Späthumanismus und reformierte Konfession: Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert 3161490428, 9783161585418, 9783161490422

Das internationale Symposium, das 2004 in der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden stattfand, ging der Frage nach, ob un

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German Pages 374 [387] Year 2006

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Titel
Vorwort
Inhalt
Abkürzungen
EIKE WOLGAST (Heidelberg): Geistiges Profil und politische Ziele des Heidelberger Späthumanismus
CORNEL A. ZWIERLEIN (München): Heidelberg und „der Westen“ um 1600
JOSEPH S. FREEDMAN (Alabama): Ramus and the Use of Ramus at Heidelberg within the Context of Schools and Universities in Central Europe, 1572–1622
DONALD SINNEMA (Chicago): Johann Jungnitz on the Use of Aristotelian Logic in Theology
GÜNTER FRANK (Bretten/Berlin): Fragmentierung und topische Neuordnung der aristotelischen Ethik in der frühen Neuzeit. Ethik bei Viktorin Strigel und Abraham Scultetus
KEES MEERHOFF (Amsterdam): Bartholomew Keckermann and the Anti-Ramist Tradition at Heidelberg
WILLEM VAN ’T SPIJKER (Apeldoorn): Heidelberger Gutachten in Sachen Vorstius
HERMAN J. SELDERHUIS (Apeldoorn): Das Recht Gottes. Der Beitrag der Heidelberger Theologen zu der Debatte über die Prädestination
THEODOR MAHLMANN (Burgdorf bei Bern): Die Prädestinationslehre Georg Sohns (1551–1589) juristisch gelesen
DETLEF DÖRING (Leipzig): Samuel Pufendorf und die Heidelberger Universität in der Mitte des 17. Jahrhunderts
CHRISTOPH STROHM (Heidelberg): Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk Heidelberger Juristen
Namenregister
Sachregister
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Späthumanismus und reformierte Konfession: Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert
 3161490428, 9783161585418, 9783161490422

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Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe begründet von Heiko A. Oberman herausgegeben von Berndt Hamm in Verbindung mit Johannes Helmrath, Jürgen Miethke und Heinz Schilling

31

Späthumanismus und reformierte Konfession Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert Herausgegeben von Christoph Strohm, Joseph S. Freedman und Herman J. Selderhuis

Mohr Siebeck

CHRISTOPH STROHM JOSEPH

S.

FREEDMAN

ist Professor für Historische Theologie in Heidelberg. ist Associate Professor of Library Media an der Alabama State Uni-

versity. J. S E L D E R H U I S ist Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht in Apeldoorn und Direktor des Instituts für Reformationsforschung.

HERMAN

978-3-16-158541-8 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019

ISBN 3-16-149042-8 ISBN-13 978-3-16-149042-2 ISSN 0937-5740 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2006 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Der vorliegende Band enthält die Beiträge eines internationalen Symposiums, das vom 19. bis 21. November 2004 in der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden stattgefunden hat. Teilgenommen haben Kirchen-, Rechts-, Philosophie- und Allgemeinhistoriker bzw. -historikerinnen. Ziel war es, im interdisziplinären Austausch Antworten auf die Frage zu finden, ob und, wenn ja, in welcher Weise konfessionelle Orientierungen in der Lehre der Philosophie, Jurisprudenz und Theologie an der Universität Heidelberg einen Niederschlag gefunden haben. Die Vorträge bildeten den Ausgangspunkt des Gesprächs, ohne schon umfassend Antwort auf die gestellten Fragen zu geben. Das Problem der Auswirkungen der Konfessionalisierung in den verschiedenen Wissenschaften und Kulturfeldern ist im Zuge der neueren Konfessionalisierungsforschung drängend geworden. Hier hat man die wichtige Rolle, welche die sich formierenden Konfessionen bei der Entstehung der frühmodernen Staatenwelt gespielt haben, hervorgehoben. Naturgemäß steht die den drei hauptsächlichen Konfessionen gemeinsame Funktion einer Sozialdisziplinierung, mentalen Kontrolle und Verdichtung von Staatlichkeit im Zentrum des Interesses. Auf diesem Hintergrund ist nun zu fragen, ob bei aller funktionalen Gleichheit nicht doch auch charakteristische Unterschiede der lutherischen, reformierten und tridentinisch-katholischen Konfession in ihrem Beitrag zur Formierung der Moderne festzustellen sind. Die Universität Heidelberg um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert bietet sich als exemplarischer Untersuchungsgegenstand an, da sie in diesen Jahrzehnten zum Zentrum der reformierten Welt wurde. Gerade die Vorreiterrolle der Kurpfalz mit der Universität Heidelberg bei den Versuchen einer Calvinisierung des Reiches läßt eine verstärkte Wirkung der Konfessionalisierung in den verschiedensten Lebensbereichen vermuten. Der vorläufige Befund ist jedoch durchaus widersprüchlich. Bei den Theologen kann man eine klare konfessionelle Abgrenzung, die sich gegen die sog. Gnesiolutheraner und das Luthertum der Konkordienformel, nicht jedoch gegen das melanchthonianisch gesinnte Luthertum richtet, feststellen. In den gelehrten Werken der Philosophen ist das kaum greifbar, wie gerade auch die ambivalente Haltung zur ramistischen Methode zeigt. Bei den Juristen, die sich in der großen Mehrheit der reformierten Konfession verbunden wissen, lassen sich weltanschaulich-konfessionelle Aspekte herausarbeiten, die eine scharfe Abgrenzung gegenüber dem „Papismus" und seinen weltlichen Helfershelfern

VI

Vorwort

deutlich machen. Hingegen wird auf innerprotestantische Abgrenzungen fast völlig verzichtet und vielmehr durchgängig Kritik an dem ärgerlichen „Theologengezänk" formuliert. Insgesamt gesehen ist deutlich, wie wenig aussagekräftig die Etiketten „calvinistisch" oder „reformiert" sind. Nicht weniger charakteristisch ist für das Heidelberger Gelehrtenmilieu am Ende des 16. und am Beginn des 17. Jahrhunderts die tiefe Verbundenheit mit humanistischem Gedankengut sowie die starke Präsenz westeuropäischer Beziehungen und Erfahrungshorizonte. Finanziert wurde das Symposium, das im Rahmen des Forschungsprogramms „Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus" stattfand, durch die Stiftung Niedersachsen, das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie die Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek. An der Fertigstellung des Bandes haben mitgewirkt stud. theol. Salomo Strauß, stud. theol. Markus Totzeck und stud. theol. et phil. Steffen Leibold (alle Bochum). Wiss. Ang. Judith Becker (Heidelberg) hat die Register erstellt. Ihnen allen danken wir für ihre Mithilfe. Prof. Dr. Berndt Hamm, Prof. Dr. Johannes Helmrath, Prof. Dr. Jürgen Miethke und Prof. Dr. Heinz Schilling ist für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Spätmittelalter und Reformation" zu danken. Heidelberg, im April 2006

Christoph Strohm

Inhalt Vorwort Abkürzungen

V EX

(Heidelberg) Geistiges Profil und politische Ziele des Heidelberger Späthumanismus

1

(München) Heidelberg und „der Westen" um 1600

27

S. FREEDMAN (Alabama) Ramus and the Use of Ramus at Heidelberg within the Context of Schools and Universities in Central Europe, 1572-1622

93

EIKE WOLGAST

CORNEL A . ZWIERLEIN

JOSEPH

DONALD SINNEMA (Chicago) Johann Jungnitz on the Use of Aristotelian Logic in Theology

127

(Bretten/Berlin) Fragmentierung und topische Neuordnung der aristotelischen Ethik in der frühen Neuzeit. Ethik bei Viktorin Strigel und Abraham Scultetus

153

(Amsterdam) Bartholomew Keckermann and the Anti-Ramist Tradition at Heidelberg

169

(Apeldoorn) Heidelberger Gutachten in Sachen Vorstius

207

HERMAN J . SELDERHUIS (Apeldoorn) Das Recht Gottes. Der Beitrag der Heidelberger Theologen zu der Debatte über die Prädestination

227

GÜNTER FRANK

KEES MEERHOFF

WILLEM VAN 'T SPIJKER

VIII

Inhalt

(Burgdorf bei Bern) Die Prädestinationslehre Georg Sohns (1551—1589) juristisch gelesen

255

(Leipzig) Samuel Pufendorf und die Heidelberger Universität in der Mitte des 17. Jahrhunderts

293

CHRISTOPH STROHM (Heidelberg) Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk Heidelberger Juristen

325

Namenregister

359

Sachregister

371

THEODOR MAHLMANN

DETLEF DÖRING

Abkürzungen Abkürzungen richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie. Zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin/New York 2 1994. Darüber hinausgehend werden folgende Abkürzungen verwendet: Bibl. Pal. 1 + 2 : ELMAR MITTLER (Hg.), Bibliotheca Palatina: Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli - 2. November 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg/Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Bibliotheca Apostolica Vaticana, Heidelberg 1986. DRÜLL, G e l e h r t e n l e x i k o n : DAGMAR DRÜLL, H e i d e l b e r g e r G e l e h r t e n l e x i k o n

1386-

1651, Berlin u.a. 2002. E K O 14 ( 1 9 6 9 ) : EMIL SEHLING ( H g . ) , D i e e v a n g e l i s c h e n K i r c h e n o r d n u n g e n d e s

XVI. Jahrhunderts, Bd. 14: Kurpfalz, bearb. v. J. F. GERHARD GOETERS, Tübingen 1969. HAUTZ I + II: JOHANN FRIEDRICH HAUTZ, G e s c h i c h t e d e r U n i v e r s i t ä t H e i d e l b e r g , 2

Bde., Mannheim 1862; Reprint Hildesheim/New York 1980. PRESS, Calvinismus: VOLKER PRESS, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559-1614, Stuttgart 1970 (Kieler Historische Studien 7)SCHINDLING/ZLEGLER, K u r p f a l z : ANTON SCHINDLING/WALTER ZLEGLER, K u r -

pfalz, Rheinische Pfalz und Oberpfalz, in: DIES. (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500— 1650, Bd. 5: Der Südwesten (KLK 53), Münster 1993, 8-49. STUCK, Personal: KURT STUCK, Personal der Kurpfälzischen Zentralbehörden in Heidelberg 1475-1685 unter besonderer Berücksichtigung der Kanzler, Meisenheim am Glan 1986 (Schriften zur Bevölkerungsgeschichte der pfälzischen Lande 12). WOLGAST, Konfession: EIKE WOLGAST, Reformierte Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Kurpfalz im Reformationszeitalter, Heidelberg 1998 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 10). WOLGAST, Universität: EIKE WOLGAST, Die Universität Heidelberg 1386-1986, Berlin u. a. 1986.

Geistiges Profil und politische Ziele des Heidelberger Späthumanismus Eike Wolgast

Die nachfolgenden Darlegungen verstehen sich als Rahmen und als allgemeine Hinfuhrung zu den Spezialthemen der Tagung und sind bemüht, nichts von dem vorwegzunehmen, was in den Einzeluntersuchungen behandelt wird. Der Bezug Heidelbergs zu Emden läßt sich für die Zeit um 1600 zwanglos über zwei Theologen herstellen, wenngleich diese Gelehrten nicht gerade zum Kern des Heidelberger Späthumanismus gehört haben. Heinrich Alting, der von 1613 bis 1622 die Dogmatikprofessur in Heidelberg innehatte und eine Kirchengeschichte der Pfalz verfaßte, stammte aus Emden (geb. 1583)1; Abraham Scultetus, Hofprediger und einflußreicher Theologe in der Zeit des Winterkönigs Friedrich V., fand nach der böhmischen Katastrophe seine letzte Wirkungsstätte 1622 an der Großen Kirche in Emden (gest. 1624)2. Um ihren Rang zu verdeutlichen: Alting wie Scultetus waren offizielle Vertreter der Kurpfalz bei der Dordrechter Synode 1618/19.

I. Die politischen Rahmenbedingungen3 Nachdem die Pfalz unter dem lutherischen Kurfürsten Ludwig VI. (1576— 1583) ihre besondere Stellung im politischen und konfessionellen System des Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 1 1 - 1 3 . Vgl. aaO., 498f. 3 Zur Geschichte der Kurpfalz im 16./17. Jahrhundert vgl. L U D W I G H Ä U S S E R , Geschichte der Rheinischen Pfalz nach ihren kirchlichen, politischen und literarischen Verhältnissen. Unveränd. Nachdr. d. 2. Ausg. 1856, Speyer 1978, Bd. 2; M E I N R A D S C H A A B , Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2, Stuttgart/Berlin/Köln 1992; D E R S . , Kurpfalz, in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 2, Stuttgart 1995, 247-333. Vgl. ferner P R E S S , Calvinismus; D E R K V L S S E R (Hg.), Controversy and Conciliation. The Reformation and the Palatinate 1 5 5 9 - 1 5 8 3 , Allison Park 1986; S C H I N D L I N G / Z L E G L E R , Kurpfalz, 8 - 4 9 ; F R I E D E R H E P P , Religion und Herrschaft in der Kurpfalz um 1600. Aus der Sicht des Heidelberger Kirchenrates Dr. Marcus zum Lamm (1544—1606), Heidelberg 1993; W O L G A S T , Konfession. Zur Oberpfalz vgl. W I L H E L M V O L K E R T , in: A N D R E A S K R A U S (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 3/III, München 3 1995. — Auf Einzelnachweise wird im Folgenden verzichtet. 1

2

2

Eike Wolgast

Reiches verloren hatte, begann mit dem Kuradministrator Johann Casimir (1583-1592) die Rückwendung zur Zeit Friedrichs III. (1559-1576): „Princeps Casimirus constantissime pergit inter magnas adversationes Christi negocium agere."4 Um das „Christi negotium", die reformierte Konfession, fördern zu können, hatte Johann Casimir allerdings das Testament seines Bruders kassieren müssen, da in diesem die lutherische Erziehung des minorennen Nachfolgers festgelegt und Mitvormünder aus dem Kreis der lutherischen Reichsfürsten bestimmt worden waren (Ludwig von Württemberg, Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach und Ludwig von Hessen-Marburg). Der Kuradministrator versuchte zunächst, einen abrupten Bruch mit dem bestehenden Kirchenwesen zu vermeiden und stattdessen eine Art Kompromißkonfessionalität herzustellen, die gleichwohl deutlich das reformierte Bekenntnis bevorzugte. Dies zeigte sich — wie immer in der Pfälzer Kirchengeschichte - in der Zuweisung der Kanzel der Heiliggeistkirche an die Vertreter der präferierten Theologie, 1576 an lutherische, 1583 an reformierte Geistliche. Das Konzept der Kompromißkonfessionalität scheiterte jedoch an beiden Religionsparteien. Die aus dem Exil zurückkehrenden Reformierten waren nicht gewillt, die Lutheraner zu dulden; diese setzten im Bewußtsein der Hoffnungslosigkeit ihrer Sache auf rigorosen Bekenntniseifer und versteiften sich auf die Beibehaltung der Konkordienformel. Mit ihren Predigten und theologischen Auslassungen verstießen sie absichtlich gegen das Anfang 1584 erlassene „Mandatum de non calumniando", das den Bekenntnisstand der Kurpfalz im Sinne einer Konkordanztheologie und auf der Basis der Abwehr des Katholizismus fixierte5. Nach dem Scheitern der Kompromißkonfessionalität, besiegelt durch eine theologische Disputation zwischen Reformierten und Lutheranern, wurde rasch und systematisch der Elitenaustausch vorgenommen. Der Kurprinz hatte schon gleich nach dem Regierungswechsel mit Otto von Grünrade und Georg Michael Lingelsheim prominente reformierte Erzieher erhalten; jetzt wurde systematisch das Personal in den Führungsstellen des kirchlichen und des administrativen Bereichs ausgetauscht. Der Bekenntnisstand und damit die besondere politische Ausrichtung der Kurpfalz gerieten in den folgenden Jahrzehnten noch zweimal akut in Gefahr. Als Anfang 1592 Johann Casimir starb, fehlten Friedrich IV. noch zwei Monate zur Vollendung des 18. Lebensjahrs. Der nächste Agnat war der lutherische Pfalzgraf Reichard von Simmern, der Bruder Friedrichs III. Reichard erhob sofort Anspruch auf die Vormundschaft und dehnte, gestützt auf zwei Diplome Kaiser Sigismunds, das Administratorenpostulat sogar bis zum 25. Lebensjahr des jungen Kurfürsten aus. Der Vorstoß wurde abgewehrt, 4 HERMANN HAGEN (Hg.), Briefe von Heidelberger Professoren und Studenten, verfaßt vor dreihundert Jahren, Bern 1886, 37 (Johann Jakob Grynaeus an Abraham Musculus, 1. Okt. 1584). 5 Vgl. EKO 14 (1969), 510-515.

Heidelberger Späthumanismus

3

vom Kaiserhof aber zum Anlaß genommen, die Belehnung des Kurfürsten bis 1594 zu verzögern. Die ganze Regierungszeit Friedrichs IV. (1592—1610) stellte wegen des exzessiven Lebenswandels und des daraus folgenden labilen Gesundheitszustands des Fürsten eine potentielle Dauergefährdung für den Konfessionsstand und die Sonderpolitik der Pfalz dar, da nach dem söhnelosen Tod Reichards von Simmern 1598 nun der ebenso eifrig lutherische Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg nächster Agnat war. Vorsorglich begonnene Verhandlungen mit ihm über die Bewahrung des reformierten Bekenntnisses bei Eintreten des Ernstfalls blieben ergebnislos, so daß nach einer lebensbedrohlichen Erkrankung Friedrichs IV. 1602 für den Fall der Regentschaft eine neue Regelung getroffen wurde. Im Verstoß gegen die einschlägigen Bestimmungen der Goldenen Bulle wurde durch ein Testament Friedrichs IV. der reformierte Pfalzgraf Johann I. von Zweibrücken, der jüngere Bruder des eigentlich Berechtigten, als Administrator eingesetzt. Er verpflichtete sich vorab eidlich zur Aufrechterhaltung des kirchlichen Status und aller entsprechenden Ordnungen in der Pfalz, zur reformierten Erziehung des Thronfolgers und zur Bewahrung des reformierten Charakters der Heidelberger Universität6. Bei vorzeitigem Ausfall Johanns I. (gest. 1604) sollte sein gleichnamiger Sohn die Regentschaft übernehmen. Als Mitvormünder wurden so prominente Reformierte wie Moritz von Oranien, Christian von Anhalt und Graf Johann VII. von Nassau eingesetzt. Als 1610 beim Tod des 36-jährigen Kurfürsten diese Regelung in Kraft trat, begnügte sich Philipp Ludwig mit Protesten7, so daß sich die reformierte Administration ungestört etablieren konnte — sogar mit indirekter kaiserlicher Duldung, die durch die geschickte Diplomatie Christians von Anhalt erreicht wurde. 1612 fand der Administrator Aufnahme in den Kurverein und war damit in seinem Amt bestätigt. Dennoch gab Marquard Freher vermutlich die Stimmung der politischen Elite der Kurpfalz 1615 zutreffend wieder, als er in der Vorrede seines Kommentars zum siebten Kapitel der Goldenen Bulle über die Vormundschaft erklärte: „Palatinatus Rhenanus [...] iam tertium ad hunc non portum, sed scopulum grande periculum passus et, a naufragio proxime absens, ad nomen Tutelae prope cohorrescit"8 — 1583 (Johann Casi6 Zu den Auseinanderset2ungen seit 1601 vgl. ERIKA KOSSOL, Die Reichspolitik des Pfalzgrafen Philipp Ludwig von Neuburg ( 1 5 4 7 - 1 6 1 4 ) , Göttingen 1976, 1 3 2 - 1 4 1 ; PRESS, Calvinismus, 4 2 3 - 4 2 9 . 7 Zum Flugschriftenstreit zwischen 1 6 1 0 und 1 6 1 4 vgl. die Bibliographie bei FRIEDRICH LAUTENSCHLAGER, Bibliographie zur badischen Geschichte, Nr. 5 4 9 7 - 5 5 0 9 . 5 5 1 1 . 5513. 5515/16. 8 In der Vorrede an „Imperator, Reges, Principes", Bl. 2V. Zitiert werden die Texte Frehers und Gruters im Folgenden nach der von WILHELM KÜHLMANN herausgegebenen Edition: Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der frühen Neuzeit. Abt. I: Die Kurpfalz, Bd.I/1: Marquard

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Eike Wolgast

mir), 1592 (Reichard), 1610 (Philipp Ludwig). Der Rechtsstreit erledigte sich mit der Volljährigkeit Friedrichs V. 1614. Angesichts einer noch viel gravierenderen potentiellen Bedrohung als bisher setzte der neue Kurfürst gleich nach Übernahme seiner Regierung ein Testament auf, um den nun nächsten Agnaten Wilhelm Wolfgang von Neuburg auszuschließen, der im Zusammenhang des Streites um das Jülicher Erbe gerade zum katholischen Bekenntnis übergetreten war. Die pfälzische Reichspolitik war seit Ottheinrich traditionell antikatholisch-antihabsburgisch orientiert. Dennoch mußte immer vorsichtig gehandelt werden, da ihr kirchlicher Sonderweg die Pfalz stets erneut der Gefahr aussetzte, aus dem Schutz des Religionsfriedens von 1555 verstoßen zu werden. Zweimal konnte der Kurfürst bzw. der Kuradministrator das Reichsvikariat ausüben, 1612 nach dem Tode Rudolfs II. und 1619 nach dem von Kaiser Matthias. Beide Male erfüllten sich allerdings die hochgespannten Erwartungen der Pfälzer Politiker nicht9 — der Religionsstatus des Reiches konnte ebensowenig beeinflußt werden wie die Rechtsprechung des Reichskammergerichts, zumal die Abstimmung mit dem zweiten Reichsvikar, dem sächsischen Kurfürsten, nicht funktionierte. 1612 wurde das Reichsvikariat zudem von Pfalz-Neuburg bestritten, das selbst Ansprüche darauf erhob. Interkonfessionell betrieb die Kurpfalz seit der Jahrhundertmitte nahezu kontinuierlich die Politik einer engen Verbindung der evangelischen Stände, um geschlossen gegen Aktivitäten der kaiserlich-katholischen Partei vorgehen und die eigenen Forderungen durchsetzen zu können. Das bereits von Friedrich III. proklamierte Ziel der „pax politica et concordia" trotz dogmatischer Differenzen wurde aber erst 1608 mit dem Vertrag von Auhausen, der die Union begründete, erreicht. Hier wurde ausdrücklich festgelegt, der Verbindung solle nicht hinderlich sein, „das in etlichen Religions puncten ungleicher Verstandt sein möchte".10 Die relative Isolierung der Kurpfalz im Reich in der zweiten Jahrhunderthälfte wurde durch eine bewußt internationale Dimension ihrer Politik ausgeglichen. Auslöser war die insbesondere von Friedrich III. geübte aktive Solidarität mit den verfolgten Glaubensgenossen in Westeuropa. GlaubensflüchtFreher; Bd. 1/2: Janus Gruterus (Turnhout 2005). — Das Bild vom Pfälzer Schiff und dem Schiffbruch wurde in der Zeit bis 1623 mehrfach benutzt. Vgl. D A V I D P A R E U S , De statu quinquagenario Palatinae Ecclesiae Oratio, 1614, 16: Jeder Hörer wisse noch, „quae tempestas naviculam Ecclesiae Palatinae oppressura videretur". Vgl. auch Gruter unten S. 22 und Clericus unten S. 25. 9 Zu den Pfälzer Erwartungen und der sächsischen Gegenpolitik vgl. zusammenfassend A X E L G O T T H A R D , „Wer sich salviren könd, solts thun". Warum der deutsche Protestantismus in der Zeit der konfessionellen Polarisierung zu keiner gemeinsamen Politik fand, in: HJ 121 (2001), 64-96, hier: 68-71. 10 Vgl. G O T T F R I E D L O R E N Z (Hg.), Quellen zur Vorgeschichte und zu den Anfängen des Dreißigjährigen Krieges, Darmstadt 1991, 70f.

Heidelberger Späthumanismus

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linge waren vereinzelt schon unter Friedrich II. und Ottheinrich in der Pfalz aufgenommen worden, vermehrt dann unter Friedrich III. Für diesen war der Schutz der Verfolgten ebenso wie das Wirken für das „avancement du Règne de Christ"11 geradezu Leitgedanke der Pfälzer Politik; abgemildert galt dies auch noch für Johann Casimir. Die materiellen Kräfte des Territoriums wurden allerdings durch militärische Unterstützung der aufständischen Niederländer und der Hugenotten überanstrengt, ohne daß die Pfälzer Aktionen jeweils viel, wenn überhaupt irgend etwas, bewirkt hätten. Auch im Heiratsverhalten schlug sich die Internationalisierung nieder. Friedrich III. heiratete in zweiter Ehe die Witwe des Grafen von Brederode, Friedrich IV. die Tochter Wilhelms von Oranien, Friedrich V. die Tochter Jakobs I. von England. Gerade an dieser letzten Heirat Heß sich die internationale Reputation des Pfälzer Kurfürsten ablesen — der dem Vorwurf des Katholisierens ausgesetzte König stimmte der Heirat nicht zuletzt deshalb zu, um sich vor seinen Untertanen als protestantischer Fürst zu legitimieren. Die Erwartungen, die die Pfälzer Politiker an diese dynastischen Bindungen knüpften, ließen sich jedoch bekanntlich im Ernstfall nicht realisieren. Die politischen Berater und Entscheidungsträger in Heidelberg stammten nur zum geringsten Teil aus der Pfalz selbst12 — auch dies stellte eine Art von Internationalisierung im Rahmen des Reiches dar und schloß Provinzialität und Selbstgenügsamkeit, die die Politik der meisten deutschen Reichsfürsten prägten, aus. Großwürdenträger des Hofes, adlige Räte und Diplomaten stammten vielfach aus den Reihen der Wetterauer Grafen und der Kraichgauritter; häufig kamen aber auch sie ebenso wie die gelehrten Räte und die Universitätsprofessoren aus entfernteren Teilen Deutschlands oder — was allerdings nur für die Professoren gilt — aus dem westlichen Ausland. „In dieser Verwendung von Fremden, die durch den Gedanken einer aktiven protestantischen Politik herbeigezogen und zusammengehalten wurden, was auch sonst ihre persönlichen Differenzen sein mochten, bestand [...] der auszeichnende Charakter der Kurpfalz, der sie allein unter allen protestantischen Staaten Deutschlands befähigte, eine wirkliche politische Rolle zu spielen."13 Die Beschäftigung von Nichtpfälzern wurde dadurch erleichtert, daß die Pfalz — anders als das benachbarte Württemberg oder auch Baden - nicht über Landstände verfügte, die auf ein Indigenat drängen konnten14. Bezeich11 AUGUST KLUCKHOHN (Hg.), Briefe Friedrichs des Frommen, Kurfürsten von der Pfalz, mit verwandten Schriftstücken, Bd. 1, Braunschweig 1868, 281 (an Louis Conde, 11. Apr. 1562). 12

Vgl. PRESS, Calvinismus; STUCK, P e r s o n a l .

EBERHARD GOTHEIN, Die Landstände der Kurpfalz, in: ZGO 42 (1888), 42. 14 Darauf hat — im Kontrast zu Württemberg — Dieter Mertens hingewiesen; vgl. DERS., Hofkultur in Heidelberg und Stuttgart um 1600, in: NOTKER HAMMERSTEIN/GERRIT WALTHER (Hg.), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, 65-83, insbes. 69f. 13

Eike Wolgast

6

nenderweise protestierte dann auch der erstmals 1603 berufene Landschaftsausschuß gegen die Rekrutierung von „mehrenteils Ausländischen" für die Spitzenämter der staatlichen und kirchlichen Verwaltung15. Das Verhältnis von Johann Casimir, Friedrich IV. und Friedrich V. zu den Wissenschaften war eher gebrochen, jedenfalls nicht von demselben persönlichen Impetus getragen wie bei dem bibliophilen Ottheinrich oder dem eifrigen Laientheologen Friedrich III. Johann Casimir charakterisierte sich selbst seinem Schwager und Glaubensgenossen Christian I. von Sachsen gegenüber: „Nun bin ich mein leben lang ein armer reuterknab gewesen und von jugend auf gern wein gedrunken, wie noch (jetzt)."'6 Er verstand sich aber durchaus als frommer Reformierter und kümmerte sich intensiv um die weltliche und kirchliche Verwaltung des Territoriums. Durch eine umsichtige Personalpolitik und wichtige Berufungen an Universität und Hof schuf er die Voraussetzungen für die Blüte des Heidelberger Geistes um 1600. Friedrich IV. wurde zwar in Lobgedichten und Widmungsvorreden von seinen Gelehrten und Dichtern über alle Maßen als Mäzen sowie als Freund der Künste und Wissenschaften gefeiert, war aber viel mehr als dies ein Freund höfisch-ritterlichen Lebens in Luxus, Vergnügungen und auch Ausschweifungen, ohne Interesse für Politik und ohne Gespür für Verantwortung. Ein eigenes politisches Urteil hat er offensichtlich nicht besessen. Der Kirchenrat Marcus zum Lamm hielt in seinem „Thesaurus picturarum" fest, daß der Kurfürst „expresse professus se est hostem et osorem doctorum et econtra amicum et fautorem nobilium, his verbis: ich bin der Doctor und Schreiber Feind, aber der Edelleute Freund, unde et eruditos in nullo plane habuit pretio, nobilibus autem plurimum tribuit". Allerdings vollzog sich, wie derselbe Gewährsmann hinzufügte, später ein Wandel: „Adultior factus, in summo eruditos habuit honore et pretio illisque praemiis ornavit, nobiles econtra minus curare coepit."17 Friedrich IV. liebte den äußeren Glanz und eine personalstarke, kostspielige Hofhaltung; daß sich unter diesen Voraussetzungen der traditionelle Pfälzer Calvinismus zum „calvinismus aulicus" (mit der Akzentuierung von „aulicus") wandelte, in der Kirchendisziplin erweicht und weltzugewandt, ist nicht zu verwundern. Friedrich V. hatte Teil am Paradigmenwechsel deutschen adligen Lebens nach der Jahrhundertwende, wie ihn Ludwig Häusser am Hausinventar einer Pfälzer Adelsfamilie erläuterte: „Französische und italienische Sitte brach jetzt rasch herein und die alte Generation, die noch zäh fest gehalten hatte an der einfachen Patriarchalität deutscher Sitte, starb mit dem Anfang dieses

Vgl. GOTHEIN, Landstände (s. Anm. 13), 42f. FRIEDRICH VON BEZOLD (Hg.), Briefe des Pfalzgrafen Johann verwandten Schriftstücken, Bd. 3, München 1903, 292 (10. März 1590). 17 HEPP, Religion (s. Anm. 3), 196 Anm. 10 u. 248 Anm. 199. 15

16

Casimir

mit

Heidelberger Späthumanismus

7

Jahrhunderts allmählich aus."18 Friedrich V. hatte am Hof des protestantischen Herzogs von Bouillon in Sedan eine gute Erziehung genossen, pflegte wie seine fürstlichen Zeitgenossen das glänzende und prestigeträchtige Hofleben, während er das politische Geschäft offenkundig weithin seinen Beratern Überheß, insbesondere Fürst Christian von Anhalt, dem Statthalter der Oberpfalz. Wieweit der Kurfürst persönlich für das böhmische Abenteuer und die ihm folgende pfälzische Katastrophe verantwortlich zu machen ist, bleibe dahingestellt19. Die Residenzstadt bildete kein Umfeld, das eine geistige Blüte begünstigt hätte. Heidelberg war klein, zählte 1588 etwa 6.500 Einwohner und war sozial nicht von einem weldäufigen Kaufmanns- und Fernhändlerpatriziat geprägt, sondern von Kleingewerbe mit Dienstleistungsfunktionen für den Hof20. Zu einem Zentrum des deutschen Späthumanismus wurde Heidelberg um 1600 durch drei Faktoren21: 1) Hof, Regierung und Universität befanden sich - anders als etwa in Tübingen, Wittenberg oder Leipzig - an ein und demselben Ort; dies hatte zwanglos eine lebhafte Kommunikation zur Folge, u.a. erkennbar auch im Heiratsverhalten zwischen den Familien der Professoren und der Räte; nicht selten waren Lehr- und Hofamt personenidentisch. 2) Die Rekrutierung der geistig-politischen Elite erfolgte weit über den Bereich des eigenen Territoriums hinaus und fand ihre Begrenzung nur am Konfessionsstand.

18

HÄUSSER, G e s c h i c h t e (s. A n m . 3 ) , 2 7 3 . A l l g e m e i n vgl. RAINER A . MÜLLER, D e r

Fürstenhof in der frühen Neuzeit, 2. Aufl. München 2004; RUDOLF ENDRES, Adel in der frühen Neuzeit, München 1993. 19 Vgl. PETER WOLF u.a. (Hg.), Der Winterkönig Friedrich von der Pfalz. Bayern und Europa im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 2003. 20 ALBERT MAYS/KARL CHRIST (Hg.), Einwohnerverzeichnis der Stadt Heidelberg vom Jahr 1588, in: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der rheinischen Pfalz 1 (1890); DIES., Einwohnerverzeichnis des Vierten Quartiers der Stadt Heidelberg vom Jahr 1600, in: ebd. 2; FRIEDER HEPP, „Der Pfaltz Haupt flecken". Heidelberg um 1600, in: WOLF, Winterkönig (s. Anm. 19), 75-82. 21 Zum Späthumanismus vgl. generell die klassische Studie von ERICH TRUNZ, Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur (zuerst 1931 erschienen; wieder abgedr. in: RICHARD ALEWYN [Hg.], Deutsche Barockforschung, Köln/Berlin 1965, 147181); WILHELM KÜHLMANN, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982; HAMMERSTEIN/WALTHER,

Späthumanismus

(s.

Anm.

14).

Vgl.

auch

NOTKER

HAMMERSTEIN, Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, München 2003. Zum Heidelberger Späthumanismus vgl. CLAUS-PETER CLASEN, The Palatinate in European History 1559-1660, Oxford 1963, 33-46; WILHELM KÜHLMANN/HERMANN WlEGAND (Hg.), Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz, Heidelberg 1989; WOLGAST, Konfession, 98-114. Zur Universität Heidelberg um 1 6 0 0 vgl. DERS., U n i v e r s i t ä t , 4 6 - 5 2 .

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3) Die Bibliotheca Palatina22, nach dem Urteil der Zeitgenossen „optimus Germaniae literatae thesaurus"23, zog Gelehrte aus vieler Herren Länder an und gab zu weitgespanntem schriftlichem Austausch Anlaß.

II. Exponenten des Heidelberger Geistes Im September 1610 besuchte der englische Reisende Thomas Coryate auf einer mehrmonatigen Tour durch Deutschland, Frankreich, Italien und die Schweiz für einen Tag Heidelberg. Seine Reiseeindrücke veröffentlichte er im folgenden Jahr24. Ausführlich würdigte Coryate darin das Heidelberger Schloß, dabei besonders extensiv das Große Faß, und die Bibliothek. Von den Heidelberger Gelehrten nannte er vier „famous men", die sich einen solchen Namen gemacht hätten, daß er nicht ausgelöscht werde, solange die Welt bestehe: den Theologen David Pareus, den Juristen Dionysius Gothofredus, den Oberrat Georg Michael Lingelsheim und den Philologen Janus Gruterus25. Dieser personale Kern des Heidelberger Späthumanismus soll im Folgenden kurz biographisch vorgestellt werden, wobei aus Gründen der Fachkompetenz und der Bedeutung für die Kurpfalz Gothofredus durch Freher ersetzt wird. Marquard Freher26, 1565 in Augsburg geboren, war nach einem Jurastudium in Altdorf, Basel und Bourges 1587 von Johann Casimir zum Mitglied des Hofgerichts ernannt worden; seit 1596 lehrte er zudem als Professor Codicis an der Universität, gab aber diese Tätigkeit bereits nach nicht einmal zwei Jahren wieder auf: „Propter nimius occupationes Principis atque propter suas 22 Zur Bibliotheca Palatina vgl. Bibl. Pal. 1+2; ELMAR MITTLER, Bibliothek im Wandel, in: DERS. (Hg.), Heidelberg - Geschichte und Gestalt, Heidelberg 1996, 3 2 6 - 3 6 1 . 23 So Johannes Schmidt in seiner „dritten Predigt von der Buchdruckerei, zu Straßburg Anno 1640 gehalten"; zitiert in: [MATTHÄUS MERIAN/MARTIN ZEILLER], Topographia Palatinatus Rheni et vicinarum Regionarum, s.l. [Frankfurt a. M.] 1645, 24; ebd. auch die Bezeichnung durch J. Schmidt: „Die Mutter aller Bibliotheken, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Landen und Königreichen." 24 Vgl. THOMAS CORYATE, Coryats [sic!] Crudities hastily gobled up in fife Moneths trauells [...], London 1611. Eine deutsche Übersetzung der Ausführungen über Heidelberg bei: ANDREAS GARDT, Ein Engländer in Heidelberg 1608. Thomas Coryates Betrachtungen, Heidelberg 1986. 25 CORYATE, Crudities (s. Anm. 24), 500: „Here finally flourished those foure famous men at that time that I was in Heidelberg. [...] All these from the first to the last haue bene so excellent and learned writers that they haue gotten themselues such a celebrity of name, as will never be extinguished while the fabricke of the world doth last." 26 Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 160f.; DIETRICH KORNEXL, Studien zu Marquard Freher (1565-1614). Leben, Werke und gelehrtengeschichtliche Bedeutung, phil. Diss. Freiburg 1967; BRIGITTE SCHWAN, Das juristische Schaffen Marquard Frehers (1565-1614), Speyer 1984.

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9

privatas".27 1606 berichtete Lingelsheim, Freher sei mit der Würde eines „Historicus Palatinus cum honesto stipendio" ausgezeichnet worden28 - er wurde mithin offiziell zum Hofhistoriographen ernannt. In der Tat war Freher sowohl Jurist als auch Historiker, und in beiden Eigenschaften galt seine politische Loyalität und seine publizistische Tätigkeit uneingeschränkt der Pfalz. Als Jurist wurde er von der Regierung in Anspruch genommen, um die Pfälzer Regelung der Administratorenfrage 1592 und 1610 zu verteidigen. Zu diesem Zweck edierte er die Goldene Bulle und die Diplome Sigismunds, auf die sich Pfalzgraf Reichard berief. Als der bayerische Rat Christoph Gewold 1611 zwar nicht das Administratorenamt, wohl aber die Kurwürde für Bayern forderte, replizierte Freher 1612 mit der Schrift: De electoratu sancti Romani imperii comitivae Palatinae Rheni antiquitus adnexo et cohaerente epistola responsoria'. 1613 bestritt er in einem gedruckten Gutachten den konkurrierenden Gerichtsanspruch des Reichshofrats und erklärte das Reichskammergericht zum einzigen Organ der obersten Rechtsprechung im Reich30. Bemerkenswert ist ferner ein von ihm schon 1588 zusammengestelltes Florilegium über die Bedeutung der öffentlichen Meinung (De fama publica) für die Rechtsfindung „multis vicinis quaestionibus, de notorio, de testimonio auditus, de gloria, de existimatione et infamia passim admixtis"31. Freher widmete diese Schrift dem Kuradministrator Johann Casimir. Als Historiker interessierte sich Freher für Quellen aus der deutschen Vergangenheit, die er in Einzelpublikationen und ab 1600 in drei Bänden Germanicarum rerum scriptores aliquot insignes hactenus incogniti herausgab32. Sein historisches Hauptwerk stellte der Originum Valatinarum Commentarius von 1599 dar, den er 1612/13 in einer auf zwei Bände erweiterten Neuauflage vorlegte, um jetzt ausführliche Kapitel über das kurfürstliche Vormundschaftsrecht und das Pfälzer Vikariatsrecht einzufügen33. Die Origines sollten Material für einen „Palatinatus illustratus" liefern, also eine geographisch-historischprosopographisch-kulturelle Landeskunde. Die Bände enthielten eine Fülle Zit. nach KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 31. Zit. nach KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 23 Anm. 62. 29 Vgl. KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 1 3 7 Nr. 45; zu Frehers Anteil am Streit um die Kurwürde vgl. SCHWAN, Freher (s. Anm. 26), 5 3 - 6 9 . 30 Vgl. SCHWAN, Freher (s. Anm. 26), 8 5 - 9 8 ; vgl. auch MICHAEL STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 München 1988, 164f. 31 Vgl. KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 109 Nr. 3; SCHWAN, Freher (s. Anm. 26), 1 0 7 125; Bibl. Pal. 1, 274. 32 Vgl. KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 1 1 5 - 1 2 3 Nr. 1 8 (mit genauer Inhaltsübersicht). A u f dem Titelblatt von Bd. 2 (1602) hieß es; „[...] partim hactenus incogniti", auf dem Titelblatt von Bd. 3 (1611): „[...] fere hactenus incogniti." 33 Vgl. KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 113f. Nr. 15; Bibl. Pal. 1, 262f. V o n der zweiten Auflage erschien Bd. 1 1 6 1 3 , Bd. 2 1 6 1 2 . Vgl. IRMGARD BEZZEL, Marquard Frehers „Origines Palatinae" und der Streit um die pfälzische Kurwürde, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 62 (1964), 5 9 - 6 5 . 27

28

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von Zitaten, Exzerpten, Urkunden, literarischen Zeugnissen und dinglichen Überresten wie Abbildungen von Siegeln und Wappen. In seiner Leichenpredigt würdigte Johann Philipp Mylaeus denn auch Freher ausführlich als Historiker: „Sonderlich (hat) aber unser geliebtes Vatterland löblicher Teutscher Nation einen fürtrefflichen, mit großen gaben gezierten Historiographum verloren [...], welcher nuhn viel Jahr her seine mühe und gedancken dahin angewendet, Teutschland und Teutsche Nation mit derselben uhralten geschichten, Taten und Sprachen, bevorab den Rheinstrom und Churfürstliche Pfalz bey Rhein zu beschreiben."34 Freher war fest eingebunden in den Kreis der Heidelberger Späthumanisten, war Empfänger von Gedichten und verfaßte selbst Verse auf Gönner sowie gelehrte Freunde: Johann Casimir und Friedrich IV. von der Pfalz, den Kanzler Christoph Ehem, Paul Schede Melissus, Jan Gruter, Johannes Posthius und Friedrich Sylburg, um nur einige zu nennen. Sein Ansehen faßte der Heidelberger Theologe Paul Tossanus in die Charakteristik zusammen: „Urbis et aulae nostrae ornamentum."35 Während Freher unmittelbar mit den politischen Problemen der Pfalz konfrontiert wurde, soweit sie in juristischen Formen ihren Austrag fanden, hat Janus Gruterus36 kurz vor seinem Tod als sein Lebensziel definiert: „Nihil [...] mihi tota vita magis fuit in votis quam prodesse literis et literatis."37 Anders als Freher, der die vita activa mit dem Leben eines Gelehrten verband, pflegte Gruter in Heidelberg bewußt die vita contemplativa38. Allerdings war er auch — im Gegensatz zu Freher - bis zur Heidelberger Seßhaftwerdung vielfältig umgetrieben worden. 1560 in Antwerpen geboren (Jan de Gruytere), war er mit seinen Eltern als Sechsjähriger nach England geflüchtet, hatte in Cambridge und Leiden Jura und Philologie studiert, u. a. bei Hugo Donellus und Justus Lipsius, und war nach seiner juristischen Promotion auf eine ausgedehnte peregrinado académica gegangen, die ihn bis nach Danzig, wohin es Zit. nach KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 35f. Zit. aaO., 36 Anm. 101. 36 Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 194f.; GOTTFRIED SMEND, Jan Gruter. Sein Leben und Wirken, Bonn 1939; WAI.THER KLLLY (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 4, 397f. (Hermann Wiegand). Briefe an Gruter sowie Exzerpte und Notizen Gruters enthalten Cod. Pal. lat. 1 9 0 7 - 1 9 1 0 ; vgl. WOLFGANG METZGER, Die humanistischen, Triviums- und Reformationshandschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek (Cod. Pal. lat. 1 4 6 1 - 1 9 1 4 ) , Wiesbaden 2002 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg, 4), 330-335. 37 Vorwort zur zweiten Ausgabe des Livius (1628), Bl. G 4 r ; zum Schluß des „fine Augusti mensis, MDCXXVII. Heidelbergae" datierten Vorworts heißt es: „Deproperabam animo ac corpore aeger [...] Ianus Gruterus"; vgl. KÜHLMANN, Humanisten (wie Anm. 8), Bd. 1/2, 1077f. 38 Vgl. ALEXANDER REIFFERSCHEID (Hg.), Briefe G. M. Lingelsheims, M. Bemeggers und ihrer Freunde, Heilbronn 1889, 793 (zu S. 115,16): „Horto meo inclusus, ubi lito Florae ac Musis, securus, quid reges agant principesque" (an Johannes Kirchmann, 30. Mai 1619). 34

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seine Eltern verschlagen hatte, führte. 1590 berief Christian I. von Sachsen ihn als Professor der Geschichte nach Wittenberg. Nach dessen Tod mußte er seinen Lehrstuhl aufgeben, da er nicht bereit war, die Konkordienformel zu unterschreiben. Friedrich IV. ernannte ihn 1592 zum Professor historiarum in Heidelberg, und zwar gegen den Willen der Universität, die einen eigenständigen Lehrstuhl der Geschichte für überflüssig hielt; zudem sprach gegen Gruter in den Augen seiner künftigen Kollegen ein ausgeprägtes polemisches Talent. 1602 wurde Gruter als Nachfolger des Dichters Schede Melissus zugleich Bibliothekar der Bibliotheca Palatina39 - in dieser Eigenschaft lernte ihn Coryate kennen. Gruter war leidenschaftlicher Sammler und Editor. Von bedeutenden lateinischen Autoren, die er — teilweise unter Hinzuziehung von Heidelberger Handschriften - herausgab, seien Cicero, Livius, Martial, Plinius, Seneca und Tacitus genannt40. Allerdings war sein Beitrag zum europäischen Tacitismus eher marginal41 — 1604 edierte er eine Sammlung von Stellen aus Tacitus, die dessen Ansichten über den Staat widerspiegelten: Varii discursus sive prolixiores commentarii ad aliquot insigniora loca Taäti atque Onosandrt2. 1602 erschienen in Folioformat in vier Teilen Gruters berühmte Inscriptiones antiquae totius orbis Rjomani in corpus absolutissimum redactael3. Bei dieser Sammlung wurde Gruter von Gelehrten aller Konfessionen aus mehreren Ländern unterstützt. Vor allem war ihm Joseph Justus Scaliger behilflich, der auch die umfangreichen Register anfertigte; Martin Opitz lieferte Inschriften aus dem alten Dakien (Siebenbürgen). Ein dreibändiges ~Florilegium ethicopoliticum (1610-1612) umfaßte einschlägige Sprichwörter in sieben Sprachen44. Gruter bemühte sich aber auch um zeitgenössische neulateinische Schriftsteller, deren Gedichte er, nach Herkunftsländern geordnet (Italien, Frankreich, Deutschland, Niederlande), in vierzehn Bänden zwischen 1608 und 1614 herausgab. Natürlich schrieb er auch selbst Gedichte, hatte dagegen offensichtlich trotz der Denomination seiner Professur nicht den Ehrgeiz, ein eigenständiges historisches Werk zu verfassen, sondern sah seine Aufgabe im antiquarischen Sammeln und Bewahren. In Georg Michael Lingelsheim45 begegnet der Prototyp des gebildeten und gelehrten Regierungs- und Verwaltungsbeamten. 1556 in Straßburg geboren, Zu Gruter als Bibliothekar vgl. Bibl. Pal. 1, 4 4 1 - 4 5 3 . Vgl. die Bibliographie bei S MEND, Gruter (s. Anm. 36), 1 1 8 - 1 2 1 . 41 Vgl. E l s e - L i l l y EXTER, Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Basel/Stuttgart 1966, 161 f. 42 Vgl. SMEND, Gruter (s. Anm. 36), 119 Nr. 29; vgl. auch KÜHLMANN, Gelehrtenrepublik (s. Anm. 21), 61f. 43 Vgl. SMEND, Gruter (s. Anm. 36), 119 Nr. 19; Bibl. Pal. 1, 443f. 44 Vgl. SMEND, Gruter (s. Anm. 36), 120 Nr. 40. 45 Vgl. PRESS, Calvinismus, 534 s.v.; NDB 14, 621f. (Volker Press); Literaturlexikon (s. Anm. 36), Bd. 7, 302f. (Wilhelm Kühlmann); KÜHLMANN/WlEGAND, Parnassus (s. Anm. 39

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berief ihn Johann Casimir nach dem Jurastudium in Heidelberg und Basel als Erzieher Friedrichs IV. nach Heidelberg und machte ihn damit mitverantwortlich für die reformierte Imprägnierung des Kurprinzen. Allerdings war der Erziehungserfolg, soweit er nicht die religiöse Ausrichtung betraf, offensichtlich eher gering. Nach dem Regierungsantritt Friedrichs IV. 1592 wurde Langelsheim als gelehrter Rat in das Regierungsgremium der Pfalz, den Oberrat, berufen und blieb in ihm bis zur Pfälzer Katastrophe, ohne aber die Politik erkennbar zu beeinflussen; auch seine Einwirkungsmöglichkeiten auf seinen früheren Zögling waren offenbar begrenzt, wenn er sich denn überhaupt darum bemüht hat. Am böhmischen Abenteuer hatte Lingelsheim offenkundig kaum Anteil und gehörte auch nicht zu den Beratern, die Friedrich V. nach Prag begleiteten. Lingelsheims Stärke waren nicht politische oder publizistische Aktivitäten; stattdessen stellte er gleichsam den Konzentrationspunkt des gelehrten und literarischen Heidelberger Geistes dar. Wie die Frühhumanisten pflegte er einen ausgedehnten Briefwechsel, u. a. mit Matthias Bernegger, Melchior Goldast, Hugo Grotius, Jacques de Thou und Jacques Bongars, dem Diplomaten Heinrich von Navarras und Königs von Frankreich44. In seinen Briefen vollzog sich allerdings nicht nur ein literarisch-gelehrter Austausch, sondern es wurden durchaus auch politische Nachrichten übermittelt. Lingelsheim schlug die Brücke zwischen gelehrten Hofräten und Universitätsprofessoren sowie den nicht der Universität angehörigen Akademikern und Poeten. Er muß eine eindrucksvolle und charakterfeste Persönlichkeit gewesen sein — Bernegger, bei dem sich Lingelsheim nach der Pfälzer Katastrophe aufhielt, rühmte ihn 1629 als „et Catonem et Varronem quendam Christianum"47. Als vierten weltberühmten Heidelberger Gelehrten nannte Coryate 1610 den Theologen David Pareus48. Wie auch die anderen Heidelberger Theolo21), 275; AXEL E. WALTER, Georg Michael Lingelsheim. Esquisse biographique d'un humaniste politique dans la région du Rhin supérieur (1558—1638): In: Revue d'Alsace 1 2 4 (1998), 3 5 - 5 4 . 46

Vgl. Jacobi Bongarsii et Georgii Michaelis Lingelshemii Epistolae, Straßburg 1660;

REIFFERSCHEID, B r i e f e (s. A n m . 3 8 ) ; HERMANN H A G E N , J a c o b u s B o n g a r s i u s , i n : D E R S . ,

Zur Geschichte der Philologie und zur römischen Litteratur, Berlin 1879, 5 5 - 2 1 6 ( 1 6 5 - 2 1 6 ungedruckte Briefe Lingelsheim an Bongars 1601—1611). 47 FRANZ SCHNORR VON CAROLSFELD, Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften, in: Archiv für Litteraturgeschichte 8 (1879), 4 5 0 Anm.* (an Johann Steinberger, 12. Juli 1629). Bernegger begründete seinen Vergleich: „Ita cum illum invicto in tot malis animi robore, tum hune inexhausta doctrina repraesentat, ut non dicam, haec urbs, sed nec Germania parum, neminem certe superiorem habere videatur." Martin Opitz rühmte seinen früheren Brotgeber 1631 als „tarn rarum depositum et Germanorum fere ultimum" und als „magnum pristinae libertatis columen"; vgl. REIFFERSCHEID, Briefe (s. Anm. 38), 452. 472. 48 Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 4 3 3 - 4 3 5 ; GUSTAV ADOLF BENRATH, David Pareus, in: Schlesische Lebensbilder, Bd. 5, Würzburg 1968, 1 3 - 2 3 ; DERS., Irenik und Zweite Reformation, in: HEINZ SCHILLING (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in

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gieprofessoren stand Pareus jedoch eher am Rand des Späthumanismus. Bei ihm ergab sich dies schon durch den Generationenunterschied. Er war 1548 geboren und stammte — wie Zacharias Ursinus, der große Theologe der ersten Zeit der reformierten Pfälzer Kirche und Universität — aus Schlesien. Allerdings lebte er bereits seit seinem achtzehnten Lebensjahr in der Pfalz, hatte das Heidelberger Sapienzkolleg besucht, war Lehrer und Gemeindepfarrer gewesen, bevor er 1592 zum Mitglied des Leitungsgremiums der Pfälzer Landeskirche, des Kirchenrats, ernannt wurde. 1598 wurde er an die Theologische Fakultät berufen und bekleidete seit 1603 die rang- und besoldungsmäßig vornehmste Professur der Universität, die für Neues Testament49. Aufgabe der Pfälzer Theologen war seit 1563 die Wahrung der reformierten Rechtgläubigkeit; wurden sie von den Lutheranern herausgefordert, blieben sie in der Polemik nichts schuldig. Dennoch war die Heidelberger Theologie, personifiziert in Pareus, seit 1583 durch eine ausgesprochene Vermittlungstendenz geprägt, die allerdings nur innerevangelisch galt, während die Abgrenzung zum römischen Katholizismus in aller Schärfe vollzogen wurde, auch wenn Friedrich IV. 1608 Katholiken die devotio domestica gestattete. Die Pfälzer Vermitdungstheologie diente unmittelbar politischen Zielen, indem sie das Streben nach einem engeren innerevangelischen Zusammenschluß zur gemeinsamen Abwehr der Gegenreformation religiös abstützte - insofern leistete sie durchaus praktische Vorarbeit für die Union von Auhausen 1608. Sinnfälliger Ausdruck dieser Konkordanztheologie war Pareus' Schrift von 1614: Irenicum sive De Unione et sjnodo Evangelicorum concilianda Uber Votivus Paci Ecclesiae et desideriis pacificorum dictatus. In seiner Widmungsvorrede an den Leser bezeichnete es Pareus als „scopus authoris", in den verschiedenen Labyrinthen von Ratschlägen, Klagen, Verdächtigungen und Verteidigungen „planam et placidam viam monstrare, qua Ordines atque Theologi Evangelici (si modo hos tandem miseratio tangit gemiscentis Ecclesiae) bonum diu desideratum, h.e. concordiam et pacem in Domino persequantur".50 Die von ihm vorgeschlagene Generalsynode zu berufen, verstand Pareus als gemeinsame Aufgabe des englischen und des dänischen Königs. Bis dahin sollte zwischen den beiden evangelischen Konfessionen Duldung herrschen auf der Basis der dogmatischen Übereinkünfte in den Marburger Artikeln (1529), der Wittenberger Konkordie (1536) und dem Briefwechsel zwischen den Schweizer Städten und Luther 1536/37, dem Consensus SendomiDeutschland. Das Problem der „Zweiten Reformation", Gütersloh 1986 (SVRG 195), 349358. 49 Einen Überblick über die selbsterlebte Phase der Pfälzer Kirchengeschichte seit 1566 gab Pareus in seiner De statu quinquagenario Palatinae 'Ecclesiae Oratio von 1616. Er begann mit der Würdigung Friedrichs III., ging auf das „Septennium Ubiquitarium" unter Ludwig VI. ein, um dann die folgenden Regenten zu rühmen: Johann Casimir, Friedrich IV., Administrator Johann II. von Zweibrücken und Friedrich V. Vgl. Bibl. Pal. 1, 147f. 50 Irenicum, Bl.)( 2V.

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riensis (1570) und dem Böhmischen Bekenntnis (1575) — die Texte gab Pareus in lateinischer Sprache wieder. Im übrigen erläuterte er ausführlich, daß die Evangelischen in 165 dogmatischen Punkten gegenüber den Papisten einig seien. Den Streitpunkt der Realpräsenz hielt er nicht für kirchentrennend; beide Konfessionsparteien sollten sich vielmehr schnell im Kampf gegen die Bedrohung durch römischen Antichrist und „gens Loiolitica" zusammenfinden.

III. Kennzeichen des Heidelberger Späthumanismus Die vier vorgestellten Exponenten des Heidelberger Geistes um 1600 waren nur die Spitze eines Eisberges. Selbst wenn die Humanisten nach der Jahrhundertmitte wie der Arzt und Dichter Petrus Lotichius Secundus (gest. 1560)51 unberücksichtigt bleiben, gehörte um die Jahrhundertwende ein größerer Kreis von Personen, die an Hof oder Universität beschäftigt waren, zu den Späthumanisten. Genannt seien, nach dem Alter geordnet: Lambert Ludolf Pithopoeus (1535—1596), seit 1563 Professor der lateinischen Sprache, Dichtkunst und Rhetorik52; Heinrich Smetius (1537-1614), seit 1585 Professor der Medizin, Verfasser eines Handbuchs zur lateinischen Verslehre sowie des Lehrepos De antiquitate et praestantia medicinae53; Johannes Posthius (1537—1597), seit 1585 Leibarzt Johann Casimirs, dann Hof- und Stadtarzt; „poeta doctissimus et qui in Poesi nulli huius saeculi secundus esse iudicatur"54; Paul Schede Melissus (1539-1602), bereits 1570 von Friedrich III. nach Heidelberg berufen, um den Hugenottenpsalter für die Pfälzer Kirche zu ü-

51 Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 359; KÜHLMANN/WlEGAND, Pamassus (s. Anm. 21), 276-278; Literaturlexikon (s. Anm. 36), Bd. 7, 352-355 (Bernhard Coppel); WILHELM KÜHLMANN u.a. (Hg.), Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1997, 1178-1182. 52 Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 457-459; KÜHLMANN/WlEGAND, Pamassus (s. Anm. 21), 285f.; Literaturlexikon (s. Anm. 36), Bd. 9, 173f. (Wilhelm Kühlmann). 53 Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 505f.; KÜHLMANN/WlEGAND, Pamassus (s. Anm. 21), 291 f.; Literaturlexikon (s. Anm. 36), Bd. 11, 54f. (Wilhelm Kühlmann). Briefe an Smetius sind gesammelt in der Handschrift Pal. lat. 1903; vgl. METZGER, Codices (s. Anm. 36), 311-318. 54 Vgl. KLAUS KARRER, Johannes Posthius. Verzeichnis der Briefe und Werke mit Regesten und Posthius-Biographie, Wiesbaden 1993 (Zitat S. 9); KÜHLMANN, Lyrik (s. Anm. 51), 1365-1369.

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hersetzen; 1576 nach Regierungsantritt Ludwigs VI. Verlassen der Pfalz, 1586 von Johann Casimir als Leiter der Bibliotheca Palatina zurückberufen55; Dionysius Gothofredus (1549-1622), 1600/1601 und 1604-1621 Professor des Codex56; Johannes Obsopoeus (1556—1596), seit 1589 Professor der Medizin und Herausgeber des Hippokrates in griechischer und lateinischer Sprache57; Hippolytus a Colli (Collibus) (1561-1612), 1586-1589 Professor der Pandekten, 1591-1593 Kriegskanzler Christians von Anhalt, 1593 Präsident des Hofgerichts, Mitglied des Ober- und des Nebenrates, Verfasser von politiktheoretischen Schriften und Fürstenspiegeln58; Emigranten aus Westeuropa waren unter diesen Gelehrten Pithopoeus, Smetius, Gothofredus und a Colli (in der zweiten Generation), Pfälzer Landeskind nur Obsopoeus. Außerhalb von Universität und Hof gehörten zum Kreis der Späthumanisten der Drucker Hieronymus Commelinus (seit 1585 in Heidelberg, gest. 1597)59, sein Korrektor Friedrich Sylburg (seit 1591 in Heidelberg, gest. 1596)60 und der Rektor des Heidelberger Pädagogiums Melchior Adam (gest. 1622)61, der Gelehrtenbiographien und Inschriftensammlungen herausgab. Zu der jungen Generation zählten Martin Opitz (1619/20 auf Gruters Empfehlung Hauslehrer bei Lingelsheim)62, Friedrich Lingelsheim (Sohn Georg Michaels, gest. 1616)63 und Julius Wilhelm Zincgref (gest. 1635)64, dessen Vater Hofgerichtsrat war und der später selbst im Pfälzer Verwaltungsdienst stand. 55 Vgl. KÜHLMANN/WlEGAND, Parnassus (s. Anm. 21), 289-291; Literaturlexikon (s. Anm. 36), Bd. 10, 167-169 (Eckart Schäfer); Bibl. Pal. 1, 420. 422. Vgl. auch KOHLMANN, Lyrik (s. Anm. 51), 1395-1402. 56 Vgl. DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 182f. 57 Vgl. aaO., 424. 58 Vgl. aaO., 86; KLAUS CONERMANN, Hippolythus a Collibus. Zur Ars politica et aulica im Heidelberger Gelehrtenkreis, in: AUGUST BUCK u.a. (Hg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 3, Hamburg 1981, 693-700; Bibl. Pal. 1, 268f. Hauptwerke a Collis waren: Princeps, 1593 (Christian von Anhalt gewidmet); Palatinus sive Aulicus, 1595; Consiliarius, 1598. 59 Vgl. WILHELM PORT, Hieronymus Commelinus 1550-1597. Leben und Werk eines Heidelberger Drucker-Verlegers, Leipzig 1938; JOSEF BENZING, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, Wiesbaden 2 1982, 196; Bibl. Pal. 1, 425427. 60 Vgl. Bibl. Pal. 1, 435. Isaak Casaubonus beklagte in einem Schreiben an Commelinus vom 20. März 1596 Sylburgs Tod: „O gravem Reipublicae litterariae jacturam!"; ISAAC CASAUBONUS, Epistolae, ed. Theodor Janson de Ameloveen, Rotterdam 1709, 586. 61 Vgl. KÜHLMANN/WlEGAND, Parnassus (s. Anm. 21), 266f.; NDB 1, 53 (Friedrich Hermann Schubert); Literaturlexikon (s. Anm. 36), Bd. 1, 53 (Michael Behnen). 62

Vgl. KÜHLMANN/WIEGAND, Parnassus (s. A n m . 2 1 ) , 2 8 2 f .

Vgl. aaO., 275. 64 SCHNORR VON CAROLSFELD, Zincgref (s. Anm. 47), 1-58. 446-490; Literaturlexikon (s. Anm. 36), Bd. 12, 501-503 (Michael Schilling). 63

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Gemeinsam war allen Vertretern des Heidelberger Späthumanismus — ob selbst produktiv oder nur fördernd oder nur rezeptiv — das lebendige Interesse am Altertum. Allerdings fehlte ihnen im Gegensatz zur ersten Generation der deutschen Humanisten um Erasmus von Rotterdam die naive Uberzeugung, daß die Begegnung mit der antiken Kultur, insbesondere der Literatur, den Menschen bereits besser mache. Die Heidelberger Gelehrsamkeit um 1600 ist vor allem reproduktive Gelehrsamkeit — originäre Weiterentwicklungen des vorhandenen Wissens- und Erkenntnisstoffes gab es kaum, neue Theoriebildungen fanden in Heidelberg nicht eigentlich statt65. Bezeichnend für den Heidelberger Geist insgesamt scheint, daß die großen Juristen am mos gallicus, dem eher historisch-antiquarischen als praktischen oder theoretischen Umgang mit dem ius scriptum, festhielten und keine weiterführenden Beiträge zum Reichsrecht oder zu den überlieferten Politiktheorien leisteten. Die Lehre vom Widerstandsrecht wurde von Pareus in seinem Römerbriefkommentar erörtert, nicht dagegen von den Juristen. „Geniale Neuerer" (Trunz) fehlen ganz. Viele Heidelberger Späthumanisten, keineswegs nur Freher und Gruter, waren als Editoren tätig; sie sahen es als ihre wichtigste Aufgabe an, verläßliche Texte, zumeist lateinischer Autoren, zu konstituieren und mit kritischen Erörterungen philologischer Einzelfragen zu kommentieren. Die Handschriftenbestände der Bibliotheca Palatina kamen ihnen dabei zu Hilfe, was auch mehrfach werbend auf den Titelblättern der Ausgaben vermerkt wurde. Summarisch ließe sich von einem gewissen gelehrten Alexandrinismus sprechen, der den Heidelberger Geist um die Jahrhundertwende prägte. Gemeinsam war den Vertretern des Heidelberger Späthumanismus die bewußte calvinistische Religiosität66. Alle Gelehrten gehörten wie die Landesfürsten seit Johann Casimir zur zweiten Generation, die bereits im Bekenntnis aufgewachsen war und sich nicht mehr durch eigene geistige Auseinandersetzung zu ihm durchgekämpft hatte. Für das Bekenntnis wurden durchaus auch Nachteile in Kauf genommen, es handelt sich mithin nicht um eine bloße Konvention wie etwa bei Justus Lipsius. So gab Gruter seine Professur in Sachsen auf, statt sich auf die Konkordienformel zu verpflichten67; Schede Melissus verließ wie viele andere Angehörige der Pfälzer Bildungselite die Kurpfalz, als Ludwig VI. das Luthertum einführte; Smetius ging mit mehre-

65 Darauf hat insbesondere NOTKER HAMMERSTEIN, The University of Heidelberg in the early modern period, in: History of Universities 6 (1986), 118f. hingewiesen. 66 Nur der unter Friedrich V. einflußreich werdende Rat und spätere Leiter der pfalzischen Exilregierung Ludwig Camerarius war Philippist und trat offenbar niemals zum reformierten Bekenntnis über. Vgl. FRIEDRICH HERMANN SCHUBERT, Ludwig Camerarius 1 5 7 3 - 1 6 5 1 . Eine Biographie, Kallmünz 1955; vgl. auch DERS., Die pfälzische Exilregierung im Dreißigjährigen Krieg, in: Z G O 102 (1954), 575-679. 67 Zu Gruters Religiosität vgl. SMEND, Gruter (s. Anm. 36), 80-83.

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ren Universitätsprofessoren an die kleine reformierte Ersatzhochschule Johann Casimirs in Neustadt. Die gepflegte Frömmigkeit war eine pietas litterata, die Frömmigkeit der zweiten Generation, die sich im ruhigen Besitz des richtigen Bekenntnisses wußte, ohne - außer in der Extremsituation nach 1576 - ihren Bekenntnisstand immerfort demonstrativ hervorkehren zu müssen. Theologen fehlten im Kreis der Heidelberger Späthumanisten nahezu ganz, während Juristen, Philologen und Mediziner dominierten. Gruter heiratete zwar in zweiter Ehe eine Tochter des Heidelberger Theologieprofessors Jakob Kimedoncius, der wie er selbst ein emigrierter Niederländer war, ohne daß sich aber daraus nähere Beziehungen zu den Theologen ergeben hätten. Auch unter den gelehrten Dichtern sind Geistliche selten. An den religiösen Auseinandersetzungen der Zeit beteiligten sich die Späthumanisten kaum; auch konfessionelle Polemik war nicht die Regel, jedenfalls nicht in sehr ausgeprägter Form. Literarischer Verkehr fand durchaus auch mit nichtevangelischen Gelehrten statt, und Gruter brach die Beziehungen zu Lipsius nach dessen Konversion zum Katholizismus keineswegs ab. Auch im Bemühen um den authentischen Text wurden konfessionelle Gräben übersprungen. So erwähnte Gruter in der Vorrede seiner dem reformierten Landgrafen Moritz von Hessen gewidmeten Seneca-Edition, daß er zur Textkonstitution neben fünf Palatina-Handschriften eine weitere benutzt habe, die „mihi communicarunt Fratres minores, qui Coloniae"68. Posthius war, bevor er in der Kurpfalz Anstellung fand, Leibarzt der Würzburger Bischöfe, ab 1574 des Bischofs Julius Echter von Mespelbrunn, und des Domkapitels. Er nahm zwar auch von Heidelberg aus noch Anteil am Schicksal der Evangelischen im Hochstift und beklagte, daß Bischof Julius seine Untertanen reformatae religionis, die das papistische Götzenbild nicht anbeten wollten, vertrieb, tat dies aber nur brieflich, nicht in einer öffentlichen Äußerung69. Einen leicht konfessionellen Akzent setzte die 1592 vermutlich in Heidelberg gedruckte Gedichtsammlung zum Tode Christians I. von Sachsen und Johann Casimirs. Sie war gewidmet „Memoriae nunquam satis laudatae Christiani Saxoniae Ducis et Iohannis Casimiri Comitis Palatinatus Rheni, Sacri Romani Imperii Vicariorum et Electorum, heroum fortissimorum, pietatis defensorum, libertatis patriae vindicum acerrimorum, principum (heu) incomparabilium immature plane defunctorum sacrum". Unter anderem trugen Schede Melissus, Pithopoeus, Freher, Smetius und Posthius zu der Sammlung bei, deren größter Teil Johann Casimirs Tod und seinen Verdiensten galt70.

68

JANUS GRUTER, Animadversiones in L. Annaei Senecae opera, 1593, IUI; vgl.

KÜHLMANN, H u m a n i s t e n ( w i e A n m . 8), B d . 1/2, 569. 69 70

KARRER, Posthius (s. Anm. 54), 275 (an Johann Jakob Grynaeus, 26. Juli 1586). Vgl. aaO., 521 f.

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Bei der Widmungspraxis — untersucht wurden Vorreden Frehers und Gruters — sind Konfessionsvorbehalte nur gegenüber den Lutheranern zu beobachten, während katholische wie reformierte Fürsten gleichmäßig bedacht wurden. Editionen gehörten offensichtlich zu den nur teilkonfessionalisierten Segmenten der gelehrten Kultur um 1600. Insbesondere Marquard Freher71 wählte mit großer Selbstverständlichkeit auch katholische Fürsten zu Widmungsträgern. Seine Einführung in das „Ius Graeco-Romanum tam canonicum quam civile" dedizierte er 1596 Kaiser Rudolf II., einen Traktat des Petrus von Andlau über das Heilige Römische Reich Kaiser Matthias aus Anlaß von dessen Kaiserkrönung 1612. Die zwei Bände der Chronik des Trithemius widmete Freher 1601 dem Würzburger Bischof Julius Echter von Mespelbrunn und dem Mainzer Erzbischof Johann Adam von Bicken — beides energische Vorkämpfer der Gegenreformation. Maximilian I. von Bayern erhielt 1603 eine Chronik über seine Vorfahren zugeeignet, wobei Freher es nicht unterließ, darauf hinzuweisen, daß die „patria origo" der pfälzischen und der bayerischen Fürsten identisch sei72. Schließlich wurde auch Ludwig XIII. von Frankreich in den Kreis der Widmungsträger einbezogen, als Freher 1613 ein Corpus Francicae historiae veteris et sincerae edierte. Konfessionelle oder politische Probleme wurden in den Vorreden an katholische Fürsten so wenig angesprochen wie in denjenigen an evangelische Fürsten. Üblicherweise ist die Widmung mit dem Inhalt des Bandes begründet worden, auch wenn die Verbindung manchmal etwas künstlich hergestellt war. Daß die Bände der Origines Palatinae bei ihrer Neuauflage Kurfürst Friedrich V. und dessen Schwiegervater Jakob I. von England gewidmet wurden (1613/12), läßt sich leicht erklären, ebenso 1611 die Widmung der Edition der Goldenen Bulle an den nicht unbestrittenen Kuradministrator Johann II. von Zweibrücken. Jakob I. von England hatte schon 1610 die Untersuchung über die Konstantinische Schenkung zugeeignet bekommen — hier war in der Vorrede mit wenigen Worten gegen das Papsttum und den aus England bezogenen Peterspfennig polemisiert worden73. Die vier rheinischen Kurfürsten erhielten 1605 eine Schrift De re monetaria gewidmet, wobei der die Territorien verbindende Fluß und der Rheinische Münzverein vom Ende des 14. Jahrhunderts zur Begründung dienten. Evangelische Widmungsempfänger Frehers waren ferner Friedrich IV. von der Pfalz, Johann VII. von Nassau, Ernst von Schaumburg (Traktat über die Feme in Westfalen), Ludwig II. von Pfalz-

Zum Folgenden vgl. die Bibliographie bei KORNEXL, Studien (s. Anm. 26), 1 0 7 - 1 4 5 . Andreae Presbyteri Ratisponensis Chronicon de ducibus Bavariae, Bl. 2'; vgl. KÜHLMANN, Humanisten (wie Anm. 8), Bd. 1/1, 318. 73 MARQUARD FREHER, Constantini Magni Imperatoris donatio Sylvestro Papae Romano inscripta, 1610. Im Vorwort rühmte Freher die Vorfahren des Königs, „quorum virtute reiecto alieno iugo Denarium illum S. Petri (quem vocabat) ereptum Roma plangit" (Bl. (:) 4 r ); vgl. KÜHLMANN, Humanisten (wie Anm. 8), Bd. 1/1, 390. 71

72

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Zweibrücken und Philipp Ludwig von Hanau-Münzenberg, außerdem die Reichsstädte Augsburg, Nürnberg und Straßburg, denen die drei Bände Germanicarum remm scriptores zugeschrieben wurden. Die Widmungspraxis von Gruter griff nicht so weit aus und war nicht so gezielt wie die Frehers. Allerdings widmete auch er Kaiser Rudolf II. ein Werk, nämlich die Inscriptiones antiquae (1602)74. Dabei tradierte er das übliche Herrscherlob: Der Kaiser als rechtmäßiger Nachfolger der Caesaren regiere seit dreißig Jahren „solis more irrequietus" und habe das Reich zu neuer Blüte geführt, während die Nachbarländer durch die Feuersbrunst dauernder Kriege verzehrt würden75. Wie bei Freher war auch bei Gruter der hessische Landgraf Moritz Empfänger einer Widmung {Seneca 1592). Andere Dedikationen galten Graf Simon VI. von der Lippe, einer Säule des Calvinismus (Erstauflage des Uvius 1599), dem Kurprinzen Friedlich V. (Zweitauflage des Livius 1609) und sieben jüngeren Wetterauer Grafen (Florilegium ethico-politicum 1610—1612), denen ausgerechnet Kurfürst Friedrich IV. als Vorbild hingestellt wurde76. Zweimal wurde der einflußreiche Oberhofmeister und Oberrat Georg Ludwig von Hutten durch Vorreden Gruters ausgezeichnet (Florus 1597, Taätus 1606). Sein 1625 gedrucktes Florilegium Bibliotheca exulum widmete Gruter den drei Söhnen des württembergischen Herzogs Johann Friedrich — seit seiner Flucht aus Heidelberg hatte er längere Zeit in Tübingen verbracht. Es ist dies die einzige Widmung Gruters an lutherische Fürsten. Das Herrscherlob in Gruters Vorreden war ganz konventionell und griff rhetorisch immer sehr hoch. Beliebt waren Steigerungen (magnus — maior maximus) wie beim Lob Friedrichs IV. 1593: „Magna spes Europae, maior Germaniae, maxima orbis Christiani"77. Öfter als Freher bezog sich Gruter in Widmungstexten unmittelbar auf seine Landesherren — so lobte er in der Dedikation seiner Cicero-Ausgabe an die Notabein der Stadt Amsterdam 1618 Friedrich V. wie einst Sueton Kaiser Titus als „amor ac delicium generis hu-

74 Zu den Umständen dieser Widmung vgl. SMEND, Gruter (s. Anm. 36), 68f. Der Kaiser bot Gruter als Entgelt die Erhebung in den Adelsstand an, was Gruter mit dem Hinweis auf seine adlige Abstammung ablehnte; daraufhin stellte er ihm den Titel eines Comes Palatinus und ein Ehrengeschenk in Aussicht sowie auf Bitten Gruters ein Privileg für dessen Druckwerke. Erhalten hat Gruter nichts, da Rudolf II. bald starb. 75 J A N U S G R U T E R , Inscriptiones antiquae, 1 6 0 2 , Bl. (:) ij'; vgl. K Ü H L M A N N , Humanisten (wie Anm. 8 ) , Bd. 1 / 2 , 6 4 0 . 76 J A N U S G R U T E R , Florilegium ethico-politicum, 1 6 1 0 - 1 6 1 2 , Bl. ( ) iv r : „[...] cuius in rebus tractandis ea ipsis religio ac fides, in exsequendis industria ac dexteritas, in consiüo vero ea moderatio ac prudentia, ea denique in desideriis hominum audiendis comitas aequitasque"; vgl. K O H L M A N N , Humanisten (wie Anm. 8 ) , Bd. 1 / 2 , 8 6 6 . 77 G R U T E R , Seneca (s. Anm. 6 8 ) , 3 ; vgl. K Ü H L M A N N , Humanisten (wie Anm. 8 ) , Bd.

1/2,

566.

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mani"78. Im übrigen unterschieden sich Gruter und Freher dadurch, daß Gruter auch in Vorreden häufig gegen seine philologischen Gegner polemisierte, während Freher offensichtlich wenig Interesse an der Diskussion und am gelehrten Streit hatte, sondern sich damit begnügte, seine Argumente sachlich vorzutragen. Anders als Freher dedizierte Gruter seine Arbeiten auch Fachgenossen und Freunden wie Joseph Justus Scaliger, Janus Dousa d. A., Hugo Donellus, Justus Lipsius, Dionysius Gothofredus, Johann Casimir Denaisius, Jacques Bongars, Heinrich Smetius und dem Pfälzer Oberrat Johann Christoph von der Grün. Gruter wie Freher und ihre Gesinnungsgenossen waren Sammler, Editoren und Dokumentaristen79. Während Gruter sich im wesentlichen auf Literatur beschränkte, wollte Freher mit Editionen historischer Werke und mit Ausgaben politischer Schlüsseltexte auf die Gegenwartskonstellationen Einfluß nehmen. Er unterstützte die Pfälzer Politik im Administratoren- und Vormundschaftsstreit, im Kur- und Vikariatsstreit durch Bereitstellung der einschlägigen Texte und durch sachdienliche Kommentierung. Dasselbe tat auch Dionysius Gothofredus mit einem sehr umfangreichen Gutachten zur Vormundschaft, das er 1609 mit einer Widmung an den Kurprinzen Friedrich V. im Druck vorlegte. In ihm behauptete er, die Bestimmungen der Goldenen Bulle gälten nur bei Fehlen eines Testaments; außerdem stellte er die für die Pfalz entscheidende Frage, ob die Vormundschaftsregelungen der Goldenen Bulle nach der Veränderung aller Verhältnisse durch die Reformation überhaupt noch Gültigkeit beanspruchen könnten. Für Freher ergab sich aus seiner Exegese der Goldenen Bulle, daß sie den Kurfürsten nicht das Recht nahm, nach eigenem Ermessen Vormundschaft und Administration zu regeln80Das politische Ziel dieser juristischen Späthumanisten war seit Johann Casimir über die Jahrzehnte hin eindeutig: Behauptung des konfessionellen Status der Kurpfalz gegen alle Gefährdungen von Seiten der konkurrierenden Konfessionsparteien, personifiziert in Anwärtern auf das Vormundschaftsund Administratorenamt. Die Pfälzer Vermittlungstheologie konnte hier unterstützend wirken, sie durfte aber im Ernstfall nicht den Ausschlag geben.

78 JANUS GRUTER/jANUS GULIELMUS, M. Tullii Ciceronis opera omnia quae exstant. Ex sola fere Cod. Mss. fide emendata [...], Hamburg 1618, Bl. +a4'; vgl. KÜHLMANN, Humanisten (wie Anm. 8), Bd. 1/2, 900. 79 Die Dokumentationstendenz ist besonders ausgeprägt bei Melchior Adam, der nicht nur die deutsche res publica doctorum in 136 nach Fakultäten geordneten Biographien vorstellte (1615-20), sondern auch die mittelalterlich-frühneuzeitlichen Inschriften, insbes. Grabinschriften, publizierte: Apographum monumentorum Haidelbergensium, 1612. 80 Zum Vormundschaftsstreit und zu der Beteiligung der Heidelberger Juristen vgl. SCHWAN, Schaffen (s. Anm. 26), 2 6 - 5 3 ; STOLLEIS, Geschichte (s. Anm. 30), 129£; zur Tutela-Schrift Gothofredus' vgl. Bibl. Pal. 1, 268.

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Mit den Editionen ungedruckter Quellen 2ur deutschen Geschichte verfolgte Freher durchaus ein Gegenwartsziel: Den Deutschen sollte durch Verweis auf ihre Geschichte Selbstbewußtsein verschafft werden. Nach Frehers Auffassung hatte es ihnen nicht an Geschichtsschreibern gefehlt; diese seien jedoch nicht geschätzt und bewahrt worden, ja wären schließlich ganz verlorengegangen, „nisi a paucis demum annis cultissimo hoc aevo eruditorum patriaeque amantium hominum improbo studio velut e rogo et favilla erutae revixissent" 81 . Die Heidelberger Späthumanisten waren Dichter, poetae docti — zugespitzt ließe sich formulieren: Zum geistigen Selbstverständnis eines Heidelberger Gelehrten, ganz gleich welche Disziplin er vertrat oder ob er in Politik- oder Verwaltungsämtern tätig war, gehörte es, lateinische Gedichte in unterschiedEchen Versmaßen zu verfassen 82 . Unvermögen auf diesem Gebiet schloß gewissermaßen aus der res publica doctorum aus. „Nahezu alle Angehörigen der Universität und ihres schulischen wie kirchlichen Umfeldes haben deshalb Sammlungen von carmina hinterlassen." 83 Den Editionen, Florilegien und Kommentaren wurden fast immer Empfehlungsgedichte befreundeter Autoren vorangestellt, die offenbar vor der Drucklegung erbeten worden waren. So enthielt Gruters Seneca-Edition Gedichte von Schede Melissus, Posthius, Freher und sogar auswärtigen poetae docti wie dem Altdorfer Juristen und Editor Konrad Rittershaus. Den Origines Palatinae war in der ersten Ausgabe ein Gedicht von Schede Melissus auf Freher beigegeben, dem zweiten Band der Germanicarum rerum scriptores ein Lobgedicht Gruters auf „Freherus Germaniae suos scriptores restituens"84. Die Friedrich V. gewidmete Emblematum Ethico-Politicorum Centuria von Julius Wilhelm Zincgref wurde durch einen langen „Trochaeus" Gruters und ein Gedicht von Melchior Adam eingeleitet85. Neben die poetische Verwandtschaft trat das Heiratsverhalten. Gruter heiratete in erster Ehe die Tochter des Mediziners, klassischen Philologen und Gelegenheitsdichters Heinrich Smetius, der Heppenheimer Pfarrer und Dichterjohannes Adam war der Schwiegersohn von Pithopoeus. Pareus vermählte sich in zweiter Ehe mit der Witwe des Hebraisten und Arabisten Jakob 81

Anm.

FREHER, Scriptores (s. Anm. 32), Bd. 2, B l . ) ( 2 v g l . KÜHLMANN, Humanisten (wie

Bd. 1/1, 2 3 0 . Vgl. die Sammlung von KÜHLMANN/WlEGAND, Parnassus (s. Anm. 21). Unveröffentlichte Gedichte und Epigramme aus dem Besitz Gruters enthalten die Hss. Pal. 8),

82

lat. 1905-1907; vgl. METZGER, Codices (s. Anm. 36), 319-330.

Parnassus (s. Anm. 21), 5. In dem zwanzigzeiligen Gedicht würdigt Gruter Frehers Leistung: „Ergo tuum meritum quantum est ac quäle, tot ultro/ Qui simul Auetores luce, Frehere, beas" (Bl.)( 4V); 83

KÜHLMANN/WlEGAND,

84

vgl. KÜHLMANN, Humanisten (wie Anm. 8), Bd. 1/1, 235. 85 Vgl. JULIUS WILHELM ZINCGREF, Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1, Tübingen 1993,

13f.

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Christmann, Lingelsheim mit der Tochter seines Kollegen Johann Michael Loefen (Loefenius). Heinrich Alting heiratete eine Schwägerin von Smetius. Soll der Heidelberger Späthumanismus zusammenfassend charakterisiert werden, läßt sich sagen, daß um 1600 in Heidelberg ein „Netzwerk von gelehrten Oberräten, adeligen Oberräten, Hofgerichtsräten und Universitätsprofessoren (bestand), die politisch, wissenschaftlich und literarischpublizistisch eng zusammenarbeiteten"86.

IV. Die Katastrophe Der Heidelberger Späthumanismus wurde das Opfer des böhmischen Abenteuers. Schon die Pestjahre 1596/97 hatten dem gelehrten Kosmos Heidelbergs Opfer abgefordert, u. a. Commelinus, Sylburg, Obsopoeus und Posthius. Hippolytus a Colli war 1612 gestorben, Heinrich Smetius 1614, ebenso Freher. Nachdem spanische Truppen 1620 in die Kurpfalz eingefallen waren, verließen viele Professoren und Angehörige der Ratsgremien die Residenzstadt, obwohl diese erst im September 1622 nach mehrwöchiger Belagerung erobert wurde87. Gruter flüchtete im Juli 1621 in Panikstimmung zuerst nach Tübingen, später zu seinem Schwiegersohn nach Bretten, und ließ die ihm anvertraute Bibliotheca Palatina und seine kostbare Privatbibliothek im Stich. Lingelsheim verließ gleichfalls 1621 Heidelberg und begab sich in seine Vaterstadt Straßburg88, wohin auch Gothofredus floh (dort 1622 gestorben). Pareus ging nach Annweiler, kehrte aber im Mai 1622 nach Heidelberg zurück und starb hier wenige Wochen vor der Eroberung der Stadt. Gruters Klage über seine Situation 1622 ist vermutlich symptomatisch für die Heidelberger Gelehrten. Er konnte nicht arbeiten, da seine Bibliothek zerstreut war: „Pars maior haeret Heidelbergae, pars altera Pfortzhemii, pars Brettae, pars Vaihingae."89 „Eiectus tempestate naufragantis Palatinatus", stellte Gruter eine um86

MERTENS, H o f k u l t u r (s. A n m . 1 4 ) , 8 1 .

Belichte von Heinrich Alling und Konrad Schoppius über die Eroberung der Stadt vgl. bei EDUARD WINKELMANN (Hg.), Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. 1, Heidelberg 1886, 376-378. Den Rückblick von Matthias Pasor vgl. bei HUGO GRÜN, Das Flüchtlingsleben eines Nassauischen Gelehrten im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 10 (1959), 30-32. 88 Gruter und Lingelsheim führten in der Zeit des Exils eine ausführliche Korrespondenz, von der nur die Briefe Gruters (mit stets wechselnden hebe- und respektvollen Anreden) gedruckt sind; vgl. REIFFERSCHEID, Briefe (s. Anm. 38), passim. Auf den Weggang Lingelsheims reagierte Gruter in einem Brief vom 26. Dezember 1621 aus Tübingen: Er habe erst vor wenigen Tagen erfahren „iamdudum esse, quod cesseris Heidelberga. Equidem sicuti tranquillitati tuae gratulor, ita non possum non tristari res eo loci positas, ut nihil amplius ibi prodesse possis prudentia tua"; ebd., 119. 87

89

REIFFERSCHEID, B r i e f e (s. A n m . 3 8 ) , 1 3 3 (an L i n g e l s h e i m , 1 1 . A u g . 1 6 2 2 ) .

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fangreiche Sammlung von Sentenzen, nach Stichworten geordnet, aber ohne Quellennachweise, zusammen: Bibliotheca exulum seu Enchiridion divinae humanaeque prudentiae, die 1624 gedruckt wurde und deren Vorrede „ad lectorem exulantem" gerichtet war90. Den entscheidenden Schlag für die geistig-materielle Grundlage des Heidelberger Späthumanismus bedeutete 1623 der Abtransport der Bibliotheca Palatina mit über 3.500 Handschriften und 6.000 Druckwerken. Friedrich V. hatte zwar bereits im Oktober 1621 aus den Haag den Abtransport von Archiv und Bibliothek, insbesondere der Manuskripte, verlangt91; geschehen war gleichwohl nichts. Die Universität existierte faktisch seit 1622 nicht mehr, 1626 wurde sie offiziell geschlossen92. Gruters Haus in der Sandgasse war, wie er Zincgref 1623 wissen Heß, „violentia Grabatorum Cosacorumve" verwüstet worden93. Erst 1625 wagte er sich zu einem Besuch nach Heidelberg, beklagte in seinem Bericht aber nur das Schicksal seiner Bibliothek, ohne ein einziges Wort über die Zustände in der Stadt zu verlieren — eine für den Gelehrten bezeichnende Teilausblendung der Wirklichkeit. Kurz nach seiner Rückkehr aus Bretten starb Gruter am 20. September 1627 auf dem Bierhelder Hof, einem Landbesitz seines Schwiegersohns Smend oberhalb Heidelbergs, wurde aber in der Peterskirche als der traditionellen Grablege der Heidelberger Professoren be-

90 Die Gestaltung des Titelblatts des in Frankfurt a. M. gedruckten Werkes ist bezeichnend: eine aufgesockelte Büste mit der Inschrift „Scientia immutabilis" vor dem Hintergrund einer brennenden Stadt. Der Band umfaßt 892 Seiten; Zitat: Bl. )( 2' (aus der Widmung an die württembergischen Herzöge). In der Vorrede „ad lectorem exulantem" vergleicht sich Gruter mit dem schiffbrüchigen Odysseus und dem in Bettlergewand gehüllten Telephos. „Ex quo me subduxi ferialibus illis Palatinatus flammis, in Suevia latui, lector. Verum quod et ibidem subinde illuni nocte per aerem oculis meis incurreret lugubris incendii splendor: expertus pridem, quantum ustio doleat" (Bl. )( 7R); vgl. KÜHLMANN, Humanisten (wie Anm. 8), Bd. 1/2, 1041.1048. 91 Vgl. WINKELMANN, Urkundenbuch (s. Anm. 87), Bd. 2, Nr. 1538; Bibl. Pal. 1, 460. 92 Zum Schicksal der Universität vgl. VOLKER PRESS, Kurfürst Maximilian I. von Bayern, die Jesuiten und die Universität Heidelberg im Dreißigjährigen Krieg 1622-1649, in: WILHELM DOERR u.a. (Hg.), Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg 1386-1986, Berlin/Heidelberg usw. 1985, Bd. 1, 314-370; WOLGAST, Universität, 52-55. 93 REIFFERSCHEID, Briefe (s. Anm. 38), 156. Über Gruters Bibliothek vgl. JÖRG ULRICH FECHNER, Das Schicksal einer Heidelberger Professorenbibliothek - Jan Gruters Sammlung und ihr Verbleib, in: Heidelberger Jahrbücher 11 (1967), 98-117. - Im Gegensatz zu Gruter fand Langelsheim im Juli 1633 bei seiner Rückkehr nach Heidelberg sein Haus wohlbehalten vor und befand: „neque tarn deformata urbs, quam mihi persuaserant sermones nostrorum";

v g l . REIFFERSCHEID, B r i e f e (s. A n m . 3 8 ) , 5 1 5 .

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stattet „permissu patrum Jesuitarum non sine honore exequiarum ac publico luctu"94. Lingelsheim kehrte nach der Vertreibung der bayerischen Besatzung durch schwedische Truppen im Juni 1633 nach Heidelberg zurück und entfaltete noch einmal Aktivitäten im alten Geist. In einem Lagebericht informierte er den Baseler Theologen Johann Buxdorf im Oktober 1633: „Iam de restituenda quoque Academia hic agere incipimus"95. Die verheißungsvollen Anfänge zerschlugen sich aber nach der schwedischen Niederlage bei Nördlingen. Im Herbst 1634 mußte Lingelsheim vor der Rückeroberung Heidelbergs durch bayerische Truppen im November 1634 (außer dem Schloß, das sich bis zum Frühsommer 1635 hielt) erneut flüchten. Mit dem Administrator Pfalzgraf Ludwig Philipp und der Regierung zog er sich nach Frankenthal zurück; diese Festung kapitulierte erst im Oktober 1635 vor den Spaniern. Lingelsheim starb in Frankenthal im Juli/August 1636 im Alter von nahezu 80 Jahren vielleicht an den Folgen einer Inhaftierung durch die Besatzungsmacht.96 Heinrich Alting, der Erzieher der Kinder des Winterkönigs im Exil gewesen war und seit 1627 als Professor in Groningen lehrte, machte sich auf die Aufforderung des Administrators hin 1634 auf die Rückreise nach Heidelberg, kehrte aber unterwegs wieder um, als er von der schwedischen Niederlage bei Nördlingen erfuhr. Von den jüngeren Humanisten hatte Zincgref Heidelberg 1622 mit der abziehenden Schloßbesatzung verlassen; unter der schwedischen Herrschaft in der Pfalz wurde er vorübergehend Landschreiber in Kreuznach und Alzey, mußte dann erneut flüchten und starb im Folgejahr an der Pest. Der Verlust der Pfalz und Heidelbergs als Vorposten reformierten Bekenntnisses und humanistischer Gelehrsamkeit löste unter den Glaubensgenossen auch außerhalb des Reiches Bestürzung aus. 1624 trug David Clericus bei einer Feierlichkeit der Genfer Akademie ein umfangreiches Gedicht „Lacrumae Haidelbergenses" vor. Im Zusammenhang mit der Universität nannte der Theologe und Orientalist, der in Heidelberg bei Gruter studiert hatte, seinen Lehrer sowie — unter anderen — Scultetus, Gothofredus, Smetius und 94 AaO., 817 (M. Bernegget aus Straßburg an Friedrich Monau in Krakau, 10. November 1627). Der Information ging die Klage voran: Die Musen verlassen Deutschland, „quae suum etiam nuper antistitem primarium, Gruterum heu nostrum, amiserunt". 95 Zit. nach WOLGAST, Universität, 54. - Noch im Juli 1633 hatte Lingelsheim nach Straßburg berichtet: „De academia restabilienda nulla adhuc cogitatio, adeo egestas publica premit"; vgl. REIFFERSCHEID, Briefe (s. Anm. 38), 515. Vgl. auch aaO., 516. 96 Zur Lagebeurteilung nach dem Verlassen Heidelbergs durch Lingelsheim vgl. aaO., 541 f. (an M. Bemegger, 23. November 1634 aus Frankenthal). Am 26. Juli 1636 berichtete er aus Frankenthal über seine Lebensumstände nach Straßburg (zugleich das letzte erhaltene Lebenszeichen): „Miseriae nostrae diuturnae, ad quas accessit pro cumulo carcer quinquaginta dierum et ex illo squalore contractus morbus gravissimus impediverunt omnem scriptionem. Iam respirare datum est aliquantulum, sed tenemur adhuc inclusi septo huius urbis." Er habe alles verloren und sei auf „proventus ex aerario vestro" angewiesen.

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klagte: „Perditur, heu! statio Christi benefida carinae. .. .Heu periit variis Academia culta Camoenis." 97 Die personelle, aber auch die geistige Kontinuität war mit der Eroberung Heidelbergs 1622 abgebrochen — trotz des kurzen Interludiums 1633/34. Als Karl Ludwig 1648 die Pfalz zurückerhielt und 1652 die Universität wiedereröffnete, mußte er einen völligen Neuanfang machen.

97 HERMANN WIEGAND, Lacrumae Haidelbergenses. Eine neulateinische epische Klage über die Eroberung Heidelbergs durch Tilly 1622, in: DERS., Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz, Ubstadt-Weiher 2000, 137, ZI. 237. 262 [Camoenae = die Musen],

Heidelberg und „der Westen" um 1600* Cornel A. Zwierlein Wenn man über das Thema „Heidelberg und der Westen" bzw. über „westliche Einflüsse" auf das Heidelberger Geistesleben um 1600 zu reflektieren hat und nicht sofort zur notwendigen Detailforschung der Zusammenstellung französischer, englischer und niederländischer, personeller und geistiger Transfers nach und von Heidelberg im Rahmen des „transnationalen Calvinismus" übergeht1, sondern nach der historiographischen Großdebatte fragt, in die sich eine solche Thematik einfügen müßte, so stößt man unweigerlich * Ich danke Michael Stolleis fur eine eingehende Kritik, die aus technischen Gründen leider nur in Ansätzen Berücksichtigung finden konnte. Folgende Abkürzungen werden benutzt: GLAKa = Generallandesarchiv Karlsruhe; HStAMü = Bayerisches Hauptstaatsarchiv München; Kbl. = Kasten blau; BSBMü — Bayerische Staatsbibliothek München; clm = codex latinus monacensis; cgm = codex germanicus monacensis; BibAmbrMi = Biblioteca Ambrosiana, Mailand; BNF = Bibliothèque Nationale de France; UAHeid = Universitätsarchiv Heidelberg; UBHeid = Universitätsbibliothek Heidelberg; CPG = Codex palatinus germanicus (cpg = codex); ASTo = Archivio di Stato Torino; ASV = Archivio segreto Vaticano; BAV = Bibliotheca Apostolica Vaticana; MHVP = Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz; Fth = Frankenthal einst und jetzt; Ich danke Ruth Kohlndorfer-Fries für die Überlassung ihrer für die Thematik höchst hilfreichen Dissertation (vgl. unten Anm. 49). 1 Die „Intemationalität" des Calvinismus ist eines seiner herausstechendsten Merkmale und wird in allen Überblicksdarstellungen betont, vgl. nur MENNA PRESTWICH, International Calvinism 1541-1715, Oxford 1985; W. FRED GRAHAM (Hg.), Later Calvinism. International perspectives, Kirksville 1994; GRAEME MURDOCK, Calvinism on the frontier 1600-1660. International Calvinism and the Reformed Church in Hungary and Transylvania, Oxford 2000; PHILIP BENEDICT, Christ's churches purely reformed. A Social History of Calvinism, New Haven/London 2002, 109-291; GRAEME MURDOCK, Beyond Calvin. The Intellectual, Political and Cultural World of Europe's Reformed Churches, Houndmills 2004, 31-53. Vgl. aus dem deutschen Sprachraum immer wieder dezidiert im Hinblick auf „Außenpolitik": HEINZ SCHILLING, Formung und Gestalt des internationalen Systems, in: PETER KRÜGER (Hg.), Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit, Marburg 1991, 19-46; HEINZ SCHILLING, Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühen Neuzeit, in: HANS R. GUGGISBERG/GOTTFRIED G. KRODEL (Hg.), Die Reformation in Deutschland und Europa. Interpretationen und Debatten, Gütersloh 1993, 591-613; DERS., Die Konfessionalisierung und die Entstehung eines internationalen Systems in Europa, in: IRENE DINGEL u.a. (Hg.), Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag, Gütersloh 2002, 127-144; HOLGER TH. GRAF, „International Calvinism revisited" oder europäische Transferleistungen im konfessionellen Zeitalter, in: THOMAS FUCHS/SVEN TRAKULHUN (Hg.), Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturansfer in Europa 1500-1850, Berlin 2003,137-158.

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CornelA. Zwierlein

auf die Debatte über den deutschen „Sonderweg". Sie wurde jüngst vor allem in der Neuesten Geschichte wiederbelebt mit den Diskussionen, die sich an Heinrich August Winklers These von der glücklichen „Ankunft" der Deutschen im Westen 1989/1990 sowie an die der Kulturtransferheuristik nahestehenden Untersuchungen zur „Westernisierung" Doering-Manteuffels anschlössen2. Es ist bezeichnend, daß im Hinleitungskapitel Winklers, das eine geraffte historische Skizze von der Reformation bis zum Ende des Alten Reiches bietet, die heuristische Ausgangsposition für den schwierigen (Sonder?)Weg Deutschlands in der europäischen Geschichte - welcher erst mit der Wiedervereinigung zu einer „Ankunft" geführt habe — mit einer doch recht einseitigen Konzentration auf die lutherische Konfessionskultur Mittel- und Ostdeutschlands gelegt wird3: Grob resümiert findet sich hier deutlich das Echo der negativen Sonderwegsthese als „master narrative" der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung, wonach sich Deutschland mit Luther aus dem vermeintlichen Gleichschritt der anderen westlichen Länder in „die Moderne" verabschiedet habe4. Diese, schon bei den differenten Konfessionskulturen des 16. Jahrhunderts anknüpfende These war in der Zeit vor 1945 bekanntlich gerade umgekehrt als ein „deutsches" Ringen mit der Bedrohung allzu starker westlicher „Überfremdung" gefaßt5. Deutschlands „Weg" war hier positiv ein besonderer, solange und soweit er gerade vermochte, westlichen Einflüssen standzuhalten. Obwohl eine methodische Kritik an der Sonderwegsthese ganz unvermutet gerade aus der englischsprachigen Forschung Ende der 1970er kam und man heute im Zusammenhang des Globalisierungsparadigmas oft überhaupt nur „Sonderwege" aller westlichen (und dann auch mancher nicht-westlicher) Nationen in die Moderne erkennen zu können glaubt6, hatte gerade auch für die hier im Zentrum des Interesses stehen2 HEINRICH AUGUST WLNKLER, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000; ANSELM DOERINGMANTEUFFEL, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; WINFRIED SCHULZE, Vom „Sonderweg" bis zur „Ankunft im Westen". Deutschlands Stellung in Europa, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53,4 (2002), 226-240. 3 WINKLER, Der lange Weg (s. Anm. 2), Bd. 1, 5-39, 16ff.: „Deutschland wurde durch die Reformation .östlicher'". 4 THOMAS WELSKOPP, Identität „ex negativo". Der „deutsche Sonderweg" als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: KONRAD H. JARAUSCH (Hg.), Die historische Meistererzählung: Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002,109-139. 5 DAGMAR PÖPPING, Abendland - christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900-1945, Berlin 2002. 6 Zu Recht daher der Einspruch von HEINZ SCHILLING, Wider den Mythos vom Sonderweg - die Bedingungen des deutschen Weges in die Neuzeit, in: PAUL-JOACHIM HEINIG (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw,

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de „Kurpfalz um 1600" Klaus Garber kontrafaktisch gefragt, ob Deutschland vielleicht seine „Entfremdung [...] vom Westen" und die „jahrhundertelange [...] Verspätung" der „nationalen Konsolidierung" vermieden und stattdessen den „Gleichschritt mit den westlichen Nachbarn" gesichert hätte, wäre „der Calvinismus" in Deutschland nicht in der Schlacht am Weißen Berg7 gestoppt oder nachhaltig zurückgedrängt worden8. Wenn Garbers Text dem negativen Nachkriegsstrang der Sonderwegsthese zugehört, so kann man im Hinblick auf die Kurpfalz als einen einflußreichen Vertreter für den positiven Strang den derzeit wieder als Referenzautor rezipierten Erlanger „Kriegstheologen" und Kirchenhistoriker Werner Eiert anführen9: Im dritten Kapitel „Volkstum Berlin 2000, 699-714, der allerdings nur auf S. 702 ausgedrückt wird, während auf S. 704 und S. 714 doch wieder die starke Besonderheit sowie die Gültigkeit von Plessners Diktum von der „verspäteten Nation" für Deutschland betont wird; analytisch trennscharf fasst ARNDT BAUERKÄMPFER, Geschichtsschreibung als Projektion: Die Revision der „Whig Interpretation of History" und die Kritik am Paradigma vom „deutschen Sonderweg" seit den 1970er Jahren, in: STEFAN BERGER (Hg.): Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutschbritischen kulturellen Austausch 1750-2000, Göttingen 2003, 383-438 die Diskussionsentwicklung zusammen (insbes. S. 405^-31 zum Sonderwegsparadigma und dem Einfluss der Kritik Blackbourns und Eleys). Das Problem liegt methodisch letztlich in einer Option für oder gegen die makrosoziologisch inspirierte Bildung eines Idealtyps „modemer (Nationalstaat" zu Zwecken bestimmter Vergleichsoperationen. In der Soziologie gerät gerade diese Typenbildung seit längerem selbst in die Kritik, vgl. nur EDGAR GRANDE: Globalisierung und die Zukunft des Nationalstaats, in: ULRICH BECK/WOLFGANG BONß (Hg.), D i e M o d e r n i s i e r u n g d e r M o d e r n e ,

Frankfurt/M 2001, S. 261-275; Shmuel N. Eisenstadt: Multiple modemities, in: Daedalus 129 (2000), 1-29. 7 Vgl. OLIVIER CHALINE, La bataille de la Montagne blanche (8 novembre 1620). Un mystique chez les guerriers, Paris 1999 hat eine methodisch höchst interessante Studie zu dieser Schlacht verfasse neben der politischen Ereignis- und Militärgeschichte will er insbesondere die mentale Welt rekonstruieren, in der sich die Teilnehmer und Beobachter der Schlacht sowie diejenigen, die später in Wort und Bild sinnstiftend an sie erinnerten, befanden. Abgesehen davon, dass zuweilen die Textverknüpfungen und Vergleiche vielleicht zu weit geschlagen bzw. zu singulär sind, um insbesondere eine durchgängig präsente heilsgeschichtliche (apokalyptische) Einordnung durch die Zeitgenossen belegen zu können, ist die Investigation des lieu de mémoire sehr stark auf den katholischen Bereich ausgerichtet. Dies ist der Intention geschuldet, mit der Arbeit das national-tschechische Paradigma der Schlachtinterpretation zu durchbrechen, nach der die ursprünglich protestantischen Tschechen hier vom katholisch-deutschen Usurpator unterdrückt worden wären; für die Pfälzer und die protestantische Erinnerungsgeschichte wären die Akzente trotzdem anders zu setzen; vgl. weiter JOACHIM BAHLCKE, Wird „Behemb ein Hollendisch goubemament"? Das böhmisch-pfälzische Staatsgründungsexperiment in europäischer Perspektive, in: PETER WOLF u.a. (Hg.), Der Winterkönig. Friedrich V. Der letzte Kurfürst aus der Oberen Pfalz. Amberg - Heidelberg - Prag - Den Haag, Ausstellungskatalog, Augsburg 2003, 94-100. 8 KLAUS GARBER, Der deutsche Sonderweg. Gedanken zu einer calvinistischen Alternative u m 1600, in: FRANZ NORBERT MENNEMEIER/CONRAD WLEDEMANN (Hg.), D e u t s c h e L i t e r a t u r

in der Weltliteratur, Tübingen 1986,165-172. 9 Zum historischen Œuvre Elerts vgl. nun maßgeblich THOMAS KAUFMANN, Wemer Eiert als K i r c h e n h i s t o r i k e r , in: Z T h K

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(1996),

1 9 3 - 2 4 2 ; BERNDT HAMM, W e r n e r E i e r t

als

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und Völker" des zweiten Bands seiner Morphologie des *Luthertums geht es dem von Spengler (und von noch späteren völkischen Konzepten) stark beeinflußten Eiert darum zu zeigen, daß das Luthertum als Konfession historisch der beste Garant für die (positiv) verstandenen Etappen des deutschen Sonderwegs gewesen war. Ausgehend von der normativ-systematischen „Erkenntnis", daß „die Gebundenheit des einzelnen an sein Volk, der er biologisch nicht entrinnen kann", nicht nur ein unbeachtliches Faktum, sondern eben, als ein Kernelement von Gottes Schöpfungsordnung, auch ein ethisches Gebot sei, das Obrigkeiten umzusetzen hätten, wird sein Durchgang durch die Geschichte des Luthertums in den verschiedenen Völkern zu einer Subsumtion unter die Frage, ob hier - in Deutschland, Ungarn, Siebenbürgen, bei den slawischen und baltischen Völkern, in Finnland, den nordischen Völkern, in Nordamerika — die jeweilige Volk-Konfession-Relation, insoweit sie eine Volk-Luthertum-Relation war, zu einer (positiv gewerteten) besonders reinen Volkstumserhaltung beigetragen habe10. Für das Deutschland des 16. und 17. Jahrhunderts erscheint folglich die Kurpfalz gerade als negatives Gegenbeispiel dieser historischen Bilanzierung: Sie ist einer der Motoren für die „gewaltige Überfremdung Deutschlands [...] hauptsächlich vom Westen her, die in Sprache, Mode, Sitte, aber auch auf religiösem Gebiet, in der Philosophie, in Weltanschauung und Lebensauffassung zutage tritt" und die „eine trosdose Mißachtung, Erschlaffung und Verwilderung des eigenen Volkstums" zeige. Es gehe nicht an, „die Widerstandsschwäche gegenüber eindringendem undeutschen Wesen auf Rechnung der ,lutherischen Passivität' zu setzen", denn „keine [Konfession] von allen [hatte] ein so geringes Interesse an der Blickrichtung nach Westen wie die lutherische." „Bei der reformierten aber war es umgekehrt. Bereits Kurfürst Friedrich III., der die Pfalz calvioisierte, schreibt seine Briefe französisch, sein Sohn Johann Kasimir sogar sein Tagebuch. Die Tausende von deutschen Edelleuten, die er im Dienste der kalvinischen KirKriegstheologe. Zugleich ein Beitrag zur Diskussion „Luthertum und Nationalsozialismus", in: Kirchliche Zeitgeschichte 11,1 (1998), 206-254; THOMAS KAUFMANN, Gegenwartsdeutung und Geschichtsrekonstruktion im kirchenhistorischen Werk Werner Elerts, in: LUISE SCHORNSCHÜTTE (Hg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999, 55—85 - es ist allerdings irreführend, wenn Kaufmann (aaO., 85 Anm. 117) Hamms Arbeit, die die legitimatorische Brisanz von Elerts Theologie sehr deutlich herausarbeitet, als „v.a. auf einer bisher nicht gedruckten Predigt basierend" bagatellisiert (meine Hervorhebung). Hingegen erscheint mir Hamms Hinweis zur Vorsicht gegenüber einer raschen Anlehnung an Elerts kirchenhistorische Arbeiten sehr wichtig, der deutlich macht, wie die von Kaufmann positiv hervorgehobene Elert'sche „Geschichtsintuition [...] aufs engste mit dem Ansatz seiner systematischen Theologie, einer massiv ideologisierten Geschichtsdeutung und seiner Art politischer Zeitdiagnose verquickt ist" (HAMM, Eiert, 211 Anm. 10). 10 Für diese zentrale Konzeption des biologisch-rassischen Blutzusammenhangs als Schöpfungsordnung, die „ethisch verpflichtende Gesetzeskraft" habe, vgl. HAMM, Eiert (s. Anm. 9), 218-224.

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chenpolitik auf seinen Heerzügen nach Frankreich führte, brachten nicht nur wie der Burggraf Fabian zu Dohna die reformierte Lehre in die Heimat, sondern verbreiteten auch die Anschauung, daß sie die vornehmere sei - denn sie hatten sie im Gewände der französischen Zivilisation kennen gelernt. Die Universität Heidelberg ist die erste deutsche, die sich - bei der Begrüßung der jungen Gattin Friedrichs V. - französischer Phrasen bedient. Wie mit diesem Paare am Pfälzer Hof auch die welsche Genußsucht und Prunkhebe einzieht und nachmals das europäische Unglück beginnt, ist bekannt."

Demgegenüber gelte für die lutherischen Höfe, insbesondere für das albertinische Sachsen der Zeit, „von allem das Gegenteil. Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts ist hier das Französische unbekannt. Der Hof behielt wenigstens bis in den Anfang dieses Jahrhunderts seine alte Einfachheit und blieb dafür auch mit dem Volk auf das engste verbunden." 11

Wenn hier die Gegenüberstellung Kurpfalz/Sachsen, reformiert/lutherisch in den Schemata deutsche Einfachheit/welsche Prunksucht mit deutlichem Anklang an eine Diktion, die von der antifranzösischen Polemik der deutschen Sturm-und-Drang-Dichter bis zu der nationalsozialistischen Konzeption vom Rassenkampf reicht, der eigentlich hinter dem „Kampf" der Reformation gegen die Gegenreformation gestanden habe12, und wenn Elerts Geschichtswerk in vielerlei Hinsicht gerade als ein Gegenmodell zur von Weber und Troeltsch geprägten Diskussion um die „Modernität" der Protestantismen gedacht war, so wird deutlich, mit welchen historiographischen Hypotheken auch die gegenwärtige Geschichtsforschung umzugehen hat, wenn sie, in einer behutsamen Abwendung von einem Aspekt des Konfessionalisie rungsparadigmas, wieder stärker nach den propria und nicht den strukturellen Äquivalenzen der „Konfessionskulturen" fragt. Denn die Frage nach der „Westausrichtung" des Reformiertentums ist sicherlich als Frage nach einem spezifischen Charakteristikum einer Konfessionskultur zu verstehen. In einer ersten Phase der Konfessionskultur-Forschungen scheint zwar teilweise unbedacht gerade die Heuristik des „strukturell Ähnlichen" von der funktionalprozessualen Ebene des Konfessionalisierungsparadigmas auf die Ebene der Analyse der kulturellen Ausformungen und Diskurse übertragen worden zu sein, etwa wenn der Begriff der „lutherischen Konfessionskultur" geradezu alle Kulturerscheinungen religiös definierter Gruppen von den Wiedertäufern bis zum orthodoxen Luthertum abdecken soll13; oder wenn die protestantischen 11 WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums, 2 Bde., 2. verb. Aufl., München 1952 (Erstausg. 1931/1932, weitere Auflagen 1958. 1965), Bd. 2,124f. 139. 141. 12 Wie sie etwa in der Abteilung I 113 des SD-Hauptamtes und dann in der Weltanschauungsabteilung VII des RSHA unter Franz Alfred Six und Albrecht Hartl sowie im Amt Rosenberg propagiert wurde, vgl. CORNEL ZWIERLEIN, Les SS comme ordre „teutonique" et l'ordre ennemi des jésuites: la gestion et la „mise en bataille" des mémoires du Moyen Âge et du XVIème siècle dans le monde Nazi, in: Journal de la Renaissance [Tours] 4 (2006) (im Druck). 13 THOMAS KAUFMANN, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998, 144f. Dazu CHRISTOPH

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Widerstandsrechtslegitimationen als „eigentlich" alle direkt auf die lutherische Diskussion 1529—1550 zurückgehend beschrieben werden, um insofern die Mythen vom passiven Luthertum und vom aktiven Calvinismus zu dekonstruieren14: An einem solchen Punkt ist das merkwürdige Ergebnis, daß STROHM, Methodologe in Discussion of „Calvin and Calvinism, in: HERMAN J. SELDERHUIS (Hg.), Calvinus praeceptor ecclesiae. Papers of the International Congress on Calvin Research, Princeton, August 20-24, 2002, Genf 2004, 64-105, 69 Anm. 14. 14 Dies ist, neben der freilich gelungenen Herausarbeitung eines allgemeinen naturrechtlichen Notwehrbegriffs seit Melanchthon, die Tendenz insbes. der Veröffentlichungen von Robert v. Friedeburg. Vgl. ROBERT v. FRIEDEBURG, Welche Wegscheide in die Neuzeit? Widerstandsrecht, „Gemeiner Mann" und konfessioneller Landespatriotismus zwischen „Münster" und „Magdeburg", in: HZ 270 (2000), 561-616; DERS., Self-defence and religious strife in early modern Europe, Aldershot, Ashgate 2002. Fast treffender als der sehr neutrale Haupttext faßt der Titel der Rezension von ANGELA DE BENEDICTS, lus resistendi - come in Germania cosi anche in Inghilterra, in: Rechtsgeschichte 2 (2003), 191-193 diese Tendenz zusammen. Einen Versuch, gerade die Differenz der Argumentationen herauszustreichen, stellt CORNEL ZWIERLEIN, La loi de Dieu et l'obligation à la défense de Florence à Magdebourg 14941550, in: PAUL-ALEXIS MELLET (Hg.), „Et de sa bouche sortait un glaive" - Les monarchomaques au XVIe siècle, Genf 2006, 31-75 dar. Am symbolträchtigsten wirkt hier die immer wiederholte These, daß die Widerstandsrechtskonzeption Bezas von der Magdeburger „Confessio" (1550) abhänge. Sie geht auf den berühmten und, weil von einem CalvinismusForscher stammend, ganz unverdächtigen und insoweit kaum mehr kritisch überprüften Artikel von ROBERT M. KINGDON, The First Expression of Theodore Beza's Political Ideas, in: ARG 46 (1955), 88-98 zurück. Dieser Artikel fungiert - direkt oder schon über weitere Literatur vermittelt - in ungemein vielen Darstellungen der führenden Spezialisten als Beleg für eine Volte in der jeweiligen Narration, in der die Abhängigkeit der calvinistischen von lutherischen Widerstandsrechtskonzeptionen als Zeugnis für weitere Thesen, etwa die Unhaltbarkeit der Westlichkeit/Östlichkeit-Differenz von Calvinismus/Luthertum, behauptet wird, z.B.: „Wenn man bedenkt, dass die Weiterentwicklung des calvinistischen Widerstandsdenkens in Westeuropa aus lutherischen Quellen heraus erfolgte, dass der Weg zu den französischen Monarchomachen von Torgau über Magdeburg und London führte [...]" (SCHULZE, Vom Sonderweg [s. Anm. 2], 238). Genauso schon DERS., Zwingli, lutherisches Widerstandsdenken, monarchomachischer Widerstand, in: PETER BLICKLE u.a. (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985,199-216, 207-211. U.a. hiernach LUISE SCHORN-SCHUTTE, Ernst Troeltschs „Soziallehren" und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt, in: FRIEDRICH WILHELM GRAF/TRUTZ RENDTORFF (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, Gütersloh 1993, 133-151, 143145; V. FRIEDEBURG, Welche Wegscheide (s. Anm. 14), 565f.; SCHILLING, Wider den Mythos (s. Anm. 6), 710; WOLFGANG SOMMER, Obrigkeitskritik und die politische Funktion der Frömmigkeit im deutschen Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: ROBERT V. FRIEDEBURG (Hg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, Berlin 2001, 254-263, hier: 251f.; CHRISTOPH STROHM, Das Verhältnis von theologischen, politisch-philosophischen und juristischen Argumentationen in calvinistischen Abhandlungen zum Widerstandsrecht, in: ANGELA DE BENEDICTIS/KARL-HEINZ LINGENS (Hg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.-18. Jahrhundert), Frankfurt a.M. 2003, 141-174, 147; THOMAS KAUFMANN, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei" (1548-1551/1552), Tübingen 2003, 114 mit Anm. 328. 158 mit Anm. 58. 489f.; IRENE DINGEL, Der Beitrag von

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alle „eigentlich" das gleiche (lutherische) schreiben, während doch die Hinwendung zur Analyse diskursiv-kultureller Einheiten gerade nach Differenzen suchen müßte. Andererseits scheint einen die Differenzheuristik unbewußt fast zurück in eine (Konfessions-)Geschichtsrepräsentation zu treiben, die derjenigen doppel- oder dreistimmigen nahesteht, die aus dem „Krisenbewußtsein der Weimarer Republik" (Luise Schorn-Schütte) hervorging, als die einen den Calvinismus als demokratisch-westlich-modern beschrieben und hochschätzten, die anderen die „antimoderne oder eigen-moderne" Deutschland-Treue des Luthertums positiv herausstrichen und beiden der „Ultramontane" die Reformation als Beginn des Untergangs der abendländischen Einheit vorwarf. Dies kann wohl nicht der erwünschte Subtext und die unreflektierte Drift solcher methodischen Umstellungen sein. Wenn vor diesem Hintergrund im Folgenden nach dem Verhältnis Heidelbergs zum „Westen" um 1600 gefragt wird, so geschieht dies unter zwei Voraussetzungen. Erstens wird angenommen, daß die zwar sehr beachtlichen „West"-Ausrichtungen der Kurpfalz nicht bruchlos in eine Kontinuität mit dem gestellt werden können, was für die Historiker der Weimarer Republik der „deutsche Sonderweg" und damit verknüpft auch jeweils „der Westen" im Positiven wie im Negativen war: Die Nationalisierung der Gesellschaften und Kulturen ab dem späten 18. Jahrhundert läßt es doch als sehr plausibel erscheinen, dass die Aussagen solcher Historiker wie Troeltsch und Eiert zur „Westbindung" im 16./17. Jahrhundert letztlich ein Verhandeln und Ordnen von Semantiken als Arbeit eines spezifisch national gerahmten, dem „Westen" der 1920er und 1930er jeweils zu- oder abgewandten historischen Gedächtnisses waren15. Vielleicht kann hier eine etwas weiter vom Nationalen entfernt stehende Wahrnehmungsposition im Zeitalter der sogenannten Humanismus und Reformation zur kulturellen Identität Europas, in: HELMUT HESSE (Hg.), Beiträge zum modernen Europa, Stuttgart 2003, 47-62, 61; LUISE SCHORN-SCHUTTE, Glaube und weltliche Obrigkeit bei Luther und im Luthertum, in: MANFRED WALTHER (Hg.), Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004, 87-103, 92 mit Anm. 9. Daß aber Kingdons Ausgangsthese bei einer erneuten Analyse der Schrift Bezas De baeretiäs a äuili Magistratu puniendis Ubellus von 1554, auf die er sich bezieht, nicht haltbar ist, und dass die Quellen Bezas hier praktisch ausschließlich oberrheinischer Herkunft sind, für einen deutsch-schweizerischen „Widerstandsrechts-Transfer" daher allenfalls der von Beza zitierte Evangelien-Kommentar Bucers in Frage kommt, ist jetzt bei CORNEL ZwiERLEIN, L'importance de la Confessio de Magdebourg (1550) pour le calvinisme: un mythe historiographique?, in: BHR 67,1 (2005), 27-46 nachgewiesen. 15 Freilich ist damit hier ein weiteres Problem nur ausgegrenzt, nicht aber gelöst, das in der allzu starken Sattelzeit-Betonung liegt, die wiederum eine Bielefelder Hypothek für die aktuelle Historiographie darstellt. Wenn hier diese 1770/1800-Grenze heuristisch zur Abwehr eines zu direkten Linienzugs von 1600 an aufwärts herangezogen wird, so soll dies nicht ohne Hinweis darauf geschehen, daß umgekehrt die Historiographie zur Neuesten Geschichte diese SattelzeitGrenze, oft unreflektiert und implizit, als alles erfassende Wasserscheide behandelt, die eine Befassung mit den vorherigen Epochen geradezu als verzichtbar erscheinen läßt.

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„Globalisierung" anderes hervorheben. Insbesondere wird es also gerade um eine Konfession, eine Konfessionskultur und ihre Verbindung zum „Westen" gehen, nicht um die Verbindung eines Volkes. Zweitens klingt hiermit schon eine weitere Notwendigkeit an: den Begriff des „Westens" zu entontologisieren. Merkwürdigerweise ist ja nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Westblock-Ostblock-Schemas zwar „der Osten" kaum mehr eine Bezugsinstanz, wohl aber ist es „der Westen" geblieben. So wie heutige Politikwissenschaftler sich dann aber neu fragen müssen, was denn „der Westen" für eine semantische Füllung hat, wie er nach wie vor oder gar nun erst recht als globaler Akteur fungiert16, kann für unseren Gegenstand „der Westen" nicht einfach nur die Himmelsrichtung meinen, zumal es um Transfers, Beziehungen oder „Einflüsse" im Geistesleben gehen soll: Tatsächlich wird man jedenfalls auch italienisch-humanistische (und also südliche) Transfers als „westlich" berücksichtigen wollen. Schon damit ist aber angedeutet, daß es nicht um etwas ontologisch-materiell „Westliches", sondern um einen Typ kultureller Muster oder Wissensordnungsformen geht. Die Weber'sche Rede von der westlichen „Rationalität" ist vielleicht hierfür nicht so günstig, weil der asymmetrische Gegenbegriff der Irrationalität (bei Weber oft: des „Magischen") allzu nahe Hegt, und gerade wissen(schaft)sgeschichtlich eine solche Dichotomie als Ausgangsvorstellung nicht ergebnisoffen ist — zumal, weil mit einem dergestalten metasprachlichen Begriff der „Rationalität" die Komplexität der zeitgenössischen Diskussion um die objektsprachliche „ratio" unterschritten wird17. Wie zuletzt Markus Friedrich in einer wichtigen Studie zum lutherischen Geistesleben um 1600 anhand des Echos des Hofmannstreits zwischen Helmstedt, Magdeburg und Wittenberg gezeigt hat, zeichnete sich die lutherische „Orthodoxie" gerade in Frontstellung gegen Hofmanns radikale Vernunftkritik auch durch ein partiell positives Menschenbild und eine dementsprechend mögliche „gelehrte Theologie" aus, die trotz einer sündigen Menschennatur humanistischen Techniken, der „weltlichen" Ethik und der Philosophie einen Platz zuweisen konnte18. Zwar ist es signifikant und dann doch wohl eher für den lutherischen Bereich typisch, daß hier um 1600 die erkenntnistheoretischen Folgen einer radikalisierten Erbsündenlehre infrakonfessionell zu einem zentralen Problem wurden, während „der Calvinismus" dieses Problem so in seinen eigenen Reihen nicht verhandeln zu müssen schien. Aber diese Diskussion macht deutlich, daß die Anwort auf die 16 Vgl. die Rückbesinnung in der Klassikerexegese bei JACINTA O' HAGAN, Conceptualizing the West in International Relations. From Spengler to Said, Houndmills/Basingstoke 2002. 17 Vgl. zur Diskussion zuletzt den Sammelband FRIEDRICH W. GRAF/WOLFGANG SCHLUCHTER (Hg.), Asketischer Protestantismus und der Geist des Kapitalismus. Max Weber und Emst Troeltsch-Symposium 24.-26.3.04, Tübingen 2005. 18 MARKUS FRIEDRICH, Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600, Göttingen 2004, insbes. 253-288. 339-357.

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Frage nach der „Westbeziehung" des Heidelberger Reformiertentums nicht einfach auf eine These der Humanismus-Paßförmigkeit des Calvinismus gegenüber dem in diesem Punkt komplett resistenten Luthertum hinauslaufen kann, sondern daß es auf das „Wie" des Zueinanders der entsprechenden Denkrahmen ankommt. Auf diese Weise ist dann also die Titelbegrifflichkeit „Heidelberg und der Westen" nicht als Wiederaufnahme von Konzeptionen vom „deutschen Volk und dem Westen", sondern als Metonymie für die Frage nach dem Verhältnis der calvinistischen Konfessionskultur zu noch näher zu definierenden humanistischen Wahrnehmungsmodi und Wissensordnungen rekonstruiert. Daß gleichwohl gerade wegen und entlang dieses Verhältnisses der „ephemeren" kulturellen Einheiten konfessionelle/humanistische Denkrahmen durchaus auch ganz handfeste Phänomene im gesellschaftlichen und politischen (zumal außenpolitischen) Bereich die Heidelberger Welt um 1600 als recht differentes kulturelles Feld zu etwa den genannten Helmstedt, Wittenberg, Magdeburg, aber auch Tübingen/Stuttgart erscheinen lassen, gibt dem groben Orientierungsbegriff des „Westens" oder der „Westbindung" der Kurpfalz seine Berechtigung. Denn man kann zwar nicht eine simple Direktkausalität zwischen der seit Moriz Ritter sogenannten „calvinistischen Aggressionspolitik" und dem spezifischen Wie des Humanismus/CalvinismusVerhältnisses ziehen, aber daß zwischen 1555 und 1620, ja letztlich bis 1648, „lutherische" Reichsterritorien eine alles in allem doch kaum über ihre Territorialgrenzen ausgreifende Kriegspolitik betrieben, die Kurpfalz aber ständig in den französischen, niederländischen (und auch kölnischen) sowie dann den böhmischen „Religionskriegen" aktiv war, muß dem Allgemeinhistoriker jenseits der rein geistesgeschichtlichen Fragestellungen ein doch erklärungsbedürftiges Phänomen bleiben, das irgendwie jedenfalls auch mit den in der Kurpfalz valenten Denkrahmen zusammenhängen muß. In der folgenden Darstellung nähere ich mich der Frage nach den „Denkrahmen" daher, indem ich in einem ersten Schritt (I) mehr auf allgemein sozialhistorischer Ebene die evidenten Momente „westlicher" Prägung des Heidelberger Geisteslebens um 1600 in Erinnerung rufe. Im zweiten Schritt (II) will ich mich auf die Ebene der Analyse der Denkrahmen selbst begeben. Hierbei möchte ich mich bei der gebotenen Beschränkung auf Aspekte der Geschichtswahrnehmung und der Geschichtsmethodik der Heidelberger vergleichend im theologischen, juristischen und politiktheoretischen Bereich konzentrieren, um abschließend (III) über das Gemeinsame dieser Geschichtswahrnehmung im Hinblick auf die eben angerissenen, allgemeineren Fragen nach der „Westlichkeit" dieser Heidelberger Konzeptionen und ihrer Bedeutung in handlungsleitenden Zusammenhängen zu reflektieren.

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I. Migration, westorientierte Kommunikation A. Die Enge Heidelbergs und die Weite des Horizonts Eine der Besonderheiten Heidelbergs ist das enge Neben- und Miteinander von Hof und Universität in derselben kleinen Stadt. In kaum einem sonstigen bedeutenderen, weltlichen Flächenstaat des Reichs war dies im konfessionellen Zeitalter so, man denke an die auch bei Neugründungen stets bewußte Trennung von Residen2 und Temtorialuniversität in Württemberg (Stuttgart/Tübingen), Sachsen (Dresden/Wittenberg, auch Weimar/Jena), Bayern (München/Ingolstadt), Hessen (jedenfalls unter Philipp: Kassel/Marburg, Darmstadt/Gießen), Braunschweig-Wolfenbüttel (Helmstedt/Wolfenbüttel), Brandenburg-Cleve (Berlin/Duisburg), letztlich auch Köln (formal dem Kurfürsten unterstellt, dessen Residenz in Bonn lag), auch bei den kleinen gräflichen Gründungen der Nassauer (Dillenburg/Herborn) und der Grafen von Bentheim (Bentheim/Burgsteinfurt) und selbst bei der Reichsstadt Nürnberg und Altdorf war es so19. Was das konkret bedeutete, können wir aus den 1588 und 1600 wohl zu Verteidigungszwecken und zur Notspeichereinrichtung erstellten Einwohnerverzeichnissen ermessen, die uns mit außergewöhnlicher Genauigkeit die Anzahl der Einwohner und ihre Zusammensetzung ersehen lassen: Aus der Liste von 1588 ist auf 6300 Personen zu schließen, von denen rechtlich etwa 1100 dem Hof, 450 der Universität und der Rest von 4750 Einwohnern der eigentlichen Stadtobrigkeit, dem Schultheiß, unterstellt waren . Zieht man diejenigen ab, die eher untergeordnete Dienste verrichteten, 19 Für den Vergleich Württemberg/Kurpfalz hat dieses Faktum kürzlich DIETER MERTENS, Hofkultur in Heidelberg und Stuttgart um 1600, in: NOTKER HAMMERSTEIN/GERRIT WALTHER (Hg.), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, 65-83, 7 9 - 8 3 erwähnt. 20 Der Bearbeiter Karl Christ vermerkt allerdings, daß insbesondere bei der Gruppe von Studenten eine Vielzahl wohl bei der Verzeichniserstellung nicht erfaßt wurden, es hätten etwa 580 Studenten (+ etwa 200-250 sonstige Universitätsangehörige) zu dieser Zeit in Heidelberg leben müssen. ALBERT MAYS/KARL CHRIST, Einwohnerverzeichniß der Stadt Heidelberg vom Jahr 1588 (= Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der rheinischen Pfalz 1), Heidelberg 1890; das Einwohnerverzeichnis von 1600 ist weniger aufschlußreich, weil es nur ein Stadtviertel erfaßt. Wenn die Vermutung von MÄYS/CHRIST, aaO., 17 richtig ist, daß der Anlaß für die Erstellung des Einwohnerverzeichnisses die Notwendigkeit war, im Hinblick auf das Projekt der Einrichtung von Notspeichern einen genauen Überblick über die zu versorgende Einwohnerzahl zu erhalten, so ist das Verzeichnis wie der Notspeicherplan selbst vielleicht eine unmittelbare Reaktion auf die schlechte Versorgungslage wegen der Involviertheit der Kurpfalz in die französischen Religionskriege: Nach dem im Winter 1587/1588 aufgeriebenen Heerzug Fabian von Dohnas, der Heinach von Navarra gegen die Liga unterstützen sollte, wüteten die Guisischen Truppen in Mömpelgart (Montbeliard) und man hatte entsprechend auch in Heidelberg Angst vor einem Übergriff. Von Januar bis Juli 1588 hielt Johann Casimir zwei Fähnlein Reiter in Rüstung (Sold-Kosten: 10800 fl., vgl. HStAMü Kbl. 105/11), die die Umgegend schwer belasteten. Mit Bezugnahme auf das biblische Vorbild Josephs und des

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ist ersichtlich, wie klein eigentlich der Kreis derer war, die im weitesten Sinne mit dem Heidelberger höfisch-universitären Geistesleben zu tun hatten: mehr als 600—700 werden es nicht gewesen sein, die entweder aktiv oder auch eher passiv am geistigen Austausch im engeren Sinne beteiligt waren. Der wirksam nach außen wahrnehmbare Anteil war natürlich noch viel kleiner und ist im Wesentlichen mit der Gruppe der bekannten Professoren, Regierungsbeamten und Höflingen identisch, die in der Forschung schon einen Namen haben. Da wohnten dann — um nur einige Beispiele zu nennen — in der Haspelgasse der Kirchenrat Markus zum Lamb21, in der Kettengasse beim Physikprofessor Fortunatas Crellius der berühmte Hofdichter und Bibliothekar Paulus Melissus Schede nebst vier Studenten aus Nürnberg, Böhmen und Mähren, in der Judengasse Haus an Haus die Professoren und auch am Hof einund ausgehenden Ratgeber François du Jon, Ippolito de' Colli und Heinrich de Smet. Hofjunker, Hofgoldschmiede, Hofgärtner, Räte und andere am Hof Tätige wohnten oft mit adligen oder nicht adligen, hierbei sehr oft niederländischen, friesischen, französischen, wallonischen, polnischen, ungarischen Studenten und Exulanten in der Stadt zusammen22. Umgekehrt war aber jedenfalls die Fluktuation zwischen Hof, Studenten- und Gelehrten-Umfeld fließend. Wenn man etwa Zincgrefs Apophthegmata einmal als Quelle für Realia heranziehen darf, so ergibt sich dort der Eindruck eines steten Austausche zwischen den Kreisen; der Kurfürst selbst wäre in den Häusern seiner Räte und Gelehrten ein- und ausgegangen23. Diese räumlich und personell enge Begrenzung ist zu vergegenwärtigen, wenn es um die Verbindung des Heidelberger Geisteslebens mit dem Westen in europäischen Dimensionen geht: Wir reden dann von einer Gruppe von zwei bis drei Dutzend berühmter und wichtiger Autoren und Politiker, die alle Haus an Haus oder in der nächsten Gasse wohnten. Dies ist nicht unerheblich, denn vielleicht ist nur in einem so begrenzten Rahmen die Möglichkeit und zugleich fast der Zwang zu einer gewissen, auch geistigen Gruppenhomogenität gegeben. Daß die politi-

Simeon Makkabaeus (1 Makk 14,10) erließ Johann Casimir am 19.8.1588 eine Verordnung zur Errichtung solcher Notspeicher (GLAKa 43/297). Für die Studentenzahlberechnung vgl. MAYS/CHRIST, Einwohnerverzeichnis, 13f.; vgl. auch die Auswertung der Quelle bei FRANZ EULENBURG, Städtische Berufs- und Gewerbestatistik (Heidelbergs) im 16. Jahrhundert, in: ZGO 50 (1896), 81 ff., Gesamtauszählung aaO., 83. 21 Zu seinem Thesaurus picturarum vgl. FRIEDER HEPP, Religion und Herrschaft in der Kurpfalz um 1600. Aus der Sicht des Heidelberger Kirchenrats Dr. Marcus zum Lamm (1544— 1606), Heidelberg 1993. 22 MAYS/CHRIST, Einwohnerverzeichniß (s. Anm. 20), 112. 135. 159. 23 JULIUS WILHELM ZINCGREF, Der Teutschen Scharpffsinnige kluge Sprüch, Straßburg 1626. Da wird etwa von Kurfürst Friedrich IV. berichtet, der bei Hippolytus a Collibus einfach vorbeischauen will, um bei ihm etwas zu trinken (aaO., 204). Zu Zincgref zuletzt DIETER MERTENS, Julius Wilhelm Zincgref und das Problem des Späthumanismus, in: ZGO 150 (2002), 185-207.

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sehe Sprache der Kurpfalz bis in die 1570er immer einmal wieder stark theologisiert war, und daß später nicht selten europäisch geläufige, humanistischtacitistische Versatzstücke in politische Gutachten eindrangen, anders als in den Territorien, in denen noch stärker der „Reichsstil" politischer Kommunikation prägend war, kann zu einem Gutteil an dieser besonderen Hof-StadtUniversität-Vermischung liegen. B. Internationalität der Universität Eine kürzlich vorgenommene Matrikelauszählung belegt das zuvor vage Bekannte statistisch eindrucksvoll: Während ab der eindeutig reformierten Positionierung der Kurpfalz 1562/1563 bis zum Tod von Friedrich III. der Ausländeranteil bei knapp 42% lag, schrumpft er mit der Unterschrift Ludwigs unter die Konkordienformel 1579 schlagartig auf ein Zehntel, auf 4,1% zurück. Kaum setzt die Recalvinisierung unter Johann Casimir ein, schnellt der Ausländeranteil wieder in die Höhe und schwankt dann über 37 Jahre hin von 1584 bis 1620 zwischen 26 und 50 %, d.h. durchschnittlich 36,1%24. Der Zusammenhang von reformierter Konfession und Internationalität ist hier also eklatant deutlich. An der Tübinger Universität kamen nur etwa 2% zwischen 1570 und 1620 nicht aus dem Reich25. Heidelberg war in der genannten räumlich-personellen Konzentration mit dem neuen calvinistisch-exulantischen Profil 1560-1620 zu einer echten europäischen Spitzenuniversität avanciert. Für die geistig-kulturelle Ebene bedeutet dies, daß innerhalb der relevanten Führungsschicht die Exulanten, die Studenten von auswärts und ihre intellektuellen Prägungen keinerlei Minderheitsstatus hatten, sondern im Gegenteil tonangebend waren. Zugleich belegt dies, daß die Besonderheit der Kurpfalz doch sehr stark mit der Konfessionskultur zusammenhängt und vielleicht weniger mit den sonst andeutungsweise vorgebrachten „strukturellen" Gründen des weniger weit vorangeschrittenen Territorialstaatsbildungsprozesses26: Innerhalb kürzester Zeit konnte dieses „Besondere" sich markant in der Internationalität

24 ARMIN KOHNLE, Die Universität Heidelberg als Zentrum des reformierten Protestantismus im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: LÄZLÖ SZÖGI/MÄRTA FONT (Hg.), Die ungarische Universitätsbildung und Europa, Pees 2001, 141-161. Während Kohnle (aaO., 146) rein die Regierungszeiten als Trennlinie für den Zahlenvergleich nimmt, habe ich auf der Grundlage der Zahlentabellen (aaO., 151-153) eine Neuberechnung ausgehend von den genannten konfessionsgeschichtlich einschneidenden Daten 1562/1563 und 1579 vorgenommen, wodurch das Verhältnis noch viel eindeutiger wird. Unter „Ausländer" werden zurecht pragmatisch alle nicht aus dem Kerngebiet des Reiches stammenden Personen gefaßt. 25 CLAUS-PETER CLASEN, The Palatinate in European History 1555-1618, Oxford 1963, 37. 26 MAXIMILIAN LANZINNER, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564—1576), Göttingen 1993,196: „Denn die Kurpfalz war, verglichen mit Kursachsen, Bayern, Württemberg oder Hessen, ein rückständiges Fürstentum".

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der Heidelberger Führungselite manifestieren, ebenso rasch konnte es aber auch wieder (unter Ludwig) verschwinden. C. Innen- und außenpolitische Sonderentwicklungen in der Kurpfal% Daß es in der Kurpfalz zu keiner institutionellen Konsolidierung der Landstände kam, wird in der institutions- und staatsbildungshistorischen Forschung als ein Rückständigkeitsindiz für das kurpfälzische Territorium gedeutet, rückt die Kurpfalz aber andererseits merkwürdigerweise nahe an den frühen Absolutismus italienischer ehemaliger Stadtstaaten oder solcher heran, die ab einem gewissen Zeitpunkt die Landstände gerade aufgrund des Ausbaus zentralorientierter Herrschaft nicht mehr einberiefen (etwa das Großherzogtum der Toskana oder seit 1560 Piemont-Savoyen oder dann seit 1614 Frankreich)27. Zwar kann man argumentieren, dass dieses somit nicht rückständige, sondern gerade „westorientierte" Herrschaftsmuster im Kurpfälzer Fall nicht auf eine echte zentraladministrative Machtbasis aufbaute und insofern „übersteigert" war. Aber gerade dies scheint eben wieder eine Besonderheit der Kurpfalz zu sein, daß sie die vielleicht eher adäquaten Herrschaftspraktiken des Reichsherkommens nicht umsetzte, sondern sich implizit und vielleicht teilweise kontra faktisch eher an den neuzeitlichsten Staatstheoriekonzeptionen (ob nun in der jeweiligen Politik- und Argumentationssituation republikanisch oder „absolutistisch") orientierte, wie unten beispielhaft zu zeigen sein wird. Eine weitere für die Frage nach der Westorientierung relevante Folge der fehlenden Landstände war auch die internationale bzw. zumindest überregionale Zusammensetzung der politischen Führungselite, der Räte, in den jeweiligen Regierungsgremien: Landstände hätten sich hier mit der Indigenatforderung erfolgreicher gegen Nicht-Pfälzer gewehrt28. Der Status der Pfalzgrafen als Patrone einer weitgestreuten Adelsklientel im Kraichgau und auch in der Wetterau korrespondierte so ab etwa 1559 mit einer zunehmenden Selbstbeschreibung in den Regierungskreisen als „absolutisti27 EBERHARD GOTHEIN, D i e L a n d s t ä n d e d e r K u r p f a l z , in: Z G O 4 2 (1888), 1 - 7 6 ; PRESS, Calvinismus, 4 7 5 - 4 7 8 ; DERS., D i e L a n d s c h a f t d e r K u r p f a l z , in: PETER BLICKLE (Hg.), V o n d e r

Ständeversammlung zum demokratischen Parlament. Die Geschichte der Volksvertretungen in Baden-Württemberg, Stuttgart 1982, 62-71; DERS., Die Ritterschaft im Kraichgau zwischen R e i c h u n d T e r r i t o r i u m 1 5 0 0 - 1 6 2 3 , in: Z G O 122 (1974), 3 5 - 9 8 ; DERS., Steuern, K r e d i t u n d

Repräsentation. Zum Problem der Ständebildung ohne Adel, in: ZHF 2 (1975), 59-94. Vgl. zu Savoyen HELMUT G. KOENIGSBERGER, The Parliament of Piedmont during the Renaissance 1460-1560, in: DERS., Estates and Revolutions. Essays in Early Modern European History [Erstdruck 1952], Ithaca/London 1971, 19-79 und aktuell, hier allerdings gerade aus einer revisionistischen Gegenposition MATTHEW VESTER, Fiscal commissions, consensus and informal representation. Taxation in the Savoyard domains 1559-1580, in: Parliaments, Estates & Representation 20 (2000), 59-74; DERS., Territorial politics and Early Modern „Fiscal Policy". T a x a t i o n in S a v o y 1 5 5 9 - 1 5 8 0 , in: V i a t o r 3 2 (2001), 2 7 9 - 3 0 2 . 28

PRESS, Calvinismus, 309. 359. 392ff. und passim; DERS., Ritterschaft (s. Anm. 27).

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scher" Staat. Freilich waren gerade Friedrich IV. und Friedrich V. keine Persönlichkeiten, die einen „Absolutismus" nach der alten Definition der personengebundenen Herrschaft ausfüllen konnten29, man hat um 1600, allzumal bei den Perioden sehr junger oder noch unmündiger Herrscher, oft den Eindruck eher eines Regierungskollektivs, einer Ratsregierung. Das hindert aber nicht, daß diese zumindest in bestimmten Situationen konzeptionell, dem italienisch-westeuropäischen Modell von Regierungskunsttheorie entsprechend, von einer „absoluten", letzten Entscheidungsinstanz aus dachten und operierten, die mit dem Fürsten nicht in seiner menschlichen Persönlichkeit, sondern mit der regulativen Idee des Fürsten besetzt war (in anderen Situationen wird freilich gerade die ebenso „neuzeitlich-westliche" republikanische Konzeption aktiviert). Was aber jedenfalls sehr viel weniger präsent war in der Kurpfalz, war ein unhinterfragt und unkompliziert treues Verhältnis zur Reichsnormativität30. 29 Zur Absolutismusdiskussion nach Henshall vgl. nur WOLFGANG SCHMALE, The Future of „Absolutism" in Historiography: Recent Tendencies, in: Journal of Early Modern History 2 (1998), 192-202; HEINZ DUCHHARDT, Die Absolutismusdebatte - eine Antipolemik, in: HZ 275 (2002), 323-332; FANNY COSANDEY/ROBERT DESCIMON, L'absolutisme en France. Histoire et historiographie, Paris 2002, 189-297 sowie zu einem wahmehmungsgeschichtlichen Ansatz einer neuen Begriffsfullung von „Absolutismus" CORNEL ZWIERLEIN, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, Göttingen 2006, 13-548, insbes. 17-19. 193-208. 293-299. 30 VOLKER PRESS, Außerhalb des Religionsfriedens? Das reformierte Bekenntnis im Reich bis 1648, in: GÜNTHER VOGLER (Hg.): Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1994, 309-335; zum gesamten Komplex ANDREAS EDEL, Der Kaiser und Kurpfalz. Eine Studie zu den Grundelementen politischen Handelns bei Maximilian II. (1564—1576), Göttingen 1997. Vgl. zum hier entscheidenden Augsburger Reichstag 1566 zuletzt MAXIMILIAN LANZINNER/DLETMAR HEIL, Der Augsburger Reichstag 1566. Ergebnisse einer Edition, in: HZ 274 (2002), 603-632 mit weiterer Literatur. Jenseits der Reichstagsebene kommt hinzu, daß die Kurpfalz auch in die lokal-regionale Ebene von dem, was das „Reich" bedeutete und ausmachte, kaum eingebunden war: Der Kurpfälzer gehörte dem Kurrheinischen Reichskreis an, dessen Kreisoberst er formell auch war, der aber nur auf dem Papier bestand, weil zwischen den geistlichen Kurfürsten Mainz, Köln und Trier und der calvinistischen Pfalz kaum eine Zusammenarbeit in dieser Materie möglich war. Zögerlichste und natürlich gerade an der Frage der jeweils konträren Begünstigung von Hilfsheerdurchzügen für die hugenottische bzw. die königliche Partei 1562/1563 restlos zum Erliegen kommende Kommunikationen in HStAMü Kbl. 108/lf.; nur in interzirkularen Zusammenhängen entsandte man formal Reichskreisabgeordnete, so etwa 1569, vgl. HStAMü Kbl. 109/2, f. 2-293 - auch hier aber zirkulieren wieder im Hintergrund Augenzeugenberichte über ein vermeintlich vorliegendes, von 20 europäischen katholischen Fürsten besiegeltes Vertragswerk gegen die Kurpfalz, so daß diese in diesen Reichskommunikationen kaum willig ist (aaO., f. 299—306 [vom Januar 1567]). Kreistage fanden sonst so gut wie nicht statt, weshalb die Pfalz auch stets versuchte, in den Oberrheinischen Reichskreis, in dem die pfalztreuen Grafen stark vertreten waren, einzudringen. Dies gelang erst 1582, als Johann Casimir mit dem 1576 fdsch abgetrennten Erbteil Pfalz-Lautern aufgenommen wurde, und als man diesen Sitz auch nach der

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Als Motor und zugleich als Folge dieser Bedingungen wie freilich auch des herrschenden calvinistischen Denkrahmens sind natürlich als weitere Elemente von „Westbindung" die ständige, europäisch ausgreifende Bündnispolitik und insbesondere die Teilnahme an den westeuropäischen Religionskriegen mit Geldgaben und insbesondere mit Hilfszügen nach Frankreich (1562/1563 unter der Führung Hessens; 1567/1568; 1575/1576; 1587/1588; 1591 mit Sachsen) und in die Niederlande (1574, 1578) zu sehen31. Auch diese Kriegszüge banden die Kurpfalz ganz handfest in das westeuropäische Geschehen ein. Man rechnete mit ihr, man nahm sie als Faktor wahr, wie die Zeitungskommunikation der Zeit zeigt, und sie wurde so auf der gegnerischen wie auf der Mitstreiter-Seite zu einem Referenzpunkt. Regierungskonzeption, überregionale Prägung der Räte, mangelhafte Reichseinbindung und internationale Kriegspolitik sind also weitere Elemente, die Effekte oder Komponenten der Westorientierung der Kurpfalz sind.

Wiedervereinigung mit der Kurpfalz beibehielt. 1592/1593 wurde gerade dieser Kreis aber aufgrund der konfessionspolitischen Zuspitzung infolge des Straßburger Kapitelstreits als eine der ersten Reichsinstitutionen gespalten und zeitweise arbeitsunfähig, was auf die Situation von 1608/1609 vorauswies. 31 Vgl. nur PETER KRÜGER, Die Beziehungen der Rheinischen Pfalz zu Westeuropa 157682. Die auswärtigen Beziehungen des Pfalzgrafen Johann Casimir 1576-82, Diss. München 1964; ERKKII. KOURI, England and the Attempts to form a Protestant Alliance in the late 1560s. A Case study in European Diplomacy, Helsinki 1981; HOLGER TH. GRÄF, Konfession und internationales System: Die Außenpolitik Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter, Darmstadt 1993; BÉATRICE NICOLLIER-DE WECK, Hubert Languet (1518-1581). Un réseau politique international de Melanchthon à Guillaume d'Orange, Genf 1995; FRIEDRICH BEIDERBECK, Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände (Teil 1), in: Francia 23/2 (1996), 1-32; DERS., Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände (Teil 2), in: Francia 25/2 (1998), 1-32; NICOLE HANDSCHUHER, Das Reich in Europa. Die Außenbeziehungen von Kaiser und Reichsständen 1565-1570, Diss. [masch.] Passau 2001; ZwiERLEIN, Discorso (s. Anm. 29), 611-788.

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D. Die Fremdengemeinden Eine rege Landesgeschichte32 und einige größere Arbeiten 33 haben die Ansiedlung von wallonischen, flämischen und französischen Glaubensflüchtlingen 34 in der Kurpfalz, meist in einem der 24 zwischen 1551 und 1589 säkularisier-

32 Um den Anmerkungsapparat hier klein zu halten, erlaube ich mir, bei den folgenden heimat- und hugenottengeschichtlichen Arbeiten die jeweiligen Titel wegzulassen und nur nach Bezugsort geordnet die bibliographischen Angaben zu verzeichnen. Pfal^ allgemein'. FRIEDRICHWILHELM CUNO, Die pfalzischen reformirten Fremdengemeinen, Westheim/Pfalz 1886 (=

Pfalzisches Memorabile 14); ANDRÉ PAUL, in: Revue historique 157,1 (1928), 2 6 4 - 2 7 6 ; KARL WOLF, in: B P f K G 1 0 (1934), 7 5 - 7 9 ; HANS-WALTHER HERRMANN, in: G B D H V 2 0 , 1 (1988); ALFRED HANS KUBY, in: D H u g 3 7 (1973), 5 9 - 6 1 ; DLETHER RAFF, in: Heidelberger J a h r b ü c h e r 30 (1986), 1 0 5 - 1 2 2 ; Annweiler.

FRIEDRICH WILHELM CUNO, in: G B D H V 11,1 (1893), 3 - 1 4 ;

GEORG BIUNDO, in: B P f K G

12

(1936),

65-73

[wichtig: Kirchenbuchrestedition];

REGULA, in: Pfalzer Heimat 9 (1958), 1 7 5 - 1 7 7 ; Vrankenthal.

HANS

FRIEDRICH WILHELM CUNO, in:

G B D H V 111,2 (1894), 3 - 2 6 ; GEORG BIUNDO, in: B P f K G 2 9 (1962), 5 3 - 8 9 ; ROBERT VAN

ROOSBROEK, in: B P f K G 30 (1963), 2 - 2 8 ; Karl Huther, in: Fth 1976, 1 - 4 ; KARIN BRUNS/ANNA MAUS, in: Fth 1 9 7 7 , 4 4 - 4 6 ; GERHARD KALLER, in: B P f K G 4 7 (1980), 5 - 2 6 ; KARL CAALS, in: B P f K G 5 6 (1989), 7 - 1 6 ; Heidelberg.

FRIEDRICH WILHELM CUNO, in: G B D H V 11,4 (1893), 3 - 1 3 ;

JOS. A. RAIMAR, in: DHug 33 (1969), 119f.; Lambrecht.

THEODOR GÜMBEL, in: GBDHV 11,2

(1893), 3 - 2 2 ; HELLMUTH GENSICKE, in: B P f K G 2 0 (1953), 1 1 0 - 1 1 9 ; K . E. COLLOFONG, in:

B P f K G 39 (1972), 1 6 - 4 8 ; Otterberg. J. KNECHT, in: GBDHV 1,7 (1892), 3 - 2 1 ; KARL-HEINZ DEBUS, in: B P f K G 60 (1993), 1 0 7 - 1 1 8 ; Vfatyurg und Uxheim. HANS-WERNER HERRMANN, in:

BPfKG 47 (1980), 13-26; Schönau, vgl. zuletzt den Brief Rutgherus Spey an Théodore de Bèze, Schönau,

6.12.1583,

in:

THÉODORE

DE

BÈZE,

Correspondance,

hg.

v.

ALAIN

DUFOUR/BÉATRICE NICOLLIER/HERVÉ GENTON, Bd. 24, Genf 2002, Nr. 1641 mit den

dortigen Hinweisen. 33 A. VON DEN VELDEN (Hg.), Das Kirchenbuch der französischen reformierten Gemeinde zu Heidelberg 1569-1577 und Frankenthal in der Pfalz 1577-1596, Weimar 1908; ROBERT VAN ROOSBROECK, Emigranten. Nederlandse vluchtelingen in Duitsland 1550-1600, Leuven 1968; GERHARD KALLER, Wallonische und niederländische Exulantensiedlungen in der Pfalz im 16. Jahrhundert. Entstehung und Stadterhebung, in: Oberrheinische Studien 3 (1975), 327—351; ELISABETH BUTFERING, Niederländische Exulanten in Frankenthal, Neu-Hanau und Altona: Herkunftsgebiete, Migrationswege und Ansiedlungsorte, in: WILFRIED EHBRECHT/HEINZ SCHILLING (Hg.), Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regional- und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit, Köln/Wien

1983, 347^117; MARGRET SKALITZKY-WAGNER, Frankenthaler Goldschmiede des 16. und 17. Jahrhunderts, in: MHPV 81 (1983), 2 7 3 - 3 2 3 ; 82 (1984), 1 1 7 - 1 8 0 ; die wichtige Studie PHILIPPE

DENIS, Les églises d'Étrangers en Pays Rhénans (1538-1564), Paris 1984 erfaßt lediglich die Zeit vor dem Hauptstrom, beginnend mit den Religionskriegen; EDGAR J. HÜRKEY (Hg.), Kunst, Kommerz, Glaubenskampf: Frankenthal um 1600, Worms 1995; VOLKER CHRISTMANN (Hg.), 425 Jahre Stadt Frankenthal: Beiträge zur Stadtgeschichte, Frankenthal 2002. 34 Für einen Einblick in die methodisch stark ausdifferenzierte FrühneuzeitMigrationsforschung vgl. nur ALEXANDER SCHUNKA, Exulanten, Konvertiten, Arme und Fremde. Zuwanderer aus der Habsburgermonarchie in Kursachsen im 17. Jahrhundert, in: Frühneuzeit-Info 14 (2003), 66-78.

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ten Klöster35 - Frankenthal, Schönau, Otterberg, St. Lambrecht, Billigheim, Annweiler, Eußerthal - aspektreich erforscht. Um 1600 florierten diese Gemeinden; insbesondere Frankenthal erlebte bis 1620 einen Boom, so daß es zum Zeitpunkt der Katastrophe vom Weißen Berg im Hinblick auf die Bevölkerungszahl fast mit Heidelberg gleichgezogen hatte (ca. 4000-5000) 36 ; das dortige Goldschmiedehandwerk etwa erlebte exakt 1595—1615 seinen eindeutigen Höhepunkt37. Diese Exulantensiedlungen mit ihren deutsch-, flämischund französischsprachigen Gemeinden bildeten einen wichtigen Humus für das international ausgerichtete Geistesleben; nicht in dem Sinne, daß jeder wallonische Wollfärber aus Schönau oder jeder Goldschmied aus Frankenthal Anteil am intellektuellen Austausch auf höchstem Niveau genommen hätte. Aber gerade die Gemeinden waren doch auch spirituell-kommunikative Zentren, an denen auch die „Großen" in den Alltag der Taufen und Patenschaften, Hochzeiten und der Liturgie eingebunden waren, wie die erhaltenen Kirchenbücher zeigen38. Eine Gemeinde der eigenen Sprachgemeinschaft zu haben, war ungemein wichtig, auch für die Intellektuellen; es war dies nicht zuletzt ein Grund, überhaupt in Heidelberg zu bleiben oder zu gehen, bedenkt man, daß jemand wie Denis Godefroy in seinen fast 20 Jahren in Heidelberg kaum ein Wort Deutsch gelernt hatte und auf französischsprachigen Gottesdienst angewiesen war39. E. Westorientierung innerpfäl^ischer

Korrespondenzen

Mit einer solchen Vielzahl von Ausländern auf Kurpfälzer Boden erscheint eine dezidierte Internationalität ohnehin schon selbstverständlich. Diese ist aber, gerade im Hinblick auf die Religions- bzw. Freiheitskriege im Westen, lange Zeit zudem eine dezidierte Westorientierung; so schon 1562/1563, wenn Laurentius Baudiss und Wenceslaus v. Ostrorog aus Heidelberg an Jo-

35 THEODOR KARST, Pfälzische Klöster im Zeitalter der Reformation. Studien zu den Formen und Problemen der Säkularisation durch Kurpfalz, gezeigt an den Klöstern Lambrecht, Heilsbruck (Edenkoben), Limburg und Frankenthal, in: MHVP 62 (1964), 36-58, Auflistung der Klöster aaO., 54. 36 BÜTFERING, Niederländische Exulanten (s. Anm. 33), 360f.; HANS GÜNTER STEIOF, Alltag in Frankenthal um 1600, in: HÜRKEY, Kunst, Kommerz, Glaubenskampf (s. Anm. 33), 62-72, 62. 37 Vgl. die Graphik bei SKALITZKY-WAGNER, Frankenthaler Goldschmiede (s. Anm. 33), 179. 38 Wenn man VAN DEN VELDEN, Das Kirchenbuch (s. Anm. 33) durchgeht, trifft man als Gemeindemitglieder und Taufpaten immer wieder die führenden Heidelberger Persönlichkeiten, auch nach der Gemeindetransferierung von Heidelberg nach Frankenthal. 39 RAINER BABEL, Aspekte einer Gelehrtenfreundschaft im Zeitalter des Späthumanismus: Briefe Denys Godefroys an Jacques-Auguste de Thou aus Straßburg, Frankfurt und Heidelberg (1600-1616), in: Francia 17/2 (1990), 29-44.

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hannes Crato von Crafftheim über „nova Galliae" berichten40. Freilich ist Heidelberg gerade auch mit Breslau, Böhmen, Mähren und auch mit Ungarn in steter Berührung, ja stellt sogar die entscheidende kommunikative Drehschreibe für den reformatorischen West-(Süd-)Ost-Austausch dar, viel stärker als Genf. Aber es scheint eben doch in dieser Hinsicht oft gerade der „Westbezug", der hier Heidelberg zur Transferstation macht, wie man den Briefen des Ursinus entnehmen kann, der als Schlesier einer der wichtigsten Verbindungspersonen gerade in diesem Bereich war41. Gleiches zeigen die Briefe des Winand Zonsius an Heinrich de Smet (Smetius) vom Anfang des 17. Jahrhunderts, die in den Palatina-latina-Codices überliefert sind. De Smet ist jener langjährige Medizinprofessor an der Universität Heidelberg, der es mit einer geschickten Heiratspolitik geschafft hatte, sich mit den meisten Größen der Universität zu verschwägern: mit François du Jon über die CorputSchwestern, mit Heinrich Alting über die Bélier-Schwestern, mit Kimedoncius und Gruter über seine eigenen Töchter42. Der ehemalige Heidelberger und nun Basler Professor Johann Jakob Grynaeus bezeichnete ihn insoweit nicht unpassend mit dem alttestamentarischen Titel des „patriarcha"43. Zonsius, für dessen Sohn de Smet sich in Heidelberg in Stipendiensachen einsetzte, versorgte den Medizinprofessor immer mit Lokal- und Fernnachrichten, auch mit Amüsantem. So berichtet er taufrisch über das theologische SchauStreitgespräch zwischen dem Star-Diskutanten Pierre Du Moulin und dem jesuitischen Skeptizisten Jean Gontery 1609 in Paris. Ohne sich eigentlich für 40 Vgl. UBHeid Heid Hs. 1465, 3f. 7f. 71. 75: vier Briefe von Januar bis August 1563, immer wieder mit Nachrichten aus Frankreich; es handelt sich um Abschriften aus dem 19. Jahrhundert, die der Breslauer Bibliothekar E.Volger für den Heidelberger Forscher Zangemeister aus den Rhedigeriana (IX 174 und IX 176) der Breslauer Stadtbibliothek vornahm und die insofern heute wieder Seltenheitswert haben, weil große Teile dieser Briefesammlung im Krieg zerstört wurden. 41 ZACHARIAS URSINUS, Briefe an Crato von Crafftheim (nach den in Breslau befindlichen Urschriften), hg. v. W. BECKER, in: Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Prediger-Verein 8/9 (1889), 79-123; 12 (1892), 41-107, 92. 95. 97; HANS ROTT, Briefe des Heidelberger Theologen Zacharias Ursinus aus Heidelberg und Neustadt a.H., in: Neue Heidelberger Jahrbücher 14 (1906), 39-172, 66-69. 76. 78-81. 84. 86-89. 93-96. 102f. 105f. 109. 121 etc.: ständig Übermittlung von Nachrichten über die französischen und niederländischen Wirren nach Breslau. Umgekehrt natürlich auch Nachrichtenübermittlung aus dem Osten in die Schweiz: GUSTAV ADOLF BENRATH, Briefe des Heidelberger Theologen Zacharias Ursinus (1534—1583), in: Heidelberger Jahrbücher 8 (1964), 93-119 und passim. 42

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Humanismus und Medizin an der Universität Heidelberg im 16. Jahrhundert, in: Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Festschrift in sechs Bänden, Bd. 1: Mittelalter und Frühe Neuzeit, 1386-1803, hg. v. WILHELM DOERR, Heidelberg u.a. 1986, 255289, 277-281; dazu DRÜLL, Gelehrtenlexikon, 505f. 43 Johann Jakob Grynaeus an Heinrich de Smet, Basel, 19.5.1609, BSBMü clm 1618, f. 5558, f. 56v. Ich zitiere dieses Eingangsregister de Smets (heute in: Bibliotheca Apostolica Vaticana, Pal.lat. 1903; Kopie in UBHeid) nach der weitgehend zuverlässigen Abschrift, die 1760 Elias Baldus für den Münchner Hof ausgeführt hat.

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den Inhalt und die theologisch-erkenntnistheoretische Brisanz zu interessieren, die der Konfrontation calvinistischer Dogmatik mit dem jesuitischen Skeptizismus eignete, freut er sich über den seiner Meinung nach offenkundigen Sieg Du Moulins. Genüßlich berichtet er von den verächtlichen Worten, die die enttäuschten katholischen Zuhörer ihrem Mann, Gontery, als Verräter ihrer Sache nach der Konferenz entgegengeworfen hätten44. Wie hier der Bezug auf den kleinen Sieg des Glaubensverwandten in Paris identitätsstiftend wirkt, so knüpft auch eine andere satirische Mitteilung an die westeuropäischen Verhältnisse an: Während Zonsius entrüstet über die bayerische Exekution gegen Donauwörth 1608 schreibt45 und die Gründung der Protestantischen Union der Fürsten im gleichen Jahr begrüßt, freut er sich im Juni diebisch über ein niederländisches Pasquill, das in Frankenthal kursierte und das er de Smet sofort abschreibt und nach Heidelberg schickt: In Frankenthal fieberte man mit Oldenbarnevelts Niederlanden bei den Verhandlungen mit Spanien um den berühmten zwölfjährigen Waffenstillstand mit. De' Colli nahm als Kurpfalzischer Gesandter an den Verhandlungen teil, und in Frankenthal amüsierte man sich über diesen fiktiven Dialog zwischen König und Papst. Letzterer habe sich über die allgemein unerquickliche Lage in den Niederlanden, in Frankreich und in Venedig beschwert und um Rat beim König gefragt. Dieser schlug eine „Schätzung" auf Kirchengüter vor, um für entsprechende Aktivitäten liquide zu sein. Der Papst lobt den Eifer, hält dieses Mittel aber für nicht so tunlich. Stattdessen rät er dem König, „eine Maus in der Speisekammer der Niederlande zu fangen", d.h. eine ganz belanglose Besitzung einzunehmen, um dann einen Waffenstillstand auszumachen, währenddessen er dann langsam simulieren und traktieren könne, um aus heiterem Himmel doch zuzuschlagen; zögerliche Bedenken Philipps III., ob denn das rechtens sei und ob solche Simulation nicht schlechte Reputation bringe, winkt der Papst ab; er solle sich da an das Vorbild seines Vaters halten, im Übrigen könne er von allem dispensieren. Mitten im Gespräch erreichen den

44 „[...] aduersus Jesuitam tamquam Thrasonem, et Proditorem catholicae Religionis; jnter alios Monsieur Poupart ei dixit. Monsieur nous auons apportez nos oreilles: mais vous nauez pas de bouche [...]" (BSBMü dm 1618, f. 279" - Brief Zonsius an de Smet, Bretten, 21.4.1609; da das Streitgespräch erst am 11.4. stattgefunden hatte, müssen die Nachrichten Zonsius' höchst aktuell gewesen sein. Es ist unwahrscheinlich, daß sie schon auf einer der gedruckten Beschreibungen basierten: Véritable narré de la conférence entre les sieurs Du Moulin et Gontier [Gontery], secondé par Madame la baronne de Salignac, le samedi onzième d'avril 1609, avec la response du sieur Du Moulin aux lettres du sieur Gontier au Roy sur le sujet de ceste conférence, en laquelle response sont XVII demandes audit Gontier, s.l. 1609). 45 Auch hier berichtet er von einem satirischen Streich: Ein Goldschmied aus dem Donauried habe einen Becher mit drei Galgen daran hergestellt, an denen Papst, Kaiser und der Bayernherzog hingen: „Ein Hiltzener Bott (Gott?): Papa; Ein hinckender both: Augustus; Ein eineügiger Schütz: Bavarus - Seyend alle 3 kein nutz. Das ist nit recht gehandlet. Bona Causa male agendo perditur" (Zonsius an de Smet, Bretten, 8.2.1608, BSBMü clm 1618, f. 248-251).

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König aber schlechte Nachrichten: Die Niederländer dringen immer weiter in Panama, Mexiko und im übrigen Westindien vor; auch wollten sie die „Souverenitet" der Provinzen auf Frankreich übertragen. Was soll er bloß tun? Der Papst rät erneut zum fingierten Waffenstillstand44. Man sieht an diesem Beispiel, wie die inner-niederländische Diskussion pro und contra Oldenbarnevelt, pro und contra Waffenstillstand mit dem verhaßten Spanier, im Grunde genauso in Frankenthal und Heidelberg gefuhrt wird. Sie war Gegenstand der öffentlichen Diskussion, der Polemik, des Sarkasmus und eben auch Teil privater Briefwechsel. Diese „Westorientierung" der Kurpfälzer Diskurse zeigt sich signifikativ auch darin, daß im Brief des Zonsius so ganz nebenbei die bislang früheste bekannte Verwendung des Fremdworts „Souveränität" im Deutschen auftaucht: Wenngleich — wie unten zu zeigen sein wird — man klar positioniert an der akademischen republikanischen „Anti-Bodin"Diskussion teilnimmt, so zeigt dies einmal mehr, wie die Kurpfalz ein Prädilektionsort innerhalb Deutschlands für eine frühe Aufnahme und Akkommodation der neuzeitlichen, westeuropäischen politischen Sprache ist47.

46 BSBMü d m 1618, f. 238 v -242 r (Zonsius an de Smet, Juni 1608, das Wort „Souveranitet" auf f. 241R). Es handelt sich wohl um die anonyme Flugschrift: Eene treffelijcke tsamensprekinghe tusschen den paus ende coninck van Spangien, belanghende den pays met ons lieden aen te gaene, s.l., s.d. (Ex. z.B. Leiden UB: MNL Port. 139 u. BL London T.1713:20, weitere Edition: Amsterdam UB: Pfl. 0.36:3, vgl. den Short Title Catalogue Netherlands, http://picarta.pica.nl/LNG=NE/DB=3.11/ ). Ich kann nicht entscheiden, ob die mit dem Datum des 29.2.1608 versehene Pfälzer Flugschrift [MICHAEL LOEFENIUS,] Wolmeinende Warnung An alle Christliche Potentaten und Obrigkeiten/ wider das Colloquium des Bapst Pauli/ Philippi Königs in Hispanien/ und Ertzherzogs Ferdinandi/ Wie man Deutschland uberziehen und bezwingen möge, s.l. 1608 (z.B. VD17 12:190510X), in der ebenfalls in der Form eines fiktiven Dialogs zwischen Papst, Erzhzg. Ferdinand und König Philipp - der Friedensschluss von 1609 als Teil des Plans der katholischen Mächte dargestellt wird, sich den Rücken frei zu halten für einen Angriff auf Deutschland, in einem Abhängigkeitsoder Anregungsverhältnis zu dieser niederländischen Flugschrift steht. Zum Pfälzer Rat Loefenius vgl. PRESS, Calvinismus, passim. Vgl. zum Kontext PLETER GEYL, The Revolt of the Netherlands 1555-1609, London 21958, 250-259; GEOFFREY PARKER, Der Aufstand der Niederlande. Von der Herrschaft der Spanier zur Gründung der Niederländischen Republik 1549-1609, München 1979, 284-288; JONATHAN I. ISRAEL, The Dutch Republic and the Hispanic World 1606-1661, Oxford 1989, 1-42; JAN DEN TEX, Oldenbarnevelt, 2 Bde, Cambridge 1973, Bd. 2, 359^122. 47 Gängigerweise gilt eine Fundstelle in der ersten Wochenzeitschrift von 1609, dem Aviso, die sich genauso auf die Niederlande und diesen Zusammenhang bezieht, als erstes Auftreten des Fremdwortes „Souveränität" im Deutschen (vgl. HELMUT QUARITSCH, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986, 81-85; DLETHELM KLIPPEL, Art. Staat und Souveränität, Abschn. VI-VIII, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, 109-128, 116; THOMAS MAISSEN, Eine „absolute, independente, souveraine und zugleich auch neutrale Republic". Die Genese eines republikanischen Selbstverständnisses in der Schweiz des 17. Jahrhunderts, in: MICHAEL BÖHLER

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F. Pfal^-Orientierung des Westens48 Um auch aus diesem Bereich der Korrespondenzen umgekehrt die Ausrichtung bzw. Aufmerksamkeit „des Westens" auf und für die Kurpfalz mit einem Beispiel zu veranschaulichen, sei kurz auf die Korrespondenz hingewiesen, die der président du parlement de Paris, Jacques-Auguste de Thou (1553-1617), um 1600 mit Heidelberg führte, wie sie in der Collection Dupuys in Paris erhalten ist: Der Kreis um de Thou, die Brüder Pithou und Dupuys ist allgemein bekannt als eine der Keimzellen für Hbertinistische und frühaufklärerische Tendenzen in der Mitte des 17. Jahrhunderts49. De Thous u.a. [Hg.], Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers, Genf 2000, 129-150, 137). Das Fremdwort gilt im Übrigen für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts als höchst selten. In den Niederlanden war die Semantik schon in den 1580ern geläufig, insbesondere im Streit um den Sitz der Souveränität bei Leicester oder bei den Ständen 1586/87, welcher inhaltlich wie semantisch durch die Geschichtsschreibung Emanuel van Meterens nach Deutschland vermittelt, und hier etwa von Althusius rezipiert wurde, vgl. Martin van Gelderen, The Political Thought of the Dutch Revoit 1555-1590, Cambridge 1992, 147. 199-207; Belege des Fremdworts etwa auch in Resolutiën der Staten-Generaal van 1576 tot 1609, XIV (1607-1609), s'Gravenhage 1970, 101 u.ö.; EMANUEL VAN METEREN, Historia bélgica nostri potissimvm temporis, Belgii svb qvatvor Burgundis & totidem Austriacis Principibus coniunctionem & gubernationem breuiter: Tvrbas avtem, bella et mvtationes tempore Régis Philippi, Caroli V. Caesaris filij, ad annum vsque 1598. plenius compectens, conscripta: & Senatui, populo Bélgico, posterisque inscripta A. E. Meterano Belga, s.l., s.a. [ca. 1598], Hb. XTV, 427^167 [=1587], insbesondere 440f. (marg. „Principe deficiente, dominium redire ad Prouinciarum Proceres, nobiles & ciuitates demonstratur."; „Ordines eam potestatem obtinent in Gubernatorem generalem, quam Carolus Imp. in suos Gubematores habuit."), deutsche Erstausgabe 1596. Vgl. für Althusius DIEGO QUAGLIONI, Art. „Majestas (Jura majestatis)", in: FRANCESCO INGRAVALLE/CORRADO MALANDRINO (Hg.), II lessico della „Politica" di Johannes Althusius. L'arte della simbiosi santa, giusta, vantaggiosa e felice, Florenz 2005,215-230. 48 Für die im Folgenden erwähnten Personen finden sich jeweils aus der Perspektive der Korrespondenz Langelsheims bei WALTER, Späthumanismus (s. Anm. 49) biographische und inhaltliche Informationen. 49 Quellenkundlich grundlegend: SAMUEL KlNSER, The works of Jacques-Auguste de Thou, The Hague 1966; ERNST HlNRICHS, Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. Untersuchungen über die politischen Denk- und Handlungsformen im Späthumanismus, Göttingen 1969, 150-155; ALFRED SOMAN, De Thou and the Index: Letters from Christophe Dupuy (1603-1607), Genf 1972; CLAUDE-GILBERT DUBOIS, La conception de l'Histoire en France au XVI e siècle (1560-1610), Paris 1977, 142-184; KLAUS GARBER, Paris, die Hauptstadt des europäischen Späthumanismus. Jacques Auguste de Thou und das Cabinet Dupuy, in: SEBASTIAN NEUMEISIBR/CONRAD WlEDEMANN (Hg.), Res Publica Iliteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Teil I, Wiesbaden 1987, 71-92; ANTOINE CORON, „Ut prosint aüis": Jacques-Auguste de Thou et sa bibliothèque, in: CLAUDE JOLLY (Hg.), Les Bibliothèques sous l'Ancien Régime 1530-1789, Paris 1988, 101-125; ROBERT DESCIMON, Penser librement son intolérance: Le Président Jacques Auguste de Thou (1553-1617) et l'Epître dédicatoire des „Historiae sui temporis" (1604), in: FRANÇOIS LECERCLE (Hg.), La Liberté de pensée, Poitiers 2002, 73-86. Zur Grundstockbibliothek vgl. JEROME DELATOUR, Une

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Hauptwerk sind die Historiarum sui temporis libri CXXXl/TII, die die europäische Geschichte von 1543 bis 1607 aus einer gallikanischen, oft papst- und Jesuiten-kritischen Perspektive erfassen. Ihre Schreib- und Editionsgeschichte erfaßt eigentlich perspektivisch die Geschichte des europäischen Späthumanismus schlechthin, weil nahezu jeder Gelehrte von Rang und Namen an dem Projekt beteiligt war und auch unbedingt beteiligt sein wollte. Bezeichnend ist, daß aber innerhalb des Reiches nur wenige ausgewählte Kontaktpersonen de Thous Korrespondenzpartner waren: Ubbo Emmius in Groningen, Jean Hotman in Düsseldorf, Markus Welser in Augsburg, Friedrich Lindenbrog in Hamburg, Konrad Rittershausen und Scipio Gentiii in Altdorf — und dann massiert all die Pfalzer Gelehrten (schon Rittershausen und Gentiii waren ja durch die Heidelberger Schule gegangen): Quirin Reuter, Marquard Freher, Jan Gruter, Heinrich de Smet, Georg Michael von Lingelsheim, Melchior Goldast von Haiminsfeld50, Denis Godefroy und der in Speyer weilende Petrus Denaisius, der ein außerordentliches kurfürstliches Assessorat auf Vorschlag der Kurpfalz am Reichskammergericht innehatte51. Heidelberg war also ganz selbstverständlich die erste Adresse — sicher einerseits wegen der wissenschaftlichen Kompetenz, andererseits wegen der späthumanistischen, teilweise ja stark irenischen couleur der Heidelberger, die der des „politique" de Thou entgegenkam. De Thou hatte die ersten libri 1603/1604 fertiggestellt und ließ über Jacques Bongars52 Geschenkexemplare an alle Genannten außer Reuter und Goldast schicken und erwartete im Gegenzug deren Korrekturbemerkungen53. 1608 veranstalteten die Kurpfälzer, hier insbesondere der eifbibliothèque humaniste au temps des guerres de religion. Les livres de Claude Dupuy, Paris 1998. Vgl. insbes. auch RUTH KOHLNDORFER, Zwischen „nationaler" Außenpolitik und internationaler Gelehrtenrepublik - die Kontakte des französischen Gesandten Jacques Bongars (1554—1612), Diss. phil. [masch.] München 2000, 114-118. 174-176 sowie jetzt AXEL E. WALTER, Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims, Tübingen 2004, 226-229, dessen akribische Arbeit überhaupt die Forschungen zum Heidelberger Späthumanismus in vielen Aspekten auf eine neue Grundlage stellt. 50 Zu ihm zuletzt (mit der älteren Literatur) MARTIN MULSOW, Gelehrte Praktiken politischer Kompromittierung. Melchior Goldast und Lipsius' Rede „De duplici concordia" im Vorfeld der Entstehung der protestantischen Union, in: DERS./HELMUT ZEDELMAIER (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, 307-347. 51 Vgl. insbes. BNF Paris, Coli. Dupuys 348. 632. 639. 706. 830. 52 Zu ihm RUTH KOHLDORFER, Jacques Bongars (1554-1612): Lebenswelt und Informationsnetzwerke eines frühneuzeitlichen Gesandten, in: Francia 28,2 (2001), 1-15. 53 „Je uous renuoie treshumblement des exemplaires de uotre histoire, aymé et admirée de plus en plus. J'ay enuoyé uos lettres a Augsbourg et a Venise, les liures suyuront par les marchans. J'ay aussy enuoyé a Spire l'exemplaire pour Mr. Denaisius, aßeßeur en la Chambre, en l'absence de Mr. Gruter, & ay pris la hardiesse d'en enuoyer en mon nom un a Mr. Lingelsheim con™ de Sr l'electeur palatin de la main duquel est escrit l'aduis dudit Denaisius & duquel uient celuy que je uous ay enuoyé de Strasbourg. [...] Nous attendons M. Gruter, auquel je deliuray les deux exemplaires qui sont pour luy & les deux pour Frise auec uos lettres a Drusius & Vbbo. Le

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rige Goldast, eine Ausgabe in Frankfurt, die zum Teil antirömisch zugespitzte Anmerkungen enthielt, so daß die Index-Kongregation de Thous Werk auch prompt auf den römischen Index setzte54. Auch die erste vollständige Ausgabe der Historiae erschien posthum 1620 in Genf in der Herausgeberschaft von Lingelsheim55. Während des Schreib- und ständigen Korrekturprozesses fragte de Thou immer wieder nach konkreten Sachverhalten, Personen und Schriftverzeichnissen56. Petrus Denaisius etwa schrieb 1607 sofort nach ZuS.r Drouart a entrepris de faire tenir celuy que est pour Mr. Lipsius [...]" (Jacques Bongars an Jacques Auguste de Thou, Frankfurt, 25.9.1604, BNF Paris, Coli. Dupuy 830, f. 114r). Vgl. die weiteren Briefe von Bongars an de Thou bis 1607 aaO., f. 115I-128V. Vgl. die Konzepte der Briefe, mit denen de Thou die Übersendung auch der Bände des letzten Teils 1607, dann auch der neuen Edition bis 1613 begleitete, an Jan Gmter, dann auch „Petto Denaisiusio, G.M. Lingelshemio, Henrico Smetio, Marq. Frehero, Conr. Riterusio, Scipioni Gentiii, Vboni Emio, Dioni Godofredo" (BNF Paris, Coli. Dupuys 706, f. 20>-109r, 23T). 54 KlNSER, The works (s. Anm. 49), 45-47; SOMAN, De Thou (s. Anm. 49), 20; KOHLNDORFER, Außenpolitik (s. Anm. 49), 116f. Zunächst war de Thou sogar einverstanden mit der Edition der weiteren Bücher, die Lingelsheim abschreiben durfte. Bongars sondierte sogar schon das passende Papier „L'edition de uos XVI liures, ne se peult bien faire qu'a Francfort ou a Hanaw. & a Francfort personne ne l'oseroit entreprendre au prejudice de celuy qu'a commencé, A Hanaw on en fera difficulté de crainte que celuy de Francfort ne coûte sur la besongne auec ses amortations, desquelle uous scauez que ceste nation est friande. J'espere uous en porter toutes nouuelles, après la foire de septembre, a laquelle je donneray ordre pour le papier que uous desirez. Je tiens celuy de Basle meilleur que celuy de Francfort. J1 a plus de corps. Ceste fueille en est. Vous me fetez scauoir, s'il uous plaist, Monsieur, combien de rames uous en uoulez" (Bongars an de Thou, 19.10. s.a. [wohl 1606/1607], BNF Paris, Coll. Dupuys 830, f. 128'). 55 KINSER, The works (s. Anm. 49), 26-38; WALTER, Späthumanismus (s. Anm. 49), 226229. 56 Ganze Teile des de Thou-Nachlasses bestehen aus den Briefen und kurzen biographischen Texten, die ihm die Gelehrten und Freunde über Ihresgleichen zusandten. Vgl. — nur als Beispiele - die kurze Studie zu Jacques Bongars von Ippolito de' Colli in BNF Paris, Coli. Dupuys 348, f. 243ff., oder den Brief des Jean Hotman aus Düsseldorf, in dem er über seine Bemühungen berichtet, Informationen über Gelehrte einzuholen, die Anfang und Mitte des 16. Jahrhunderts in Köln gewirkt hatten, insbes. über den Ireniker Cassander, der sich um 1600 in Paris im Kreis der „politiques" eines großen Interesses erfreute (Werkausgabe!): „Jattendois a fere responce a celle quil vous a pieu mescrire du mois de septembre, que jeusse plus de certitude et de particularitez touchant Metellus, Ximenius, Fabricius, Langus, et autres chose dignes de vostre histoire. Par ces Missiues de Botterus Medecin de Cologne et du S.r Lopes Gentilhomme septuagenaire retiré a Duysbourg, vous veriez ma diligence [...] toutefois je nen desespere pas encores: sur tout jessaieray a recouurir s'il mest possible cet excellent écrit dudit Ximenius touchant les controuerses en la Religion, ou par le moien de sa niepce mariee a Bruxelles, ou dvn du Senat de Cologne, qui est mon amy: car jl viendroit fort a propos auec les oeuures du bon Cassander, desquels jay mis la liste en ce pacquez ainsi que nous lauions dresser feu M. le Febure et moy, affin que le Jxnpnmeur lentreprenne par l'auctorité comme je luy en auoit vne fois parlé, et jl diroit le vouloir faire faire a Strasbourg par Zetzner [i.e. der Drucker-Verleger Lazarus Zetzner], auquel je nay point de cognoissance. A Cologne, ou ce grand personnage [i.e. Cassander] a veceu et est mort, jl en est moins de memoire qu'ailleurs, et ses liures ne s'y

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Sendung des zweiten Teils zurück und notierte einige Verbesserungen hinsichtlich der Darstellung der Reichsverfassung: Die Wichtigkeit der Kurfürsten als eigene und wichtigste Kurie im Reichstag sei verkannt, dem Kaiser sei im Text zuviel Macht zugeschrieben: Dieser könne die Kurfürstenämter nicht einfach frei verteilen, sondern sie seien erblich, der Grund der Schaffung und die Aufgabe der zehn Reichskreise sei falsch beschrieben (es seien keine Gerichte!), schließlich sei die Präsentationsverfassung der Reichskammergerichtsassessoren nicht genau dargestellt57. Man sieht also, daß die Pfälzer hier recouurent poinct. Möns. Sr le Febure en auoit la pluspart, et vous en auez aucuns: on verroit ou quatre que jay icy: en crainte que nous aurons de la peine de rassembler tout, si vous ny emploiez quelquvn. Jay son pourtraict au naturel comme jl estoit dix ou douze ans auant sa mort, lequel je vous enuoiray auec les pieces de laffaire de julliere qui contiennent deux ou trois mains de papier lors que jauray messager a propos" (Hotman an de Thou, Düsseldorf, 11.2.1613, BNF Paris, Coll. Dupuys 830, f. 136'). Zum Cassander-Kreis in Köln vgl. jetzt auch PETER ARNOLD HEUSER, Jean Matal. Humanistischer Jurist und europäischer Friedensdenker (um 1517-1597), Köln u.a. 2003 (ebd., 191, 246, 418, 433f. Informationen, die als Frucht obiger Nachforschungen nur noch aus den de Thou/Dupuys-Papieren bekannt sind) . 57 »[•••] [N]empe histor. lib. 2. pag. 33 tria haec Imperij membra constituuntur, Jmperator, Principes, Ciuitates. Nescio an satis apte ad hodiernam Imperij formam, in qua soli per se Electores vnum & quidem longe principuum membrum sunt Jmperij, alterum reliqui Proceres, & ciuitates tertium, quorum omnium caput & princeps ex aequo est imperator. [...] Additar, hos pro temporis ratione & Jmperatorum arbitrio mutari augeri, minui. Nimium istud est potestaùs quod in Imperatores confettar. Nam dignitates istas nascendi otdo tribuit, quas amputare aut adimere non est penes Jmperatorem. Tametsi non solum titulos sed & ditiones ipsas vacantes transfert & distribuii pro merito cuiusque aut suo arbitrio. [... weiter zum Feudalsystem] Primum enim causa constitaendorum decern circulorum non fuit, vt controuersiae de finibus aliorumque priuatorum lites inter Principes solverentur: sed primum vt esset vnde senatas Imperij qui tum summa cum auctoritate constituebatur, suppleretur, deinde vt paci publico et commodo consuleretur ac tandem etiam leges imperij cameraeque sententiae executioni mandarentur. Deinde Consilia illa circulorum communia, que vocat videtur pro ordinarijs iudicijs siue Tribunalibus habere, eaque a Camera ita distinguere, vt in illis lites versus ipsos Principes proceresque mutuo disceptentur, in hac de causis Principum aduersus Ciuitates cognoscatur. At vero circulorum Consilia iurisdictionem prorsus nullam, sed deliberationem duntaxat de executionis modo, & ordinanda re bellica, auxilijs manu armata expedicionis habent: Camera autem omnem inter omnes Imperij subditos iurisdictionem sola complexa est, siue illi principaliter subsint Jmperatori atque Jmperio, siue magistratui alicui intermedie sint obnoxij: habita duntaxat ratione inuestiturarum & priuilegiorum, quae ordini aut subdito cuique competunt. Porro adsessores hodie camerae nominati ab his, & hoc ordine soient: A Caesare: quinque inter his très e comitum duo baronum ordine, Praesides; Ab Electoribus: decern; Ab Austria: 1; A Burgundia: 1; A sex circulis: 18; ab sex circulis (connumeratis nimirum Austria & Burgundia & uicinjs provincijs): 6. Fiunt in vniuersum 41 quibus omnibus Caesar Praesidem summum primariumque sub nomine Iudicis Cameralis praeficit ex Principibus comitibusue aut Baronibus is nunc est Episcopus Spirensis" (Petrus Denaisius an de Thou, Speyer, s.d., wohl 1604, BNF Paris, Coll. Dupuys 632, f. 61I V). Zu Denaisius und der Präsentationsverfassung am RKG um 1600 vgl. BERNHARD RUTHMANN, Das richterliche Personal am Reichskammergericht und seine politischen Verbindungen um 1600, in: WOLFGANG SELLERT (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, Köln u.a. 1999,1-26; zu Denaisius auch WALTER, Späthumanismus (s. Anm. 49), 304-306.

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durchaus danach trachteten, ihre ganz spezifische, eigene Sichtweise in diese Universalhistorie einzubringen, auf die man sich dann gegebenenfalls wieder hätte berufen können. Nicht alle diese Hinweise arbeitete de Thou dann wirklich in die zweite Auflage ein; manche Hinweise befolgte er auch beim zweiten Band nicht: So hatte de Smet schon 1605 auf den ersten Band etwas pikiert reagiert, weil ihm die allzu künstlichen Latinisierungen der Regionenund Städtenamen, die kein Leser verstünde, sowie insbesondere die NichtRespektierung des Unterschiedes zwischen den Lauten „F" und „W" der germanischen Sprachen in den Namen-Transkriptionen mißfiel. Zum zweiten Buch schickte er höchst ausführliche und zeilengenaue Korrekturangaben, die er teilweise zusammen mit Denis Godefroy ausgearbeitet hatte58. Daß de Smet wohl Recht hatte mit seiner Mahnung, auf die maniriert-klassizistische Latinisierung der Ortsnamen zu verzichten, belegt die Tatsache, daß später Jacques Dupuys eine eigene „Clavis", ein Register zur Auflösung eben dieser ungewöhnlichen Namen veröffentlichen mußte59.

58 Vgl. de Smet an de Thou, Heidelberg, 14.1.1605, BNF Paris, Coli. Dupuys 632, f. l l l f . ; dann Übersendung einer höchst sorgfältigen, seiten- und zeilengenauen Korrekturliste ebd., 138'-164R, 166R-171V mit Brief vom 18.3./23.5.1607 (aaO., f. 113'-"). Während er überall einzeln die V/W-Problematik anmerkt, verdeutlicht er es de Thou noch einmal mit Beispielen auf f. 1711: „Exempla aliquot vocum Germanicarum, qui W & v inchoant & significatione differunt Wahl electio vahl color ex flauo & fusco mixtus Wal agger val casus Wallen peregrinari vallen cadere Walten procurare valten plicare Walcken fiillonem agerevalcken falciones Wechter vigiles vechter pugiles Welt mundus velt campus Werda vrbs Misniae verda urbs super Bremam West occidens vest firmum Willen velle villen [= stäupen, Fell abziehen] execruciare Wol bene vol plenus Wolle lana volle plenus Wort verbum vort perge Wulle laneus vulle plenitudo Waar merces vaar periculum Waren custodire varen vehi Was quid vas cupa Wischen tergere vischen piscarj & multa alia". Beleidigt stellt er am 29.11.1607 fest: „Nam quum videam in posteriorj editione non obseruarj ea, de quibus in priore monueram, additisque locis annotabam: qualia de characteribus W & K: nec non de antiquarum appellationum per recentiores vsitatasque, explicatione; atque propriarum vocum, quae ab Hispanis, Jtalis, Gallis deprauatae fuerant, orthographia restituenda: dubitarj an in talium obseruatione continuandum foret mihi" (aaO., f.

117'). 59

JACQUES DUPUYS, Clavis historiae Thuanae, Regensburg 1696.

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CornelA. Zmerlein

Obwohl die Inhalte der Kommunikation mit ihren peniblen Kleinigkeiten und Detailversessenheiten es vielleicht auf den ersten Blick nicht vermuten lassen, ist in mancher Hinsicht das Korrespondenznetz, das de Thou entfaltet, und die Art, wie er die Gelehrten in Europa auswählt und mit ihnen umgeht, sicher nicht nur ein harmlos-wissenschaftlicher Austausch unter Humanisten, die im Elfenbeinturm die Wahrheit suchen. Immerhin ist auffällig, wie die Korrespondenten des Parlamentspräsidenten und zumindest zeitweilig bei Henri IV einflußreichen Mannes mit England, den Niederlanden und dem reformierten Europa, dann auch mit dem heterodoxen Venedig (Korrespondenz auch mit Sarpi, die über Augsburg und Bongars läuft!) exakt die Einflußzone abdeckt, die Frankreich zu dieser Zeit im Gegengewicht gegen Habsburg auch diplomatisch umwarb. G. Migration fran^ösischsprachiger deutschen Südwesten

und niederländischer Drucker in den

Ein weiteres Phänomen ist von Bedeutung, das einer zusammenhängenden Analyse noch harrt: Unter den schon erwähnten Migranten waren überproportional viele Drucker und Verleger, oft französischsprachig, ob sie nun aus Frankreich oder aus Belgien kamen60. Dies wahrscheinlich, weil es sich um ein Gewerbe handelte, das relativ leicht zu transferieren war. Eine Detailanalyse des Verlagsprogramms dieser Drucker zeigte immer besondere Charakteristiken. Es gibt dezidiert hugenottophile (Michel Chirat, Jean Marechal)61, es gibt Drucker, die mehr für die philologisch-gelehrte Produktion, insbesondere der Heidelberger, aber auch des Speyerer Kammergerichts, arbeiten wie Bernard Albin (Giulio Pace, Sigonio etc.)62, Jerome Commelin63 und auch der

60 Eine Überblickskarte, die dieses Phänomen fui den deutschen Südwesten veranschaulicht, findet sich bei ZWIERLEIN, Discorso (s. Anm. 29), 570. Für Heidelberg selbst existiert nach wie vor nur der völlig unzureichende Aufsatz von F. W. E. ROTH, Zur Geschichte der Heidelberger Buchdruckereien und Verlagsgeschäfte 1558-1618, in: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der rheinischen Pfaltz 4 (1901), 232-255. Wilhelm Port hatte in den 1930er und 1940er Jahren die Arbeit an einer systematischen Erfassung der Heidelberger Buchdrucker- und Buchverlegergeschichte begonnen unter Auswertung der Akten des Universitätsarchivs und auch des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (im Hinblick auf die Privilegienerteilungen). Von diesen Sammelbemühungen ist dann nur ein alphabetisch geordneter Zettelkasten mit Notizen zu den im Druckgewerbe Tätigen übrig geblieben in UBHeid, Heid. Hs. 2679. 61 Zu Mareschal vgl. JULIEN BAUDRIER, Bibliographie Lyonnaise. Recherches sur les imprimeurs, libraires, relieurs et fondeurs de lettres de Lyon au XVI e siècle, 11 e série, Neudruck Paris 1964, 432-461. Es darf nicht irritieren, daß Mareschal hier in einer Bibliographie zum Lyoneser Buchdruck behandelt wird: Der Zusatz „lugdunensis" auf seinen Drucken ließ Bibliographen oft glauben, die Drucke wären in Lyon entstanden; in Wirklichkeit meinte es aber „aus Lyon". EUGÈNE DROZ, Fausses adresses typographiques, in: BHR 23 (1961), 380-386. 62 F. W. E. ROTH, Geschichte und Bibliographie der Buchdruckereien zu Speier im XV. und XVI. Jahrhundert, in: MHVP 19 (1895), 5 1 - 1 1 2 .

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in Hanau arbeitende Wilhelm Anthonis, der ganz wichtig für die „Politica"Produktion, für Keckermanns und Perkins Werke etc. war64. Es gibt Großdrucker wie die Wechels65 und dann den eher auf Kleinschrifttum, immer wieder aber doch auch auf Transfer-Literarisches spezialisierten Nicolas Basse in Frankfurt66 oder Jobin in Straßburg67. Die Drucker fügten sich nicht immer konfliktios in das gegebene Umfeld ein. Jean Mareschal etwa, der 1567 aus Lyon geflüchtet war und sich in Speyer das Bürgerrecht gekauft hatte, fragte 1568 bei der Universität - der formell die Jurisdiktion über die Drucker, die Universitätsangehörige waren, zustand — um die Erlaubnis an, auch in Heidelberg an einigen Markttagen seine Bücher verkaufen zu dürfen, gerade weil dort sicher Nachfrage nach seinem nicht nur deutschen, sondern europäischen Sortiment bestünde68. Alsbald legten gegen diese neue Konkur63 WILHELM PORT, Hieronymus Commelinus 1550-1597. Leben und Werk eines Heidelberger Drucker-Verlegers [ED 1938], Wiesbaden 1969. 64 JOSEF BENZING, Die Hanauer Erstdrucker Wilhelm und Peter Antonius (1593-1625), in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 21,1 (1980), 1005-1126. 65 ALBERT LABARRE, Éditions et Privilèges des héritiers d'André Wechel à Francfort et à Hanau 1582-1627, in: Gutenberg-Jahrbuch 1970, 238-250; DERS., Les éditions des héritiers Wechel à Francfort et à Hanau 1582-1627, in: Gutenberg-Jahrbuch 1971, 209-223; ROBERT J. W. EVANS, The Wechel Presses. Humanism and Calvinism in Central Europe 1572-1627, Oxford 1975. 66 Vgl. zu Bassé, der dem lutherischen Faustbuchdrucker Johann Spieß (der exakt im lutherischen Intermezzo unter Ludwig VI. in Heidelberg druckte, dann wieder wegziehen mußte) verlegerisch erhebliche Konkurrenz machte, FRANK BARON, Faustus on Trial. The Origins of Johann Spies's „Historia" in an Age of Witch Hunting, Tübingen 1992, passim. 67 Nur zu den Flugblättern: BRUNO WEBER, „Die Welt begeret allezeit Wunder". Versuch einer Bibliographie der Einblattdrucke von Bernhard Jobin in Straßburg, in: Gutenberg Jahrbuch 1976, 270-290. 68 „Quantis calamitatibus ab hinc annis aliquot oppressa fuerit, & etiamnunc prematur Gallia M.D. Rector atque amplissimj senatores vestrum, qui nesciat, arbitrer esse neminem. Ea me res mouit vt relicto Lugduno, hoc est patria mea, in qua artem librariam diu exercuj, commigrarem ante sesqui annum in hanc vestram vrbem: qua secessione effugi tempestatem, quae paulo post sequuta est, ac multos crudeliter oppressit: & rem etiam meam non parum afflixit: vixi autem hactenus hie sub vestra vmbra atque tutela: quo nomine vobis ingentes gratias habeo & ago, sic vero vitam meam instituisse puto, vt quaerendj occasionem praebuerim neminj: vobisque nullum exhibuerim negotium. Iam vero cum prelis in Gallia spem omnem ademptam esse nuper audirem, caepi consilium de rebus meis sie instituendis, vt posthac ociosus non essem & honestam alendae familiae meae rationem inirem. Qua de re cum proximis nundinis cogitarem, opportune incidi in nonnullos mercatores Spirenses, qui quaerebantur de penuria libro, quae isthic esset, ac praesertim eorum, qui Lugdunj & Lutetiae proeuduntur, fueruntque illj mihj autores, ut bibliothecam quam habeo eo librorum genere satis instruetam istic transferrem, quod vbi fecj, senti me rem fecisse multis non ingratam. Porro quia ante saepe animaduertj, & hic esse non paueos, qui subinde tales libros desiderent & expetant: existimauj scholae vestrae (cuj modis omnibus gratificarj cupio) atque rebus meis non fore incommodum si hic quoque bibliothecam nonnunquam, aperimus. Arbitror et me eos habere scriptores, qui non temere apud alios requirentur, & eo precio daturum esse me polliceor, quod minime iniqum iudicaturj sunt

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Corneh4. Xwierlein

renz (wegen „des vberflus des buchs handel alhie") die Buchführer und Buchhändler Peter Betz, Johann Maier, Jost Zimmermann und Michel Schirat scharfen Protest ein: Während die Universität Sebastian Apeln, Matthias Harnisch, Hans Krück und Matthias Holderman ,,alle[n] geborne[n] deutschen" die Berufsausübung in Heidelberg untersagt, Apel sogar wegen Zuwiderhandlung kurzzeitig gefangengesetzt hatte, habe sie hier ungerechtfertigterweise einen Ausländer protegiert, der „vnß, vnsern armen weib, kindern und Nachkhomen dz brott auss dem Maul zu zihen" sich anmaße69. Tatsächlich waren die Exulanten in der Universität durchaus tonangebend — Emanuele Tremellio und Pierre Boquin übten Ende der 1560er Jahre oft das Rektoren- oder Prorektorenamt aus — und Mareschal stand ihnen nahe: Auch später wurde er als Verbindungsmann, z.B. zwischen Heidelberg und Genf, eingesetzt, etwa als es um die Berufung von Hugues Doneau ging70. Wie auch immer diese Konkurrenz vonstatten ging, ob die DruckerVerleger sich aufgrund der Exulantennetzwerksprotektion oder aufgrund ihres Verlagsprogramms marktgemäß durchsetzten — allen ist jedenfalls gemeinsam, daß der Anteil von Neuauflagen von lateinischen Werken (viel italienische Consiliarliteratur) aus dem (westeuropäischen) Ausland und/oder von Ubersetzungen überdurchschnittlich hoch ist. Ihr Wissen um diese Texte und ihre Einschätzung, daß diese in Deutschland auch Absatz finden würden, war ein Kapital, mit dem sie gerade als Emigranten arbeiteten. Auch dies ist ohne Zweifel ein wichtiger Kontextfaktor für die Westorientierung des Geisteslebens, das in der Folge natürlich gerade nicht mehr nur Emigranten betraf. Für nicht wenige Werke, etwa die Machiavelli- und MonarchomachenAusgaben in Hanau, für die Edition der Historiae de Thous oder auch für den wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Diskurs des Padovaner Guido Panciemptores. Quod si sint aliqui, & in primis professores, qui raros libros aliquando sibi pararj cupiant, me effecturum esse, vt aequo precio eos accipiant sancte promitto. Hanc meam operam vobis & scholae vestrae deferre hoc tempore voluj virj amplißimj, et si intelligeretis apud vos non ingratum fore, meas rationes componere & accomodare ad vestram voluntatem. — Vestrae dignitatis studiosiss. Joannes Marechal | Super hac communj calculo decisum est, vt singulis septimanis duobus diebus, & ijs quidem, quibus alioqui sunt nundinae liceret supplicantj habere tabernam apertam & aperire bibliothecam" (Eintrag unter dem 27.10.1568, UAHeid, RA 661, f. 94 r -95'). 69 Eintrag unter dem 13.7.1569, UAHeid, RA 661, f. 67'-69': Die Universität blieb aber bei ihrer Entscheidung zu Gunsten Mareschals. Zu korrigieren: EDUARD WINKELMANN, Urkundenbuch der Universität Heidelberg, 2 Bde., Heidelberg 1886, Bd. 2, Nr. 1152 (nicht: „Michel Schmit"). 70 Vgl. UAHeid, RA 661, f. 240 t -251 t : die Verhandlungen über die Berufung von Doneau (auf die Codex-Lektur in der Nachfolge Berthold Redlichs; Matthias Wesenbeck hatte zu hohe Forderungen gestellt), September—November 1572, nachdem jener sich nach der Bartholomäusnacht nach Basel geflüchtet hatte. Nachdem Doneau seine Ruf-Annahme erklärt hatte (vgl. WINKELMANN, Urkundenbuch (s. Anm. 69), Nr. 1175), -wird Mareschal beauftragt, ihn von Genf nach Heidelberg herzugeleiten (UAHeid, RA 661, f. 251 r ).

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rolis, in dem er verglich, was für Innovationen die Antike im Vergleich zur Neuzeit kannte und welche nicht, waren die Druckereien im Pfalzer Umfeld entscheidend: Pancirolis Druck etwa wurde hierauf sofort genauso wie de Thous Historiae von der Congregazione dell'Indice verboten, erlebte andererseits erst so in der lateinischen Übersetzung in vielen Neuauflagen eine große Verbreitung71. Der Zusammenhang „Migrationsdrucker — Kulturtransfer westlich/südlicher Konzeptionen in den deutschen Sprachraum" ist hier in seiner Evidenz angedeutet; seine systematische, gerade die europäische Dimension in den Blick nehmende Erforschung ist, auch nach den Arbeiten von Kühlmann, Garber, Mertens und manch anderer, weiterhin ein Forschungsgebiet mit noch großen Desideraten.

II. Historische Methode, Wahrnehmung der Geschichte und Verhältnis zur Gegenwart Wenn man jenseits einer groben, additiven Rekapitulation von wichtigen Faktoren der „Westorientierung" der Kurpfalz auf die inhaltlich-interpretative Ebene der Analyse der geistigen Gegebenheiten selbst in dem eingangs skizzierten Sinne der Entontologisierung von „Westen" wechselt, so ist die Fokussierung einer genauer umrissenen Thematik vonnöten. Ich will hier nicht eine bestimmte Disziplin, einen Autor oder ein bestimmtes Genre herausgreifen, sondern erlaube mir, Heidelberger Texte unterschiedlicher Genres und unterschiedlicher Disziplinzugehörigkeiten nebeneinander zu untersuchen. Das Verbindende ist die Frage danach, welche Geschichtsauffassung und Geschichtsmethodik in diesen Disziplinen zur Anwendung kommt, und ob es hier eben gerade über die Disziplingrenzen hinweg Kongruenzen gibt. Der hypothetische Vorausgriff ist dabei der, daß in der „Geschichtsauffassung" zugleich am allgemeinsten die Haltung nicht nur zur Geschichte, sondern auch zur Gegenwart „der Welt" kondensiert ist, die dann auch, jenseits wis-

71 Eine Kopie des „Discorso delle cose che haueuano gli antichi, & hoggidi non sono & di quelle, che dopo si sono ritrouate" von vor 1580 hatte Joachim Camerarius dem Heinrich Salmuth, Syndicus von Amberg, übergeben, damit dieser eine lateinische Übersetzung anfertigen möge. Salmuth gab diese dann 1599-1602 mit einem umfangreichen Kommentar heraus und widmete das Werk Friedrich IV. und Fürst Christian I. von Anhalt, damals Statthalter der Oberpfalz und maßgeblicher Leiter der kurpfalzischen Politik: GUIDO PANCIROLI, Rerum memorabilium iam olim deperditarum et contra recens atque ingeniöse inventarum libri II, hg.v. Heinrich Salmuth, 2 Bde., Amberg 1599-1602 (weitere Auflagen: 1607f., 1612, 1622, 1646, 1660). Sicher auch wegen des höchst verdächtigen Druckorts wurde das Werk von der Congregazione dell' Indice sofort verboten, wogegen die Neffen Pancirolis protestierten und auf den ursprünglichen Entstehungskontext hinwiesen (Anastasio Germonio an Hzg. Carlo Emanuele von Savoyen, Rom, 15.6.1601, AS Torino, Corte, Lettere ministri Roma, m. 15, n. 26).

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senschaftsgeschichtlicher Fragen, auch für Entscheidungsfindungsprozesse und den spezifischen Politikstil der Kurpfälzer verantwortlich wäre. Natürlich geht es gerade hier um das Verhältnis von „humanistischer" Geschichtsauffassung und den jeweiligen Disziplinen; dies aber im Rahmen des eingangs präzisierten Verständnishorizontes der Bedeutung von „Westen". A. Theologie und Geschichte: entschärfte Apokalyptik der Pfälzer 1579 passiert in Neustadt/Haardt etwas, was die Kurpfälzer bzw. zumindest einen Teil der Kurpfälzer Theologen in einem Punkt einmal mehr von der gesamten älteren Tradition und auch der lutherischen Bibelauslegung trennt, wie Arno Seifert gezeigt hat72: François du Jon legte in seinem vielfach wieder aufgelegten Kommentar zur lateinischen Bibelübersetzung, die er 1573 zusammen mit Tremellio begonnen hatte, und die 1575—1579 gedruckt wurde, die bis dahin radikalste Daniel-Prophetie-Auslegung vor. Während in der katholischen Tradition die Prophetie auf die Weltgeschichte bis zur Jetztzeit bezogen wurde, der entsprechend prophezeite Antichrist aber als noch nicht erschienen verstanden wurde, war unter den Protestanten ausgehend von Luther der Antichrist mit dem Papst oder wahlweise mit Papst und Türken identifiziert worden; unklar war, ob die vierte Welt-Monarchie mit dem auf die Deutschen übertragenen römischen Kaisertum identisch war, ob dieses vom Papst schon zerstört ist, und er den Kaisern nur ein blendendes Zerrbild als satanische Täuschung übertragen hatte, oder ob das römische Reich eben doch noch fortbesteht und dann eine positive, ja sakralisierte Funktion hatte im Kampf gegen das Wüten des Antichristen. Letztere Auffassung hat sich dann, offenbar auch unter dem Eindruck relativ stark proto-nationaler Uberzeugungen, die das Reich auf der Seite des Guten zum Stehen lassen kommen wollten, im Luthertum bis ins 17. Jahrhundert erst einmal durchgesetzt. Dem stand nur eine frühe Osiander-Auslegung entgegen73, in der Cäsar mit dem Antichrist (dem Kleinen Horn aus Dan 7,8ff.) identifiziert wurde, 72 Auch wenn die zuweilen stark fortschrittsteleologisch wertende Säkularisierungsheuristik im Ganzen unangemessen erscheint, so bleibt ARNO SEIFERT, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der Neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus, Köln/Wien 1990 doch eine wichtige, oft übersehene Studie. Zu du Jon aaO., 70-86. Zur Antichrist-Thematik im Luthertum vgl. VOLKER LEPPIN, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548-1618, Gütersloh 1999, zur Apokalyptik im Zusammenhang der Religionskriege DENIS CROUZET, Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (vers 1525 - vers 1610), 2 Bde., Paris 1991; MATTHIAS POHLIG, Konfessionskulturelle Deutungsmuster internationaler Konflikte tun 1600 - Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich, in: ARG 93 (2002), 278-316; THOMAS KAUFMANN, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei" (1548-1551/1552), Tübingen 2003, passim. 73 GOTTFRIED SEEBAß, Das reformatorische Werk des Andreas Osiander, Nürnberg 1967, 74£f.; SEIFERT, Der Rückzug (s. Anm. 72), lOf. 50-53.

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und wonach das vierte, römische Reich dann in der Völkerwanderung endgültig untergegangen war, sowie Calvins Daniel-Auslegung74. Dieser sah auch in Cäsar das „Kleine Horn", hielt ihn aber schon für den Totengräber des römischen Reiches. Die Daniel-Prophetie erstreckte sich bei ihm daher nur bis %um Zeitpunkt der Ausbreitung des Evangeliums. Bemerkenswerterweise konnte so also der Papst nicht nach Daniel mit dem Antichristen identifiziert werden, wofür dann nur im Rahmen der Apokalypse-Exegese Raum blieb. In dieser Linie stand dann François du Jon, der im Daniel-Kommentar der Neustädter Bibel75 wie auch in späteren Exegesen ganz konsequent die Reichweite der Prophetie nur bis Christus begrenzt, das vierte Königreich aber überhaupt nicht mehr mit dem römischen, sondern mit den Seleukidenund Ptolemäer-Nachfolgereichen Alexanders identifizierte. Das antichristliche „Kleine Horn", das dem Tier nach Daniel wachse, wird mit Antiochus identifiziert. Daniel habe gar nicht mehr weissagen können und wollen als die Zukunft seines eigenen Volkes. Die Daniel-Prophetie wird also ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung komplett beraubt und radikal historisiert. Es ist ein Text, der über eine vergangene Zukunftsvision für einen wiederum schon längst vergangenen Zeitabschnitt berichtet. Es ist gut möglich, ja angesichts der engen Exulanten-, Humanismus- und Theologie-Verbindungen zwischen Heidelberg und Basel sogar höchst wahrscheinlich, daß du Jon zu diesem Zeitpunkt schon Bodins berühmte, aber nicht im Modus theologischer Exegese vorgetragene Kritik der Vier-Monarchien-Einteilung aus der Methodus von 1566 kannte76, die 1576 und 1579 schon der italienische Exulant Pietro Perna in Basel nachgedruckt hatte77, und die der eben erwähnte Jean Mareschal 1583, kurz nach der Abfassung von du Jons Kommentar, auch in Heidelberg nachdruckte78. Bodin selbst hob schon 1583 triumphierend Nachdrucke durch „Deutsche" in Basel und Heidelberg gegenüber seinen lutherischen Kritikern (Dresser, Franckenberger) hervor79. Jedenfalls hatte der französi74 Vgl. nur DUBOIS, La conception de l'Histoire (s. Anm. 49), 466^484; SEIFERT, Der Rückzug (s. Anm. 72), 65-69. 75 Bibliorum Pars quarta, id est Prophetici libri omnes [...] brevibusque scholijs [...] illustrati ab Imm. Tremellio et Franc. Iunio, Frankflirt 1579. Zu du Jon vgl. FRIEDRICH WILHELM CUNO, Francisais Iunius der Ältere, Professor der Theologie und Pastor (1545-1602), Amsterdam 1891. 76 Dazu DUBOIS, La conception de l'Histoire (s. Anm. 49), 485-494; SEIFERT, Der Rückzug (s. Anm. 72), 70 läßt offen, ob Junius Bodin gelesen hatte. 77 JEAN BODIN, Methodus historica. Duodecim eiusdem argumenti Scriptorum, tam veterum quam recentiorum, Commentariis adaucta, Basel: Perna, 1576. Vgl. LEANDRO PERINI, La vita e i tempi di Pietro Pema, Rom 2002, 202. 208f. 357f., Katalog Nr. 265. 326; ROLAND CRAHAY u.a., Bibliographie critique des éditions anciennes de Jean Bodin, Bruxelles 1992, 2 6 - 3 1 . 78 Vgl. JEAN BODIN, Methodvs ad facilem historiarum cognitionem: accvrate denuo recusus [...], [Heidelberg] Apud Ioann. Mareschallum Lugdunensem 1583 (BAUDRIER, Bibliographie [s. Anm. 61], 457; CRAHAY u.a., Bibliographie [s. Anm. 77], 31-33). 79 Daß die Drucker eben gerade keine Deutschen waren, überging er oder es war ihm nicht klar: „II y a dixhuit ans, que Bodin mist en lumiere la Methode des Histoires, où il tient au vij.

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sehe Emigrant du Jon keinerlei Hemmungen, das Heilige Römische Reich nicht mit der vierten Monarchie der Daniel-Prophetie zu identifizieren; seine Reichsferne ermöglichte ihm hier sicherlich eine größere Freiheit als gerade der lutherischen Tradition, die bis weit ins 17. Jahrhundert an dieser das Reich auch heilsgeschichtlich sakralisierenden Identifikation festhielt. Entsprechend entfällt dann für du Jon auch in der Apokalypse- und in der Thessalonikerbrief-Auslegung der bei den Lutheranern offenbar entscheidende Bezug auf Luther als den Propheten, der den Antichristen enthüllt80. Die Kirchengeschichte wird in der Apokalypse-Exegese in eine „absoluta historia" bis zum Jahr 1300 und eine Zeit danach unterteilt, in der langsam wieder die Wahrheit restituiert wurde: Von 1000 bis 1300 wütete der bis dahin gebundene Satan in Gestalt des Papstes weitgehend ohne Widerstand. Ab dem Jubiläumsjahr 1300 hingegen habe die ecclesia militans ihren Anfang genommen, und Gott habe sich solcher Figuren wie des Italieners Petrus Cassiodorus, des Franzosen Arnoldus de Villa nova, Ockham, Dante, Petrarca, Jean de Roquetaillade, Wicklef(s) und „dieser und jener" bedient, um die Wahrheit wieder-

chap. que la prophetie de Daniel ne se peut accommoder à la Monarchie des Romains, comme la pluspart des interpretes, & entre les nouueaux Onuphre, Lucide, Luther, Melanchthon, Sleidan, Mercator, ont laissé par escrit, ny que l'Empire d'Alemaigne, soit la Monarchie des romains, comme Sleidan, Luther, & Melanchthon estiment. Ceste opinion de Bodin a depuis esté suyuie de plusieurs personnes, & mesmes de plusieurs Allemans qui ont fait imprimer son liure à Heidelberg & à Basle, & ne s'est trouué personne qui ait escrit au contraire, iusques à ce que Bodin à publié sa republique, où il escrit, qu'il ne faut pas s'arrester au dire de Luther, lequel interprétant la prophetie de Daniel, asseuroit, que la puissance des Turcs iroit deslors tousiouis en diminuant [...] Frankberger homme bien versé aux bonnes lettres, & en la cognoissance des langues, comme on peut iuger par ses escrits voulant soustenir l'honneur, de l'Empire, & de son maistre Melanchthon se trouue contraire à Bodin sur l'interpretation de la Prophetie de Daniel [...]" (RENE HERPIN [i.e. JEAN BODIN], A p o l o g i e d e R e n é H e r p i n p o v r la R e p v b l i q u e d e I.

Bodin, Paris 1581 [statt 1583], in: DERS., Les six Livres de la République avec l'Apologie de R. Herpin. Faksimiledruck der Ausgabe Paris 1583, Aalen 1961, 5f.). Zu vermerken ist, daß mit dieser Heidelberg-Erwähnung wahrscheinlich auch ein bibliographisches Detail für die Bodinforschung gewonnen ist: Die „Apologie" trägt in der ersten datierten Edition die Angabe „1581" auf dem Titel. Vgl. CRAHAY u.a., Bibliographie (s. Anm. 77), 182-184. Diese Edition wurde allerdings allermeist zusammen mit der ,,République"-Edition von 1583 ausgeliefert (aaO., 120—123). Wenn aber Bodin in der „Apologie" von einem Nachdruck seiner „Methodus" in Heidelberg weiß, von Mareschal aber keine „Methodus"-Edition von vor 1583 bekannt ist, so möchte man fast vermuten, daß auch Bodins „Apologie" in Wirklichkeit erst 1583 zu Ende geschrieben und gedruckt wurde. Vgl. ANDREAS FRANCKENBERGER, De amplitudine et excellenti historiae propheticae dignitate, Wittenberg: Gronenberg, s.d. [ca. 1580]. Zum philippistischen Weltbild im Astrologie-Zusammenhang, in das auch die Daniel-Exegese sowie das „Chronicon Carionis" einzuordnen ist, vgl. CLAUDIA BROSSEDER, Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen, Berlin 2004. Zum lutherischen Geschichtsbild demnächst auch die Dissertation von MATTHIAS POHLIG. 80

Vgl. dazu LEPPIN, Antichrist (s. Anm. 72), passim.

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herzustellen und seine Kirche zu vergrößern81. Es ist wohl bemerkenswert, wie hier das ganze Reformationsgeschehen für du Jon unter der Chiffre des Wirkens „dieser und jener" keiner weiteren namentlichen Erwähnung bedarf, während umgekehrt spätmittelalterliche Theologen und dann Petrarca und Dante hervorgehoben werden. Du Jons spezifische Auslegung setzte sich auch im Calvinismus bis ins Detail erst langsam durch82. Girolamo Zanchi zeigte sich gleichzeitig, unter anderem in einer wichtigen Dedikationsepistel zu seinem Werk De natura Dei von 1577, die vom Charakter und der Länge einem kleinen theologischen Fürstenspiegel an Johann Casimir gleichkam, ein wenig unentschiedener in der universalgeschichtlichen Konzeption. Letztlich zeichnet sich doch eine ganz ähnliche Charakteristik in der Geschichtsauffassung ab. Wie John L. Farthing gezeigt hat83, billigt er Bullingers und dann Calvins Auslegung (also von Cäsar als Antichrist, hierauf aber Untergang des Reichs), ist sich der Auslegung von Antiochus als „typus Antechristi" bewußt, läßt aber jedenfalls auch mit Christi Auftreten das römische Reich zu Ende gehen. Wieder scheint auch bei ihm kein besonderes Interesse vorzuherrschen, die positive Funktion des römischen Reiches zu retten. Auch für ihn erstreckt sich die Daniel-Prophetie nur bis zur ersten Ankunft Christi. Letztlich zeigt sich bei ihm sogar eine generelle Skepsis gegenüber der Aussagekraft von Prophetien, es reiche zu wissen, daß Christus sicher einmal wiederkehre. So ist bei ihm die Identifikation von „Antichrist" mit dem Papsttum auch nicht zwingend, er tendiert zu einer Abstraktion: Alles, was sich Christi Wirken widersetzt, ist Antichristus. Die Geschichte der ecclesia Christi ist bei ihm über die Zeiten hinweg ein strukturell weitgehend unterschiedsloser Kampf gegen diese antichristlichen Anfechtungen mit nur dem einen wichtigen Einschnitt des Auftretens Christi. Im Übrigen hindert dies aber nicht, das Handeln und Wirken der alttestamentarischen Zeit, etwa der Makkabäer, in exakte Korrespondenz und Vorbildlichkeit auch zur Jetztzeit zu bringen. Das „Licht" der Wahrheit breitet sich in diesem Kampf mal mehr, mal weniger aus; die Reformation wird nur als ein erneuter „Aufgang

81 „Sic Deus primum proxime Bonifacij illius tempora Petto Cassiodoro Italo, post Arnoldo de villa noua Gallo, tum Ockamo, Dante, Petrarcha, exinde Ioanne de rupe caesa Franciscano, postmodum Ioanne Wiklefo Anglo, & sie deineeps his & illis vsus est ad restitutionem veritatis & amplificationem Ecclesiae suae" ( F R A N Ç O I S D U J O N , Apocalypsis S . Iohannis Apostoli et evangelistae methodica analysi argvmentorvm, notis qve brevibvs ad rervm intelligentiam et catholicae ac Christianae Ecclesiae historiam pertinentibus illustrata, in: D E R S . , Opera Theologica, Bd. 1, Genf 1613,1694-1754,1735). 82 Der Schotte Robert Rollock folgte ihr (1591), ebenso Amandus Polanus von Polansdorf (1596), Hugh Broughton (1599), Johannes Piscator (1614), Grotius (1627), Gerhard Vossius (1659) und andere; etliche aber, etwa noch Johann Jakob Grynaeus, folgten ihr zunächst einmal nicht. Vgl. SEIFERT, Der Rückzug (s. Anm. 72), 73-86. 83 JOHN L . F A R T H I N G , Christ and the Eschaton: The Reformed Eschatology of Jerome Zanchi, in: G R A H A M (Hg.), Calvinism (s. Anm. 1), 333-354.

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des Lichts" in Deutschland bezeichnet (wieder ohne Nennung Luthers), nicht ohne gleich zu betonen, daß diese Lokalität ganz unerheblich ist; die Kirche sei von Gott von jeher von einem Land und von einem Volk zum anderen transferiert worden. Letztlich erscheint die „Helligkeit des Lichts" der jetzigen nachreformatorischen Zeit nicht besser und nicht schlechter als die zur Zeit Konstantins84. Wenn man einen Schritt zurücktritt von den Einzelheiten der jeweiligen Exegesezuordnung, zeigt sich doch sehr deutlich die Bewegung hin zu einem anderen Geschichtsbild im Reformiertentum, das sich eben auch in der Bibelexegese niederschlägt. Ob die Eigenlogik philologischer Präzision oder vielleicht eher umgekehrt eine vorgängige andere Welt- und Geschichtswahrnehmung die Auslöser für solche Semantikänderungen sind, kann man wohl schwer (im Einzelfall) entscheiden. Auf einer generellen Ebene bedingt sich aber beides in Heidelberg. Ein guter Teil der heilsgeschichtlichen und eschatologischen Überhöhung schwindet aus der Geschichts- und Weltwahrnehmung im Hinblick auf die Einheit der Kirche; du Jons Exegese ist in gewisser Hinsicht das theologisch-exegetische Äquivalent zu Bodins „prophetieloser" Geschichtssicht. Dafür tritt bei du Jon und Zanchi die stete Betonung der Ewigkeit dieses „Akteurs" Kirche und der Kontinuität seines Kampfes gegenüber den strukturell immer gleichen Anfechtungen aus dem weltlichen, gegebenenfalls satanischen Bereich. Selbst „die" Reformation tritt hier zurück und reiht sich bruchlos ein in dieses Auf und Ab des Geschehens. Angesichts dieser Kontinuität scheint aber auch Platz für einen neuen, direkteren Blick auf die diesseitigen Weltgegebenheiten. Man hat sozusagen mehr Kapazitäten für die Konzentration auf die weltlichen Detailvorgänge, gerade weil man sie aus der normativen Sicherheit der im Hintergrund immer aktivierbaren Ewigkeitsperspektive der Kirche heraus frei beobachten und immer wieder ihre letztlich undramatische Qualität betonen kann. Wenn letzteres ein gleichsam „kontemplativer" Effekt der Ewigkeits- und „Geschichts"-Konzeption für den spirituellen Bereich wäre, bedeutet diese ins Abstrakte zurückgeschobene normative Ausgangssicherheit für den Bereich des praktischen Wirkens eine Öffnung auf empirische Weltbearbeitung. Der Denkrahmen spannt den reformierten Entscheidungsträger geistig nicht zuerst und vorgängig in eine detailliert besetzte eschatologische Rollengebung und Struktur ein, sondern hält nur einen ganz weiten kosmologischen Ewigkeitshintergrund bereit, vor dessen Folie eine lebensweltlich aktive Gegenwarts- und nahe-Zukunfts-Sicht 84 Girolamo Zanchi, Dedikationsbrief an Johann Casimir, Heidelberg, Cal. Sept. 1577, in: DERS., Opervm theologicorvm D. H. Z. Tomus secundus, De natvra dei sev de divinis attribvtis, libros qvinqve complectens, Genf 1605, f. ^|2r-^[7y - der Brief ist im brisanten Moment geschrieben, als „die ecclesia" gerade einmal wieder wandern mußte, nämlich von Heidelberg nach Neustadt/Haardt, wo Zanchi dann von Johann Casimir als Theologe an die calvinistische Ersatzgründung des Casmirianeum übernommen wurde.

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Raum greifen kann. Die gerade unspektakuläre und wenig dominante Apokalyptik versetzt so den Gläubigen, und also auch den reformiert-calvinistischen Politiker, in eine sehr konkrete Hinordnung auf das hier und jetzt Naheliegende. Die dahinter hegende spirituelle Weltinterpretation ist nicht zuvörderst als Endzeitenkampf charakterisiert — auch wenn natürlich AntichristMetaphern auch im Reformiertentum einem ständig begegnen. Wenn im Luthertum und in Sonderfällen latent papstferner, religionsbündnerischer Katholikengruppen (z.B. französische Liga) die apokalpytische Endzeiterwartung jedenfalls zeitweise gerade das methodische a priori und der Ausgangspunkt für die interpretative Einbettung von allem Denken und Handeln zu sein scheint, so ist im Reformiertentum die Apokalyptik eher ein oberflächlich-motivisches Element der emotionalen Stimulation, das aber keine vertiefte Verankerung in der theologischen Grundlagenformung hat. Charakteristisch ist vielmehr die Orientierung auf eine diesseitige Gegenwart und nahe Zukunft, in der Schritt für Schritt an Schutz und Erweiterung der Kirche / des Reiches Christi gearbeitet werden kann im Freiraum, den die Abstrahierung und Ewigkeitsbetonung der Ekklesiologie und Kosmologie schafft85. B. Historie und Jus, Politikwissenschaft und lus publicum — in Theorie und Praxis Wechseln wir aus dem theologischen Bereich in den primär juristischer bzw. politischer Theorien, um auch dort dem Geschichts- und Gegenwartsbild nachzuspüren. Daß sich etwa um 1600 an den deutschen Universitäten „Politikwissenschaft" als Fach, und zwar als propädeuticum für die Jurisprudenz, etablierte, daß sie sich hierbei im Austausch mit dem und in Konkurrenz zum gleichfalls jetzt entstehenden „jus publicum" befand, ist nach den Studien insbesondere von Horst Dreitzel, Michael Stolleis, Wolfgang Weber und Merio Scattola eine inzwischen gut untersuchte Tatsache86. Zumindest hinsichtlich der Politikwissenschaft ist ihre universitäre Verankerung offensichtlich auch ein spezifisch deutsches Phänomen, jedenfalls spielte sich demgegen85 Der Beginn des „Rückzugs der Prophetie" aus der Universalgeschichte im Calvinismus erscheint so zeitlich im Wesentlichen kongruent mit der Ausarbeitung der diversen politiktheoretischen Konzeptionen von den Vindiäae bis zu Althusius, für die der normative Ausgangspunkt der „lex Dei" unverzichtbar bleibt, die aber sonst in zunehmendem Maße enttheologisiert erscheinen. Das ist auf den ersten Blick nicht anders im Luthertum (Amisaeus). Aber der Ausgangspunkt, von dem aus (dominant, nicht vollkommen) „enttheologisierte" Politiken entstehen, ist konfessionskulturell ein anderer. 86 HORST DREITZEL, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970; MICHAEL STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988; WOLFGANG E. J. WEBER, Prudentia gubematoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992; MERIO SCATTOLA, Dalla virtù alla scienza: la fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell' età moderna, Mailand 2003.

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über das (seinerseits neu methodisierte, aber weniger in eine systemwissenschaftliche Form gebrachte) politische Räsonnement in Italien fast ausschließlich im höfischen und parauniversitären Umfeld der „accademie" ab. Meist blickt man auf Helmstedt und Rostock mit Johannes Caseüus und Günther Owen als die Orte und Personen, die diese deutsche Politikwissenschaftsetablierung zuerst bestimmt haben87. Auch Heidelberg müßte hier aber Erwähnung finden und zwar unter Beachtung der dort wichtigen spezifischen Verknüpfung mit dem mos gallicus und der in diesem Bereich wirksamen Geschichtsauffassung. Aus der Zeit des kurzen Aufenthalts des Johann Jakob Grynaeus an der Heidelberger Universität ist vom 5. September 1584 eine Rede De theorico et practico fine historiae, habitae in celeberrima Hejdelbergensi A.cademia im Druck überliefert, die zu jener Vorlesungsreihe über „die historien" gehörte, welche Grynaeus ab August öffentlich vor den Studenten und auch den Räten Johann Casimirs hielt88. Diese Vorlesung über „Historia" gehört der humanistischen Tradition „de usu bzw. de fine historiae" an89 und subsumiert entsprechend auch die neuen Typen von geschichtlichen Hilfswissenschaften (die „chronologia"), aber auch die „tabulae cosmographicae bzw. geographicae" unter jenen Begriff. Historie ist eine scientia practica, die den Regierenden nützt. Dann zitiert Grynaeus Melanchthon, der in platonischer Manier die Gegenwart als eine „aetas È7TI0'O|A.R|'EI.KTI" gegenüber einem vergangenen goldenen Zeitalter und einem weiteren kriegerischen Zeitalter abgesetzt habe. Auch in der Gegenwart sehe man aber tagtäglich, wie sehr Kirchen und Staaten von Stürmen und Verwüstungen heimgesucht würden, doch insoweit sei die Charakterisierung des Zeitalters richtig, als bei all dem nicht einige besondere Hochleistungen fehlten: „Blüht nicht das Studium des Zivilrechts in diesem Zeitalter mehr als in 1000 Jahren zuvor?" Grynaeus erwähnt François Hotman, Jacques Cujas, Matthias Wesenbeck und Hugues Doneau als die Fixsterne der Jurisprudenz. Sonst werden in der Vorlesung über „Historie" keinerlei Autoritäten aus anderen Disziplinen genannt, was sicher bezeichnend ist: Die Vorstellung eines möglichen Geschichtsgebrauchs ist hier zuDREITZEL, Protestantischer Aristotelismus (s. Anm. 86), 99-110. JOHANN JAKOB GRYNAEUS, Oratio, De Historiae finibvs, in: Orationes dvae, altera, De symphonia prophetarvm et evangelistarvm [...], Altera, De theorico et practico fine historiae, habitae in celeberrima Heydelbergensi Academia, Heidelberg 1584, f. 12'-21'. Vgl. WINKELMANN, Urkundenbuch (s. Anm. 69), Nr. 1288. 89 Vgl. RÜDIGER LANDFESTER, Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts, Genf 1972; ECKHARD KESSLER (Hg.), Theoretiker humanistischer Geschichtsschreibung. Nachdruck exemplarischer Texte aus dem 16. Jahrhundert (Francesco Robortello, Dionigi Atanagi, Francesco Patrizi, Giacomo Aconcio, Giovanni Antonio Viperano, Uberto Foglietta, Alessandro Sardi, Sperone Speroni), München 1971; GIROLAMO CONTRONEO, I trattatisti dell' „Ars historica", Neapel 1971; Nouvelle Revue du Seizième siècle 19/1 (2001). 87

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vörderst mit der Jurispruden2 verknüpft90. Obwohl es hier noch nicht um „Politica" ging, ist der Impetus der praktisch-philosophischen JurisprudenzPropädeutik in dieser Historia-Konzeption genau die gleiche, wie es wenige Jahre später im Verhältnis Politikwissenschaft-Jurisprudenz der Fall ist: 1590 hielt Johannes Kahl, seit 1587 Professor in der Artistenfakultät, anläßlich einer Promotion von neun Doktoranden zum Doktor (Magister) der Philosophie - offenbar also in politischer Philosophie — eine bislang übersehene Oratio de praecipvispoliticae sive practicae philosophiae lavdibvs et vtilitatibvs, die damit zu den frühesten Zeugnissen einer universitär institutionalisierten Politikwissenschaft überhaupt gehört. Kahl, in diesem Jahr gerade selbst in Rechtswissenschaft promoviert, noch aber in der philosophischen Fakultät angesiedelt, wird 1597 in den Universitätsannalen schon „politicae professor" genannt, und driftet langsam in die Juristenfakultät hinüber (1605 InstitutionenLektur)91. Die Ausführungen zur „Politica", die vor allem in ihrer ciceronischen Prägung schon klar auf der calvinistischen Linie dieser Disziplin liegen, wie sie später systematisch von Daneau und Althusius ausgearbeitet wird92, 90 „[...] Sed tarnen fatendum nobis est, ad Dei gloriam, etiam huic aetati, quae magnis Ecclesiae & Reipub. tempestatibus & perturbationibus est obnoxia, non deesse sua quoque praesidia & ornamenta. Vt enim de Studijs nunc hoc solum in transcursu dicam. An non hac aetate magis floret Iuris Ciuilis Studium, quam vel mille ab hinc annis? An non in docendo, sctibendo & consulendo, ea facundia, atcpißeia & Methodo nunc quidam Iurisconsulti vtuntur, merito vt etiam aliarum professionum viris doctis sint admirationi? Equidem fateor mihi Hottomanni summi mei, Cuiacij, Vvesenbecij, Donelli & quorundam aliorum Scripta quaedam, eminus, saltem per transennam intuenti; istud in mentem venisse non semel, bene nobis de Repub. sperandum, tantisper donec eiusmodi Iurisprudentiae lumina, illa habitura est: & dum his non deerunt constantes Spudastae & sectares [...]" (GRYNAEUS, Oratio [s. Anm. 88], f. 18r). Vgl. NOTKER HAMMERSTEIN, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, der aaO., 17-42 den mos gallicus streift und ihn, aus der Perspektive der Aufklärung evtl. zu Recht, als relativ wirkungslos charakterisiert. Um 1600 scheint mir allerdings genau dieser mos gallicus strukturell (maßstäblich natürlich begrenzt) Vergleichbares zu leisten. 91 JOHANNES KAHL (CALVINUS), Academica philosophicae festivitatis panegyris, id est, solennis actvs promotionis philosophicae: seu Oratio de praecipvis politicae sive practicae philosophiae lavdibvs et vtilitatibvs, Habita in solenni Academiae heidelbergensis actu & convento [...] 4. Calend. Martias [...], Heidelberg 1590 (gewidmet Nicolaus Dobbinus). Die Oratio ist weder bei WEBER, Prudentia (s. Anm. 86) noch bei SCATTOLA, Dalla virtù (s. Anm. 86) noch in der Bibliographie DERS., L'ordine del sapere. La bibliografia politica tedesca del Seicento, Neapel 2003 (Archivio della Ragion di Stato 10/11 [2002-2003]) verzeichnet. AaO., 8-11, fuhrt Scattola aus, daß zwar Caselius die philippistische Tradition der aristotelisch-philosophischen Ethik-Vorlesung fortsetzte und hierbei auch stets die „Politica" behandelte, daß er aber nie als „professor politicae" bezeichnet wurde, wie es dann in Helmstedt erst ab 1618 für einen Professor der Fall ist. Bekannter (und letztlich natürlich auch gewichtiger) als die Rede von 1590 ist: JOHANNES KAHL (CALVINUS), Propaideia practica: hoc est studii politici ac iuridici prognosis, Frankfurt 1595. 92 Vgl. CHRISTOPH STROHM, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche

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interessieren hier vor allem wieder in ihrer Hinordnung auf die Jurisprudenz93. Es ist keine rein aristotelisch-philosophische Konzeption von „Politica" mehr, sondern es setzt schon in dieser Rede die Anreicherung und Verschmelzung mit juristischen Semantiken und Strukturelementen ein, wie sie dann bei Althusius ihre Höchstform erreicht (natürlich neben den biblischgottesgesetzlichen Fundierungselementen)94. Damit ist gerade in der Politikwissenschaft wie bei Grynaeus' Ausführungen zur „Historia" eine Entwicklung spürbar, die Vertiefung und Folge der humanistisch gepflegten Jurisprudenz ist, die schon unter Ottheinrich in der Kurpfalz eingesetzt hatte. Sicher steht hier die Kahl'sche Auffassung von „politica" schon nahe an dem, was man nun auch „Ius publicum" zu nennen begann: Im Jahr 1600 veröffentlichte Kahl eine Denis Godefroy gewidmete Erörterung zum großen Standardstreitthema, ob der „princeps legibus solutus" sei (Dig. 1,3,31)95. Während moderne „politische" Autoren kaum zitiert werden — nur an einer Stelle stehen geradezu verschämt Hinweise auf Autoren wie Pruckmann, Daneau und dann auf den eigentlichen Stein des Anstoßes, Bodins Kapitel 1,8 von Les six livres de la république —96, ist sein Ansatz rein „historisch-kritisch". Entsprechend sind, abgesehen vom Corpus iuris und den antiken Schriftstellern, nahezu ausschließlich die Autoren des mos gallicus Jacques Cujas, François Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, Berlin/New York 1 9 9 6 , 3 4 6 - 3 8 0 ; zur ciceronischen Prägung der althusianischen Konzeption vgl. C O R N E L Z W I E R L E I N , Art. „Consociatio" und „Respublica", in: I N G R A V A L L E / M A L A N D R I N O , IL lessico (s. Anm. 4 7 ) , 1 4 3 u. 277-294. 93 „Verum enim uero ad Iurisprudentiam tantum conferì Politica: vt illa potius nil [sie] aliud reuera esse videatur, quam ea, quae antiquitus non Iurisprudentia, sed Politica dicebatur: aut certe nil [sie] aliud, quam plenior quaedam magisque practica & quasi exemplaris Politica. Prima sane & intima Iurisprudentiae, legum, magistratuum, iudiciorum, iustitiae, iuris & aequitatis, principia & fondamenta, ex Philosophia Ethica & Politica dependent [...]" ( K A H L , Oratio [s. Anm. 91], 25). Kahl schmeichelt sich auch bei Giulio Pace ein (aaO., 26). Es spricht einiges dafür, daß jenseits inhaltlicher Aspekte die Anschmiegung der „Politica" an die Jurisprudenz in der frühneuzeitlichen Disziplinendifferenzierung auch im Interesse der Akteure an der Eingliederung in die höher reputierte Juristenfakultät und damit an höherer Besoldung begründet war. 94 K A H L , aaO., 25f. vergleicht anhand der einschlägigen (ihrerseits oft Entlehnungen aus der griechischen Philosophie enthaltenden) Generalaussagen in Digesten, Codex und Novellen „De Iustitia et iure" etc. die beiden Disziplinen. 95 D E R S . , De principe, De Maiestate, ac privilegiis eivs: proinde et de Lege Regia: Commentario Iuridico-Politica, & Histoncolimdica: Capitibus duobus distineta; In qvorvm primo disseritur, an populus Romanus per Legem Regiam omni sua potestate ac maiestate seipsum priuarit: In secundo an Reges sint supra Leges: adeoque an Princeps Lege Regia vel alia quacunque, legibus solutus & quibus. Qvibvs accesservnt nonnvllae de eadem materia Diatribae: item Synopsis quaedam de Rep. seu Imperio, tum in genere tum in specie de Imperio Romano, eiusque praeeipuis periodis & mutationibus, Frankfurt a. M. 1600. 96 Die Bodin-Opposition ist deutlicher in der Oratio de svprema in repvb. potestate, qvam maiestatem vocant, eiusque notis ac proprietatibus, in: K A H L , De principe, De Maiestate, ac privilegiis eivs [s. Anm. 95], S. 100-112).

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Connan, Hugues Doneau, François Hotman, Denis Godefroy, Éguinaire Baron seine Referenzen, daneben nur Hermann Vulteius, Matthias Wesenbeck als deutsche dem mos gallicus nahestende Autoritäten. Diese Ausschließlichkeit ist schon besonders puristisch und ist nur für diesen „politikwissenschaftlichen" Zweck möglich: Letztlich geht Kahl von der ciceronischen Definition von res publica als res populi aus und will im historischen Durchgang einschlägiger Gesetzesfragmente zeigen, daß die maiestas, kyria arché, summa potestas und wie die verschiedenen Synonyme für das, was Bodin Souveränität genannt und umdefiniert hatte, lauten, immer beim römischen Volk blieb und sie diese den Konsulen, Diktatoren und dann den Kaisern immer entweder per ausdrückliche Wahl oder per stillschweigenden Konsens nur mit der Bedingung der guten Amtsführung übertragen hätten. Seine Ausführungen kreisen um den historischen Übergang von der Republik zum Prinzipat. Unter Rückgriff auf Tacitus und Sueton erläutert er, daß Augustus und jedenfalls die späteren Kaiser sich letztlich betrügerischer Mittel („dono & dolo, simulatione & dissimulatione, vi & armis") bedient hätten, um in den Genuß der summa potestas zu gelangen. Er fragt auch, ob, wenn der Senat den Kaisern tatächlich die alleinige Macht übertragen hätte, er dazu überhaupt berechtigt gewesen wäre, da doch die Formel „senatus populusque Romani" zeige, daß der Senat nicht gleichzusetzen sei mit dem Volk. Aus ciceronisch-aristotelischen naturrechtlichen Prinzipien leitet er die ethischlogische Unmöglichkeit der Loslösung des Fürsten von den Gesetzen ab, da die Gesetze letztlich nur Konkretisierungen der allgemeinen natur- bzw. gottesrechtlichen Anforderungen an die Verfaßtheit des menschlichen Zusammenlebens sein dürfen und auch der Fürst über diese Grenze nicht schreiten darf. So könne schließlich die Formel „princeps legibus solutus" nicht in dem Sinne einer völligen, totalen Unverbindlichkeit der Gesetze für den Fürsten gemeint sein, sondern nur hinsichtlich einiger Privilegien. Wenn Ulpian die Formel tatsächlich in seinem Rechtsbuch „ad legem Iuliam Papi" im 13. Buch niedergeschrieben habe, aus dem das Fragment dann von Tribonian und Dorotheus in die lex „princeps" der Digesten übernommen wurde, so kann er dies entweder nicht im absoluten Sinne gemeint haben oder er hat es selbst nur in schmeichlerischer Absicht gegenüber seinem Mäzen Kaiser Alexander Severus geschrieben. Wenn Tribonian und Dorotheus unter Justinian das Fragment dann so allgemein in die Digesten aufgenommen hätten, sei es auch aus Unverstand geschehen. Dem Ergebnis nach unterscheidet sich Kahls maiestas-Definition (wie so oft) von Bodin weniger, als der antiabsolutistische Impetus es erahnen lassen könnte. Wohl ist aber die Denkrichtung, also das Insistieren auf die Vorgängigkeit des Volkes, das letztlich die Herrschaftsgewalt überträgt, ein markantes Kennzeichen und hält den Raum für Konstruktionen offen — um die es Kahl hier nicht geht - , wie sie die Monarchomachen gepflegt haben.

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Der mos gallicus wurde früher zumeist grob als das Eindringen humanistisch-philologischen und -historischen Textverständnisses in die Rechtswissenschaft nach den „dunklen Zeiten" der Glossatoren und Postglossatoren fortschrittsteleologisch als purer Methoden- und Erkenntnisgewinn beschrieben. Daß die historische Analyse oft auch ganz präzise wertgeleitet war und systematisch vorgängigen Zielen diente, gerät so manchmal in Vergessenheit. Kahls Traktat, auch wenn sein Verfasser sicher nicht zu den Größen europäischer Geistesgeschichte gehört, ist ein schönes Beispiel, wie die historischkritische Kontextualisierungs- und Zersetzungsarbeit so lange an den Rechtstexten herumfräst, bis übrig bleibt, was von der Wertsetzung her philosophisch-systematisch gewollt ist: eine Lehre der stark gesetzes- und bedingungsförmig beschränkten Monarchie. Merio Scattala hat den tendenziellen Unterschied zwischen Politica-Autoren reformierter und lutherischer Provenienz beispielhaft daran herausgearbeitet, daß die Reformierten in der summa potestas-Frage meist auf eine maiestas-Begrifflichkeit abheben, der die Gerechtigkeitsanforderung an die Herrschaftsausübung inkorporiert ist, während die Lutheraner sich der summa potestas-Formel in weitgehend getreuer Bodin-Nachfolge bedienen, weil hier Obrigkeit schlicht als Stand thetisch von Gott gesetzt gedacht werden kann. Während der Reformierte (Casmann, Keckermann, Timpler) das imperium, die Herrschaftsautorität, als Folge und Ausfluß der maiestas versteht, deren Besitz zuvor wiederum an die tugendhafte Befolgung christlich-ethischer Normen gebunden ist, ist für den Lutheraner (Arnisaeus, Bornitz) umgekehrt die ethische Größe der maiestas Folge der vorgängigen summa potestas, der das imperium intrinsisch ist. Die wichtigsten Zeichen der summa potestas sind daher, Bodin folgend, zeitliche Unbegrenztheit und Unteilbarkeit und ihr Inhaber ist notwendig der Regierende, im Zweifel der Monarch97. Wenn solches zentrale Unterschiede zwischen lutherischen und reformierten Konzepten sind, so gibt es verschiedene Genres und Methoden, um zu diesen Ergebnissen zu gelangen und sie zu umkreisen. Einer, und wohl eher ein seltener, ist dann Kahls radikaler humanistischer Historismus. Er folgt damit einer Tradition, die in Heidelberg natürlich schon mit François Baudouin begonnen hatte, denn dieser ist ja nicht nur einer der ersten, die historisch arbeiteten wie schon Ermolao Barbaro oder Andrea Alciato, sondern er hatte auch systematisch über das Verhältnis von Jus und Historie im Sinne einer Wissenschaftsmethodik reflektiert. Der diesbezügliche Traktat De institutione historiae universae et eius cum iurisprudentia coniunctione, der 1561 zwar in Paris

97

SCATTOLA, Dalla virtù (s. Anm. 86), 242-300.

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veröffentlicht wurde, war angesichts des Umfangs sicher noch in Heidelberg begonnen worden98. Ausführungen wie die Kahls sind dabei nicht nur akademische Reflexionen, die ohne Widerhall und Nutzanwendung bleiben. Tatsächlich geben sie eher auch die theoretische Untermauerung der reichspolitischen Position der Kurpfalz um 1600 wieder: Die antikaiserliche Haltung der Kurpfalz kam exakt zu diesem Zeitpunkt auf dem Deputationstag von Speyer einmal mehr voll zum Tragen, bei dem im Rahmen der Verhandlung von Revisionssachen des Reichskammergerichts auch wieder die Freistellungsfrage im Zentrum der Diskussion stand. Die Kurpfälzer sprengten dann den Deputationstag, indem sie ihn verließen, als ihrer Position — daß das Reichskammergericht in der unter den Konfessionsparteien strittigen Frage der Freistellung nicht kompetent sei und daher über den Vier-Klöster-Streit keine Revisionsverhandlungen im Rahmen der Reichskammergerichtsvisitation statthaft seien — nicht Recht gegeben wurde". Ein halbes Jahr später, am 22. Januar 1602, wurde dann Ludwig Camerarius mit einem Gutachten zu einem verwandten Jurisdiktionskonflikt betraut. Letztlich ging es, im Rahmen der ständig stärker werdenden Konflikte im südwestdeutschen Raum (hier in den Linien der Markgrafen von Baden, die unterschiedlichen Konfessionen zugehörten), um die den Kurpfálzern höchst unliebsamen Ubergriffe der kaiserlichen Jurisdiktion durch den Reichshofrat100. Friedrich Hermann Schubert hat dieses Gutachten als das „erste ausführliche Zeugnis" der politischen Ansichten dieses in den folgen98 Vgl. MICHAEL ERBE, François Bauduin (1520-1573). Biographie eines Humanisten, Gütersloh 1978,11 Off.; zu Bauduins Religiosität vgl. MARIO TÜRCHETTI, Concordia o tolleranza? François Bauduin (1520-1572) e i „Moyenneurs", Mailand/Genf 1984. 09

Vgl. zu den Religionskonflikten vor dem Reichskammergericht BERNHARD RUTHMANN,

Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555-1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse, Köln 1996. 100 „Der Reichshofrat [...] hatte dem Markgrafen Emst Friedrich von Alisbach [sie, statt richtig: Baden-Durlach, 1560-1604, seit 1599 calvinistisch, hatte Baden-Baden okkupiert] die Auslieferung seiner Nichten [sc. der Töchter Eduard Fortunats] befohlen. Dieser hatte darauf den Kurfürsten von Mainz und der Pfalz eine Appellation gegen das Urteil an die Stände und den .besser zu informierenden' Kaiser übergeben. Nur der Kurfürst von der Pfalz wagte es jedoch, die Appellation an den Kaiser weiterzubefördern. Mit dem Ausdruck schärfsten Unwillens erhielt er sie von Rudolf II. zurück. Nun kam es dem pfälzischen Oberrat darauf an zu klären, ob gegen Rechtsentscheidungen der kaiserlichen Hofjustiz beim Kaiser oder den Ständen Berufung eingelegt werden könne" (so die Zusammenfassung der Konfliktlage bei FRIEDRICH H. SCHUBERT, Ludwig Camerarius 1573-1651. Eine Biographie, Kallmünz 1955, 44). Vgl. auch STEFAN BILDHEIM, Calvinistische Staatstheorien. Historische Fallstudien zur Präsenz monarchomachischer Denkstrukturen im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2001, 132. Zu der kurpfälzischen Kritik an der Ausdehnung der kaiserlichen Mandatspraxis und am Reichshofrat um 1600 vgl. STEFAN EHRENPREIS, Die Tätigkeit des Reichshofrats um 1600 in der protestantischen Kritik, in: SELLERT, Reichshofrat und Reichskammergericht (s. Anm. 57), 2746, 37-39 zu einem inhaltlich verwandten Gutachten des Hofgerichtsrats Leonhard Schugs von 1599.

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CornelA. Zwierlein

den Jahren ganz entscheidenden Kurpfälzer Politikers bezeichnet. Vor dem Hintergrund des seit den Studien von Michael Stolleis inzwischen stärker differenzierten Wissensstandes zu Ius publicum/politica zeigt ein erneuter Blick auf das Gutachten, daß hier tatsächlich ein ganz bemerkenswertes Dokument vorliegt. Es ist eines von vier Gutachten, die der Oberrat damals bei seinen Hofgerichtsräten neben der Befragung über allgemeine Reichskammergerichtsmängel über die Fragen einholte, „1) an Caesare male informato ad eundem melius informandum possit appellari, 2) Ob vom Keiser ad status Imperij könne appellirt werden". Das heißt, es ging darum, ob, nachdem der Kaiser in der Frage schon aufgrund einer nach Kurpfälzer Ansicht falschen Sach- und Rechtsauffassung entschieden hatte, noch einmal das Rechtsmittel einer Appellation, entweder an den Kaiser selbst — und zwar nachdem er über die richtige Sach- und Rechtslage aufgeklärt wurde - oder aber an die Stände, das heißt den Reichstag selbst als Spruchinstanz, zulässig sei101. Der Sache nach wurde hier also über das Rechtsmittel diskutiert, das die Reichsjuristen des 18. Jahrhunderts unter ganz veränderten Bedingungen den „recursus ad comitia" nannten102. Der Gedanke an die Versammlung der Reichsstände als Ganzes, an den Reichstag als eine Art „Superrevisionsinstanz", war schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder aufgekommen, wenn die Reichsgerichtsbarkeit blockiert war, oder wenn insbesondere im Rahmen von konfessionellen Konflikten die eine Partei sich ungerecht behandelt fühlte103. Dies war nach dem Scheitern des Revisions- und Deputationstags von 1600/1601 einmal mehr der Fall104. 101 LUDWIG CAMERARIUS, Bedencken, über den puncten der Stend appellarion a Caesare male informato, Jtem, ad status Jmperij: wie auch deß Keyß. Cammergerichts Mengel wegen (dat. 12./22.1.1602, präs. 13./23.), HStAMü, Kbl. 115/2 I, f. 142- J 2. Ne latius vagetur ditiones bonae definitiodefinitio quam nis easque tres defini turn Ut sit s ermo perspicuus & proprius in definitione.

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s 4. Défini- Ç / unt idque

Definitio est quaequid res sit explicat. Estque duplex

Perfectè, ut definitio essentialis quae constat genere & differentia specifica: Homo est animal . 2. Definitio caussalis, quae constat ex caussis exterioribus

Imperfectè, ut reliquae "" tres formae

Secundum formas seu modos, quorum

• Efficiente

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3. Partialis, quae constat ex partibus vel

Fine • Essentialibus

Integralibus ripay^a tcûSTIÇ, hoc est, rei quae explicatur

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4. Describunt,