondern religionstheoretisch ausweisbar ist, hat Schleiermacher gerade auch im Zusammenhang intersubjektivitätstheoretischer Überlegungen herausgearbeitet. Zusammengefasst besagt der Grundgedanke: Kein Individuum kann sich im religiösen Leben auf sich selbst zurückziehen, sondern jede und jeder ist zutiefst angewiesen auf den Austausch mit Anderen. Dieser Gedanke findet sich bereits in den Reden und zieht sich dann – mit gewissen Akzentverschiebungen – durch das gesamte Werk hindurch. Immer geht es darum, intersubjektive Darstellungsvorgänge als unhintergehbar für den Aufbau gehaltvoller Religiosität darzutun. An dieser Stelle müssen einige Hinweise zur Argumentation in Schleiermachers Frühschrift genügen. Im Zuge seiner Apologie der Religion, wie Schleiermacher sie in den Reden vorführt, betont er immer wieder, dass Religion nur dort wirklich vorhanden ist, wo Individuen sie jeweils in und für sich selbst entdecken. Damit sie „lebendig“ sein kann, muss „die Religion selbsttätig“ sein,¹⁴ heißt es an einer Stelle der vierten Rede. Man wird hier zum einen schlicht den kantisch-fichteschen Hintergrund von Schleiermachers Denken in Rechnung stellen können,¹⁵ wonach aller Vorstellungsvollzog – also auch der religiöse – von der Bedingung getragen ist, dass es sich um Vorstellungen eines seiner selbst bewussten Wesens handelt, das eben diese Vorstellungen hat bzw. tätig hervorbringt. Zum anderen ist aber auch an ein spinozanisches Motiv in Schleiermachers Denken zu erinnern, wie es sich etwa in der bereits zitierten Bestimmung des Wesens der Religion zeigt, wonach Religion eben bedeutet, ‚alles Einzelne als einen Teil des Ganzen aufzufassen und eben dieses Einzelne zugleich als Darstellung des unendlichen Ganzen‘ zu begreifen. Denn wenn alles Einzelne als Repräsentant des Unendlichen zu fungieren vermag und wenn das individuelle Leben auch ein solches Einzelnes ist, das das Unendliche repräsentieren kann, dann muss der Bezug auf das Unendliche zunächst und ursprünglich aus der Position der je eigenen Individualität heraus gewonnen werden. Diese Aufgabe ist nicht delegierbar und muss von jedem selbst geleistet werden. Deswegen kann der Tatbestand der Religion, wie Schleiermacher einschärft, auch nicht andemonstriert werden. Religion im strengen Sinne ist weder lehr- noch lernbar, wie im Zusammenhang der dritten Rede ‚Über die Bildung zur Religion‘ herausgestellt wird: Was in dieser Sache „durch Kunst und fremde Tätigkeit in einem Menschen gewirkt werden kann, ist nur dieses, daß Ihr ihm Eure Vorstellungen mitteilt, und ihn zu einem Magazin Eurer Ideen macht … aber nie könnt Ihr bewirken, daß er die welche Ihr wollt, aus sich hervorbringe“¹⁶.
Schleiermacher 1984, 197 (Anm. 1). Vgl. Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin 2004, 195 – 222. Schleiermacher 1984, 138 (Anm. 1).
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Schleiermacher betont also das Moment des Subjektiven und des Individuellen und weist der Selbsttätigkeit des Einzelnen eine grundlegende Rolle zu. Derselbe Grund aber, aus dem alle religiöse Bildung ihren Ursprung im Individuum besitzt, eröffnet zugleich die intersubjektive Seite des religiösen Lebens. Denn insofern dem Subjekt die Individualität der von ihm selbsttätig ausgebildeten Religion bewusst ist, wird es sich angesichts der Ahndung des Unendlichen zugleich der Beschränktheit seines religiösen Standpunktes inne. Und da diese Beschränktheit gleichsam aus seinem unhintergehbaren ‚Sehepunkt‘ resultiert, kann sie per se nicht überwunden werden. Man kann an dieser Stelle zurückfragen, inwieweit ein Subjekt sich in seinen religiösen Vollzügen tatsächlich immer nicht nur der eigenen Subjektivität, sondern zugleich auch der eigenen Individualität dieser Vollzüge bewusst ist. Schleiermacher setzt diesen Sachverhalt relativ unproblematisch voraus. Im Sinne eines möglichen Bewusstseins – das sozusagen alle meine religiösen Vollzüge muss begleiten können – wird man eine solche reflexive Einsicht in die eigene Individualität der jemeinigen Anschauungen und Gefühle – und damit eben auch in deren Beschränktheit – nicht als unplausibel zurückweisen müssen. Schleiermacher geht jedenfalls davon aus. „Bei keiner Art zu denken und zu empfinden hat der Mensch ein so lebhaftes Gefühl von seiner gänzlichen Unfähigkeit ihren Gegenstand jemals zu erschöpfen, als bei der Religion […] Sein Sinn für sie [sc. die Religion] ist nicht sobald aufgegangen, als er auch ihre Unendlichkeit und seine Schranken fühlt; er ist sich bewußt nur einen kleinen Teil von ihr zu umspannen.“¹⁷ Daraus entspringe dann das grundlegende Bedürfnis, sich mit der Religiosität Anderer auseinanderzusetzen, um auf diesem Wege den engen Kreis der eigenen Anschauungs- und Gefühlswelt im Blick auf die Unendlichkeit des Universums zu überschreiten. Mit Schleiermachers Worten: Sie bedarf der „gegenseitigen[n] Mitteilung“.¹⁸ Erst die „Religion der Gesellschaft zusammengenommen ist die ganze Religion, die unendliche, die kein Einzelner ganz umfassen kann“¹⁹. Religion erweist sich so gesehen als ein intersubjektiver Tatbestand. Denn in ihrer gesamten Breite vermag sie sich nur zu realisieren in Form eines wechselseitigen Austauschs unterschiedlicher Subjekte über ihre religiösen Ansichten. Genau hierin besteht nun ein weiterer wesentlicher Grund für Schleiermacher, die Religion insgesamt als einen Darstellungsvorgang zu beschreiben. Denn jener Mitteilungszusammenhang vermag sich ja nur dadurch zu konstituieren, dass sich die unterschiedlichen individuellen Erscheinungsformen der Religion füreinander mehr oder weniger bewusst artikulieren. Und so „interessiert […] jede Äußerung derselben“,²⁰ insofern jede „fremde[ ] Darstellung“²¹ zur „Ergänzung“²² der eigenen eingeschränkten Ansicht
Schleiermacher 1984, 178 f. (Anm. 1). Schleiermacher 1984, 179. 188 (Anm. 1). Schleiermacher 1984, 188 (Anm. 1). Schleiermacher 1984, 179 (Anm. 1). Schleiermacher 1984, 196 (Anm. 1).
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wird. Erst indem Individuen ihre persönlichen Anschauungen und Gefühle ausdrücken bzw. darstellen, werden letztere für andere Individuen identifizier- und verstehbar, so dass es zu jener ‚gegenseitigen Mitteilung‘ kommen kann, derer die ‚ganze Religion‘ bedarf, um überhaupt wirklich werden zu können. In der Glaubenslehre hat Schleiermacher diesen Gedanken dann in christentumstheoretischer Hinsicht zur Geltung gebracht. Das soll an dieser Stelle aber nicht weiter vertieft werden. Stattdessen ist auf eine weitere systematische Begründungsdimension von Schleiermacher darstellungstheoretischem Modell zu sprechen zu kommen.
III Der intersubjektive Aufbau der Religion basiert auf gegenseitiger Mitteilung, die wiederum im Wechselverhältnis von individueller Darstellung und dem entsprechenden Auffassen solcher Darstellung durch Andere erfolgt. Schleiermacher zufolge ist hierfür nun aber nicht jede Form der Kommunikation in gleicher Weise geeignet. Klammert man einmal den Umstand aus, dass er dem lebendigen „Reden und Hören“²³ gegenüber dem Empfang von Vorstellungen aus Büchern den klaren Vorrang gibt,²⁴ so ist im hiesigen Problemzusammenhang vor allem seine Auffassung von Relevanz, dass die angemessenste Darstellungsform religiösen Lebens keine andere als die der Kunst ist, und zwar aus zweierlei Gründen. Auf der einen Seite erweist sich jeder Versuch, religiöse Vorstellungen und Ideen in diskursiver Gedankenform zu kommunizieren, in Schleiermachers Augen als verfehlt. Die theologische Reflexion kann und muss so verfahren. Aber religiöse Kommunikation im eigentlichen Sinne kann nicht im Medium der Diskursivität erfolgen. Darum ist – wie Schleiermacher mit indirektem Seitenhieb auf Calvin sagt – auch „Unterricht in ihr [sc. der Religion] ein abgeschmacktes Worte“²⁵. Und völlig verfehlt sind auf ihrem Gebiet alle Versuche, „Begriffe, Meinungen, Lehrsätze, kurz statt der eigentlichen Elemente der Religion die Abstraktionen darüber“²⁶ zu kommunizieren. Ihre Darstellung bedarf einer anderen Form, um das in ihr zu Übermittelnde transportieren zu können, und diese andere Form kann keine andere als die der Kunst sein. So heißt es etwa in der dritten Rede an einer Stelle, dass die Mitteilung religiöser Ansichten und Ideen nur „durch Kunst und fremde Tätigkeit in einem Menschen […]
Schleiermacher 1984, 179 (Anm. 1). Schleiermacher 1984, 179 (Anm. 1). Damit ist der Sache diejenige Differenz im Spiel, die in der neueren Medientheorie mithilfe der Begriffsunterscheidung von primären und sekundären Medien reflektiert wird. Es wäre interessant der Frage nachzugehen, wie seine Auffassung vor dem Hintergrund der Entstehung tertiärer Medien einzuschätzen wäre. Schleiermacher 1984, 139 f. (Anm. 1) Schleiermacher 1984, 198 (Anm. 1).
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gewirkt werden kann“.²⁷ Diese Auffassung durchzieht die gesamten Passagen zur Bildung und Kommunikation der Religion in den Reden. Und Schleiermacher hat zeitlebens an ihr festgehalten. Wirkmächtig formuliert findet er sich etwa in der vielzitierten Äußerung aus Schleiermachers Ethik von 1812/13, wonach sich „Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen“²⁸ verhalte. Dies ist freilich nicht unmissverständlich, insofern es ja auch sprachlich verfasste Kunstformen gibt. Schleiermacher selbst hat sie in seiner Ästhetik explizit reflektiert und ihnen in Gestalt der Poesie sogar die höchste Stellung unter den unterschiedlichen Künsten eingeräumt. Worauf es ihm aber ankommt ist der Sachverhalt, dass Individualität nicht nach Maßgabe allgemeiner Regeln dargestellt werden kann,²⁹ wie dies etwa im Bereich von Wissen und Wissenschaft der Fall ist. Vielmehr bedarf es dafür eigentümlicher Formate, die durch keine andere Tätigkeit als künstlerische Produktion zustande gebracht werden können. Insofern nun aber Religion selbst eine individuelle Angelegenheit des Menschen ist, bedarf auch sie künstlerischer Formen, um zur Darstellung gelangen zu können.³⁰ Angesichts dessen ist dann aber auch nicht einzusehen, warum die religiöse Darstellung auf bestimmte ästhetische Formate eingeschränkt sein sollte. Sie erweist sich vielmehr prinzipiell offen gegenüber allen möglichen Formen künstlerischer Darbietung,³¹ wobei Schleiermacher bekanntlich der Musik eine besondere Rolle zugewiesen hat.³² Soviel zum einen Grund für die enge Verbindung von Religion und Kunst. Daneben kennt Schleiermacher aber noch einen weiteren, der gewissermaßen die Kehrseite des eben genannten bildet. So sehr religiöse Darstellung in individueller Form erfolgt, so wenig kann sie dabei gemeinschaftlicher Elemente entbehren, wenn jene Darstellung intersubjektiv vermittelbar sein soll. Im Blick auf die religiöse Kommunikation hat Schleiermacher dieses Problem nicht zuletzt im Rahmen seiner Theorie des Gottesdienstes reflektiert. In diesem Zusammenhang wirft er die Frage auf, wie eigentlich die individuelle „Aeußerung eine gemeinschaftliche sein“ kann, wenn die „innere Affection jedes Schleiermacher 1984, 138 (Anm. 1). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre/nach den Handschriften Schleiermachers, neu hg. u. eingel. v. Otto Braun, in: Ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, Leipzig 21927, 315. Vgl. Michael Moxter, „Religion und Kunst“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg. v. Andreas Arndt/Ulrich Barth/Wilhelm Gräb, Berlin/New York 2008, 597– 611, 603 f. Dabei darf in diesem Zusammenhang nicht aus dem Blick verloren werden, dass Individualität eine verschiebliche Größe ist, die sowohl auf der Ebene des menschlichen Einzellebens als auch im Blick auf kollektive Gebilde in Anschlag zu bringen ist – wobei zwischen beiden Ebenen komplexe Wechselwirkungen in Rechnung zu stellen sind. „Das Gefühl hat sich erst in ein Bild verwandelt, welches dargestellt wird (nicht nur plastisch und malerisch, sondern auch poetisch, rhetorisch und vielleicht musikalisch), und so das Gefühl wieder erregt“, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundzügen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1843, Beilage A, 30 f, § 91, Anm. Vgl. Scholtz 1981 (Anm. 3); Ders., 1995 (Anm. 8).
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einzelnen […] zugleich an seine Persönlichkeit gebunden“ ist?³³ Seine Antwort hierauf lautet: dies sei durch nichts anderes als den Bezug auf künstlerische Formen möglich. Denn „wo etwas gemeinschaftliches sein soll, muß ein Maaß und eine Ordnung sein, und das gehört der Kunst an“.³⁴ Hier steht die Kunst weniger für die nicht-diskursive Darstellung innerer Zustände, sondern eher für das bestimmte Kultursystem einer Gesellschaft, das jeder konkreten Darstellung gleichsam die Mittel an die Hand gibt. Denn keine religiöse Kommunikation geht ort- und zeitlos vonstatten, sondern ist immer eingebettet in eine soziokulturelle Umwelt, aus der heraus sie mit bestimmten Darstellungsformaten vertraut ist und vertraut wird. Hierauf müssen alle individuellen Darstellungsprozesse notwendig zurückgreifen, sofern ihnen überhaupt an Kommunikabilität gelegen ist. „Diese Darstellungsmittel bilden das Gebiet der Kunst“ und alle religiöse Darstellung – im Kontext der Praktischen Theologie also der Gottesdienst im engeren Sinne – „ist aus Kunstelementen zusammengesetzt“.³⁵ Aufgrund dessen partizipiert die religiöse Ausdruckskultur notwendig auch an außerreligiösen Darstellungsformaten, die wiederum durch kulturelle Dynamik und Wandel gekennzeichnet sind. Für die Praktische Theologie verbindet sich damit die anspruchsvolle Aufgabe einer Hermeneutik der Kultur, die nach religionsaffinen Ausdrucksmitteln der Gegenwart Ausschau hält und sie in ihrem möglichen Beitrag für eine Gestaltung des Kultus reflektiert.³⁶
IV Vor dem bisherigen Hintergrund der intersubjektiven und kunsttheoretischen Reflexion könnte es scheinen, als ob die Ausdrucks- und Darstellungsproblematik lediglich für den Aufbau zwischenmenschlicher Zusammenhänge Bedeutung besitzt. Wie die neueste Schleiermacher-Forschung gezeigt hat,³⁷ verkürzt eine solche Sicht jedoch Umfang und Tragweite der systematischen Kontexte, in denen Schleiermachers Ausdrucks- und Darstellungsbegriff zu stehen kommen, erheblich. Denn letztere be-
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die Praktische Theologie, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850, SW I/13, 737. Schleiermacher 1850, 73 (Anm. 33). Schleiermacher 1843, 537 (Anm. 31). Die theologische Theorie „hat teils den religiösen Stil in jeder Kunst zu bestimmen, teils die Art, wie aus ihnen insgesamt das religiöse Kunstwerk, der Kultus, zu bilden ist“, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. v. Heinrich Scholz, Leipzig 31910, Hildesheim/New York, 108, § 281, Anm. 3 Vgl. Ulrich Barth, „Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm“, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 293 – 320; Michael Moxter, „Arbeit am Unübertragbaren. Schleiermachers Bestimmung des Ästhetischen“, in: Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit/Subjectivity and Truth. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, hg. v. Niels Jørgen Cappeløn u. a. Berlin/New York 2006, 53 – 72; Ders. 2008 (Anm. 29); Greifenstein 2016 (Anm. 3).
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treffen keineswegs nur die Konstitution von Intersubjektivität, sondern werden von Schleiermacher auch dezidiert subjektivitätstheoretisch zur Anwendung gebracht. Dies hat freilich auch Konsequenzen für die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Darstellung. Um es in den Blick zu bekommen, seien zunächst einige allgemeine Überlegungen zur expressiven Dimension von Subjektivität gesagt. Wenn Schleiermacher – wie etwa in seiner Ethik-Vorlesung von 1812/13 – vom „Ausdruck des Gefühls“³⁸ redet, so ist dieser Genitiv ausdrücklich in beiden Hinsichten der grammatischen Lesart zu interpretieren: Gefühle finden zum einen Niederschlag in entsprechenden artikulatorischen Größen, zum anderen aber – und darauf kommt es hier an – kann das Gefühl für sich selbst bereits als Ausdruck verstanden werden. So heißt es etwa an einer Stelle aus einer späteren Fassung der Güterlehre: „Was wir Gefühl nennen insgesammt [sic.!], […] ist Ausdruck“, und zwar „Ausdruck der Vernunft in der Natur“.³⁹ Hier ist allerdings eine wichtige begriffliche Präzisierung vorzunehmen, die bisher bewusst außer Acht gelassen worden war. So sehr Schleiermacher nämlich Ausdruck und Darstellung zuweilen synonym verwenden kann, so wenig fallen beide näher besehen in eins. Ausdruck steht vornehmlich für die unmittelbare Artikulation einer momentanen Erregung, während Darstellung für das Resultat einer subjektiven Tätigkeit steht, in der und durch die das Subjekt sich gleichsam über die Einzelmomente seines Daseins erhebt. Dadurch gewinnt es zugleich eine gewisse Distanz gegenüber den einzelnen Erregungszuständen, so dass es deren Affektentladungen nicht einfach preisgegeben ist, sondern sie auf reflexive Weise bearbeiten kann. Schleiermacher hat dies vor allem in seinen Vorlesungen zur Ästhetik beschrieben. Danach wird der Mensch gerade dadurch zum Menschen, dass er die Fähigkeit besitzt, nicht in den einzelnen Erregungsmomenten aufzugehen, sondern sich auf sie zu besinnen. Dadurch wird die naturgegebene Tendenz des Übergangs von unmittelbarer Erregung in leibliche Äußerung unterbrochen und die plötzlichen Affekte können zu emotiven Stimmungen umgestaltet werden. Der Unterbrechung der Einheit von Erregung und Äußerung entspricht folglich umgekehrt die Synthese unterschiedlicher Erregungen zu übergreifenden Gesamtgefühlen. Schleiermacher spricht diesbezüglich von ‚Stimmungen‘. Auf ihrer Grundlage kann die Idee eines Werkes entstehen, die es im Rahmen des künstlerischen Prozesses in eine entsprechende äußere Darstellung zu überführen gilt. Die ästhetischen Aspekte können hier auf sich beruhen bleiben. Mir kommt es an dieser Stelle auf die subjektivitätstheoretischen Implikationen an.⁴⁰ Diese sind darin zu erblicken, dass jener Unterbrechungs- und Kontinuierungsleistung nicht nur als psychologische Grundlage des künstlerischen Schaffensprozesses beschrieben werden kann, sondern zugleich als Deskription des Aufbaus von Selbstbewusstseins überhaupt. Schleiermacher 21927, 317 (Anm. 28). Schleiermacher 21927, 589 (Anm. 28). Zum Zusammenhang von Schleiermachers ästhetischem und subjektivitätstheoretischem Denken, vgl. Moxter 2008, 603 (Anm. 29).
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So lange ein Wesen in seinen Erregungszuständen aufgeht – wie dies Schleiermacher zufolge im tierischen Leben der Fall ist –, kann von Selbstbewusstsein im eigentlichen Sinne noch gar nicht gesprochen werden. Letzteres liegt erst dort vor, wo die einzelnen Momente des zeitlichen Bewusstseinsverlaufs nicht einfach jeweils für sich ausgelebt werden, sondern wo sie sich auf Grundlage einer besinnenden Tätigkeit so verbinden, dass sie als Teil eines inneren Zusammenhangs mental präsent werden. Selbstbewusstsein bzw. Gefühl besteht so gesehen in nichts Anderem, als in der Synthese der unterschiedlichen Einzelmomente zu einem subjektiven Gesamtbewusstsein, das ob der Unableitbarkeit der im konkreten Fall angewendeten Verknüpfungsregel unübertragbar individuell ist. Insofern das Bewusstsein in seinem zeitlichen Verlauf aber aus einer Reihe „einzelne[r] Momente des Daseins“⁴¹ besteht, stellt sich die Frage, wie diese Einzelmomente zu jener inneren Verbindung gebracht werden können. Dies ist Schleiermacher zufolge dadurch am besten zu erklären, dass man den Aufbau von Selbstbewusstsein „in Analogie zu den kommunikativen Darstellungs- und Mitteilungsproessen“⁴² begreift. So heißt es in der Christlichen Sitte an einer Stelle: Dem einzelnen Menschen ist „immer die Communication seiner momentanen Zustände aufgegeben“. Diese Communication erfolgt aber eben nicht nur „von einem Einzelwesen an das andere“, sondern sofern wir „den einzelnen für sich betrachten als ein Wesen, das unter der Form der Zeit steht: so ist sie die Communication eines Momentes an den anderen“.⁴³ Der darstellende Aspekt dieser „intrasubjektiv“⁴⁴ erfolgenden Kommunikation besteht dabei darin, dass die einzelnen Momente des Bewusstseins im zeitlichen Verlauf desselben so artikuliert werden, dass das, „was in dem einen Momente war, Object wird für den anderen“.⁴⁵ Dadurch erhält der Einzelmoment eine Art der Fixierung, so dass er mit späteren Momenten zu einer inneren Einheit verbunden werden kann. Entscheidend ist hierbei, dass diese Form des Darstellungsvorgangs nun aber am Orte des Subjektes selber stattfindet. Nicht erst dessen intersubjektive Verflochtenheit mit anderen Subjekten basiert auf komplexen Darstellungsprozessen, sondern bereits die innere Verbindung seiner wechselnden mentalen Zustände zur einer seiner selbst bewussten Einheit. Dieses muss dabei keineswegs immer gleich in äußerlich sichtbare Erscheinungen ausgehen, sondern erfolgt in Form von Erinnerung und Gedächtnis auch auf innermentaler Ebene. Nur hingewiesen sei an dieser Stelle auf den Sachverhalt, dass auch die innersubjektive Artikulation – ganz analog zur intersubjektiven Darstellung – auf soziokulturelle Formen angewiesen ist, innerhalb derer sie erfolgt. Das bedeutet nichts Anderes, als dass sich konkretes Selbstbewusstsein immer auch als kulturell vermittelt erweist. Was bedeutet all dies nun im Blick auf die Religionsproblematik? Zunächst ist ganz allgemein festzuhalten, dass Religion auch in seiner mentalen Grundform als ein
Schleiermacher 1843, 517 (Anm. 31). Moxter 2008, 608 (Anm. 29). Schleiermacher 1843, 510 (Anm. 31). Moxter 2006, 56 (Anm. 37). Schleiermacher 1843, 517 (Anm. 43).
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Darstellungsverhältnis angesehen werden kann. Schleiermacher hatte bereits in den Reden den subjektiven Ursprung der Religion ins Gemüt verlegt. In der Glaubenslehre wird die Religion in ihrer mentalen Erscheinungsweise dann bekanntlich als eine Bestimmtheit des Selbstbewusstseins gedeutet, dem der Begriff des entsprechenden Gefühls synonym zur Seite tritt. Schleiermachers Grundintuition ist bekanntlich, dass Religion im bewussten Leben für die mentale Präsenz des Grundes der je eigenen Existenz einsteht, wobei dieses Bewusstsein weder andemonstriert noch erst durch äußeres Tun erworben werden kann. Beides würde der Unbedingtheit seiner Vollzugsgestalt nicht gerecht werden. Nicht zuletzt darum erachtet Schleiermacher es als im Innersten des Menschen verortet. Nur indem es hier, gleichsam aus freien Quellen fließt, kann es seinem unbedingten Charakter gerecht werden. Wenn es nun aber so ist, dass Selbstbewusstsein und Gefühl sich artikulatorisch konstituieren, dann muss dies folglich auch für den subjektiven Ursprung der Religion gelten. Dass Schleiermacher die Sache so gesehen hat, dafür spricht nicht zuletzt seine Thematisierung des Bewusstseins der Seligkeit in der Christlichen Sitte als ein darstellendes Handeln, das mitnichten nur für die Form äußerer Repräsentation steht, sondern auch die Konstitution am Orte des Subjekts betrifft.⁴⁶ Auch die innersten Sphären von Glaube und Religion verdanken sich expressiven Akten, in denen und durch die die Religiosität entsteht und sich entwickelt. Das bedeutet nicht, dass Religion auf reine Konstruktion des Subjekts hinausläuft, denn immer sind darin ja auch zufällige und nicht von selbst gesetzte Sachverhalte mit zu integrieren. Anders gesagt: Kein religiöses Leben ohne Kontingenz und Passivität. Gleichwohl wäre der reale Verlauf subjektiver Religion unterreflektiert beschrieben, wenn den darin immer auch mit enthaltenen konstruktiven Leistungen des Subjekts nicht mit Rechnung getragen würde. Dieser Umstand findet weniger Erhellung in der Glaubenslehre als etwa in der Christlichen Sitte mit ihrer Theorie des ‚darstellenden Handelns‘, mitsamt den darin mitgesetzten Bezügen zu Ästhetik und Praktischer Theologie.
*** Die Ausgangsfrage hatte gelautet, was Schleiermacher eigentlich dazu veranlasst hat, seine Religionstheorie in so große Nähe zur Ästhetik zu rücken. Die oben angestellten Überlegungen könnte man dabei in folgender These resümieren: Die theoretische und praktische Zusammenschau von Religion und Kunst kann nicht einfach abgetan werden als eine unsachgemäße Ineinanderblendung zweier Sphären, die vermeintlich nichts miteinander zu tun hätten. Sie weiß sich vielmehr von der Einsicht in basale Dimensionen des Religiösen getragen. Im Verlauf des eben Geschilderten standen dafür: die Subjektivierung des Gottesgedankens, die Einsicht in die Notwendigkeit wechselseitiger Mitteilung in religiösen Dingen, die Anforderung an künstlerische
Greifenstein 2016, 308 – 316 (Anm. 3).
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Gestaltung jenes Mitteilungszusammenhanges sowie der performative Charakter des frommen Selbstbewusstseins.⁴⁷ Angesichts dieser Theorieschneisen wird man nicht behaupten können, Schleiermacher habe die Religion irgendeiner ästhetizistischen Vorliebe geopfert. Er kann vielmehr durchaus eine Reihe von Gründen namhaft machen, die jenen Nexus sowohl auf der Ebene wissenschaftlicher Reflexion als auch der der praktischen Religiosität plausibel erscheinen lassen. Eingangs war herausgestellt worden, dass Schleiermachers Religionsauffassung für eine traditionell-reformierte Sicht durchaus Irritationspotenzial bereithalten mag. Bewusst war dabei von der traditionellen Sicht die Rede gewesen. Denn wenn man sich gegenwärtig umschaut, so zeigt sich die reformierte Theologie in systematischtheologischer, aber gerade auch in praktisch-theologischer Hinsicht als überaus aufgeschlossen gegenüber einer positiven Bewertung ästhetischer Formen und ihrem Einbezug in kultische Zusammenhänge des Religionsvollzugs. Exemplarisch sei diesbezüglich etwa auf die Aktivitäten im Umkreis des 2011 gegründeten Kompetenzzentrums Liturgik an der theologischen Fakultät der Universität Bern verwiesen. In deren Kontext erschien erst jüngst ein Buch in der Reihe „Praktische Theologie im reformierten Kontext“, das den Titel „Gottesdienstkunst“⁴⁸ trug. Weitere Beispiele aus der Gegenwart ließen sich nennen. So hat der in Bern lehrende Praktische Theologe David Plüss erst jüngst ein Buch mit herausgegeben, das von ‚predigenden Bildern‘⁴⁹ handelt. Und Matthias Krieg hat kürzlich die Frage gestellt, „Was der Gottesdienst vom Jazz lernen kann“⁵⁰. Eine Reserve gegenüber explizit ästhetischen Formaten ist offensichtlich in den Hintergrund getreten. Angesichts dessen scheint Schleiermacher dann auf einmal aber gar nicht mehr so weit weg oder eine Art Fremdkörper zu sein. Viel eher avanciert er zu einem Vordenker späterer Entwicklungen, die die Gestalt reformierter Theologie und Frömmigkeit in der Gegenwart prägen. Eine entsprechende Rückbesinnung auf diesen großen, von Hause aus reformierten Theologen dürfte dabei nicht unerhebliche Anregungen versprechen.
Zu einer performativen Interpretation des phänomenalen Selbst, vgl. Stefan Lang, Spontaneität des Selbst, Göttingen 2010, 116 – 119. Vgl. Angela Berlis/David Plüss/Christian Walti (Hg.), Gottesdienskunst, Zürich 2012. Vgl. Jan Hermelink/David Plüss (Hg.), Predigende Bilder: Was die Homiletik von den Kunstwerken lernen kann, Leipzig 2017. Vgl. Matthias Krieg, „Turning Point.Was der Gottesdienst vom Jazz lernen kann“, in: Julia Koll/Uwe Steinmetz (Hg.), Jazz und Kirche. Philosophische, theologische und musikwissenschaftliche Zugänge, Leipzig 2016, 65 – 95.
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Von der Vorherversehung Gottes und der Evolution der Seele Alles in unserer Welt […], zunächst die menschliche Natur und dann alles andere um desto gewisser, je inniger es mit ihr zusammenhängt, würde anders sein eingerichtet gewesen, und so auch der ganze Verlauf der menschlichen Begebenheiten und der natürlichen Ereignisse ein anderer, wenn nicht die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Person Christi, und in Folge dieser auch die mit der Gemeinschaft der Gläubigen durch den heiligen Geist, der göttliche Rathschluß gewesen wäre.¹
So schreibt Friedrich Schleiermacher in seiner Dogmatik, die 1830/31 in zweiter Auflage mit dem Titel „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ erschien. Schleiermacher hält fest, Gott sei von Ewigkeit her darauf aus, sich mit den menschlichen Geschöpfen zu vereinigen. Solche Vereinigung werde schließlich in einer ewigen Gemeinschaft von Gott und Menschen vollendet werden. Auf diese Gemeinschaft hin ziele Gottes Schöpferhandeln. Damit dieses Ziel erreicht werde, sei Gott selbst Mensch geworden. In Christus, dem Erlöser, sei vollkommene Gemeinschaft von Mensch und Gott realisiert. Und aufgrund dieser Gemeinschaft von Gott und Mensch könnten auch die menschlichen Geschöpfe im Glauben an Christus mit Gott vereinigt werden.² Schleiermacher nimmt an, dass zur Realisation dieser Gemeinschaft eine Entwicklung vor sich gehe, die vornehmlich die menschliche Seele betreffe. Denn die Seele wird als das Organ verstanden, in dem sich ein Mensch als Glaubender und in Gemeinschaft mit Gott erleben kann. Die Evolution der Seele bis hin zu ihrer Vollendung, bei der sich der jeweilige Mensch in ewiger Gemeinschaft mit Gott befinden wird, nimmt keinesfalls einen gleichmäßigen und ebenmäßigen Verlauf. Vielmehr entwickelt sich die Gottesbeziehung in der Seele zwar hin zu steter Festigkeit, jedoch auf einem Weg, der durch den unbeeinflussbaren Wechsel von Leid und Freude, Sünde und Gottvertrauen geprägt ist.³ Um über die Evolution der Seele näher Auskunft geben zu können, ist es zunächst nötig, Schleiermachers Schöpfungsverständnis darzulegen. Nach Schleiermacher vermag sich im Verlauf eines Menschenlebens ein unmittelbares Bewusstsein davon auszubilden, dass das je eigene Leben verdankt und keinesfalls durch den Menschen selbst
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Aufl. 1830/31, hg. v. Rolf Schäfer (= KGA I/13, 1 und 2; in den weiteren Fußnoten wird, weil das Werk in diesem Beitrag vielfach zitiert wird, auf Schleiermachers Glaubenslehre nur mit diesen abgekürzten Angaben hingewiesen: CG unter Angabe des Paragraphen, des Abschnitts und der Seitenzahl), 164, 1, 496. S.u. a. CG 109, 3, 198. S. dazu CG 5, 4, 49/50. https://doi.org/10.1515/9783110608656-006
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gesetzt ist.⁴ Dass jedoch hinter der gegebenen Existenz der Wille des in Christus geoffenbarten Schöpfers steht und welchen Inhalts dieser ist, das werde erst durch das Erlösungswerk Christi offenbar. Wer sich durch Christus erlöst wisse, dem seien damit auch Wesen und Wille des Schöpfers bewusst (1.). Von Relevanz ist nun, bei welchen Menschen dieses Gottesbewusstsein ausgebildet wird und lebensbestimmend ist. Schleiermacher verweist auf Gottes „Vorherversehung“. Was er darunter versteht, dem wird nachgegangen und dabei nicht außerachtgelassen, dass eine umfassende Vorherversehung auch Übel, Leid und Sünde betreffen muss. Welche Bedeutung Schleiermacher Übel, Leid und Sünde zumisst und welche Rolle Übel, Leid und Sünde bei der Evolution einer menschlichen Seele spielen, auch davon wird die Rede sein (2.). Schließlich darf nicht vergessen werden, in Anbetracht der Vorherversehung Gottes die Frage nach der Freiheit des Menschen zu stellen (3.).
1 Gottes Schöpfertätigkeit und seine Schöpfung Schleiermacher beschreibt den Menschen als ein Wesen, dem das Bewusstsein davon eigen sei, dass er sich selbst nicht geschaffen habe. Dieses Bewusstsein sei ein unmittelbares, ein unreflektiert vorhandenes. Seinetwegen könne ein Mensch auf den Grund seines Seins hin angesprochen werden.⁵ Gegenüber der Welt als dem Inbegriff allen Seins, finde sich der Mensch relativ abhängig, aber auch relativ frei.⁶ Im Unterschied hierzu könne er sich zudem einer schlechthinnigen Abhängigkeit bewusst sein, die gegenüber dem „Woher“ seiner eigenen Existenz bestehe.⁷ Denn sämtliches Sein befinde sich in absoluter Angewiesenheit auf den einen Grund, dem alles Sein entstammt. Dieser Grund werde „Gott“ genannt.⁸ Das unmittelbare Bewusstsein von diesem Grund abhängig zu sein, dieses „Bewußtsein schlechthiniger Abhängigkeit“, auch „schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl“ genannt,⁹ ist nach Schleiermacher nur und eben deshalb einem Menschen gewährt, weil der Ursprung allen Seins den menschlichen Geschöpfen mit der Seele auch die Möglichkeit seiner Erkenntnis geschaffen habe.¹⁰ Es kann einzig und allein
Schleiermacher hält fest, dass „unser ganzes Dasein uns nicht als aus unserer Selbstthätigkeit hervorgegangen zum Bewußtsein kommt.“ (CG 4, 3, 38). S. dazu CG 6, 1, 53/54. S. CG 4, 2, 36. CG 4, 4, 39. S. CG 4, 4, 38 – 49. CG 4, 3, 38. S. CG 4, 4, 40: Schleiermacher nimmt an: „Gott sei uns gegeben im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise; und wenn man von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen redet, so wird immer eben dieses damit gemeint sein, daß dem Menschen mit der allem endlichen Sein nicht minder als ihm anhaftenden schlechthinigen Abhängigkeit auch das zum Gottesbewußtsein werdende unmittelbare Selbstbewußtsein derselben gegeben ist.“
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Gott selbst sein, der diese Möglichkeit geschaffen hat und auch verwirklicht. Denn er ist es, dem, wie es das Abhängigkeitsbewusstsein erkennen lässt, alles Sein und Bewusstsein entstammt.
1.1 Wirken und Wesen des Schöpfers Indem das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit ernstgenommen wird, muss nach Schleiermacher auch ausgeschlossen werden, dass überhaupt etwas existiere, das nicht grundsätzlich durch Gottes Handeln bedingt sei.¹¹ Vor allem aber sei daran festzuhalten, dass Gottes schöpferische Tätigkeit niemals durch eine andere Macht oder ein anderes Wesen beeinflusst oder eingeschränkt worden sei. Eben diese Überzeugung sei in der christlichen Tradition mit der Rede von der creatio ex nihilo formelhaft zum Ausdruck gebracht. Creatio ex nihilo, das bedeutet nach Schleiermacher, dass vor der Entstehung der Welt nichts war außer Gott; die Schöpfung sei also aus nichts außer Gott entstanden.¹² Da nichts außer Gott als Ursprung allen Seins angenommen wird, könne dementsprechend davon ausgegangen werden, dass Gott allmächtig sei. Mit der Annahme der Allmacht Gottes sei aber nicht nur ausgesagt, dass alles, was ist, Gottes Macht entstammt und also „in der göttlichen […] Ursächlichkeit gegründet ist“.¹³ Es werde auch alles realisiert, was in Gottes ursächlichem Wollen begründet liege. Nicht nur alles, was ist, sei von Gott gewirkt, sondern alles, was Gott zu verwirklichen vermöge, werde wirklich.¹⁴ Schleiermacher setzt Gottes Allmacht mit Allwirksamkeit gleich.¹⁵ Es gebe nichts, was in Gott als Möglichkeit vorhanden wäre, jedoch niemals wirklich würde. Schleiermacher verneint solche Möglichkeit von Möglichkeiten, die Gott nicht verwirklichen wolle oder könne. Gott wähle nicht aus möglichen Möglichkeiten manche aus und realisiere diese, verwerfe aber alle anderen. Er verwirkliche alle seine Möglichkeiten. Denn er wolle, was ihm zu wirken möglich sei, auch wirken und verwirkliche eben dies. Schleiermacher hält fest: „Ein Unterschied zwischen Können und Wollen ist […] in Gott eben so wenig, wie der zwischen wirklich und möglich.“¹⁶ Es könne zwischen
S. CG 54, Leitsatz, 324. S. CG 40, 3, 234. CG 54, Leitsatz, 324. Zum Verständnis von Gottes Allmacht nach Schleiermacher s. auch Anne Käfer, „Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder. Ein Beitrag zum Vergleich der Positionen Friedrich Schleiermachers und Karl Barths“, in: Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Auf dem Weg zu einer Neubestimmung ihres Verhältnisses, hg. v. Martin Leiner/Matthias Gockel, Göttingen 2015, 89 – 112, hier v. a. 92– 101. S. CG 54, 3, 329: Gottes Allmacht sei „ungetheilt und unverkürzt die alles thuende und bewirkende“. CG 54, 3, 328.
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Gottes Können, Wollen und auch Tun weder ein quantitativer noch ein inhaltlicher Unterschied bestehen. Denn wer oder was sollte Gott daran hindern, das, was er zu tun vermag, auch zu verwirklichen; wer sollte den Willen und die Macht des Allmächtigen verändern und beschränken können? Nach Schleiermacher sind nichts und niemand vorhanden, ehe Gott seine Möglichkeiten realisiert. Alles, was Gott verwirklicht und erschaffen hat, ist deshalb allein und schlechthin abhängig von ihm. Auch das menschliche Geschöpf in all seinem Wollen und Tun kann nicht nicht abhängig gedacht werden, wenn Gottes alles begründende Allmacht berücksichtigt wird. Und also kann nichts Geschaffenes, das doch stets nach dem Willen des Schöpfers geschaffen ist, jemals fähig sein, sich Gottes Wollen, Können und Wirken entgegenzustellen oder gar derart zu widersetzen, dass Gott seinen Willen ändern oder seine Schöpfung umgestalten müsste. Dass der Allmächtige aus nichts außer sich selbst alles, was ist und sein wird, geschaffen habe, das verdankt sich nach Schleiermacher auch den göttlichen Eigenschaften Allgegenwart und Ewigkeit. Gott sei weder abhängig von anderen Wesen und Mächten noch von Raum und Zeit. Gott, der selbst zeit- und raumlos, also ewig und allgegenwärtig sei,¹⁷ begründe vielmehr auch das Sein von Raum und Zeit. In Raum und Zeit bedinge er das Sein und Werden und Gewesensein alles Seienden, das war und ist und werden wird. Dabei sei Gottes Wirken jedoch keinesfalls an Raum und Zeit gebunden. Vielmehr sei alles, was ist und wird, durch den Allmächtigen von Ewigkeit her schon gesetzt und zu bestimmter Entwicklung vorherversehen. „[I]ndem die göttliche Allmacht nur ewig und allgegenwärtig gedacht werden kann, so ist eines Theils unstatthaft, daß zu irgend einer Zeit etwas durch dieselbe erst werden soll, sondern durch sie ist immer alles schon gesezt, was durch die endliche Ursächlichkeit freilich in Zeit und Raum erst werden soll.“¹⁸ Mit Gottes ewiger und allgegenwärtiger Allmacht muss nach Schleiermacher viertens auch Allwissenheit als Eigenschaft Gottes angenommen werden. Denn nur der Allwissende weiß von Ewigkeit her, was er in Ewigkeit realisiert wissen will. Gott ist als Allmächtiger auch allwissend, weil er nur dann wirken kann, was er will, wenn er auch weiß, wie sich das Gewirkte in Raum und Zeit entwickeln wird und welche Folgen es haben wird. Nach Schleiermacher ist Gott der allwissende Allmächtige vor allem in Ewigkeit einig mit sich selbst. Er sei sich selbst unwandelbar treu und bestimme also in einheitlicher Weise sein gesamtes Wollen und Wirken, und zwar in bester Kenntnis seines ewigen Wesens. Niemals gerate er in Widerspruch mit sich selbst. Vielmehr begründe seine ihm wesenhafte Liebe durchgängig, uneingeschränkt, in gleichbleibender Weise all sein Tun.¹⁹
S. dazu CG 52 und CG 53. CG 54, 1, 325. Vgl. CG 55, 3, 347.
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Von Gottes Liebe sind nach Schleiermacher sämtliche Eigenschaften Gottes gänzlich bestimmt. Es sei nicht irgendeine Allmacht, gar die Allmacht eines boshaften Wesens, in der Gott wirke, sondern vielmehr die Allmacht seiner Liebe.²⁰ Gott wisse, wolle und verwirkliche dementsprechend nicht irgendwelche Möglichkeiten, sondern genau diejenigen, die ihm und also seiner Liebe entsprechen. Und so bringe er mit seiner Schöpfung, die aus nichts außer ihm selbst gewirkt sei, sich selbst als ewig Liebenden zum Ausdruck. Die ewige Schöpfung sei seine Liebesmanifestation. Sie sei Ausdruck seiner allmächtigen Liebe und Weisheit, weshalb sie ursprünglich vollkommen beschaffen sei und weshalb ihr Entwicklungsprozess in Raum und Zeit auf die Vervollkommnung der Gemeinschaft des Schöpfers mit seinen Geschöpfen ziele.²¹ Denn Liebe ist doch die Richtung, sich mit andern vereinigen und in anderem sein zu wollen; ist daher der Angelpunkt der Weltregierung die Erlösung und die Stiftung des Reiches Gottes, wobei es auf Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur ankommt, so kann die dabei zum Grunde liegende Gesinnung nur als Liebe vorgestellt werden.²²
Die Liebe ist es, die nach Schleiermacher die sehr gute Beschaffenheit der Schöpfung begründet und die bewirkt, dass die Entwicklung des Geschaffenen in Raum und Zeit zum Ziel gelangt. Das Ziel des Schöpfungsprozesses aber ist die Verwirklichung ewiger Gottesgemeinschaft und damit die Realisation des Reiches Gottes. Diese Realisation werde durch die erlösende Vereinigung Gottes mit den Menschen vollzogen.²³
1.2 Die Beschaffenheit des menschlichen Geschöpfs Damit diese Verwirklichung überhaupt möglich sei, habe Gott das menschliche Geschöpf entsprechend geschaffen. Die Beschaffenheit des menschlichen Geschöpfs zeichne sich dadurch aus, dass es sich unmittelbar schlechthinniger Abhängigkeit bewusst zu sein vermöge und in seiner Seele Sehnsucht nach dem Woher dieser Abhängigkeit verspüre. Es trage in sich das nie gänzlich erloschne Verlangen nach der Gemeinschaft mit Gott […]. Indem wir dieses also als den ersten Anknüpfungspunkt für alle göttlichen Gnadenwirkungen aufstellen: so schließen wir nur jene gänzliche der menschlichen Natur durchaus nicht angemessene Passivität aus, vermöge deren der Mensch in dem Bekehrungsgeschäft den leblosen Dingen gleichen soll, sezen aber
S. CG 167, 2, 505 und 169, 3, 512/513. S. hierzu v. a. CG 168, 1, 507; als Gottes Weisheit bezeichnet Schleiermacher hier im Unterschied zu Gottes Allwissenheit das schöpferische Wort, dem die Allwissenheit nachfolge, wobei sie keinen anderen Inhalt habe als die Weisheit. Zur ursprünglichen Vollkommenheit der Schöpfung Gottes, die Schleiermacher auch als das „schlechthin zusammenstimmende göttliche Kunstwerk“ beschreibt (ebd.), s. Anne Käfer, „Kant, Schleiermacher und die Welt als Kunstwerk Gottes“, in: ZThK 101 (2004) 1, 19 – 50. CG 165, 1, 499. S. das Eingangszitat.
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dadurch nichts von dem, was wir in unserm christlichen Selbstbewußtsein schon der Gnade Gottes in Christo zuschreiben […].²⁴
Zwar sei der Mensch für Gottes Gnade empfänglich geschaffen. Doch allein durch Christus, der Gottes Wesen und die menschliche Natur in sich vereinigt, könne das Verlangen des Menschen nach Gottesgemeinschaft gestillt werden und Gottes Liebe ihre Erfüllung finden. Ausschließlich das Erlösungswerk Christi befreie die menschliche Seele zur Gemeinschaft mit Gott und gewähre ihr so die Evolution hin zu ihrer Vollendung.²⁵ Diese heilsrelevante Einzigartigkeit des Erlösungswirkens Christi wirft eine entscheidende und drängende Frage auf: Welche Menschen werden der Gnade Gottes teilhaftig und schließlich zur Vollendung gelangen? Hat Gott eine bestimmte Auswahl getroffen? Wie diese Frage von Schleiermacher unter Verweis auf die Vorherversehung Gottes beantwortet wird, davon soll nun im zweiten Abschnitt die Rede sein.
2 Gottes Vorherversehung und das menschliche Geschöpf Dass Gott in Christus Mensch geworden ist, um Menschen zu erlösen, das ist nach Schleiermacher von Ewigkeit her durch Gott vorherbestimmt und vorherversehen. Das Inkarnationsgeschehen sei bereits mit der Schöpfung von Ewigkeit her Gottes Wille, der sich zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort realisiert habe. Um deutlich zu machen, dass Gottes ewiger Wille dieses Ereignis wie auch alle anderen Ereignisse im Weltgeschehen sämtlich und in ihrem Zusammenhang zur Verwirklichung vorherbestimmt habe, zieht Schleiermacher das Wort „Vorherversehung“ dem Ausdruck „Vorsehung“ vor. Mit „Vorherversehung“ werde ausgesagt, dass alles Einzelne, alle einzelnen Geschöpfe und Geschehnisse im Weltganzen in Gottes Willen und durch sein Wirken aufeinander bezogen seien. Alles Einzelne befinde sich in einem Gesamtzusammenhang, der in Gottes allmächtiger Weisheit und Liebe begründet liege und in dieser ewigen Liebe von Gott erhalten und in seiner Entwicklung geleitet werde.²⁶ Gott sehe also nicht Einzelnes gesondert vor, sondern vorherversehe den Gesamtzusammenhang in Raum und Zeit, in dem das Einzelne sich ereigne. Die Ausdrücke „Vorherversehung“ oder „Vorherbestimmung“ sprechen nach Schleiermacher deutlich „die Beziehung jedes einzelnen Theiles auf den Zusammenhang des Ganzen aus,
CG 108, 6, 190. Zum Verständnis des Anknüpfungspunktes bei Schleiermacher vgl. den Beitrag von Arnold Huijgen in diesem Band. S. dazu v. a. CG 166, 2, 502/503 und CG 100, 2, 108: Es ist nach Schleiermacher einzig der Erlöser, der einen Menschen zur Erkenntnis Gottes und zur Gemeinschaft mit Gott zu führen vermag. S. v. a. CG 46, 2, 271.
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und stellen das göttliche Weltregiment als eine innerlich zusammenstimmende Anordnung dar.“²⁷ Wenn das gesamte Weltgeschehen vorherversehen ist, muss allerdings ebenso wie das Christusereignis zur Erlösung der Menschen auch die Sünde des Menschen, die den geschaffenen Gesamtzusammenhang entscheidend prägt, von Ewigkeit her vorherversehen sein.²⁸ Nach Schleiermacher ist das Kommen des Erlösers, damit er die Menschen aus Sünde erlöse, ewig schon von Gott vorherbestimmt. Und gleich wie das Kommen des Erlösers gehe also auch die erlösungsbedürftige Verfasstheit der menschlichen Geschöpfe zurück „auf Einen ungetheilten ewigen göttlichen Rathschluß“.²⁹ Schleiermachers Annahme, dass mit der Erlösung zugleich die Sünde von Gott geordnet sei, ist konsequent gedacht. Jedoch fordert sie dazu heraus, nachzufragen, wie Sünde und das durch sie bedingte Übel und Böse mit Gottes allmächtigem Liebeswirken zusammengedacht werden können.
2.1 Erlösung und Sünde Mit Blick auf die Sünde wirft Schleiermacher selbst die Frage auf, „ob und in wiefern Gott für den Urheber der Sünde als solcher zwar […] jedoch immer zugleich mit der Erlösung könne angesehen werden.“³⁰ Weil mit dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl bewusst sei, dass alles, was ist, letztlich in Gottes allmächtigem Wirken begründet liegt, muss dies konsequenterweise auch für die Sünde gelten. Doch gibt nach Schleiermacher das Christusereignis zu erkennen, dass Gott außer der Sünde auch die Erlösung oder vielmehr: die Sünde nur in Bezogenheit auf die Erlösung geordnet habe. Gott habe nicht die Sünde als solche vorherversehen, sondern die Sünde, die durch die Erlösung überwunden wird. Eben dies werde demjenigen bewusst, der selbst die Gnade der Erlösung erlebt. Denn hierbei werde einem Menschen offenbar, dass Gottes Allmacht, in der auch die Sünde grundsätzlich gründe, die Allmacht der Liebe sei. Mit diesem Bewusstsein der Liebe und Gnade Gottes, das der Erlöser in einem Menschen wirke, werde diesem Menschen zugleich bewusst, dass er sich, ehe er erlöst wurde, in Sünde befand. Schleiermacher hält fest: „Sofern wir […] nie ein Bewußtsein der Gnade haben ohne Bewußtsein der Sünde, müssen wir auch behaupten, daß uns das Sein der Sünde mit und neben der Gnade von Gott geordnet ist.“³¹
CG 164, 3, 497. S. CG 164, 3, 498. CG 94, 3, 58. CG 79, 2, 487. CG 80, Leitsatz, 488.
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Mit dem Gnadenbewusstsein werde dem erlösten Menschen deutlich, dass das eigene bisherige Leben hinter der von Gott intendierten Liebesgemeinschaft zurückgeblieben ist. Dieser Mangel an Gottesgemeinschaft, dieser Mangel an Gottvertrauen zeichnet nach Schleiermacher die Sünde aus.³² Dass menschliches Leben ohne Gottesgemeinschaft als defizitär empfunden und das Zurückbleiben hinter dem Willen des Schöpfers als Sünde erkannt wird, dies gelte für den Erlösten unabweisbar. Für einen jeden Menschen allerdings nimmt Schleiermacher an, dass dieser immer schon, mehr oder weniger bewusst, von einer unerfüllten Sehnsucht nach Gott angetrieben sei. Es gebe „eine dunkle Ahndung des wahren Gottes“ in allen Menschen.³³ Entsprechend seien die menschlichen Geschöpfe allesamt daraufhin angelegt, dass „in jedem das Bewußtsein der Erlösungsbedürftigkeit entwikkelt werden kann“.³⁴ Dieses Verlangen oder vielmehr diese Erlösungsbedürftigkeit werde jedoch erst dann einem Menschen tatsächlich als solche und umfassend bewusst, wenn dieser Mensch durch Christus erlöst und versöhnt worden sei. Auf dem Weg der Erlösung durch Christus werde dies Verlangen befriedigt. Denn der Erlöser eröffne die Beziehung eines Menschen zu seinem Schöpfer, die mit Freude erlebt werde. Die Erkenntnis des Schöpfers, die allein durch den Erlöser gewährt werde, bringe sowohl die Allmacht als auch die Liebe und also das vorherwissende und auf die Realisation des Gottesreiches ausgerichtete Handeln Gottes zu Bewusstsein. Dadurch entwickele sich das Gottesbewusstsein fort. Eine „allmähliche und unvollkommene Entwiklung der Kraft des Gottesbewußtseins“ zeichnet nach Schleiermacher den Lebensvollzug des Menschen aus, an dem Gottes erlösende Gnade wirkt.³⁵ Schleiermacher nimmt für den Menschen, der der Erlösungsgnade teilhaftig wird, einen Entwicklungsprozess an, der mit zunehmender Erkenntnis des Wesens Gottes und darum auch mit stetig werdendem Vertrauen in Gott einhergeht. In diesem Prozess werde die Sünde mehr und mehr durch ein kräftiger werdendes Gottesbewusstsein überwunden und der Erlöste erlebe sein Leben weniger als von Übel behaftet als es für den noch nicht Erlösten der Fall sei.
2.2 Sünde, Übel und das Böse Mit dem als Sünde bezeichneten Mangel an Gottesbewusstsein geht nach Schleiermacher einher, dass und wie ein Mensch Widrigkeiten in seinem Leben erlebt. Zum
S.u. a. CG 81, 3, 503. CG 7, 3, 64; Schleiermacher verweist hier (in Anm. 1) u. a. auf die Einsichten des Paulus und insbesondere auf Röm 1,21 und Apg 17,27– 30. CG 118, 1, 249. CG 81, 4, 506.
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geschaffenen Weltzusammenhang gehörten auch Krankheit, Leid und Schmerz. So habe selbst Christus „Schmerzen und Leiden“ erlitten.³⁶ Doch wie, in welcher seelischen Verfasstheit ein Mensch solche Widrigkeiten erlebe, das variiere entsprechend der Dominanz und Stetigkeit seines Gottesbewusstseins. Befinde sich ein Mensch unter der Sünde und sei sein Gottesbewusstsein also nur ansatzweise oder stark vermindert vorhanden, so erleide er Schmerzen und andere Qualen als „Übel“.³⁷ Dominiere hingegen das Gottesbewusstsein die lebenswidrigen Situationen und Umstände, würden diese gerade nicht als lebenshemmend erlebt, sondern in Zuversicht auf den liebenden Schöpfer ertragen.³⁸ Dies jedoch, ob ein Mensch Lebenswidrigkeiten unter der Sünde oder im Glauben erlebt, ist nach Schleiermacher von Gott vorherversehen. Dementsprechend hält er fest: „Ohne ein sehr weitgreifendes Mißverständniß kann also Niemand Schwierigkeit darin finden, auch das was ihm als ein Uebel erscheint, gleichviel ob als eigenes oder fremdes oder gemeinsames, als in Folge der schlechthinigen Abhängigkeit vorhanden, mithin als von Gott geordnet zu sezen“.³⁹ Auch die Übel gehören nach Schleiermacher zum allmächtigen Liebeshandeln Gottes. Keinesfalls gebe es Übel und das Böse aufgrund eines Mangels an göttlicher Allmacht oder Liebe. Vielmehr seien Übel und das Böse eben in der allmächtigen Liebe gegründet, die von Ewigkeit her die Überwindung der Sünde, des Übels und des Bösen vorhergewusst und vorherversehen habe. Das Übel sei keineswegs als solches von Gott geordnet, sondern „nur als Mitbedingung des Guten und in Beziehung auf dasselbe“⁴⁰. Ebenso wie die Sünde, die das Erleiden des Übels bedingt, ist nach Schleiermacher auch das Übel nicht als solches vorherbestimmt, sondern immer schon auf die Freude der Erlösung hin geordnet. Und mit der Befreiung aus Sünde werde auch das Übel überwunden. Nach Schleiermacher verdanken sich Übel und Böses nicht einem Mangel an göttlicher Liebe. Vielmehr sei es Mangel an Gottesbewusstsein, der den Blick für den Gesamtzusammenhang hemme, sodass ein Mensch die ursprüngliche Güte der Schöpfung Gottes weder erkennen könne noch zu gutem Handeln fähig sei.⁴¹ Der Mangel an Gottesbewusstsein, der Sünde und Böses bedingt, wird nach Schleiermacher durch das Wirken des Erlösers beseitigt. Allein nach dem Willen Gottes und durch das Wirken des Erlösers könne dieser Mangel aufgehoben werden. Entsprechend müsse allerdings auch festgehalten werden, dass das Noch-nicht-
CG 101, 2, 98. S. dazu CG 75, 1– 3, 471– 475. S. CG 75, 1, 472/473. CG 48, 2, 290. CG 48, 3, 294. S.o. 1.1.
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Überwundensein des Bösen und damit das Noch-nicht-Vorhandensein des Guten in Gottes Macht begründet ist.⁴² Die Überzeugung, dass in Gottes Allmacht auch das Übel und das Böse begründet liegen, hält Schleiermacher hoch gegen jegliche Minderung der göttlichen Macht. Solche geschieht, wenn das Übel und das Böse als Gegengrößen des Guten mit besonderer gegengöttlicher Macht ausgestattet vorgestellt werden. Aufgrund des Christusereignisses geht Schleiermacher allerdings vor allem davon aus, dass Gottes ewige Liebe in Zeit und Raum den Mangel an Gutem zugunsten der Realisation des Reiches Gottes vollständig überwinden wird, so wie sie durch ihre creatio ex nihilo den totalen Mangel an Sein mit der Schöpfung überwand.⁴³ Als größtes Übel muss demnach das Nichtsein der Schöpfung vorgestellt werden, das Liebeszuwendung und die Realisation des Reiches Gottes als des höchsten Guten nicht zugelassen hätte. Und damit ist auch schon die Frage abgewiesen, ob es nicht besser gewesen wäre, Gott hätte die Welt nicht geschaffen, um die vielerlei Übel zu vermeiden, unter denen seine Geschöpfe leiden. Hätte er die Welt nicht geschaffen, dann bestünde in Ewigkeit ein Mangel an dem höchsten Guten, das nach Schleiermacher nur auf dem Weg der Seelenentwicklung erreicht werden kann. Die Evolution der Seele aus einem sündigen Dasein hin zu stetiger Dominanz des Gottesbewusstseins geht nach Schleiermacher einher mit der Stillung des Verlangens nach Gottesgemeinschaft. Und diese könne nur dann gelingen, wenn die Erkenntnis der Gnade mit dem Bewusstsein der Sünde und die Erkenntnis des Guten im Wissen um das Böse gewährt werde. Nach Schleiermacher sind also die Sünde und das Böse unabweisbar in den Evolutionsprozess eingebunden, und sie bilden einen notwendigen Schritt auf dem Weg der Realisation des Reiches Gottes.⁴⁴ Der Liebe Gottes und seiner vorherversehenden Weisheit kann nach Schleiermacher das menschliche Geschöpf nur bei Erkenntnis des Gegenteiligen gewahr werden, wobei dieses Gegenteilige stets nur in völliger Abhängigkeit von Gottes uneingeschränkter und unwandelbarer Liebe erlebbar sei. Doch warum oder wozu, so die vielfach gehörte Frage, gestaltete der Schöpfer seine Liebeszuwendung nicht in der Weise, dass er vom Uranfang an, gottbewusste Menschen in Gemeinschaft mit ihm schuf? Meines Erachtens sollte beim Versuch diese Frage zu beantworten, insbesondere beachtet werden, dass das Werden einer Liebesbeziehung zwischen den Geschöpfen viel Zeit in Anspruch nimmt. Es dauert, ein menschliches Gegenüber derart kennenzulernen, dass ihm sogar vertraut werden kann. Vertrauen und wahrhafte Liebe kommen nicht mit einem Mal und plötzlich zustande, auch können sie nicht vereinbart oder gar aufgezwungen werden. Deshalb müsse angenommen werden, „alles Uebel, das Böse als solches mit eingeschlossen gründe sich in einem bloßen Mangel“ (CG 48, 3, 293). Dass Schleiermacher die Realisation des Reiches Gottes als Vereinigung Gottes mit den Menschen erwartet, belegt bereits das Eingangszitat. S. dazu CG 81, 4, 506.
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Im Prozess des Kennenlernens ist es insbesondere nötig, dass Personen, die miteinander eine Beziehung in Liebe leben wollen, ihre eigenen Schwächen nicht verbergen und miteinander das Wissen um Fehler und Erfahrungen des Scheiterns vertrauensvoll teilen, sodass sie auch wissen, wann und wie sie Verletzungen des anderen vermeiden und wann und wie sie dem jeweils anderen eine Hilfe sein können, damit ihm Gutes widerfahre. Sind sie zu solcher Hilfe bereit und verlassen sie sich auf die Hilfe des anderen, besteht eine vertrauensreiche und zweckfreie Beziehung, in der von gegenseitiger Liebe die Rede sein kann. Die Gestaltung einer solchen Beziehung zwischen Menschen ist höchst herausfordernd. Um wie viel schwieriger muss es da sein, auf Gott, der weder gesehen noch gehört oder als körperliches Wesen gespürt werden kann, zu vertrauen. Dementsprechend scheint Gottes Weg, seine Kreaturen nach und nach mit sich selbst bekannt zu machen und ihnen im Verlauf des Lebens vertrauter zu werden, der Absicht angemessen, dass ihn die Geschöpfe lieben lernen und von ihm, der ihre Schwächen, vor allem aber ihre Sünden und ihre Erlösungsbedürftigkeit vollauf kennt, Erlösung erwarten.⁴⁵ Ein häufiger Vorwurf gegen Schleiermachers Darlegungen betrifft seine Beschreibung des Übels. Kritischen Stimmen scheint es, als nähme Schleiermacher das Übel nicht ernst, als verharmlose er Leid, Elend und Schmerz. Es wird vermutet, Schleiermacher kenne die Macht des Bösen wie der Sünde nicht.⁴⁶ Jedoch werden, wie Schleiermacher zeigt, Gottes Allmacht und Liebe nur dann konsequent gedacht, wenn ihr Aussein auf die Verwirklichung des höchsten Guten als unbeeinträchtigt durch eine Gegenmacht vorgestellt wird. Keine Macht ist also möglich, die Gottes Liebe beschränken könnte, und zwar weder in ihrer allmächtigen Triebkraft noch in ihrer Intensität. Entsprechend beschreibt Schleiermacher das Übel wie das Böse vor allem als ein Noch-nicht-Sein des Guten. Diese Ansicht gründet in der Überzeugung, dass Gott in seiner Liebe die Sünde und damit Übel und Böses vollkommen überwinden werde. Dass Gott das Leiden der Kreaturen an Übel und Bösem nicht nur kennt, sondern in seiner Liebe überwindet, das macht nach Schleiermacher das erlösende und versöhnende Leiden Christi offenbar.⁴⁷ Wenn nach Schleiermacher schließlich Sünde und Übel vollkommen überwunden sein sollen, stellt sich die Frage, ob also etwa für sämtliche Menschen die Erlösung aus Sünde vorherversehen ist und wann sie wohl geschehen könnte.
Diese Antworten auf die Fragen nach dem Warum und Wozu des göttlichen Handelns, stimmen nach meiner Interpretation zusammen mit Schleiermachers Theologie. Zum Verständnis von Sünde und Übel nach Schleiermachers s. Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, BHTh 94, Tübingen 1996, v. a. 291– 293; zur Diskussion dieser Interpretation s. Anne Käfer, Inkarnation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen der Christologie Luthers, Schleiermachers und Karl Barths, TBT 151, Berlin/New York 2010, 108. S. dazu v. a. CG 104, 4, 142.
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2.3 Wer ist vorherversehen? Mit Calvin sieht sich Schleiermacher in reformierter Tradition einig darin, dass alles, was geschieht, von Gott vorherversehen ist. Entsprechend endet Schleiermachers Aufsatz „Über die Erwählung“, in dem er sich eingehend mit Calvins Verständnis von der menschlichen Unfähigkeit zum Heilserwerb und dem Gnadenhandeln Gottes auseinandersetzt, mit dem Satz: „[H]ätte Gott nicht alles vorherversehen, so hätte er nichts vorherversehen“.⁴⁸ Gäbe es ein Teilstück im geschaffenen Weltzusammenhang, das nicht von Gott stammte, das nicht durch seinen allmächtigen Willen bestimmt wäre, könnte kein einziges Teil des Ganzen von ihm vorherversehen sein. Denn dann wäre ein wechselseitiges Verhältnis der Teile möglich, bei dem die einzelnen Teile von unterschiedlichen Mächten bestimmt und bewegt werden. Wäre dies der Fall, dann könnte keine einzelne Macht angenommen werden, die bereits vorherwüsste und vorherbestimmt hätte, wie sich das Verhältnis gestalten wird. Vielmehr befänden sich die unterschiedlichen Mächte in unabsehbarer Wechselbeziehung. Fraglich allerdings wäre, in welchem Grund die unterschiedlichen Mächte ihren Ursprung haben sollten. Der eine Grund, der die Teile und ihre Wechselbeziehungen im Schöpfungsganzen vorherversehen hat, ist nach Schleiermacher der Schöpfer selbst, dem keine Macht zu widerstreben vermöge. Von diesem Schöpfer seien vielmehr sämtliche geschaffenen Mächte schlechthin abhängig.⁴⁹ Was für die einzelnen geschaffenen Teile des Schöpfungsganzen gilt, das gilt nach Schleiermacher ebenso auch für das Zum-Glauben-Kommen eines einzelnen Menschen. Es sei im Gesamtzusammenhang vorherversehen, dass und wann ein Mensch zum Glauben komme. Damit ist von Schleiermacher, wie schon von Calvin, festgehalten, dass einzig und allein Gottes liebende Allmacht die Beziehung eines Menschen mit Gott gewähren und wirken kann. Von Seiten des Menschen bestehe keine Möglichkeit, sich Gottes besondere Zuwendung zu verdienen und sich gar Gott gefällig zu machen.⁵⁰ Diese reformatorische Einsicht gilt es meines Erachtens hochzuhalten. Nur wenn dies geschieht, wird der Allmacht des Schöpfers Genüge getan.
Friedrich Schleiermacher, Über die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, KGA I/10, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung v. Martin Ohst, Berlin/New York 1990, (145 – 222) 222. Zu Schleiermachers Vergleich seiner theologischen Überzeugungen mit der Theologie Calvins s. u. a. a. a.O., 178 und auch Schleiermachers Verweis darauf, dass er „den Beinamen eines kühnen und entschlossenen Schülers des Kalvin“ erhalten habe (a. a.O., 150). Zur Interpretation dieses Textes s. v. a. Eilert Herms, „Freiheit Gottes – Freiheit des Menschen. Schleiermachers Rezeption der reformatorischen Lehre vom servum arbitrium in seiner Abhandlung ‚Über die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen‘“, in: Denkraum Katechismus. Festgabe für Oswald Bayer zum 70. Geburtstag, hg. v. Johannes von Lüpke/ Edgar Thaidigsmann, Tübingen 2009. S. o. 1.1. S. Friedrich Schleiermacher 1990, Über die Erwählung, v. a. 151 (Anm. 48). S. hierzu aber auch die deutlichen Ausführungen Calvins: Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion/Institutio
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Das Zum-Glauben-Kommen eines Menschen wird nach Schleiermacher dadurch gewirkt, dass Christus diesen Menschen mit seiner Gottesliebe beseelt und so aus Sünde befreit.⁵¹ Für solche Beseelung sei ein jeder Mensch qua seines Anknüpfungspunktes empfänglich.⁵² Dieser Anknüpfungspunkt unterscheide das menschliche Geschöpf von einem Stein, für den keinerlei Empfänglichkeit angenommen werden könne.⁵³ Im Blick auf die Zeit, zu der ein Mensch zum Glauben kommt, zieht Schleiermacher eine Parallele zum Erscheinen Christi in Raum und Zeit. Der Erlöser sei, hier verweist Schleiermacher auf die biblische Überlieferung, eben dann geboren worden, „als die Zeit erfüllt war“.⁵⁴ „Dasselbe nun läßt sich auch von dem Einzelnen sagen, wenn seine Zeit erfüllt ist wird Jeder wiedergebohren, so daß sein durch diese Zeitbestimmung bedingtes neues Leben auch, wie spät es immer eintrete, ein schlechthin größtes ist“.⁵⁵ Die Frage, ob es besser gewesen wäre, wäre ein Mensch zu früherer Zeit zum Glauben gekommen, weist Schleiermacher mit dem Hinweis zurück, dass das ewige Leben ein alle Zeit überragendes Ausmaß habe. Mit seiner Wiedergeburt sei dem Wiedergeborenen dies ewige Leben eröffnet, dessen zeitlose Ewigkeit sich durch weitere (auch vorhergehende) Zeiträume nicht erweitern lasse.⁵⁶ Obwohl nach Schleiermacher die Zeit vorherbestimmt ist, zu der ein Mensch zum Glauben kommt, mache dies doch keinesfalls die Verkündigung des Evangeliums überflüssig und entlarve die Aufforderung zur Predigt nicht als widersprüchlich. Denn der Predigtaufforderung komme ein Glaubender gerade deshalb nach, weil er sich
Christianae Religionis, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb. v. Otto Weber, bearb. und neu hg. v. Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, v. a. II, 2, 6, 137/138 und auch II, 3, 1, 151/152. S. hierzu Anne Käfer, „Glaube als Beziehungsfrage. Ein fundamentaltheologisches Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Schleiermacher“, in: Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, WUNT I, hg. v. Jörg Frey/Benjamin Schließer/Nadine Ueberschaer, Tübingen 2017, 829 – 855, hier v. a. 845 – 848. S. o. 1.2. Dem Menschen eigne aufgrund seiner immer schon vorhandenen Gottessehnsucht „lebendige Empfänglichkeit“ (CG 108, 6, 190). Nach Schleiermacher ist der Mensch für Gottes Wirken empfänglich, doch sei er auch nach dem Empfang des erlösenden Heilswortes nicht vermögend, zu seinem Heil mitzuwirken; s. hierzu CG 108, 6, 188: „Was aber geschieht, nachdem das Wort in die Seele eingedrungen ist, daß nämlich dasselbe seinen Zwekk bei den Menschen erreicht, dazu können wir keine natürliche Mitwirkung des Menschen zugeben.“ Vgl. zu Schleiermachers Verständnis der „Mitwirkung“ beim Erlösungsgeschehen die Interpretation von Sabine Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ‚Lebendige Empfänglichkeitʻ als soteriologische Schlüsselfigur der ‚Glaubenslehreʻ, DoMo 11, Tübingen 2015, v. a. 339. S. CG 108, 6, 190, insbesondere Anm. 21; Schleiermacher widerspricht hier ausdrücklich den Ausführungen der Konkordienformel zum freien Willen im zweiten Artikel der Solida Declaratio, abgedruckt in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. Irene Dingel u. a., Göttingen 2014, 1356, Z.33 – 35.1358, Z.1– 2/1357, Z.29 – 30.1359, Z.1– 2. CG 118, 1, 250. CG 118, 1, 251. S. CG 118, 1, 252.
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dazu „von innen gedrungen“ finde.⁵⁷ Und nur gebunden an die Verkündigung des Evangeliums geschähen die „Gnadenwirkungen des Geistes“, durch die Menschen zum Glauben kommen.⁵⁸ Indem Schleiermacher eindringlich darauf abhebt, dass das Zum-Glauben-Kommen eines Menschen zu bestimmter Zeit unverbrüchlich vorherversehen ist, verneint er die Möglichkeit, Gottes Gnadenzuwendung abweisen zu können. Diese Möglichkeit wird in der protestantischen Theologie erwogen, um dem Menschen eine gewisse Freiheit zuzugestehen und um Gott zwar für das Heil, nicht aber das Unheil eines Menschen verantwortlich zu machen; das Unheil, das sich ein Mensch zuziehe, der sich gegen Gottes Liebe verweigere, soll dem Menschen zugeschrieben werden.⁵⁹ Schleiermacher jedoch, der an Gottes liebender Allmacht festhält, führt aus, dass dann, wenn ein Mensch Widerstand gegen die Gnadenzuwendung Gottes übe, auch dies von Gott vorherversehen sei.⁶⁰ Dass nämlich ein Mensch selbst mächtig wäre, sich gegen Gottes allmächtigen Willen zu verweigern, das könne mit der Allmacht Gottes nicht vereinbar sein; diese Annahme degradierte Gott zu einem mächtigen Wesen neben anderen.Vielmehr sei in Gottes einem Ratschluss alles vorherbestimmt, sowohl das Zum-Glauben-Kommen der einen als auch das (vorläufige) UngläubigBleiben der anderen Menschen.⁶¹ Im Unterschied zu Calvin geht Schleiermacher allerdings davon aus, dass Gottes allmächtige Liebe nicht nur einzelnen Menschen gelte. Denn mit der „ewigen Vaterliebe Gottes“ lasse sich nicht vereinbaren, dass Menschen auf ewig gottlos und gottvergessen und darum gar verdammt sein könnten.⁶² Schleiermacher hält fest, dass auch die, die als Verdammte angenommen werden, „nicht können davon ausgeschlossen sein Gegenstände der göttlichen Liebe zu sein, weil alles was zu der geordneten Welt des Lebens gehört, ein Gegenstand aller göttlichen Eigenschaften sein muß.“⁶³ Entsprechend nimmt Schleiermacher an, dass alle Menschen, früher oder später, in eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott gelangen. Jede menschliche Seele werde schließlich von Christus erfüllt im Reich Gottes ewig und selig leben. Hierauf ziele die Entwicklung der geschaffenen Seelen von Anbeginn an. Schleiermacher rechnet damit, dass „durch die Kraft der Erlösung dereinst eine allgemeine Wiederherstellung
CG 118, 1, 251. CG 118, 1, 251. Schleiermacher lehnt solche Annahmen ausdrücklich ab, s. Schleiermacher 1990, Über die Erwählung, 156/157. S. Schleiermacher 1990, Über die Erwählung, v. a. 161 (Anm. 48). S. Schleiermacher 1990, Über die Erwählung, 212 (Anm. 48). Schleiermacher 1990, Über die Erwählung, 216 (Anm. 48). Zur Auseinandersetzung mit der Theorie Calvins s. v.a. a. a. O., 216 – 218. Schleiermacher 1990, Über die Erwählung, 218 (Anm. 48).
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aller menschlichen Seelen erfolgen werde.“⁶⁴ Dieses Ziel der Seelenevolution ist begründet in seinem Liebesverständnis. Ist dies denn aber mit Liebe tatsächlich vereinbar, dass der Mensch als Gottes geliebtes Gegenüber nicht fähig sein soll, die Liebeszuwendung Gottes auch zurückzuweisen? Müsste diese Freiheitsoption nicht angenommen werden, damit die entstehende Liebesbeziehung tatsächlich eine Liebes-Beziehung ist und nicht eine Beziehung, die durch überwältigende Macht zustande kommt? Schleiermachers Liebesverständnis geht davon aus, dass den menschlichen Seelen schließlich das Beste geschieht, das ihnen widerfahren kann, doch scheinen sie dies Beste ganz ungefragt zu erhalten. In welcher Weise und welchem Maß sie hierbei von Schleiermacher gleichwohl als Freiheitswesen verstanden werden, darüber soll abschließend nachgedacht werden.⁶⁵
3 Von der Freiheit des Menschen In der Welt und der Welt gegenüber ist nach Schleiermacher das menschliche Geschöpf relativ abhängig und also immer auch relativ frei. Und nur, wenn ihm jene relative Freiheit bewusst sei, könne es auch schlechthinnige Abhängigkeit erleben. Wenn Menschen sich ausschließlich als Bestandteile eines mechanisch verstandenen Naturprozesses ansähen und darum „das Bewußtsein der Selbstthätigkeit nur als einen unvermeidlichen Schein behandelten“, vernichte dies alle Frömmigkeit; denn diese sei dadurch gekennzeichnet, dass sich der Mensch als relativ selbsttätiges Geschöpf vom Woher seines Seins und seiner Handlungsmöglichkeiten schlechthin abhängig fühle.⁶⁶ Vom Schöpfer allen Seins sei diesem Gefühl gemäß auch die menschliche Selbsttätigkeit selbst schlechthin abhängig, die gleichwohl die Selbsttätigkeit eines je bestimmten einzelnen Menschen sei.⁶⁷ Vor allem im Blick auf die Sünde und die Sündentaten eines Menschen ist entscheidend, wie das Verhältnis der menschlichen Selbsttätigkeit zur schlechthinnigen Abhängigkeit zu denken ist. Für Schleiermacher ist klar, dass die Taten, die ein Mensch in Sünde tätigt, die Taten dieses Menschen sind. CG 163, Anhang, 492. Zu Schleiermachers Verständnis von der ewigen Seligkeit der menschlichen Seele s. v. a. CG 163. Dass die ewig selige Seele schwerlich ohne ihre leiblich-gebundene Geschlechtlichkeit gedacht werden kann, führt Schleiermacher aus in CG 161; nach der Auferstehung, so erwägt Schleiermacher, müsste die Bestimmtheit eines Menschen als weiblich oder männlich weiterhin Geltung haben; s. CG 161, 1, 476. Zu Schleiermachers Geschlechterverständnis s. den Beitrag von Caroline Teschmer in diesem Band. Zum Freiheitsverständnis Schleiermachers s. auch die Diskussion in Anne Käfer, Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder, v. a. 99 – 101 (Anm. 14). CG 49, 1, 296. Die freien Ursachen haben nach Schleiermacher wie die natürlichen auch „ihr Dasein […] von Gott her“ (CG 49, Zusatz, 298).
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Der jeweils tätige Mensch ist nach Schleiermacher ein selbsttätig handelnder und keine Marionette. Er ist nämlich nicht gezwungen so oder so zu handeln. Vielmehr vermag er sich bewusst zu sein, sein Handeln gewählt und selbsttätig ausgeübt zu haben. Und so hält Schleiermacher einerseits fest, dass die Sünde „allemal des Sünders eigne That ist und keines Andern.“⁶⁸ Zugleich jedoch stellt Schleiermacher unter Verweis auf die Allmacht Gottes und in Übereinstimmung mit den Reformatoren heraus, dass der Mensch nicht frei ist, zu wollen, was er wollen will. Das Wollenwollen ist stets vorherbestimmt und ein freier Wille nicht möglich. Und so betont Schleiermacher andererseits die Bedingtheit des sündigen Wollens durch den Allmächtigen und gibt an, daß die in der mit Ohnmacht behafteten Freiheit begründete Sünde auch als solche von Gott geordnet sei, wenn nicht schlechthin angenommen werden soll, daß die göttliche Wirksamkeit durch etwas nicht von der göttlichen Ursächlichkeit abhängiges könne begrenzt werden.⁶⁹
Solange ein Mensch in Sünde lebt, sei seine Freiheit eine mit Ohnmacht behaftete. Aus dieser „Knechtschaft“ werde ein Mensch erst durch das vorherversehene Erlösungshandeln Gottes befreit, für das er qua seines Anknüpfungspunktes empfänglich sei.⁷⁰ Dass der gesamte Lebensvollzug eines Menschen, sowohl sein sündiges als auch sein erlöstes Leben, von Gottes heilbringender Vorherversehung abhängig ist, kann erst dem erlösten Menschen zu Bewusstsein kommen. Indem dieser die allmächtige Liebe Gottes selbst erlebt, vermag er Sünde und Übel im geschaffenen Gesamtzusammenhang als zu überwindende Größen zu erkennen und sich vertrauensvoll auf Gottes Handeln zu verlassen. Wenn er vertrauensvoll einstimmt in seine schlechthinnige Abhängigkeit von Gottes allmächtiger Liebe, bietet ihm diese Gottesbeziehung größte Freiheit.⁷¹ Denn dann lebt er in Freiheit von der Sehnsucht nach erfülltem Leben; dies ist ihm in der Gottesgemeinschaft gegeben. Mit dem stetig werdenden Bewusstsein vollkommener Abhängigkeit von Gottes ewiger Liebe gelangt die Seelenevolution schließlich zur dauerhaften Gemeinschaft mit Gott.
CG 81, 2, 500. CG 81, 2, 501. S. hierzu auch Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, v. a. 284– 285. CG 81, 2, 501. S. hierzu auch Anne Käfer, „Von der Freiheit einer christlich frommen Seele“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der SchleiermacherGesellschaft, Schleiermacher-Archiv 26, hg. v. Arnulf von Scheliha/Jörg Dierken, Berlin/Boston 2017, 313 – 324, hier v. a. 323 – 324.
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Die Integrität des Menschlichen Überlegungen zur Frage: Wie reformiert ist Schleiermachers Jesusbild? Das theologische Œuvres Friedrich Schleiermachers (1768 – 1834) beinhaltet eine „bemerkenswerte Zweigleisigkeit“¹ hinsichtlich der Deutung des Menschen Jesus von Nazareth. Diese umfasst einerseits seine dogmatische Christologie und andererseits seine Vorlesungen über das Leben Jesu (1819 – 1832). Letztere sind in jüngster Vergangenheit als Edition im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers erschienen.² Diese erfreuliche Neuerung gibt Anlass dazu, die Frage nach dem „reformierten Schleiermacher“ auch im Hinblick auf diesen Teil seiner theologischen Arbeit zu stellen. Die nachfolgenden Erörterungen stehen daher unter der Leitfrage: Wie reformiert ist Schleiermachers Jesusbild? Allerdings beinhaltet diese Frage einige hermeneutische Schwierigkeiten, weshalb es zunächst vonnöten ist, den Problemhorizont anzugeben, vor welchem die Leitfrage behandelt werden soll.
1 Problemhorizont Nach einem reformierten Profil der Theologie Schleiermachers zu fragen, hat m. E. seine volle Berechtigung, wenn es darum geht, die Anschlussfähigkeit ihrer Reflexionspotentiale für die gegenwärtige, insbesondere reformierte, Theologie und Kirche zu erhellen. Bei dieser gegenwartsbezogenen Frage nach Kontinuitätslinien reformierter Tradition ist es aber in theologiegeschichtlicher Hinsicht umso wichtiger, ebenso auch die besondere Situation Schleiermachers und ihre historischen Differenzen gegenüber der Situation der Reformatoren sowie auch gegenüber der Situation der Gegenwart zu berücksichtigen. Bezüglich der Frage „Wie reformiert ist Schleiermachers Jesusbild?“ sind vorab mindestens drei solcher Differenzen zu benennen, auf welche im Folgenden noch näher einzugehen sein wird. Erstens steht Schleiermachers Denken im Unterschied zu dem der Reformatoren im Horizont der Aufklärung und des dort entstandenen historischen Problembewusstseins. Nicht zuletzt seine Vorlesungen über das Leben Jesu zeigen Schleiermachers Bemühen, diesem neuen Geschichtsbewusstsein Rechnung zu tragen. Zweitens steht aber Schleiermachers Dif Ulrich Barth, „Evangelienhermeneutik als Prolegomena zur Christologie, Schleiermacher, Luther und die neuere Historik“, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 321– 351, hier 321. Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über das Leben Jesu, Vorlesungen über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte, KGA II/15, hg. v. Walter Jaeschke, Berlin/Boston 2018. Bisher waren die Vorlesungen über das Leben Jesu schon zugänglich in: Ders., Das Leben Jesu, Vorlesungen an der Universität zu Berlin im Jahr 1832 gehalten, Sämmtliche Werke [= SW], Bd. I/6, hg. v. Karl August Rütenik, Berlin 1864. https://doi.org/10.1515/9783110608656-007
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ferenzierung von dogmatischer Christologie und historischer Jesusforschung noch nicht unter dem Eindruck des Historismus, der erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in der Theologie als Problem präsent wurde.³ Zu den Nachwirkungen des Historismus bis in die gegenwärtige Theologie gehört u. a., dass die Unterscheidung des historischen Jesus vom dogmatischen Christus eine Verschärfung erfuhr und tendenziell den Status einer kategorialen Differenz gewann⁴, was in Schleiermachers Denken so noch nicht begegnet. An seinen Leben-Jesu-Vorlesungen wird dies schon auf der Formulierungsebene ersichtlich. Im Vorlesungsmanuskript zu seinem letzten Leben-Jesu-Kolleg von 1832 – welches auch das einzige von seiner Hand ist, das in einer einigermaßen zusammenhängenden Form vorliegt – notierte Schleiermacher 22mal das Wort „Jesus“ und 107-mal das Wort „Christus“.⁵ Hieran wird deutlich, dass bei Schleiermacher dogmatische Begriffe und geschichtliche Urteile bisweilen noch ineinander übergehen.⁶ Drittens – dies betrifft nun die konfessionelle Seite der Fragestellung – war Schleiermacher ein reformierter Prediger, der sich kirchenpolitischen allerdings für die preußische Union positionierte.⁷ Entsprechend konzipierte er auch seine Glaubenslehre als eine Art „Unionsdogmatik“ und legte dabei den Ton auf das Verbindenden unter den evangelischen Kirchengemeinschaften.⁸ Insbesondere die dritte der genannten Differenzen legt es nahe, sowohl die generelle Frage nach dem „reformierten Schleiermacher“ als auch die spezielle Frage danach, wie reformiert Schleiermachers Jesusbild ist, mit dem Bereich der Protestantismus-Deutung zu verknüpfen und in theologiegeschichtlicher Hinsicht im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität zu erörtern. In dieser Weise hat bekanntlich Ernst Troeltsch (1865 – 1923) das Grundschema der Geschichte des Pro-
Eingehend wurde dies dargestellt von Michael Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, Der Historismus erobert die Theologie 1880 – 1920, Gütersloh 1992. Für den gegenwärtigen Diskurs vgl. die Beiträge des Bandes von Christian Danz/Michael MurrmannKahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus, Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Dogmatik in der Moderne 1, Tübingen 2010. Vgl. KGA II/15, 101,1-133,23 (Leben Jesu 1832). Vgl. Ulrich Barth, „Jesus-Bild und Geschichtsdeutung, Schleiermacher und die spekulative Christologie“, in: Christian Danz (Hg.), Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, 45 – 62, hier 62: „Es ist seither – von wenigen Versuchen abgesehen – nie mehr gelungen, die Kluft [!] zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus wieder zu schließen und in eine gedankliche Synthese zu überführen, wie es Schleiermacher zumindest vorschwebte.“ Vgl. Albrecht Geck, „Schleiermacher als Kirchenpolitiker“, in: Martin Ohst (Hg.), Schleiermacher Handbuch, Tübingen 2017, 198 – 212; Kurt Nowak, Schleiermacher, Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 356 – 371. Diese Intention begegnet auch in Schleiermachers lateinischer Festrede zum Reformationsjubiläum von 1817. Da das Jubiläum zweifellos an den Beginn der lutherischen bzw. wittenberger Reformation ab 1517 anknüpft, findet es Schleiermacher umso bemerkenswerter, dass gerade er, als Reformierter („qui Zuinglii magis quam Lutheri […] doctrinae sim addictus“; KGA I/10, 3,4– 6), mit der Festrede beauftragt wurde. Diese Tatsache deutet er als Zeichen für eine übergeordnete Einheit der beiden protestantischen Kirchen; vgl. KGA I/10, 3,1– 4,20 sowie Hans-Friedrich Traulsen, „Einleitung des Bandherausgebers“, KGA I/10, XII–XIII. Den Hinweis auf die Festrede verdanke ich Rochus Leonhardt (Leipzig).
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testantismus mit den beiden Begriffen des „Alt-“ und „Neuprotestantismus“ beschrieben, um damit insbesondere auf den Bruch zwischen beiden hinzuweisen, denn beide Begriffe rekurrieren im Grunde auf eine je verschiedene Kulturform. Den Altprotestantismus, d. h. die Reformation sowie das Luthertum und der Calvinismus der altprotestantischen Orthodoxie, versteht Troeltsch dabei als eine „streng kirchlich supranaturale Kultur, die auf einer unmittelbaren und streng abgrenzbaren, vom Weltlichen zu unterscheidenden Autorität beruht“⁹. Der Neuprotestantismus dagegen, der nach Umfang und Inhalt viel weniger bestimmt werden kann, ist der Protestantismus, der durch die Aufklärung hindurch unter die Bedingungen der Moderne geraten ist. Er gehört damit einer Kultur der Autonomie und Pluralität an und setzt daher auf „Freiwilligkeit und persönliche Überzeugung […] unter grundsätzlicher Anerkennung der Mehrheit und Möglichkeit verschiedener religiöser Überzeugungen und Gemeinschaften nebeneinander“¹⁰. Der Begriff des Neuprotestantismus steht dabei grundsätzlich für das Problem einer protestantischen Identität angesichts seiner wandelbaren Erscheinungsformen. In ihm verdichtet sich die Frage nach einem Prinzip des Protestantismus, aus welchem heraus eine dynamische Regenerierung seiner Einheit im geschichtlichen Wandel erfolgt. Ferner steht der Begriff des Neuprotestantismus für das Problem der Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte des Protestantismus im Übergang zur Moderne.¹¹ Dementsprechend wird im Folgenden zunächst der Zusammenhang von Schleiermachers historischem Jesusbild mit seiner Deutung des Protestantismus in den Blick genommen (2), um von dort aus den Fokus zu schärfen und die Frage nach erkennbaren Verbindungen seines Jesusbildes zu Spezifika reformierter Tradition zu stellen (3). Ein kurzes Fazit und ein Ausblick schließen die Erörterung ab (4).
2 Schleiermachers Jesusbild im Horizont seiner Protestantismus-Deutung In komprimierter Form hat Schleiermacher seine Deutung des Protestantismus in der Einleitung seiner Glaubenslehre vorgetragen. Im Folgenden wird lediglich auf die zweite Auflage der Glaubenslehre Bezug genommen.¹² Schleiermacher profiliert dort den Begriff des Protestantismus an seinem Gegensatz zum Katholizismus und vertritt dabei die These, dass die innerprotestantische Differenz von Reformierten und Lutheranern gegenüber der Differenz des Protestantismus zum Katholizismus unwe Ernst Troeltsch [21911], Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, KGA 8, hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin/New York 2001, 226. Troeltsch 1911, 225 (Anm. 10). Vgl. Hans-Joachim Birkner [1968], „Über den Begriff des Neuprotestantismus“, in: Ders., Schleiermacher-Studien im Kontext, hg. v. Hermann Fischer, Schleiermacher-Archiv 16, Berlin/New York 1996, 23 – 37. Vgl. KGA I/13.1– 2.
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sentlich ist. Zwar ist der Protestantismus äußerlich in zwei Kirchengemeinschaften gespalten, aber unter religiösen Gesichtspunkten gehören sie zusammen und bilden eine Einheit. Ihre „Lehrverschiedenheiten“ gehen „keinesweges auf eine Verschiedenheit der frommen Gemüthszustände“ zurück, sodass Schleiermacher diese zu einer „Sache der Schule“¹³ herabstuft. Insgesamt unterscheidet sich der Protestantismus vom Katholizismus durch ein verschiedenes Subordinationsverhältnis von „Kirche“ und „Christus“ für das religiöse Individuum. Schleiermacher bringt dies auf die Differenzformel: „[Man kann] den Gegensaz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältniß zu Christo, der leztere aber umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig macht von seinem Verhältniß zur Kirche“¹⁴ (§ 24 Leitsatz). Neben der Fixierung der gemeinsamen religiösen Grundhaltung von Lutheranern und Reformierten leistet diese Formel noch etwas anderes: Sie unterstreicht, dass der Protestantismus eine profiliert unterscheidbare Erscheinung im Bereich des (abendländischen) Christentums darstellt und aus der Reformation als eine „eigenthümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft“¹⁵ hervorging. Im Verhältnis zum Katholizismus sei der Protestantismus ebenso christlich; aber in beiden werde das „Wesen des Christenthums auf entgegengesezte Weise modificier[t]“¹⁶. Daher war die Reformation auch mehr als „nur Reinigung und Rükkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen“¹⁷. Doch die genaue Bestimmung des Besonderen des Protestantismus kann für Schleiermacher erst unter Einbeziehung der Wirkungsgeschichte der Reformation erfolgen, denn in der Reformation selbst trat das „reinigende Bestreben“ noch so stark hervor, dass der „eigenthümliche Geist, der sich zu entwikkeln begann, sich hinter jenem [sc. dem reinigenden Bestreben] bewußtlos verbarg“¹⁸. Daher nimmt Schleiermachers Differenzformel explizit auf das „jezige[] cosolidirte[] Nebeneinanderbestehen beider Kirchen“¹⁹ Bezug. Was bedeutet aber die Differenz des Subordinationsverhältnisses von „Christus“ und „Kirche“ in religiöser bzw. religionstheoretischer Hinsicht? Für ein Verständnis des Christentums werden beide von Schleiermacher als irreduzibel zur Geltung gebracht – trotz der Möglichkeit verschiedener Nachordnungen. Die religionstheoretische Bedeutung der Differenzformel erschließt sich, wenn man bedenkt, für welches allgemeinere Theorieelement die Begriffe „Christus“ und „Kirche“ je stehen. – Beim Begriff der „Kirche“ muss daran erinnert werden, dass Schleiermacher diesen Begriff nicht für die christliche Kirche allein reserviert, sondern auch allgemeiner im Sinne
KGA I/13.1, 169,12. KGA I/13.1, 163,25 – 164,4. KGA I/13.1, 163,24– 25. KGA I/13.1, 167,31– 32. KGA I/13.1, 163,22– 23. KGA I/13.1, 166,22– 24. KGA I/13.1, 166,33.
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von „Religionsgemeinschaft“ gebraucht. Die Irreduzibilität der „Kirche“ für ein Verständnis des Christentums ergibt sich daraus, dass die allmähliche Konsolidierung gemeinsamer Religiosität zu einer Sozialform – mithin zu einer Kirche – einem anthropologischen Prinzip folgt: „Das fromme Selbstbewußtsein wird wie jedes [!] wesentliche Element der menschlichen Natur in seiner Entwiklung nothwendig auch Gemeinschaft“²⁰ (§ 6 Leitsatz). Der Begriff der Kirche bildet daher das religiöse Pendant zu jedweder Sozialform, deren Hervortreten in einer anthropologischen Dimension gründet. – Mit dem Begriff „Christus“ ist selbstredend ein Spezifikum des Christentums benannt. Und genau darin liegt auch seine religionstheoretische Bedeutung, weil er auf das Individuationsprinzip verweist, das dem Religiösen im Allgemein inhärent ist. Das Individuelle als das „eigenthümliche Wesen“²¹ (§ 10 Leitsatz) einer Religion bildet zugleich ihre Differenz von allen anderen und gliedert sich in eine äußere und eine innere Seite. Die äußere Seite betrifft insbesondere den geschichtlichen Ausgangspunkt; die innere Seite meint die „eigenthümliche Abänderung alles dessen, was in jeder ausgebildeten Glaubensweise derselben Art und Abstuffung auch vorkommt“²² (§ 10 Leitsatz). Im Falle des Christentums verbinden und verdichten sich beide Seiten in „Christus“, nämlich in der „durch Jesum von Nazareth vollbrachte[n] Erlösung“²³ (§ 11 Leitsatz). Nach der ober zitierten Differenzformel beschreibt Schleiermacher also den Protestantismus als eine Religionskultur, die in der Reflexion auf die eigene religiöse Identität dem Individuationsprinzip des Christentums Priorität einräumt. Sein eigenes Kirche-Sein ist dem Protestantismus dabei Mittel zum Zweck seiner Frömmigkeitsrichtung: „dasselbe Factum, welches wir [sc. Protestanten] als die Institution der Kirche zum Behuf [!] der Wirksamkeit Christi ansehn, [wird] von jenen [sc. den Katholiken] als eine Abtretung der Wirksamkeit Christi an die Kirche angesehen“²⁴. Wie bereits angedeutet, gehen – aus heutiger Sicht geurteilt – selbst noch bei Schleiermacher dogmatische Ausdrücke und geschichtliche Urteile ineinander über. So wird man auch hier annehmen dürfen, dass in der oben genannten Differenzformel mit „Christus“ der in der Geschichte erschienenen Erlöser (vgl. § 13 Leitsatz) gemeint ist, nämlich der Menschen Jesus von Nazareth. Unter dieser Voraussetzung lässt sich für die Vorlesungen über das Leben Jesu folgender Schluss ziehen: Indem Schleiermacher die Erarbeitung eines historischen Jesusbildes ab 1819 in seine akademische KGA I/13.1, 53,4– 6. KGA I/13.1, 81,1. KGA I/13.1, 80,18 – 20. – Den Inhalt von § 10 benannte Schleiermacher selbst nachträglich von Hand mit „Prinzip der Individuation“; vgl. KGA I/13.1, 60 (Apparat H). Hier gibt er einem Gedanken, den er bereits in seinem Erstlingswerk formuliert hat, seinen systematischen Ort; vgl. Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion, Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, 296,1– 5: „die Religion aber ist ihrem Begrif und ihrem Wesen nach auch für den Verstand ein Unendliches und Unermeßliches; sie muß also ein Princip sich zu individualisiren in sich haben weil sie sonst gar nicht dasein und wahrgenommen werden könnte“. KGA I/13.1, 93,19. KGA I/13.1, 167,37– 168,3.
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Lehrtätigkeit integrierte²⁵, entsprach er damit auch einem wesentlichen Moment seiner Protestantismus-Deutung. Zwar gehört das Leben-Jesu-Kolleg rein für sich genommen in den Bereich der wissenschaftlichen Reflexion und ist damit selbst kein genuiner Ausdruck der Frömmigkeit. Aber mittelbar ist damit dennoch eine Entsprechung und Förderung protestantischer Religionskultur intendiert, weil die akademische Lehre zugleich auf die Ausbildung von protestantischen Pfarrern bezogen ist. Die Leben-Jesu-Vorlesungen bilden in Schleiermachers theologischer Arbeit einen bedeutenden Teil bei der kritischen Ermittlung des Individuationsprinzips des Christentums²⁶, und sie entsprechen damit einem Interesse und Wesenszug protestantischer Religionskultur – lutherischer wie reformierter – auf der Ebene wissenschaftlicher Reflexion.
3 Schleiermachers Jesusbild im Horizont reformierter Christologie Während bisher das Reformierte an Schleiermachers Jesusbild nur auf inklusive Weise im Anschluss an seine Protestantismus-Deutung in den Blick trat, soll nun am Inhalt der Leben-Jesu-Vorlesungen eine mögliche Verbindungslinien zu den Spezifika der Tradition reformierter Christologie aufgezeigt werden. Die Verbindungslinie schließt an das sog. Extra-Calvinisticum bzw. an die Formel finitum non est capax infiniti an, und sie lässt sich inhaltlich mit dem Ausdruck „Integrität des Menschlichen“ fassen. Diese Formulierung umfasst sowohl eine Kontinuität als auch eine Diskontinuität und Transformation der reformierten Tradition. Schleiermacher rückt in seinen Leben-Jesu-Vorlesungen den Menschen Jesus eben als Mensch in den Mittelpunkt, und dies gegen die traditionelle Vorstellung von den zwei Naturen in Christus, der göttlichen und der menschlichen. Für die Reformatoren bildete diese noch selbstverständlich den christologischen Theoriehorizont. Insofern soll hier mit „Integrität des Menschlichen“ einerseits eine Reduktion gegenüber der Tradition angedeutet werden. Andererseits macht sich dieser Ausdruck die semantische Elastizität des Wortes „Integrität“ (lat. integritas) zu Nutze, um auf eine bestimmte Transformation der Tradition hinzuweisen. Denn gerade mit dem Wegfall der Vorstellung von einer göttlichen Natur in Christus erweitert sich bei Schleiermacher das Bestreben, die Integrität der menschlichen Natur Jesu festzuhalten, gleichsam zu einem Anspruch, die sittlich-re-
Schleiermacher galt lange Zeit als der Erste, der Vorlesungen über diesen Gegenstand hielt. Infrage gestellt wurde diese Sicht durch Martin Ohst, „Der theologie- und kirchengeschichtliche Hintergrund des Atheismusstreits“, in: Klaus-M. Kodalle/Martin Ohst (Hg.), Fichtes Entlassung, Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, Kritisches Jahrbuch der Philosophie 4, Würzburg 1999, 31– 47, hier 32. Vgl. außerdem Christian Danz, Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 19 Anm. 20. Vgl. Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, BHTh 96, Tübingen 1996, 184-227.
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ligiöse Integrität seines gesamten menschlichen Lebens so aufzuweisen, dass dessen religiöse Verehrungswürdigkeit dadurch plausibel wird.²⁷
3.1 Das „Menschliche“ als Plausibilisierungsrahmen der Dignität Jesu Schleiermacher begann mit seine Vorlesungen über das Leben Jesu 1819 – ca. vierzig Jahre nach dem sog. Fragmentenstreit. Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) hatte ihn inauguriert, indem er zwischen 1774 und 1778 Fragmente aus der bis dahin unveröffentlichten Apologie oder Schutzschrift für die vernuenftigen Verehrer Gottes ²⁸ des Hermann Samuel Reimarus (1694– 1768) ohne Nennung des Autors herausgab. Der Fragmentenstreit gilt als eine der heftigsten theologischen Streitsachen der Spätaufklärung und die Fragmente provozierten über 200 Gegenschriften.²⁹ Insbesondere das Fragment Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger (1778) sorgte für besonderes Aufsehen mit der These, dass das Neue Testament v. a. die verfälschende Lehre der Apostel wiedergebe und Jesu eigene Absichten darin nur noch in Spuren erkennbar seien: War Jesus selbst auf eine politisch-weltliche Erlösung aus, so haben die Apostel „wegen fehlgeschlagener Hoffnung nach seinem Tode ein ander Systema seiner Absichten, nämlich ein leidender geistlicher Erlöser der Menschen zu werden, ersonnen“³⁰, wofür auch die Erfindung der Auferstehung erforderlich gewesen sei. Trotz zahlreicher Gegenkritik schufen die bibel- und dogmenkritischen Fragmente des Reimarus nachhaltig ein Bewusstsein dafür, dass der historische Jesus von Nazareth nicht einfach identisch ist mit dem Jesus der neutestamentlichen Evangelien oder der kirchlich-dogmatischen Tradition.³¹ Schleiermacher knüpft in seinen Vorlesungen über das Leben Jesu in gewisser Hinsicht an den Fragmentenstreit an, indem er das Motiv des Täuschungsvorbehaltes aufnimmt und bearbeitet. Dabei zählt er es zu den Voraussetzungen, die der christ-
Es sei an dieser Stelle noch betont, dass die folgenden Ausführungen nicht darauf aus sind, Schleiermachers Leben-Jesu insgesamt als reformiert auszuweisen. Es geht lediglich darum, die angedeutete Verbindungslinie zur reformierten Tradition zu erhellen. Die erste vollständige Edition dieser Schrift liegt vor in: Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernuenftigen Verehrer Gottes, 2 Bde., hg. v. Gerhard Alexander, Frankfurt a. M. 1972. Vgl. Albrecht Beutel, „Art. Reimarus“, Hermann Samuel, in: RGG4, Bd. 7, Tübingen 2004, 238. Gotthold Ephraim Lessing (Hg.) [1778], Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, in: Ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., hg. v. Paul Rilla, Berlin 1956, 314 (I § 33). Zum Fragmentenstreit vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. IV, Gütersloh 31964, 120 – 165. Zum Inhalt der Fragmente und ihrer Bedeutung für den Verlauf der frühen Jesusforschung vgl. Albert Schweitzer [21913], Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, UTB 1302, Tübingen 91984 (= ND 7. Auflage 1966), 56 – 68.
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liche Glaube macht, dass ein „Unterschied zwischen Christo und allen anderen Menschen“³² besteht. Dieser Unterschied meint eine besondere Verehrungswürdigkeit und „specifische[] Dignität“³³ seiner Person. Das Christentum beziehe sich religiös demnach nur dann mit Recht auf Jesus von Nazareth, wenn es sich über die Verehrungswürdigkeit seiner Person nicht täuscht. Im Fall einer solchen Täuschung wäre aber folgender Schluss zu ziehen: „Ist die Person nicht zu halten so muß auch das Christenthum als solches aufgegeben werden und nur das für sich wahre daran muß bleiben“³⁴. Zwischen der genannten Voraussetzung des christlichen Glaubens und seiner Negation sieht Schleiermacher dasjenige Spektrum an Meinungen umschrieben, deren jeweilige Voraussetzungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen sind. Und genau darin bestehe auch der theologische Standpunkt bei einer historischen Reflexion auf das Leben Jesu. So notiert er: „Wir müssen alle Meinungen berüksichtigen sonst geben wir den theologischen Standpunkt auf“³⁵. Die Aufgabe einer theologischen Bearbeitung des Lebens Jesu beinhaltet daher, zu prüfen, ob sich die Verehrungswürdigkeit Jesu so thematisieren lasse, dass sie nicht in einen diametralen Widerspruch zu den Anforderungen einer wissenschaftlichen Untersuchung tritt, sondern umgekehrt mit ihr vereinbar wird. Aus diesem Grund zieht Schleiermacher zwei methodische Grenzlinien, die sodann für seine gesamte Bearbeitung des Lebens Jesu leitend werden. Zur Benennung bedient sich Schleiermacher der Namen altkirchliche Häresien und bezeichnet die Grenzlinien als „nazaräische“ und „doketische“ Ansicht – was hier freilich nur typologische Bedeutung haben soll.³⁶ Der Nazaräismus vertritt hierbei die rein rationale Wissenschaftlichkeit, die alles Übernatürliche per se verneint. An dieser Position an sich hält Schleiermacher nichts für problematisch. Mit der Voraussetzung des christlichen Glaubens ist sie erst dann nicht mehr vereinbar, wenn ihre „Negation des übernatürlichen“³⁷ dazu führt, „Christo eine pia fraus“³⁸ zu unterstellen ‒ wenn beispielsweise behauptet wird, Jesus habe sich in dem Bewusstsein, auf ganz natürliche Weise zu handeln, den Wunderglauben seiner Jünger zu Nutze gemacht, um sich deren Verehrung zu sichern.³⁹ – Der
KGA II/15, 318,4 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin); vgl. SW I/6, 24. KGA II/15, 121,13 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 280. KGA II/15, 102,4– 6 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 22. KGA II/15, 102,3 – 4 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 22. Vgl. KGA II/15, 102,7– 19 (Leben Jesu 1832); SW/6, 22 u. 29. Ein ähnliches methodisches Verfahren findet sich auch in Schleiermachers Glaubenslehre; vgl. CG2 § 22, KGA I/13.1, 155,10 – 160,17. Wie dort bilden auch im Leben-Jesu die – von Schleiermacher so genannten – „natürlichen Ketzereien“ ein Transparent auf den zeitgenössischen theologischen Schulstreit zwischen Rationalisten und Supranaturalisten. KGA II/15, 102,10 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 22. KGA II/15, 102,9 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 22. „[H]at er gewußt, daß dies ein Irrthum ist, daß man diese Thatsachen für Wunder hielt, und hat zugesehen, daß der Glaube an ihn sich auf diese Thatsachen gründete, und hat die Jünger in dem
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Doketismus dagegen ist für Schleiermacher nur insofern akzeptabel, als er die Voraussetzung des christlichen Glaubens uneingeschränkt vertritt. Er tut dies aber auf ungeschichtliche und aporetische Weise, wenn er die spezifische Dignität Jesu mit „rechtgläubigen Ausdrücken der Kirche“ fixiert und behauptet, er sei „Gott und Mensch in einer Person“⁴⁰. Die traditionelle Zwei-Naturen-Lehre nehme nämlich dem menschlichen Leben Jesu jede Wirklichkeit: „die Aufgabe eine wirkliche Anschauung von dem menschlichen Dasein und Wirken Christi zu gestalten, wird dabei ganz unmöglich, denn der Zusammenhang des einen Moments mit dem andern im Leben Christi muß sich auch in einen Schein verwandeln“⁴¹. Hieraus ergibt sich, dass für Schleiermacher eine geschichtliche Annäherung an die Verehrungswürdigkeit Jesu nur dann plausibel werden kann, wenn sie sich in den Grenzen menschlicher Realisierungsmöglichkeiten bewegt. Der Begriff des Menschlichen wird damit zum Plausibilisierungsrahmen der religiösen Dignität Jesu. Daher notiert Schleiermacher in seinem Manuskript: „Alles kommt […] immer auf die Frage zurück[:] wie läßt sich göttliches menschlich in menschlichem denken?“⁴² Die Integrität des Menschlichen, wie es oben bezeichnet wurde, bildet somit ein Grundmotiv von Schleiermachers geschichtlicher Bearbeitung des Lebens Jesu.⁴³
Irrthum gelassen, in diesem Fall hätte sich Christus einer pia fraus schuldig gemacht“; KGA II/15, 319,7– 11 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin). KGA II/15, 321,17– 18 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin); vgl. SW I/6, 31. KGA II/15, 321,38 – 41 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin); vgl. SW I/6, 32– 33. Zu Schleiermachers Destruktion der Zwei-Nature-Lehre samt der Lehre von der communicatio idiomatum in der Glaubenslehre vgl. CG2 §§ 96 – 97, KGA I/13.2, 60,9 – 89,21. KGA II/15, 105,6 – 8 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 86. Indem Schleiermacher die Verehrungswürdigkeit unter der Form des Menschlichen zu erfassen sucht, wird seine Jesus-Deutung zugleich zur Entfaltung eines normativen Menschenbildes. Der Aspekt der Vorbildlichkeit wird von Schleiermacher ausdrücklich benannt; vgl. KGA II/15, 101,16 – 17 u. 26, 105,5 (Leben Jesu 1832); SW I/6, 7, 15, 86. – Damit lässt sich Schleiermachers Jesus-Deutung auch in einen größeren geistes- und kulturgeschichtlichen Transformationsprozess einzeichnen, wie er etwa von Dietrich Korsch und Cornelia Richter beschrieben wurde. Die beiden Autoren skizzieren einen Prozess, bei dem im Verlauf der werdenden Moderne die normativen Implikate des Göttlichen sukzessive in das Menschliche hinein verlagert wurden, sodass es in der Konsequenz diese Entwicklung liege, dass moderne Menschenbilder über das rein Deskriptive hinaus eine Orientierungsfunktion beanspruchen. Das Urteil von Korsch und Richter über die Schrift des Aufklärungstheologen Johann Joachim Spalding (1714– 1804) Religion, eine Angelegenheit des Menschen (1797), sie sei eine „Momentaufnahme eines Prozesses der religiös motivierten Transformation des Normativen in die Gestalt des Menschen selbst“, kann im Prinzip genauso auch von Schleiermachers Leben-Jesu behauptet werden; Dietrich Korsch/ Cornelia Richter, „Gottesbilder – Menschenbilder, Zur Transformation normativer Instanzen“, in: Hans-Rainer Duncker (Hg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, Zum 100jährigen Jubiläum der Gründung der Wissenschaftlichen Gesellschaft im Jahre 1906 in Straßburg, Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 19, Stuttgart 2006, 427– 442, hier 433.
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3.2 Gebrochene Kontinuität zur Tradition reformierter Christologie In der Tradition reformierter Christologie gibt es eine Formel, die gleichsam eine Art Identity Marker reformierten Denkens darstellt und nicht selten zur konfessionellen Abgrenzung gegen das Luthertum Verwendung fand. Gemeint ist die Formel: finitum non est capax infiniti. Mit dieser Formel wird in der traditionellen reformierten Christologie darauf insistiert, dass mit der Vereinigung der beiden Naturen in Christus deren kategoriale Differenz dennoch nicht suspendiert wird, sondern beide Naturen ihre volle Integrität behalten. Heinrich Heppe (1820 – 1879) erklärt in seiner Darstellung und Zusammenfassung der traditionellen reformierten Dogmatik hierzu: Die unio naturarum mediata betreffend, sind […] beide Naturen in Christo […] so mit einander vereinigt, daß die Proprietäten der menschlichen und der göttlichen Natur in der einen Person Christi unvermischt vorhanden sind, d. h. daß die göttliche Natur die Attribute der Gottheit behält und wesentlich unendlich bleibt, während die menschliche Natur die kreatürlich-menschlichen Eigenschaften in ihrer vollen Integrität behält und, denn finitum non est capax infiniti, wesentlich endlich bleibt.⁴⁴
Die capax-Formel hat in diesem Zitat eine philosophisch-axiomatische Begründungsfunktion und erhärtet das Motiv der Naturenintegrität durch eine Anwendung der logischen Regel vom Satz des Widerspruchs: Endliches und Unendliches schließen sich gegenseitig aus. Das Interesse an der Integrität der beiden Naturen begegnet prominent bereits schon bei Johannes Calvin (1509 – 1564), wenn er in seiner Institutio Christianae Religionis schreibt: „Als ob nun jene Einigung aus den zwei Naturen ich weiß nicht was für ein Mittelding zusammengeschmiedet hätte, das weder Gott noch Mensch wäre!“⁴⁵ Und an einer anderen Stelle heißt es: [D]as Wort ist zwar freilich in der Unermeßlichkeit seines Wesens mit der Natur des Menschen zu einer Person zusammengewachsen, aber doch nicht darin eingeschlossen! Das ist das große Wunder: der Sohn Gottes ist vom Himmel herniedergestiegen – und hat ihn doch nicht verlassen; er ist aus der Jungfrau geboren worden, ist auf der Erde gewandelt, ja er hat mit seinem Willen am Kreuze gehangen – und doch hat er immerfort die ganze Welt erfüllt, wie im Anfange!⁴⁶
Die hierin ausgedrückte Gedankenfigur von einem Logos extra carnem bildet bei Calvin auch über die Christologie hinaus ein Grundmuster seines theologischen
Heinrich Heppe [1861], Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Dargestellt und aus den Quellen belegt, Neu durchgesehen und hg. v. Ernst Bizer, Neukirchen 1958, 327. Johannes Calvin [1559], Unterricht in der christlichen Religion, Institutio Christianae Religionis, Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearb. von Otto Weber, Neukirchen 1955, 970 – 971 (IV 17,30), Hervorhebung im Original. Calvin 1559, 298 (II 13,4) (Anm. 46), Hervorhebung im Original.
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Denkens.⁴⁷ Von lutherischen Theologen wurde hierfür später die polemische Bezeichnung „Extra-Calvinisticum“ geprägt. Hier ist nun nicht der Ort, den genauen theologiegeschichtlichen Zusammenhang des Extra-Calvinisticums mit der oben genannten reformierten capax-Formel zu bestimmen. Wichtig ist hier allein die Feststellung, dass in beiden dasselbe Motiv der Naturenintegrität zum Ausdruck kommt. Dieser Aspekt der reformierten Tradition setzt sich zu einem gewissen Grad in Schleiermachers Jesus-Deutung fort. Wie oben bereits gezeigt wurde, bildet das Menschliche in Schleiermachers Leben-Jesu den Plausibilisierungsrahmen für eine geschichtliche Bearbeitung der Biographie Jesu sowie des Verständnisses seiner spezifischen Dignität. In den Vorlesungsnachschriften, die Karl August Rütenik (1796‒ 1872) noch für seine Edition der Leben-Jesu-Vorlesungen vorgelegen haben, fand sich wohl auch eine wörtliche Anspielung an die reformierte capax-Formel: „Unbeschränktes und Beschränktes in einer Einheit des Lebens, in einer fortlaufenden zeitlichen Erscheinung zusammen, kann schwerlich ohne Widerspruch aufgefaßt werden“.⁴⁸ Dennoch muss hier klar gesehen werden, dass die Fortführung dieser Tradition bei Schleiermacher auch mit einer Verschiebung verbunden ist. Denn während bei Calvin und der traditionellen reformierten Christologie das Motiv der Naturenintegrität eine regulative Funktion innerhalb der als Rahmentheorie akzeptierten ZweiNaturen-Lehre erfüllte, wird sie bei Schleiermacher zum Fundament der Kritik jener Rahmentheorie, wodurch gerade die kirchliche Lehre als verkappte Häresie, nämlich als Doketismus, identifiziert wird. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass das Motiv der Naturenintegrität um die göttliche Natur reduziert und auf die Integrität des Menschlichen hin fokussiert wird.
Vgl. Christian Link, „Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung, Das sogenannte Extra-Calvinisticum“, in: EvTh 47 (1987), 97– 119. Zur Christologie Calvins vgl. Cornelis van der Kooi, „Christus“, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 252– 261. SW I/6, 31. – Rütenik lagen für seine Edition wohl noch fünf Nachschriften zum Kolleg von 1832 vor, die er zu einem homogenen Text kompilierte; vgl. SW I/6, X. Diese Nachschriften sind heute nicht mehr auffindbar; vgl. KGA II/15, XXIV. Zum Kolleg von 1832 sind heut zwei andere Nachschriften bekannt, von denen eine in der KGA ediert wurde. Sie stammt von einem „stud: theol: & philog:“ namens „E. Collin“; KGA II/15, 309. Ein Vergleich der Kompilation Rüteniks mit der Nachschrift von Collin zeigt bisweilen sogar wörtliche Übereinstimmungen (vgl. die bisher gegebenen Parallelnachweise). Insgesamt ist die Nachschrift von Collin aber knapper gehalten. In der Parallelstelle zum hier ausgewiesenen Zitat findet lediglich das Wort „Widerspruch“ eine Übereinstimmung. Dort heißt es zur entsprechenden Stelle: „daß er Gott und Mensch in einer Person sei, […] kann […] leicht so dargestellt werden, daß ein Widerspruch darin liegt“; KGA II/15, 321,18 – 19 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin). Auszuschließen ist m. E. jedoch, das Rütenik als Editor und Herausgeber ein besonderes Interesse an der Anspielung auf die reformierte capax-Formel gehabt hätte. In einer seinen Publikationen zeigt er sich schon im Titel nicht nur als Schleiermacher-Schüler, sondern eben auch als Lutheraner; vgl. Karl August Rütenik, Der christliche Glaube, nach dem lutherischen Katechismus in katechetischen Vorträgen zusammenhängend dargestellt, Berlin 1829.
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3.3 Von der Integrität der Natur zur Integrität des Lebens Was Jesus von allen anderen Menschen unterscheidet und worin zugleich seine spezifische Dignität besteht, bei gleichzeitiger Wahrung seiner rein menschlichen Lebensbedingungen, bringt der Leitsatz zum § 94 der Glaubenslehre auf den Punkt: „Der Erlöser ist sonach allen Menschen gleich vermöge der Selbigkeit der menschlichen Natur, von Allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welches ein eigentliches Sein Gottes in ihm war.“⁴⁹ Das Göttliche in Christus wird von Schleiermacher nicht mehr begriffen als eine personbildende göttliche Natur in ihm, sondern als eine besondere Realisierung menschlich-religiösen Gottesbewusstseins, das in der Rezeption des christlichen Glaubens als „urbildlich“⁵⁰ (§ 93 Leitsatz) aufgefasst wird. In den Vorlesungen über das Leben Jesu finden sich ähnliche Formulierungen, wenn Schleiermacher notiert: Das „Princip des reinen Wollens des göttlichen Willens […] hat Christus auch in sich gefunden als lebendiges Sein Gottes in ihm“⁵¹. Und die Richtigkeit dieser Auffassung sieht Schleiermacher nicht nur durch den aporetischen Charakter der Zwei-Naturen-Lehre begründet; auch Jesu Selbstverständnis als „Sohn Gottes“ komme in den kirchlichen Bekenntnissen nur unzureichend zu Geltung, denn „nach der symbolischen Vorstellung hätte er sagen müssen[:] ich habe den Sohn in mir“.⁵² Neben dieser Umformung von der göttlichen Natur zum Gottesbewusstsein ließen sich noch viele weitere Beispiele dafür nennen, wie Schleiermacher sein Jesusbild konsequent unter die Form des Menschlichen zu bringen sucht. Nur ein weiterer Punkt sei hier noch aufgegriffen. Zu einer wahrhaft menschlichen Existenz gehört es, dass der Mensch samt seines Bewusstseins eine Entwicklung durchläuft. In der Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit hatte Jesus ein bestimmtes Bewusstsein von sich selbst bzw. von seinem Gottesverhältnis sowie von dem, was sein Beruf bzw. die Ausrichtung seiner Tätigkeit sei. Daher wirft Schleiermacher die Frage auf: „wie können wir uns die menschliche Entwiklung desselben vorstellen“?⁵³ Hierbei wird nun für Schleiermacher die historische Kontextualisierung Jesu wichtig, etwa bei der konkreten Frage, an „welchem Stoff“ sich Jesu Bewusstsein gebildet hat und ob er den „Weg der Schule bei Pharisäischen oder Sadducäischen Schriftgelehrten“⁵⁴ durchlaufen habe. Zwar verleihen diese Konkretionen und Kontextualisierungen der Intention zur „rein menschliche[n] Betrachtungsweise“⁵⁵ Nachdruck. Aber bei der Darlegung der Entwicklung Jesu zeigt sich Schleiermacher dennoch nicht frei von Konstruktionszwängen, weil er die Dignität und Verehrungswürdigkeit Jesu daran knüpft, dass „im
KGA I/13.2, 52,9 – 13. KGA I/13.2, 41,13. KGA II/15, 106,8 – 12 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 101. KGA II/15, 106,17– 18 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 101. KGA II/15, 104,32 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 79. KGA II/15, 106,30 – 31 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 109. KGA II/15, 121,14 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 280.
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christlichen Glauben die Entwiklung Jesu als eine unsündliche gefaßt wird“.⁵⁶ Von dieser Prämisse ausgehend entfaltet er die Entwicklung Jesu nach idealen Maßstäben. So hält Schleiermacher der Möglichkeit, Jesus habe in den Schulen der Pharisäer oder Sadduzäer seine religiöse und intellektuelle Bildung erhalten, die Einschränkung entgegen, dass er durch ihre Schule „so durchgegangen sein [müßte] daß er sich nichts von ihren Irrthümern angeeignet hätte. Denn Irrthum entsteht nicht ohne Sünde auf dem Wege von der Unwissenheit durch die Unentschiedenheit zu der Wahrheit“.⁵⁷ Dass Irrtum einen Zusammenhang mit der Sünde haben müsse, deutet schon an, dass der Begriff des Irrtums von Schleiermacher hier als ein sittlicher Mangel verstanden wird, nämlich als ein mangelndes Interesse an der Wahrheit.⁵⁸ Analog beschreibt Schleiermacher auch Jesu sittlich-religiöse Entwicklung im eigentlichen Sinne. Ihr Verlauf sei ohne das Dazwischentreten irgendeiner Schuld „von der vollkommenen Unschuld aus zu dem immer vollkommneren Bewußtsein“⁵⁹ erfolgt. Hieran wird nun klar, dass Schleiermacher in seiner Jesus-Deutung die Integrität des Menschlichen enorm ausdehnt: Aus dem beschränkenden Motiv der Integrität der menschlichen Natur wird die Voraussetzung der Integrität des ganzen sittlich-religiösen Lebens Jesu, und zwar als eine bruchlos verlaufende Realisierung idealen Menschseins.⁶⁰ Diese Ausdehnung auf das gesamte Leben Jesu zeigt sich besonders in Schleiermachers Interpretation von Jesu Gebet der Anfangsworte von Psalm 22 am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“⁶¹ Diese Worte aus Jesu Mund seien nach Schleiermacher eigentlich nur dann plausibel, wenn Jesus dabei das hoffnungsvolle Ende des Psalms mit im Blick gehabt habe. Aber als ein Ausdruck seines inneren Zustandes, als Verzweiflung oder Trauer, könne dieses Psalmwort gerade nicht gelten: „Die Worte dieses Psalms in Christi Munde, mein Gott etc scheinen nicht zu paßen, denn sie alteriren sonst das Verhältniß Christi zu Gott, da das Eins sein Christi mit Gott nicht aufgehoben sein kann, und bei diesem Wort scheint dies Eins
KGA II/15, 105,30 – 31 (Leben Jesu 1832). Dass Jesus dabei immer noch als Mensch verstanden werden könne, sichert Schleiermacher durch die anschließende Behauptung, dass „wir die Sünde nie zum Wesen des Menschen rechnen“, ebd. Z. 32– 33; vgl. SW I/6, 100. KGA II/15, 106,33 – 36 (Leben Jesu 1832); vgl. SW I/6, 109. Vgl. KGA II/15, 355,18 – 27 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin): „Fragen wir, wie der Irrthum entsteht, so wird man sagen, daß immer schon ein Unsittliches dabei vorausgesetzt wird. […] Der Irrthum entsteht durch ein Abgeschlossen sein ehe die Wahrheit gefunden wird, und dies frühere Abschließen führt den Irrthum herbei, so entsteht der Irrthum aus Uebereilung und diese entsteht aus Trägheit, aus dem Ueberdruß an dem längeren Suchen der Wahrheit.“ Vgl. SW I/6, 117– 118. KGA II/15, 351,13 – 14 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin); vgl. SW I/6, 105. Hermann Fischer (1933 – 2012) hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das Menschenideal, das hier Schleiermachers Jesus-Deutung mitprägt, unter seinen intellektuellen Zeitgenossen allerdings nicht unüblich war; vgl. Hermann Fischer, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Beck’sche Reihe 563, München 2001, 132. Mt 27,46 par.
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sein aufgelöset.“⁶² Die Dignität Jesu wird also davon abhängig gemacht, dass dieser Mensch seine sittlich-religiöse Integrität auch bis in seine Todesstunde durchgehalten hat – ohne einen einzigen Moment der Schwächung des Gottesbewusstseins durch Angst und Zweifel. Nicht einmal Calvin, dem man zuweilen auch eine gewisse Rigorosität nachsagt, hatte es seinerzeit gewagt, eine derartige Konsequenz für die menschliche Existenz Jesu zu ziehen. In seiner Institutio schreibt er zur Stelle: Christus aber ist wirklich so verstoßen gewesen, daß er aus drängender Not heraus ausrufen mußte: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ […] Da wollen nun einige behaupten, er habe diesen furchtbaren Schrei aus der Empfindung anderer, nicht aber aus der eigenen Erfahrung heraus getan […]; aber das ist ganz unwahrscheinlich; diese Worte kommen doch offenkundig aus tiefster innerer Bedrängnis!⁶³
4 Fazit und Ausblick Wie reformiert ist Schleiermachers Jesusbild? Die angestellten Überlegungen hierzu haben ein doppeltes Ergebnis erbracht: 1) Unter Zugrundelegung von Schleiermachers eigener Protestantismus-Deutung entspricht die Ausarbeitung eines historischen Jesusbildes als solche einem spezifischen Interesse gemeinprotestantischer, und damit eben auch reformierter Religionskultur, nämlich dem vorrangigen Interesse am Individuationsprinzip des Christentums. 2) Das spezifisch reformierte Motiv der Naturenintegrität setzt sich in Schleiermachers Jesus-Deutung fort, wird dort aber zu einem kritischen Instrument gegen die Theorie einer göttlichen Natur in der Person Christi umgeformt, sodass allein die Integrität des Menschlichen verbleibt; diese wird sodann zu einem Maßstab der geschichtlichen Reflexion und bildet außerdem den Plausibilisierungsrahmen der Dignität Jesu. Insbesondere das zweite Ergebnis weist Schleiermacher als einen Vertreter des eingangs erwähnten Neuprotestantismus aus. Denn gerade die reduktive Fortsetzung und Transformation des reformierten Motivs der Naturenintegrität ist das Ergebnis einer Vermittlung des protestantischen Christentums mit den Anforderungen zeitgenössischer Wissenschaftskultur. In Schleiermachers Leben-Jesu-Vorlesungen steht hierfür die doppelte Grenzziehung zum „Nazaräismus“ und „Doketismus“. Aber auch generell begegnet bei Schleiermacher der Anspruch, den Einsichten der Aufklärung – samt der transzendentalen Erkenntniskritik Immanuel Kants (1724– 1804)⁶⁴ – Rech-
KGA II/15, 484,10 – 14 (Kolleg 1832, Nachschrift Collin); vgl. SW I/6, 451. Calvin 1559, 321 (II 16,11) (Anm. 46), Hervorhebung im Original. In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung Kants von Bedeutung, dass in der Frage „Was ist der Mensch?“ die übrigen Fragen, die das Feld der Philosophie beschreiben („Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“), zusammenlaufen; vgl. Immanuel Kant [1800], Logik, in: Ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 5, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968, 447– 448. Zur Re-
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nung zu tragen und konstruktiv in die theologisch-wissenschaftliche Arbeit zu integrieren. Und dieser Anspruch gehört genau in das mit hinein, worin sich nach Ernst Troeltsch auch der Übergang vom Alt- zum Neuprotestantismus vollzieht: Der protestantisch-religiöse Individualismus der persönlichen Überzeugung ist mit dem wissenschaftlichen Gewissen und der Freiheit des Gedankens zusammengeflossen. Aber das hat auch den Protestantismus selbst gegenüber seinen Anfängen gründlich verändert. Es lag dazu von Hause aus die Möglichkeit in ihm. Aber damit sie eintreten konnte, mußte die moderne autonome Wissenschaft erst selbst geboren sein. Sie ist aus dem Protestantismus nicht geboren, sondern nur mit ihm verschmolzen und hat ihn vom ersten Augenblick dieser Verschmelzung ab in schwere Kämpfe hineingerissen, die bis heute nichts weniger als erledigt sind.⁶⁵
Der Ausdruck „Integrität des Menschlichen“ spiegelt in seiner oben angedeuteten Elastizität gleichsam den Konstruktionsrahmen von Schleiermachers historischer Bearbeitung des Lebens Jesu wieder. Er umfasst zum einen den Bereich der natürlichmenschlichen Realisierungsmöglichkeiten und zum andern Idealvorstellungen menschlichen – insbesondere religiösen – Lebens. Aus heutiger Sicht wird man ersteres immer noch als Voraussetzung biographischer Geschichtsschreibung anerkennen können. In letzterem liegt allerdings der Herd alles dessen, was Albert Schweitzer (1875 – 1965) in seiner kritisch-ironischen Darstellung der Leben-Jesu-Forschung als Projektionen bei der Suche nach dem historischen Jesus entlarvt hat⁶⁶ – ohne damit aber das Projekt der Leben-Jesu-Forschung insgesamt und seine theologische Bedeutung über Bord werfen zu wollen⁶⁷. Dass die „stetige Kräftigkeit“ des Gottesbewusstseins Jesu von Schleiermacher ebenso als eine menschliche Realisierungsmöglichkeit gedacht wurde, zeigen seine bewusstseinstheoretischen Reflexionen über die Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit.⁶⁸ Sie bildet innerhalb dieser Theorie aber dennoch den Fall einer maximalen Steigerung und damit eben einen idealen Grenzfall. Die Frage nach dem Wesen und der Grenze des Menschlichen hat bis heute ihre Aktualität nicht verloren. Zum wissenschaftlichen wie auch zum gesellschaftspolitischen Diskurs der Gegenwart über Humanität und die Orientierungsleistung von Menschenbildern trägt auch die Theologie bei – insbesondere, wenn es um das so-
zeption und Weiterbildung von Kants Philosophie bei Schleiermacher vgl. Walter Jaeschke/Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785 – 1845, München 2012, 254– 305, insbesondere 259 – 263. Troeltsch 1911, 289 (Anm. 10). Vgl. Schweitzer 1913, 622 (Anm. 32): „Es ist geradezu ein Verhängnis der modernen Theologie, daß sie alles mit Geschichte vermischt vorträgt und zuletzt noch auf die Virtuosität stolz ist, mit der sie ihre eigenen Gedanken in der Vergangenheit wiederfindet.“ Vgl. Schweitzer 1913, 622– 630 (Anm. 32). Insbesondere CG2 § 5.4 ist hier ausschlaggebend, KGA I/13.1, 47,25 – 50,20; vgl. Barth 2013, 60 – 61 (Anm. 7).
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genannte „christliche Menschenbild“ geht.⁶⁹ In diesem Zusammenhang kann speziell der Frage nach der Integrität des Menschlichen eine kritische Funktion im Spanungsfeld von Überforderung und Unterschätzung menschlicher Potentiale zugewiesen werden.⁷⁰ Inwiefern man heute bei der Frage nach einem christlichen Menschenbild auch auf den historischen Menschen Jesus von Nazareth Bezug nimmt, darüber wird man im Einzelnen wohl noch streiten können und müssen. Die religiöse Bedeutsamkeit dieses Menschen lässt sich jedenfalls ohne einen reflektierten Begriff von Religion und Religiosität wohl kaum angemessen erfassen. – Doch hier von einem Idealbegriff auszugehen und diesen als materiales Konstruktionsprinzip der historischen Bearbeitung des Lebens Jesu zugrunde zu legen, diese historisch-theologische Arbeitsweise ist heute mit gutem Recht zur Historisierung freigegeben.
Vgl. exemplarisch Friedrich Wilhelm Graf, Missbrauchte Götter, Zum Menschenbildstreit in der Moderne, Reden über den Humanismus 1, München 2009. Dietrich Korsch und Cornelia Richter kommen – wenn auch von anderen Voraussetzungen her – für den aktuellen anthropologischen Diskurs zu der interessanten Formulierung, dass sich „der Maßstab des Menschlichen […] über das Maß erschließt, das in seiner Geltung menschlich ist“, und benennen dies als eine „pragmatische Maxime von der Einheit des Geltenden mit dem Ort seiner Geltung“; Korsch und Richter 2006, 442 (Anm. 44).
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Wie reformiert ist Schleiermachers Abendmahlslehre? … ist, wo alle bedenklichen Vorstellungen von Verwandlung und Opfer beseitiget sind, wo der Diener des Wortes im Namen Christi thut was Christus selbst gethan, das gesegnete Brod brechen und den gesegneten Kelch vertheilen, nicht ein wahrhaft evangelisches Abendmahl?¹
Am Vortag des Reformationsfestes 1817 feierte die gerade frisch vereinigte Berliner Synode aus lutherischen und reformierten Vertretern in der Nikolaikirche gemeinsam Abendmahl. Was das in der liturgischen Praxis bedeutet, lässt sich einer der Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. beigegebenen Verfügung entnehmen, die diese Abendmahlsform für alle Gemeinden vorsieht. Der König hatte bekanntlich selbst die Unionbestrebungen maßgeblich zu befördern versucht.² Die gesammte Geistlichkeit von beiden evangelischen Confessionen in hiesiger Residenz hat bereits beschlossen, am 30sten dieses Monats in einer der hiesigen lutherischen Kirchen das heilige Abendmahl gemeinschaftlich zu genießen, und dabei den in der bisherigen reformirten Kirche üblichen Ritus des Brodbrechens zu beobachten, das ungesäuerte Brod aber und den Kelch mit den Worten darzureichen: // Christus unser Herr sprach: ’nehmed hin und esset, das ist mein Leib, der etc.; solches thut etc.’ Christus unser Herr sprach: ’nehmet hin und trinket, das ist etc.; solches thut etc.’ // Des Königs Majestät haben über diese Verabredung nicht nur Höcht Ihre vollkommene Billigung und besonderes Wohlgefallen zu erkennen gegeben, sondern auch zu bestimmen geruhet, daß in sämmtlichen hiesigen Kirchen für alle diejenigen, welche das heilige Abendmahl auf jene neue Weise als evangelische Christen begehen wollen, am ersten Reformations-Jubeltage, als dem 31sten dieses Monats, die Abendmahlfeier nur nach dem neu angenommenen Ritus […] gehalten werden soll.³
Nicht nur in der lutherischen Berliner Nikolaikirche, sondern in allen Gemeinden sollte also das Abendmahl in dem „in der bisherigen reformirten Kirche üblichen Ritus“ gefeiert werden. Verbirgt sich hinter der preußischen Union ein heimlicher Triumph reformierter Praxis?⁴
Friedrich Schleiermacher, Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30sten October von ihr zu haltende Abendmahlsfeier [1817], KGA I/9, Berlin/New York 2000, 173 – 188, hier: 177. Den Wortlaut der Kabinettsorder bietet Schleiermacher 2000, 178. Kommentar des Bandherausgebers zu Z. 7 f. (Anm. 1). Zit. nach Schleiermacher 2000, 175 f. Kommentar des Bandherausgebers zu Z. 7– 15 (Anm. 1). Das Ergebnis der durch Friedrich Wilhelm III. erlassenen Agende für die evangelische Kirche [1829] war freilich ein anderes. Die einschlägigen Passagen zur Abendmahlsliturgie findet sich in Friedrich Schleiermacher, Predigten 1790 – 1808, KGA III/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2013, 1035 f. 1066 f. 1084– 1087. 1115 f. 1135 – 1138. https://doi.org/10.1515/9783110608656-008
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Schleiermachers schrifliche Äußerungen zur Abendmahlslehre wollen bekanntlich weniger wahrhaft reformiert als vielmehr wahrhaft evangelisch sein. Die kirchenpolitischen Äußerungen der Berliner Zeit wie auch sein dogmatisches Hauptwerk zielen auf die Union protestantischer Kirchen.⁵ Hier soll dagegen gefragt werden, (1.) in welcher Weise sich in diesen Texten eine reformierte Prägung erkennen lässt, wie diese sich (2.) in seinen Vorschlag einer evangelischen Union integrieren und ausblickend (3.) auch wie sich seine Überlegungen im Vergleich mit der Leuenberger Konkordie (1973) lesen.
1 Schleiermachers Abendmahlstheologie in der Tradition Zwinglis Schleiermacher macht an zwei Stellen in den Paragraphen der Glaubenslehre zur Abendmahlslehre seine Sympathie zur Theologie Zwinglis offenkundig. Einerseits in Bezug auf den Sakramentsbegriff und andererseits im Vergleich mit den Lehren Luthers und Calvins. Er beginnt seine Ausführungen mit exegetischen Überlegungen. Ausgehend von der Priorität des Johannesevangeliums scheint ihm die Einsetzung des Abendmahls durch Jesus nicht in derselben Weise gesichert wie bei der Taufe. Aufgrund der Tradition, die die anderen Evangelien und Paulus überliefern kann auch er dem Abendmahl und nicht wie bei Johannes der Fußwaschung eine sakramentale Bedeutung zumessen.⁶ Hinsichtlich des Begriffs ‚Sakrament‘ meldet Schleiermacher im Anschluss an Zwingli Bedenken an. Zwingli hatte in De vera et falsa religione commentarius (1525) die Mehrdeutigkeit des Sakramentsbegriffs problematisiert.⁷ Damit geht Zwingli für Schleiermacher in die richtige Richtung, aber nicht weit genug. Schleiermacher trägt seine Überlegungen zur Kritik des Sakramentsbegriffs in einem „Anhang zu den lezten beiden Lehrstücken“, Taufe und Abendmahl, vor und wählt bewusst die Form des nachträglichen Kommentars so, daß hier nicht der Behandlung der beiden Institutionen, welche die evangelische Kirche jetzt allein mit diesem Namen bezeichnet, die Erklärung und Auseinandersezung des sogenannten Begriffs selbst vorangeschikt ist, wie es sonst zu geschehen pflegt. Denn durch die gewöhnliche Stellung befestigt sich natürlich immer mehr die Ansicht als ob dieser Begriff etwas dem Christenthum wesentliches aussagte, Taufe und Abendmahl aber ihren eigenthümlichen Werth vorzüglich dadurch erhielten, daß sie jenem Begriff angemessen sind.⁸
Vgl. Schleiermacher 2000, 181 (Anm. 1). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube [1821/22], Teilband 2, KGA I/7.2, Berlin/New York 1980, 264.Vgl. dazu auch Friedrich Schleiermacher, Das Leben Jesu [1832], SW 6, Berlin 1864, 418 – 421. Schleiermacher zitiert indirekt Zwingli, De vera et falsa religione commentarius [1525], CR XC, hg. v. Emil Egli u. a., Leipzig 1914, 757. Schleiermacher 1980, 282 f. (Anm. 6).
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Der Aufbau der Glaubenslehre wählt demgegenüber bekanntlich einen anderen Zugang. Taufe und Abendmahl stehen im Zusammenhang der wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche (§§ 145 – 172) neben den Lehrstücken zur Schriftlehre, dem Dienst am göttlichen Wort, dem Amt der Schlüssel und dem Gebet. Schleiermacher sieht in diesem Zugriff einen Beitrag zur Rückführung des Sakramentsbegriffs auf seine Funktion für die Ekklesiologie und zugleich auf die christologische Ämterlehre. Er versteht dies, wie gesagt, als ein weitergeführtes Anliegen Zwinglis, das er sich explizit zu eigen machen kann. Auf Latein zitiert er aus De vera et falsa religione commentarius (1525): „Das Sakrament kann nicht die Kraft haben, das Gewissen zu befreien […] Es befinden sich also diejenigen in vollkommenem Irrtum, die da glauben, daß die Sakramente reinigende Kraft haben […] Sakramente also sind Zeichen oder Zeremonien, mittels derer der Mensch sich der Kirche versichert.“⁹ Auch in der Abendmahlslehre selbst wird Zwingli besonders gewürdigt. Schleiermacher bietet eine Kurzvorstellung der Positionen von Luther, Zwingli und Calvin, unter denen er Zwingli den Vorzug gibt, letztlich aber die Differenzen zwischen den Auffassungen für eine gemeinsame evangelische Kirche nicht als wesentlich erachtet. Seine Skizze der drei Meinungen klingt so: Die erste erklärt, Christus habe mit dem Brod und Wein selbst die wirkliche Gegenwart seines Leibes und Blutes verbunden aber nur für die Handlung des leiblichen Genusses jener im Sacrament.¹⁰
Dies ist für Schleiermacher die Position Luthers, die der katholischen Position am nächsten steht und damit „so mancherlei abergläubische Vorstellung“ begünstige, da sie darüber, wie in Brot und Wein zugleich Leib und Blut Christi genossen werden „nur Worte aufstellt, durch welche aber keine wirkliche Vorstellung mitgetheilt wird“.¹¹ Es folgt die Wiedergabe der Position Zwinglis: Die zweite erklärt, Christus habe mit dem Brod und Wein selbst nichts verbunden, sondern nur durch seinen Befehl mit der Handlung des Essens von jenem Brod und Wein den geistigen Genuß seines Fleisches und Blutes.¹²
Anders als bei Luther und Calvin wird bei Zwingli nicht die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi, sondern der geistige Genuss zur Erhebung der Gläubigen angenommen.¹³ Auf die Stärken dieser Auffassung wird gleich noch zurückzukommen sein. Zunächst aber noch zu Calvin:
Zwingli 1914, 759. 760. 761. Zu meiner Übersetzung vgl. Huldrych Zwingli, Schriften III, hg. v. Thomas Brunnschweiler und Samuel Lutz, Zürich 1995, 231. 232. 234. Schleiermacher 1980, 272 f. (Anm. 6). Schleiermacher 1980, 274 (Anm. 6). Schleiermacher 1980, 273 (Anm. 6). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen, KGA I/10, Berlin/New York 1990, 72 f.
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Die dritte erklärt, Christus habe allerdings nur mit der Handlung des Essens und Trinkens verbunden, aber nicht bloß den geistigen Genuß, wie er auch ausser dem Sacrament zu haben ist, sondern die sonst nirgend zu habende wirkliche Gegenwart seines Leibes und Blutes.¹⁴
An Calvins Auffassung lobt Schleiermacher, dass sie die „übersinliche Sinnlichkeit der Lutherischen eben so gut als die überverständige Dürftigkeit der Zwinglischen“ vermeide.¹⁵ Die von ihr verwendete „Symbolik“ bleibe aber ein Stück weit willkürlich und unerklärlich. Ich komme zurück zum „überverständigen Zwingli“. Schleiermacher urteilt, dass seine Lehre „an sich die klarste ist, weil sie die gar schwer zu beschreibende wirkliche Gegenwart aus dem Spiel läßt“.¹⁶ Sie lasse anders als die Interpretationen Luthers und Calvins allerdings eine gewisse Unsicherheit in der Interpretation der Einsetzungsworte zurück, die auch bei Schleiermachers eigener exegetischer Arbeit zu dieser Frage am Ende steht: Das unverständliche also und je nachdem es erklärt wird mehr oder minder unbegreifliche liegt nur in den Ausdrükken, durch welche Christus die Uebertragung des Erfolges an die äußere Handlung bezeichnet, indem er das Brod selbst, welches gegessen wird, seinen Leib, und den Wein selbst, welcher getrunken werden soll, sein Blut nennt.¹⁷
Die dem Exegeten Schleiermacher letztlich unverständlichen Ausdrücke möchte auch der Dogmatiker Schleiermacher nicht einer eindeutigen Interpretation zuführen. Der Vorzug der Zwinglischen Abendmahlstheologie bleibt somit relativ. Zwingli ist darin für Schleiermacher vorbildlich, dass er in seinen Erklärungen begreifbar bleibt. Bereits Schleiermachers frühe Predigten über die Einsetzungsworte im Rahmen von Abendmahlsvorbereitungsgottesdiensten lassen eindeutige Merkmale einer an Zwingli angelehnten Abendmahlstheologie erkennen.¹⁸
Schleiermacher 1980, 273 (Anm. 6). Schleiermacher 1980, 274 (Anm. 6). Dem Verhältnis von Schleiermachers Abendmahlsauffassung zu Calvin geht Anne Käfer, „… und was es uns bringt“. Über die Heilsrelevanz des Sakraments, KuD 64 (2018), 38 – 50, hier: 44– 47 nach. Schleiermacher 1980, 273 (Anm. 6). Schleiermacher 1980, 269 (Anm. 6). Vgl. etwa Schleiermacher 2013, 270 f. 362– 364. 451 f. 511 f. 539. 547 f. 559 f. 790 f. 817– 819. 827 f. (Anm. 4). Meckenstock bietet im Anhang auch die von Schleiermacher zusammengestellte Unierte Agende der Dreifaltigkeitskirche [1822]. Zu dieser Abendmahlsliturgie vgl. Schleiermacher 2013, 1005 – 1013 (Anm. 4).
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2 Schleiermachers Theologie des evangelischen Abendmahls Die Berliner Synode veröffentlichte 1817 vor ihrem gemeinsamen Abendmahl eine durch ihren Präses, Friedrich Schleiermacher, verfasste Erklärung. Der Text votiert – sagt man es mit dem Titel eines protestantischen Ökumenekonzepts – für Einheit in versöhnter Verschiedenheit. ¹⁹ Je mehr Eifer im Christenthum wieder rege wird, wie wir ja hoffen, um desto mehr werden auch diese Verschiedenheiten [gemeint sind die abendmahlstheologischen Differenzen der protestantischen Konfessionen] wieder hervortreten; und wir wollten nicht darauf ausgehn, sie, wie man sonst versucht hat, durch Disputation zu beseitigen, sondern, indem wir voraussetzen, daß sie fortbestehen, wollten wir nur die Thatsache aufstellen, daß Christen von beiden Meinungen einträchtig und andächtig das Mahl des Herrn mit einander genießen können.²⁰
Schleiermacher spricht sich gegen eine innerprotestantische Konsensökumene aus. Methodisch wird stattdessen die Differenz von Haupt- und Nebenpunkten, Wesentlichem und Unwesentlichem in der Abendmahlslehre aufgemacht.²¹ Sein Vorschlag ist, dass man in der Austeilung des Abendmahls sich an den Worten Christi selbst begnügt, aus deren verschiedener Auslegung die verschiedenen Meinungen der Lutheraner und Reformirten hervorgegangen sind, und bei denen sich also auch jeder Einzelne seiner ganzen Vorstellung kann bewußt werden.²²
Eine wesentliche abendmahlstheologische Frage ist es auch für den Schleiermacher der Glaubenslehre nicht, die diese drei Reformatoren trennt. Für Schleiermacher stehen ihre Differenzen im größeren Kontext einer Abgrenzung gegen eine „katholische“ und „socinianische“ Lehre. Für ihn lauten die evangelischen Grundüberzeugungen: 156. Das heilige Abendmahl ist als Genuß des Leibes und Blutes Christi nach seiner Einsezung, indem eine Stärkung der gegenseitigen Lebensgemeinschaft der Christen untereinander, zugleich auch eine Stärkung der Lebensgemeinschaft eines jeden mit Christo, und umgekehrt.²³ 157. In Absicht auf die Verbindung zwischen Brodt und Wein und dem Leib und Blut Christi stellt sich die evangelische Kirche nur bestimmt entgegen auf der einen Seite denen, welche diese Verbindung unabhängig machen wollen von der Handlung des Genusses, auf der anderen Seite denen, welche dem leiblichen Genuß des Brodtes und Weines gar keinen Zusammenhang zugestehen wollen mit dem geistigen des Leibes und Blutes Christi.²⁴
Vgl. Martin Stiewe, Das Unionsverständnis Friedrich Schleiermachers. Der Protestantismus als Konfession in der Glaubenslehre, Witten 1969. Schleiermacher 2000, 182 (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher 2000, 177. 182 f. (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 182 f. (Anm. 1). Schleiermacher 1980, 263 (Anm. 6). Schleiermacher 1980, 269 (Anm. 6).
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Florian Priesemuth
Der stärkste öffentliche Widerspruch gegen die gemeinsame Mahlfeier und die Erklärung der Synode kam vom Dresdener Oberhofprediger Christoph Friedrich von Ammon, woran sich zwischen ihm und Schleiermacher ein literarischer Streit anschloss, bei dem die vom Lutheraner Claus Harms vorgelegte Interpretation der 95 Thesen Luthers eine zentrale Rolle spielte.²⁵ Anlässlich des Reformationsjubiläums haben sich schon vor zweihundert Jahren die Geister an der Frage geschieden, wie im Protestantismus das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden sei. Gegenüber Ammon erinnert Schleiermacher daran, „daß in der reformirten Kirche auf eine gänzliche Gleichförmigkeit der Vorstellungen vom Abendmahl nicht ist gedrungen worden, ohne daß doch die Verschiedenheit hätte die Gemeinschaft des Altars gestört“.²⁶
3 Schleiermacher und die Leuenberger Konkordie (1973) Auffällig sind einige Nähen Schleiermachers zur Abschlusserklärung der Leuenberger Konkordie (1973), mit der die innerprotestantische Kirchenspaltung überwunden wurde. Die hier zur Abendmahlstheologie gefundene Formulierung lautet: Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. So gibt er sich selbst vorbehaltlos allen, die Brot und Wein empfangen; der Glaube empfängt das Mahl zum Heil, der Unglaube zum Gericht. Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut können wir nicht vom Akt des Essens und Trinkens trennen. Ein Interesse an der Art der Gegenwart Christi im Abendmahl, das von dieser Handlung absieht, läuft Gefahr, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln. Wo solche Übereinstimmung zwischen Kirchen besteht, betreffen die Verwerfungen der reformatorischen Bekenntnisse nicht den Stand der Lehre dieser Kirchen.²⁷
Zur Rezeption der Amtlichen Erklärung vgl. Günter Meckenstock, Einleitung des Bandherausgebers, KGA I/9, Berlin/New York 2000, IX–CXVII, hier: LXII–LXIV. Die einschlägigen Schriften und eine historische Einführung zu Schleiermachers Streit mit Ammon bietet Hans-Friedrich Traulsen in Schleiermacher 1990 (Anm. 13). Schleiermacher 1990, An Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der harmsischen Säze [1818], 69 (Anm. 13). Heinrich Assel, „Genuss ohne allen Schmerz“. Unverständlichkeit in Schleiermachers Darstellungstheorie am Beispiel Abendmahl, in: Sprachgewinn, hg. v. Dems. und HansChristoph Askani, AHST 11, Berlin 2008, 178 – 201, hier: 200 übersieht diese Pointe, wenn er Schleiermacher sowohl im Bezug auf das Ritual wie auch die Einsetzungsworte eine „eliminierte Unverständlichkeit“ vorwirft. Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) [1973], hg. v. Wilhelm Hüffmeier, Frankfurt/M. 1993, 30.
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Sowohl im Ökumenekonzept, einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit, als auch in der konkreten Formulierung der gemeinsamen reformatorischen Überzeugungen kann Schleiermacher als Vordenker der Konkordie gewürdigt werden. Das Essen zum Heil in der Gemeinschaft untereinander und mit Jesus Christus, Schleiermachers erster Lehrsatz, wird ebenso wie das Essen zum Gericht, Schleiermacher zweiter Lehrsatz, festgehalten.²⁸ Daneben wird gegenüber der römisch-katholischen Auffassung die enge Verbindung von Gegenwart Christi und dem Akt des Essens und Trinkens herausgestellt. Auch diesen Punkt hatte Schleiermacher mehrfach eingeschärft.²⁹ Als Vordenker der innerprotestantischen Kirchenunion hat es Schleiermacher vermocht, dem reformierten Erbe sein eigenes Recht zuzugestehen und für die Beurteilung dessen fruchtbar zu machen, was im Protestantismus wesentliche und unwesentliche Elemente sind.³⁰ Für das Abendmahl fühlte er sich der reformierten Auffassung verbunden, die jeder und jedem Kommunizierenden eine individuelle Deutung offenlässt.
Der erste Lehrsatz lautet: „Der Gebrauch des Sacramentes gereicht allen Gläubigen zur Befestigung ihrer Vereinigung mit Christo.“ (Schleiermacher 1980, 275 [Anm. 6]) Der zweite Lehrsatz ist: „Der unwürdige Genuß des Abendmahles gereicht dem Genießenden zum Gericht.“ (Schleiermacher 1980, 279 [Anm. 6]). Vgl. Schleiermacher 1980, 266 f. (Anm. 6). Vgl. dazu auch Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie, SW 13, Berlin 1850, 142 f. Auch an der Rezeption der Leuenberger Konkordie lässt sich gut zeigen, dass gegen die gefundenen Formulierungen sowohl von lutherischer wie reformierter Seite Einspruch erhoben wird, der jeweils die andere Seite zu stark berücksichtigt findet. Vgl. etwa Karl-Hermann Kandler, Leuenberg II über das Abendmahl – eine Konkordie?, in: Leuenberg – Konkordie oder Diskordie, hg. v. Ulrich Asendorf und Friedrich Wilhelm Künneth, Berlin und Schleswig-Holstein 1974, 77– 89 und Matthias Freudenberg, Die Abendmahlslehre der Leuenberger Konkordie und ihre Vorgeschichte, in: Verbindende Theologie. Perspektiven der Leuenberger Konkordie, hg. v. Michael Beintker und Martin Heimbucher, NeukirchenVluyn 2014, 70 – 103.
Arne Lademann
Anfragen an die Trinitätslehre Ihre Kritik bei Friedrich Schleiermacher und Möglichkeiten ihrer Neubestimmung
1 Einleitung Jede Religion hat ihre bestimmende Mitte.Von einer solchen Mitte aus werden zentrale Vorstellungen und Sinngehalte manifest gemacht, um diese Religion als solche grundlegend in ihrer Individualität zu charakterisieren. In der Geschichte des Christentums hat sich als eine so bestimmende Mitte die Art und Weise etabliert, wie das christliche Gottesbild zum Ausdruck gebracht wird. Es hat sich dabei schon früh die gängige Formel gefunden, das Göttliche in dreierlei Weise in seiner Manifestation zu symbolisieren, nämlich in der Rede vom Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist. Bei dieser bloßen Symbolisierung, die sich bis ins Neue Testament zurückverfolgen lässt, ist es freilich nicht geblieben. Im 4. Jahrhundert hatte sich infolge einer heftigen theologischen Kontroverse, nicht frei von politischen Interessen und Interventionen, die nähere Fassung dieses Symbols in Gestalt einer normativen Kirchenlehre herausgebildet, nämlich in der Lehre der göttlichen Dreifaltigkeit oder Dreieinigkeit. Sie besagt, dass Gott in den drei Personen von Vater, Sohn und Heiligem Geist wesentlich sowohl mit sich selbst identisch als auch unterschieden sei und dass dies in aller Ewigkeit überzeitliche Geltung habe. Die Zustimmung zu dieser Lehrformel war innerhalb des christlichen Kulturkreises etwas mehr als zwölf Jahrhunderte lang für Leib und Leben der Gläubigen ausschlaggebend. Innerhalb des reformierten Christentums ist daran zu erinnern, dass der Genfer Reformator Johannes Calvin den Gelehrten Micheal Servetus wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der Trinitätslehre 1553 auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Seit der Aufklärung und der aufkommenden religiösen Toleranz im 18. Jahrhundert konnten derartige Tendenzen nicht mehr so rigoros verfolgt werden. Vielmehr ist es seitdem möglich, die logische Nachvollziehbarkeit der Trinitätslehre infrage zu stellen. Das war seinerzeit schon im siebenten Jahrhundert für den Islam ein wichtiges Motiv, sich vom Christentum abzugrenzen. Der Gehalt der Trinitätslehre ist in der Tat paradox und unlogisch. Es ist bis heute schwer, auf befriedigende Weise zu zeigen, wie Gott in drei Personen in sich unterschieden und gleichermaßen mit sich als Gott dabei identisch sein soll. Und das alles tritt dann auch noch mit dem Anspruch einer überzeitlichen Geltung dieser Formel auf. Gleichzeitig ist und bleibt die Vorstellung einer dreifachen Manifestation des Göttlichen zentraler Bestandteil gelebter christlicher Religion. Zahlreiche Gebete, Gesangbuchlieder, die Liturgie des Gottesdienstes sowie die Taufagende sind ohne https://doi.org/10.1515/9783110608656-009
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dieses Symbol gar nicht denkbar. Wie ist mit dem Dilemma umzugehen, dass die größte Weltreligion, die sich für intellektuelle Reflexion oft genug offen gezeigt hat, sich selbst so schwer damit tut, ihr Symbol des Göttlichen in so einer Formel auszudrücken? Dieses Problem begegnet bekanntlich auch in der Dogmatik Friedrich Schleiermachers, also der Lehre vom christlichen Glauben in ihren beiden Auflagen von 1821 und 1830.¹ Schleiermacher hat die Trinitätslehre beide Male am Schluss seiner Dogmatik im Anhang untergebracht. Er kann mit ihr und ihren Geltungsansprüchen nichts anfangen, gerade auch was seine Auffassung zur angemessenen Durchführung theologisch dogmatischen Denkens anbelangt. Ihm geht es darum, das evangelische Christentum als gegenwärtig gelebte und kirchlich institutionalisierte Religion in seiner Geltung plausibel und anschlussfähig zur Darstellung zu bringen. Damit will er sich auf einem neuzeitlichen Niveau aufgeklärter wissenschaftlicher Standards bewegen. Gleichzeitig kann Schleiermacher die trinitarische Formel aus den bereits genannten Gründen nicht links liegen lassen, da sie nun einmal zum kirchlichen Traditionsgut unvermeidlich und immer noch irgendwie zentral dazugehört. Im Folgenden soll es zunächst darum gehen, warum die Trinitätslehre bei Schleiermacher systematisch quasi in der Luft hängt. Dafür ist es hilfreich, sich dessen methodische Prämissen zu vergegenwärtigen, die den Aufbau theologischer Dogmatik bestimmen. Das macht Schleiermachers Abgrenzung vom altkirchlichen Dogma verständlich, das ihm aber auch schon davon unabhängig mit seiner logischen Widersinnigkeit suspekt ist.Vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte wird dann im Anschluss die Möglichkeit erwogen, wie von Schleiermachers Voraussetzungen aus das christliche Gottesbild von Vater, Sohn und Heiligem Geist auf neue Weise expliziert werden könnte. Faktisch läuft es dabei, wenn man Schleiermachers Ansätze weiterverfolgt, auf eine asymmetrische Neuformulierung des dreigliedrigen christlichen Gottesbildes hinaus, in der Sohn und Heiliger Geist dem Vater nicht mehr gleichgestellt, sondern untergeordnet werden. Schleiermachers Denken hat nach der hier vertretenen Interpretation² die Konsequenz, das dreigliedrige christliche Gottes-
Wir ziehen die zweite Auflage heran: Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Martin Redeker, Berlin/New York 1999. Das erfolgt mit Verwendung des Kürzels CG2. Hier erfolgt nicht der erste Versuch, das dreigliedrige Gottesbild in Gestalt eines Gliederungsprinzips von Schleiermachers dogmatischem Hauptwerk auszumachen. Ich verweise auf jüngere Beiträge aus der internationalen Forschung: A. Walter Gregory vertritt die Auffassung, dass das dreigliedrige Gottesbild in der Gesamtkomposition von Schleiermachers Glaubenslehre in einer Weise expliziert wird, die im Verlauf der spätantiken Herausbildung der offiziellen kirchlichen Lehre als Sabellianismus verworfen wurde und zieht dafür Schleiermachers Aufsatz „Über den Gegensatz zwischen der Sabellianischen und der Athanasischen Vorstellung von der Trinität“ aus dem Jahr 1822 an. Vgl. A. Walter Gregory, „Trinity as Circumscription of Divine Love according to Friedrich Schleiermacher“, NZSTh 50 (2008), 62– 74. – Paul J. DeHart spricht von der trinitarischen Figur als dogmatischem Organisationsprinzip von Schleiermachers Glaubenslehre.Vgl. Paul J. DeHart, „Ter mundus accipit infinitum: The Dogmatic Coordinates of Schleiermacher’s Trinitarian Treatise“, NZSTh 52 (2010), 17– 39.
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bild nicht als Trinitätslehre, sondern als Subordinationslehre explizit zu machen. In seiner Glaubenslehre selbst gelangt das freilich nicht ausdrücklich zur Darstellung.
2 Schleiermachers dogmatische Methodologie und ihr Verhältnis zur Trinitätslehre Schleiermacher misst der christlichen Auffassung vom Göttlichen als Vater, Sohn und Heiligem Geist durchaus ihren Wert bei und kann das im Rahmen seiner Voraussetzungen dogmatischen Denkens auch so würdigen. Innerhalb ebendieses Rahmens sieht er jedoch keinerlei Spielraum, dem gedanklichen Gehalt der altkirchlichen Formel von der göttlichen Dreifaltigkeit irgendetwas abgewinnen zu können. Was ist das nun für ein Rahmen, an dem sich Schleiermachers dogmatische Theologie orientiert? Seinen methodischen Grundsatz für eine Durchführung theologischer Dogmatik formuliert Schleiermacher folgendermaßen: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre“ (CG2 § 19). Die Pointe dieser Aussage besteht darin, dass dogmatische Lehrsätze nach Schleiermacher nicht als zeitlos gültige Aussagen ohne kontextuellen Hintergrund hinzunehmen sind. Ihre Geltung ist vielmehr gekoppelt an das real existierende Christentum im Kontext einer bestimmten Epoche. Dafür müssen sowohl die gegebenen Lehrbestände der bestehenden christlichen Kirchen als auch die wissenschaftlichen Standards des Zeitalters berücksichtigt werden, für das eine Dogmatik anschlussfähig sein soll. So gewinnt Schleiermacher sein Kriterium für die Gültigkeit dogmatischer Sätze mit Rücksicht auf ein neuzeitlich aufgeklärtes Reflexionsniveau. Weiterhin ist in Schleiermachers methodischem Grundsatz davon die Rede, dass Dogmatik den ‚Zusammenhang‘ geltender Lehre explizieren soll. Schleiermacher meint damit den Gang der Dynamik, die das gelebte Verhältnis des Menschen zu Gott im christlichen Glauben hat. Der Mensch findet sich dabei in dreierlei Weise vor: als geschöpfliche Kreatur, als Sünder im gestörten Verhältnis zu Gott und als Erlöster durch Gottes Gnade, die der Mensch durch Jesus Christus empfängt. So ist auch die inhaltliche Abfolge der Lehrstücke von Schleiermachers Glaubenslehre komponiert: die Schöpfungslehre macht ihren ersten Teil aus, der zweite Teil befasst sich mit dem Gegensatz von Sünde und Gnade. Das eigentlich Innovative an Schleiermachers Dogmatik besteht nun aber nicht in diesen inhaltlichen Leitlinien für die Lehrstücke des christlichen Glaubens, sondern in der näheren Bestimmung des Gegenstands ihrer Aussagen. In seinem Bestreben, ein möglichst verlässliches Kriterium für die Plausibilität dogmatischer Aussagen zu entwickeln, erzeugt Schleiermacher innerhalb der Glaubenslehre viel Reibungsfläche, an der er sich mit der altkirchlichen Trinitätslehre stößt. Sie ist mit seinen Voraus-
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setzungen für dogmatisches Denken schlechthin unvereinbar. Das bedarf näherer Erläuterung. Schleiermacher stehen drei Formen vor Augen, wie dogmatische Aussagen formuliert werden können: als Aussagen über Gott, die Welt oder über das sich auf Gott beziehende menschliche Bewusstsein. Für die Glaubenslehre hat er das prägnant in einem methodischen Leitsatz zur Sprache gebracht: „Alle Sätze, welche die christliche Glaubenslehre aufzustellen hat, können gefaßt werden entweder als Beschreibung menschlicher Lebenszustände, oder als Begriffe von göttlichen Eigenschaften und Handlungsweisen, oder als Aussagen von Beschaffenheiten der Welt; und alle diese drei Formen haben immer nebeneinander bestanden“ (CG2 § 30). Schleiermacher gibt nun der ersten Form, der Beschreibung menschlicher Lebenszustände, den systematischen Primat innerhalb der Glaubenslehre. Aussagen vom Standpunkt des frommen Bewusstseins geben für ihn den verlässlichsten Grund für die Geltung gegenwärtiger Lehre bestehender Kirchen ab. Die beiden anderen Formen sind seiner Ansicht nach nicht geeignet, den christlichen Glauben innerhalb eines dogmatischen Systems verlässlich explizit zu machen. Nach Schleiermacher sind „Aussagen von Beschaffenheiten der Welt naturwissenschaftlich“ (CG2 § 30,2) und „Begriffe von göttlichen Handlungsweisen rein metaphysisch“ (ebd.). Er schreibt diesen beiden Formen zu, ganz „dem objektiven Bewusstsein“ (ebd.) zugehörig zu sein. Schleiermacher meint damit, dass metaphysische und naturwissenschaftliche Aussagen einseitig auf ihren Gegenstand ausgerichtet sind. Das sind sie ohne Rücksicht auf das Bewusstsein, das diesen Gegenstand vor sich hat und daher auch ohne Rücksicht auf den Gang des christlichen Glaubens in seiner Selbstwahrnehmung. Die Berücksichtigung dieser Perspektive hält Schleiermacher jedoch für unvermeidlich, um auf solcher Grundlage verlässliche dogmatische Sätze zu formulieren. Nur Aussagen von der Warte des religiösen Bewusstseins aus können seiner Meinung nach dann auch die Aussagen über Gott und die Welt verlässlich einrahmen: „Daher müssen wir die Beschreibung menschlicher Zustände für die dogmatische Grundform erklären, Sätze aber von der zweiten und dritten Form nur für zulässig, sofern sie sich aus Sätzen der ersten Form entwickeln lassen; denn nur unter dieser Bedingung können sie mit Sicherheit für Ausdrücke frommer Gemütserregungen gelten“ (ebd.). Für den Gang der Glaubenslehre in ihrem inhaltlichen und systematischen Aufbau heißt das nun, dass ihr erster Teil, die Schöpfungslehre, ihren Ausgang von Bestimmungen des frommen Bewusstseins nimmt, um von da aus Sätze über Gott und die Welt zu formulieren. Ebenso verhält es sich bei der daran anschließenden Lehre von der Sünde. Für die Lehre von der Gnade gilt unverändert dasselbe Aufbauprinzip. Hier sind nun ihre inhaltlichen Schwerpunkte zu nennen, denn diese sind entscheidend wichtig, um Schleiermachers Haltung zur Trinitätslehre verstehen zu können. Sätze über das fromme Selbstbewusstsein, das an der Gnade teilhat, sind untrennbar verknüpft mit dem Bezug des Gläubigen zu Jesus Christus. Der Person des Erlösers kommt es zu, das menschliche Gottesbewusstsein in seiner reinsten Form stetig in sich zu tragen und denen, die an ihn glauben, daran teilhaben zu lassen. Das daraus hervorgehende Christentum begreift Schleiermacher als den von Christus dem Erlöser
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gestifteten Gemeingeist. Der Begriff des Gemeingeistes ist leitend für dogmatische Aussagen über die Welt innerhalb der Glaubenslehre. Schleiermacher entfaltet mit Hinblick auf den besagten christlichen Gemeingeist die Lehre von der christlichen Kirche, die untrennbar verbunden ist mit seinem Verständnis vom Heiligen Geist. Das christliche Gottesbild in der dreifachen Gestalt von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist in Schleiermachers Glaubenslehre also präsent. Schleiermacher würdigt deswegen auch an der altkirchlichen Trinitätslehre ihren Akzent darauf, dass „nicht etwas Geringeres als das göttliche Wesen in Christo war, und der christlichen Kirche als ihr Gemeingeist einwohnt“ (CG2 § 170,1). Dass das Göttliche sowohl in der Person des Erlösers als auch in dem durch ihn in die Welt gesetzten Leben im Heiligen Geist gleichermaßen manifest wird, liegt Schleiermacher als ein theologisch wichtiger Sachverhalt durchaus am Herzen. Er charakterisiert sowohl den Sohn als auch den Geist als Formen der „Vereinigung“ (ebd.) von endlichem und göttlichem Wesen. Was Schleiermacher an der traditionellen Fassung der Dreifaltigkeitslehre stört, ist ihr Anliegen, dem von ihm ausgemachten Prozess der Vereinigung des Göttlichen in Sohn und Geist eine ewige Geltung zuzuschreiben. Eine solche Geltung soll nach der Trinititätslehre das Wesen Gottes außerhalb von Raum und Zeit schon immer grundlegend bestimmt haben: „Denn der Name Dreifaltigkeit beruht erst darauf, daß man beide Vereinigungen auf eine schon unabhängig von denselben und auf ewige Weise in dem höchsten Wesen selbst gesetzte Sonderung zurückführt […] Nun aber ist schon jene Voraussetzung von einer ewigen Sonderung im höchsten Wesen keine Aussage über ein frommes Selbstbewußtsein, in welchem ja diese niemals vorkommen konnte“ (CG2 § 170,2). Schleiermacher bemängelt am traditionellen Gedanken der Dreifaltigkeit, dass sie eine Aussage über eine Unterscheidung innerhalb des Wesens Gottes macht, die die Art und Weise, wie sich Gott dem christlichen Glauben in seiner Perspektive erschließt, überhaupt nicht in Betracht zieht. Die altkirchliche Trinitätslehre bewegt sich nach Schleiermacher also nicht innerhalb des Rahmens der von ihm ausgemachten Voraussetzungen für die Sicherheit dogmatischer Aussagen. Ihr Gehalt erschöpft sich ganz in der Gegenständlichkeit metaphysischer Aussagen, die die Eigenperspektive des christlichen Glaubens nicht berücksichtigen. Letztere ist aber für Schleiermacher ausschlaggebend, um dogmatischen Sätzen einen Grund ihrer Geltung beimessen zu können. Die Zeugnisse des Neuen Testaments, die für Schleiermacher durchaus die Relevanz haben, kirchlich geltende Lehre als deren ursprüngliche Quellen zum Ausdruck zu bringen, taugen seiner Ansicht nach nicht als Nachweise, die den genauen Gehalt der Trinitätslehre gedanklich stützen. Schleiermacher ist der Meinung, dass die in ihnen enthaltenen Aussagen über das Göttliche in Christus und im Heiligen Geist nicht notwendig in der Weise der zwei bis drei Jahrhunderte jüngeren Dreieinigkeitslehre formuliert werden müssen, sondern in „Unabhängigkeit“ (CG2 § 170,3) von deren gedanklichem Gehalt explizierbar seien. Die Spekulationen über die Dreieinigkeit haben für Schleiermachers Denken „in einer christlichen Glaubenslehre keinen Platz“ (CG2 § 170, Zus.) und stehen als „Philosopheme“ (ebd.) einer anderen Fachrichtung zu.
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Abgesehen von seiner Überzeugung über die dogmatische Unbrauchbarkeit der Trinitätslehre lässt es sich Schleiermacher auch nicht nehmen, ihre logische Widersinnigkeit zur kritischen Darstellung zu bringen. Erstens macht er explizit, dass sich die Bestimmung einer Identität von Vater, Sohn und Heiligem Geist untereinander innerhalb der Trinitätslehre nicht konsistent denken lässt. Die Annahme, dass „der Vater auf ewige Weise zeugend ist, selbst aber ungezeugt, der Sohn hingegen gezeugt von Ewigkeit, nicht aber selbst zeugend“ (CG2 § 171,2) drückt nach Schleiermacher „ein Verhältnis der Abhängigkeit“ (ebd.) aus. Eine Identität zwischen Vater und Sohn lässt sich hier nicht aussagen, wenn einer die Rolle des Zeugenden einnimmt, der andere dagegen die Position des Gezeugten. Vielmehr kann hier nur von einer Differenz infolge des asymmetrischen Gefälles der Relation innerhalb der Zeugung die Rede sein. Für den Heiligen Geist gilt ähnliches. Zweitens macht Schleiermacher auf die Schwierigkeit der Bestimmung einer Identität von Vater, Sohn und Heiligem Geist mit dem Gottesbegriff aufmerksam. Ein für alle drei Personen gleichermaßen gültiger Gottesbegriff kann demnach nur als „Gattungsbegriff“ (CG2 § 171,3) gedacht werden. Das ist in zweierlei Weise möglich: die eine bezeichnet Schleiermacher als „realistisch“ (ebd.). In ihr „erscheint die Geschiedenheit der Personen als das Untergeordnete“ (ebd.) und die ungeschiedene Einheit macht die eigentliche Realität des Göttlichen aus, nicht mehr ihre dreifache Unterteilung. Die dreifache Geschiedenheit ist demnach also eine nachträgliche Abstraktion, die die Reflexion in ihrer Begriffsbildung über das Göttliche vornimmt, während dessen eigentliche Realität in der strikten Einheitlichkeit besteht. Die zweite Weise klassifiziert Schleiermacher als „nominalistisch“ (ebd.). Sie verkörpert für ihn das „Tritheistische“ (ebd.) dreier voller Gottheiten, während in ihrem gemeinsamen Gattungsbegriff „die Einheit als das Abstrakte“ (ebd.) zum Ausdruck kommt. Hier wurde der Einheitsbegriff zur nachträglichen zusammenfassenden Bestimmung von drei ursprünglich eigenständigen Göttern gebildet. Der Trick der nachträglichen Abstraktion erfolgt hier also im Vergleich zum ersten Fall in umgekehrter Weise. Eine logische Äquivalenz von Einheit und Dreiheit ist in beiden Fällen ausgeschlossen. Drittens erblickt Schleiermacher eine Wiederholung des Problems bei der Bestimmung der im frommen Gemüt erfahrenen göttlichen Wirkungen und ihrer „Ursächlichkeit, sowohl in der Erlösung und Heiligung als auch schon allgemein in der Schöpfung und Erhaltung“ (CG2 § 171,4). Das Problematische besteht darin, die Ursache für die Erfahrung von Gott als Vater, Sohn und Heiligem Geist innerhalb gelebter Frömmigkeit im trinitarischen Gottesbegriff dingfest zu machen. Entweder muss die völlige Ursächlichkeit in Gott für alle Wirkungen in allen drei Personen gleichermaßen behauptet werden. Dann lässt es sich schwer begründen, warum die drei Personen sich hinsichtlich ihrer speziellen Wirkungen im gläubigen Gemüt voneinander unterscheiden. Oder man schreibt die göttliche Ursache jeder speziellen Wirkung der jeweils entsprechenden speziellen Person zu. Dann hätte man die Gottheit wieder um ihre Einheit gebracht und funktional in drei unterschiedlich wirkende Wesen zersplittert.
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3 Schleiermachers Denken und die Möglichkeit einer theologischen Neubestimmung des dreifachen christlichen Gottesbildes Angesichts des hier ausgemachten Problembestandes ist nun zum Abschluss danach zu fragen, ob in Schleiermachers Denken die Geltung der Trinitätslehre noch eine Chance haben kann. Was ihre altkirchliche Fassung angeht, muss man mit einem entschiedenen Nein antworten. Das heißt allerdings nicht, dass Schleiermachers Theologie auch dem dreigliedrigen Gottesbild von Vater, Sohn und Heiligem Geist notwendig den Garaus machen muss. Vielmehr gibt Schleiermacher doch schon Hinweise, wie die so bestimmte christliche Gottesvorstellung angesichts der Voraussetzungen seines Denkens ihren Platz finden kann. Einer der Schlüsselsätze hierzu findet sich im allerletzten Absatz der Glaubenslehre. Schleiermacher stellt hier die Frage, auf die es ankommt: „… ob es von Anfang an richtig gewesen sei, das Göttliche in Christo allein Sohn Gottes zu nennen, und den Ausdruck Vater auf eine der Geschiedenheiten in dem göttlichen Wesen und nicht vielmehr auf die Einheit des göttlichen Wesens selbst zu beziehen“ (CG2 § 171,4). Schleiermacher legt nahe, das Bild von Gott als dem Vater als Ausdruck der absoluten Einheit Gottes zu verstehen und damit den genuin monotheistischen Charakter der christlichen Religion zu betonen. Eine ewig gültige dreifache Geschiedenheit hat hierin keinen Platz. Sohn und Heiliger Geist haben für Schleiermacher ihre geschichtliche Manifestation nicht in der Ewigkeit, sondern in der real erlebbaren Endlichkeit. Über den Sohn und den Heiligen Geist ist bei Schleiermacher nämlich die Rede, wenn er von den „vereinigenden Tätigkeiten“ (CG2 § 171,4) des Göttlichen in Beziehung zur endlichen Welt spricht. Diese Vereinigungen begreift Schleiermacher als göttliche Wirkungen, die er „als zeitliche dargestellt“ (ebd.) wissen will. Sohn und Heiliger Geist verkörpern einen innerhalb der zeitlichen Endlichkeit erfahrbaren Aspekt des Göttlichen. Dagegen will Schleiermacher die „göttliche Ursächlichkeit nur als Ratschluß in ihrer Ewigkeit begreifen“ (ebd.). Göttliche Ursächlichkeit steht dem Vater zu, der als absolute Einheit das Endliche transzendiert. Schleiermacher insistiert also darauf, dass der Gedanke der göttlichen Alleinursächlichkeit strikt monotheistisch zu fassen sei, ohne zweier weiterer Personen als zusätzlicher Prinzipien zu bedürfen. Sohn und Heiliger Geist werden vielmehr da wichtig, wo es darum geht, die Manifestation des christlich vorgestellten Gottes für den Glauben innerhalb endlicher Zusammenhänge zu symbolisieren. Schleiermachers Begründung des dreigliedrigen Gottesbildes im Rahmen seiner Glaubenslehre hat also im Gegensatz zur altkirchlichen Trinitätslehre asymmetrisch gebrochenen Charakter. Das Symbol von Gott dem Vater bekommt etwas unzugänglich Enthobenes, während Gott in seinen Wirkungen im Sohn und im Heiligen Geist dem christlichen Bewusstsein nahbar werden kann. Es verträgt sich durchaus mit Schleiermachers Denken, wie man es aus seiner Dialektik kennt, dass es sich beim
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Gottesgedanken um einen strukturell unzugänglichen Grenzgedanken handelt, der für unser Erkennen und Begreifen uneinholbar bleibt.³ Zum Schluss ist noch anzumerken, dass Gott nach Schleiermacher dem frommen Bewusstsein auch in dieser Unzugänglichkeit auf seine eigene Weise zugänglich ist. Die Ausführungen dazu finden sich in den vorderen Teilen der Glaubenslehre in Schleiermachers Lehre über die Schöpfung und die Sünde. Der Sache nach handelt es sich hierbei um die Erfahrung des frommen Bewusstseins von seinem Sein in der Welt in Differenz zu seinem dahinterstehenden Verhältnis zu Gott. Das religiöse Bewusstsein von Gott ohne Rücksicht auf seine Wirkungen in Sohn und Geist ist für Schleiermacher verbunden mit der Erfahrung grundlegender und unhintergehbarer Differenzen in seinem Umgang mit der Welt. Gott wird hier auf paradoxe Weise offenbar als der Verborgene, um einen Ausdruck Luthers ins Spiel zu bringen.⁴ Gott in seiner Gewaltigkeit, Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit bleibt dem Menschen immer uneinholbar, ja geradezu unzugänglich. Mit dem Sohn und dem Heiligen Geist werden nach christlicher Auffassung dann aber zwei Wirkweisen Gottes innerhalb der Welt manifest, die dem Menschen im Glauben seine Gottesbeziehung greifbar werden lassen. Schleiermacher hat innerhalb seines eigenen Lebenswerkes keine eigene Theologie des dreigliedrigen christlichen Gottesbildes hinterlassen, sondern sich mit der Kritik an seiner bisherigen altkirchlichen Fassung begnügt. Für eine Neubereitung einer Theologie der so bestimmten christlichen Gottesvorstellung kann man sich aber dennoch angesichts des bisher Dargelegten an Schleiermachers Voraussetzungen orientieren. Der wichtigste Unterschied zum kirchlichen Dogma des vierten Jahrhunderts bestünde dann darin, dass nicht mehr von der ewigen Gültigkeit von drei Personen innerhalb der Gottheit die Rede sein kann. Man müsste vielmehr von drei Manifestationen Gottes sprechen, wie er dem christlichen Glauben innerhalb seiner irdischen Geschichte zugänglich ist. Die erste Manifestation wäre eine unhintergehbare Differenz zwischen Gott und Mensch, wie sie in den Symbolen von Schöpfung, Kreuz und Sünde christlich zum Ausdruck gelangen kann. Die zweite Manifestation wäre die des Sohnes, dessen Nähe zu Gott stetig und ungetrübt von ihm ausstrahlt. Die dritte Manifestation ist dann im Heiligen Geist zu finden, der zum Ausdruck bringt, dass der Christ im Glauben an Christi Nähe zu Gott teilhat. Bringt man das Gesagte abschließend auf den Begriff, dann wird verständlich, wieso das dreifache christliche Gottesbild von Schleiermachers Voraussetzungen her nicht als Trinitätslehre im offiziell lehrhaften Sinne des Wortes formuliert werden kann. Es ist vielmehr die Richtung gewiesen für eine Theologie der Subordination. Die entscheidende Differenz besteht darin zwischen der uneinholbaren Transzendenz Gottes als Vater und absoluter Einheit und seinen beiden für den christlichen Glauben
Vgl. Ulrich Barth, „Der Letztbegründungsgang der ‚Dialektik‘. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens“, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353 – 385. Auch Gregory zieht Luther in diesem Kontext heran, vgl. Gregory 2008, 64 (Anm. 2).
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wesentlichen Wirkweisen innerhalb der Endlichkeit. Die werden dann als Sohn und Heiliger Geist manifest. Eine Theologie der Subordination böte den Vorteil, einen uralten Vorwurf gegen das Christentum entkräften zu können, der die christliche Religion bezichtigt, sich auf inkonsequente Weise als Monotheismus darzubieten. Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit kann Schleiermachers dogmatisches Denken bieten, das einen feinen Sinn dafür beweist, dass die gelebte Realität des christlichen Glaubens nicht notwendig mit antiquierter und logisch inkonsistenter christlicher Lehre einhergehen muss. Schleiermacher hat seine eigene Motivation für dogmatisches Denken immer gleichermaßen als kritisch und konstruktiv verstanden.Von dieser Warte aus lässt sich auch aus seiner beißenden Kritik an der altkirchlichen Trinitätslehre ein produktiver Impuls gewinnen.
Ethische Fragestellungen
Caroline Teschmer
„Die Seele ist uns nur mit dem Leib gegeben“
Ganzheitlichkeit und Zweigeschlechtlichkeit im Denken Friedrich Schleiermachers „Die Seele ist uns nur mit dem Leib gegeben.“ Die Aussage Friedrich Schleiermachers lässt einen Transfer zum einflussreichsten Modefotografen der letzten Jahrzehnte Peter Lindbergh herstellen. Über ihn schrieb die deutsche VOGUE in der Maiausgabe 2017, dass er mit der Kamera nicht nur den Körper sondern auch die Seele einfängt. Die FAZ¹ sprach davon, dass Lindbergh die Seele der Menschen, die er fotografiert, nach außen stülpt und so Körper und Seele sichtbar werden lässt. Für Lindbergh steht dezidiert der Mensch in seiner Vielschichtigkeit mit Leib und Seele im Vordergrund. Dabei lässt er die Grenzen der Geschlechter verschwimmen, spielt mit der Dualität und experimentiert mit Stereotypen. Die Essenz seiner Bilder besteht darin, ins ‚Ungeschminkte‘ bzw. ins Innere des Menschen zu schauen. Lindbergh setzt der seelenlosen glanzpolierten Oberfläche die Tiefe von Persönlichkeit entgegen, sodass Leib und Seele wie bei Schleiermacher als Einheit verstanden werden. Im Gegensatz zu Schleiermacher trennt der Reformator Johannes Calvin Leib und Seele strikt. Für Calvin ist die Seele der edlere Teil des Menschen, der über den Tod hinaus Bestand habe.² Dieses Seelenverständnis ist in Verbindung mit der Auferstehungsvorstellung sowie der Vorstellung vom ewigen Leben der ‚unsichtbaren‘ Seele zu sehen.³ Doch was bedeutet solch eine Vorstellung für das irdische Dasein? Lindbergh idealisiert mit seinen Fotografien Frauen, indem er Seele und Persönlichkeit dezidiert in den Vordergrund stellt. Allein inszenierte Körper auf Fotos scheinen für ihn oberflächlich, langweilig und seelenlos zu sein. Körper und Seele gehören untrennbar zusammen. Diese Untrennbarkeit wird vor allem bei Schleiermacher deutlich. Schleiermacher geht von einer ganzheitlichen Sicht des Menschen aus und stellt sich gegen die leibfeindlichen Traditionen in Philosophie und Theologie. Des Weiteren greift Schleiermacher die Geschlechterdifferenz in seiner Psychologie, Pädagogik und Ethik auf. Dargestellt wird im Folgenden die Gleichheit und Zweigeschlechtlichkeit des Menschen.
https://www.faz.net/aktuell/stil/mode-design/mode/fotograf-peter-lindbergh-die-seele-nach-aus sen-gestuelpt-11688409.html (zuletzt aufgerufen am 26.01. 2019). „Weiterhin muß außer allem Streit stehen, daß der Mensch aus Seele und Leib besteht. Dabei verstehe ich unter ‚Seele‘ ein unsterbliches, wenn auch geschaffenes Wesen, das des Menschen edler Teil ist.“ Johannes Calvin [1559], Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, hg. v. Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, 96 – 97. „Denn wenn auch der ganze Mensch sterblich genannt wird, so ist deshalb die Seele doch nicht zum Tode unterworfen, und wenn anderseits der ganze Mensch ein vernünftiges Wesen heißt, so bezieht sich Vernunft und Verstand doch nicht auch auf seinen Körper!“ Calvin 2008, 98 (Anm. 2). https://doi.org/10.1515/9783110608656-010
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Damit dieser Zusammenhang deutlich wird, wird zunächst eine Annäherung an das Verständnis von Körper und Geist angestrebt. Im Anschluss daran wird eine Brücke zur Zweigeschlechtlichkeit im Denken Friedrich Schleiermachers geschlagen und abschließend ein Fazit formuliert.
1 Körper und Geist – Anthropologie als Psychologie In den Vorlesungen Schleiermachers zur Psychologie findet sich eine fragmentarische Anthropologie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die leiblich-seelische Einheit des Ich. Dabei ist das Ich „nichts anderes als eine Erscheinung des Geistes unter der Form des Einzellebens und in der Verbindung mit einer bestimmten Organisation.“⁴ Schleiermacher geht davon aus, dass sich jede Person auf das erkennbar Gegebene bezogen fühlt und beschreibt das Ich als „Einheit […] im Wechsel der Erscheinungen.“⁵ Die konkurrierenden Dimensionen des Lebens aufnehmend und ausströmend verbindet Schleiermacher mit dem Selbstbewusstsein, das das ‚Ich-Sagen‘ einschließt. Demnach beschreibt das ‚Ich‘ „ein Sich-selbst-Fühlen im Prozess des Bestimmtwerdens […], ein passives Erleiden […], und gleichzeitig einen Prozess aktiver Selbstsetzung […].“⁶ Das Ich wird dabei nicht spekulativ gesetzt, denn der Ausdruck a priori hat bei Schleiermacher nicht den Geltungsanspruch eines Erkenntnisinhalts, sondern die Gegebenheitsweise eines Erkenntnisstands. Dem Ich liegt alles Wissen zugrunde und es erscheint als Gegebenheit des Lebens. Das Selbstbewusstsein zielt darauf hin, dass der Mensch sich immer auf einen anderen Menschen bezogen fühlt und das Selbstbewusstsein den Moment niemals ganz ausfüllt.⁷ Das Leben des Menschen zeigt sich als leibhaftes Leben von Ich. Schleiermacher begründet dies wie folgt: „Da im Ich nichts zu spalten ist, müssen wir uns nach einem anderem Begriff umsehen und das wird wohl der des Lebens sein.“⁸ Es zeigt sich eine Bestimmung des Verhältnisses von ‚Leben‘ und ‚Ich‘.⁹
Friedrich Schleiermacher, Psychologie. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. L. George, Berlin 1862, 39. Schleiermacher 1862, 415 (Anm. 4). Zum Zitat im Titel des Beitrags s. a.a.O., 407. Vasile Hristea, „Der erfüllte Augenblick. Schleiermacher als Phänomenologe des Genusses“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. v. Arnulf von Scheliha/Jörg Dierken, Berlin/Boston 2017, 325 – 337, hier 327. Vgl. Hristea 2017, 327– 328 (Anm. 6). Schleiermacher 1862, 415 (Anm. 4). Der Terminus des Lebens „ist das, vermöge dessen das Ich eine Einheit ist im Wechsel der Erscheinungen. Leben verstehen wir nur im Gegensatz mit dem Tode und schreiben Leben demjenigen zu, was im Gegensatz mit dem übrigen den Grund zu seinen Veränderungen zum Theil in sich selbst hat, todt aber nennen wir dasjenige, welches den Grund seiner Veränderungen ganz außer sich hat. Das Leben nur zum Theil. Jede Veränderung hat zugleich einen äußeren Factor, hätte nicht etwas so
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In Bezug auf die Identität ist das Zu-erkennen-Gegebene (des leibhaften Lebens von ‚Ich‘) von Bedeutung. Dieses schließt alles Äußerliche ein, erschöpft sich jedoch nicht darin, sondern umfasst ‚Ich‘ in seiner Bezogenheit auf die Umwelt. Darüber hinaus geht die eigene Identität des Zu-erkennen-Gegebenen aufgrund der individuellen Instanzen nicht verloren. Vielmehr gehört dieser Vorgang zur Identität des Menschen. Dabei bildet die Kraft des Eingeschlossenseins die Identität dessen, was jedem Menschen gemeinsam gegeben ist.¹⁰ Jedoch muss eine Differenzierung zwischen dem ‚Ich‘ und dem jeweiligen ‚Du‘ vorgenommen werden.¹¹ Wenngleich Schleiermacher zu Beginn seiner Psychologie explizit nach der Seele fragt, – „[W]as verstehen wir unter Seele und auf welche Weise glauben wir von der Seele etwas wissen zu können?“¹² – verdeutlicht er in seinen Ausführungen, dass der Mensch sich darauf verlassen muss, dass es etwas gibt, was äußerlich nicht wahrnehmbar ist.¹³ Die Voraussetzung bildet ‚Ich‘¹⁴, indem der Terminus Seele als Konstrukt beschrieben wird und ‚Ich‘ über das Konstrukt Auskunft geben kann. Dem Menschen begegnet das Konstrukt Seele nicht unmittelbar. Vielmehr ist es „der Mensch, denn in diesem ist uns überall das Ich-Sagen gegeben, und wo dies vorkommt, setzen wir die Seele voraus.“¹⁵ Sprachliche Konstrukte wie Leib und Seele sieht Schleiermacher als kulturell und historisch geprägt an. Es muss von einer leibseelischen Einheit ausgegangen werden, in der sich das Physische und das Psychische gegenseitig bedingen. Schleiermacher spricht explizit vom ganzen Menschen¹⁶, indem er Leib und Seele nicht trennt, sondern vielmehr voneinander untereingewirkt, so wäre sie anderes geworden. Aber eben so hat auch jede Veränderung des lebendigen einen inneren. Hätte das einwirkende mich nicht so gefunden, so wäre auch die Veränderung eine andere. Eine Thätigkeit ohne äußeren Factor wäre eine solche, die keinen Widerstand fände, also eine unendliche, welche außerhalb unseres Gebiets liegt, die wir nicht anschauen und in der wir auch keinen Abschnitt machen können um einen Wechsel von Zuständen zu setzen.“ Schleiermacher 1862, 415 (Anm. 4). Vgl. Eilert Herms, „Leibhafter Geist – Beseelte Organisation. Schleiermachers Psychologie als Anthropologie. Ihre Stellung in seinem theologisch-philosophischen System und ihre Gegenwartsbedeutung“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. v. Arnulf von Scheliha/Jörg Dierken, Berlin/Boston 2017, 217– 243, hier 220 – 221. „Bleiben wir bei dem Ich stehen, so haben wir in unserer Sprache ein Correlatum dazu, das ist das Du.“ Schleiermacher 1862, 18 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 1 (Anm. 4). „[W]ir müssen uns umgekehrt darauf verlassen, daß es etwas giebt, was nicht äußerlich wahrnehmbar, sondern für einen jeden ein rein innerliches ist, […].“ Schleiermacher 1862, 3 (Anm. 2). „Hier stoßen wir nun gleich auf etwas, was sich dazu darbietet, nämlich Ich, denn ich wage nicht zu fragen: das Ich, weil in dem Artikel schon eine nähere Bestimmung liegt, ohne daß wir sagen könnten, was wir damit meinen. Nun ist soviel gewiss, daß wo das Ich-setzen gar nicht vorkommt, auch keine Sicherheit darüber gegeben ist, ob unser Gegenstand, nämlich die Seele vorhanden ist, (ich sage nicht, dass da keine ist, denn das wäre schon zu viel behauptet), wo aber im Gegentheil dies sich findet, da nehmen wir die Seele an.“ Schleiermacher 1862, 3 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 3 (Anm. 4). Vgl. Schleiermacher 1862, 22 (Anm. 4).
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scheidet. „[W]ir vermögen aber nicht Seele zu denken ohne auf Leib zurückzugehen, und ebenso hört auch in unserer Sprache der Gebrauch des Ausdrucks Leib sogleich auf, sobald wir von der Seele absehen.“¹⁷ Es können keine Tätigkeiten der Seele ohne den Leib vollzogen werden. Der gesamte Außenweltbezug des Menschen wird über den Leib vermittelt. Die sinnliche Wahrnehmung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Deswegen fokussiert Schleiermacher in seiner Anthropologie den ganzen Menschen, die Unterscheidung zwischen Leib und Seele wird zwar aufgegriffen, führt allerdings nicht zu einer Separierung. Betont wird vielmehr ihre Zusammengehörigkeit und ermittelt wird die jeweilige relative Dominanz in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. „[D]er Mensch besteht aus Leib und Seele, so führt uns das auf den Begriff der Zusammensetzung […]; wir denken Leib und Seele zunächst für sich, und wenn beides zusammenkommt und eins wird, entsteht der Mensch.“¹⁸ Demzufolge ist mit dem Leben des Ich uns zu erkennen gegeben nicht nur das Leben des Leibes, sondern gleichsam auch das Leben der Seele, sodass es sich um eine Wechselbeziehung zwischen Leib und Seele handelt. Die Seele ist dann nichts anderes als eine Art und Weise des Seins des Geistes […] im Zusammenhang mit einem […] organischen Leibe, […] die eben dadurch zu einer Zeit an das Organische als ein äußerlich gegebenes gebunden ist, [und] eine Erscheinung des Geistes in Verbindung mit der Organisation [darstellt].¹⁹
Demzufolge muss die Anthropologie Schleiermachers als Psychologie²⁰ sowie als Physiologie verstanden werden. Doch stellen die aufgezeigten Disziplinen keinen Dualismus dar, sondern eine gleichwertige Anthropologie unter der Betrachtung jeweils verschiedener Gesichtspunkte. „Dies führt dahin, daß die Psychologie nichts anderes ist, als die ganze Anthropologie aus dem Gesichtspunkt des Geistes betrachtet, ebenso wie die Physiologie dasselbe umgekehrt ist von dem des Leibes aus gesehen.“²¹ Dabei soll die Anthropologie nicht geteilt werden, sondern in jedem Moment zusammengefasst werden. Schleiermacher ist der Überzeugung, dass der Mensch nicht eine Seele hat, sondern die Seele ist. Somit ist die Psychologie nichts anderes als die ganze Anthropologie unter dem Gesichtspunkt der Erscheinung des Geistes in einer bestimm-
Schleiermacher 1862, 7 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 5 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 30 – 31 (Anm. 4). Es geht in der Psychologie darum, das „geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht, auf einer bestimmten Stufe, der einzigen, die uns wirklich gegeben ist, anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen. Die spekulativen Blikke sind also der eigentliche Hauptzwekk der Psychologie. Die Psychologie ist also auf der einen Seite ein Bruch (nicht ein organischer Theil) der Anthropologie, auf der anderen ein Glied in der Reihe der Pneumatologie.“ Schleiermacher 1862, 407 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 33 (Anm. 4).
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ten Leibhaftigkeit. Schleiermacher betont, dass „das geistige Prinzip in seiner ganzen Entwicklung“²² kennengelernt werden soll. Wenngleich die Seele dezidiert als eine Erscheinungsweise des Geistes betitelt wird, ist diese jedoch an den Leib gebunden.²³ Anthropologisch kann bei Schleiermacher von einer Sorge um Leib und Seele gesprochen werden, da der Mensch nicht nur als Körper, sondern ausschließlich im Zusammenhang mit seinem geistigen Vermögen gesehen werden kann.²⁴ Von der Seele des Menschen als sittliches Wesen spricht Schleiermacher stringent im Rahmen der Vernunft, sodass die Vernunft als Seele verstanden werden kann. Explizit wird von der „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“²⁵ ausgegangen. Dabei wird Reales und Ideales in der Beseelung der Natur durch die Vernunft vereint.²⁶ Differenzierend nimmt Schleiermacher eine Nuancierung zwischen der beseelenden Vernunft und der Vernunft in der Beseelung vor. Die Beseelung umfasst die Einwohnung der Vernunft in die Natur, sodass ein Einssein mit dem natürlichen Leben erfolgt. „Die Vernunft soll Seele sein. Das beseelende Princip bildet, erhält sich Leib und Leben: wir müssen also die Vernunft finden als sich die menschliche Natur aneignend und sich nun als Seele mit dem Ganzen in Wechselwirkung erhaltend.“²⁷ Konstatiert werden kann, dass die Vernunft nur als Seele des Einzelnen zu betrachten ist. Die Seele wird als die geistige Seite bezeichnet, der Leib im Gegensatz dazu als reale Seite. Innerhalb des Einsseins von Leib und Seele stellt der Leib die Natur als Prinzip der Passivität und die Seele die Vernunft als Prinzip der Aktivität dar. Die Betonung liegt auf dem Einssein, sodass es sich nicht um ein Wechselverhältnis zweier getrennter Sachverhalte handelt. Vielmehr erfolgt innerhalb der Einheit von Passivität und Aktivität ein abbildliches Sein, sodass vom Leben im Werden gesprochen werden kann. Psychologie und Physiologie bilden nach Schleiermacher den integralen Bestandteil seiner Anthropologie. Der Mensch ist ein Künstler²⁸ seiner Selbst und muss für Leib und Seele Sorge tragen.²⁹
Schleiermacher 1862, 410 (Anm. 4). Vgl. Schleiermacher 1862, 30 – 31 (Anm. 4). „Die sittliche Anschauung setzt nun den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und setzt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen, d. h. als regierenden Trieb, welcher zu allen Tätigkeiten jener andern die hervorbringende und ordnende Ursache ist.“ Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik [1805/06], hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 6. Schleiermacher 1981, 11 (Anm. 24). „Nur durch sie kommt zu dem Werden ein Sein, zu dem schlechthin Besonderen ein wahrhaft Allgemeines. Denn das ursprüngliche Objekt ist kein anderes als das Ganze, jenes andere kann uns wieder in der Wahrnehmung verschwinden, und das ursprünglich Allgemeine ist nichts andres als die gegenseitige Auflösung des Idealen und Realen in einander.“ Schleiermacher 1981, 75 (Anm. 24). Schleiermacher 1981, 9 (Anm. 24). „[A]lle Menschen sind Künstler.“ Schleiermacher 1981, 108 (Anm. 24). Vgl. Kirsten Huxel, Ontologie des seelischen Lebens, Tübingen 2004, 159; vgl. Anne Steinmeier, „Poetik der Seele. Überlegungen zur Seelsorge im Horizont moderner Lebenswelten“, in: Leibbezogene Seele?, hg. v. Jörg Dierken/Malte Dominik Krüger, Tübingen 2015, 195 – 217, hier 204.
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Schleiermacher macht deutlich, dass zur Gestaltung des Selbst sowohl die geistige als auch die leibliche Gymnastik gehört. Gymnastische Übungen beispielsweise bieten die Gelegenheit, „das körperliche zu üben und zu entwikkeln; denn bei der Uebung der Sinne, […] tritt immer auch das Körperliche hervor.“³⁰
2 Zweigeschlechtlichkeit im Denken Friedrich Schleiermachers Philosophisch und theologisch greift Schleiermacher das Konzept der Geschlechterdifferenz auf.³¹ Danach vertritt er die polare Ergänzungstheorie der Geschlechterdifferenz und hält an der Struktur des ‚anderen‘ fest. Einerseits wird eine Aufwertung der Weiblichkeit sichtbar, indem Frauen als Subjekte und in ihrem Bildungsverlangen wahrgenommen werden. Andererseits wirken die Aussagen über Geschlechterverhältnisse und Weiblichkeitsvorstellungen dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts angepasst. Schleiermacher spricht explizit von einer Geschlechterdifferenz.³² Dabei geht er von einer der Person formenden Naturbestimmung oder einer äußeren Bedingtheit aus. Die Naturfunktion der Reproduktion differenziert sich darin komplementär aus. Obgleich die Geschlechterdifferenz auf die Seite der Natur und nicht auf die der Vernunft gehört, wird sie gleichsam zum Organ der Vernunft durch die Ehe als ethische Grundkraft. Wichtig ist, dass es sich um eine leibliche Bestimmung des individuellen Menschen handelt und sich die Geschlechterdifferenz in einer spezifischen Ausformung zeigt. Schleiermacher versteht die Differenzierung nicht als Hindernis, sondern als Dynamik, die die individuelle Person zur Überschreitung ihrer Partikularität antreibt. Bei der Bestimmung des Wesens der Geschlechterdifferenz orientiert sich Schleiermacher an der abendländischen Tradition und an seinen Zeitgenossen, sodass von einer Rezeptivität des Weiblichen und einer Spontaneität des Männlichen ausgegangen wird. Die Geschlechtsorgane dienen dabei als zentrale Bestimmungspunkte. Schleiermacher betont stetig die Durchgängigkeit der Geschlechtsdifferenz durch alle Körperorgane und die damit verbundene Bedeutung für das Seelenleben und seine Entwicklung.³³ Daraus werden weiterführend Zuordnungen von Vernunftaktivitäten entwickelt. Die Geschlechtscharaktere entsprechen den ethischen Leitdualen der Identität und Eigentümlichkeit bzw. des Erkennens und
Friedrich Schleiermacher, Erziehungslehre. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. C. Platz, Berlin 1849, 338. Dieser Kontext ist in jüngster Zeit durch Elisabeth Hartlieb gut erforscht worden (s. Anm. 34). Schleiermacher verwendet neben dem Terminus ‚Geschlechtsdifferenz‘ gleichsam den Begriff ‚Geschlechtscharakter‘. Beim Wechsel der Begrifflichkeiten wird keine inhaltliche Veränderung vorgenommen, sondern eine Präzisierung. Schleiermacher 1981, 55 (Anm. 24); vgl. Friedrich Schleiermacher [1812/13], Ethik mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 81– 82.
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Bildens. In diesem Sinne fügt Schleiermacher seine zeitgenössischen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in sein vorgenommenes ethisches Schema ein. Dabei ist die Persönlichkeit keine Gegebenheit, sondern ein Ergebnis des ethischen Prozesses, zu dessen Bestimmung die Geschlechterdifferenz als übergeordnete Naturfunktion dazugehört.³⁴ Die Geschlechterdifferenz ist in Bezug auf ihre leibliche Seite nicht ausschließlich auf das System der Geschlechtsorgane beschränkt. Die psychische Seite der Geschlechterdifferenz wird hierbei als ursprünglich betrachtet und kommt nicht von außen hinzu. Vielmehr bezeichnet sie eine Individualisierungsform des Menschlichen. Schleiermacher geht nicht von einer quantitativen Unterscheidung der geistigen Entwicklung aus, sondern von einer qualitativen Ungleichheit des seelischen Lebens. Die Lebenssphären der Geschlechter werden von Schleiermacher als ein ineinandergreifendes Zusammenwirken von Haus und Öffentlichkeit dargestellt, indem beide Geschlechter einen spezifischen Beitrag für das Zusammenleben leisten.³⁵
2.1 Geschlechterdifferenz, Ehe und Freundschaft Deutlich wird eine Arbeitsteilung innerhalb des zweigeschlechtlichen Verhältnisses der Ehe. Schleiermachers Darstellung über die Ehe basiert auf einem komplementäregalitären Geschlechtermodell, das keine interne Hierarchie aufweist. Im Hinblick auf das gesellschaftliche Außenverhältnis wird jedoch eine geschlechtsspezifische Zuordnung betont, da nur den Männern eine Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird. Die Theorie der Ehe muss ihm Rahmen des gesamtethischen Ansatzes betrachtet werden. Die Sittlichkeit wird dabei als Vergesellschaftung autonomer Subjekte konzipiert, da sich ein Individuum nur innerhalb eines sozialen Gefüges sittlich bilden kann. Hervorgehoben werden muss, dass die Geschlechtscharaktere durch die Zuordnung von Familie und der freien Geselligkeit zur Privatsphäre in den Bereich der Frau fallen und Institutionen wie Staat, Kirche, Akademie in den Handlungsbereich des Mannes. Das von Schleiermacher angestrebte Konzept der wechselseitigen Ergänzung von Mann und Frau verdeutlicht eine Teilhabe an der Bildung des Menschen. Über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg zeigt Schleiermacher die deutlich vorangehende Funktion des Mannes und die damit verbundene nachfolgende Funktion der Frau auf. Es wird dezidiert von der bürgerlichen Geschlechtsordnung ausgegangen, die ihr Gegründetsein in der Natur der Geschlechtscharaktere deutlich macht.³⁶ Die Entfaltung der Frau kann nach Hartlieb im Zusammenhang des Geschlechtscharakters verstanden werden, welcher sich mit dem Mann ergänzt, sodass eine Harmonisierung der individuellen und universalen Ziele erfolgt. Dabei ist zu beachten, dass eine Er Vgl. Elisabeth Hartlieb, Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers, Berlin 2006, 181– 182. Vgl. Huxel 2004, 214 (Anm. 29). Vgl. Hartlieb 2006, 182– 184, 187– 188, 190 (Anm. 34).
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gänzung nicht aufgrund der komplementären Geschlechtsgemeinschaft zustande kommt, sondern allein durch die Ehe.³⁷ Schleiermacher betont den Zusammenhang mit den verschiedenen Differenzen der Einzelseelen, indem er von der „Ungleichheit der Ungleichheiten“³⁸ spricht. Dabei wird eine Variationsbreite ersichtlich. Der Terminus der Geschlechterdifferenz taucht demzufolge nicht nur als Merkmal der Verschiedenheit von männlich und weiblich auf, sondern fungiert gleichsam als grundlegender Leitbegriff im Denken Schleiermachers. Schleiermacher beschäftigt sich immer wieder vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Normen und Konventionen mit dem ganzheitlichen Begriff von Liebe, einem Ideal von Freundschaft, der individuellen Beziehung zwischen Mann und Frau in Verbindung mit der Qualität ihrer sinnlichen und geistigen Liebe. Im Mittelpunkt steht die Liebe zwischen Mann und Frau. Im Gegensatz zu Friedrich Schlegel³⁹ spricht Schleiermacher sich neben der Liebe auch für die Freundschaft zwischen Mann und Frau aus. Allerdings unter dem Vorbehalt, dass Mann und Frau in einer erfüllten Liebesbeziehung leben müssen. Im Unterschied zur Liebe zielt die Freundschaft nicht auf eine komplementäre Ergänzung, sondern vielmehr auf die Ausbildung der Andersheit des anderen. Im Gegensatz zur Freundschaft stellt Liebe die Verschmelzung zu einer Person aufgrund der Geschlechterdifferenz dar. Demgegenüber zeichnet sich Freundschaft durch Individualität und den wechselseitigen Austausch bei bleibender Personalität und Individualität aus. Folglich beinhaltet eine heterosexuelle Beziehung Elemente der Liebe und Freundschaft, die darüber hinaus eine kategorial andere Gemeinsamkeit intendiert.⁴⁰ Gesellschaftlich umstritten ist die Möglichkeit einer Freundschaft, „ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen“⁴¹. Im Katechismus der Vernunft für edle Frauen schreibt Schleiermacher: „Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm: aber du sollst Freundin seyn können, ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen und zu kokettieren oder anzubeten.“⁴² Schleiermacher zeigt in seinen ‚Vertrauten Briefen‘ ein Idealbild der Liebe zwischen Mann und Frau. Diese beinhaltet zugleich Sinnlichkeit und Geistigkeit. Die komplementäre Polarität der Geschlechterdifferenz initiiert eine produktive Dynamik, die Mann und Frau als Liebende zu einer Einheit zusammenführt und bei der die sinnlichgeistige Vereinigung ein Moment der göttlichen Präsenz darstellt. Demzufolge hat die
Hartlieb 2006, 184 (Anm. 34). Schleiermacher 1862, 415 (Anm. 4). Vgl. Friedrich Schlegel, Dichtungen, hg. v. Hans Eichner, München u. a. 1962. Schlegels Roman „Lucinde“ beschreibt die männliche Identitätsentwicklung des Protagonisten Julius. Aufgezeigt werden die Erfahrungen unterschiedlichster Frauenbeziehungen, bis er zu einer sinnlichen und geistigen Liebesbeziehung mit der „echte Weiblichkeit“ verkörpernden Lucinde gelangt. Vgl. Hartlieb 2006, 122 (Anm. 34). Vgl. Hartlieb 2006, 127 (Anm. 34). Friedrich Schleiermacher [1796 – 1799], Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen, KGA I/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 153. Schleiermacher 1984, 153 (Anm. 41).
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Liebe nicht nur eine sexuell-erotische Bedeutung, sondern gleichsam eine unmittelbare Gotteserfahrung. Die Vereinigung der Liebe zwischen Mann und Frau geht mit einem Totalitätsmoment einher, das der Freundschaft fehlt und rein auf der polaren Symmetrie der Geschlechter beruht. Der höchste Moment der Liebe ist nach Schleiermacher das Vertauschen des Bewusstseins und das Hineinversetzen in den anderen.⁴³ Ohne die gegenseitige Einwirkung von Mann und Frau bleiben diese als individuelle Person unvollendet. Angestrebt wird die Komplementarität im wechselseitigen schöpferischen Bildungsprozess, der durch die Liebe von Mann und Frau nicht nur angestoßen, sondern auch vollendet wird. Erkennbar ist ein vertrautes Muster, indem Frauen auf Männer zentrierend und Männer auf Frauen anregend wirken. Es geht um ein Überschreiten der Einseitigkeiten des Geschlechtscharakters und der Geschlechterrollen hin zu einer gemeinsamen höheren Menschlichkeit. Schlegel schildert in der Lucinde genau dieses Überschreiten der Grenzen. So schreibt er: [W]enn wir Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingabe des Weibes. […] Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.⁴⁴
Der geschlechtsspezifische Bildungsprozess der Liebe beruht in der Regel auf der traditionell festgelegten Geschlechterpolarität. Demgegenüber zeigt Schlegel eine wechselseitige Bildung zur Menschlichkeit auf und treibt den gegenseitigen Wechsel des Bewusstseins und des Tauschs der erotischen Geschlechterrollen voran. Schlegel kokettiert mit einem spielerischen Rollenwechsel und einer spekulativen Transzendierung des Geschlechtscharakters.⁴⁵ Schleiermacher geht in seinen ‚Vertrauten Briefen‘ nicht weiter darauf ein. Er bezeichnet die Geschlechterdifferenz der gesamten Menschheit als Hülle, die ihre Einheit verbirgt. So schreibt Schleiermacher: „Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm.“⁴⁶ Die Aufhebung der Geschlechterdifferenz im Rollentausch oder im Ideal der Androgynie stellt für Frau und Mann kein Ziel aber den Ausgang als Individuum dar.
Vgl. Hartlieb 2006, 129 (Anm. 34); vgl. Friedrich Schleiermacher [1800], Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, KGA I/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 201. Schlegel 1962, 12– 13 (Anm. 39). Vgl. Hartlieb 2006, 124– 125 (Anm. 34). Schleiermacher 1984, 14 (Anm. 41).
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2.2 Entfaltung der Geschlechterdifferenz Im Hinblick auf Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität hat Schleiermacher eine klare Vorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die konventionell ist und dennoch zeigt sich beispielsweise ein Unterschied zu Jean-Jacques Rousseau. Nach Rousseau sind Mann und Frau in ihren natürlichen Unterschieden und in ihren klar definierten Rollen aufeinander bezogen. Frauen haben sich dem Mann unterzuordnen. „Wenn sich die Frau darüber beklagt, daß die Ungleichheit zwischen ihr und dem Mann ungerecht ist, so hat sie unrecht. Diese Ungerechtigkeit ist keine menschliche Einrichtung, zu mindestens nicht das Werk eines Vorurteils, sondern das der Vernunft.“⁴⁷ Schleiermacher beeindruckt an Frauen nicht das Ideal einer lieblichen, zurückhaltenden und sich unterordnenden Haltung, sondern eine intellektuell anregende, schlagfertige, gebildete Frau, die mit gesellschaftlicher Gewandtheit und Lebhaftigkeit umzugehen weiß.⁴⁸ Den Geschlechtsunterschied bezieht Schleiermacher auf den gesamten Körper. Er spricht explizit von der Individualität des Menschen und führt in diesem Zusammenhang als besondere Struktur den „Geschlechtscharakter“⁴⁹ ein. Der ‚Geschlechtscharakter‘ bezeichnet bei Schleiermacher ein klar bestimmbares Theorieelement seiner Ethik, indem der Terminus strukturell die Individualität mit einschließt.⁵⁰ Der ‚Geschlechtscharakter‘ bezieht sich auf die gesamte Physis und Psyche des Menschen und nicht allein auf die Geschlechtsorgane und -funktionen. Dennoch nehmen die Geschlechtsorgane eine hervorgehobene Position ein. Nach Schleiermacher lässt sich das Wesen des männlichen und weiblichen ‚Geschlechtscharakters‘ am prägnantesten an den Organen und deren Funktion erkennen, da diese Funktionen das ursprüngliche Sein der Vernunft in der Natur darstellen. Beispielsweise sind das Gefühl und die Aneignung im Bereich des eigentümlichen Erkennens weiblich konnotiert, die Fantasie und Invention dagegen männlich. Das eigentümliche Bilden nach Sitte ist dem Weiblichen und das eigentümliche Bilden über die Sitte hinaus dem Männlichen zugeschrieben.⁵¹ Schleiermacher zeigt zum einen eine auf das Einzelwesen abhebende Beschreibung des Männlichen und des Weiblichen auf. Zum anderen findet sich eine Definition des Terminus, der die zentralen Elemente und die damit einhergehende Bedeutung komprimiert benennt: Die Geschlechterdifferenz ist [eine] allgemeine irdische Naturform, ob weiter verbreitet oder auch auf der Erde nur auf Perioden eingeschränkt, wissen wir nicht. Bezogen auf die Duplizität in der
Jean-Jacques Rousseau [1762], Emile oder die Erziehung, UTB 115, übers. v. Ludwig Schmidts, Paderborn u. a. 111993, 390. Vgl. Hartlieb 2006, 71, 73 (Anm. 34). Schleiermacher 1981, 81 (Anm. 24). Vgl. Hartlieb 2006, 142– 144 (Anm. 34). Vgl. Schleiermacher 1981, 82 (Anm. 24).
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allgemeinen Form des Lebens. In der Vernunft an sich nicht gegründet, aber von der Vernunft gleich gebraucht, um die Einseitigkeit des Charakters zu dämpfen. Dies ist die ethische Seite des Geschlechtstriebes, der sich aus der Entfremdung entwickelt.⁵²
Es zeigt sich deutlich, dass es sich um eine leibliche Bestimmung der Einzelperson handelt – wenngleich deren Erstreckung im Blick auf die Welt nur für die irdische Natur in ihrer bisherigen Verfasstheit geltend gemacht werden kann. Nach Schleiermacher umfasst die Geschlechtsgemeinschaft nicht mehr als zwei Personen.⁵³ Konkret stellt dabei der Koitus eine Einswerdung zweier Personen dar. Den sexuellen Akt versteht Schleiermacher als Befriedigung einer stringenten Verschmelzungssehnsucht auf physischer und psychischer Ebene. Für Schleiermacher ist das Spezifische der Geschlechtsgemeinschaft das Einswerden des Bewusstseins, verbunden mit der permanenten Einswerdung des Lebens auf der Naturebene.⁵⁴ Bei Schleiermacher findet sich eine konsequente Ablehnung der Homosexualität. Eine derartige Form der Anziehung ist nicht auf eine dauerhafte, für Schleiermacher wichtige Vereinigung mit Kindern ausgerichtet und demzufolge unsittlich.⁵⁵ Wenngleich Schleiermacher selbst den Terminus ‚Homosexualität‘ nicht verwendet, spricht er doch von einer „Befriedigung der Geschlechtsfunction“⁵⁶, sodass aufgrund seiner strikten Theorie der Geschlechterdifferenz und des Geschlechtscharakters die „Befriedigung der Geschlechtsfunction innerhalb desselben Geschlechts“ eine unnatürliche Erscheinung sowie eine Fehlentwicklung des ‚Geschlechtscharakters‘ darstellt.⁵⁷ Deutlich wird das moderne Denken Schleiermachers, da er sexuelle Vielfalt in den Blick nimmt, aufgrund der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse allerdings nicht weiter beachtet und in den Strukturen des Zeitalters denkt. Schleiermacher 1981, 80 (Anm. 24). Fokussiert wird explizit die Zweierbeziehung einer Frau und eines Mannes. Dabei stellt die Ehe eine elementare sittliche Lebensform dar. In der Bestimmung der Ehe liegt der Gedanke der Geschlechterdifferenz als Naturbestimmung. Die Geschlechtsgemeinschaft wird dabei mit der zeitlichen Bestimmung der Unauflöslichkeit ergänzt. Die Unauflöslichkeit lässt sich davon ableiten, dass aus der Vereinigung von Mann und Frau als Ehepartner ein gemeinsames geistiges Leben entsteht, das keine Trennung zulässt. Dabei stellt die ethische Bedeutung der Ehe eine Überschreitung der individuellen Persönlichkeit dar. Allein die Ehe ist die ethische Antwort auf die Geschlechterdifferenz und den Geschlechtstrieb. Vgl. Hartlieb 2006, 170 – 172 (Anm. 34). Vgl. Schleiermacher 1981, 82 (Anm. 24). „§ 24. Die vage und momentane Geschlechtsgemeinschaft ist unsittlich, weil sie Vermischung und Erzeugung trennt; frevelhafter, wenn das Psychische des Geschlechtstriebes mit concurirt, wenn der physische Reiz allein wirkt. § 25. Die Befriedigung der Geschlechtsfunktion innerhalb desselben Geschlechts ist unnatürlich schon innerhalb der physischen Seite selbst und kann […] durch nichts dazukommendes Ethisches veredelt werden.“ Schleiermacher 1981, 84 (Anm. 24). Schleiermacher 1981, 82 (Anm. 24). Hartlieb hebt zu Recht hervor, dass die Verwendung des Terminus Homosexualität in diesem Zusammenhang bedacht werden muss, da Homosexualität im Sinne einer sexuellen Orientierung, als Teil der Identität im Blick auf Schleiermacher einen Anachronismus darstellt und der Terminus erst Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der neu entstandenen Sexualwissenschaft etabliert wurde. Vgl. Hartlieb 2006, 173 (Anm. 34).
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Bei aller Differenzierung konstatiert Schleiermacher die Gleichheit von Mann und Frau. „Es ist […] kein Geschlecht besser oder schlechter als das andere.“⁵⁸ Weiter schreibt er: „Mithin haben wir keine qualitative Ungleichheit vorauszusetzen, aber auch, wenn man nicht hinnehmen will, daß sich beides auch eben so leicht umkehren ließe, keine qualitative Gleichheit.“⁵⁹ Deutlich wird ein Bemühen, die Geschlechterdifferenz nicht hierarchisch darzustellen. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Idee einer funktionalen Differenzierung der männlichen und weiblichen Einflussbereiche, die sich im Hinblick auf die Gesamtentwicklung in der Waage halten sollen. Interessant ist, dass Schleiermacher in Bezug auf die Entwicklung des Menschen nicht von einer einseitigen Einflussnahme ausgeht, sondern deutlich hervorhebt, „daß sich in der That beide Geschlechter in Beziehung auf die Entwicklung des menschlichen Geschlechts vollkommen gleichstellen.“⁶⁰ Die Geschlechtsunterschiede müssen funktional begründet werden, sodass sich keine qualitative Ungleichheit zeigt. Frauen und Männer ergänzen sich in ihrem Miteinander.⁶¹ Wenngleich Schleiermacher in seiner Psychologie von der bürgerlichen Geschlechtsordnung ausgeht, entkräftet er die Annahme, dass Frauen weniger bedeutend sind als Männer. Konkret verfolgt er das Argument der indirekten, aber unberechenbaren Einflussnahme von Frauen aus ihrer häuslichen Position heraus auf das öffentliche Leben. „Es ist oft sehr anschaulich, wie die Frauen rein durch das gesellige Leben auf das Ganze der allgemeinen Angelegenheiten einwirken und nur vermittelst des Gefühls und der ausschließlichen Richtung auf das individuelle.“⁶² Bei der Geschlechterdifferenz geht Schleiermacher von einer ‚Naturbasis‘ (Schwangerschaft, Geburt, Stillen) aus. Dabei legitimiert die Naturbasis nicht die Ungleichheit der Frau. Sie zeigt nur die Beschränkung der Frau auf die häusliche Sphäre auf. Die Ungleichheit und Abhängigkeit der Frau wird allein mit der Natur begründet. Die Betrachtung der Frau beschränkt sich auf den häuslichen Bereich. Dabei geht Schleiermacher nicht von einer Ungleichheit aus, sondern von einem Phänomen einer mangelnden kulturellen Entwicklung.⁶³ Neben der Trennung der Aufgabenbereiche zeigt Schleiermacher eine Grunddifferenz bezüglich des subjektiven Bewusstseins und des Gefühls bei Frauen auf. Im Gegensatz dazu dominiert bei Männern das objektive Bewusstsein. Daraus wird der Unterschied innerhalb der geistigen Tätigkeiten abgeleitet. „Menstruation und Schwangerschaft haben nur einen auf Zeiträume beschränkten Einfluß und können nur bewirken, daß Frauen ein weniges hinter gleich begabten Männern zurückbleiben, während sie doch über die geringeren hervorragen könnten.“⁶⁴
Schleiermacher 1862, 481 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 556 – 557 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 295 (Anm. 4). „Das eigentliche Verhältnis beider ist aber das zwischen Haus und Öffentlichkeit.“ Schleiermacher 1862, 556 (Anm. 4). Schleiermacher 1862, 300 (Anm. 4). Vgl. Hartlieb 2006, 199 (Anm. 34). Schleiermacher 1862, 556 (Anm. 4).
„Die Seele ist uns nur mit dem Leib gegeben“
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Frauen dominieren dabei im Bereich der Religiosität und bleiben in der Spekulation zurück.⁶⁵ Religion und Gefühl verknüpft Schleiermacher ausdrücklich mit Weiblichkeit. Dabei verbindet sich mit dem Gefühl als explizit weibliche Domäne einerseits die Nähe zum Sinnlichen und andererseits die Betonung zur Innerlichkeit. Jede Anschauung ist mit einem Gefühl verbunden. Das Gefühl entsteht durch das Zusammenspiel von Leib und Seele.
3 Geschlechterdifferenzierte Anthropologie als Paradigma – ein Fazit Schleiermachers Anthropologie ist einerseits vormodern, andererseits modern. In gewisser Hinsicht reproduziert er traditionelle Muster, wenn er Männer und Frauen als wesenhaft verschieden beschreibt und die Geschlechterdifferenz anthropologisch verankert. Danach sind Frauen durch Empfangen, Sensibilität, Gefühl und höheres Gefühl charakterisiert, Männer dagegen durch Zeugen, Muskelkraft, Anschauung und Denken. Auf der anderen Seite geht Schleiermacher von einer strikten Egalität der Geschlechter aus, von der aus die Differenzen als bloß funktionale erscheinen. Diese vor allem funktionale Verschiedenheit bildet für ihn die Basis der gesellschaftlichen Ordnung, indem das Weibliche als Ergänzung des Männlichen verstanden wird und für die Erfassung der Lebensvorgänge dem Dual von Spontaneität und Rezeptivität entspricht. Schleiermacher transformiert die implizite Hierarchie in eine funktionale Differenz unter Berücksichtigung komplementärer Egalität. Die wie selbstverständlich wirkende Egalität von Männlichkeit und Weiblichkeit ergibt sich aus der Anwendung seines egalitären Modells der Freundschaft. Schleiermacher schätzt das Weibliche und dennoch hält er an der bürgerlichen Geschlechterordnung der Zeit und deren geschlechtsspezifischen Zuordnung fest, sodass Frauen mit dem deutlichen Verweis auf die Wesensverschiedenheit der Geschlechter Tätigkeiten außerhalb des Hauses verwehrt bleiben. Den Bereich der Religion schreibt Schleiermacher eindeutig Frauen als natürlich gegeben zu. Anthropologisch ist die Religion im Gefühl verortet und demzufolge ein spezifisch weiblicher Bereich. Trotz aller Kritik zeigt Schleiermacher eine hohe Wertschätzung gegenüber Frauen und der Weiblichkeit auf, die nicht nur den männlichen Vollkommenheitsfantasien dient. Schleiermacher erhebt die explizite Charakterisierung des Weiblichen zu einem wichtigen Theoriebegriff seiner Theologie, da er die weibliche Kodierung des Gefühlsbegriffs in seinem Religionsverständnis übernimmt. Religion im engeren Sinne ist ein Bereich, der zunächst einmal unter der Signatur des Weiblichen steht. Schleiermacher unterscheidet zwischen weiblicher Frömmigkeit und männlicher Theologie – da die Wissenschaft und damit auch die Theologie männlich konnotiert ist. In der Pädagogik und Psychologie wird mehrfach betont, dass sich bei Frauen die religiöse Betätigung ausschließlich auf Vgl. Schleiermacher 1862, 480 (Anm. 4).
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den Bereich des Hauses und die Familie beschränkt. Die Geschlechterdifferenz gehört für Schleiermacher explizit zum Menschsein und stellt demnach einen zentralen anthropologischen Begriff dar.⁶⁶ Die anthropologische Zuweisung von Religion unter der Voraussetzung der Geschlechterrollen zeigt ein theoretisch-abstraktes Konstrukt auf, weil sich Geschlechtermodelle vermischen. Faktisch betrachtet sind Männern nicht weniger religiös. Und dennoch dominiert der jeweilige geschlechterdifferente Anteil, der alles im Leben miteinander ergänzt und durchdringt. Daher zeigt sich bereits mit Schleiermacher, dass das gesellschaftliche Leben in gewisser Weise offen ist für ein ‚doing gender‘ im Sinne des Aufeinander-Einwirkens, Sich-Durchdringens, Sich-Mischens und des Sich-Verteilens. In der Gesellschaft repräsentiert die Religion als Ganzes den weiblichen Anteil, auch wenn sie öffentlich von Männern repräsentiert wird. Man denke nur an die bekannte Aussage Schleiermachers, dass er in „Wohngemeinschaft“ mit Schlegel eine Ehe führt und er darin den weiblichen Anteil übernimmt. Schleiermacher und Schlegel verbindet eine Freundschaft mit einem engen und wechselseitigen geistigen Austausch. Freunde bezeichnen das Verhältnis der beiden Männer witzelnd als „Ehe“.⁶⁷ In den Briefen Schleiermachers an seine Schwester Charlotte findet sich folgende Aussage: „Unsere Freunde haben sich das Vergnügen gemacht unser Zusammenleben eine Ehe [zu nennen] und stimmen allgemein drin überein, daß ich die Frau sein müßte, und Scherz und Ernst wird darüber genug gemacht.“⁶⁸ Es zeigt sich eine neue Form des Zusammenlebens und eine ebenso neue Lebensform, jenseits des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau in einer ehelichen Gemeinschaft. Heute ist das ‚doing gender‘ jedoch radikalisiert: Innerhalb der Genderforschung wird die natürliche Binarität der Geschlechter infrage gestellt. Die Herstellung von Geschlecht im Prozess des ‚doing gender‘ und im Zusammenhang einer Selbst- und Fremdzuschreibung kann weder körperlich noch sozial eindeutig am Modell der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit beschrieben werden, sondern muss vielmehr die geschlechtliche und körperliche Vielfalt der Individuen aufzeigen. Demzufolge geht es um eine Performativität von Körper und Geschlecht, die über den gesellschaftlichen Zwang einer kohärenten Geschlechtsidentität hinausgeht und den Prozess des Geschlechtlichwerdens akzentuiert. In der Sozialisationsforschung wird ungeachtet der aufgezeigten Vielfalt die Vorstellung einer biologisch bedingten Zweigeschlechtlichkeit weiterhin propagiert, indem bspw. Frauen und Männer miteinander verglichen werden bzw. Unterschiede herausgearbeitet werden, die einen biologisch-körperlichen Ausgangspunkt von Ge-
Vgl. Hartlieb 2006, 319 – 336 (Anm. 34). Vgl. Hans-Joachim Birkner, Schleiermacher Studien, Berlin 1996, 116; vgl. Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen, Berlin 2005, 52. Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel und biographische Dokumente, KGAV/2, hg. v. Hans-Joachim Birkner, Berlin/New York 1980, 219.
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schlecht postulieren.⁶⁹ Schleiermacher geht ebenfalls von einem biologisch zweigeschlechtlich ausgestatteten Körper aus, der die Basis dafür bildet, dass soziales Handeln mit einer stereotypen Bedeutung von Geschlechterdifferenz verbunden wird. Das Konzept der romantischen Liebe, die sich allein in der Ehe erfüllt, wurde von der erotischen Liebe unterlaufen, denn die Wunschvorstellung der romantischen Liebe ist in hetero- und homosexuellen Beziehungen populär. Das Ideal der absoluten Bindung und die Verschmelzung mit einem Gegenüber zur vollkommenen Einheit ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Vielmehr zeigen sich vielfältige männliche und weibliche Identitäten sowie sexualisierte Körper, die im Selbstentwurf erotische Liebesbeziehungen bilden und auf jeweils individuellen Verhältnissen von Ähnlichkeit und Verschiedenheit basieren. Eine Überschreitung des Ich in der erotisch-sexuellen Ekstase ist weiterhin möglich, wenngleich die ewige und exklusive monogame Bindung ein punktuelles Erleben darstellt.⁷⁰ Es entsteht die Idee einer erotisch-sexuellen Liebe, die Transzendenzerfahrungen zulässt und nicht nur an das Modell einer exklusiven und dauerhaften Liebesbeziehung geknüpft ist, sondern weitere Lebensformen billigt. Angesichts der Individualität jeder Person entsteht eine Liebesbeziehung zwischen zwei Individuen, die nicht auf eine heterosexuelle Komplementaritätsstruktur reduziert werden kann. Schleiermacher markiert in seinen Überlegungen einen Blickwechsel und dennoch ist das Menschsein für ihn binär. Die Geschlechterdifferenz ist durch ihre Gespaltenheit nur auf die Zweiheit reduzierbar.⁷¹ Mit der Geschlechterdifferenz impliziert Schleiermacher die Urform von Sozialität. Ungeachtet seines Strebens nach der Einheit, nimmt Schleiermacher Differenzen positiv auf. Denn mit dem Gedanken der funktional verstandenen Geschlechterdifferenz wird die funktionale Verschiedenheit des Menschseins auf der Basis von Gleichheit deutlich. Die Geschlechterdifferenz lässt sich als naturgegebene Vorform von Individualität verstehen⁷², die sich allerdings im Sozialisationsprozess und im gesellschaftlichen Leben in gewisser Weise verflüssigt, weil sie sich mit anderen Anteilen verbindet und ein spezifisches Mischungsverhältnis eingeht. Diese ist möglich, weil er von der Gleichheit von Mann und Frau ausgeht und davon spricht, dass kein Geschlecht besser oder schlechter ist. Folglich zeigt sich eine Wertschätzung der
So konstatiert Klaus Hurrelmann: „Männer und Frauen unterscheiden sich nach ihren Geschlechtschromosomen und Geschlechtshormonen. Das Ergebnis ist ein unterschiedlicher Bau der Geschlechtsorgane, des Körpers, des hormonellen Haushalts und des Gehirns. Auch zeigen sich in vielen Untersuchungen typische Geschlechtsunterschiede in Persönlichkeit und Verhalten.“ Klaus Hurrelmann, Einführung in die Sozialisationstheorie. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit, Weinheim u. a. 82002, 15. Vgl. Hurrelmann, 2002, 340 – 344 (Anm. 69). „Wie der Geschlechtsunterschied nicht in den Geschlechtstheilen allein liegt, sondern durch alle organischen Systeme hindurchgeht, so liegt er auch nicht im Körper allein, sondern auch im Psychischen, und es wäre toll keinen Geschlechtsunterschied der Seele anzuerkennen.“ Schleiermacher 1981, 55 (Anm. 24). „Die Geschlechterdifferenz ist allgemeine irdische Naturform […].“ Schleiermacher 1981, 80 (Anm. 24).
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Geschlechter. Fokussiert wird ein ganzheitliches Menschenbild, bei dem ein Einssein zwischen Leib und Seele angenommen wird. Psychologie und Physiologie sind für das Verständnis der Anthropologie Schleiermachers ausschlaggebend. Denn die Seele ist uns nur mit dem Leib gegeben.
André Munzinger
Schleiermachers Geselligkeitskonzeption
Wie entsteht freie Interaktion? Welche Art des Austausches dient den Menschen? Lässt sich neben allen Verpflichtungen im täglichen Überlebenskampf das humane Zusammensein so gestalten, dass eine Entwicklung aller Beteiligten stattfindet? Mit diesen Fragen verbindet Friedrich Schleiermacher den Begriff der Geselligkeit. Im Folgenden wird zunächst dieser Begriff eingeführt, daraufhin Schleiermachers Geselligkeitskonzeption in sein Gesamtwerk eingeordnet, um im dritten Schritt einige Bezüge zur Theologie und zum Religionsbegriff herzustellen. Schließlich werden Konsequenzen für die Gegenwart entwickelt. Meine These ist es, dass mit Schleiermachers Geselligkeitstheorie wegweisende Markierungen gelegt werden, die für die moderne Gesellschaft einen diagnostischen Charakter und eine theologische Perspektive für den Begriff des gelingenden Lebens enthalten.
1 Geselligkeit Der Begriff Geselligkeit ist in der Gegenwart nicht besonders geläufig.Wir sprechen von Partnerschaft, Freundschaft, Beisammensein, Chillen, Abhängen, Smalltalk oder Gedankenaustausch. Was also ist Geselligkeit? Vorerst mag von einer zwanglosen Interaktion ausgegangen werden. Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, herausgegeben von 1731– 1751, definiert den Begriff darüber hinaus wie folgt: „Geselligkeit, ist eine Pflicht mit anderen Menschen eine friedliche und dienstfertige Gesellschaft zu unterhalten, damit alle durch alle Glückseligkeit erlangen können.“¹ Geselligkeit ist demnach als Pflicht zu verstehen, mit der sozialethischen Pointe, dass die Glückseligkeit aller befördert wird. Um diesen Zusammenhang zu erläutern, und Schleiermachers Beitrag dazu einordnen zu können, sind drei Dimensionen des Hintergrundes zu beachten. Zunächst ist der Hintergrund verschiedener ideengeschichtlicher Traditionen aufzuzeigen. Würden wir eine umfangreiche Untersuchung des Begriffes Geselligkeit vornehmen, wären wir auf die Anfänge der menschlichen Kultur verwiesen. „In einem weiten Sinn bez. G[eselligkeit] die anthropologische Grundstruktur des Menschen als animal sociale.“² Der Mensch ist ein soziales Wesen und sucht Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft darf nicht nur auf bestimmte, externe Zwecke ausgerichtet sein. Vielmehr sollten Menschen sich in einer Weise begegnen können, in der sie nur diese
Johann Heinrich Zedler, „Art. Geselligkeit“, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 10, Leipzig 1746, Sp. 1260. Bernd Oberdorfer, „Art. Geselligkeit I“, in: RGG4, Bd. 3, Sp. 823. https://doi.org/10.1515/9783110608656-011
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freie Interaktion zum Ziel haben. In dieser muss es nicht um den Lebensunterhalt oder Politik gehen, sondern um die Entfaltung des eigenen Selbst im Zusammenhang mit der Entwicklung der Anderen. So wird bereits in der Antike, z. B. bei Aristoteles, der Freundschaft eine tragende Rolle in der Verwirklichung der Bestimmung des Menschseins eingeräumt. Allerdings ist das zugrundeliegende Bild des Menschen nicht unumstritten. Das Problem kann mit einigen Fragen umrissen werden: Ist der Mensch von sich aus auf freie Gesellschaft ausgelegt? Oder ist die Freiheit das Ergebnis eines besonderen Bildungsprozesses? Zugespitzt gefragt: Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Muss er zu friedfertigem Austausch gezwungen werden? Wie kommt Friedfertigkeit zustande? Was hemmt sie? Wie kommt es, dass Hass und Gewalt Kommunikationen unterlaufen und zerstören? Es sind pointierte Fragen, die sich Menschen im Laufe der Kulturgeschichte über ihre Natur und Bestimmung gestellt haben, so dass hier nur im Auszug einige bedacht werden können. Da wären Bezüge zur paulinischen und reformatorischen Tradition zur Sünde des Menschen als eine Zerstörung von Beziehungsfähigkeit zu nennen. Im Hintergrund stehen ebenso Konzeptionen von Thomas Hobbes und anderen, die den Menschen nicht vornehmlich als gesellig ansehen, sondern als latent gewalttätig und radikal auf eigene Ziele ausgerichtet.³ Als zweite Hintergrundperspektive müsste ausführlich der mittelbare Kontext der Entwicklung von Schleiermachers Geselligkeitsreflexion betrachtet werden. Geselligkeit wird im 18. Jahrhundert in besonderer Weise thematisch. Der Germanist Wolfgang Adam stellt die Orientierung an der Geselligkeit im 18. Jahrhundert pointiert dar: „In den Begriffen Freundschaft und Geselligkeit kristallisieren sich philosophische und sozialethische Leitvorstellungen des 18. Jahrhunderts, die so prägend für das Profil dieser Epoche sind, daß man mit einiger Berechtigung sowohl von einem Saeculum der Freundschaft als auch dem geselligen Jahrhundert gesprochen hat.“⁴ Dabei sind wesentliche Neuerungen und Entwicklungen festzustellen: In der frühneuzeitlichen Gesellschaft findet Geselligkeit zunächst im Rahmen des eigenen Personenverbandes statt. Eine Vorstellung von individuell gestalteter Freizeit ist kaum existent.Vielmehr wird in den kirchlichen, ständischen oder staatlichen Institutionen gefeiert. Mit den gesellschaftlichen Umbrüchen des 18. Jahrhunderts entstehen neue Möglichkeiten des Zusammenseins. Die zweckfreie Geselligkeit wird zum Thema. Wie aber wird theoretisch diese Entwicklung erfasst? Die Menschen haben Lust am gemeinsamen Feiern, so Wolfgang Adam ausführend, aber wie begründen sie dies?
Vgl. Wolfgang Adam, „Freundschaft und Geselligkeit im 18. Jahrhundert“, in: Katalog des Freundschaftstempels im Gleimhaus in Halberstadt, hg. v. Gleimhaus Halberstadt, Leipzig 2000, 9 – 34, zu finden auch unter: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/adam_freundschaft.pdf, abgerufen am 19.10.18. Adam verweist auf drei Traditionen: Geselligkeit als Motivation des Menschen bei Grotius; die angeborene Schwäche des Menschen, der auf Sozialität angewiesen ist, bei Pufendorf; die Geselligkeit als Seinsweise der Natur bei Thomasius (11). Adam 2000, 2 (Anm. 3).
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„Es gibt zwei Begründungen, einmal die theologische Rechtfertigung des erlaubten Vergnügens und zum andern die naturrechtliche Fundierung der Geselligkeit, und beide Begründungen sind auf engste mit der literarischen Praxis im 18. Jahrhundert verbunden.“⁵ Auf beide Argumente ist im weiteren Verlauf zurückzukommen. Sowohl die Natur des Menschen als auch die Theologie sind für Schleiermacher Ressourcen in der Entwicklung seiner Geselligkeitskonzeption. Drittens müsste der unmittelbare Kontext Schleiermachers erforscht werden. So wäre eine Untersuchung der Schrift Über den Umgang mit Menschen des Schriftstellers Adolph Freiherr Knigge (1752– 1796) von Interesse. Sie erschien erstmals im Jahre 1788. Knigge sinniert über die moralischen Grundlagen des Umgangs unter Menschen und möchte die allgemeinen Pflichten, die wir uns als Menschen wechselseitig schuldig sind, als Fundament des menschlichen Austausches entwickeln.⁶ Auch die Kritik der praktischen Vernunft Immanuel Kants erscheint in diesem Jahr und wirkt sich auf die Konzeption Schleiermachers aus. Vor diesem beeindruckend weiten Horizont spielt nun Schleiermacher als junger Mann mit der Idee einer theoretischen Fundierung der Geselligkeit. Was genau meint er also mit Geselligkeit? Es ist der 30. Dezember 1796. Schleiermacher findet eine Einladung vor, verfasst von Alexander Graf zu Dohna: „Ich habe den Auftrag Sie zu befragen ob Sie Morgen zum Thee und Abendessen bey Professor Herz sich einfinden können? Hoffentlich werden Sie keine Abhaltung haben.“⁷ Schleiermacher hatte die Bekanntschaft mit Henriette Herz und ihrem Ehemann, Markus Herz, gemacht, der Arzt, Schriftsteller und Professor für Philosophie in Berlin war. Sie waren „Schlüsselfiguren des geselligen Berlin“.⁸ Schleiermacher war nun im Hause Herz des Öfteren zu Gast, vor allem im Kreise von Henriette Herz. Hier trafen sich unter vielen anderen die Gebrüder Humboldt sowie auch Friedrich Schlegel. Im Zentrum der gemeinsamen Aufmerksamkeit stand schöngeistige Literatur. Zu dieser Zeit entwickelt er den Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. ⁹ Von Anfang an macht Schleiermacher klar, dass es bei dieser Theorie um die Gebildeten geht. Diese fordern Geselligkeit als eine ihrer Prioritäten ein. Es geht nicht um Zeitvertreib, sondern um das höhere Ziel des Menschen. Nicht Smalltalk, sondern freiheitlich verfasste Interaktion ist das Ziel. Geselligkeit eröffnet eine Art des Zusammenseins, die weder im Beruf noch im Alltag gefunden werden kann. Der Beruf engt ein. Er mag noch so edel und anerkannt sein. Der Beruf engt ein, weil er Men-
Adam 2000, 10 (Anm. 3). Adolph Freiherr von Knigge [1788], Über den Umgang mit Menschen, Neudruck der fünften Auflage, Stuttgart 2002, 444. Alexander Graf zu Dohna [1796], Berlin, Freitag, 30. 12. 1796, Nummer 356, KGA V/2, Berlin/New York 1988, 67. Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher: Leben, Werkt und Wirkung, Göttingen 2001, 81. Nowak 2001, 82 (Anm. 7). Friedrich Schleiermacher [1799], Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, Berlin/New York 1984, 163 – 184.
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schen an einen Standpunkt bindet. Der häusliche Alltag hingegen ist auf einen relativ festen Personenkreis bezogen. Selbst wenn das familiäre Umfeld besonders anspruchsvoll ist, wird es doch begrenzt bleiben. Menschen kommen zuhause nicht hinreichend auf neue Ideen und werden nicht mit fremden Einflüssen konfrontiert. Es muss also eine Interaktionsform geben, welche nicht mit diesen anderen Zuständen, dem häuslichen Alltag und der Berufswelt, identisch ist.Vielmehr sollte eine Form des Austausches gesucht werden, in dem das Individuum möglichst viele Meinungen und Positionen kennenlernt, so dass sich auch fremde Zugangsweisen erschließen. Ziel ist es, das Menschsein insgesamt kennenzulernen und sich auch auf fremde Phänomene einzulassen, um im freien Austausch eine gegenseitige Bildung auch in gänzlich unbekannten Gebieten zu erreichen. Was zeichnet diese freie Geselligkeit aus? Sie darf nicht einseitig sein. Unterschiedliche Menschen wirken auf einander ein, reziprok und wechselseitig. Als nicht freie Interaktanten gelten diejenigen, zum Beispiel, die ins Schauspielhaus oder in eine Vorlesung gehen. Sie erleben zwar gemeinsam einen Auftritt, haben allerdings keinen Austausch untereinander – zumindest nicht in freier Absicht. Die Individuen sind auf die Künstlerinnen oder Vortragenden in einer gebundenen Weise bezogen. Interessant sind auch die weiteren Beispiele, die Schleiermacher abgrenzend einführt. Alles, was nicht die vollständige Reziprozität aufzeigt, fällt letztlich nicht unter den wahren Charakter der Geselligkeit. Ein Ball ist ein Beispiel für eine begrenzte Form der Wechselwirkung, denn die am Tanz Beteiligten sind immer nur auf sich bezogen und nehmen die anderen im Raum nur im Zusammenhang ihres eigenen Tanzes wahr. Das Spiel könnte zwar als ein positives Beispiel aufgegriffen werden. Aber hier gibt Schleiermacher als Problem zu bedenken an, dass der Zufall eine zu große Rolle spiele und somit die freie Geselligkeit nicht gegeben sei. Offenbar ist also Geselligkeit intentional, aber nicht absichtsvoll verfasst, sie bietet den Raum für Denken und Ideen, ohne eine bestimmte Zielsetzung zu verfolgen. Das „Prädikat der Freiheit“ ist entscheidend, so dass „keine bestimmte Handlung gemeinschaftlich verrichtet, kein Werk vereinigt zu Stande gebracht, keine Einsicht methodisch erworben werden“ soll, sondern dass das Ziel der Interaktion nicht „außer ihr liegend gedacht“ wird.¹⁰ Dabei sind die formelle Seite und die materielle Ausformulierung dieser Geselligkeitstheorie einfach formuliert: „Alles soll Wechselwirkung seyn. […] Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen.“¹¹ Ganz so einfach ist die Ausformulierung dieser Gesetze dann allerdings nicht. Das zeigt sich an einer dritten, nämlich der quantitativen Ebene der Geselligkeitstheorie.¹² Schleiermacher ist aufmerksam für die Grenzen einer Gesellschaft. Wie weitreichend darf eine Diskussion innerhalb einer Gesellschaft sein? Wie fremd dürfen die Gedanken sein, die im Rahmen eines Gesprächs eingebracht werden können? Wie Schleiermacher [1799] 1984, 169 (Anm. 9). Schleiermacher [1799] 1984, 170 (Anm. 9). Dabei wird sicherlich deutlich, dass die Theorie des geselligen Betragens nicht fertiggestellt worden ist.
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weit andererseits darf man sich zugunsten der Dynamik einer Gesellschaft zurückziehen? Schleiermacher findet hier keine einfachen Antworten. Er balanciert seine Ausführung zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite sollte inhaltlich nicht der Charakter der Gesellschaft übergangen werden. Auf der anderen Seite lässt sich dieser Charakter einer Gesellschaft nie ganz genau bestimmen. Die Aufgabe ist es, kontinuierlich die gemeinsamen Inhalte einer Gesellschaft zu suchen. Was könnte „lächerlicher“ sein, so Schleiermacher, als dass man beharrlich bei der eigenen Meinung stehen bleibt und auch andere „mit Gewalt“ dort festhalten will.¹³ „Nicht minder lächerlich ist derjenige, der, wie arrogante Neuerer […] immerdar bestrebt ist, den Ton höher und höher zu spannen, und der Gesellschaft nun nicht Zeit lassen will, bei dem zu verweilen, was sie angenehm unterhält.“¹⁴ Die Theorie des geselligen Betragens versucht zwischen Individualität und Gesellschaft die rechte Balance herzstellen, so dass beide Größen wechselseitig profitieren. Nun könnte diese Theorie als romantische Idee des frühen Schleiermachers abgetan werden. Ist die Abhandlung also lediglich eine elaborierte Abstraktion der Berliner Salonkultur? Durch manch eine Schleiermacher-Rezeption entsteht dieser Eindruck. Im Folgenden ist zu erörtern, wie sich die Theorie des geselligen Betragens zu der Ausrichtung seines weiteren Denkens verhält. In diesem Sinne sind einigen Linien des Gesamtwerkes nachzuzeichnen.
2 Einordnung in das Gesamtwerk Vor einigen Jahren ist bemängelt worden, dass die Erforschung des schleiermacherschen Werkes am Individuum orientiert war und die sozialtheoretische Dimension lediglich als „Konsequenz“ dargestellt worden ist.¹⁵ Problematisch ist demnach, wenn die grundlegende Struktur der schleiermacherschen Theoriebildung am einzelnen Subjekt orientiert wird.Weder das Frühwerk noch die Hauptschriften lassen aber solch eine Reduktion zu. Bernd Oberdorfer hebt den „kommunikationstheoretischen Ansatz“ der Dialektik, die „Theorie interpersonalen und interkulturellen Verstehens“ der Hermeneutik und die Kulturtheorie der Ethik hervor, die aus einem ursprünglichen und sich nachhaltig entwickelnden sozialtheoretischen Interesse hervorgehen.¹⁶ So kann
Schleiermacher [1799] 1984, 180 (Anm. 9). Schleiermacher [1799] 1984, 181 (Anm. 9). Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, TBT 69, Berlin/New York 1995, 1. Die Forschungslage wird in dieser Hinsicht mittlerweile weit positiver einzuschätzen sein. Vgl. André Munzinger, Gemeinsame Welt denken. Bedingungen interkultureller Koexistenz bei Jürgen Habermas und Eilert Herms, Perspektiven der Ethik 7, Tübingen 2015, 232– 244. Oberdorfer 1995, 3 – 4 (Anm. 15).
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die These formuliert werden: Das Interesse an der intersubjektiven Genese des Handelns und Wissens kennzeichnet das Gesamtwerk. Gesellschaft und Individuum sollen als gleichursprüngliche und wechselseitig interdependente Größen erörtert werden. Dieses Anliegen ist bereits als Grundfigur in den ersten Versuchen einer Auseinandersetzung mit Aristoteles bemerkbar und ist ein wesentliches Motiv für die wiederholte Hervorhebung der Notwendigkeit freien Austauschs.¹⁷ Auch in den Monologen von 1800 wird deutlich, dass Individualität nur durch Andere entwickelt werden kann – und umgekehrt: Gesellschaft gibt es nur, wenn Individualität ausgebildet wird.¹⁸ Diese Schrift lässt erkennen, wie programmatisch Schleiermacher denkt: Die Theorie der Geselligkeit soll keine Reflexion Berliner Salonkultur bleiben. Sie ist nicht eine Reminiszenz anregender Gespräche mit Freunden – zumindest ist sie nicht nur das. Sie wird eingerahmt von einer Ethik eines an der Individualität ausgerichteten Gattungsbegriffs. Dabei wendet sich Schleiermacher gegen die kantische Moraltheorie.¹⁹ Es genügt ihm nicht, die Menschheit unter dem Gesichtspunkt des kategorischen Imperativs zu sehen. Schleiermacher betrachtet die Menschen nicht als innerlich gleichförmig – mit einem moralischen Gesetz für alle. Vielmehr sieht er in der Individualität des Einzelnen den Spiegel der Menschheit insgesamt. Jeder Mensch offenbart die Vielfältigkeit der Menschheit insgesamt. Und weil die Mischungen der Individualität unendlich sind, ist die ethische Aufgabe unendlich. Die Anerkennung der Individualität wird für ihn zur „höchste[n] Anschauung“²⁰. Diese ist aber keineswegs einfach von vornherein gegeben, sondern muss ausgebildet werden, in der freien Geselligkeit der Eigentümlichkeiten der Menschen. Warum ist dieser Respekt für die Individualität so wichtig? Nur in der Anerkennung der eigenen Individualität ist sichergestellt, dass eine Verletzung der Eigenheit der Anderen nicht erfolgt. Über die Erkenntnis der eigenen Individualität werden Menschen aufmerksam für die Besonderheit der Anderen. Gleichzeitig kann der Mensch die eigene Individualität nur über die Differenzerfahrung ausbilden – alleine durch die oder den Anderen wird Eigenheit deutlich. Um diesen Prozess der Hingabe zur eigenen und zur fremden Eigentümlichkeit zu beschreiben, führt Schleiermacher den Begriff der Liebe ein: „Ja Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müßt alles in gleichförmige rohe Maße zerfließen!“²¹ Diejenigen, die dieses besondere Gefühl unbeachtet lassen, bleiben dem allgemeinen Gesetz verhaftet. Sie wagen es nicht, sich auf das „Heilige“ einzulassen, wie Schleiermacher hier die Liebe in sakral-säkularer Anspielung nennt: „Uns aber bist du
Oberdorfer 1995, 23 – 30 (Anm. 15).Vgl. Zur Einordnung: Ulrich Barth, „Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts“, ThR 66 (2001), 408 – 461, hier 416. Friedrich Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe [1800], KGA I/3, Berlin/New York 1988. Schleiermacher [1800] 1988, 18 (Anm. 18). Schleiermacher [1800] 1988, 18 (Anm. 18). Schleiermacher [1800] 1988, 22 (Anm. 18).
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das Erste wie das Lezte: Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort. Vereint fühl ich in mir die beiden höchsten Bedingungen der Sittlichkeit.“²² Es werden erste Verbindungen seiner Konzeption des geselligen Betragens zur Religion hier denkbar. Aber bevor wir zur Religion kommen, sind einige weitere Bemerkungen zur Theoriebildung vorzunehmen. Schleiermacher vermisst die Ethik neu im Horizont der Wechselwirkung zwischen den Menschen: Wenn Ethik nämlich begrifflich ausgearbeitet wird, darf nicht von der Frage ausgegangen werden, „was das höchste Gut für den einzelnen Menschen sei, […] sondern vollständig geschaut kann das höchste Gut nur werden in der Gesammtheit des menschlichen Geschlechts“.²³ Was von Gott gilt, dass seine Vollkommenheit in seiner Ganzheit liegt, charakterisiert nun das höchste Gut. Ein Bild wechselseitiger Ergänzung wird entwickelt, in der jedes Glied sich in einen Leib einfügt, jedes Einzelwesen in eine Familie und jedes einzelne Volk in die gesamte Menschheit – es ist die Wirkungsgemeinschaft der gesamten menschlichen Gattung.²⁴ Im weiten Sinne ist also die Ethik insgesamt eine Theorie des geselligen Betragens. Im engen Sinne wird die freie Geselligkeit in der Ethik als Teilgebiet genauer aufgenommen. In der Güterlehre entwickelt Schleiermacher vier vollkommene ethische Formen: Die freie Geselligkeit steht neben der Kirche, dem Staat und der Wissensvermittlung als eine unter vier sozialen Sphären.²⁵ Alle vier Sphären handeln nach ihrer eigenen Logik, alle vier haben ihre irreduzible Aufgabe für das Ganze der Gesellschaft. Die freie Geselligkeit gibt der Ausbildung von Individualität einen sozialen Ort in der Gesellschaft. Sie – die freie Geselligkeit – organisiert Individualität, oder, anders ausgedrückt, in der freien Geselligkeit wird Individualität entwickelt. Die Nähe zur Kirche ist dabei naheliegend. In dieser wird aber Individualität erkannt und symbolisiert, in der freien Geselligkeit wird sie dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt, um für die Gesellschaft insgesamt ein Gewebe der Gastfreundschaft und Freundschaft zu produzieren. Nochmal: Im weiten Sinne betrifft die Geselligkeit das Gesamtwerk Schleiermachers. Ob in der Hermeneutik, der Ethik oder der Dialektik, Schleiermacher sucht nach den Bedingungen, unter denen Menschen miteinander im Diskurs Regeln des Verstehens, des Zusammenlebens und der Wissensgenese entwickeln. Im engeren Sinne
Schleiermacher [1800] 1988, 22 (Anm. 18).Vgl. zur Liebe auf dem Hintergrund von Schleiermachers Theologie den Beitrag von Anne Käfer in diesem Band. Friedrich Schleiermacher [1830], Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung, KGA I/11, Berlin/New York 2002, 659 – 677, hier 660. Vgl. Schleiermacher [1830] 2002, 662 (Anm. 23). Friedrich Schleiermacher [1812/13], Ethik, mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, auf der Grundlage der Ausgabe v. Otto Braun, hg. v. Hans-Joachim Birkner, Philosophische Bibliothek 334, Hamburg 19902, 80 – 132. Vgl. zur Christlichen Sitte den Beitrag von Arnulf von Scheliha in diesem Band.
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ist die Geselligkeit ein Aspekt der Gesellschaft. Es wäre von großem Interesse diese Differenzierung genauer zu bestimmen.²⁶ Zum einen ist zu fragen, ob die freie Geselligkeit tatsächlich eine eigene soziale Sphäre darstellt. Es wäre ideengeschichtlich zu prüfen, wie Schleiermachers Impuls aufgenommen wird und warum er in den elaborierten soziologischen Theorien der Moderne, beispielsweise bei Talcott Parsons, keine Berücksichtigung findet.²⁷ Zum anderen wäre zu überlegen, ob sich Schleiermachers Geselligkeitsbegriff als Intersubjektivitätstheorie weiterentwickeln lässt. Ist die Verfassung des menschlichen Bewusstseins und humaner Sozialität grundsätzlich von der Interaktion her zu verstehen? In diese Richtung ist im 20. Jahrhundert die Philosophie als Evolution aus der solipsistischen Subjektivitätstheorie in kommunikativer Absicht verstanden worden.²⁸ Der Vorteil von Schleiermachers Ansatz ist es – bei aller Unklarheit im Einzelnen –, dass er die Interaktion und das Selbstbewusstsein als Basiskategorien nicht gegeneinander ausspielt. Im Folgenden ist einer anderen Linie der Geselligkeitstheorie, nämlich der religiösen, nachzugehen.
3 Religion und Geselligkeit Was die Rolle der Geselligkeit in der Religion betrifft, muss eine abwägende Haltung eingenommen werden. Auf der einen Seite sind Verbindungslinien aufzuzeigen – zwischen der Ausrichtung der Arbeiten Schleiermachers an der Geselligkeit und seiner Religionstheorie. Auf der anderen Seite muss in Erinnerung gerufen werden, dass Schleiermacher Philosophie und Theologie auseinanderhalten kann. Er betrachtet die beiden Denkweisen – die philosophische und die theologische – parallel zueinander.
Wird der Dialog als wesentliches, durchgehendes Motiv der konzeptionellen Arbeit Schleiermachers bestimmt, ist dieser nicht als unkritische Befürwortung des Miteinanders zu verstehen. Während nämlich im Frühwerk der Dialog als harmonistische Symphilosophie verstanden werden kann, wird die Konzeption differenziert zu einer Konflikt- und Kommunikationstheorie fortentwickelt. Vgl. Toni Tholen, „Erfahrung des Dialogs. Zu einer Ethik der Interpretation“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg. v. Dieter Burdorf/Reinhold Schmücker, Paderborn 1998, 107– 124. Dazu ist die Dreiteilung Friedrich Schleiermachers aufzugreifen, der zwischen dem ‚reinen‘, ‚geschäftsmäßigen‘ und ‚künstlerischen‘ Denken, differenziert. In verschiedenen Kontexten werden unterschiedliche Geltungsansprüche gestellt. Im reinen Denken und Reden wird allgemein nachvollziehbares Wissen generiert, im geschäftlichen Denken stehen dagegen die Zweckrationalisierung und im künstlerischen Denken die Kreativität, Individualität und Zwecklosigkeit im Mittelpunkt. (Friedrich Schleiermacher, Dialektik, KGA II/10.1, Berlin/New York 2002, 360 – 363). Vgl. Hans Joas, Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Jürgen Habermas, „Metaphysik nach Kant“, in: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1988, 18 – 34.
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Zwar sollten sie sich nicht widersprechen, aber sie werden nicht immer in direkte Verbindung zueinander gesetzt.²⁹ In den Reden über Religion lässt Schleiermacher die Leserinnen und Leser wissen, dass er die Religion inhärent als kommunikativ ansieht: „Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein: es liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz vorzüglich in der ihrigen. Ihr müßt gestehen, daß es etwas höchst widernatürliches ist, wenn der Mensch dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen will.“³⁰ In dem kurzen Zitat wird deutlich, wie der religiöse Impuls im Individuum aufkommt, aber dessen Entwicklung vom Austausch mit anderen abhängig ist. Dabei geht es, so Schleiermacher weiter, um die praktische und intellektuelle Wechselwirkung mit anderen, um die innere religiöse Kraft in anderen zu finden – eine Art Spiegelung der eigenen Kraft. Gleichzeitig kann durch die Äußerung des religiösen Gefühls eine Legitimierung stattfinden, nämlich dafür, dass es hier menschlich zugeht. Schleiermacher präzisiert weiter, dass es in dieser wechselseitigen Mitteilung nicht um Missionierung geht und auch nicht um Assimilierung an die eigene Gewissheit, sondern um eine Verhältnisbestimmung der individuellen Erfahrung mit der Gemeinschaft der anderen Menschen. Er meint, dass es wichtig sei, den eigenen Gefühlen auf die Spur zu kommen. Die religiösen Erfahrungen müssten im Austausch ausgelotet werden – sie müssten versprachlicht und unterschieden werden. „Wie sollte er [so Schleiermacher über den religiös affizierten Menschen] grade die Einwirkungen des Universums für sich behalten, die ihm als das größte und unwiderstehlichste erscheinen? Wie sollte er grade das in sich festhalten wollen, was ihn am stärksten aus sich heraustreibt, und ihm nichts so sehr einprägt als dieses, daß er sich selbst aus sich allein nicht erkennen kann?“³¹ Auch in der Religion gilt es demnach, die Interdependenz der Wissensgenese zu beachten. Oder anders mit Ulrich Barth ausgedrückt: Weil die anderen Menschen „strukturell isomorph“ sind, können sie durch Wahrnehmung, Empathie und Nachbildung die Gemütszustände spiegeln; insofern ist das religiöse Gefühl für Schleiermacher „von Hause aus kommunikativ“³².
Vgl. z. B. Schleiermacher 2002, 143 (Anm. 26). Friedrich Schleiermacher [1799], Ü ber die Religion, KGA I/2, Berlin/New York 1984, 267– 268. Schleiermacher [1799] 1984, 288 (Anm. 30). Ulrich Barth expliziert die Interaktionsebene der Religion auf dem Hintergrund der anthropologischen Annahmen Schleiermachers und zeigt, dass dieser wesentliche Einsichten der gegenwärtigen Religionssoziologie vorwegnimmt. („Was heißt ‚Vernunft der Religion‘? Subjektphilosophische, kulturtheoretische und religionswissenschaftliche Erwägungen im Anschluss an Schleiermacher“, in: Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke, hg. v. Jörg Lauster, Bernd Oberdorfer, RPT 41, Tübingen 2009, 189 – 216). Weil Schleiermacher mit dem Wechselwirkungsverhältnis zwischen Leib und Psyche rechnet, offenbaren sich Emotionen ganz ohne Intention in leiblichen Äußerungen, z. B. in Mimik und Gestik. Schleiermacher erkennt erst im weiteren Verlauf seines Wir-
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Nun lässt sich die Frage stellen: Betrifft diese Einschätzung vielleicht die Religionssoziologie, weniger dagegen ihre theologische Bewertung? Kann der Geselligkeit auch theologisch etwas abgewonnen werden? Des Weiteren: Steht Schleiermacher hier in einer Tradition des reformierten Denkens, wenn er Freundschaft und Geselligkeit derart in den Mittelpunkt rückt? Es können hier nur einige Spuren zu Antworten gelegt werden. Zunächst bewegt sich Schleiermacher deutlich in säkularen Deutungsmustern, wenn er Geselligkeit in einen zweckfreien Rahmen der Wechselseitigkeit stellt. Freundschaft und Geselligkeit werden in dieser Weise in seiner Zeit gleichsam zum „Kristallisationspunkt der Säkularisierung“³³. Ob sich die Frage nach einer theologischen Rechtfertigung des Feierns in diesem Rahmen überhaupt stellt, ist zweifelhaft. Eine direkte Verbindung zu theologischen Reflexionen wird jedenfalls schwierig. Die theologischen Überlegungen zur Geselligkeit beziehen sich eher auf die ritualisierten Übergänge wie Geburt, Taufe, Hochzeit und Tod sowie die kirchlichen Feiertage, die aber allesamt im Rahmen der Kirche stattfanden: „Hier gab es die Erlaubnis zum Feiern.“³⁴ Aber wie würde eine Begründung freier Geselligkeit aussehen? Über das Feiern im Rahmen der Kirche hinaus wäre sicherlich unter den Adiaphora zu suchen, den indifferenten Tätigkeiten also, die durch die Heilige Schrift weder ausdrücklich verboten noch empfohlen werden. Hier gäbe es jedenfalls weitreichende Verbindungen zu reformierten und pietistischen Diskussionen, die weiter verfolgt werden müssten. Dabei wäre eine dieser Diskussionen im 18. Jahrhundert zu erkunden, ob beispielsweise Tanzen, Tabakrauchen, Wein- und Biertrinken, das gesellige Scherzen und Plaudern zu diesen indifferenten Aspekten des christlichen Lebens gehören – eine stark debattierte Frage bis in die Gegenwart.³⁵ Könnten also die geselligen Aspekte des Lebens alle unter diese erlaubten Freiheiten fallen, gleichsam als theologisch indifferenter Aspekt des Lebens? Diese Verbindung zwischen theologischer Begründung und Geselligkeitskonzeption ist nicht plausibel. Für Schleiermacher ist die Geselligkeit zu zentral und der Begriff des Erlaubten zu problematisch, um diese theoretische Einordnung vorzunehmen.³⁶ Zudem ist er als reformiert geprägter Denker aufmerksam für die Zusammengehörigkeit von Glauben und Handeln. Diese Zusammengehörigkeit ist hier genauer zu bestimmen. Eine weitere Möglichkeit besteht nämlich schließlich darin, die Glaubenslehre selbst auf eine theologische Verortung der geselligen Natur des Menschen zu befra-
kens, wie wichtig die institutionelle Verankerung der inhaltlich übereinstimmenden Kommunikation ist. Wolfdietrich Rasch, zu finden bei: Heinz-Horst Schrey, „Art. Freundschaft“, in: TRE XI, 596. Adam 2000, 10 (Anm. 3). Vgl. Cynthia L. Rigby, „The Christian Life“, in:The Cambridge Companion to Reformed Theology, hg. v. Paul T. Nimmo/David Fergusson, Cambridge 2016, 96 – 113. Vgl. Tilman Fuß, Das ethisch Erlaubte. Erlaubnis, Verbindlichkeit und Freiheit in der evangelischtheologischen Ethik, Stuttgart 2011, 55 – 108.
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gen. Dazu gehört, dass Schleiermacher die Lehre vom heiligen Geist in ein Verhältnis zum Geist des Menschen setzt. Schleiermacher postuliert, dass der Geist der christlichen Kirche auch der des menschlichen Geschlechts ist.³⁷ Der Ausdruck heiliger Geist sei letztlich vollkommen eins mit dem des Gattungsbewusstseins. Die Argumentation ist nicht ganz einfach. Sie geht davon aus, dass die „Erwekkung und Verbreitung der allgemeinen Menschenliebe als die eigentliche und wesentlichste Frucht der Erscheinung Christi“ anzusehen ist.³⁸ Den Gemeingeist, den Schleiermacher in der Gemeinde und in der Menschheit am Werk sieht, ist ein und derselbe: „Nun aber muß es einen solchen auch geben in der Analogie mit dem volksthümlichen Gemeingeist, den wir nicht anders zu bezeichnen wußten als durch die Ausdrückke das Gattungsbewußtsein und die Liebe zur Menschheit als Gattung.“³⁹ In analoger Weise wie die Hemmung des menschlichen Selbstbewusstseins durch Sünde zu einer Einschränkung des Gottesbewusstseins führt, so ist das Selbstbewusstsein auch von sich aus gehemmt, ein Gattungsbewusstsein zu entwickeln. Schleiermacher meint nun, dass unter diesen Bedingungen des eingeschränkten Selbstbewusstseins die Vorstellung von der menschlichen Gattung insgesamt eher als Problem wahrgenommen wird. Die Menschheit schränke dann die Selbstsucht ein. Insofern bedarf es der Erlösung durch das Gattungsbewusstsein, das in Christus zu finden ist. Wie Christus das wahrhafte Gottesbewusstsein verkörpert, so stellt er auch ein ungehindertes Gattungsbewusstsein in Aussicht. Gläubige kennen diese Möglichkeit durch den heiligen Geist. Und nur insofern decken sich Gottesbewusstsein und Gattungsbewusstsein. Was hat das mit der Geselligkeit zu tun? Soll die freie Geselligkeit im Rahmen einer Glaubenslehre im Sinne Schleiermachers verortet werden, so lässt sich vermuten, dass die Pneumatologie als eine zielführende Brücke zwischen religiöser Symbolisierung und ethischer Kategorie fungiert. Der Geist ermöglicht freie Geselligkeit, weil er der Gemeingeist ist, weil er der Geist Christi ist, der ein Gattungsbewusstsein nicht als Einschränkung, sondern als Entfaltung der eigenen Individualität konstituiert.⁴⁰ Dieser Verschränkung von ethischem Bewusstsein und dogmatischer Reflexion wäre ausführlicher nachzugehen. Sie macht deutlich, wie für Schleiermacher die Dogmatik im Horizont der Ethik als Kulturtheorie entwickelt worden ist.
Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage, KGA I/13,2, Berlin/New York 2003, 282– 283. Schleiermacher [1830/31] 2003, 282 (Anm. 37). Schleiermacher [1830/31] 2003, 282 (Anm. 37). Wie es im § 121 „Von der Mittheilung des heiligen Geistes“ heißt: „Alle im Stande der Heiligung lebenden sind sich eines innern Antriebes im gemeinsamen Mit- und gegenseitigen Aufeinanderwirken immer mehr Eines zu werden als des Gemeingeistes des von Christo gestifteten neuen Gesammtlebens bewußt.“ (Schleiermacher [1830/31] 2003, 278, Anm. 37).
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4 Relevanz der Konzeption Was wären heute Geselligkeitskonzeptionen, bei denen Menschen eine freie Interaktion ausüben können? Wie steht es z. B. mit den sozialen Medien? Wie sind die anonymen Formen der Partnersuche, des Chats und des öffentlichen Austauschs zu bewerten? Sind hier freie Formen der Vergesellschaftung zu finden? Mit Schleiermacher müssten diese Medien als Geselligkeitsform kritisch betrachtet werden. Der freie Austausch im Sinne einer wechselseitigen Entwicklung und Anregung steht dabei oftmals hinter der funktionalen Aushandlung bestimmter Interessen. Es wäre in diesem Sinne von Interesse gegenwärtige Sozialisations- und Bildungsprozesse auf die Möglichkeit des freien Austausches hin zu befragen. Dass die Entfaltung von Individualität auf den freien Austausch angewiesen ist, ist nämlich eine Einsicht, die für die Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung von eminenter Bedeutung ist. Schleiermachers Überlegungen sind jedenfalls ideengeschichtlich betrachtet signifikant für Entwicklungen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Nach der Historikerin Ute Frevert steht seine Idee der „‚Wechselwirkung‘ (Schleiermacher) Pate bei den zahlreichen Assoziationen, die im späten 18. Jahrhundert in Europa gegründet wurden. Ob im adlig-bürgerlichen Salon, in einer ‚patriotischen‘ oder Lese-Gesellschaft, in einem Sport- oder Gesangverein oder in einer friendly society oder mutualité – Menschen (meist Männer) schlossen sich zusammen, aus freier Initiative und ohne äußeren Zwang, um ihre Interessen zu verfolgen. Nicht zufällig gilt das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der Vereine – vor allem, aber nicht nur – in Deutschland.“⁴¹ Aber mehr als diese Beispiele kommt heute der paradigmatische Kommunikationsbegriff in den Sinn, wenn Schleiermachers Geselligkeitsbegriff bedacht wird. So wird Kommunikation als „das letzte große Universalitätsversprechen des modernen Denkens“ gefasst.⁴² Ob diese weitreichende Einordnung trägt, müsste diskutiert werden. In der Folge Schleiermachers lässt sich aber folgendes sagen: Freie Kommunikation ermöglicht Individualität. Und eine Kirche oder Gesellschaft, die dieser freien Kommunikation nicht Rechnung trägt, hat keine Entfaltungsmöglichkeit und somit keine Überlebensperspektive. Individualität ist zugleich auf das Bewusstsein für das Ganze der Gesellschaft angewiesen, um die eigenen Grenzen zu erkennen. Für die theologische Ethik ist die freie Interaktion somit für die Entwicklung der Individuen und der Gesellschaft insgesamt von Interesse. Eine Geselligkeitskonzeption – im engen und im weiten Sinne – ist weiterhin erforderlich, um dem gelingenden Leben in der Vielfalt auf der Spur zu bleiben.
Ute Frevert, „Vertrauen und Macht. Deutschland und Russland in der Moderne“, hg. v. Deutsches Historisches Institut Moskau, Vortrag vom 23.05. 2007, zu finden unter: https://www.dhi-moskau.org/fi leadmin/user_upload/DHI_Moskau/pdf/Veranstaltungen/2007/Vortragstext_2007- 05 -23_de.pdf, abgerufen am 20.10.18, 5. Manfred Faßler, Was ist Kommunikation?, Stuttgart 20032 (Einband).
Arnulf von Scheliha
„Kirchenzucht“? Reformierte Themen in der Christlichen Sittenlehre Friedrich Schleiermachers Der US-amerikanische Theologe James M. Brandt ist vor einigen Jahren mit der These von Friedrich Schleiermacher als „a Calvinist of a higher order“ ¹ hervorgetreten und hat damit ein von Schleiermacher auf seine pietistische Prägung bezogenes Diktum variiert.² Zur Begründung seiner These, „Schleiermacher’s tree is deeply rooted in the Reformed tradition“³, führt Brandt bildungsbiographische Aspekte, die Glaubenslehre und vornehmlich Schleiermachers Konzept der Christlichen Sittenlehre an. In der Perspektive dieser These werden im folgenden Beitrag die Manuskripte und ausgewählte Abschnitte der Nachschriften von Schleiermachers Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre vorgestellt und es wird in diesen bislang zu wenig beachteten Teil von seinem Werk eingeführt. Am Ende steht ein kritischer Kommentar von Brandts Einschätzung.
1 Die Stellung der Christlichen Sittenlehre im Werk Schleiermachers Friedrich Schleiermacher hat in seiner Eigenschaft als Universitätsprofessor an den Universitäten Halle (1806 – 1807) und Berlin (1810 – 1834) die Vorlesung über die Christliche Sittenlehre zwölf Mal gehalten. Sie gehört mit den Vorlesungen über die Dogmatik und über die theologische Enzyklopädie zu seinen theologischen Hauptvorlesungen.⁴ Im Unterschied zu den Dogmatik- und Enzyklopädievorlesungen hat er seine Vorlesungen zur christlichen Ethik nicht publiziert, was wohl, wie Hermann Fischer vermutet, mit den politischen Repressionen, denen Schleiermacher in den 1820er Jahren ausgesetzt war und den vielfältigen wissenschaftsorganisatorischen Aufgaben, die er in diesen Jahren übernommen hatte, zusammenhängen dürfte.⁵
James M. Brandt, All Things New. Reform of Church and Society in Schleiermacher’s Christian Ethics, Louisville/Kentucky 2001, 137. Die Formulierung findet sich einem Brief an seinen Verleger Reimer aus dem Jahre 1802 (Brief Nr. 1220), vgl. Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1801 – 1802, KGA V/5, hg. v. Andreas Arndt/ Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1999, 392– 393, Z. 20 – 21. Brandt 2001, 137 (Anm. 1). Vgl. die auswertende Übersicht von Dirk Schmid, „Schleiermacher als Universitätstheoretiker und Hochschullehrer“, in: Schleiermacher-Handbuch, hg. v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 212– 226, 222– 226. Vgl. Hermann Fischer, Friedrich Schleiermacher, München 2001, 47– 50. https://doi.org/10.1515/9783110608656-012
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Bei der Bestimmung des Ortes der Christlichen Sittenlehre im Werk Schleiermachers ist zu beachten, dass für ihn die Ethik oder Sittenlehre in erster Linie eine philosophische Grundlagenwissenschaft war, in der in kategorialer Absicht die notwendigen Hervorbringungen der humanen Kulturentwicklung abgebildet und bestimmt werden. Ihre Aufgabe besteht in der Rekonstruktion der rationalen Grundlagen und Ziele (Güter) des menschlichen Kulturstrebens. Dementsprechend wird ein hoher formaler Allgemeinheitsanspruch vertreten. Diese Philosophische Ethik hat Schleiermacher im Rahmen der Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin, die er dort als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften halten konnte, entwickelt. Auch diese Vorlesungen hat er nicht veröffentlicht. Allerdings hat er die Grundzüge seiner ethischen Kulturphilosophie in vier Abhandlungen vor der philosophisch-historischen Klasse jener Akademie vorgetragen und diese anschließend publiziert.⁶ Von der Philosophischen Ethik streng unterschieden ist das theologische Fach der Christlichen Sittenlehre oder Christlichen Ethik, das neben der Dogmatik eine historische Disziplin der Theologie darstellt, die Schleiermacher wiederum als positive, d. h. handlungsleitende Wissenschaft versteht. In Dogmatik, Sittenlehre und kirchlicher Statistik geht es um die „geschichtliche […] Kenntniß des Christenthums in seinem gegenwärtigen Zustande“⁷. Dogmatik und Ethik haben „es […] zu thun mit der zusammenhangenden Darstellung des in der Kirche jetzt grade geltenden Lehrbegriffs“.⁸ Dieser wird in der Dogmatik „von der theoretischen Seite“, in der Ethik „von seiner praktischen“⁹ Seite beleuchtet. Die Frage, ob beide Aufgaben gemeinsam erfüllt oder ob es sich um „getrennte Disciplinen“¹⁰ handelt, kann nach Schleiermacher nur historisch beantwortet werden und ist nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden.¹¹ Für das Thema dieses Beitrages ist Schleiermachers Einschätzung wichtig, nach der der „kirchliche Gegensaz der jezigen Periode […] sich auf der praktischen Seite des Lehrbegriffs für jetzt noch nicht so stark ausgeprägt [hat] als auf der theoretischen.“¹² Das bedeutet: Mit Spuren aus der reformierten Tradition ist auf
„Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs“ (1819), „Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs“ (1824), „Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung“ (1827), „Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung“ (1830), in: Friedrich Schleiermacher, Akademievorträge, KGA I/11, hg. v. Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, Berlin/New York 2002, 313 – 335. 415 – 428. 535 – 553. 657– 677. Friedrich Schleiermacher, „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811“, in: Ders., Universitätsschriften – Herakleitos – Kurze Darstellung des theologischen Studiums, KGA I/6, hg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998, 243 – 315, 287, Z. 14– 15. Schleiermacher [1811] 1998, 288, Z. 7– 9 (Anm. 7). Schleiermacher [1811] 1998, 292, Z. 18 – 20 (Anm. 7). Schleiermacher [1811] 1998, 292, Z. 22 (Anm. 7). Vgl. Schleiermacher [1811] 1998, 293, Z. 2– 8 (Anm. 7). Schleiermacher [1811] 1998, 293, Z. 21– 23 (Anm. 7). Diese Einschätzung hat Schleiermacher in der zweiten Auflage der Kurzen Darstellung bekräftigt (vgl. Friedrich Schleiermacher, „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe,
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dem Gebiet der christlichen Ethik weniger stark zu rechnen als in der Glaubenslehre oder Dogmatik. Das Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik im Werk Schleiermachers wirft eigene Interpretationsprobleme auf, die Schleiermacher selbst angedeutet hat¹³ und die nicht ignoriert werden dürfen. Schon der unterschiedliche wissenschaftstheoretische Ort zeigt an, dass die beiden wissenschaftlichen Disziplinen formal voneinander unabhängig sind. Da jedoch beide handlungstheoretisch konzipiert sind, können sie inhaltlich aufeinander bezogen werden und sich – gerade durch die unterschiedliche Perspektivierung des menschlichen Handelns – wechselseitig ergänzen und erläutern.¹⁴ Grundsätzlich wird man sagen können, dass die Christliche Sittenlehre als theologische Teildisziplin den Beitrag des Christentums zur humanen Kulturbewegung beschreibt. Allerdings sind die Handlungsformen bzw. Wirkweisen andere als diejenigen, die Schleiermacher in der Philosophischen Ethik veranschlagt. Gegenwärtig stehen zwei Ausgaben der Christlichen Sittenlehre zur Verfügung. Zuvörderst ist die von Schleiermachers Schüler und Freund Ludwig Jonas (1797– 1852) veranstaltete Ausgabe, deren Nachdruck bis heute gekauft werden kann.¹⁵ Schleiermacher selbst hatte kurz vor seinem Tod seinen Schüler mit der Ausgabe der unveröffentlichten Werke (Vorlesungen) beauftragt. Die Christliche Sittenlehre erschien als zwölfter Band der Ersten Abtheilung („Zur Theologie“) 1843 in erster und 1884 in zweiter Auflage. Bei seiner Edition stützte sich Jonas auf fünf Vorlesungsmitschriften aus dem Wintersemester 1822/23. Dazu bietet er Schleiermachers Manuskript von 1809, dessen Überarbeitung aus dem Wintersemester 1822/23 sowie alle weiteren Manuskripte zur Vorlesung als sogenannte Beilage. Aus den Mitschriften erstellte er nach den damaligen editorischen Grundsätzen einen gut lesbaren Text. Als Kriterium galt seinerzeit nicht die Vollständigkeit der diplomatisch genauen Wiedergabe, sondern die Präsentation der systematischen Position. Jonas ergänzt diese Version der Vorlesung um Texte aus späteren Mitschriften, insbesondere von 1826, die er den inhaltlich entsprechenden Passagen als Anhang in Petit-Druck anfügt. Insgesamt
Berlin 1830“, in: Ders., Universitätsschriften – Herakleitos – Kurze Darstellung des theologischen Studiums, KGA I/6, hg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998, 319 – 446, 407 Z. 4– 8). Vgl. Schleiermacher [1811] 1998, 293, Z. 10 – 19 (Anm. 7) und Schleiermacher [1830] 1998, 407, Z. 9 – 16 (Anm. 12). Vgl. Poul H. Jörgensen, Die Ethik Schleiermachers, München 1959, der den Schwerpunkt auf die Philosophische Ethik legt. Zur Verhältnisbestimmung grundlegend ist noch immer das Buch von HansJoachim Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964. Neuerdings können auch die beiden Artikel von Matthias Heesch herangezogen werden: Matthias Heesch, „Philosophische Ethik“ und „Die Christliche Sitte“, in: Schleiermacher-Handbuch, hg. v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 267– 280. 383 – 399. Vgl. Friedrich Schleiermacher [11843, 21884], Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. L. Jonas, Sämmtliche Werke I/12, Nachdruck der zweiten Auflage, neu hg. v. Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1999.
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handelt es sich um eine verlässliche Edition, die freilich heutigen Maßstäben nicht mehr genügt. Hermann Peiter teilt in seiner Ausgabe einen Text mit, der sich aus drei wechselnden Vorlesungsmitschriften aus dem Wintersemester 1826/27 zusammensetzt, und präsentiert in den Fußnoten ergänzende Texte aus Schleiermachers Hand.¹⁶ Sie sollen in einem geplanten, aber bisher nicht erschienenen zweiten Band der Edition gemeinsam mit einem textkritischen Apparat vollständig präsentiert werden. Diese Ausgabe behandelt die Mitschriften als Zeugen für die gehaltene Vorlesung und versucht dem mutmaßlichen Wortlaut der Vorlesung so nah wie möglich zu kommen. Auch diese Ausgabe ist verdienstvoll, allerdings erlauben die zum Teil recht heterogenen Manuskripte den Rückgang auf den Vortrag wohl nicht in allen Passagen. Obwohl Konzeption und Inhalt beider Editionen nicht vollständig überzeugen, kann mit ihnen doch gearbeitet werden. Bei der Interpretation der Hörernachschriften muss man freilich mögliche Hörfehler und Verständnisprobleme der Schreiber in Rechnung stellen. Die Formulierungen, die den Vorlesungsmitschriften entnommen sind, dürfen interpretatorisch also nicht gepresst werden. Für diesen Beitrag wird daraus der methodische Schluss gezogen, dass die Interpretation vom Manuskript Schleiermachers ausgeht und die Mitschriften als Erläuterung herangezogen werden. Der Titel der von Jonas (1797– 1852) veranstalteten Ausgabe Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt ist parallel zur Dogmatik Der christliche Glaube konstruiert und weicht von den (im Einzelnen differierenden) Vorlesungsankündigungen ab. Zieht man die Bestimmung der Begriffe „Dogmatik“ und „Sittenlehre“ in der Kurzen Darstellung heran, gehört das Merkmal „Kirche“ zu beiden Fächern, sodass Jonas mit seinem Titel Schleiermachers Intention getroffen haben dürfte. Er signalisiert die Ausrichtung auf die kirchliche Union in Preußen. Ebenso wie die Glaubenslehre eine Unionsdogmatik darstellt, so repräsentieren die Vorlesungen zur Christlichen Ethik eine Unionsethik und nicht die Morallehre einer protestantischen Einzelkonfession. In seinen Manuskripten und ausweislich der Vorlesungsmitschriften verwendet Schleiermacher durchgängig den Begriff „Protestantismus“. Dieser Befund muss hier vorausgeschickt werden, wenn im Folgenden nach Spuren reformierter Theologie in Schleiermachers Ethik gesucht wird.
Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Christliche Sittenlehre (Vorlesung im Wintersemester 1826/27). Nach größtenteils unveröffentlichten Hörernachschriften und nach teilweise unveröffentlichten Manuskripten Schleiermachers hg. u. eingel. v. Hermann Peiter, Berlin 2011.
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2 Die Handlungstheorie der christlichen Sittenlehre 2.1 Das Verhältnis von Glaubens- und Sittenlehre Wie die Glaubenslehre so nimmt auch die Christliche Sittenlehre ihren Ausgangspunkt vom christlich-frommen Gefühl. „Das religiöse Gefühl, wie es im Christenthume modificirt ist, ist die Basis der christlichen Sittenlehre.“¹⁷ Parallel zur Glaubenslehre bringt Schleiermacher auch in der Grundlegung der christlichen Ethik die christliche Bestimmtheit des Gefühls auf den Begriff der Erlösung. „Das modificirende des Christenthums ist die Idee der Erlösung als Centrum“.¹⁸ Man begegnet also auch in der Christlichen Sittenlehre jener Bestimmung des Wesens der christlichen Religion, in der kategoriale Klärung und historische Auffassung in besonderer Weise miteinander verbunden sind.¹⁹ Sie wird in der Christlichen Sitte freilich inkarnationstheologisch zugespitzt: „Die Idee der Erlösung beruht auf dem Bewußtsein, daß die werdende Einheit der Vernunft mit der Organisation vermittelt wird durch die absolute Identität des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur.“²⁰ Mit dem Auftreten Jesu von Nazareth wird diese Idee historische Wirklichkeit. Von diesem geschichtlichen Punkt aus entwickelt sich die christlich inspirierte Kultur, die in der Christlichen Sittenlehre rekonstruiert wird. Insofern ist diese – obwohl auf die Gegenwart bezogen – zugleich geschichtstheologisch angelegt. Die Aufgabe der Dogmatik oder Glaubenslehre besteht in der konfessionell perspektivierten Rekonstruktion der inhaltlichen Bestimmtheit des christlichen Gefühls unter den Bedingungen der jeweiligen Gegenwart, die Aufgabe der Sittenlehre in der Entfaltung der vom gegebenen christlichen Gefühl ausgehenden Bestimmung des menschlichen Handelns. Der Grund für diese Arbeitsteilung ist im Gefühlsbegriff verankert. Denn als Teil des Lebens zeigen sich im Gefühl gewissermaßen eine passive und eine aktive Seite. „Das Leben ist nur wechselndes Sich verlieren und sich herstellen aus dem ganzen. In jedem Acte ist Bestimmtsein des einzelnen durch das ganze, und Bestimmtsein des ganzen durch das einzelne. Jenes Leiden, dieses Handeln.“²¹ Daher gilt für das christliche Gefühl: „Die Dogmatik ergreift das Gefühl bei dem ersten Ende, die christliche Sittenlehre bei dem lezten“.²² Das spezifische Thema der Sittenlehre ist also nicht das christliche Bestimmt-Sein des Gefühls, das vielmehr vorausgesetzt ist, sondern sein Bestimmungspotenzial, d. h. die von ihm ausgehenden Handlungsimpulse und –ziele. Die Grundidee besagt, dass das christlich bestimmte Gefühl Handlungen freisetzt, die jene Identität von göttlichem Wesen und menschli Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 22, 8 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 23, 8 (Anm. 15). Vgl. Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 24, 8 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 28, 9 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 30, 10 (Anm. 15).
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cher Natur in der kulturellen Wirklichkeit umsetzen. Inkarnationstheologisch zugespitzt: Die absolute Identität des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur realisiert sich durch die Bestimmung qualifizierter Handlungen von Christinnen und Christen und bewirkt reale Folgen in der humanen Kultur. Diese müssen also nicht erst eingefordert werden, sondern stellen sich gewissermaßen durch „die lebendige Sitte“²³ des Christentums ein. Schleiermacher verfolgt in seiner christlichen Ethik also keinen deontologischen Ansatz, sondern versteht seine Aufgabe zunächst deskriptiv, indem es darum geht, christliche Substanz in der menschlichen Kulturbewegung zu identifizieren.²⁴ Daher nimmt Schleiermacher weniger den Einzelnen in den Blick als vielmehr die Sozialformen, in denen christlicher Glaube gelebt wird. Im Mittelpunkt steht dabei die „Kirche“, die den sozialen Rahmen bildet,²⁵ die freilich in historischer Variabilität und konfessioneller Differenzierung betrachtet wird.²⁶ Schleiermacher fokussiert vor allem die von der evangelischen Kirche beförderte sittliche Substanz, wiewohl er in den Vorlesungen zur Sittenlehre wesentlich häufiger als in anderen Werken Seitenblicke auf die katholische Kirche wirft und Vergleiche zieht. Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Traditionen der evangelischen Kirchen sind dagegen sehr rar. Freilich geht die Aufgabe der Darstellung der christlichen Sitte nicht in einer bloßen Beschreibung auf.Vielmehr gilt: Weil die christliche Kirche zugleich der Ort ist, „wo das christlich religiöse Bewußtsein dominirender Impuls immer erst wird, und in sofern noch nicht ist, […] [w]ird aber in der christlichen Kirche noch nicht gehandelt nach den Vorschriften der christlichen Sittenlehre: so ist ja diese als Beschreibung immer auch zugleich Gebot“.²⁷ Ebenso wie Philosophische Ethik²⁸ enthält auch die Christliche Sitte präskriptive Komponenten.
2.2 Die Deduktion des Handlungsschemas Zwei unterschiedliche Zustandsweisen des christlichen Gefühls, die Schleiermacher voneinander unterscheidet, bilden den Ausgangspunkt für die Ableitung von zwei unterschiedlichen Handlungstypen, an denen Schleiermacher das Bestimmungspo-
Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 32, 11 (Anm. 15). Die christliche Sittenlehre „wird nichts sein können, als eine Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herrschaft des christlich bestimmten religiösen Selbstbewußtseins entsteht. Indem wir aber sagen Beschreibung: so scheint darin selbst auch schon eine nähere Bestimmung der Form zu liegen, und noch dazu einer von der gewöhnlichen sehr abweichenden“ (Schleiermacher [1884] 1999, 32– 33 [Anm. 15]). Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 32– 34, 11. Vgl. auch § 56, 19 (Anm. 15). „Offenbare Verschiedenheit der Lebensweise in Katholicismus und Protestantismus“ (Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 34, 11 [Anm. 15]). Schleiermacher [1884] 1999, 34 (Anm. 15). Vgl. Arnulf von Scheliha, „Sources of Normativity in Schleiermacher’s Interpretation of Culture“, in: Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theologie. A Transatlantic Dialogue, hg. v. Brent W. Sockness/Wilhelm Gräb, Berlin/New York 2010, 285 – 298.
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tenzial des Gefühls identifiziert. Ausgangspunkt der Ableitung ist der „Grundzustand“ einer vollständigen Bestimmtheit des Gefühls durch die „Gemeinschaft mit Gott durch Christum“,²⁹ deren affektive Seite Schleiermacher als „Seeligkeit“³⁰ oder „Freude am Herrn“³¹ bezeichnet. Schleiermacher versteht diesen Gefühlszustand als regulativen Zielbegriff. „Seeligkeit […] ist das absolute Sein als Bewußtsein gedacht, also auch das Sein des göttlichen Princips in dem Menschen. Der Christ ist seelig in dem Herrn.“³² Dieses ungetrübte Gefühl der Gemeinschaft mit Gott bestimmt den Menschen zu Handlungen, die Schleiermacher als „das rein darstellende Handeln“³³ typisiert. Dieses darstellende Handeln verleiht der vollständigen durch die Erlösung erfolgten Bestimmtheit des Gefühls Ausdruck. Als Prototyp für das darstellende Handeln gilt für Schleiermacher der gemeinsame Gottesdienst.³⁴ Die andere Zustandsweise des Gefühls zeichnet sich durch die Differenz von Lust und Unlust aus. „Das wirkliche Leben des frommen ist fortschreitende Einigung im Schwanken; also spaltet sich die Seeligkeit in Lust und Unlust.“³⁵ Schleiermacher ist der Auffassung, dass das christliche Gefühl faktisch unter der Bedingung von „Lust“ und „Unlust“ steht, weil die Hemmungen, es aufzurichten, Teil seiner Realisierung sind. Der dogmatische Begriff dafür ist „Sünde“, auf die im Modus der „Lust“ reflektiert wird, wenn sie überwunden ist, und die als „Unlust“ registriert wird, wenn sie das Gefühl noch oder wieder mitbestimmt. Aus Lust- und Unlustzuständlichkeit des Gefühls leitet Schleiermacher das sogenannte wirksame Handeln als Bestimmungspotenzial ab, das zugleich in das sogenannte verbreitende Handeln (als Folge der „Lust“) und in das sogenannte reinigende Handeln (als Folge der „Unlust“) zerfällt. „Das als Unlust bestimmte religiöse Gefühl geht aus in ein reinigendes Handeln.“³⁶ Dieses reinigende Handeln zielt darauf, die „Resistenz“ bzw. „Hemmung“³⁷ zu beseitigen und Störungen jener „Einigung“ aufzuheben. Da die Ursache für diese Störungen nicht im Gottesbewusstsein liegt, wirkt dieser Handlungstyp „auf die niedere Natur zurück“³⁸, also auf die physischen oder sozialen Bedingungen des Lebens. „Das als Lust bestimmte religiöse Gefühl geht aus in ein verbreitendes Handeln.“³⁹ Es stellt darauf ab, die noch nicht erfolgte, aber mögliche Verbindung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur „in eine wirkliche zu verwandeln […]. Und eben deshalb ist dies Handeln eine Verbreitung der Einigung.“⁴⁰
Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 44, 15 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 45, 15 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 53, 17 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 45, 15 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 53, 17 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 53, 17 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 48, 16 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 54, 18 (Anm. 15). Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 54, 18 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 54, 19 (Anm. 15) Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 55, 19 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 55, 19 (Anm. 15).
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Durch diesen Handlungstyp wird die Natur mit der Struktur Geist überformt. Die Unterscheidung von darstellendem und wirksamem Handeln gilt nicht absolut, vielmehr führt jeder Handlungstyp Momente der anderen mit sich. „Kein wirkliches Handeln enthält Ein Glied eines dieser Gegensäze ausschließend“.⁴¹ Vielmehr muss zum Beispiel jedes „darstellende Handeln […] ein wirksames Element haben als Minimum und umgekehrt“.⁴² Die Unterscheidung hat also vor allem heuristischen Wert, „indem man sie auf den dominirenden Charakter in jedem Handeln bezieht“⁴³ und auf diese Weise den Sinn der einzelnen Elemente der christlichen Sitte klärt. Dazu differenziert Schleiermacher noch einmal zwischen einer gemeinschaftlichen (kirchlichen), eine prä-institutionellen (Einzelne, Ehe und Familie) und eine universellen (d. h. über das Christentum hinausweisenden) Dimension, die er in der Regel unter den Stichworten „Staat“ oder „Kultur“ diskutiert. Auf diese Weise ergibt sich ein Neunerschema, das die Gliederung des Stoffes der Christlichen Sitte bestimmt.
3 Das darstellende Handeln „Alles darstellende Handeln ist insgesammt Gottesdienst“,⁴⁴ die reine Verkörperung des christlichen Bewusstseins durch Handlungszusammenhänge. In ihnen wird das Eingehen des göttlichen Wesens in die menschliche Natur real. „Gottesdienst ist […] der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen“.⁴⁵ Das darstellende Handeln bildet die religiöse Gemeinschaft, ebenso wie sie sie voraussetzt. „Die religiöse Gemeinschaft und das darstellende Handeln sind also gleich primitiv“.⁴⁶ Schleiermacher unterscheidet einen Gottesdienst in einem engeren und einem weiteren Sinn des Begriffs. Bei Letzterem knüpft er in der Sache und vom Wortlaut her an Röm 12,1 an, wo Paulus die Christenmenschen zu einem „vernünftigen Gottesdienst“ auffordert. Es handelt sich um eine Art Habitus, durch den das göttliche Wesen in den gesamten Lebensvollzug hineinwirkt. Der tätige Gottesdienst entspricht der „Tendenz, in dem gesammten thätigen Leben das darstellende Handeln fortzusetzen, dem gesammten thätigen Leben diesen Charakter aufzudrükken, daß es die Darstellung sei der Herrschaft des Geistes über das Fleisch“⁴⁷. Im Unterschied dazu unterbricht der Gottesdienst im engeren Sinne das tätige Leben, in der gemeinsamen Feier wird das christliche Gefühl an ihm selbst zur kultischen Darstellung gebracht. In moderner Terminologie gesprochen: Hier wird das christliche Gefühl performativ wirklich.
Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 61, 21 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 61, 21 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 61, 21 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 68, 23 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 525 – 526 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 71, 24 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 536 (Anm. 15).
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Die grundlegende Sozialform für diesen Zusammenhang bildet die „Familie“, die Schleiermacher als die „ursprüngliche Kirche“⁴⁸ bezeichnet. Hier vollzieht sich das darstellende Handeln in der privaten Andacht, die vom einzelnen religiösen Bewusstsein ausgeht und das soziale Umfeld (etwa Familie oder Freunde) einbezieht. In diesem Rahmen werden „Privatgottesdienste“ nach Maßgabe der Bedürfnisse und je nach Stellung der Mitwirkenden gefeiert. Daneben steht die institutionelle Form der Kirche, die Subjekt des öffentlichen Gottesdienstes ist und die Einzelnen einbezieht. Das Verhältnis von Privatgottesdienst und öffentlichem Gottesdienst denkt Schleiermacher komplementär. Charakteristisch für den öffentlichen Gottesdienst ist die Differenz von Klerus und Laien. Sie ist Teil der christlichen Sitte, hat aber in der reformatorischen Tradition einen bloß funktionalen Charakter, markiert keinen Unterschied im geistlichen Stand. Schleiermacher versteht den Gottesdienst immer als eine gemeinschaftliche Angelegenheit, denn auch die „Laien“ wirken mit, wirken durch ihre Partizipation sogar auf den Klerus ein. Die Predigt ist nicht belehrend oder kerygmatisch-autoritär, sondern exemplarische Mitteilung des christlichen Gottesbewusstseins.⁴⁹ Für die Leitfrage dieses Beitrages ergibt sich in diesem Kontext eine Pointe. Denn die bloß funktionale Unterscheidung von Klerus und Laien bedeutet: „Die Kirche strebt daher nach allgemeiner Verbreitung und hat eine demokratische Tendenz.“⁵⁰ Diese Gleichheit ist eigenthümlich christlich und beruht auf dem Erhabensein Christi über alle, wobei alle andre Ungleichheit verschwindet und nur secundär wieder aus der Gleichheit entstehen kann. – Priesterkirchen sind auf dem Principe der Ungleichheit gebaut weil sie jenen Gegensaz nicht kennen.⁵¹
In diesem Satz kommt Schleiermacher erneut auf die Gleichheitsidee zu sprechen und wendet sie kirchenorganisatorisch. Die kulturgeschichtliche Leistung des Christentums besteht in der geschichtlichen Realisierung der Gleichheitsidee, die auch den Aufbau der Kirche bestimmt. Das gilt selbst für die katholische Kirche, denn: „Die katholische Kirche ist aber nur scheinbar und untergeordnet eine Priesterkirche, indem die Ungleichheit als von Christo eingesezt angesehen wird.“⁵² Weil nach katholischer Auffassung das Petrusamt durch Christus eingesetzt ist, ist die Gleichheit aller Christen vor Christus auch in der katholischen Kirche größer als die Differenz von Klerus und Laien. Auf dieser Basis skaliert Schleiermacher in der Vorlesung zwischen zwei Extremen. Der Gottesdienst der Quäker repräsentiert für ihn das „Minimum der Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 72, 24 (Anm. 15). Vgl. Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988, 168 – 235 sowie Christian Albrecht, „Schleiermachers Predigtlehre. Eine Skizze vor dem Hintergrund seines philosophisch-theologischen Systems“, in: Klassiker der protestantischen Predigtlehre, hg. v. Christian Albrecht/Martin Weeber, Tübingen 2002, 93 – 119. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 77, 25 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 77, 25 – 26 Randbemerkung (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 77, 26 Randbemerkung (Anm. 15).
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Ungleichheit“⁵³, der von einem Priester zelebrierte katholische „Meßgottesdienst in fremder Sprache“⁵⁴ das Maximum an Ungleichheit. Für die Kirchen der Reformation aber ist die rein funktionale Unterscheidung von Klerus und Laien charakteristisch und als Kriterium für einen christlichen Gottesdienst gilt: „Darum darf es keinem Gottesdienste an einem Elemente fehlen, in welchem sich die Productivität Aller äußeren [sic!] kann, wenn auch nur auf untergeordnete Weise, und dieses Element ist bei uns vorzüglich repräsentirt durch den Gesang der Gemeinde“.⁵⁵ Die grundlegende Nivellierung der Differenz von Klerus und Laien, die Errichtung bloß funktionaler Unterschiede in der kirchlichen Organisation und die Einführung von demokratischen Strukturen begründet die von Schleiermacher bevorzugten presbyterialsynodalen Selbstverwaltungsstrukturen in der Kirche, die er in der reformierten Tradition eher als in der staatskirchenähnlichen Tradition des Luthertums präfiguriert findet und daher als Vorbild für die Weiterentwicklung staatlicher Strukturen gesehen hat.⁵⁶ Die symbolische Sichtbarmachung des Gefühls in Andacht und Gottesdienst erfordert ästhetische Anteile, weswegen das religiöse Handeln eine enge Verbindung mit der Kunst eingeht.⁵⁷ In der Musik, in der bildenden Kunst und in der Rhetorik gehen religiöses Gefühl und ästhetischer Ausdruck eine enge Verbindung ein. Dies gilt für Schleiermacher insbesondere für das Christentum, das sich in der Regel subtiler, nämlich geistiger ästhetischer Darstellungsmittel bedient, freilich in gestufter Weise, wie Schleiermacher an einem konfessionellen Vergleich deutlich macht. Grundsätzlich deutet er mit Blick auf die „leiblichen Darstellungsmittel“ an, dass diese im christlichen Gottesdienst geringeres Gewicht haben als „in den anderen Religionsformen […], sofern diese Naturreligion sind.“⁵⁸ Das Christentum dagegen strebt nach vergeistigten Ausdrucksformen, sodass jene „zurükktreten“, freilich nicht verschwinden. An dieser Stelle skaliert Schleiermacher zwischen dem „äußerste[n] Katholizismus“, der noch viele leibliche Elemente zulässt und – gemessen an jener Norm – von „anmaaßende[r] Laxität“ ist. Den anderen Pol bildet der „äußerste Protestantismus“, der „eine demüthige Strenge, die Furcht das christliche Princip zu verunreinigen durch Annäherung an das heidnische“ zeigt. Dagegen empfiehlt Schleiermacher „eine mittlere Construction“, nach der zu streben sei.⁵⁹ Mutmaßlich
Schleiermacher [1884] 1999, 542 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 543 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 556 (Anm. 15). Vgl. Brandt 2001, 95 (Anm. 1).Vgl. dazu den Beitrag von Simon Gerber in diesem Band, der an dieser Stelle den Einfluss der reformierten Tradition auf Schleiermachers Kirchenverständnis sehr hoch veranschlagt. Grundlegend ist die Münsteraner Dissertation von Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzung um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen (1799 – 1823), Bielefeld 1997. Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, §§ 86 – 91 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, § 16, 151 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, § 16, 150 – 151 (Anm. 15). Laut Mitschrift hat Schleiermacher diesen Gedanken noch weiter ausgeführt und die binnenprotestantische Differenz zurückgefahren: „In
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hat Schleiermacher beim „äußersten Protestantismus“ nicht strenge Calvinisten vor Augen, sondern die Quäker, die soeben erwähnt wurden. Die von ihm bevorzugte „mittlere Construction“ dürfte von Lutheranern und Reformierten angestrebt werden.
4 Das wirksame Handeln Die beiden Modi des wirksamen Handelns führen in die Themen der christlichen Ethik im engeren Sinne. Die folgende Darstellung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden nur diejenigen Aspekte herausgegriffen, die eine gewisse Nähe zur reformierten Tradition aufweisen.
4.1 Das verbreitende Handeln Die entscheidende Einsicht Schleiermachers auf diesem Gebiet ist, dass der Grundtypus des verbreitenden Handelns als Initiierung von Bildungsprozessen verstanden wird. „Der allgemeine Typus des verbreitenden Handelns ist […] Bildung“.⁶⁰ Der Bildungsbegriff ist für Schleiermacher eine anthropologische und ethische Schlüsselkategorie.⁶¹ Die Bildung bezieht sich auf die Einzelnen, hier geht es um die Formierung von „Gesinnung“ und „Talent“, mit denen diese im Verein mit den anderen Christ*innen am verbreitenden Handeln mitwirken.⁶² Spezifischer für das Thema dieses Beitrages ist die Bedeutung von Ehe und Familie für das verbreitende Handeln. Für Schleiermacher ist völlig unstrittig, dass das Christentum wesentlich durch die Bildung eines christlichen Hausstandes verbreitet wird. Sehr treffend hat Birkner von der Familie als „Elementarsphäre des kirchlichen Lebens“ gesprochen,⁶³ denn zugespitzt heißt es bei Schleiermacher: „Die Familie ist die ursprüngliche Kirche.“⁶⁴ Anders gewendet: Bei
der protestantischen Kirche sind in verschiedenen Gegenden, und auch in der Differenz der beiden evangelischen Confessionen, jedoch so, daß der Confessionsunterschied eigentlich nichts damit zu thun hat, Differenzen in der Construction des Gottesdienstes in dieser Hinsicht vorhanden. In der reformirten Kirche nämlich ist der Gegensatz gegen das katholische, in der lutherischen die Annäherung an dasselbe am stärksten. Aber wir können deshalb nicht sagen, in der lutherischen Kirche sei das Streben nach der Mitte von Anfang an mehr gewesen, sondern es war nur eine […] Behutsamkeit, vom Volke nicht gleich zu viel von dem zu nehmen, woran es gewöhnt war und worin es einen Ausdrukk der Heiligkeit fand“ (Schleiermacher [1884] 1999, 541 [Anm. 15]). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 181, 63 (Anm. 15). Vgl. Arnulf von Scheliha/Jörg Dierken (Hg.), Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, Schleiermacher-Archiv 26, Berlin/Boston 2017. Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 190, 67 (Anm. 15). Birkner 1964, 127 (Anm. 14). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 72, 24 (Anm. 15).
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der Eheschließung, der nur in der Ehe erfolgenden Mitwirkung an der Reproduktion des Menschengeschlechtes und der Erziehung der Kinder im Geiste des Christentums handelt es sich um die elementaren Beiträge der Einzelnen zum verbreitenden Handeln: „Die Geschlechtsgemeinschaft als verbreitendes Handeln angesehen geht auf die Erzeugung vernunftfähiger Individuen“.⁶⁵ Für Schleiermacher stellen der Wille zur Schließung einer lebenslangen Ehe und die Gründung einer Familie so etwas wie eine christliche Pflicht dar.⁶⁶ Andere Lebensformen konnte er sich nicht vorstellen, jedenfalls hat er sie nicht als Teil des verbreitenden Handelns ethisch gewürdigt.⁶⁷ In diesem Kontext begegnet eine konfessionelle Überlegung. Die Ehe gilt als „einfach und unauflöslich“⁶⁸. Schleiermacher ist an diesem Punkt – im Verein mit der ethischen Tradition – rigoros. Ehescheidung ist eigentlich ausgeschlossen. Anders als in der katholischen Kirche fällt die Begründung jedoch nicht sakramentstheologisch aus, sondern ist neutestamentlich, ja jesuanisch verankert.⁶⁹ Die Konzession wird umwegig erzielt, indem Schleiermacher argumentiert: Wenn der Staat durch Gesetz die bürgerliche Ehescheidung erlaubt, dann kann die christliche Sitte nicht das Gegenteil gebieten. Das käme einer Begründung einer Sonder- oder Doppelmoral gleich und würde die christlichen Eheleute gegen die staatlichen Gesetze aufbringen. Daher darf die Kirche Geschiedene nicht mit Sanktionen versehen, sondern wird sie als gleichberechtigte Mitglieder weiter behalten und muss gegebenenfalls einer Wiederverheiratung zustimmen.⁷⁰ Während sich bei der ethischen Bearbeitung des Themas Ehe der protestantischkatholische Gegensatz auswirkt, nähert sich Schleiermacher bei der Erörterung der sittlichen Bedeutung der Taufe der reformierten Tradition an. Dazu muss etwas ausgeholt werden. In seiner Dogmatik Der christliche Glaube kritisiert Schleiermacher ausdrücklich die von Martin Luther herkommende sakramentstheologische Begründung von Taufe und Abendmahl. Den Begriff des Sakramentes weist er ausdrücklich zurück und stellt fest, dass er im Rahmen seiner Glaubenslehre „Taufe und Abendmahl für sich und ohne bestimmte Beziehung auf diesen Namen behandelt“⁷¹, weil durch das gewöhnliche Verfahren, welches diesen […] allgemeinen Begriff voranschikt und erklärt, befestigt sich immer mehr die falsche Meinung, als sei dies ein eigentlich dogmatischer Begriff und sage etwas dem Christenthum wesentliches aus und als erhielten Taufe und
Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 193, 69 (Anm. 15). Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, 354– 364 (Anm. 15). Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, 346 – 348 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 194, 69 (Anm. 15). Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, 340 – 341 (Anm. 15) Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, 349 – 353 (Anm. 15). Friedrich Schleiermacher [21830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, KGA I/13,2, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, § 143 1., 404.
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Abendmahl ihren eigentümlichen Werth vorzüglich dadurch, daß sich dieser Begriff in ihnen realisirt.⁷²
Dies aber könne mit Blick auf die Bedeutungsvielfalt des Begriffs und seine konfessionelle Strittigkeit gerade nicht gelten. Das Gemeinsame von Taufe und Abendmahl besteht für Schleiermacher darin, „daß sie fortgesetzte Wirkungen Christi sind, in Handlungen der Kirche eingehüllt und mit ihnen auf das innigste verbunden, durch welche er seine hohepriesterliche Thätigkeit auf die Einzelnen ausübt, und die Lebensgemeinschaft zwischen ihm und uns […] erhält und fortpflanzt.“⁷³ Als solches Abbild und Fortsetzung eines hohepriesterlichen Amtes stehen Taufe und Abendmahl gleichgewichtig neben den anderen vier wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen der Kirche, durch welche die „wesentlichen Berufsthätigkeiten Christi“⁷⁴ auf die Einzelnen übergehen, nämlich die Heilige Schrift und der Dienst am göttlichen Wort als Abbild und Fortsetzung der prophetischen Tätigkeit Christi sowie das Gebet im Namen Jesu und das Amt der Schlüssel als Abbild und Fortsetzung seiner königlichen Tätigkeit. Die Taufe nun bestimmt Schleiermacher als denjenigen „Willensact“, vermittelst dessen die Kirche „den Einzelnen in ihre Gemeinschaft aufnimmt“⁷⁵. Sie ist der äußere Akt und „Leiter“ für das Geschehen des Glaubens, d. h. „für die rechtfertigende göttliche Thätigkeit, wodurch der Einzelne in die Lebensgemeinschaft Christi aufgenommen wird.“⁷⁶ Die Gestalt dieses äußeren Aktes ist für Schleiermacher hoch variabel und mit Blick auf die intendierte Lebensgemeinschaft mit Christus sogar verzichtbar, wie er am Beispiel von dessen Jüngern deutlich macht. „Denn die persönliche Erwählung Christi muß für sich als ein Akt seines Willens vollkommen hinreichend gewesen sein“⁷⁷. Entscheidend sind die beiden Komponenten, nämlich die „Erwählung Christi“ oder „die Anwendung des göttlichen Rathschlusses der Erlösung auf den Einzelnen“⁷⁸ einerseits und dessen „Versetzung […] in die Gemeinschaft mit Allen schon Gläubigen“⁷⁹ andererseits. Die Taufe als kirchliche Handlung sei später „als allgemeine Anordnung Christi an die Stelle seiner einzelnen persönlichen Erwählung getreten“⁸⁰. Diese erwählungstheologische Relativierung der kirchlichen Taufhandlung dürfte sich reformiertem Erbe verdanken. In soteriologischer Hinsicht skaliert Schleiermacher den initiierenden Charakter der Taufe. Er sieht es als in der Natur der Sache liegend, „daß die Neigung der Kirche
Schleiermacher [1830/31] 2003, 404 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 143 2., 406 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 143 1., 404 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136 Leitsatz, 353 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136 Leitsatz, 353 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136. 2., 356 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136. 2., 356 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136. 2., 356 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136. 2., 356 (Anm. 68).
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zu taufen den innerlichen auf die Wiedergeburt abzwekkenden Wirkungen des Geistes bald voraneilen […] und bald hinter denselben zurükkbleiben“⁸¹ wird. Daraus entwickelt er den Kanon, dass bei festgestelltem Vorliegen von Gnadenwirkungen „die Taufe als Aufnahme in die Gemeinschaft“ unmittelbar zu folgen habe, während umgekehrt „das Vorangehn der Taufe nur zu rechtfertigen [ist] durch den festen […] Glauben, daß nun auch die Wiedergeburt des Aufgenommenen aus den Einwirkungen der Gesammtheit hervorgehen werde“.⁸² Innerhalb dieser Grenzen kann die Taufe zu jedem biographischen Zeitpunkt erfolgen. In diesem Sinne ist auch die Kindertaufe begründbar, sofern in dieser Handlung die Zuversicht ausgedrückt ist, „daß es den von christlichen Eltern gebohrnen Kindern an der Bearbeitung des göttlichen Geistes nicht fehlen könne.“⁸³ Dagegen kritisiert Schleiermacher die Begründung der Kindertaufe in den Bekenntnisschriften der lutherischen Tradition, die er für nicht stichhaltig hält. Die Kindertaufe ergibt sich vielmehr zwanglos aus der Idee der kirchlichen Gemeinschaft, deren Aufgabe es sei, die Menschen an ihrem „äußeren Kreis in Zusammenhang mit dem göttlichen Wort zu bringen, und bis zur Entstehung des Glaubens darin zu erhalten.“⁸⁴ In diesem Sinne sind auch die Kinder christlicher Familien in den „Zusammenhang mit der christlichen Ordnung“⁸⁵ gestellt. Das bei ihrer Taufe zu sprechende Glaubensbekenntnis gilt als der „Zielpunkt […], welches sie erreichen und woran sie sich bewähren muß.“⁸⁶ Dogmatisch markiert die Taufe also den Anfang des christlichen Lebens, den Schleiermacher mit „Rechtfertigung“ und „Wiedergeburt“ begrifflich festhält. Da dieser begrifflichen Genauigkeit ein entsprechend fixiertes Datum im christlichen Leben nicht entspricht, sind die Übergänge fließend und das Ziel der Taufe wird als Ergebnis eines Bildungsgeschehens betrachtet, an dem Kirche und getaufter Christ gleichermaßen beteiligt sind. „In der Taufe als Aufnahme in die christliche Gemeinschaft wird […] die selbsttätige Teilhabe der Einzelnen am Gemeingeist begründet“⁸⁷, deren Ziel im selbstständigen „Bekenntnis des Täuflings“⁸⁸ besteht. Den zuletzt genannten Sachverhalt entfaltet Schleiermacher im Rahmen seiner Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre. Innerhalb des verbreitenden Handelns wird zwischen extensivem und intensivem Handeln der Kirche unterschieden. Letzteres dient der qualitativen Steigerung des christlichen Glaubens von denen, die schon Mitglieder der Kirche sind. Dies geschieht vor allem durch die kirchliche Bildungsarbeit. Schleiermacher versteht Kirche in diesem Zusammenhang vor allem als
Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136. 3., 358 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 136. 3., 358 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 138. 1., 374 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 138. 1., 375 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 138. 1., 375 (Anm. 68). Schleiermacher [1830/31] 2003, § 138. 1., 375 (Anm. 68). Dorothee Schlenke, ‚Geist und Gemeinschaft‘. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin/New York 1999, 423. Schleiermacher [1830/31] 2003, § 137 2., 367.
„Kirchenzucht“?
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„Schule“⁸⁹, die sich als „Predigt“, „Uebung“ und „Unterricht“ realisiert und die Aufgabe hat, die Christen „auf den Punkt der religiösen Mündigkeit zu bringen, und sie dann so weit zu fördern“ hat, „daß sie ein Recht gewinnen zur Mittheilung ihres Urtheils über alles, was die Vervollkommung der christlichen Gesinnung darstellt“⁹⁰. Ziel der Bildungsarbeit sind also die selbstständige Sprachfähigkeit des Glaubens und damit die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme an der religiösen Kommunikation. Das extensive Handeln ist eher quantitativ ausgerichtet und zielt darauf, die Zahl der Christen zu vergrößern. In diesem Kontext steht die Taufe. „Nämlich Taufen ist die Aufnahme in die Gemeinschaft des extensiven Prozesses“⁹¹ der Kirche. Sie ist gebunden an die lehrhafte Mitteilung des Glaubens. Insofern gilt: „Daher beim Wachsen von außen Taufen nach dem Lehren.“⁹² Im volkskirchlichen Kontext gilt bei denen, die in der Kirche bzw. in eine christliche Familie hineingeboren sind, das Umgekehrte. Hier erfolgt der intensive Prozess der Lehre und der Sprachbildung im Anschluss an die Taufe. Dadurch erhält die Taufe einen ethischen Richtungssinn, weil auf das Tauf-Initial der Prozess der lebenslangen Intensivierung folgt, der im Aufbau und in der Festigung der Sprachfähigkeit im Glauben und in der selbsttätigen Mitwirkung an der Glaubenskommunikation besteht. In der Taufe steht daher das ganze christliche Leben zur Disposition. Diese lebensgeschichtlich-ethische Interpretation der Taufe weist voraus in die Interpretation der Taufe im 20. Jahrhundert, bei der sich so unterschiedliche Theologen wie Karl Barth oder Emanuel Hirsch mit ihrer ethischen Interpretation der Taufe in der reformierten Tradition stehend gesehen haben.⁹³ Ein letzter Aspekt, der im Kontext des verbreitenden Handelns womöglich eine Nähe zum reformierten Erbe erkennen lässt, betrifft erneut das Kirchenverständnis. Schleiermacher relativiert nämlich die Bedeutung der Kirche bzw. der Amtskirche beim verbreitenden Handeln in einer bemerkenswerten Weise. Grundsätzlich unterscheidet Schleiermacher zwischen der Kirche als die Gesamtheit der von Christus ausgehenden geschichtlichen Wirkungen des Christentums und den Konfessionskirchen, in denen das Christentum institutionell und kulturrelativ wirklich wird.⁹⁴ Ein äquivalentes Mittelglied findet sich zwischen dem Einzelnen bzw. der Ehe und Familie und der Konfessionskirche. Es ist die „Freundschaft“ als institutionell ungebundener sozialer Ort der Kommunikation im Geist des Christentums. Zwischen den Konfessionskirchen und den Freundschaften stehen „religiöse Gesellschaften“ als vereins-
Schleiermacher [1884] 1999, Beilage A, § 202, 73 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 388 – 389 H. i. O. (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, § 210, 77 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, § 210, 77 (Anm. 15). Vgl. dazu Arnulf von Scheliha, „Die Taufe. Ein Beitrag zur ethischen Interpretation eines dogmatischen Themas“, in: Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth, hg. v. Roderich Barth/Andreas Kubik/Arnulf von Scheliha, Tübingen 2015, 325 – 344. Vgl. dazu Birkner 1964, 110 – 112 (Anm. 14).
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Arnulf von Scheliha
ähnliche Verstetigungen religiöser Freundschaftskultur und „Ordenscorporation“⁹⁵ als besondere Gesellschaften in oder jenseits der Konfessionskirchen.⁹⁶ Man könnte an dieser Stelle insofern ein reformiertes Erbe identifizieren, als Schleiermacher die Bedeutung der einen Kirche zugunsten der basisnahen Selbstorganisation der frommen Gemeinschaft ermäßigt und damit in systematischer Hinsicht seiner kirchengeschichtlichen Einsicht Rechnung trägt, nach der die Reformation nicht allein von Martin Luthers Tat in Wittenberg ausging, sondern als dezentrale und plurale Bewegung verstehen ist.⁹⁷ Schleiermacher sieht die Maßnahmen zur Kirchenverbesserung durch Einzelne an vielen Stellen wirksam, sodass an der Pluralität der reformatorischen Bewegung die Bedeutung der lokalen Selbstorganisation von Kirche sichtbar wird.
4.2 Das reinigende oder wiederherstellende Handeln Mit dem Thema „Reformation“ ist innerhalb der Systematik der Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre bereits der Handlungstyp des reinigenden oder wiederherstellenden Handelns angesprochen. Das Handeln in Richtung „Kirchenverbesserung“ repräsentiert hier geradezu einen eigenen Handlungsstrang, der beschreibt, wie Einzelne in das Gefüge der religiösen Gemeinschaft eingreifen, um Mängel oder Dysfunktionen abzustellen, mit dem Ziel nicht der Kirchenspaltung oder Separation, sondern der Wiederherstellung des Grundsinns des kirchlichen Lebens. Das bezeichnet den sittlichen Ort der ecclesia semper reformanda. Die Reformation ist für Schleiermacher das Paradigma dafür, wie vom Handeln eines oder – mit Blick auf die reformierte Tradition – von einigen Einzelnen die „Wiederherstellung“⁹⁸ der christlichen Gemeinschaft erreicht wird, die im 16. Jahrhundert „vorzüglich auf Rechtfertigung, Abendmahl und Priesterstand“⁹⁹ bezogen war. Dabei besteht die sittliche Voraussetzung darin, dass das Handeln der Reformatoren stets auf das Ganze bezogen ist und öffentlich geschieht. Analoges denkt Schleiermacher im Verhältnis des Einzelnen zum Staat. Auch hier sind Beiträge Einzelner zur Staatsverbesserung denkbar. Der Grundsatz, den Schleiermacher in diesem Kontext verlautet, besagt allerdings, dass „jeder einzelne auf das ganze nur wirken [darf] nach der Form seiner politischen Stellung“.¹⁰⁰ Schleiermacher stellt auf geordnete Verfahren zur Staatsverbesserung ab. Revolutionen oder den „Tyrannenmord […] kann die christliche Sittenlehre nicht anerkennen. Die Bewährung dafür liegt in der Vorschrift, die Obrigkeit als eine göttliche Institution heilig zu
Schleiermacher [1884] 1999, 413 (Anm. 15). Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, 408 – 415 (Anm. 15). Vgl. Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, Tübingen 2015, 353 – 385. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, Einleitung, 104 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, Einleitung, 104 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, § 9, 124 (Anm. 15).
„Kirchenzucht“?
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halten“¹⁰¹. Hier rekurriert Schleiermacher auf den Mainstream reformatorischer Theologie. Dass etwa Calvin im Unterschied zu Luther das Widerstandsrecht etwas weniger eng sieht, wird von Schleiermacher ignoriert.¹⁰² Schleiermacher setzt positiv auf die Unterstützung der „Constitutionstendenz“ seiner Zeit, die ausdrücklich gegen die Restaurationspolitik der sog. Heiligen Allianz der Fürsten nach dem Wiener Kongress gerichtet ist. Er versteht sie – ganz im Sinne seines ekklesiologischen Programms – als „Tendenz, immer mehrere positiven Anteil nehmen zu lassen an den gemeinsamen Angelegenheiten, sodass der Gegensatz des Gebietens und des Gehorchens immer mehr nur ein functioneller wird und immer mehr aufhört ein persönlicher zu sein“.¹⁰³ Die umgekehrte Richtung, d. h. das reinigende Handeln des Staates auf Andere thematisiert Schleiermacher unter den Stichworten „Strafrecht“ und „Völkerrecht“. Hier analysiert er die humanisierenden Wirkungen der christlichen Sitte im Strafrecht, das er unter dem Einfluss des Christentums von der Vergeltungstheorie abgekoppelt sieht. Nachdrücklich plädiert er für eine Abschaffung der Todesstrafe.¹⁰⁴ Analoges gilt für die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Staaten. So baut die christliche Religion ein kosmopolitisch wirksames Ethos von der Gleichheit aller Menschen über die Grenzen der Völker, Staaten und Kulturen auf. Die Möglichkeiten zum bewaffneten Konflikt werden unter dem Einfluss der christlichen Sitte eingeschränkt. Die Verbreitung der christlichen Religion mit Zwangsmitteln wird von Schleiermacher sittlich geächtet.¹⁰⁵ Das reinigende Handeln innerhalb der Familie fällt in die Erziehung, also in das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Hier äußert sich Schleiermacher sehr zurückhaltend. Er beschränkt die häusliche Zucht (also Strafen) im Erziehungsverhältnis auf ihren pädagogischen Sinn. Die im engeren Sinn christliche Erziehung kommt ganz ohne Strafen aus. Schleiermacher sagt: „Wir leugnen, daß Strafe und Belohnung der christlichen Hauszucht angehören“¹⁰⁶. Die Hauszucht darf niemals die Bildung des Gewissens behindern oder die Gewissen belasten. Die christliche Erziehung findet ihr Ziel, wenn der Gehorsam in religiöse Mündigkeit übergegangen ist. Die Beachtung dieses Überganges zieht jeder erzieherischen Handlung mit reinigender Absicht eine Grenze.¹⁰⁷
Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, § 9, 124 (Anm. 15). Immerhin markiert er in der Vorlesung von 1826/27 einen Grenzfall, der „alle Pflichterfüllung unmöglich“ macht, nämlich dort, „wo der Staat mit der Freiheit der Mittheilung alles öffentliche Leben hemmt und wo er seine Bürger zwingen will, bestimmte Aemter anzunehmen oder zu behalten und so positiv mitzuwirken zu demjenigen, was sie eben für eine aufzuhebende Verschlimmerung halten“ (Schleiermacher [1884] 1999, 272 [Anm. 15]). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage D, Anmerkung zu § 75, 190 (Anm. 15). Vgl. dazu Birkner 1964, 132– 133 (Anm. 14). Vgl. dazu Birkner 1964, 133 – 136 (Anm. 14) und Arnulf von Scheliha, „Die Beziehungen der Völker nach Schleiermachers Staatslehre“, Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology 12 (2005), 1– 15. Schleiermacher [1884] 1999, 234 (Anm. 15). Vgl. Schleiermacher [1884] 1999, 232– 241 (Anm. 15).
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Arnulf von Scheliha
Diesen Grenzen verschafft Schleiermacher auch im Rahmen der Kirchenzucht Geltung, dem klassischen Thema der reformierten Tradition. Zunächst erinnert Schleiermacher daran, dass das reinigende oder wiederherstellende Handeln als die Kehrseite des als Bildungsprozess gedachten verbreitenden Handelns anzusehen ist und daher keinen Selbstzweck verfolgt. Daher verwirft er die mittelalterliche Praxis der „Geisselungen und was denselben Typus trägt“¹⁰⁸ sowie das „Fasten“¹⁰⁹. Letzteres kritisiert er vor allem deshalb, weil es zu einer Schwächung der körperlichen Kräfte führt, die dem Christenmenschen die Ausführungen der anderen Handlungsformen sogar erschweren. In dieser Perspektive ist das Fasten, sofern es kirchlicherseits vorgeschrieben wird, sogar unsittlich. Positiv bestimmt Schleiermachers das reinigende Handeln auf den Körper als Gymnastik. Er kombiniert hierbei aristotelische Motive mit Impulsen seines Zeitgenossen „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852) und nimmt die beim Apostel Paulus erkennbare Bewältigung der Realpugnanz von „Geist“ und „Fleisch“ auf. Die körperlichen Übungen dienen dazu, das Eigenleben des „Fleisches“ niederzuringen, den menschlichen Körper von innen heraus zu bestimmen und für die christliche Liebe in den Dienst zu nehmen. Schleiermacher empfiehlt daher die Institution „einer productiven freien Gymnastik auf dem Gebiete der erst mit dem Christenthume gegebenen brüderlichen Liebe“¹¹⁰. Sie dient einerseits dazu, dass jedes Mitglied der Kirche „in den Stand gesezt wird, die am meisten dem Geiste widerstrebenden Richtungen seiner sinnlichen Natur durch Uebungen […] dem Geiste zu unterwerfen“.¹¹¹ Anderseits soll sich der Christ aus der Fülle der gymnastischen Übungen diejenigen herausgreifen, die dasjenige vermitteln, „was ihm die Einseitigkeit seines besonderen Berufes zu ergänzen im Stande ist“¹¹². Freilich kritisiert Schleiermacher in diesem Zusammenhang eine gewissermaßen leerlaufende Athletik, vielmehr soll die Gymnastik das Ziel des christlichen Lebens, die Liebe zu verwirklichen, im Blick behalten. Schleiermacher ersetzt also im Abschnitt über die Kirchenzucht die traditionellen körperlichen Maßnahmen durch die „Gymnastik“. Mit Blick auf Wiederherstellung des Geistes notiert er, dass „die evangelische Kirche vorgeschriebene Gebete als reinigende Uebungen mit Recht abgeschafft“¹¹³ habe, weil die mit den Gebetsformularen verknüpfte Veräußerlichung der Gebetshandlung das innerliche Ziel des reinigenden Handelns, nämlich die Wiederstellung des Geistes, nicht erreicht. Sehr grundsätzlich spricht sich Schleiermacher gegen kirchliche Strafen aus, die etwa durch Beschränkung der „Zulassung zu den Mysterien“¹¹⁴ (also Exkommunikation) erfolgen könnten. Das sei kontraproduktiv, weil es die Bildung einer gefährlichen Doppelmoral beför-
Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B Nr. 1, 105 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B Nr. 2, 105 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 172 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 226 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, 172 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, 107 (Anm. 15). Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, 109 – 110 (Anm. 15).
„Kirchenzucht“?
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dern würde. Insofern bleibt – jenseits der immer möglichen Bildungsprozesse – von der üblicher Weise der reformierten Tradition zugewiesenen „Kirchenzucht“ in diesen Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre nichts übrig.¹¹⁵ Vielmehr fordert Schleiermacher gerade umgekehrt die Teilnahme aller, auf die reinigend gehandelt werden sollte, am Gottesdienst, weil durch das darstellende Handeln selbst diejenige reinigende Kraft zwanglos freigesetzt wird, die durch gezielte Handlungen verfehlt werden kann. Daher gilt: Der Geist im Einzelleben muß […] gestärkt werden durch Mittheilung aus dem Geiste des ganzen. Diese ist wesentlich Cultus, d. h. dem hauptsächlich darstellenden Handeln, welches aber nebenbei belehrend (d. h. verbreitend) und erwekkend (d. h. reinigend) ist. […] Eben so kann sich in Theilnahme an Gesang und liturgischen Gebeten der Geist im einzelnen durch den im ganzen restauriren.¹¹⁶
Insofern laufen am Ende alle Handlungsformen im Handlungstyp des darstellenden Handelns zusammen, das der „Seeligkeit“ Ausdruck gibt und so etwas wie das Integral aller christlichen Handlungsformen ist.
5 Abschluss: Reformierte Ethik? Schleiermachers Christliche Sittenlehre ist hoch originell und, was die kirchliche Ausrichtung angeht, an der Union der Evangelischen Kirchen in Preußen orientiert. Dispositorisch und gedanklich steht sie auf dem Niveau von Aufklärung und Idealismus. Schon architektonisch zeigt sich die kritische Distanz zu den konfessionell geprägten Lehrtraditionen in den Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre wesentlich deutlicher als in der Glaubenslehre, in der jene schon allein durch den lehrtechnischen Rekurs auf die Bekenntnisschriften der Reformationszeit präsenter sind.¹¹⁷ Das reformierte Erbe wird in der Christlichen Sittenlehre sichtbar dort, wo sich – wie bei der Interpretation der Taufe – die Erwählungslehre bei der Beschreibung des sittlichen Lebens bemerkbar macht.¹¹⁸ Ebenso schlägt reformiertes Erbe bei Schleiermachers nicht-episkopalem, vielmehr demokratisch angelegtem Kirchenverständnis durch. Dieser Befund dürfte jedoch nicht ausreichen, um von Schleiermacher als „a Calvinist
Allerdings rechnete man diesen Topos zur Zeit Schleiermachers auch gar nicht spezifisch der reformierten Tradition zu. Vgl. dazu den Beitrag von Simon Gerber in diesem Band. Schleiermacher [1884] 1999, Beilage B, 109 (Anm. 15). Vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989. Dass Schleiermacher diesbezüglich in den Spuren Calvins denkt, hat B. A. Gerrish herausgearbeitet in: Brian A. Gerrish, Tradition and the Modern World: Reformes Theology in the Nineteenth Century, Chicago 1978, 110 – 119.
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Arnulf von Scheliha
of a higher Order“ zu sprechen.¹¹⁹ In Würdigung von Gesamtzuschnitt und Inhalt dieser Vorlesungen sind die spezifischen Einflüsse der reformierten Tradition auf Schleiermachers Rekonstruktion der Christlichen Sittenlehre zwar vorhanden, aber aufs Ganze gesehen arbiträr. Wohl auch deshalb hatte sich Schleiermacher sowohl auf der Ebene des theologischen Begriffs als auch durch sein eigenes Engagement für eine Union der Evangelischen Kirchen in Preußen eingesetzt und darin selbst eine sittliche Aufgabe gesehen.¹²⁰
Das methodische Problem bei den Kriterien, anhand deren Brandt Schleiermachers Vorlesungen über die Christliche Sittenlehre als reformiert erweisen möchte („1. An ethics of response; 2. Comprehensive, including in its scope all areas of human life; 3. Open to and willing to appropriate for its own purposes insights from nontheological sources of knowledge; 4. Aimed at the transformation of society; and 5. Part of an ongoing, developing tradition“, vgl. Brandt 2001, 137– 138 [Anm. 1]), besteht darin, dass nicht darlegt wird, inwiefern sie nicht auch Motive und Ziele einer lutherischen Ethik sein können. Auch in theologiegeschichtlicher Hinsicht werden sie von Brandt nicht zurückgebunden an das, was man zur Zeit Schleiermachers unter Reformierter Ethik verstand (vgl. dazu den Beitrag von Simon Gerber in diesem Band). Schließlich krankt Brandts instruktive und bündige Darstellung der zeitkritischen Aspekte, die Schleiermacher mit den Handlungstypen der christlichen Sitte verbindet, daran, dass mit seinem deutenden Stichwort dieser Kritik „as prophetic critique“ die Nähe zur reformierten Tradition semantisch zwar suggeriert wird (vgl. Brandt 2001, 118 – 124 [Anm. 1]), aber Schleiermacher diesen Term gerade nicht benutzt hat. Vgl. Martin Ohst, „Die Preußische Union und ihre politische Bedeutung“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg. v. Andreas Arndt/Ulrich Barth/Wilhelm Gräb, Berlin/New York 2008, 165 – 180, hier bes. 177– 179.
Karl Tetzlaff
Minderheiten in der Kirche
Schleiermachers „Princip der Oeffentlichkeit“ als Plädoyer für eine christliche Diskussionskultur Wer von Minderheiten redet, muss auch über Mehrheiten sprechen. Beide Begriffe gibt es nicht ohne einander. Sie setzen sich wechselseitig voraus. Auf den ersten Blick ist ihr Verhältnis durch quantitative Gesichtspunkte bestimmt. Doch wo der Gegensatz von Mehrheit und Minderheit aufbricht, sind zumeist normative Werturteile im Spiel. Da wird die Wahrheit ungeprüft auf der Seite der Vielen verbucht oder die Wenigen betrachten sich als der unwissenden Masse gegenüberstehende Gruppe von Auserwählten. Damit geht immer auch eine Abwertung der anderen, vermeintlich gegenüberstehenden Seite einher. Kein Bereich gesellschaftlichen Lebens ist von solchen Konfrontationen frei, insbesondere nicht das Feld des Religiösen. Dass aber das Christentum Potenziale bereithält, um dieses Konfliktverhältnis zwischen Minderheiten und Mehrheiten einer allerseits gewinnbringenden Dialogsituation weichen zu lassen – diese Überzeugung lässt sich bei Friedrich Schleiermacher finden. In meinem Beitrag will ich dem nachgehen. Dabei widme ich mich zunächst Schleiermachers eigener Minderheitenbiografie (1.), werfe dann einen Blick in einschlägige Passagen seiner Christlichen Sittenlehre (2.) und beziehe seinen Ansatz schließlich auf eine gegenwärtig virulente Konfliktlage (3.).
1 Schleiermachers Minderheitenbiografie Der Minderheitenstatus war Friedrich Schleiermacher in die Wiege gelegt.¹ Als Spross einer weitverzweigten reformierten Predigerdynastie wuchs er im mehrheitlich von Lutheranern bevölkerten Preußen auf. Wie frustrierend sich diese Randstellung bisweilen auswirken konnte, erfuhr Schleiermacher während seines zweijährigen Dienstes als „Hofprediger[] (ohne Hof)“² im hinterpommerschen Städtchen Stolp: „Von den lutherischen Predigern […] sind [alle] sehr beschäftigt […]. Der reformierte Prediger hingegen ist, wenn er seine sonntägliche Predigt und seine zwei Catechisationsstunden wöchentlich abgehalten und seine Schule besucht hat, ganz Herr seiner Zeit, das heißt, diese Zeit ist für das gemeinsame Wesen verlohren und wird ihm selbst Vgl. für die folgenden Ausführungen zu Schleiermachers Biografie und zur brandenburgischpreußischen Geschichte: Hans-Joachim Birkner, „Friedrich Schleiermacher“, in: Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 9,1: Die neueste Zeit I, hg. v. Martin Greschat, Stuttgart u. a. 1985, 87– 115; Rudolf von Thadden, „Schleiermacher und Preußen“, in: Ders., Weltliche Kirchengeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, 117– 125; Rudolf von Thadden, Eine preußische Kirchengeschichte, Göttingen 2013; Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, München 2007, 144– 177. Birkner 1985, 97 (Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783110608656-013
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zur Last.“³ Nichts anders nämlich bleibt ihm „übrig, als mit dem kleinen Gärtchen, mit einer ziemlich unnützen Leserey von Journalen oder mit anderen geringfügigen Beschäftigungen die Zeit hinzubringen, und wenn die lutherischen Collegen ihn um seine Muße beneiden, zu seufzen; sey es nun, weil er sich seiner Langenweile bewußt ist, oder weil es ihm leid thut, die Zeit nicht würdiger benutzen zu können.“⁴ Doch so nutzlos und marginalisiert sich mancher Landgeistliche auch vorkam: die Reformierten stellten in Preußen nicht nur die Minderheitskonfession dar, sie saßen auch im Zentrum der Macht. Seitdem Kurfürst Johann Sigismund am Weihnachtstag 1613 ein karges Abendmahl nach calvinistischem Ritus eingenommen hatte, war das brandenburgische, später preußische Herrscherhaus reformierten Glaubens. Da alle folgenden Versuche scheiterten, die Konversion des Monarchen zu einer das ganze Territorium betreffenden „zweiten Reformation“⁵ auszuweiten, blieb sie jedoch auf das Umfeld des Hofes beschränkt. In dieser spannungsvollen Konstellation, da sich die regierenden Hohenzollern dauerhaft mit einem zahlenmäßig überlegenen Luthertum konfrontiert sahen, liegt ein gewichtiger Grund für deren Offenheit gegenüber bedrängten Minderheiten aus anderen Territorien. Dabei galt die Hauptaufmerksamkeit einerseits den anderswo verfolgten reformierten Glaubensgeschwistern, auch um die eigene Konfession zahlenmäßig zu stärken – man denke nur an die durch das Edikt von Potsdam 1685 ermöglichte Ansiedlung der Hugenotten. Andererseits waren die Hohenzollern interessiert an „aktive[n], erneuerungswillige[n] Kräfte[n], die die Auseinandersetzung mit selbstzufriedenen Erscheinungsformen des territorial dominierenden Luthertums aufnahmen“.⁶ Aus diesem Anliegen erwuchs ihr enges Bündnis mit dem überkonfessionell ausgerichteten Pietismus, der ab den 1690er Jahren in verschiedenerlei Gestalt Zuflucht auf brandenburgischpreußischem Boden fand. Von hier erfuhr Schleiermachers religiöse Minderheitenidentität ihre andere entscheidende Prägung. Sie ging von seinem Vater Gottlieb Schleiermacher aus, der im Kontext einer radikal-pietistischen Endzeitsekte – der Zionsgemeinde in Ronsdorf ⁷ – aufgewachsen war und nach Jahren voller Glaubenszweifel mit 50 die Frömmigkeit der Herrnhuter Brüdergemeine für sich entdeckte. Diese war 1742, nachdem man ihren Gründer Graf Zinzendorf aus Sachsen ausgewiesen hatte, als vierte Konfession neben Lutherischen, Reformierten und Katholiken
Friedrich Schleiermacher [1804], Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, KGA I/4, hg. v. Eilert Herms/Günter Meckenstock/Michael Pietsch, Berlin/New York 2002, 359 – 460, hier 383. In diese kirchenpolitische Schrift Schleiermachers sind ziemlich direkt Erfahrungen der Stolper Zeit eingegangen (Vgl. Birkner 1985, 98 [Anm. 1]). Schleiermacher 2002, 384 (Anm. 3). Vgl. zu diesem umstrittenen Themenkomplex: Rudolf von Thadden, „Die Fortsetzung des ‚Reformationswerks‘ in Brandenburg-Preußen“, in: Ders., Weltliche Kirchengeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, 90 – 106. Thadden 1989, 118 (Anm. 1). Vgl. zu dieser pietistischen Gruppierung: Johannes Wallmann, Der Pietismus, KIG 4, Göttingen 1990, 108.
Minderheiten in der Kirche
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vom preußischen Staat offiziell anerkannt worden.⁸ Ihrer Ursprungsidee zufolge sollte die Herrnhuter Brüdergemeine aber eine überkonfessionelle Gemeinschaft gegenseitiger Liebe sein; mährische und schlesische Glaubensflüchtlinge, „dazu Pietisten, Separatisten, Lutheraner und Reformierte aus verschiedenen Teilen Deutschlands“⁹ bildeten ihre Gründungsgeneration. Friedrich Schleiermacher, der als 14-Jähriger samt seiner Geschwister in die Obhut brüdergemeinlicher Bildungseinrichtungen gegeben wurde, floh schließlich als Theologiestudent aus der geistigen Enge des Barbyer Seminarums, um sich in Halle der Aufklärungstheologie zuzuwenden. Den selbsternannten „Herrnhuter […] von einer höheren Ordnung“¹⁰ hat die besondere Eigenart der pietistischen Minderheitenkirche dennoch geprägt: Neben ihrer betonten Jesusfrömmigkeit ist dabei vor allem an eine religiöse Praxis zu denken, die Innerlichkeit und Geselligkeit nicht gegeneinander ausspielt.¹¹ Ein Beispiel dafür gibt die dritte der Reden Über die Religion, wo Schleiermacher auf sein Ideal einer „wahren Kirche“¹² zu sprechen kommt. In dieser sind nicht „[k]nechtische Aufopferung des Eigentümlichen und Freien, geistloser Mechanismus und leere Gebräuche“¹³ zu vollziehen und herrscht keine „tyrannische Aristokratie“¹⁴ von Priestern. Vielmehr gilt: „Jeder ist Priester“ und „jeder ist Laie“¹⁵, indem alle in den Stand versetzt werden, den Anderen ihr religiöses Ergriffensein zur wechselseitigen inneren Erbauung mitzuteilen. Einschränkend aber stellt Schleiermacher mit deutlichem Bezug auf die Brüdergemeine fest: „Vielleicht ist […] nur in einzelnen abgesonderten, von der großen Kirche gleichsam ausgeschlossenen Gemeinheiten etwas Ähnliches in einem bestimmten Raum zusammengedrängt zu finden“.¹⁶ Dass von solchen Minderheitengruppen jedoch eine Wirkung ausgehen kann, die das Ganze der Kirche verändert, hat Schleiermacher erst später in seinen Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre ausgeführt. Diese sollen nun zu Wort kommen.
Vgl. zur Geschichte der Herrnhuter: Wallmann 1990, 108 – 123 (Anm. 7). Wallmann 1990, 113 (Anm. 7). Friedrich Schleiermacher, Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 1, Berlin 1858 (Nachdruck Berlin/New York 1964), 295. Vgl. Ulrich Barth, „Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm“, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259 – 289, hier 266 – 267. Friedrich Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. Rudolf Otto, Göttingen 71967, 135 [191]. In eckigen Klammern finden sich die Seitenzahlen der Originalausgabe. Schleiermacher 1967, 126 [176] (Anm. 12). Schleiermacher 1967, 131 [184]. (Anm. 12). Schleiermacher 1967, 131 [184]. (Anm. 12). Schleiermacher 1967, 135 [192]. Vgl. zur Deutung der Stelle als „Gruß an die Brüdergemeine“: Birkner 1985, 93 (Anm.1).
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2 Minderheiten, Mehrheiten und das „Princip der Oeffentlichkeit“ Schleiermacher wirft in seiner Christlichen Sittenlehre einen kritischen Blick auf den im Verlauf der Christentumsgeschichte beobachtbaren Umgang mit Minderheiten, der ihm stark ausbaufähig erscheint. Sein Paradebeispiel hierfür sind die Konzilien, die stets „durch Stimmenmehrheit entschieden, was gelten sollte“ und damit „den natürlichen Prozeß“ abbrachen, „durch den allein die Wahrheit und die lebendige Ueberzeugung von der Wahrheit herrschend werden kann“: „die Discussion“.¹⁷ Das vorzeitige Ende des freien Meinungsstreits zugunsten der als orthodox betrachteten Mehrheitsposition hat demnach zu keiner Zeit Einheit gestiftet. Vielmehr ist dadurch „die Kraft der Ueberzeugung, die in der Minorität war, […] nie gebrochen worden“ (214), was zu mannigfachen Spaltungen geführt hat.¹⁸ Diesen Ausgang, den „[v]iele der alten Häresien“ (133) genommen haben, beurteilt er auf dem Hintergrund des christlichen Ethos abschlägig: „[D]enn ist, wie dieses sein muß wo sittlich zu Werke gegangen wird, die Discussion immer mitgesezt: so ist ja Gemeinschaft gesezt; Spaltung wäre Abbrechen der Discussion und somit unsittlich“ (216). Gemeinschaft ist in diesem Zitat das entscheidende Stichwort. So ist es für Schleiermachers Christliche Sittenlehre spezifisch, „[a]lles christliche Handeln […] als Handeln der Gemeinschaft, als Handeln der Kirche“ zu verstehen.¹⁹ Der Einzelne wird nicht isoliert für sich zum Thema, sondern nur „in der Identität mit dem Gesamtleben“, das Träger des göttlichen Geistes ist (185).²⁰ Doch soll diese „unbedingte Vor-
Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, neu hg. und eingel. v. Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1999 (Nachdr. der 2. Aufl. Berlin 1884), 214 (Vorl. 1826/27). Die Seitenzahlen im Fließtext beziehen sich auf diese Ausgabe. Von Schleiermacher gesetzte Hervorhebungen wurden in den wörtlichen Zitaten getilgt. Die Kritik am Mehrheitsprinzip der Konzilien hat Schleiermacher auch an anderer Stelle erhoben. So schreibt er im Dezember 1826 an Delbrück: „[A]uch ich liebe in der Kirche eine Vornicäische Denkart, und wünsche, daß man zu derselben zurückgekehrt wäre, oder es noch thäte: denn es scheinen sich jetzt günstige Gelegenheiten dazu zu eröffnen. Die Nicäische Denkart nämlich ist diese, an Bestimmungen binden – d. h. die Kirche danach öffnen und schließen zu wollen – welche im Streit die Majorität gehabt haben, da doch in diesen Dingen der Streit, wenn er einmal entstanden ist, als ein unendlicher gesetzt werden muß, und jede Majorität nur momentan ist.“ (Ferdinand Delbrück, Der verewigte Schleiermacher. Ein Beytrag zu gerechter Wuerdigung desselben, Bonn 1937, 19 – 20). Auch in seinen Vorlesungen zur Kirchengeschichte hebt Schleiermacher die Mangelhaftigkeit konziliarer Beschlussfindung heraus, wie Simon Gerber darlegt: „Die Majorität zwingt der Minderheit ihren Willen auf und tut die, die sich nicht fügen, in den Bann.“ (Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, Tübingen 2015, BHTh 177, 257). Vgl. Schleiermacher 1999, 133 – 134 (Anm. 17). Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 94. Vgl. Birkner 1964, 93 – 97 (Anm. 19).
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ordnung der Gemeinschaft […] nicht kollektivistisch“²¹ verstanden werden, was sich eben daran zeigt, wie Schleiermacher mit dem historischen Auftreten von Positionen umgeht, die sich der kirchlichen Mehrheit selbstbewusst gegenüberstellen. In solchen Erscheinungen sieht er nicht per se einen asozialen Selbstbehauptungsdrang oder eine häretische Verirrung obwalten. Stattdessen rechnet Schleiermacher mit dem Fall, dass „sich der Geist des Ganzen gleichsam im Einzelnen oder in der Minderheit“ konzentriert, weil diese im Gegensatz zur Mehrheit „um einen aufzuhebenden Rückschritt oder einen möglichen Fortschritt“²² wissen. Idealerweise wird deren Anliegen schließlich in den Lebensvollzug der Kirche aufgenommen oder aber als irrtümlich erwiesen.²³ Ob ein solcher Fall auftreten kann, dürfte, so Schleiermacher, „für uns, die wir evangelische Christen sind, keine Frage sein“: „Denn woher stammt unsere evangelische Kirche?“ (121). Ihr liegt, wie er deutlich macht, das Bestreben Einzelner, der Reformatoren, zugrunde, die von starken Regressionstendenzen befallene Kirche durch „Rückkehr zu der ursprünglichen Lehre von der Rechtfertigung, zu der ursprünglichen Feier des Abendmahls und zu der ursprünglichen Auffassung des Verhältnisses der Geistigen und der Laien“ zu verbessern (138 – 139). Das letztendliche Resultat der Kirchenspaltung ist „nur von Rom […] ausgegangen und Luthern aufgedrungen“, war aber nicht von vornherein intendiert (138). Wäre es anders zu beurteilen, müsste Schleiermacher die Reformation als unsittlichen Vorgang brandmarken. Nur nämlich wenn das kirchenverbessernde Handeln der Minderheit sich zur Gemeinschaft nicht in absoluten Gegensatz setzt, sondern wirklich darauf zielt, schließlich wieder in ihr aufzugehen, ist es legitim.²⁴ Mit dem Kirchenganzen in Verbindung aber bleibt nach Schleiermacher einzig, wer bei der Verwirklichung seines Reformanliegens dem „Princip der Oeffentlichkeit“ folgt.²⁵ Dies bedeutet nun nicht, dass „jeder mit allen seinen Gedanken, so wie er nun überzeugt ist, es sei ein wiederherstellendes Princip in ihnen, auch gleich ins ganze hinaustreten [muss] auf dem Wege der unbeschränkten Mittheilung“ (193). Schleiermacher räumt dem Einzelnen eine Phase der inneren Sammlung ein und ist sich zudem bewusst, dass dieser sich angesichts der Übermacht des Ganzen zunächst eine Gemeinschaft von Gewährsleuten sucht.²⁶ Doch insistiert er darauf, sittlicher Weise dürfe die angestrebte Veränderung weder nur bei sich selbst vollzogen werden noch die gleichgesinnte Gruppe „ein Gesammtleben unter sich“ ausbilden, „ohne mit demselben auf das ganze zu wirken“ (186). Auch das Argument, es brauche noch Zeit,
Birkner 1964, 95 (Anm. 19). Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, BHTh 77, Tübingen 1989, 100. Vgl. zur folgenden Darstellung auch die Passagen: 36 – 49.98 – 101. Ohst 1989, 100 (Anm. 22). Vgl. u. a. Schleiermacher 1999, 183 – 184 (Anm. 17). Vgl. zum „Princip der Oeffentlichkeit“ insgesamt: Schleiermacher 1999, 186 – 197 (Anm. 17). Vgl. auch Ohst 1989, 48 (Anm. 22): „Über die Sittlichkeit entscheidet allein der Wille zur Öffentlichkeit.“ Vgl. Schleiermacher 1999, 184– 186.190 – 195 (Anm. 17).
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weil „der tüchtigen einzelne noch nicht genug wären, um mit Erfolg auf das ganze einzuwirken“ (193), lehnt er ab: „Feigheit also ist es und nichts als Feigheit, mit einem sittlichen Handeln eher inne zu halten, als bis eine Wirkung auf das ganze nach allen Seiten hin versucht und die dem Handeln zum Grunde liegende Idee vollständig erschöpft ist“ (186). Schleiermachers Kritik am selbstgewählten Separatismus von Minderheiten verpflichtet sie auf eine Praxis „größtmöglicher Oeffentlichkeit“ (188): Sie sollen keinen privatistischen Interessen folgen und sich im Bezug auf das gemeinschaftliche Ganze, d. h. kommunikativ, zur Geltung zu bringen versuchen.²⁷ Christus selbst verkörpert den Idealtyp eines solchen Handelns, das erlösend und gemeinschaftsstiftend zugleich ist.²⁸ Wie bereits am Beispiel der Konzilien hervorgehoben, bedarf es dafür aber einer entsprechenden innerkirchlichen Diskussionskultur. Im Blick auf die Gemeinschaft bedeutet Schleiermachers „Princip der Oeffentlichkeit […], daß […] eine Wirklichkeit herrschend sei, welche die vollkommenste gegenseitige Mittheilung möglich macht“ (189) und die Minderheitsmeinungen nicht ausgrenzt. In der Entstehung kirchlicher Institutionen vermag er eine dem Christentum wesentliche „Tendenz […] zur größten Oeffentlichkeit“ zu entdecken, aus der aber ein potenziell gegenläufiger Trend zur „Assimilation“ differierender Auffassungen von Lehre und Leben entspringt (187– 188). Dieses Spannungsverhältnis hatte in seinen Augen „[d]ie römische Kirche“ zur Zeit der Reformation längst aufgelöst und „gesagt, Sobald die Assimilation zu Stande gekommen ist, bedarf es der Oeffentlichkeit nicht mehr“ (188). Lag die Repräsentation des ganzen einmal ausschließlich in päpstlich-klerikaler Hand, konnte sie nicht mehr auf andere übergehen. Mit seiner Hochschätzung des Prinzips Öffentlichkeit gibt Schleiermacher nach eigenem Bekunden zu erkennen, „daß unsere Darstellung wesentlich protestantisch ist“, da der „Gang unsere[r] evangelische[n] Kirche […] von Anfang an […] zeigt […], daß sie sich sofort des größten Mittels der Oeffentlichkeit, nämlich der Druckerpresse, mit der größten Energie bedient hat“ (188). Doch redet die Forderung nach Öffentlichkeit keiner protestantische Folklore das Wort. „[W]ir können“ vielmehr, so Schleiermacher, „nur für recht halten, daß jeder einzelne sich aus einer Kirche flüchte, in welcher das Princip der Oeffentlichkeit durchaus gehemmt ist, weil in einer solchen, da kein Mittel mehr sein könnte, rükkschreitende Bewegungen aufzuheben, alle Irrthümer permanent wären“ (188). Auch gesamtgesellschaftlich bringt er eine immense Bedeutung dieses Publizitätsideals in Anschlag: So soll überall „das Princip der Oeffentlichkeit stets unangestastet bleiben“, indem „Aeußerungen einzelner, die eine Reinigung des ganzen zum Zwecke haben, gleichviel ob sie wahr sind oder irrig, […] in der Gesammtheit frei erörtert und nur auf dem Wege der lebendigen Ueberzeugung zum Ziele geführt oder beigelegt“ werden.“ (189) Schleiermacher hat desweiteren ausgeführt, wie er sich die mit dem „Princip der Oeffentlichkeit“ verbundene Diskussionskultur genauer vorstellt. Deren Grundsatz
Vgl. Schleiermacher 1999, 186 – 189 (Anm. 17). Vgl. Schleiermacher 1999, 121. 210 (Vorles. 1826/27) (Anm. 17).
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lautet: „Wo nun entgegengesezte Ansichten gegen einander auftreten, da ist es eine nothwendige Regel, daß sich jeder Theil nach Möglichkeit in die Stelle des anderen zu versezen suche, um ihm sein volles Recht widerfahren zu lassen“ (212– 213). Diese wechselseitige Perspektivenübernahme aber ist nur möglich, wenn niemand der Beteiligten seine Überzeugung absolut setzt. Für Schleiermacher gilt ohnehin: „[W]er behauptet, er sei in irgend einer Beziehung absolut überzeugt, der wird entweder irgend wie beschränkt sein, oder den Gegenstand noch gar nicht von allen Seiten angeschaut haben“ (190). Innerhalb einer Diskussion aber ist es angezeigt, „des anderen Gründe willig an[zu]hören, [zu] prüfen und mit den seinigen [zu] vergleichen“ (213). Dies bedeutet eben auch, sich dem Anderen in gewissem Maße anzugleichen und zu sich selbst in reflexive Distanz zu gehen. Insbesondere in christlichen Dingen ist diese Praxis der Selbstbescheidung für Schleiermacher unumgänglich: „Nur Christus konnte und mußte seine Ueberzeugung absolut sezen; denn er sollte alle menschlichen Verhältnisse regulieren“ (213) – ein Allgemeinheitsanspruch der ansonsten uneinlösbar ist. Für alle Anderen ist deshalb ein wahrhaft absolutes Überzeugtsein nur im Modus unendlicher Annäherung erschwinglich und muss sich mithin am „ursprünglich christliche[n], wie es in der Schrift vorliegt“ ausweisen (213). Schleiermacher denkt hier nicht nur an den Fall, dass eine Überzeugung sich als durch die Schrift widerlegt erfährt, sondern auch an das Auftreten mehrerer möglicher Auslegungsweisen. Es ist unabdingbar, schreibt er, dass einer „in dem Maaße seine Ueberzeugung herabstimmt, wie er sieht, daß auch der Gegner seine Ueberzeugung aus der Schrift ableiten kann“ (213). Für Schleiermacher ist dieses Verzichten auf Absolutheitsansprüche kein Ausdruck relativistischer Unentschiedenheit, sondern einer entschiedenen Haltung, von der bereits im Neuen Testament die Rede ist. Mit Bezug auf Eph 4,15 spricht er vom „Wahrhaftigsein in der Liebe“, an der es jedem fehlt, der sich als Gesprächsverweigerer betätigt: „Eine völlige Abgeschlossenheit in sich und Gleichgültigkeit gegen die Ueberzeugung anderer ist Mangel an Liebe; und auftreten als hätte man absolute Ueberzeugungen ist geistlicher Hochmuth, ein Sich Christo gleich stellen, und in sofern auch Mangel an Liebe, als man dadurch die Basis der Gleichheit mit dem Gegner aufhebt“ (213 – 214).
3 Schluss: Jenseits von Mehrheiten und Minderheiten Mehrheit, so können wir von Schleiermacher lernen, ist nicht gleich Wahrheit. Ebenso wenig aber hat recht, wer es sich in der eigenen Minderheitenposition gemütlich macht. Gemäß dem „Princip der Oeffentlichkeit“ soll bei differenten Vorstellungen über den Gang des Ganzen vielmehr ein alle einschließender Meinungsaustausch stattfinden, der neue Gemeinsamkeit zu begründen vermag. Davon ist diese unsere Gesellschaft im Jahr 2018 weiter entfernt als es die 250 Jahre seit Schleiermachers Geburt rechtfertigen könnten. Die Stimmungslage scheint rettungslos polarisiert.
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Dabei signalisieren die Schlachtrufe der Extrempositionen „Wir sind das Volk“ und „Wir sind mehr“, dass es vielen ausreicht, sich auf der Seite der Mehrheit zu wähnen. Dass der deutsche Gegenwartsprotestantismus sich in diese gesellschaftlichen Antagonismen nicht nur hineinziehen lässt, sondern ausdrücklich hineinstellt, ist unter dem Stichwort „Moralisierung des Glaubens“ in jüngster Zeit häufiger kritisiert worden.²⁹ Berechtigterweise darf gefragt werden, ob es die vorrangige Aufgabe kirchlichen Handelns sein kann, politische Praxisanweisungen zu formulieren, die den Eindruck von Eindeutigkeit vermitteln. Verheerend ist dieser Eindruck, weil er diejenigen aus dem dabei fälschlicherweise in Anspruch genommenen „christlichen Konsens“ ausschließt, die andere politische Optionen für plausibler halten. Das daraus hervorgehende Minderheitenbewusstsein wird dann zum Kapital für Zeitgenossen, die gegenwärtig eine quasidiktatorische Beschneidung der Meinungsfreiheit meinen diagnostizieren zu müssen. Schleiermachers über kirchliche Bezüge hinausgehendes Plädoyer für eine Öffentlichkeit, in der keine Meinungen von der größeren Gruppierung durchgedrückt werden, sondern ein ergebnisoffenes Gespräch gepflegt wird, findet hier einen potenziellen Resonanzraum. Wenigstens der Bereich institutionalisierter Religion sollte dementsprechend vom Kampf um Mehrheiten ausgenommen werden und einen Ort bieten, an dem das „Wahrhaftigsein in der Liebe“ praktiziert wird. Das wechselseitige Ablassen von Absolutheitsansprüchen im Sicheinlassen auf die Perspektive des Anderen mag zur Veränderung eingefahrener Sichtweisen führen. Aber es zielt nicht per se auf die im politischen Bereich unabdingbare Konsens- bzw. Kompromissbildung. In Schleiermachers Sicht kann es genauso gut zum Stehenbleiben differierender Positionen kommen, die sich aber kommunikativ ihres gemeinsamen Grundes bewusst geworden sind. Wo miteinander geredet wird, da ist auch Gemeinschaft – jenseits von Mehrheiten und Minderheiten.
Vgl. etwa Hans Joas, Kirche als Moralagentur?, München 2016; Ulrich H.J. Körtner, Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, Leipzig 22017; Klaus-Rüdiger Mai, Geht der Kirche der Glaube aus? Eine Streitschrift, Leipzig 2018. Eine unaufgeregtere, analytische Perspektive nehmen ein: Claas Cordemann/Gundolf Holfert, Moral ohne Bekenntnis? Zur Debatte um Kirche als zivilreligiöse Moralagentur. Dokumentation der XVII. Konsultation Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie, Leipzig 2017.
Ekklesiologische Fragestellungen
Simon Gerber
Wie reformiert ist Schleiermachers Kirchengeschichte? 1 Gibt es, und wenn ja, was wäre eine reformierte Kirchengeschichte? „Der Lehrer der Kirchengeschichte muß den Thatsachen treu bleiben, und wäre ein schlechter Lehrer, wenn er sie zum Behuf irgend einer Confession entstellte.“ So schrieb Friedrich Schleiermacher, damals reformierter Hofprediger in Stolp in Hinterpommern, in seinen unvorgreiflichen Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens vor allem im preußischen Staat.¹ Die bisher geübte organisatorische Trennung des protestantischen Kirchenwesens nach Konfessionen sei ineffektiv und durch die Unterschiede, die es tatsächlich gebe und auch geben dürfe, gar nicht gerechtfertigt. Was die theologischen Lehrstühle an den Universitäten betreffe, so sei deren Differenzierung nach Konfessionen für die Dogmatik noch sinnvoll, für die exegetischen Fächer aber und für die Kirchengeschichte gebe es gar kein lutherisches oder reformiertes Profil, sondern bloß historische und philologische Forschung und Lehre. Wenn das so ist, dann erübrigt sich die Frage, inwiefern Schleiermacher später die Kirchengeschichte als dezidiert reformierter Theologe betrieben hat; nach seinen eigenen Maßstäben vertrüge die Kirchengeschichte als Disziplin eine solche Herangehensweise gar nicht. Als Schleiermacher 17 Jahre später, im Winter 1821/22, zum ersten Mal selbst ein Kompendium der Kirchengeschichte las, hörte sich das allerdings schon anders an: Es sei nicht so, dass die historischen Fakten für sich feststünden und sich einer erst anhand ihrer sein Urteil und seinen Glauben bilde, sondern im Gegenteil hänge die Geschichtsanschauung immer am Glauben, und eine unumstrittene Kirchengeschichte könne es erst an deren Ziel geben, wenn alle Gegensätze aufgehört hätten und der Glaube zum Schauen übergegangen sei.² Was ist dann Schleiermachers eigenes Glaubensbekenntnis, mit dem er an die Kirchengeschichte herantritt und sie organisiert? Ist es die Confessio Sigismundi von 1614, auf die er im Jahr 1794 ordiniert worden war, wenn auch, wie alle reformierten Kandidaten, mit dem Vorbehalt: soweit
[Friedrich Schleiermacher,] Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, 67 (Friedrich Schleiermacher, Schriften aus der Stolper Zeit 1802 – 1804, hg. v. Eilert Herms/Günter Meckenstock/Michael Pietsch, Kritische Gesamtausgabe [KGA] I/4, Berlin/New York 2002, 401) Friedrich Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, hg. v. Simon Gerber, KGA II/6, Berlin/New York 2006, 471– 473) https://doi.org/10.1515/9783110608656-014
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sie mit der Schrift und den kurfürstlichen und königlichen Religionsedikten übereinstimme?³ Die ist es nicht; vielmehr bekennt sich Schleiermacher zu zweierlei. Das eine ist die religiöse Originalität Christi; Christus sei nicht der Fortsetzer oder Vervollkommner des Alten Testaments oder Judentums oder der allgemeinmenschlichen Weisheit, sondern er habe etwas Neues angefangen, und erst damit begönnen Christentum und christliche Kirche. Das andere ist die universale Bestimmung des Christentums. Die Kirchengeschichte beschreibt also, wie sich das, was in Christus neu war, allmählich über die ganze Menschheit verbreitet und zur Grundlage einer alle umfassenden Lebensgemeinschaft wird, und zeigt damit das Christentum als eine lebendige, in der Geschichte wirksame Idee und Kraft (so wie die Exegese es als apostolisches Kerygma, die Dogmatik als System christlicher Vorstellungen und Glaubenssätze und die Sittenlehre als Handeln in den verschiedenen ethischen Sphären zeigt).⁴ Das ist alles freilich noch nicht spezifisch Reformiertes. Zu den Aufgaben der Kirchengeschichte und der Geschichtskunde überhaupt gehört nun aber, neben dieser mehr beschaulichen Seite, der Anschauung des Christentums als eines lebendigen Prinzips in der Geschichte, auch noch eine mehr praktische Seite, nämlich die wichtigsten Umstände der jeweiligen Gegenwart in die Vergangenheit zurückzuverfolgen und sie so in ihrer Genese kennen und verstehen zu lernen. Dadurch wird nicht zuletzt die Klarheit darüber gewonnen, was aus dem echt christlichen Prinzip hervorgegangen ist und was vielleicht aus fremden Prinzipien in das kirchliche Leben eingedrungen ist.⁵ Wenn es aber so ist, dass bei der Betrachtung der Geschichte angeschaute Vergangenheit und anschauende Gegenwart einander wechselseitig auslegen, dass also erst die Vergangenheit die eigene Gegenwart verstehen lehrt, dass umgekehrt das Wissen, was bis in die Gegenwart wie weitergewirkt hat, Vergangenes beurteilen lehrt und dass die Anschauung immer vom Betrachter abhängt, seinem Glauben und seinem Bedürfnis, sich selbst besser zu verstehen, dann ist für die Frage, wie reformiert Schleiermachers Kirchengeschichte ist, doch nicht obsolet. Zunächst ist interessant, wie Schleiermacher Ursprung und Verlauf der Reformation (und damit die Entstehung der verschiedenen protestantischen Partialkirchen einschließlich der eigenen) beschreibt (Abschnitt 2), und sodann, wie er ältere dogmatische und praktische Fragen beurteilt, an denen der reformierte Protestantismus einmal sein Profil herausbilden sollte (Abschnitt 3). Schließlich aber kann man noch fragen, welchen Kirchenbegriff Schleiermacher eigentlich seiner Kirchengeschichte zugrunde legt (Abschnitt 4).
Vgl. Erich Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, Bd. 1, Tübingen 1905, 51– 55 Vgl. Simon Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, BHTh 177, Tübingen 2015, 82– 85. 102– 106. 115 – 116. Vgl. Gerber 2015, 51– 52. 142– 143. 183 – 184 (Anm. 4).
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2 Mancherlei Anfänge und Erscheinungen – ein reformatorisches Prinzip Nur im ersten seiner beiden kirchengeschichtlichen Kompendien, dem von 1821/22, ist Schleiermacher überhaupt bis zur Reformation gekommen. Deutlich ist hier von Anfang an seine Absicht, die Geschichte nicht auf Luther zu fokussieren, den er übrigens außerordentlich schätzt (Schleiermacher macht es also anders als das Reformationsjubiläum von 2017, das weithin als Lutherjahr begangen wurde): Die Reformation ging nicht von Luther allein aus, und ihr Verlauf war breiter als das Werk Luthers und seiner Freunde. Diese Tendenz haben auch zwei reformierte Autoren, deren jeweils mehrbändige Kirchengeschichten ein paar Jahrzehnte später erschienen, der Baseler Karl Rudolf Hagenbach, einer der Hörer der Schleiermacherschen Kirchengeschichte von 1821/22,⁶ und der Erlanger August Ebrard.⁷ Hagenbachs Kirchengeschichte ging aus allgemeinverständlichen Vorträgen hervor; die Darstellung Ebrards ist für Studenten bestimmt und an Quellen erarbeitet, dabei aber lebendig erzählt.⁸ Ebrard lässt die Reformationsgeschichte sogar mit der „alemannischschwäbischen Reformation“ und mit Zwingli beginnen;⁹ bei Hagenbach (der seine Vorträge ja in Basel gehalten hat) macht die Darstellung der Schweizer Verhältnisse ungefähr die Hälfte der Reformationsgeschichte Mitteleuropas aus.¹⁰ Schleiermacher aber legt nicht nur als Reformierter Wert auf die Breite der Reformation, sondern auch deshalb, weil die Reformation für ihn ihrem Wesen nach kein Werk Einzelner ist. In Dissidenten, Theologen, Mystikern und Vorreformatoren hatte sich ihr Prinzip schon wiederholt gezeigt; nun aber bricht sie an mehreren Orten unabhängig voneinander in einer solchen Breite und Tiefe hervor, dass sie nicht mehr gedämpft werden kann. Das Prinzip der Reformation ist der direkte, unvermittelte Zugang der Christen zu Gott, wie er sich als freie Bibellektüre ohne Vermittlung von Lehramt und Tradition, als Vgl. Joachim Boekels, Schleiermacher als Kirchengeschichtler, SchlA 13, Berlin/New York 1994, 7. 35 – 37. Das merkt Ebrard schon im Vorwort an, vgl. August Ebrard, Handbuch der christlichen Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1, Erlangen 1865, IX–X. Bemerkenswert bei Ebrard sind z. B. die mangelnde historische Kritik, mit der er (bei aller Gelehrsamkeit) das apostolische Zeitalter darstellt (Ebrard 1865, 10 – 31 [Anm. 7]), seine (von Schleiermacher abweichende) negative Beurteilung der konstantinischen Wende (Ebrard 1865, 153 – 157. 168 – 203. 322– 332. 349 [Anm. 7]) und seine Polemik gegen die angelsächsische Mission im Frankenreich um 700, die er als die von Rom gelenkte Zerstörung von den Iroschotten aufgebauten- „evangelischen“ Kirche ansieht (Ebrard 1865, 393 – 416. 446 – 462 [Anm. 7]; vgl. auch August Ebrard, Die iroschottische Missionskirche des sechsten, siebenten und achten Jahrhunderts und ihre Verbreitung und Bedeutung auf dem Festland, Gütersloh 1873; Ders., Bonifatius der Zerstörer des columbianischen Kirchenthums auf dem Festlande, Gütersloh 1882). August Ebrard, Handbuch der christlichen Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 3, Erlangen 1866 Karl Rudolf Hagenbach, Kirchengeschichte von der ältesten Zeit bis zum 19. Jahrhundert, Bd. 3, Leipzig 41870 (in den früheren Auflagen seit 1834 begann das Gesamtwerk erst mit der Reformation und hatte den Titel Vorlesungen über Wesen und Geschichte der Reformation).
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Rechtfertigung aus Glauben ohne vermittelnde gute Werke, als Priestertum aller Gläubigen ohne Vermittlung eines eigenen geweihten Standes manifestiert. Damit es dahin kommen konnte, mussten lange Jahrhunderte vorhergehen, in denen das Christentum sich nicht nur äußerlich verbreitete, sondern auch innerlich intensivierte, bis die Laien sich von der unwissenden, zu belehrenden Masse zu religiös Mündigen hervorgearbeitet hatten. Der Humanismus, unterstützt von Griechen, die nach dem Fall Konstantinopels in Abendland übergegangen waren, schuf das philologische Rüstzeug und wandte sich publizistisch gegen Scholastik und Inquisition, Erasmus stellte das griechische Neue Testament zur Verfügung, und die komplizierten Verhältnisse und Konkurrenzen im Reich zwischen Kaiser, Bischöfen und Fürsten verhinderten ein zentrales Durchgreifen der Reaktion.¹¹ Drei Ausgangspunkte hatte die Reformation: Frankreich, Deutschland und die Schweiz: in Frankreich den humanistisch-philologischen Bibellesekreis um Faber Stapulensis, in Deutschland den Protest Luthers gegen den Ablass, der sich erst allmählich und durch die Polemik der Gegner zu einem umfassenden Gegenentwurf gegen die katholische Kirche entwickelte, und in der Schweiz die systematische Schaffung einer neuen, von allem Unbiblischen gereinigten Ordnung.¹² Später erwähnt Schleiermacher noch einen vierten Ausgangspunkt: den italienischen, also sozinianischen, auch er ganz christlich, in der Kritik am altkirchlichen Dogma wesentlich konsequenter als Luther und Zwingli. Zum Verhängnis wurde es ihm, dass er sich nicht praktisch mit dem Aufbau einer eigenen Kirchengesellschaft betätigen konnte und dass er in Isolation von den anderen Evangelischen geriet; so musste er verkümmern in kritisch-theoretischer Einseitigkeit.¹³ Theologisch-kritische Arbeit, so unentbehrlich sie ist, ist eben noch kein gelebtes Christentum, und ohne die Grundierung in ihm und in der kirchlich-praktischen Arbeit verdirbt dann auch die kritische Reflexion. – Die nicht-chiliastischen Täufer lässt Schleiermacher als evangelisch gelten, nicht jedoch die, die ihr inneres Licht über das Neue Testament stellen.¹⁴ Da für die Reformation nur wenige Vorlesungsstunden übrig sind, wirft Schleiermacher eher Schlaglichter auf bestimmte Ereignisse und Konstellationen, als eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Verhältnismäßig viel Zeit nimmt er sich dann aber für Auseinandersetzungen der Spätreformation wie die gnesiolutherischen
Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 91. Stunde (KGA II/6, 627– 629). Vgl. Gerber 2015, 162– 163. 342– 347. 355 – 357. 383 – 385. 391– 393 (Anm. 4). Zu Schleiermachers in der Sittenlehre vorgetragenen ethischer Rechtfertigung der Reformation als reinigendes Einwirken Einzelner auf ein Ganzes, das dazu nicht fähig war, vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, BHTh 77, Tübingen 1989, 45 – 50; Gerber 2015, 136 – 138 (Anm. 4); Simon Gerber, „Marheineke, Schleiermacher und das Reformationsjubiläum von 1817“, in: Reformation und Moderne. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2017, hg. v. Jörg Dierken/Arnulf von Scheliha/ Sarah Schmidt, Schleiermacher-Archiv 27, Berlin/Boston 2018, 169 – 181, hier 175 – 176. Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, 629 – 630). Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 92.–95. Stunde (KGA II/6, 631– 632. 642– 643). Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S. 651– 652). Vgl. Gerber 2015, 359. 373 – 374 (Anm. 4).
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Streitigkeiten und für einen Gang durch Europa: Skandinavien, England, Schottland, Böhmen, Polen und Ungarn. Den unglücklichsten Verlauf nahm die Reformation in England: Hier verfestigte sich die evangelische Kirche unter königlicher Oberhoheit schnell zu einer Art halbkatholischer Nationalkirche, was als Opposition dagegen das unstete Sektenwesen zeitigte. Aus dem Oszillieren zwischen beidem hat der englische Protestantismus nie herausgefunden.¹⁵ Es gehört zu den Grundgegebenheiten historischer Entwicklungen, dass eine neue Idee erst allmählich und indem sie in der geschichtlichen Wirklichkeit Gestalt annimmt zur vollen Erkenntnis ihrer selbst kommt.¹⁶ So auch der Protestantismus: Luther, einer seiner größten Helden, war doch noch allzu sehr vom katholischen Gedanken durchdrungen, dass zur Einheit von Glauben und Kirche auch eine solche im Lehrbegriff gehöre. Auch wollte er die dogmatische Einheit mit der frühen Kirche nicht preisgeben, ohne aber eine klare Vorstellung zu haben, bis zu welchem Zeitpunkt die altkirchliche Entwicklung denn sakrosankt sein sollte. Die Schweizer waren hier freier, die Sozinianer ohnehin. Luthers Abendmahlslehre wurzelte in einer tiefen Überzeugung von der ganzheitlichen Lebensgemeinschaft mit Christus; im Streit darum war Luther, der in liturgischen und praktischen Fragen mit anderen Meinungen nie ein Problem hatte, aber so hartnäckig, dass er die Andersdenkenden schlicht für unchristlich erklärte. Die Reformierten in Deutschland waren großenteils Lutheraner, die die intellektuellen Zumutungen der streng-lutherischen Ubiquitätslehre nicht mittragen wollten.¹⁷ – Ungute dogmatische Verfestigung zeigen dann auch die späteren Bekenntnisschriften beider Seiten, die Konkordienformel und die Dordrechter Kanones. Das genuin protestantische Prinzip in der Theologie kam zuerst bei den gegen den strengen Calvinismus dissidenten Remonstranten zum Durchbruch: Einheit im Glauben, freie Forschung in der Schrift und die Bestreitung eines für alle Zeiten feststehenden dogmatischen Lehrbegriffs.¹⁸
3 Ikonoklasten, Ratramnus, Gottschalk – reformierte Profile früherer Perioden Im Gegensatz zu seinen aufgeklärt-pragmatischen Zeitgenossen, die allenthalben in der Geschichte der Kirche Aberglauben, klerikale Herrschsucht, politische Intriguen
Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 92.–97. Stunde (KGA II/6, 630 – 653). Vgl. Ohst 1989, 70 – 75 (Anm. 11); Gerber 2015, 359 – 363. 415 – 416 (Anm. 4). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Predigt 160 (7.11.1830) über Phil 1,6 – 11, Friedrich Schleiermacher, Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, 192– 194 (Friedrich Schleiermacher, Predigten. Fünfte bis Siebente Sammlung (1826 – 1833), hg. v. Günter Meckenstock, KGA III/2, Berlin/Boston 2015, 401– 402). Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 92.–97. Stunde (KGA II/6, 633. 635 – 637. 639 – 640. 644– 645. 649 – 650. 652). Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 96.–99. Stunde (KGA II/6, 650 – 653. 659 – 661).
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und unwägbare Zufälle walten sahen, war Schleiermacher der Überzeugung, das eigentlich wirksame Prinzip in der Kirchengeschichte sei der christliche Geist; von allem, was diesem Geist entgegen sei, reinige die Kirche sich früher oder später.¹⁹ Trotzdem, als Protestant und Befürworter der Reformation kann er nicht bestreiten, dass es auch Korruption gab, und muss nach deren Ursprüngen fragen. Schon im dritten Jahrhundert findet er Vorstellungen von der Verdienstlichkeit und Sünden sühnenden Kraft guter Werke, später den Heiligen- und Reliquienkult und die Marienverehrung, ein falsches, welt- und gemeinschaftsflüchtiges Asketentum, die Etablierung des für das Kirchenvolk unverständlichen Lateinischen als heiliger Sprache und dergleichen.²⁰ Dass die Rede von den „schaudervollen“ Mysterien der Eucharistie nicht mehr als rhetorische Emphase aufgefasst wird, sondern als Terminologie des wissenschaftlich-dialektischen Sprachgebiets, befördert auch hier die Superstition.²¹ Den Aufstieg des Papsttums schildert Schleiermacher mit viel Liebe zum Detail.²² Freilich blieben die Trübungen des Christlichen nicht unwidersprochen; ihnen gegenüber wird auch in den früheren Perioden schon geltend gemacht, was später zu den Prinzipien des protestantischen Kirchentums und Kultus werden sollte.²³ – In der Bilderfrage findet Schleiermacher die Kritik der Ikonoklasten an den mancherlei abergläubischen Vorstellungen und Übungen der Bilderdiener zwar berechtigt, lässt aber auch das Gegenargument gelten, dass eine totale Verwerfung der Abbildung Christi eine Leugnung der Menschwerdung Gottes bedeutete. Er ist hier kein konsequenter Zwinglianer und Calvinist.²⁴ Aus der Theologiegeschichte fasziniert Schleiermacher z. B. die Trinitätstlehre, von der Logoslehre der Apologeten über Origenes und den arianischen Streit bis hin zu den west-östlichen Kontroversen über das filioque,²⁵ aber auch die verschiedenen Ansätze der scholastischen Theologie.²⁶ Außerordentlich breit, verglichen mit heutigen Überblicksdarstellungen, werden zwei Debatten der spätkarolingischen Streit dargestellt, der Abendmahlsstreit (eigentlich kein Streit, sondern eine Folge von Wortmeldungen, bei denen, wie Schleiermacher lobend hervorhebt, man sich zwar gegenseitig kritisierte, aber niemand daran dachte, andere in den Bann zu tun) und der Streit um Gottschalk und die Prädestinationslehre. Dass ihn gerade diese zwei Debatten interessieren, ist kaum zufällig, handelt es sich um die späteren Kontroversartikel zwischen Lutheranern und Reformierten. Im Prädestinationsstreit stoßen Vgl. Gerber 2015, 66 – 69. 114– 116. 133 – 152 (Anm. 4). Vgl. Gerber 2015, 219 – 220. 272– 277. 323 – 327 (Anm. 4). Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 42., 44. und 69. Stunde (KGA II/6, 105 – 106. 110. 560) Vgl. Gerber 2015, 261– 264. 314– 319 (Anm. 4). Vgl. Gerber 2015, 275 – 276. 342– 347. 355 – 356. 408 – 410 (Anm. 4). Vgl. Gerber 2015, 275. 342 (Anm. 4); Simon Gerber, „Ästhetische Probleme des Gottesdienstes nach Schleiermachers Praktischer Theologie“, in: Der Mensch und seine Seele. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. v. Jörg Dierken/Arnulf von Scheliha, SchlA 26, Berlin/Boston 2017, 607– 617, hier 612. Vgl. Gerber 2015, 239 – 243. 283 – 292. 329 – 330. 339 – 340 (Anm. 4). Vgl. Gerber 2015, 331– 339 (Anm. 4).
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die Lehre von einer Erwählung ex praevisa fide, für Schleiermacher die spätere Lehre der Lutheraner, und die genuin augustinische Lehre aufeinander. Obwohl Schleiermacher insgesamt fair und umsichtig berichtet, liegen seine Sympathien doch mehr bei denen, deren Position der späteren reformierten nahekommen, besonders bei Ratramnus.²⁷ Im seinem zweiten Kompendium von 1825/26 weist Schleiermacher noch ausdrücklich darauf hin, dass im karolingischen Abendmahlsstreit schon ansatzweise die späteren kontroversen Meinungen zum Thema vorgebildetet seien: bei Paschasius Radbert die römische Transsubstantiationslehre, bei Ratramnus die Auffassung Calvins, bei Hrabanus Maurus diejenige Luthers und bei Walafrid Strabo und Christian Druthmar von Stablo diejenige Zwinglis.²⁸
4 Die Kirche als Inkarnation des Geistes – Schleiermachers katholische Seite Seit der fidei ratio Zwinglis an Kaiser Karl V. wird den Reformierten eine Ekklesiologie zugeschrieben, die zwei nur lose miteinander verknüpfte Kirchen lehrt: die eigentliche Kirche, d. h. die unsichtbare, nur Gott bekannte Gemeinschaft der Heiligen und Erwählten, und die sichtbare, aus Guten und Bösen, Erwählten und Verworfenen gemischte sichtbare Gemeinschaft derer, die an den Sakramenten teilhaben.²⁹ Ebrard schreibt am Anfang seiner Kirchengeschichte, es habe der sichtbaren Kirche als Institution bedurft, um die unsichtbare Kirche wachsen zu lassen.³⁰ Auch Schleiermacher unterscheidet in seiner Glaubenslehre zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, versteht darunter aber etwas anderes: Die unsichtbare Kirche ist die Gesamtheit der Wirkungen des christlichen Geistes in den sich gleichbleibenden Institutionen, d. h. dem Dienst am Wort, den Sakramenten und dem Gebet; die sichtbare Kirche aber ist die durch die geschichtliche Existenz in der Welt sich stets wandelnde äußere Gestalt des Christentum samt Irrtümern und Kirchenspaltungen.³¹ Die unsichtbare Kirche verhält sich zur sichtbaren also nicht wie das wahre Sein zu einem nur unsicher mit ihm zusammenhängenden äußerlichen Gemeinwesen, sondern eher so wie die aristotelische Form zur Materie, auf die sie wirkt, die sie formt und in der sie Wirklichkeit und Gestalt gewinnt.
Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 69 – 70. Stunde (KGA II/6, 560 – 567). Vgl. Gerber 2015, 329 – 331 (Anm. 4). Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, 736 – 737). Zwingli, Fidei ratio 6 (CR 93,2, 800 – 803). Vgl. z. B. Friedrich Nitzsch, Lehrbuch der evangelischen Dogmatik, Freiburg/Leipzig 21896, 516 – 518. Ebrard 1865, 7– 8 (Anm. 7). Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 2, Berlin 21831, § 148 (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), Bd. 2, hg. v. Rolf Schäfer, KGA I/13,2, Berlin/New York 2003, 427– 430).
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Dementsprechend bezeichnet Schleiermacher mehr als einmal in Abwandlung des johanneischen Wortes von der Fleischwerdung des Wortes (Joh 1,14) die Kirchengeschichte als die Fleischwerdung des Geistes:³² Was ihr Wesen ausmacht, was sie als eine Geschichte zusammenhält und ihr die Richtung gibt, ist das, dass der Geist – der Geist Jesu Christi, der als „Gemeingeist“ der christlichen Kirche geschichtlich wird – Grundlage eines gemeinsamen Lebens wird und dass er in dieser Lebensgemeinschaft und durch sie als lebendiges Prinzip in der Geschichte wirklich und wirksam wird. Und hier hat der Erzprotestant Schleiermacher, für den die Kontroverse mit dem Katholizismus zur evangelisch-theologischen Arbeit stets dazugehört,³³ dann eine Affinität nicht zur Lehre von der unsichtbaren Kirche der Prädestinierten, sondern zum Katholischen. Das Wesen des Katholizismus, so sagte es Gerhard Ebeling in seinem berühmten Vortrag über die Kirchengeschichte als Geschichte der Schriftauslegung, sei es, die Inkarnation als in der Kirche fortgesetzt zu denken.³⁴ Ebeling hat hier sicher nicht an Schleiermacher gedacht. Dagegen hatte Heinrich Julius Holtzmann, später einer der größten Neutestamentler seiner Zeit, in einer frühen Arbeit über Kanon und Tradition aus dem Jahr 1859 darauf hingewiesen, dass die idealistisch-spekulative Anschauung von der Geschichte als Entwicklung und Entfaltung des Geistes sich leicht mit dem katholischen Traditionsprinzip befreunden könne³⁵ und dass besonders Schleiermacher einen katholischen Zug habe, indem bei ihm Christus nach seiner Entrückung von der Erde auch aus der Dogmatik verschwinde und an seine Stelle die geistgeleitete Kirche trete; Schleiermachers Gemeinsamkeiten mit Johann Adam Möhler seien kaum zu übersehen.³⁶ Holtzmann hat die Bedeutung, die die Person Christi, des Heilandes und Erlösers, nach Schleiermacher für die christliche Frömmigkeit hat, zweifellos zu niedrig angeschlagen,³⁷ hat die fundamentale Bedeutung der Kirche als Gesamtleben im Geist für Schleiermachers Anschauung des Christentums³⁸ und die Verwandtschaft mit Möhler aber richtig gesehen. Nach Möhler, der, wiewohl früh vollendet, für die neuere katholische Theologie eine ähnliche Bedeutung hat wie Schleiermacher für die protestantische, ist die Kirche
Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik 1822 (Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, hg. v. Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Hermann Patsch, KGA II/4, Berlin/ Boston 2012, 380 f.); Ders., Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (Friedrich Schleiermacher, Predigten 1824, hg. v. Kirsten Kunz, KGA III/8, Berlin/Boston 2013, 629); Ders., Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/ 6, 714); Ders., Predigt 160, Schleiermacher 1831, 193 – 194 (Anm. 16) (KGA III/2, 402). Vgl. Gerber 2015, 153 (Anm. 4); Gerber 2018, 175 (Anm. 11). Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, SGV 189, Tübingen 1947, 17. Heinrich Julius Holtzmann, Kanon und Tradition, Ludwigsburg 1859, 451– 454. 469 – 477. Holtzmann 1859, 454– 469. 488 – 492 (Anm. 35). Vgl. nur Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, Berlin 21830, § 11,4 (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Bd. 1, hg. v. Rolf Schäfer, KGA I/13,1, Berlin/New York 2003, 98 – 101). Vgl. z. B. Schleiermacher 21831, § 87; 113 (Anm. 31) (KGA I/13,2, 18 – 21. 229 – 234).
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der vom Geist Christi gebaute und durchwaltete, sich immer weiter entwickelnde Organismus eines gemeinsamen Lebens; alles Festgelegte, Schrift und Lehre, Tradition und Hierarchie, gehe erst aus diesem Lebensprinzip hervor, und die verschiedenen individuellen Ausprägungen harmonierten im Geist auch miteinander.³⁹ Möhler ist in seinem Frühwerk über die Einheit der Kirche und das Prinzip des Katholizismus zweifellos von Schleiermacher beeinflusst, den er Anfang 1823 auch auf einer Studienreise in Berlin kennengelernt hatte.⁴⁰ Das berühmte Hauptwerk, die Symbolik, wendet dieses Prinzip dann gegen den Protestantismus an: Dieser habe sich durch Unordnung und subjektivistische Extravaganzen aus dem harmonischen katholischen Organismus abgesondert.⁴¹ Schleiermacher beschreibt als Kirchengeschichtler die immer neuen Gestalten gemeinsamen Lebens, die aus der Wirkung des Geistes auf die Welt hervorgehen. Der Takt geht immer wieder aufs Neue von äußerer Verbreitung des Christentums zu innerlicher Durchdringung und Intensivierung.⁴² Bei dem allen ist der Geist als Lebensund Wirkprinzip dann tatsächlich eine Art überindividuelles, kollektives Subjekt dieses Gesamtlebens, das zur Erscheinung in der Wirklichkeit strebt, eben zur Fleischwerdung, indem es den Einzelnen ergreift und zu seinem Organ macht. Die Sittenlehre nennt das πνεῦμα das in allen Identische, schlechthin Einfache gegenüber der Mannigfaltigkeit des Fleisches;⁴³ die Glaubenslehre sagt, alle, die Teil des vom Gemeingeist gestifteten Gesamtlebens seien, bildeten zusammen eine moralische Person,⁴⁴ und die Praktische Theologie sagt, das Fundament der Kirche sei ein allen Einzelnen gemeinsames Bewusstsein (also nicht nur ein gemeinsamer Bewusst-
Johann Adam Möhler, Die Einheit in der Kirche, oder das Princip des Katholicismus, dargestellt im Geiste der Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte, Tübingen 1825, III–IV. 3 – 62. 129 – 171 (Johann Adam Möhler, Die Einheit in der Kirche, oder Das Princip des Katholizismus, dargestellt im Geiste der Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte, hg. v. Josef Rupert Geiselmann, Köln/Olten 1957, 3 – 56. 114– 150). Vgl. Hans Geisser, Glaubenseinheit und Lehrentwicklung bei Johann Adam Möhler, KiKonf 18, Göttingen 1971, 36 – 53; Harald Wagner, Die eine Kirche und die vielen Kirchen, BÖT 16, München/Paderborn 1977, 56 – 114. 212– 214. – Hatte Schleiermacher noch dem Katholizismus bescheinigt, dass für ihn die Kirche abgeschlossen sei und sich nicht mehr verändere, vgl. Friedrich Schleiermacher, Christliche Sitte 1822/23 (Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Ludwig Jonas, Sämmtliche Werke I/12, Berlin 1843, 72. 123. 384), so ist Möhlers Ansatz offen für den romantisch-idealistischen Entwicklungsgedanken. Vgl. oben Anm. 36; außerdem Geisser 1971, 36 – 41 (Anm. 39); Gerber 2015, 427– 428 (Anm. 4). Johann Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, Mainz 1832, X–XII. XVI–XVIII; Ders., Symbolik oder Darstellung der Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, Mainz/Wien 21833, XXI–XXVIII (Johann Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, hg. v. Josef Rupert Geiselmann, Bd. 1, Köln/Olten 1960, 11– 13. 20 – 30). Vgl. Gerber 2015, 145 – 152 (Anm. 4). Schleiermacher, Christliche Sitte 1822/23 (Sämmtliche Werke I/12, 62– 63. 304– 305). Schleiermacher 21831, § 121,1– 2 (Anm. 31) (KGA I/13,2, 278 – 282).
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seinsinhalt), woraus Ordnung, Verfassung und Lehre hervorgingen; was im Staate die gemeinsame Gesinnung sei, das sei in der Kirche dieses gemeinsame Bewusstsein.⁴⁵ Zur Frage etwa, wie genau auf die Treue der Lehrer zum Wortlaut der Bekenntnisschriften zu halten sei, kann Schleiermacher dann sagen, zu dem allerdings berechtigten Zweck, der Irreligiosität zu steuern, tauge nicht die Bindung an den Buchstaben der Symbole, sondern nur die freie Wirksamkeit des Geistes; wenn nur solche zu Lehrern bestellt würden, in denen der Gemeingeist lebendig sei, dann sei das die beste Gewähr gegen das Eindringen unevangelischer und unchristlicher Prinzipien.⁴⁶ Ebenso gibt es für ihn auf die Länge gesehen keine Streitfrage, die im Geist nicht irgendwann einvernehmlich geklärt würde; Andersdenkende in den Bann zu tun, schneide vom Geist ab und hemme diesen Prozess nur.⁴⁷ Zum Vordenker individualisierter Patchwork-Religiosität und zum Schutzheiligen einer Kirche, deren Hauptaufgabe es sei, die dazu jeweils passende Symbolsprache zu finden,⁴⁸ taugt Schleiermacher eher nicht. Wenn Schleiermacher freilich die geschichtliche Existenz der Kirche als Entwicklung und Entfaltung eines Organismus fasst, dessen Subjekt und formendes Prinzip der überindividuelle Geist ist, so ist und bleibt er doch darin ganz protestantisch, dass er den fleischgewordenen Geist nicht mit einer bestimmten äußerlichen, hierarchisch verfassten, übernatürlich-sakramentalen Kirchenorganisation identifiziert und dass das Leben im Geist für ihn nicht zuletzt auch bedeutet, dasje-
Friedrich Schleiermacher, Praktische Theologie 1824, Nachschrift Palmié, BBAW Archiv, Schleiermacher-Nachlass 554, 30. 36. Vgl. zu Schleiermachers Vorstellungen zu Staat und Gesinnung Andreas Arndt, „Der Begriff des Rechts in Schleiermachers Ethik-Vorlesungen“, in: Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik. Schleiermacher im preußischen Reformprozess, hg. v. Andreas Arndt/Simon Gerber/Sarah Schmidt, Berlin/Boston 2019, 219 – 232. Friedrich Schleiermacher, Praktische Theologie 1817/18, Nachschrift Jonas, BBAW Archiv, Schleiermacher-Nachlass 550, 173v–176v; Ders., „Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher“, in: Reformationsalmanach 2 (1819), 335 – 380, hier 346 – 367 (Friedrich Schleiermacher, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, KGA I/10, Berlin/New York 1990, 125 – 136). Vgl. Gerber 2015, 197– 199. 257– 258 (Anm. 4); vgl. auch Schleiermacher, Christliche Sitte 1822/23 (Sämmtliche Werke I/12, 133 – 139. 197); Ders., Predigt 158 (10.10.1830) über Luk 6,37, Schleiermacher 1831, 147– 169 (Anm. 16) (KGA III/2, 373 – 387); Schleiermacher 21831, § 150 – 152 (Anm. 31) (KGA I/13,2, 435 – 443). In diesem Sinne Wilhelm Gräb, „Religion als humane Selbstdeutungskultur. Schleiermachers Konzeption einer modernen Glaubenslehre und Glaubenspredigt“, in: Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, hg. v. Wilhelm Gräb/Notger Slenczka, ASyTh 4, Leipzig 2011, 241– 254; Ders., „Kirche zwischen Kommunikation und Institution“, in: Geist und Buchstabe. Festschrift für Günter Meckenstock zum 65. Geburtstag, hg. v. Michael Pietsch/Dirk Schmid, TBT 164, Berlin/Boston 2013, 311– 332; Ders., „Schleiermachers Theorie religiöser Erfahrung und die Aufgabe der Theologie als Religionshermeneutik“, in: Begriff und Interpretation im Zeichen der Moderne, hg. v. Sarah Schmidt/Dimitris Karydas/Jure Zovko, Berlin/Boston 2015, 173 – 186; Ders., „Schleiermachers Beitrag zu einer Hermeneutik der Religion“, in: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik, hg. v. Andreas Arndt/Jörg Dierken, Berlin/Boston 2016, 129 – 143.
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nige, was sich als Traditionsbestand angesammelt hat, immer wieder anhand der Schrift kritisch zu sichten und fortzuentwickeln.⁴⁹ Im Hinblick auf das Ziel und postulierte Ende ihrer Geschichte ist die Kirche dann aber doch die Gemeinschaft der Erwählten und Prädestinierten. Weil Christi erlösende Wirkung schlechthin unbegrenzt ist und am Ende kein Mensch von der Wirkung seines Geistes ausgeschlossen bleibt, darum wird am Ende offenbar sein, dass die ganze Menschheit die Kirche der Erwählten ist und dass alle Religion in das christliche Gesamtleben einmündet.⁵⁰
Vgl. Gerber 2015, 277. 379 – 380. 384. 446 – 447 (Anm. 4). Vgl. Schleiermacher 21831, § 121,3 (Anm. 31) (KGA I/13,2, 282– 283).
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Reformierte Akzente in der Kirchentheorie Friedrich Schleiermachers 1 Ekklesiologie und Kirchentheorie Im Folgenden wird es um Schleiermachers Lehre von der Kirche und die damit zusammenhängenden Fragen der Ordnung und Gestaltung des kirchlichen Lebens gehen. Alles das lässt sich durchaus unter dem uns heute geläufigen Oberbegriff der „Ekklesiologie“ abhandeln. Das ist bekanntlich jenes Teilgebiet der Dogmatik, in dem die Fragen nach Wesen, Auftrag, Gestalt und Strukturen der Kirche zu klären sind. Man kann freilich von der Kirche nicht nur dogmatisch reden. Man kann, da hier immer auch und entscheidend das Handeln der Gemeinschaft der Glaubenden in den Blick zu nehmen ist, die Kirche als Thema der Ethik erörtern. Das hat Schleiermacher auch getan: Wichtige ekklesiologische Fragen werden in der Sittenlehre behandelt, und der für die Glaubenslehre grundlegende Begriff der Kirche wird in der Einleitung mit „Lehnsätzen aus der Ethik“¹ eingeführt, wobei die Ethik hier als Leitbegriff der Vernunftreflexion fungiert. Ebenso ist die Frage nach der Kirche Thema der Praktischen Theologie. Der fächerübergreifende Horizont der Lehre von der Kirche hängt damit zusammen, dass sich auf diesem Gebiet theologische und empirische Perspektiven in besonderer Weise treffen und überschneiden. Die Kirche ist eben nicht nur Gegenstand des Glaubens, sondern auch Ort des Lebens und Handelns der Glaubensgemeinschaft. Sie verkörpert als Wirkfeld des mit Menschen kooperierenden Geistes Gottes eine ebenso geglaubte wie erfahrbare Realität. Je stärker wir die Kirche von ihrem geistlichen Wesenszentrum her zum Thema machen, desto mehr bewegen wir uns auf dem Feld der Ekklesiologie. In dem Maße aber, wie wir uns der Kirche als sozialem Gebilde und den situationsspezifischen Feldern kirchlichen Handelns nähern, betreten wir das Feld der Kirchentheorie. Kirchentheorie und Ekklesiologie, Ekklesiologie und Kirchentheorie bedingen einander. Die anwendungsbezogene praktisch-theologische Erörterung kirchlichen Handelns bedarf der ekklesiologischen Fundierung; und eine Ekklesiologie ohne Blick auf die erfahrbare Realität der Kirche bliebe Theorie im Elfenbeinturm. Kirchentheorie, so Reinhard Preul in seinem diesem Thema gewidmeten Buch, findet ihr Spezifikum darin, dass sie „den dogmatischen Lehr- oder Wesensbegriff“ von Kirche „auf einen gegebenen kirchlichen Zustand mit dem Zweck einer kritischen Beurtei-
Vgl. Friedrich Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003 (KGA I/13/1 und 13/2), 19 – 59 (§§ 3 – 6). https://doi.org/10.1515/9783110608656-015
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lung und gegebenenfalls Verbesserung dieses Zustandes [bezieht]“.² Weil sich in der Kirchentheorie systematisch-theologische und praktisch-theologische Reflexionsgänge verknüpfen und überschneiden, kann Preul die Kirchentheorie als „Verbindungsstück zwischen Systematischer und Praktischer Theologie“³ charakterisieren. Schleiermacher hat weder von „Ekklesiologie“ noch von „Kirchentheorie“ gesprochen – beide Ausdrücke waren als geprägte Fachtermini im 19. Jahrhundert noch nicht gebräuchlich –, aber seine Lehre von der Kirche und das damit verbundene ekklesiologische Setting wird durch den Ausdruck „Kirchentheorie“ genauer getroffen als durch den Ausdruck „Ekklesiologie“. Das hängt damit zusammen, dass es gemäß dem Ansatz der Glaubenslehre beim christlichen Selbstbewusstsein keine Lehraussage gibt, die nicht zugleich eine Aussage über die gelebte Erfahrung des Glaubens ist. Das Leben der „Gemeinschaft der Gläubigen“ – für Schleiermacher dasselbe wie „Kirche“⁴ – ist von permanenten Interaktionen, Wechselbeziehungen und Kommunikationsdynamiken bestimmt. Indem die einzelnen Wiedergeborenen „zu einem geordneten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken“ zusammentreten,⁵ bildet sich Kirche. Und dies wiederum impliziert bestimmte Formen der Kommunikation und der Organisation. Die Ausbreitung des Christentums konnte sich nicht ohne Organisation vollziehen; Leben und Sichorganisieren, „wie wir es auch in allen geistigen Beziehungen kennen“,⁶ prägte schon das Naturwerden des Göttlichen in Jesus Christus und durchformt deshalb erst recht den von ihm gewirkten Gemeinschaftszusammenhang der Glaubenden. Christi Wirken ist gemeinschaftsbildend, und dies sodass durch seine erlösende Wirksamkeit auf Einzelne Gemeinschaft entsteht. Die Formen der Organisation und erst recht die Formen der Leitung der Gemeinschaft, das heißt der Kirchenleitung, sind nicht beliebig. Sie sollen in einem Korrespondenzverhältnis zum Leben der Gemeinschaft stehen und dieses im Sinne der erlösenden Tätigkeit Jesu Christi ermöglichen, beleben und fördern. Wo dieses Korrespondenzverhältnis behindert und gestört ist, bedarf es der Abhilfe. Hier kommt dann bei Schleiermacher das zum Tragen, was Preuls Begriff von Kirchentheorie ausmacht, dass sie nämlich den dogmatischen Lehr- oder Wesensbegriff von Kirche „auf einen gegebenen kirchlichen Zustand mit dem Zweck einer kritischen Beurteilung und gegebenenfalls Verbesserung dieses Zustandes [bezieht]“.⁷ Kritische Beurteilung der vorfindlichen Kirche und Verbesserung ihres Zustands nehmen im Denken und Handeln Schleiermachers einen beachtlichen Raum ein, man denke nur an sein Engagement für die Presbyterialverfassung, an seine Kritik am landesherrlichen Kir-
Reinhard Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin/New York 1997, 3 (im Original hervorgehoben). Preul 1997, 4 (im Original hervorgehoben) (Anm. 2). Vgl. Schleiermacher [1830/31] 2003, 227 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 239 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 232 (Anm. 1). S. Anm. 2.
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chenregiment, an seine kirchenpolitischen Gutachten und Expertisen oder auch an seine Funktion als Präses der ersten Berliner Gesamtsynode.⁸ Im Blick auf die ekklesiologische Verknüpfung theologischer und organisatorischer (genauer: systemischer) Aspekte hat es Schleiermacher zu wahrer Meisterschaft gebracht; darin ist und bleibt seine Kirchentheorie in herausragender Weise beispielgebend. Man stößt schon hier auf eine Konvergenz mit der reformierten Ekklesiologie. Denn letztere hat von Anfang an die Fragen kirchlicher Ordnung und Organisation betont als theologische Fragen ernstgenommen. Man traf sich zwar mit den Lutheranern in der Formulierung von Confessio Augustana VII, wonach die recta doctrina evangelii und recta administratio sacramentorum die entscheidenden Kennzeichen der sichtbaren Kirche seien.⁹ Dieser Konsens wurde im 20. Jahrhundert zu einer entscheidenden Voraussetzung der Leuenberger Konkordie. Aber die Reformierten haben deshalb die Frage nach Gestalt und Ordnung der Kirche nicht zu einem nachgeordneten Thema erklärt, das am Ende sogar den Ermessensräumen der zivilen Rechtsverhältnisse überlassen werden könnte. Charakteristisch dafür ist die in der dritten Barmer These behauptete Korrespondenz von Botschaft und Ordnung der Kirche.¹⁰ Sie kam schon als Gestaltungsgrundsatz Calvins in Betracht: Aus der Botschaft ergeben sich Leitaspekte und Kriterien für die „Ordonnances ecclésiastiques de l’Eglise de Geneve“¹¹, die beachtet sein wollen, wenn die Kirche im reformatorischen Sinn erneuert werden soll. Der Korrespondenz von Botschaft und Ordnung entspricht bei Schleiermacher der Zusammenhang zwischen der Lebensgemeinschaft mit Christus und der diese Lebensgemeinschaft ermöglichenden und zusammenhaltenden Ordnungen. Diese können der Lebensgemeinschaft nicht von außen übergestülpt werden – eines seiner maßgeblichen Argumente gegen das Hineinregieren des preußischen Königs und seines Konsistoriums in die evangelische Kirche – sie müssen aus der Lebensgemeinschaft mit Christus organisch herauswachsen und ihr gemäß gebildet sein.
Zu Schleiermachers Wirken auf dem Feld der Kirchenpolitik in Preußen vgl. Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, Unio und Confessio 20, Bielefeld 1997, zur Theorie des Kirchenregiments vgl. Christoph Dinkel, Kirche gestalten – Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Schleiermacher-Archiv 17, Berlin/New York 1996. Vgl. BSELK 103, Z. 5 – 7. Vgl. These III der Barmer Theologischen Erklärung: Die Kirche „hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen“, dass sie allein Christi Eigentum ist (Martin Heimbucher/Rudolf Weth [Hg.], Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen-Vluyn 7 2009, 39). Johannes Calvin, Les Ordonnances ecclésiastiques de 1561, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2. Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1997, 227– 303.
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2 Der Weg zur Union entspricht einer reformierten Haltung Der Weg zur Union entspricht einer reformierten Haltung: Diese These klingt befremdlich, für manche vielleicht sogar verstörend. Sie klingt vor 1817 – dem entscheidenden Datum für Unionsbildungen in Deutschland – anders als danach. Denn so sehr die Unionen des frühen 19. Jahrhunderts begrüßt werden konnten, führten sie dann in einer Art Umkehrschub zu einer Revitalisierung und Erstarkung des lutherischen und dann auch des reformierten Konfessionsbewusstseins. Das hatte zur Folge, dass wenige Jahrzehnte nach 1817 die meisten Lutheraner und sehr viele Reformierte eine Kirchenunion für eine mit ihrer Identität unvereinbare Angelegenheit hielten. Aber um 1817 lagen Kirchenunionen in der Luft. Die 300-Jahrfeier der Reformation bot im Blick auf die Spaltung der reformatorischen Bewegung reichlich Anlass zur Nachdenklichkeit. War nicht die konfessionelle Spaltung des Protestantismus als Fehlentwicklung zu betrachten, die nun endlich überwunden werden konnte? In den gemischtkonfessionellen Territorien, dort also, wo lutherische und reformierte Gemeinden bisweilen Wand an Wand nebeneinanderher lebten, war das Gefühl für die Unterschiede der Freude am beide Seiten verbindenden Evangelium gewichen. Schleiermacher, der bereits in der Brüdergemeine erlebt hatte, dass Lutheraner und Reformierte ungeachtet ihrer Kirchentrennung bei den Abendmahlsfeiern willkommen waren,¹² betrachtete von Anfang an den konfessionellen Gegensatz von Lutheranern und Reformierten als überholt. Er veröffentlichte zum Beginn des Jahres 1804 zwei Gutachten „in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat“.¹³ Im ersten Gutachten befasste er sich mit den Nachteilen, die aus der Trennung von lutherischen und reformierten Kirchen entstehen. Die „Fortdauer dieser Absonderung“ gereiche „unter den gegenwärtigen Umständen der wahren Religiosität zum Schaden“.¹⁴ Die einfachen Christen, so führte er aus, haben keine authentischen Kenntnisse von den theologischen Unterschieden zwischen den beiden evangelischen Konfessionen; eigentlich kennen sie nur die Abweichungen beim Vaterunser-Gebet, in der Abendmahls- und Taufliturgie und bei einigen Formen des Gottesdienstes.¹⁵ Was bleibe ihnen also anderes übrig als anzu-
Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1817], Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30sten Oktober von ihr zu haltende Abendmahlsfeier, in: Ders., Kirchenpolitische Schriften, KGA I/ 9, hg. v. Günter Meckenstock unter Mitwirkung von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 2000, 173 – 188, hier 187– 188. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1804], Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den preußischen Staat, in: Ders., Schriften aus der Stolper Zeit (1802– 1804), KGA I/4, hg. v. Eilert Herms/Günter Meckenstock/Michael Pietsch, Berlin/ New York 2002, 359 – 460. Schleiermacher [1804] 2002, 371 (Anm. 13). Schleiermacher [1804] 2002, 371– 372 (Anm. 13).
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nehmen, „diese Kleinigkeiten constituierten einen verschiedenen Glauben, und müßten also eine Hauptsache seyn in der Religion, mehr als das meiste von dem, worin beide ganz einig sind“.¹⁶ Und wenn man den einfachen Christen beigebracht habe, das Abendmahl als ein Bekenntnis des Glaubens anzusehen, dann müssten sie natürlicherweise schlussfolgern, „wer zu einem andern Abendmahle gehe und zu dem Ihrigen nicht gehen dürfe, der habe einen anderen Glauben“,¹⁷ obwohl das so gar nicht zuträfe. Für Schleiermacher war die innerevangelische Konfessionsdifferenz zu einem die evangelische Frömmigkeit behindernden Anachronismus geworden. Diese Differenz war nicht zu restaurieren und weiter auf Dauer zu stellen, sondern zu überwinden. Auch hier war das Beispiel der Brüdergemeine wichtig,¹⁸ ja Schleiermacher sprach ausdrücklich von „Kirchengemeinschaft“,¹⁹ die über konfessionelle Grenzen hinweg gelebt werde. Die bestehenden Lehrdifferenzen waren als nicht kirchentrennend hinzunehmen, sodass es auch nicht erforderlich war, ein Lutheraner und Reformierte verbindendes neues Lehrbekenntnis aufzustellen. Eine ausdrückliche Veränderung des Lehrbegriffs „würde nemlich den übrigen Theilen beider Kirchen immer einigen Vorwand geben, die so vereinigte in oder außer ihrer Gemeinschaft zu erklären, je nachdem sie die Sache ansähen, und es entstände durch die Vereinigung selbst nur die Gefahr einer neuen Trennung“.²⁰ Die Einheit des Protestantismus war an der unversöhnlichen Haltung Luthers gegenüber der Abendmahlslehre Zwinglis zerbrochen. Die späteren Versöhnungsbemühungen Calvins und Melanchthons scheiterten an der Unnachgiebigkeit Luthers und nach dessen Tod an der um sich greifenden ressentimentbehafteten Abneigung der Lutheraner gegenüber allem, was aus der Zürcher und Genfer Reformation hervorgegangen war. Dabei hätte der von Calvin entwickelte Typus der Abendmahlslehre als Brücke dienen können. Wer sich an Calvin orientierte, brauchte die lutherische Abendmahlslehre nicht mit einer Lehrverurteilung zu überziehen (das hat es so auch nicht gegeben!) und hätte die Lutheraner zum Abendmahl willkommen heißen können. Der Weg zur Union entsprach tatsächlich einer reformierten Haltung, konnte doch so der mit dem Marburger Religionsgespräch angerichtete Schaden definitiv geheilt werden. So waren es um 1817 immer wieder die Reformierten, die mit Nachdruck für die Union eintraten; Schleiermacher nimmt hier keine Sonderstellung ein. Der Unterschied zwischen der lutherischen und der calvinischen Vorstellung vom Abendmahl sei nicht geeignet, „eine Trennung der Kirchengemeinschaft zu begründen“.²¹ Den Grund zur Trennung hätte es schon im 16. Jahrhundert nicht gegeben, weil
Schleiermacher [1804] 2002, 372– 373 (Anm. 13). Schleiermacher [1804] 2002, 372 (Anm. 13). Vgl. Schleiermacher [1804] 2002, 396 (Anm. 13). Schleiermacher [1804] 2002, 396 (Anm. 13). Schleiermacher [1804] 2002, 389 (Anm. 13). Schleiermacher [1830/31] 2003, 402 (Anm. 1).
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sie im Entscheidenden gerade nicht differierten, weshalb man die Verschiedenheiten „lediglich als eine Sache der Schule“ betrachten könne.²² Die Verständigung über Lehrdifferenzen und die Bemühungen um Konsensbildungen, wie sie heute in den ökumenischen Dialogen geübt werden, führte Schleiermacher auf die Auffassung der katholischen Kirche zurück, nach der „die vollkommene Wahrheit der christlichen Lehre vollkommen ausgesprochen wäre in der Schrift und Tradition“.²³ Für die evangelische Auffassung kommt ein solches auf Lehrdokumente fixiertes Verständnis der Wahrheit nicht in Frage. Vielmehr muss von einem Entwicklungsprozess der Wahrheit in der christlichen Lehre gesprochen werden: „die christliche Wahrheit ist implicite in der Schrift; aber die Entwikklung derselben aus der Schrift ist ein immer fortgehender Proceß[,] der nicht vollkommen vollendet sein kann“.²⁴ Das bedeutet dann auch, dass die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts als Etappen der Lehrentwicklung, nicht aber als sakrosankte Texte betrachtet werden können. Die Bindung an symbolische Bücher lehnt Schleiermacher ab, weil damit Entwicklung und Veränderung ausgeschlossen werden. Die Confessio Augustana sei „nur eine Darstellung dessen[,] was damals gelehrt wurde und werden sollte, um die übertriebenen Gerüchte [der Gegner, – M. B.] zu widerlegen“²⁵. Und dann wird Schleiermacher heftig: „Dies als bindend für alle Zeiten anzusehen ist ein Unsinn[,] der sich nicht größer denken läßt“²⁶. Die evangelische Kirche bleibe nur eine evangelische, „wenn sie die Beweglichkeit des Dogmas durch die Schrifterklärung annimmt; sie wird darum nicht in sich selbst zerfallen, sondern durch den Geist eins sein.“²⁷ Wer hingegen die lebendige Bewegung der Wahrheit im Dogma fixiert, bereitet nur den Boden für neue Kirchenspaltungen. Das Ziel des klugen Kirchenregiments muss darin bestehen, Raum für die Entfaltung der christlichen Frömmigkeit zu schaffen und die Kirche immer mehr in eine Lage zu bringen, in der „sie feststehender Vorschriften für die Lehre nicht bedarf“.²⁸ Das kluge Kirchenregiment wird darauf vertrauen, dass der Glaube von den Herzen der Menschen Besitz ergreift und gerade dadurch Einsicht in die Wahrheit wächst. In diesem Zusammenhang findet sich der schöne Aphorismus: „Es ist also auch gar nicht so schwer[,] die Kirche zu regieren, wenn man nur nicht zuviel regieren will […]“.²⁹ Das Verständnis der Wahrheit in der evangelischen Kirche wird der Unabgeschlossenheit und Entwicklungsfähigkeit der christlichen Lehre Rechnung tragen. Es
Vgl. Schleiermacher [1830/31] 2003, 169 (Anm. 1). Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850, 557. Schleiermacher 1850, 557 (im Original hervorgehoben) (Anm. 23). Schleiermacher 1850, 641 (Anm. 23). Schleiermacher 1850, 641 (Anm. 23). Schleiermacher 1850, 641 (Anm. 23). Schleiermacher 1850, 635 (im Original hervorgehoben) (Anm. 23). Schleiermacher 1850, 636 (im Original hervorgehoben) (Anm. 23).
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wird die Pluralität von Lehrauffassungen befürworten und die Freiheit der Theologie achten. So gesehen werden Wahrheit und Freiheit zu den besten Garanten der Einheit der Kirche. Unter dieser Voraussetzung kann Schleiermacher in der Glaubenslehre dann mit Respekt aus den lutherischen und reformierten Bekenntnistexten der evangelischen Kirche zitieren. Ungeachtet der hier zu Tage tretenden Modernisierungsbereitschaft der Theologie Schleiermachers zeichnet sich auch bei seiner Bewertung der Bekenntnisschriften eine gewisse Konvergenz zur reformierten Theologie ab. Zwar konstituiert sich die konfessionsbestimmende Identität reformierter Kirchen über ein oder über mehrere Bekenntnisse, die in der jeweiligen Kirche in Geltung stehen. Aber dabei waltet die Vielfalt. Im Unterschied zu den lutherischen Kirchen kennen reformierte Kirchen keinen abgegrenzten und abgeschlossenen Bekenntniskanon. In besonderem Ansehen steht weltweit der Heidelberger Katechismus – ein Unterrichtsbuch und keine theologische Lehrschrift. Das schließt ein, dass sich die einzelne reformierte Kirche auf ein besonderes Bekenntnis bezieht, das zumeist mit ihrer Entstehung oder doch der Überwindung einer kirchlichen Konfliktsituation ihrer Geschichte verbunden ist. Aber reformierte Kirchen wussten und wissen, dass sich das Bekennen nicht in der rezitierenden Vergegenwärtigung historischer Bekenntnisaussagen erschöpfen kann. So können neue Texte, die dem aktuellen Bekennen entspringen, den Charakter eines kirchlich rezipierten Bekenntnisses annehmen. Das gilt zum Beispiel für die Barmer Theologische Erklärung von 1934 und in wachsendem Maße für das Bekenntnis von Belhar (1986), das der Barmer Theologischen Erklärung nachempfunden ist und die Einsichten von Barmen im Blick auf die Apartheidpolitik in Südafrika fortgeschrieben hat. Die dahinterstehende Wertschätzung von kirchlich affirmierten Bekenntnisaussagen hätte Schleiermacher so nicht geteilt.Wohl aber hätte er sich im Blick auf die Weiterentwicklung der christlichen Lehre auf die Offenheit und Unabgeschlossenheit der reformierten Bekenntnissammlungen berufen können.
3 Einige Hinweise zu Schleiermachers Abendmahlsverständnis Am Abendmahlsverständnis Schleiermachers wird deutlich, dass die Trennung der Evangelischen am Tisch des Herrn bei genauer Betrachtung dessen, was sie bei der Feier des Abendmahls eint, überwunden werden kann. Schleiermacher geht hier so vor, dass er das Verbindende herausstellt, unterschiedliche Lesarten des Verbindenden zulässt und dann nach der einen und der anderen Seite die Eckpunkte markiert, jenseits derer die unvermeidlichen und unüberbrückbaren Differenzen beginnen. Darin hat er eine auch ökumenisch interessante Methodik des Umgangs mit strittigen Lehrpositionen entwickelt.
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Die ganze Christenheit stimmt darin überein, dass sie von jeher das Abendmahl „als den höchsten Gipfel des öffentlichen Gottesdienstes“³⁰ betrachtet hat. Die Feier des Gottesdienstes würde uns unvollständig erscheinen, „wenn nicht an bestimmten Punkten – und zwar auf den höchsten und heiligsten am meisten – das Abendmahl als das innigste Bindungsmittel seinen Ort hätte“.³¹ Indem den Christen „nach der Einsezung Christi sein Leib und Blut dargereicht wird“,³² gelangt die Gemeinschaft eines jeden mit Christus und darin zugleich die Verbundenheit eines jeden mit den Anderen zum Ausdruck ihrer höchsten Intensität. Darin besteht konfessionsübergreifender Konsens. Die Differenzen beginnen bei der Frage, ob die Handlung auch der Einsetzung durch Christus angemessen sei. Angesichts der Verschiedenheit der Abendmahlsgebräuche in den christlichen Kirchen und der gegenseitigen Bestreitung der Validität ihrer Abendmahlsfeiern wird hinlänglich deutlich, dass darüber „eine vollständige Uebereinkunft […] noch nicht erzielt ist“.³³ Die bestehenden Differenzen müssen freilich der Abendmahlsgemeinschaft dann nicht im Wege stehen, wenn man zwischen erträglichen Differenzen und Differenzen, „welche die gemeinschaftliche Verrichtung der Handlung hindern könnten“,³⁴ unterscheidet. Die eine hinderliche Differenz ist diejenige zwischen der evangelischen und katholischen Auffassung vom Modus der Gegenwart Jesu Christi extra usum. Mit der Transsubstantiationslehre als solcher kann Schleiermacher großzügig verfahren, denn diese ist für den Vollzug der Feier und die Frage nach dem Empfang von Leib und Blut Christi unerheblich.³⁵ Ob Leib und Blut zugleich mit Brot und Wein leiblich genossen werden, oder ob Leib und Blut Christi zum leiblichen Genuss in den Ort des Brotes und Weines geschafft worden sind, also in den Elementen lokalisiert werden können, ist für den Erfolg der Feier „völlig gleichgültig“.³⁶ Das Problem beginnt aber, wenn an der besonderen Präsenz von Leib und Blut Christi in den konsekrierten Elementen außerhalb der Abendmahlsfeier festgehalten wird, Brot und Wein also zum Gegenstand kultischer Verehrung werden. Hier tritt ein magisches Moment hinzu, das aus evangelischer Sicht nur abgelehnt werden kann, zumal es auch keinen Anhalt an den Aussagen des Neuen Testaments hat. Die andere hinderliche Differenz läuft auf eine Entwertung der leiblichen Dimension des Abendmahls zugunsten des geistlichen Empfangs hinaus.³⁷ Luther und die Seinen hätten diese Deutung zu Unrecht den Reformierten angelastet, tatsächlich
Schleiermacher [1830/31] 2003, 379 – 380 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 380 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 378 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 382 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 387 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 388 – 389 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 388 (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher [1830/31] 2003, 380 – 381 (Anm. 1).
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seien es die „Sakramentierer“, die solches vertreten und das Abendmahl zum bloßen Zeichen herabgesetzt hätten.³⁸ Zwischen diesen Eckpositionen bewegen sich die Abendmahlslehren Luthers, Zwinglis und Calvins.³⁹ Luther und Calvin waren darum bemüht, die Gegenwart Christi in Brot und Wein auszusagen, aber nach Schleiermacher ist es ihnen nicht gelungen, die Frage nach der realen Gegenwart Christi in Brot und Wein wirklich zu klären. Das kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen, kritisieren kann man jedoch, dass sie diese Frage überhaupt für klärbar hielten. Schleiermacher optiert für Zwingli, der den leiblichen Genuss und die geistige Wirkung durch das Wort verbunden habe. Seine Auffassung sei „die klarste und faßlichste, weil sie eine genaue Analogie aufstellt zwischen dem Abendmahl und der Taufe, und die gar schwer zu beschreibende wirkliche Gegenwart von Leib und Blut ganz aus dem Spiel läßt, so daß sie unter sacramentlichem Genuß nichts anderes verstehen kann als die Verbindung des geistigen Genusses mit jenem bestimmten leiblichen“.⁴⁰ Von hier aus hält Schleiermacher auch eine Weiterentwicklung der evangelischen Abendmahlslehre für denkbar. Entscheidend sei die Frage nach den Wirkungen des Abendmahls.Wenn klar sei, dass der „Genuß des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl […] allen Gläubigen zur Befestigung ihrer Gemeinschaft mit Christo“ gereiche,⁴¹ können die innerevangelischen Differenzen bei der Frage nach dem Wie der Gegenwart Christi ertragen werden; sie sind jedenfalls kein Grund mehr, die Mahlgemeinschaft zu verweigern. Schleiermachers Abendmahlslehre bietet ein gutes Beispiel, wie man aus den Versteifungen auf die Lehrpositionen des 16. Jahrhunderts hinauskommen kann, indem man sich von deren Zwangsalternativen löst. Während die Reformierten in der Regel auf die integrative Kraft der Abendmahlslehre Calvins schwören und Zwinglis Deutung meist zu simpel finden, verdient es Beachtung, dass Schleiermacher die größte Klarheit gerade bei Zwingli gesehen hat.
4 Grundzüge reformierter Kirchenverfassung Aber die Nähe zu Zwingli in der Abendmahlslehre muss eine Nähe zwischen Schleiermacher und Calvin nicht ausschließen. Im Gegenteil: Schleiermachers Auffassungen zur Gestaltung des Kirchenregiments und zur Kirchenverfassung folgten erkennbar den Gestaltungsgrundsätzen der auf Calvin zurückgehenden presbyterialsynodalen Kirchenordnung. Sie bewegten sich in Richtung einer Alternative zum landesherrlichen Kirchenregiment und bedeuten darin einen markanten Neuaufbruch am Anfang des 19. Jahrhunderts. Schleiermacher war bewusst, dass die Episkopalrechte des Königs nicht von heute auf morgen abzuschaffen waren. Aber sie waren zu
Vgl. Schleiermacher [1830/31] 2003, 389 – 390 (Anm. 1). Vgl. Schleiermacher [1830/31] 2003, 390 – 393 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 392 (Anm. 1). Schleiermacher [1830/31] 2003, 394 (Anm. 1).
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bändigen und in ihre Grenzen zu weisen. Schleiermacher sah die evangelische Kirche in einem Prozess, in dem nach und nach die Eingriffsmöglichkeiten des Konsistoriums, d. h. der staatlichen Kirchenbehörde, eingeschränkt werden mussten. Das dazu aufgestellte kirchenpolitische Leitziel lautete: „Das Kirchenregiment muß sich immer mehr dem Zustand nähern[,] in dem es ist[,] wenn es sich frei aus der Gemeinde entwikkelt.“⁴² Man sieht sogleich: Schleiermacher dachte die Kirche von der Gemeinde aus, von unten nach oben, vom Ort her, an dem die Gemeinschaft mit Christus erfahren und gelebt wird, hin auf das Ganze der evangelischen Kirche. Zum besseren Verständnis der Auffassungen Schleiermachers seien an dieser Stelle in gebotener Kürze die Grundzüge der im reformierten Westeuropa entstandenen presbyterial-synodalen Kirchenordnung umrissen.⁴³ Diese Kirchenordnung war als Alternative zur episkopalen Verfassung der römischen Kirche mit ihren Über- und Unterordnungen von Klerus und Kirchenvolk konzipiert worden. Die Funktion des Bischofs steht einzig und allein Jesus Christus zu; jede Ordnung muss dem Grundsatz folgen, dass die Kirche nach dem Willen ihres Herrn regiert werden kann.⁴⁴ In den „Ordonnances ecclésiastiques de l’Eglise de Geneve“ ⁴⁵ hatte Calvin eine Struktur von vier Ämtern vorgesehen, die nach dem Willen Christi die Kirche leiten sollten: das Amt des Pastors, das Amt des Doktors bzw. Lehrers, das Amt des Ältesten und das Amt des Diakons.⁴⁶ Das war auch von der Gemeinde aus gedacht. Älteste bzw. Presbyter nehmen vor allem die Verantwortung für die Gemeindedisziplin und die damit verbundene Seelsorge wahr. Das Amt der Diakone dient der Vermögensverwaltung der Kirche und der Fürsorge für die Armen und Kranken. Die Inhaber der vier Ämter üben die Leitung der Gemeinde gemeinsam aus. Zusammen bilden sie das „Consistoire“, was dem späteren Presbyterium in den reformierten Gemeinden entspricht. Damit war das Kollegialitätsprinzip der Kirchenleitung etabliert. Weil Jesus Christus der einzige Herr und Bischof ist, kann kein Pastor die Obergewalt über andere Pastoren, kein Ältester die Herrschaft über andere Älteste und keine Gemeinde den Vorrang über andere Gemeinden beanspruchen: „[…] alle wahren Pastoren, an welchem Ort sie auch sein mögen, [haben] dasselbe Ansehen und die gleiche Macht […] unter einem einzigen Haupt, einzigen Herrn und einzigen
Schleiermacher 1850, 540 (Anm. 23). Vgl. dazu Michael Beintker, „Leitlinien reformatorischer Ekklesiologie. Das Beispiel Calvins“, ZThK 114 (2017), 398 – 416. Nachfolgend nehme ich auf einige Darlegungen dieses Aufsatzes Bezug, insbesondere auf Abschnitt 4, 410 – 416. Vgl. Johannes Calvin, Institutio IV,3.1 (Johannes Calvin [1559], Unterricht in der christlichen Religion, übers. u. bearb. v. Otto Weber [im Folgenden: Weber], Neukirchen-Vluyn 51988, 714. Johannes Calvini Opera selecta, München 1926 ff. [im Folgenden: OS], V, 42, Z. 1– 4). S. Anm. 11. Vgl. Calvin, Institutio IV,3 (Weber, 714– 724; OS V, 42– 57) (Anm. 44), Ders., Ordonnances ecclésiastiques, 239 – 259 (Anm. 11).
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allgemeinen Bischof, Jesus Christus“.⁴⁷ Das richtete sich gegen jede Form der Weihehierarchie. Bei genauer Beschreibung der jeweiligen Kompetenzen realisiert sich Kirchen- bzw. Gemeindeleitung im kollegialen Zusammenspiel von geistlicher und presbyterialer Bevollmächtigung. Äußerst wichtig war die Wahl der Pastoren durch die Gemeinde. Die Berufung eines Pfarrers sei nach Gottes Wort dann legitim, „wo auf Grund der einhelligen Meinung [consensu] und der Billigung [approbatione] des Volkes diejenigen gewählt werden, die als geeignet erschienen sind“.⁴⁸ Im Laufe der weiteren Entwicklung hat sich allmählich ein synodal geordnetes Netzwerk der örtlichen Kirchen und ihrer Leitungen herausgebildet.⁴⁹ Das ist gut in Frankreich zu beobachten, wo sich – mitten in der Verfolgung – die Konturen der presbyterial-synodalen Kirchenordnung herauskristallisierten. Calvin hat diese Entwicklung beratend begleitet. Auf der ersten französischen Nationalsynode, die 1559 geheim in Paris zusammenkam, wurde die Discipline Ecclésiastique⁵⁰ beschlossen; sie entsprach vollauf seinen Gedanken. Das in der Folgezeit weiterentwickelte Konzept sah Synoden auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vor. Für die Arbeitsweise wurde brüderliche Beratung in allen Fragen gefordert, die von gemeinsamem Interesse waren. Jede Gemeinde sollte auf den Synoden von ihren Predigern, einem Kirchenältesten und einem oder mehreren Diakonen vertreten werden.⁵¹ Jede Über- oder Unterordnung der einen über bzw. unter die anderen wird ausgeschlossen. Die Ordnung beginnt mit den allen Hierarchiebildungen entgegenstehenden Worten: „Keine Kirche wird sich eine Herrschaft oder ein Regiment über eine andere anmaßen.“⁵²
So die Confessio Gallicana [1559/1571], Artikel 30: „Nous croyons tous vrais pasteurs, en quelque lieu qu’ilz soyent, avoir mesme authorité et esgale puissance soubs un seul chef, seul souverain et seul universel Evesque, Iésus Christ. Et pour ceste cause, que nulle église ne doit prétendre aucune Domination ou Seigneurie sur l’autre“ (Reformierte Bekenntnisschriften 2/1, 26, Z. 9 – 12. Deutsche Übersetzung nach: Heinz Langhoff [Hg.], Von Paris über Potsdam nach Leuenberg. Dokumente zum Werden und Weg der reformierten Gemeinden in der DDR, Berlin 1984, 19). Calvin, Institutio IV,3.15 (Weber, 724; OS V, 56, 14– 16) (Anm. 44). Um bei der Wahl alle Unregelmäßigkeiten auszuschalten, sollen andere (d. h. unparteiische) Pastoren die Wahl leiten, „damit sich die Menge nicht etwa durch Leichtfertigkeit, falschen Eifer oder auch Tumulte versündigt“ (Calvin, Institutio IV,3.15 [Weber, 724; OS V, 56, 16 – 18] [Anm. 44]). In den „Ordonnances ecclésiastiques“ von 1561 wurde diese Praxis variiert: Die Pfarrer wählen den Kandidaten aus und stellen ihn dem Kleinen und dem Großen Rat von Genf vor. Wenn er als geeignet erscheint, wird er dem Volk im Gottesdienst vorgestellt, „damit er so durch die allgemeine Zustimmung der Gemeinde der Gläubigen angenommen wird“ (Calvin, Ordonnances ecclésiastiques, 241, Z. 37– 38 [Anm. 11]). Vgl. dazu die Hinweise bei Judith Becker, „Reformierter Gemeindeaufbau in Westeuropa. Zur Verbreitung calvinischer Ekklesiologie“, in: Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven, VIEG Beihefte 84, hg. v. Irene Dingel/Herman J. Selderhuis, Göttingen 2011, 263 – 279. Die Discipline ecclésiastique von 1559, in: Reformierte Bekenntnisschriften 2/1, 56 – 83. Vgl. Discipline ecclésiastique von 1559, 75, Z. 1– 2 (Anm. 50). Vgl. Discipline ecclésiastique von 1559, 74, Z. 4– 5: „Premièrement que nulle Église ne pourra pretender principauté ou domination sur l’autre.“ (Anm. 50) (Übersetzung nach Langhoff [1984], 21 [Anm. 47]).
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Inwieweit diese Ordnung in Frankreich reibungslos funktionieren konnte, ist eine Frage für sich. Bis zum Edikt von Nantes (1598) und dann wieder mit den unter Ludwig XIV. einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen war der synodale Zusammenhalt auf das Äußerste bedroht. Nach der 29. französischen Nationalsynode in Loudon (1659) waren die Nationalsynoden vom König verboten worden. Aber in jenem Jahrhundert zwischen der geheimen Nationalsynode von Paris (1559) und derjenigen von Loudon war aus den 40 Artikeln der Urfassung der französischen Discipline ecclésiastique eine kirchenrechtliche Sammlung von 14 Kapiteln und 248 Paragraphen erwachsen, in der sich die Erfordernisse der Existenz im Widerstand und Untergrund ebenso niedergeschlagen haben wie die Notwendigkeit, den speziellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.⁵³ Dieser Wachstumsprozess belegt, wie lebendig diese Kirchenordnung gewesen ist. Henri Tollin, Pastor und Chronist der französisch-reformierten Gemeinde in Magdeburg, sprach später nicht ohne Stolz von einer „Sammlung hundertjähriger presbyterial-synodaler Erfahrung“, die „keine andere Kirche der Welt aufzuweisen [hat] als allein die hugenottische“.⁵⁴ Die Gemeinden einer Region waren im Verband der Kolloquien oder Kreissynoden integriert.⁵⁵ Sie sollten die Arbeit der seit Inkrafttreten der Discipline existierenden Provinzialsynoden entlasten. Jede Gemeinde entsandte dazu einen Prediger und einen Ältesten. Die Kolloquien entschieden über Fragen, die in den Gemeinden vor Ort nicht geklärt werden konnten, und pflegten den Austausch über alle den Gemeindeverband angehenden Fragen. Sie übten Kritik, und ihre Beschlüsse waren für die einzelnen Gemeinden bindend. Ihrerseits waren die Kolloquien an die Beschlüsse der Provinzialsynoden gebunden,⁵⁶ auf denen sich die Prediger und ein bis zwei Älteste einer jeden Gemeinde der Provinz⁵⁷ ein- bis zweimal jährlich zu versammeln hatten.⁵⁸ Die für die Provinzialsynoden nicht lösbaren Probleme wurden an die Nationalsynode delegiert, ebenso wurde auf der Nationalsynode auch vorgetragen, „was die Provinzial-Synoden zum Besten der Kirchen in ihrer Provinz verordnet haben“.⁵⁹ Die Nationalsynode, die von jeder Provinzialsynode mit zwei Predigern und einigen erfahrenen Ältesten beschickt wurde,⁶⁰ war die oberste Appellationsinstanz; ihre Beschlüsse hatten alle Provinzialsynoden, Kolloquien und Konsistorien zu beachten. Man legte Wert darauf, die Nationalsynoden nur mit solchen Fragen zu befassen, die von Gewicht für die ganze reformierte Kirche Frankreichs waren, und Vgl. den Abdruck der Discipline Ecclésiastique des Eglises Reformées de France nach der 1710 in Holland durch Isaak d’Huissau veranstalteten Ausgabe bei Ernst Mengin, Das Recht der französischreformierten Kirche in Preußen. Urkundliche Denkschrift, Berlin 1929, 64– 185. Wahrscheinlich bietet die Ausgabe von 1710 den Text von 1650. Henri Tollin, Geschichte der französischen Colonie zu Magdeburg, Bd. I, Magdeburg 1886, 127. Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 114– 116 (Anm. 53). Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 118 (VII,4) (Anm. 53). Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 118 (VIII,2) (Anm. 53). Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 118 (VIII,1) (Anm. 53). Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 122 (VIII,9) (Anm. 53). Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 126 (IX,3) (Anm. 53).
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Probleme geringerer Reichweite auf der jeweiligen synodalen Ebene zu klären, die dafür zuständig war.⁶¹ Die Häufigkeit der Synoden war ebenso geregelt wie die Form ihrer Leitung: Für die Dauer der jeweiligen Synode wählte man aus der Mitte der Anwesenden einen Prediger zum Vorsitzenden und ein bis zwei Älteste zu Schriftführern; ihre Funktionen erloschen mit der Beendigung der jeweiligen Synode.⁶² Mit dieser presbyterial-synodalen Verfassung brachten die französischen Reformierten das Kunststück fertig, einerseits einem zentralistischen Oben-Unten in der Kirche einen Riegel vorzulegen, aber andererseits den verbindlichen, autorisierten Zusammenhalt der Gemeinden zu garantieren. Dabei war die Verantwortung zwischen Ordinierten und Laien geteilt, wobei die Laien die theologische Kompetenz der Prediger in allen Fragen der Lehre zu respektieren hatten. Auch im deutschen Sprachraum sind reformierte Gemeinden nach der presbyterial-synodalen Verfassung geleitet worden. Es handelt sich um die reformierten Kirchen am Niederrhein. Auf den Territorien von Jülich, Kleve, Mark und Berg, aber auch in deren Umfeld bestand seit dem Weseler Konvent von 1568 und den Beschlüssen der Emder Synode von 1571 ein gut funktionierender Synodalverband, dessen Strukturen starke Ähnlichkeiten zur Discipline Ecclésiastique aufwiesen.⁶³ Die Emder Beschlüsse sind als Bindeglied zwischen der französisch-reformierten und der niederrheinischniederländischen Kirchenverfassung zu betrachten. Sie sind bisweilen bis in Formulierungen hinein von der Discipline Ecclésiastique inspiriert.⁶⁴ Es gehörte freilich zu den negativen Erfahrungen der nach Deutschland eingewanderten Reformierten, dass ihnen ihre synodale Zusammenkünfte von den Landesherrn regelmäßig untersagt wurden, letztere also das Synodalprinzip ohne viel Federlesen durch ihre Administration ersetzten.⁶⁵ Das war die Situation, die dann auch Schleiermacher in Preußen vorgefunden hat. Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms III. im Jahr 1797 waren zwar kirchliche Reformmaßnahmen – unter ihnen auch eine Reform der Kirchenverfassung – in Aussicht gestellt worden, aber der Reformprozess entwickelte sich
Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 128 (IX,6) (Anm. 53). Vgl. Discipline Ecclésiastique bei Mengin, 120 – 122 (VIII,7) (Anm. 53). Vgl. dazu Kirchenordnung der Christlich-Reformierten Gemeinden in den Ländern Jülich und Berg, in: Wilhelm Niesel (Hg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, Zollikon-Zürich 1938, 298 – 325. Vgl. weiter die Editionen der Synodalprotokolle bei Wolfgang Petri (Hg.), Die reformierten klevischen Synoden im 17. Jahrhundert, Bd. 1. 1610 – 1648, Düsseldorf 1973, Bd. 2. 1649 – 1672, Düsseldorf 1979. Paragraph 2 der Emder Beschlüsse von 1571 betont ausdrücklich „consensum et coniunctionem“ der auf der Emder Synode vertretenen Gemeinden und Kirchen „cum Ecclesijs Regni Galliae“ (Niesel, [Hg.], Bekenntnisschriften, 279, Z. 6 [Anm. 62]). Vgl. zu Einzelheiten Michael Beintker, „Konsequenzen der „Discipline Ecclésiastique“ für Kirchenverfassung und Gemeindeordnung in Brandenburg-Preußen?“, in: Wege und Grenzen der Toleranz. Edikt von Potsdam 1685 – 1985, hg. v. Manfred Stolpe/Friedrich Winter, Berlin 1987, 51– 68, hier 57– 65.
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nicht so, dass den Bemühungen um eine stärkere Selbständigkeit der Kirche greifbare Erfolge beschieden waren.⁶⁶
5 Schleiermachers Leitoptionen für eine neue Kirchenverfassung Während „in Frankreich in den ersten Jahren der evangelischen Kirche […] die Aristokratie im Staate noch blühete, war doch die Kirche ganz republikanisch geordnet“,⁶⁷ konnte Schleiermacher die gegenläufigen Bewegungen zwischen dem Vormarsch des französischen Absolutismus einerseits und der auf Gleichberechtigung und Mitwirkung aufgebauten Kirchenverfassung der Hugenotten andererseits pointieren. Eine republikanisch gestaltete Kirchenverfassung inmitten einer auf die Zentralisierung uneingeschränkter Macht ausgerichteten politischen Form der Herrschaft: das hat Schleiermacher sehr beeindruckt. Dahinter steht ein klares Votum für das Presbyterialsystem und eine deutliche Distanz zum Episkopalsystem der Bischofskirche und zum Konsistorialsystem der von einer politischen Behörde geleiteten Landeskirche. Klar war von Anfang an, dass es in der evangelischen Kirche keine Weihehierarchie und damit keine Überordnung der einen über die anderen geben kann. Das Wirken Christi und das Wirken des Heiligen Geistes zielen auf die Überwindung aller Ungleichheit.⁶⁸ Die christliche Kirche lebt aus dem „Bewußtsein der wesentlichen Gleichheit aller Christen, deren Formel man kurz so fassen könnte, daß der Geist in jedem einzelnen sich zugleich auch des Besizes aller anderen will bewußt werden“.⁶⁹ Im Gegensatz dazu ist die katholische Kirche auf dem „Gegensaz zwischen Priestern und Laien“ aufgebaut.⁷⁰ Damit hat sie sich von der Kirche des Neuen Testaments entfernt.⁷¹ Ganz gewiss gibt es in der evangelischen Kirche legitime Differenzierungen; sie erwachsen aus der Duplizität von Mitteilen und Rezipieren.⁷² Aber selbst die Würde des Predigtamtes oder gar die herausragende Rolle der Theologie für das Gelingen der Kirchenleitung können den ihnen vor- und übergeordneten Grundsatz der Gleichheit aller Glieder der christlichen Kirche nicht außer Kraft setzen. Dafür kann Schleiermacher auch auf das allgemeine Priestertum hinweisen.⁷³ Entscheidender ist freilich der Gedanke, dass die Tendenz der evangelischen Kirche darin besteht, „[j]eden
Vgl. dazu Geck 1997, 37– 55, 259 – 261 (Anm. 8). Schleiermacher 1850, 540 (Anm. 23). Vgl. Friedrich Schleiermacher [1843], Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, neu hg. v. Wolfgang Erich Müller, Teil 2, Waltrop 1999, 518 – 519. Schleiermacher [1843] 1999, 519 (Anm. 68). Schleiermacher [1843] 1999, 519 (Anm. 68). Vgl. Schleiermacher [1843] 1999, 519 – 520 (Anm. 68). Vgl. Schleiermacher [1843] 1999, 521 (Anm. 68). Vgl. Schleiermacher 1850, 569 (Anm. 23).
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selbständiger zu machen im ganzen Gebiet seines Daseins“.⁷⁴ Auch hier leuchtet eine Erfahrung aus der eigenen religiösen Biographie auf: „Es giebt wol keine vollkommen organisierte christliche Gesellschaft, die der katholischen Kirche strenger entgegengesezt wäre, als die sogenannte evangelische Brüdergemeine.“⁷⁵ Da Schleiermacher von der örtlichen Gemeinde aus denkt, bietet die Presbyterialverfassung die allerbesten Voraussetzungen für das Mit- und Zusammenwirken der Christen bei der Gestaltung des kirchlichen Lebens. Zudem geht sie auf den frühesten Zustand der Kirche zurück.⁷⁶ Der „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche für den Preußischen Staat“,⁷⁷ den Schleiermacher im Zuge der SteinHardenbergschen Reformen 1808 vorgelegt hatte, bietet ein vorbildliches Regelwerk für die parochiale Selbstverwaltung. Das Reglement für die Wahlen der Ältesten entspricht dem der französischen Kirchenordnung: Die Gemeinde wählt eine auf ihre Größe abgestimmte Zahl von Kirchenältesten, „welche mit dem oder den Predigern gemeinschaftlich ihre Aufgaben besorgen“.⁷⁸ Die Ältesten müssen sich in bestimmten Zeitabständen der Wiederwahl durch die Gemeinde stellen. Die Besetzung der Presbyterien auf dem Wege der Selbstergänzung durch Kooptation wird ebenso abgelehnt wie das Patronatsrecht,⁷⁹ mit dem die örtliche Herrschaft ihren Einfluss auf die Gemeinde im Sinne eines quasi lokalen landesherrlichen Kirchenregiments ausübte.⁸⁰ Revolutionär wirkt die Aufhebung des Parochialzwangs: „Jeder kann sich wenn mehrere Gemeinen an seinem Orte bestehen, halten zu welcher er will.“⁸¹ Der Vorzug der Presbyterialverfassung besteht darin, dass die die Gemeinde betreffenden Angelegenheiten an dem Ort entschieden werden, wo aufgrund der Erfahrungsnähe die größte Entscheidungskompetenz vorhanden ist. Werden hingegen solche Entscheidungen an einem dritten Ort getroffen, sei es durch eine Synode oder durch ein Konsistorium, so stellt sich die Frage, ob die Entscheidungsträger die Gemeinde repräsentieren können, da der Zusammenhang mit dieser unterbrochen ist. Das demokratische Ansehen der Entscheidungen ist erst dann gegeben, wenn sich die überörtlichen Entscheidungsebenen zurückhalten und sich nicht zu einer Dauerinstanz verfestigen. Sobald das geschieht, kippt das demokratische Ansehen des Kirchenregiments in ein aristokratisches um.⁸² Schleiermacher hat die Presbyterialverfassung keinesfalls idealisiert, sondern auch die Probleme gesehen, die mit ihr verbunden sind. Sie setzt ein gu-
Schleiermacher 1850, 569 (im Original hervorgehoben) (Anm. 23). Schleiermacher [1843] 1999, 521 (Anm. 68). Vgl. Schleiermacher 1850, 543 (Anm. 23). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1808], Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche für den Preußischen Staat, in: Ders. 2000, Kirchenpolitische Schriften, 1– 18 (Anm. 12). Schleiermacher [1808] 2000, 6 (§ 2) (Anm. 77). Schleiermacher [1808] 2000, 9 (§ 12) (Anm. 77). Vgl. dazu Schleiermacher 1850, 569, 573 – 577 (Anm. 23). Schleiermacher [1808] 2000, 7 (§ 7) (Anm. 77). Vgl. Schleiermacher 1850, 545 (Anm. 23).
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tes Einvernehmen zwischen den Pastoren und den Laien voraus. Schieflagen können dadurch entstehen, dass die Geistlichen ihr Amt auf Lebenszeit innehaben, während die weltlichen Mitglieder des Presbyteriums nach einer gewissen Zeit ausscheiden.⁸³ Eine weitere Schwäche liegt im „demokratischen System“⁸⁴ selbst, dem das Bestreben zugrunde liegt, die Zusammenkünfte so einzurichten, „daß ein einzelner nicht eine persönliche Autorität ausüben kann“.⁸⁵ Das kann dazu führen, dass fällige Entscheidungen unnötig verschleppt werden und dann unter Entscheidungszwang „tumultuarisch“, d. h. unbesonnen, entschieden werden muss.⁸⁶ Und wenn sich die Geistlichen mit ihren Vorschlägen zu sehr hervortun, werden die Weltlichen umso mehr am Bestehenden festhalten und gegen erforderliche Veränderungen opponieren.⁸⁷ Schleiermacher sieht die Lösung in einem guten, kooperativen Verhältnis von geistlichen und weltlichen Mitgliedern des Presbyteriums.⁸⁸ Je besser es um die kirchliche Bildung der Gemeinde einerseits und um die persönliche Autorität der Geistlichen andererseits steht, desto besser kann die Parochialverfassung mit Leben erfüllt werden. Daran hat sich bis heute nicht geändert. Episkopal- und Konsistorialverfassung stellen sich im Vergleich mit dem Presbyterialsystem als suboptimal dar. Die Episkopalverfassung neigt zu einer unevangelischen Revitalisierung hierarchischer Organisationsformen und zu einem Übergewicht des doktrinalen Interesses.⁸⁹ Vor allem aber werden sich die Bischöfe von der Gemeinde entfremden und sich den Repräsentationsformen der weltlichen Herrschaft annähern.⁹⁰ Die Konsistorialverfassung ist diejenige, die Schleiermacher in Preußen, aber auch in anderen deutschen Landen vorfand. Das Konsistorium war als Behörde des Königs eingerichtet, in der die kirchlichen Angelegenheiten durch weltliche Beamte – Theologen und Juristen – von oben geregelt wurden. Das Problem dieser Verfassung besteht für Schleiermacher nicht nur darin, dass hier ein unsachgemäßer weltlicher Einfluss auf die Kirche ausgeübt wird, sondern auch darin, dass ein Einzelner einen ihm nicht zustehenden Einfluss auf das Ganze hat: [I]n dieser Verfassung wird die Entwikklung der Lehre durch das Schriftverständniß abhängig gemacht von der Persönlichkeit des Staatsoberhauptes. […] Daraus entstehen die größten Schwankungen in den Bewegungen der evangelischen Kirche und das ist schon an sich ein Uebel. Denn in der Kirche ist das Landesoberhaupt ein einzelner in kirchlicher Hinsicht, und der einzelne bewegt sich stets anders als das Ganze. […] Wenn aber ein einzelner[,] der so ganz auf dem
Vgl. Schleiermacher 1850, 554 (Anm. 23). Schleiermacher 1850, 554 (Anm. 23). Schleiermacher 1850, 554 (Anm. 23). Vgl. Schleiermacher 1850, 554 (Anm. 23). Vgl. Schleiermacher 1850, 554 (Anm. 23). Vgl. Schleiermacher 1850, 554– 555 (Anm. 23). Vgl. Schleiermacher 1850, 545 – 547, 550 – 553, 559 – 561 (Anm. 23). Vgl. Schleiermacher 1850, 552– 553 (Anm. 23).
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einen Extrem steht[,] einen solchen überwiegenden Einfluß ausüben kann, wird die Bewegung durch den einzelnen alteriert, was höchst verderblich ist.⁹¹
Die Trennung der Kirche vom Staat ist also primär dadurch motiviert, dass die größtmögliche Einflussnahme aller Gemeindeglieder auf das Ganze durch das staatliche Dirigat von oben verhindert wird. Wie recht Schleiermacher damit hatte, sollte sich dann in den Auseinandersetzungen um die Einführung der Agende Friedrich Wilhelms III. zeigen. Schleiermacher, der das ius liturgicum des Königs vehement bestritten hat, ist freilich mit seiner Kritik an der bestehenden Kirchenverfassung Preußens nicht durchgedrungen. In seinen Vorlesungen zur Praktischen Theologie führte er mutig aus, dass die evangelische Kirche überall „in ihrer freien Existenz vom Staat beeinträchtig ist“.⁹² Schleiermacher war es freilich nicht vergönnt, die Aufhebung dieses Zustands zu erleben. Im Gegenteil: Auch die moderaten Versuche, presbyteriale und synodale Elemente mit der Konsistorialverfassung zu verbinden, wurden von oben ausgebremst. Schleiermachers Enttäuschung darüber kommt deutlich im Nachtrag zur Stellungnahme zum Ausdruck, die er 1817 zu der in Preußen einzurichtenden Synodalverfassung verfasste.⁹³ Als er das Gutachten gerade abgeschlossen hatte, erhielt er den Entwurf einer Synodalordnung aus der Kirchenbehörde. Die darin getroffenen Regelungen legten sich wie Mehltau auf Schleiermachers Hoffnung auf eine Mäßigung und Eingrenzung des landesherrlichen Zentralismus.⁹⁴ Die formale Stellung des Gemeindepresbyteriums war zwar gefestigt, aber der Kirchenpatron war geborenes Mitglied desselben. Auf den Synoden auf Kreis- und Provinzebene blieben die Kleriker unter sich, an eine Mitwirkung von Synodalen aus dem Kreis der Gemeindeglieder war nicht gedacht.⁹⁵ Im Hinblick auf die Einrichtung und Beschickung von Synoden hielt sich Schleiermacher mit weiterführenden Vorschlägen zurück, obwohl er zu denjenigen gehörte, die auch Presbyter auf die Synoden entsenden wollten. Es ist aufschlussreich, dass er beim Lob der Presbyterialverfassung die an sich folgerichtige Vernetzung der Presbyterien durch die Synoden allenfalls beiläufig behandelte. Vermutlich sah er auch hier die Gefahr einer Fremdbestimmung der Gemeinde aufziehen. Immerhin hielt er es für denkbar, dass die Presbyterialverfassung ein von Deputierten getragenes Kirchenregiment ermögliche, dass sogar die Grenzen eines Staates überschreiten
Schleiermacher 1850, 561 (Anm. 23). Vgl. Schleiermacher 1850, 672 (im Original hervorgehoben) (Anm. 23). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1817], Ueber die für die protestantische Kirche im preußischen Staat einzurichtende Synodalverfassung. Einige Bemerkungen vorzüglich der protestantischen Geistlichkeit des Landes gewidmet, in: Ders. 2000, Kirchenpolitische Schriften, 107– 172 (Anm. 12). Vgl. Schleiermacher [1817] 200, 149: Durch den Entwurf sei „wieder […] manche Hoffnung zerstört, die ich mir gemacht hatte.“ (Anm. 93). Vgl. den Abdruck: Entwurf der Synodal-Ordnung für den Kirchenverein beider evangelischer Konfessionen im Preußischen Staate [Zirkular, 1817], in: Schleiermacher, Kirchenpolitische Schriften, 514– 531 (Anm. 12).
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könne.⁹⁶ Ein solches Kirchenregiment kann im Rahmen der Presbyterialverfassung nur synodal ausgeübt werden. Der Vorschlag zu einer neuen Kirchenverfassung, den Schleiermacher 1808 unterbreitet hatte, bleibt im Blick auf die Einrichtung von Synoden hinter den synodalen Implikationen der Presbyterialverfassung zurück. Die Synoden sind de facto als Pfarrkonferenzen gedacht⁹⁷ und an der Spitze jeder Kirchenprovinz soll sogar ein Bischof stehen⁹⁸. Das läuft auf eine presbyterial-episkopale Mischverfassung hinaus. Der Vorschlag ist vermutlich der strategisch-politischen Einschätzung Schleiermachers geschuldet, nach der sich die presbyteriale Ordnung im Rahmen des landesherrlichen Kirchenregiments nicht anders durchsetzen lasse. Mit der Einführung des Bischofsamtes sollte die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat gestärkt werden; Bischöfe haben im Gegenüber zur konsistorialen Oberaufsicht ein ganz anderes Gewicht als Presbyterien und Pfarrsynoden. Demgemäß wird die „Oberaufsicht des Staates auf das Kirchenwesen“⁹⁹ auf die iura circa sacra begrenzt. Der die Rechte des Staates wahrnehmende Minister ist gegenüber der Kirche nicht unmittelbar weisungsbefugt: „Der Minister hat den Bischöfen im Kapitel nicht unmittelbar zu befehlen, sondern sie nur zu erinnern.“¹⁰⁰
6 Resümee Schleiermachers Überlegungen zur Organisation der Kirche und einer ihr angemessenen Verfassung weisen weit über seine Zeit hinaus und sind an vielen, ja an den entscheidenden Punkten von erfrischender Aktualität. Heutige Kirchenmodernisierer sollten an der Weisheit seiner Reformideen nicht achtlos vorbeigehen.¹⁰¹ Sein Aphorismus: „Es ist also auch gar nicht so schwer, die Kirche zu regieren, wenn man nur nicht zuviel regieren will“ lässt sich auch im Blick auf Reformprojekte variieren: „Es ist also gar nicht so schwer, die Kirche zu reformieren, wenn man nur nicht zuviel reformieren will“. Die reformierten Akzente in Schleiermachers Kirchentheorie sind unübersehbar. Sie stehen in einem unverkennbaren Wechselverhältnis zu den Gemeindeerfahrungen, die Schleiermacher aus der Brüdergemeine mitgebracht hat. Auf jeden Fall sind Herrnhuter Impressionen bei der Hochschätzung der Ortsgemeinde und bei der konfessionsüberschreitenden Öffnung der Mahlfeiern im Spiel. Solche Impressionen
Vgl. Schleiermacher 1850, 664– 665 (Anm. 23). Vgl. Schleiermacher [1808] 2000, 10 – 13 (Anm. 77). Vgl. Schleiermacher [1808] 2000, 13 – 17 (Anm. 77). Schleiermacher [1808] 2000, 17 (Anm. 77). Schleiermacher [1808] 2000, 18 (§ 6) (Anm. 77). Das wird eindrucksvoll von Christoph Dinkel herausgearbeitet; vgl. Dinkel 1996, 250 – 275: „Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments als Reformprogramm für Kirche und Theologie“ (Anm. 8).
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lassen sich unschwer mit dem Erfahrungsschatz plausibilisieren und kombinieren, den die westeuropäischen Reformierten in ihrer spezifischen Situation einer staatsfernen Organisation des Kirchenwesens gesammelt hatten. Etwas überspitzt könnte man von bestimmten Synergieeffekten zwischen Herrnhut, Zürich und Genf reden. Freilich darf man einem Theologen vom Format Schleiermachers zugestehen, dass er nicht von geschichtlichen Vorlagen und Vorbildern abhängig war, sondern schöpferisch zu konzeptualisieren vermochte. Deshalb sind die zu identifizierenden reformierten Akzente am besten als Konvergenzen zu verstehen, die nicht an die konfessionelle Herkunft des Autors gebunden waren, wohl aber durch sie begünstigt worden sind.
Marianne Schröter
Schleiermacher als reformierter Prediger an der Charité Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher hat wohl um die 2.300 Gottesdienste und Andachten als Prediger gestaltet.¹ Er war zeitlebens an der Praxis religiöser Rede und Unterweisung interessiert, auch in Jahren, wo ihn keine offizielle Dienstpflicht dazu anhielt. In einem Brief vom 22. Dezember 1806, als die hallesche Friedrichsuniversität gerade durch Napoleon geschlossen worden war, schreibt der nun arbeitslose Professor an Heinrich Karl Abraham Eichstädt: „Soll ich mich auf einer Universität wol befinden so brauche ich neben einem philosophischen Lehrstuhl auch einen theologischen, und neben beiden eine Kanzel…“.² Sein Selbstverständnis als Prediger und die überlieferten Predigten sind als Quellen für sämtliche Themenfelder seiner wissenschaftlichen Arbeit – wie Hermeneutik, Religions- und Kommunikationstheorie, die Auffassung von Individualität und Sozialität, gefühls- und darstellungstheoretische Überlegungen – von großem Gewicht. Für die uns jetzt interessierende Zeit seiner Tätigkeit an der Berliner Charité zwischen 1796 und 1802 gilt dies in besonderer Weise, fallen doch in jene Jahre die Aufnahme in den Berliner Frühromantikerkreis und die Mitwirkung am Athenaeum-Projekt, die Freundschaft zu den Mitgliedern der Salons, der Kontakt mit den führenden Kirchenmännern der Stadt, die Arbeiten an der großen Platonübersetzung sowie die Fertigstellung und Publikation der Theorie des geselligen Betragens, der Reden über die Religion, der Monologen und der Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde. Vieles von dem, was Schleiermacher später gedanklich ausbaut und weiterentwickelt, empfängt seine Prägung in den Jahren seiner ersten Berliner Zeit. Betrachten wir zunächst ganz kurz seinen Werdegang als Prediger bis zum Dienstantritt an der Charité. Im Juli 1790 hatte Schleiermacher die Erste Theologische Prüfung abgelegt, die mit einer Erlaubnis zum öffentlichen Predigtvortrag in der brandenburgisch-preußischen reformierten Kirche verbunden war. Das zweite Examen, das ihm die Befähigung zum Predigtamt bestätigte, bestand er im März 1794. Nach der Ordination im April des gleichen Jahres im Berliner Dom wurde er in sein erstes Amt als Hilfsprediger der reformierten Gemeinde an der Konkordienkirche in Landsberg an der Warthe, die liturgisch als Simultankirche organisiert war, eingeführt. Aber bereits in der Zeit zwischen erstem und zweitem Examen, also in den Jahren zwischen 1790 und 1794, predigte er in der Stelle als Hofmeister bei der gräflichen Familie von Dohna in Schlobitten regelmäßig – zumeist im Gartensaal im
Günter Meckenstock, „Einleitung des Bandherausgebers“, in: Friedrich Schleiermacher, Predigten 1790 – 1808, KGA III/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2013, XXI–XXI, hier XXI. Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1806 – 1807, KGA V/9, hg. v. Andreas Arndt/Simon Gerber, Berlin/Boston 2011, Nr. 2367, Z. 39 – 41. https://doi.org/10.1515/9783110608656-016
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Ostflügel des Schlosses. Von Anfang an redete er dabei frei und legte lediglich ein Konzept mit systematisch geordneten Schlüsselbegriffen zugrunde. In einem Brief an den Vater Johann Gottlieb Adolph Schleyermacher vom Mai 1793 schreibt er: „Ich habe nämlich schon seit einiger Zeit aufgehört meine Predigten wörtlich zu concipiren; ich mache eine vollständige Disposition, worin kein Gedanke und kein Uebergang ausgelassen ist; die Diction aber schreibe ich nur bei solchen Stellen auf, die mir schwierig scheinen […]“.³ Allerdings formuliert er bestimmte Predigten nachträglich aus und verschickt sie an den Vater oder den Onkel Samuel Ernst Stubenrauch zur Begutachtung. Mit dem Stellenantritt in Landsberg am Karfreitag 1794 beginnt er, die eigene homiletische Praxis zu dokumentieren, sammelt die erstellten genauen und fein gegliederten Dispositionen und überträgt sie reinschriftlich in Hefte. Dort wird auch notiert, wann und warum er Predigten wiederholt. So findet sich etwa eine Bemerkung an einem Entwurf vom 21. Juni 1795: „Vorstehende Predigt ist schon im vorigen Jahr gehalten worden, aber unaufgeschrieben vor der Zeit der Dispositionen. Ich habe sie also noch einmal gehalten, um sie zu disponieren und zu concipiren“.⁴ Diese Praxis behält Schleiermacher auch bei, als er im September 1796 die Stelle als reformierter Prediger an der Charité und – beigeordnet – am Invalidenhaus antritt.⁵ Sein Bewerbungsschreiben wurde von Seiten des Königlich Preußischen Armendirektoriums, das die Dienstaufsicht ausübte und das Patronat innehatte, bereits im Januar 1796 positiv beschieden. Wilhelm Leonhardt Kriege, sein Vorgänger im Amt, war nach Drossen auf Samuel Stubenrauchs Stelle gewechselt, der wiederum das Pfarramt in Landsberg an der Warthe, auf das sich auch Schleiermacher selbst Hoffnungen gemacht hatte, übernahm. Am 18. September 1796 hält Schleiermacher seine Antrittspredigt in der Charité, in der er – vergleichbar zu dem in der Apologie seiner Reden angewandten Verfahren – kultur- und religionssoziologische Analysen zur Ausgangsbasis der Argumentation macht: „Ja es scheint sogar, als ob die Aussichten für einen Lehrer der Religion jezt mehr als jemals traurig wären; die Häuser der öffentlichen Gottesverehrung werden immer seltener besucht, gemeinschaftliche Erbauung wird nicht mehr als ein großes Bedürfniß betrachtet, und alle Uebungen der Religion werden als solche Dinge angesehen, die man allen übrigen nachsezen kann“.⁶ Einer engagierten und bewussten Predigttätigkeit traut er zu, dieser Distanz und dem dahinterstehenden Desinteresse begegnen zu können. Ein Appell in der
Fridrich Schleiermacher, Briefwechsel 1774 – 1796, KGA V/1, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Vírmond, Berlin/New York 1985, Nr. 216, Z. 11– 18. Friedrich Schleiermacher, Predigten 1790 – 1808, KGA III/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2013, 435. Zu Schleiermachers früher Berliner Predigttätigkeit vgl. bes. Kurt Nowak, „Schleiermacher als Prediger am Charité-Krankenhaus in Berlin (1796 – 1802). Ein Beitrag zu seiner Jugendbiographie“, in: Theologische Zeitschrift 41 (1985), 391– 411; Albrecht Beutel, „Berliner Charité – Prediger 1796 – 1802“, in: Schleiermacher-Handbuch, hg. v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 76 – 87. Schleiermacher 2013, 332 (Anm. 4).
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Eingangspassage dieser Predigt zeigt dies an: „Die Gründe, warum ein christlicher Lehrer zu seinem Amt immer Freudigkeit haben kann […]“.⁷ Die Charité, 1710 zunächst als Pesthaus gegründet, dann als Altenheim, Krankenhaus und medizinische Ausbildungsstätte genutzt, wurde zur Zeit des Amtsantritts Schleiermachers gerade umfänglich erweitert und modernisiert, so dass der junge Prediger zeitweise Wohnung in einer externen Unterkunft nehmen musste. Jenes Quartier vor dem Oranienburger Tor war dann auch der Ort, wo Friedrich Schlegel 1797/98 vorübergehend unterkam. Die Predigt- und Seelsorgeverpflichtungen waren hoch. Zu den Gottesdiensten in der Charité-Kirche, die als Simultankirche auch von den lutherischen Predigern genutzt wurde, kamen Betstunden bzw. Wochenpredigten in den Krankensälen, Gottesdienste in der Invalidenhauskirche, Predigten in anderen reformierten Gemeinden Berlins, Seelsorge und religiöse Unterweisung bei den Insassen der Kranken- und Sozialeinrichtungen sowie die anfallenden Kasualdienste. Mit den lutherischen Kollegen, zunächst Johann Georg Wilhelm Prahmer und ab 1800 Heinrich Wilhelm Ferdinand Klaproth, gab es eine gute konstruktive Zusammenarbeit, mit dem Inhaber der lutherischen Pfarrstelle am Invalidenhaus, August Christian Wilhelm Grunow, und – wie bekannt – noch mehr mit dessen Frau Eleonore eine sehr enge Freundschaft. 1799 erließ König Friedrich Wilhelm III. eine Verordnung, in der Organisation der Charité Missstände abzustellen und Strukturen zu entflechten. Das Hospital genannte Altenheim wurde daraufhin nach Neukölln ausgelagert. Die Arbeit konzentrierte sich jetzt auf die Krankenversorgung und die medizinische Ausbildung. Schleiermacher und Prahmer nahmen die königliche Ordre zur Gelegenheit, in einem Schreiben an das Armendirektorium vom 2. September 1799 ihrerseits Reformen zu fordern. Es sollen nicht mehr zwei sonntägliche Gottesdienste vormittags und nachmittags im Wechsel zwischen beiden Konfessionen gehalten, sondern einer davon, nämlich der am Vormittag, durch eine zusätzliche Betstunde in einem der Krankensäle ersetzt werden. Taufen sollen sich auf den Sonntagnachmittagsgottesdienst konzentrieren, die übrigen gottesdienstlichen Verpflichtungen werden im wöchentlichen Wechsel kollegial vereinbart. Schon in dieser frühen Phase zeigt sich eine bemerkenswerte unionistische Initiative, insofern er und Prahmer für die Privatkommunion die Entwicklung eines konfessionsübergreifenden gemeinsamen Formulars einfordern.⁸ Die Armendirektion stimmt den Reformvorschlägen ihrer beiden Prediger überwiegend zu. Allerdings wird das Anliegen einer gemeinsamen Abendmahlsagende nicht unterstützt resp. sogar abgelehnt. Die neue Regelung führt dazu, dass Schleiermacher bis zu dreimal am Sonntag und zusätzlich in der Woche zu predigen hat. Mit Abschluss des Neubaus des Hauptgebäudes der Charité fanden ab Ende 1800 die nun am Nachmittag gehaltenen Sonntagsgottesdienste in einem eigenen Kirchsaal statt.
Schleiermacher 2013, 327 (Anm. 4). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1799 – 1800, KGA V/3, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1992, Nr. 868, Z. 56 – 65.
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In die frühe Berliner Zeit fällt auch die Publikation einer ersten Sammlung von Predigten, die Georg Andreas Reimer 1801 in seiner Berliner Realschulbuchhandlung verlegte. Allerdings findet sich in diesem Sammelband kein Beispiel aus dem seinerzeitigen Tätigkeitsfeld an der Charité. Reimer, dem er freundschaftlich eng verbunden war, sollte auch in der Folge einer der wichtigsten Verleger Schleiermachers bleiben. Um Eleonore von Grunow die Ehescheidung zu ermöglichen und auf Anraten seines alten Förderers Friedrich Samuel Gottfried Sack verließ er Anfang des Jahres 1802 Berlin und wechselte nach Stolp in Hinterpommern. Dem Armendirektorium hinterließ er – ungeachtet mancher Konflikte – ein versöhnliches Zeugnis: Ich „erstatte […] Einem Hochlöblichen Königlichen ArmenDirectorio mit gerührtem Herzen den aufrichtigsten Dank für alles während meiner fast Sechsjährigen Amtsführung von Demselben genossenen Wohlwollen; empfehle das Gute so ich etwa gethan und gewollt Dessen geneigtem Andenken, die übriggebliebenen Mängel aber nachsichtiger Vergessenheit […]“.⁹ Kommen wir nun zum Überlieferungsstand der frühen Predigten. Hatte Schleiermacher in seinen ersten Jahren als Prediger „Conzepte“ auf Einzel- oder Doppelbögen notiert, begann er mit der Berufung nach Landsberg an der Warthe mit der Sammlung seiner Predigtentwürfe, auch als Grundlage für Predigtwiederholungen. Insgesamt sind zwischen Juli 1794 und August 1796 128 Dispositionen in eigenem Manuskript mit der Aufschrift „Predigt-Entwürfe in Landsberg“¹⁰ überliefert. Aus dem gesamten Zeitraum von 1790 bis 1796, also vom Ersten Examen bis zum Beginn an der Charité, sind 40 ausgeschriebene Predigten in ganz verschiedenen Ausarbeitungsstufen erhalten geblieben. Diese Sammlung bildet das Konvolut, das Adolf Sydow 1836 für die Herausgabe des Predigtnachlasses verwendet hat.¹¹ Teilweise wurden diese Predigten auf der Grundlage sekundärer Nachschrift von eigener Hand in den von Schleiermacher publizierten Predigtsammlungen 1801 und 1808 veröffentlicht. Die erste gedruckte Predigt – in einem 1799 von Philipp Karl Buttmann anonym herausgegebenen Sammelband¹² – ist die Predigt vom Buß- und Bettag des Jahres 1796 über SapSal 14,34 mit der Überschrift „Die Gerechtigkeit ist die unentbehrliche Grundlage des allgemeinen Wohlergehens“, die Schleiermacher in Landsberg an der Warthe gehalten hatte. In der Rezension jenes Sammelbandes in der „Staats- und Gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten“ vom
Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1801 – 1802, KGA V/5, hg. v. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1999, Nr. 1235, Z. 10 – 15. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Schleiermacher-Nachlass, Nr. 51. Schleiermacher, Sämtliche Werke, Abt. II. Predigten, Bd. 7, hg. v. Adolf Sydow, Berlin 1836. Erste Sammlung. Aus Schleiermachers Candidatenjahren 1789 bis 1794, 1– 202; Zweite Sammlung. Vom Amtsantritt in Landsberg a.d. W. bis zum Amtsantritt im Charité-Hause zu Berlin 1794 bis 1796, 203 – 380. [Philipp Karl Buttmann,] Auswahl noch ungedruckter Predigten von Ammon, Bartels, Diterich, Löffler, Marezoll, Sack, Schleiermacher, Spalding, Teller, Zöllner, Zollikofer, Berlin 1799.
Schleiermacher als reformierter Prediger an der Charité
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17. April 1799 wird Schleiermachers Aufnahme in die Riege bekannter und bedeutender Aufklärungsprediger wie Spalding, Sack oder Teller mit den Worten legitimiert: „Herr Schleiermacher, von welchem hier auch eine geistvolle Rede erscheint, ist derselbe, […] der in Berlin als denkender Kopf und einnehmender Kanzelredner geschätzt ist. Durch die Auswahl der Gegenstände ist für die Anlokkung auch der Aufgeklärten, und für Belehrung und Besserung aller besorgt“.¹³ Für die Zeit an der Charité ist das reinschriftlich übertragene Heft für 1797 – genauer bis zum 14. November des Jahres – mit 63 Dispositionen überliefert. In diesem Heft werden zwei Zählungen geführt, eine arabische für die Predigtthemen und -texte, eine römische für die Predigttermine. Zusätzlich existiert die Einzeldisposition einer Predigt vom 8. Januar 1797, die Schleiermacher auf der Rückseite eines Briefes notiert hat. Für die Jahre 1798/99 ist kein solches Heft oder eine andere Quelle erhalten, lediglich die Ankündigungen im Berliner Intelligenz-Blatt lassen Rückschlüsse auf die Predigtverpflichtungen und -termine zu. Mit dem Jahreswechsel 1799 auf 1800 und der erfolgten Neuordnung des Predigtdienstes an der Charité nimmt Schleiermacher die Praxis der Reinschriften der Dispositionen wieder auf. Ein umfangreiches Heft für das Jahr 1800 und den Beginn des Jahres 1801 umfasst insgesamt knapp über 100 Predigtdispositionen, die zumeist durch die Hinweise „Eingang“, „Thema“ und „Schluss“ strukturiert sind. In römischer Zählung werden Termin, Kasus, Ort und Bibelstelle notiert. Dazu findet man Angaben der in Gottesdienst oder Andacht gesungenen Lieder aus dem Porstschen Gesangbuch¹⁴ oder dem Gesangbuch von August Mylius¹⁵. In diesem Heft sind auch einige Dispositionen aus der Zeit nach Schleiermachers Rückkehr von Halle nach Berlin Ende 1807 erhalten. Wie lässt sich der Charakter dieser Texte resp. Gedankensammlungen beschreiben? Als reformierter Prediger war Schleiermacher an keine Perikopenordnung gebunden.¹⁶ Vielmehr kombiniert er, jenseits der Fälle, wo die Stellung im Kirchenjahr oder obrigkeitliche Setzungen zu quasi staatlichen Feiertagen wie dem Buß- und Bettag einen freien Bibelbezug ausschlossen, die thematische Schwerpunktsetzung mit einem geeigneten biblischen Verweis. Die Dispositionen sind teilweise systematisch diffizil ausgearbeitet – es finden sich Systematiken, die von römischer und arabischer Zählung über lateinische, griechische und hebräische Buchstabenverfahren und schließlich wieder über Zahlensystemen, jetzt in Klammern gesetzt, verfahren – und auch äußerst enigmatische Skizzen. Als Beispiel für Letzteres sei die vollständige Disposition für die Predigt bei den „inneren Weibern“, also auf der inneren Frauen-Station, von 24. Januar 1797 über Prov 14,32 „In seinem Unglück wird der Gottlose umgestoßen, aber der Gerechte ist (noch) in seinem Tod geborgen“ zitiert:
Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondeten, 1799, Nr. 62, am 17. April, Sp. 9. Geistliche und Liebliche Lieder, hg. v. Johann Porst, Berlin 1709, 211798. Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den königlich preußischen Landen, hg. v. August Mylius, Berlin 1781. Vgl. Meckenstock 2013, XXVI (Anm. 1).
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Marianne Schröter
„Eingang. Man glaubt gewöhnlich auf den Unterschied der Gesinnungen komme es nur bei gewißen Fällen an, sein Einfluß zeigt sich aber überall, besonders in Tagen der Prüfung. Thema. Der wolthätige Einfluß guter Gesinnungen im Unglük. 1. Geduld, 2. wolwollende Gesinnung, 3. Gottergebenheit“.¹⁷ Von den im ersten Heft für das Jahr 1797 überlieferten 63 Dispositionen gehen 36 auf in der Charité, 15 auf in den Krankensälen und 12 anderenorts gehaltene Predigten zurück. Bemerkenswert ist, dass die als Wochenpredigten in den Krankensälen gehaltenen 15 Andachten gleichrangig Texte aus dem Alten und Neuen Testament behandeln. Es deutet sich hier schon an – eine Tendenz, die sich in den späteren Predigtjahrgängen bei Schleiermacher noch deutlicher greifen lässt –, dass im Bereich der alttestamentlichen Bezüge überwiegend weisheitliche Traditionen herangeführt werden. Signifikant wird dies dann im zweiten überlieferten Heft aus den Jahren 1800/01. Hier finden sich für die insgesamt 52 Gottesdienste in den Krankensälen bis auf sieben neutestamentliche Textbezüge ausschließlich Psalmentexte als Grundlage der Predigten, ein Verhältnis, das sich bei den Gottesdiensten im Kirchsaal der Charité und im Invalidenhaus genau gegenläufig darstellt. 46 neutestamentliche Textverweise stehen dort lediglich 4 alttestamentlichen Bezügen aus dem Feld der Weisheit gegenüber. Interessant ist auch, dass Schleiermacher in seinen Kranken-Predigten manche Psalmentexte nur in ihren Kernversen anführt, andere Psalmen aber über mehrere Predigtanlässe fast schon kursorisch auslegt. Als Schwerpunkte lassen sich neben einzelnen Verweisen auf Klagepsalmen – so begegnet etwa Ps 6, allerdings mit dem Tenor „Unanständigkeit eines übertriebenen Schmerzes“¹⁸ in durchaus überraschender Interpretation – deutlich Themen der Schöpfungstheologie (Pss 8. 24. 104) und der Bewahrung in Not und Anfechtung (Pss 27. 37) ausmachen. Dass sich diese alttestamentliche oder – näher gesagt – psalmentheologische Präferenz Schleiermachers reformierter Herkunft verdankt, ist anzunehmen. Gleichzeitig stimmt sie aber auch mit seiner gefühls- und individualitätstheoretischen Konzeption, wie sie sich etwa zeitgleich in den Reden zeigt, überein, stellen doch die Psalmen Ausdrucksgestalten basaler menschlicher Affekte und religiöser Gefühlslagen dar. Es würde sich sehr lohnen, die nur in Dispositionen erhaltenen Quellen der Jahre an der Berliner Charité unter diesem Gesichtspunkt näher zu analysieren, wodurch Schleiermachers frühes theologische Denken eine interessante Kontextualisierung in homiletischer und exegetischer Hinsicht erfahren würde.
Schleiermacher 2013, 536 (Anm. 4). Schleiermacher 2013, 612 (Anm. 4).
Sabine Schmidtke
Schleiermacher als Ökumeniker 1 Schleiermacher als Ökumeniker? „Rette sich, wer kann!“¹
„Der Kirchenvater des Neuprotestantismus als Ökumeniker? […] Rette sich, wer kann!“² – Mit diesen Worten eröffnete Eberhard Jüngel vor knapp zwanzig Jahren seinen Festvortrag beim ersten internationalen Kongress der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle – und nahm damit einen Gedanken vorweg, der mir durch den Kopf ging, als ich die Anfrage zu diesem Vortrag erhielt. Kann man an Schleiermacher und seine Theologie die Begriffe von Ökumene und Ökumeniker in ihrem heutigen Verständnis herantragen? Und falls ja: In welcher Weise lässt sich Schleiermacher als Ökumeniker bezeichnen? Was bieten seine Schriften an ökumenischen Impulsen oder Programmansätzen? Dass und wie man Schleiermacher als Ökumeniker denken kann, zeigt Jüngel dann in einem Weg von Schleiermachers Reden, über die Kurze Darstellung des theologischen Studiums hin zur Glaubenslehre ³ – ein Weg, dem auch ich im Folgenden zunächst nachgehen werde, ergänzt durch Abzweigungen in kirchenpolitische Schriften. Damit wird skizziert, inwiefern Schleiermachers Verständnis von Religion sowie religiösen Gemeinschaften und ihrer geschichtlichen Entwicklung ein Konzept bietet, das es erlaubt, ihn in verschiedener Weise als Ökumeniker zu bezeichnen. Da der Originalitätsdruck auf mir lastet, werde ich darüber hinaus als „Probe aufs Exempel“ versuchen, eine Linie von Schleiermachers ökumenischen Impulsen zur Leuenberger Konkordie zu ziehen, um so zeigen zu können, inwiefern Schleiermacher Grundlinien ökumenischer Kirchengemeinschaft bereits 169 Jahre vor ihrer Erklärung erahnte.
Eberhard Jüngel, „Häresis – ein Wort, das wieder zu Ehren gebracht werden sollte. Schleiermacher als Ökumeniker“, ZThK 96 (1999), 207– 234, 207 (wieder abgedruckt in: Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener [Hg.], 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle, 14. – 17. März 1999, SchlA 19, Berlin/New York 2000, 11– 38). Jüngel 1999, 11 (Anm. 1). Die eröffnenden Absätze spielen auf Georg Friedrich Wilhelm Hegel [1807], „Wer denkt abstrakt?“, in: Werke 2. Jenaer Schriften: 1801– 1807, Frankfurt am Main 1977, 575 – 581, hier: 575, an. Einen weiteren Beitrag zum ökumenischen Potential des Schleiermacherschen Konzepts von Individualisierung innerhalb einer Gattung bietet Constantin Plaul, „Versöhnte Vielfalt. Schleiermachers individualitätstheoretische Bestimmung des konfessionellen Gegensatzes als Beitrag für eine ökumenische Verständigung in protestantischer Perspektive [2013]“, KuD 61 (2015), 248 – 259. https://doi.org/10.1515/9783110608656-017
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Sabine Schmidtke
2 Religion, Pluralität positiver Religionen, das Wesen des Christentums und seine geschichtliche Entwicklung 2.1 Die Religion und die Religionen: Schleiermacher „als Ökumeniker höherer Ordnung“⁴ In der zweiten seiner Reden Über die Religion ⁵ bestimmt Schleiermacher bekanntermaßen ihr Wesen als „Anschauung und Gefühl“: „Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen“⁶. Selbständig gegenüber Metaphysik und Moral gehöre sie zum vollständigen Menschsein des Menschen, bilde „das nothwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden“⁷. Obwohl Schleiermacher in diesem Sinne also von der Allgemeinheit der Religion im Singular sprechen kann, wendet er sich in den Reden zugleich gegen die Vorstellung einer allgemeinen, natürlichen Vernunftreligion. Vielmehr liege es schon im Wesen der Religion begründet, dass sie ihre konkrete Gestalt, wenn Anschauung und Gefühl auseinandertreten und in Mitteilung und Darstellung übergehen, nur in der Pluralität der religiösen Individuationsgestalten annehmen könne.⁸ Dass sich aus dieser unendlichen Vielfalt religiöser Anschauungen und Vorstellungen die positiven Religionsgemeinschaften bilden, verdanke sich Akten der Willkür,⁹ indem „eine einzelne Anschauung des Universums […] zum Centralpunkt der ganzen Religion gemacht, und alles darin auf sie bezogen wird“, wodurch „auf einmal ein bestimmter Geist und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze“¹⁰ der Vielfalt von Anschauungen und Vorstellungen komme. Ohne weiter ins Detail gehen zu können, folgt aus diesen grundsätzlichen Erwägungen über das Wesen der Religion bei Schleiermacher ein zutiefst inner- und interkonfessioneller sowie interreligiöser ökumenischer Zug, insofern jede Gestalt des Religiösen – sei es das einzelne religiöse Individuum, die einzelne Konfession, die
Jüngel 1999, 220 (Anm. 1). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1799], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, Berlin/New York 1984, 185 – 326. Schleiermacher 1984, 211 (Anm. 5). Schleiermacher 1984, 212 (Anm. 5). Vgl. Schleiermacher 1984, 294– 296 (Anm. 5). Dieser Aspekt des Wählens ist es, der Schleiermachers Votum – „Häresis – ein Wort das wieder zu Ehren gebracht werden sollte“ (Schleiermacher 1984, 304 [Anm. 5]) – begründet, indem er den HäresisBegriff auf seine Ursprungsbedeutung zurückführt. Diesen Ansatz verfolgt ausführlich Jüngel in seinem Beitrag (Jüngel 1999 [Anm. 1]). Schleiermacher 1984, 303 (Anm. 1).
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einzelne Religion – zugleich als Teil des Ganzen verstanden wird, das wiederum gar nicht anders als im Einzelnen angeschaut werden könne: Dieses Gefühl muß Jeden begleiten der wirklich Religion hat. Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige nur ein Theil des Ganzen ist, daß es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affizieren, Ansichten giebt, die eben so fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden, und daß aus andern Elementen der Religion Anschauungen und Gefühle ausfließen, für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt.¹¹
Insofern – dies zeigt sich später in der Glaubenslehre bei dem Versuch der Klassifizierung der Religionen in verschiedene Stufen und Arten –¹² könnten aus der eigenen religiösen Perspektive andere Religionen, weil sie doch dem gleichen Prinzip entspringen, zwar als niedrigere Stufen und andere Arten der religiösen Vorstellung und Darstellung erscheinen, nicht jedoch als vollständig falsche Religionen, da „der Irrthum nirgend an und für sich ist, sondern immer nur an dem wahren“ und in einem „Zusammenhang mit der Wahrheit“.¹³ Diese Haltung bedeutet mehr als eine schlaffe religiöse Toleranz, nach der „halt jeder glauben soll, was er will“. Vielmehr geht es um die aus eigener religiöser Erfahrung entspringende Anerkennung, dass sich das Wesen der unendlichen Religion gar nicht anders darstellen kann als in den endlichen Religionen und religiösen Individuen, so dass der religiöse Pluralismus keinen bedauerlichen oder resignativ hinzunehmenden Zustand, sondern denjenigen Zustand darstellt, der dem Wesen der unsichtbaren-unendlichen Religion im Bereich des Endlichen entspricht. „Dann aber“ – ich greife erneut auf eine Formulierung Jüngels zurück – „können die Menschen […] prinzipiell nicht in gegeneinander agierenden religiösen Gemeinschaften existieren. […] Und so bilden dann alle, die schon Religion haben, eine, wahre, über die ganze Erde zerstreute und ‚fast unsichtbar[e]’ ‚erhabene […] Gemeinschaft’ […]. Und damit, meine Damen und Herren, haben wir Schleiermacher als Ökumeniker kennengelernt: freilich als Ökumeniker höherer Ordnung“.¹⁴
2.2 Das Christentum: Die Einheit des Wesens des Christentums und die Vielfalt der Kirchen In den Reden geht es Schleiermacher primär um die Religion in ihrem Wesen und ihren positiven Erscheinungen. Und der Adressatenkreis – die Gebildeten unter ihren Verächtern – ist kein innerkirchlicher oder innertheologischer. Schleiermachers
Schleiermacher 1984, 216 – 217 (Anm. 5). Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1830/31], Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Bde., hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008, §§ 7– 10, 60 – 93. Schleiermacher 2008, Bd. 1, § 7.3, 64 (Anm. 12). Jüngel 1999, 220 (Anm. 1).
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Hauptinteresse liegt hier nicht, auch wenn dieser Sachverhalt angesprochen wird, auf der Frage nach der Einheit des Christentums im Verhältnis zur Vielheit der christlichen Kirchen. Diese Problematik stellt sich stärker in den zum innertheologisch und -kirchlichen Gebrauch bestimmten Schriften: In der Kurzen Darstellung als theologisch-enzyklopädischer Selbstverständigung, in der Glaubenslehre als evangelischer Dogmatik mit deskriptiver und normativer Funktion sowie in den kirchenpolitischen Schriften, die Schleiermacher als Unionstheologe verfasst hat. Das Christentum sieht Schleiermacher als eine positiv-geschichtliche Religion, deren einheitliches Wesen – so der Definitionsversuch der Glaubenslehre – darin liege, dass in ihm als einer monotheistisch-teleologischen Frömmigkeitsform „alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“.¹⁵ Dieser Wesensbegriff sei weder rein abstrakt zu erheben noch an irgendeinem geschichtlichen Ort des Christentums rein verwirklicht;¹⁶ vielmehr werde er durch ein religionsphilosophische Spekulation und empirische Christentumsbetrachtung verbindendes Verfahren gewonnen. Der Wesensbegriff wird wiederum so verstanden, dass dem Christentum als einem neuen religiösen Individuationsprinzip von seiner geschichtlichen Entstehung an auch die Möglichkeit interner Pluralität verschiedener „Elemente“¹⁷ oder „Functionen“¹⁸ eignete. Was Schleiermacher jedoch bereits in den Reden als problematisch markiert, ist eine solche Vielheit christlicher Kirchen, bei der diese sich nicht „nur als Fragmente eines einzigen Individuums“ – der ihrem Wesen nach einen christlichen Kirche – verstehen, sondern „sich für besondere Individuen“¹⁹ halten, also für solche Individuationsgestalten des Religiösen, die mit den anderen christlichen Kirchen nicht mehr die Kirchengemeinschaft teilen, die „sich ihres eigenthümlichen Seins nicht erfreuen können, ohne sich von dem der Andern zu entfernen“, so dass schließlich „keine Art von kirchlicher Gastfreundschaft zwischen ihnen geübt wird, welche nicht auch […] gegen[über] Nichtchristen“²⁰ ausgeübt würde.²¹ Grundsätzlich hält Schleiermacher daher als „ökumenisches Programm“ in der Kurzen Darstellung fest: „Da mehrere im Gegensaz mit einander stehende christliche
Schleiermacher 2008, Bd. 1, § 11, 93 (Anm. 12). Allerdings räumt Schleiermacher dem Urchristentum – und den dieses bezeugenden Quellen, also den neutestamentlichen Schriften – eine normative Funktion zu, insofern in den „frühesten [Zuständen] das eigenthümliche Wesen am reinsten zur Anschauung kommt“. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1830], Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2002, § 83, 172. Schleiermacher 2002, § 74, 169 (Anm. 16). Schleiermacher 2002, § 161, 198 (Anm. 16). Schleiermacher 1984, 295 (Anm. 5). Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 151.1, 438 – 439 (Anm. 12). Die Möglichkeit solcher Trennungen liege nicht im Wesen des Christentums begründet, sondern verdanke sich seiner geschichtlichen Entwicklung, durch die es zugleich in einen Zusammenhang mit dem Nicht-Christlichen, der Welt, tritt, von der aus Einflüsse in Einzelnen „Keime von Spaltungen“ (Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 150.1, 435 [Anm. 12]) in die Gemeinschaft tragen könnten.
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Kirchengemeinschaften sich nur bilden konnten aus einem Zustande des Ganzen,“ ist „deshalb jeder Gegensaz dieser Art innerhalb des Christenthums auch dazu bestimmt […] wieder zu verschwinden“.²² Daraus ergebe sich für die Theologie (in ihrer Ausprägung als spezieller Apologetik) die Aufgabe, „divinatorisch [sc. vorausahnend] auch die Formen für dieses Verschwinden“²³ zu reflektieren. Der Zustand der Kirchentrennung dürfe nicht grundsätzlich auf Dauer gestellt werden und jeder konfessionellen Theologie komme es zu, nach geeigneten Möglichkeiten und Formen der Überwindung des Gegensatzes Ausschau zu halten. Letztlich begründet Schleiermacher die Möglichkeit und den Antrieb zu Annäherungen und Wiedervereinigung christologisch-pneumatologisch: Der Geist als das gemeinschaftsstiftende Prinzip dränge, weil sein Wirken auch in den anderen sich zu Christus bekennenden Kirchen angenommen wird,²⁴ darauf, auch hier Gemeinschaft zu suchen, und richtet sein Wirken daher gegen Spaltungen.²⁵
2.3 Die geschichtliche Entwicklung des Christentums und die Möglichkeit der Überwindung von Kirchentrennung Dennoch kommt Schleiermacher zu sehr unterschiedlichen Voten, was die Möglichkeit der Union von lutherischer und reformierter Kirche einerseits, von evangelischer und römisch-katholischer Kirche andererseits betrifft – worauf gleich zurückzukommen ist. Der Grund hierfür liegt meines Erachtens in seinem Verständnis der Eigenart der Entwicklung relativ selbständiger geschichtlicher Größen – wie es das Christentum eine bilde.²⁶ Seine Entwicklung verlaufe „abgeschlossen für sich in einer Reihe durch Epochen getrennter Perioden“.²⁷ Die Unterscheidung von Perioden und Epochen begründet Schleiermacher in der Kurzen Darstellung innerhalb einer der Explikation der Historischen Theologie vorangestellten Propädeutik: Innerhalb eines bestimmten Geschichtsverlaufs könnten die einzelnen zu betrachtenden Momente unterschiedlich, allerdings nur in relativer Abgrenzung gegeneinander, charakterisiert werden: „entweder als plözliches Entstehen […] oder als allmählige Fortbildung“.²⁸
.Schleiermacher 2002, § 52, 159 (Anm. 16). Schleiermacher 2002, § 53, 160 (Anm. 16). Vgl. auch ders. 2008, § 150, 435 (Anm. 12): „So oft sich in der Kirche Trennungen wirklich hervorthun, kann auch das Bestreben das getrennte zu vereinigen niemals fehlen“. Vgl. auch Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 153, 443 – 446 (Anm. 12). Vgl. Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 150.2, 436 – 437 (Anm. 12). Diese geschichtliche Selbständigkeit des Christentums gelte trotz der Tatsache, dass aus einer anderen Perspektive das Christentum lediglich als „eine einzelne Periode eines Zweiges der religiösen Entwiklung“ (Schleiermacher 2002, § 79, 170 – 171 [Anm. 16]) erscheine. Für die Betrachtung der Historischen Theologie könne das Christentum aber nur als eigentümliche, abgeschlossene geschichtliche Größe in den Blick kommen (vgl. Schleiermacher 2002, § 80, 171 [Anm. 16]). Schleiermacher 2002, § 79, 171 (Anm. 16). Schleiermacher 2002, § 71, 168 (Anm. 16).
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Wenn eine Sequenz von Momenten der ersten Art vorliege, könne man von einer Epoche sprechen, während die Aneinanderreihung der Momente allmählicher Entwicklung eine Periode auszeichne.²⁹ Eine Epoche sei nicht etwas schlechthin Neues, sondern verdanke sich Entwicklungen, deren Ursprung schon in der vorhergehenden Periode liege; ebenso sei die Epoche nicht dergestalt das Fundament der auf sie folgenden Periode, dass sie deren Prinzip in Form unabänderlicher Feststellungen hervorbringe. Vielmehr gehe von einer Epoche ein neuer Impuls aus, der seinen Höhepunkt allerdings erst im Kulminationspunkt der folgenden Periode erreiche. Dieser Kulminationspunkt enthalte „das Größte der Entwiklung ihrer Anfangsepoche […], [stelle] aber noch den Nullpunkt der Schlußepoche dar[]“.³⁰ Schleiermacher selbst versucht, den letzten epochalen Einschnitt für seine Zeit zu erheben. „Abschnittspunkte […] sind schwer zu bestimmen“, so im Manuskript einer Kirchengeschichtsvorlesung, „[u]m sie zu finden muß man den gegenwärtigen Zustand in seinen HauptMomenten und Gegensäzen unter sich und mit dem Anfang vergleichen. Was diese hervorgebracht [hat,] sind die Hauptpunkte“.³¹ Aus einer solchen Betrachtung der den Zustand des Christentums charakterisierenden Differenzen und Hauptcharakteristika schließt Schleiermacher, dass die „lezte Epoche in der Geschichte des Christenthums […] die Reformation [ist], durch welche sich der Gegensaz zwischen Protestanten und Katholiken festgestellt hat“.³²
2.3.1 Der Gegensatz von evangelischer und römisch-katholischer Kirche: Schleiermacher als Divergenz-Ökumeniker Obwohl nun, wie bereits festgestellt, jeder Gegensatz innerhalb des Christentums aufgrund des einheitlichen Wesens des Christentums, das seiner (fortschreitenden) Entwicklung zugrunde liege,³³ grundsätzlich dazu bestimmt sei, überwunden zu werden, ist Schleiermacher hinsichtlich einer baldigen Überwindung des Gegensatzes zwischen römisch-katholischer und evangelischer Kirche skeptisch-zurückhaltend. Dies hat seinen Grund darin, dass er vermutet, dieser Gegensatz sei noch gar nicht zu voller Ausprägung – also bis zu seinem „Culminationspunkt“³⁴ – gelangt. Unter dieser
Vgl. die der Historischen Theologie vorangestellte Propädeutik in Schleiermacher 2002, §§ 71– 78, 168 – 170 (Anm. 16). Schleiermacher 2002, § 91, 175 (Anm. 16). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1821/22], Manuskripte zum Kolleg 1821/22, KGA II/6, Berlin/ New York 2006, 19 – 121, hier 25. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1811], Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2008, II. Teil, Dritter Abschnitt, § 23, 105. Zur Schleiermacherschen Auffassung der Perfektibilität des Christentums vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, BHTh 77, Tübingen 1989, 36 – 45. Schleiermacher 2008, Bd. 1, § 23.2, 162 (Anm. 12).
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Voraussetzung sei es nicht ratsam, „in den streitigen Lehren nach vermittelnden Formeln“³⁵ zu suchen, weil anzunehmen wäre, dass diese den Gegensatz nur oberflächlich verdecken würden, er aber unterschwellig weiter gäre und erneut aufbrechen würde. Vielmehr erweist sich Schleiermacher in dieser Hinsicht als ein Ökumeniker der Differenz-Schärfung: Gehe man davon aus, dass die Entwicklung zur Überwindung des Gegensatzes sich erst vollziehen könne, wenn der Gegensatz seinen Kulminationspunkt erreicht hat, so entstehe gerade die dogmatische Aufgabe, den Gegensatz deutlich zu explizieren – auch dort, wo er noch gar nicht zu Tage getreten ist, um den Prozess seiner Entwicklung – und daran anschließenden Überwindung – zu beschleunigen.³⁶ Das Interesse einer Betonung und Schärfung der Gegensätze verdankt sich also nicht einem anti-ökumenischen oder anti-katholischen Geist. Es wird lediglich auf die Gefahr vorschneller Konsensformulierungen bei tieferliegenderen Divergenzen verwiesen: Soll die Kirchen-Trennung wirklich überwunden werden, so reicht es nicht, das Trennende unter dem Mantel tatsächlicher oder vermeintlicher Gemeinsamkeiten zu verbergen, sondern das Trennende selbst muss vollends offengelegt und bewusst werden, um dann nach den Möglichkeiten der Überwindung zu suchen. Ziel wäre aber auch dann nicht eine Uniformität von Lehre und kirchlichem Leben unter Einebnung aller Unterschiede, sondern die gegenseitige Anerkennung des jeweilig anderen als legitimem Teil der einen christlichen Kirche.
2.3.2 „Die Mehrheit evangelischer Kirchenvereine“³⁷: Schleiermacher als Unionstheologe Auf diese Weise – als Gemeinschaft ohne Einebnung von Unterschieden – befürwortet Schleiermacher entschieden die Preußische Union der lutherischen und reformierten Kirche,³⁸ wobei es ihm nicht nur um die ihn unmittelbar betreffenden Verhältnisse in Preußen geht, sondern um die Trennung bzw. Überwindung dieser „Trennung der beiden protestantischen Kirchen“³⁹ insgesamt (bzw. dort, wo sie als problematisch auftritt, weil auf einem Gebiet Mitglieder beider Konfessionen gemeinsam leben),⁴⁰ wie er bereits 1804 in einem Gutachten betont. Schon hier lassen sich die Grundan-
Schleiermacher 2008, Bd. 1, § 23.2, 162 (Anm. 12). Vgl. Schleiermacher 2008, Bd. 1, § 23, 160 – 163 (Anm. 12). Schleiermacher 2002, § 323, 252 (Anm. 16). Zur preußischen Union und Schleiermachers Unterstützung und Rolle in dieser vgl. Martin Ohst, „Die Preußische Union und ihre politische Bedeutung“, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft, März 2006, hg. v. Andreas Arndt, Ulrich Barth, Wilhelm Gräb, SchlA 22, Berlin/New York 2008, 165 – 180, hier 177– 180. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1804], Über die Trennung der beiden protestantischen Kirchen, KGA I/4, Berlin/New York 2002, 359 – 408, hier bes. in der Vorerinnerung, 363. Vgl. Schleiermacher 2002, Trennung, 371 (Anm. 39).
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liegen von Schleiermachers Unionsbestrebungen deutlich erkennen: Es ist ihm nicht daran gelegen, beide Kirchen „überall […] in der Lehrmeinung, in den Gebräuchen, in der Verfassung“ „in eine Form“ zu gießen – solche Vorhaben zielten lediglich auf ein „albernes Urbild von Einfachheit“.⁴¹ Vielmehr gelte es eine Form der Überwindung der Trennung zu finden, bei der an den jeweiligen Gestaltungen von Kirche so wenig wie möglich geändert werden muss und niemandem zugemutet werde, „seine Meinung über irgend einen Gegenstand der Lehre“⁴² zu ändern. Obwohl also die Vielfalt protestantischer Kirchen als solche unangetastet bleiben soll, dürfe diese Mehrzahl von Kirchen nicht als deren faktische und praktische Trennung existieren. Schleiermacher begründet dies für die reformierte und lutherische Kirche einerseits damit, dass der Trennung beider kein wirklicher Gegensatz zugrundelag, sondern die Verschiedenheiten vielmehr als „lediglich eine Sache der Schule“,⁴³ also als Ausdruck legitimer Vielfalt der evangelischen Lehre⁴⁴ gewertet werden müssten. Es wird somit durch die Union keine Einheit hergestellt, sondern vielmehr die eigentlich schon vorhandene Einheit realisiert: „Man unirt sich eigentlich nur, weil man schon unirt ist“.⁴⁵ Andererseits gereiche ein Fortbestehen der Trennung „dem religiösen Interesse“ bzw. „der wahren Religiosität zum Schaden“⁴⁶ und führe langfristig zu Aberglaube oder Gleichgültigkeit. So müssten beispielsweise die einfachen, ungebildeten Gemeindeglieder⁴⁷ aufgrund der Differenzen im Abendmahls- und Taufverständnis sowie hinsichtlich der Liturgie, die zur Trennung führten, annehmen, dass diese das Zentrum des Glaubens bildeten und nicht das, worüber man sich zwischen Luthera-
Schleiermacher 2002, Trennung, 369 – 370 (Anm. 39). Vgl. Schleiermacher 2002, Trennung, 388 (Anm. 39). Schleiermacher 2008, Bd. 1, § 24, Zusatz, 169 (Anm. 12). Vgl. auch Schleiermacher 2002, Trennung, 370 (Anm. 39). In dieser Hinsicht sieht Schleiermacher die innerkonfessionellen Differenzen sogar stärker ausgeprägt als die interkonfessionellen, vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1808], Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirchen für den preußischen Staat vom 18. November 1808, KGA I/9, Berlin/New York 2000, 1– 18, hier 4. Vgl. Schleiermacher 2008, Bd. 1, § 25, 169 – 172 (Anm. 12). Julius Müller, Die evangelische Union, ihr Wesen und göttliches Recht, Berlin 1854, 21. Müller rezipiert in entscheidenden Punkten das Unionsprogramm Schleiermachers, vgl. Martin Stiewe, Das Unionsverständnis Friedrich Schleiermachers. Der Protestantismus als Konfession in der Glaubenslehre, UnCo 4, Witten 1969, 164. Schleiermacher 2002, Trennung, 371 (Anm. 39). Neben dem Unionskonzept Schleiermachers lässt sich dieser Schrift auch gut seine Wahrnehmung der Menschen während seiner Zeit im „Stolper Exil“ entnehmen, denen er statt Denken eher „halbbewußte[] Operationen des Gemüths“ unterstellt und bei denen er „Belehrung über das Wesentliche und Zufällige in der Religion“ für ein unfruchtbares Unterfangen hält, weil sich diese „ungebildete Volksklasse […] mehr an die Sachen […] als an die Worte“ halte und ohnedies „solche Belehrungen nicht so häufig sein, als wohlmeinende Menschenfreunde glauben, welche in einer anderen Sphäre leben und von der sogenannten Aufklärung und ihrer Verbreitung nicht die richtigsten Vorstellungen haben“ (Schleiermacher 2002, Trennung, 373 [Anm. 39]).
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nern und Reformierten einig sei.⁴⁸ Ebenso nimmt Schleiermacher das praktischseelsorgerliche Problem für konfessionsverschiedene Familien wahr.⁴⁹ Den gebildeteren Christen sei die Trennung ohnehin unverständlich und könne langfristig nur ein negatives bis gleichgültiges Verhältnis gegenüber der Kirche zur Folge haben. Auch für die jeweiligen Kirchen führe die Trennung und Abgrenzung zu nachteiligen Entwicklungen. Übertriebene Abgrenzungsversuche würden an die Stelle echter Frömmigkeit treten, selbst „allgemeine Moralität und wahre Cultur“⁵⁰ litten unter dieser falschen Trennung.⁵¹ Wo also die Unterschiede nicht in wirklichen Gegensätzen gründen und somit keine Trennung begründen, sondern eine solche Trennung nur schädliche Konsequenzen für die Kirchen und ihre Mitglieder bedeutet, erscheint Schleiermacher entschieden als Unions-Ökumeniker. Es geht ihm allerdings nicht um eine Bekenntnis- oder Lehrunion, bei der die Gefahr neuer Trennungen groß wäre, sondern eher, wenn man es so nennen darf, um ein Modell der Einheit in versöhnter Verschiedenheit. „Die Union war für ihn ein Teilaspekt […] [eines] innerprotestantischen Pluralismus.“⁵² Die Kirchengemeinschaft in dieser Pluralität zeige sich an dem Punkt, der überhaupt das sichtbare Merkmal der Gemeinschaft sei: beim Abendmahl. Die Erklärung der Kirchengemeinschaft bedeute also konkret, „daß es […] weder in bürgerlicher noch in kirchlicher und religiöser Hinsicht für eine Veränderung solle gehalten werden, wenn, wer bisher nach dem einen Ritus und bei einer Gemeine der einen Confession communicirt hat, in Zukunft, es sei nun immer oder abwechselnd, bei einer Gemeine der andern Confession und nach dem andern Ritus communicirt“.⁵³ Verbunden mit dieser Erklärung der Kirchengemeinschaft in der wechselseitigen Abendmahlsgemeinschaft sei dann auch die gegenseitige Ämteranerkennung: „Nur diese Anwendung ist der entscheidende Schritt, wodurch die Idee vollständig realisirt, und das Wesentliche derselben […] zur Anschauung gebracht wird“.⁵⁴ Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft bei Aufrechterhaltung der je eigenen Bekenntnis-, Lehr-, Gottesdienst- und Frömmigkeitstraditionen sowie der Gestaltung
Vgl. Schleiermacher 2002, Trennung, 371– 373 (Anm. 39). Vgl. Schleiermacher 2002, Trennung, 374 (Anm. 39). Vgl. Schleiermacher 2002, Trennung, 377 (Anm. 39). Neben den kirchlichen Nachteilen behandelt Schleiermacher auch noch solche „aus dem Gesichtspunkt des unmittelbaren Interesses für den Staat“, Schleiermacher 2002, Trennung, 381 (Anm. 39); vgl. 381– 386. Ohst 2008, 179 (Anm. 38). Schleiermacher 2002, Trennung, 392 (Anm. 39).Vgl. auch Schleiermacher 2000, 4– 5 (Anm. 43): „Die ganze Vereinigung, so weit sie zu unserm Zwek nötig ist, würde schon durch die Erklährung erreicht, daß es durchaus für keine Religionsveränderung solle gehalten werden, wenn irgend Jemand, Prediger oder Laie von einer Gemeine des einen Ritus zu einer des andern übergeht oder zwischen beiden wechselt“. Schleiermacher 2002, Trennung, 392 (Anm. 39).
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kirchlicher Ordnungen – das schwebte Schleiermacher für das Verhältnis der getrennten evangelischen Kirchen 1804 in seinem Gutachten vor.
3 Von Schleiermacher zur Leuenberger Konkordie Es lässt sich daher meines Erachtens eine Linie von Schleiermachers Unionsverständnis zur 1973 verabschiedeten Leuenberger Konkordie ziehen, mit der nach fast zehnjährigen Lehrgesprächen die Gemeinschaft der „zustimmenden lutherischen, reformierten und aus ihnen hervorgegangenen unierten Kirchen sowie die ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder“⁵⁵ festgestellt wurde. Es seien zunächst ein paar zentrale Aussagen zitiert: (1) Die dieser Konkordie zustimmenden […] Kirchen […] stellen auf Grund ihrer Lehrgespräche unter sich das gemeinsame Verständnis des Evangeliums fest […]. Dieses ermöglicht ihnen, Kirchengemeinschaft zu erklären und zu verwirklichen. […] (29) Kirchengemeinschaft im Sinne dieser Konkordie bedeutet, dass Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes auf Grund der gewonnenen Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewähren und eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt erstreben. […] (45) Eine Vereinheitlichung, die die lebendige Vielfalt der Verkündigungsweisen, des gottesdienstlichen Lebens, der kirchlichen Ordnung und der diakonischen wie gesellschaftlichen Tätigkeit beeinträchtigt, würde dem Wesen der mit dieser Erklärung eingegangenen Kirchengemeinschaft widersprechen.⁵⁶
Die Konkordie erhebt nicht den Anspruch, Kirchengemeinschaft herzustellen, sondern – auf Basis der fundamentalen Übereinstimmung im christologisch-rechtfertigungstheologisch konzentrierten Evangeliumsverständnis – sie festzustellen: Es handelt sich um die explizite Realisierung von etwas Vorgegebenem – so verstand auch Schleiermacher die Union: Uniert wird, was schon grundlegend uniert ist. Das gemeinsame Fundament, so weiter die Konkordie, erlaube und erfordere nach reformatorischem Verständnis, dass „zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend“⁵⁷ ist, dass aufgrund der geschichtlichen Entwicklung, der veränderten Situation und Herausforderungen der Kirchen aus heutiger Perspektive die Lehrverurteilungen „der reformatorischen Bekenntnisse zum Abendmahl, zur Christologie und zur Prädestination den Stand der Lehre“⁵⁸ der jeweiligen Kirchen nicht mehr treffen würden. – Hier lässt sich eine Differenz zu „Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa: Leuenberger Konkordie, 1973“, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. III: 1990 – 2001, hg. v. Harding Meyer/Damaskinos Papandreou/Hans Jörg Urban/Lukas Vischer, Paderborn/Frankfurt a.M. 2003, 724– 731, hier LK 1, 724. LK 1, 724; LK 29, 729; LK 45, 730 (Anm. 55). LK 2, 724 (Anm. 55). LK 27, 728 (Anm. 55).
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Schleiermachers Auffassung wahrnehmen, insofern die in der Reformationszeit aufgekommenen Gegensätze nicht bloß als eher unerhebliche Schul-Differenzen gewertet werden, sondern – wohl der Sache nach realistischer – die damaligen Entscheidungen ernstgenommen, aber im Blick auf die gegenwärtige kirchentrennende Gültigkeit relativiert werden.⁵⁹ Übereinstimmung herrscht dann wiederum darin, dass sich die Kirchengemeinschaft in „Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft“⁶⁰ konkretisiere. Schließlich ist die in der Konkordie erklärte Gemeinschaft dezidiert nicht auf ein „albernes Urbild von Einfachheit“⁶¹ hin angelegt, sondern die Bekenntnistreue, die Vielfalt und auch Unterschiede in Gottesdienstgestaltungen, Frömmigkeitsformen und kirchlichen Ordnungen werden bestätigt⁶² und ihre Pluralität als Vitalität positiv gewürdigt. Stärker als bei Schleiermacher wird jedoch zur „Verwirklichung der Kirchengemeinschaft“⁶³ auch die zunehmende theologische Verständigung gerechnet, und das gründet in der unterschiedlichen Beurteilung der Lehrdifferenzen einerseits, in der veränderten Wahrnehmung der Bedeutung der Kirche in „Zeugnis und Dienst“ an der Welt andererseits. Diese theologische Verständigung soll jedoch nicht dazu dienen, doch noch eine Bekenntniseinheit herzustellen. Ihr Ziel ist die Vertiefung und stetige Vergegenwärtigung des als Basis der Kirchengemeinschaft vorausgesetzten gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums. Die Differenzen der Konkordie gegenüber Schleiermachers Ansatz sowie die auf Dauer gestellte Einrichtung von theologischen Lehrgesprächen in der durch die Leuenberger Konkordie begründeten Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa lässt Schleiermachers Einschätzung der Lehrdifferenzen, die die Kirchentrennung einst begründeten, gewissermaßen als deren Unterschätzung erscheinen. Man könnte in dieser Art der Beurteilung das spezifisch Reformierte des Schleiermacherschen Ansatzes erkennen: So hält in seiner Untersuchung zu Hintergrund und Entwicklung der theologischen Methode der Leuenberger Konkordie ⁶⁴ der finnische lutherische Theologe Tuomo Mannermaa die unterschiedliche Beurteilung der Trennung von Reformierten und Lutheranern für typisch – und ordnet auch Schleiermacher in diesen Zusammenhang ein: „Die Lutheraner haben die Unterschiede meist als weitreichendes Auseinandergehen in Grundfragen gedeutet. Die Reformierten sind im allgemeinen der Ansicht, lutherisches und reformiertes Bekenntnis bedeutet die Entwicklung verschiedener Schulen innerhalb derselben reformatorischen Christenheit“⁶⁵. Allerdings erfolgt diese Einschätzung aus einer spezifischen, unionskritischen lutheri-
Vgl. LK 17– 28, 727– 728 (Anm. 55) LK 33, 729 (Anm. 55). Schleiermacher 2002, Trennung, 369 – 370 (Anm. 39). Vgl. LK 28, 728; LK 45, 730 (Anm. 55) LK 35/36, 729 (Anm. 55). Tuomo Mannermaa, Von Preußen nach Leuenberg. Hintergrund und Entwicklung der theologischen Methode der Leuenberger Konkordie, Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums. NF 1, Hamburg 1981. Mannermaa 1981, 17 (Anm. 64).
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schen Perspektive, wie sie sich auch in den Argumenten von Vertretern der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche bezüglich der Ablehnung der Leuenberger Konkordie spiegelt:⁶⁶ Die Konkordie sei gar nicht nur wegen ihres Inhalts abzulehnen, sondern primär aufgrund ihrer Methode, der Unterscheidung zwischen dem Glauben, der geteilt werde und Basis der Gemeinschaft sei, und seinem Ausdruck in Lehre und Bekenntnis. Dieser Differenzierung stellt man die (vermeintliche) Identifizierung von Glaube, Lehre und Bekenntnis in den lutherischen Bekenntnisschriften gegenüber, die eine „schrift- und bekenntniswidrige Union zwischen bekenntnisverschiedenen Konfessionskirchen“⁶⁷ verbiete. Kirchengemeinschaft sei nur möglich auf der Basis von Lehr- und Bekenntniskonsens, der zwischen den in der Preußischen Union und dann durch die Leuenberger Konkordie vereinten Kirchen nicht gegeben sei. Diese Ansicht ist allerdings nicht für das gesamte Luthertum repräsentativ: Lutherische Befürworter der Leuenberger Konkordie bestreiten nicht generell die Relevanz von Lehre und Lehrkonsensen, aber sie differenzieren mit der Unterscheidung von göttlichem Handeln und menschlichem Werk zwischen dem Glauben einerseits, dessen Gemeinschaftlichkeit wirklich Grund der Kirchengemeinschaft sei, und der Lehre andererseits, die als Reflexionsgestalt des Glaubens und damit fehlbarmenschliches Werk Mittel der Erklärung von Kirchengemeinschaft sein könne, niemals aber deren Grund.⁶⁸ Und auch bei Schleiermacher zeigt sich in der dogmatischen Durchführung durchaus der Versuch einer aufmerksamen Wahrnehmung sowie Ausmittelung der Lehrdifferenzen: So steckt er in der Abendmahlslehre seiner Glaubenslehre ⁶⁹ ein Feld des Evangelischen ab, das sich zwischen dem römisch-katholischen Sakramentsverständnis, welches Schleiermacher als magisch charakterisiert, und der sozinianischen Degradierung des Abendmahls zum bloßen Zeichen erstreckt. In diesem Feld verortet er die zwinglianische, calvinistische und lutherischer Abendmahlslehre und attestiert jedem Typus Stärken und ungeklärte Schwierigkeiten.⁷⁰ Für keine der drei Fassungen prognostiziert er, dass sie sich als kirchlich geltende durchsetzen werde, vielmehr sei
Vgl. neben Mannermaa 1981 (Anm. 64) auch Gert Kelter, „‚Leuenberger Konkordie‘ – Wieso eigentlich nicht?“, online unter: http://www.lutherische-kirche-goerlitz.de/downloads/Leuenberger_Konkordie_2017.pdf, zuletzt aufgerufen am 07.11. 2018, sowie SELK-Lexikon, Art. „Leuenberger Konkordie“, online unter: http://www.selk.de/index.php/a-z/lexikon-l, zuletzt aufgerufen am 07.11. 2018. SELK-Lexikon 2018 (Anm. 66). Vgl. Eilert Herms, „Das evangelische Verständnis von Kirchengemeinschaft“, in: Ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft. Plädoyer für eine realistische Ökumene, Bd. 2, MThS 68, Marburg 2003, 303 – 315. Im Anschluss daran und in direkter Auseinandersetzung mit der Position der SELK vgl. Friedrich Hauschildt, „Wie lassen sich lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit und die Zustimmung zur Leuenberger Konkordie miteinander vereinbaren?“, in: Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit. Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Milleniumswende, hg. v. Werner Klän, OUH.E 4, Göttingen 2007, 46 – 60. Vgl. Schleiermacher 2008, Bd. 2, §§ 139 – 142, 378 – 403 (Anm. 12). Vgl. Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 140.4, 390 – 393 (Anm. 12).
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„zu erwarten, daß aus der fortgesezten unbefangenen Bemühung der Ausleger noch eine andere sich entwikkeln werde, welche an allen diesen Klippen nicht scheitere“⁷¹. Bis dahin sei jedoch die vorhandene Gemeinsamkeit der „kirchliche[n] Lehre […] in Bezug auf die Wirkungen des Abendmahls“⁷² dafür ausreichend, „daß die Differenzen die Gemeinschaftlichkeit des Genusses nicht hindern können“⁷³. Dass die Zielvorstellung von Schleiermachers Unionsdenken ein realistisches und realisierbares Bild der Gemeinschaft evangelischer Kirchen entwirft, zeigen heute die rund einhundert durch die Konkordie in der Gemeinschaft, aber nicht Uniformität verbundenen evangelischen Kirchen. Ob man sie als spezifisch reformiert charakterisieren möchte, hängt wohl daran, an welche Seite der innerlutherischen Diskussion man sich hängt. Schleiermacher selbst ist es m. E. sowohl bezüglich der innerevangelischen Differenzen als auch hinsichtlich des Verhältnisses zur römisch-katholischen Kirche gerade nicht daran gelegen, eine spezifisch reformiert profilierte Position zu beziehen, sondern vielmehr daran, das gemeinsam Evangelische untereinander und im Gegenüber zum Römisch-Katholischen zu betonen. Es wäre interessant, nun auch der Rezeptionslinie bezüglich der Schleiermacherschen Differenz-Ökumene nachzugehen, wie sie sich beispielsweise im Programm einer realistischen Ökumene der konstruktiven Spannungen bei Eilert Herms nachweisen ließe – dies muss aber in einem anderen Rahmen geschehen.⁷⁴
Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 140.4, 393 (Anm. 12). Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 140.4, 393 (Anm. 12). Schleiermacher 2008, Bd. 2, § 140.1, 387 (Anm. 12). Vgl. grundlegend in Eilert Herms, Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen. Die ökumenische Bewegung der römischen Kirche im Lichte der reformatorischen Theologie. Antwort auf den Rahner-Plan, KiKonf 24, Göttingen 1984; Ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft. Plädoyer für eine realistische Ökumene, 2 Bde., MThS 27/68, Marburg 1989/2003.
Jan Rohls
Friedrich Schleiermacher
Reformierte Theologie und preußische Kirchenunion Durch die Kabinettsorder vom 27. September 1817 ließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Konsistorien, Synoden und Superintendenturen seines Reiches pünktlich zum 300-jährigen Jubiläum der Wittenberger Reformation wissen, dass er die Union der reformierten Kirche, der er selbst angehörte, mit der lutherischen Kirche aufs innigste wünsche. Hätten doch bereits seine erleuchteten Vorfahren, angefangen vom brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund, der von der lutherischen zur reformierten Kirche übertrat, über den Großen Kurfürsten und den ersten preußischen König Friedrich I. bis zu dessen Sohn Friedrich Wilhelm I. „mit frommem Ernst es sich angelegen seyn lassen, die beiden getrennten protestantischen Kirchen, die reformirte und lutherische, zu Einer evangelisch-christlichen in Ihrem Lande zu vereinigen“.¹ Dazu müsse der unglückliche Sektengeist durch einen besseren Geist überwunden werden, der die Hauptsache im Christentum, in der beide Konfessionen übereinstimmen, festhalte und das Unwesentliche ausscheide. Mit dieser Union der beiden Kirchen solle zum bevorstehenden Reformationsjubiläum der Anfang gemacht werden. Dann führt der König die sachlichen Gründe für die Union auf: Eine solche wahrhaft religiöse Vereinigung der beiden, nur noch durch äußere Unterschiede getrennten protestantischen Kirchen ist den großen Zwecken des Christenthums gemäß; sie entspricht den ersten Absichten der Reformatoren; sie liegt im Geiste des Protestantismus; sie befördert den kirchlichen Sinn; sie ist heilsam in der häuslichen Frömmigkeit; sie wird die Quelle vieler nützlicher, oft nur durch den Unterschied der Confession bisher gehemmter Verbesserungen in Kirchen und Schulen.²
Allerdings – so der König weiter – wolle er Rechte und Freiheit der reformierten und lutherischen Kirche achten und die Union keiner von beiden aufdringen, sondern die Vereinigung müsse sich der freien Überzeugung verdanken. Er hoffe aber, dass sein eigenes Beispiel, nämlich die gemeinsame Abendmahlsfeier der vereinigten reformierten und lutherischen Hof- und Garnison-Gemeinde zu Potsdam, vorbildhaft für alle protestantischen Gemeinden in Preußen sein werde. Die „äußere übereinstimmende Form der Vereinigung“ überlasse er dabei den Konsistorien, den Geistlichen und ihren Synoden.³ Teile des Beitrags sind übernommen aus: Jan Rohls, „Schleiermachers reformiertes Erbe“, in: Harm Klueting/Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven, Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus, Bd. 4, Wuppertal 2001, 53 – 77. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kirchenpolitische Schriften, KGA I/9, hg. v. Günter Meckenstock u. M. v. Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 2000, 178. Schleiermacher 2000, 178 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 179 (Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783110608656-018
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Der Unionsaufruf des Königs war von seinem reformierten Potsdamer Hofprediger Rulemann Friedrich Eylert entworfen worden, und die preußische Union bildete den Endpunkt einer Entwicklung, die ihre Wurzeln in der Religionspolitik reformierter Höfe in Deutschland hatte. Es war zunächst die Kurpfalz, die nach dem Übertritt Friedrichs III. zum reformierten Bekenntnis eine aktive innerprotestantische Unionspolitik verfolgt hatte, und nach der politischen Katastrophe der Pfalz zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs wurde die Unionspolitik von den brandenburgischen Kurfürsten fortgeführt, nachdem Johann Sigismund, orientiert am pfälzischen Vorbild, Weihnachten 1613 im Berliner Dom vom Luthertum zum Reformiertentum konvertiert war. Zwar gab es vor allem in den neuerworbenen westlichen Teilen des Kurfürstentums aus der Erbmasse der Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg am Niederrhein und in Westfalen reformierte Gemeinden. Doch das brandenburgische Kernland war lutherisch, und der Kurfürst verlangte bei seinem Glaubenswechsel nicht die Konversion seiner Untertanen. Vielmehr stand hier dem Luthertum der Bevölkerungsmehrheit ein auf den Hof beschränkter Calvinismus gegenüber. Umso größer war das Interesse der Kurfürsten an einer Überwindung des konfessionellen Gegensatzes. So war der reformierte Hofprediger Johann Bergius als Vertreter Brandenburgs 1631 am Leipziger Colloquium beteiligt, das angesichts des Drucks, den das kaiserliche Restitutionsedikt auf die Protestanten ausübte, die Lehrgegensätze zwischen Lutheranern und Reformierten aufheben sollte. Zwar scheiterte das Religionsgespräch am Widerstand der sächsischen Lutheraner. Doch das von reformierter Seite erstellte Protokoll wurde neben der Confessio Sigismundi, dem vom reformierten Superintendenten Füssel verfassten Privatbekenntnis des zum Calvinismus konvertierten Kurfürsten, in das Corpus Constitutionum Marchicarum aufgenommen. Dasselbe gilt für die Declaratio Thoruniensis, dem Ergebnis des Thorner Religionsgesprächs von 1645, das vom polnischen König zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten veranstaltet wurde. Die drei Bekenntnisdokumente zeichnen sich durch die gegenseitige Toleranz der protestantischen Konfessionen aus, und ebendiese Toleranz war das Programm, das die brandenburgischen Herrscher schon um der Stabilisierung ihres eigenen Bekenntnisses willen verfolgten. Die brandenburgischen Geistlichen wurden auf die Toleranzedikte des Großen Kurfürsten von 1662 und 1664 verpflichtet, die die gegenseitige Kanzelpolemik untersagten, eine Bestimmung, die später Eingang in das Preußische Landrecht fand.⁴ Die Toleranzedikte, die die Lutheraner als calvinistische Zwangsmaßnahme betrachteten, gingen auf die Initiative des reformierten Hofpredigers Bartholomäus Stosch zurück, der auch hinter dem Berliner Religionsgespräch von 1662/63 stand.⁵ In der Folgezeit mehrten sich die Stimmen, die entschieden für eine Union eintraten. Die reformierten Hofprediger Benjamin Ursin von Bär und Daniel Ernst Jablonski waren beide an Unionsverhandlungen mit Leibniz und
Rudolf von Thadden, Die Brandenburgisch-Preussischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1959, 35. Von Thadden 1959, 130 (Anm. 4).
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an dem vom preußischen König Friedrich I. 1703 anberaumten Collegium Irenicum zwischen reformierten und lutherischen Theologen beteiligt. Jablonski stand einer Union schon dank seiner Herkunft aus der Böhmischen-Brüderunität in PolnischLissa, die seit dem Konsens von Sendomir mit Lutheranern und Reformierten eine Kirchengemeinschaft bildete, positiv gegenüber. Als Vorbild diente Jablonski später die Herrnhuter Brüdergemeine, in der die Brüderunität mit lutherischen Pietisten verschmolz und Lutheraner, Böhmische Brüder und Reformierte als gleichberechtigte Tropen miteinander existierten. Wenngleich der reformierte Neologe August Friedrich Wilhelm Sack der Brüdergemeine wie dem pietistischen Konventikelwesen überhaupt skeptisch gegenüberstand, war doch auch er wie alle aufgeklärten Theologen nachhaltig an einer Union der protestantischen Kirchen interessiert. Und sein Sohn Friedrich Samuel Gottfried Sack, der Vorgesetzte und Förderer Schleiermachers, unterstützte das Unionsanliegen 1812 mit seiner Schrift „Über die Vereinigung der beiden protestantischen Kirchenparteien in der preußischen Monarchie“. Dass Schleiermacher den Unionsaufruf Friedrich Wilhelms III. begrüßte und die Union der beiden protestantischen Kirchen aktiv mitgestaltete, lag somit ganz in der Konsequenz der reformierten Tradition in Preußen. Noch bevor die Unionsabsichten des Königs amtlich bekannt wurden, hatte die neue, aus Lutheranern und Reformierten bestehende Berliner Kreissynode, die sich am 1. Oktober 1817 konstituiert hatte, eine gemeinsame Abendmahlsfeier beschlossen. Schleiermacher, seit 1809 reformierter Gemeindepfarrer an der von beiden Konfessionen genutzten Dreifaltigkeitskirche und erster gewählter Präses der Synode, hatte zu diesem Zweck die „Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30. Oktober von ihr zu haltende Abendmahlsfeier“ verfasst. Die gemeinsame Abendmahlsfeier fand am Vorabend des Reformationsjubiläums in der Nikolaikirche statt, und zwar unter Beteiligung des Berliner Oberbürgermeisters Büsching und der Stadtverordneten.⁶ In Schleiermachers „Amtlicher Erklärung“ heißt es, dass die Geistlichen nach der Verabschiedung der Synodalverfassung das Herzensbedürfnis verspürt hätten, sich gemeinsam durch die Feier des Abendmahls nach einer für beide Seiten akzeptablen Form zu erbauen. Man habe mit gutem Beispiel vorangehen wollen, in der Hoffnung, dass weitere Gemeinden ihm folgen würden, damit, nachdem schon seit so langer Zeit unter uns vielfältig reformirte Christen sich im Gottesdienst lutherischer Gemeinden, und umgekehrt, erbaut, lutherische Christen von reformirten Geistlichen, und umgekehrt, ihre Kinder taufen und unterrichten, ihre Ehebündnisse einsegnen lassen, nun auch die letzte Scheidewand falle; und indem sich die Christen von beiden Bekenntnissen auch im Abendmahl des Herrn vereinigten, hinfort nun eine völlig ungestörte Kirchengemeinschaft beide Theile umfasse.⁷
Schleiermacher 2000, LIV–LXII (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 179 – 180 (Anm. 1).
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Denn die Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten in der Lehre vom Abendmahl hält Schleiermacher für nicht so gravierend, dass ihr Fortbestehen einer Abendmahls- und damit auch Kirchengemeinschaft hinderlich wäre. Als Vorbild für eine derartige Kirchengemeinschaft ohne Preisgabe der bisherigen Bekenntnisse gilt auch ihm die Herrnhuter Brüdergemeine, in der er ja selbst erzogen worden war. „In diese Gemeinschaft werden immer reformirte und lutherische Christen aufgenommen, ohne daß von einer Veränderung des Bekenntnisses die Rede ist, und Mitglieder dieser Gemeine genießen ebenso das Abendmahl auch mit reformirten oder lutherischen Gemeinden.“⁸
1 Die preußische Union Schleiermacher war von Haus aus reformiert. Sein Vater war reformierter Feldprediger in Schlesien, zuständig für die wenigen reformierten Gemeinden, die es dort gab und wohnhaft in Breslau. In seinem Gutachten Über die Trennung beider protestantischen Kirchen von 1804, das er als reformierter Hofprediger im pommerschen Stolp verfasste, schildert Schleiermacher die Situation der schlesischen reformierten Diasporagemeinden: In Schlesien, wo es, wenn der Verfasser nicht irrt, nur vier stehende reformirte Gemeinden giebt, ist eben deshalb ein eigner reformirter Feldprediger angestellt, um die in der Provinz zerstreuten Confessionsverwandten, die doch auch nur wenige hundert Seelen betragen, zweimal im Jahre zu dem gleichen Zweck [sc. der Sakramentsspendung, J. R.] zu besuchen.⁹
Wie der Vater stammte auch Schleiermachers Mutter aus einer reformierten Familie. Ihr Vater Timotheus Christian Stubenrauch war zunächst Hofprediger in Stolp und wurde kurz vor seinem Tod zum ersten Hofprediger in Berlin ernannt. Ernst Stubenrauch, ihr Bruder, war außerordentlicher Professor für reformierte Theologie in Halle und später reformierter Pfarrer in Drossen und Landsberg an der Warthe. Eine enge Beziehung hatte Schleiermacher auch zu dem Leiter des reformierten Kirchenwesens in Preußen, Friedrich Samuel Gottfried Sack, der ihm nach seinem ersten theologischen Examen eine Hauslehrerstelle beim reformierten Grafen Dohna im ostpreußischen Schlobitten vermittelt hatte. Auch in der Folgezeit bewegte sich Schleiermacher ganz im Kreis der reformierten Kirche in Preußen. Auf die Zeit als reformierter Prediger an der Charité folgte die Tätigkeit als reformierter Hofprediger im pommerschen Stolp, als außerordentlicher reformierter Professor und Universitätsprediger an der ansonsten lutherischen Fakultät in Halle und schließlich als reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche und reformierter Professor an der unter seiner Mitwirkung ge-
Schleiermacher 2000, 187– 188 (Anm. 1). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Stolper Zeit (1802 – 1804), KGA I/4, hg. v. Eilert Herms, Günter Meckenstock/Michael Pietsch, Berlin/New York 2002, 385.
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gründeten Universität Berlin. Es steht auch außer Zweifel, dass Schleiermacher sich selbst dem reformierten Bekenntnis zurechnete. In der Reformationsrede, die er 1817 in der Berliner Universität hielt, gedachte er nicht nur Zwinglis, sondern stellte sich auch selbst als jemanden vor, der mehr der Lehre Zwinglis als derjenigen Luthers verpflichtet sei.¹⁰ Tatsächlich legte Schleiermacher sein erstes theologisches Examen 1794 vor dem reformierten Kirchendirektorium, das zweite vor dem Hof- und Domministerium in Berlin ab. In der Vorrede zu seinen Augustana-Predigten 1831 weist er darauf hin, dass er bei seiner „Ordination als reformirter Prediger die Confession des Churfürsten Siegismund unterschrieben habe“, wobei „diese Unterschrift den Zusatz hat ‚so weit sie mit der heiligen Schrift übereinstimmtʻ wodurch jede lästige Verpflichtung wieder aufgehoben wird“.¹¹ Diese Relativierung gegenüber der Schrift findet in der Confessio Sigismundi selbst ihren Ausdruck. Denn sie bezeichnet das Wort Gottes, wie es in der Bibel verfasst ist, als einzige Richtschnur des Glaubens, die auch in der Lage sei, alle Religionsstreitigkeiten zu entscheiden. Gerade weil die Bekenntnisse von Menschen stammten und daher irrtumsfähig seien, müssten „alle glaubensachen einzig und allein auff das Wort Gottes […] gegründet seyn, und menschenschrifften nicht weiter, als sie mit dem Wort Gottes übereinstimmen, sollen und können angenommen werden“.¹² Schleiermachers Einsatz für die Union lag in seiner reformierten Herkunft begründet. In Stolp verfasste er 1803 ein Gutachten „Über die Trennung der beiden protestantischen Kirchen“, in dem er zunächst die Nachteile der bisherigen Trennung der lutherischen und reformierten Kirche in Preußen auflistet. Abgesehen davon, dass sie dazu geführt habe, dass man im Volksbewusstsein Äußerlichkeiten der jeweils anderen Konfession für wesentlich gehalten habe, nennt Schleiermacher als entscheidenden Punkt auch das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen den beiden Konfessionen. Der Majorität von Lutheranern stünde eine Minorität von Reformierten gegenüber, wobei man noch einmal zwischen den deutsch-reformierten und der schwindenden Zahl von französisch-reformierten unterscheiden müsse. Schleiermachers eigener Vorschlag zu einer Union beider Konfessionen weicht allerdings dadurch von anderen Konzeptionen ab, dass er von den Lutheranern und Reformierten nicht verlangt, „sie sollen überall eins werden in der Lehrmeinung, in den Gebräuchen, in der Verfassung“.¹³ Statt eine Uniformität zu erzwingen, möchte er es bei dem überkommenen Pluralismus belassen. Denn: „Welcher verständige, nicht von jener Uniformitätssucht angesteckte Mensch könnte wohl irgend einen Gewinn daraus ahnden, wenn man in Holland und Sachsen, in Schottland und Schweden einen
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, KGA I/10, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin/New York 1990, 3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Predigten. Fünfte bis Siebente Sammlung (1826 – 1833), KGA III/2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2015, 264, (Anm. 2). Ernst Friedrich Karl Müller (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, Leipzig 1903, 836. Schleiermacher 2002, 369 (Anm. 9).
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mittleren Proportionalglauben annähme über das Abendmahl oder die Gnadenwahl, und wenn man eine Eintrachtsformel zu Stande brächte zwischen der Eintrachtsformel und der Dordrechtschen Synode?“¹⁴ Schleiermacher ist davon überzeugt, dass die Trennung der Kirchengemeinschaft sich nur dem Eigensinn einiger Reformatoren verdanke und ursächlich mit der Verschiedenheit der Lehrmeinungen, Verfassungen und Gebräuche gar nichts zu tun habe. Daher sei es für die kirchliche Union auch keineswegs erforderlich, dass man zu einer einheitlichen Lehre, Verfassung und Liturgie komme. Damit grenzt Schleiermacher sich von der Form der kirchlichen Union ab, wie sie in den an die Franzosen abgetretenen linksrheinischen Gebieten teilweise zwischen Lutheranern und Reformierten vollzogen wurde. Stattdessen möchte er die Kirchengemeinschaft hergestellt wissen durch folgende Erklärung: daß es überall, weder in bürgerlicher noch in kirchlicher und religiöser Hinsicht für eine Veränderung solle gehalten werden, wenn, wer bisher nach dem einen Ritus und bei einer Gemeine der einen Confession communicirt hat, in Zukunft, es sei nun immer oder abwechselnd, bei einer Gemeine der andern Confession und nach dem andern Ritus communicirt.¹⁵
Als Vorbild für eine derartige Union dient Schleiermacher die Brüdergemeine, in der Lutheraner und Reformierte gemeinschaftlich kommunizieren, ohne dass von einer Veränderung des Bekenntnisses die Rede wäre. Und auch in den beiden Konfessionen selbst habe der Unterschied in der Lehre, bei den Lutheranern der zwischen Anhängern und Gegnern der Konkordienformel, bei den Reformierten der zwischen Calvinisten und Zwinglianern, die Kirchengemeinschaft ja nicht aufgehoben. Schleiermacher wurde in seinem Interesse an einer kirchlichen Union zwischen Lutheranern und Reformierten noch bestärkt durch die konfessionalistischen Tendenzen im zeitgenössischen Luthertum. Anlässlich des Reformationsjubiläums hatte Claus Harms, Archidiakon an der Kieler Nicolaikirche, ein Pamphlet veröffentlicht mit dem gewundenen Titel „Das sind die 95 theses oder Streitsätze Dr. Luthers, theuren Andenkens. Zum besondern Abdruck besorgt und mit andern 95 Sätzen als mit einer Uebersetzung aus Ao. 1517 in 1817 begleitet“. Der deutschen Ausgabe der 95 Thesen Luthers fügte Harms als Anhang 95 eigene Thesen bei, die Luthers Thesen aktualisieren sollten und in denen er mit dem Rationalismus in der Theologie abrechnete. Er führte gegen dessen Vernunftgläubigkeit als Fundament der Religion die Bibel ins Feld, wie sie durch die symbolischen Bücher der lutherischen Kirche interpretiert werde. Die Orientierung des rechten Bibelverständnisses am lutherischen Bekenntnis führte Harms auch zur strikten Ablehnung des Unionsvorhabens. Dabei genügte ihm der Hinweis auf den Dissens zwischen Luther und Zwingli in der Abendmahlslehre, um den kirchentrennenden Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten als unaufhebbar anzusehen.¹⁶ Harms wurde mit diesen Thesen zum Begründer des durch
Schleiermacher 2002, 370 (Anm. 9). Schleiermacher 2002, 392 (Anm. 9). Schleiermacher 1990, 437 (Anm. 10).
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die Erweckung inspirierten lutherischen Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts. Die antiunionistische Intention genügte dem Dresdener Oberhofprediger und ehemaligen lutherischen Theologieprofessor Christoph Friedrich von Ammon, um sich zum Verteidiger der Harmsischen Thesen aufzuschwingen. Im November 1817, also kurz nach den gemeinsamen Abendmahlsfeiern von Lutheranern und Reformierten und den Unionsausrufen, ergriff Ammon in seiner Schrift „Bittere Arznei für die Glaubensschwäche der Zeit“ für Harms Partei und übte darin auch an Schleiermachers „Amtlicher Erklärung“ Kritik.¹⁷ In seiner Antwort „An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Sätze“, die Anfang 1818 erschien, wandte sich Schleiermacher zwar in erster Linie gegen Ammon und erst sekundär gegen Harms, aber seine brieflichen Versuche, Harms damit versöhnlich zu stimmen, fruchteten nicht. Ammons Gegnerschaft gegen die Union erklärte er unter anderem aus dem Bestreben des Lutheraners, sich dem antipreußischen Geist der Sachsen anzubiedern.¹⁸ Gegen Harms These, dass die lutherischen Bekenntnisschriften die feste Norm der Bibelauslegung und aller dogmatischen Spekulationen seien, über die niemand hinaus dürfe, ohne sich von der Kirche zu trennen, macht Schleiermacher geltend, „daß eine Kirche, welche dies behauptet, ihrem Princip nach nicht evangelisch ist, sondern traditionell wie die römische, mag sie noch so viel Dogmen und Gebräuche geändert haben“.¹⁹ Er selbst betont in diesem Zusammenhang übrigens trotz seines Einsatzes für die Union, dass er sich „immer zu der theologischen Schule der Reformirten halten werde“.²⁰ Zwar erachtet er den Unterschied zwischen den beiden Konfessionen der protestantischen Kirche für geringfügig verglichen mit dem Unterschied beider zur katholischen: „mir steht die katholische Kirche auf der einen Seite und die protestantische auf der andern, und der Unterschied der beiden Confessionen der protestantischen Kirche erscheint mir als eine Kleinigkeit im Vergleich mit jenem Unterschied“.²¹ Gleichwohl verteidigt er die reformierte Tradition gegenüber ihrer von Harms und Ammon vollzogenen Abwertung.Wenn sie dem lutherischen Vorwurf gemäß an klaren Begriffen und Beweisen festhält, so hält Schleiermacher dies eher für einen Vorteil. Ebenso weist er den Vorwurf zurück, dass sie grundsätzlich das Beschauliche des Kultus ablehne. Zwar habe sie alles Sinnliche, woran sich der Aberglaube heftete, zunächst ausgerottet. Aber sie habe doch dort, wo der schädliche Einfluss des Katholizismus nicht mehr zu befürchten sei, die Orgel und die Kirchenmusik wieder eingeführt, und „sie könnte jezt nach Zwinglis eigner Lehre auch Bilder wieder aufnehmen, weil unter so veränderten Verhältnissen auch der Schein nicht mehr entstehen kann, als ob sie verehrt würden“.²² Dass es den Reformierten an Einbil-
Schleiermacher 1990, 442– 443 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, XVIII–XIX (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 27 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 32 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 34 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 35 – 36 (Anm. 10).
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dungskraft und Gefühl fehle, widerlegt Schleiermacher unter anderem mit dem Hinweis auf Lavater und die französisch-reformierte Kirche, die mit Hilfe der Rhetorik Phantasie und Gefühl anregen wolle. Auch den Vorwurf mangelnder Duldung oder Toleranz auf Seiten der reformierten Kirche kontert Schleiermacher: Wenn Sie betrachten wie die Arminianischen Streitigkeiten geführt worden sind, und vergleichen sie, troz des verschiedenen Ausganges, mit den kryptocalvinischen und anderen in der lutherischen Kirche, so werden Sie wol nicht sagen können, daß weniger Duldung und Sanftmuth bei jenen sei bewiesen worden. Denn daß man die Arminianer sich lieber zu einer besonderen Sekte gestalten ließ, das können Sie nicht unduldsam und unsanft finden.²³
Duldung und Sanftmut hätten schon die Schweizer Reformierten beim Marburger Abendmahlsgespräch zwischen Zwingli und Luther gezeigt. Als Hauptgrund gegen die Union der beiden protestantischen Konfessionen zu einer Kirche hatte Ammon genannt, dass die Kirchengemeinschaft im Sinne der Abendmahlsgemeinschaft eine Übereinstimmung in allen Punkten des Glaubens, also einen vollständigen Konsens voraussetze. Schleiermacher stellt hingegen mit dem Hinweis auf das unterschiedliche Abendmahlsverständnis von Zwingli und Calvin die Frage: „Ist es nicht notorisch, daß diese beiden Meinungen in der reformirten Kirche nebeneinander bestanden haben, ohne die Gemeinschaft des Altars zu stören?“²⁴ Die unterschiedlichen Vorstellungen auf Seiten der Lutheraner und Reformierten möchte Schleiermacher gerade nicht beseitigt wissen, sondern sie sind ihm Ausdruck einer legitimen Pluralität innerhalb der einen protestantischen Kirche.²⁵ Die einzelnen Glieder der unierten Kirche gehören daher nach wie vor entweder dem reformierten oder dem lutherischen Bekenntnis an, aber sie haben Abendmahlsgemeinschaft. Denn die Gewalt schroff hervortretender Einseitigkeiten nimmt allmählig ab, und wir dürfen hoffen, daß die Zeit jetzt vorübergehen will, wo eine solche allgemein werden könnte; wenigstens ist die Trennung zwischen beiden Kirchen schon viel zu lose, um hiezu wirksam sein zu können.²⁶
2 Die Kirchenverfassung Ungeachtet seiner Überzeugung, dass eine kirchliche Union keine Änderung der Lehre, der Verfassung und der Gebräuche erfordere, hat Schleiermacher sich bereits früh Gedanken über eine angemessene Kirchenverfassung gemacht. Trotz ihres Wechsels ins calvinistische Lager waren die brandenburgisch-preußischen Herrscher keine Anhänger des presbyterial-synodalen Verfassungsmodells, weil es die kir-
Schleiermacher 1990, 36 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 59 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 71– 72 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 87 (Anm. 10).
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chenregimentlichen Rechte des Landesherrn schmälerte. Allerdings hatte sich in dem niederrheinisch-westfälischen Teil des Kurfürstentums die presbyterial-synodale Verfassung der niederländischen Flüchtlingsgemeinden in leicht modifizierter Form erhalten. Die Rückkehr der niederländischen Exulanten führte hier dazu, dass sich die deutschen reformierten Gemeinden 1610 auf der Duisburger Generalsynode von dem niederländischen Synodalverband, dem sie bislang angehört hatten, lösten und einen eigenen Generalsynodalverband bildeten. Dessen Selbständigkeit blieb trotz der wechselnden Landesherren in Jülich, Berg, Mark und Kleve erhalten. Es entstanden hier vier Provinzialsynoden, in denen jeweils mehrere Classes zusammengefasst waren. Die 1671 in Hamm verabschiedete Kirchenordnung für Jülich und Berg, die auch für Kleve und Mark galt, stellt einen gewissen Endpunkt in der Entwicklung der presbyterial-synodalen Verfassung dar. Danach ist die niederrheinisch-westfälische Kirche von der Ortsgemeinde aus über die Klassen und Provinzialsynoden nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebaut und hat ihre Spitze in der Generalsynode. Den jeweiligen Synodalgremien kommt dabei die Aufsichtspflicht zu. So haben die Klassenkonvente durch ihren jeweiligen Präses oder Inspektor und das Moderamen die ordnungsgemäße Wahrnehmung der Ämter in den einzelnen Gemeinden zu überprüfen und den bedürftigen Gemeinden ihre Unterstützung zu gewähren. Was die Classis nicht behandeln kann, soll der Provinzialsynode vorgebracht werden, und die Aufgabe der Generalsynode ist es schließlich, Missverständnisse zwischen den einzelnen Provinzialsynoden zu beheben. Zu den Synoden sind nur die von den unteren Instanzen deputierten Prediger, Älteste und Diakone zugelassen, aus denen dann die Moderatoren – Präses bzw. Inspektor, Assessor und Scriba – gewählt werden.²⁷ Zwar gab es vereinzelt Versuche, dieses presbyterial-synodale Modell auch in den übrigen Landesteilen einzuführen, aber das landesherrliche Kirchenregiment in Brandenburg-Preußen ließ eine synodale Kirchenleitung auf oberster Ebene nicht zu. Zu einer Änderung kam es erst im Zusammenhang der durch Napoleon bedingten Neuorganisation Preußens unter Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, der sich wohl von Schleiermacher den Entwurf einer protestantischen Kirchenverfassung erbat. Schleiermacher legte denn auch 1808 einen „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche für den preußischen Staat“ vor, den vom Stein auch noch kurz vor seiner Entlassung dem König zur Begutachtung zukommen ließ. Er zeichnet darin von der Kirche ein Bild des tiefen Verfalls, dessen Ursache er in einigen seit der Reformation begangenen Fehlern erblickt. So wie vorher die Kirche sich zu sehr von dem Staat emancipirt ja über ihn erhoben hatte, so hat man sie seitdem dem Staate zu sehr untergeordnet und die Ansicht als ob sie nur ein Institut des Staates zu bestimmten Zwekken wäre, hat seitdem immer mehr überhand genommen.²⁸
Wilhelm Niesel (Hg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, München 1938, 303 – 305. Schleiermacher 2000, 3 (Anm. 1).
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Schleiermacher möchte hingegen das landesherrliche Kirchenregiment beschränken auf die Aufsicht über die Kirchengüter, das ius circa sacra, während die Verwaltung der inneren Angelegenheiten der Kirche, das ius sacrorum, bei unabhängigen kirchlichen Organen liegen soll. Dabei dachte er 1808 an eine Mischform aus episkopaler und presbyterial-synodaler Verfassung. Träger der Kirchenleitung sollten danach neben den Bischöfen, die der König ernennt, Synoden sein, die sich aus Geistlichen zusammensetzten. Die Kirchenleitung hätte in diesem Fall bei einem Gremium gelegen, das das personale Amt des Bischofs mit dem kollegialen Amt der Synode verbindet. Schleiermacher nahm dann erneut Stellung zur Frage der Kirchenverfassung in seiner Schrift von 1817 „Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung“. Die Schrift entstand im Zusammenhang mit den vom König gewünschten Maßnahmen zur Etablierung presbyterial-synodaler Strukturen, die die bestehende Konsistorialorganisation ergänzen sollten. Schleiermacher geht auf diese Maßnahmen ein, „anlangend die Bildung von Presbyterien und die Vereinigung der protestantischen Geistlichkeit in Kreis- und Provinzial-Synoden, auf welche nach fünf Jahren auch eine allgemeine Landes-Synode folgen soll“.²⁹ Noch vor der Drucklegung ergänzte Schleiermacher die Abhandlung um einen Nachtrag, der sich kritisch mit dem „Entwurf der Synodal-Ordnung für den Kirchenverein beider evangelischen Confessionen im Preußischen Staate“ auseinandersetzt, der inzwischen den Superintendenten zur Begutachtung zugeleitet worden war. Die Einführung von Presbyterien und Synoden wird von Schleiermacher grundsätzlich begrüßt. Zu den Presbyterien bemerkt er: Wir Geistliche können, wenn es uns Ernst ist um eine gesegnete Amtsführung, nichts sehnlicher und dringender wünschen als in einer wohleingerichteten auf der freien Wahl der Gemeine ruhenden und nicht zu kleinen Aeltestenversammlung uns mit der Gemeinde enger zu verbinden.³⁰
In diesem Fall würden die Geistlichen auf den Synoden nicht nur in eigener Person, sondern auch als Beauftragte ihrer Gemeinden erscheinen. Schleiermacher hält es sogar für zweckmäßig, wenn auf den Synoden Abgeordnete aus den Presbyterien vertreten wären, auch wenn er den Vorschlag der Geistlichen aus den Vereinigten Ländern Cleve, Berg und Mark für unpraktikabel erachtet, die Synoden aus gleichen Teilen aus Pfarrern und Ältesten zusammengesetzt sein zu lassen. Angesichts der Freiheit der wissenschaftlichen Bearbeitung der Theologie dürfen die Synoden laut Schleiermacher allerdings nicht über die Richtigkeit der Lehre entscheiden. „Unsern Synoden bleibt also von der Sorge für die Einigkeit in der Lehre nichts übrig in ihren Zusammenkünften, als was sich unmittelbar auf den Gottesdienst und die übrige Amtsführung bezieht.“³¹
Schleiermacher 2000, 110 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 120 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 134 (Anm. 1).
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Bereits seine Befürwortung der Ergänzung der Konsistorialverfassung durch presbyterial-synodale Strukturen lässt erahnen, dass Schleiermacher direkte Eingriffe des preußischen Königs in die Gottesdienstgestaltung ablehnen würde. Als Friedrich Wilhelm III. die von ihm in Auftrag gegebenen „Kirchenagende für die Königlich Preußische Armee“ 1822 durch Kabinettsordre in der reformierten Domgemeinde und in der den Dom mitbenutzenden lutherischen Petrigemeinde einführte, rief dies den Protest der reformierten Domgeistlichkeit hervor. Er löste damit den Agendenstreit aus, in den auch Schleiermacher eingriff. Die vom König selbst entworfene Agende orientierte sich an der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540, und ihr dem romantischen Geist entgegenkommender katholischer Charakter musste auch einen Reformierten wie Schleiermacher abstoßen. Es muß im Ganzen eine solche Liturgie der Union unangemessen sein, welche das bestimmte Gepräge der Einen Confession aus einer Zeit trägt, wo beide evangelische Kirchengemeinschaften einander noch ganz feindlich gegenüberstanden und wo die evangelische Kirche des Landes noch unter der anderwärts längst abgestreiften Hülle des Katholicismus lag.“³²
Es war aber nicht nur die von der neuen Agende dem Gottesdienst verliehene Gestalt, die bei vielen Reformierten und so auch bei Schleiermacher auf Ablehnung stieß. Der Agendenstreit wurde vielmehr schon bald auf eine prinzipielle kirchenrechtliche Ebene gehoben, insofern, die reformiert geprägten Synoden in den preußischen Westprovinzen dem König das Recht bestritten, selbst in die Ordnung der Kirche einzugreifen. Diese Position vertritt auch Schleiermacher in seiner anonymen Abhandlung „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten“ von 1824. Er sprach darin dem Landesherrn das Recht ab, sich in die inneren Angelegenheiten der Kirche einzumischen, da das Recht, den Gottesdienst zu ordnen, nur der Gemeinde selbst zukomme. Schleiermacher hält es nämlich für unstrittig, „daß, wenn wir eine Religionsgesellschaft an und für sich betrachten, ihr das Recht zukommt sich selbst zu ordnen, und wenn in ihrer Anordnung ein gemeinschaftlicher Gottesdienst liegt, […] auch diesen zu ordnen“.³³ Daran ändere sich auch nichts, wenn man die Religionsgesellschaft in ihrem Bezug zum Staat betrachte. Der Staat habe ihr gegenüber dieselben Rechte wie gegenüber jeder anderen Gesellschaft. So könne er etwa eine Religionsgemeinschaft verbieten, wenn er sie für staatsgefährdend halte. Darin bestehe das Landeshoheitsrecht des Staates über die Kirche, „das sogenannte ius maiestaticum circa sacra, dessen Wesen darin besteht, dass alle neuen Anordnungen der Kirche der Genehmigung des Landesherrn unterliegen, und er befugt ist, alles, was er darin dem Staate nachtheilig findet, zu verbieten“.³⁴ Dieses Majestätsrecht des Landesherrn impliziere aber keineswegs irgendwelche Rechte in den inneren Angelegenheiten der Kirche, sofern sie den Staat selbst nicht betreffen. Wenn daher dem
Schleiermacher 2000, 276 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 213 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 217 (Anm. 1).
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Landesherrn außer dem negativen ius circa sacra noch andere positive Rechte in der Kirche oder über die Kirche zukommen sollen, so müssen sie Schleiermacher zufolge einen anderen Ursprung haben als das Majestäts- oder Hoheitsrecht selbst. Schleiermacher bestreitet gar nicht, dass das Recht, den Gottesdienst zu ordnen, also das liturgische Recht zu Beginn der Reformation von den evangelischen Fürsten wahrgenommen worden sei, auch wenn es an und für sich der Gemeinde zukomme. Als Gegenmodell führt er das sogenannte Territorialsystem an, wie es Thomasius für den absolutistischen Staat entworfen hatte. Danach ist das liturgische Recht des Landesherrn Ausfluss seines Majestätsrechts. Das sei gegen die Herrschaft der Geistlichen, der Klerisei, in der Kirche gerichtet gewesen, die zu ständigen theologischen Streitigkeiten und zur Unterdrückung der Gewissensfreiheit geführt habe. Für Thomasius habe es nur die Alternative gegeben: entweder die Klerisei müsse herrschen über die Kirche oder der Fürst, und zwar rein als solcher und vermöge der ihm als Herrscher verliehenen Macht. Denn wenn man sagte, es sei diese eine besondere ihm von der Kirche übertragene Macht, so würden sich doch die Geistlichen bald genug eine Vormundschaft über diese Macht anmaaßen.³⁵
Da Schleiermacher für seine Zeit diese Gefahr nicht länger gegeben sieht, hat der Territorialismus für ihn seine Berechtigung verloren. Gegen die Auffassung, dass das ius liturgicum in der evangelischen Kirche ein Majestätsrecht des jeweiligen Territorialherrschers sei, führt Schleiermacher nicht nur auf lutherischer Seite die Confessio Augustana und die Schmalkaldischen Artikel ins Feld, sondern auf reformierter Seite die Confessio Gallicana, die Confessio Belgica und die Confessio Helvetica Posterior. Aus diesen Bekenntnissen gehe klar hervor, dass das ius liturgicum, das die Landesherren der Reformationszeit sich zuschreiben und ausüben, „ihnen von den christlichen Gemeinden selbst, wie sie sich dem römischen und bischöflichen Joche entzogen, übertragen worden ist, keineswegs aber mit ihrem Majestätsrechte zusammenhängt“.³⁶ Diese Übertragung finde aber nur dort statt, wo der Landesherr den reformatorischen Glauben teile. Nur ein evangelischer Herrscher könne Kirchen- und Gottesdienstordnungen ausarbeiten, „und den andersgläubigen Fürsten bleibt nur der Natur der Sache gemäß die Kenntnißnahme übrig und die Genehmigung der von der Kirche selbst zu Stande gebrachten Ordnungen, zum Zeugniß daß sie nichts mit dem Wohl des Staates unverträgliches darin finden“.³⁷ Schleiermachers These, dass das ius liturgicum ursprünglich bei der Gemeinde lag und von ihr während der Reformation auf den Landesherrn übertragen worden sei, greift auf das sogenannte Kollegialsystem des Kirchenrechts zurück. Danach kommt dem Herrscher das Recht zum Eingriff in innerkirchliche Angelegenheiten anders als im Territorialsystem nicht aufgrund seiner absoluten Gewalt im Staat zu, sondern bei
Schleiermacher 2000, 231 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 239 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 240 (Anm. 1).
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der Kirche handelt es sich um einen selbständigen Verein, der mit einer ihm eigentümlichen Gewalt ausgestattet ist, die er jedoch durch einen stillschweigenden Vertrag dem Landesherrn übertragen kann. Allerdings war dies nicht die einzige Form, wie Kirchen- und Gottesdienstordnungen in der Reformationszeit zustande kamen. Wo nun auch die höchste Obrigkeit an den reformatorischen Bewegungen keinen Theil nahm, da blieb nichts übrig als daß die neuernden Gemeinen in einem Staat sich entweder den Einrichtungen in einem andern anschlossen, oder daß sie sich durch Privatübereinkunft so gut zu helfen suchten als sie konnten; und auf diesem Wege ist Liturgie und Verfassung der französischen Kirche entstanden. Wo sich aber die Obrigkeit für die evangelische Sache erklärte, da war es wohl natürlich, ihr als demjenigen Mitglied der Kirche, welches in einer gewissen Beziehung allein einzelnen des Landes auf gleiche Weise angehörte und überdies gemeinsamer Anordnungen und Verwaltungen am meisten kundig ist, die Sorge für den Verband und auch für die gemeinsame Einrichtung des Gottesdienstes zu übertragen.³⁸
Die Landesherren deshalb als oberste Bischöfe zu bezeichnen, hält Schleiermacher allerdings für unangemessen, weil sie doch niemals sakramentliche und gottesdienstliche Handlungen ausgeübt haben. Die Form der Verwaltung des Kirchenregiments durch die Landesherren falle dabei jedoch unterschiedlich aus. In den meisten protestantischen Staaten Deutschlands existiere eine Konsistorialverfassung, dergemäß der Landesherr die Personen ernennt und in Kollegien vereinigt, die in seinem Namen das Kirchenregiment ausüben. Schleiermacher hält die Konsistorialverfassung jedoch für ein Provisorium, das an der Vermischung der kirchlichen und der staatlichen Sphäre krankt. Denn ein ausgebildeter Zustand würde ohne Zweifel erfordern, daß dasjenige auch seiner Form nach ganz geschieden wäre, was seiner Art und seinem Ursprunge nach ganz verschieden ist; ich meine das ursprünglich landesherrliche ius circa sacra und die von dem evangelischen Landesherrn nur mit Bewilligung der Kirche übernommenen iura sacra. Denn wenn eine solche Scheidung nicht auch äußerlich hervortritt: so wird nicht zu vermeiden sein, wovor Luther so häufig und angelegentlich warnt, daß nicht beide Regimente das weltliche und das geistliche sich vermischen.³⁹
Neben der für unvollkommen erachteten Konsistorialverfassung gebe es in der evangelischen Kirche als Alternative noch zwei weitere Verfassungsformen: die Episcopalverfassung und Presbyterialverfassung; die erstere vorzüglich da wo größere Reiche fast auf einmal die Reformation annahmen, so daß die Bischöfe ebenfalls Theil daran nahmen oder ihre Functionen einstellen mußten; die andere vorzüglich da, wo die evangelische Kirche sich ohne Zutritt des Regenten bildete.⁴⁰
Schleiermacher 2000, 248 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 258 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 263 (Anm. 1).
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Schleiermacher ist der Auffassung, dass sich die Existenz der Episkopalverfassung in Schweden und England nur aus den dortigen politischen Verhältnissen während der Reformation erkläre und nicht ein eigentliches Erzeugnis der Reformation sei. Zudem habe eine solche Verfassung mit ihrer Unterscheidung von höherer und niederer Geistlichkeit keinen Grund in der Schrift und widerspreche Luthers These vom allgemeinen Priestertum. Denn sie besage, „daß die priesterliche Würde im neutestamentlichen Sinne allen Christen gemein ist, und die Diener des Wortes nur des Amtes halber aus diesem gemeinen Priesterthum ausgesondert werden“⁴¹. Daraus ergebe sich aber „der ächt evangelische Grundsatz, daß alle Geistliche nur Beamte der Gemeine sind, und kein anderer Unterschied als der des Auftrages unter ihnen stattfinden kann, nicht aber einem eine Herrschaft über die andern zukomme“⁴². Die Episkopalververfassung widerspreche schließlich auch dem Grundsatz der Gleichheit aller Geistlichen, wie sie in vielen reformierten Bekenntnissen als Glaubensartikel ausgesprochen sei. Schleiermacher plädiert daher für einen Übergang der Konsistorial- in die Presbyterialverfassung. Daß diese der evangelischen Kirche am gemäßesten ist zeigt die Geschichte dadurch daß ganz sich selbst überlassen, wie wir es am bestimmtesten in Frankreich sehen, sie sich keine andere als diese gebildet hat; daß diese Verfassung überall einen reichen Segen kirchlichen Lebens verbreitet und die Kirche in dieser Verfassung Anfechtungen und Verfolgungen aller Art glücklich bestanden hat, liegt ebenfalls zu Tage.⁴³
Und Schleiermacher verhehlt nicht seine Enttäuschung darüber, dass die vom preußischen König angestoßene Bildung einer presbyterial-synodalen Kirchenverfassung ins Stocken geraten sei. Friedrich Wilhelm III. verteidigte seine Agendenreform zwar in seiner 1827 anonym erschienenen Schrift „Luther in Beziehung auf die Preußische Kirchenagende“, doch Schleiermacher ließ nicht locker und reagierte noch im selben Jahr wiederum anonym mit dem „Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in bezug auf die preußische Agende“.
3 Das Bekenntnis Neben der Frage nach der Kirchenverfassung wurde für die preußische Union auch die Frage nach der Geltung der Bekenntnisse relevant, zu der Schleiermacher kurz nach seiner Kontroverse mit Ammon über die Union Stellung bezog. Im „Reformations Almanach auf das Jahr 1819“ erschien sein Aufsatz „Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher“. Wie viele andere zeigt er sich davon überrascht, dass einige Zeitgenossen die ganze aufgeklärte Kritik an den
Schleiermacher 2000, 264 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 264 (Anm. 1). Schleiermacher 2000, 267 (Anm. 1).
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überkommenen Bekenntnissen „wie mit einem Schwamme wegwischen“.⁴⁴ „Dies muß offenbar befremden, wenn man sich des großen Einflusses erinnert, den bis vor gar nicht langer Zeit so viele ehrenwerthe und unvergeßliche Männer ausgeübt haben, welche sich allem Zwange der symbolischen Bücher widersetzten und in ihren eigenen Ansichten ganz offenkundig von ihnen abwichen.“⁴⁵ Schleiermacher sieht die zeitgenössische Debatte durch zwei gegensätzliche Auffassungen geprägt. Auf der einen Seite stünden diejenigen, die den Bekenntnisschriften ein bindendes Ansehen beilegen wollen, sodass ihr Inhalt zumindest in allen gottesdienstlichen Handlungen die Norm der öffentlichen Lehre sein würde. Auf der anderen Seite seien diejenigen anzusiedeln, die die Bekenntnisschriften nur als geschichtliche Denkmäler ihrer Entstehungszeit ansähen, sodass sie auf die gegenwärtigen Bemühungen gar keinen Einfluss haben können. Schleiermacher geht es zunächst darum zu zeigen, dass die Bindung an die Bekenntnisse nicht die Bindung an deren Buchstaben bedeutet. Als prägnantes Beispiel wählt er den Augsburger Religionsfrieden von 1555, der die Religion der Augsburgischen Konfession unter den Schutz des Reiches stellte. „Denn indem dieser von der Augsburgischen Konfession redet, spricht er ausdrücklich von deren Lehre, Religion und Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen und Cerimonien, so sie aufgerichtet oder nachmals aufrichten möchten.“⁴⁶ Damit sei den Obrigkeiten, die sich zur Confessio Augustana bekannten, zugestanden worden, neue Lehre, Ordnungen und Gebräuche aufzurichten, sofern diese von ihnen als mit der Augsburgischen Konfession verträglich angesehen würde. Diese eingeräumte Freiheit habe aber eine entscheidende Rolle gespielt, als die kaiserliche Seite den Pfälzer Kurfürsten wegen seines Übertritts zum Calvinismus vom Religionsfrieden habe ausschließen wollen. Die evangelischen Fürsten hätten dagegen mit dem folgenden Argument gegen den Ausschluss protestiert: der Churfürst weiche allerdings in der einen Lehre vom Abendmahle von der Augsburgischen Konfession ab; allein sie müßten gegen alle Ausschließung aus dem Religionsfrieden protestiren, indem einzelne Abweichungen in der Lehre immer müßten stattfinden können, wie denn dergleichen selbst in der römischen Kirche vorkäme.⁴⁷
Für Schleiermacher ist dies ein Beweis dafür, dass man schon damals den konfessionellen Frieden nicht von der genauen Übereinstimmung mit dem Buchstaben des Symbols habe abhängig machen wollen, und er sieht darin einen Sieg des wahrhaft protestantischen Geistes über das Sektenwesen. Der Geist der symbolischen Bücher weise über ihren Buchstaben hinaus. Es widerstrebe dem durch die Reformation freigesetzten spekulativen und historischen Sinn, wenn die bildliche Vorstellung vom
Schleiermacher 1990, 119 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 120 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 122 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 124 (Anm. 10).
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Jüngsten Gericht ebenso ein buchstäbliches Dogma wäre wie die Lehre vom Sohn Gottes oder die magische Wirksamkeit des Teufels auf die Seele. Schleiermacher geht es aber bei seiner Ablehnung einer Bindung an den Buchstaben der reformatorischen Bekenntnisse nicht darum, diese entweder zu abrogieren und durch neue zu ersetzen oder sie zeitgemäß zu verbessern. Vielmehr hält er es für widersprüchlich, jemanden auf die symbolischen Bücher zu verpflichten und zugleich ihre periodische Veränderung zu fordern. Aber ebenso unangemessen ist es in seinen Augen, die Bekenntnisse auf dieselbe Stufe wie die Heilige Schrift zu stellen, so „daß die symbolischen Bücher sich sollen zur protestantischen Kirche verhalten, wie die heiligen Schriften zur gesammten Christenheit“.⁴⁸ Wie die Bibel die Glaubensnorm für jeden Christen sei und sich alles aus ihr entwickeln lasse, so seien die Bekenntnisse die Glaubensnorm für jeden Protestanten und solle der protestantische Glaube sich aus den reformatorischen Bekenntnissen entwickeln. Doch diese Auffassung übersieht laut Schleiermacher den grundsätzlichen Unterschied zwischen Bibel und Bekenntnis sowie zwischen Christentum und Protestantismus. Denn das Hervorgehen des Protestantismus aus der katholischen Kirche sei etwas ganz anderes als das Hervorgehen des Christentums aus dem Judentum. Daher müsse zwar alle christliche Lehre aus der Schrift entwickelt werden. Nicht eben so können wir Alles, was protestantisch seyn soll, aus den symbolischen Büchern entwickeln: sondern nur, indem wir dabei auf die Schrift zurück gehen, und mit Anwendung der in den symbolischen Büchern niedergelegten protestantischen Principien aus ihr ergänzen, was den symbolischen Büchern selbst noch am vollen Inhalte der Glaubens- und Sittenlehre fehlt.⁴⁹
Schleiermacher nennt einige Merkmale, durch die sich die Bekenntnisse von der Bibel unterscheiden. Unter anderem wehe aus ihnen kein völlig neuer Geist wie aus den neutestamentlichen Schriften, sondern der christliche Geist in freierer Gestalt. Aber trotz allem bestehe zwischen den neutestamentlichen Schriften und den protestantischen Bekenntnissen doch die höchst bedeutende Ähnlichkeit, „daß die symbolischen Bücher das Erste sind, worin sich auf eine öffentliche und bleibende Weise der protestantische Geist ausgesprochen hat, eben wie in der Schrift zuerst öffentlich und bleibend der christliche Geist“.⁵⁰ Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen Schrift und Bekenntnis gehöre es aber, dass die Schrift ganz nach innen, auf die Christen gerichtet ist, die Bekenntnisse hingegen ganz nach außen, nämlich an die Glieder der römischen Kirche, von der man sich trennte. In der Schrift sei die Entfaltung des christlichen Glaubens die Hauptsache, in den Bekenntnissen hingegen „die Aufstellung eines bestimmten Gegensatzes gegen die katholische Kirche“.⁵¹ Der eigentliche protestantische Sinn habe sich nur aus diesem Gegensatz allmählich
Schleiermacher 1990, 137 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 138 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 138 – 139 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 139 (Anm. 10).
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entwickeln können. Allerdings beschränkt Schleiermacher das Merkmal, ganz nach außen gerichtet zu sein, auf bestimmte symbolische Schriften des Protestantismus, nämlich auf die Confessio Augustana samt Apologie und die reformierten Bekenntnisse im engeren Sinn. Die lutherischen Katechismen nimmt er davon ebenso aus wie den Heidelberger Katechismus, die Konkordienformel und die Dordrechter Canones. Die letzten beiden Texte sollten zwar innerkirchliche Lehrstreitigkeiten lösen, aber Schleiermacher meint, dass dies innerhalb der protestantischen Kirche allenfalls vorübergehend geschehen und eigentlich überhaupt nicht kirchlich entschieden werden könne. Innerkirchliche Lehrstreitigkeiten müssten vielmehr in sich selbst verbluten. Daher begrüßt Schleiermacher es, dass zahlreiche lutherische Kirchen die Konkordienformel nicht als symbolisches Buch anerkannt hätten und diese Differenz zwischen konkordistischem und nonkordistischem Luthertum nicht zu einem Bruch der Kirchengemeinschaft innerhalb des Luthertums geführt habe. Und auch wenn die Dordrechter Synode innerhalb des Reformiertentums zu einem Schisma geführt habe, sei sie doch nicht von der ganzen reformierten Kirche angenommen worden. Wenn aber die symbolischen Bücher im eigentlichen Sinn nur diejenigen seien, die sich ganz nach außen richten und den Gegensatz gegen den Katholizismus feststellen, dann enthalten diese Bücher laut Schleiermacher die Punkte, von denen alle Protestanten ausgehen und um die sie sich immer wieder sammeln müssen. Jeder Geistliche müsse daher den symbolischen Büchern in diesem Umfang zustimmen. Die rechte Formel dazu würde meines Erachtens diese seyn ‚Ich erkläre, daß ich Alles, was in unsern symbolischen Büchern gegen die Irrthümer und Mißbräuche der römischen Kirche – besonders in den Artikeln von der Rechtfertigung und den guten Werken, von der Kirche und der kirchlichen Gewalt, von der Messe, vom Dienste der Heiligen und von den Gelübden – gelehrt ist, mit der heiligen Schrift und der ursprünglichen Lehre der Kirche völlig übereinstimmend finde; und daß ich, so lange mir das Lehramt anvertraut ist, nicht aufhören werde, diese Lehren vorzutragen, und über den ihnen angemessenen Ordnungen in der Kirche zu halten‘.⁵²
An den lutherischen und reformierten Bekenntnissen ist also nur das von Belang, was den Gegensatz des Protestantismus gegen den Katholizismus ausdrückt. Eine Verpflichtung des Geistlichen auf die symbolischen Bücher, und zwar nur in Bezug auf diesen Gegensatz als einen mit der Schrift übereinstimmenden, hält Schleiermacher für notwendig, und zwar eine Verpflichtung, die ihrerseits nicht wieder durch das „quatenus“ bedingt ist. Damit kehrt Schleiermacher allerdings nicht zu der alten unbedingten Bekenntnisverpflichtung zurück. Denn in der von ihm vorgeschlagenen Bekenntnisverpflichtung ist nicht impliziert, daß die positiven Bestimmungen jener (sc. der in den Bekenntnissen enthaltenen, J. R.) Lehren nicht sollten der Verbesserung fähig seyn, sondern immer in demselben Buchstaben vorgetragen
Schleiermacher 1990, 141 (Anm. 10).
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werden müßten; vielmehr geht sie nur auf den bestimmten Gegensatz gegen die römische Theorie und Praxis.⁵³
Was Schleiermacher mit der Verpflichtung der Geistlichen auf den antikatholischen Geist der protestantischen Bekenntnisse bezweckt, ist klar. Dieser Geist ist den lutherischen und reformierten Bekenntnissen gemeinsam, während sie sich in ihren positiven Lehren voneinander unterscheiden. Die Kirchenunion soll Raum für verschiedene positive Lehren und somit eine größtmögliche theologische Freiheit bieten. An dieser Haltung hat er auch später noch festgehalten, als er im Zusammenhang des Hallischen Theologenstreites und des 300. Jubiläum der Übergabe der Confessio Augustana 1831 in seinem Sendschreiben „An die Herren D. D. D. von Cölln und D. Schulz“ nochmals zur Bekenntnisfrage Stellung bezog. Er begrüßt es dort ausdrücklich, dass es in Berlin anlässlich der Feierlichkeiten nicht zur Forderung nach Einführung einer Verpflichtung auf die Confessio Augustana gekommen sei. Denn niemand bei uns scheint über das schöne Wort unseres Königs, daß wir uns an den Geist dieser Bekenntnißschrift von Herzen anschließen, hinausgegangen zu seyn, und diejenigen, welche uns gern wieder unter die Lehrnorm eines Buchstabens beschwören wollten, haben an diesem Tage unter der evangelischen Geistlichkeit unserer Stadt keinen Dolmetscher gefunden.⁵⁴
Eine Unterwerfung unter den Buchstaben der Confessio Augustana hält Schleiermacher schon deshalb für obsolet, weil Melanchthon als ihr Autor sie mehrfach umgearbeitet habe. Zudem sei in den zurückliegenden drei Jahrhunderten innerhalb der Kirche eine solche Reinigung der christlichen Lehre durch die Erforschung der Schrift eingetreten, dass man unmöglich an allen Punkten der Lehre des alten Bekenntnisses festhalten könne. Dass er, Schleiermacher, wie auch die anderen evangelischen Geistlichen, das Fest zum Jubiläum der CA gleichwohl ohne Bedenken begehen konnten, habe seinen Grund darin, dass man ja ohnehin nicht das Bekenntnis seinem Inhalt nach, sondern die Übergabe des Bekenntnisses auf dem Augsburger Reichstag gefeiert habe. „Gehen wir von diesem Gesichtspunkte aus; so können wir, auch was den Inhalt betrifft, nur die gegen die Mißbräuche und Irrlehren der römischen Kirche gerichteten Zeugnisse, und den ausgesprochenen Entschluß, nur aus der Schrift Belehrung und Widerlegung annehmen zu wollen, für wesentlich halten.“⁵⁵ Damit aber hätten die Überreicher des Bekenntnisses nicht nur sich selbst, sondern auch alle ihre Nachkommen von der Knechtschaft des Buchstabens befreit und alle inhaltlichen Lehren des Bekenntnisses zu berichtigen, wenn sie für nicht schriftgemäß befunden würden. Das Wesen der Reformation besteht für Schleiermacher in der Proklamation dieser Freiheit und in der antikatholischen Aufhebung der Knechtschaft in toten Werken und toten Buchstaben. Die Freiheit führe zwar
Schleiermacher 1990, 142 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 339 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 401 (Anm. 10).
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notwendigerweise theologische Lehrdifferenzen mit sich, doch seien die nur „die weinige Gährung, aus der erst die rechte Veredlung hervorgehen wird.“⁵⁶ Schleiermacher sieht es gerade als Spezifikum der deutschen protestantischen Kirchen und als entscheidenden Faktor für das Wachstum theologischer Einsicht an, dass hier die theologischen Lehrdifferenzen innerhalb der Kirchen selbst ausgetragen und anders als in der römischen Kirche nicht zu Verketzerungen und anders als in den protestantischen Kirchen Englands und Nordamerikas nicht zu Abspaltungen führen würden. Gerade diese theologische Lehrfreiheit, die der Forderung nach landesherrlich festgelegter Lehreinheit entgegensteht, spricht ja in seinen Augen für die kirchliche Union. Daher hält er auch den von den beiden Breslauer Konsistorialräten Daniel von Cölln und David Schulz, zwei entschiedenen Verteidigern der Union, gemachten Vorschlag eines neuen Bekenntnisses für verfehlt. Denn diejenigen Geistlichen, die Bedenken tragen, die Confessio Augustana zu unterschreiben, würden dieselben Bedenken gegen die Unterschrift unter ein Unionsbekenntnis tragen, weil sie darin nur sektiererischen Geist witterten. Das Abfassen einer Bekenntnisschrift hält Schleiermacher für eine erledigte Sache der Reformationsepoche, in der sich die Protestanten nach außen gegenüber der weltlichen Macht über ihren Glauben erklären mussten. Wenn das neue Bekenntnis hingegen dazu dienen solle, für die Lehreinheit in der Kirche zu sorgen, dann zeige bereits das Beispiel der Confessio Augustana, dass dies unmöglich ist. Dass die kirchliche Union ohne neues Bekenntnis zustande gekommen sei, zeige, dass sie eines solchen Bekenntnisses auch gar nicht bedürfe. Das durch die Union angebahnte Ziel der deutschen-evangelischen Kirche sieht Schleiermacher darin, „als Gegenstück zu der englischen und amerikanischen Vielspaltigkeit in einer ganz freien Gemeinschaft zu leben, welche gegenüber der katholischen Gebundenheit nur durch die evangelische Freiheit zusammenhält“.⁵⁷
4 Reformiertentum und Luthertum Auf die Frage, wie Schleiermacher selbst die reformierte Tradition, in der er sich selbst verordnet, im Kontext der Reformation sieht, erhält man am ehesten eine Antwort in den „Vorlesungen über die Kirchengeschichte“, die Schleiermacher 1806 in Halle sowie 1821/22 und 1825/26 in Berlin gehalten hat. Charakteristisch für seine Darstellung der Reformation ist, dass er sie nicht auf eine einzelne Gestalt zurückführt. Die ersten Anfänge der Reformation erblickt er in der humanistischen Neuaneignung der griechischen Antike, die durch den Kulturtransfer von Byzanz nach Italien möglich wurde und als deren hervorragenden Repräsentanten er Pico della Mirandola erwähnt. Überhaupt will Schleiermacher die reformatorische Bewegung nicht auf Ein-
Schleiermacher 1990, 402 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 425 (Anm. 10).
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zelpersonen wie Luther und Zwingli zurückführen, sondern in diesen konzentrierten sich nur allgemeine historische Kräfte. Wir müssen nicht Luthern, nicht Zwingli als den Grund aller Bewegungen ansehn, sondern einen allgemeinen Grund finden in alten früheren Bewegungen im 15 und 16 seculi initio. Die ganze Weise, wie sich die evangelische Kirche bildete und mit der römischen Kirche kämpfte, und sich spaltete kann man nur erklären, wenn wir davon ausgehn, wie ein und derselbe Geist in verschiedenen Gegenden gährte, aber unter verschiedenen Umständen, und individuell verschieden zu Tage gefördert wurde.⁵⁸
Zwar hätten die Bewegungen ihren Ursprung in Einzelpersonen gehabt, aber in ihnen hätten sich nur die im Ganzen vorhandenen allgemeinen Maximen konzentriert. Ermöglicht worden sei die Reformation außer durch den genannten Kulturtransfer erst durch solche Phänomene wie die besonderen kirchlich-politischen Verhältnisse im Reich, die Verbreitung des gegen die Scholastik gerichteten Humanismus an den zahlreichen neuen Universitäten, den Kampf der philologisch orientierten Humanisten wie Reuchlin gegen die Ordenstheologen und die Erfindung der Buchdruckerkunst. Schleiermacher lässt die reformatorische Bewegung nicht mit Luther beginnen, sondern er kennt drei Ausgangspunkte der Reformation, nämlich in Sachsen, in der Schweiz und in Frankreich. Die französische Reformbewegung, wie er sie durch Faber Stapulensis repräsentiert sieht, nimmt in seinen Augen eine vermittelnde Rolle zwischen der sächsischen und der schweizerischen ein.Worin erblickt Schleiermacher die eigentliche Differenz zwischen der sächsischen und der schweizerischen Reformation? Während in Wittenberg ein einzelner Missbrauch, der Ablass, am Anfang stand, hatte die Züricher Reformation der Kirche ihren Grund in sich selbst und führte im Einklang mit dem städtischen Magistrat zu einer konsequenten Reinigung der Kirche von papistischen Elementen. Ebenso macht bei Luther die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein gegen die römische Werkheiligkeit den Hauptpunkt aus, was sich in Melanchthons „Loci communes“ spiegelt. In der Schweiz gelangte demgegenüber Zwingli durch eine ruhige Revision der gesamten Lehre zu seinem Buch „De vera et falsa religione“. Dabei verfährt Zwingli zwar weit kritischer als der eher vermittelnde Melanchthon, aber auch er steht noch zurück hinter der Radikalität der Italiener. Schleiermacher nennt hier Petrus Martyr, Zanchi, Ochino und Lelio Sozzini, die auf die eine oder andere Weise mit der schweizerischen Reformation in Verbindung traten, da sie in Italien selbst verfolgt wurden. Die radikalen Italiener strebten eine Revision der ganzen Kirchenlehre durch Schriftvergleich an, die schließlich zu einer Kritik der Lehrbestimmungen auch der altkirchlichen Konzilien führte. Die römische Lehre von dem Schatz guter Werke führte nicht allein auf die Rechtfertigung durch den Glauben im Gegensatz sondern auch auf die von der Genugthuung. Fing man von Vorn an, so
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, KGA II/6, hg. v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006, 629.
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kam man auf die Trinität, und untersuchte ob da die Kirchen-Bestimmungen gegründet seyen. So gestaltete sich dies in Italien – Petrus Martyr – später Socin.⁵⁹
Es waren die kirchlichen Dogmen der stellvertretenden Genugtuung und der immanenten Trinität, die von den italienischen Humanisten nicht länger als schriftgemäß betrachtet wurden. Nach der Wiedererstarkung des Papsttums habe sich der reformatorische Geist in Italien nicht auf praktischem, sondern auf theoretischem Gebiet gezeigt. Trotz der Verwerfung von Seiten der sächsischen und schweizerischen Reformation geht diese durch den philosophischen Geist des Humanismus gespeiste Dogmenkritik der Italiener auf dasselbe Schriftprinzip zurück, dessen sich auch Luther und Zwingli bedienen. Allerdings schwebte Luther wie Kaiser Karl V. „das Phantom von einer Einheit der Lehre“ in einzelnen Punkten vor.⁶⁰ Und wie Schleiermacher bereits an Pico della Mirandola rühmt, dass der christliche Glaube für ihn kein Glaube an einen Lehrsatz gewesen sei, so hebt er an Erasmus die Auffassung lobend hervor, dass „die Manchfaltigkeit in der Lehre sehr gut bestehn könne, wenn man nur an jedem einzelnen Punct einen Damm setze gegen das praktisch Schädliche, bis ein allmählig sich verbreitender besserer Unterricht das Bedürfniß unreinerer Ansichten unnöthig mache“.⁶¹ Damit habe Erasmus die Idee einer reineren Reformation erfasst, auch wenn diese Idee sich aufgrund der päpstlichen Macht nicht realisieren ließ. Obwohl Erasmus so der politische Realitätssinn fehlte, habe er doch den rein evangelischen Geist besessen. Denn das Insistieren auf der Einheit der Lehre, das Luther und mehrere sächsische Reformatoren auszeichnete, sei letztlich römisch, während die Italiener und Schweizer in dieser Hinsicht freier gewesen seien. Schleiermacher ist es also um eine Rehabilitierung der Dogmenkritik der Antitrinitarier gegangen, zumal die Hauptsache des Christentums, die Erlösung der Menschen durch Christus, von ihnen trotz ihrer Kritik der Zweinaturenlehre beibehalten werde.⁶² Trotz der Gemeinsamkeit in der Verwerfung der Antitrinitarier kam es zum Zerwürfnis zwischen der sächsischen und der schweizerischen Reformation, und zwar wegen des Abendmahls, ein Punkt, bei dem sich in Marburg die Schweizer wesentlich liberaler verhielten als der hartnäckige Luther und der in der Confessio Augustana schließlich zur Verwerfung der schweizerischen Abendmahlslehre führte. Daran änderte weder die Unionsbestrebung Bucers etwas noch die stärker an Luther als an Zwingli ausgerichtete Abendmahlslehre Calvins. Denn der zwischen Zürich und Genf erreichte Consensus Tigurinus in der Abendmahlsfrage führte im zweiten Abendmahlsstreit zu einem Streit um die verschiedenen Fassungen der Confessio Augustana. Es war natürlich daß eine Menge von Editionen der Augsburger Confession erfolgten und sich Veränderungen einschlichen, Melanchthon hatte eine Ausgabe veranstaltet, in der im Artikel vom
Schleiermacher 2006, 632 (Anm. 58). Schleiermacher 2006, 633 (Anm. 58). Schleiermacher 2006, 633 – 634 (Anm. 58). Schleiermacher 2006, 643 (Anm. 58).
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Abendmahl eine leise Veränderung vorgenommen hatte in Beziehung auf die Wittenberger concordia. Dies urgirte Eck, daß man zwinglisire.⁶³
Die Jenaer Lutheraner warfen den Wittenbergern um Melanchthon eine geheime Neigung zu der schweizerischen Ansicht vor. Der Vorwurf des Kryptocalvinismus richtete sich vor allem gegen die Abendmahlslehre und Christologie. Denn in die Streitigkeiten über das Abendmahl mit den Schweizern wurde die Lehre von der Ubiquität des Leibes Christi mit aufgenommen, wie sie von den Gnesiolutheranern vertreten wurde. In der Konkordienformel schrieb man schließlich in der Abendmahlslehre die leibliche Realpräsenz und mündliche Nießung der Unwürdigen ebenso fest wie in der Christologie die Ubiquität. Und in dem neben Abendmahlslehre und Christologie dritten Streitpunkt mit den Schweizern, der Prädestinationslehre, kam man Schleiermacher zufolge zu keiner Klarheit. Im Übrigen herrschte in seinen Augen auch bei den Schweizern keineswegs Einigkeit in Bezug auf die Prädestinationslehre. Zwar hatte Calvin sie in Übereinstimmung mit Augustin in seine „Institutio“ aufgenommen, aber Zwingli hatte das Harte dieser Lehre vermeiden wollen. Wohl wurde der Consensus Genevensis de aeterna dei praedestinatione schließlich von Zürich akzeptiert, „doch ohne daß man in dieser Zeit in der schweizer Kirche eine Ansicht von der Nothwendigkeit der Uebereinstimmung der Lehre gefaßt hätte wie in der sächsischen Kirche“.⁶⁴ Die innerlutherischen Einigungsbemühungen, die in der Konkordienformel mündeten, werden von Schleiermacher durchweg negativ beurteilt, und er betrachtet in erster Linie die Ubiquitätslehre als Ursache für die Ausbreitung der reformierten Kirche in Deutschland. Denn die Ablehnung der Ubiquitätslehre führte hier zur Annahme der calvinistischen Abendmahlsauffassung zunächst in Heidelberg und Bremen. Daneben entstanden aufgrund des Zustroms calvinistischer niederländischer Flüchtlinge wallonisch-reformierte Gemeinden in Deutschland. Und schließlich: Im Anfang des 17 seculi bekannte sich auch das Kur Brandenburgische und das märkische Haus zur reformirten Kirche in der Confessio Sigismundi; aber die calvinische Praedestinationslehre ist in der deutsch-reformirten Kirche eigentlich nie anerkannt; in ihrem strengen Gehalt ist sie nicht im heidelberger Katechism, auch nicht in der confessio Sigismundi enthalten. Man hat daher gesagt: daß diese Lehre, weil sie nicht als vollkommen symbolisch angesehen werden kann, kein Grund der Trennung sey.⁶⁵
Fortan standen sich also in Deutschland eine lutherische und eine reformierte Kirche gegenüber, wobei die lutherische durch die jesuitische Propaganda noch in ihrer inneren Neigung bestärkt wurde, am Buchstaben der symbolischen Bücher festzuhalten. Gegenüber diesem knechtischen Beharren auf dem Buchstaben der Konkor-
Schleiermacher 2006, 645 (Anm. 58). Schleiermacher 2006, 645 (Anm. 58). Schleiermacher 2006, 653 (Anm. 58).
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dienformel und der im Konkordienbuch enthaltenen Bekenntnisschriften entstand im Luthertum selbst das entgegengesetzte Bewusstsein, dass der ursprüngliche religiöse Impuls der Reformation mit dem Buchstaben nichts zu tun habe. Auf der einen Seite bildete sich so vor allem in Wittenberg eine polemische scholastische Dogmatik aus, die durch den Gegensatz zu den Katholiken und die Schweizer bestimmt ist. In Helmstedt verfolgte man hingegen die Tendenz, sich auf wissenschaftlichem Wege der Einheit des evangelischen Prinzips gegenüber dem katholischen und der Einheit des christlichen Prinzips selbst bewusst zu werden. Da sich aber der Streit zwischen den Wittenbergern und Helmstedtern auf wissenschaftlicher Ebene abspielte, kam das Gute an dem Helmstedter Verfahren der Masse nicht zu Bewusstsein, sodass sich das religiöse Element in der mystisch-praktischen Richtung bei Arndt,Weigel, Böhme und im Pietismus manifestierte.Wie im Luthertum entstand auch im Reformiertentum eine Spaltung in gegensätzliche Richtungen, und zwar in den Niederlanden. Denn die Arminianer wandten sich hier gegen die calvinistische Lehre vom unbedingten göttlichen Ratschluss und von der partikularen Erlösung. Zwar lehrte man die Notwendigkeit der göttlichen Gnade, aber zugleich die Fähigkeit des Menschen, der Gnade zu widerstehen, und die Möglichkeit, sie zu verlieren. Da die Arminianer aber eine Bekenntnisbindung ablehnten, konnten sie sich trotz der Nähe zu ihr nicht der lutherischen Kirche anschließen. Die zur Lösung des Konflikts einberufene Dordrechter Synode hatte nur in den Niederlanden Einfluss. „Die Deutschen, anhaltschen und brandenburgischen Reformirten erschienen gar nicht, weil sie in diesem Punct gar nicht calvinisch wären.“⁶⁶ Es ist deutlich, dass Schleiermacher Position für die Remonstranten ergreift, und zwar deshalb, weil sie gegen die Bindung an den symbolischen Buchstaben im Namen der Exegese und des freien Philosophierens über dogmatische Sätze protestierten. Dies Princip sich frei zu halten von dem Ansehn der symbolischen Bücher, damit die exegetische Forschung, die Freiheit der Hermeneutik und die speculative Behandlungsweise gedeihe, hat sich über die ganze Kirche verbreitet durch seinen Einfluß. In der evangelischen Kirche in Deutschland entstand ein allgemeiner Wunsch, sich von der Autorität der symbolischen Bücher loszumachen.⁶⁷
Englischer Deismus und französische Aufklärung haben dann trotz aller negativen Tendenzen und restaurativer Gegenreaktionen zum Sieg der remonstrantischen Haltung beigetragen. Denn „das remonstrantische Princip hat so Ueberhand genommen, daß wir nicht durch einen symbolischen Buchstaben zu fesseln sind“.⁶⁸ Kirchentrennende Bedeutung hatten für Lutheraner und Reformierte seit der Reformation die Abendmahlslehre, mit der die Christologie aufs engste verknüpft war, und dann die Prädestinationslehre. Durch die preußische Union verlieren sie für
Schleiermacher 2006, 659 (Anm. 58). Schleiermacher 2006, 659 – 660 (Anm. 58). Schleiermacher 2006, 660 (Anm. 58).
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deren Mitglieder ihre kirchentrennende Bedeutung. Auch für Schleiermachers Dogmatik „Der christliche Glaube“, in der der christliche Glaube dargestellt wird nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche insgesamt, haben sie diese Bedeutung verloren. Sie ist daher keine konfessionell reformierte Dogmatik. Aber noch im „Zweiten Sendschreiben an Lücke“ von 1829 betrachtet Schleiermacher sich als einen „Theologen, der durchaus von der reformirten Schule herkommt und dies auch in dem gegenwärtigen Zustande der Union gar nicht glaubt in Abrede stellen zu dürfen“.⁶⁹ Daher könne man fragen, ob es nicht natürlich und angemessen gewesen wäre, wenn er sich im Aufbau seiner „Glaubenslehre“ enger an den „Heidelberger Katechismus“ angeschlossen hätte. Bekanntlich liegt dem Katechismus die sogenannte analytische Methode zugrunde, die zuerst von dem Heilsziel, der Erlösung, handelt und dann nach den Ursachen und Mitteln fragt, durch die der Mensch das Ziel erreicht. Zwar sind in Schleiermachers Augen ein Katechismus und eine Dogmatik zwei verschiedene Dinge, aber während er die Anwendung der analytischen Methode bei einem Katechismus für verfehlt hält, weil die Jugend, für die der Katechismus bestimmt ist, die Erlösungsbedürftigkeit gar nicht so empfinden kann wie ein mündiger Christ, erscheint sie ihm für die Dogmatik durchaus angemessen, da „die Christen ihr gesammtes Gottesbewußtseyn nur als ein durch Christum in ihnen zu Stande gebrachtes in sich tragen“.⁷⁰ Schleiermacher hat sich jedoch aus hier nicht näher zu spezifierenden wissenschaftspragmatischen Gründen für die jetzige Anordnung des dogmatischen Stoffs entschieden. Wenn Schleiermacher sich aber nach wie vor, also auch innerhalb der Union, als einen Theologen der reformierten Schule betrachtet, kann man sich fragen, ob und inwiefern dieser Schulhintergrund sich in seiner Behandlung der lutherisch-reformierten Kontroverspunkte bemerkbar macht. Geht man von der grundlegenden Differenz im Verständnis des Abendmahls aus, so erfahren laut Schleiermacher die Christen beim Genuss des Abendmahls eine eigentümliche Stärkung des geistigen Lebens, indem ihnen darin Christi Leib und Blut dargereicht werden. Was den Zusammenhang zwischen Brot und Wein mit Leib und Blut im Abendmahl betrifft, so stellt sich die evangelische Kirche nur einerseits der römischen Auffassung von einer Gegenwart von Leib und Blut unabhängig vom Gebrauch und andererseits derjenigen der Sakramentierer entgegen, die keinerlei Verbindung zwischen dem Genuss der Elemente und dem geistigen Genuss Christi annehmen.⁷¹ Zu den Sakramentierern werden dabei weder die Anhänger des helvetischen und gallikanischen Bekenntnisses noch Zwingli gerechnet, wohl aber die Sozinianer und solche, die das Abendmahl nur als Bekenntniszeichen betrachten. Bei Zwingli verbinde sich hingegen das Abendmahl als Bekenntniszeichen und als danksagende Erinnerung mit dem geistigen Genuss. In der evangelischen Kirche seien sich von Anfang an zwei Auffassungen vom Abendmahl gegenübergestanden, näm Schleiermacher 1990, 337 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 338 (Anm. 10). Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, hg. v. Martin Redeker, Berlin 71960, 347– 349.
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lich diejenige Luthers, die sich der katholischen, und diejenige Zwinglis, die sich der sozinianischen genähert habe. Aus dem Ausgleichsbestreben zwischen diesen Positionen sei als dritte Auffassung diejenige Calvins entstanden. Eine buchstäbliche Erklärung der Deuteworte, wie sie Luther vorlegt, hält Schleiermacher schon aufgrund der unterschiedlichen Überlieferung der Deuteworte für unmöglich, weshalb er dem symbolischen, uneigentlichen Verständnis der Reformierten grundsätzlich zustimmt. Er hält zudem Zwinglis Abendmahlsauffassung, wonach Christus durch seinen Befehl mit dem Genuss der Elemente, den geistigen Genuss Christi, verbunden habe, für „ohnstreitig die klarste und faßlichste“, doch spricht er zugleich von ihrer „überverständigen Dürftigkeit“.⁷² Demgegenüber erkenne Calvin wie Luther eine wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Christi an, insofern für ihn Christus mit dem Genuss der Elemente nicht nur den auch außerhalb des Abendmahls stattfindenden geistigen Genuss Christi verbunden habe, sondern darüber hinaus auch die nirgends sonst vorhandene wirkliche Gegenwart seines Leibes und Blutes. Diese binde Calvin aber anders als Luther nur an den geistigen Genuss der Gläubigen. Luthers Auffassung wird von Schleiermacher nicht nur wegen ihrer Nähe zur römischen und der damit verbundenen Gefahr des Aberglaubens kritisiert, sondern auch deshalb, weil sie die Besonderheit des sakramentlichen Genusses gegenüber dem leiblichen Genuss der symbolischen Elemente und dem geistigen Genuss von Fleisch und Blut Christi nicht verdeutlichen kann. Genau diese Schwierigkeit teile aber Calvins Abendmahlsauffassung mit derjenigen Luthers, sodass Schleiermacher nicht mit der Durchsetzung der calvinischen Abendmahlsauffassung in der evangelischen Kirche rechnet, sondern erwartet, dass sich aus der exegetischen Arbeit eine neue Auffassung entwickeln werde. Schleiermachers eigenes Abendmahlsverständnis kennt daher auch keinen sakramentlichen Genuss, der vom leiblichen Genuss der Elemente und vom geistigen Genuss von Fleisch und Blut Christi unterschieden ist, sondern dieser geistige Genuss, von dem in Joh 6 die Rede sei, finde auch im Abendmahl statt.⁷³ Wenn er erklärt, dass der Genuss des Leibes und Blutes im Abendmahl allen Gläubigen zur Befestigung ihrer Gemeinschaft mit Christus verhelfe, dann meint er damit nur, dass der geistige Genuss beim Abendmahl der Stärkung des geistigen Lebens und der Lebensgemeinschaft mit Christus diene. Der unwürdige Genuss des Abendmahls gereiche den Teilnehmern hingegen insofern zum Gericht, als er diese Stärkung unterbinde. Einen unwürdigen Genuss von Leib und Blut Christi kann Schleiermacher von seinen Voraussetzungen her gar nicht kennen, sondern nur einen unwürdigen Genuss des Abendmahls, der den geistigen Genuss von Leib und Blut Christi nicht impliziert. Doch die die manducatio impiorum betreffende Lehrdifferenz zwischen Lutheranern und Reformierten verschwindet für Schleiermacher ohnehin mit der Vervollkommnung der Kirche, die einen unwürdigen Abendmahlsgenuss ausschließe.⁷⁴
Schleiermacher 1960, 353 – 354 (Anm. 71). Schleiermacher 1960, 343 – 344 (Anm. 71). Schleiermacher 1960, 362– 363 (Anm. 71).
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Der zweite, mit der Abendmahlslehre eng verknüpfte Kontroverspunkt zwischen Reformierten und Lutheranern, ist die Christologie, und zwar die Lehre von der Ubiquität des Leibes Christi, die in einer bestimmten Fassung des Topos der Idiomenkommunikation im Rahmen der vorausgesetzten Zweinaturenlehre verankert ist. Wie in der Abendmahlslehre steht auch in diesem Kontroverspunkt nicht zu erwarten, dass Schleiermacher die altreformierte Position repristiniert, fällt doch schon die Voraussetzung der altreformierten Christologie, die chalcedonensische Zweinaturenlehre, der Kritik zum Opfer. An ihre Stelle tritt die These, dass Jesus von Nazareth als geschichtliches und gleichwohl urbildliches Einzelwesen aufgrund der Selbigkeit der menschlichen Natur allen Menschen gleich sei, während er sich durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins von allen Menschen unterscheide. Das schlechthin kräftige Gottesbewusstsein wird dabei als eigentliches Sein Gottes in ihm bezeichnet, das an die Stelle der göttlichen Natur tritt. Die traditionellen kirchlichen Formeln von der Person Christi bedürfen daher laut Schleiermacher einer fortgesetzten kritischen Behandlung, die sich an dieser Auffassung zu orientieren hat. Dabei könne einiges beibehalten werden, während anderes besser aufgegeben werde. Zu dem, was Schleiermacher meint preisgeben zu müssen, gehört aber die Präexistenz des Sohnes Gottes und damit die immanente Trinität ebenso wie die Verbindung zweier Naturen in einer Person. Dabei kritisiert er ausdrücklich die Übernahme des altkirchlichen trinitarischen und christologischen Dogmas auch durch die reformierten Bekenntnisse.⁷⁵ Aus der Ablehnung der Zweinaturenlehre „folgt schon von selbst, daß die Theorie von einer gegenseitigen Mitteilung der Eigenschaften beider Naturen aneinander ebenfalls aus dem Lehrbegriff zu verweisen und der Geschichte desselben zu überliefern ist“.⁷⁶ Allerdings macht sich Schleiermacher die reformierte Kritik an der lutherischen Lehre von der Idiomenkommunikation völlig zu eigen. Denn wenn man annehme, dass die Majestätseigenschaften der göttlichen Natur die angenommene menschliche Natur durchdrungen hätten, „so konnte während dieser Mitteilung nichts Menschliches mehr übrig sein in Christo“.⁷⁷ Auch dürfe man umgekehrt keine Mitteilung menschlicher Eigenschaften, etwa der Leidensfähigkeit, an die göttliche Natur annehmen, weil diese dadurch aufgehoben werde. Die Verwerfung der lutherischen Lehre von der Idiomenkommunikation „schließt aber keineswegs eine Begünstigung der reformierten Schule gegen die lutherische in sich“⁷⁸. Denn die reformierte Christologie zertrenne Christus, insofern sie von entgegengesetzten Eigenschaften in einer Person spreche. Die reformierte Lehrweise sei daher wie die lutherische zu verwerfen. Den dritten Kontroverspunkt stellt die Prädestinationslehre dar. Ihr hat Schleiermacher 1819 eine eigene Abhandlung „Über die Lehre von der Erwählung“ gewidmet, die sich mit der Kritik der calvinistischen Prädestinationslehre durch den Go
Schleiermacher 1960, 51 (Anm. 71). Schleiermacher 1960, 74 (Anm. 71). Schleiermacher 1960, 75 (Anm. 71). Schleiermacher 1960, 76 (Anm. 71).
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thaer Superintendenten Karl Gottlieb Bretschneider in dessen „Aphorismen über die Union der beiden evangelischen Kirchen in Deutschland“ auseinandersetzt. Bretschneider hatte erklärt, es gebe Einen Lehrsaz in dem System der lutherischen Kirche selbst, mit welchem die lutherische Erwählungstheorie im Widerspruch stehe, nämlich den von der gänzlichen Unfähigkeit des Menschen sich selbst zu bessern, und von seinem natürlichen Widerstande gegen die göttliche Gnade, welche dies allein vermögen soll.⁷⁹
Dieser Lehrsatz der Konkordienformel führe in seiner Konsequenz auf die calvinistische Prädestinationslehre, und um ihr zu entgehen, rät Bretschneider dem Luthertum, zugunsten der Willensfreiheit auf ihn zu verzichten. Schleiermacher lädt hingegen die Lutheraner ein, bei der augustinischen Lehre von der Unfähigkeit des Menschen zum Guten zu bleiben und als ihre natürliche Konsequenz die calvinistische Prädestinationslehre anzunehmen. Denn etwas mittleres zwischen der kirchlichen lutherischen Theorie wie sie in der Concordienformel vorgetragen ist und der calvinischen ist nicht zu finden. Man müßte also eine von beiden wählen, und da scheint mir die Sache so zu stehn, daß wenn man die lutherische Formel wählt, der Streit sich immer wieder erneuern muß, weil sie theils in der unvollkommenen Uebereinstimmung mit der Lehre von dem menschlichen Unvermögen, theils darin daß sie die göttliche und menschliche Causalität einander gegenüber stellt, so daß sie sich in das gemeinschaftliche Gebiet, man weiß aber nicht recht wie, theilen sollen, den Keim des Zwiespalts in sich trägt, daß immer wieder demjenigen der auf die strenge Consequenz und die Klarheit der Anschauung dringt ein Mangel an Befriedigung entstehen muß.⁸⁰
Schleiermacher versucht, alle von Bretschneider vorgebrachten Einwände gegen die konsequentere calvinistische Erwählungslehre zu entkräften. Allerdings repristiniert er nicht einfach die alte calvinistische Prädestinationslehre. Er lehnt es sogar ausdrücklich ab, sich auf die Dordrechter Synode zu berufen. Denn in dieser sind wirklich harte Ausdrücke, welche die Sache an sich nicht klarer machen sondern nur verdunkeln, und nur daraus entstanden sind, daß man sich auf solche nicht aus der reinen Sache hergenommene Fragen mit leerer Disputirkunst einließ. Die ursprüngliche Darstellung in den Institutionen des Kalvin hat sich davon ganz frei gehalten, und nur diese ist es, welche ich vertheidigen will, und von welcher ich wünsche, sie möge der Punkt werden, um den sich die evangelische Kirche sammle.⁸¹
Schleiermacher wendet sich gegen die altreformierte Vorstellung eines absoluten Dekrets, eines decretum horribile, das die Confessio Sigismundi ohnehin nicht kenne.⁸² Statt der auf einzelne Personen gerichteten Erwählung und Verwerfung
Schleiermacher 1990, 151 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 221– 222 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 220 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 197 (Anm. 10).
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nimmt er nur einen einzigen göttlichen Ratschluss über die Ordnung an, in der die Masse der Menschen allmählich durch den Geist Gottes neu belebt wird. Dieser eine Ratschluss ist nichts als die Erweisung der göttlichen Liebe. Mit dieser Liebe verträgt sich allerdings nicht das „‚horribileʻ des kalvinischen Dekrets, daß die Uebersehenen oder Verworfenen dann auf ewig verdammt sind und aller Seligkeit beraubt“.⁸³ An die Stelle des doppelten Ausgangs der Prädestination stellt Schleiermacher daher die Vorstellung von einer endlichen allgemeinen Versöhnung und Wiederbringung aller. Der Unterschied zwischen den gläubig und ungläubig Sterbenden, der für die calvinistische Prädestinationslehre identisch war mit dem Unterschied zwischen Erwählten und Verworfenen, verwandelt sich ihm so in den Unterschied zwischen der früheren und der späteren Aufnahme in das Reich Gottes, die auch postmortal erfolgen kann. Denn alsdann ist der Unterschied zwischen den gläubig und den ungläubig Sterbenden nur der Unterschied zwischen der früheren und der späteren Aufnahme in das Reich Gottes, ein Unterschied welcher mit der Idee einer zeitlichen Welt in jedem nach ihrem Umfange denkbaren Maß nothwendig gegeben ist.⁸⁴
5 Schluss Gerade Schleiermachers Prädestinationslehre macht deutlich, wie sich ungeachtet seines Einsatzes für die kirchliche Union reformiertes Erbe in seiner materialen Dogmatik geltend macht und auch Auswirkungen auf den Ansatz seiner Dogmatik hat. Denn der Gedanke der unbedingten göttlichen Vorherbestimmung, den er Calvin entlehnt, entspricht ja der Auffassung, dass das Wesen der Frömmigkeit darin besteht, dass wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig bewusst sind, dass die Welt nur in der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott besteht und Gott die in sich unterschiedslose schlechthinnige Ursächlichkeit ist, auf die das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl zurückweist.⁸⁵ Gott derart als schlechthinnige Ursächlichkeit und die Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zu denken, entspricht durchaus reformierter Tradition. Hatte doch bereits Zwingli Gott als jenen Ursprung des Seins gefasst, durch den alles wird und ist. Und der sensus divinitatis, den Calvin annimmt und der auf dem semen religionis in jedem Menschen beruht, kann nur ein Bewusstsein der völligen Abhängigkeit von Gott als dem Schöpfer und Erhalter sein. Allerdings ist es auch hier nicht so, dass Schleiermacher den Gedanken der schlechthinnigen Abhängigkeit aller Dinge von Gott und von Gott als schlechthinniger Ursächlichkeit direkt Zwingli oder Calvin entnähme. Vielmehr besteht – auch wenn
Schleiermacher 1990, 216 (Anm. 10). Schleiermacher 1990, 218 (Anm. 10). Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, hg. v. Martin Redeker, Berlin 71960, 23.185.263.
Friedrich Schleiermacher
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Schleiermacher einen derartig engen Zusammenhang zwischen seiner Dogmatik und der Philosophie in Abrede stellt – in dieser Hinsicht eine Affinität zwischen dem reformierten und dem spinozistischen Gottesbegriff, der in modifizierter Form von zahlreichen Theologen, Philosophen und Dichtern im Umkreis von Weimarer Klassik und deutschem Idealismus übernommen wurde. Bereits Alexander Schweizer, der bedeutendste Schüler Schleiermachers, konnte daher mutmaßen, dass man Zwingli, hätte er nach Spinoza gelebt, des Spinozismus geziehen hätte.⁸⁶ Schleiermacher jedenfalls wurde, als er seinen Reden „Über die Religion“ den Gedanken der Persönlichkeit als nicht fundamental für die Frömmigkeit betrachtete und Gott als das Universum fasste, von Friedrich Samuel August Sack des Pantheismus und Spinozismus beschuldigt. Nicht dass sein reformierter Vorgesetzter Sack Schleiermacher den Weg zurück zu Calvin und den Theologen der altreformierten Orthodoxie hätte weisen wollen, sondern was ihn, den reformierten Aufklärungstheologen, an Schleiermacher störte, war, dass er entgegen dem Theismus der aufgeklärten Popularphilosophie einer Philosophie huldigte, „die an der Spitze des Universums kein sich selbst bewußtes, weises und gütiges Wesen anerkennt“.⁸⁷ Wer die Frage nach Schleiermachers reformiertem Erbe beantworten will, darf sich jedenfalls nicht mit einem Vergleich Schleiermachers mit Calvin und der Theologie der altreformierten Orthodoxie begnügen. Er muss vielmehr die gesamte reformierte Tradition in den Blick nehmen, zu der auch die Kritik gehört, die die Reformierten der Aufklärung im Gefolge von Sozinianismus und Arminianismus an der altreformierten Orthodoxie übten. Denn durch diese Kritik ist Schleiermachers Umgang sowohl mit den altreformierten Theologen als auch mit den reformierten Bekenntnisschriften bestimmt, und stellt man dies in Rechnung, dann lässt sich die These vom Gegensatz zwischen Schleiermacher und der reformierten Tradition, wie sie Wilhelm Niesel, der spätere Generalsekretär des Reformierten Weltbundes, 1930 in seiner Münsteraner Lizentiaten-Vorlesung „Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition“ vertrat, nicht mehr aufrecht erhalten.⁸⁸
Alexander Schweizer, Die Glaubenslehre der evangelisch-reformirten Kirche, Bd. 1, Zürich 1844, 92. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Schleiermacher, Reinbeck 1967, 67. Wilhelm Niesel, „Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition“, in: ZZ 8 (1930), 524– 525.
Autorinnen und Autoren Michael Beintker, Dr. theol., Professor (em.) für Systematische Theologie und langjähriger Direktor des Seminars für Reformierte Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Simon Gerber, Dr. theol., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Privatdozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Matthias Hofmann, Doktorand am Institut für Systematische Theologie der Universität Leipzig und Promotionstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Arnold Huijgen, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Universiteit Apeldoorn (Niederlande). Anne Käfer, Dr. theol., Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Arne Lademann, Doktorand am Institut für Systematische Theologie und Praktische Theologie und Religionswissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Lehrstuhl Dierken). Martin Laube, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie (Lehrstuhl für Reformierte Theologie) an der Georg-August-Universität Göttingen. André Munzinger, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Constantin Plaul, Dr. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie und Praktische Theologie und Religionswissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Florian Priesemuth, Doktorand am Institut für Systematische Theologie und Praktische Theologie und Religionswissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; berufsbegleitender Vikar der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Caroline Teschmer, Dr. theol., Vertretungsprofessorin für Religionspädagogik an der Universität Hamburg. Karl Tetzlaff, Doktorand am Institut für Systematische Theologie und Praktische Theologie und Religionswissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Jan Rohls, Dr. theol., Professor (em.) für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arnulf von Scheliha, Dr. theol., Professor und Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften und Principal Investigator am Exzellenz-Cluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sabine Schmidtke, Dr. theol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ökumenischen Institut der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
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Marianne Schröter, Dr. theol., Geschäftsführerin der Stiftung LEUCOREA, Lutherstadt Wittenberg; Lehrbeauftragte für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg.
Personenregister Adam, Wolfgang 142 f., 150 Agricola, Johann 32 Albrecht, Christian 161, 267 Althaus, Paul 31 Ammon, Christoph Friedrich von 31, 110, 218, 241 f., 248 Aristoteles 142, 146 Arndt, Andreas 23, 25, 27 – 29, 35 f., 52, 66, 103, 153, 172, 192, 215 – 218, 227, 257 Arndt, Johann 257 Asendorf, Ulrich 111 Askani, Hans-Christoph 110 Assel, Heinrich 110 Axt-Piscalar, Christine 83, 88 Baars, Arie 43 Bahr, Petra 59 Bär, Benjamin Ursin von 25, 236 Barth, Karl 3 f., 13, 16, 42, 49 f., 60, 75, 83, 85, 103, 167 Barth, Roderich 3 f., 13, 16, 42, 49, 51, 103, 167 Barth, Ulrich 3 f., 11, 13, 16, 42, 45, 49, 51, 66 f., 89 f., 103, 120, 146, 149, 167, 172, 175, 221, 227 Baum, Wilhelm 43 Baur, Ferdinand Christian 11 Bayer, Oswald 10, 23, 28, 84 Becker, Judith 205 Beintker, Michael 13, 111, 195, 204, 207, 267 Beisser, Friedrich 45, 54 Bergius, Johann 236 Berlis, Angela 71 Bernet, Claus 24 Beutel, Albrecht 95, 216 Birkner, Hans-Joachim 91, 129 f., 138, 147, 155, 163, 167, 169, 173 – 177 Bizer, Ernst 98 Blanc, Gottfried Ludwig 35 Boekels, Joachim 185 Böhme, Jakob 187, 257 Brandt, James M. 153, 162, 172 Braun, Otto 66, 147 Bretschneider, Karl Gottlieb 10, 35 f., 84, 261 Brunnschweiler, Thomas 107 Bucer, Martin 255 Büchel, Anna von 23 f.
Burdorf, Dieter 148 Büsching, Johann Gottfried 237 Buttmann, Philipp Karl 218 Calvin, Johannes 10 – 12, 16, 35 f., 41 – 44, 48 – 55, 57, 60, 65, 84, 86, 98 f., 102, 106 – 108, 113, 125, 169, 171, 189, 197, 199, 203 – 205, 242, 255 f., 259, 262 f. Cappelorn, Niels Jorgen 67 Cicero, Marcus Tullius 43, 48 Clark, Chrisopher 50, 173 Cölln, Daniel von 252 f. Cordemann, Claas 180 Cunitz, Eduard 43 Cyrill von Alexandrien 13 Dalferth, Ingolf U. 61 DeHart, Paul J. 114 Delbrück, Ferdinand 176 DeVries, Dawn 41 Dierken, Jörg 19, 45, 88, 126 f., 129, 163, 186, 188, 192, 267 Dingel, Irene 85, 205 Dinkel, Christoph 197, 212 Doerne, Martin 60 Dohna, Alexander Graf zu 26, 143, 215, 238 Druthmar, Christian 189 Ebeling, Gerhard 45, 48, 53, 190 Ebrard, August 185, 189 Egli, Emil 106 Eichner, Hans 132 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 215 Eller, Elias 23 f. Ellsiepen, Christof 62 Emersleben, Lars 154 Erasmus, Desiderius 186, 255 Eylert, Rulemann Friedrich 236 Faßler, Manfred 152 Fergusson, David 150 Fergusson, David A. S. 57 Feuerbach, Ludwig 47 Fichte, Johann Gottlieb 45, 94 Fischer, Hermann 91, 101, 153 Foerster, Erich 20, 22, 26, 34, 184 Frerichs, Jacob 67, 200
268
Personenregister
Freudenberg, Matthias 11, 16, 85, 111, 125 Frevert, Ute 152 Frey, Jörg 85 Friedrich Wilhelm II. 20 Friedrich Wilhelm III. 26, 105, 207, 211, 217, 235, 237, 245, 248 Fuß, Tilman 150 Gamble, Richard C. 50 Gaß, Joachim Christian 28 Geck, Albrecht 34, 90, 162, 197, 208 Gedike, Friedrich 26 Geiselmann, Rupert 191 Gerber, Simon 19, 25, 27 f., 31 – 36, 162, 168, 171 f., 176, 183 f., 186 – 193, 215, 254, 267 Gerrish, Brian A. 41, 171 Glaue, Paul 60 Gockel, Matthias 3, 13, 75 Gräb, Wilhelm 66, 158, 161, 172, 192, 227 Graf, Friedrich Wilhelm 26, 104, 174, 238 Gregory, A. Walter 114, 120 Greifenstein, Johannes 59, 67, 70 Greschat, Martin 173 Grotius, Hugo 142 Grove, Peter 63 Grunow, August Wilhelm Christian 29, 217 f. Grunow, Eleonore 29, 217 f. Habermas, Jürgen 145, 148 Hagenbach, Karl Rudolf 185 Harms, Claus 110, 240 f. Hartlieb, Elisabeth 130 – 136, 138 Hase, Karl 35 Hauschildt, Friedrich 232 Hector, Kevin W. 57 Heesch, Matthias 155 Hegel, Georg Friedrich 12, 221 Heimbucher, Martin 111, 197 Henrich, Dieter 61 Heppe, Heinrich 98 Hering, Daniel Heinrich 23, 25 f. Hermelink, Jan 71 Herms, Eilert 10, 20, 84, 127, 145, 174, 183, 198, 232 f., 238 Herz, Henriette 143 Herz, Markus 143 Hinsdale, Mary Ann 50 Hirsch, Emanuel 11, 95, 167 Hobbes, Thomas 142 Hofmann, Matthias 89, 267
Holfert, Gundolf 180 Holtzmann, Heinrich Julius 190 Hristea, Vasile 126 Hüffmeier, Wilhelm 110 Huijgen, Arnold 41, 50, 78, 267 Huissau, Isaak d’ 206 Hurrelmann, Klaus 139 Huxel, Kirsten 129, 131 Jablonski, Daniel Ernst 236 f. Jaeschke, Walter 12, 89, 103 Jahn, Friedrich Ludwig 170 Joas, Hans 148, 180 Johann Sigismund 20, 174, 235 f. Jonas, Ludwig 31 f., 66, 155 f., 191 f. Jörgensen, Poul H. 155 Jüngel, Eberhard 12, 221 – 223 Käfer, Anne 41, 73, 75, 77, 83, 85, 87 f., 108, 147, 267 Kaiser Karl V. 189, 255 Kandler, Karl-Hermann 111 Kant, Immanuel 10, 14, 44 f., 48, 61 f., 77, 102 f., 143, 148 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 263 Karydas, Dimitris 192 Kelter, Gert 232 Kierkegaard, Sören 67, 83 Klän, Walter 232 Klaproth, Heinrich Wilhelm Ferdinand 217 Klueting, Harm 235 Knigge, Adolph Freiherr 143 Knöbl, Wolfgang 148 Kodalle, Klaus-Michael 94 Koll, Julia 71 Kooi, Cornelis van der 51 f., 99 Körtner, Ulrich H. J. 180 Krafft, Karl 24 Krieg, Matthias 23, 71, 216, 236 Korsch, Dietrich 14, 97, 104 Krüger, Malte Dominik 129, Kubik, Andreas 167 Künneth, Friedrich Wilhelm 111 Kunz, Kirsten 31, 190 Lademann, Arne 113, 267 Langhäuser, Julius 20 Langhoff, Heinz 205 Laube, Martin 3, 267 Lauster, Jörg 149
Personenregister
Lavater, Johann Caspar 242 Leiner, Martin 3, 13, 75 Lessing, Gotthold Ephraim 95 Lindbergh, Peter 125 Link, Christian 99 Löwe, Friedrich Anton 30 Lüpke, Johannes von 10, 84 Luther, Martin 3, 12, 19, 31, 33, 35, 55, 83, 89, 106 – 108, 110, 120, 164, 168 f., 177, 185 – 187, 189, 199, 202 f., 239 f., 242, 247 f., 254 f., 259, 267 f. Lutz, Samuel 107 Mannermaa, Tuomo 231, 232 Martyr, Petrus 254 f. Maurus, Rhabanus 189 McCormack, Bruce 13 Meckenstock, Günter 14, 19 f., 26, 31, 34, 45, 105, 108, 110, 132 f., 174, 183, 187, 192, 198, 215 f., 219, 235, 238 f. Meding, Wichmann von 34 Melanchthon, Philipp 199, 252, 254 – 256 Mengin, Ernst 206 f. Meyer, E. Rudolf 23 Meyer, Harding 230 Miodoński, Leon 34 Mirandola, Picco della 253, 255 Möhler, Johann Adam 190 f. Moxter, Michael 14, 66 – 69 Müller, Ernst Friedrich Karl Wilhelm 228, 239 Müller, Julius 83, 228, 239 Müller, Wolfgang Erich 155, 176, 208, 228, 239 Munzinger, André 141, 145, 267 Murrmann-Kahl, Michael 90 Mylius, August 219 Napoleon 8, 28, 215, 243 Neuser, Wilhelm 50 Niesel, Wilhelm 31, 42, 207, 243, 263 Nimmo, Paul T. 57, 150 Nowak, Kurt 5, 34, 90, 143, 216 Oberdorfer, Bernd 141, 145 f., 149 Ochino, Bernardino 254 Ohme, Heinz 60 Ohst, Martin 5, 19, 28, 49, 84, 90, 94, 153, 155, 171 f., 177, 186 f., 192, 216, 226 f., 229, 239 Okey, Stephen 50
Osthövener, Claus-Dieter Otto, Rudolf 175
269
45, 221
Papandreou, Damaskinos 230 Patsch, Hermann 36, 190 Peiter, Hermann 32, 156 Petri, Wolfgang 207 Pietsch, Michael 20, 174, 183, 192, 198, 238 Pighius, Albert 43 Planck, Gottlieb Jacob 32 Plasger, Georg 16 Plaul, Constantin 59, 221, 267 Plüss, David 71 Porst, Johann 219 Prahmer, Johann Georg Wilhelm 6, 217 Preul, Reinhard 195 f. Pufendorf, Samuel von 142 Rasch, Wolfdietrich 150 Rautenberg, Johann Wilhelm 30 Redeker, Martin 45, 49, 114, 258, 262 Reetz, Dankfried 28 Reich, Andreas 15, 30, 52, 77, 82, 86, 186, 235, 247, 249, 254, 262 Reimarus, Hermann-Samuel 95 Reimer, Georg Andreas 52, 153, 218 Reinhardt, Karl August 22 Reuchlin, Johannes 254 Reuss, Eduard 43 Richter, Cornelia 50, 97, 104 Rigby, Cynthia L. 150 Rilla, Paul 95 Rohls, Jan 34, 235, 267 Rößler, Martin 154, Rousseau, Jean-Jacques 134 Rütenik, Karl August 89, 99 Sack, August Friedrich Wilhelm 25 – 28, 218 f., 237, 263 Sack, Friedrich Samuel Gottfried 25 – 28, 218 f., 237 f., 263 Schäfer, Rolf 32, 35, 73, 164, 189 f., 195, 223 Scheliha, Arnulf von 19, 88, 126 f., 147, 153, 158, 163, 167, 169, 186, 188, 267 Schlegel, Friedrich 27, 132 f., 138, 143, 215, 217 Schleiermacher, Charlotte 3 – 17, 19 f., 22 – 37, 41 f., 44 – 50, 52 – 57, 59 – 71, 73 – 97, 99 – 103, 105 – 111, 114 – 121, 125 – 180, 183 –
270
Personenregister
193, 195 – 204, 207 – 213, 215 – 233, 235, 237 – 263 Schleiermacher, Friedrich 3 – 17, 5 – 7, 9 – 11, 13 f., 19 f., 22 – 37, 41 f., 44 – 50, 52 – 57, 59 – 71, 73 – 97, 99 – 103, 105 – 111, 114 – 121, 125 – 180, 183 – 193, 195 – 204, 207 – 213, 215 – 233, 235, 237 – 263 Schlenke, Dorothee 166 Schleyermacher, Daniel 22 – 24, 216 Schleyermacher, Elisabeth Maria 22 – 24, 216 Schleyermacher, Johann Gottlieb 22 – 24, 216 Schließer, Benjamin 85 Schmid, Dirk 153 – 155, 192, 224, 226 Schmidt, Bernhard 19, 30 Schmidt, Sarah 19, 34 f., 138, 186, 192 Schmidtke, Sabine 14 f., 55, 85, 221, 267 Schmidts, Ludwig 134 Schmücker, Reinhold 148 Scholtz, Gunter 59 f., 66 Scholz, Heinrich 50, 67 Schrey, Heinz-Horst 150 Schröder, Markus 12, 15, 94, 157 Schubert, Anselm 22 Schulz, David 252 f. Schumann, Johann Lorenz 22, 26 Schweitzer, Albert 95, 103 Schweizer, Alexander 11, 31, 36, 57, 60, 185, 187, 242, 255 – 257, 263 Seeberg, Reinhold 36 Selderhuis, Herman 99, 205 Selge, Kurt-Viktor 32 Sockness, Brent W. 158 Soosten, Joachim von 14 Sozzini, Lelio 254 Spalding, Johann Joachim 36, 97, 218 f. Spijker, Willem van 50 Spinoza, Baruch de 62, 263 Stangneth, Bettina 10 Stapulensis, Faber 186, 254 Stäudlin, Carl Friedrich 20, 32 Stegmann, Andreas 20 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 33, 85, 209, 243 Steinmeier, Anne 129 Steinmetz, Uwe 71 Stiewe, Martin 109, 228 Stilling, Jung 24
Stolpe, Manfred 20, 28 f., 174, 183, 198, 207, 228, 238 Stosch, Bartholomäus 236 Strabo, Walafrid 189 Strauß, David Friedrich 62 Stubenrauch, Samuel Ernst 22, 25 – 27, 216, 238 Stubenrauch, Timotheus Christian 22, 25 – 28, 216, 238 Teschmer, Caroline 87, 125, 267 Thadden, Rudolf von 173 f., 236 Thaidigsmann, Edgar 10, 84 Tholen, Toni 148 Tholuck, August 83 Thomasius, Christian 142, 246 Tollin, Henri 206 Traulsen, Hans-Friedrich 19, 49, 84, 90, 107, 110, 192, 198, 235, 239 Troeltsch, Ernst 31, 90 f., 103 Twardella, Günter 24 Ueberschaer, Nadine 85 Urban, Hans Jörg 230 Virmond, Wolfgang 23, 25, 27, 29, 52, 153, 190, 217 f. Vischer, Lukas 230 Wackwitz, Andreas 23 f. Wagner, Harald 191 Wallmann, Johannes 174 f. Weber, Max 31, 42, 204 f. Weber, Otto 42, 51, 85, 98, 204 f. Weeber, Martin 161 Wegscheider, Julius 35 Weigel, Erhard 257 Westermeyer, Paul 60 Weth, Rudolf 197 Winter, Friedrich 183, 207 Zanchi, Girolamo 254 Zedler, Johann Heinrich 141 Zovko, Jure 192 Zwingli, Ulrich 19, 34, 36, 60, 106 – 108, 185 f., 189, 199, 203, 239 – 242, 254 – 256, 258 f., 262 f.