Der Prozess Jesu: Geschichte und Theologie der Passionserzählungen 9783161616105, 9783161616112, 3161616103

Warum wurde Jesus von Nazaret hingerichtet? Wer war verantwortlich? Wie konnte es dazu kommen, dass der Galiläer, der Me

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German Pages [931] Year 2022

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Hinführung. Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte
1. Motivation und Hindernisse
1.1 Von der theologischen Notwendigkeit der historischen Rückfrage
1.1.1 Der Jesus der Evangelien – der „wirkliche“ Jesus?
1.1.2 Plädoyer für ein neues Ambiguitätsparadigma
1.1.3 Der „linguistic turn“ und seine möglichen Folgen
1.2 Entstellte Erinnerung. Die Passionserzählungen des Neuen Testaments und „die Kollektivschuld“ der Juden
1.2.1 Der Vorwurf vom Gottesmord (Melito von Sardes) und seine Folgen
1.2.2 Das Zweite Vatikanum: Nostra Aetate Nr. 4 (1965)
2. Zur Forschungsgeschichte und den Zielen dieser Studie
2.1 Der Überlieferungscharakter der Passionserzählungen. Methodische Weichenstellungen
2.2 Thematische Schwerpunkte
2.3 Zu dieser Studie: Ziele – Grundannahmen – Vorgehen
I. Teil: Die Quellen. Ihre Beschaffenheit und Herkunft im Horizont antiker Literatur
1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien
1.1 Identischer Grundriss – unterschiedliche Ausführung. Die gemeinsame Struktur der kanonischen Passionserzählungen
1.2 Literarische Besonderheiten der kanonischen Passionserzählungen
1.2.1 Die Schrift Israels, die Matrix der Passionserzählungen
1.2.1.1 Zitate – Anspielungen – Motive
1.2.1.2 Die Prägekraft ganzer Schrifttexte: Ps 2, Ps. 22 und Weish 1 f. + 4 f
1.2.1.3 Dtn 21,22 f. – Schlüssel zu den Passionserzählungen?
1.2.1.4 Jesus, der „leidende“ Davidssohn, und die Bedeutung des Psalters für die ersten Leser
1.2.2 Die mimetische Kraft der Passionserzählungen oder: Wie der Leser sich in den Erzählfiguren wiederfinden kann
Exkurs 1: Die Sprüche vom „Bekennen“ und „Verleugnen“ des Menschensohnes
1.2.3 Primäre und sekundäre Intention der Passionserzählungen. Zwischenbilanz
1.3 Zur Entstehung der kanonischen Passionserzählungen. Vorformen und Archetyp
1.3.1 Die Passionserzählungen als Erinnerungs-Texte des „kommunikativen Gedächtnisses“
1.3.2 Auf dem Weg zu einem integrativen literargenetischen Modell
1.4 Der Umfang der alten Passionserzählung
1.4.1 Der Beginn der alten Passionserzählung
1.4.2 Das Ende der alten Passionserzählung
1.4.3 Die Mahlszene der alten Passionserzählung und der sog. „Einsetzungsbericht“
1.4.4 Jahresringe wachsender Erinnerung? Der Grundbestand der alten Passionserzählung
1.5 Die Gattung der Passionserzählungen
1.5.1 Methodologische und terminologische Vorfragen
1.5.2 Vom Tod berühmter Männer. Jüdische und pagane Erzählungen zwischen dem 5. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr
1.5.2.1 Die Historien des Herodot
1.5.2.2 Der „edle Tod“ (καλός θάυατος) des Sokrates als „Archetyp“
1.5.2.3 Der Tod des Propheten Secharja (2Chr 24,20–22)
1.5.2.4 Jüdische Martyrien im 2. und 4. Makkabäerbuch
1.5.2.5 Philosophisch-Biographisches: Anekdoten, Exempla-Sammlungen und Exitus-Literatur
1.5.2.6 Gerichtsprotokolle, die Acta Alexandrinorum und weitere Prozesserzählungen
1.5.2.7 Martyrien von Propheten und Rabbinen
1.5.3 Die neutestamentlichen Passionserzählungen als Beispiele der Gattung τελευτή. Tradition und Innovation
1.6 Die vorkanonischen Passionserzählungen. „Kulterzählungen“ frühchristlicher Paschafeiern
1.6.1 Das Pascha-Kolorit und die unterschiedlichen Chronologien der Passionserzählungen: Starb Jesus am „Rüsttag“ (Joh 19,14) oder am Festtag selbst (Synoptiker)?
1.6.2 Was lässt sich über das frühchristliche Pascha sagen?
1.7 Ort und Zeit der Entstehung des Archetyps der Passionserzählungen
Exkurs 2: Das Verhältnis der alten Passionserzählung zum Kerygma 1Kor 15,3–5(7)
1.8 Die älteste Passionserzählung – eine historisch verwertbare „faktuale Erzählung“?
2. Apokryph gewordene Evangelien
2.1 Die Passions- und Ostererzählung des Petrusevangeliums
2.2 Evangelium des Nikodemus (die sog. Pilatusakten)
3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz
3.1 „[…] auf Anzeige unserer führenden Männer“ gekreuzigt. Das sog. Testimonium Flavianum (Josephus, Ant 18,63 f.)
3.2 „[…] durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet“ (Tacitus, Ann 15,44,3)
3.3 Die Hinrichtung Jesu nach dem Talmud (bSan 43a)
II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption
1. Synchronie und Diachronie. Prinzipien, Methoden und Kriterien der Untersuchung
A. Vorgeschichte (Eingangsteil)
2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk 11,1–10 par.)
2.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
2.2 „Wir steigen hinauf nach Jerusalem“ (Mk 10,33). Die Einzugserzählung bei Markus und in der PEmk
2.3 Königliches Huldigungsritual oder „Einholung“ des Triumphators. Der markinische und johanneische Überlieferungszweig im Vergleich
2.3.1 Eine „Findungsnotiz“ als Keimzelle einer Legende
2.3.2 „Erfüllungszeichen“ und Huldigung. Zur Ursprünglichkeit der markinischen Abfolge
2.3.3 Die Geschichte im johanneischen Überlieferungsstrang (Joh 12,12–19)
2.3.3.1 „[…] wenn diese schweigen, dann werden die Steine schreien“ (Lk 19,40). Zur PElk/joh
2.3.3.2 Zur vorjohanneischen Fassung der Erzählung (PEjoh)
2.3.3.3 Das „Eselchen“ als Korrektiv zur triumphalen Huldigung Jesu. Zur Fassung des vierten Evangelisten
2.4 Der Friedenskönig. Die Einzugserzählung in der PEG
2.4.1 Die Einleitung der Erzählung – „Auftakt“ der PEG
2.4.2 Das Corpus der Erzählung
2.4.3 Die Erzählung als Inszenierung biblischer Motivcluster
2.4.4 Die Einzugserzählung als Proömium der PEG
3. Die Tempelaktion Jesu (Mk 11,15–17 par.)
3.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
3.2 Die Tempel-„Austreibung“ nach Markus (Mk 11,15–18)
3.2.1 „Ein Haus des Gebets für alle Völker“ (Jes 56,7). Die Pointe der markinischen Darstellung
3.2.2 Die Bedeutung der Erzählung für die Christologie des Markus
3.3 Der inkarnierte Logos als Gottes wahrer Tempel in dieser Welt (Joh 2,13–22)
3.4 Ein Seitenblick auf Matthäus und Lukas: Die „Vollmacht“ des „Davidssohns“ über den Tempel (Mt 21,12–17) und das Heiligtum als Ort der Lehre Jesu (Lk 19,45–48)
3.5 Von der Erfüllung der Prophetie des Sacharja. Ein Vergleich der markinischen und johanneischen Erzählfolge und deren Urgestalt in der PEG
Exkurs 3: Prophetische Zeichenhandlungen
3.6 Das christologische Tempelwort (Mk 14,58 par. Joh 2,19 etc.) und seine Urgestalt
3.7 Vom messianischen König und seinem Tempelneubau. Die Erzählung in der PEG
Exkurs 4: Die Bezeichnung der Gegner Jesu in den Passionserzählungen
4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas (Mk 14,1–11 par.)
4.1 Die Varianten der Rahmenhandlung und ihre Quellen
4.2 Die Gegner des Gerechten rotten sich zusammen. Die markinische und vormarkinische Gestalt der Rahmenhandlung
Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten
4.3 „Was sollen wir tun?“ (Joh 11,47) – Die johanneische Fassung der Doppelepisode und ihre Vorform
4.4 Tödliches Komplott und Todesprophetie (Salbung in Betanien). Die Szenenfolge in der PEG
B. Entscheidung (Mittelteil)
5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk 14,17–31 par.)
5.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
5.2 „Alle werdet ihr Ärgernis nehmen“ (Mk 14,27). Die Mahlszene mit anschließender Episode auf dem Weg zum Ölberg bei Markus
5.3 Die Mahlszene in der PEmk
5.4 Vom Tischdiener Jesus zur Fußwaschung. Die PElk/joh als Vorlage des Lukas und Johannes
5.5 Von Verrat, Verleugnung, Abschied und Hoffnung. Die Mahlszene der PEG im Spiegel der PEmk und PElk/joh
6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk 14,32–42 par.)
6.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
Exkurs 6: Jesus wird von einem Engel gestärkt. Zur textkritischen Problematik von Lk 22,43 f
6.2 Getsemani – Herzstück der Markuspassion
6.3 „Konntest Du nicht eine Stunde wachen?“ Die Szene in der PEmk
6.4 „Die Stunde ist gekommen“ (Mk 14,41 par. Joh 12,23). Die Szene in der PEG
7. Jesu „Auslieferung“ (Mk 14,43–52 par.)
7.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
7.2 „Ich bin es“. Jesu Selbst-„Auslieferung“ nach Johannes (18,1–12)
7.3 Von der PEjoh zur PElk/joh
7.4 „Wie gegen einen Banditen …“. Markus und die PEmk
7.5 Judaskuss und Jüngerflucht. Die Szene in der PEG
8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus – Bild und Gegenbild (Mk 14,53–72 par.)
8.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
8.2 Jesu Bekenntnis und Petri Verleugnung. Die christologische Klimax des Markusevangeliums
8.3 Jesus, Messias und Gottessohn. Von der markinischen zur vormarkinischen Gestalt der Szene
8.4 Die Verhandlung vor dem Jerusalemer Rat bei Lukas – nur ein Vorverhör (Lk 22,54–71)
8.5 Ein argumentierender Jesus – und zwei Jünger im Gegenlicht. Die johanneische Version der Doppelszene (Joh 18,12–27)
8.6 „Du bist also der Sohn Gottes?“ Die Szene in der PElk/joh
8.7 Das Bekenntnis zum Messias Jesus und das „Ärgernis des Kreuzes“. Gestalt und Intention der Szene in der PEG
9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild (Mk 15,1–20c par.)
9.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
9.2 Von der Durchsetzung des Todesurteils durch die hohen Priester. Die Darstellung des Markus (Mk 15,1–20c)
Exkurs 7: Zur Parallelität von jüdischem und römischem Verfahren in der Markuspassion
9.3 „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Die Darstellung des Matthäus (Mt 27,1–26)
9.4 Der Pilatus-Prozess aus der Sicht des Lukas: regelkonform, aber ungerecht (Lk 23,1–25)
9.5 Der Herrscher und der Weise. Die johanneische Inszenierung des Pilatus-Prozesses (Joh 18,28–19,16b)
9.6 Von der Agitation der „hohen Priester“ – die Szene in der PEmk
9.7 Ein erster Versuch der Plausibilisierung des Geschehens – die Szene in der PElk/joh
9.8 Die PEmk und PElk/joh im Vergleich – auf dem Weg zur PEG
9.9 „Wer Schuldige freispricht und wer Unschuldige verurteilt“ (Spr 17,15). Die Szene in der PEG
Exkurs 8: Von den „hohen Priestern“ bzw. vom „Haufen“ zum „ganzen Volk“. Zur unheilvollen Karriere einer Nebenrolle der Passionserzählung
C. Das Finale (Schlussteil)
10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk 15,20d–41 par.)
10.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
10.2 „Jesus stieß einen lauten Schrei aus […]“. Die Darstellung des Markus (15,20d–41)
10.3 Jesu vorbildliches Sterben – „ein Schauspiel (θεωρία)“. Die Darstellung des Lukas (23,26–49)
10.4 „Mich dürstet“. Zur Symbolik des vierten Evangelisten (Joh 19,16c–37)
10.5 „… damit die Schrift erfüllt würde“. Die Kreuzigungsszene in der PEjoh
10.6 Über die vorkanonischen Fassungen zur PEG
Exkurs 9: Vom Sinn des Stunden-Schemas bei Markus
10.7 Der Psalter (Ps 22; 38; 69; 88) als Matrix der Kreuzigungsszene in der PEG
Exkurs 10: Menschen am Kreuzweg und auf Golgota
11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk 15,42–46 par.)
11.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
11.2 Sympathie für den Verstorbenen – Erfüllung der Pietätspflicht – Königsbestattung. Drei unterschiedliche Sichtweisen der Evangelien
11.3 Über die vorkanonischen Fassungen zur PEG: Ein ehrenvolles Begräbnis
D. Österlicher Epilog
12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer (und der abendlichen Erscheinung Jesu vor den Seinen) „am ersten Tag der Woche“ (Mk 16,1–8 par.)
12.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen
12.2 „Sie erzählten niemandem etwas“. Der Epilog der PE aus Sicht des Markus (Mk 16,1–8)
12.3 Die Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer aus Sicht des Lukas (Lk 24,1–12)
12.4 Der Ostertag aus Sicht des vierten Evangeliums (Joh 20,1–23)
12.5 „Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier“. Die Erzählung in der PEmk
12.6 Von der Grabinspektion zu den Wundmalen des Auferweckten. Die apologetische Fortschreibung der Basiserzählung durch die PElk/joh und die PEjoh
12.7 Die Protophanie Jesu vor Maria Magdalena (und Maria Jacobi)
12.8 Vom Suchen und Nicht-Finden. Das Konstrukt des PEG-Epilogs
E. Ergebnisse der Überlieferungskritik: Die älteste Passionserzählung
13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung
13.1 Der ungefähre Wortlaut der PEG
13.2 Die PEG als dramatische Erzählung
III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion
1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret
1.1 Zur Beschaffenheit der Quellen
1.2 Judäa unter römischer Verwaltung – „Annex“ der Provinz Syrien
1.3 Zu den Kompetenzen des praefectus Iudaeae
1.3.1 Die Verwaltung der Präfektur
1.3.2 Der Präfekt als militärischer Befehlshaber
1.3.3 Die Rechtshoheit des Präfekten
1.3.4 Die Statthalterjustiz und das römische Strafrecht
1.4 Pontius Pilatus (26–36 n.Chr.): Amtsinhaber zur Zeit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu
1.5 Der Tempelstaat – ein aristokratisch verfasstes Gemeinwesen
1.5.1 Die Eliten Jerusalems: Priester – „Vornehme“/„Älteste“ – Schriftgelehrte
1.5.2 Gerousia – Synedrion – Boulē. Der terminologische Befund
1.5.3 Das Synedrion: Gerichtshof oder ad hoc-Beirat des Hohepriesters?
1.5.4 Wer im Synedrion das Sagen hatte. Zur Rolle der Sadduzäer und Pharisäer
1.5.5 Der Hohepriester und das ius capitis zur Zeit der römischen Statthalter
1.6 Kajaphas (18–37 n.Chr.): Amtierender Hohepriester zur Zeit Jesu
1.7 Narrative Texte und ihre rechtshistorischen Implikationen: Jesus ben Ananias (Jos, Bell 6,300–309) und die Sikarier in Ägypten (Bell 7,409–421)
1.8 Das Zusammenspiel der Institutionen und seine Relevanz für das Verfahren gegen Jesus
2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt
2.1 Zwei Grundsätze der historischen Rückfrage
2.2 Der titulus crucis als axiomatischer Konstruktionspunkt der Passionserzählung – historisch und theologisch
2.2.1 Zur Historizität des titulus crucis
2.2.2 Die theologische Sublimation des Hinrichtungsgrundes mittels des biblisch gesättigten Königsmotivs: Ein negatives Ergebnis
2.3 Die Vorgeschichte der Verhaftung Jesu
2.3.1 Jesu Kommen nach Jerusalem – nur ein „harmloser Pilgereinzug“?
2.3.2 Jesu prophetische Symbolhandlung im Tempel
2.3.3 Jesu Worte gegen Jerusalem und sein Heiligtum (Mt 5,23 f.; Mk 13,2 par.; Lk 19,41–44; Q 13,34 f.)
2.3.4 Warum zog Jesus nach Jerusalem?
2.4 Die Ereignisse im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu
2.4.1 Gründe der Verhaftung Jesu
2.4.2 Die Rolle des Judas
2.4.3 Das letzte Mahl Jesu
2.4.4 Getsemani
2.5 Das nächtliche Verhör Jesu durch die hohen Priester
2.5.1 Die rechtlichen Rahmenbedingungen des Verhörs
2.5.2 Historische Fakten
2.5.3 Die Handhabe der Tora gegen Jesus als Falschprophet
2.5.4 Der Konnex von Synedrion- und Pilatus-Szene in der PEG: Wie kam es zur Anklage auf Königsprätendentenschaft?
2.6 Das Strafverfahren gegen Jesus vor Pilatus
2.6.1 Erkennbare Elemente des Verfahrens
2.6.1.1 Die Anklage: „König der Juden“
2.6.1.2 Das Schweigen Jesu
2.6.1.3 Die Pascha-Amnestie
2.6.1.4 Die „Auslieferung“ Jesu: Exekutionsbefehl oder Todesurteil?
2.6.2 Zur Rechtsform des Verfahrens
2.6.3 Geißelung und Verspottung Jesu
Exkurs 11: Rebellen und Banditen, Propheten, Gotteskrieger und Königsprätendenten
2.7 Der Gang zur Richtstätte und Jesu Tod am Kreuz
2.7.1 Erinnerte Fakten
2.7.2 Vom Psalter und von Jesu ultimum verbum überlagert: die dunkle Stunde seines Todes
2.8 Die Bestattung Jesu
2.9 „Als die Sonne aufging …“. Der österliche Neuaufbruch
Exkurs 12: Von der erinnerten zur realen Zeit
3. Prophet gegen Priester. Die Ereignisse der letzten Tage Jesu im Überblick
IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologi
1. Historische Ambiguität und theologische Pluralität
1.1 Die Ambiguität der Jesus-Geschichte und der theologische Spielraum, der sich darin eröffnet
1.1.1 „[…] erfunden wie ein Mensch“ (Phil 2,7). Die Inkarnation des Logos und die Abgründigkeit der Geschichte
1.1.2 Historische Gerechtigkeit gegenüber den am Verfahren gegen Jesus beteiligten jüdischen Autoritäten
1.2 Die Evangelien: Vier Bilder vom Leiden und Sterben Jesu
1.2.1 Markus
1.2.2 Matthäus
1.2.3 Lukas
1.2.4 Johannes
1.2.5 Theologische Pluralität
Exkurs 13: Das Grauenvolle der Kreuzigung und die Ästhetik von Kreuzes-Darstellungen in der Kunst
2. Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu
2.1 Jesu Freiheit und Gottes Heilsplan
2.1.1 „[…] er aber schwieg“ (Mk 14,61; vgl. 15,5). Die Verantwortlichkeit Jesu für seinen Tod
2.1.2 „Wie über ihn geschrieben ist …“ (Mk 14,21)
2.2 Das Triduum Paschale als Offenbarung des „trinitarischen“ Gottes
2.2.1 Golgota und „Ostern“ – Gottes Verborgenheit
2.2.2 Theozentrische Christologie
2.2.2.1 Jesus unter den „Erniedrigten und Beleidigten“ (Dostojewski)
2.2.2.2 Jesu Tod als Gottes eschatologisches Heilszeichen seiner Agape
2.2.3 „… er hauchte sie an“ (Joh 20,22). Der Geist Gottes – Frucht des Todes Jesu
2.3 Der Tod Jesu – Impulsgeber einer „politischen Theologie“?
2.3.1 Was heißt „politisch“? Forschungsgeschichtliche Schlaglichter
2.3.2 Inwiefern „politisch“? Drei Antworten aus jüngerer Zeit
2.3.3 Gottes Königreich – „Gegenentwurf zu allen menschlichen Reichen“
2.3.4 Summum ius summa iniuria
3. Memoria passionis – ein Ausblick
3.1 Die Passion Jesu – Teil des „kulturellen Gedächtnisses“
3.2 Liturgische Memoria
3.3 Individuelle Passionsfrömmigkeit und „Compassion“ (Johann Baptist Metz)
Literaturverzeichnis
Register
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Sachen und Namen
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Der Prozess Jesu: Geschichte und Theologie der Passionserzählungen
 9783161616105, 9783161616112, 3161616103

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber/Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

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Michael Theobald

Der Prozess Jesu Geschichte und Theologie der Passionserzählungen

Mohr Siebeck

Michael Theobald, geboren 1948; 1980 Promotion zum Dr. theol. in Bonn; 1985 Habilitation in Regensburg; 1985–1989 Professor für Biblische Theologie an der FU Berlin; 1989– 2016 Professor für Neues Testament an der katholisch-theologischen Fakultät Tübingen; seit 2016 emeritiert. orcid.org/0000-0002-3701-4866

ISBN  978-3-16-161610-5 / eISBN  978-3-16-161611-2 DOI 10.1628/978-3-16-161611-2 ISSN  0512-1604 / eISSN  2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, dort auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in ­Ot­ters­weier gebunden. Printed in Germany.

dem Andenken an Christian Dietzfelbinger (1924–2021)

Vorwort Warum wurde Jesus von Nazaret hingerichtet? Wie konnte es soweit kommen, dass der Galiläer, der Menschen gesund gemacht, die heilende Nähe Gottes angesagt und Feindesliebe gepredigt hatte, solch grausames Schicksal erleiden musste? Wer war verantwortlich? Wer brachte ihn ans Kreuz? Welche Rolle spielte er selbst? Bis heute werden diese Fragen kontrovers diskutiert. Eines ist gewiss: Niemals mehr dürfen Antworten wie in der Vergangenheit zu Lasten und auf Kosten des Judentums gehen. Aufschluss über die letzten Tage Jesu versprechen die neutestamentlichen Pas­ sions- und Ostererzählungen. Aber sie sind keine historischen Berichte, sondern Glaubenstexte. Bereits die älteste, wohl in den vierziger Jahren nach Jesu Tod in Jerusalem entstandene Erzählung, auf der die Evangelien fußen, ist ein theologisches Konstrukt auf der Basis des Alten Testamentes. Ausgehend vom Kreuzestitel „König der Juden“, der auf Jesu Verurteilung als angeblicher Königsprätendent hindeutet, bringt die Erzählung unter Bezug auf den Psalter die wahre messianische Würde Jesu narrativ zur Anschauung. Formiert hat sich diese älteste Passions­ erinnerung anlässlich der jährlichen Paschafeier, trägt also liturgische Züge. Umso mehr stellt sich die Frage, ob und wieweit sie Aussagen zu den im Hintergrund stehenden historischen Ereignissen überhaupt zulässt. Wer sich auf eine umfassende Analyse der vier Passionserzählungen einlässt, kann es nicht bei den 24 Stunden zwischen Jesu Gefangennahme und seiner Hinrichtung belassen wie das vor 70 Jahren erstmals erschienene wirkmächtige Buch von Josef Blinzler, Der Prozess Jesu (1951), oder das über 25 Jahre alte zweibändige Werk von Raymond E. Brown, The Death of the Messiah (1994). Nicht nur die Vorgeschichte des sogenannten „Prozesses“, der vielleicht gar keiner war, auch die unmittelbaren Geschehnisse danach wollen betrachtet werden. Weil die Geschichte von der Auffindung des leeren Grabes nicht nur integraler Bestandteil der Passionserzählungen, sondern alles bestimmendes Vorzeichen ist, unter dem sie überhaupt erst entstehen konnten, lässt sich die Frage nicht umgehen, wie es trotz der Hinrichtung des Galiläers zum sogenannten Osterglauben kam. Zu den neutestamentlichen Passionserzählungen sind in den letzten Jahrzehnten so viele Studien erschienen, dass es Zeit ist, Bilanz zu ziehen. Das soll hier geschehen. Ursprünglich als Zwischenschritt auf dem Weg zum zweiten Band meines Johanneskommentars gedacht, hat sich die Studie zu einer umfassenden Darstellung von Geschichte und Theologie der Passion Jesu entwickelt mit einer literarischen und historisch-kritischen Analyse des viergestaltigen Passions- und Osterevangeli-

VIII

Vorwort

ums wie einem davon ausgehenden Versuch, die historischen Ereignisse im Kontext der Macht- und Rechtsverhältnisse der Präfektur Judäa unter römischer Verwaltung zu re-konstruieren. Getragen wird das Buch von der Überzeugung: Eine vernünftige theologische Rede von der Heilsbedeutung Jesu Christi ist nur in umfassender Verantwortung vor der Geschichte möglich. Was neutestamentliche Forschung seit den Zeiten der Aufklärung umtreibt, ist der unbedingte Wille, Jesus von Nazaret als geschichtliche Gestalt in ihrer Fremdheit und Einzigartigkeit immer wieder neu und hoffentlich auch deutlicher in den Blick zu bekommen. Dies hat die Grundlage jeder christlich-theologischen Rede zu sein. Die Studie kommt von weither. Am Anfang stand eine Vorlesung zur Johannespassion, dann im Theologischen Studienjahr an der Abtei Dormitio Jerusalem jeweils in der Passions- und Karwoche 2008 und 2013 eine Vorlesung: „Die Pas­ sionserzählungen der Evangelien. Ritualisierte Erinnerung und historische Rückfrage“. Unter dem gleichen Titel gewährte mir die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in den Jahren 2011–2013 eine großzügige Unterstützung, für die an dieser Stelle in gebührender Weise gedankt sei. Die monographische Ausarbeitung des Konzepts verzögerte sich; andere Verpflichtungen traten immer wieder dazwischen, nicht unbedingt zum Schaden des mich nie loslassenden Passions-Projekts, das über die Jahre reifen konnte. Jetzt darf ich es, glücklich über eine lange Phase des Lernens, endlich aus den Händen geben. „Der Franzose sagt, l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idée vient en parlant“, gibt Heinrich Kleist in seinem kostbaren Prosafragment „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zum Besten. In diesem Sinne habe ich beim Abschluss des Werkes vielfältig zu danken: den Studentinnen und Studenten in Tübingen und Jerusalem, denen ich mehrfach meine Gedanken vortragen durfte, wie auch dem Austausch mit meinem Schüler Prof. Dr. Hans-Ulrich Weidemann, der zuletzt noch Teile des Typoskripts kritisch gegengelesen hat. „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: Nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen“ – wie Molière seiner Magd – „und siehe da […], so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde“. Die Rolle dieser Kleistschen „Magd“ spielte in den letzten Jahren mein Freund aus Bonner und Berliner Tagen, Prof. Dr. Klaus Kliesch, ein durchaus „scharfdenkender Kopf“, der mir treffliche Fragen stellte und Stunden um Stunden mit mir am Telefon Kapitel für Kapitel durchsprach – ein Helfer bei der „Verfertigung der Gedanken“, wie ich ihn mir besser nicht vorstellen kann und dem ich für seine Begleitung aus ganzem Herzen danke. Versäumen möchte ich nicht, den Angestellten der Bibliothek des Tübinger Theologikums wie der UB Tübingen für mancherlei Hilfe bei der Literaturbeschaffung zu danken. Frau Bibliothekarin Dr. Ursula Hepperle, Lehrbeauftragte für

Vorwort

IX

bib­lische Sprachen, hat den Text sorgfältig auf Fehler durchgesehen und die Last des Korrekturlesens mitgetragen, ebenso Herr Dr. Christoph Schaefer vom Ambrosianum Tübingen, der mir schon vor Jahren bei den Vorlesungen zur Passion zur Seite gestanden hatte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Lehrstuhl meines Nachfolgers, Prof. Dr. Wilfried Eisele, lasen gleichfalls eifrig Korrektur: Antonia Löffler, Tina Walker, Stefan Bamesberger, Christian Gers-Uphaus. Ihnen allen sage ich von Herzen Dank. Dem Verlag Mohr Siebeck gebührt eigener Dank: Herr Dr. Henning Ziebritzki von der Verlagsleitung äußerte sehr früh sein Interesse am Projekt und setzte trotz langen Wartens auf seinen Abschluss. Frau Elena Müller, Frau Rebekka Zech und Herr Markus Kirchner haben die Herstellung des Bandes in exzellenter Weise betreut und lektoriert. Mein Kollege Prof. Dr. Jörg Frey nahm ihn in die renom­mierte WUNT-Reihe auf. Das Buch ist dem Andenken meines im vergangenen Jahr verstorbenen Freundes Christian Dietzfelbinger gewidmet, der bis kurz vor seinem Tod keine Gelegenheit ausließ, mich zu fragen: Was macht Ihre Passion? Tübingen im Juni 2022

Michael Theobald

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

Hinführung Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte 1. Motivation und Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2. Zur Forschungsgeschichte und den Zielen dieser Studie . . . . . . . . . 28

I. Teil Die Quellen. Ihre Beschaffenheit und Herkunft im Horizont antiker Literatur 1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien . 46 2. Apokryph gewordene Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz . . . . . . . . . . 201

II. Teil Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption 1. Synchronie und Diachronie. Prinzipien, Methoden und Kriterien der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

A. Vorgeschichte (Eingangsteil) 2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.) . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas (Mk  14,1–11 par.) . . . . . . . . . . . . . . . 269

B. Entscheidung (Mittelteil) 5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.) . . . . . . . . . . . 293 6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.) . . . . . . . . . . . 309 7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

XII

Inhaltsübersicht

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus – Bild und Gegenbild (Mk  14,53–72 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild (Mk  15,1–20c par.) . . . . . . . . . . . . 369

C. Das Finale (Schlussteil) 10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.) . . . . . . . . . . . . . 424 11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

D. Österlicher Epilog 12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer (und der abendlichen E ­ rscheinung Jesu vor den Seinen) „am ersten Tag der Woche“ (Mk  16,1–8 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

E. Ergebnisse der Überlieferungskritik: Die älteste Passionserzählung 13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung . . . . . . . . . . 513

III. Teil Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion 1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt . . . 601 3. Prophet gegen Priester. Die Ereignisse der letzten Tage Jesu im Überblick 723

IV. Teil Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie 1. Historische Ambiguität und theologische Pluralität . . . . . . . . . . . 728 2. Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu . . . . . . . . . . . . . . . 764 3. Memoria passionis – ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Moderne Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 Griechische Termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899 Sachen und Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

Hinführung Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte 1.

Motivation und Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

1.1 Von der theologischen Notwendigkeit der historischen Rückfrage . . 5 1.1.1 Der Jesus der Evangelien – der „wirkliche“ Jesus? . . . . . . . . 5 1.1.2 Plädoyer für ein neues Ambiguitätsparadigma . . . . . . . . . . 7 1.1.3 Der „linguistic turn“ und seine möglichen Folgen . . . . . . . . 14 1.2 Entstellte Erinnerung. Die Passionserzählungen des Neuen Testaments und „die Kollektivschuld“ der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2.1 Der Vorwurf vom Gottesmord (Melito von Sardes) und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.2.2 Das Zweite Vatikanum: Nostra Aetate Nr.  4 (1965) . . . . . . . 24 2.

Zur Forschungsgeschichte und den Zielen dieser Studie . . . . . . . . . 28

2.1 Der Überlieferungscharakter der Passionserzählungen. Methodische Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2 Thematische Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3 Zu dieser Studie: Ziele – Grundannahmen – Vorgehen . . . . . . . . . 38

I. Teil Die Quellen. Ihre Beschaffenheit und Herkunft im Horizont antiker Literatur 1.

Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

46

1.1 Identischer Grundriss – unterschiedliche Ausführung. Die gemeinsame Struktur der kanonischen Passionserzählungen . . . 46 1.2 Literarische Besonderheiten der kanonischen Passionserzählungen . . 55

XIV

Inhaltsverzeichnis

1.2.1 Die Schrift Israels, die Matrix der Passionserzählungen . . . . . 55 1.2.1.1 Zitate – Anspielungen – Motive . . . . . . . . . . . . . . 55 1.2.1.2 Die Prägekraft ganzer Schrifttexte: Ps  2, Ps  22 und Weish  1 f. + 4 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1.2.1.3 Dtn  21,22 f. – Schlüssel zu den Passionserzählungen? . . 71 1.2.1.4 Jesus, der „leidende“ Davidssohn, und die Bedeutung des Psalters für die ersten Leser . . . . . . . . . . . . . . 76 1.2.2 Die mimetische Kraft der Passionserzählungen oder: Wie der Leser sich in den Erzählfiguren wiederfinden kann . . 79 Exkurs 1: Die Sprüche vom „Bekennen“ und „Verleugnen“ des Menschensohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1.2.3 Primäre und sekundäre Intention der Passionserzählungen. ­Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1.3 Zur Entstehung der kanonischen Passionserzählungen. Vorformen und Archetyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1.3.1 Die Passionserzählungen als Erinnerungs-Texte des „kommunikativen Gedächtnisses“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1.3.2 Auf dem Weg zu einem integrativen literargenetischen Modell . 90 1.4 Der Umfang der alten Passionserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1.4.1 Der Beginn der alten Passionserzählung . . . . . . . . . . . . . 97 1.4.2 Das Ende der alten Passionserzählung . . . . . . . . . . . . . . . 105 1.4.3 Die Mahlszene der alten Passionserzählung und der sog. „Einsetzungsbericht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1.4.4 Jahresringe wachsender Erinnerung? Der Grundbestand der alten Passionserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1.5 Die Gattung der Passionserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1.5.1 Methodologische und terminologische Vorfragen . . . . . . . . 123 1.5.2 Vom Tod berühmter Männer. Jüdische und pagane Erzählungen zwischen dem 5.  Jh.  v.  Chr. und dem 2.  Jh.  n.  Chr. . . . . . . . . 126 1.5.2.1 Die Historien des Herodot . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1.5.2.2 Der „edle Tod“ (καλὸς θάνατος) des Sokrates als „Archetyp“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1.5.2.3 Der Tod des Propheten Secharja (2Chr  24,20–22) . . . . 135 1.5.2.4 Jüdische Martyrien im 2. und 4. Makkabäerbuch . . . . 137 1.5.2.5 Philosophisch-Biographisches: Anekdoten, Exempla-Sammlungen und Exitus-Literatur . . . . . . 141 1.5.2.6 Gerichtsprotokolle, die Acta Alexandrinorum und weitere Prozesserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1.5.2.7 Martyrien von Propheten und Rabbinen . . . . . . . . . 153 1.5.3 Die neutestamentlichen Passionserzählungen als Beispiele der Gattung τελευτή. Tradition und Innovation . . . . . . . . . . 162

Inhaltsverzeichnis

XV

1.6 Die vorkanonischen Passionserzählungen. „Kulterzählungen“ frühchristlicher Paschafeiern . . . . . . . . . . . . 170 1.6.1 Das Pascha-Kolorit und die unterschiedlichen Chronologien der Passionserzählungen: Starb Jesus am „Rüsttag“ (Joh  19,14) oder am Festtag selbst (Synoptiker)? . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1.6.2 Was lässt sich über das frühchristliche Pascha sagen? . . . . . . 177 1.7 Ort und Zeit der Entstehung des Archetyps der Passionserzählungen 182 Exkurs 2: Das Verhältnis der alten Passionserzählung zum Kerygma 1Kor  15,3–5(7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1.8 Die älteste Passionserzählung – eine historisch verwertbare „faktuale Erzählung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2.

Apokryph gewordene Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

2.1 Die Passions- und Ostererzählung des Petrusevangeliums . . . . . . . 189 2.2 Evangelium des Nikodemus (die sog. Pilatusakten) . . . . . . . . . . . 199 3.

Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz . . . . . . . . . . 201

3.1 „[…] auf Anzeige unserer führenden Männer“ gekreuzigt. Das sog. Testimonium Flavianum (Josephus, Ant  18,63 f.) . . . . . . . 202 3.2 „[…] durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet“ (Tacitus, Ann  15,44,3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3.3 Die Hinrichtung Jesu nach dem Talmud (bSan  43a) . . . . . . . . . . . 209

II. Teil Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption 1.

Synchronie und Diachronie. Prinzipien, Methoden und Kriterien der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

A. Vorgeschichte (Eingangsteil) 2.

Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.) . . . . . . . . . . . . . 219

2.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2.2 „Wir steigen hinauf nach Jerusalem“ (Mk  10,33). Die Einzugserzählung bei Markus und in der PEmk . . . . . . . . . . . 224 2.3 Königliches Huldigungsritual oder „Einholung“ des Triumphators. Der markinische und johanneische Überlieferungszweig im Vergleich 227 2.3.1 Eine „Findungsnotiz“ als Keimzelle einer Legende . . . . . . . 227

XVI

Inhaltsverzeichnis

2.3.2 „Erfüllungszeichen“ und Huldigung. Zur Ursprünglichkeit der markinischen Abfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2.3.3 Die Geschichte im johanneischen Überlieferungsstrang (Joh  12,12–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2.3.3.1 „[…] wenn diese schweigen, dann werden die Steine schreien“ (Lk  19,40). Zur PElk/joh . . . . . . . . 229 2.3.3.2 Zur vorjohanneischen Fassung der Erzählung (PEjoh) . 230 2.3.3.3 Das „Eselchen“ als Korrektiv zur triumphalen Huldigung Jesu. Zur Fassung des vierten Evangelisten 232 2.4 Der Friedenskönig. Die Einzugserzählung in der PEG . . . . . . . . . 233 2.4.1 Die Einleitung der Erzählung – „Auftakt“ der PEG . . . . . . . 233 2.4.2 Das Corpus der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2.4.3 Die Erzählung als Inszenierung biblischer Motivcluster . . . . 238 2.4.4 Die Einzugserzählung als Proömium der PEG . . . . . . . . . . 240 3.

Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . 241

3.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3.2 Die Tempel-„Austreibung“ nach Markus (Mk  11,15–18) . . . . . . . . 243 3.2.1 „Ein Haus des Gebets für alle Völker“ (Jes  56,7). Die Pointe der markinischen Darstellung . . . . . . . . . . . . . 243 3.2.2 Die Bedeutung der Erzählung für die Christologie des Markus 246 3.3 Der inkarnierte Logos als Gottes wahrer Tempel in dieser Welt (Joh  2,13–22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3.4 Ein Seitenblick auf Matthäus und Lukas: Die „Vollmacht“ des „Davidssohns“ über den Tempel (Mt  21,12–17) und das Heiligtum als Ort der Lehre Jesu (Lk  19,45–48) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3.5 Von der Erfüllung der Prophetie des Sacharja. Ein Vergleich der markinischen und johanneischen Erzählfolge und deren Urgestalt in der PEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Exkurs 3:  Prophetische Zeichenhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3.6 Das christologische Tempelwort (Mk  14,58 par. Joh  2,19 etc.) und seine Urgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 3.7 Vom messianischen König und seinem Tempelneubau. Die Erzählung in der PEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Exkurs 4:  Die Bezeichnung der Gegner Jesu in den Passionserzählungen . 267 4.

Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas (Mk  14,1–11 par.) . . . . . . . . . . . . . . 269

4.1 Die Varianten der Rahmenhandlung und ihre Quellen . . . . . . . . . 270 4.2 Die Gegner des Gerechten rotten sich zusammen. Die markinische und vormarkinische Gestalt der Rahmenhandlung . 277

Inhaltsverzeichnis

XVII

Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4.3 „Was sollen wir tun?“ (Joh  11,47) – Die johanneische Fassung der Doppelepisode und ihre Vorform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 4.4 Tödliches Komplott und Todesprophetie (Salbung in Betanien). Die Szenenfolge in der PEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

B. Entscheidung (Mittelteil) 5.

Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.) . . . . . . . . . . . 293

5.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 293 5.2 „Alle werdet ihr Ärgernis nehmen“ (Mk  14,27). Die Mahlszene mit anschließender Episode auf dem Weg zum Ölberg bei Markus . . 296 5.3 Die Mahlszene in der PEmk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 5.4 Vom Tischdiener Jesus zur Fußwaschung. Die PElk/joh als Vorlage des Lukas und Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 5.5 Von Verrat, Verleugnung, Abschied und Hoffnung. Die Mahlszene der PEG im Spiegel der PEmk und PElk/joh . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 6.

Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.) . . . . . . . . . . . 309

6.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Exkurs 6: Jesus wird von einem Engel gestärkt. Zur textkritischen Problematik von Lk  22,43 f. . . . . . . . . . . 310 6.2 Getsemani – Herzstück der Markuspassion . . . . . . . . . . . . . . . 317 6.3 „Konntest Du nicht eine Stunde wachen?“ Die Szene in der PEmk . . . 319 6.4 „Die Stunde ist gekommen“ (Mk  14,41 par. Joh  12,23). Die Szene in der PEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7.

Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 329 „Ich bin es“. Jesu Selbst-„Auslieferung“ nach Johannes (18,1–12) . . . 332 Von der PEjoh zur PElk/joh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 „Wie gegen einen Banditen …“. Markus und die PEmk . . . . . . . . . 335 Judaskuss und Jüngerflucht. Die Szene in der PEG . . . . . . . . . . . . 340

8.

Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus – Bild und Gegenbild (Mk  14,53–72 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

8.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 342 8.2 Jesu Bekenntnis und Petri Verleugnung. Die christologische Klimax des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

XVIII

Inhaltsverzeichnis

8.3 Jesus, Messias und Gottessohn. Von der markinischen zur vormarkinischen Gestalt der Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 8.4 Die Verhandlung vor dem Jerusalemer Rat bei Lukas – nur ein Vorverhör (Lk  22,54–71) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 8.5 Ein argumentierender Jesus – und zwei Jünger im Gegenlicht. Die johanneische Version der Doppelszene (Joh  18,12–27) . . . . . . . 361 8.6 „Du bist also der Sohn Gottes?“ Die Szene in der PElk/joh . . . . . . . . 364 8.7 Das Bekenntnis zum Messias Jesus und das „Ärgernis des Kreuzes“. Gestalt und Intention der Szene in der PEG . . . . . . . . . . . . . . . . 366 9.

Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild (Mk  15,1–20c par.) . . . . . . . . . . . 369

9.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 370 9.2 Von der Durchsetzung des Todesurteils durch die hohen Priester. Die Darstellung des Markus (Mk  15,1–20c) . . . . . . . . . . . . . . . 378 Exkurs 7: Zur Parallelität von jüdischem und römischem Verfahren in der Markuspassion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 9.3 „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Die Darstellung des Matthäus (Mt  27,1–26) . . . . . . . . . . . . . . . 390 9.4 Der Pilatus-Prozess aus der Sicht des Lukas: regelkonform, aber ungerecht (Lk  23,1–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 9.5 Der Herrscher und der Weise. Die johanneische Inszenierung des Pilatus-Prozesses (Joh  18,28–19,16b) . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 9.6 Von der Agitation der „hohen Priester“ – die Szene in der PEmk . . . . 401 9.7 Ein erster Versuch der Plausibilisierung des Geschehens – die Szene in der PElk/joh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 9.8 Die PEmk und PElk/joh im Vergleich – auf dem Weg zur PEG . . . . . . . 412 9.9 „Wer Schuldige freispricht und wer Unschuldige verurteilt“ (Spr  17,15). Die Szene in der PEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Exkurs 8: Von den „hohen Priestern“ bzw. vom „Haufen“ zum „ganzen Volk“. Zur unheilvollen Karriere einer Nebenrolle der Passionserzählung 420

C. Das Finale (Schlussteil) 10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.) . . . . . . . . . . . . . 424 10.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 427 10.2 „Jesus stieß einen lauten Schrei aus […]“. Die Darstellung des Markus (15,20d–41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 10.3 Jesu vorbildliches Sterben – „ein Schauspiel (θεωρία)“. Die Darstellung des Lukas (23,26–49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

Inhaltsverzeichnis

XIX

10.4 „Mich dürstet“. Zur Symbolik des vierten Evangelisten (Joh  19,16c–37) 440 10.5 „… damit die Schrift erfüllt würde“. Die Kreuzigungsszene in der PEjoh 449 10.6 Über die vorkanonischen Fassungen zur PEG . . . . . . . . . . . . . . 454 Exkurs 9:  Vom Sinn des Stunden-Schemas bei Markus . . . . . . . . . . . 459 10.7 Der Psalter (Ps  22; 38; 69; 88) als Matrix der Kreuzigungsszene in der PEG 469 Exkurs 10:  Menschen am Kreuzweg und auf Golgota . . . . . . . . . . . . 474 11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 11.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 475 11.2 Sympathie für den Verstorbenen – Erfüllung der Pietätspflicht – ­Königsbestattung. Drei unterschiedliche Sichtweisen der Evangelien . 478 11.3 Über die vorkanonischen Fassungen zur PEG: Ein ehrenvolles Begräbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

D. Österlicher Epilog 12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer (und der abendlichen E ­ rscheinung Jesu vor den Seinen) „am ersten Tag der Woche“ (Mk  16,1–8 par.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 12.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . 487 12.2 „Sie erzählten niemandem etwas“. Der Epilog der PE aus Sicht des Markus (Mk  16,1–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 12.3 Die Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer aus Sicht des Lukas (Lk  24,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 12.4 Der Ostertag aus Sicht des vierten Evangeliums (Joh  20,1–23) . . . . . 494 12.5 „Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier“. Die Erzählung in der PEmk 499 12.6 Von der Grabinspektion zu den Wundmalen des Auferweckten. Die apologetische Fortschreibung der Basiserzählung durch die PElk/joh und die PEjoh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 12.7 Die Protophanie Jesu vor Maria Magdalena (und Maria Jacobi) . . . . 506 12.8 Vom Suchen und Nicht-Finden. Das Konstrukt des PEG-Epilogs . . . 509

E. Ergebnisse der Überlieferungskritik: Die älteste Passionserzählung 13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung . . . . . . . . . . 513 13.1 Der ungefähre Wortlaut der PEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 13.2 Die PEG als dramatische Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522

XX

Inhaltsverzeichnis

III. Teil Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion 1.

Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

1.1 Zur Beschaffenheit der Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 1.2 Judäa unter römischer Verwaltung – „Annex“ der Provinz Syrien . . 531 1.3 Zu den Kompetenzen des praefectus Iudaeae . . . . . . . . . . . . . . 535 1.3.1 Die Verwaltung der Präfektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 1.3.2 Der Präfekt als militärischer Befehlshaber . . . . . . . . . . . . 537 1.3.3 Die Rechtshoheit des Präfekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 1.3.4 Die Statthalterjustiz und das römische Strafrecht . . . . . . . . 539 1.4 Pontius Pilatus (26–36  n.Chr.): Amtsinhaber zur Zeit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 1.5 Der Tempelstaat – ein aristokratisch verfasstes Gemeinwesen . . . . . 558 1.5.1 Die Eliten Jerusalems: Priester – „Vornehme“/„Älteste“ – ­Schriftgelehrte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 1.5.2 Gerousia – Synedrion – Boulē. Der terminologische Befund . . 561 1.5.3 Das Synedrion: Gerichtshof oder ad hoc-Beirat des Hohepriesters? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 1.5.4 Wer im Synedrion das Sagen hatte. Zur Rolle der Sadduzäer und Pharisäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 1.5.5 Der Hohepriester und das ius capitis zur Zeit der römischen Statthalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 1.6 Kajaphas (18–37  n.Chr.): Amtierender Hohepriester zur Zeit Jesu . . . 590 1.7 Narrative Texte und ihre rechtshistorischen Implikationen: Jesus ben Ananias (Jos, Bell  6,300–309) und die Sikarier in Ägypten (Bell  7,409–421) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 1.8 Das Zusammenspiel der Institutionen und seine Relevanz für das Verfahren gegen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 2.

Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt . . . 601

2.1 Zwei Grundsätze der historischen Rückfrage . . . . . . . . . . . . . . 601 2.2 Der titulus crucis als axiomatischer Konstruktionspunkt der Passionserzählung  – historisch und theologisch . . . . . . . . . . . 603 2.2.1 Zur Historizität des titulus crucis . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 2.2.2 Die theologische Sublimation des Hinrichtungsgrundes mittels des biblisch gesättigten Königsmotivs: Ein negatives Ergebnis . 609 2.3 Die Vorgeschichte der Verhaftung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 2.3.1 Jesu Kommen nach Jerusalem – nur ein „harmloser Pilgereinzug“? 613 2.3.2 Jesu prophetische Symbolhandlung im Tempel . . . . . . . . . . 615

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2.3.3 Jesu Worte gegen Jerusalem und sein Heiligtum (Mt  5,23 f.; Mk  13,2 par.; Lk  19,41–44; Q  13,34 f.) . . . . . . . . . 620 2.3.4 Warum zog Jesus nach Jerusalem? . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 2.4 Die Ereignisse im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu . . . . . . 641 2.4.1 Gründe der Verhaftung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 2.4.2 Die Rolle des Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 2.4.3 Das letzte Mahl Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 2.4.4 Getsemani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 2.5 Das nächtliche Verhör Jesu durch die hohen Priester . . . . . . . . . . 661 2.5.1 Die rechtlichen Rahmenbedingungen des Verhörs . . . . . . . . 663 2.5.2 Historische Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 2.5.3 Die Handhabe der Tora gegen Jesus als Falschprophet . . . . . 666 2.5.4 Der Konnex von Synedrion- und Pilatus-Szene in der PEG: Wie kam es zur Anklage auf Königsprätendentenschaft? . . . . 673 2.6 Das Strafverfahren gegen Jesus vor Pilatus . . . . . . . . . . . . . . . . 675 2.6.1 Erkennbare Elemente des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 677 2.6.1.1 Die Anklage: „König der Juden“ . . . . . . . . . . . . . 678 2.6.1.2 Das Schweigen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 2.6.1.3 Die Pascha-Amnestie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 2.6.1.4 Die „Auslieferung“ Jesu: Exekutionsbefehl oder Todesurteil? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 2.6.2 Zur Rechtsform des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 2.6.3 Geißelung und Verspottung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Exkurs 11: Rebellen und Banditen, Propheten, Gotteskrieger und Königsprätendenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 2.7 Der Gang zur Richtstätte und Jesu Tod am Kreuz . . . . . . . . . . . 707 2.7.1 Erinnerte Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708 2.7.2 Vom Psalter und von Jesu ultimum verbum überlagert: die dunkle Stunde seines Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 2.8 Die Bestattung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 2.9 „Als die Sonne aufging …“. Der österliche Neuaufbruch . . . . . . . . 716 Exkurs 12:  Von der erinnerten zur realen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 722 3.

Prophet gegen Priester. Die Ereignisse der letzten Tage Jesu im Überblick 723

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IV. Teil Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie 1.

Historische Ambiguität und theologische Pluralität . . . . . . . . . . . 728

1.1 Die Ambiguität der Jesus-Geschichte und der theologische Spielraum, der sich darin eröffnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 1.1.1 „[…] erfunden wie ein Mensch“ (Phil  2,7). Die Inkarnation des Logos und die Abgründigkeit der Geschichte . . . . . . . . 729 1.1.2 Historische Gerechtigkeit gegenüber den am Verfahren gegen Jesus beteiligten jüdischen Autoritäten . . . . . . . . . . . 730 1.2 Die Evangelien: Vier Bilder vom Leiden und Sterben Jesu . . . . . . . 734 1.2.1 Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 1.2.2 Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 1.2.3 Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 1.2.4 Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 1.2.5 Theologische Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 Exkurs 13: Das Grauenvolle der Kreuzigung und die Ästhetik von Kreuzes-­Darstellungen in der Kunst . . . . . . . . . . . . . 762 2.

Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu . . . . . . . . . . . . . . . 764

2.1 Jesu Freiheit und Gottes Heilsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 2.1.1 „[…] er aber schwieg“ (Mk  14,61; vgl. 15,5). Die Verantwortlichkeit Jesu für seinen Tod . . . . . . . . . . . . 764 2.1.2 „Wie über ihn geschrieben ist …“ (Mk  14,21) . . . . . . . . . . . 766 2.2 Das Triduum Paschale als Offenbarung des „trinitarischen“ Gottes . 767 2.2.1 Golgota und „Ostern“ – Gottes Verborgenheit . . . . . . . . . . 767 2.2.2 Theozentrische Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 2.2.2.1 Jesus unter den „Erniedrigten und Beleidigten“ (Dostojewski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 2.2.2.2 Jesu Tod als Gottes eschatologisches Heilszeichen seiner Agape . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 2.2.3 „… er hauchte sie an“ (Joh  20,22). Der Geist Gottes – Frucht des Todes Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 2.3 Der Tod Jesu – Impulsgeber einer „politischen Theologie“? . . . . . . 780 2.3.1 Was heißt „politisch“? Forschungsgeschichtliche Schlaglichter . 780 2.3.2 Inwiefern „politisch“? Drei Antworten aus jüngerer Zeit . . . . 784 2.3.3 Gottes Königreich – „Gegenentwurf zu allen menschlichen Reichen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 2.3.4 Summum ius summa iniuria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790

Inhaltsverzeichnis

3.

XXIII

Memoria passionis – ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791

3.1 Die Passion Jesu – Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ . . . . . . . . 791 3.2 Liturgische Memoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 3.3 Individuelle Passionsfrömmigkeit und „Compassion“ (Johann Baptist Metz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Moderne Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 Griechische Termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899 Sachen und Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901

Hinführung

Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte „Die historisch-kritische Betrachtungsweise desillusioniert, und zum mindesten das verbindet sie, wie ich meine, mit dem Evangelium“. (Ernst Käsemann)1

Die Neutestamentliche Wissenschaft kennt kaum ein Thema, das seit Jahrzehnten so intensiv und leidenschaftlich behandelt wird wie der Prozess Jesu. Exegeten und Theologen christlicher und jüdischer Provenienz, Religionswissenschaftler, Historiker und Juristen befassen sich mit den letzten Tagen Jesu und ringen mit der Frage, wie es zu seiner Hinrichtung kam und wie sein Tod zu verstehen ist. Albert Schweitzer meinte noch 1906 in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ feststellen zu können, dass im 19.  Jh. „die Probleme des Prozesses Jesu für die Forschung sozusagen nicht existierten“2 . Das änderte sich im 20.  Jh. grundlegend. Zwar blieb die Zahl der Analysen zu den Passionserzählungen im Gefolge der sog. formgeschichtlichen Schule nach dem 1. Weltkrieg überschaubar3, doch mit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte eine wahre Flut von Untersuchungen ein, die bis heute nicht verebbt4. Die Gründe dafür sind vielfältig. Nach dem Zivilisationsbruch der Shoah begannen Kirche und Theologie sich auf ihre jüdischen Wurzeln zu besinnen. Die Passionserzählungen als mögliche Quellen des christlichen Antijudaismus gerieten in den Fokus der Forschung. Zugleich erwachte nach Jahrzehnten das Interesse am historischen Jesus neu5. Albert Schweitzer hatte mit seinem epochalen Werk 1 

Käsemann, in: Paulus 251. Schweitzer, Geschichte 51933, 442. 3  K.L. Schmidt, Eigenart (1918); Dibelius, Motive (1918); ders., Problem (1931) u. ö.; Bultmann, Geschichte (11921) 158–173; Bertram, Leidensgeschichte (1922); Finegan, Überlieferung (1934) u. a. Für die Zeit vor dem 2. Weltkrieg bis zum Erscheinen seiner 4. Aufl.  1969 bietet Blinzler, Prozess 22–38, eine umfassende Bestandsaufnahme der Literatur zum Prozess Jesu gemäß der „Kardinalfrage“, „ob und wieweit neben den Römern auch Juden an der Beseitigung Jesu beteiligt waren“, mit der Unterscheidung von 5 Gruppen von Autoren, „je nachdem die Ansicht vertreten wird, die Juden seien an der Tragödie des Karfreitags (1) ausschließlich, (2) überwiegend, (3) im gleichen Maße wie die Römer, (4) unwesentlich oder (5) überhaupt nicht beteiligt gewesen“ (ebd. 22). 4  Für die Jahre 1950–1980 siehe Kümmel, Jesusforschung 375–419.528–533; Pesch, Mk I 1–27; Garland, Hundred Years (1989). 5 Vgl. Theißen/Merz, Jesus 22–31; Frey, Jesus 273–293; F. Hahn, Theologie I 35–38. 2 

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

die alte Leben-Jesu-Forschung seit Hermann Samuel Reimarus wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen lassen. Wer seine Galerie der Jesus-Bilder besichtigte, musste am sog. „historischen Jesus“ irre werden. Er lernte mehr über die Urheber dieser Bilder als über Jesus selbst6 . Die sog. „Dialektische Theologie“ (Karl Barth) hatte schon bald ihre Schlüsse daraus gezogen und die theologische Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus angesichts des den Glauben begründenden, österlichen Christusbekenntnisses überhaupt in Zweifel gezogen7. Nach dem 2. Weltkrieg regte sich erheblicher Widerstand dagegen, vor allem im Schülerkreis Rudolf Bultmanns. Von der Behauptung ihres Lehrers unbeeindruckt, für das Kerygma sei „schlechthin das Dass“ des historischen Jesus, nicht aber sein „Was und Wie“ entscheidend, pochten Ernst Käsemann, Ernst Fuchs, Günter Bornkamm und Gerhard Ebeling auf die theologische Dignität der Frage nach dem historischen Jesus8 . Die Frage, wer dieser Mann war, durch den eine Bewegung entstand, die in kürzester Zeit die Mittelmeerwelt in seinem Namen verändern sollte, ließ sich nicht auf Dauer beiseitestellen oder unterdrücken. Sie kann laut Käsemann für den Glauben an ihn als den Christus nicht bedeutungslos sein, wenn schon die Evangelien ihr Kerygma mit seinem irdischen Leben verbinden9. Der Einspruch der Schüler gegen ihren Lehrer ließ die Jesus-Forschung neu aufblühen, jetzt gepaart mit einer kriteriologischen Reflexion auf die Quellen10 , um in den Dienst einer umfassenden christologischen Besinnung auf das Verhältnis von „Glaube und Geschichte“ zu treten (Bornkamm). Auch die jüdische Jesus-­ Forschung, die in Joseph Klausner (1922) ihren Protagonisten besitzt11, entwickel6  So bereits 1892 Kähler, Jesus 16: „Der Jesus der ‚Leben Jesu‘ ist nur eine moderne Abart von Erzeugnissen menschlicher erfindender Kunst, nicht besser als der verrufene dogmatische Christus der byzantinischen Christologie; sie stehen beide gleich weit von dem wirklichen Christus“. 7  Bultmann, Theologie 1 f., rechnete die „Verkündigung Jesu“ lediglich zu einer der „Voraussetzungen der Theologie des NT“, während Karl Barth „sich der ganzen Problematik noch entschlossener“ entzog. „[A]uf die Frage nach dem historischen Jesus“ soll er „mit der lapidaren Mitteilung geantwortet (haben): ‚Ich kenne diesen Herrn nicht‘“ (Jüngel, Bedeutung 218). – Das theologische Desinteresse am „historischen Jesus“ hinderte im Übrigen Bultmann nicht daran, ein vielbeachtetes Jesus-Buch (1929) zu schreiben (Theobald, Bultmannrezeption), ebenso ­Dibelius, Jesus (1939). 8  Käsemann, Problem 213: „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten“; Bornkamm, Jesus; Fuchs, Frage; Ebeling, Frage; ebd. 14 f.: der „Bezug auf Jesus“ ist für die Christologie „konstitutiv“. Diese wäre „erledigt“, wenn sich erwiese, dass sie „keinen Anhalt habe am historischen Jesus“. 9  Käsemann, Problem 195. 10  Für authentisches Jesus-Gut wurden verschiedene Kriterien entwickelt: doppelte Differenz (Käsemann, Problem 205: Eine Überlieferung ist am ehesten dann authentisch, wenn sie „aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann“); Mehrfachbezeugung; Kohärenz (einer fraglichen Überlieferung mit einem bereits gesicherten Logienbestand); Plausibilität; Sprachmerkmale (wie das non-responsorische Amen; aramäische Spracheigentümlichkeiten) usw.: Mußner, Methodologie 13–42; Meier, Jew  I 167–184; Theißen/Winter, Kriterienfrage; Kreplin, Selbstverständnis 76–82; der sog. „Memory-­Approach“ hebelt den kriteriologischen Zugriff nicht aus (gegen Keith, Memory 155– 177).  – Zur hier angewandten Kriteriologie siehe unten II.  1. und III.  2.1. 11  Kurth, Prozess 48: „Die literarkritische und historische Auseinandersetzung unter Beiziehung verschiedener anderer Quellen rund um den Prozess Jesu beginnt mit Joseph Klausner

Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte 

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te sich weiter und blühte auf12 . Die fortschreitende Erschließung antiker Quellen (Qumran, apokalyptisches Schrifttum etc.) und der apokryph gewordenen Evangelien (EvThom; EvPetri13) lösten einen neuen Schub der „Suche“ nach dem historischen Jesus insbesondere im angelsächsischen Sprachraum aus. Unabhängig von religiöser Herkunft und Konfession und möglichst frei von theologischen Apriori, wie sie die sog. „zweite Suche“ nach dem „historischen Jesus“ noch prägten14 , zielt das Bemühen der Jesus-Forschung nun dahin, den galiläischen Juden Jesus als Menschen seiner Zeit „innerhalb des komplexen Gefüges des Judentums seiner Zeit“ vor 70  n.Chr., auch in sozialgeschichtlicher Hinsicht, besser zu verstehen15. Wer die unterschiedlichen Jesusbilder der letzten Jahrzehnte Revue passieren lässt16 , wird allerdings schnell erkennen, dass auch dieses Unternehmen, „Third Quest“ genannt17, nicht ohne Vorverständnisse auskommt und wieder nur zu weit auseinander gehenden Resultaten führt. Inzwischen wurde jeder Vers der vier Passionserzählungen vielfach umgewendet, kein Quadratzentimeter des Terrains blieb unbearbeitet. Zahllose Studien zu Einzelfragen erschienen, aber auch Maßstab setzende Gesamtdarstellungen18 . Wer [1874–1958]“; ebenso Catchpole, Trial 54–64; ebd. 11–54 zu den jüdischen Jesus-Bildern seit Moses Mendelssohn bis Klausner im Schatten des Talmuds; Lindeskog, Jesusfrage. – Eine Sonderrolle spielt C.G. Montefiore (1858–1938), Gründergestalt des britischen Reformjudentums, mit seinem zweibändigen Evangelienkommentar von 1909, Gospels, und seinen Lectures von 1910, Elements. 12  Zeitlin, Jesus (1942); Isaac, Jésus (1948); P. Winter, Trial (1961), Ben-Chorin, Bruder (1967), Flusser Jesus (1968); ders., Tage (1982), Cohn, Prozess (1968/71); Vermes, Jesus (1973); Lapide, Tod (1987); Vermes, Passion (2005); Boyarin, Gospels (2012). – Vgl. Mußner, Traktat 176–185; Vogler, Jesusinterpretationen; Kurth, Prozess 46–58; Homolka, Jude 96–189. 13 EvPetr wurde für die Erhellung der Vorgeschichte der kanonischen Passionserzählung höchste Relevanz zugesprochen: siehe unten I.  2.1. 14  Beherrschend war das theologische Interesse, christliche Identität durch das Eigenprofil Jesu begründen zu wollen mit der Folge, dass die Anwendung des „Differenzkriteriums“ zum Bild eines unjüdischen Jesus führte: Jesus sei „wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre“ (Käsemann, Problem 206). – Theißen/Winter, Kriterienfrage 79–174; Boring, Quest 345: „the ‚Third Quest‘ uniformly proclaims its separation from the theological enterprise – though it does this in strikingly different ways“. 15  Frey, Jesus 291: „weithin Konsens“! 16  Boring, Quest 341 f., listet die Bilder auf: „Hellenistic Cynic Sage“ – „Jewish Cynic Peasant“ – Jewish „Spirit Person“ – „Egalitarian Prophet of Wisdom“ – „Eschatological Prophet of the Present and Coming Kingdom“ – „Prophet of Imminent Restoration Eschatology“; schon Käsemann, Problem 204, sprach von einem „bestürzende(n) Durcheinander von angeblich zuverlässigen Jesusbildern: Bald erscheint er als Rabbi, bald als Weisheitslehrer, bald als Prophet, dann wieder als derjenige, der sich als Menschensohn oder Gottesknecht verstanden hat, eine apokalyptische oder verwirklichte Eschatologie vertrat oder je etwas von all dem vermischen kann“; Rau, Perspektiven 71–80 („Das Leben Jesu meldet sich zurück“). 17  Zur Genese der „Third Quest“ genannten Richtung der Jesusforschung siehe Theißen/ Winter, Kriterienfrage 148–157; Witherington III, Quest; Boring, Quest 341–354; Frey, ­Jesus 286–293. 18  Schelkle, Passion (1949); Blinzler, Prozess (11951/41969); E. Lohse, Geschichte (1964); Benoit, Passion (1966); Strobel, Stunde (1980); Green, Death (1988); Crossan, Cross (1988); Brown, Death I/II (1994); Légasse, Procès I/II (1994/95); Aitken, Death (2004); Reinbold,

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

heute aufbricht, das Feld der Passionserzählungen neu zu bestellen, hat Rechenschaft darüber abzulegen, was ihn motiviert und welche Hindernisse er zu erwarten hat (1.), wo er sich forschungsgeschichtlich „verortet“ und welche Ziele er unter welchen Voraussetzungen anstrebt (2.).

1. Motivation und Hindernisse Wer sich auf Jesus von Nazaret bezieht, kann gar nicht anders, als ständig zu fragen und zu forschen, wer dieser Mensch ist, wie er gelebt, was er gesagt und getan hat, warum und wie er auf so furchtbare Weise sterben musste. Die Evangelien versprechen Antworten auf diese Fragen. Sie erinnern aus tiefer Sympathie an den Menschen, dessen Leben und Sterben durch fast zweitausend Jahre für unzählige Menschen von so großer Bedeutung ist, dass sie ihn nicht vergessen wollen. Insbesondere die Passionsgeschichten faszinieren. Unüberbietbar, unvergleichbar, von theologischer Tiefe und literarischer Einmaligkeit erzählen sie vom Leiden Jesu. Sollten wir uns mit ihnen nicht begnügen? Nun können wir gar nicht anders, als immer wieder neu zu fragen, wie Jesu Leben wirklich war und warum und wie er gestorben ist. Auch diese Arbeit verbirgt diesen Grundimpuls nicht und schämt sich dessen nicht. Jesus würde seines Menschseins beraubt, wenn wir diese Frage nicht mehr nach ihm stellten. Gegen das Unternehmen einer historischen Rückfrage türmen sich allerdings massive Widerstände auf (1.1). Hinter das neutestamentliche Christuszeugnis zurückzugehen führe nicht zum „wirklichen Jesus“, sondern nur zu einer Chimäre der Wissenschaft, lautet der fundamentalchristologische Einspruch (1.1.1). Angesichts dessen ist die Rückfrage nach dem historischen Jesus neu zu begründen (1.1.2). Methodische Barrieren richtet in jüngerer Zeit die Wende von der diachronen zur synchronen Textanalyse auf. Versuche, Licht in das Dunkel der Vorgeschichte der Endtexte zu bringen, werden in das Reich der Spekulation verwiesen (1.1.3). Andererseits weiß, wer sich mit den Passionserzählungen befasst, dass der Schatten des unheilvollen Antijudaismus, der über Jahrhunderte hinweg gerade auf ihnen lastete, heute nicht einfach vergessen ist (1.2). Die Frage, ob diese Erzählungen nicht von Anfang an Keime des Antijudaismus in sich tragen, geht ins Mark (1.2.1)19. Die Aufgabe bleibt, die Memoria passionis von allen dunklen Schatten des christ­ lichen Antijudaismus zu reinigen, damit das Evangelium mit seiner befreienden Prozess (2006). – Lehrbücher: Bösen, Tage (31995); Theißen/Merz, Jesus (1996). – Populäre Darstellungen: Bovon, Jours (2004); G. Lohfink, Tag (2009); zu berücksichtigen sind auch Jesus-Monografien, mit größeren Kapiteln zum Prozess Jesu: Sanders, Figure (1993); ­Becker, Jesus (1995); Ebner, Jesus (2003); Niemand, Jesus (2007); Schröter, Jesus (2006); W. Stegemann, Jesus (2010). 19  Ruether, Faith (1974) zufolge ist der Antijudaismus von Beginn an die Kehrseite der Christologie gewesen (dazu Mußner, Traktat 356–363); Oldenhage, Passonsgeschichten 18: „[D]ie These von der zentralen Bedeutung des Antijudaismus (wurde) weder zweifelsfrei belegt noch abschließend widerlegt“.

1. Motivation und Hindernisse

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Kraft von seiner Mitte her zu leuchten vermag (1.2.2). Gerade dies macht die Frage nach dem historischen Jesus zwingend. 1.1 Von der theologischen Notwendigkeit der historischen Rückfrage Die historische Jesus-Frage wird jüngst wieder unter Berufung auf Martin Kähler als letztlich irrelevant für den Christusglauben erklärt20 . Programmatisch hat sich Otfried Hofius in diesem Sinne geäußert; sein äußerst profilierter Beitrag hilft zur Problemanalyse21. 1.1.1 Der Jesus der Evangelien – der „wirkliche“ Jesus? Gegen den „Versuch, mit den Mitteln der historischen Wissenschaft hinter das neutestamentliche Christuszeugnis zurückzugehen, um so den ‚wirklichen‘ irdischen Jesus in den Blick zu bekommen“, macht Otfried Hofius drei Gründe namhaft: die Begrenztheit der Quellen (a), deren spezifische Art (b) und vor allem die theologische Irrelevanz eines solchen Unternehmens (c) 22 . (a) Die Quellen lassen es nicht zu, den „historischen Jesus“ herauszudestillieren, „weder in detaillierter Form“ noch „in Grundzügen“23. „Denn was immer und wieviel immer die historisch-kritische Arbeit über Jesus erkennen lassen mag – es sind und bleiben doch Bruchstücke, und Bruchstücke aus der Geschichte, dem Wirken und dem Reden eines Menschen, erlauben kein begründetes Urteil über seine Person und sein Selbstverständnis“24. Dabei sei nicht abgestritten, „dass durch historisch-kritische Arbeit sehr wohl bestimmte Züge der 20  Kähler, Jesus 42 f.: „[S]o gewiss nicht der historische Jesus, wie er leibte und lebte, seinen Jüngern den zeugniskräftigen Glauben an ihn selbst, sondern nur eine sehr schwankende, fluchtund verleugnungsfähige Anhänglichkeit abgewonnen hat, […] ebenso gewiss waren sie auch erst dann imstande, sein Sein und Behaben, sein Tun und sein Wort als die Darbietung der Gnade und Treue Gottes zu erfassen, da er vollendet vor sie trat“; 44 f.: „[D]er wirkliche Christus ist der gepredigte Christus. Der gepredigte Christus, das ist aber eben der geglaubte; der Jesus, den wir mit Glaubensaugen ansehen in jedem Schritt, den er tut, in jeder Silbe, die er redet“. – Hofius, Exegese 276 f.: „Was Martin Kähler vor mehr als hundert Jahren der Theologie im Blick auf die Frage nach dem ‚historischen Jesus‘ zu bedenken gegeben hat, ist nach wie vor von höchster Relevanz“; Ratzinger/Benedikt XVI. nennt Martin Kähler in seinem Jesus-Buch zwar nicht, bedient sich aber seiner Terminologie: So „wollte ich doch den Versuch machen, einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den ‚historischen Jesus‘ im eigentlichen Sinn darzustellen“ (Jesus I 20; dazu Theobald, Evangelien 177–182); Gräßer, Christus 279: „[D]er historische Jesus ist […] nur der halbe Christus. Der ganze Christus aber ist der, der gelebt hat, gestorben und auferstanden ist. Der ganze Christus ist der Christus unseres Bekenntnisses“. 21  Hofius, Exegese; ders., Frage; vgl. auch Wengst, Jesus 113 (zu ihm Häfner, Kritik) oder McKnight mit dem signifikanten Titel: „Why the Authentic Jesus Is of No Use for the Church“; der sog. „Jesus-memory approach“ richtet sich gleichfalls gegen eine Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens, schlägt aber eigene Wege ein: Keith, Memory 155–177 (mit Lit.). 22  Hofius, Exegese 276. 23  Ebd. Anm.  23, ohne „die Authentizität bestimmter in den Evangelien überlieferter Jesusworte oder die Historizität bestimmter dort berichteter Ereignisse“ zu bestreiten. 24  Hofius, Frage 85; Kähler, Jesus 27, spricht von den „Trümmern(n) der Überlieferung“, die zu einem Ganzen zu formen „allein die Einbildungskraft des Theologen sein (kann), die an der Analogie des eignen und sonstigen Menschenlebens gebildete und genährte Einbildungskraft“.

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Verkündigung Jesu und seines Wirkens wahrgenommen werden können“25. Aber sie bleiben „historisch gesehen doch mehrdeutig – und dies sowohl im Blick auf ihren semantischen Gehalt wie auch im Blick auf ihre Interpretation, die ja als streng historische über den Bereich des Menschlichen und Menschenmöglichen nicht hinausgehen darf“26 . (b) Hinzu kommt die spezifische Gestalt der Evangelien. „[D]ie Grundlage“ dessen, was sie über Jesus erzählen, ist „[d]as apostolische Christuszeugnis“, das Überzeugtsein von der österlichen „Selbsterschließung“ des Auferweckten. „Diese Gewissheit bildet den Grund dafür, dass in den Evangelien der […] Rückblick auf die Geschichte und Verkündigung des irdischen Jesus und der durch den Auferstandenen gewährte Einblick in sein Persongeheimnis aufs engste miteinander verwoben sind. Der Jesus der Evangelien ist der von den Aposteln bezeugte Christus“27. (c) Auch wenn die Vertreter einer Rückfrage nach dem historischen Jesus es nicht zugeben, sie sind immer auch „von dogmatischen Motiven bestimmt“. „[E]ntweder“ stellen sie die Frage nach dem „historischen Jesus“ „aus einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der neutestamentlichen Christologie, oder sie wird in der Absicht gestellt, einen sachlichen Konnex zwischen dieser Christologie und Jesus selbst aufzuzeigen“. Beides weist er mit Martin Kähler zurück: „Die Antwort auf die Frage, wer Jesus Christus in Wahrheit ist, gibt nicht der ein Jesusbild rekonstruierende Exeget und Historiker, sondern einzig und allein das apostolische Christuszeugnis“28 .

Versuche, „einen sachlichen Konnex“ zwischen der nachösterlichen Christologie und dem irdischen Jesus aufzuzeigen 29, seien deshalb zum Scheitern verurteilt, weil der Unterschied zwischen beiden „nicht bloß graduell, sondern absolut“ sei. „Denn zwischen einem wie immer rekonstruierten ‚historischen Jesus‘, der nichts anderes ist und sein kann als ein purus homo, und dem apostolisch bezeugten Jesus, der als die rettende Gegenwart Gottes unter uns Menschen geglaubt und dessen Geschichte als eine alle Menschen betreffende Gottesgeschichte begriffen wird, besteht ein qualitativer Sprung. Das aber bedeutet: Von dem ‚historischen Jesus‘ führt kein Weg zu dem von den Aposteln und Evangelisten bezeugten Christus“30 .

So werde auch der Frage nach dem „historischen Jesus“ „entschieden zu viel zugetraut, wenn man ihr Recht und ihre Notwendigkeit darin“ erblicke, „dass sie die Entstehung des nachösterlichen Christusglaubens historisch plausibel machen 25 

Hofius, Frage 110. Ebd. 111 f.; diese zutreffende Einsicht kann freilich auch positiv gewürdigt werden: vgl. unten 1.1.2 und IV.  1.1.1 („Die Ambiguität der Jesus-Geschichte und der sich darin eröffnende theologische Spielraum“). 27  Ebd. 91 f. 28  Hofius, Exegese 276 f.; ebd. 276: „Die Rekonstruktionsversuche selbst zielen in der Regel darauf ab, das Verhältnis des irdischen Jesus zu Gott zu bestimmen. Damit wird aber bewusst oder unbewusst vorausgesetzt, dass man beides auch unabhängig von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus wissen kann: wer Gott ist und wer Jesus ist“. – Bei der Berufung auf Kähler ist zu berücksichtigen, dass dieser sich gegen die alte Leben-Jesu-Forschung mit ihrem biographischen Ansatz gewandt hat, um „eine Warnungstafel vor der angeblich voraussetzungslosen Geschichtsforschung aufzurichten, wenn sie eben aufhört, Forschung zu sein und zum künstlerischen Gestalten fortschreitet“ (Kähler, Jesus 29). 29  Zu denken ist an das Programm der Bultmann-Schüler, siehe oben Anm.  8 . 30  Hofius, Frage 106 f. (Kursive von mir); Kähler, Jesus 25: „Der Unterschied liegt nicht auf der Linie des Grades, sondern auf der Linie der Art“. 26 

1. Motivation und Hindernisse

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könne und solle“. Das Christuszeugnis der ntl. Autoren könne „niemals einen Anhalt an einem purus homo haben, wie Großes auch über ihn und seine Beziehung zu Gott gesagt werden mag“31. So sehr Hofius auf der einen Seite die Brüchigkeit historischer Erkenntnis betont, so sehr liegt ihm andererseits an Eindeutigkeit und Einstimmigkeit des neutestamentlichen Zeugnisses32 . Die Analyse der vier Passionserzählungen fördert aber nicht nur vier verschiedene Bilder vom Sterben und Tod Jesu zutage, sondern auch unterschiedliche soteriologische Vorstellungen, die sich nicht harmonisieren lassen 33. Sie spiegeln zudem je eigene Verhältnisse der hinter den Texten stehenden Ekklesien zur Synagoge wider. Schon diese Pluralität 34 provoziert die historische Frage, die sich nicht unterdrücken, wohl aber in methodische Bahnen lenken lässt. Weil der Glaube vor der Vernunft Rechenschaft über seine Gründe abzulegen hat (vgl. 1Petr  3,1535), diese aber in der hier verhandelten Frage die Gestalt der „historischen Vernunft“ besitzt, ist die Exegese von ihrem fundamentaltheologischen Selbstverständnis her dazu angehalten, die historisch-kritische Frage aufzugreifen 36 . 1.1.2 Plädoyer für ein neues Ambiguitätsparadigma (1) Der Glaube an Jesus als den eschatologischen Heilbringer gründet dem Neuen Testament zufolge auf dem apostolischen Osterzeugnis (vgl. 1Kor  15,3–5) bzw. auf der nicht hintergehbaren Überzeugung derer, die als erste – trotz schmählicher Hinrichtung Jesu am Kreuz – zum Glauben an seine Auferweckung und Erhöhung gelangten 37. Die Analyse der Passions- und Ostererzählung wird diese Grundeinsicht bestätigen. 31 

Hofius, Frage 108. Ebd. 93: „Die Vielfalt miteinander konkurrierender und in manchen Zügen sogar miteinander unvereinbarer Jesusbilder, die angeblich bereits im Neuen Testament zu verzeichnen ist, halte ich ebenso für ein exegetisches Phantom wie die Vielfalt der Deutungen des Todes Jesu, die dort zu finden sein soll. In Wahrheit gibt es einen den Schriften des Neuen Testaments gemeinsamen Cantus firmus – nämlich das Zeugnis von der absoluten Analogielosigkeit Jesu Christi und damit auch des irdischen Jesus“. 33  Vgl. unten IV.  1.2. 34  Gewollt von der Kirche des 2.  Jh.s, die sich mit der Kanonisierung von vier Evangelien für die Koexistenz unterschiedlicher Jesus-Bilder entschied, nicht für eine Evangelienharmonie nach der Art eines Tatian. 35 Vgl. Seckler, Wahrheitsanspruch 63–74. 36  Rahner, Exegese 180: Der Exeget hat „das Recht und die Pflicht, die Arbeit des fundamentaltheologischen Historikers dem Neuen Testament gegenüber zu tun, gerade wenn und weil er katholischer Theologe sein soll, der nicht einfach mit dem bloßen und unbegründeten Akt des Glaubens anfangen darf“. – Ähnlich Hengel/Schwemer, Jesus 177 f.: „Der christliche Glaube lässt sich durch ‚historische Forschungsergebnisse‘ […] in seinem Wahrheitsanspruch niemals zureichend ‚begründen‘, sondern bestenfalls erläutern oder anschaulich machen, indem zum Glauben der Versuch eines geschichtlichen Verstehens hinzutritt. Unser Thema gehört so in das weite Feld der fides quaerens intellectum oder speziell einer fides quaerens veritatem historicam. Denn wirklichen Glau­ ben im Sinne der fiducia […] kann nur Gott selbst ‚begründen‘, indem er uns mit seinem Wort anspricht, durch das uns Christus begegnet“; Konradt, Vollmachtsanspruch 144. Außerdem F. Hahn, Theologie I 40–46 („Notwendigkeit und theologische Relevanz der Rückfrage nach Jesus“). 37  Soweit besteht Einmütigkeit: Käsemann, Problem 203: „Der Osterglaube hat das christ­ 32 

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(2) Wenn die Exegese die Evangelien auf ihren geschichtlichen Bezug hin überprüft, den diese selbst behaupten, dann hat sie sich unter den Bedingungen der Moderne anerkannter wissenschaftstheoretischer Standards der Geschichtswissenschaft zu bedienen. Auch für sie gilt das Analogie-Prinzip, das aller historischen Arbeit zugrunde liegt: die Gleichmäßigkeit geschichtlicher Geschehenszusammenhänge (Ernst Troeltsch). Mit einem göttlichen Eingriff in die Geschichte unter Aufhebung von Zweitursachen rechnet sie nicht. So wenig sie theologische Denkverbote akzeptiert, so sehr kann sie sich auf die „Definition“ Jesu Christi als vere homo und vere deus des Konzils von Chalcedon berufen, welche die „Eigentümlichkeit beider Naturen (Christi)“, insbesondere die seines Menschseins, betont 38 . In ihr findet sie auch die Legitimation einer vorbehaltlosen historisch-kritischen Jesusforschung. Wenn Hofius unter Berufung auf das Neue Testament von der „absolute(n) Analogielosigkeit Jesu Christi und damit auch des irdischen Jesus“ spricht 39, ist dies der nachösterliche Blick auf Jesus von Nazaret, der aber nicht zu Denkverboten bei der Bewertung der Quellen führen darf. Hofius wendet sich etwa gegen die Annahme, die Taufe Jesu durch Johannes sei „ein Indiz“ dafür, dass er „wie alle anderen, die sich taufen ließen, als ein Sünder an den Jordan kam, um seine Umkehrbereitschaft zu dokumentieren und Gottes Vergebung zu suchen“40 . Als „bloße Vermutung“ wiegelt er ab, Jesus habe „sich wie jeder fromme Jude als ein Mensch im Gegenüber zu Gott“ gewusst, was darin angeblich zum Ausdruck käme, „dass er nach Mk  10,17 f. auf die Anrede ‚guter Lehrer‘ antwortet: ‚Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer einem: Gott‘ (V.18)“41. Nachösterliche Christologie kann nicht diktieren, was historisch sein oder nicht sein darf. Den Verweis auf die Inkarnation des Gotteswortes in Jesus von Nazaret lässt Hofius deswegen nicht als Argument zugunsten des Versuchs gelten, „die Frage nach dem ‚historischen liche Kerygma begründet, aber er hat ihm seinen Inhalt nicht erst und ausschließlich gegeben“; Jüngel, Bedeutung 218 f.; Konradt, Vollmachtsanspruch 133, u. a. 38  Definition von Chalcedon Zl. 17–20 (bei Grillmeier, Jesus 755): „in zwei Naturen unvermischt (ἀσυγχύτως), unverwandelt (ἀτρέπτως), ungetrennt (ἀδιαρέτως), ungesondert (ἀχωρίστως) erkennbar, niemals wird der Unterschied der Naturen (τῆς τῶν φύσεων διαφορᾶς) aufgehoben der Einigung wegen, vielmehr wird die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen bewahrt (σῳζωμένης δὲ μᾶλλον τῆς ἰδιότητος ἑκατέρας φύσεως)“. 39  Hofius, Frage 93 f.; sie versteht er so, „dass der Mensch Jesus von Nazareth, dessen echte, volle und individuelle Menschlichkeit nicht geleugnet, sondern im Gegenteil vorausgesetzt wird, gleichwohl kein purus homo – kein bloßer Mensch ist. Er ist vielmehr darin von allen anderen Menschen qualitativ unterschieden, dass er seinem Ursprung und Wesen nach auf die Seite Gottes gehört, Gott in ihm in einzigartiger Weise gegenwärtig ist und in ihm – und nur in ihm – das ewige Heil eines jeden Menschen beschlossen liegt“. Ebd. 109 Anm.  39: „[S]ein wahres Menschsein“ kann „von seinem wahren Gottsein nicht getrennt werden“. 40  Ebd. 114; dagegen etwa Strotmann, Jesus 91: „Die Taufe Jesu durch Johannes gehört zu den sichersten historischen Fakten im Leben Jesu […]. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Verlegenheit, die dieses Faktum den Evangelien bereitete, denn erstens zeigt die Taufe Jesu durch Johannes dessen Überlegenheit gegenüber Jesus an und zweitens suggeriert sie als Taufe zur Vergebung der Sünden, dass Jesus der Überzeugung war, die Vergebung der Sünden nötig zu haben, dass er also ein Sündenbewusstsein besaß“; auch für Konradt, Vollmachtsanspruch 165, ist Jesu Taufe ein „irritierendes Datum“, ein „Störfaktor“, angesichts der ntl. Rede von der Sündlosigkeit Jesu (2Kor  5,21; Hebr  4,15; 1Petr  2,22; 3,18; Joh  8 ,46; 1Joh  3,5). 41  Hofius, Frage 114.

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Jesus‘ als eine mögliche oder sogar als eine theologisch gebotene Frage zu erweisen“, weil die historische Kritik grundsätzlich nicht Jesu „wahres Menschsein“ „zu Gesicht“42 bekommen könne. Mit diesem Urteil sieht er sich aber – in Anknüpfung an Joh  1,1443 – einer Einheitschristologie in alexandrinischer Tradition verpflichtet, auf deren Bahnen er zwar an das „ungetrennt“ (ἀδιαιρέτως) der chalcedonensischen Definition anknüpfen kann, nicht jedoch an deren zuerst genannte Attribute „unvermischt“ (ἀσυγχύτως) und „unverwandelt“ (ἀτρέπτως)44. Von anderen christologischen Voraussetzungen her urteilt Karl Rahner (damit der historischen Kritik ihren Freiraum lassend): „Wenn wir […] auf sein (sc. Jesu) Leben blicken, wie es sich einer historisch nüchternen Nachfrage darbietet, auch in einer gewissen Absetzung von einer theologisch unbedachten Interpretation des christologischen Dogmas, dann können wir feststellen, dass Jesus ein menschliches Selbstbewusstsein hatte, das nicht ‚monophysitisch‘ identifiziert werden darf mit dem Bewusstsein des Logos Gottes, als ob es und die ganze Wirklichkeit Jesu letztlich passiv wie eine verlautbarende Livree von diesem einzig aktiven Gottsubjekt gesteuert würde. Das menschliche Selbstbewusstsein Jesu stand dem Gott, den Jesus seinen Vater nannte, in kreatürlicher Abständigkeit, frei, gehorsam, anbetend und sich Gottes Unbegreiflichkeit ergebend gegenüber wie jedes andere menschliche Bewusstsein“45.

(3) So gewiss der Glaube an Jesus als den eschatologischen Heilbringer sich nicht durch den historischen Jesus begründen lässt, so nahe liegt umgekehrt die Frage, ob er nicht „Anhalt“ an ihm besitzt46 . Die Antwort, die darauf im Gefälle der „Second 42 Ebd.

43  Ebd.: „Im Logos-Sein Jesu liegt der Schlüssel zum Verständnis seines Menschseins, d. h. seiner analogielosen, weil durch die göttliche δόξα ausgezeichneten Existenz und Geschichte ἐν σαρκί. Die Frage nach dem ‚historischen Jesus‘ muss davon abstrahieren, dass Jesus der menschgewordene Sohn Gottes ist. Wollte man Recht und Notwendigkeit dieser Frage mit Joh  1,14 begründen, so hieße das, den Satz ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο gegen den eindeutigen Wortsinn so zu verstehen, als habe sich der Logos in σάρξ verwandelt und damit aufgehört, der Logos zu sein“. 44 Bei Kähler verbindet sich die Ablehnung des Analogieprinzips (Jesus 24–26) mit dem Bild eines dem Judentum enthobenen Jesus, was von denen, die sich heute auf ihn berufen, in der Regel verschwiegen wird: „Semler hat längst vor Baur das ‚Judenzen‘ der altchristlichen Schriftsteller entdeckt; in seiner Schule jedoch nahm man Jesum von dieser Befangenheit in dem Judentume aus; war das nur Vorurteil? Oder war es das Ergebnis einer Beobachtung, eines zutreffenden Eindruckes? D. Strauß findet in Jesu Erscheinung etwas Hellenisches, jedenfalls also nichts mit dem späteren Judentume Verwandtes. Wenn man nun den Jesus unsrer Evangelien mit Saul von Tarsus vergleicht, so springt in der Tat ein weiter Abstand zwischen dem Schüler der Pharisäer und zwischen dem Meister ins Auge; dort der leibhaftige Jude, auf den die Bildungsmächte seines Volkes und seiner Zeit so unverkennbar tief und nachhaltig gewirkt haben; hier der Menschensohn, dessen Gestalt und Tun einen anmutet, als bewegte man sich in der geschichtslosen Zeit der Patriarchen. Das verspricht keinen reichen Ertrag von einem Rückgang auf die Zeitgeschichte“ (Jesus 26). 45  Rahner, Gott 312 f. (Kursive von mir); ebd. 313: Jesu Selbstbewusstsein hat „eine Geschichte: Es teilt die Verstehenshorizonte und Begrifflichkeiten seiner Umwelt, auch um es selbst zu sein, nicht nur ‚herablassend‘ für andere. Es lernt, es macht neue, überraschende Erfahrungen, es ist von letzten Krisen der Selbstidentifikation bedroht, auch wenn diese Krisen selbst nochmals, ohne ihre Schärfe zu verlieren, umfangen bleiben von dem Bewusstsein, dass auch sie selbst in den Willen des ‚Vaters‘ geborgen bleiben“. 46  Jüngel, Bedeutung 219; ebd.: „Es muss verstehbar sein, warum Gott den gekreuzigten Jesus  – und nicht etwa den enthaupteten Täufer Johannes – auferweckt haben soll. Insofern nötigt der Glaube an den Auferstandenen zur Rückfrage nach dem irdischen Jesus und nach dem, was wir historisch von ihm wissen können“. Konradt, Vollmachtsanspruch 163: „Die Ostererfahrung ist ja nicht schon dadurch auch nur annähernd suffizient bestimmt, dass ein Toter auferweckt wurde,

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Quest“47 gegeben wird, lautet: Jesu Selbstverständnis schließe die nachösterliche Deutung seiner Person nicht nur nicht aus, sondern es bestehe zwischen beidem vielmehr ein derartig enges Verhältnis, dass von Rätsel und Lösung48 bzw. von „Entsprechungen“ die Rede sein könne49. Die nachösterliche Christologie knüpfe an die im Hoheitsanspruch Jesu „implizierte“ Christologie an und expliziere sie50 . Wird das Paradigma der „Kontinuität“ derart einlinig gedacht51, dann sträuben sich allerdings dagegen die Befunde sowohl zum historischen Jesus (a) als auch zu den österlichen Christologien, die einen Mehrwert über jene hinaus zu erkennen geben (b) 52 . (a) Die weithin als authentisch geltenden Wort- und Tatüberlieferungen Jesu geben seinen besonderen Vollmachtsanspruch deutlich zu erkennen: Wenn er die nahegekommene Königsherrschaft Gottes proklamiert, lässt er die Menschen ihre Nähe durch sein Wirken erfahren: die Kranken, Leidenden und von „Dämonen“ Geplagten (Lk  11,20; vgl. 10,23 f. par. Mt  13,16 f.)53, auch die „Zöllner und Sünder“, mit denen er sondern sie gewinnt wesentlich erst dadurch ihre Relevanz, dass der Mensch auferweckt wurde, der mit dem Anspruch auftrat, den Menschen ein neues Gottesverhältnis zu vermitteln“. 47  Siehe oben bei Anm.  8 . 48  Käsemann zufolge ist Jesus „weder religionsgeschichtlich noch psychologisch noch historisch letztlich ein(zu)ordnen“, weshalb das Problem des historischen Jesus nicht unsere Erfindung sei, „sondern das Rätsel, das er selber uns aufgibt. Der Historiker mag dieses Rätsel feststellen, aber er löst es nicht. Gelöst wird es allein von denen, die seit Kreuz und Auferstehung ihn als den bekennen, der er irdisch nicht zu sein beanspruchte und doch schon wurde, nämlich als ihren Herrn und den Bringer der Freiheit der Gotteskinder, welche das Korrelat der Gottesherrschaft ist“ (Problem 213 f. [Kursive von mir]). 49  Aufgegriffen von der Dogmatik, etwa Kasper, Jesus 41, der dem „Programm einer Christologie der gegenseitigen Entsprechung von irdischem und erhöhtem Christus“ folgt. 50  Das Konzept einer „impliziten“ Christologie dient oft dazu, die weithin anerkannte Annahme aufzufangen, dass die bekannten Hoheitstitel Jesu durchweg nachösterlichen Ursprungs sind: F. Hahn, Hoheitstitel; Kremplin, Selbstverständnis 197: „dass Jesus sich selbst mit keinem geprägten Titel bezeichnete oder bezeichnen ließ“, ist „weitgehend Konsens der historisch-kritischen Jesus-Forschung“; U.B. Müller, Auferweckt 209. Dies gilt auch für den Menschensohn-­ Titel, den Jesus nicht auf sich selbst, sondern nach dem Vorbild des Täufers (vgl. Q  3,16b–17) auf eine von ihm unterschiedene eschatologische Figur bezogen hat: vgl. Q  12,8 f.: Becker, Jesus 249–267. Q  7,34 und 9,58 verdanken sich der Q-Redaktion wie auch die Leidens- und Auferstehungsankündigungen nachösterlich sind. 51  „Kontinuität“ ist seit Käsemann Leitwort der Debatte um das Verhältnis vom vorösterlichen zum nachösterlichen Christus: Theißen/Merz, Jesus 447; Frey, Jesus 297; Hengel/Schwemer, Jesus 654, u. a. – F. Hahn, Theologie I 41 f., bietet hilfreiche Differenzierungen, ebenso Kreplin, Selbstverständnis 9–73 („Relevanz des historischen Jesus für das christliche Glaubens­ zeugnis“), der die von Käsemann gestellten Fragen neu aufgreift und sich gegen eine reine Historisierung Jesu im Trend der „Third Quest“ wehrt (ebd. 9 f.). 52  Becker, Jesus 272; Konradt, Vollmachtsanspruch 163–166; Oberlinner, Anspruch 200– 202 („Der Vollmachtsanspruch Jesu – ein Beleg für die implizite Christologie?“); ihm zufolge lässt das Paradigma „zwei zentrale Fragen offen: (1) Wo hat in dieser Konstruktion Jesu Kreuzestod seinen Platz? Und muss nicht (2) bedacht werden, dass mit dem Osterglauben den Jüngern eine neue Dimension des Handelns Gottes erschlossen wurde, in welcher nicht nur Jesu Vollmachtsanspruch, sondern auch seine Ohnmacht am Kreuz und das gesamte Wirken in einem neuen Licht gesehen werden mussten […]?“ (203). 53  Die Vision vom himmlischen Satanssturz, Lk  10,18+20b, wird Jesus den Anstoß gegeben haben, die Heilswende zu verkünden: Theobald, Satan 174–190; U.B. Müller, Auferweckt 205. Vgl. auch Q  10,23 f.

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Mahl hält (Mk  2,15–17). Er spricht ihnen Gottes Vergebung der Sünden zu (Mk  2,5 par.; Lk  7,47 f.; Joh 20,2354), ruft einige in seine Nachfolge und erhebt den Anspruch, „Gottes Willen angesichts des Kairos der sich durchsetzenden Königsherrschaft Gottes in vollkommener Weise zu erschließen“55. In die Mitte seiner Weisungen rückt er, überzeugt vom unbedingten Heilswillens Gottes, das Liebesgebot der Tora, das er im Sinne der Feindesliebe deutet (Mt  5,44 f. par. Lk  6 ,27 f.35; Mk  12,28–34). Er gibt zu erkennen, dass die Stellung zu ihm bzw. zu seiner Botschaft über die Anteilhabe am eschatologischen Heil entscheidet (Lk  12,8 f.).

Gegen die Klassifizierung dieser Merkmale als „christologisch“ sprechen zwei Beobachtungen: Zum einen geht es bei alldem um das Heil Gottes, das Jesus den Menschen zuspricht, ohne sich selbst als Vermittler des Heils zu exponieren, an den zu glauben wäre. Zum anderen ruft er Menschen in seine Nachfolge, damit sie mit und neben ihm die Königsherrschaft Gottes verkünden (Lk  9,60.62; vgl. Mk  1,17) 56 . Er sendet sie aus als „Multiplikatoren“57, die Anteil an seiner „Vollmacht“ haben (Mk  6 ,7; Mt  10,1.5.8; Lk  9,1 f.; 10,1.8; vgl. auch Apg  3,6): Sie sollen, wie er, Dämonen austreiben und Kranke heilen (Mk  6 ,13; Lk  9,6; 10,17; vgl. Mk  9,18.29; Mt  17,16.19 f.). Wenn er Gott mit „Abba“ anredet, reserviert er diese Anrede nicht für sich, sondern „ermächtigt“ auch die Seinen, Gott in dieser Weise anzureden58 . „Sich zu ihm bekennen“ (Lk  12,8 f.) heißt, sich zu seiner Botschaft der mit ihm nahegekommenen Königsherrschaft zu bekennen. Gestützt werden diese Befunde dadurch, dass Jesus sich nicht in titularer Form zu seiner Identität geäußert hat. Er verstand sich als eschatologischen Boten der Königsherrschaft Gottes, nahm aber, passend zu seiner Kritik an den Mächtigen dieser Erde (Mk  10,42–44), keine messianische Herrschaftsfunktion in Anspruch59.

54  Überall sind es Passivformulierungen (passiva divina)! Mk und Mt bedienen sich des Präsens (ἀφίενται), Lk (wie Joh) des resultativen Perfekts (ἀφέωνται), „was der Aussage stärker den Charakter einer Feststellung als eines performativen Sprechaktes gibt: Jesus stellt fest, dass Gott dem Kranken seine Sünden vergeben hat […] – jedoch auf Grund des Wortes Jesu“ – „ebenso war natürlich auch bei Johannes dem Täufer Gott das Subjekt der Sündenvergebung – jedoch auf Grund des von Johannes durchgeführten Tauchrituals“ (Wolter, Lk 222). Erst Mk  2,10 spricht aus christologischer Perspektive von „der Vollmacht des Menschensohns, Sünden zu vergeben“. 55  Konradt, Vollmachtsanspruch 157. 56 J. Gnilka, Jesus 174: „die Einbeziehung der Jünger in sein Wirken, die Teilhabe an der Verkündigung der Gottesherrschaft“ ist „primäres Kennzeichen“ von Jüngerschaft und Nachfolge. „Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Jünger hier ganz in der Abhängigkeit von Jesus stehen, nicht im eigenen Namen, sondern in der Gemeinschaft mit ihm tätig werden“. 57  Oberlinner, Anspruch 201. 58  Kreplin, Selbstverständnis 218 f.; Niemand, Jesus 85; Oberlinner, Anspruch 201; anders Hofius, Frage 111 Anm.  47. 59  Kreplin, Selbstverständnis 285–299; Konradt, Vollmachtsanspruch 161: Jesus hat „für sich selbst offenbar keine Rolle bei der eschatologischen Vollendung der Basileia Gottes gesehen“. Sein „Anspruch bezog sich auf die Gegenwart der in ihrer Vollendungsgestalt noch zukünftigen Basileia, die Gott selbst aufrichtet. Man kann ergänzen, dass Jesus seine Botschaft durch seinen Tod nicht in Frage gestellt sah“ (vgl. Mk 14,25). Becker, Jesus 419: „Dass die endzeitliche Gottes­ herrschaft sich weiter durchsetzen wird, bleibt von seinem Tod unberührt, weil mit ihr Gott selbst am Werk ist“.

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

„Jesus ist endzeitlicher Heilsprophet. Diese Deutung hat […] den unbestreitbaren Vorteil, Jesu historische Unverwechselbarkeit innerhalb der frühjüdischen Geschichte und speziell der dazugehörigen Prophetie zur Geltung bringen zu können. Sie hat den weiteren nicht gering zu schätzenden Vorteil, dass sie auf die Kennzeichnung des Selbstverständnisses Jesu mit Hilfe von Kunstworten wie ‚Christologie im Vollzug‘ oder ‚indirekte Christologie‘ verzichten kann. Solche Ausdrücke haben nämlich den unverkennbaren Nachteil, doch versteckte nachösterliche Rückprojektionen zu sein“60 .

(b) So wenig es sich empfiehlt, das Selbstverständnis Jesus implizit „christologisch“ zu deuten, so sehr ist andererseits das nachösterliche Bekenntnis zu ihm mehr als nur „Explikation“ seiner irdischen Sendung. Die ersten Zeugen verstehen die Auferweckung des Gekreuzigten gewiss als Bestätigung seiner Sendung als des endzeitlichen Boten der βασιλεία durch Gott, als seine Rehabilitation angesichts derer, die ihn verworfen haben, wie die Analyse der ältesten Passions- und Ostererzählung zeigen wird. Aber dem österlichen Bekenntnis zu Jesus als κύριος inhärieren inhaltliche Momente, die über seine Verkündigung zu Lebzeiten hinausgehen. Ihr gegenüber ist der österliche Glaube qualitativ neu 61. Das trat allerdings erst schrittweise ins Bewusstsein: Jesus wollte Israel erneuern, die Menschen angesichts des nahegekommenen Gottesreichs zur Umkehr rufen. Mit einem Hinzukommen der Völker rechnete er erst zum Zeitpunkt der endzeitlichen Vollendung des Gottesreichs (Q  13,29.28). Nach Ostern änderte sich dies: Als dem zu Gott Erhöhten wird Jesus eine universale Rolle zugesprochen (vgl. Ps  2,6–8), woraus sich alsbald die Notwendigkeit ergab, den Völkern das Evangelium zu verkünden (Röm  1,3 f.; 10,9–13). Dem entsprechend erfuhr sein Tod am Kreuz als heilseffizientes Sterben eine alle betreffende Deutung62 . Auch das Verständnis des Glaubens wandelte sich: Baute der Glaube, wie Jesus ihn weckte, auf Gottes heilvolle Ankunft hier und jetzt (Mk  5,34 par.; Mk  11,22 f. par.; Q  17,6), so wird er nun zu einem Glauben an den Gott, „der Jesus aus den Toten erweckt hat“ (Röm  4,24), zu einem durch Jesus Christus bestimmten Glauben (πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ: Röm  3,22.26; Gal  2,16). Ihm als dem Repräsentanten Gottes wird im Endgeschehen bis hin zur Parusie eine heilsmittlerische Rolle zugewiesen (1Thess 1,10; 4,14: διὰ τοῦ Ἰησοῦ). Im Vergleich zur Nachfolgegemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen mit Jesus bedeutet die „nachösterliche, eng mit dem Kyrios-Titel verbundene Verehrung Jesu […] etwas grund­ legend Neues“63.

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Becker, Jesus 272. Konradt, Vollmachtsanspruch 165; Hofius, Fragen 107: ein „qualitativer Sprung“. 62  Vögtle, Grundfragen; vgl. Häfner, Tod 139–190; Oberlinner, Anspruch 201 f.; siehe unten III.  2.4.3 (zum letzten Mahl Jesu). 63  Kreplin, Selbstverständnis 300: Jesus beanspruchte „keinerlei Hoheit und Ehre“. Er „mach­te seine eigene Person und sein Selbstverständnis über vage Andeutungen hinaus nicht zum Thema, und entzog somit jeder Tendenz zu Verehrung und Glorifizierung die Grundlage“. Konradt, Vollmachtsanspruch 165 (unter Bezug auf Theißen/Merz, Jesus 484 f.: „Von der Nachfolge Jesu zur Verehrung des Kyrios“): „Jesus hat Menschen vollmächtig in eine radikale Nachfolge berufen, aber er hat sich, soweit ersichtlich, nicht von seinen Nachfolgern verehren lassen, sondern gerade im Kontrast zu eingespielten Herrschaftsmustern vertreten, dass der, der der Erste sein will, der Diener aller sein soll. Dass Jesus nach Mk  10,17 f. sogar die Anrede mit ‚guter Lehrer‘ durch den Verweis auf das alleinige Gutsein Gottes zurückweist, reflektiert diesen Zug“. 61 

1. Motivation und Hindernisse

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(4) Das Entsprechungs-Paradigma mit seinem Interesse an einliniger Kontinuität zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Jesus des Kerygmas ist durch ein neues Paradigma zu ersetzen, das die Ambiguität der Jesusgeschichte ernstnimmt64. Was der historisch-kritischen Rückfrage oft als Mangel angekreidet wird, die Mehrdeutigkeit ihrer Erkenntnisse65 , kann, positiv gewendet, auch als Chance begriffen werden, anderen Deutungen der Person Jesu, auch denen, die nicht auf dem Osterbekenntnis beruhen, begründeten Respekt entgegenzubringen66 . Genau darin besteht der Nutzen der historischen Rückfrage. Wenn diese es lediglich zulässt, von Jesus als „endzeitliche(m) Heilsprophet(en)“67 zu sprechen – in dieser Offenheit, ohne titulare Festlegungen –, erkennt sie die Mehrdeutigkeit seines Auftretens an, welches unterschiedliche Bewertungen zulässt. Aus „judenchristlicher“ Sicht ist Jesus der endzeitliche Prophet, den Mose ansagte (Dtn  18,15.18), oder der „Mes­ sias“, der „Mensch aus Menschen“ war und „zum Christus erwählt“ wurde (Just, Dial  48,3 u. ö.). Das Bekenntnis zur Auferweckung Jesu musste nicht zwangsläufig in das zum präexistenten „Sohn Gottes“ bzw. in die hohe Christologie des Johannes einmünden, wiewohl es auch dafür gute Gründe gab68 . Und wenn Jesus aus jüdischer Perspektive nicht nur als „Bruder“ begrüßt wird (Martin Buber/Schalom Ben-Chorin), sondern sogar als Prophet, dem in der Geschichte des Judentums eine besondere Rolle zukommt (Claude G. Montefiore) 69, ist auch das eine legitime und Respekt erheischende Reaktion auf Jesu Mehrdeutigkeit. Für eine Antwort auf die Frage, ob der geglaubte Christus „Anhalt“ am historischen Jesus hat oder nicht, ist es entscheidend, sich der Relativität des eigenen Standortes bewusst zu sein: Wer dem Ambiguitäts-Paradigma folgt, geht vom österlichen Glauben aus, fragt von ihm aus zurück, ob in aller Mehrdeutigkeit der Geschichte nicht neben Differenzen auch Entsprechungen wahrzunehmen sind, und verzichtet in Anerkenntnis historischer Kontingenz auf die Behauptung, das Jesus-Geschehen hätte notwendigerweise in den nachösterlichen Prozess der Bekenntnisbildung einmünden müssen. Von diesem Standort aus lässt sich etwa darauf verweisen, dass die nachträgliche Deutung des Todes Jesu als eines heilseffizienten Sterbens zugunsten der Sünder der von Jesus selbst zu 64  Theobald, Magd 113–124; „Ambiguität“ meint Mehrdeutigkeit, auch Unbestimmtheit, und ist von (oftmals negativ konnotierter) „Ambivalenz“ zu unterscheiden; der Begriff hat Konjunktur in Philosophie, Kunst und Literaturwissenschaft: M. Bauer u.a, Dimensionen; Koslowski u. a. (Hg.), Ambivalenz; V. Krieger u. a. (Hg.), Ambiguität; Paulo u. a. (Hg.), Ambiguity; Winkler (Hg.), Ambiguity. 65  Siehe oben bei Anm.  26. 66  Siehe unten IV.  1.1. – Wie die Schriften Israels einen doppelten „Ausgang“ haben – als Tora im Judentum und als Altes Testament im Christentum (Erich Zenger) –, so hat auch die Jesus­ geschichte einen doppelten „Ausgang“: jüdische und christliche Deutungen. 67  Becker, Jesus 272; Kreplin, Sebstverständnis 267: „Jesus nimmt […] in seiner Verkündigung die Rolle des ‚eschatologischen Propheten‘ ein, der auf Grund eigener Gottesgewissheit im Namen Gottes spricht. Jesus ist eschatologischer Repräsentant Gottes“. 68  Frey, Jesus 323. 69  Vgl. auch Rivkin, Jesus 111: Jesus – „[n]ot simply a charismatic, but a charismatic of charismatics“.

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

Lebzeiten kundgetanen und praktizierten Sünderliebe Gottes entspricht und diese gerade angesichts der Zurückweisung Jesu durch die Menschen in qualitativ neuer Weise bekräftigt70 . Auch könnte der Glaube an seine österliche Erhöhung über alle ihm unterworfenen „Mächte und Gewalten“71 so verstanden werden, dass er den „präsentische(n) Aspekt der Eschatologie Jesu – die schon begonnene Vernichtung des Bösen – […] in neuer Weise aufleben“ lässt72 .

Bereits der historische Diskurs und die Einsicht in die Pluralität der frühchrist­ lichen Theologiegeschichte lehren Respekt vor anderen Deutungen der Person Jesu, erst recht der bewusst eingenommene österliche Standpunkt. Der Glaube wird sich dessen bewusst, dass er ein Wagnis „im Halbdunkel der Offenbarungsgewissheit“ ist und ihm dieser Wagnis-Charakter wesentlich ist73. Der Respekt vor anderen Jesusdeutungen erhält damit seinen theologischen Grund. Für die historische Untersuchung des Jesus-Prozesses hat das vorgeschlagene Ambiguitäts-Paradigma größte Bedeutung. Es führt zu einer Neubewertung der Rolle, welche die jüdischen Autoritäten im Verfahren gegen Jesus spielten74. 1.1.3 Der „linguistic turn“ und seine möglichen Folgen Einer historisch-kritischen Rückfrage nach Jesus stehen auch textwissenschaftliche Gründe im Wege, die insbesondere das Markusevangelium als das älteste seiner Gattung, aber auch das Johannesevangelium betreffen. Wird jenes nicht mehr als redaktionelles Sammelwerk gesehen, das in ungebrochener Kontinuität zur vorausliegenden Überlieferung steht, sondern als eigenständiger literarischer Entwurf, dann lässt es die mit diesem Ansatz verbundene methodologische Wende von dia­ chronen zu synchronen Analysemethoden (narratologische und rezeptionsästhe­ tische Ansätze) nicht mehr zu, seine Vorgeschichte auf dem einfachen Weg einer Trennung von Tradition und Redaktion zu erhellen75. Einem derartigen Vorhaben stehen grundsätzliche Erwägungen (1.) zum „Problem des Übergangs von münd­ licher zu schriftlicher Überlieferung“76 und (2.) zur spezifischen Qualität der Texte als Erzählungen im Wege.

70  Merklein, Tod 185: Die heilsmittlerische Deutung des Todes Jesu stellt sicher, „dass selbst die Verweigerung [sc. Israels] den eschatologischen Heilsentschluss Gottes nicht rückgängig machen und die Wirksamkeit des göttlichen Erwählungshandelns nicht in Frage stellen kann“ (allerdings weist er diesen Gedanken schon Jesus selbst zu); vgl. Konradt, Vollmachtsanspruch 164. – Siehe unten IV.  2.2.2.2. 71  Eph  1,21; vgl. bereits Röm  8 ,38; 1Kor  15,24–28. 72  Theißen/Merz, Jesus 481; Konradt, Vollmachtsanspruch 164. 73  Wust, Ungewissheit 138–147; siehe auch unten in IV.  1.1.2 den Abschnitt: Das Wagnis des Glaubens. 74  Siehe unten IV.  1.1.2. 75  Dormeyer, Überlegungen 227 (nach Soards, Tradition 343, u. a.): „[D]ie üblichen Trennungen in Sätze der Tradition oder Redaktion (sollte) aufgegeben werden. Nur ein Cluster der Ideen und Spezialwörter gemäß der semantischen Analyse“ könne noch rekonstruiert werden; anders ders., Passion 26–29 u. ö., wo er „die Methode der Vokabelstatistik“ zur „Differenzierung zwischen Tradition und Redaktion“ extensiv anwandte. 76  Breytenbach, Problem 377–392.

1. Motivation und Hindernisse

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(1) „We all are children of Gutenberg“77 und vergessen deshalb gerne die überragende Rolle der Mündlichkeit als Medium von Überlieferung in antiken Gesellschaften, auch im Palästina des 1.  Jh.  n.Chr., wie deren besonderen Charakter 78 . Markus vorgegebene und von ihm verarbeitete Überlieferungen können Cilliers Breytenbach zufolge nicht wie Textgebilde behandelt werden79; es sind variable Größen, dank Mnemotechnik beständig und flexibel zugleich80 . Die Idee einer originalen oder ersten Version eines „Textes“ in mündlicher Tradition ist James D. G. Dunn zufolge unangebracht. Jede performance sei ein Original81. Angesichts dessen ist für die anstehenden Analysen entscheidend, ob auch die Inhalte der Pas­ sionserzählungen vor ihrer schriftlichen Fixierung in den Evangelien zunächst nur mündlich und eventuell auch nur in Einzelüberlieferungen tradiert wurden oder ob mit schriftlichen umfassenderen Vorformen zu rechnen ist82 . (2) Erzählungen haben es grundsätzlich mit Konstruktivität und Fiktionalität zu tun. Sie erschaffen gleichsam Wirklichkeit neu, ob es sich nun um tatsächlich Geschehenes oder Fingiertes handelt. Auch die Passionserzählungen erstellen jeweils eigene Textwelten, deren Deutung entsprechende Methoden erfordert83. Bis heute hält sich hartnäckig die Meinung, die Passionserzählungen seien Berichte84. Die Frage wird seit der alten „formgeschichtlichen“ Schule diskutiert. Während Karl Ludwig 77 

Dunn, Perspective 36. Ziemer u. a., Art. Mündlichkeit 395–401, mit Beiträgen u. a. von C. Breytenbach (NT), C. Hezser (Judentum) und J. Schultheiß (Altphilologisch); Rösler, Art. Schriftlichkeit 241–246. – Becker, Autorität 43–62; Weissenrieder/Coote (Hg.), Interface; R. Zimmermann, Memory 130–143. – C. Heil, Textverarbeitung 33, verweist mit der jüngeren Forschung darauf, „dass die Alphabetisierungsrate des antiken Mittelmeerraums, einschließlich Palästinas, nur zwischen drei und zehn Prozent lag“. 79  Breytenbach, Evangelium 471: „Eine genaue Betrachtung des literarischen Niederschlags einer performance erlaubt es höchstens, einen Schritt hinter den Text zurückzugehen, den Sprung vom Text zur vorausliegenden performance zu wagen. Unmöglich ist es dagegen, auf Grund eines vorliegenden Textes vorausgehende Phasen in der mündlichen Überlieferung zu (re)konstruieren oder sogar […] zu den ipsissima verba Jesu zurückzukehren“. 80  Dunn, Perspective 51: „[O]ral tradition is […] a combination of fixity and flexibility, of ­stability and diversity“. Vgl. Becker, Autorität 47–49; C. Heil, Textverarbeitung 37 f.; Sauer, Oralität 67; Schröter, Erinnerung 43–59. Entgegensetzungen wie die Annahme einer Diastase zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit (Kelber, Gospel) sind unangebracht. 81  Dunn, Perspective 46–56; ausführlich zum Performanz-Modell: Breytenbach, Evange­ lium 468–497. 82  Siehe unten I.  1.3.1; Reinbold, Bericht 180 Anm.  291, zu seiner Rekonstruktion der PE: „Ich gehe im Folgenden von einem relativ bruchlosen Übergang zwischen der mündlichen und der schriftlichen Tradition aus, die sich beide durch eine relativ starke Variabilität auszeichneten […]“. 83  Vgl. mit je eigener Methodik etwa: Aletti, Mort 147–160; Eisen, Literatur; Guttenberger, Mk 11 f. (bei Einbezug der Diachronie; vgl. unten Anm.  88); J.P. Heil, Structure 305–332; ders., Pattern 331–358; Lentzen-Deis, Passionsbericht 191–232; Zeller, Handlungsstruktur 277–295. 84  Hengel/Schwemer, Jesus; G. Lohfink, Tag; Riesner, Messias, u. a. – Die bislang übliche Rede von Passionsberichten korrigierte kürzlich erst Becker: „Um hier Missverständnisse auszuschalten, habe ich meine Sprache verändert: Die in der neutestamentlichen Wissenschaft übliche Rede vom ‚Passionsbericht‘, der ich bisher auch folgte, habe ich ersetzt durch ‚Passionserzählung‘“ (Auferstehung 27). 78 Vgl.

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

Schmidt 1919 aus dem Alter der „Leidensgeschichte“ ihren „besonders hohe(n), unmittelbar geschichtliche(n) Wert“ ableiten wollte85 und Rudolf Bultmann 1921 von einem „alten Bericht“ als Ursprung der Passionsüberlieferung sprach, „der ganz kurz Verhaftung, Verurteilung durch das Synhedrium und Pilatus, Abführung zum Kreuz, Kreuzigung und Tod erzählte“86 , zeigten sich Martin Dibelius bereits 1919 und Georg Bertram 1922 davon überzeugt, dass die „zeitig“ entstandene vormkn. Passionserzählung das Kerygma von Tod und Auferstehung um der „Predigt“ bzw. des „Kultes“ willen entfaltet, weshalb von einem „historischen Bericht“ grundsätzlich nicht gesprochen werden könne87.

Narratologische Positionen schließen im Extremfall eine auch nur umrisshafte Erhellung vorgegebener Überlieferungen aus88 , lassen diese unter bestimmten Voraussetzungen aber auch zu89. Vor allem gilt der Grundsatz: Vorgegebene Überlieferungen sind nicht ohne Berücksichtigung einer vorangehenden Kohärenzanalyse der Texte zu eruieren90 . Keinesfalls ist der Geschichtsbezug der Erzählungen zu missachten, weil sie ihn selbst für konstitutiv erachten91. Sie reden keinem Christus-Mythos das Wort, sondern binden ihren Christus-Glauben bewusst an den von ihnen erinnerten Jesus der Geschichte. Dem entspricht die Exegese, wenn sie sich der historisch-kritischen Frage stellt, um der drohenden Gefahr einer Ideologisierung ihrer Bilder zu entgehen: „Je mehr die Exegese im Aufgreifen des ‚linguistic turn‘ die Frage nach der historischen Referenz der von ihr traktierten Texte ausklammert, umso mehr fällt alles theologische Erkennen dem Verdacht anheim, letzten Endes doch nur weltanschauliche Konstruktion von Wirklichkeit zu sein“92 .

85 K.L. Schmidt, Rahmen 305 f.; ebd.: „Ehe die Überlieferung Zeit hatte, an den Dingen herumzufeilen, wie das bei dem Stoff außerhalb der Leidensgeschichte geschehen ist, war der Bericht über das Leiden und Sterben Jesu schon fixiert“ (mit Anm.  1). 86  Bultmann, Geschichte 12021, 169; 81970, 301 f.; ebd. 298 spricht er von einem „kurze(n) Bericht geschichtlicher Erinnerung“. 87  Dibelius, Formgeschichte 21 f.; über die 1. Aufl. des Werks von 1919 hinaus verweist er in der Neubearbeitung von 1933 (ebd. 21 Anm.  2) auf Bertram, Leidensgeschichte, „der den Nachweis führt, dass die Leidensgeschichte niemals als historischer Bericht existiert hat […]“. Jahrzehnte später Lührmann, Mk 230: Selbst „denkbare Vorstufen“ sind kein „einfacher Bericht gewesen wie z. B. die nur scheinbar neutrale Information, die Tacitus (Ann  X V  4 4,3) seinen Lesern gibt […]. In der christlichen Überlieferung wurde von Anfang an von Jesu Tod und Auferweckung nur deshalb erzählt, weil man darin Heil erschlossen sah“. 88 Dazu Breytenbach, Übergang 389 f.; Häfner/Huber/Schreiber (Hg.), Rückfrage 6 f. 89  Lührmann, Mk 229: „Aufnahme von Tradition“ darf man sich „nicht als eine sklavische Bindung des Evangelisten an den Wortlaut eines vorgegebenen Textes vorstellen […] – das zeigt schon der Umgang von Mt und Lk mit dem Mk-Text“; Guttenberger, Mk 11, setzt voraus, „dass der Autor auf traditionelles Material zurückgriff“, verzichtet aber auf eine „durchgehende Trennung von Tradition und Redaktion […] auf Grundlage der Annahme, dass der Autor den gesamten Text selbst formuliert hat und eine wort- und satzgetreue Rekonstruktion der Tradition nicht zuverlässig möglich ist“; für Mk  14–16 nimmt sie allerdings an, „dass dem Verfasser eine schrift­ liche Passionserzählung vorlag, die ihm von Kapitel  14 an als Leitfaden diente“ (22); sie belässt es bei einer umrisshaften Bestimmung deren Elemente, ohne Berücksichtigung von Joh. 90  Siehe unten II.  1. 91  Die narratologische Forschung spricht in solchem Fall von „faktualen Erzählungen“: siehe unten I.  1.8. 92  Negel, Gedächtnis 288.

1. Motivation und Hindernisse

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1.2 Entstellte Erinnerung. Die Passionserzählungen des Neuen Testaments und „die Kollektivschuld“ der Juden Antijüdische Leseweisen lagern sich auf dem Neuen Testament seit Beginn seiner Tradierung ab, insbesondere auf den Passionserzählungen93, weshalb es nahezuliegen scheint, von einer ihm „immanenten theologischen Judenfeindschaft“ zu sprechen94. Aber das Neue Testament ist nicht der „erste Traktat ‚Adversus Judaeos‘“95. Seine die Juden verunglimpfenden Passagen sind zumeist „Kampfaussagen im Rahmen eines innerjüdischen Gruppenstreits […], Profilierungsversuche der kleinen ­jüdischen Sekte, die sich später ‚Christentum’ nennt, die aber auf der historischen Ebene des Neuen Testaments noch um ihre Anerkennung innerhalb des Judentums ringt“96 . Davon macht das vierte Evangelium möglicherweise eine Ausnahme. Zwar tief in der Schrift samt ihren zeitgenössischen jüdischen Auslegungstraditionen verwurzelt, verarbeitet es aber den Ausschluss der hinter ihm stehenden Gruppierungen aus dem zeitgenössischen Synagogenverband, indem es mit seiner Jesus-Erzählung eine eigene Glaubensidentität gegenüber den Synagogen zu begründen sucht. Wird es von Nicht-Juden gelesen, die es auch anspricht, bekommen seine pauschalisierenden Aussagen über „die Juden/Judäer“ rasch einen Klang, den der Autor möglicherweise nicht intendiert hat97. Viel hängt hier von der Leserperspektive ab98 . 93  Vogels, Methodisches 369–376, zeigt, wie im syr.-lat. Text der Passionserzählungen an mehreren Stellen „eine Auffassung zum Durchbruch (kommt), die das jüdische Volk bezüglich seines Anteils an der Leidensgeschichte weit mehr belastet, als es nach unserem kanonischen Evangelientext der Fall ist“ (ebd. 372). Bemerkenswert ist die Einfügung der joh. Episode vom Lanzenstich in Mt  27,49b (‫ א‬Β C L Γ vgmss mae) unmittelbar vor dem Tod Jesu, so dass dieser nach der weitverbreiteten Lesart infolge des ihm von einem Juden beigebrachten Stichs stirbt (Vogels, Lanzenstich 396–405). – Zur früh einsetzenden antijüdischen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Passionserzählungen Luz, Mt  I V 13–48 (samt Exkursen); auch Schreckenberger, Adversus-Judaeos-Texte (I./II.); Mentgen, Art. Judenverfolgungen 640, verweist auf die „nicht zuletzt auch ikonographisch höchst wirkungsmächtige Passionsfrömmigkeit“ seit dem frühen Mittelalter; zum sog. Blutruf Mt  27,25, aus dem „die Kollektivschuld des jüdischen Volks durch alle Zeiten […] hergeleitet“ wurde (Fiedler, Mt 33 f.); Kampling, Blut; Oldenhage, Passionsgeschichten 33–114 (zum Umgang mit dem Text in der Zeitgeschichte nach 1945). 94  Blum, Art. Neues Testament 235; ebd. 236: Aber es ist „zu unterscheiden zwischen (a) der christlichen Lektüre neutestamentlicher Schriften als frühchristlicher Literatur vor dem Hintergrund einer antijüdisch präjudizierten biblischen Hermeneutik und (b) der Übersetzung und Interpretation derselben Einzelschriften vor dem Hintergrund ihrer historischen Eigenständigkeit“. 95  Frank, ‚Adversus Judaeos‘ 31, der einräumt: „[D]er tragische Konflikt zwischen dem alten ‚auserwählten Volk Gottes‘ und der neu berufenen ‚Kirche Gottes‘ zeichnet sich in den ältesten christlichen Urkunden doch ab, und die unfreundliche Trennung der entstehenden Kirche von ihrem natürlichen und geistigen Ursprung wird doch schon greifbar“. 96  Ebner, Tendenzen 155; anders Fiedler, Mt 33: „Grundsätzlich ist ein Autor oder eine Autorin dadurch, dass er oder sie jüdisch ist, nicht davor gefeit, sich antijüdisch zu äußern“ (mit Hinweis u. a. zur Aufnahme des paganen antijüdischen Vorurteils der Misanthropie in Mt  5,43). – Theißen, Aporien 540–542, sieht judenfeindliche Aussagen oft genug durch gegenteilige konterkariert, etwa 1Thess  2,15 f. durch Röm  11,25–32, macht aber auch deutlich, „dass die Aufarbeitung der neutestamentlichen Antijudaismen an vielen Stellen in Sackgassen endet, in Widersprüchen und Aporien“ (ebd. 539). Dann ist theologische Sachkritik angebracht. 97  Theobald, Joh I 66–70; siehe auch unten II.  9.5 unter (1). 98  Wenn Paulus in 1Thess  2 ,15 f. von „den Juden/Judäern“ spricht, „die auch den Herrn getötet

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

Antijudaistische Tendenzen treten deutlich in der ersten Hälfte des 2.  Jh.s zu Tage. Israelvergessenheit macht sich breit, was beim sich verstärkenden „heidenchristlichen“ Charakter der Gemeinden im Kontext des Imperium Romanum und seiner multikulturellen Städte nicht verwundert99. Bei Markion schlägt die Israelvergessenheit in dualistische Abwertung des Gottes Israels um, den er zum Gott Jesu in einem ausschließenden Gegensatz sieht. Das Martyrium des Polykarp, das nach dem Vorbild der Passion Jesu stilisiert ist, schwärzt das Bild der Juden pauschal ein100 , was auch für andere Texte des 2.  Jh.s gilt101. Der Boden ist bereitet, um den Juden den Vorwurf des Gottesmordes zu machen, wie in der Geschichte des Christentums zum ersten Mal in der Paschahomilie des Melito von Sardes greifbar wird102 . 1.2.1 Der Vorwurf vom Gottesmord (Melito von Sardes) und seine Folgen Der Vorwurf, den Melito erhebt, ist keine rhetorische Entgleisung, sondern ist die Folge der „theologischen Enteignung Israels durch eine christologisch begründete und typologisch elaborierte Substitutionstheorie“, wie Melito sie im ersten Teil seiner Homilie entwickelt103. „Sitz im Leben“ der Homilie ist das sog. quartodezimanische Pascha, die älteste Form des christlichen Osterfestes überhaupt104. Es wurde zeitgleich mit dem jüdischen Pascha begangen und hatte trotz „eindeutige[r] Abhängigkeit“ vom jüdischen Vorbild etwas von einem „Kontrast-Pascha oder Anti-Pascha“ an sich105, was ihren Antijudaismus Gerard Rouwhorst haben, Jesus, und die Propheten“, greift er zwar den jüdischen Topos vom Propheten mordenden Israel auf (Steck, Israel 274–279), aber auch den paganen antijüdischen Topos der Misanthropie („sie sind allen Menschen feindlich gesinnt“). In seiner „heidenchristlichen“ Adressatengemeinde wird ein solcher Text unweigerlich das Vorurteil erzeugt haben: „Die Juden haben Jesus getötet!“ – Maier, Leidensgeschichte 285–288, warnt vor einer „überzogenen, modischen Antisemitismusforschung, in der moderne Kriterien für Diskriminierung anachronistisch auf historische Sachverhalte angewandt werden“, mit Hinweis darauf, dass „[d]ie Vorstellung von einer Kollektivschuld […] gewissermaßen systembedingt mit dem biblisch-jüdischen Geschichtsdenken in die christlichen Glaubensvorstellungen geraten“ sei. „Das Prinzip der persönlichen Verantwortlichkeit wird zwar im Alten Testament, jedenfalls beim Propheten Ezechiel, ausdrücklich festgestellt, dennoch kennt gerade die alttestamentlich-jüdische Tradition eine besondere Form von Kollektiv­ verantwortung, Kollektivschuld und Kollektivstrafen […]“. Dieser Einwand ändert – von den Anfängen der jesuanischen Bewegung als Teil des Judentums – nichts an der generellen Einschätzung: „[D]er Vorwurf der Kollektivschuld ‚der Juden‘ bezüglich des Todes Jesus (stellt) eine ‚christliche‘ Erfindung dar“ (W. Kraus, Rolle 207). 99  Zu den Pastoralbriefen und 1Petr: Theobald, Israel-Vergessenheit 353–360. 100  MartPol  12,2; 13,1; 17,2; 18,1: dazu Buschmann, Kommentar 208–213 (vor allem 213). 101  Fredriksen, Birth 8–30; Lieu, Image; Schreckenberg, Adversus-Judaeos-Texte (I.). – Zum EvPetr siehe unten I.  2.1. 102  Eus, HistEccl  4,26,1, zufolge war Melito zur Zeit des Kaisers Mark Aurel (161–180) Bischof von Sardes. 103  Buchinger, Melito 90. Die Homilie ist „ein Schlüsselzeugnis für den inneren Zusammenhang zwischen theologisch motiviertem Antijudaismus und der Rezeption des nachmaligen ‚Neuen Testaments‘ in einer entscheidenden Phase seiner Ausprägung als zweiter Teil der christlichen Bibel“; vgl. ebd. 80–82 („Melitos Antijudaismus“); Angerstorfer, Art. Melito 639–652. 104  Rouwhorst, Gottesdienst 541 f.; vgl. auch J. Blank, Meliton 26 f. Zum Folgenden siehe unten I.  1.6.2! 105  Rouwhorst, Gottesdienst 544. – Zur Terminologie: Vom jüdischen wie vom frühchrist­

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zufolge ein Stück weit erklärt: Wer zeitgleich mit der Synagoge in unmittelbarer Nachbarschaft Pascha feiert, ist versucht, die eigene Identität polemisch zuzuspitzen106 . Den Anti­ judaismus sozialgeschichtlich zu erklären, ist indes nach Harald Buchinger nicht möglich107. Die Homilie spricht nie von „Juden“, sondern immer nur von „Israel“. Ihr Antijudaismus ist „eindeutig theologisch motiviert“108 . Die „rhetorisch höchst elaborierte[..] Tadelrede gegen ‚Israel’ angesichts seiner angeblichen Rolle bei der Passion Christi“ (ab 72) mündet in folgende Passage ein109: Homilie Passionserzählung (und weitere Anspielungen) 94 Höret es, alle Geschlechter der Völker, und sehet: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalems in der Stadt des Gesetzes, in der Stadt der Hebräer, in der Stadt der Propheten,

Ez  11,6 f.110

lichen Fest wird im Folgenden gemäß dem ntl. Terminus πάσχα, einer Transkription des aramä­ ischen ‫פסחא‬, unterschiedslos als dem „Pascha“ gesprochen; die Vulgata transkribiert den Terminus im NT mit pascha. 106  Ebd. 544 f.; vgl. bereits J. Blank, Johannespassion 179. – Rouwhorst zufolge bleibt unklar, inwieweit die antijüdische Einstellung des Melito für die Quartodezimaner „repräsentativ“ ist. Eine vergleichbare polemische Haltung findet sich in den Paschahymnen Ephräms des Syrers sowie in der Didaskalia Apostolorum (3./4.  Jh.), die in der Paschanacht für die Bekehrung der Juden zu beten auffordert: „On this account, when you fast, pray and intercede for those who are lost, as we also did when our savior suffered. Indeed, while He was yet with us before He suffered, as we were eating the Passover with him […]“ (CSCO 180, 188, 20–23). Und: „On this account, therefore, pray and intercede for them, and especially in the days of the Pascha, that through your prayers they may esteemed worthy of forgiveness and may return to our Lord Jesus Christ“ (CSCO 180, 196, 12–15). Das scheint „zwar weit weniger aggressiv“, impliziert aber doch „eine Kritik am Judentum und am jüdischen Pesach“ (Rouwhorst, Gottesdienst 544 f.). 107  Buchinger, Melito 82; das Argument laute: „Die scharfe Polemik sei als reaktives Ressentiment einer möglicherweise kleinen und sozial unterprivilegierten Christengemeinde gegenüber einer jüdischen Gemeinde zu verstehen, die durch die zentrale städtebauliche Stellung, die Größe und die luxuriöse Ausstattung ihrer Synagoge im Zentrum des spätantiken Sardes ihre wohlhabende und einflussreiche Stellung demonstrierte“. Allerdings ist „die üppig ausgestattete Synagoge […] frühestens ins 4.  Jahrhundert zu datieren, möglicherweise sogar noch zwei Jahrhunderte später“. Vgl. Leonhard, Pesach 44–50; Karmann, Paschahomilie 234 Anm.  111. 108  Buchinger, Melito 82. 109  Ebd. 81; die Passage 94–99 in der Übersetzung von J. Blank, Meliton 127 f. 110  Ez  11,6.7: „Eure Erschlagenen, die ihr mitten in der Stadt getötet habt“; Buchinger, Melito 81, vermutet eine Anspielung auf Ps  115,10LXX. – „Inmitten Jerusalems“: das Motiv bereits in der Eröffnung der Tadelrede: „Dieser wurde getötet. Und wo wurde er getötet? Mitten in Jerusalem“ (70), sodann in 93 Ende, unmittelbar vor 94 und nochmals in 94 Ende (siehe auch die nächste Anm.). – Seit Harvey (1966) werden die genannten Angaben gerne zur Bestätigung der traditionellen Lokalisierung Golgotas herangezogen, das z.Zt. des Melito, der wohl die Stadt besucht hat (Eus, HistEccl  4,26,14), tatsächlich „inmitten Jerusalems“ lag: „Wie konnte der Grieche, der nur gegenteilige Angaben der Evv. und des Hebräerbriefes […] zum Ort der Kreuzigung kannte, von einem Ort mitten in der Stadt sprechen, ohne von der christl. Jerusalemer Ortstradition geleitet zu sein?“ (Küchler, Jerusalem 419). Doch die teils auch widersprüchlichen Angaben Melitos sind durchweg rhetorischer Natur (von Wahlde, References); sie entziehen sich einer geographischen Auswertung.

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

in der Stadt, die für gerecht galt! Und wer wurde gemordet? Wer ist der Mörder? Ich schäme mich, es zu sagen und bin doch gezwungen, es zu sagen. Wäre der Mord bei Nacht geschehen, oder wäre (der Herr) in der Wüste umgebracht worden, wäre wohl Schweigen angebracht. Nun aber geschah er mitten auf der Straße (ἐπὶ μέσης πλατείας) mitten in der Stadt (ἐν μέσῳ πόλεως), wo alle es sahen, der ungerechte Mord des Gerechten. Und so wurde er am Holz erhöht und eine Schrift (τίτλος) wurde darüber geheftet, die anzeigte, wer der also Umgebrachte sei112 . Es ist schwer, das zu sagen, aber noch schrecklicher ist, es nicht zu sagen; doch höret mit Zittern, um wessentwillen die Erde erzitterte: 95

Offb  11,8111 Mt  27,19; Apg  3,14; Weish 2,10 Joh  3,14; 8,28, 12,32.34; vgl. Dtn   Joh  19,19 f.; vgl. auch Mk  15,26 par.

Mt  27,51

113

96 Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden ; Der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden; Der das All festigte, ist am Holze befestigt worden. Der Herr – ist geschmäht worden; der Gott – ist getötet worden (ὁ θεὸς πεφόνευται); der König Israels – ist beseitigt worden von Israels Hand! Joh  19,15 f.; EvPetr  11 97 O des unerhörten Mordes! O des unerhörten Unrechts! Der Herr ist entstaltet, nackten Leibes, nicht einmal eines Gewandes ist er gewürdigt, damit man ihn nicht (nackt) sähe. Darum wandten die Gestirne sich ab und der Tag verfinsterte sich, um den zu verbergen, der am Kreuz entblößt worden war; nicht um den Leib des Herrn zu verfinstern, sondern die Augen dieser Menschen.

Und da das Volk nicht erbebte, erbebte (an seiner Stelle) die Erde;

Mk  15,24 par. Mk  15,33 par.

Joh  12,40 (= Jes  6 ,10)

98

Mt  27,51

111 Vgl. von Wahlde, References 563 Anm.  21: „Melito was familiar with the Book of Revelation“. 112  Der Inhalt des τίτλος wird erst am Ende von 96 genannt: „König Israels“ (wie in EvPetr  11). 113  Der Passus zeigt, wie eine bestimmte modalistische Christologie die Anklage des Gottesmordes ermöglicht.

1. Motivation und Hindernisse

da das Volk nicht erschrak, erschraken die Himmel; da das Volk sein Gewand nicht zerriss, zerrissen die Engel (das ihre); da das Volk nicht klagte, donnerte vom Himmel her der Herr und der Höchste ließ seine Stimme hören.

21

Mk  15,38 par.114 Joh  12,28 f. (vgl. Ps  18,14)

Warum, o Israel, bist du vor dem Herrn nicht erbebt? Warum bist du vor dem Herrn nicht erschrocken? Warum hast du über den Erstgeborenen nicht geklagt?115 Warum vor dem aufgehängten Herrn dein Gewand nicht zerrissen? 99

Den Herrn hast du verlassen, du hast kein Erbarmen bei ihm gefunden. Den Herrn hast du zugrunde gerichtet, gründlich bist du zugrunde gerichtet worden. Und jetzt liegst du tot danieder116 . Die Homilie verarbeitet Motive aus der Passion Jesu117. Vielleicht kam in der Paschafeier der Gemeinde von Sardes neben Ex  12 (Pasch. 1) auch eine Passions- und Ostererzählung zur Verlesung, ohne dass sich sagen lässt, welche118 .

Die Wirkungsgeschichte von Melitos Homilie ist enorm. Ihre Weise der polemischen Gegenüberstellung der Wohltaten Gottes an Israel während des Exodus und der Untaten seines Volkes in der Passion Christi bestimmte fortan die homiletische und liturgisch-hymnische Tradition der Kirchen119. „Die kultische Memoria von 114  Buchinger, Melito 89 Anm.  99: „Das in pasch. 98 […] angedeutete Zerreißen des Tempelvorhangs durch einen Engel ist eine in der altkirchlichen Literatur auch sonst bezeugte, wenn auch in ihrem Ursprung nicht eindeutig identifizierbare apokryphe Tradition“ (mit Verweis auf Lit.). 115  Ebd. 81: „[I]ndem er (sc. Melito) zu Israel sagt, ‚über deinen Erstgeborenen hast du geheult‘, kehrt er auch die typologische Methode polemisch um und rückt Israel in die Rolle des geschlagenen Ägypten von Ex 12, während er die Römer implizit mit dem Verderber von Ex 12,13.23 (oder gemäß Ex 12,12–13.23.29 gar Gott selbst) als Vollstrecker der 10. Plage identifiziert“. Das erinnert an Offb  11,8, wo Jerusalem „geistig [d. h. symbolisch] Sodom und Ägypten genannt wird“. 116  Vgl. Pascha 43: „[…] das Volk (Israel) wurde entwertet durch das Erstehen der Kirche, und das Vorbild wurde aufgelöst durch die Erscheinung des Herrn. Und heute ist das, was einst wertvoll war, wertlos geworden durch die Offenbarung des wesenhaft Wertvollen“. 117  Vor allem ab 72; vgl. zu 92 Mt  27,24 (vom Händewaschen des Pilatus), zu 79 f. Mt  27,34: Mehrheitstext („Essig und Galle“); zu 71 („Das ist das Lamm. […] Am Abend wurde er geschlachtet, und bei Nacht begraben; der an dem Holze nicht zerbrochen wurde“) Joh  19,36 = Ex  12,10.46. 118  Perler, L’Évangile, meint, einen Bezug der Homilie auf die Passions- und Ostererzählung des EvPetr nachweisen zu können, was Karmann, Paschahomilie 215–235, bestreitet; Leonhard, Pesach 46 f.: „Melito was not yet able to base a serious sermon on New Testament texts. He based his sermon on what was recited in the assembly“; doch wenn eine Passionserzählung in der Gemeinde vorgetragen wurde, dann nicht als neutestamentlicher, sondern liturgischer Text. 119  Gerhards, Art. Improperia. Der Beitrag informiert umfassend über die traditionsgeschichtlichen Wurzeln der sog. Improperien (= Vorwürfe, Anklagen) in der biblischen Prophetie (Mi  6 ,1–4 etc.), deren jüdische Rezeption, die Entstehung der liturgischen Gebete aus der homile-

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

Leiden u(nd) Sterben Jesu ist […] im christl(ichen) Osten seit früher Zeit mit förmlichen Anklagen gegen die Juden verbunden“120 . Im Westen prägte das Kontrastschema die sog. Improperien, Gesänge des Karfreitagsgottesdienstes in der Form von Anklagen oder Tadelreden Christi. Am bekanntesten sind die Improperien des Missale Romanum, die nach einem längeren Redaktionsprozess ihre heutige Gestalt im 15.  Jh. erhielten. „[Z]unächst Ausdruck christlicher Passionsfrömmigkeit, nicht polemische Umdeutung jüdischer Geschichtsbetrachtung“121, waren sie dennoch anfällig für Antijudaismus. Abgewehrt wurde dieser dort, wo „die Übernahme der Verantwortung für Passion u(nd) Kreuzigung Christi durch die sündige Christenheit […] den Weg zu einem gewandelten Verständnis der liturgischen I(mproperien)“ bereitet hat122 . Die „entscheidende Frage für das Verständnis ist, wer hier von Gott angeredet und angeklagt wird“: das Volk der Juden oder die versammelte Gemeinde?123 Der zum ersten Mal bei Melito belegte Vorwurf des Gottesmordes samt daraus abgeleiteter Kollektivschuld Israels124 verselbständigte sich und fand Eingang in Schriftauslegung, Predigt und Katechese. Wirkmächtig benutzte Augustinus (354– 430) den Topos und baute ihn zu seinem „geschichtsapologetische(n) Argument“125 aus, das die Zerstreuung der Juden zum Erweis für die Wahrheit des Christentums erklärt: „Ihr seid zerstreut vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Gehört ihr nun nicht zu den Feinden dessen, der im Psalm spricht: ‚Mein Gott hat mir an meinen Feinden bewiesen: Töte sie nicht, damit sie nicht dein Gesetz vergessen, zerstreue sie vielmehr in deiner Macht‘ (Ps  59,11–12)? Deshalb könnt ihr das Gesetz Gottes nicht vergessen, müsst es überall hintratisch-katechetischen Tradition der spätantiken Kirche in Ost und West, ihre Geschichte vom Frühmittelalter bis hin zur Liturgiereform des 2. Vatikanum; Meßner, Einführung 351–355 (Lit.). 120  Gerhards, Art. Improperia 1206; vgl. 1203: „Melitons Predigttätigkeit bleibt in der späteren Kirche des Ostens direkt wirksam durch Abschriften u(nd) orientalische Übersetzungen […] sowie indirekt […]. Im Westen beeinflusste Meliton die älteste lat. Predigt Adv(ersus) Iudaeos […], u(nd) Kurzfassungen seiner Pascha-Predigt sind eingegangen in lateinische Homiliarien des 6./8.  Jh. […]“. 121  Ebd. 1210; vgl. 1199. 122  Ebd. 1211 (mit Hinweis auf Cornelius a Lapide [gest. 1637], aber auch Origenes u. a.). Der Catechismus Romanus, Trient 1566, erklärt: Schuld am Tod Jesu sind die Sünder, denn die Juden „würden, wie der Apostel sagt, ‚den Herrn der Glorie niemals gekreuzigt haben, wenn sie ihn erkannt hätten‘ (1Kor  2,8). Wir aber behaupten ihn zu kennen und dennoch legen wir gleichsam Hand an ihn, indem wir ihn durch die Tat verleugnen“ (I 5,11). 123  Mildenberger, Improperien 130 f.; ebd. 133–138 zur „Geschichte der Improperien im deutschen Protestantismus“ mit Hinweisen u. a. zu den Böhmischen Brüdern und deren Adaption der Tradition ohne jeglichen Antijudaismus; Meßner, Einführung 354: „die Improperien werden von einem Kantor im Gegenüber zur Gemeinde gesungen – ganz ernstzunehmen: die Gemeinde selbst ist es, die hier als Angeklagte vor ihrem Richter steht“. 124  Origenes generalisiert Mt  27,25: „Deswegen ist nicht nur über diese das Blut Christi gekommen, die damals gelebt haben, sondern auch über alle Generationen der Juden, die danach folgen bis zum Ende (super omnes generationes Iudaeorum post sequentes usque ad consummationem). Deswegen ist bis jetzt ihr Haus ihnen verödet überlassen“ (Komm. zu Mt [Text bei Kampling, Blut 55]). 125  Frank, ‚Adversus Judaeos‘ 41.

1. Motivation und Hindernisse

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gen dem Volke zum Zeugnis, jenem Volk, das wirklich vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang berufen ist (vgl. Mal  1,11)“126 .

Die Diasporaexistenz der Juden, ihr heimatloses Umherirren wird zur heilsgeschichtlichen Notwendigkeit, welche die Kehrseite der Erwählung der Kirche ist, des neuen und universalen Gottesvolkes. Die Juden werden gebraucht – als negative Zeugen für die Wahrheit des Evangeliums. „Seitdem das 11.  Kapitel des Römerbriefs geschrieben wurde, gehört das sich bekehrende Judentum zum christlichen Bilde der Endzeit; das bedeutete, dass auch für die Kirche des Hochmittelalters, die sonst die Idee der Glaubenseinheit in ihrem Bereich streng zu verwirklichen suchte, ein Motiv gegeben war, aus dem heraus sie das Bestehen des Judentums grundsätzlich dulden konnte“127. Bis zum Ende der Zeiten, wenn der Messias kommt, sei das „verstockte“ Judentum zu bewahren. Obwohl schon „tot“ (Melito), löse es sich dann endgültig auf und gehe ins Gottesreich ein. Auf diesem Boden entwickelte sich die Lehre von der Knechtschaft der Juden gegenüber den Christen (servitus Iudaeorum), die eine entsprechende juristische Ausgestaltung des Verhältnisses der Kirche zur Synagoge nach sich zog. Unter Papst Gregor dem Großen (590–604) war die Judengesetzgebung noch milde128 . Die Canones des IV. Laterankonzils (1215) verschärften die soziale Ausgrenzung der Juden u. a. mit der Vorschrift, dass sie zur Vermeidung der Vermischung sich durch ihre Kleidung von den Christen zu unterscheiden hätten, was die soziale, rechtliche und politische Wirklichkeit nachhaltig prägte129. Der eigentliche Ausgangspunkt dieser sozialen Ausgrenzungspolitik, der Vorwurf des Gottesmordes, blieb präsent. Das Konzil wies die Juden an, sich an den „Tagen der Trauer“ der Christen möglichst nicht öffentlich zu zeigen130 . Gut 50 Jahre später erklärt Tho126 

Augustinus, Adversus Iudaeos 7,9 (PL 42,57); vgl. auch De civitate Dei 18,46 u. ö. Liebeschütz, Synagoge 24 f. 128  Frank, ‚Adversus Judaeos‘ 43 f.: Gregor war bei antijudaistischen Ausschreitungen um den Schutz der Juden besorgt. Liebeschütz, Synagoge 40 f.: „Die Prinzipien, welche dieser Judenpolitik Gregors zugrunde liegen, lassen sich deutlich erkennen: Das Judentum ist ein Stück Vergangenheit, das in einem Winkel der Gegenwart konserviert werden muss, weil seine freiwillige Auflösung zu den gottgewollten Ereignissen der Endzeit gehört, die der Mensch nicht gewaltsam herbeiführen, wohl aber durch seine Arbeit vorbereiten darf. In den daraus abgeleiteten Normen für die Regelung der Einzelfälle ist gewissermaßen das theologische Motiv des Paulus ins Juristisch-Praktische übersetzt“. 129  IV.  Laterankonzil (1215), Can. 67–70 zu den Juden. 130  Can. 68: „An den Tagen der Klage [= Karwoche] und am Passionssonntag [= Judica] (in diebus autem lamentationis et dominicæ passionis) sollen sie (sc. die Juden) sich überhaupt nicht öffentlich zeigen (in publicum minime prodeant) und zwar deswegen, weil einige von ihnen, wie wir gehört haben, sich nicht scheuen, an solchen Tagen erst recht geschmückt einherzugehen und die Christen, welche zum Gedächtnis der allerheiligsten Passion die Zeichen der Trauer anlegen (qui sacratissimæ passionis memoriam exhibentes lamentationis signa prætendunt), zu verspotten. Dies aber verbieten wir aufs strengste, damit sie sich nicht herausnehmen, zur Schmach des Erlösers ihre Freude zu zeigen. Und da wir die Beschimpfung dessen, der unsere Schuld getilgt hat, nicht verleugnen dürfen, so befehlen wir, dass derartige Frevler durch die weltlichen Fürsten, durch Auflegung einer angemessenen Strafe, gedämpft werden, damit sie nicht wagen, den für uns Gekreuzigten zu lästern“. Maier, Leidensgeschichte 291: „Die österlichen Ausfälle gegen die Juden [in Predigt wie Passions- und Osterspielen etc.] hatten weithin mehr oder minder gewohn127 

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

mas von Aquin in seiner Summa Theologiae, pars III., im letzten Satz des Artikels zur Frage, „ob die Verfolger Christi ihn erkannt hätten“: „et ideo Iudaei peccaverunt, non solum tanquam hominis Christi, sed etiam tanquam Dei crucifixores“131. 1.2.2 Das Zweite Vatikanum: Nostra Aetate Nr.  4 (1965) Der Vorwurf angeblicher „Kollektivschuld“ der Juden begleitete die Geschichte der Kirche, brach immer wieder hervor, nahm aggressive Züge an und führte zu ihrer Verfolgung und dem Versuch ihrer Vernichtung132 . Die offizielle Kirche hat sich nie ausdrücklich von diesem Vorwurf distanziert133. Erst das 2. Vatikanum brachte eine Wende, die freilich (gegen eine beliebte Kirchengeschichtsschreibung) „nicht einfach und vorschnell als original kirchliche Großtat vereinnahmt werden darf“134. In Nr.  4 der Konzilserklärung Nostra Aetate (= NA) „über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ vom 28. Okt. 1965135 nimmt das Konzil Stellung zum Antijudaismus, wie er sich seit den Anfängen der Kirche an die Darstellung der Passion Jesu geheftet hat. Die einschlägigen Absätze der letzten maßgeblichen Textfassung lauten136: heitsmäßigen Charakter, ohne notwendigerweise weiterreichende praktische Folgen nach sich zu ziehen. Aber die Stoßrichtung gegen die Juden als ein Kollektiv, das sein Geschick selbst verursacht hat, was immer auch geschieht, hatte verheerende Folgen für die Moral auf der christlichen Seite selbst: Man fühlte sich aufgrund dieser Kollektivschuldthese nicht verantwortlich für das, was an und mit Juden geschah […]“. 131 STh   III 47,5 c. Zur Auslegung der Johannespassion durch Thomas vgl. Hammele, Bild 271–335: Thomas enthält sich jeglicher Polemik gegen Juden. „Indem er konsequent vom Schrifttext ausgeht, beziehen sich seine Auslegungen stets auf die biblischen Juden, stehen also in keinem direkten Zusammenhang mit den Juden des 13.  Jahrhunderts. Eine Ausnahme bildet die […] Lehre von der servitus Iudaeorum im Rahmen der Auslegung von Joh  19,15 f.“ (ebd. 390). 132  Isaac, Jésus et Israël (1948), bietet zahllose Zeugnisse; zum Buch dieses bedeutenden französischen Historikers, der im Vorfeld des 2. Vatikanum von Papst Johannes XXIII. empfangen wurde, siehe Mußner, Traktat 182, und Oldenhage, Passionsgeschichten 36–41. – Blinzler, Prozess 7, bemerkt zur Aufnahme der 1. Aufl. seines Buches (1951): „Keinen ungeteilten Beifall fand […] die Forderung, dass der Vorwurf des Gottesmordes gegen die an Jesu Kreuzigung Verantwortlichen zu vermeiden sei, und nicht zuletzt die These, dass von einer Schuld des jüdischen Volkes schlechthin am Tode Jesu keine Rede sein könne. Heute [1969] sind diese wie andere Ergebnisse des Buches in der wissenschaftlichen Welt so gut wie allgemein anerkannt […]“. 133  Oesterreicher, Einleitung 425: „Von der christlichen Antike bis zum Vatikanum II. hatte es kaum eine Entwicklung der kirchlichen Lehre hinsichtlich des Geheimnisses der jüdischen Existenz gegeben“. 134  Frank, ‚Adversus Judaeos‘ 45; ebd.: „Die Ursachen dafür liegen doch eher in den schrecklichen Erfahrungen und Erschütterungen, die ein brutaler Antisemitismus in unserem Jahrhundert über die Menschheit brachte. Diese bitteren Erfahrungen drängen auf den Weg der Neubesinnung und Wiedergutmachung; und die kirchlichen Aussagen sind nichts anderes als die endlich im Raum der Kirche erfolgte Rezeption einer solchen Bewusstseinsänderung“; vgl. auch Tück, Heimholung 24 f. 135  Mußner, Traktat 388–391; Henrix, Kirche 162–177; ders., Konzilserklärung 39–65. Wolffsohn, Juden 161–177. Zum 50jährigen Jubiläum von NA  4: Boschki/Wohlmuth (Hg.), Wendepunkt; Schreiber/Schumacher (Hg.), Antijudaismen; darin: Neubrand, Neues Testament; dies., Anfrage. 136  Übersetzung: HThK II Vat, Bd.  I , 360 f.; zur Textgenese und seinen Vorformen: Österrei-

1. Motivation und Hindernisse

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(4,6) Auch wenn (etsi) die Autoritäten der Juden (auctoritates Iudaeorum) mit ihren Anhängern (cum suis asseclis) auf den Tod Christi gedrungen haben (mortem Christi urserunt)137, kann dennoch das, was bei seinem Leiden begangen worden ist, weder unterschiedslos (indistincte) allen damals lebenden Juden noch den heutigen Juden angelastet werden (imputari possunt). Auch wenn die Kirche aber das neue Volk Gottes ist (licet autem Ecclesia sit novus populus Dei), sollen die Juden dennoch weder als von Gott verworfen (a Deo reprobati) noch als verflucht (maledicti) dargestellt werden, als folge dies aus der Heiligen Schrift. Deshalb sollen alle dafür sorgen, weder in der Katechese noch, wenn sie die Predigt des Wortes Gottes halten, irgendetwas zu lehren, was mit der evangelischen Wahrheit und dem Geist Christi nicht übereinstimmt. (4,7) Außerdem beklagt (deplorat) die Kirche, die alle Verfolgungen gegen jegliche Menschen verwirft, im Bewusstsein des gemeinsamen Erbes mit den Juden (memor communis cum Iudaeis patrimonii)138 , nicht aus politischen Gründen, sondern angetrieben von der religiösen Liebe des Evangeliums, Hass, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus (antisemitismi manifestationes), die, zu welcher Zeit auch immer und von welchen auch immer, gegen Juden gerichtet wurden. (4,8) Im Übrigen hat Christus, wie die Kirche immer festgehalten hat und festhält, wegen der Sünden aller Menschen freiwillig (voluntarie) sein Leiden und seinen Tod in unermess­ licher Liebe auf sich genommen (passionem suam et mortem immensa caritate obiit), damit alle das Heil erlangen. Aufgabe der predigenden Kirche also ist es, das Kreuz Christi als Zeichen der allumfassenden Liebe Gottes und als Quelle jeder Gnade zu verkünden.

Die drei zusammengehörenden Absätze sind so strukturiert, dass der Tod Jesu in 4,6 aus historischer und – dazu korrespondierend – in 4,8 aus theologischer Sicht in den Blick genommen wird. Das Mittelstück 4,7 weist jegliche Form von „Antisemitismus“ zurück, ohne dass eine Mitschuld der Kirche an seinen „Manifestationen“ auch nur angedeutet139, geschweige denn ausgesprochen wird. Das Subjekt „Kirche“ erweckt den Eindruck, als stünde es über der Geschichte, obwohl es doch tief in sie verstrickt ist. Die Intention von 4,6 ist die Zurückweisung der Kollektivschuldthese140: Jesu Tod kann „weder unterschiedslos (indistincte) allen damals lebenden Juden noch cher, Einleitung 406–478; ders., Textfassung; vgl. auch HThK II Vat, Bd.  III 633–643 (R. Siebenrock). 137  Der Text verweist in einer Anmerkung auf Joh  19,6. 138  Vgl. bereits 4,5 („da also das den Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so groß ist […]“). Siebenrock: „Das ‚patrimonium spirituale‘ ist präsentisch zu lesen“ (HThK II Vat, Bd.  III. 661), d. h., wie es ein Konzilsvater ausgedrückt hat: „Dieser Gegenwartsbezug bedeutet, dass die Kirche das gegenwärtige Judentum als ‚Miterbe‘ wahrnehmen müsse“ (ebd. Anm.  78). 139  Die Formulierung „von welchen auch immer“ am Ende von 4,7 deutet (verharmlosend) eine Beteiligung von Christen an Judenverfolgungen nur an. 140  Die Vorlage vom Nov. 1964 erwähnte noch den Vorwurf des Gottesmordes: „Mögen alle Sorgen tragen, dass weder in der Katechese noch in der Verkündigung des Gotteswortes etwas gelehrt werde, das in den Herzen der Gläubigen Hass oder Verachtung gegen die Juden entstehen lassen könnte. Niemals darf das jüdische Volk als ein verworfenes, verfluchtes oder des Gottesmordes schuldiges Volk dargestellt werden“ (bei Oesterreicher, Textfassung 499). Der Streit über Einfügung oder Streichung dieses Vorwurfs begleitete die Textgeschichte: Siebenrock (HThK II Vat, Bd.  III 663); ebd. 638 mit Anm.  205 zum Vortrag von Bea zu diesem Thema von 1962 (in: ders., Kirche 63–75), der erklärte: „Es besteht kein Zweifel, dass die Verurteilung und

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

den heutigen Juden angelastet werden (imputari possunt)“. Vorweg wird unter Verweis auf Joh  19,6141 ein Umstand benannt, der gegen die nachfolgende Verneinung einer „unterschiedslosen“ Belastung der damaligen Juden mit dem Tod Jesu sprechen könnte: „Auch wenn die Autoritäten der Juden mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, […]“. Das provoziert zu einer doppelten Rückfrage: (a) Die Rede von den „jüdischen Autoritäten“ (auctoritates) bezieht sich auf den Hohen Rat, aber wer sollen die „Anhänger“ (asseclae) sein? Eine Volksmenge? Joh  19,6, auf den sich Nostra Aetate 4,6 beruft, spricht lediglich von den „Dienern der hohen Priester“142 . (b) Die verbale Aussage „sie drangen auf den Tod Jesu“ – bei wem? – arbeitet mit einer „Leerstelle“143. Gemeint ist natürlich Pontius Pilatus. Das Credo (crucifixus … sub Pontio Pilato) nennt nur den Präfekten, das Dekret verfährt genau umgekehrt.

Der erste Satz des Abschnitts ist Ekkehard W. Stegemann zufolge „nur auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit einer antijüdischen christlichen Rezep­ tion der Passionsgeschichte verständlich, deren polemische Struktur den Schuldvorwurf immer allein gegen das (zeitgenössische) Judentum richtete, selbst wenn sie die Verantwortung des Pilatus erwähnt“. „[Z]u dieser christlichen antijüdischen Semantik“ gehöre, „dass Pilatus ohnehin nur als Exekutor jüdischen Willens fungiert, wenn er überhaupt erwähnenswert erscheint (vgl. schon 1Thess  2,14 f.)“. Obwohl die Konzilserklärung die Kollektivschuldthese zurückweist, unterbreche sie „im Prinzip die klassische Semantik (der antijüdischen Polemik) nicht vollständig“. Diese wirke in ihrem „historischen Diskurs“ weiter, wenn sie suggeriert, dass Pilatus „das Opfer des dringlichen Tötungswillens jüdischer Autoritäten wurde“144. Allerdings ist um der historischen Gerechtigkeit anzumerken, dass Nostra Aetate hier lediglich zeitgenössischer Forschung folgt, die inzwischen überholt sein mag, was den Autoren der Erklärung aber nicht anzukreiden ist145. Hinrichtung Jesu an sich und objektiv betrachtet ein Verbrechen des Gottesmordes ist; denn Christus ist nach der katholischen Lehre Gottmensch. Andererseits steht ebenfalls außer Zweifel, dass man ein Vergehen des Gottesmordes nur dem zurechnen kann, der es in klarer Erkenntnis der gottmenschlichen Natur Christi begangen hat“ (63 f.). 141  Joh  19,6: „Als die hohen Priester und die Diener (Vulgata: pontifices et ministri) ihn sahen, schrien sie: Kreuzige ihn, kreuzige ihn! […]“. Zur Wiedergabe von οἱ ἀρχιερεῖς mit „die hohen Priester“ statt wie gewöhnlich mit „die Hohepriester“ siehe unten Exkurs 4: Die Bezeichnung der Gegner Jesu in der alten Passionserzählung. 142  Statt von ministri (so Joh  19,6 Vulgata) redet Nostra Aetate von den asseclae; Oesterreicher, Textfassung 510: „[D]er lateinische Text spricht von asseclae, ‚Parteigängern, Mitläufern‘ […] auf der einen Seite und der Majorität des Volkes, als dem eigentlichen Volk auf der anderen“. Allerdings vermeidet Nostra Aetate gerade den Terminus populus (= Volk), um nur von den „Juden“ zu sprechen (siehe unten!). 143  E.W. Stegemann, Angesicht 25. 144  Ebd. 25 f. Der Hinweis des Dekrets (nicht der Kommentare, wie er irrtümlich meint) auf Joh 19,6 (sie „schrien: Kreuzige, kreuzige!“) bestätigt diese Deutung. 145  NA  4 entspricht Blinzlers Thesen, der dies, Prozess 7, „[m]it besonderer Genugtuung“ bemerkt (die 3. Aufl. seines Buches erschien fünf Jahre vor der Promulgation des Dekrets). – ­Oesterreicher, Textfassung 511, gibt eine alternative Deutung der Passage: „Durch die Erwähnung der jüdischen Amtsträger, die Jesus nach dem Leben trachteten, verwahrt sich das Konzil gegen eine falsche Interpretation der Erklärung, als ob es im gekreuzigten Jesus einzig und allein

1. Motivation und Hindernisse

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Auch die zweite Satzperiode von 4,6 ist problematisch. Der Hauptsatz, der sich gegen die Annahme einer Verwerfung der Juden oder gar ihrer Verfluchung (maledicti) durch Gott (a Deo reprobati) wendet, „als folge dies aus der Heiligen Schrift“, markiert den eigentlichen Fortschritt der Erklärung. Der konzessive Vordersatz benennt allerdings eine theologische Klausel, die der „Substitutionstheorie“ nach wie vor ein Schlupfloch bietet: „Auch wenn die Kirche aber das neue Volk Gottes ist (licet autem Ecclesia sit novus populus Dei) […]“. Wenn die Kirche das neue Volk Gottes ist, wie beteuert wird146 , was ist dann zum gegenwärtigen Volk der Juden zu sagen? Der Hauptsatz spricht von „den Juden“, die weder als „verworfen“ noch „verflucht“ dargestellt werden dürfen, vermeidet aber den Terminus populus147. Diese Leerstelle ist problematisch, solange nicht auf den Bahnen von Röm  11 der bleibende Gottesvolk-Status Israels ausdrücklich anerkannt wird148 . Die theologische Deutung des Todes Jesu in 4,8, der zufolge „Christus […] wegen der Sünden aller Menschen“ gestorben sei, „aus unermesslicher Liebe“ (immensa caritate), schließt jeglichen Antijudaismus per se aus. Das Adverb „freiwillig“ (voluntarie) ist bemerkenswert: Jesus war, historisch betrachtet – so könnte man den hier benutzten theologischen Topos weiterführen – für seine Hinrichtung mitverantwortlich149. Die Konzilserklärung von 1965 stellt einen „Meilenstein in der Revision des römisch-katholischen Verhältnisses zum Judentum“ dar, „auch im Blick auf die Beurteilung der Frage der Schuld am Tod Jesu“150 . Auf dem langen Weg, das christliche Gedächtnis von seinen historischen und theologischen Deformationen zu reinigen, das Opfer römischer Rebellenangst sähe. Das Konzil ist weit davon entfernt, die alte Pauschalanklage: ‚Die Juden haben Jesus getötet‘ durch die neue: ‚Die Römer haben es getan‘ zu ersetzen“. Die Frage, wie das Zusammenspiel von jüdischer und römischer Seite historisch zu bestimmen sei, habe das Konzil bewusst offengelassen. „Ihre Untersuchung ist die Aufgabe der Fachgelehrten, denen es nun obliegt, das Werk des Konzils in diesem Punkte weiterzuführen.“ Erwähnenswert ist, was die Herausgeber der 2. Edition der Monografie Paul Winters zum Prozess Jesu (welche die römische Seite verantwortlich macht [siehe unten 2.2) zu erzählen wissen: „The rumour goes that Cardinal Bea and his colleagues studied the book, and that it had an impact on the pronouncement made by the Second Vatican Council on the relation between Roman Catholicism and the Jewish people” (Trial XII). 146  Die von den deutschen Bischöfen approbierte Übersetzung gibt den mit „licet autem“ beginnenden Satz so wieder: „Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen“ (LThK 2 2.Vat. Konz. II 493); dazu Wolffsohn, Juden 172: „Die Juden, ‚Volk Gottes‘? Das war einmal. ‚Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes.‘ Die Kirche ist es, und das ‚Gewiss‘ unterstreicht ihren Monopolanspruch“. Der Einwand von Neubrand, Anfrage 145 Anm.  47, „die vorliegenden deutschen Übersetzungen des lateinischen Textes […] mit ‚das neue Volk Gottes‘“ seien „keineswegs zwingend“, salviert den Text nicht. 147 Die Vorlage vom Nov. 1964 sprach noch vom „Volk der Juden“ (siehe oben Anm.   139). ­Oesterreicher, Textfassung 500: eine sprachliche „Auswechslung […] ohne theologische Bedeutung“; im Unterschied zum ersten Entwurf von 1961 (in: HThK II Vat, Bd.  III 637 f.) werden allerdings die Juden post Christum im verabschiedeten Text nirgends „Volk“ genannt! 148  Siebenrocks Behauptung: „Alle Aussagen, die nach Substitution klingen, werden vermieden“ (in: HThK II Vat, Bd.  III 662) ist zu optimistisch. 149  Theobald, Verantwortlichkeit 233–265, sowie unten IV.  2.1.1. 150 E.W. Stegemann, Angesicht 24.

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ist sie ein „Beginn“151 – nicht mehr, aber auch nicht weniger, zudem gefährdet durch innerkatholische Stimmen, die den erreichten Fortschritt wieder rückgängig machen152 oder den erfolgten Bruch mit der bisherigen Tradition im Interesse einer auf Kontinuität bedachten Konzilshermeneutik nicht eingestehen wollen153. Das Schuldparadigma, dem in Abwehr der Kollektivschuldthese die Konzils­ erklärung noch verhaftet ist, beherrschte auch die Forschung zur Zeit des 2. Vati­ kanum und danach: „Wer trägt die Schuld am gewaltsamen Tod Jesu?“, lautete die Leitfrage, an der sich manche Forscher abarbeiteten154. Heute ist sie überholt. Der Historiker sieht sich nicht als moralische Autorität, die den Akteuren der Geschichte Schuld zuweist, sondern versucht zu verstehen, warum etwas so und nicht anders geschehen ist. Weder ent-schuldigt noch be-schuldigt er die Beteiligten, sondern markiert höchstens Verantwortlichkeiten. Entscheidungen von Menschen sind immer eingebettet in Vorgeschichten. Sie lassen sich zwar nie einlinig aus ihnen ableiten – das widerspräche menschlicher Freiheit –, aber sie werden begreif­ licher, wenn Faktoren wie Milieuprägung, institutionelle Vorgaben, Charakterbilder der Akteure und anderes mehr in die Untersuchung mit einbezogen werden. Oft genug steht der Historiker vor Rätseln. Doch sein Ethos zielt dahin, Zusammenhänge aufzudecken, Entscheidungen transparent zu machen – stets im Wissen darum, dass Verstehen eine hermeneutische Leistung ist, die von den Gegebenheiten der Quellen, ihrer Deutung wie von den eigenen Vorverständnissen abhängig ist. Besser verstehen wollen heißt immer auch, bereit zu sein, bisherige Verstehensmuster und Deutungen preiszugeben.

2. Zur Forschungsgeschichte und den Zielen dieser Studie Ausgewählte Schlaglichter auf jüngere Arbeiten zu den kanonischen Passionserzählungen (2.1 und 2.2) mögen dazu dienen, die vorliegende Studie mit ihren Zielen und Grundannahmen (2.3) in der gegenwärtigen Forschungslandschaft zu situieren. 151  Ebd. 24: „nur ein Anfang“; M. Brenner, Gott ist kein Christ, in: FAZ Nr.  98 (2009) 31: „[D]ieses Dokument, wäre es heute Diskussionsgrundlage des christlich-jüdischen Gesprächs, (würde) kaum jemanden zufrieden stellen“. – Französische Bischofskonferenz, „Die Haltung der Christen gegenüber dem Judentum. Pastorale Handreichungen“ vom 16. April 1973: „Man muss in der Stellungnahme des Konzils eher einen Beginn als eine Endphase sehen. […] Sie stellt einen Bruch dar zur Haltung in der Vergangenheit. Sie ruft die Christen zu einer neuen Einstellung zum jüdischen Volk, nicht nur auf menschlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene des Glaubens“ (Kursive von mir), in: Rendtorff/Henrix, Kirchen  150. 152  N. Klein, Rom 47 Anm.   6 (zur Ablehnung von Nostra Aetate 4 durch die Piusbruderschaft); Homolka, Jude 212–216. 153  Negel, Welt 331–334 (mit Hinweis auf Äußerungen von Walter Kasper). 154  Vielfach begegnender Titel: Mußner, Traktat 293–305; Ritt, Tod (1987); Lapide, Tod (²1989); Haacker, Tode (1994); W. Kraus, Rolle (1998) etc. – Lindeskog, Prozess 334: „Von Schuld ist hier zutiefst gesehen überhaupt keine Rede. Man könnte nämlich mit gleichem Recht den Tod Jesu als selbstverschuldet bezeichnen. Die Schuldfrage muss in diesem Zusammenhang ausgeschaltet werden. Sie ist sinnlos, irreligiös, unevangelisch“.

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2.1 Der Überlieferungscharakter der Passionserzählungen. Methodische Weichenstellungen Lange Zeit beschränkte sich die Suche nach der vorkanonischen Passionserzählung auf das Markusevangelium. Zahlreiche Rekonstruktionen wurden vorgelegt155 , ohne dass „eine konsensuelle Lösung“ erzielt werden konnte156 . In Teilen der Forschung führte dies zur Entwicklung eines integralen Modells auf der Basis nicht nur des Markus-, sondern auch des Lukas- und Johannesevangeliums unter Voraussetzung der Unabhängigkeit des letzteren von den Synoptikern157. Der Vorteil dieses Modells liegt auf der Hand: Es bietet Kontrollmöglichkeiten, die bei Rückschlüssen aus einem einzigen Text nicht gegeben sind. In jüngerer Zeit wird wieder versucht, die Johannespassion als redaktionelles Produkt auf der Basis eines oder mehrerer Synoptiker zu erklären158 . Die Frage nach einer vorkanonischen Passionserzählung richtet sich dann wieder ausschließlich an Markus. Oder es wird argumentiert: Erst Markus habe den Typ der Passionserzählung auf der Basis einzelner Überlieferungen geschaffen159 bzw. den Evangelisten sei lediglich die „Struktur einer Passionsgeschichte mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Realisierung“ vorgegeben gewesen160 . Am Anfang hätte eine mündliche Erzählung gestanden, die mehrfach variiert worden sei. Von einer „Urform“ könne nicht die Rede sein161. 155  Peddinghaus, Entstehung (1965); L. Schenke, Studien (1971); ders., Christus (1974); Dormeyer, Passion (1974); Pesch, Mk II (1977); J. Gnilka, Mk II (1979); A.Y. Collins, Mk (2007) u. a. – Soards, Question (1994), bietet eine tabellarische Übersicht der Rekonstruktionen von PEmk. 156  Eckey, Mk 27; Grund dafür sind die „Quellenlage“ (Beschränkung auf Mk) wie die „Meinungsverschiedenheiten über Grund- und Methodenfragen der Analyse“ (ebd.). 157  Siehe unten I.  1.3.2. – Joh berücksichtigen neben Mk Lührmann, Mk (1987), Mohr, Markus- und Johannespassion (1982), Myllykoski, Tage I/II (1991/94), Reinbold, Bericht (1994); Weidemann, Tod (2004); Schleritt, Passionsbericht (2007). Wegweisend für die Einbeziehung auch von Lk: Klein, Passionstradition (1976); ders., Passions- und Osterüberlieferung (2005). Grundmann bemerkte schon 1965 in seiner Besprechung von E. Lohse, Geschichte, 680, er könne „durch den Passionsbericht hindurch zwei Grundformen“ erkennen, „die des Markus, der sich weitgehend Matthäus anschließt, und die lukanisch-johanneische, die beide selbständig ausgestalten“ und „ihrerseits miteinander zu vergleichen sind“. J. Jeremias, Abendmahlsworte 87 Anm.  5, stützte die Hypothese seines „Langberichts“ auf Mk und Joh als unabhängige Zeugen, hielt die „Herausschälung einer schriftlichen Quelle“ aber für „ganz unmöglich“. 158  Sabbe, Studia (1991); Lang, Johannes (1999); Frey, Theology (2018) u. a. 159  Linnemann, Studien 54–68; J. Schreiber, Markuspassion 41–43; sodann Kelber, Hour 41–60; ders., Gospel 44–139 (Keith/Thatcher, Scar 197: „In Kelber’s model, Mark essentially invented the genre of the passion narrative by including in his gospel a connected account of the events surrounding Jesus’ death [Mark 14–16]“); ders. (Hg.), Passion; darin Donahue, Passion 8–16); Matera, Kingship 45; vgl. auch Mack, Myth 262–312. – G. Schneider, Problem (1972), wägt pro und contra ab, um für die Existenz einer „vorkanonischen Passionserzählung“ zu votieren; vgl. auch Pokorný, P./Heckel, U., Einleitung 378–381. 160  Dormeyer, Überlegungen 227 (bei gleichzeitiger Annahme, dass Joh Mk gekannt habe, „besonders die Passionserzählung mit der Gefangennahme Jesu“ (ebd. 226). 161  Koester, Presence 556: „[T]hree different versions of the same passion narrative are extant, namely, the passion narratives of Mark, John, and the Gospel of Peter which are independent of each other […] but are all dependent upon the telling of the same story as they all reveal the same

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Raymond E. Brown, ernüchtert vom diachronen „Hypothesendschungel“162 , verzichtet in seinem monumentalen Werk „The Death of the Messiah“ (1994)163 auf die Rekonstruktion einer vorkanonischen Passionserzählung und begnügt sich mit der Erkundung einzelner „preGospel arrangements“164, zu denen er einschränkend erklärt: „I am not proposing that what I describe is necessarily history, although at most times it would be closer to history than the Gospel rearrangements“165. Die eruierten „Traditionen“ nutzt er zur Erhellung der Umstände des Todes Jesu, sein Augenmerk aber richtet er auf die Kommentierung der kanonischen Erzählungen166 . Einen anderen Weg geht Wolfgang Stegemann167. Für die Vorgeschichte der kanonischen Passionserzählungen interessiert er sich nicht168 , behauptet die Abhängigkeit des Johannes vom „Passionsnarrativ“ des Markus169, übt Tendenzkritik an allen vier Erzählungen170 und lehnt „direkte Rückschlüsse“ aus ihnen auf die historischen Begebenheiten ab171. „[D]as traditionelle Rückschlussverfahren von den neutestamentlichen Texten auf eine historische Situation unter Berücksichtigung weiterer historischer Daten“, wie Brown und andere es praktizieren, kehrt er um. Seine Frage lautet: „[W]elchen plausiblen Ablauf (können) die Ereignisse im Zusammenhang der Hinrichtung Jesu genommen haben […], wenn wir von einem Gesamtbild der rechtsgeschichtlichen bzw. sozialgeschichtlichen Daten ausgehen“?172 „[N]icht die unterschiedlichen Darstellungen der ‚Quellen‘, sondern der aufgrund der Kenntnis der historischen Lage (in rechtlicher, sozialer, kultureller und politischer Hinbasic structure“; ders., Gospels 216–240; Nickelsburg, Genre 182–184; Aitken, Death 21 mit Anm.  42: „multiformity“ – „a way of talking about the coexistence of various versions of a song in a tradition that does not necessitate constructing a genealogical relation among them or the search for a single ‚original‘ version of the song“.. Légasse, Procès 31 f., bezweifelt die Möglichkeit, die Existenz einer Joh bzw. Mk vorgegebenen PE nachweisen zu können. 162  Reinbold, Prozess 49, der im Rahmen seines Mk und Joh berücksichtigenden Modells aber zum Ergebnis gelangt: „Indes scheint mir Resignation […] unangemessen“. 163  Von seiner Anlage her ist das zweibändige Werk ein „Kommentar zu den Passionserzählungen der vier Evangelien“ (so der Untertitel). 164  Brown, Death I  556 Anm.  23: „‚preGospel‘ describes the era before the written Gospels, i. e., chiefly in the period from 30 to 60 when orally (and probably in writing) there were being formed the traditions that were reshaped and incorporated (with additions) by the evangelists in AD  60–100“. 165  Brown, Death I  556. 166  Der Methode nach handelt es sich um eine redaktionsgeschichtliche Studie mit ausführ­ lichen Exkursen zu den historischen Umständen des Todes Jesu. 167  W. Stegemann, Jesus (2010); zu ihm siehe IV.  2.3.3. 168  Ebd. 361: „Alle Versuche, von den Evangelien auf eine ältere Quelle oder Tradition zurückzuschließen, um an einen gesicherten Kernbestand an Nachrichten über die Begebenheiten im Zusammenhang der Kreuzigung Jesu zu kommen, sind wissenschaftliche Hypothesen“. Allerdings muss das nicht das Ziel der diachronen Fragestellung sein: siehe unten 2.3(5). 169  Ebd. 375: Mk ist „das älteste Evangelium“ und „die Basis für die drei anderen“. 170  Ebd. 368–375, „[z]um ‚Sitz im Leben‘ der apologetischen Tendenzen der Evangelien“, welche sind: „Die Belastung der judäischen Führungselite mit der Schuld an der Hinrichtung Jesu“ – „Die Belastung des judäischen Volkes mit der Schuld am Tode Jesu“ – „Entlastung Jesu durch Pilatus“. Ebenso im Anschluss an P. Winter u. a. Lindeskog, Prozess 327. 171  W. Stegemann, Jesus 375. 172 Ebd. 376.

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sicht) am ehesten als plausibel erscheinende Ablauf der Ereignisse in Jerusalem (soll) die historischen Aussagen bestimmen“173. Das abgekürzte Verfahren, mit dem Stegemann die Passionserzählungen wegen ihrer „unterschiedlichen Darstellungen“ der Ereignisse und deutlich greifbaren Tendenzen bei seiner historischen Rückfrage zu umgehen vorgibt, um ausschließlich auf das historische „Plausibilitätskriterium“ zu setzen, täuscht darüber hinweg, dass er jene für sein Bild der historischen Begebenheiten dennoch nutzt. Markus entnimmt er, Jesus sei als „König der Judäer“ hingerichtet worden, weil er „in Jerusalem als der ersehnte König auf dem Thron Davids eingezogen und begrüßt worden“ sei und „in einer öffentlichen Zeichenhandlung (Tempelzwischenfall) wie der König Judäas Anspruch auf den Tempel erhoben“ habe174. Eine derart weitreichende historische Schlussfolgerung erlaubt die theologisch interessierte Darstellung des Markus indes ohne diachrone Analyse nicht.

2.2 Thematische Schwerpunkte Unterschied die ältere Forschung gerne zwischen „Religion“ und „Politik“ – Jesus sei aus „religiösen“, nicht aus „politischen“ Gründen von den jüdischen Autoritäten dem Tod ausgeliefert worden175 –, so ist diese Unterscheidung inzwischen weithin aufgegeben. Wie auch immer die Botschaft Jesu näher bestimmt wird, Einigkeit zeichnet sich darin ab, dass sein Auftritt ein „Politikum“ war, wobei zwischen Intention und Wirkung zu differenzieren ist176 . Im Folgenden stehen nicht derartige Grundfragen zur Debatte, sondern thematische Schwerpunkte, um welche die Forschung bis heute ringt. Alleinige Verantwortung der Römer für den Tod Jesu? Nichts ist so gewiss wie das Faktum: Jesus erlitt von den Römern die entehrende Strafe der Kreuzigung, die für politische Verbrecher und Rebellen, Sklaven und peregrini vorgesehen war177. „Jesus was crucified by the Romans under Pontius Pilate, but there is no agreement on the relation between Roman responsibility and that of the Jewish leaders, if any“178 . Hans Lietzmann schloss 1931 in einem viel­ beachteten Vortrag vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften179 aus dem Faktum der Kreuzigung: Pilatus habe „das entscheidende Urteil“180 gesprochen, 173 

Ebd. 354. Ebd. 378; vgl. auch 338–345. 175  Die Deutungen Jesu als Revolutionär können hier beiseite bleiben; Bammel, Theory 11–68, hat ihre Geschichte von Reimarus bis Brandon geschrieben; vgl. auch Hengel, Zealots; ders., Revolutionär. 176  Forschungsgeschichtliche Einblicke dazu unten in IV.  2.3. 177  Zur Todesstrafe der Kreuzigung bzw. der römischen Hinrichtungspraxis im Allgemeinen gibt es inzwischen eine Reihe von Studien: Chapman, Perceptions; Hengel, Mors; ders., Cruci­ fixion; Samuelssohn, Crucifixion; Schmitz, Supplicium 319–340 u. a. 178  Boring, Quest 343. 179  Lietzmann, Prozess (= SPAW.PH 1931. XIV, Berlin 1934); Blinzler, Prozess 174, hat das Aufsehen, das der Vortrag in Fachkreisen wie in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit erregte (12 führende Tageszeitungen allein in Deutschland besprachen ihn), minutiös dokumentiert. 180  Lietzmann, Prozess 257. 174 

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nicht das Synedrion, denn andernfalls wäre Jesus gesteinigt worden (Lev  24,13; Apg  6 ,11.13 f.; 7,59). Hierfür berief er sich auf Jean Juster (1914), der „das Dogma von der Kompetenzbeschränkung des Synedrions für die Zeit vor 70 mit guten Gründen bekämpft“ und aufgezeigt habe, dass der Hohepriester durchaus die ­Kapitalgerichtsbarkeit über „jüdische Religionsverbrecher und Gotteslästerer“ besaß181. Die Position von Jean Juster wird bis heute vertreten182 , wie auch die These von der alleinigen Verantwortung des römischen Präfekten für Verhaftung und Hinrichtung Jesu nach wie vor ihre Anhänger hat183. Wolfgang Stegemann relativierte zuletzt die Annahme, „dass Jesus in Jerusalem im Zusammenhang eines Tumultes von römischen Soldaten aufgegriffen und unmittelbar ohne Beteiligung judäischer Selbstverwaltungsinstanzen vor den obersten Befehlshaber Roms geführt, zum Tode verurteilt und mit anderen ‚Rebellen/Banditen‘ (lestai) gekreuzigt worden ist“: „Die Beteiligung judäischer Instanzen […] ist prinzipiell nicht auszuschließen“, dann aber nur „im Rahmen einer Festnahme zur untergeordneten koerzitiven Maßnahme gemäß ihrer lokalen und begrenzten Kompetenz, nicht aber im Rahmen eines eigenen Kapitalprozesses oder überhaupt judikativer Maßnahmen“184.

Der Synedrion-Prozess: historisch oder Fiktion? Wie in einem Brennglas bündelt der erwähnte Vortrag „Der Prozess Jesu“ von Hans Lietzmann, was fortan diskutiert werden sollte. Die Erzählung vom Synedrion-Prozess (Mk – Mt) bzw. dem Verhör Jesu durch die hohen Priester (Lk) steht seit seinen Thesen im Mittelpunkt der historischen Rückfrage, vor allem auch wegen der Bedeutung dieser Erzählung für das Verhältnis zum Judentum. Lietzmann fällte sein Verdikt über sie als unhistorisch aufgrund verschiedener Beobachtungen185. Vor allem sei sie in sich und gemessen an der Mischna unplausibel. Worin soll die Lästerung Jesu bestanden haben, wenn unter jüdischen Voraussetzungen eine Bejahung der Messiasfrage, zumal unter Vermeidung einer Nennung des Gottes­ namens, unmöglich ein crimen sein konnte? Der Annahme Lietzmanns, die Erzählung sei fiktiv, wurde heftig widersprochen, sie fand aber auch Beifall und wirkt, modifiziert, bis heute nach.

181  Ebd. 260; siehe Juster, Juifs II 132–145. – Jean Juster, 1881 in Moldawien in eine jüdische Familie geboren, wurde in Paris 1911 promoviert und fiel im 1. Weltkrieg 1915 mit 33 Jahren für Frankreich; Lagrange, Recension, würdigte sein Werk 1918 in einer ausführlichen Besprechung; Lietzmann verbreitete seinen Ruhm als Rechtshistoriker. 182  Siehe unten III.  1.5.5, auch 1.3.4. 183  Siehe die Übersicht bei Horsley, Death 401–405; dieser Linie folgen E.W. Stegemann, Angesicht 23–52; W. Stegemann, Beteiligung 3–24; vgl. auch Crossan, Ursprünge 136–141; Fiedler, Erwägungen 31–48; Fricke, Person; ders., Fall 237–322; Lapide, Römerhand; Rubeli-­ Guthauser, Gewalt 25–45. – Dazu kritisch Broer, Death 145–168; Sänger, Betreiben 49–70. 184  W. Stegemann, Jesus 382 (im Anschluss an seinen Bruder E.W. Stegemann, Angesicht 39). – Dass die jüdischen und römischen Autoritäten kooperierten, ist heute Mehrheitsmeinung: Häfner, Tod 150; Niemand, Jesus 415 f.; Otte, Neues 1022; Schröter, Jesus 275; vgl. bereits Klausner, Jesus 463–465; Flusser, Prozess 147 f.; E. Lohse, Geschichte 87 f. u. a. 185  Vgl. unten den Abschnitt zum Thema der Augenzeugenschaft.

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Josef Blinzler vertrat prominent die Gegenposition. Sein Buch „Der Prozess Jesu“, als work in progress zwischen 1951 und 1969 entstanden186 , trug, wie schon erwähnt, nicht unwesentlich zu einer neuen christlichen Wahrnehmung der Pas­ sion Jesu nach der Shoah bei. Wurde „den (jüdischen) Richtern des Gekreuzigten“ immer wieder „bald bewusste, diabolische Rechtsbeugung, bald gröbste Fahr­ lässigkeit, nur selten guter Glauben zugeschrieben“187, so zeigt sich Blinzler davon überzeugt, dass die jüdische Obrigkeit legal gehandelt hat. Die Erzählung Mk   14,53.55–­ 64 sei nicht (wie von Lietzmann) am „pharisäischen“ Recht der ­Mischna zu messen, dem sie in der Tat widerspricht, sondern an dem vor 70  n.  Chr. in Geltung stehenden der Sadduzäer188 . Sein Hauptinteresse zielt dahin, die historische Glaubwürdigkeit insbesondere der Verhörszene vor dem Hohen Rat aus christologischen Gründen sicherzustellen189. Ähnlich setzte 1994 Raymond E. Brown auf die grundsätzliche Zuverlässigkeit der Synedrions-Szene mit ihrer Messias-Thematik, allerdings nicht ohne Konjekturen am ältesten Evangelium vorzunehmen. So zweifelt er nicht daran, dass der Hohepriester Jesus die Frage, ob er der (davidische) Messias sei (Mk  14,61), tatsächlich gestellt habe190 , weicht aber von Markus dennoch ab: Jesus habe, konfrontiert mit dieser möglichen „Identifikation“191, „ausweichend“ reagiert, weil er die damit verbundene Herrschaftsvorstellung für sich selbst nicht hätte akzeptieren können192 . Dafür habe er – hier kehrt Brown wieder zum Evangelientext zurück – im Angesicht seiner drohenden Verwerfung seine Richter mit der Prophetie konfrontiert, dass Gott ihm als „Menschensohn“ Herrschaft und Ehre verleihen und in Bälde seine Königsherrschaft durch ihn verwirklichen werde (Mk  14,62c)193. Einerseits 186  Umfasste die 1.  Aufl. von 1951 lediglich 178 Seiten, so wuchs das Buch, das ursprünglich für bibelinteressierte Kreise gedacht war, bis zur letztgültigen 4. Aufl. von 1969 auf 520 Seiten an. Da Blinzler die einzelnen Szenen im Rahmen seiner historischen Fragestellung je für sich betrachtet, kommen die Passionserzählungen als ganze lediglich im 1.  Kap. („Die Quellen“) in den Blick. Eine „Schlüsselstellung“ (Hoppe, Blinzler 132) nimmt seine Auseinandersetzung mit Lietzmann im Exkurs VIII ein: „Die Geschichtlichkeit der Synedrialverhandlung“ (174–183). 187  K.S. Bader, Besprechung des Buches, in: JZ 24 (1951) 797. 188  Im Einzelnen siehe unten III.  1.5.4 (1) unter (c). – Bader, Fachmann für Rechtsgeschichte, „bezweifelt“ an Blinzlers Darstellung, „ob soviel juristische Denkschärfe – mehr, als ein Jurist anzuwenden und hinzunehmen bereit ist – den Quellen, den Berichten der Evangelisten zumal, und ihrer Auslegung entspricht“ (ebd.). Dabei weiß Blinzler, dass „die Evangelisten im allgemeinen am rein historischen Ablauf der Ereignisse weniger interessiert sind als an ihrem lehrhaft-religiösen Gehalte“, weshalb „auch ihre Passionsgeschichten zunächst als Glaubenszeugnisse und nicht so sehr als biographische Dokumente verstanden werden“ müssen (Prozess 58). 189  In der Frage der Chronologie tendiert er allerdings zu Johannes, d. h. er nimmt nicht an, dass der Hohe Rat in der hochheiligen Paschanacht gegen Jesus prozessierte (104–107); es bleibt dann aber das Problem einer nächtlichen Prozessführung. 190  Nicht jedoch, ob er „der Sohn des Hochgelobten“ sei, was nachösterlich sei: Brown, Death I 480–483. 191  Ebd. 480: „during Jesus’ lifetime some of his followers thought him to be the Messiah, i. e., the expected anointed king of the House of David who would rule over God’s people“. 192  Ebd. 480: „Jesus, confronted with this identification, responded ambivalently because associated with that role were features that he rejected“. 193  Ebd. 515: „There is reason to believe that in 14:62[c] we may be close to the mindset and

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traut Brown dem ältesten Evangelisten, andererseits korrigiert er ihn im Sinne dessen, was er für historisch plausibel hält. Dazu hat schon Bultmann das Nötige gesagt: „Zunächst muss doch gefragt werden: nicht was ist als geschichtlich denkbar? Sondern: was ist als christliche Gemeindetradition verständlich? und dieser Frage ist die Frage nach dem geschichtlich Möglichen je nach dem einzelnen Fall ein- oder nachzuordnen“194. Paul Winter entwickelte in seiner viel beachteten Studie „On the trial of Jesus“ (1961) die Position Lietzmanns weiter195. Auf der Basis einer überlieferungskritischen Analyse196 gelangte er zur Ansicht, dass Mk  14,53.55–64 vom ältesten Evangelisten in eine alte Überlieferung, die nur von einer Beratung der jüdischen Behörde in der Morgenfrühe wusste (Mk  15,1), mit paränetischer und apologetischer Absicht sekundär eingeschoben worden sei197. Den Geschehensablauf stellt sich Winter so vor198: Jesus, durch die von ihm entfachte Bewegung politisch verdächtig geworden, sei von den Römern als „Aufrührer“ (Mk  14,48: λῃστής) verhaftet (Joh  18,12) und den hohen Priestern überstellt worden (Mk  14,53a; vgl. Lk  22,54; Joh  18,13a)199. Diese hätten, zur Mitarbeit mit dem Statthalter gezwungen, der wegen Sprach- und Mentalitäts-Barrieren auf sie angewiesen war, darin die Chance gesehen, ernste Folgen für das jüdische Gemeinwesen abzuwehren (Joh  11,48)200 . Nach der Befragung sei Jesus zum Statthalter zurückgeschickt (Mk  15,1; vgl. Lk  23,1; Joh  18,28a) und anschließend von diesem als „Aufrührer“ zum Tod verurteilt worden (Mk  15,26; vgl. Mk  15,27). An diese stimmig erscheinende Rekonstruktion ist die Frage zu richten, ob Jesus für die jüdische style of Jesus himself“. Wie seine Ankündigung der Zerstörung des Tempels und dessen Wiederaufbau habe auch seine Antwort auf die Messiasfrage des Hohepriesters „a threatening element of judgment plus an element in which Jesus vindicated by God would have a part in bringing God’s plan to its culmination […] that in the ears of his enemies might sound like arrogant blasphemy“. Ähnlich Catchpole, Trial 140 f. (mit älterer Lit.). 194  Bultmann, Geschichte 291. 195  Die Neuedition 1974 nach Winters Tod durch Burkill und Vermes bietet eine biographische Skizze zum Autor sowie Hinweise zur Rezeption seines Buches. Winter nennt als Gewährsleute neben Lietzmann auch ältere Autoren (wie Loisy, Marc 426: „Ce procès nocturne, qui parâit fictif, double […] le procès réel [devant Pilate]“), die sich ähnlich äußerten (Trial 34 Anm.  15 u. a.). 196  Winter eruiert (wie später Brown) aus den kanonischen Evangelien „Traditionen“, die er tendenzkritisch in zwei Kategorien einteilt: „primary“ und „secondary tradition(s)“ (190–192). Auf erstere, die mündlich oder schriftlich umliefen, baut er seine historische Sicht der Abläufe. 197 P. Winter, Trial 27–37. Zur paränetischen Absicht: „The Evangelist here exorts his readers to follow the example given by Jesus, not that given by Peter. If your endurance brings you suffering, it also brings you glory“ (33). Apologetisch sei die Erzählung im Zusammenhang mit der Pilatus-Szene, da sie das Synedrion beschuldige, Pilatus entschuldige. 198  Ebd. 192. 199  Einen konkreten Anlass zur Verhaftung erkennt P. Winter, Trial 193–201, nicht; die Tempelaktion sei „a disturbance of the peace [..] neither sacrilege nor sedition” gewesen (201). Eine Verhaftung durch die Römer (woraus gerne abgeleitet wird, Jesus sei ein antirömischer Rebell gewesen) nehmen auch Cullmann, Jesus 47, und Moltmann, Gott 130, an: „Das Verhör vor den Hohenpriestern mag dann eher eine moralische Konsultation gewesen sein, die Pilatus gewünscht hat, um sicher zu gehen, dass er die jüdischen Behörden und das jüdische Volk mit der Hinrichtung des vermuteten Zelotenführers Jesus von Nazareth nicht gegen sich aufbrachte“. 200  Ebd. 202–204. Auch Ben-Chorin, Bruder 194, erklärt die Mitwirkung der jüdischen Autoritäten mit der Angst vor Aufständen (vgl. Joh  11,50), Flusser, Jesus 113–130, schreibt sie der korrupten und staatsloyalen saduzzäischen Oberschicht zu.

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Selbstverwaltung tatsächlich nur ein politischer Störenfried gewesen ist oder nicht auch theologische Gründe mit im Spiel waren 201. Das von Winter entwickelte Modell wurde verschiedentlich variiert. Chaim Cohn (1968/­ 71)202 zufolge verhafteten die Römer Jesus wegen Umtriebe, gaben ihn aber den jüdischen Autoritäten in Gewahrsam, die ihrerseits alles versuchten, ihn von seinem Messiasanspruch abzubringen, um ihn vor seinem sicheren Tod zu bewahren. Juden hatten „ein vitales In­ teresse“ daran, „die Kreuzigung eines Juden durch die Römer zu verhindern, insbesondere aber eines Juden, der sich der Liebe und Zuneigung des Volkes erfreute“203. Als der Hohepriester die Erfolglosigkeit seines Bemühens einsehen musste, zerriss er aus Kummer seine Kleider und lieferte Jesus dem Präfekten aus204.

Auch Eduard Lohse folgte in seinem Buch „Die Geschichte des Leidens und ­Sterbens Jesu Christi“ (1964) Lietzmanns Paradigma: „[D]er Markus 14,55–65 par vorgelegte Bericht (kann) nicht auf irgendwelche Augenzeugen zurückgeführt werden, die den Christen nachträglich den Ablauf der Verhandlung erzählt hätten“205. Die von Markus rezipierte „Überlieferung der Gemeinde“ habe vielmehr den nachösterlichen Streit der Anhänger Jesu mit der Synagoge um das Bekenntnis zur Messianität und Gottessohnschaft Jesu in „die Geschichte vom Prozess […] vor dem Synedrium“ zurückprojiziert 206 . „[H]inter dem Bericht, den die Evangelisten in der Passionsgeschichte darbieten“, sei der historische Ablauf der Ereignisse „noch durchaus zu erkennen“. „Die Vorgänge werden sich so abgespielt haben, dass das Synedrium, dessen sadduzäische und pharisäische Mitglieder sich in der Feindschaft gegen Jesus einig waren, Jesus festnehmen ließ, ihn kurz verhörte und dann dem Statthalter überwies, damit dieser ihn als politisch verdächtigen Mann hinrichten lassen sollte (vgl. Mk  15,1 par.)“207. Das Synedrion, das (gegen Lietzmann) nicht über die Kapitalgerichtsbarkeit verfügte, sei auf die Mitwirkung des Statthalters angewiesen gewesen. Was das Gremium Jesus vorwarf, bleibe allerdings im Dunkeln.

Wer die synoptische Prozess- oder Verhörszene als im Ganzen zuverlässigen Bericht einstuft 208 , setzt sich der Schwierigkeit aus erklären zu müssen, wie die hier 201  Fest steht für Winter, dass die Hinrichtung Jesu als politischer Rebell durch die Römer auf einem Missverständnis beruht. 202  Cohn, Prozess. 203  Ebd. 165. 204  Ebd. 190 f. W. Stegemann, Beteiligung 18: „Ich halte diese Hypothese keineswegs für ausgeschlossen, zumal wenn man hinter dem Verhalten des Sanhedrin nicht einfach Menschenfreundlichkeit, sondern durchaus politisches Kalkül vermutet“. Flusser, Prozess 153–157, weist sie wegen ihres Mangels an literargeschichtlicher Fundierung zurück. 205 E. Lohse, Geschichte 83. 206  Ebd. 87 f. Von dieser nachösterlichen Situation her erkläre sich „vollauf“ „der gegen Jesus geltend gemachte Vorwurf der Lästerung“, nicht aber von genuinen jüdischen Voraussetzungen her (87). So bereits Bultmann, Geschichte 291: „Für die spätere christliche Tradition, aus der der Bericht auf alle Fälle stammt, konnte auch Jesu Messiasanspruch, der Hauptstreitpunkt zwischen der Gemeinde und dem Judentum als Grund seiner Verurteilung erscheinen“. Crossan, Ursprünge 136–141: Die von Mk geschaffene Szene vor dem Synedrion setzt einen außer-jüdischen Standpunkt und damit die Trennung der christlichen Gemeinde von der Synagoge voraus. 207 E. Lohse, Geschichte 87 f.; so auch A.Y. Collins, Mk 698–700. 208  Schubert, Kritik 324–335; Hengel/Schwemer, Jesus 595–600 („Der Verhandlungsbericht Mk  14,53–65“); Evans, Jesus 434: „The Marcan scene is probably […] accurate in reporting

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Hinführung: Memoria und Historia. In Verantwortung vor der Geschichte

Jesus bekenntnishaft in den Mund gelegte Christologie schon das jüdische Verfahren haben entscheiden können. Wer die Szene dagegen im Gefolge von Lietzmann destruiert, ist mit der Frage konfrontiert, ob die prekäre Quellenlage es überhaupt noch erlaubt, die Hintergründe eines mutmaßlich jüdischen Vorgehens gegen Jesus zu erhellen. Grundprinzip der Untersuchung sollte es sein, die literarischen und historischen Fragen strikt auseinander zu halten. Gerade die Erforschung des Synedrion-Prozesses zeigt, wie literarische Fragen gerne mit historischen Plausibilitätsargumenten beantwortet werden. Augenzeugenschaft als Kriterium der „Geschichtlichkeit“ der ältesten Passionserzählung? Wenn schon die älteste Form der Leidensgeschichte eine kerygmatische Glaubenserzählung war, erlaubt sie es dann wenigstens, Erinnerungsfragmente zu identifizieren? Bis heute bestimmt das Kriterium der Augenzeugenschaft die Debatte. Schon Lietzmann benutzte es in seinem Akademievortrag von 1931. Trotz der „hohe(n) poetische(n) Qualität“ der vier Leidensgeschichten, die „zu dem Gewaltigsten (gehören), was religiöse Dichtung je geschaffen hat“, wollte er nicht den Zweifeln des „prüfenden Historiker(s)“ erliegen, „ob es wohl möglich sei, durch die Fülle der Gestaltungen hindurch zu dem Kern einer einfachen Berichterstattung zu gelangen, die uns zuverlässige geschichtliche Erkenntnis ermöglicht“209. Für die Teile der Markuspassion, die „durch ihre Bezugnahme auf die Person des Petrus zusammengehalten“ würden (Mk  14,26–14,72), nimmt er einen „Bericht“ an, „der letztlich auf Petrus selbst zurückgeht und der schon darum alles geschichtliche Vertrauen verdient“210 . Das Verhör Jesu vor dem Hohepriester sei dagegen „wie ein Fremdkörper“ in die Verleugnungsgeschichte „hineingesteckt worden, natürlich nicht von einem ‚Interpolator‘, sondern von Markus selbst“211. Eine Quelle für das dort Erzählte gebe es nicht. „Petrus ist nicht der Gewährsmann, denn er ist, wie zweimal (14,54.66) ausdrücklich betont wird, nur bis in den Hof des hohepriesterlichen Palastes vorgedrungen und dort geblieben. Er kann also von der Verhandlung nichts gehört haben, und einen anderen Zeugen sehen wir nicht. […] Für den Historiker steht die Geschichte frei in der Luft“212 . Daraus folgert er: Wird der Quelle vertraut, die auf der Augenzeugenschaft des Petrus beruht, so hat die jüdische Behörde Jesus wegen eines von ihm ausgelösten Tumultes im Tempel heimlich in der Nacht verhaften und in den hohepriesterlichen Palast bringen und am anderen Morgen dem Präfekten übergeben lassen. Sie hat that Jesus acknowledged his divine sonship and described that sonship in terms of Daniel 7 and 2Samuel 7. In my judgement, scholars should no longer set this tradition aside as inauthentic“. 209  Lietzmann, Prozess 251. 210  Ebd. 253. – Für die Kreuzigungsszene verweist Lietzmann auf die in Mk  15,40 genannten Frauen als mögliche Augenzeuginnen, wobei sich die Ereignisse auch „sämtlich in voller Öffentlichkeit“ vollzogen hätten. 211  Ebd. 254. 212  Ebd. 254; vgl. Conzelmann, Art. Jesus Christus 646.

2. Zur Forschungsgeschichte und den Zielen dieser Studie

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„überhaupt nicht über Jesus Gericht gehalten“ – angesichts des zu befürchtenden unsicheren Ausgangs wollte sie es nicht auf einen Religionsprozess ankommen lassen –, sondern wählte „den bequemeren Weg“: „[U]nter der Anklage, er habe als messianischer Kronprätendent die öffentliche Ruhe tumultuarisch gestört“, übergab sie Jesus dem Präfekten (vgl. Mk  15,1), der ihn hinrichten ließ213. In der im Umfang etwa verdreifachten 2.  Aufl. seiner „Formgeschichte“ von 1933  – das Kap.  V II: „Die Leidensgeschichte“ ist hinzugekommen 214 – befasst Martin Dibelius sich nach Beschreibung des „Sinns“ der synoptischen Erzählungen auch mit der Frage ihrer „Geschichtlichkeit“215: „Historisch-kritische Überlegungen vermögen […] im Fall der Leidensgeschichte Ergebnisse zu zeitigen, die immerhin auf einige Wahrscheinlichkeit Anspruch erheben können, sowohl im positiven wie im negativen Sinn“216 . Das Kriterium der Augenzeugenschaft erlaubt ihm (ähnlich wie Lietzmann zwei Jahre zuvor), Verleugnungs-, Verhaftungs- und Kreuzigungsszene im Kern für historisch zu halten 217. „[B]ei den Vernehmungen Jesu vor dem Hohenpriester und vor Pilatus ist eine Überlieferung des Hergangs durch Augenzeugen ausgeschlossen“218 . Wie es eine „alte gesicherte Überlieferung über das hohepriesterliche Verhör […] offenbar gar nicht gegeben hat“219, so bekundet auch Mk  15,2–5 in der Pilatusszene, „dass er nichts anderes weiß, als dass die ­Königsfrage eine Rolle gespielt hat; und das wusste man in der Gemeinde, da der Grund zur Hinrichtung in der üblichen Weise bekannt gemacht war“220 .

Dem von Lietzmann eingeführten Paradigma eines petrinischen Quellenberichts folgt jüngst noch Martin Hengel, der es ausweitet und Simon Petrus wegen der berühmten Papias-Notiz aus dem 2.  Jh als historisch glaubwürdigen Zeugen sogar für das älteste Evangelium insgesamt beansprucht. Der Jünger habe „Bescheid“ gewusst, sich am Ende „in die Höhle des Löwen“ gewagt und sei Jesus – wie der ano213  Lietzmann, Prozess 262; sein literarisches Argument: Die Synedrion-Sitzung wurde aus Mk  15,1 herausgesponnen; Bultmann sekundiert in der 2. Aufl. seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ von 1931: „Ich halte den ganzen Bericht des Mk für eine sekundäre Ausführung der kurzen Angabe 15,1“ (290 mit 291 Anm.  2 ). 214  Dibelius, Formgeschichte 178–218; zur Leidensgeschichte äußerte sich Dibelius nochmals 1935 („Gethsemane“) und 1939 („Judas und der Judaskuss“) sowie vor seinem Tod (1947) zu den Passionen von Johann Sebastian Bach. 215  Ebd. 205–218. 216  Ebd. 218, unter Betonung des Primats der Synchronie vor der Diachronie: „Allein solche Urteile dürfen erst abgegeben werden, nachdem der Sinn der uns vorliegenden Markus-Darstellung erhellt ist, und zwar ohne Rücksicht auf die Frage der Geschichtlichkeit. Erst dann lassen sich die formbildenden Kräfte aufzeigen, von denen die Gestaltung der Traditionsstücke getragen ist“. 217  Auf Lietzmann reagierte er 1931 unmittelbar auf dessen Akademie-Vortrag in: „Das historische Problem der Leidensgeschichte“ (ZNW 30; abgedruckt in: Botschaft und Geschichte), und in der 2.  Aufl. der Formgeschichte zur Petrus-Hypothese: „Nichts“ deute in der Getsemani-Szene auf Petrus als „Gewährsmann“ hin, für ihren Kern falle er sowieso aus; „Mk  14,21 weist auf einen anderen“, einen anonymen jungen Mann (217 Anm.  1). 218  Ebd. 214. 219  Ebd. 215. 220  Ebd. 214.

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nyme Jünger – bis in den Hof des Hohepriesters gefolgt 221. Was vor dem Synedrion verhandelt wurde, sei Jerusalemer „Tagesgespräch“ gewesen. Josef von Arimathäa, Ratsmitglied, hätte nicht nur am Religionsprozess teilgenommen, er dürfte auch Zugang zu den Gerichtsprotokollen gehabt haben, die im hohepriesterlichen Archiv lagerten 222 . „History remembered“ oder „prophecy historicized“? Wie steht es mit der Augenzeugenschaft bei „Erinnerungstexten“ wie den Pas­ sionserzählungen, die nicht nur gelegentlich auf den Psalter bezugnehmen, sondern geradezu imprägniert sind von ihm? Bieten sie „history remembered“ oder „prophecy historicized“ – „erinnerte Geschichte“ oder „historisierte Prophetie“?223 Dale Allison spricht von „history scripturalized“, also „memory written up in the language of the Jewish Bible“224. Erst wenn hier Klarheit besteht, kann erkundet werden, ob und wo die Passionserzählungen historische Erinnerung verarbeiten und über welche Kanäle diese ihnen gegebenenfalls vermittelt wurde. 2.3 Zu dieser Studie: Ziele – Grundannahmen – Vorgehen Die Studie verfolgt ein doppeltes Ziel. Sie analysiert die vier kanonischen Passionserzählungen (PE) 225 jeweils synchron, um ihr literarisches und theologisches Profil wie ihren literargeschichtlichen Zusammenhang zu erhellen 226 . Sodann versucht sie, soweit möglich, ihre Genese bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen, dem Archetyp der kanonischen Passionserzählungen. Synchrone und diachrone Fragestellungen werden gemäß dem komplexen Textbefund als sich ergänzende, nicht ausschließende Perspektiven begriffen. 221 

Hengel/Schwemer, Jesus 599; ebenso Blinzler, Prozess 69 f.; Schubert, Kritik 322 f. Hengel/Schwemer, Jesus 599. – Dagegen Mikat, Art. Prozess 676: „Augenzeugen-­ Ber(ichte) u(nd) Gerichtsprotokolle fehlen“. Zu den sog. „Akten des Pilatus“ siehe unten I.  2.2. – Zu den kaiserzeitlichen Gerichtsprotokollen und ihrer Archivierung vgl. Bisbee, Acts 26–32; Anagnostou-Cana, Documentation 764–772 (zum römischen Ägypten). Kirner, Strafgewalt 50, zufolge ist nicht davon auszugehen, dass die Statthalterarchive „schon in dem hier behandelten Zeitraum ein selbstverständlicher Bestandteil der Provinzialverwaltung waren, sondern sich dazu erst seit dem 2.  Jahrhundert allmählich entwickelten“; Haensch, Statthalterarchiv 237, sammelt immerhin Spuren, die darauf hindeuten, „dass seit der Zeit des Claudius die commentarii der in den Provinzen tätigen Amtsinhaber in einem dort befindlichen Archiv aufbewahrt wurden“. 223  Crossan, Ursprünge 13. 224  Allison, Memory 389; vgl. Goodacre, Scripturalization 39–42. 225  Das Kürzel PE steht im Folgenden für Passionserzählung, mit hochgestelltem Index (wie PEmk) für eine der vorkanonischen Erzählungen, mit hochgestelltem (PE)G für die Grunderzählung oder den Archetyp. 226  Referenzwerke für die Auslegung aller vier Passionserzählungen sind: G. Schneider, Passion (1973); Brown, Death I/II (1994); Légasse, Procès II (1995); Gielen, Passionserzählung (2008); für die Mt-Passion: Luz, Mt IV (2002); Fiedler, Mt (2006); Konradt, Mt (2015); für die Mk-­ Passion: A.Y. Collins, Mt (2007); Herrmann, Strategien (2010); Guttenberger, Mt (2017); Bedenbender, Botschaft (2013); ders., Messias (2019); für die Lk-Passion: Büchele, Tod (1978); Neyrey, Passion (1985); Bovon, Lk IV (1993); Eckey, Lk II (22006); Wolter, Lk (2008); für die Joh-Passion: Dietzfelbinger, Joh II (2001); Weidemann, Tod (2004); Zumstein, Joh (2016). 222 

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Auf dieser Basis sind schließlich die Chancen einer historischen Rückfrage nach den letzten Tagen Jesu zu erkunden. Der Optimismus, der überlieferungskritische Weg hinter die kanonischen Fassungen zu ihrem Ursprung führe direkt zur Historie der letzten Tage Jesu, wird nicht geteilt. Schon die mutmaßlich älteste Passionserzählung ist eine kerygmatische Glaubenserzählung, kein Bericht. Geschichte und Theologie sind die beiden Pole dieser Studie entsprechend ihrem Untertitel. Sie strebt einerseits ausgehend von den vier Passionserzählungen eine historische Rekonstruktion der letzten Tage Jesu an, andererseits profiliert sie deren unterschiedliche Theologien des Todes Jesu. Darüber hinaus wird es am Ende darum gehen, wie von den letzten Tagen Jesu, seiner Auslieferung ans Kreuz und seinem Sterben theologisch heute verantwortlich gesprochen werden kann. Um der Validität des theologischen Diskurses willen ist dies ohne eine historische Rück­ frage nicht möglich. Die Studie basiert auf Grundannahmen, die vorweg zu nennen sind. Teils kann die empirische Textarbeit diese einholen und verifizieren, teils bleiben es mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen, deren Leistungsfähigkeit sich daran erweisen wird, ob sie die literargeschichtlichen Befunde in ein plausibles Gesamtbild zu überführen imstande sind. Modellbildung und exegetische Detailarbeit korrigieren und erhellen sich gegenseitig. (1) Säule der nachfolgenden Untersuchung ist die gut begründete Annahme, dass die Johannespassion keine redaktionelle Neufassung der synoptischen Vorlagen ist, sondern auf einer eigenen Passionserzählung (= PEjoh) fußt. Mangels Verifikationsmöglichkeiten ist letztlich nicht entscheidbar, ob der vierte Evangelist eine (wie auch immer geartete) Kenntnis von der Existenz etwa des Markusevangeliums besaß. Aber sehr wahrscheinlich hat er keinen der Synoptiker als Prätext der eigenen literarischen Arbeit benutzt 227. Die Behauptung, er müsse wenigstens einen der ­Synoptiker gekannt haben, um auf die Idee gekommen zu sein, ein Buch der Gattung Evangelium zu schaffen, steht auf tönernen Füßen 228 . Wie schon Dwight Moody Smith zu bedenken gab, können beide Evangelisten unabhängig vonein­ ander die Möglichkeit ergriffen haben, ihre jeweils eigene Passionserzählung nach vorne zu einer Vita Jesu auszubauen 229, ein Vorgang, der „kaum rätselhafter als die Tatsache (ist), dass Mt und Lk unabhängig voneinander den Einfall hatten, das 227  Theobald, Joh I   76–81; Theißen, Entstehung 224 f.: „Entscheidend ist: Der Johannesevangelist folgt ganz gewiss seiner eigenen Tradition, mit einer eigenen stilistischen und theologischen Prägung“; hierzu wie zu den weiteren Annahmen siehe unten I.  1.3.2. 228  Schnelle, Joh 20: „Wäre das 4. Evangelium völlig unabhängig von Markus entstanden, hätte innerhalb des joh. Traditionskreises die Gattung Evangelium ein zweites Mal neu konstituiert werden müssen“. Das Zeitargument (ebd.: „Historisch muss es allerdings als sehr unwahrscheinlich gelten, dass ca. 30 Jahre nach der Schaffung der Gattung Evangelium […] ein zweiter Theologe in Unkenntnis des Markusevangeliums dieselbe Gattung schuf“) hängt von der Spät­ datierung des Joh durch den Autor zwischen 100 und 110 ab; ein früherer Zeitpunkt (zwischen 80 und 90) liegt aber näher (Theobald, Joh I 92–94). 229 D.M. Smith, John 240: „It is possible to think of the genesis and growth of the Gospels in one of at least two ways: Mark was the sole originator of the gospel genre; or, the narration of the passion itself gave rise to the gospel genre, of which Mark is only the earliest extant exemplar. Of

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MkEv mit der Logienquelle sowie mit anderen Überlieferungen zu kombinieren und das Ganze zugleich mit eigenen Zutaten anzureichern“230 . Bei den immensen Unterschieden, die zwischen den synoptischen Evangelien und Johannes bestehen, liegt die Annahme von dessen Unabhängigkeit auch angesichts der Tatsache, dass sich in seinem Werk „Elemente oder Strukturen“, welche „die Redaktionsarbeit der Synoptiker voraussetzen“, nicht identifizieren lassen 231, um vieles näher. Dies vorausgesetzt, kann die überlieferungskritische Rückfrage mit wenigstens zwei von­ einander unabhängigen Überlieferungssträngen rechnen, die sich gegenseitig kontrollieren, dem mkn. und dem joh.232 . Wie weithin anerkannt (siehe oben), basiert auch der älteste Evangelist auf einer ihm vorgegebenen Passionserzählung (= PEmk). Hinzu tritt eine weitere Annahme: Auch der dritte Evangelist, der von Markus abhängig ist, verfügte über eine eigene Passionsüberlieferung (= PElk). Nach Ausweis der überraschenden Übereinstimmungen in zahlreichen Details zwischen ihm und Johannes ist dieser Überlieferungszweig mit dem vorjohanneischen verwandt gewesen, so dass beide Evangelisten auf einem ihnen gemeinsamen Ahnen (= PElk/joh) fußen. Am Ursprung des mkn. und lkn./joh. Überlieferungsstranges steht eine Grunderzählung (= PEG), der Archetyp, von dem sich alle späteren Fassungen herleiten. Diese waren bereits schriftlich fixiert 233. (2) Die Unterscheidung zwischen den Passionserzählungen als vorevangeliaren Erzähleinheiten und Teiltexten der Evangelien zieht eine weitere Überlegung nach sich: Gehören die Evangelien zur „Literaturfamilie“ der antiken Biographie im weiteren Sinne, dann wird ihre Gattung, wie auch immer sie näher zu bestimmen ist, von den Passionserzählungen an ihrem Ende mitkonstituiert 234. Kommen diese als eigenständig umlaufende Einheiten in den Blick, stellt sich die Frage nach deren Gattung und „Sitz im Leben“ neu: (a) Die Passionserzählungen reihen sich ein in Erzählungen „vom Tod berühmter Männer“, wie sie die jüdische und nicht-jüdische Literatur seit dem 5.  Jh.  v.Chr. kennt. Eine Gattungsgeschichte dieser Erzählungen zu schreiben, ist angesichts der fragmentarischen Quellen­lage, der starken Divergenzen dieser Texte und ihrer Streuung über mehrere Jahrhunderte nicht möglich 235. Feststellbar sind vergleichbare Motivcluster und Erzählmuster, course, a choice in this matter does not determine in advance whether John would have known Mark at all. But the latter alternative makes John’s independence immediately intelligible“. 230  Schleritt, Passionsbericht 101 (dort auch der Hinweis auf D.M. Smith, John). 231  Ebd. 101, mit anschließender Abwägung des Prinzips und exemplarischer Anwendung. 232  Zu dieser und den weiteren Annahmen siehe unten I.  1.3.2. – Studien, welche die Vorgeschichte der Passionserzählung ausschließlich anhand des Mk zu erkunden suchen (siehe oben Anm.  154), sind damit trotz wertvoller Beobachtungen im Detail überholt. 233  Zur Begründung dieser Annahme siehe unten I.  1.3.1. unter (1). 234  Viele Biografien des Cornelius Nepos und des Plutarch enden mit einer Erzählung vom gewaltsamen Tod ihres Helden. 235  Entsprechend groß ist die Breite der terminologischen Klassifizierungen in der Forschung: „passio iusti“; „Tradition verfolgter Propheten“; (frühjüdische) „Martyriumslegenden“; (griechisch-römische) Erzählungen vom Tod berühmter Männer (τελευταί- und exitus-Literatur) etc.; siehe unten I.  1.5.

2. Zur Forschungsgeschichte und den Zielen dieser Studie

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deren „Summe“ aufgrund weiterer Faktoren jeweils ein Ganzes ergibt. Das macht die gattungskritische Bestimmung der Passionserzählungen so schwierig, deren Alleinstellungsmerkmal ihre durchgehende Imprägnierung durch den Psalter ist. Über ihre Gattung lässt sich nur dann befinden, wenn auch ihr ursprünglicher „Sitz im Leben“ mitbedacht wird. (b) Die Existenz mehrerer voneinander unterschiedener vorevangeliarer Passionserzählungen ist erstaunlich. Ihre Entstehung ist nicht einfach als literarisch-theologischer Differenzierungsprozess wahrzunehmen, sondern vom konkreten „liturgischen“ Ort her zu verstehen, an dem sich das „kommunikative Gedächtnis“ der frühen Jesus-Gruppierungen gebildet hat, dem jährlichen Paschafest, das von den jesusgläubigen Juden selbstverständlich weiter begangen, aber mit neuem Inhalt gefüllt wurde. Die frühen Passionserzählungen waren keine „Schreibtischprodukte“, sondern quasi kultisch-liturgische Erinnerungstexte, deren Sinn darin bestand, Jesu letzte Tage im Licht der Schrift zu erschließen, um die Glaubensidentität der entstehenden Gemeinschaft zu stärken. Ihrer Gattung nach gehören sie in das weite Feld von „Kultlegenden“236 , die den „Gründungsmythos“ einer Gemeinschaft transportieren, vergleichbar der Exodus-Memoria beim Paschafest, die sie voraussetzen 237.

(3) Strittig ist bis heute, wie die alte PE einsetzte und schloss. Die These, die hier vertreten wird, lautet: Die Erzählung wurde vom Einzug Jesu in Jerusalem und seiner Aktion im Tempel eröffnet und von der Osterbotschaft im leeren Grab beschlossen 238 . Der Kreis der Untersuchung ist deshalb weiter zu ziehen als die üb­ liche Beschränkung der historischen Erforschung auf knapp 24 Stunden, die Ereignisse zwischen der Festnahme Jesu in der Nacht zum „Karfreitag“ und der Bestattung seines Leichnams am selben Tag239. Damit kommen zwei Brennpunkte der Forschung in den Blick, die je für sich eine monographische Behandlung verdienten: das letzte Mahl Jesu und die Entstehung des Osterglaubens. Auf sie kann hier nicht verzichtet werden. (4) Die PEG (wie die ihr nachfolgenden vorkanonischen und kanonischen Fassungen) sind von ihrem genuin jüdischen Denkhorizont her zu interpretieren. Die PE treibt keine antijüdische Christologie, sondern erzählt vom leidenden Messias Jesus aus der Perspektive insbesondere des davidischen Psalters. (5) Der Charakter der alten Passionserzählungen als kerygmatischer Glaubenszeugnisse, ihr „Sitz im Leben“ wie ihre Imprägnierung durch den Psalter sind für die historische Rückfrage eine hohe Hürde. Wer sie nehmen will, benötigt eine Kriteriologie, wie mit derartigen Erinnerungstexten umzugehen ist. Sie lassen weniger gesicherte historische Annahmen zu als gewöhnlich angenommen. 236  Auf einen „kultischen“ „Sitz im Leben“ verwies bereits Bertram (1922); Dibelius, Formgeschichte 185, gut protestantisch: „Die Passion hat ihren ‚Sitz‘ nicht in der Erbauung und Erhebung des Einzelnen, sondern in der Verkündigung an die Gemeinde, in der Predigt“. 237  Ersichtlich etwa daran, dass die Evangelisten die eucharistische Kultätiologie mit Motiven der Sinai-Offenbarung angereichert haben. 238  Dibelius, Formgeschichte 184: die alte Leidensgeschichte konnte „nur ein Ziel haben: den im Osterglauben begründeten Sinn der Ereignisse darzustellen […]“. Anders Bultmann, Geschichte 301 f., der die Erzählung mit der Grablegung enden lässt. Später, in seinem Joh-Kommentar, korrigiert er sich: „eine Passionserzählung ohne folgende Ostergeschichte hat es schwerlich je gegeben“ (Joh 491). 239  Blinzler, Prozess; Brown, Death I.II; Légasse, Procès I.II; Lohfink, Tag, u. a.

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(6) Den Plausibilitätsrahmen zur historischen Rückfrage nach den Hintergründen des Verfahrens gegen Jesus liefern die zeitgeschichtlichen Umstände, wie sie sich der Forschung heute darstellen. Für die Provinz Syrien, zu der Judäa zu Lebzeiten Jesu gehörte, erweist sich das Geschichtswerk des Josephus angesichts der sonstigen prekären Quellenlage als unschätzbarer Glücksfall. Viele seiner narrativen Texte haben rechtshistorische Implikationen, die Hintergrundwissen für die historische Rekonstruktion des Verfahrens gegen den Nazarener liefern. Für die Rekonstruktion der Anklage gegen ihn gilt überdies, dass die jüdischen Autoritäten sich an der Tora orientiert haben dürften, diese ihnen also den rechtlichen Rahmen bot. Der I.  Teil des Buches wird die christlichen und nicht-christlichen, jüdischen und profan-römischen Quellen zur Erkundung der letzten Tage Jesu präsentieren, darunter vor allem die Passionserzählungen der kanonischen Evangelien, deren einzigartiger Wert durch apokryph gewordene Texte des 2.  Jh.s wie die Passions- und Ostererzählung des Petrusevangeliums nicht geschmälert wird. Die literarische und gattungsspezifische Eigenart dieser Erzählungen wird beschrieben, ihr diachroner Zusammenhang erhellt und ein Modell entwickelt, das ihre Entstehung erklären kann. Den Analysen im II.  Teil dient es als Rahmentheorie. Der II.  Teil ist der Überlieferungskritik der vier kanonischen Passionserzählung gewidmet. Das Ziel ist, soweit möglich, deren älteste Fassung zu eruieren. Die Methodik wird eingangs in II.  1 reflektiert 240 . Die Analyse orientiert sich an den großen Blöcken der Passions- und Ostererzählung mit ihren jeweiligen Szenen und Episoden. Jeder Abschnitt bietet zunächst eine synchrone Analyse der Texte nach Form und Inhalt, dann die Überlieferungskritik. Am Ende von Teil  II findet der Leser eine Zusammenschau der Ergebnisse, den ungefähren Wortlaut der PEG, ihre Beschreibung nach Form und Inhalt und eine Bestimmung ihrer Intention. Der III.  Teil bietet den historischen Diskurs mit den beiden sich ergänzenden Hälften: „Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazareth“ und „Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt“. Im Eingang der zweiten Hälfte (III.  2.1) ist die Methodik der historischen Rückfrage zu reflektieren. Den Beschluss macht unter der Überschrift „Prophet gegen Priester“ eine knappe Zusammenfassung dessen, was in den letzten Tagen Jesu geschah – wohl wissend, dass es sich dabei um das narrativ vermittelte Re-Konstrukt aus einem komplexen literargeschichtlichen und historisch-kritischen Diskurs handelt. Der IV.  Teil entwickelt theologische Perspektiven, die sich aus der Wahrnehmung der Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu einerseits und deren vielfältiger Darstellung in den Evangelien andererseits ergeben 241. Über die Heilsbedeutung 240  Diachrone literarische Analyse und historische Rekonstruktion dürfen nicht miteinander vermischt werden, was Reinbold, Bericht 20, zufolge bis jüngst gang und gäbe ist; schon Linnemann, Studien 109, monierte: „Bei keinem Text der Passionsgeschichte überwuchern in der Auslegung so sehr die historischen Fragestellungen wie bei dieser Perikope [sc. Mk  14,55–64]“. 241  Der theologische Teil ist von der historischen Analyse gemäß dem Postulat von Kurth,

2. Zur Forschungsgeschichte und den Zielen dieser Studie

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von Tod und Auferweckung Jesu ist heute neu nachzudenken und auch nach Weisen der Passions-Erinnerung zu suchen, die sie aus ihrer traditionellen Einhegung in individuelle Leidensfrömmigkeit befreien. Ihre wirklichkeitsverändernde Kraft gewinnen die kultisch erinnerten Passionserzählungen, wenn sie im Zusammenhang mit der Leidensgeschichte der Menschen vernommen werden, wie sie zahllos zu allen Zeiten „auf der Erde hingeschlachtet werden“ (Offb  17,24).

Prozess 55 f., geschieden: „Es gilt, die historische Rekonstruktion des Prozesses Jesu von der theologischen Frage nach der Bedeutung des Todes Jesu zu trennen. Nur eine solche Trennung ermöglicht es, an die Wurzeln verschiedener antijüdischer Stereotypen vorzudringen, die bis heute im Christentum lebendig geblieben sind“.

I. Teil

Die Quellen. Ihre Beschaffenheit und Herkunft im Horizont antiker Literatur „Ihr Studium ist gerade deshalb so lohnend, weil sie immer noch etwas anderes hergeben, als was man bisher aus ihnen entnommen hat“. (Hans-Georg Gadamer)1

Das Verfahren gegen den Juden Jesus von Nazaret ist dem Rechtshistoriker Detlef Liebs zufolge „der am ausführlichsten bezeugte Prozess des Altertums“, selbst das Verfahren gegen Sokrates, das ein enormes Echo hatte, sei nicht annähernd so breit belegt wie das gegen Jesus2 . Doch der Eindruck täuscht. „Wir besitzen keinen Augenzeugen- oder Ohrenzeugenbericht, keine Prozessakten oder gar ein Gerichts­ protokoll“; die kanonischen Passionserzählungen sind „keine Primärquellen, sondern theologisch motivierte Kompositionen“3, literargeschichtlich überdies miteinander verflochten. Gegen eine unvermittelte historische Auswertung sperren sie sich (unter 1.). Was sonst noch an Quellen verfügbar ist, eröffnet keine zusätzlichen Wege, sich der Geschichte Jesu zu nähern. Neben den kanonischen Passionserzählungen bieten nur wenige der später apokryph gewordenen Evangelien Erzählungen vom Tod Jesu (EvPetr; EvNicodemi), wobei dies durchweg jüngere Schriften sind. Dennoch stellt sich insbesondere beim sog. Evangelium des Petrus die Frage, ob es von den kanonischen Erzählungen abhängig ist oder eigenständige Überlieferungen zur Passion Jesu beinhaltet (unter 2.). Unter den jüdischen Zeugnissen verdient das sog. Testimonium Flavianum vom Ende des 1.  Jh.s besonderes Interesse, weil es im Kern auf Josephus zurückgeht (3.1). Aus dem römisch-paganen Umfeld sticht das Zeugnis des Tacitus hervor (3.2). Beide Autoren schrieben in Rom und sind Zeugen dessen, was gegen Ende des 1. bzw. Anfang des 2.  Jh.s in der Hauptstadt des Römischen Reiches vom Tod Jesu bekannt war. Der babylonische Talmud bietet eine Überlieferung, welche die Bedeutung des Buchs Deuteronomium für die jüdische Sicht auf den Prozess Jesu erhellt. 1 

Gadamer, Wahrheit 474. Liebs, Prozesse 92; aus der Zeit zwischen dem 5.  v. Chr. und dem 4.  Jh. n. Chr. präsentiert er 16 Prozesse „vor den Richtern Roms“. – Mayer-Maly, Bibelkunde 65: Die Evangelien haben „Protokollcharakter. Sie sind gewissermaßen die Vorläufer der christlichen Martyrologien. Kaum ein antikes Gerichtsverfahren ist so breit dokumentiert wie der Prozess Jesu“; Rosen, Rom 40–43. 3  W. Stegemann, Beteiligung 9. 2 

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I. Teil: Die Quellen

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien Die Rede von den Passions- und Ostererzählungen der Evangelien als eigenen literarischen Einheiten ist Erbe der sog. formgeschichtlichen Schule. Karl Ludwig Schmidt, Martin Dibelius und Rudolf Bultmann, die zum ersten Mal unabhängig voneinander die synoptischen Evangelien einer formgeschichtlichen Analyse unterzogen, konnten zeigen, dass im Unterschied zum Perikopen-Charakter der übrigen Evangelienüberlieferung nur die Passionserzählungen eine übergreifende Erzählstruktur besitzen4. Die „verhältnismäßige Festigkeit der Leidensgeschichte“ werde zudem durch „die ganz eigenartige Übereinstimmung zwischen Johannes und den anderen Evangelien in diesem Teil der Erzählung“ gestützt 5. Im Folgenden soll diese „Leidensgeschichte“ in ihren vier Varianten (Mt – Mk – Lk – Joh) zuerst aus kanonischer Perspektive vorgestellt werden (1.1 und 1.2): Auf eine Übersicht der Inhalte und deren Anordnung in den vier Fassungen, die so etwas wie einen gemeinsamen Grundriss zu erkennen geben (1.1), folgt eine Darstellung ihrer wichtigsten literarischen Besonderheiten, die bereits Rückschlüsse auf ihre Intention und Pragmatik erlauben (1.2). Nach dieser eher synchronen Betrachtung stellt sich die diachrone Frage nach ihrem literargeschichtlichen Zusammenhang: Ein Modell ihrer Genese wird entwickelt, mit dem sich im zweiten Teil dieser Studie an den Texten arbeiten lässt (1.3). Welchen Umfang hatte die älteste Erzählung (1.4)? Welcher Gattung folgte sie (1.5)? Was war ihr „Sitz im Leben“ (1.6)? Wo, wann und mit welcher Intention entstand sie (1.7)? 1.1 Identischer Grundriss – unterschiedliche Ausführung. Die gemeinsame Struktur der kanonischen Passionserzählungen Wer die vier kanonischen Passionserzählungen miteinander vergleicht, erkennt die Übereinstimmung in ihrer Grundstruktur, aber auch, dass diese stofflich jeweils eigenwillig und variantenreich aufgefüllt ist. Drei bzw. vier größere Blöcke lassen sich unterscheiden: ein Eingangsteil (A), ein Kern- oder Mittelteil (B) und ein Schlussteil (C). Der (österliche) Epilog (D) bewegt sich auf neuer Ebene. Über die Abgrenzung dieser Bereiche, vor allem von A und B, lässt sich streiten6 . Wenn wir den Mittelteil B mit der Episode von der Vorbereitung des Paschamahls (Mk  14,12– 16 par.) beginnen lassen, dann deswegen, weil die Geschichte in Aufbau und Wortwahl der Einzugsgeschichte zu Beginn von A genau entspricht: „Jesu Legitima­ 4 K.L. Schmidt, Eigenart; ders., Rahmen 303–309, ebd. 303: Die Leidensgeschichte „ist der einzige Abschnitt der Evv, der genau örtliche und zeitliche Dinge, ja Tag und Stunde angibt. Es ist ohne weiteres deutlich, dass hier von vornherein eine fortlaufende Erzählung in der Absicht lag“; es gibt nur „[w]einige Fugen und Nähte“ (306); Dibelius, Formgeschichte 178; Bultmann, Geschichte 282–308. Dazu: G. Schneider, Problem 224–228. 5  Dibelius, Formgeschichte 22. 6  Becker, Joh II  635, gliedert aus der Perspektive des Joh: „A. Vom Todesbeschluss bis zum Abschied von den Seinen [;] B. Von der Gefangennahme bis zur Grablegung [;] C. Von der Ent­ deckung des leeren Grabes bis zur Erscheinung vor den Zwölfen“ (siehe unten nach der Tabelle „Mittelteil B“ unter [4]).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

47

tion“ wird in beiden Erzählungen „dadurch erwiesen, dass das, was er sagt, genau eintrifft“7. Die Einteilung in A – D hat ihren Sinn darin, dass sie eine erste Orientierung über die stofflichen Zusammenhänge und die Spannungsbögen der Erzählung bietet. Der Eingangsteil (A) thematisiert die Vorgeschichte des Prozesses. Erzählt wird vom Einzug Jesu in Jerusalem, seiner Aktion im Tempel, um derentwillen die Verantwortlichen ihn zur Rede stellen, sowie vom „Todesbeschluss“ und der Initiative des Judas. Der Mittelteil (B) erzählt vom letzten Mahl Jesu, seiner Vorbereitung und den unmittelbar anschließenden Ereignissen bis hin zur Verhaftung Jesu; er gipfelt im nächtlichen bzw. frühmorgendlichen jüdischen und römischen Verfahren gegen Jesus. Der Abschlussteil (C) enthält den Kreuzweg und endet mit Jesu Grablegung. Im Unterschied zum Eingangsteil (A), dessen „erzählte Zeit“ weit gespannt ist, verlangsamt sich im Mittel- und Schlussteil die Zeit8: Erzählt wird von den Geschehnissen eines einzigen Tages, der am Vorabend mit Jesu Mahl beginnt und vor Anbruch des Sabbats endet. Der Epilog (D) ist zeitlich abgehoben („am ersten Tag der Woche“) und bewegt sich auf neuer Ebene: Mit dem Auftritt des himmlischen Boten (bzw. von zwei Boten bei Lukas und Johannes) wird das narrative Kontinuum von der Transzendenz des Himmels her aufgebrochen. Die folgenden vier Tafeln dokumentieren Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Anordnung der Szenen und Episoden9, geben das gemeinsame Grundgerüst der vier Erzählungen zu erkennen und führen die Perikopen auf, mit denen dieses Grundgerüst individuell aufgefüllt ist. Am größten sind die Unterschiede im Eingangsteil (A) und im Epilog (D), aber auch im Mittelteil (B) weichen Lukas und Johannes von den beiden anderen Evangelisten markant ab. Eingangsteil (A) Markus

Matthäus

Lukas

Johannes

1. Einzug in Jerusalem

Szene/Episode

11,1–11

21,1–11

19,28–40

12,12 f.14 f.

2. Tempelaktion

11,15–17

21,12–17

19,45 f.

2,14–17

11,27–33 3. Frage nach Jesu Vollmacht (Syn) bzw. einem Zeichen (Joh)

21,23–27

20,1–8

2,18–22

[12+13]

[21,28–26,2]

[20,9–21,38]

[2,23–11,46]

14,1 f. [3,6; 11,18; 12,12]

26,3–5 22,1 f. 11,47–53 [5,18; [12,14; 21,46] [19,47 f.; 20,19] 7,1.19.25.30; 7,32.45–52; 8,37.40; 8,59; 10,31.49]

4. Tötungsplan des Hohen Rats

7 So

Lührmann, Mk 236, zu Mk  14,12–16. Vgl. Mk  14,12.17; 15,1; Joh  13,1.30; 18,1.28; 19,14. 9  Abweichende Positionierungen sind durch Kursive gekennzeichnet. 8 

48

I. Teil: Die Quellen

Szene/Episode

Markus

Matthäus

Lukas

11,55–57

5. Suche des Volks nach Jesus im Tempel und „steckbriefliche“ Fahndung nach Jesus 6. Salbung in Betanien

14,3–9

26,6–13

7.

14,10 f.

26,14–16

Judas beim Hohen Rat

Johannes

[7,36–50]10 22,3–6

12,1–8 [6,64 f.70 f.; 12,4 f.; 13,2.10 f.27]

Der Eingangsteil (A) beinhaltet die unmittelbare Vorgeschichte der Passion Jesu. Alle vier Evangelien bereiten diese aber schon von Anfang an vor. (1) Markus antizipiert 14,1 f. (vgl. Nr.  4) in 3,6 unmittelbar nach den ersten Kontroversen Jesu mit den „Schriftgelehrten“ (2,6; vgl. bereits 1,22; 2,16) bzw. „Pharisäern“ (2,16; 2,14; vgl. auch 2,18): „Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten mit den Herodianern zusammen sogleich den Beschluss (συμβούλιον) gegen ihn, dass sie ihn (sc. Jesus) umbrächten“11. 11,18 („die hohen Priester und die Schriftgelehrten […] suchten, wie sie ihn töten könnten [ἐζήτουν πῶς αὐτὸν ἀπολέσωσιν]“) und 12,12 („und sie suchten, ihn zu ergreifen [ἐζήτουν αὐτὸν κρατῆσαι]“) gehören ins unmittelbare Vorfeld von 14,1 f.12 . Markus kündigt dreimal Jesu Auslieferung in den Tod und seine „Auferstehung nach drei Tagen“ an (8,31; 9,31; 10,33 f.). Die letzte Ankündigung entspricht mit ihrer Konkretisierung κατακρινοῦσιν αὐτὸν θανάτῳ καὶ παραδώσουσιν αὐτὸν τοῖς ἔθνεσιν (10,33) genau der späteren Passionserzählung. Auch sie weiß von einem Todesurteil nur des Synedrions13, nicht des Statthalters. (2) Matthäus bietet den „Tötungsbeschluss“ der „Pharisäer“ von Mk  3,6 entsprechend der Dramaturgie seines Buches erst viel später, in 12,14 im Übergang von der großräumigen Darstellung des Wirkens Jesu in Israel in Wort und Tat (5–7/8–9) zur Geschichte seines Konflikts mit den jüdischen Autoritäten, die mit seinem Tod endet (12 ff.; die drei Todesankündigungen: 16,21; 17,22; 20,18 f.). Doch schon in der Vorgeschichte seines Buches erzählt er von einem Versuch, Jesus umzubringen. In Bethlehem und Umgebung habe Herodes „alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren“ töten lassen, „genau entsprechend der Zeit, die er von den Sterndeutern erfahren hatte […]“ (2,16–18). Dank der Flucht seiner Eltern nach Ägypten bleibt das Leben des Kindes verschont. (3) Lukas formt Mk  3,6 um. Nach seiner Vorstellung wird die Gegnerschaft Jesu zur Todfeindschaft erst am Ende in Jerusalem, weshalb er in 6,11 diff. Mk  3,6 lediglich mitteilt: „sie [sc. „die Schriftgelehrten und Pharisäer“, V.7] wurden von Unverstand erfüllt und berieten (διελάλουν) miteinander, was sie Jesus tun sollten“. In 13,31–33 (Sondergut) weisen sogar „einige Pharisäer“ Jesus auf die Lebensgefahr hin, die ihm von seinem Landesherrn Herodes Antipas droht: „Mach dich auf und geh weg von hier; denn Herodes will dich töten […]“. Auf dem Ölberg, da Jesus sich der Stadt nähert, treten zum letzten Mal Pharisäer („einige“!) auf, 10  Anstelle der Betanien-Erzählung bietet Lk die Geschichte von der Sünderin im Haus des Pharisäers Simon. Dibelius, Formgeschichte 178 f., zufolge ist dies das einzige „ohne weiteres auslösbare[…] Erzählungsstück“ der PE. Zur Erklärung siehe unten II.  4.4 unter (5). 11  Vgl. Mk  15,1: συμβούλιον ποιήσαντες. 12  Das Verb ζητέω (stereotyp auch im vierten Evangelium: siehe unten) verbindet die Stellen miteinander. 13  Das Verb κατακρίνω Mk  10,33 auch in 14,64: κατέκριναν αὐτὸν ἔνοχον εἶναι θανάτου.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

49

um dagegen zu protestieren, dass seine Anhänger ihn als „König“ ausrufen (19,39 f.). Mit dem, was ihm in der Stadt geschieht, haben sie nichts zu tun, wohl aber „die Schriftgelehrten und die „hohen Priester“. Auch Lukas hat den Tod Jesu von Anfang an im Blick und deutet das auch verschiedentlich an14. Vor allem kündigt Jesus selbst sein Ende an, bevor er sich auf den Weg nach Jerusalem begibt (9,22.44; vgl. 18,31–33). Als Historiker geht es Lukas darum, die Geschichte Jesu plausibel darzustellen (vgl. 1,3).

(4) Der Autor des vierten Evangeliums verankert die Passionserzählung in seiner Makroerzählung mittels einer eigenen Technik: Er antizipiert einzelne Szenen: (a) Jesu Tempelaktion samt Forderung eines Legitimationszeichens (= Nr.  2+3) steht am Anfang des Buches, wo sie Jesu Wirken in Jerusalem programmatisch eröffnet. Sie schließt an die Hochzeit zu Kana (Joh  2,1–11) an, das erste Zeichen, das Jesus im Buch wirkt. Das siebte und letzte Zeichen, die Auferweckung des Lazarus (Joh  11,1–46), die alle bisherigen Zeichen überbietet, veranlasst den Hohen Rat, gegen ihn einzuschreiten und seinen Tod zu beschließen (Nr.  4). Wichtige Erzählstücke aus dem „Eingangsteil“ der Passionserzählung (Nr.  2+3/Nr.  4) rahmen das Wirken Jesu (Joh  2,23–11,46)15. (b) Stereotyp erklärt der Evangelist im Vorfeld der Passion, „die Juden suchten Jesus zu töten“16 . Von drei konkreten Anschlägen weiß er zu berichten, vom Versuch der Gerichtsdiener, seiner im Auftrag des Hohen Rates habhaft zu werden (7,30.32.45–48), und von zwei Steinigungsversuchen durch die Obrigkeit (8,59; 10,31; vgl. noch V.39). Weil Jesu „Stunde noch nicht gekommen ist“ (7,30), bleiben alle diese Versuche erfolglos. (c) Eine erste Sitzung des Hohen Rates findet schon beim zweiten Jerusalemaufenthalt Jesu (7,45–52) statt. Sie bleibt ohne Ergebnis, weil Nikodemus im Namen der Tora dafür votiert, dass das Gremium vor einem Urteil Jesus selbst hören müsse (vgl. Dtn  1,16 f.; 19,18). Die zweite Sitzung (Joh  11,47–53.57) verläuft anders: Auf Intervention des Kajaphas, des Gegenspielers des Nikodemus, zeigt sich das Gremium entschlossen, Jesus umzubringen. (d) Während Markus in seiner Zwölferliste Judas vorweg als den charakterisiert, „der ­Jesus auslieferte“ (Mk  3,19), lässt Johannes Jesus seine „Auslieferung“ durch Judas schon in Galiläa ankündigen17. Später erzählt er zwar von einer „steckbrieflichen“ Suche Jesu durch den Hohen Rat (Nr.  5), aber nicht, dass Judas daraufhin zur Behörde gegangen sei (Nr.  7).

Wenn die vier Evangelisten ihre Passionserzählung kompositionell und motivisch von Anfang an in ihren Büchern fest verankern, hat das Zweierlei zur Folge: Einerseits gewinnen die Leser den Eindruck, dass das Urteil der jüdischen Autoritäten über Jesus längst feststand, bevor es am Ende ausdrücklich gefällt wird. Der Prozess vor dem Hohen Rat erscheint als Farce. Andererseits bringen alle vier zum 14 

Siehe unten IV.  1.2.3. Die Tabelle oben erlaubt noch folgende Beobachtung: Wie Johannes den Zeitraum zwischen Tempelaktion und anschließender Zeichenforderung einerseits und dem „Tötungsplan“ des Hohen Rats andererseits mit seinen Kapiteln 2,23–11,46 auffüllt, so wenden auch die Synoptiker die gleiche literarische Technik an, nur mit geringerem Aufwand (vgl. die Spalte zwischen Nr.  3 und 4): Alle drei schieben an derselben Stelle (!) beträchtlichen Stoff in ihre Passionserzählungen ein: Streitgespräche, eine Wehe-Rede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, Gleichnisse sowie eine eschatologische Rede. Der Grundriss der Passionserzählung wird variantenreich aufgefüllt, wobei Johannes so weit geht, dass die Passionserzählung sein ganzes Buch dominiert. 16  Joh  5,18: ἐζήτουν … ἀποκτείνειν; vgl. 7,1.19 f.; 8,37.40, im Imperfekt oder Präsens, um das andauernde mörderische Trachten „der Juden“ zu brandmarken. Ζητέω in analogen Formulierungen auch in 7,30; 10,39. 17  Joh  6 ,64.70 f. 15 

50

I. Teil: Die Quellen

Ausdruck, dass es letztlich nicht um menschliche Feindschaft und Intrige geht, sondern um Gottes Heilsplan mit Israel und den Völkern. Von den Evangelien lässt sich deshalb mit Martin Kähler (1892) als „Passionsgeschichten mit verlängerter Einleitung“18 reden. Wenn Ernst Käsemann erklärte, die Passionserzählung des vierten Evangeliums „klappe nach, weil Johannes sie unmöglich übergehen, die überlieferte Gestalt jedoch auch nicht organisch seinem Werk einfügen konnte“19, so belehrt ein genauerer Blick eines Besseren: Jesu öffentliches Wirken ist bei Johannes insgesamt in die Passions- und Ostererzählung integriert und läuft auf sie zu. Der erste Teil seines Buches (Joh  2,1–12,50) ist ihr „Eingangsteil“. Mittelteil (B) Szene/Episode

Markus

Matthäus

Lukas

1.

Bereitung des Paschamahls

14,12–16

26,17–19

22,7–13

2.

Letztes Mahl – Fußwaschung – A nsage der Auslieferung durch Judas – Abendmahlsworte

14,17–25

26,20–30

22,14–38

[14,18–21]

[26,21–25]

[22,21–23]

[14,22–25]

[26,26–29]

[22,15–20]

3.

Letzte Worte/Reden

4.

Unterwegs nach Getsemani

14,26

5.

Ansage der Verleugnung des Petrus

6.

Johannes

13,1–30 [13,1–17] [13,10e.11.18.21– 30; vgl. 6,64.70]

22,24–38

13,31–17,26

26,30

22,39

18,1

14,27–32

26,31–35

22,31–34

13,37 f.

Getsemani

14,32–42

26,36–46

22,40–46

[12,27 f.; 14,31e]

7.

Gefangennahme

14,43–52

26,47–56

22,47–53

18,1–11.12

8.

Verhör vor Hannas

9.

14,53.55–65 26,57.59–68 Vor dem Synedrion bzw. dem Hohe­priester [14,54.66–72] [26,58.69–75] – Verleugnung des Petrus [14,65] – Verspottung durch [26,67  f.] die Synedristen – Sitzung des Synedrions am Morgen

18,19–23 22,66–71

18,24 [10,24 f.33–36]

22,54–62 22,63–65

[18,15–18.25–27] [18,22]

22,66–71

18  Kähler, Jesus 60 Anm.; Dormeyer, Überlegungen  233: „Die christliche Passionsakte wird […] zur Keimzelle der christlichen Ideal-Biographie ‚Evangelium‘, auf die wiederum die atl. Prophetenbiographie und die antike Biographie einwirken“. 19  Käsemann, Wille 23.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

Szene/Episode 10. Prozess vor Pilatus – nach morgendlicher Beschlussfassung Aus­lieferung an Pilatus – Suizid des Judas – A nklage und Verhör – vor Herodes – Barabbas-Amnestie/ Verurteilung Jesu – Traum der Frau des Pilatus – Verspottung/ Geiße­lung durch die Soldaten

Markus

Matthäus

Lukas

15,1–20b [15,1]

27,1–26 [27,1 f.]

23,1–5.13–25 18,28–19,16b […/ 18,28] [23,1]

[15,2–5]

[27,3–10] [27,11–14]

[Apg 1,18 f.] [18,29–38b; [23,2–5] 19,6–12] [23,6–12] [23,13–25] [18,38c–40] [19,13–16b]

[15,6–15]

[27,15– 18/20–26] [27,19]

15,16–20b

27,27–31c

51

Johannes

[19,1–5]

Der Mittelteil der Passionserzählung umfasst in allen vier Evangelien zwei größere Teile: Das letzte Zusammensein Jesu mit den Seinen    Das letzte Mahl (samt Vorbereitung)   Jesus mit den Seinen in einem „Garten“ (Joh  18) bzw. einem Grundstück namens „Getsemani“ (Synoptiker) Der Prozess Jesu    Prozess (Mk/Mt) bzw. Verhör (Lk/Joh) vor den jüdischen Autoritäten    Der römische Prozess (vor Pilatus)

Auf die Variationen dieser Grundstruktur in den einzelnen Evangelien wird unten einzugehen sein. Hier sei lediglich die abweichende Makrostruktur der joh. von der syn. Konzeption kurz erläutert: (1) Episode Nr.  1 (Vorbereitung des letzten Mahls) dient den Synoptikern dazu, den Paschamahl-Charakter der letzten Zusammenkunft Jesu mit den Seinen vorweg zu verdeutlichen. Wenn die Episode bei Johannes fehlt, entspricht das seiner Chronologie: Jesus stirbt zwar wie bei den Synoptikern am Tag vor dem Sabbat, aber dieser Sabbat fällt bei Joh mit Pascha zusammen. Deshalb ist auch das Mahl am Abend zuvor im Unterschied zu den Synoptikern kein Sedermahl, sondern ein Gastmahl mit besonderem Abschiedscharakter. Synoptiker Donnerstag

14. Nisan

Freitag (Todestag Jesu)

15. Nisan / PASCHA

Samstag (Sabbat)

Johannes „Rüsttag zum Paschafest“ 15. Nisan / PASCHA

Maßgebend für den Charakter des Mahls bei Johannes ist Jesu Fußwaschung, Zeichen von Gastfreundschaft in einem tieferen Sinn: Äußerlich betrachtet steht die Symbolhandlung während des Mahls für Jesu niedrigen Dienst im Tod, in Wahrheit aber für die Aufnahme der

52

I. Teil: Die Quellen

Seinen ins „Haus des Vaters“ (14,2–4): Indem er ihnen die Füße wäscht, heißt er sie im „Haus seines Vaters“ willkommen, so dass sie „Anteil“ an ihm haben (Joh  13,1–11; vgl. V.8)20 . Nach der zweiten Deutung 13,12–17 gibt er den Jüngern mit der Fußwaschung ein Beispiel geschwisterlicher Liebe, das sein Vermächtnis für die Zeit seiner Abwesenheit ist. Die Abschiedsreden Joh  13,31–17,26, die auf die Ansage des Verrats des Judas folgen, kreisen um die theologische Deutung seines Abschieds. In immer wieder neuen Ansätzen entwickeln sie eine eigene Theologie des Kreuzes (Joh  13,31–14,31; 15,1–16,4d; 16,4e–33; 17,1–26). (2) Alle vier Evangelien enthalten eine Garten-Episode, die jeweils mit Jesu Verhaftung endet. Aber anders als die Synoptiker bietet der vierte Evangelist kein Ringen Jesu im Gebet (Mk  14,32–42 par. Mt  26,36–46; Lk  22,40–46); er hat dieses christologisch überformt und nach Joh  12,27 f. vorgezogen (ebenso das Wecksignal 14,31e). (3) Nur Johannes erzählt von einem Hannas-Verhör. Eine amtliche Überstellung an Kajaphas erwähnt er nur kurz (Joh 18,24/28), das Verhör durch den amtierenden Hohepriester (vgl. Mk 14,53.55–64) spart er aus. Das hängt damit zusammen, dass er wichtige Prozess­ inhalte bereits in Joh  10 (vgl. V.24 f.36) vorwegnimmt, so die Frage „der Juden“, ob Jesus der Messias sei, und die Qualifizierung des Bekenntnisses der Gottessohnschaft als „Blasphemie“. Die bereits oben zu Tabelle A festgestellte Tendenz bestätigt sich: Die Vorwegnahme zentraler Verhörelemente als Abschluss und Höhepunkt der Auseinandersetzungen Jesu mit „den Juden“ in den Kapiteln Joh  5.7–10 unterstreicht deren durchgehenden Prozesscharakter: Was die Synoptiker in ihrer Passionserzählung in eine kurze Zeitspanne zusammendrängen, entfaltet der vierte Evangelist im anhaltenden „Rechtsstreit“ zwischen Jesus und „den Juden“ in der ersten Hälfte seines Buches. Deshalb sind auch die Verhöre vor Hannas und Kajaphas bei ihm so inhaltsleer. Alles, was wichtig ist, ist schon verhandelt worden (vgl. Joh  18,20 f.). (4) Anders als im dritten Evangelium, das auch Abschiedsreden bietet (Lk  22,24–38), verschiebt sich im vierten Evangelium infolge der ausgedehnten Reden Jesu (Joh  13,31–17,26) die Struktur der Passionserzählung. Ist deren „Eingangsteil“ die Klimax der ganzen ersten Hälfte des Evangeliums, so beginnt sie erst eigentlich mit der Gefangennahme Jesu (Nr  7 in Tafel B). Die Johannespassion im engeren Sinne bildet ein Drama in drei Akten: Akt I beinhaltet die Selbstauslieferung Jesu in die Hände seiner Gegner und sein Verhör durch die jüdischen Autoritäten (Joh  18,1–27), Akt II den Prozess vor Pilatus (Joh  18,28–19,16a) und Akt III, der dem entspricht, was in allen vier Evangelien der „Schlussteil“ C ist, den Kreuzweg und den Tod Jesu bis zu seinem Begräbnis (Joh  19,16b–42).

Schlussteil (C) Szene/Episode

Markus

Matthäus

Lukas

Johannes

1.

Abführung Jesu/ Simon von Kyrene

15,20c–21

27,31d–32

23,26.32

19,16c

2.

Die klagenden Frauen

3.

Kreuzigung auf Golgota (mit Kleiderverteilung)

15,22–27

27,33–38

4.

Initiative der jüdischen Oberen, den titulus zu entfernen

20 Vgl.

23,27–31

Theobald, Gastfreundschaft 187–191.

23,33 f.38

19,17–19 [23] 19,20–22

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

Szene/Episode 5.

Verlosung des Leibrocks und Vierteilung der Kleider

6.

Verspottung des Gekreuzigten durch – die Passanten – die Schächer

7.

Tod Jesu – Finsternis – letzte(s) Wort(e) Jesu/ Sterben – Vorhang des Tempels – Auferstehung der Toten – Centurio – Frauen am Kreuz

8.

Feststellung des Todes (Lanzenstich)

9.

Begräbnis Jesu

10.

Bewachung des Grabes

Markus

Matthäus

Lukas

53

Johannes 19,23–24

15,29–32b 15,32c

27,39–43 27,44

23,35–37 23,39–43

15,33–41 [15,33] [15,34–37]

27,45–56 [27,45] [27,46–50]

23,44–49 [23,44] [23,46]

[15,38]

[23,45] [27,51a] [27,51b–53] [23,47–48] [27,54] [27,55–56] [23,49]

[15,39] [15,40–41]

19, 25–30 [19,28–30]

[19,25–27] 19,31–37

15,42–47

27,57–61

23,50–56

19,38–42

27,62–66

Die vierfache Darstellung des „Kreuzwegs“ Jesu gibt auch zu erkennen, dass die vier Erzählungen einem identischen Grundriss folgen, den sie unterschiedlich auffüllen. Sie beginnen mit der „Abführung“ Jesu durch die Soldaten, erzählen von seiner Kreuzigung, beschreiben ihre Umstände wie die Kleiderverteilung oder die Verspottung des Gekreuzigten und gipfeln in Jesu letzten Worten und der Feststellung seines Todes. Den Abschluss bildet die Erzählung vom Begräbnis Jesu. Aufgefüllt ist das Grundgerüst der vier Fassungen mit je unterschiedlichen Episoden: bei Matthäus in Nr.  7 (Erschütterung der Erde anlässlich des Todes Jesu mit nachfolgender Auferstehung der Toten) und mit Nr.  10 (Bewachung des Grabes durch Soldaten); bei Lukas mit der Nr.  2 (die klagenden Frauen am Kreuzweg Jesu); bei Johannes mit der Nr.  4 (Initiative der jüdischen Oberen, den titulus zu entfernen), Nr.  5 (die Verlosung des Leibrocks und die Vierteilung der Kleider), in Nr.  7 (letzte Worte Jesu an seine Mutter und den geliebten Jünger) und mit Nr.  8 (Feststellung des Todes [Lanzenstich]).

Offensichtlich gab vor allem die Kreuzigung Jesu Anstoß zu einer kreativen Fortschreibung, die sich u. a. des Mittels der Einführung weiterer Erzählfiguren wie der „klagenden Frauen“, der Mutter Jesu und des geliebten Jüngers bedient 21.

21 Die Rezeption der Texte mit ihren frömmigkeitsgeschichtlich bedeutsamen Bildern vom „Kreuzweg“ Jesu konnte daran anknüpfen; siehe unten Exkurs 10: Menschen am Kreuzweg und auf Golgota.

54

I. Teil: Die Quellen

(Österlicher) Epilog (D) Szene/Episode

Markus

Matthäus Lukas

Johannes

1.

Auffindung der leeren Grabkammer samt Auftritt eines himmlischen Boten (bzw. deren zwei)

16,1–8

28,1–7

24,1–11

20,1 (weiter in 20,11–13)

2.

Rückkehr der Frauen zu den Aposteln

28,8

24,10 f.

20,2

3.

Grabvisite Petri (und des Lieblingsjüngers)

24,12

20,3–10 20,11–13 (= 1.)

4.

Erscheinung Jesu vor den Frauen bzw. Maria Magdalena

28,9–10

5.

Betrugsversuch der Hohenpriester

28,1–15

6.

Der Gang zweier Jünger nach Emmaus und Erscheinung Jesu

24,13–35

7.

Erscheinung Jesu in Jerusalem vor den Jüngern „am Abend des ersten Wochentags“

24,36–43 20,19–23

8.

Erscheinung Jesu vor Thomas

20,24–29

9.

Erster Schluss des Joh

20,30 f.

10. Erscheinung Jesu in Galiläa vor den Jüngern

20,14–18

28,16–20

11. Erscheinungen Jesu in Galiläa vor sieben Jüngern 12. Himmelfahrt Jesu und letzte Worte 13. Zweiter Schluss des Joh

21,1–23 24,44–53 21,24 f.

Der Epilog hebt sich von den bisherigen Teilen der Passionserzählungen markant ab: Die vier Fassungen stimmen stofflich nur in der Eröffnungsszene von der Auffindung der leeren Grabkammer durch die Frauen (Nr.  1) überein, danach verzweigen sie sich erheblich. Dennoch tauchen noch überraschende Berührungen auf: zwischen Johannes und Lukas (Nr.  2 f. und 7) bzw. Johannes und Matthäus (Nr.  4). Das jeweilige Sondergut prägt das Gesicht der Erzählungen (Mt: Nr.  5 + 10; Lk: Nr.  6 + 12; Joh: Nr.  8 + 11). Die voranstehenden Tafeln dokumentieren die Übereinstimmungen der vier Passionserzählungen in struktureller und stofflicher Hinsicht. Wie die spätere Analyse zeigen wird, reichen sie bis in einzelne Formulierungen hinein. Andererseits gibt es mannigfache Unterschiede, sowohl in der Anordnung und je individuellen Darbietung der Stoffe als auch in den „Zuwächsen“ der einzelnen Evangelisten. Wie dieser komplexe Befund zu erklären ist, wird Gegenstand der diachronen Untersuchung sein. Zunächst soll es um wichtige literarische Besonderheiten gehen, die alle vier Erzählungen auszeichnen.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

55

1.2 Literarische Besonderheiten der kanonischen Passionserzählungen Die Passionserzählungen bedienen sich in einer Intensität der Schriften Israels, wie das bei kaum einem anderen neutestamentlichen Text der Fall ist 22 . Das reicht von geprägten Motiven, Anspielungen und Zitaten bis hin zu ganzen Texten, die prägend auf sie eingewirkt haben (1.2.1). Die diachrone Frage, die dieser Befund provoziert, lautet: Generierte die Schrift die Passionserzählung oder löste umgekehrt diese erst Bezugnahmen auf die Schrift aus? Mit der Schriftmatrix der Erzählungen hängt ein weiteres Merkmal zusammen: ihre mimetische oder identifikatorische Kraft (1.2.2). Sowohl die Intensität ihres Schriftbezugs als auch ihre mutmaßliche Funktion, die Glaubensidentität der ersten Leserschaft zu vertiefen, verrät deshalb drittens einiges über ihre Intention und Pragmatik (1.2.3). 1.2.1 Die Schrift Israels, die Matrix der Passionserzählungen Das alte Bekenntnis 1Kor  15,3c–5, dessen Kernbestand wohl aus der Jerusalemer Gemeinde stammt, erklärt in seinem ersten Satz: „Christus ist gestorben für unsere Sünden gemäß den Schriften (κατὰ τὰς γραφάς)“. Diese Aussage muss nicht auf einen bestimmten alttestamentlichen Text abzielen, sie kann auch grundsätzlich gemeint sein 23: Leiden und Tod Jesu entsprechen dem Willen Gottes, wie er in den Schriften Israels zum Ausdruck kommt. Solche Feststellung der „Entsprechung“ und „Korrelation“ ist der „Ursprung christlicher Theologie“24. Wie Paulus in 1Kor  15,3 erklärt auch Markus nach Jesu Verhaftung in Getsemani programmatisch: „aber [dies geschieht,] damit die Schriften erfüllt würden (ἵνα πληρωθῶσιν αἱ γραφαί)“ (14,49). Diesem Grundsatz gehorcht die Gestaltung der Passionserzählungen insgesamt. 1.2.1.1 Zitate – Anspielungen – Motive Die in der neutestamentlichen Wissenschaft übliche Einteilung von Schriftbezügen in Zitate, Anspielungen und geprägte Motive ist bei den Passionserzählungen nur unter Vorbehalt brauchbar. Die suggerierte Vorstellung punktueller Bezugnahmen auf den Quelltext wird dem Charakter dieser Erzählungen nicht gerecht. Die Schriften bieten ihnen nicht nur vereinzelte Bezugspunkte, sie sind ihr Mutter­ boden 25. Dennoch seien die Kategorien der Übersicht halber hier benutzt 26 . 22  Aitken, Death 32 (u. ö.), betont zu Recht, dass „die Schriften“ in der frühen Traditionsbildung noch nicht als Arsenal von Beweistexten fungieren, sondern überhaupt erst Sprache und Denkmuster bereitstellen, um vom Tod Jesu sprechen zu können. 23  Lindemann, 1Kor 330. 24  Löning, Memoria 141: „Die urchristliche Hermeneutik der Lektüre alttestamentlicher Texte gehört an den Ursprung christlicher Theologie […]“; Janowski, Psalmen 397–413. 25  Vgl. die grundsätzlichen Verweise auf die Schriftgemäßheit bzw. Notwendigkeit der Schrift­ erfüllung in der Passion Jesu Mk  14,21 par. Mt  26,24; Mk  14,49 par. Mt  26,54.56; Lk  22,37. 26  Brown, Death II 1445–1467 („Appendix VII: The Old Testament Background of the Passion Narratives“), bietet einen Überblick, der nach den Corpora des AT gegliedert ist, mit besonderer Berücksichtigung von Ps  22. Vgl. auch Omerzu, Rezeption 38–41.

56

I. Teil: Die Quellen

Zitate sind an ihrer ausdrücklichen Markierung erkenntlich, etwa an Einführungsformeln (= EF), z. B. Mt  26,31: „denn es steht geschrieben“27, oder daran, dass ein Satz oder Satzteil eines Quelltextes syntaktisch ausreichend identifizierbar oder integer in seinen neuen Kontext eingebettet ist, z. B. Mk  15,24. Eine Anspielung liegt vor, wenn eine Kombination mindestens zweier signifikanter Elemente oder ein seltenes Syntagma auf einen bestimmten Quelltext verweist, z. B. Mk  11,17: σπήλαιον λῃστῶν = „Räuberhöhle“. Motive sind geprägte Bedeutungsträger, die kontextuell etwa daran erkenntlich sind, dass sie zum Cluster von Anspielungen und Zitaten in ihrer Umgebung passen. Ein Beispiel ist die „List (δόλος)“, die mehreren biblischen Texten zufolge typisch für das Handeln der Feinde des Gerechten ist. Zu allen drei Kategorien ist einschränkend zu sagen, dass die Identifikation entsprechender Bezüge auch an der jeweiligen Kompetenz des Lesers hängt. Ob ein Satz oder Satzteil eines Quelltextes im gegebenen Text syntaktisch ausreichend identifizierbar ist, bemisst sich an seiner Schriftkenntnis. Was heute möglicherweise nicht als geprägtes Motiv, Anspielung oder Zitat durchschaut werden kann oder sich nur anhand einer Konkordanz identifizieren lässt, konnten die intendierten Erstleser vielleicht umstandslos als intertextuellen Bezug ­realisieren. Hier bleiben Unschärfen.

1. Zitate Markus A. Eingangsteil

Matthäus

Lukas

21,5 (EF)

11,9b.c

21,9b.c

11,10b

21,9d

11,17 (EF)

21,13 (EF)

Johannes

19,38b.c

12,13d.e

19,46 (EF)

Jes  56,7 Ps  8 ,3

[14,18] (vgl. Tab. 2) (15,28) 29 14,27 (EF)

2,17b (EF)

Ps  69,10

13,18 (EF) (vgl. Tab.  2)

Ps  41,10

22,37 (EF) 26,31 (EF)

Jes  53,12 [16,32?]

15,24

27,35 27,43

Sach  13,7 Sach  11,1330

27,9 f. (EF) C. Schlussteil

Ps  118,25 f. Ps  148,1c

21,16 (EF) B. Mittelteil

Schriftstellen

12,14 f. (EF) Sach  9,928+Jes  62,11 (Mt) bzw. Jes  40,9/ Zef  3,16 (Joh)

23,34b

19,24e–g (EF)

Ps  22,19 Ps  22,9

27 Vgl. auch die Formel von der Erfüllung der Schriften: Mt   27,9; Lk  22,37; Joh  19,24.28.36 (ohne Bezug auf eine Schriftstelle: Mt  26,54.56; Mk  14,49); bei Mt begegnet die Formel ab 1,22, bei Joh erst ab 12,38. 28  Zur Bedeutung des Buches Sacharja für die Passionserzählungen siehe Bruce, Book. 29  Textkritisch sekundär. 30  Mt schreibt das (ihm vorgegebene) Mischzitat, dessen erste Hälfte V.9 sich an Sach  11,13 anlehnt, wegen der Anspielungen in der zweiten Hälfte V.10 auf die Rede vom Töpfer und Acker in Jer  18; 19,1–13 und Kap.  32 pauschal Jeremia zu; vgl. Luz, Mt IV 230 f.; Konradt, Mt 429 f.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

Markus

Matthäus

15,34

27,46

Lukas

Johannes

57

Schriftstellen Ps  22,231

23,46

Ps  31,6 19,36 (EF)

Ex  12,10.46; Num  9,12; Ps  34,21

19,37 (EF)

Sach  12,10

Schriftzitate, insbesondere „Erfüllungszitate“, sind Indizien fortgeschrittener Schrift­ reflexion. Etliche von ihnen dürften sekundär sein, z. B. Joh  13,18, wo Ps  41,10 zitiert wird (Mk  14,18 bietet lediglich eine Anspielung) oder Mt  27,43, wo ein redaktioneller Zusatz zu Mk-Passage vorliegt. Zitate, die mit einer Einleitungsformel versehen sind, werden von den Erzählern benutzt32 , begegnen aber vor allem in der Rede des Protagonisten Jesus33. 2. Anspielungen Markus

Matthäus

Lukas

Johannes

11,17 („Räuberhöhle“)

Jer  7,11 26,15; 27,3.(9)

1. Letztes Mahl

14,18: „der mit mir Essende“ (vgl. V.20)

2. Getsemani 14,34: „betrübt ist meine Seele zum Tod“

Schriftstellen

[26,21]

34

Sach  11,12 f. [13,18]

26,38

35

Ps  41,1036

Ps  42,6.12; 43,5; 55,2–6 12,27

Ps  6 ,4 f.; 31,10

31  Zur griechischen und aramäischen Transkription Mk  15,34 siehe A.Y. Collins, Mk 730 f.; Schwemer, Worte 12–14. Klingt Ps  43,2: ‫„ = למה זנחתני‬Warum hast du mich verstoßen?“ mit an (Suhl, Funktion 296 f.)? 32  In Teil A: Mt  21,4 f. par. Joh  12,14 f.; Joh  2 ,17; in Teil B: Mt  27,9 f.; in Teil C: Joh  19,24e–g; 36.37. 33  In A: Mk  11,17 par. Mt  21,13/Lk  19,46; Mt  21,16; Lk  2 2,37; in B: Mk  14,27 par. Mt  26,31; auch Lk  22,37; Joh  13,18. An zwei Stellen begegnet im Mund Jesu die Formel von der Erfüllung der Schriften ohne Bezug auf eine bestimmte Schriftstelle, in Mk  14,49 und Mt  26,54; Mt  26,56 ist strittig, dürfte aber eine „Erzählerbemerkung“ sein (Luz, Mt IV mit Anm.  87). – Aletti, Mort 147–160, deutet den Befund insgesamt so, dass die Erzähler „le rôle d’herméneute“ (154) bis zu seiner Gefangennahme Jesus zuweisen, um sich selbst mit Schriftreflexionen zurückzuhalten (siehe vorige Anm.) – anders die joh. Darstellung (vgl. Joh  19,24.28.36 f.). 34  Mt hat die Reminiszenz an Ps  41,10 „getilgt, vielleicht weil der Psalter für ihn keine theologische Beweiskraft hat“ (J. Gnilka, Mk II 236 Anm.  10, vgl. auch Luz, Mt IV 88); in 27,34 verfährt er aber genau umgekehrt, weshalb es näher liegt, dass er den Text glätten wollte: „der mit mir Essende“ (Mk) nimmt die nachfolgende Antwort Mt  26,23 (par. Mk  14,20) vorweg (siehe unten II.  5.3). 35  Von Joh in ein explizites Zitat mit Einführungsformel umgewandelt, siehe Tabelle 1. 36  Ps  41,10: „Sogar der Mann meines Friedens, dem ich vertraute, der mein Brot aß (LXX: ὁ ἐσθίων ἄρτους μου) hat großgetan (= geprahlt) gegen mich“ (Übersetzung Janowski, Konfliktgespräche 181); zur „Nachgeschichte“ des Psalms „in Judentum und Christentum“ ebd. 193–196.

58

I. Teil: Die Quellen

Markus

Matthäus

Lukas

Johannes

14,38: „der Geist 26,41 ist willig […]“ 3. Vor dem Synedrion

Ps  51,14

14,62c: „sitzend zur Rechten der Kraft“

26,64d

22,69

Ps  110,1

14,62d: „Menschensohn […] kommend mit den Wolken des Himmels“

26,64e

22,69 [„Menschensohn“]

Dan  7,13

14,65: „einige begannen ihn anzuspucken (ἐμπτύειν) … und die Diener empfingen ihn mit Ohrfeigen (ῥαπίσμασιν)“

26,67 f.

Jes  50,6; 53,537

15,1: „sie fes­sel­ten und führ­ten Jesus ab“

27,2

Jes  3,10LXX38

27,24

Ps  25,6aLXX 39

27,9 f.

Jer  32,8 f.

4. Vor Pilatus 5. Kreuzigung

Schriftstellen

Spr  31,6 f.

15,23: „mit Myrrhe gemischter Wein“

Ps  69,22a40

27,34: „Sie gaben (ἔδωκαν) ihm Wein zu trinken, vermischt mit Galle (χολῆς)“ 15,27: „mit ihm kreuzigen sie zwei Räuber“

27,38

23,33

19,18

Jes  53,12 (?)41

37  Jes  50,6LXX: „Meinen Rücken habe ich Geißelhieben ausgesetzt, meine Wangen aber Ohrfeigen (ῥαπίσματα), mein Gesicht aber wendete ich nicht ab von der Schande des Bespucktwerdens (ἐμπτυσμάτων)“. – Dibelius, Motive 240; Maurer, Knecht 118. 38  Jes  3,10LXX: „Lasst uns den Gerechten fesseln (δήσωμεν τὸν δίκαιον), denn er ist uns lästig“. 39  Ps  25,6a LXX: „Unter Unschuldigen (ἐν ἀθῴοις) werde ich meine Hände waschen“; Mt  27,24: ἀθῷός εἰμι ἀπὸ τοῦ αἵματος τούτου (vgl. 2Sam  3,28; Sus  46  Θ [Dan  13,46]; Apg  20,46). 40  Ps  69,22a.b: „Sie gaben (LXX: ἔδωκαν) mir als Speise Gift (LXX: χολήν = Galle) / und [puren] Essig als Trank gegen den Durst (LXX: καὶ εἰς τὴν δίψαν μου ἐπότισάν με ὄξος)“; V.20 f. entfalten das Motiv der Verspottung des Gerechten („du, ja du kennst meine Verhöhnung …“), weshalb eine Verknüpfung mit Ps  22,7–9 nahe lag. 41  Die Anspielung wird durch das nachträglich in einer Vielzahl von Textzeugen in Mk  15,28 interpolierte Erfüllungszitat von Jes  53,12 bestätigt.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

Markus

Matthäus

Lukas

15,29: „die ihre 27,39 Köpfe schütteln“ 15,30–32: „hilf dir selbst […]“44

27,40–43 (vgl. Tab. 1)

Schriftstellen Ps  22,8b42; Ps  109,25b43

(23,35)

Ps  22,945; 55,2346; Weish  2,17 f.47 Amos  8 ,948

15,33: „Und als es sechste Stunde wurde, kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde“.

Ps  69,22 19,28 („mich dürstet“) +29 („Schwamm voll von Essig“)

27,(34.)48 15,36: „füllte einen Schwamm mit Essig (ὄξους) […] und gab ihm zu trinken (ἐπότιζεν αὐτόν)“ 15,40: „es 27,55 schauten aber auch Frauen von ferne zu“49

Johannes

59

23,49

Ps  38,12b; 88,9

42 Ps   22,8: „Alle, die mich sehen, verspotten mich, verziehen den Mund und schütteln den Kopf“ (+ direkte Rede in V.9); vgl. auch Klgl  2,15 (jetzt auch am Rand von Nestle28 vermerkt): „Alle, die des Wegs ziehen, schlagen die Hände zusammen über dich, sie zischen und schütteln ihren Kopf über die Tochter Jerusalem: Ist das die Stadt, von der man sagt: Vollkommene Schönheit! Eine Wonne für die ganze Welt!“ 43  Ps  109,25: „Ich bin ihnen zum Gespött geworden, sehen sie mich, so schütteln sie ihr Haupt“ (ohne anschließende Spottrede). 44  Die hierzu rechts aufgeführten Psalmverse berühren sich mit Mk teils nur im Stichwort σῴζω, aber ihre Form ist prägend: Wie in Mk  15,29d–30/31b–32 liegt jeweils direkte Rede von Spöttern vor. 45  Ps  2 2,9: „Er wälze die Last auf den Herrn, der helfe ihm heraus und rette (σωσάτω) ihn, hat er Gefallen an ihm“. 46  Ps  55,23: „Wirf deine Sorge auf den Herrn, er hält dich aufrecht! Er lässt den Gerechten niemals wanken“. Im Unterschied zu den angezeigten Schrifttexten zielt der Spott der Passanten bei Mk allerdings auf die eigene Vollmacht des Gekreuzigten, selbst ein Zeichen wirken zu können, nicht auf sein Vertrauen auf Gott, dass der ihn rettet. Anders Mt! 47  Weish  2 ,17 f.: „Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind, / und prüfen, wie es mit ihm ausgeht. / Ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes, / dann nimmt sich Gott seiner an / und entreißt ihn der Hand seiner Gegner.“ 48  „Und an jenem Tag, Spruch Gottes des Herrn, lasse ich die Sonne untergehen am Mittag, da bringe ich Finsternis über die Erde am helllichten Tag“. LXX: συσκοτάσει ἐπὶ τῆς γῆς ἐν ἡμέρᾳ τὸ φῶς. 49 J. Gnilka, Mk II 314: „Wenn sie (sc. die Frauen) ‚von weitem‘ zuschauen, ist dies vermutlich eine Anspielung auf Ps  38,12“.

60

I. Teil: Die Quellen

Die aufgelisteten Anspielungen belegen, wie stark die Passionserzählungen vom Psalter und anderen alttestamentlichen Texten „imprägniert“ sind, was vor allem für die Kreuzweg-Szene gilt. 3. Geprägte Motive Markus

Matthäus Lukas

Die Frevler trachten 14,1.55 dem Gerechten nach dem Leben

22,4.59

„List“ der hohen Priester etc.

14,1

26,4

Abwendung selbst der Freunde vom Gerechten 50

14,18.20 26,23

Falsche Zeugen

14,56

Die Frevler erheben sich

14,57.60 26,62

Das Schweigen Jesu

14,61; 15,4 f.

Johannes Schriftstellen

22,2

Ps  37(36),32; 38,37; 54(53),5; 86,14; vgl. 71,10 f. Ps  10,7 f.; 35,20; 36,4; 52,2; 55,12.24

22,21

13,18

26,60

26,63; 27,14

Ps  31,12; 41,10; 55,13–15; Vgl. Obd  7; Sir 20,16 Ps  27,12; 35,11 Ps  35(34),11; 54(53),5; 86(85),14

23,9

19,9

Ps  38,14 f.; Jes 53,7

Die biblisch geprägten Motive zeichnen sich bei Markus und Matthäus deutlich ab, bei Lukas und Johannes scheinen sie teils zu verblassen. Wieweit das Motiv des Schweigens Jesu biblisch generiert ist, bedarf im Kontext der historischen Analyse eigener Erkundung51. 1.2.1.2 Die Prägekraft ganzer Schrifttexte: Ps  2 , Ps  22 und Weish  1 f. + 4 f. Die Passionserzählungen nehmen nicht nur punktuell auf die Schrift Bezug. Mit Ps  2 und 22 sowie möglicherweise auch Weish  1 f. + 4 f. gibt es drei größere Texte, die als ganze die Passionserzählungen imprägniert haben. Psalm  2 Ps  1 und 2 sind „das Proömium des Psalters“52 . Während der erste Psalm den idealen Torafrommen preist, präsentiert der zweite den von Gott eingesetzten idealen König, nach der Lesart des frühen Judentums: den davidischen Messias. Der Text ist von größter Bedeutung für die Passionserzählungen. Nirgendwo sonst im Alten 50 Der Topos scheint auch dort wirksam, wo keine Anspielung (wie Mk   14,18) oder Zitat (Joh  13,18) vorliegt. 51  Siehe unten III.  2.6.1.2; vgl. Theobald, Frage 233–265. 52  Hartenstein/Janowski, Psalmen I 1–6.120–122: Ps   2,1–12a „bildete einmal den Prolog des ‚messianischen Psalters‘ Ps  *2–89“ (120); vgl. Zenger, Psalter 36–38. – Einige Handschriften von Apg  13,33 zählen Ps  2 als ersten.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

61

Testament finden sich die drei christologischen Titel König – Gesalbter (Messias) – Sohn (Gottes) so dicht beieinander wie hier53 . 1 Warum toben die Völker, warum ersinnen die Nationen nichtige Pläne? 2 Die Könige der Erde stehen auf, die Großen tun sich zusammen gegen den HERRN und seinen Gesalbten (κατὰ τοῦ ­χριστοῦ αὐτοῦ): 3   Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke! 4 Er, der im Himmel thront, lacht, der HERR verspottet sie. 5 Dann spricht er in seinem Zorn zu ihnen, in seinem Grimm wird er sie erschrecken: 6   Ich selber habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg54. 7 Den Beschluss des HERRN will ich kundtun. Er sprach zu mir:  Mein Sohn (υἱός μου) bist du.   Ich selber habe dich heute gezeugt. 8   Fordere von mir,   und ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Eigentum die Enden der Erde. 9   Du wirst sie zerschlagen mit eisernem Stab,   wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern. 10 11 12

Nun denn, ihr Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch warnen, ihr Richter der Erde! Mit Furcht dient dem HERRN, jubelt ihm zu mit Beben, küsst den Sohn55 damit er nicht zürnt und euer Weg sich nicht verliert, denn wenig nur und sein Zorn ist entbrannt.



Selig alle, die bei ihm sich bergen!

Wie Gott seinen „König“ auf dem Zion weiht, seinen „Sohn“ und seinen „Gesalbten“ vor den „Königen“, „Großen“ und „Richtern“ der Erde (V.2.10), so wird auch Jesus auf dem Zion vom Kreuz her als „Gesalbter“, „König“ und „Sohn Gottes“ vor aller Welt offenbar. Ps  2 liefert der Passionserzählung ihr christologisches Grundmuster. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der drei Titel auf die Markus­ passion:

53 

Übersetzung: EÜ 2016; zu Ps  2LXX vgl. Hong, Septuaginta-Psalter 71–99. LXX: „Ich bin ja von ihm eingesetzt als König (βασιλεύς)“. Ebd. 96: „Anders als in der hebräischen Überlieferung ist in der Septuaginta der gesamte Psalm als Rede des Gesalbten gestaltet“. 55  LXX: „Ergreift die Unterweisung (δράξασθε παιδείας)“. 54 

62

I. Teil: Die Quellen

Frage des Hohepriesters

titulus Fragen des Pilatus Spott der Spott der Soldaten Sanhedristen crucis

Mk  11,10

Mk  14,61

Mk  15,2/9/12/18

Gepriesen (sei)

Bist du der Messias,

Bist du

Einzug Jesu in Jerusalem

die Königsherrschaft unseres Vaters David, die kommt.

der Sohn des Hochgelobten?

der König der Juden?

Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe?

Mk  15,32

Mk  15,26

Der Messias,

der König Israels,

der König der Juden

Hauptmann am Kreuz Mk  15,39 Wahrhaftig, dieser Mensch war (ein) Sohn Gottes.

steige er herab vom Kreuz […]!

Was also wollt ihr, soll ich tun mit dem, den ihr nennt den König der Juden? Sei gegrüßt, König der Juden!

Die Rede vom „König“ und seinem „Königreich“ ist Leitmotiv der Erzählung. Die beiden anderen Titel „Gesalbter“ und „Sohn“ sind, wie der Prätext Ps  2 belegt, mit „König“ synonym. Aus der Sicht der Passionserzählung und ihrer messianischen Schriftlektüre bildet der Psalter das Geschick nicht lediglich des von seinen Gegnern verfolgten „Gerechten“ oder Frommen (vgl. auch zu Weish  2) ab56 , sondern das des leidenden und verfolgten Davidssohns. Er ist es, der Jesus präfiguriert57. Psalm  22 Die Bedeutung von Ps  22 für die Passionserzählungen kann nicht überschätzt werden58 . Die Kreuzigungserzählung ist in Wortlaut und Rhetorik von ihm bestimmt,

56 

Ruppert, Gerechte; ders., Jesus. Siehe unten I.  1.2.1.4. 58  Lührmann, Mk 263: Ps  2 2 ist der „Deutehorizont des Geschehens“. 57 

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

63

die Ostererzählung zumindest thematisch. Denn nicht nur die Klagen und Bitten der ersten Hälfte des Psalms sind zu berücksichtigen (V.2–22bα), auch seine zweite Hälfte mit Danklied und endzeitlichem Lob (V.22bβ–32) 59: Psalm 22 Rezeption im NT 2 a Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen60 , Mk   15,34 par. Mt  27,46 b (der du) fern (bist) von meiner Rettung, den Worten   meines Schreiens? 3 a ‚Mein Gott!’ rufe ich bei Tag, doch du antwortest nicht, b und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe. 4 5 6

a b a b a b

Aber du bist heilig, thronend auf den Lobgesängen Israels. Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du hast sie gerettet. Zu dir riefen sie und wurden frei, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

7 a Ich aber bin ein Wurm und kein Mann (mehr), b ein Spott der Menschen und verachtet vom Volk 8 a Alle, die mich sehen, verlachen mich, b sie verziehen die Lippen, schütteln den Kopf (vgl. Ps 109,25; Ijob 16,4): 9 a   ‚Wälze (es) auf Jhwh’, ‚Er soll ihn retten (ῥυσάσθω), b   er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm!’ 10 11 12

Mk  15,30–32 Mt 27,39; Mk  15,29

a Ja, du bist es, der mich aus dem Mutterleib hervorzog, b mir Vertrauen einflößte an den Brüsten meiner Mutter! a Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an, b vom Leib meiner Mutter an bist du mein Gott (vgl. Ps 71,6). a Sei nicht fern von mir, b   denn die Not ist nahe, c    ja, es gibt keinen Helfer!

13 a b

Umgeben haben mich viele Stiere, die ‚Starken Basans’ haben mich umstellt.

59  Übersetzung (Masora) nach Janowski, Konfliktgespräche 348 f.352 f. (in runden Klammern LXX). Zur Gliederung des Psalms (insbesondere V.22) und seinen Gattungselementen ebd. 350– 352 und Hossfeld, Ps I 144–151. 60  D. Michel, Eigentümlichkeit 21: „lama fragt nach dem bei einem Geschehen intendierten oder immanenten Sinn“; ebd. 22: „für deutsches Sprachempfinden wirkt die Frage ‚warum hast du mich verlassen?‘ als rückwärtsgewandte Frage nach einer Information über einen vorliegenden Sachverhalt. […] Wir hatten aber gesehen, dass die lama-Frage gerade nicht in dieser Weise in der Vergangenheit bohrt und nach einem aufweisbaren Grund fragt. Adäquater wäre die paraphrasierende Wiedergabe: ‚Wozu hast du mich verlassen?‘, ‚Was hast du dir dabei gedacht, dass du mich verlassen hast?‘. Damit aber ergeht die Frage von einer anderen Haltung aus als die Frage nach einem aufweisbaren Grund. Der Beter setzt voraus, dass Jahwe bei seinem Handeln, auch wenn der Mensch es als ein Verlassen empfindet und keinen Sinn erkennen kann, doch einen Sinn hat, ein Ziel, auf das hin er handelt und man erfragen kann“.

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I. Teil: Die Quellen

14 a Aufgerissen haben sie (schon) gegen mich ihr Maul: b ein Löwe, reißend und brüllend. 15 a Wie Wasser bin ich hingeschüttet, b und gelöst haben sich alle meine Gebeine, c geworden ist mein Herz wie Wachs, d zerflossen inmitten meiner Eingeweide. 16 a Trocken wie eine Scherbe ist meine (Lebens-)Kraft, b und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, c und in Todesstaub legst du mich nieder. 17 a Ja, mich haben Hunde umringt, b eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist! c Zu kurz sind61 meine Hände und Füße (ὤρυξαν χεῖράς μου καὶ πόδας), Lk   24,39; Joh  20,20.25.27 18 a ich kann alle meine Gebeine zählen. b Sie aber blicken (immer wieder) her, sehen auf mich, 19 a sie teilen meine Kleider unter sich, Mk  15,24 b und über mein Gewand werfen sie das Los. Joh  19,24 20 21 22

a b a b a b

Aber du, Jhwh, sei nicht fern, meine Stärke, eile mir doch zu Hilfe (εἰς τὴν ἀντίλημψιν)! Entreiß doch dem Dolch mein Leben [næpæš], aus der Gewalt des Hundes ‚meine Einzige’! Rette mich vor dem Rachen des Löwen, (vgl. 2Tim  4,17) vor den Hörnern der Wildstiere – du hast mir geantwortet!

23 a Ich will deinen Namen meinen Brüdern erzählen, Mt  28,10; Joh  20,17 b inmitten der Gemeinde (ἐν μέσῳ ἐκκλησίας) will ich   dich loben. (Hebr  2,12; Barn  6 ,16) 24 a Die ihr Jhwh fürchtet, lobt ihn, b aller Same Jakobs, ehrt ihn, c und erschauert vor ihm, aller Same Israels! 25 a Denn er hat nicht verachtet und nicht verabscheut das Elend   des Armen, b und er hat sein Gesicht nicht verborgen vor ihm, c und auf sein Schreien zu ihm hat er gehört.. 26 a Von dir (kommt) mein Lobpreis in großer Gemeinde, b meine Gelübde erfülle ich vor denen, die ihn fürchten. 27 a Essen sollen Arme und satt werden, b loben sollen Jhwh, die ihn suchen; c aufleben soll euer Herz für immer. 28 a Es sollen gedenken und zu Jhwh umkehren alle Enden der Erde, b und niederfallen sollen vor deinem Gesicht alle Geschlechter der Völker,

61  So im Anschluss an Gese, Psalm  2 2 182 f., der eine Verbform der 3. Pers. Pl. eines aram. ‫= כרי‬ „kurz sein“ annimmt; 5/6ḤevPs 11,12 bezeugt gegen die MasoraL mit wenigen anderen Masora-­ Zeugen ein ‫( כארו‬von ‫„ = כרו‬bohren“ oder „wickeln“?), was der LXX-Übersetzung entspräche: „sie haben meine Hände und Füße durchbohrt“. „Dieser Befund ist möglicherweise ein weiteres Indiz für die apologetische Redaktion der Masoreten, die sich hier von der christlichen ‚Vereinnahmung‘ des Psalms als Deutefolie der Passion Jesu abgrenzt“ (Omerzu, Rezeption 54).

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1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

29 a denn Jhwh gehört das Königtum, b und er herrscht über die Völker! 30 a Ja, es aßen und fielen anbetend nieder alle Fetten der Erde; b vor ihm sollen sich beugen alle, die in den Staub hinabsteigen /   hinabgestiegen sind, c und wer (immer) sein Leben [næpæš] nicht bewahrt hat62 . 31 a Nachkommenschaft soll ihm (sc. Jhwh) dienen, b erzählen soll man von Adonaj dem Geschlecht derer, die kommen werden, 32 a und man soll verkünden seine Gerechtigkeit dem Volk, das noch geboren wird: b dass er (es / sie [die Gerechtigkeit]) getan hat.

Hartmut Gese63 war der erste, der 1968 eine gegenläufige Bezugnahme der markinischen Kreuzigungserzählung auf Ps  22 beobachtet hat: Teilung der Kleider Kopfschütteln der Passanten Verspottung des Gerechten Invocatio („Mein Gott, mein Gott“) + Wozu-Frage

Mk  15 V.24 V.29 V.30–32 V.34

Ps  22 V.19 V.8 V.7–9 V.2

Die Invocatio V.2, mit der der Psalm einsetzt, ist der Fluchtpunkt oder die Klimax der markinischen Erzählung. Das Klagelied Ps  22,2–22 wird gleichsam „von hinten her aufgerollt“64. „Die beschriebene Gegenläufigkeit ergibt sich daraus, dass im Kreuzigungsbericht entsprechend der narrativen Chronologie die Schilderung der Feindbedrängnis – Teilung der Kleider (V.24), Kopfschütteln der Vorbeigehenden (V.29) und Verspottung des Gerechten (V.30 f.) – als der die Dramatik des Geschehens auslösende Faktor am Anfang steht, während die klagende ‚Wozu‘-Frage (V.34) am Ende der Erzählung folgt […]“65. Beachtlich ist die direkte Rede der Frevler in Ps  22,9, ein Stilmittel, das auch andernorts im Psalter zur Anwendung kommt66 . So wird die Feindschaft der Frevler regelrecht in Szene gesetzt. Entsprechend geht die Passionserzählung vor. Justin, der in einer Art Exkurs im „Dialog mit Trypho“ den ältesten christlichen Kommentar zum Psalm liefert (Dial  98,1–106,4) 67, wirft rückblickend Licht auch auf die neutestamentlichen Texte. 62 

LXX: „und meine Seele wird ihm leben“. Gese, Psalm  22; vgl. auch Aletti, Mort 150 f.; ders., Birth 34 (ohne Kenntnis von Gese). 64  Ebner, Klage 77; Robbins, Contextualization 1161–1183: „reversed Contextualization“. 65  Janowski, Konfliktgespräche 363. – Die Rezeption von Ps  2 2,2 in 1QH 13 (5) 12 verkehrt die Klage in ihr Gegenteil, so dass ein Vertrauenserweis daraus wird: „Denn in der Not meiner Seele hast Du mich nicht verlassen und mein Geschrei gehört in meiner Seelenbitternis“. Omerzu, Rezeption 61; De Waard, Study 62. 66  Vgl. Ps  3,3; 10,4.6.11.13; 12,5; 40,16; 41,6.9; 42,4.11 etc. – Vgl. auch Weish 2,1b–20, wo der Verfasser „die Frevler in einer längeren Rede ihre Gesinnung und ihre Vorhaben aussprechen“ lässt (Schmitt, Weisheit 43). 67  Auf Ps  2 2,17 f. („sie haben meine Hände und Füße durchbohrt …“) kommt Justin unmittelbar zuvor schon in Dial  97,3 f. zu sprechen, und zwar im Kontext der Applikation weiterer Schriftverse auf die Kreuzigung Jesu: Ps  3,5 f.; Jes  53,9; 57,2; 65,2 (Stichwort: „meine Hände“). Dass ver63 

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I. Teil: Die Quellen

Zuerst zitiert er den Psalm Stück für Stück, allerdings nur bis V.24 (Dial  98,1–5). Das Dank­ lied ab V.25 und das endzeitliche Lob bis zum Ende V.32 übergeht er68 . Dann kommentiert er, ohne kleinere Abschweifungen zu scheuen, die jeweils zitierten Teile mit der der Inten­ tion, aufzuzeigen, „dass dieser ganze Psalm auf Christus gesagt ist (ὅλον […] τὸν ψαλμόν […] εἰς Χριστὸν εἰρημένον)“ (99,1). Über die aus den Passionserzählungen schon bekannten Bezüge auf den Psalm hinaus bietet Justin eine Reihe weiterer christologischer Ausdeutungen, von denen einige auf ihn selbst, andere auf schon bestehende Auslegungstraditionen zurückgehen dürften69. Eindrucksvoll belegen sie, dass und wie der Psalm im passionstheologischen Kontext „weiterwirkte“.

Zwei Stellen seines Kommentars lassen Rückschlüsse auf die neutestamentlichen Passionserzählungen zu. Im Vorspann zur Erläuterung in Dial  97,3 zitiert Justin Ps  22,17b–19 und erklärt: „Als sie nämlich Jesus kreuzigten, durchbohrten sie mit Nägeln seine Hände und Füße, und nach der Kreuzigung verteilten sie beim Würfelspiel unter sich seine Kleider, dem Lose die Entscheidung lassend über das, was jeder gewollt hatte.“

Bei der Wiederholung der Verse im Kommentar nennt er sie in Dial  104 „eine Prophezeiung der Todesart, zu der Jesus verurteilt werden sollte durch die Versammlung der Übeltäter“. Auch wenn der Bezug von V.17b auf die Todesart Jesu erst bei Justin belegt ist, könnte er doch älter sein. Zum einen scheint die LXX-Variante, „sie haben meine Hände und Füße durchbohrt (ὤρυξαν χεῖράς μου καὶ πόδας μου)“, keine „spätere christliche Änderung“, sondern ursprünglich zu sein70 . Zum anderen legt Lk  24,39 eine Spur, die verrät: Der Vers wurde schon früh auf Jesu Todesart bezogen. Als der Auferweckte in die Mitte seiner Jünger tritt, stellt er sich ihnen vor mit den Worten: Seht meine Hände und meine Füße (τὰς χεῖράς μου καὶ πόδας μου), dass ich es bin. Fasst mich an und seht: Ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht. gleichbare Zitatkombinationen auch in 1Apol  35,5–7 und 38 begegnen, lässt auf eine vorgegebene kleine Testimoniensammlung zur Kreuzigung Jesu schließen: Lieu, Transformation 199 f. – Vgl. auch Tertullian, Marc  3,19,5 f.; 3,42,4 f. 68  Lieu, Transformation 202: „We may wonder whether verses 25–32 were known to him or to other early Christian writers – an uncertainty that should sound a cautionary note against those who assume that for the gospel writers Jesus’ despairing cry of v. 2 already anticipated the Psalm’s final affirmation of confidence“. Die übergangenen Verse würden exzellent zur christologischen Deutung des Psalms passen. Auffällig sei auch, dass Bezüge auf sie in früher Zeit sehr selten seien (ebd. 202 Anm.  24). Immerhin zitiert aber Justin V.23 f. mit ihrem bedeutsamen Bezug auf die Auferstehung (siehe unten). 69  Aus der Zeit vor Justin existieren zwar keine Zeugnisse, aber die mutmaßlichen „Testimonien“ (siehe oben) setzen die längst im Gang befindliche Rezeption des Psalms voraus; vgl. auch Barn  6 ,6 (Ps  22,19b). 70  Vgl. oben Anm.  61; Kuhn, Gekreuzigter 21 Anm.  95; Gese, Psalm 22 193 Anm.  26.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Der Hinweis auf Jesu „Hände und Füße“, der mit Ps  22,17b sprachlich genau übereinstimmt, dient zunächst dazu, den Auferweckten als den Gekreuzigten zu identifizieren, erst in zweiter (lukanischer) Linie, seine Leiblichkeit zu erweisen. Joh  20,20.25.27 spricht zwar in Aufnahme der joh. Sondergut-Episode vom Lanzenstich Joh  19,31–37 von den „Händen und der Seite (ἡ πλευρά)“ des Auferweckten, die vielen Berührungen von Joh  20,19–23 mit Lk  24,36–43 weisen indes auf eine zugrunde liegende gemeinsame Überlieferung hin, für die Ps  22,17 bedeutungsvoll gewesen sein dürfte71. Beachtlich ist schließlich die Deutung, die Justin dem Lobversprechen V.23 in Dial  106,1–2 zuteilwerden lässt: „1Jesus wusste nach dem, was die übrigen Worte des Psalms offenbarten, dass sein Vater auf seine Bitte ihm alles gewähren und ihn von den Toten erwecken werde; er hielt alle, die Gott fürchten, an, Gott zu loben, da dieser sich des ganzen gläubigen Menschengeschlechtes durch das Geheimnis des gekreuzigten Jesus erbarmte; er stellte sich inmitten seiner Brüder 72 , der Apostel, welche nach seiner Auferstehung von den Toten, nachdem sie von ihm überzeugt worden waren, dass er schon vor seinem Leiden ihnen gesagt habe, er müsse dieses Leiden erdulden und die Propheten hätten es vorausgesagt73, von Reue ergriffen wurden, weil sie ihn bei seiner Kreuzigung verlassen hatten; er pries im Verkehr mit ihnen Gott, worüber auch in den Denkwürdigkeiten der Apostel berichtet wird74. 2Die Psalmworte lauten: ‚Von deinem Namen werde ich erzählen meinen Brüdern, inmitten der Versammlung will ich Dich loben. Ihr, die ihr fürchtet den Herrn, preist ihn! Alle Nachkommen Jakobs, verherrlicht ihn! Fürchten sollen sich vor ihm alle Nachkommen Israels!‘ (Ps  22,23 f.)“.

Justin erwähnt das Lobversprechen V.23, das den zweiten Teil des Psalms einläutet, gewiss nicht zufällig ganz am Ende seines Kommentars, wo er die Auferstehung Jesu thematisiert. Bevor er das „Versprechen“ zusammen mit V.24 zitiert, trägt er die Rede von „den Brüdern“ Jesu bereits in seine Anspielung auf die Episode von der Erscheinung des Auferweckten vor den Aposteln ein (Lk   24,36–43 par. Joh  20,19–23) (Dial  106,1). Erstaunlicherweise spielt er nirgends auf die Episoden der Ostererzählung an, in denen Jesus selbst von „seinen Brüdern“ spricht, also Mt  28,10 par. Joh  20,17. Dort beauftragt der Auferweckte die Frauen bzw. Maria Magdalena mit den Worten: „Geht hin und verkündigt meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa gehen, dort werden sie mich sehen“ (so Mt) bzw.: „geh zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“ (so Joh). Diese Auffälligkeit deutet darauf hin, dass Justin nicht der erste war, der Ps  22,23 auf den Auferweckten bezog, sondern es sich um eine alte Auslegungstradition handelt, die bereits in Mt  28,10 und Joh  20,17 zu greifen ist75. Das Versprechen des Beters in V.23a: „Von deinem Namen werde ich erzählen meinen Brüdern“, ist der Hintergrund von Joh  20,17: Der Name Gottes, den der Auferweckte „seinen Brüdern“ kundgetan wissen will, ist der seines Vaters, der 71 

Siehe unten II.  12.6 unter (1). „inmitten“: vgl. Lk  24,36 (ἐν μέσῳ αὐτῶν); Joh  20,19 (εἰς τὸ μέσον). 73  Vgl. Lk  24,25–27.44–46. 74  Möglicherweise eine Rückblende auf Mt  26,30 par. Mk  14,26. 75  Dibelius, Motive 234. 72 

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I. Teil: Die Quellen

aufgrund seiner österlichen Erhöhung jetzt nicht mehr nur sein Vater, sondern auch der seiner Jünger ist, ihr Gott. Mit anderen Worten: Jesus nimmt die Jüngerinnen und Jünger in sein Gottes- und Sohnverhältnis hinein. Auch der Auctor ad Hebraeos zitiert den Psalmvers in einem österlichen Erhöhungskontext und bezieht die Rede von „meinen Brüdern“ auf den Erhöhten (Hebr  2,11 f.). Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Psalm als Matrix nicht nur der Kreuzigungsszene, sondern auch der Ostererzählung bietet den „Deutehorizont“ (Lührmann) für Jesu Tod und Auferweckung. Von der erwähnten Auslegung von V.23 abgesehen, ist das textlich freilich nicht zu belegen76 . Doch begegnen ab V.23 Motive, die, werden sie im frühchristlichen Kontext gelesen, in erstaunlicher Weise zu sprechen beginnen: Wenn V.23b der Lobpreis „inmitten der Gemeinde“ (ἐν μέσῳ ἐκκλησίας) ergeht und V.26 erklärt: „Deine Treue preise ich in großer Gemeinde (ἐν ἐκκλησίᾳ μεγάλῃ)“, lässt sich das umstandslos auf die Versammlung derer beziehen, die des Todes und der Auferweckung Jesu gedenken. Und wenn V.27 kundtut: „Die Armen sollen essen und sich sättigen“, deutet sich als „Sitz im Leben“ die Mahlfeier der Gemeinde an77. Dazu passt, dass „die Armen“ vielleicht (Selbst-) Bezeichnung der Jerusalemer Gemeinde war (vgl. Gal 2,10; vgl. Röm 15,26). Bemerkenswert ist schließlich noch das endzeitliche Lob V.29: „Jhwh gehört das Königtum (τοῦ κυρίου ἡ βασιλεία), er herrscht über die Völker (αὐτὸς δεσπόζει τῶν ἐθνῶν)“78 . So kann der Psalm auch als österliche Transformation der jesuanischen Rede von der Königsherrschaft Gottes gelesen werden. Gott hat den, der seine Königsherrschaft in Israel proklamierte, am Kreuz aber hingerichtet wurde, auferweckt und zu seinem Repräsentanten und Herrn (κύριος) über alle Völker erhoben (vgl. Röm  1,3 f.). Ps  22,29 hat sich bewahrheitet: „Jhwh herrscht über die Völker“! 76  Entgegen der Mutmaßung von Lieu (siehe oben Anm. 68), Ps  22,25–32 könnte den ntl. Autoren unbekannt gewesen sein, ist für den Jerusalemer Prototyp der Passionserzählungen auf die Psalmen-Überlieferung in den Texten vom Toten Meer zu verweisen: 5/6ḤevPs 10–12 zeigt, dass „ursprünglich der gesamte Psalm 22“ auf der Rolle überliefert wurde (Omerzu, Rezeption 54). Zwar wird „in den wenigen Belegen innerhalb des auf uns gekommenen Schrifttums des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels vornehmlich der Klageteil von Psalm 22 aktualisiert (V.1–22)“ (ebd. 75), aber „die Psalmen-Handschriften aus Qumran“ stellen „[e]ine Ausnahme“ dar (ebd. Anm.  159). 77  V.27 ist wohl als „Anspielung auf das endzeitliche Mahl“ zu verstehen: Camponovo, Königtum 100 Anm.  125; vgl. auch Gese, Psalm 22, und J. Jeremias, Dankopfermahl 64–67; zu den „messianisierende(n) und eschatologisierende(n) Tendenzen“ des Schlusshymnus V.28–32 vgl. Bauks, Feinde 150–153. 78  Jörg Jeremias, Königtum 144 f., zufolge ist die in Ps  2 2 vorgenommene Verbindung von „individuelle(m) Geschehen und Königtum Gottes“ im AT „singulär“. „Die (erwartete oder erfahrene) Errettung eines Einzelnen, dessen Not im Klagelied so umfassend und alle individuelle Erfahrung transzendierend geschildert wird wie sonst kaum in den Psalmen, ist zunächst Anlass eines üblichen Dankgottesdienstes, bei dem die geladenen ‚Brüder’ in ihrem teilnehmenden Lobpreis ‚alle Nachkommen Jakobs, alle Nachkommen Israels’ repräsentieren (V.24). Aber dann weitet sich der Kreis ins Unermessliche, und jetzt ist ohne jeden Zweifel der Blick in die Zukunft gerichtet. Die im Gottesdienst gefeierte Rettung wird zum Anlass der Enthüllung des Königtums Jahwes – das Abstractum ‫( ﬣﬦﬥוּﬤﬣ‬V.29) wird nur hier und in Ob 21 im Alten Testament für Gott verwendet –, indem räumlich alle Völker (V.28), der Konstitution nach Starke und Schwache (V.30a), zeitlich Lebende, Nachgeborene und noch Ungeborene (V.30b–31) sich vor Gott anbetend niederwerfen werden“.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Das „Diptychon“ Weish 1 f.+4 f. Auch das „Diptychon“ Weish  1,16–2,24 und 4,20–5,2379 wird gern als Hintergrundtext der neutestamentlichen Passionserzählungen herangezogen80 . Strukturell ist es mit ihnen vergleichbar: Triumphieren im ersten Bild „die Gottlosen (ἀσεβεῖς)“ (Weish  1,16) über den „Gerechten“, so kehrt das zweite Bild die Verhältnisse um: Im Endgericht müssen jene in Gegenwart des zu Tode gebrachten, von Gott aber ins Leben „entrückten“ „Gerechten“ (Weish  4,10) ihr verfehltes Leben beklagen. Das „Diptychon“ mit seinen beiden Hälften präfiguriert die Passions- und Ostererzählung. Letztere endet zwar nicht mit einer Gerichtsszene, aber doch mit der Bekanntgabe der Rettung des um sein Leben gebrachten Jesus durch Gott (Mk  16,6). Wie im Psalter charakterisiert der Autor des Weisheitsbuchs die Figur der „Gottlosen“ mittels ihres eigenen Wortes, welches er in seinem Kommentar (vgl. 2,21 f.) als eine Rede von Toren entlarvt81: 2,12 13 14 15 16 17 18 20 21

a b c a b a b a c d a b a b c a b a

Lasst uns dem Gerechten auflauern, denn er ist für uns nutzlos und steht unserem Tun im Weg […] Er versichert, Erkenntnis Gottes (γνώσιν … θεοῦ) zu besitzen, und nennt sich Knecht des Herrn (παῖδα θεοῦ) 82 . Er wurde uns zu einer (ständigen) Anklage unserer Denkweisen, er ist uns schwer (erträglich), sobald wir ihn nur erblicken. denn unähnlich ist sein Leben dem der anderen […]. […] Die letzten (Dinge) von Gerechten preist er glücklich und prahlt, Gott sei sein Vater (ἀλαζονεύεται πατέρα θεόν). Wir wollen sehen (ἴδωμεν), ob seine Worte wahr sind, und erproben, wie es mit ihm ausgeht. Wenn nämlich der Gerechte (wirklich) Gottes Sohn (υἱὸς θεοῦ) ist, wird er sich seiner annehmen (ἀντιλήμψεται αὐτοῦ) und ihn retten (ῥύσεται αὐτόν) aus der Hand seiner Gegner (Ps 22,9.20) […] Zu einem schändlichen Tod wollen wir ihn verurteilen – es wird nämlich seine Heimsuchung stattfinden nach seinen Worten. Dies dachten sie, und gingen in die Irre.

Auch das Gegenstück, Weish  4,20–5,7, bedient sich des Stilmittels der direkten Rede, um die Beschämung und Entehrung derer, die den Gerechten einem ehrlosen Tod auslieferten, zum Ausdruck zu bringen: 4,20 a Sie (sc. die Gottlosen) werden verunsichert zur Zusammenrechnung ihrer Verfehlungen kommen, b und von der Gegenseite her werden ihre Gesetzesverstöße sie überführen. 79  Ruppert, Gerechte 70–105; in ders., Wortfelduntersuchung 21, bezieht er dies nur auf die beiden Stücke 2,12–20 und 5,1–7, die er als eine dem Verfasser des Buches vorgegebene Quelle bestimmt. Dazu Hübner, Weisheit 74: nicht „zwingend“, aber „heuristisch weiterführend“. 80  Lührmann, Mk  43, zu Weish  2 ,12–20: „Liest sich das nicht wie die Geschichte Jesu, nicht nur seiner Passion, sondern seines ganzen Weges, erzählt aus der Sicht seiner Gegner?“ 81  Übersetzung nach Septuaginta Deutsch. 82  Septuaginta Deutsch 1060 Anm.: „schließt die Bedeutung Kind mit ein“.

70 5,1 2 3 4 5 6 7

I. Teil: Die Quellen

a Dann wird dastehen in vollem Freimut der Gerechte denen ins Angesicht, b die ihn bedrängt hatten und seine Mühen abtun. a Wenn sie (ihn) sehen, werden sie in entsetzlicher Furcht verwirrt werden b und außer sich geraten über die unerwartete Rettung (σωτηρία). a Sie werden zueinander sagen – umdenkend –, b und in Geistesbedrängnis werden sie stöhnen: a Dieser war es (οὗτος ἦν), den wir einst auslachten b und verhöhnten, wir Toren (vgl. Jes  53,3). c Sein Leben hielten wir für Wahnsinn d und sein Ende für ehrlos. a Wie wurde er zu den Söhnen Gottes (ἐν υἱοῖς θεοῦ) gezählt b und ist bei den Heiligen sein Erbe? (vgl. Jes  53,12) a Also waren wir in die Irre gegangen, weg vom Weg der Wahrheit (vgl. Jes  53,6), b und das Licht der Gerechtigkeit erstrahlte uns nicht c und die Sonne ging uns nicht auf. a In Dornen von Gesetzlosigkeit verstrickten wir uns und von Untergang b und durchzogen weglose Wüsten, c den Weg des Herrn aber erkannten wir nicht.

Das Ziel dieser Inszenierung, die sichtbar macht, was hier und jetzt nur geglaubt werden kann, ist deutlich: Die Leser sollen trotz aller Bedrängnisse und Anfeindungen, denen sie ausgesetzt sind, an ihrer Toratreue festhalten, die im jenseitigen Gericht belohnt wird. Was die Gottlosen als Torheit erachten, ist in Wahrheit Weisheit. Die Figur des „Gerechten“ trägt paradigmatische Züge. Möglicherweise schreibt der Text – darauf könnte Weish  2,13 hindeuten – das vierte Lied vom Gottesknecht Jes  52,13–53,12 weiter und modernisiert es83, vielleicht ist er auch von Ps 22 inspiriert84. „Neben Motiven aus Deuterojesaja“ klingen „vor allem (auch) solche aus den Klageliedern des einzelnen an“85. Neu ist in jedem Fall die Bezeichnung des „Gerechten“ als „Sohn Gottes“, auch wenn sie an παῖς θεοῦ anknüpft. Es könnte sich um eine „Demokratisierung“ dessen handeln, was Ps  2 für den Davidssohn reserviert, atmet aber in jedem Fall hellenistischen Geist: Wer fromm lebt, ist in Gottes Hand und darf als sein „Sohn“ gelten.

Denkbar ist, dass das „Diptychon“ Weish  1 f.+4 f. die neutestamentlichen Passionserzählungen strukturell und inhaltlich beeinflusst hat. Wenn der Centurio Mk  15,39 bekennt: „Wahrlich, dieser Mensch war (ein) Sohn Gottes (υἱὸς θεοῦ)“, erinnert das nicht nur sprachlich an Weish  5,4a.5a, sondern auch inhaltlich an die dortige Rede 83  Ruppert, Spätschriften 77: „eine sehr alte Neuinterpretation des 4. Gottesknechtsliedes (Jes  52,13–53,12)“, ohne Rezeption des Gedankens des stellvertretenden Leidens; vgl. ders., Gerechte und Frevler 22; Schmitt, Weisheit 48, zu 2,13b; Hübner, Weisheit 74: „Sind […] die beiden Reden der Gottlosen in der Sap aufeinander bezogen, so ist die erste Rede auch in der Optik der zweiten zu lesen. Deshalb ist anzunehmen, dass auch Sap 2 irgendwie mit Jes  53 zu tun hat, mag auch der Bezug der ersten Rede auf dieses Kapitel wesentlich schwächer sein“. 84  Omerzu, Rezeption 73: „Da […] in Sap abgesehen von ῥύομαι und ἀντιλαμβάνομαι (Ps  21,20LXX: ἀντίλημψις) in 2,18 keine Vokabelübereinstimmung mit Psalm  22 vorliegt, scheint es ungewiss, ob genau dieser Text durch die Rezipienten der Sapientia aktualisiert wurde, selbst wenn dies vom Verfasser intendiert gewesen sein sollte“. 85 Ebd.; Hengel, Wirkungsgeschichte 82, zufolge ist die passio iusti-Tradition um die Zeitenwende jüdisches „Allerweltsmotiv“.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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vom „Sohn Gottes“ als Ausdruck für einen frommen und gerechten Menschen, der in Gottes Hand ist86 . Mt  27,43 zitiert Ps  22,9, könnte aber auch durch Weish  2,16–18 inspiriert sein87. Erweisen lässt sich aber nirgends ein Bezug: Erstens könnte die Strukturparallele auch durch dritte Größen wie Jes  53,13–53,12 oder Ps  22 zu er­ klären sein. Zweitens ist nicht klar, wann genau das wohl aus dem ägyptischen ­Alexandria stammende Buch entstanden ist88 . Drittens begegnet seine prominente Rede vom „Gerechten“ in den neutestamentlichen Texten nur in Mt  27,19. Viertens ist die Rede vom „Sohn Gottes“, wie oben deutlich wurde, hier durch Ps   2 und weitere davidische Texte (2Sam  7) geprägt. 1.2.1.3 Dtn  21,22 f. – Schlüssel zu den Passionserzählungen? Die ehrlose Hinrichtung Jesu am Kreuz war für seine Anhänger ein Schock. Um ihn zu überwinden, half es ihnen, die Schriften immer wieder zu lesen89. Anstößig war allerdings Dtn  21,23. Wer wie die Obrigkeit Jerusalems die Botschaft Jesu ablehnte, dürfte sich in seinem Urteil über ihn durch diese Passage der Tora nur bestätigt sehen. Seinen Anhängern brannte sie die Schmach der Kreuzigung ins Gedächtnis: 21,22 a Und wenn bei einem Mann eine Sünde mit Todesurteil (LXX: κρίμα θανάτου) geschieht, b und er wird getötet c und du hängst ihn an einen Baum (LXX: καὶ κρεμάσητε αὐτὸν ἐπὶ ξύλου90), 23 a dann darf seine Leiche nicht über Nacht am Baum bleiben, b sondern du sollst ihn unbedingt am selben Tag begraben, c denn ein Aufgehängter ist ein Fluch Gottes (‫)קללת אלהים‬ (LXX: ὅτι κεκατηραμένος ὑπὸ θεοῦ πᾶς κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου). d Du darfst dein Land nicht verunreinigen, e das Jhwh, dein Gott, dir geben wird als Erbteil. Die Bedeutung des hebräischen Syntagmas ‫ קללת אלהים‬V.23c (= „Fluch Gottes“) ist seit frühester Zeit strittig 91. Die Mischna, Sanh 6,6, und die hier folgende rabbinische Auslegung verstehen es als Genitivus obiectivus92: der Gott verflucht bzw. gelästert hat93; oder: „ein 86 

Lk  23,47: „Wirklich, dieser Mensch war gerecht“. Konradt, Mt 443, zu Mt  27,43: Es „dürfte eine Anspielung auf Weish 2 (siehe v. a. V.13.16.18) mitzuhören sein (alternativ kann man erwägen, dass hier Einfluss einer Tradition vorliegt, wie sie auch in Weish  2 Eingang gefunden hat)“. 88  Hübner, Weisheit 15–19, hält mit anderen die Regierungszeit des Augustus (30 v. Chr. bis 14 n. Chr.) für den plausibelsten Ansatz, auch die Caligula-Zeit (37–41) steht zur Debatte. 89  Keith/Thatcher, Scar 205: „[T]his procedure (sc. der Rückgriff auf die Schrift) is a typical cross-cultural method of memorializing and managing experiences of traumatic violence“. „By redistributing the events of the crucifixion along the framework of sacred stories and oracles, the disciples could counter and neutralize the nuclear scripts embedded in the violence of the cross”. 90  Der Plural „ihr (hängt)“ auch Apg 5,30; 10,39, siehe unten. 91  Wilcox, Tree 86–90 (mit Hinweisen zu Qumran, den griech. Übersetzungen, den Targumim und den rabb. Quellen). 92  Str.-Bill. III 544: „fast durchgängig“; dem entspricht die Symmachus-Übersetzung: ὅτι διὰ βλασφημίαν θεοῦ ἐκρεμάσθη (Field [Hg.], Origenis Hexaplorum 304). 93  Krauß, Sanhedrin 200; San 6,6: „Warum wurde dieser gehängt? Weil der dem Namen ge87 

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I. Teil: Die Quellen

Fluch gegen Gott ist der Gehängte“94. Anders nur die Septuaginta (siehe oben) und die Tempelrolle, die es als Genitivus subjectivus deuten: „Verfluchte Gottes und der Menschen sind am Baum Aufgehängte“ (11QT  64,12) 95.

Die Szene von Jesu Begräbnis noch am Tag seiner Hinrichtung gemäß Dtn  21,22 f. (vgl. Joh  19,3196) zeigt, dass die Passage für die Passions- und Ostererzählung eine Rolle gespielt haben muss. Welche Rolle genau, lässt sich nur über einen längeren Umweg erkennen, der bei Paulus seinen Ausgang nehmen muss. (1) Paulus ist der früheste christliche Zeuge, der Dtn  21,23c aufgreift und in Gal  3,13 auf die Kreuzigung Jesu bezieht97: 13 a Christus hat uns freigekauft vom Fluch des Gesetzes (τῆς κατάρας τοῦ νόμου), b indem er für uns Fluch geworden ist (γενόμενος ὑπὲρ ἡμῶν κατάρα), c denn es ist geschrieben: d Verflucht ist jeder, der am Holz hängt (ἐπικατάρατος πᾶς ὁ κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου). Paulus steht der Septuaginta-Fassung nahe. Zwei Ergänzungen über den hebräischen Text hinaus belegen dies: das generalisierende πᾶς (= jeder) und die Präpositionalwendung ἐπὶ ξύλου (= am Holz). Wenn Paulus das Adjektiv ἐπικατάρατος (= verflucht) dem Partizip Passiv der LXX κεκατηραμένος + ὑπὸ θεοῦ vorzieht, erklärt sich das durch seine Absicht, die beiden Zitate Dtn  21,23c und Dtn  27,26 (Gal 3,10) miteinander zu verschränken98 .

Zwar übergeht Paulus das ὑπὸ θεοῦ der Septuaginta, teilt aber grundsätzlich deren Auffassung von ‫ קללת אלהים‬als Gen. subj. („von Gott Verfluchter“). Aber er wendet flucht hat“; 6,5a: „Alle Gesteinigten werden gehängt. Das die Worte Rabbi Eliezers. Die Weisen aber sagen: Gehängt wird nur der Lästerer und der fremden Dienst treibt“ (ebd. 195). Dem entspricht Jos, Ant  4,202: Ὁ δὲ βλασφημήσας θεὸν καταλευσθεὶς κρεμάσθω δι’ ἡμέρας καὶ ἀτίμως καὶ ἀφανῶς θαπτέσθω (vgl. Lev  24,16); ebenso Symmachus, Targ. Onk. etc. 94  Str.-Bill. I 1012 f.; „darum dauert der Fluch gegen Gott an, solange der Gehängte sichtbar bleibt“ (ebd.); dies die Deutung von R. Meir: O’Brien, Curse 65: „an affront to God because people are made in the image of God“; vgl. Targum Pseudo-Jonathan, TSanh. 9,7; bSanh 46b. 95  Veijola, Fluch 544: „keine von Dtn  21,23 (MT) abweichende Textüberlieferung“, sondern dessen midraschische Auslegung“, im Anschluss an Wilcox, Tree 89 f.: 1QT „shows us a text of Deut  21:23 which is nearer to that found in Gal 3:13b (and the LXX) at certain points notably in the inclusion of the word ‚upon the tree‘ […]. – Beachtlich ist die midraschartige Hinzufügung: „und der Menschen“: Wer als von Gott verflucht gilt, wird auch von Menschen verflucht. 96  Joh  19,31 („damit die Leichname nicht den Sabbat über am Kreuz blieben“) expliziert, was in Mk  15,42 impliziert ist (vgl. unten II.  11.1 unter [1]): „Hier mag es sich um eine (leicht abgewandelte) Bezugnahme auf das biblische und rabbinische Gesetz handeln, dass die Leiche eines hingerichteten Verbrechers nicht über Nacht (jede Nacht, nicht nur die Sabbatnacht) an dem Baum bzw. Kreuz bleiben darf“ (Schäfer, Jesus 148); Wilcox, Tree 94; auch Apg  13,29 verbindet die Grablegung mit einer Anspielung auf Dtn  21,22 f. 97 Schon vorchristlich wird Dtn   21,23 auf die Kreuzesstrafe bezogen: 11QT  64,12 (zu 4Qp Nah  1,7 vgl. Sänger, Verflucht 102 f.); Jos, Bell  1,97. In Dtn  21,23 geht es um abschreckende Entehrung des Leichnams eines bereits Getöteten (vgl. V.22b) durch „Aufhängen an einem Baum“ (V.22c), also um öffentliche Zur-Schau-Stellung bis zum Abend; so Jos  8 ,29 par.  10,26 f. (vgl. auch 1Sam  31,12/2Sam  21,12; 2Sam 4,1). 98  Beide Zitate – Dtn   27,26 (= Gal  3,10) und Dtn  21,23c (= Gal  3,13d) – beginnen bei Paulus gleich: ἐπικατάρατος πᾶς (ergänzt um einen Relativsatz [ὅς …] bzw. ein Partizip [ὁ …]). Das signalisiert die von ihm hier angewandte hermeneutische Regel, der zufolge sich zwei Schriftstellen gegenseitig auslegen, wenn sie in einem wichtigen Stichwort übereinstimmen (Gezera shawa).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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den Gedanken in erstaunlicher Dialektik ins Positive: Wenn Christus für uns zum Fluch geworden ist, steht Gott selbst dahinter. „Von Gott her“ ist Christus zum Fluch geworden, indem er die Folge der Sünde, die Gottferne des Todes, in seinem Sterben am Kreuz an unserer statt durchlitten hat99. Bemerkenswert bleibt es freilich, dass Paulus das ὑπὸ θεοῦ = „von Gott“ der ­Septuaginta übergeht. Ein Grund könnte sein, dass „der Fluch“, der Jesus trifft, „der Fluch des Gesetzes“ (Gal  3,13a) ist, der Dtn  27,26 = Gal  3,10 zufolge über den ergeht, „der nicht bei allem bleibt, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun“100 . Ein anderer Grund könnte in der mutmaßlichen Verwendung von Dtn  21,22 f. durch Jesu Gegner in Jerusalem liegen. Wenn sie nach Ostern gegen seine Anhänger Dtn  21,22 f. ins Feld führten und behaupteten, Gott selbst habe ­Jesus „verflucht“ und damit ihn und sein Auftreten desavouiert101, konnte und wollte das Paulus so nicht (mehr) nachsprechen. „[I]n seinen Augen (konnte) der gekreuzigte Christus unmöglich von Gott selbst verflucht worden sein“102 . Weil Paulus selbst zu diesen Gegnern gehört hatte, wusste er, was sie gegen die Jesus-­ 3,13 zeigt deutlich, worauf diejenigen reagieren Gläubigen vorbrachten103. Gal   mussten, die Jesu Botschaft treu blieben. Sie reagierten auf die jüdischen Angriffe bereits mit der Bildung ihrer Passions- und Ostererzählung. (2) Lukas greift in Apg  5,30; 10,39 f. und 13,29 f. im Rahmen seines sog. „Kontrastschemas“104 Dtn  21,22c in eigener Form auf: „Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, an den ihr Hand angelegt habt, indem ihr ihn ans Holz hängtet (κρεμάσαντες ἐπὶ ξύλου)“ (5,30)105. An allen drei Stellen bezieht sich das „ihr“ mit unterschiedlichen Nuancen auf die hohen Priester bzw. die Einwohner von Jerusalem und Juda, die für die Hinrichtung Jesu mitverantwortlich gemacht werden106 . 99 

Vgl. dazu unten IV.  2.2.2.2. Weder, Kreuz 187: „Das Gesetz bringt nicht das Leben, sondern es ist ein Fluch, von dem Christus uns losgekauft hat (V.13a)“. Die Tora ist kein Fluch, sondern spricht ihn nur aus; sie ist von Gott „gegeben“ (Gal  3,21). 101  G. Jeremias, Lehrer 134; Dietzfelbinger, Berufung 36 f.; ders., Sohn 143; Betz, Gal 275 Anm.  132; Weder, Kreuz 190 Anm.  258; Sänger, Verflucht. – O’Brien, Curse 72 f., möchte die Verwendung von Dtn  21,23 rein schrifttheologisch erklären, aber es liegt nicht nahe, dass Paulus dieses harte Worte ohne jeglichen äußeren Grund aufgegriffen haben soll. Nicht grundlos lassen spätere ntl. Zeugen (Apg etc.), wenn sie auf die Stelle anspielen, das Wort vom Fluch regelmäßig aus; vgl. auch Caneday, Use 185–209. 102  Mußner, Gal 233. 103  Paulus hat Dtn  21,22 f. wohl selbst in seiner vorchristlichen Zeit gegen die Christen verwendet: Kuhn, Gekreuzigter 36 Anm.  155: „eine biographische Vermutung“, aber eine plausible: Dietzfelbinger, Berufung 38 f.; Lieu, Canon 331 mit Anm.  52. 104  Roloff, Apg  49 f.; dieses Schema, das in nicht weniger als 5 Missionspredigten begegnet, umfasst drei Elemente: „1. Unheilstat der Juden (‚Ihr habt ihn getötet!‘) (2,23; 3,13b–15a; 4,10; 5,30; 10,38 f.). – 2. Heilstat Gottes (Gott hat ihn auferweckt …) (2,24.36; 3,13a.15b; 4,10; 5,31a; 10,40). – 3. Aufruf zur Umkehr (2,38; 3,19; 4,11; 5,31b; 10,42 f.)“. 105  Wilcox, Tree 90–93; Lieu, Canon 325 („a tradition continued in the ‚Martyrs of Lyon and Vienne‘ where Blandina is ‚hung upon a tree‘ [Eus, HistEccl 5.1.41])“. – Vgl. auch noch Lk  24,20 (κατάκριμα θανάτου: Anspielung auf Dtn  21,22a), 1Petr  2,24, Barn  5,13 (ἔδει γὰρ ἵνα ἐπὶ ξύλον πάθῃ). 106  Abgefedert wird diese Polemik dadurch, dass den Juden mehrfach bescheinigt wird, sie 100 Fatal

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I. Teil: Die Quellen

Diese Polemik unterstützt die Vermutung, dass zuerst Juden Dtn  21,22 f. gegen die Jesus-Gläubigen eingesetzt haben, worauf noch die Apostelgeschichte reagiert. (3) In der Mitte des 2.  Jh.s bezeugt Justin in seinem „Dialog mit Trypho“ die Bedeutung von Dtn  21,22 f. als jüdisches Argument gegen die Christen107: „Mein Herr“, so lässt er seinen jüdischen Gesprächspartner einwenden, „die erwähnten Schriften und ähnliche veranlassen uns, dass wir den, der als Menschensohn von dem Bejahrten die ewige Herrschaft erhält, in Herrlichkeit und Größe erwarten. Dieser euer so genannter Christus aber ist ohne Ehre und Herrlichkeit gewesen, so dass er sogar dem schlimmsten Fluch verfiel, den das Gesetz Gottes verhängt: er ist nämlich gekreuzigt worden (ἐσταυρώθη)“ (Dial  32,1). „Wisse wohl: unser ganzes Volk wartet auf den Christus, auch geben wir zu, dass alle Schriftstellen, welche du erwähntest, auf ihn gesagt sind […]. Aber daran zweifeln wir, dass der Christus in so schmachvoller Weise gekreuzigt wurde (ἀτίμως οὕτως σταυρωθῆναι τὸν Χριστόν); denn verflucht ist nach dem Gesetz, wer gekreuzigt wird (ἐπικατάρατος […] ὁ σταυρούμενος). Dies ist also noch eine Lehre, von der ich mich momentan nicht überzeugen kann. Das ist zwar klar, dass die Schrift einen leidenden Christus (παθητὸν μὲν τὸν Χριστόν) verkündet (vgl. 36,1). Ob aber durch das im Gesetz verfluchte Leiden (διὰ τοῦ ἐν τῷ νόμῳ κεκατηραμένου πάθους) – wir möchten erfahren, ob du auch das beweisen kannst“ (Dial  89,1.2)108 .

Justin antwortet mit Jes  53 und schlussfolgert: „Jeder, der die Worte der Propheten kennt, wird, sobald er hört, dieser (sc. Jesus) ist der Gekreuzigte (οὗτός ἐστιν ὁ ἐσταυρωμένος), sagen, er ist (Christus) und kein anderer“ (Dial  89,3). „Die Gleichnisse und Typoi“ der Schrift, die auf das Kreuz verweisen (wie das Zeichen von der an der Stange erhöhten Schlange) lassen Trypho endlich verstummen. Gegen Ende dieser Ausführungen heißt es: „Es ist klar erwiesen, dass ihr jederzeit Götzendiener wart und die Gerechten getötet habt, dass ihr sogar an Christus Hand angelegt habt und noch heute in euren Sünden verharrt, dass ihr gerade diejenigen verflucht, welche beweisen, dass der von euch Gekreuzigte (τὸν ἐσταυρωμένον ὑφ’ ὑμῶν) der Christus ist. Nicht genug, ihr wollt sogar dartun, dass Jesus gehätten an Jesus „aus Unwissenheit“ gehandelt, und ihnen für die Zukunft Heilschancen eingeräumt werden: vgl. C. Schaefer, Zukunft. 107  Van Unnik, Fluch; Lieu, Canon 326–328 (ebd. 326: „Despite its importance for Paul, Deut.  21,22–23 appears surprisingly infrequently in early Christian writings [before Chrysostom and Cyril of Alexandria]“). – Auch wenn die Trypho-Figur Konstrukt des Autors ist, deutet die Prominenz von Dtn  21,22 f. in Justins Argumentation daraufhin, dass der Text gegen Jesus-Gläubige eingesetzt wurde (anders O’Brien, Curse 61: „more a reflection of Gal 3 than of actual Jewish objections to Christianity“); vgl. auch Tertullian, Iud 10,1: „[…] ihr führt den Beweis, dass man nicht annehmen darf, dass Gott seinen Sohn dieser Todesart ausgesetzt hat, wie er selbst gesagt hat: ‚Verflucht sei jeder, der am Holz hängt‘ (Dtn  21,23)“ (vgl. auch Tertullian, Marc 3,18,1); Did  16,5: „die aber durchhalten in ihrem Glauben, werden gerettet werden von dem ‚Verfluchten‘ selbst“ (Wengst, Schriften II, 99: κατάθεμα: „eine Bezeichnung von Außenstehenden, von Juden“; Kuhn, Gekreuzigter 16 Anm.  63: Bezug auf Dtn  21,23); Speyer, Art. Fluch 1240; außerdem EvNik 17[7]). 108  Dial.  9 0,1: „Das wissen wir ja, dass er leidet und wie ein Lamm [zur Schlachtbank] geführt werden wird. Beweisen musst du uns jedoch, ob er gekreuzigt werden und eines so schmachvollen und ehrlosen, im Gesetz verfluchten Todes sterben musste (σταυρωθῆναι καὶ οὕτως αἰσχρῶς καὶ ἀτίμως ἀποθανεῖν διὰ τοὺ κεκατηραμένου ἐν τῷ νόμῳ θανάτου); denn so etwas können wir uns nicht einmal denken“.

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kreuzigt wurde, weil er ein Feind Gottes und ein Verfluchter (ἐχθρὸν θεοῦ καὶ καταρωμένον) gewesen sei, während dies doch Werk eures Unverstandes ist. Denn obwohl die durch Mose gegebenen Zeichen euch die Erkenntnis nahelegen, dass Jesus der Christus ist, wollt ihr nicht Verstand annehmen. […]“ (Dial  93,4 f.)109.

Justin zitiert Dtn  21,13d, aus seiner Sicht offenkundig der jüdische Kerneinwand gegen den christlichen Glauben, nicht wörtlich nach der Septuaginta, sondern in der Gestalt, die ihm von Gal  3,13 her bekannt ist110 . Abgesehen von den Stellen, wo er zitiert, ersetzt er die Rede vom „Am-Holz-Hängen“ durch die vom „Gekreuzigt-worden“-Sein, wobei er, wie schon Paulus (1Kor  1,23; Gal  3,1), gerne das Partizip Perfekt Passiv „der Gekreuzigte“ (ὁ ἐσταυρωμένος) benutzt. In Gal  3,1 ist es Leitwort für die nachfolgende Schrift-Argumentation (mit Gen  15,6; Dtn  21,23; 27,26 etc.): „O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, denen doch Jesus Christus vor Augen geschrieben wurde als Gekreuzigter (ἐσταυρωμένος)? (4) Wenn Paulus vom „Ärgernis des Kreuzes“ (σκάνδαλον τοῦ σταυροῦ) für die Juden spricht (1Kor  1,23; Gal  5,11) – „es scheint ein fester Terminus vorzuliegen“111  –, denkt er an Dtn  21,22 f.112 . „Ein am Schandpfahl des Kreuzes Scheiternder musste in jüdischen Augen jede Messiasprädikation diskreditieren. Wer sich zu einem Gekreuzigten bekennt, beleidigt und karikiert Gott, der seinen Messias nicht wie einen Verbrecher an den Galgen schlagen lassen wird. Ein Χριστὸς ἐσταυρωμένος konnte am Maßstab der traditionellen Titel und Erwartungshorizonte tatsächlich nur als Zumutung und Provokation empfunden werden“113. (5) Auf diesem Hintergrund gewinnt die Botschaft des jungen Mannes in der leeren Grabkammer Jesu Mk  16,6 ihr Profil: 6 a Er aber [sc. der junge Mann] spricht zu ihnen [sc. den Frauen]: b Entsetzt euch nicht! c Jesus sucht ihr, d den Nazarener, e den Gekreuzigten (τὸν ἐσταυρωμένον) (vgl. auch Mt  28,5): f    Er ist auferweckt worden (ἠγέρθη), g    er ist nicht hier. h Seht da der Ort, i wo sie ihn hinlegten.

Es ist bemerkenswert, dass Markus die Hinrichtungsart der Kreuzigung so wenig wie die anderen Evangelisten theologisch bedenkt114. „Eine Ausnahme macht nur Mk  16,6 (und die Parallele bei Matthäus), wo sich Gott in der Ostergeschichte gera109  Vgl. auch noch Dial  96,1. „Das Wort des Gesetzes: ‚Verflucht ist jeder, der am Holz hängt‘ (ἐπικατάρατος πᾶς ὁ κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου), stärkt unsere Hoffnung, welche sich an den gekreuzigten Christus (τοῦ σταυρωθέντος Χριστοῦ) klammert […]“. 110  Vgl. noch 1Apol  41 mit Verweis auf Ps  96,10LXX: „Der Herr hat vom Baum regiert“. 111  Lindemann, 1Kor 47. 112  Hengel, Mors 177 f.; vgl. auch Schrage, Skandalon 64 f. 113  Schrage, 1Kor I 186 f. 114  In der mkn. Passionserzählung begegnet σταυρόω – abgesehen von Mk 16,6 – nur als beschreibendes Tätigkeitsverb, ohne jeden theologischen Beiklang (Mk 15,13.14.15.20.24.25.27).

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I. Teil: Die Quellen

de zu dem Gekreuzigten bekennt und Jesus nicht mit dem Aorist abgeschlossener Vergangenheit, sondern mit dem Perfekt gültiger Dauer als der ἐσταυρωμένος, der dies auch für die gegenwärtige Gemeinde bleibt, bezeichnet wird“115. Dahinter könnte der Einwand der ersten Gegner der nachösterlichen Verkündigung Jesu in Jerusalem stehen, wie er schon hinter dem paulinischen Diskurs zu vermuten ist und später von Justin direkt angesprochen wird: der Verweis auf Dtn  21,22 f., der ihnen dazu diente, den Gekreuzigten als „Verfluchten“ Gottes hinzustellen116 . Hatten sie Jesus schon zu Lebzeiten der „Vermessenheit“ angeklagt117, so bezogen sie nach seiner Kreuzigung Dtn  21,23 auf ihn, um seiner nachösterlichen Proklamation als Messias Israels durch seine Anhängerschaft von der Tora her entgegenzuwirken118 . Nimmt schon die Kennzeichnung Jesu als „Nazarener“ in Mk  16,6d eine Außenperspektive ein119, so auch die pointiert am Ende der Passionserzählung stehende Rede vom „Gekreuzigten“, die ihren axiomatischen Ausgangspunkt durchscheinen lässt. Die Antwort auf das mit der Tora begründete Verdikt wäre dann einerseits das Bekenntnis: „Er ist auferweckt worden“, das in diesem Zusammenhang besagt: Gott hat ihn gegen den Anschein, ein „Verfluchter“ zu sein, rehabilitiert, andererseits die Passionserzählung selbst: Gegen die Vereinnahmung von Dtn  21,23 deutet sie auf den Bahnen insbesondere des Psalters Jesu Geschick als mit Gottes Willen konform. 1.2.1.4 Jesus, der „leidende“ Davidssohn, und die Bedeutung des Psalters für die ersten Leser Die Passionserzählungen setzen bei ihren Adressaten eine erstaunliche Schriftkompetenz voraus, das vielleicht wichtigste Merkmal des „impliziten Lesers“120: Anspielungen, biblische Motive, Zitate sowie die Präsenz ganzer alttestamentlicher 115  Kuhn, Gekreuzigter 21, mit Verweis auf Schrage, Verständnis 66 Anm.   46. Vgl. auch Theobald, Passion 250–253; Schleritt, Passionsbericht 539–542; bereits Lagrange, Mk 446, verwies bei der Kommentierung von Mk  16,6 auf 1Kor  1,23; 2,2 und Gal 3,1. 116  Vorausgesetzt das Verständnis von ‫ קללת אלהים‬Dtn  21,23c, das auch die Tempelrolle, die LXX und Paulus teilen! Sollte die Verwendung des signifikanten ἐσταυρωμένος Dtn  21,23 nicht assoziieren, würde immer noch (mit O’Brien, Curse 326) gelten: „the original objection was the fact of his crucifixion […]. For the messiah not only to die but to die in a shameful manner would have appeared absurd to many“. 117  Siehe unten III.  2.5.3. 118  Die Annahme, die Jünger Jesu hätten ihre Situation nach der Hinrichtung ihres Meisters wegen Dtn  21,23 als „verzweifelt“ angesehen, ist dagegen (mit Becker, Auferstehung 219 Anm.  39) zurückzuweisen. U. B. Müller, Entstehung 10: Dtn  21,23 darf nicht „verallgemeinert werden, als gelte die Tatsache der Kreuzigung an sich als Verfluchung“. „Für die Tempelrolle […] gilt nur der Volksverräter, der lebendig ans Holz gehängt wird, als Verfluchter Gottes oder einer, der ein Kapitalverbrechen begangen hat, der zu den Völkern flieht und das eigene jüdische Volk verflucht“ (vgl. ders., Auferweckt 202; Schrage, 1Kor I 186 Anm.  502). All dies spricht indes nicht gegen die Annahme, dass Jesu Gegner in Jerusalem nach seiner Kreuzigung Dtn  21,23 gegen die erneute Verbreitung seiner Botschaft eingesetzt haben könnten (so aber O’Brien, Curse). 119  „Der Nazarener“: dahinter steht die nicht-galiläische Perspektive der Jerusalemer, wie der Blick der Magd auf Petrus im Hof des Hohepriesters zeigt (Mk  14,67.70). 120 Vgl. Iser, Leser.

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Passagen im Hintergrund bestimmen die Textur121. Die Schriften begegnen an den „dramatischen Höhepunkten“122 , laufen als Prä-Text aber insgesamt mit. Auf allen Textebenen sind sie präsent. Nicht nur die Erzähler weben aus biblischer Sprache ihre Texte123, auch die Figuren in den Erzählungen bedienen sich ihrer, vor allem der Protagonist Jesus: Er spielt auf den Psalter an (Mk  14,18.34.38) und zeigt sich unmittelbar vor seinem Tod selbst als Psalmbeter (Mk   15,34 par. Mt   27,46; Lk  23,46)  – die genuine Weise der Psalterrezeption! Psalmworte finden sich auch im Mund von Nebenfiguren, so in Mk  11,9 f., wo die Volksmenge den in Jerusalem einziehenden Jesus mit Worten aus Ps  118 und 148 begrüßt. Dabei geht es „um mehr“ als nur um „biblisches Sprachkolorit“124 , das der Erzählung Erhabenheit und vielleicht auch Sakralität verleiht. Vielmehr liegt der Rezeption der Klage- und Danklieder (Ps  22; 41; 42/43; 51; 69) „die Absicht zugrunde, dem Leiden Jesu das Zufällige zu nehmen und es – mit signifikanten, auf die Singularität Jesu und seines Geschicks bezogenen Akzentsetzungen – in der Motivtradition der passio iusti zu verankern“125. Die Botschaft dieses Grundmusters lautet: Jesus ist der Gerechte des Psalters, der unschuldig leidet! Gott hat ihn in aller Anfeindung bewahrt und aus dem Tod errettet! So zutreffend diese christologische Sicht grundsätzlich ist126 , so bedarf sie doch einer nicht unwesentlichen Korrektur. Schon die Beobachtung, dass Jesus in den Passionserzählungen kaum der „Gerechte“ (δίκαιος) genannt wird, lässt aufhorchen127. Wer die Klage- und Danklieder, die den Passionserzählungen zugrunde liegen, auf der Linie von Psalm 2, dem Eröffnungstext des Psalters, als Davidszeugnis liest128 , wird im Beter nicht lediglich den idealtypisch gedachten „Gerechten“, sondern den von seinen Gegnern verfolgten David erkennen129. Den Autoren der Passionserzählungen ging es darum, das 121 

Löning, Funktion 270 f. Janowski, Konfliktgespräche 356. 123  Koester, Presence 556: Die Psalmen dienen in der Passion „not as references for scriptural proof but as patterns for the telling of a story“; sie liefern die „verwendete Sprache (langue)“ ­(Löning, Memoria 145). 124  Janowski, Konfliktgespräche 358. 125  Ebd. (zum „Kreuzigungsbericht“) unter Bezug auf Ruppert und dessen Aufweis der „Motivtradition der passio iusti“ (Jesus 54) als Nährboden der Passionserzählungen; vgl. zuletzt noch Aletti, Birth 35–38. Zur Mt-Passion: Euler, Psalmenrezeption. 126  Zenger/Hossfeld, Buch  454: „Die neutestamentliche Christologie ist weithin ‚Psalmen-­ Christologie‘“. 127  Collins, Genre 18 (unter Rekurs auf Juel, Exegesis 116): Das Motiv vom leidenden Gerechten war zwar zur Zeit Jesu bekannt und wurde auch literarisch benutzt (Weish  2+5). „But there is little evidence that it was consciously used by the author of the passion narrative. The label δίκαιος is never applied to Jesus in this narrative“ – abgesehen von Mt  27,4.19 (v.l. in 24) und Lk  23,47 (ebd. 27 Anm.  110). 128  Siehe oben in 1.2.1.2 zu Psalm  2. 129  Hengel, Atonement 41: „For Mark, the few psalms of suffering which illuminate individual features of the suffering and death of Jesus, like Psalms 22 and 69, are exclusively messianic psalms, such as Ps 110 and 118 […] The suffering ‘of the righteous’ is to be integrated completely into the suffering of the Messiah. The Messiah alone is the righteous and sinless one par excellence. His suffering therefore has irreplaceable and unique significance”; ders., Wirkungsgeschichte 82; Juel, Exegesis; McWhirter, Exegesis 69–97. 122 

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I. Teil: Die Quellen

Paradox eines leidenden Messias zu rechtfertigen. Dafür bot ihnen der Psalter das Modell130 . Sie rekurrieren auf ihn unter dem Vorzeichen der Messianität Jesu131. Gegen zeitgenössische Vorstellungen von einem auf Gewalt setzenden messianischen Königsprätendenten sahen sie im Psalter ein Korrektiv, das es ihnen ermöglichte, den Weg Jesu zum Kreuz als Weg des leidenden davidischen Messias zu zeichnen132 . Dieses Leitmodell schließt paränetische Impulse im Kontext des Psalters nicht aus. Wenn „[d]er Tod Jesu in einer Sprache erinnert“ wird, „die die Leser als Sprache der Schrift und als ihre eigene Gebets- und Meditationssprache kennen und gebrauchen“, werden sie schon dadurch „zur Identifikation mit der Erzählung der Passionstradition eingeladen […]. Unter christologischem Aspekt lässt sich sagen, dass […] hier die Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu in der Repräsentativität dieses Leidens für den Leser sichtbar wird aufgrund des intertextuellen Verhältnisses der Passionstradition zur Schrift“133. So findet der Leser im Weg Jesu seinen eigenen Weg bis hin zu seiner erhofften Errettung aus dem Tod „aufgehoben“, ohne dass Jesus „dadurch nur einer unter anderen Leidenden wird“134. Für den „impliziten Leser“ ist der extensive Gebrauch des Psalters in den Passionserzählungen aufschlussreich: Er kennt nicht nur die Schriften, er lebt geradezu in ihnen. Er bezieht sie auf sich und findet sich in ihnen wieder. Beides gehört zusammen: der Bezug des Lesers auf die Schriften und derjenige der Schriften auf ihn. Die dahinterstehende Schrifthermeneutik ist genuin jüdisch. Auch die Essener z. B. 130  Versuche, die Vorstellung von einem leidenden Messias im Frühjudentum vor Jesus (ohne Berücksichtigung des Psalters) nachzuweisen, sind erfolglos geblieben (vgl. Sjöberg, Menschensohn 247–273); auch 4Q  285 Frg. 5, ist kein Beleg: Evans, Jesus 130 f.; A.Y. Collins, Mk 54. Zur Sonderrolle von Jes  53 vgl. Hermission, Deuterojesaja III 441 f.; ebd. 451 zum Jes-Targum, der zwar dem „Knecht“ von Kap.  53 das Prädikat „der Messias“ verleiht, die Leiden aber als „Israels Leiden im Exil“ versteht; „von einem verachteten und leidenden Messias weiß der Text nichts“; Schrage, Skandalon 68 f.; Breytenbach, Leiden 365: „Was es […] vorchristlich nicht gibt, ist die Vorstellung eines leidenden Gesalbten des Herrn“, deren Bildung er allerdings zu Unrecht erst Markus zuschreibt (366); Schäfer, Jewish Jesus 236–271 („The Suffering Messiah Ephraim“). – Die Rede Platons vom gekreuzigten Gerechten mit dem Tod des Sokrates im Hintergrund, Resp  361 d–e, die in der frühen Kirche als pagane Prophetie des Todes Jesu begrüßt wurde (Benz, Gerechte), verdankt sich platonischer Dialektik, die den vollendeten Gerechten als den beschreibt, der unter dem Druck der öffentlichen Meinung, die Ungerechtes als Gerechtes ausgibt, ohne Aussicht auf Belobigung allein um der Gerechtigkeit selbst willen ihr treu bleibt und so zum leidenden Außenseiter wird. 131 A.Y. Collins, Genre 18: „There is little evidence if any that, prior to the death of Jesus, the messiah was expected to suffer and die. The psalms of lament may have been used by followers of Jesus in writing the account of his death to help make sense of it, not as the death of a righteous person, but as the death of the messiah. Given the hermeneutics of the time, they did not necessarily read these psalms as individual songs of lament or as expressions of the motif of the righteous sufferer. It is more likely that they read them as songs of David, the prototypical king“. 132  Diese Psalterrezeption entspricht der frühjüdischen Tendenz der „Davidisierung“ des Psalters; vgl. Seybold, Dimensionen; Ahearne-Kroll, Psalm 21, 125–127; Zenger, Psalter 40 f.; zum Bild des leidenden David: Ballhorn, Klage. 133  Löning, Memoria 145 f. (Kursive von mir); Zeller, Handlungsstruktur 222–226. 134  Lührmann, Mk  231.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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lasen die Schriften im Blick auf die eigene Gruppe, insbesondere ihren „Gründer“, den sog. „Lehrer der Gerechtigkeit“135. Für den „realen“ Leser erlaubt der Befund die Annahme, dass der Psalter nicht nur Matrix der Passionserzählung in literarischer Hinsicht ist, sondern auch in den Versammlungen der hinter ihr stehenden Gemeinde tatsächlich gelesen und gebetet wurde136 . Im 2.  Jh. deutet Justins ausführliche Befassung mit Ps  22 in diese Richtung. Gerade dieser Psalm wurde zum festen Bestandteil der liturgischen Tradi­ tion137. Obwohl nur bestimmte Psalmen in den Passionserzählungen rezipiert werden, gab der Psalter insgesamt den Horizont der Passionserzählungen ab. Dafür spricht nicht zuletzt die Beobachtung, dass mit Ps  2 die Eröffnung des messianisch gedeuteten Psalters die Synedrion-Szene prägt138 . 1.2.2 Die mimetische Kraft der Passionserzählungen oder: Wie der Leser sich in den Erzählfiguren wiederfinden kann Nicht nur die Schrift-Matrix der Passionserzählungen, auch ihre Erzählfiguren ­beziehen die Leser ein. Sie bieten ihnen Identifikationsmodelle und entfalten mimetische Kraft139. Vor allem Matthäus und Lukas nutzen dieses Potential140 . Die Grundkonstellation der Erzählfiguren ist in allen vier Passionserzählungen gleich. Dem Protagonisten Jesus stehen Gegenspieler gegenüber, der Hohe Rat und Pilatus, bei Lukas zusätzlich Herodes. Wie Jesus mit seinen „Jüngern“ Helferfiguren zur Seite hat, die diesen Namen freilich nur bedingt verdienen, so auch seine Gegenspieler: „Diener“ und „Soldaten“. Judas, „einer aus den Zwölf“, wie er in allen vier Evangelien fast durchgehend heißt, kommt eine Schlüsselrolle zu, da er die Seiten wechselt, um Jesus „auszuliefern“. Umgekehrt gibt es im Umfeld der Gegenspieler Figuren, die sich Jesus annähern: Josef von Arimathäa und Nikodemus, beides Mitglieder des Synedrions. Auf Seiten des Protagonisten ist von „Jüngern“ die Rede (Mk  14,12.32), aber auch von den „Zwölf“ bzw. „Aposteln“ (Lk  22,14), darunter Simon Petrus, Jakobus, Johannes und Judas. Rätselhaft sind zwei anonyme Gestalten, deren Zugehörigkeit zum Jüngerkreis Jesu unklar 135 

G. Jeremias, Lehrer. Siehe unten in I.  1.5.3 den Abschnitt: Die Psalter-Matrix der neutestamentlichen Passionserzählungen etc., und 1.6. 137  Zu Augustinus vgl. Drobner, Predigten 51: „Nicht weniger als dreimal bezeugt Augustinus in seinen Werken, dass dieser Psalm (sc. Ps  21) in ganz Afrika in der Karwoche gelesen wurde, und zwar sowohl bei den Katholiken als auch den Donatisten“; vgl. ebd. 103 Anm.  21. 138  Der Psalter ist das im NT meistzitierte Buch. In welcher Form und in welchem Umfang er in den Gemeinden präsent war, ist nicht bekannt. Dass die Passionserzählungen nur bestimmte Psalmen rezipieren, erlaubt nicht, auf ihren „selektiven“ Gebrauch (Koch, Auslegung 223 f.) zu schließen. 139  Mit dem von Aristoteles in seiner Dramentheorie benutzten Begriff der Mimesis kann auch antike Geschichtsschreibung charakterisiert werden, insoweit sie als „mimetisch-dramatische“ Erzählung Geschichte derart vergegenwärtigt, dass der Leser in sie hineingeholt wird (Backhaus, Spielräume 13–20: „Mimetische Konstruktion“). 140 W. Kraus, Passion 425 f. („Jesu Passion als […] ‚Urbild‘ für die Jünger“); siehe unten IV  1.2.2 und 1.2.3. 136 

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I. Teil: Die Quellen

ist: der Schwertschläger von Mk  14,47 und der nackt fliehende „junge Mann“ von Mk  14,50 f.141. Hinzukommen „viele Frauen“ (Mk  15,41), einige namentlich aufgeführt, darunter in Joh  19,25–­ 27 auch Jesu Mutter142 . Nur Johannes weiß von einem „Jünger, den Jesus liebte“, der gleichfalls namenlos bleibt (Joh  13,23–25 u. ö.)143.

Zwischen dem Protagonisten und seinen Opponenten tut sich ein scheinbar neutrales Zwischenfeld mit breiter Skala möglicher Einstellungen zum Protagonisten auf: angefangen von der „Volksmenge“ (zwischen „Pöbel“ = ὄχλος und „Volk [Gottes]“ = λαός), die von den jüdischen Anklägern im römischen Prozess instrumentalisiert wird, bis hin zu Simon von Kyrene (Mk  15,21 par.) und den wehklagenden Frauen am Kreuzweg Jesu (Lk 23,27–31). Durchweg verdanken sich diese Erzählfiguren narrativer Konstruktion, auch wenn an einigen – über die Namen hinaus – historische Erinnerung haftet. Jesus als vorbildlicher Beter und Lehrer des Gebets Von Jesus lässt sich beten lernen, durch seine Art, aber auch durch seine Weisungen, die er seinen Jüngern vor allem in Getsemani erteilt144. Jesus zieht sich zum Gebet zurück, um allein mit Gott zu sein (Mk  14,32.35; vgl. Mt  26,36.39; Lk  22,41)145. Wenn er ihn im Gebet mit „Abba, Vater (αββα ὁ πατήρ)“ anredet (Mk  14,36), sehen sich die Leser und Hörer ermutigt, Gott ebenso anzureden, mit Worten, die besondere Nähe zu ihm, ja Intimität ausdrücken (vgl. Röm  8,15; Gal 4,6)146 . „Alles ist dir möglich“, betet Jesus, „doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (Mk  14,36): Beide Motive (die Anerkennung der alleinigen Vollmacht Gottes und das Bestreben, seinem Willen zu entsprechen [Ps  40,9LXX]) zeichnen sein Beten aus und dienen als Maßstab und Orientierung denen, die wie er zu beten suchen. Ähnlich verhält es sich mit dem Ruf Jesu am Kreuz, allerdings nur bei Lukas147. Er tauscht Ps  22,2 gegen Ps  31,6LXX („in deine Hände lege ich meinen Geist“148) aus und bringt damit zum Ausdruck, dass Jesu Beten angesichts des Todes paradigmatischen Charakter besitzt (Lk 23, 46; vgl. Apg  7,59). Wer neben der erzählten Gebetspraxis Jesu, die als solche schon vorbildlich ist, auch seine Worte über das Beten bedenkt, erfährt in seiner Gebetsschule vor allem dies: Beten heißt „Wach-Sein“ (Mk  14,34.38 par. Mt  26,38.41; Lk  22,46; außerdem Mk  13,33.37), Beten ist Sprache des Glaubens149. 141 

Zu beiden Figuren siehe unten II.  7.4. Zu den „Frauenlisten“ siehe unten I.  1.4.2 unter (1). 143  Zu ihm Theobald, Jünger 493–533. 144  Im Einzelnen vgl. unten II.  6 . 145  Das Rückzugsmotiv in Verbindung mit dem Gebet auch in Mk  1,35; Mt  6 ,5 f. 146  Mt  26,39 wandelt die Anrede in „mein Vater“ um, Lk  2 2,42 bietet bloßes „Vater (πάτερ)“ (vgl. auch Lk  10,21; 11,2; 23,46). 147 Bei Mk ist die Psalter-Christologie soteriologisch überformt, was sich insbesondere an Mk  15,34 (Ps  22,2) zeigt: siehe unten II.  10.2. 148  Die LXX formuliert futurisch: „In deine Hände werde ich meinen Geist legen (παραθήσομαι)“. 149  Vgl. auch Mk  11,22–25 par. Mt  21,21–22. 142 

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Jesus und Simon Petrus: Bekennen versus Leugnen Die Synedrion-Szene hat mit Jesus und Simon Petrus zwei Erzählfiguren, die paradigmatisch angelegt sind. Wenn alle vier Evangelien Jesu Verhör vor den jüdischen Autoritäten im Innern des Palastes des Hohepriesters szenisch mit seiner dreimaligen Verleugnung durch Simon Petrus im Hof verschränken, bedienen sie sich des rhetorisch-literarischen Mittels der σύγκρισις („Vergleich“)150 , das auch in der parallel strukturierten Pilatus-Szene mit ihrem Kontrast Barabbas / Jesus zum Zug kommt151. Hier ist die Opposition Verleugnen und Bekennen maßgebend: Petrus „verleugnet“ seinen Herrn, während dieser sich zu seiner Sendung bekennt152 . Das darf als urbildlich für die Leser und Hörer der Passionserzählung gelten (a)153. Auch der Inhalt des jesuanischen Bekenntnisses ist grundlegend. Es normiert ihren Glauben (b). (a) Wie andernorts in der Passionserzählung und in den Evangelien ist Simon Petrus auch hier der prototypische Jünger. Erfüllt der Erstberufene sonst die Rolle des Sprechers und Repräsentanten aller Jünger, so verkörpert er hier die stets lauernde Gefahr des Abfalls und der Untreue, der in der Erzählwelt des Markus und Lukas alle Jünger mit ihrer Flucht erliegen. Freilich wird auch von der bewegenden Reue des Petrus erzählt (Mk  14,72; Mt  26,75; Lk  22,61 f.)154, womit der paradigmatische Charakter der Szene verstärkt wird: Sie stellt den Hörern und Lesern die Alternative Verleugnen oder Bekennen vor Augen, um sie in ihrer Entscheidung für Jesus zu bestärken, falls sie aber schwach werden, die Möglichkeit der Umkehr unter dem vergebenden Blick Jesu. 150  Synkrisis: „wertende(r) Vergleich zwischen zwei gleichwertigen oder ungleichwertigen Personen oder Sachen“ (Schmitt, Weisheit 18); vgl. Weish  11,5–19,22. Holtz, Herrscher 204 Anm.  31 zur „kontrastierenden Gegenüberstellung zweier Rabbinen im Kontext einer Martyriumserzählung“; Borrell, News; A.Y. Collins, Mk 710. – P. Winter, Trial 32, erinnert an die alte Filmtechnik, „when the screen is divided in the centre, and two different scenes are unfolded before the eyes of the onlooker to make him aware of the fateful connection of the two courses of events“. 151 A.Y. Collins, Mk 721; Berger, Formgeschichte 223, nennt noch den Kontrast „zwischen Petrus und Judas […]: Petrus endet mit Reue, Judas mit Selbstmord“. Die zu Mk  14,53–72 in den Kommentaren des Öfteren erwähnte für Mk typische „Sandwich“-Technik (vgl. Mk  2,1–5/­6 –­ 10a/10b–12; 3,20 f./22–30/31–35; 5,21–24/25–34/35–43 etc.) ist eher redaktionskritisch gedacht. 152  Juel, Exegesis 94, sieht „Ironie“ im Spiel: „The sketchy account ends with Peter’s recalling Jesus’ prophecy: ‚Before the cock crows twice, you will deny me three times‘ (14,30) […]. And we learn that Peter’s denial takes place as Jesus is being mocked as a prophet by servants of the court (14,65) in response to his absurd prediction about a heavenly enthronement and glorious return (14,62). Yet as they taunt him – ‚Prophesy!‘ – one of his predictions is being fulfilled to the letter. The story is ironic throughout“. – „The major christological titles appear on the lips of enemies, who regard them as inappropriate, blasphemous, or seditious. The irony is that they speak the truth about Jesus every time they taunt him“. 153 „Verzicht auf Schmährede macht Jesus zum Vorbild für die Gemeinde, ebenso wie sein Bekenntnis zu sich selbst – im Kontrast zum verleugnenden Petrus – ihn zum Vorbild des Bekennens und Bekenntnisses der Gemeinde (vgl. 1Tim  6 ,13!) werden lässt“ (Berger, Gattungen 1255). 154  Joh erzählt wohl von den drei Verleugnungen, nicht aber von der Reue des Petrus. Erst das Nachtragskapitel Joh 21 „heilt“ diese Leerstelle, wenn es Jesus in Erinnerung an jene Nacht drei Mal ihn fragen lässt, ob er ihn liebe, woraufhin dieser diskret seine Beschämung äußert: „Herr, du weißt alles, du weißt, dass ich dich liebe“ (Joh  21,17).

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I. Teil: Die Quellen

Im Unterschied zu „verleugnen“ (ἀρνέομαι) begegnet das Gegenstück „bekennen“ (ὁμολογέω)155 im Verhör Jesu vor dem Hohen Rat nicht, wie die Evangelien insgesamt nie von einem „Bekennen“ Jesu sprechen156 . Die Antwort Jesu auf die Frage des Hohepriesters, ob er „der Messias, der Sohn des Hochgelobten“ sei (Mk  14,62), wird mit einfachem „er sagte“ eingeführt. Exkurs 1: Die Sprüche vom „Bekennen“ und „Verleugnen“ des Menschensohnes Zwei Logien der synoptischen Spruchüberlieferung beleuchten den urbildlichen Charakter der Doppelszene: das vom „Bekennen und Verleugnen“ des Menschensohns und die „Zusage göttlichen Beistands vor Gericht“. (1) Das Wort vom „Bekennen und Verleugnen“ des Menschensohns Q  12,8 f. (Lk  12,8 f. par. Mt  10,32 f.) hatte in der Logienquelle wahrscheinlich folgenden Wortlaut157: 8 b A Jeder, der sich bekennt (ὁμολογήσῃ) zu mir   vor den Menschen (ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων), c zu dem wird sich auch der Menschensohn bekennen (ὁμολογήσει)   vor den Engeln […]. 9 a B Wer mich aber verleugnet (ἀρνησάμενός με)   vor den Menschen (ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων), b wird verleugnet werden (ἀρνηθήσεται)   vor den Engeln […]158 . Die Opposition „bekennen“ (A) versus „verleugnen“ (B) strukturiert den Spruch. Sie liegt auch der Doppelszene der Passionserzählung formgebend zugrunde159. Der erste Evangelist markiert den Zusammenhang der Petrus-Episode mit dem Spruch ausdrücklich, wenn er die Notiz „er (sc. Petrus) leugnete aber (ὁ δὲ ἠρνήσατο)“ über Markus hinaus um die präpositionale Wendung „vor allen (ἔμπροσθεν πάντων)“ ergänzt (Mt  26,70; vgl. 10,32 f.). Nach Q  12,8 f. gibt es für den, der Jesus verleugnet, keine Chance der Rettung mehr im Himmel. Wird der angehängte Spruch Q  12,10 hinzugenommen, deutet die (nachträgliche) Komposition eine Differenzierung an: Wer Jesus verleugnet, ist noch nicht ohne Hoffnung; erst die Lästerung des „heiligen Geistes“ nach Ostern bedeutet Heilsverlust. Weil Petrus in der Erzählwelt der Passionserzählung gleich Reue zeigt, erfährt er nach Ostern Vergebung. 155  Beides, „bekennen“, „verleugnen“, ist für Joh auch sonst wichtig. Joh  1,20: „und er (sc. Johannes) bekannte und leugnete nicht, und er bekannte: …“. Joh  9,22 („wenn jemand ihn als Christus bekennt, wird er aus der Synagoge ausgeschlossen“): Die Geschichte vom Blindgeborenen ist die Geschichte eines Menschen, der wegen seines Christus-Bekenntnisses aus der Synagoge ausgeschlossen wird (vgl. Joh  12,42: „Doch auch von den führenden Männern kamen viele zum Glauben an ihn; aber wegen der Pharisäer bekannten sie es nicht offen […]“. So wird auch die Episode Joh  18,25–27 mit dem „Verleugnen“ des Petrus (ἀρνέομαι in V.25 und 27 rahmt sie) doppelbödig sein. 156  Zu 1Tim  6 ,13 siehe unten! 157  Hoffman/Heil, Spruchquelle 76 f. 158  Fleddermann, Q 574 f., postuliert für die vierte Zeile folgende Fassung: „auch der Menschensohn wird ihn verleugnen vor den Engeln“. 159  Bemerkenswert ist, dass ἀρνέομαι Q  12,9 (Mk spricht von einem „Sich-Schämen“) auch in der Episode von der Verleugnung des Petrus das Leitwort ist: bei Mk, Mt und Joh jeweils 2-Mal, bei Lk  1-Mal: vgl.: Mk  14,68 par. Mt  26,70; Lk  22,57; Joh  18,25 (= 1. Verleugnung); Mk  14,70 par. Mt  26,72; Joh  18,27 (= 2. Verleugnung). Die 3. Verleugnung überbietet die beiden ersten: „Er aber begann zu fluchen und schwor: Ich kenne diesen Menschen nicht, von dem ihr redet“ (Mk  14,71; ähnlich Mt  26,74; Lk  22,60).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Im Vergleich zur Q-Fassung, welche die älteste greifbare sein dürfte, ist der Spruch in Mk  8,38 (vgl. auch Lk  9,26) nicht nur halbiert, sondern auch sprachlich weitgehend neu gefasst: 38 a C Wer sich nämlich meiner und meiner Worte schämt   unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, b dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, c   wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.   (2) Das zweite hier zu bedenkende Wort, das vom göttlichen Beistand vor Gericht (Q  12,11 f. par. Mk  13,9–11), ist dem eben besprochenen in der Logienquelle unmittelbar benachbart und lautete dort möglicherweise160 : 11 12

a b c a b

Wenn sie euch vor die Synagogen(gerichte) führen (ἐπὶ τὰς συναγωγάς)161, sorgt euch nicht, wie und was ihr sagen sollt162; denn der heilige Geist wird euch in dieser/jener Stunde lehren, was ihr sagen sollt.

Dieser Spruch scheint eine Erfahrung widerzuspiegeln, welche Jesusanhänger des Öfteren machten: Ihre Verkündigung der Königsherrschaft Gottes im Namen Jesu brachte sie vor Synagogen-Gerichte. Warum sie Anstoß erregten, ist nicht gesagt163. Markus, der den Spruch im Kontext seiner eschatologischen Rede Jesu bietet, hat ihn generalisiert und intratextuell mit dem Prozess Jesu verknüpft (Mk  13,9–11): 9 10 11

a A Seht auf euch selbst: b B 1  Ausliefern werden sie euch (παραδώσουσιν) an Synedrien[gerichte] (εἰς   συνέδρια)164, c B 2 und in Synagogen werdet ihr geprügelt werden (δαρήσεσθε), d B 3 und vor Statthalter und Könige werdet ihr gestellt werden um meinetwillen, e   zum Zeugnis für sie. a C – Und an alle Völker muss erst das Evangelium verkündet werden. – a D 1 Und wenn sie euch abführen (καὶ ὅταν ἄγωσιν), b [euch] ausliefernd (παραδιδόντες), c D 2 sorgt euch nicht im Voraus, d was ihr sagen sollt (λαλήσητε), e sondern was euch in jener Stunde gegeben wird, f das sagt (λαλεῖτε). g E Denn nicht ihr seid es, die reden (οἱ λαλοῦντες), h sondern der Heilige Geist.

160  Hoffmann/Heil, Spruchquelle 78 f. Die Rekonstruktion ist kontrovers; vgl. Fleddermann, Q 576 f. 161  Lk fügt hinzu: „und vor die Machthaber und die Gewalten (τὰς ἀρχὰς καὶ τὰς ἐξουσίας)“, Mt spricht in 10,17c noch vom „Geißeln“: „und in ihren Synagogen werden sie euch geißeln (μαστιγώσουσιν)“. 162  Lk  12,11d spricht außerdem noch vom „Sich-Verteidigen“ (ἀπολογήσησθε). 163  War es ihre Proklamation Jesu als Menschensohn? Ihre Berufung auf Jesus als Exorzist, der als Magier im Verbund mit Satan galt? Den schmählichen Tod Jesu sucht die Logienquelle mit dem Theologumenon vom typischen Prophetenschicksal zu verarbeiten (siehe unten in III.  2.3.3 zu Q  13,34 f.). 164  Pesch, Mk II 284: „Wahrscheinlich ist die von der Aktion der Verfolger handelnde allgemeinere Wendung παραδώσουσιν ὑμᾶς eine erste Ansage, die dann im Blick auf die Folgen der Auslieferung doppelt konkretisiert wird“. Die beiden konkretisierenden Zeilen, die folgen, nennen vorweg jeweils eine doppelte Instanzen-Angabe: „die Synedrien und Synagogen“ und „die Statt­halter und Könige“.

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I. Teil: Die Quellen

Die Komposition umfasst nach der Einleitung (A) zwei große Teile (B + D/E), die der Gelenksatz V.10 (C) zusammenhält. Der erste Teil thematisiert drei typische Stationen: Auslieferung – Auspeitschung165 – Prozess166 . Die Stichworte „ausliefern (παραδίδωμι)“ (V.9b)167 und „abführen (ἄγω)“ (V.11a)168 , aber auch die Abfolge der Gerichtsinstanzen (jüdische + römische Gerichte)169 verbinden die Spruchsequenz intratextuell mit der Passionserzählung. Der Vergleich mit Q  12,11 f. macht es wahrscheinlich, dass der traditionelle Kern des von Markus dargebotenen Spruches in V.11 zu suchen ist. V.9 + 10 sind redaktioneller Vorbau170 , V.11a.b ist in der vorliegenden Gestalt „Wiederaufnahme“ von V.9, die nach der Unterbrechung durch V.10 notwendig wurde171. Der Markus vorgegebene Spruch begann wohl mit dem prospektiven Temporalsatz: „wenn (wie zu erwarten ist) sie euch abführen“ (V.11a), und nannte auch die Gerichtsinstanz(en), die im markinischen Text – jetzt erweitert und generalisiert – zu Beginn in V.9 aufgeführt sind. Markus hat das ihm vorgegebene Logion V.11 durch V.9 f. erweitert. Ziel der Erweiterung war es, das Geschick der Jünger mit dem Jesu in seiner Passion zu parallelisieren. Der Spruch ist als Leseanweisung für die Passionserzählung gedacht: Was Jesus erlitt – ausgeliefert, vor Gericht gestellt und gegeißelt –, das haben auch seine Nachfolger in und außerhalb Judäas zu erwarten172 .

(b) Urbildlich an der Doppelszene Mk  14,53–72 ist nicht nur die Alternative „bekennen“ versus „verleugnen“, sondern auch der Inhalt des „Bekenntnisses“, das Jesus vor dem Hohepriester ablegt (Mk  14,61 f.)173. Es bietet ein Summarium der markinischen Christologie174 und antizipiert das christologische Bekenntnis der 165  Mit der Prügel V.9c ist die synagogale Geißelungsstrafe gemeint; vgl. 2Kor  11,24 f. Das Verb δέρω auch Joh  18,23. 166  „Stehen vor“ V.9d ist „Sprache des Prozesses“: W. Bauer, Wörterbuch 566. 167  Das Verb begegnet an den Schaltstellen der mkn. Passion: vgl. Mk  14,10.41.42.44; 15,1.10.15. Vgl. auch Joh  18,2.30.35.36; 19,16. Lührmann, Mk 220: „Παραδιδόναι ist geprägter Terminus für das Schicksal Jesu (9,31; 10,33 u. ö.); das Schicksal der Jünger entspricht dem Jesu“. Pesch spricht im Anschluss an Popkes, Christus 147, von einem „Terminus der Gerichtssprache“ (Mk II 284 Anm.  5). 168 Vgl. Mk   14,53: „Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester […]“; ferner: Mk  15,16.20; Joh  18,13.28. 169  Lührmann, Mk  2 20, sieht unter Berufung auf E. Lohse, Art. συνέδριον 864 (Plural von συνέδριον: jüdische Lokalgerichte außerhalb Jerusalems) und Schrage, Art. συναγωγή 829 (die Synagogen besaßen lokale Gerichtsbarkeit außerhalb Judäas) in V.9b.c eine Unterscheidung zwischen „jüdischen Instanzen innerhalb (συνέδρια) und außerhalb Judäas (συναγωγαί)“; V.9d fügt römische Instanzen (ἡγεμών nur hier bei Mk; βασιλεύς in Mk  6 ,14–27; 15,2–32) hinzu; die Kombination beider Termini auch in 1Petr  2,13 f. 170  Lührmann, Mk 221: „9 und 11 sprechen das typische Schicksal in der Nachfolge an, nicht allein eine besondere Situation im Zusammenhang der in 7f vorausgesetzten Kriege; daher handelt es sich wohl um Worte, die Erfahrungen der Gemeinde als Worte Jesu formulieren. Mk aktualisiert sie durch 10 und wertet dadurch die Verfolgung als Verkündigung des Evangeliums“; Pesch, Mk II 283: Es handelt sich um „Verfolgungs- und Martyriumsparänese“, die „urchristliche Erfahrungen im prophetischen Stil“ verarbeitet. 171  Das Stichwort „ausliefern“ V.11b „rhythmisiert“ jetzt die Spruchsequenz: V.9b.11b.12a. 172  Die Apostelgeschichte könnte dazu als Kommentar gelesen werden. 173  Von einem „Bekenntnis“ Jesu – allerdings vor Pontius Pilatus – spricht 1Tim  6 ,13: „Ich gebiete dir vor Gott, der alle Dinge lebendig macht, und vor Christus Jesus, der unter Pontius Pilatus bezeugt hat (μαρτυρήσαντος) das gute Bekenntnis (τὴν καλὴν ὁμολογίαν)“. Roloff, 1Tim  344: gemeint sei wohl ein „Wortzeugnis“: „In diesem Fall hätte μαρτυρήσας die Bedeutung des unter Pontius Pilatus, d. h. in einer forensischen Situation, abgelegten bekennenden Zeugnisses […]“. 174  Dazu siehe unten II 8.2.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Kirche175 , das an Jesu Worten Maß nimmt: Was in der entscheidenden Stunde seines Lebens Jesus über sich sagt, ist bindend für seine Zuhörer176 . Klaus Berger ordnet die Frage des Hohenpriesters „Bist du der Messias …?“ formkritisch der „Verhör-Schilderung“ mit dem Teilelement „Feststellung der Identität des Angeklagten“ zu177. Damit verdeckt er aber den Ursprung der Szene in der frühchristlichen Bekenntnis­ tradition. Es handelt sich um eine Redeform, die Berger an anderer Stelle unter dem Titel „Identifikatorische Akklamation durch ‚Du bist …‘ oder ‚Dieser ist …‘ (Prädikation)“ abhandelt178 . Solche Akklamationen konnten in eine Installation (von oben nach unten) transformiert werden (so in der Tauferzählung: „du bist mein geliebter Sohn …“), aber auch in eine Präsentation des Installierten (so in der Verklärungsperikope: „dieser ist mein geliebter Sohn, ihn sollt ihr hören“). In Mk  14,61 f. ist das Bekenntnis in eine Verhör-Frage umgewandelt, die dem Angeklagten Gelegenheit zum Selbstbekenntnis gibt: „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? – Ich bin es […]“. Formkritisch ist dieser Wortwechsel im Zusammenhang mit anderen derartigen Bekenntnis-Szenen zu sehen, etwa dem des Petrus bei ­Cäsarea Philippi („was sagen die Menschen, wer ich sei ….? Du bist der Messias …“) oder dem des römischen Hauptmanns am Kreuz („wahrlich, dieser war …“), alles literarische Inszenierungen frühchristlicher Bekenntnisse.

Was aus Jesu Bekenntnis folgt, ist paradigmatisch: Indem Jesus sich freimütig vor Gericht zu seiner Sendung bekennt, bringt er seine irdischen Richter auf, die ihn zum Tod zu verurteilen. Sein Bekenntnis kostet ihn das Leben. Das droht auch denen, die ihm nachfolgen. Auch ihr Bekenntnis führt in das Leiden, vielleicht ins Martyrium, in jedem Fall aber in Situationen, in denen sie öffentlich Rechenschaft abzulegen haben. So können die Leser in Mk  14,53–72 par. ihre eigene Situation wiederfinden. Wahrscheinlich wurde die Szene um ihrer Typik willen so gestaltet: als Rückprojektion späterer Erfahrungen in die Prozesssituation Jesu. Simon von Kyrene – Prototyp der Kreuzesnachfolge? Paradigmatisch ist auch die kleine Episode mit Simon von Kyrene (Mk  15,21 par. Mt  27,32; Lk  23,26). Sie bringt die Kreuzesnachfolge ins Bild, wie sie der älteste Evangelist bereits in Mk  8,34 (par. Mt  16,24; Lk  9,23) thematisiert hat179: Wenn jemand hinter mir her nachfolgen will, verleugne er sich selbst (ἀπαρνησάσθω ἑαυτόν) und nehme sein Kreuz auf sich (ἀράτω τὸν σταυρὸν αὐτοῦ) und folge mir nach. 175  Lietzmann, Prozess 255: „Wenn ein Christ sich mit eigenen Ausdrucksmitteln eine solche Frage des Hohenpriesters formulieren wollte, lag ihm der 14,61 begegnende Wortlaut nahe“; E.  Lohse, Geschichte 85 f. 176  Aufschlussreich für die Struktur der mkn. Christologie: Das christologische Bekenntnis gründet zwar auf dem Auferstehungskerygma, orientiert sich aber (der Evangelienform entsprechend) an den Worten des irdischen Jesus. 177  Berger, Formgeschichte 335. „Als besondere erzählerische Teilgattung entwickelt sich die szenisch gestaltete Verhör-Schilderung (gr.: anakrisis)“; ebd. 335 f.: „Wichtigste Elemente: Anklage durch Zeugen, Befragung des Angeklagten über die Vorwürfe, Befragung des Angeklagten danach, wer er sei (die beiden letztgenannten Elemente fallen im Prozess Jesu zusammen!) […]“. 178  Ebd. 233–236. 179  Der Spruch auch in der Logienquelle (Lk  14,27 par. Mt  10,38) und im EvThom  55.

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I. Teil: Die Quellen

„Sein Kreuz auf sich nehmen“ ist keine gängige Redensart, sondern „vom Tode Jesu her formuliert“. Auch das „Sich selbst Verleugnen“ weist voraus auf die Passionserzählung, „in der Petrus nicht sich selbst, sondern Jesus verleugnen wird […], und auch nicht er oder ein anderer Jünger Jesu Kreuz auf sich nehmen wird, sondern Simon von Kyrene“180 . Obwohl Simon von Kyrene gezwungen wurde, Jesu Kreuz zu tragen (Mk  15,21: ἄρῃ τὸν σταυρὸν αὐτοῦ), „betrachtete man seinen Dienst als vorbildliche Kreuzesnachfolge“181. Lukas verstärkt dies noch, wenn er formuliert: „Sie legten das Kreuz auf ihn, damit er es hinter Jesus hertrage (φέρειν ὄπισθεν)“ (Lk  23,26)182 . 1.2.3 Primäre und sekundäre Intention der Passionserzählungen. Zwischenbilanz Im Rückblick auf die gewonnenen Einsichten legt sich eine erste Einsicht zur Pragmatik der Passionserzählungen nahe: Es empfiehlt sich, zwischen primärer und sekundärer Intention zu unterscheiden. Die primäre Intention der Erzählungen ist es, den Kreuzestod Jesu mit sinnstiftendem Bezug zur Hörerschaft christologisch aufzuarbeiten. Sie leisten es, indem sie Jesu Lebensende unter Rekurs auf die Schrift so erzählen, dass es entgegen seiner katastrophalen Deutung im Licht von Dtn  21,23  – „Verflucht ist (von Gott), wer am Holz hängt“ – als Heilsgeschehen verstehbar wird. Das Bekenntnis zur „Auferweckung“ Jesu (vgl. Mk  16,6) als seiner Rechtfertigung durch Gott ist der Dreh- und Angelpunkt schon der ältesten Passionserzählung, ihr geheimer Konstruktionspunkt. Der Psalter als Matrix der Passionserzählungen bestimmt das Bild der Jerusalemer Autoritäten, die Jesu Kreuzigung veranlassten. Im Licht des Psalters und seiner Typologie sind es „die Feinde“ des unschuldig leidenden Gerechten bzw. des Messias, was nur im innerjüdischen Horizont Plausibilität besitzt.

Von der christologischen Primärintention der Passionserzählungen sind sekundäre Intentionen zu unterscheiden, die sich erst im Lauf ihrer Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte zeigen bzw. sich an sie heften. Sie hängen mit dem Selbstverständnis der hinter den Evangelien stehenden Ekklesien zusammen, die sich zu den benachbarten nicht-jesusgläubigen Synagogen einerseits, zur römischen Umwelt andererseits ins Verhältnis setzten. Beides färbte auf die Erzählungen vom jüdischen bzw. römischen Verfahren gegen Jesus ab. Dass es sich hier um „polemisch bzw. apologetische Texte“ handelt, zeigt Wolfgang Stegemann zufolge schon ihr „oberflächlicher Vergleich“: „In ihnen werden jüdische Instanzen oder dann pauschal ‚die‘ Juden mit zunehmender Tendenz mit der Schuld am Tode Jesu belastet, dagegen bekommt Pilatus, der eigentlich Verantwortliche für den Tod Jesu, die 180 

Lührmann, Mk  152; vgl. Kuhn, Gekreuzigter 41–43. Gnilka, Mk II 315; ebd.: „Die Aufnahme des Kreuzes ist im Anschluss an den Spruch von der Kreuzesnachfolge formuliert (8,34)“; anders Allison, Constructing 425 mit Anm.  138. 182  Mt  27,32 („diesen zwangen [ἠγγάρευσαν] sie, dass er sein Kreuz trage“) hebt einen anderen Aspekt hervor, wenn er in 5,41 das Thema der Zwangsrequirierung antizipiert: „Und wenn dich einer zwingen will (ἀγγαρεύσει), eine Meile mit ihm zu gehen, geh mit ihm zwei!“ 181 J.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Rolle dessen, der Jesu Unschuld bestätigt“183. Beides ist miteinander verquickt: In dem Maß der Statthalter ent-lastet wird, werden die jüdischen Autoritäten Jerusalems be-lastet. Waren die „Feinde“ des unschuldig leidenden Messias Jesus vom mutmaßlich ursprünglichen Konzept der Passionserzählung her in das vom Psalter geprägte biblische Figuren-Ensemble von Freunden und Gegnern des Verfolgten eingebunden, so werden sie jetzt zunehmend daraus gelöst und zu Repräsentanten des „Volkes“. Greifbar wird diese Entwicklung insbesondere am Johannesevangelium, später bei Justin etwa, wenn dieser Psalm  22 durchgängig als Passionserzählung liest und sich dabei nicht scheut, die „Feinde“ des Gerechten mit den „Juden“ bzw. der „Synagoge“ zu identifizieren184. Jesus, „verachtet vom Volk (ἐξουδένημα λαοῦ)“ (Ps  22,7b) – „weil er, von eurem Volk verachtet und entehrt (ὑπὸ τοῦ λαοῦ ὑμῶν ἐξουδενωθεὶς καὶ ἀτιμωθείς), all das erduldete, was ihr ihm bestimmt habt“, schreibt Justin im Dialog mit Tryphon (101,2) und bezieht Ps  22,17 („Ja, mich haben Hunde umringt, eine Rotte von Übeltätern [συναγωγὴ πονηρευομένων] hat mich umkreist!“) umstandslos auf „die Synagoge“ (Dial.  104,1)185. „Anti-Judaismus“ führt ihm die Feder. Die in den kanonischen Passionserzählungen angelegten Tendenzen wirken sich ungebremst aus. 1.3 Zur Entstehung der kanonischen Passionserzählungen. Vorformen und Archetyp Gibt es Vorformen der kanonischen Passionserzählungen oder ist lediglich mit Einzelüberlieferungen zu rechnen, die zum ersten Mal Markus verschriftlicht hat?186 Welche Modelle wurden entwickelt, um Vorformen zu eruieren (1.3.2)? Was sind die Rahmenbedingungen einer solchen Rückfrage (1.3.1)? 1.3.1 Die Passionserzählungen als Erinnerungs-Texte des „kommunikativen Gedächtnisses“ In Orientierung an Jan Assmann187 lässt sich bei der Vorgeschichte der kanonischen Passionserzählungen, der für die Entstehung der Evangelien nach 70  n.Chr. grund183 W. Stegemann, Beteiligung 10; ders., Jesus 368–375; ihm zufolge rührt die Tendenz der Entlastung des Pilatus maßgeblich von der römischen „Identifizierung“ der Christen „als Mitglieder einer kriminellen Gruppe“ her, die sich auf einen gekreuzigten antirömischen Rebellen beriefen; mit den Passionserzählungen versuchten die Christen ihrer „Kriminalisierung“ zu wehren (374); vgl. auch E.W. Stegemann, Angesicht 23–52. 184  Lieu, Transformation 210: „The progressive blaming of the Jews for the crucifixion of Jesus, and the effectual veiling of Pilate, is becoming embedded within and legitimated by the interpretation of Scripture“. 185  Dial.  104,1: „Diese Worte waren […] eine Prophezeiung der Todesart, zu welcher Jesus verurteilt werden sollte durch die Versammlung der Bösewichter. Wenn sie Hunde heißen, so wird auf die Jagd hingewiesen, welche sie gemacht haben; denn in der Gier, Jesus zu verurteilen, haben sie, ehe sie ihre Versammlung hielten (συνήχθησαν), nach ihm gejagt“; dazu Lieu, Transformation 209: „For Justin the Jews are the primary actors in Jesus’ death“. In Apol  38,7 erklärt Justin, dass „dies alles dem Christus von Seiten der Juden geschehen“ sei. 186  Siehe Hinführung 2.1. 187  Assmann, Gedächtnis 48–66; vgl. die Zusammenfassung der Theorie bei Welzer, Gedächtnis 7–18.

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I. Teil: Die Quellen

legenden Phase, von einer ersten Formung des frühchristlichen „kommunikativen Gedächtnisses“ sprechen. Das „kommunikative Gedächtnis“ bezeichnet Assmann zufolge (in einer prägnanten Formulierung von Harald Welzer) „die eigensinnige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der Großerzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie dieser (Vergangenheit) beilegen“188 . Das „kommunikative Gedächtnis“ ist so etwas wie ein „Kurzzeitgedächtnis“, das „an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden“ ist189. „Es lebt in interaktiver Praxis im Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen“190 . Jan Assmann zufolge ist es „durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit“ gekennzeichnet191.

Jesu Anhängerschaft in der Situation nach seinem Tod war eine solche Gruppe „lebendiger Träger und Kommunikatoren“ von Jesus-Erfahrung, die sich „im Wechselspiel mit der Großerzählung der Wir-Gruppe“, also dem Judentum ihrer Umgebung, über ihre „eigene Vergangenheit“ verständigte. Die Gruppe „bearbeitete“ die Erfahrung der schändlichen Hinrichtung ihres Meisters am Kreuz, die sie schockiert, verletzt und in Trauer gestürzt hat192 , im gegenseitigen Austausch, woraus sich ihre Erinnerung formte. Die Weise dieser Trauerarbeit war das Erzählen, das sich mit Jürgen Straub als „eine spezifische Sprachform und kommunikative Praxis“ verstehen lässt. Eine Gruppe verarbeitet Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht oder auch erlitten hat, im Erzählen und kreiert damit neuen Sinn193. Jan Assmann zufolge wandelt sich das „kommunikative Gedächtnis“ mit wachsendem Abstand von den Gründungserfahrungen in der Regel nach zwei oder drei Generationen in das sogenannte „kulturelle Gedächtnis“. Die Vergangenheit wird jetzt nicht mehr durch die lebendigen Träger der Erfahrung, sondern durch „kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten“194. Bei der frühchristlichen Traditionsbildung könnte die Entstehung des mutmaßlich ältesten Evangeliums bald nach 70  n.  Chr. als Beginn solcher Transformation des „kommunikativen“ in das „kulturelle Gedächtnis“ gedeutet werden195. Als literarisches Werk löste sich das Markusevangelium relativ schnell von seinem Her188 

Welzer, Gedächtnis 15. 14. 190 Ebd. 191  Assmann, Identität 10. 192  Keith/Thatcher, Scar 197–214. 193  Straub, Geschichten 82; das Erzählen ist als spezifische kommunikative Praxis „von anderen [Weisen] wie beispielsweise dem Beschreiben, Berichten, Schildern oder Argumentieren [zu] unterscheiden“. 194  Assmann, Identität 12. 195  Hübenthal, Markusevangelium; dies., Vita. 189  Ebd.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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kunftsort und führte in Gestalt des Matthäus- und Lukasevangeliums, die beide auf Markus reagieren, zu weiterer literarischer Produktion. Das vierte Evangelium trat später hinzu. Die Formung der Vier-Evangelien-Sammlung im Sinne eines kirchlichen Referenztextes im 2.  Jh. samt anschließenden Kanonisierungsprozessen unter Ausschluss alternativer Evangelien und der Stabilisierung kirchlicher Amtsstrukturen und Glaubensregeln brachte den Übergang vom „kommunikativen“ in das „kulturelle Gedächtnis“ zu einem Abschluss. Der erste zukunftsträchtige Schritt zu dieser Entwicklung wäre grundlegend die Schaffung des ersten Exemplars der Gattung Evangelium durch Markus bald nach 70  n.Chr. Doch sind aus der Perspektive der Erforschung der Passionserzählungen an der angedeuteten Übernahme des Assmann-Modells zwei wichtige Modifikationen angebracht. (1) Die Jesusgläubigen formten ihre Erinnerung an Jesus im gegenseitigen Austausch zeitig nach „Ostern“. Einzelne Worte Jesu und Episoden aus seiner Vita hatten sich ihrem Gedächtnis bereits eingeprägt. Die Passionsmemoria nahm beim jährlichen Paschafest Gestalt an, einem „Ansatzpunkt für Traditionsbildung“, wie er sich idealer nicht denken lässt196 . Zum Erzählen gehören soziale Orte und Zeiten: Das Paschafest der ersten Jesusgläubigen war die Gelegenheit, dem rituell wiederholten Erzählten stabile Form zu verleihen197. Ergebnis war der Archetyp der kanonischen Passionserzählung, der wahrscheinlich frühzeitig verschriftlicht wurde198 . Darauf deuten verschiedene Indizien hin. Beachtlich sind zunächst die Rahmenbedingungen: In der Jerusalemer Ekklesia gab es gewiss „Schriftgelehrte“, die sich mit Texten auskannten, lesen und schreiben konnten199. Dem entspricht der hohe Grad der Präsenz der „Schriften“ in der 196 J. Blank, Johannespassion 154: „Geht man […] davon aus, dass Jesus auf jeden Fall im Rahmen der Pessach-Mazzot-Woche verurteilt und hingerichtet wurde, dann haben wir auch einen festen Haftpunkt/‚Sitz im Leben‘, an welchem die Traditionsbildung der Passionsberichte sich festmachen konnte. Denn damit war eine alljährliche Wiederkehr des Todesdatums Jesu und der Anamnese seines Leidens apriorisch garantiert; das heißt, es gibt einen Ansatzpunkt für Traditionsbildung, wie man ihn idealer gar nicht haben konnte. Die Jesus-Jünger mussten sich an die Vorgänge der Passion Jesu erinnern; dem Vergessen und Verdrängen war durch die Koinzidenz mit Pessach ein Riegel vorgeschoben“; ausführlich dazu unten I.  1.6. 197  Assmann, Gedächtnis 90, zum jüdischen Seder-Mahl. 198  Für die vormkn. PE nehmen Schriftlichkeit an: Dormeyer, Passion 55 f.256; L. Schenke, Christus 137; Pesch, Mk II 1–27; Koester, Gospels 288; A.Y. Collins, Mk 625 („Mark used a written source in composing his passion narrative but […] the source was a transitional text [between oral and literary production and performance]“); Guttenberger, Mk 22. – Für die vorjoh. PE: Bultmann, Joh 491; Koester, Gospels 253; Reinbold, Bericht 180–186; Schleritt, Pas­ sionsbericht 108. – Reinbold argumentiert für Schriftlichkeit schon der ältesten erreichbaren PE, während Schleritt dies für PEmk und PEjoh annimmt (manche joh. und mkn. Ergänzungen erwecken den „Eindruck […], „einem bereits fixierten Text hinzugefügt zu sein“), nicht aber schon für die PEG. – Becker, Joh II 634, geht von einem „mündlichen Erzählzusammenhang mit relativ fester Struktur und Sprachgestalt“ aus, um Abweichungen von der mkn. Erzähltradition durch lkn. Varianten besser erklären zu können, berücksichtigt dabei aber noch nicht die Zusammenhänge zwischen PElk/joh und PEjoh; zu Inkonsistenzen seiner Position vgl. Reinbold, Bericht 185 f. Anm.  301; auch Weidemann, Tod 229–231. 199  C. Heil, Textverarbeitung 32–36, zur Logienquelle; christliche Schriftgelehrte bezeugt Mt: 13,52; 23,8–10.34.

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I. Teil: Die Quellen

Passionsüberlieferung. Hinzu kommen Länge, innere Kohärenz und Komplexität der vorkanonischen Formen der Passionserzählungen. Von Gewicht ist der im II.  Teil zu erhebende Befund: Die voneinander unabhängigen vorkanonischen Formen der Passionserzählung (PEmk einerseits, PElk/joh andererseits) weisen über ihre Gemeinsamkeiten in Struktur und Abfolge ihrer einzelnen Teile hinaus zahlreiche wörtliche Übereinstimmungen selbst in nebensächlichen Wendungen auf. Schließlich ist auf den gottesdienstlichen „Sitz im Leben“ der Passionserzählungen zu verweisen 200 . Rituelles Erzählen lädt zur Verstetigung und Verschriftlichung ein. So gesehen ist es nicht das Markusevangelium, das als angeblich erster literarischer Niederschlag der Jesusüberlieferung die Entwicklung vom „kommunikativen“ hin zum „kulturellen“ Gedächtnis der Ekklesien anstieß, sondern davor liegt noch die Formung der vorkanonischen Passionserzählungen. Das bekannte Dik­ tum von Martin Kähler vom Markusevangelium als einer „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ trifft auch insofern zu, als die Passionserzählung Keimzelle des ältesten Evangeliums ist. Dies gilt analog vom Johannesevangelium, das auf einer eigenen Variante (PEjoh) fußt. (2) Vom einem frühchristlichen „kommunikativen Gedächtnis“ zu sprechen, das in der zweiten oder dritten Generation sich im Ausgang vom Markusevangelium in ein „kulturelles“ zu wandeln begonnen habe, wird der Komplexität der Gegebenheiten nicht gerecht. Die ersten Jesusgläubigen lebten ganz aus dem „kulturellen Gedächtnis“ des frühen Judentums, feierten das Paschafest im Gedenken an den Messias Jesus, dessen Wiederkunft sie in Bälde erwarteten, und „schrieben“ ihren Glauben an die Ankunft des von den „Schriften“ verheißenen Messias in das jüdische „Gedächtnis“ als dessen eschatologische Vollendung „ein“. An solcher Weiterbildung des jüdischen „kulturellen Gedächtnisses“ hatten sowohl die vorkanonischen Passionserzählungen als auch die kanonischen Evangelien teil. Die Umwandlung des „kommunikativen“ Gedächtnisses der jesuanischen Messias-Gruppen in ein christliches „kulturelles“ Gedächtnis ist ein Teilmoment der übergeordneten Frage, wann und wo die frühen Ekklesien begannen, sich von ihrem synagogalen Mutterboden zu entfernen und unter Rekurs auf ihre eigenen Schriften, die Evangelien und die Apostelbriefe, ein vom Judentum getrenntes „kulturelles“ Gedächtnis mit eigener Identität auszubilden. Für eine Darstellung der Geschichte der Ekklesien und die Einordnung ihrer Literatur ist diese hier nicht weiter zu verfolgende Frage von grundlegender Bedeutung. 1.3.2 Auf dem Weg zu einem integrativen literargenetischen Modell Basis der im Folgenden darzustellenden Hypothesenbildung zur Entstehung der kanonischen Passionserzählungen ist die im Rahmen der Zwei-Quellen-Theorie anerkannte Annahme, dass Markus das älteste Evangelium ist. Die frühesten Re-

200 

Siehe unten I.  1.6.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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konstruktionsversuche einer vorkanonischen Passionserzählung, die dem ersten Modell folgen 201, lassen das vierte Evangelium noch beiseite202: Modell 1 PEmk Mk

Mt Lk Modell  1 hat bis heute Anhänger 203. So plausibel einzelne literar- und überlieferungskritische Beobachtungen zum ältesten Evangelium sein mögen, es fehlt eine Möglichkeit, die eruierte PEmk anhand anderer Quellen zu kontrollieren. Willkürlich werden die Rekon­ struktionen, wenn verschiedene vormarkinische Schichten postuliert werden, von Joachim Gnilka etwa eine Grundüberlieferung und deren apokalyptische Überarbeitung 204.

Modell 2 (mit zwei Varianten)              PEmk                            PElk (Variante 1)              Mk              oder                            Sondergut (Variante 2)        Mt            Lk Während das „Sondergut“205 des Matthäus von der Forschung weithin entweder auf die Redaktion des ersten Evangelisten oder auf ihm zur Verfügung stehende unzusammenhängende legendarische Überlieferungen zurückgeführt wird, gibt die Lukaspassion mit ihrer 201 

Soards, Question (1994), im Anhang zu Brown, Death I, bietet eine detaillierte Übersicht. Pesch, Prozess 27 f.: „Die johanneische Darstellung ist in wesentlichen Punkten, z. B. ihrer abweichenden Chronologie mit dem einen Tag früheren Todesdatum, gegenüber der vormarkinischen Darstellung sekundär; sie kann deshalb nicht als ganze, sondern nur in Einzelheiten ergänzend bei der Rekonstruktion des Prozesses Jesu zu Rate gezogen werden. Die Rekonstruktion muss zunächst auf der Grundlage des vormarkinischen Berichts erfolgen“. 203  A.Y. Collins; J. Gnilka; Pesch; Schenke; Schenk; Schille; J. Schreiber; Sommer. 204 J. Gnilka, Mk II 311; ähnlich Schenk, Passionsbericht 13–52, und J. Schreiber, Theologie 32 f., die mit zwei unterschiedlichen Berichten von der Kreuzigung Jesu rechnen, die Mk miteinander verbunden habe. 205  Vgl. die Geschichten vom Suizid des Judas, von der Intervention der Frau des Pilatus, vom Erscheinen vieler Auferstandener in Jerusalem nach dem Tod Jesu, von der Bewachung des Grabes Jesu durch Wächter sowie vom Betrugsversuch der hohen Priester. 202 

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I. Teil: Die Quellen

Art, von den Ereignissen zu erzählen 206 , auch mit ihrem „Sondergut“207 seit langem Anlass, eine weitere zusammenhängende schriftliche Passionserzählung des Evangelisten neben Markus zu postulieren 208 . Wer dies ablehnt, arbeitet mit der Hypothese von Sonderüberlieferungen, die Lukas verarbeitet habe209.

Das vierte Evangelium hat immer schon eine Sonderrolle gespielt. Seit frühesten Zeiten gilt der Lieblingsjünger Johannes als sein Autor, der beim letzten Mahl Jesu dabei war (Joh  13), Zugang zum Hof des Hohepriesters hatte (Joh  18,16), unter dem Kreuz stand (Joh  19,35) und angesichts des leeren Grabes als erster zum Glauben kam (Joh  20,8). Als Buch eines Augenzeugen erfreute es sich höchster Beliebtheit. Es rangierte vor den Evangelien der Apostel-Schüler Markus und Lukas und noch vor dem des Apostels Matthäus, der wie die anderen Jünger bei Jesu Verhaftung die Flucht ergriffen hatte. Weil es für das jüngste der vier Evangelien gehalten wurde, stand fest, dass Johannes es in Kenntnis der drei anderen verfasst haben musste. Daran änderte sich auch nichts, als die moderne Forschung die altkirchlichen Autorenzuschreibungen der vier Evangelien und damit die Annahme der Identität des Autors des vierten Evangeliums mit dem Lieblingsjünger in Zweifel zog. Dieser galt jetzt als literarisch versierter Theologe, der sein Buch in souveränem Umgang mit den vor ihm entstandenen Evangelien abgefasst habe. Es etablierte sich in verschiedenen Spielarten ein Modell, nach dem der Evangelist „über die Synoptiker hinwegsehe, sie entweder kraft apostolischer Souveränität ignoriere oder einfach, weil sie zu seiner Zeit noch nicht verbreitet waren, nicht kenne“210 . Als Percival Gardner­-Smith 1938 in einem kleinen, aber gehaltvollen und höchst einflussreichen Büchlein mit durchschlagenden Argumenten für die Unabhängigkeit des vierten Evangeliums von den Synoptikern plädierte211 und Rudolf Bultmann diese Einsicht konsequent für seine Kommentierung des Johannesevangeliums nutzte, schien die Frage entschieden zu sein 212 . Für die Passionserzählung bedeutete dies, dass die Forschung mit einer eigenständigen vorjoh. Passionserzählung zu rechnen begann 213: 206  Aufbau und Abfolge der Ereignisse weichen des Öfteren von Mk und Mt ab; etwa tritt das Synedrion bei Lk nicht in der Nacht zusammen, sondern erst am nachfolgenden Morgen. 207  Vgl. die Episoden von der Überstellung Jesu durch Pilatus an seinen Landesherrn Herodes Antipas, den klagenden Frauen am Kreuzweg oder die Worte der beiden Schächer am Kreuz und die Emmauserzählung. 208  Bovon; Ernst; Green; Rehkopf; G. Schneider (1969); V. Taylor; P. Winter u. a.; einen Überblick zur Forschung 1891–1997 bietet Harrington, Passion Narrative (zu Lk  22,54–23,25); vgl. auch Reinbold, Bericht 49. 209  Brown; Büchele; Conzelmann; Fitzmyer; Kümmel; Marshall; Matera; Reinbold; G. Schneider (1973); Senior; Soards u. a. 210  Blinzler, Johannes 63. 211  Gardner-Smith, Saint John; aus seinen Analysen zog er zwei Konsequenzen: (a) der historische Wert der joh. Überlieferungen sei höher einzuschätzen als landläufig angenommen; (b) der Autor des Joh könnte schon Zeitgenosse des Markus gewesen sein; vgl. auch Windisch, Johannes. 212  Im deutschsprachigen Raum vgl. u. a. die Joh-Kommentare von Schnackenburg, J. Blank, Becker, Dietzfelbinger sowie Lührmann, Mk. 213  Dibelius führte bereits 1918 anhand der Verarbeitung atl. Motive in Joh den Nachweis ihrer Existenz: ders., Motive 231: „es lässt sich zeigen, dass die Passions- und Ostergeschichte des

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

93

Modell 3 PEmk

PEjoh

Mk

Joh

Entsprechend diesem zweigleisigen Modell bemühte sich die Forschung lange Zeit darum, die vormkn. und vorjoh. Passionserzählung jeweils gesondert zu rekonstruieren 214. Erst mit der Studie von Till Mohr (1982) bahnte sich ein Umschwung an. Er betrieb an Markus eine systematische Redaktionskritik und kontrollierte das Ergebnis jeweils im zweiten Schritt anhand der Frage, ob und wieweit es durch vorjoh. Überlieferung bestätigt werden könne215. Wolfgang Reinbold (1994) ging einen Schritt weiter, als er für beide Stränge einen gemeinsamen Urahn postulierte, von ihm Grunderzählung (= PG), hier PEG genannt:

Modell 4 PEG           PEmk                PEjoh           Mk                               Joh       Mt  Lk Für die Rekonstruktion der PEG wandte Reinbold als erster konsequent „die gleiche Methode an, mit der bereits die Logienquelle Q in den Grundzügen erfolgreich rekonstruiert werden konnte“: „Die Traditionen, die sowohl von Markus als auch von Johannes bezeugt werden, machen den sicheren Kernbestand der ältesten Passionstradition aus. Dieser Schluss ist unumgänglich, da die z. T. sehr weitgehenden sachlichen und theologischen Übereinstimmungen zwischen dem vormarkinischen und dem johanneischen Passionsbericht nicht zufällig sein können“216 . Was ist mit den Überhängen des einen oder anderen Stranges? Die Methode sichert die Basis der PEG, bleibt an ihren Rändern aber unbestimmt. Offen bleibt auch die Frage, wie die allenthalben zu beobachtenden Berührungen von Johannes insbesondere mit Lukas zu erJ­ ohannes auf eine Vorlage zurückverweist, die nicht mit der synoptischen Tradition identisch ist“; vgl. ebd. 231–238. 214 Vgl. Bultmann, Geschichte 297, mit Verweis auf Dibelius, ThR.NF 1 (1929) 192 f.; Jeremias, Abendmahlsworte 83–90 („Vergleich des markinischen Passionsberichts mit dem johanne­ ischen“). 215  Mohr, Markus- und Johannespassion; das gleiche Vorgehen bei Myllykoski, Tage I.II. 216  Reinbold, Bericht 73. Lk, „eine zugleich mutige und geniale Evangelistenpersönlichkeit“, der neben Markus nur über vereinzelte Erzähltraditionen verfügt habe, bleibt bei ihm unberücksichtigt.

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I. Teil: Die Quellen

klären sind. Dafür hatte Anton Dauer bereits 1972 ein komplexes Modell entwickelt, das ver­schiedene Faktoren miteinander kombiniert:

Modell 5 PEG             PEmk           PEjoh             Mk/             Mt/Lk                            Joh Dauer schließt „eine direkte literarische Abhängigkeit des Johannes von den Synoptikern“ aus, „da sonst die zum Teil sehr beachtlichen Unterschiede, die zwischen der joh. Vorlage und den Synoptikern bestehen und die sich nicht als joh. Änderungen erklären ließen, unverständlich blieben“. Die zu registrierenden Berührungen seien vielmehr so zu erklären, dass die vorjoh. Passionserzählung verschiedentlich von den synoptischen Fassungen beeinflusst wurde: „Wir haben es hier mit einem Ineinanderfließen von mündlicher und schriftlicher Tradition (= Synoptiker) zu tun“217 oder anders gesagt: mit dem Phänomen der second orality: Matthäus und vor allem Lukas prägten über mündliche Kanäle die Passionserinnerung und beeinflussten sekundär die joh. Überlieferung, bevor Johannes diese in sein Evangelium aufnahm.

Gegenüber der älteren Lukas-Forschung, welche die Frage einer vorlukanischen Passionserzählung in der Regel nur im Vergleich mit Markus diskutierte, führt Hans Klein die Forschung 1967/2005 im Blick auf Lukas und Johannes einen entscheidenden Schritt weiter218 . Johannes benutzte (und kannte) Lukas nicht. Das zeigen die umfangreichen Einschaltungen des Lukas in den Mk-Stoff, die im vierten Evangelium keinerlei Spuren hinterlassen haben 219. Signifikant sind dagegen die zahlreichen Übereinstimmungen von Johannes und Lukas gegen Markus und ­Matthäus in teils nebensächlichen Wendungen oder Details: Judas etwa ist bei beiden eine Marionette des Satans (Lk  22,3 par. Joh  13,2.27); dem Knecht des Hohepriesters wird vor der Gefangennahme Jesu das rechte Ohr abgeschlagen (Lk  22,49 217  Dauer, Spuren 336; ausführlich ders., Passionsgeschichte; Pichler, Jesus 196, wählt für die joh. Pilatuserzählung ein ähnliches Modell (mündlicher Einfluss der Lukaspassion auf Joh selbst); zu Dauers Modell vgl. G. Schneider, Passion 36–38, sowie Sabbe, Arrest 203–234; ders., Trial 467–477 (dieser unter Voraussetzung seiner eigenen Quellentheorie: Abhängigkeit des Joh von den Synoptikern). 218  Klein, Passionstradition; ders., Lukasstudien 65–84; ders., Lk 46. 655 f.; zu Lk und Joh siehe bereits Schniewind, Parallelperikopen, außerdem die Autoren-Liste bei Schnackenburg, Joh  I 20 ff. – Methodisch ungenügend: Reinbold, Bericht 70 f., der die Beobachtung der Übereinstimmungen auf eine „optische Täuschung“ (71) zurückführen möchte. – Shellard, Relation­ ship, und Matson, Dialogue, stellen die Verhältnisse auf den Kopf: Joh habe Lk beeinflusst! 219  Die Szene vor Herodes Antipas (Lk  23,5–16); Jesu Klage über Jerusalem (Lk  23,28–31); die Schächer am Kreuz (Lk  23,39–43); die Emmauserzählung (Lk  24,13–35).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

95

par. Joh  18,10); in der leeren Grabkammer treten zwei himmlische Boten auf (Lk  24,1–12 par. Joh  20,1–18); der Auferweckte begrüßt die Seinen mit dem Friedensgruß und zeigt ihnen Hände und Füße (Lk  24,36–49 par. Joh  20,19–23.27); usw.

Der Schluss aus diesen und anderen Übereinstimmungen 220 lautet: Lukas und ­Johannes fußen auf einer gemeinsamen Passions- und Osterüberlieferung, die sie eigenständig weiterentwickelt haben. Dabei sei nicht auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich, dass Johannes und Lukas ihren gemeinsamen Ahnen (hier mit dem Siglum PELk/Joh bezeichnet) in jeweils weiterentwickelter Form (PELk bzw. PEJoh) kennenlernten. Die konkrete Textarbeit in Teil  II wird aber zeigen, dass eine derartige Erweiterung des Modells zwar beim joh. Überlieferungszweig angebracht ist, sich beim lkn. aber nicht nachweisen lässt. Auf der Basis der Vorarbeit von Hans Klein und anderer unterzog 2007 Frank Schleritt die Johannespassion einer umfassenden Analyse mit dem Ziel, die vorjoh. Passionserzählung zu rekonstruieren. Seit langem bewährte Einsichten der Zwei-­ Quellen-Theorie – die quellenkritische Auswertung der major agreements von Matthäus und Lukas im Redenstoff (= Spruchevangelium Q) und der minor agreements von Matthäus und Lukas im Markus-Stoff (= Deuteromarkus) – wendet er auf die Analyse der Passionserzählungen an, weil Gleiches auch hier gilt: Die agreements zwischen Johannes und Markus einerseits, zwischen Johannes und Lukas andererseits bieten das methodische Instrumentar, um zur vorjoh. Passionserzählung zu gelangen 221: Modell 6 PEG         PEmk                           PElk/joh         Mk          PElk                                   PEjoh     Mt       Lk                                   Joh

Der Grundpfeiler dieses wegweisenden Modells ist die Unabhängigkeitshypothese, die es erlaubt, das Johannesevangelium als „externes, objektives Kriterium“ ­Markus zur Seite zu stellen 222 . Seit den 40er Jahren des vorigen Jh.s schien diese Hypothese 220  Brown, Death I 86–89, Reinbold, Bericht 67 f., und Wolter, Lk 690 f., listen die wichtigsten Übereinstimmungen auf, über die hinaus es aber noch weitere Berührungen und etliche Strukturparallelen gibt (siehe unten in II.); unzutreffend Pichler, Jesus 195: Gemeinsamkeiten in der PE zwischen Joh und Lk seien „bis auf Kleinigkeiten“, „nur in der Pilatuserzählung gegeben“. 221 Siehe Schleritt, Passionsbericht 114 („Schematische Zusammenfassung“). 222  Reinbold, Bericht 94. Bei gleicher Voraussetzung rechnet auch Luz, Mt IV 12, mit „drei

96

I. Teil: Die Quellen

den Sieg davon getragen zu haben, aber die Löwener Schule um Frans Neirynck brachte in den 70er Jahren eine Wende. Jetzt lautet die Devise: Der vierte Evangelist habe Markus gekannt und ausgiebig benutzt, Matthäus und Lukas ebenso (so Frans Neirynck 223). Kritische Stimmen verstummen bis heute nicht. Dieter Zeller fragt ironisch: „Kann man sich einen Evangelisten denken, der die ersten drei Evangelien wie Farbkästen vor sich hatte und bei einzelnen Versen aus allen Töpfchen kräftig mischte, an anderen Stellen wieder mit eigenen Farben frei darauflos malte?“224 Diese neue „Quellentheorie“225 gewann in der deutsch- (nicht englisch)sprachigen Exegese starken Einfluss mit der Folge, dass nun Johannes wieder als abhängig von den Synoptikern und im direkten Vergleich mit ihnen interpretiert wird 226 . Einige streiten für die Passionserzählung des Johannes einen eigenen „Überlieferungszusammenhang“227 überhaupt ab und rechnen mit „Sondertraditio­nen“, deren Alter und historische Zuverlässigkeit sie dann gerne betonen 228: Modell 7              PE

mk

             Mk      Mt               Lk

             Joh            Sondertraditionen literarisch voneinander unabhängige(n) schriftliche(n) älteren Passions- und Osterberichte(n)“ (PEmk; PElk; PEjoh), ohne allerdings auf ihren überlieferungsgeschichtlichen Konnex einzugehen; ähnlich Green, Death 134 f.214: „[…] at least three forms of the narrative of the passion of Jesus“. Zur „Unabhängigkeitshypothese“ siehe Hinführung 3.2 unter (1). 223  Neirynck, John; Sabbe, Studia. 224  Zeller, Ostermorgen 149 (zu Neirynck). Vgl. auch Ashton, Gospel; Becker, Joh; Dietzfelbinger, Joh; Koester, Gospels 253–255; Marcus, Mk I 53 f.; Theißen, Entstehung 224 f. 225  Schleritt, Passionsbericht 69; Vertreter der Abhängigkeitshypothese verschweigen gerne, dass auch diese eine „Quellentheorie“ ist. 226  Hartwig Thyen; Martin Hengel; Ulrich Busse; Udo Schnelle; Jörg Frey etc.; zu Thyen siehe Schleritt, Passionsbericht 78–81. 227  Das von J. Jeremias, Abendmahlsworte 83, bereits 1960 geäußerte Urteil ist nach wie vor gültig: „Während Johannes in der Schilderung der Wirksamkeit Jesu nur spärliche Parallelen zu den Synoptikern aufweist, ändert sich das Bild mit dem Einzug in Jerusalem, d. h. mit dem Einsetzen des Passionsberichtes völlig. Der Markusstoff von der Einzugsgeschichte bis zum leeren Grab (Mk  11,1–16,8) kehrt jetzt (zwar nicht im Wortlaut und in der Einzelausführung, wohl aber in den Themen der Darstellung) überwiegend bei Johannes wieder. Eindeutig gibt sich dadurch die Passionsgeschichte als alter Überlieferungszusammenhang zu erkennen“ (Kursive von mir). 228  Schnelle, Joh  17: die „Sondertraditionen“ lagen Joh wahrscheinlich „schriftlich“ vor und wurden „von ihm überarbeitet“. Er „verfügte über z. T. sehr alte und historisch zuverlässige Passionstraditionen, die er aber durchweg überarbeitete, mit zentralen Themen seiner Theologie ver-

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

97

Dieses Modell leistet weder den Nachweis einzelner schriftlicher Sondertraditionen (welche Funktionen, welchen „Sitz im Leben“ haben sie?) noch trägt es den erstaunlichen Parallelen in unauffälligen Details zwischen Johannes und Lukas einerseits und Johannes und Markus andererseits Rechnung. Die Komplexität der literarischen Verhältnisse wird zugunsten einer schlichten Benutzungshypothese ausgeblendet, bei der es sich, was oft verdrängt wird, um eine Hypothese neben anderen handelt. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, macht sich Erschöpfung breit: Anstrengende literar- und überlieferungskritische Analysen finden nicht statt. Die Theorie der „Farbkästen“ (Dieter Zeller) ist aber keine Alternative. Teil  II dieser Studie wird das integrative Modell Nr.  6 in weiterentwickelter Gestalt bestätigen. Es wird dem komplexen Befund am ehesten gerecht. Anzumerken bleibt, dass mit den Siglen PEmk und PElk/joh nicht die Vorstellung von jeweils einheitlichen Redaktionen der PEG zu verbinden ist, sondern eher die von Zwischenschichten, deren Gestaltung nicht unbedingt jeweils auf eine Hand zurückzuführen ist. 1.4 Der Umfang der alten Passionserzählung Das bevorzugte Analysemodell bewährt sich bereits bei der Bestimmung des Umfangs der alten Passionserzählung (PEG). Aufschluss darüber geben die stofflichen Übereinstimmungen zwischen der mkn. und joh. Passionsgeschichte, den beiden unabhängigen Zweigen des Stammbaums: Wo sie übereinstimmen, scheint die alte Passionserzählung durch; wo sie differieren, stellt sich die Frage, welcher der beiden Zweige primär und welcher sekundär ist bzw. wo eine Perikope gestrichen oder hinzugefügt wurde. Umstritten ist, wo die PEG begann (1.4.1) und wo sie endete (1.4.2). Strittig ist überdies die Mahlszene: Ist die Abendmahlsüberlieferung, die auch bei Paulus begegnet, genuiner Teil der PEG oder wurde sie erst nachträglich in die Erzählung implantiert (vgl. Mk  14,22–24; anders Joh  13,1–30) (1.4.3)? 1.4.1 Der Beginn der alten Passionserzählung Ein Blick auf die Synopse zum Eingangsteil (A)229, verbunden mit der Beobachtung, dass die Erzählungen der Vita Jesu davor in allen vier Evangelien weit aus­ einander gehen, genügt, um zwei Hypothesen vorweg auszuschließen 230 . Unwahrscheinlich sind die extensive Langform, die Rudolf Pesch bereits mit Mk  8,27–33

band und in Anlehnung an Markus in den von ihm geschaffenen kompositionellen Gesamtzusammenhang einfügte“; vgl. ders., Johannes 1805–1813; Einleitung 536 (mit einer Aufzählung der „redaktionelle(n) Zusätze“ zu den vermeintlichen „Passionstraditionen“ [im Anschluss an Lang, Johannes]). 229  Vgl. oben in I.  1.1. 230  Reinbold, Bericht 93–97 („Bestimmung des Beginns des ältesten Passionsberichtes“), diskutiert die unterschiedlichen Möglichkeiten; vgl. Schenk, Passionsbericht 140–180; Schleritt, Passionsbericht 142–155.

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I. Teil: Die Quellen

beginnen lässt 231, und Kurzformen 232 , die den bei allen vier Evangelien übereinstimmenden Eingangsteil (A) übergehen 233. Bultmann zufolge habe es „einen alten Bericht“ gegeben, „der ganz kurz Verhaftung, Verurteilung durch das Synedrium und Pilatus, Abführung zum Kreuz, Kreuzigung und Tod erzählte“234. Aber einen theologiefreien „Geschichtsbericht“ hat es nie gegeben. Auch Joachim Jeremias geht von einem „mit der Verhaftung Jesu einsetzenden Kurzbericht“ als ältestem Stadium aus, wofür er die ab Joh  18,1 par. Mk  14,43 deutlich stärkeren Übereinstimmungen von PEmkn und PEjoh geltend macht 235. Demgegenüber rechnet Joachim Gnilka, der in der vorsynoptischen PE von Anfang an „theologisch gedeutete Geschichte“ sieht, ab Getsemani mit einem „Urbestand“ (= Mk  14,32–16,8) 236 , andere bereits ab Todesbeschluss des Synedrions Mk  14,1237. Wer gemäß Modell  6 das vierte Evangelium als Kontrollinstanz in die Rekonstruktion mit einbezieht, wird die tragenden Erzählelemente des Eingangsteils (A) für die PEG nicht unberücksichtigt lassen. Sowohl Markus als auch Johannes bezeugen sie. Nur in welcher Reihenfolge bot die PEG diese Elemente? Vier Varianten sind denkbar, je nach dem, ob die joh. oder die mkn. Reihenfolge für ursprünglich ge­ halten wird bzw. die Erzählungen des Eingangsteils Berücksichtigung finden oder nicht: Nr. Markus

Reihenfolgemkn (Variante 1)

1.

11,1–11

Einzug in ­Jerusalem

(siehe Nr.  7)

2.

11,15–17

Tempelaktion

Tempelaktion

Reihenfolgemkn (Variante 2)

Reihenfolgejoh Reihenfolgejoh Johannes (Variante 3) (Variante 4) (siehe Nr.  7)

12,12–15 2,14–17

231  Pesch, Mk  II  1–27; ders., Evangelium: Stoffe, die von der Episode in Cäsarea Philippi an mit dem Weg Jesu nach Jerusalem und seinem Leiden dort zu tun haben, gehörten zur PEmkn. 232  Nach J. Jeremias, Abendmahlsworte 87–90, der von „Langbericht“ und „Kurzbericht“ spricht. 233  Zu den diversen „Kurzformen“ vgl. auch unten I.  1.4.4. 234  Bultmann, Geschichte 301 f. „Alle diese Stücke sind nicht eigentliche Geschichten, sondern ein in kurzen Angaben verlaufender Geschichtsbericht“. Vgl. Hinführung 2.1. 235 J. Jeremias, Abendmahlsworte 90, mit Hinweis darauf, dass die Reihenfolge der Stoffe vor dieser Zäsur erheblich divergiere, was sich ab Joh  18,2–11 par. Mk  14,43–50 ändere: „[A]bgesehen von kleinen Zügen, von Dialogen, einzelnen Episoden und ähnlichen Ausgestaltungen, laufen synoptischer und johanneischer Bericht jetzt ohne große Überschüsse parallel“; Schleritt, Passionsbericht 150: „überaus plausibel“; vgl. Holleran, Gethsemane 107–111. Anders Lührmann, Mk  228: „bei Mk […] markiert 14,43 keine derartige Zäsur [wie Joh  18,1 eine ist], und auch 14,32 käme nicht als Beginn einer vormarkinischen Passionsgeschichte in Frage“. 236 J. Gnilka, Mk  II 349: „Mit [Mk]  14,32 ist ein Einschnitt gegeben. Es beginnt der narrative Teil der Passion, in dem Jesus der Erleidende ist […]. Dieser Abschnitt ist gekennzeichnet durch die Reflexion mit Hilfe der Psalmen, die vom Leiden des Gerechten handeln“. Ähnlich L. Schenke, Christus 135–145 (ohne Ostererzählung); Sommer, Passionsgeschichte 122; A.Y. Collins, Genre 14; dies., Beginning 92–118; dies., Mk 621 Anm.  1; vgl. auch Schleritt, Passionsbericht 150 Anm.  34. 237  Guttenberger, Mk 22: „Die schriftliche Passionserzählung“, die dem ältesten Evangelisten vorlag, diente ihm „von Kapitel  14 an als Leitfaden“; Dormeyer, Passion 238–301, lässt die Urpassion mit Mk  14,3 beginnen.

99

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

Nr. Markus

Reihenfolgemkn (Variante 1)

3.

11,27–33

Disput mit Jerusalems Autoritäten (Vollmachtsfrage)

4.

14,1 f.

Todesbeschluss

Todesbeschluss

Todes­ beschluss

Todesbeschluss

11,47–53

5.

14,3–9

Salbung in Betanien

Salbung in Betanien

Salbung in Betanien

Salbung in Betanien

12,1–8

6.

14,10 f.

Verrat des Judas

Verrat des Judas Einzug in Jerusalem

Einzug in Jerusalem

12,12–15

7.

Reihenfolgemkn (Variante 2)

Reihenfolgejoh Reihenfolgejoh Johannes (Variante 3) (Variante 4) 2,18–22

Disput mit Je­r usalems Autoritäten (Zeichenforderung)

(siehe Nr.  1)

8.

14,12–16

[Bereitung des Paschamahls]

[Bereitung des Paschamahls]

9.

14,17– 21/26–31

Letztes Mahl

Letztes Mahl

Letztes Mahl Letztes Mahl 13,1–30

Ein Vergleich der Perikopen des Eingangsteils bei Markus (par. Mt/Lk) und Johannes ergibt, dass beide Evangelisten in der Reihenfolge von Nr.  2–5 übereinstimmen. Sie unterscheiden sich aber in der Platzierung der Nr.  1 (= 7): Bietet der älteste Evangelist die Erzählung vom Einzug Jesu am Anfang der Jerusalemer Woche, so folgt sie bei Joh auf die Episode vom sog. „Tötungsbeschluss“ des Synedrions und Jesu Salbung in Betanien (Nr.  4+5). Die Erzählung von der Tempelaktion Jesu (Nr  2) steht bei ihm ganz am Anfang des Buchs. Wohin führt jeweils der Einzug in die Stadt? Nach der mkn. Darstellung in den Tempel, wo er eine prophetische Handlung vollführt (am „folgenden Tag“), nach der joh. in die Stadt ohne besondere Aktion im Tempel 238 . Welcher der beiden Überlieferungsstränge hat hier die ursprüngliche Reihenfolge der PEG bewahrt? Die mkn. Reihenfolge nach Variante  1 ist die „nahe liegende Annahme“239. Der Einzug Jesu in die Stadt mündet folgerichtig in seinen Auftritt im Tempel, dem Herzen der Stadt. Welches Ziel sollte sein Einzug sonst gehabt haben? Variante  2, die mkn. Kurzform, war lange Zeit die „übliche“ Lösung240 . Sie orientiert sich an Mk  14,1, der Zäsur, welche die Passionserzählung im engeren Sinne von den ersten Jeru-

238  Aber siehe unten zu der sich anschließenden „Hellenenrede“ Joh   12,20–36, die wohl im Tempel situiert ist, was sich als Echo auf die Abfolge Einzugsgeschichte – Tempelauftritt verstehen lässt. 239  Schleritt, Passionsbericht 143; dennoch entscheidet er sich für Variante  3 (vgl. ebd. 147 Anm.  27 und 149: „mag […] überraschen“!). – Schweizer, Mk 122, plädiert für 11,1 als Einsatz der alten PE. 240  So 1994 Reinbold, Bericht 93; auch er folgt dieser Lösung noch.

100

I. Teil: Die Quellen

salemer Tagen Jesu abhebt 241. Gegen diese Kurzform sprechen die Parallelen mit Johannes im Vorfeld. Auch die These von der Ursprünglichkeit der joh. Reihenfolge begegnet in zwei Varianten mit einer Lang- und einer Kurzfassung. Nach Variante  3 (Langfassung), die sich von Variante  1 nur in der Platzierung der Einzugserzählung unterscheidet, begann die alte Passions­ erzählung mit der Tempelaktion Jesu samt anschließender Zeichenforderung. Die Einzugserzählung bildete den „Übergang von der in Bethanien lokalisierten Salbungsgeschichte zum Bericht über das letzte Mahl in Jerusalem“242 . Frank Schleritt, der diese Variante bevorzugt, begründet sie folgendermaßen: Wenn die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16 (= Nr.  8), die keine Parallele bei Johannes hat, sekundär zur alten PE hinzugewachsen ist 243, stellt sich die Frage, auf welchem Weg Jesus mit den Seinen von Betanien jetzt in die Stadt gelangt ist. Nach Markus schickte er zwei seiner Jünger voraus, um in der Stadt den Raum für das Paschamahl zu bereiten. Fehlt in der alten PE diese Episode, muss ihre Funktion anderweitig wahrgenommen worden sein: entweder von einer einfachen Notiz zum Ortswechsel Jesu und der Seinen von Betanien nach Jerusalem 244 oder von einer Erzählung wie der vom Einzug Jesu in der Stadt, wie an der Akoluthie im Johannesevangelium noch ersichtlich (zwischen Nr.  5 und 9). Bei der mkn. Akoluthie nach Variante  1 wäre der Übergang (unter der Voraussetzung, dass Mk  14,12–16 sekundär ist) „holprig“245. Variante  4, die mit Variante  2 verwandt ist, geht davon aus, dass die Erzählung von der Tempelaktion Jesu, weil „in sich gerundet und selbständig“, „eine isolierte Einzelüberlieferung“ darstelle und deshalb ursprünglich nicht zur PEG gehöre246 . Ein Zusammenhang mit der sich bei Johannes unmittelbar anschließenden Zeichenforderung bzw. mit der bei Markus durch die Geschichte der Verfluchung des Feigenbaums abgetrennten Vollmachtsfrage wird in Abrede gestellt. Die PEG habe mit der Episode vom sog. „Todesbeschluss“ begonnen 247. Die Funktion der Einzugsgeschichte hätte (wie in Variante  3) darin bestanden, den Übergang Jesu von Betanien (Nr.  5) nach Jerusalem zu gewährleisten, wo er sein letztes Mahl mit den Seinen hält (Nr  9).

Gegen die Varianten  2 und 4 spricht: Es ist „kaum vorstellbar, dass der ursprüngliche Bericht mit der Notiz über einen aus heiterem Himmel gefassten Tötungsplan gegen (den noch gar nicht in Jerusalem anwesenden) Jesus einsetzte“248 . Erzähllogisch ist der Plan der Obrigkeit nur dann motiviert, wenn die Tempelaktion Jesu samt Disput mit ihren Vertretern (Nr.  2 und 3) der Notiz vorausgeht 249. Dem entsprechen die Varianten  1 und 3. 241  Dibelius, Formgeschichte 180 f.; ebenso Lührmann, Mk 227–231; ebd. 185 f.: „Mit [Mk  ]14,1 … beginnt eine neue Tageszählung, die nicht an diejenige von 11,1–12,44 anknüpft, sondern vom bevorstehenden Passafest aus zurückrechnet“; Guttenberger, Mk 22; vgl. auch Conzelmann, Historie 40 f.; Green, Death 24 f.223. 242  Schleritt, Passionsbericht 144. 243  Die Annahme erfreut sich großer Beliebtheit: vgl. unten in I.  1.4.3 den entsprechenden Abschnitt. 244  Mk  14,16b: καὶ ἦλθον εἰς τὴν πόλιν; vgl. Joh  12,12; siehe unten unter (3). 245  Schleritt, Passionsbericht 143. Vgl. auch Becker, Joh II 635. 246  Becker, Joh II 145. 247 So Mohr, Markus- und Johannespassion 124; vgl. auch Becker, Joh II 635; Reinbold, Bericht 93–97; auch Koester, Evangelienliteratur 1527 Anm.  290, anders ders., Gospels 288. 248  Schleritt, Passionsbericht 142. 249  Vgl. auch Dormeyer, Überlegungen 229: „Wahrscheinlich begann die alte Passionsgeschich­ te mit einer prophetischen Provokation, welche die Reinigung des Tempels darstellt (Mk  11.15–18

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

101

Wer beide Varianten gegeneinander abwägt, wird zuerst fragen, welche von ihnen als Abweichung von der mutmaßlich ursprünglichen Reihenfolge eher motiviert sein könnte. Wird die joh. Reihenfolge als ursprünglich angesehen, richtet sich die Frage an das mkn. Arrangement: Welche Gründe könnten den ältesten Evangelisten bzw. den Autor der PEmkn dazu bewogen haben, die Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem nach vorne zu ziehen? Die Antwort von Wolfgang Reinbold lautet: „Markus musste den ‚Einzug‘ vorziehen, um seine ‚Jerusalemer‘ Stoffe unterbringen zu können“250 . Dabei setzt er mit Variante  4 voraus, dass die Erzählung von der Tempel­ aktion Jesu samt nachfolgendem Disput mit den Jerusalemer Autoritäten (Mk  11,15– 17/27–33) nicht zur alten Passionserzählung gehörte. In diesem Fall wäre tatsächlich eine Vorwegnahme der Erzählung Mk  11,1–11 notwendig gewesen, um den Jerusalemer Erzählkranz Mk  12,1–13,37 zu eröffnen 251. Frank Schleritt nimmt an, „dass nicht erst Mk, sondern bereits PBMk die Einzugsgeschichte nach vorn verschoben hat, und zwar eben deswegen, weil sie sich mit der (von PBMk hinzugedichteten) Geschichte über die Vorbereitung des Passahmahls nicht vertrug“252 . Für eine Entscheidung sind drei Einsichten, die erst in II.  2 und 3 begründet werden können, mit zu berücksichtigen: (a) Jesu Tempelaktion und sein Disput mit Jerusalems Autoritäten bilden in der PEG (wie noch bei Johannes) eine ursprüngliche Einheit. (b) Die Rahmung der Tempelaktion durch die Geschichte vom Feigenbaum geht auf den ältesten Evangelisten zurück. (c) Die Verknüpfung der Einzugserzählung mit dem auf den folgenden Tag datierten ersten Teil der Feigenbaum-Geschichte mittels Mk  11,11 ist künstlich und sekundär 253.

Die „Naht“ von Mk  11,11 lässt zwei Erklärungen zu: Entweder fand Markus das Gespann von Einzug + Tempelaktion in seiner PEmkn bereits vor. Oder er benötigte im Zuge seiner Rahmung der Tempelaktion durch die Feigenbaum-Geschichte einen Vorbau, den er in Gestalt der Einzugsgeschichte im weiteren Verlauf seiner PEmkn auch fand; er zog ihn nach vorne und machte ihn zum Auftakt seines Jerusalem-Buchteils. par Joh  2.13–17)“. Diese zutreffende Einsicht gilt auch dann, wenn die Einzugserzählung der Auftakt zur Tempelaktion Jesu ist; anders z. B. Becker, Joh II 635. 250  Reinbold, Bericht 97; er geht davon aus, dass die alte PE mit Mk  14,1 par. Joh  11,47–53.55 begann. 251  Geht man von Variante  3 aus, greift die Argumentation Reinbolds nicht: Markus hätte es für seine Zwecke gereicht, die Erzählung von der Tempelaktion nach vorne zu ziehen, um Raum für seine Jerusalem-Stoffe zu schaffen – es sei denn, er benötigte die Einzugserzählung zusätzlich als Auftakt nicht nur zur Tempelaktion, sondern zum Jerusalem-Teil seines Buches insgesamt (Mk  14– 16). Wie Reinbold argumentiert auch Becker, Joh II 442: „Mk hat, wohl um die Möglichkeit zu gewinnen, die Jerusalemer Tage Jesu mit Einzeltraditionen anzureichern (Mk  11,12–13,37), die Einzugsgeschichte weit vorgezogen. Seine Seitenreferenten sind ihm gefolgt. Der joh PB dürfte also mit seiner Abfolge ein traditionsgeschichtlich älteres Stadium als die Synoptiker repräsentieren“. 252  Schleritt, Passionsgeschichte 145. 253  Mk  11,11: „Und er ging nach Jerusalem hinein in den Tempel; und als er sich alles angesehen hatte, ging er, da es schon spät an der Zeit war, mit den Zwölf nach Betanien hinaus“. Siehe unten Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten.

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I. Teil: Die Quellen

Zugunsten der ersten Möglichkeit spricht Mk  11,11: Jesus geht nach seiner Ankunft in der Stadt sogleich in den Tempel, in dem er sich nur umsieht, ohne tätig zu werden. Das geschieht erst am nächsten Tag in einer Erzählung, deren Einsatz mit 11,15 (καὶ ἔρχονται εἰς Ἱεροσόλυμα. Καὶ εἰσελθὼν εἰς τὸ ἱερόν …) den Faden von 11,11a (καὶ εἰσῆλθεν εἰς Ἱεροσόλυμα εἰς τὸ ἱερόν) aufgreift. 11,11b ist künstlich und unterbricht den Konnex von Einzug und Tempelaktion. Damit ist die Eingangs­ position der Einzugsgeschichte nicht als ursprünglich gesichert. Es besteht immer noch die von Frank Schleritt bevorzugte Möglichkeit, dass sie auf die PEmkn zurückgeht. Wer die mkn. Reihenfolge gemäß Variante  1 als ursprünglich ansieht, wird für den vierten Evangelisten zwei Operationen postulieren. Zum einen rahmte er den ersten Hauptteil seines Buches – Jesu Wirken in Galiläa, Samaria und Judäa (Joh  2,23–11,46) – mit den beiden Szenen Jesu Tempelaktion samt Disput mit den Jerusalemer Autoritäten (Nr.  2+3) und Todesbeschluss (Nr.  4). Letzterer ist nicht wie bei den Synoptikern durch Jesu Auftritt im Tempel motiviert, sondern durch Jesu wachsende Anhängerschaft nach der Erweckung des Lazarus, in der die Jerusalemer Tempelaristokratie eine Bedrohung sieht (Joh  11,47 f.). Zum anderen verpflanzte er die Einzugsperikope von ihrer ursprünglichen Eingangsstellung (in der PEG bzw. der PEjoh) an ihren jetzigen Platz vor der „Hellenenrede“ (Joh  12,20–36) und dem letzten Mahl Jesu (Joh  13–17). Der Grund für diese Operation ist klar: Er konnte die Überlieferung zwischen 2,13 (der Pascha- und Aufstiegsnotiz)254 und 2,14–17 nicht gebrauchen, da sie hier viel zu früh gekommen wäre. Seine dramatische Erzählung hat sich erst in Joh  6,15 soweit entwickelt, dass die Volksmenge nach ihrer wunderbaren Speisung durch Jesus sich „aufmachen und ihn ergreifen will, um ihn zum König zu machen“. In Joh  12,12–15 kommt sie ihm dann aus der Stadt entgegen und begrüßt ihn als „König Israels“ (12,13). Die Platzierung der Einzugs-Szene an dieser Stelle des joh. Erzählfadens war nahe liegend, weil sie den Auftakt für Jesu letzten Jerusalem-Aufenthalt bildet. Darin entspricht der vierte Evangelist genau dem Aufriss des mkn. Erzählfadens, was nicht verwundert: Die Einzugsgeschichte ist prädestiniert, eine Erzählung vom letzten Wirken Jesu in ­Jerusalem zu eröffnen – sei es in der PEG, bei Markus oder Johannes. Im vierten Evangelium ist sie mit ihrer „Überschrift“: „Jesus kommt nach Jerusalem“ (Joh  12,12b) das Eingangsportal zum letzten großen Buchteil, der von seinen abschließenden Worten und seinem Leiden in der heiligen Stadt erzählt. Für beide Arrangements, das mkn. und das joh., wären die gleichen Operationen erforderlich gewesen: die jeweilige Umstellung der Einzugsperikope255 und die Benutzung der Szenen Tempelaktion samt Disput mit den Jerusalemern Autoritäten (Nr.  2+3) und Todesbeschluss (Nr.  4) als Rahmen für jeweils eingefügtes umfangreiches Erzählmaterial: Bei Markus sind dies die Kap.  12–13, bei Johannes faktisch die 254  Joh  2 ,13: „Und nahe war das Paschafest der Juden, und Jesus stieg nach Jerusalem hinauf (ἀνέβη εἰς Ἱεροσόλυμα)“. 255  Mk hätte die Einzugserzählung gegen eine ursprüngliche joh. Akoluthie nach vorne, Joh gegen eine ursprüngliche mkn. Akoluthie nach hinten versetzt.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

103

erste Buchhälfte, Kap.  2,23–11,46. Nach dem Kriterium der Ökonomie der Mittel lässt sich die Frage also nicht entscheiden, die jeweils zu postulierenden Operationen wären von gleicher Komplexität. Für die Annahme, dass der vierte Evangelist es war, der die Umstellungen vornahm, sprechen inhaltlich-strukturelle Argumente: (1) Weil der Autor des vierten Evangeliums die ihm vorgegebene Passionserzählung zum Grundriss seines ganzen Buches erhoben hat, in den er seine Jesus-Erzählung einträgt, sieht er den „Todesbeschluss“ der Autoritäten nicht mehr durch Jesu Tempelaktion begründet, sondern durch dessen („Zeichen“-)Wirken insgesamt. Die Positionierung der Tempelaktion an den Anfang des Wirken Jesu hängt mit seiner Tempel-Christologie zusammen 256 . Die Erzählung vom Einzug Jesu in die Stadt bietet er erst nach „Todesbeschluss“ (Nr.  4) und Jesu Salbung in Betanien (Nr.  5), weil sie das Eingangstor zum Buchabschnitt sein sollte, der von Jesu letztem Aufenthalt in Jerusalem erzählt. (2) Der Konnex von Einzugsgeschichte und Tempelaktion, welcher der mkn. Reihenfolge zugrunde liegt, ist folgerichtig. Wenn Feldherren oder Könige eine Stadt besuchen oder Besitz von ihr ergreifen, führt sie der Weg in den Tempel 257. Römische Triumphzüge enden mit einem Opfer am Tempel des Iuppiter Capitolinus258 . Joachim Jeremias erklärte: „Königseinzug – Tempelreinigung – Vollmachtsfrage bilden eine unlösliche Einheit. Nicht nur gehören im Morgenland Inthronisation und Kultrestauration als Symbole der neuen Ära und der messianischen Vollmacht engstens zusammen, sondern auch im konkreten Falle des Ausrufens Jesu zum König auf dem Weg zum Tempelplatz drängte alles auf einen Abschluss beim Erreichen des Heiligtums, das bis auf den heutigen Tag das Ziel aller Wallfahrtszüge darstellt“259.

Der unmittelbare Zusammenhang beider Erzählungen deutet sich bei Markus noch in 11,11a an (siehe oben), bei Johannes in dem Umstand, dass bei ihm unmittelbar auf die Einzugserzählung die sog. „Hellenenrede“ (Joh  12,20–36) folgt. Diese wird zwar nicht ausdrücklich im Tempelbezirk verortet, doch die eröffnende Erzähl­ notiz: „es waren aber einige Griechen unter denen, die hinaufgezogen waren, um (Gott) auf dem Fest anzubeten (ἵνα προσκυνήσωσιν)“ (V.20), ist deutlich genug. Nirgendwo sonst beten Jerusalemwallfahrer Gott an als im Tempelbezirk. Wenn sie bei dieser Gelegenheit „Jesus sehen wollen“ (V.21), setzt das seine Anwesenheit auch dort voraus, wie stets im Evangelium, wenn er in Jerusalem weilt (vgl. Joh  2,13 f.; 5,14; 7,14; 8,20; 10,22 f.; vgl. 11,56). Damit bestätigt der vierte Evangelist, 256 

Siehe II 3.3. Jos, Ant  11,336, über Alexander den Großen und seinen Einzug in Jerusalem: Die Priesterschaft und „das ganze Volk“ ziehen ihm entgegen und holen ihn ein; „er reichte dem Hochpriester die Hand und begab sich in Begleitung der Priester zur Stadt, stieg zum Tempel hinauf, opferte Gott nach des Hochpriesters Anweisung und erwies diesem wie den Priestern die höchsten Ehrenbezeugungen“; Ant  16,14 (Agrippa); Ant  17,194–239 (Archelaus); Polyb  16,25,5–7. 258  Vgl. Suet, Nero  25,2. 259 J. Jeremias, Abendmahlsworte 85; ebenso Bartsch, Erwägungen 450 f.; Schenk, Pas­ sionsbericht 181.272; Myllykoski, Tage I 191 f. 257 

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I. Teil: Die Quellen

dass die Einzugsgeschichte Jesus nirgends sonst hinführt als eben in den Tempel260 . Es wäre mehr als befremdlich, wenn sie in das letzte Mahl Jesu mit den Seinen einmünden würde, wie Schleritt das bei Bevorzugung der joh. Akoluthie als ursprünglich annehmen muss. (3) Für die Frage, wie sich in der mkn. Reihenfolge der Übergang von der Beta­ nien-Episode zur Jerusalemer Mahlszene vollzog – unter der Voraussetzung, dass die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16 (= Nr.  8) erst sekundär nachgetragen wurde261 – bietet Schleritt eine plausible Lösung: „Zwischen der Salbungsgeschichte Mk 14,3 ff./Joh 12,1 ff. und der Mahlnotiz Mk 14,18a/Joh 13,2a stand ursprünglich eine kurze Notiz über die Rückkehr Jesu (und der Jünger) nach Jerusalem, die sich in Mk  14,16 (ἦλθον εἰς τὴν πόλιν) oder bzw. und in Joh 12,12 (ἔρχεται ὁ Ἰησοῦς εἰς Ἱεροσόλυμα) möglicherweise noch spiegelt. Während diese Notiz in PBmk zu dem Bericht über die Vorbereitung des Passahmahls ausgesponnen wurde, hat sie den 4. Evangelisten inspiriert, die Einzugsgeschichte hinter der Salbungsgeschichte einzufügen“262 .

Diese Überlegung verwirft der Autor aber zugunsten der Alternative, dass die Einzugserzählung ursprünglich den Übergang von Betanien nach Jerusalem gewährleistet habe (siehe oben Variante  3). Seine Begründung lautet: In der mkn. Akoluthie würde „unmittelbar nacheinander von zwei Mahlzeiten berichtet“, einer in Betanien im Haus des Simon und einer zweiten in Jerusalem 263. Abgesehen davon, dass die beiden Erzählungen nicht „unmittelbar“ aufeinander folgten (dazwischen steht die Episode vom Angebot des Judas), werden die Mahlzeiten selbst gar nicht erzählt. Sie bieten nur den Rahmen für Symbolhandlungen und Worte Jesu 264. Ihre Nachbarschaft ist kein durchschlagendes Argument gegen die Ursprünglichkeit der mkn. Reihenfolge. Die Szenenfolge im Eingangsteil der PEG entspricht also Variante  1: Einzug Jesu in Jerusalem (Nr.  1). Tempelaktion (Nr.  2). Disput mit Jerusalems Autoritäten (Nr.  3). Todesbeschluss (Nr.  4). Salbung in Betanien (Nr.  5). Angebot des Judas (Nr.  6). [Notiz zur Rückkehr Jesu nach Jerusalem = Mk  14,16 par. Joh  12,12] (statt Nr.  8). Letztes Mahl Jesu mit den Seinen in Jerusalem (Nr.  9)265. 260  Zu erinnern ist auch daran, dass in allen vier Fassungen der Einzugserzählung Ps  118 zentral ist, eine Dankliturgie, die von den Pilgern bei ihrem Einzug in den Tempel angestimmt wird. 261 Nach Schleritt, Passionsbericht, in der vormkn. Fassung der PE, nach der hier vertretenen Ansicht erst bei Markus: siehe unten in I.  1.4.3 den Abschnitt: Die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16 par. 262  Ebd. 144. 263  Ebd. 264  Vgl. unten I.  1.4.3. 265 Ebenso Luz, Mt IV 12: „Die vormk. und die vorjoh. Passionsgeschichte hatten wohl einen ähnlichen Aufriss. Sie begannen beide mit dem Einzug Jesu in Jerusalem. Dann folgten wahrscheinlich Tempelreinigung, Vollmachtsfrage und Todesbeschluss, die Salbung, eine letzte Mahlzeit Jesu und eine Getsemani-Szene“.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Eine Untersuchung der Einzugsgeschichte in Teil  II wird den Beginn der alten PE genauer beschreiben können. Es wird sich zeigen, dass die Aufstiegsnotiz Mk  10,32a par. Lk  19,28 par. Joh  2,13b ihren Auftakt bildet: „Und Jesus stieg hinauf nach Jerusalem“266 . 1.4.2 Das Ende der alten Passionserzählung Auf die Frage, welche Szene die alte Passionserzählung beschloss, gibt es im Wesentlichen drei Antworten: die Kreuzigung Jesu 267, sein Begräbnis268 oder die Auffindung der leeren Grabkammer samt Botschaft des Engels269. Gegen die Annahme, der Archetyp habe mit Jesu Kreuzigung oder seinem Tod geendet, spricht, dass hellenistische Biographik in die Vita einer Person oft genug Begräbnisnotizen miteinschließt. Schon die Königs- und Chronik-Bücher des Alten Testaments bieten neben den Todes­ notizen in der Regel auch Angaben zum Begräbnis270 . Während solche in frühjüdischen Mär­t yrertexten gewöhnlich fehlen 271, enthalten die Vitae Prophetarum, die „den Konven­ tionen griechischer Biographien gemäß verfasst“ sind 272 , schon in ihren Titeln einen Hinweis auf die Bestattung („… und wo sie begraben liegen“). „Der Ort des Grabes wird für jeden Propheten – mit Ausnahme natürlich von Elia – vermerkt“, was mit der Verehrung der Prophetengräber zusammenhängt 273. Das Testament des Ijob enthält eine Grablegungsgeschichte (52,11–53,8)274, die unter dem Vorzeichen der Anthropologie der Trennung von Leib und Seele steht. Nach Eingang der Seele des Ijob in den Himmel kommt deshalb der Bestattung seines Leibes nur nachgeordnete Bedeutung zu. Erwähnenswert ist auch die Erzählung vom Martyrium des Johannes (Mk  6 ,17–29), die mit einer Notiz endet, die derjenigen der PE gleicht: „und als das seine Jünger hörten, kamen 266 

Siehe unten II.  2.4.1. Myllykoski, Tage I 130, sieht die alte PE schon mit Mk  15,26 enden, A.Y. Collins, Genre 18; dies., Beginning 119–148; Mk 773 f.819, mit Mk  15,38, Peddinghaus, Entstehung 168, und Green, Death 311 f., mit Mk  15,40 f. – Reinbold, Bericht 97–106 („Bestimmung des Endes des ältesten Passionsberichts“) diskutiert die verschiedenen Möglichkeiten. 268  Reinbold, Bericht 103 f.; diese Annahme ist weit verbreitet (siehe ebd. 98 Anm.  15): V. Taylor, Mk 601 f.; Dormeyer, Passion 239 etc. 269  „Die übliche Meinung“ (Reinbold, Bericht 98 mit Anm.  12): vgl. etwa Pesch, Mk II 519 f.; J. Gnilka, Mk II 349; Becker, Auferstehung 14–17; Sommer, Passionsgeschichte 227 f. 270  Vgl. 2Chron  16,14 („man setzte ihn bei in seiner Grabstätte, die er sich in der Davidstadt angelegt hatte; man legte ihn auf ein Lager, das mit Balsam und allerlei kunstvoll zubereiteten Salben ausgestattet war“); 22,9; 24,25 usw. Vgl. auch Jer  26,23 (Ermordung des Urija). 271  Van Henten, Märtyrertum 170; märchenhaft ist Midr.  Spr. zu 9,2: Elija bestattet R. Aqiba (Surkau, Martyrien 39). 272  Van Henten, Märtyrertum 170. 273  Schwemer, Vitae 549; ebd. 549 f.: „Die Ehren, die man den Gräbern zukommen lässt, dienen der Erinnerung an die Wunder der Propheten, die weiterhin durch ihre Fürbitte und ihre Wunderkraft fromme Juden beschützen, und halten die Erwartung wach, dass ihre eschatologische Prophetie eintrifft“. Deshalb finden sich die Grabnotizen vielleicht auch schon am Anfang der einzelnen Vitae. 274  Schaller, Testament 373 Anm.: „Über das Grab des Job gibt es in der jüdischen Überlieferung keine Angaben“ (vgl. J. Jeremias, Heiligengräber 101 f.). 267 

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I. Teil: Die Quellen

sie und nahmen seinen Leichnam (τὸ πτῶμα αὐτοῦ) und legten ihn in ein Grab (ἔθηκαν αὐτὸ ἐν μνημείῳ)“ (V.29). Lokalisiert wird dieses nicht (vgl. auch Apg  8 ,2). Philostratos, Autor der Vita des Apollonius (8,31), beteuert im Epilog, er habe nirgends das Grab des Wanderphilosophen gefunden 275. Diese Bemerkung dient einer Beglaubigung von dessen Entrückung in den Himmel ex negativo276 . Umgekehrt bekräftigt die Begräbnistradition der Evangelien, dass Jesus – dem Credo von 1Kor  15,3–5 entsprechend – wirklich gestorben ist.

Aus dem oben in 1.1 dargelegten Befund 277, dass „der Grad der Gemeinsamkeit zwischen den Passionsdarstellungen des Markus und des Johannes […] von Mk  16,1 par. Joh  20,1 an weitaus geringer“ ist „als zuvor“ 278 , folgert Reinbold: Das Begräbnis Jesu (Mk  15,42–46 par. Joh  19,38.40.42) war „die epilogartige letzte Szene des ältesten Passionsberichtes“279. Tatsächlich provozierte die mkn. Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes zu ihrer mehrfachen Relecture, vor allem aber zur Auffüllung der Leerstelle, welche die im Text nicht eingelöste Ankündigung des himmlischen Boten hinterlässt, Petrus und die Jünger würden den Auferweckten in Galiläa „sehen“. Die in den Ostererzählungen wachsende Divergenz zwischen den vier Fassungen spricht deshalb nicht gegen die ursprüngliche Zusammenhörigkeit von Osterepilog und vorangehender Passionserzählung, sondern ist umgekehrt erst durch den offenen Epilog Mk  16,1–8 verursacht worden. Der Prozess seiner „Weiterschreibung“ beginnt schon, wie unten zu zeigen sein wird 280 , mit der PElk/joh: Sie begnügt sich nicht mit der Kundgabe des Osterevangeliums im leeren Grab, sondern schließt mit der Erzählung von der Erscheinung Jesu vor den Seinen am Osterabend. Zwei Argumente, die in der Regel gegen die Zugehörigkeit von Mk  16,1–8 zur PEG angeführt werden 281, bedürfen eingehender Erörterung: (1) die scheinbare ­Divergenz der unmittelbar aufeinander folgenden Frauenlisten Mk  15,47; 16,1282; (2) die Salbungsabsicht der Frauen Mk  16,1, die nach 15,46 zu spät zu kommen scheint. 275  VitAp  8 ,31: „Ein Grab (τάφῳ) oder eine angebliche Grabstätte (ψευδοταφίῳ) des Apollonios habe ich nirgends gefunden, obwohl ich den größten Teil der Erde, so groß sie auch ist, durchwandert habe. Wohl aber vernahm ich überall wunderbare Sagen und sah in Tyana einen Tempel, der auf kaiserliche Kosten errichtet worden ist. Die Kaiser würdigten ihn also einer Ehre, die ihnen selbst zuteil wird“. 276  In Kap.  30 bietet Philostrat verschiedene Erzählvarianten vom Tod des Apollonios. 277  Siehe dort die Synopse zum Epilog. 278  Reinbold, Bericht 102. Gleiches gelte auch im Blick auf die Mt und Lk. „[D]ie markinische Gestalt der Geschichte vom leeren Grab“ habe offenbar „nicht dieselbe Autorität wie die vorangehenden Stoffe. Mit bzw. in ihr endet der Bereich, für den man eine vierfache Synopse anfertigen kann“ (ebd. 103). 279  Ebd. 277. Die „Strukturanalogie“ des letzten Teils der mkn./joh. Passion zu 1Kor  15,3b–5 könne nachträglich hergestellt worden sein und trage für die Frage nichts bei (ebd. 104). 280  In II.  12.6. 281  Bultmann, Geschichte 308; Broer, Urgemeinde 85 f.; Reinbold, Bericht 101–106. 282 J. Gnilka, Mk  II  331: „Das unmittelbare Nebeneinander von zwei Listen in 47 und 16,1 erscheint fast allen Auslegern bedenklich“. Oberlinner, Überlieferung 108: Auf eine der beiden könnte man „ohne weiteres verzichten“; vgl. auch Myllykoski, Tage II 94–100.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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(1) Die zweite Frau von Liste 1 mit Namen Maria ist Mutter zweier Söhne, des „kleinen“ Jakobus und des Joses283. In 15,47 tritt sie ein weiteres und unmittelbar danach in 16,1 ein drittes Mal auf. Dort heißt sie aber „die des Joses“ bzw. „die des Jakobus“: Erste Frau

Zweite Frau

Dritte Frau

Liste 1: (Mk  15,40)

Maria Magdalena

Maria, die des kleinen Jakobus und des Joses Mutter (ἡ μήτηρ)284

Salome

Liste 2: (Mk  15,47)

Maria Magdalena

Maria, die des Joses

Liste 3: (Mk  16,1)

Maria Magdalena

Maria, die des Jakobus

Salome

Wie erklärt sich der unvermittelte Wechsel von 15,47 zu 16,1? Eine Antwort lautet: „Hier sind unterschiedliche Traditionen im Nachhinein zusammengebracht und dabei so gut es ging angepasst worden“285. Wer nicht (wie Ingo Broer u. a.) mit Einzeltraditionen rechnet, schlussfolgert: An die mit 15,47 endende Passionsgeschichte ist die Erzählung vom Grab­ besuch der Frauen „am ersten Tag der Woche“ nachträglich angehängt worden 286 . Wolfgang Reinbold stellt sich „die Entwicklung“ so vor: Liste 1 identifizierte die zweite Maria ursprünglich nur über den „kleinen Jakobus“, Markus zusätzlich noch durch Joses, weil er die Listen 2 und 3, die von unterschiedlichen Marien sprachen, mit Liste 1 zu harmonisieren suchte. „Nun ist immer von denselben Frauen die Rede; die drei, die unter dem Kreuz stehen, entdecken auch das leere Grab“287. So einleuchtend diese Erklärung auf den ersten Blick scheint, sie verlagert das Problem nur. Denn da Mk  15,47 die Funktion besitzt, den Grabbesuch der Frauen „am ersten Tag der Woche“ vorzubereiten (sie hatten „gesehen, wohin er [sc. Jesu Leichnam] gelegt worden war“)288 , muss dieser Besuch noch folgen. Reinbold sieht das Problem, weshalb er für die PEG eine Fassung der Bestattungsepisode ohne V.47 postuliert, von dem er annimmt, er sei erst in der PEmk hinzugewachsen, als Mk  16,1–8 angehängt wurde289. Aber „warum“, so fragt er, „bringt der Redaktor […] hier einen neuen Namen ins Spiel? Warum behauptet er nicht 283  Joses: gräzisiertes Jose, eine im Rabbinischen häufige Kurzform von Joseph (Str.-Bill. II 52), so Mt  27,56. 284  So „die traditionelle“ und „philologisch viel näher liegende“ (Reinbold, Bericht 102 Anm.  25) Deutung als diejenige, die hier vier Frauen aufgezählt findet: „(1) Maria, die von Magdala, und (2) Maria, die (des) Jakobus des Kleinen, und (3) (des) Joses Mutter und (4) Salome“ (Pesch, Mk II 504); Gnilka zufolge eine „harmonisierende Lösung“; er selbst vertritt wie viele andere die oben gebotene Deutung: J. Gnilka, Mk II 326 Anm.  99; ebenso Ernst, Mk 475; Lührmann, Mk 264; A.Y. Collins, Mk 772.774 u. a. 285  Reinbold, Prozess 69; vgl. Broer, Urgemeinde 87–94 („Drei exemplarische Lösungsversuche“). 286 L. Schenke, Auferstehungsverkündigung 11–33; ders., Christus 77; Reinbold, Bericht 101 f., u. a.; vgl. auch Broer, Urgemeinde 86. 287  Reinbold, Bericht 102; vgl. auch V. Taylor, Mk 651–653; J. Marcus, Mk II 1060: Liste 1 kombiniere die beiden folgenden, „preexistent traditions“, miteinander: „since the lists have two different names for the man, Joses and James, the evangelist may make Mary their mother rather than their wife“. 288  Siehe weiter unten! 289  Reinbold, Bericht 101 f.176.280.

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I. Teil: Die Quellen

eine Kenntnis der Begräbnisstätte für Maria Magdalena und eine der beiden aus 15,40 ­bekannten Frauen?“290 Der Verweis auf eine mögliche „Sondertradition“ hilft nicht weiter 291. Unter Voraussetzung, dass Mk  16,1–8 immer schon die alte Passionserzählung beschloss, suchen zwei Erklärungen das Problem mit der Annahme einer redaktionellen Bildung von Liste 2 bzw. 3 zu lösen. Die Zugehörigkeit von Liste 1 zur alten Passionserzählung steht dabei außer Frage292 . (a) Frank Schleritt hält (wie Reinbold) Liste 2 für einen Zuwachs mit der Begründung, dass sie in der joh. Parallele fehlt. „Derjenige, der diesen Vers hinzufügte, bemerkte, dass Maria Jacobi et Josetis, die in Mk  15,40 neben Maria Magdalena und Salome als Zeugin der Kreuzigung erscheint, in 16,1 lediglich als Maria Jacobi bezeichnet wird, und nannte sie daher mit gleichem Recht nun lediglich Maria Josetis. So sind Maria Josetis und Maria Jacobi nicht nur im jetzigen Mk-Text, sondern von Anfang an, d. h. seit der Hinzufügung von Mk  15,47, ein und dieselbe Person“293. Diese Erklärung ist dann hinfällig, wenn Johannes Liste 2 bewusst getilgt haben sollte, wofür gute Gründe sprechen 294. Auch sind Mk  15,47 und 16,6 gezielt aufeinander abgestimmt. Der Verweis des himmlischen Boten: „Seht den Ort, wohin sie ihn gelegt haben (ὅπου ἔθηκαν)“, entspricht der Notiz: „Sie sahen, wohin er gelegt worden war (ποῦ τέθειται)“295. Das stützt die Annahme einer genuinen Zugehörigkeit von Liste 2 zur alten Passionserzählung. (b) Die Alternativlösung rechnet mit einer redaktionellen Bildung von Liste 3296 , weil angesichts der durchgängig auf die Frauen als Subjekt bezogenen Satzsequenz 15,47–16,5 eine erneute Nennung der Namen in 16,1 unmittelbar nach 15,47 eigentlich unnötig ist. Die gegenüber dem Vers zuvor veränderte Liste wirkt wie ein „retardierendes Moment“297 und markiert in Verbindung mit der Tagesangabe: „und als der Sabbat vorüber war“ (16,1a), einen deutlichen Neueinsatz298 . Die Annahme liegt nahe, dass es Markus war, der die dritte Liste gebildet und „in den ursprünglich reibungslosen Ablauf von Sehen des Grabes (15,47), Einkauf der Salben (16,1b) und Gang zum Grab (16,2)“ eingefügt hat, um das Geschehen am Ostertag von den Ereignissen zuvor und vom Sabbat, an dem Jesus noch im Grab lag, unübersehbar abzuheben 299. Ulrich Wilckens und Lorenz Oberlinner schreiben noch zusätz290 

Ebd. 106. „Kennt er (sc. der Redaktor) eine Sondertradition? An dieser Stelle bleiben Fragen offen. Eine vollauf befriedigende Erklärung der Genese der drei divergierenden Listen gibt es (m. E.) nicht“. 292  Die Parallele Joh  19,25 bestätigt dies. – Zur häufigen Zuschreibung der Liste 1 als vorweggenommener Harmonisierung der beiden folgenden Listen an Mk vgl. Oberlinner, Überlieferung 106–108. 293  Schleritt, Passionsbericht 468 Anm.  62. 294  Lührmann, Mk 268: „Bei Joh kann eine solche Notiz [wie Mk  15,47] fehlen, weil Jesus dort an Ort und Stelle bestattet wird“. Ein weiterer Grund könnte der sein, dass Josef von Arimathäa als „Jünger Jesu“ ausgegeben wird, weshalb Maria Magdalena durch ihn über die Grabstelle informiert worden sein könnte. Joh hat die erste Liste theologisch aufgewertet, Liste  2 getilgt und die Frauen des Ostermorgens auf Maria Magdalena reduziert: siehe unten II. unter 11.4 und 12.4. 295  Becker, Auferstehung 16: Wenn der Engel auf die Stelle verweist, „wo Jesu Leichnam gelegen hatte (16,6)“, setzt er „voraus, dass die Frauen als Zeugen der Grablegung Jesu den genannten Ort identifizieren können“. 296  Wilckens, Auferstehung 56–58; Oberlinner, Überlieferung 108–112; J. Gnilka, Mk II 331. 297  Oberlinner, Überlieferung 109. 298 J. Gnilka, Mk II 338: „Die nochmalige Erwähnung der Frauen will unterstreichen, dass jetzt etwas ganz Neues geschieht“. 299  Oberlinner, Überlieferung 109 f., im Anschluss an Wilckens. 291  Ebd.:

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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lich die Zeitangabe καὶ διαγενομένου τοῦ σαββάτου 16,1 Markus zu300 , während sie Joachim Gnilka für „unentbehrlich“ hält: „Die Geschichte will von der Bestattung Jesu zeitlich abgesetzt sein. Und am Morgen vor Sonnenaufgang geht man nicht einkaufen“301. Nennt bereits die PEmk in 15,40 drei Frauen als Zeuginnen des Todes Jesu und lässt zwei von ihnen beobachten, „wo“ Jesus beigesetzt wurde, auf dass sie nach dem Sabbat bzw. „am ersten Tag der Woche“ ihrer Salbungsabsicht nachkommen können, so nutzt Markus die Gelegenheit, in der Ostererzählung in „Nachbildung“ der Liste 1302 wieder alle drei Frauen als Zeuginnen auftreten zu lassen 303. Nachdem Liste 2 zur Identifizierung der zweiten Maria nur auf Joses Bezug nimmt, begnügt Markus sich in 16,1 „mit der Erwähnung ihres in 15,40 an erster Stelle genannten Sohnes“304. Auf diese Weise erklärt sich das seltsame Nacheinander der beiden Listen und wird auch der Wechsel in der Benennung der zweiten Maria als sachlich nicht ins Gewicht fallende Variation nachvollziehbar. Die nur in Liste 1 begegnende Apostrophierung des Jakobus als „klein“ (μικρός)305 bedarf aber noch einer Erläuterung. Da μικρός den ansonsten unbekannten Jakobus entweder vom Zebedäussohn Jakobus (Mk  1,19 f.; 1,29; 3,17; 5,37; 9,2; 10,35; 13,3; 14,33) oder vom Herrenbruder gleichen Namens (Mk  6 ,3) unterscheidet, die beide im Evangelium begegnen, dürfte es von dessen Kontext her zu verstehen sein. Der Zebedäussohn hat im Evangelium den weitaus bedeutenderen Auftritt, an allen Stellen rangiert er auch vor seinem Bruder Johannes. Das könnte darauf hindeuten, dass er für Markus der „große Jakobus“ ist, von dem er den „kleinen“ in 15,40 und 16,1 unterschieden wissen will306 . Mit dem gleichnamigen Brüderpaar (Mk  6 ,3) sind dieser und Joses aber auch nicht zu verwechseln, da andernfalls die Mutter Jesu am Kreuz stünde, was nach Mk  3,20 f./31–35 nicht zu erwarten ist 307; es sind auch keine weiteren Anverwandten Jesu (Vettern), die dann – unter Voraussetzung eines entsprechenden Sprachgebrauchs von ἀδελφοί – schon in Mk  6 ,3 erwähnt worden wären. Diese Konstruktionen überfordern den Text 308 . 300  Wilckens, Auferstehung 57 f.; Oberlinner, Überlieferung 109f; auch in 15,42 sieht er eine „mit Wahrscheinlichkeit nachträglich eingefügte Zeitangabe“ (ebd. 109). Die Parallele Joh  19,31.42 spricht dagegen. 301  J. Gnilka, Mk II 338. 302  Ebd. 331. 303  In Dtn  19,15 heißt es „Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen“. Frauen allerdings wurde das Zeugenrecht abgesprochen; Lk  24,11 lässt dies anklingen und Josephus sagt es anlässlich von Dtn  19,15 ausdrücklich: „Das Zeugnis der Frauen soll nicht zulässig sein wegen der ihrem Geschlecht eigenen Leichtfertigkeit und Dreistigkeit“ (Ant  4,219); vgl. Philo, SpecLeg  3,169 f.; mSchevu  4,1: „Das Gesetz über den Zeugniseid gilt nur bei Männern, nicht bei Frauen“. Als ob dies dem Erzähler bewusst gewesen ist, lässt er den jungen Mann im Grab den abwesenden Petrus und die anderen männlichen Jünger ins Spiel bringen, von denen 1Kor  15,3–5 erklärt, sie seien die Zeugen der „Erscheinungen“ des Auferweckten. Vgl. dazu unten II.  12.7. 304 J. Gnilka, Mk  II  331. 305  Die Bedeutung dieser Apostrophierung bleibt undeutlich. Meint sie die Statur (vgl. Lk  19,3), das Alter (= der Jüngere) oder hebt sie auf die Bedeutung des Mannes ab? 306  Anders verhielte es sich, wenn ein Beiname vorläge. Dieser wäre Mk vielleicht schon vorgegeben gewesen. 307  Oberlinner, Überlieferung 81 (mit Anm.   258).117–120; Pesch, Mk II 506; J. Gnilka, Mk II 326; Lührmann, Mk 264: „vielleicht zur Vermeidung solcher Verwechslung [mit dem Brüderpaar von 6,3] der Zusatz τοῦ μικροῦ?“; A.Y. Collins, Mk 774: „if Mark was aware that the ­second Mary was the mother of Jesus, he would most likely have referred to her explicitly as such. […] [A]ll three names were relatively common in the first century CE. So the second Mary should not be identified with the mother of Jesus“. Anders Crossan, Mark 108 f. 308  Vgl. den gründlichen Nachweis von Oberlinner, Überlieferung 112–117 u. ö.

110

I. Teil: Die Quellen

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass die beiden ersten Listen Mk  15,40 und 47 durch das Motiv des „Sehens“ miteinander verbunden sind, dieses aber nicht in Liste 3 begegnet. Gleichwohl prägt es die anschließende Grabeserzählung 16,4 f.: Mk  15,40 „sie waren zuschauend (ἦσαν δὲ […] θεωροῦσαι)“. Mk  15,47 „sie schauten (ἐθεώρουν), wohin er gelegt wurde“. Mk  16,4 f. „und aufblickend sehen sie (θεωροῦσιν), dass der Stein weggewälzt ist“ „und hineingehend in die Grabanlage sahen sie (εἶδον) […] einen jungen Mann sitzen“ Mk  15,40 sagt nicht, was die Frauen sehen, aber die coniugatio periphrastica deutet an: Es geht um die besonderen Umstände des Todes Jesu am Kreuz. Mk  15,47 und 16,4 f. zufolge „sehen“ die Frauen den Ort des Begräbnisses, dann den vom Eingang der Grabkammer weggewälzten Stein, von dem mit gleichen Worten schon in V.46 die Rede war, und einen in der Grabanlage sitzenden jungen Mann. Die Gegenwart der Frauen in diesen Szenen bildet die Brücke zwischen der Kreuzigung Jesu, seinem Begräbnis und dem Auferstehungskerygma im Mund des jungen Mannes. Assoziiert wird das alte Bekenntnis von 1Kor  15,3–5: „ge­ storben“, „begraben“ und „auferweckt“309. Das bestätigt den ursprünglichen Konnex von Pas­sionserzählung und österlichem Epilog. (c) Die nachstehende Synopse bietet die drei Frauenlisten (I./II./III.) der vier Evangelien in Übersicht 310 – ohne die lkn. Parallelen zu I. und II. (Lk  23,49.55 f.), da diese auf Namen verzichten. Dafür nennt die erste Erwähnung der Frauen in Lk  8 ,2 f.311 und die letzte in Lk  24,10312 mehrere namentlich. I. Mk 15,40

II. Mt 27,56

Joh 19,25

1

seine Mutter

2

die Schwester seiner Mutter

3

Maria, die des Klopas

Mk 15,47

III. Mt 27,61

Mk 16,1

Mt 28,1

Lk 24,10

Joh 20,1

309  Siehe unten Exkurs 2: Das Verhältnis der alten Passionserzählung zum Kerygma 1Kor  15,3– 5(7). Vgl. auch Davies/Allison, Mt III 637, zu den drei Listen des Matthäus. 310  Vergleichbare Listen auch in EpAp   9–10; EvPetr  50–54: „Maria Magdalena […] und ihre Freundinnen“. 311  Lk  8 ,1 f.: „die Zwölf waren mit ihm, auch einige Frauen, die geheilt worden waren von bösen Geistern und Krankheiten, Maria, genannt Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren ­waren, und Johanna, die Frau des Chuzas, eines Verwalters des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihnen mit ihrer Habe dienten“. 23,49.55 f. (Galiläa!) beziehen sich auf 8,2; in 24,10 begegnen Maria von Magdala und Johanna wieder. 312  Die Liste  3 hat Lk von ihrem Platz bei Mk zu Beginn der Perikope von der Auffindung der leeren Grabkammer an deren Ende transferiert. „[D]urch die Wiederaufnahme zweier Namen von 8,2 f. her bekannter Frauen: Maria Magdalena und Johanna“, stärkt Lk den Bezug auf Galiläa (Oberlinner, Überlieferung 91).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

I. 4

II.

III.

Maria, Maria, Maria, Maria, Mariam, Maria, Mariam, Maria, Maria, die von die von die von die von die von die von die von die von die von Magdala Magdala Magdala Magdala Magdala Magdala Magdala Magdala Magdala

5 6

Johanna Maria, Maria, die (des) die des Jakobus Jakobus des Kleinen und

(7) (des) Joses Mutter

Maria,

die andere Maria

Maria, die die des andere Jakobus Maria

Maria, die (des) Jakobus

und (des) Josef Mutter

7(8) Salome 8(9)

111

die (des) Joses Salome

die Mut­ter der Ze­be­ daiden

(2) Das zweite Argument gegen die ursprüngliche Zugehörigkeit des Epilogs zur PE lautet: Die „Absicht“ der Frauen, „den Leichnam einzubalsamieren“, passe nicht zu Mk  15,46, „wo keineswegs daran gedacht ist, dass die Bestattung Jesu eine unvollständige und vorläufige ist“313. Aber „Mk  15,46 ist eine übliche und vollständige Bestattung. Sie enthält jedoch keine Salbung. Darum steht Mk  16,1 nicht im Widerspruch dazu, sondern kann als (nicht übliche) Ergänzung verstanden werden“314. Außerdem sollte die Absicht der Frauen, den Leichnam Jesu salben zu wollen, nicht auf historische Plausibilität befragt, sondern literarisch gewürdigt werden; sie bereitet den Besuch im Inneren der Grabkammer „am dritten Tag“ narrativ vor.

Zugunsten der Zugehörigkeit von Mk  16,1–8 (bzw. ihrer Fortschreibung in der PElkn/joh) zur alten PE spricht die Botschaft des Engels: „Er ist auferweckt“ (Mk  16,6). Sie gibt den archimedischen Punkt der ganzen Passionserzählung zu erkennen, den theologischen Grund, der überhaupt erst zur schriftbezogenen Aufarbeitung des Todes Jesu am Kreuz führte. Ist Ps  22 die Matrix der Kreuzigungserzählung, dann wurde die „göttliche ‚Rechtfertigung‘“ des Gekreuzigten 315 von Anfang an miterzählt, in impliziter Auseinandersetzung mit der antijesuanischen Reklamation von 313  Bultmann, Geschichte 308; ebd. Anm.  2 verweist er (unter Rekurs auf Eduard Schwarz) auf den „Widerspruch, der darin liegt, dass die Frauen, die 15,47 Zeugen der Verschließung des Grabes waren, erst unterwegs 16,3 reflektieren: τίς ἀποκυλίσει ἡμῖν τὸν λίθον“, vor allem aber auf „die Unmöglichkeit, dass die Frauen den Leichnam salben wollen, der schon einen Tag und zwei Nächte im Grabe gelegen hat“. 314  Becker, Auferstehung 17 Anm.  11. 315  Pesch, Mk II 539; ebenso J. Gnilka, Mk II 349; Lührmann, Mk 227–231.266; Luz, Mt IV 382: Die Passionsgeschichte war immer schon „auf die Rehabilitation des gemarterten Gerechten durch Gott hin angelegt. Ihr ursprünglicher Schluss kann […] nur Mk  16,1–8, nicht Mk  15,42–46 gewesen sein“.

112

I. Teil: Die Quellen

Dtn  21,22 f.316 . Die Verzahnung mit der vorangehenden Erzählung wird auch daran ersichtlich, dass der himmlische Bote in der leeren Grabkammer zwar dem Glaubensbekenntnis von 1Kor  15 entsprechend die Auferweckung Jesu kundtut, im Unterschied zu diesem Bekenntnis („Christus ist gestorben für unsere Sünden“) aber vom „Gekreuzigten“ spricht: „Ihr sucht Jesus, den Nazarener, den Gekreuzigten“. Aus der mehrfachen Verklammerung vom Mk  16,1–8 mit der Passionserzählung317 ist überdies mit Jürgen Becker zu folgern: Die Auffindungsgeschichte war keine ursprünglich gesondert umlaufende Überlieferung, sondern ist von Anfang an als Epilog zur Passionserzählung konzipiert worden. 1.4.3 Die Mahlszene der alten Passionserzählung und der sog. „Einsetzungsbericht“ Nicht nur Beginn und Ende der alten Passionserzählung sind strittig, auch ihr Mittelteil (B) birgt Fragen: Ist der sog. „Einsetzungsbericht“ „(authentisches) Kernstück“ der alten Passionserzählung318 , das vom vierten Evangelisten bewusst übergangen wurde319, oder ist er erst sekundär in die PEG implantiert worden?320 Strittig sind auch die Episoden „Vorbereitung des Mahls“ (= Nr.  1) und „Gebetsringen Jesu im Garten Getsemani“ (= Nr.  5), von denen die Mahlszene gerahmt wird. Im joh. Überlieferungszweig fehlen beide. Sollte Episode Nr.  1 eine spätere Bildung sein, wusste die PEG (wie Joh) nur von einem Abschiedsmahl Jesu, nicht (wie die Synoptiker) von einem Paschamahl. Mit der literarischen Zuordnung dieser Episode entscheidet sich der Charakter des letzten Mahls aus Sicht der ältesten greifbaren Überlieferungsschicht. An der Erzählung vom letzten Mahl Jesu bei den Synoptikern fällt zunächst auf, dass der Mahlablauf nicht im Vordergrund der Darstellung steht. Erzählt wird vor allem, was Jesus während des Mahles sagt: Er kündigt seine „Auslieferung“ durch einen der Zwölf und seine Verleugnung durch Petrus an, letzteres bei Lukas (und 316 

Siehe oben 1.2.1.3. (1) „Mk  16,1–4 setzen sachlich und zum Teil mit enger sprachlicher Nähe das Mk  15,46 beschriebene Grab voraus, und zwar übereinstimmend ein spezifisches Grab mit Rollstein als Abschluss“. – (2) „Die Zeitangabe in 16,1 (‚als der Sabbat vorüber war’) steht in Korrespondenz zum Begräbnis am Rüsttag des Sabbats (15,42)“. – (3) „Die Bezeichnung Jesu im Munde des Engels als ‚Nazarener’ (16,6) ruft beim Leser die Verleugnungsszene des Petrus auf (vgl. 14,67; Bezüge zu 1,24; 10,47 liegen kaum vor). Sie erinnert zumindest indirekt daran, warum die Jünger am leeren Grab abwesend sind“ (Becker, Auferstehung 15 f.). 318  Kleinknecht, Gerechtfertigte 181; vgl. auch Trocmé, Passion 14–19 (bes. 17).73; es ist die traditionelle Anschauung. 319  Bultmann, Joh 370 f.: Das Herrenmahl „als sakramentale Handlung ist […] ihm (sc. Joh) gleichgültig, ja gar bedenklich, und seine Darstellung gibt nur das, was als sein eigentlicher Sinn gelten kann“ (und zwar in Joh  17, im „hohepriesterlichem“ Gebet Jesu). Dass Joh die Kultätiologie in seiner PE hätte lesen können, nimmt Bultmann, der auf den Bahnen von Modell 3 denkt (siehe oben 1.3.2), nicht an. 320  Bultmann, Geschichte 285–287, mit formgeschichtlicher Begründung im Blick auf die Mk vorgegebene PE; ebenso H. Zimmermann, Methodenlehre 157; J. Gnilka, Mk II 240; Kollmann, Ursprung 160 f. – Reinbold, Bericht 84–86, sieht „keine Anzeichen dafür […], dass Johannes einen Mk  14,22–25 vergleichbaren Text in seiner Passionsquelle gelesen hat“ (84); Pokorny/ Heckel, Einleitung 380 f. 317 

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

113

Johannes) während des Mahles, bei Markus und Matthäus erst auf dem Weg zum Ölberg. Darüber hinaus bieten alle vier Evangelisten jeweils weitere Worte und Reden Jesu, bei Lukas und vor allem Johannes von beträchtlichem Umfang. Mit dem sog. „Einsetzungsbericht“ bieten die Synoptiker auch Mahlgesten Jesu und entsprechende Gabeworte: Bei Markus und Matthäus bricht Jesus das Brot und verteilt die gebrochenen Stücke an die Mahlteilnehmer, nimmt einen Becher Wein und lässt ihn in der Runde kreisen. Jeweils davor spricht er einen Lobspruch bzw. eine Danksagung, deren Inhalte nicht mitgeteilt werden, weil sie als bekannt vorausgesetzt werden, dann Worte beim Darreichen der Gaben selbst 321. Die beiden Handlungen bilden eine Einheit 322 . Der Ort der Episode im Mahlgeschehen ist bei beiden Evangelisten undeutlich. Da sie von einem Genitivpartizip im Präsens eingeführt wird: „(und) als sie (aber) aßen (καὶ ἐσθιόντων [δὲ] αὐτῶν)“ (Mk  14,22 par. Mt  26,26), scheint sie sich während des Mahles zuzutragen 323. Das überrascht, denn das Brotbrechen eröffnet eigentlich ein Mahl. Wenn Jesus nach der Becher-Handlung erklärt, dass er von nun an nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken werde bis zur Vollendung im Reich Gottes (Mk  14,25 par. Mt  26,29), klingt das wie ein Abschluss. Der unmittelbar folgende Satz Mk   14,26: „Und als sie den Lobgesang gesungen hatten (ὑμνήσαντες), gingen sie zum Ölberg hinaus“ (= Mt  26,30), bestätigt diesen Eindruck: Markus und ihm folgend Matthäus sehen die „eucharistische“ Handlung Jesu samt Lobgesang aller Mahlteilnehmer am Ende der Feier. Noch etwas irritiert: Die Episode der Mahlvorbereitung (= Nr.  1) lässt ein Paschamahl erwarten, die Darstellung bei Markus und Matthäus löst diese Erwartung aber nicht ein. Spezifische Züge eines Paschamahls werden nicht erwähnt, vom Essen eines Lammes ist nicht die Rede324. Implizite Bezugnahmen auf ein Paschamahl wurden zwar früher des Öfteren behauptet, unterliegen inzwischen aber grundsätzlich dem Bedenken, das frühjüdische Paschamahl vor der Tempelzerstörung an dem ätiologischen Text Ex  12 bzw. den rabbinischen Vorstellungen vom 321  Hofius, Herrenmahl 205 mit Anm.  10, nennt sie deshalb (nach Oswald Bayer) passenderweise Gabeworte. Das Brotwort Mk  14,22 par. Mt  26,26 folgt direkt auf das ἔδωκεν αὐτοῖς („er gab ihnen“); das Becherwort in Mk  14,24 ist vom zweiten ἔδωκεν αὐτοῖς V.23c zwar durch die Notiz: „sie tranken alle daraus“ V.23d getrennt, aber doch auf es bezogen. Von Einsetzungsworten kann bei Mk und Mt nicht die Rede sein, eher bei Lk und Paulus, da beide (und nur sie) mit dem sog. „Wiederholungsbefehl“ zum gemeindlichen Tun aufrufen: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk  22,19 nach der Brothandlung; 1Kor 11,24 f. nach Brot- und Becherhandlung). 322  Anders Lukas, siehe unten! 323  Die fast gleich lautende Partizipialwendung im Präsens zu Beginn der Mahlszene Mk  14,18: „als sie zu Tisch lagen und aßen (καὶ ἀνακειμένων αὐτῶν καὶ ἐσθιόντων), sprach Jesus […]“ (vgl. Mt  26,21: ἐσθιόντων αὐτῶν) bestätigt, dass das Mahl im Gang ist und jetzt eine zweite Episode erzählt wird. 324  Leonhard, Eucharist 308: „It may be inferred from a remark by Philo [SpecLeg  2 ,145– 149], that Pilgrims could eat the meat of the Pesach animals not only within the Temple precincts, but also in the houses of Jerusalem. In this respect, the general setting of the Last Supper in the ‚upper room‘ is not implausible, although not many pilgrims would have been able to celebrate a lavish symposium“; vgl. ebd. 284.

114

I. Teil: Die Quellen

Sedermahl messen zu können 325. Folgende drei Punkte aus der umfangreichen Argumentation von Joachim Jeremias seien exemplarisch genannt326: (a) Mk  14,20: „Er aber sagte: Einer der Zwölf, der mit mir (seinen Bissen) in die Schüssel taucht“. Jeremias zufolge ist die Schüssel mit der Fruchtmustunke gemeint, in die die Teilnehmer des Paschamahls die ihnen vorgesetzten Bitterkräuter tunken (Ex  12,8); die Verse bezögen sich auf das Essen der Vorspeise327. Aber diese Annahme ist hinfällig, Ex  12 war kein „Script of a Domestic Pesach but an Etiology of the Temple Cult“328 . (b) „Wie kommt es“, fragt Jeremias, „dass beim letzten Mahle Jesu Wein getrunken wird? Antwort: bei der Passamahlzeit war es Pflicht eines jeden Feiernden, Wein zu trinken – nach Pes.  X ,1 mindestens vier Becher – ‚und wäre es sogar aus der Armenkasse‘“329. Doch wurde Wein nicht nur beim Paschamahl genossen, sondern bei jedem Festmahl, wie auch „der Segensbecher“ am Ende eines Mahles „in der jüdischen Tischsitte zu ‚jeder Mahlzeit (gehörte), bei der Wein getrunken wurde‘. Ein ‚Festmahl‘ musste das durchaus nicht sein“330 . (c) Die Erzählernotiz nach dem Mahl: „und als sie den Lobgesang gesungen hatten (ὑμνήσαντες)“ (Mk  14,26; vgl. Mt  26,30) soll Jeremias zufolge auf „den zweiten Teil des Passahallel“ anspielen, „das in der rabbinischen Literatur gelegentlich […] ‫ הימנון‬heißt“331. Allerdings ist es zweifelhaft, ob das Hallel Ps  113–118 schon zur Zeit des Zweiten Tempels Bestandteil der Paschafeier gewesen ist 332 . 325  Stemberger, Pesachhaggada 373: „Pes X oder die Pesachhaggada können nicht als Hintergrund für das Verständnis der Abendmahlsberichte verwendet werden“; Leonhard, Haggada 73–118; ders., Pesach; ders., Eucharist 275–310: die Haggada selbst ist mittelalterlichen Ursprungs. – Buchinger, Ursprung 211–214, dokumentiert den inzwischen eingetretenen Paradigmenwechsel der Forschung. 326 J. Jeremias, Abendmahlsworte 35–78; der für seine Argumentation entscheidende Punkt, dass die Deuteworte Jesu ihr Vorbild in entsprechenden Deuteworten der Pesachhaggada besäßen („Siehe, das ist das Elendsbrot [vgl. Dtn  16,3], das unsere Väter essen mussten, als sie aus Ägypten auszogen“) (50 f.) hat sich erledigt. Diese sind nicht nur späten Datums, sie reagieren auch erst auf das christliche Abendmahl und dessen Deuteworte: Leonhard, Eucharist 294–297 (mit weiterer Lit.). 327  Ebd. 61: Mk  14,20 par. (ἐμβαπτόμενος), eine „indirekte Erwähnung der Bitterkräuter“. 328  Leonhard, Eucharist 282. 329 J. Jeremias, Abendmahlsworte 46 f., mit Verweis auch auf Jub  49,6.9. 330  Hofius, Herrenmahl 212 f., mit zahlreichen Belegen. 331 J. Jeremias, Abendmahlsworte 49; ebd. Anm.  4; ebenso Pesch, Mk   II  379 (dort weitere Lit.); Delling, Art. ὕμνος 502; vgl. auch Reif, Judaism 85: „Among other elements of the liturgy that appear to have moved from Second Temple to synagogue were certain biblical Psalms and those selections of them known as hallel (Psalms 113–18)“.– Weil ὑμνήσαντες an die vorangehende Episode von der Vorbereitung des Paschamahls anknüpft (A.Y. Collins, Mk 668), wird es auch überlieferungskritisch mit diesem Rahmen im Zusammenhang zu sehen sein (siehe unten). 332  Lührmann, Mk  242: „Dass damit die beim Passamahl am Ende stehende zweite Hälfte des Hallel (Ps  114 bzw. 115–118) gemeint sei […], wird dem Leser zumindest nicht direkt gesagt. Eher wird an die allgemeine Sitte von Lobgesängen bei Gottesdiensten erinnert; zu solchen Feiern gehört Beten und Singen“. Zum Paschafest vgl. Weish  18,9; Philo, SpecLeg  2,148: „Jedes Haus erhält zu dieser Zeit den Charakter und Weihe eines Heiligtums; […] sie sind ja nicht zusammengekommen, um wie bei sonstigen Gelagen (συμπόσια) ihrem Leibe mit Wein und Speisen zu Willen zu sein, sondern um der Väter Brauch (πάτριον ἔθος) unter Gebeten und Lobgesängen (μετ’ εὐχῶν τε καὶ ὕμνων) zu erfüllen“; Melito, Pascha  80 („Psalmen“). – Belege für das Hallel als Bestandteil der Seder-Ordnung stammen erst aus rabbinischer Zeit: Stemberger, Pesachhaggada 369 f., und ­Leonhard, Eucharist 301–304, bezweifeln einen Bezug auf das Hallel grundsätzlich, weil die Belege erst aus rabbinischer Zeit stammen: Mk  14,26 par. Mt  26,30 „may reflect any kind of banquet customs, and does not point the ritual of the rabbinic Seder“ (ebd. 304).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Auch Lukas erzählt von der Vorbereitung des Paschamahls (Lk  22,7–13). Aber die Mahlszene bessert er nach, indem er ihr das Flair eines Paschamahls verleiht 333. Gleich zu Beginn (V.14) lässt er Jesus programmatisch erklären: Sehnlichst habe ich mich danach gesehnt, dieses Pascha mit euch zu essen (τοῦτο τὸ πάσχα φαγεῖν), bevor ich leide (πρὸ τοῦ με παθεῖν). Denn ich sage euch, dass ich es nicht mehr essen werde, bis es erfüllt ist im Reich Gottes.

Nach dieser Eröffnung ist der Charakter des Mahles klar. Der Gestus des Brot­ brechens erfolgt jetzt auch an der passenden Stelle nach dem Eröffnungsbecher zu Beginn des Mahls (V.19). Unmittelbar nach dem Mahl (V.20a: μετὰ τὸ δειπνῆσαι) lässt Jesus den letzten Becher samt Gabewort kreisen (V.20b), womit das Mahl schließt. Über die beim Mahl verzehrten Speisen verlautet nichts. Letzte Worte, teils bezogen auf die Mahlsituation (Lk  22,27.30), folgen. Wie sind diese Befunde diachron zu deuten? Die Abendmahlsüberlieferung Mk  14,22–24 (1) Die Abendmahlsüberlieferung Mk  14,22–24 wurde erst nachträglich in die Markuspassion implantiert334. Das anschließende Amen-Wort Jesu vom Weintrinken in der Basileia Gottes (Mk  14,25) ist nicht Teil dieser Überlieferung, sondern gehört zur Mahlszene der PEG335. Folgende Beobachtungen sprechen für diese Annahme: (a) Wie die (zeitlich und sachlich) undeutliche Zuordnung der Episode zu ihrem Kontext zeigt, ist sie mittels Wiederaufnahme des Part. Präs. καὶ ἐσθιόντων (αὐτῶν) aus V.18 in V.22 nachträglich in ihren neuen Kontext „eingesetzt“ worden 336 . (b) Mk  14,22–24 ist in sich gerundet. Es liegt eine selbständig tradierbare Überlieferung vor. Das Amen-Wort V.25 ist Überhang und gehört aus formalen Gründen nicht dazu. 1Kor  11,26 erweist nicht das Gegenteil337. 333  Theobald, Paschamahl 133–180. Wir wissen nicht, welche Vorstellung von einem Paschamahl Lk hat. Aber V.17 f. zeigen in jedem Fall, dass er an ein festliches Mahl denkt, das mit einem Becher Wein eröffnet wird. Löhr, Abendmahl 104–113: Die syn. Darstellungen sind, „pointiert formuliert, selbst als frühe Zeugnisse der jüdischen Pesach-Feier zur Zeit des Zweiten Tempels aufzufassen“ (104); am ehesten trifft dies auf Lk zu; Leonhard, Eucharist 289. Zur theologischen Bedeutung des Pascha-Rahmens bei Lk vgl. Christopher, Appropriation 66–105. 334 So nach dem Vorbild von Bultmann, Geschichte 285–287, auch Becker, Joh II 635; L.  Schenke, Christus 135; Reinbold, Bericht 133; Myllykoski, Tage I 147.173; anders Mohr, Johannespassion 185–212. 335 Gegen Bultmann, Geschichte 286, der nicht zwischen der Abendmahlsparadosis und der Prophetie Mk  14,25 unterscheidet. Es sind zwei auch gattungskritisch zu unterscheidende Ein­ heiten. 336  Bultmann, Geschichte 286. 337  1Kor  11,26 stammt aus der Feder des Apostels (Schrage, 1Kor III 44–47). Beide Worte differieren: Paulus geht es um die Verkündigung des Todes Jesu bis zur Parusie, Jesus tröstet die Seinen angesichts seines Todes durch seine Gewissheit, beim eschatologischen Mahl der kommenden Gottesherrschaft dabei zu sein. Näheres dazu siehe unten III.  2.4.3 unter (c). Weder 1Kor  11,26 noch Mk  14,25 gehört zur „Kultätiologie“.

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I. Teil: Die Quellen

(c) 1Kor  11,23c–25 bestätigt, dass die Abendmahls-Paradosis ursprünglich selbständig war. Paulus selbst erklärt: „Ich habe nämlich vom Herrn empfangen, was ich euch auch überliefert habe: […]“. Das wortgetreue Zitat der „Kultätiologie“ folgt 338 .

(2) Schwierig zu beantworten ist die Frage, wer das Erzählstück in die Markuspassion implantiert hat, PEmkn oder der älteste Evangelist. Zugunsten der ersten Alternative wird zumeinst auf die „liturgisch motivierte Parallelisierung“ von Brot- und Becherwort verwiesen, welche die mkn. Fassung der Abendmahlsüberlieferung von der pln.-lkn. unterscheide339, woraus, wie selbstverständlich, auf einen vor­ mkn. Gebrauch im Gottesdienst geschlossen wird. Die Alternative, der älteste Evangelist habe die Überlieferung nicht nur in seine PEmkn eingeflochten 340 , sondern auch literarisch neugestaltet, wird faktisch nicht diskutiert. Weithin anerkannt ist dagegen, dass die vorlkn.-pln. Abendmahlsüberlieferung gegenüber der mkn. überlieferungsgeschichtliche Priorität genießt 341. Markus hat sie bzw. eine Variante von ihr gekannt und redaktionell umgestaltet342 . (a) Seine Fassung ist viel stärker als die paulinische narrativ ausgerichtet. Das beginnt mit der Partizipialwendung „und als sie aßen“, die die Überlieferung in die Situation einbettet, und setzt sich fort mit dem zweimaligen „und er gab ihnen (sc. das Brot bzw. den Becher)“ und der Notiz: „sie tranken alle (πάντες) daraus“. Letztere geht gewiss auf das Konto des ältesten Evangelisten, denn er betont im Kontext des Öfteren, dass alle an Jesus Ärgernis nehmen und ihn verraten werden, weshalb sie auch alle auf Gottes Heilssetzung in Jesu Tod, auf das für „viele“ [= alle] vergossene Blut, angewiesen sind. Die Stärkung des narrativen Anteils geht insgesamt auf Markus zurück. (b) Die kleine Notiz V.23d: „und sie tranken alle (πάντες) daraus“ fokussiert die Becherhandlung. Passend dazu vereint das Becherwort im Unterschied zum äußerst knappen Brotwort („Nehmt 343: das ist mein Leib“) alle soteriologischen Angaben auf sich und bildet die Klimax der kleinen Einheit: „Das ist mein Blut des Bundes (vgl. Ex  24,8), das für viele vergossen wird“. Die Koinzidenz dieser beiden Beobachtungen spricht dafür, dass Markus mit der Notiz V.23d auch das Becherwort neugestaltet hat. Weil die Verknappung des Brotworts im Vergleich zur vorpln. Kultätiologie („dies ist mein Leib, der für euch [τὸ ὑπὲρ ὑμῶν]“) der Hervorhebung des Becherworts dient, wird Markus das Brotwort um seine vorgegebene

338  „Vom Herrn (ἀπὸ τοῦ κυρίου) empfangen – euch weitergegeben“ ist jüdische Traditions­ terminologie und verweist auf „Jesus als den Ursprung der Tradition“ (Lindemann, 1Kor 253). Als „Kultätiologie“ dient die Überlieferung der Normierung der gemeindlichen Mahlpraxis (der Terminus geht auf die formgeschichtliche Exegese zurück: Bultmann, Geschichte 285, spricht im Anschluss an A. Eichhorn [1898] und W. Heitmüller [1909] von einer „Kultuslegende“, Dibelius, Formgeschichte 207, von einer „ätiologische(n) Kult-Überlieferung“). Es geht um Legitimation gemeindlichen Tuns durch seinen geschichtlichen Ursprung, ein wortwörtliches Referat dessen, was Jesus gesagt haben soll, wird nicht behauptet. 339 J. Gnilka, Mk II 240; J. Marcus, Mk II 963, u. a. 340  Lührmann, Mk 239; A.Y. Collins, Mk 653 f., und Reinbold, Bericht 133; Myllykoski, Tage 163, schreiben zwar die Einfügung der Abendmahlsüberlieferung Markus zu, diskutieren aber nicht, ob die Differenzen zur pln.-lkn. Fassung sich nicht gleichfalls ihm verdanken. 341  Merklein, Überlieferungsgeschichte u. a. (siehe bei Theobald, Herrenmahl 262). 342  Theobald, Sinai 463–494; ders., Anfänge 60 f. 343 Dieses λάβετε hat in der pln. Kultätiologie keine Parallele. Mk dürfte es zur Stärkung des situationellen Bezugs hinzugesetzt haben.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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soteriologische Explikation gekürzt und diese (τὸ … ὑπὲρ πολλῶν) in das Becherwort versetzt haben 344. (c) Die Anspielung des Becherworts auf die Sinaierzählung (Ex  24,8) fügt sich gut zu den sonstigen Bezugnahmen des ältesten Evangeliums auf Mose und die Tora, insbesondere zur Erzählung von der Verklärung Jesu auf dem Berg (Mk  9,2–13), die an Ex  34,28–35, aber auch Ex  24,16 („nach sechs Tagen“ = Mk  9,2) erinnert. Wenn die Himmelsstimme in Gegenwart der Himmelsbewohner Mose und Elija (in Anspielung auf Dtn  18,15) über Jesus erklärt: „Auf ihn sollt ihr hören!“, wird Jesus auf dem Berg als der authentische Interpret der gött­ lichen Bundesordnung eingesetzt und werden seine Weisungen im Evangelium als bindende Interpretation des Gotteswillens vorgestellt. In seinem Tod, den das Becherwort antizipierend als Bundesopfer interpretiert, wird der Bund formell besiegelt. Beides ist bei Markus eng miteinander verbunden: Jesu Kundgabe des Anbruchs der Königsherrschaft Gottes und die Deutung seines Todes als Besiegelung des Gottesbundes „für viele“, d. h. für Juden und Heiden. Auch diese übergreifenden theologischen Linien sprechen dafür, dass die inhaltliche Neugestaltung des Becherworts sich Markus verdankt. (d) Mk  14,22–24 dient der Deutung des Todes Jesu. Die Absicht, das letzte Mahl Jesu als Einsetzung der Eucharistie zu erzählen, steht nicht im Vordergrund. Eine Weisung, wie sie bei Lukas und Paulus steht: „dies tut zu meinem Gedächtnis!“ fehlt 345. Sollte Markus sie im Kontext der ihm bekannten vorlkn.-pln. Kultätiologie gelesen haben, hätte er sie bewusst gestrichen.

Der älteste Evangelist, so lautet die Schlussfolgerung, hat die Abendmahlsüberlieferung in die PE implantiert und bearbeitet. Er stärkte ihren narrativen Duktus und formte die Kultätiologie zu einer kleinen Erzählung um 346 . Die Neugestaltung des Becherworts zur Klimax der Einheit zeigt, dass es ihm (auf der Linie von Mk  10,45) vorrangig um die Deutung des Todes Jesu („mein Blut […], das für viele vergossen wird“) geht, nicht um eine Grundlegung der Mahlpraxis seiner Gemeinden. Die primäre Überlieferung vom Herrenmahl bezeugt Paulus, die Fassung des Markus ist literarisches Produkt, die auf jener bzw. einer Variante von ihr aufruht 347. Lukas, 344  Während die Kultätiologie des Paulus das Brotwort mit der Spendeformel τὸ ὑπὲρ ὑμῶν auf die feiernde Gemeinde appliziert, sieht die mkn. Variante davon zugunsten einer umfassenden soteriologischen Explikation (ὑπὲρ πολλῶν: vgl. Jes  53,11 f.) ab. Sie besitzt in der joh. Transformation des Brotworts eine unabhängige Parallele: ὁ ἄρτος … ἡ σάρξ μού ἐστιν ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσμου ζωῆς. Die inklusive Rede von den „Vielen“ ist hier in die vom κόσμος „übersetzt“ (analog die „Übersetzung“ von Mk  10,45: λύτρον ἀντὶ πολλῶν in: ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων, 1Tim  2,6; vgl. auch Röm  5,18 mit 5,15.19). Die mkn. Fassung wird älter sein als die von Paulus bezeugte gemeindebezogene Form. Vgl. des Näheren Theobald, Herrenmahl 262 Anm.  25; ders., Eucharistie 238–240. 345  Lührmann, Mk 237: „es fehlen alle Züge der Wiederholung eines solchen Mahles – im Gegenteil ist die Rede nur von einem erneuten Trinken Jesu erst an ‚jenem Tage‘ im Reich Gottes (25). Und doch werden die Leser in diesem Text die Worte wiedererkannt haben, die die Grund­ lage des von ihnen im Gottesdienst gehaltenen Herrenmahls bildeten“; ebd. 240: „So ist 22–25 für Mk primär Deutung des Todes Jesu durch ihn selbst“; „ob er nun den Wiederholungsbefehl der Paulus-Fassung bewusst gestrichen hat oder nicht – (er deutet) keine Züge einer Fortsetzung dieses Mahls durch die Gemeinde nach Ostern an“; A.Y. Collins, Mk 654: „not a ‚cult legend‘ but rather an anecdote that serves to interpret Jesus‘ death beforehand in the context of the Gospel as whole“. 346  Pesch, Mk II 354: „Das berichtende Erzählstück ist kein kultätiologischer, auf die Herrenmahlfeier abzielender, sondern Besonderheiten einer einmaligen Situation, deren Horizont nicht überschritten wird, erzählender Text“. 347  Vgl. des Weiteren unten III.  2.4.3 unter (3).

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I. Teil: Die Quellen

der die vorpln. Überlieferung kannte, tauschte seine mkn. Vorlage gegen die auch ihm bekannte vorpln. Abendmahlsparadosis aus. Die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16 par. Was von der Abendmahlsüberlieferung gesagt wurde, gilt auch von der Episode der Vorbereitung des Mahls Mk  14,12–16. Weil Markus und Matthäus die Ansage, es sei ein Paschamahl, nicht einlösen (erst Lukas hat nachgebessert), spricht alles dafür, dass die Episode (bei Johannes fehlt sie) im mkn. Überlieferungsstrang hinzu­ gekommen ist, entweder auf der Ebene der PEmk348 oder des Markus349. Motivisch gleicht sie der Legende von der Auffindung eines Fohlens zu Beginn der PEmk (Mk  11,1–6 par.), so dass sich der Einsatz des Eingangsteils (A) und des Mittelteils (B) genau entsprechen: Beide Male sendet Jesus „zwei seiner Jünger“ aus350 . In Mk  11,1 f. sollen sie ihm ein Fohlen bringen, auf dem er in die Stadt einreiten kann, in Mk  14,13–15 beauftragt er sie, in dem von ihm vorgesehenen Speisesaal „das Paschamahl zu bereiten“351. Jesus ist jeweils der Wissende: Er weiß nicht nur um das ausersehene Fohlen, „auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat“ (Mk  11,2), bzw. um das Haus samt dem für ihn vorbereiteten Obergemach in Jerusalem, sondern auch darum, dass seine Jünger bei der Durchführung seines Auftrags auf willfährige Menschen stoßen. Beide Episoden schließen mit der Feststellung: Alles trug sich genauso zu, „wie er es ihnen gesagt hatte“.

Die Episode vom Fohlen zu Beginn der Passionserzählung dient der „Legitimation“ Jesu als des messianischen Königs im Sinne von Sach  9,9 f.352 . Die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls besitzt keine damit vergleichbare Legitimationsfunktion, was auf ihre sekundäre Bildung nach dem Vorbild von Mk  11,1–6 hindeutet. Entsprechend ihrer Rahmung mit der Wendung ἑτοιμάζω … τὸ πάσχα in V.12 und 16 besteht ihre Funktion darin, das anschließende Abschiedsmahl Jesu mit den Seinen vorweg als Paschamahl zu qualifizieren 353. Von einem Schlachten des obligatorischen Lammes oder der Besorgung anderer für das Paschamahl wichtiger Be348 J. Gnilka, Mk II 232; L Schenke, Studien 180; März, König 81–83; Dormeyer, Passion 91; Mohr, Markus- und Johannespassion 155; Schleritt, Passionsbericht 145. 349  Dibelius, Formgeschichte 182.189 f.; Koester, Gospels 254.288 f.; E. Lohse, Geschichte 42–45.47; Robbins, Meal 22–28; Strobel, Termin 72. – Bultmann, Geschichte 300 f., lässt die Frage, „wieweit der ganze Komplex dem Mk schon vorgelegen hat“, offen; aber die Verse sind in jedem Fall „eine nachträglich für das letzte Mahl komponierte Einleitung“; „das letzte Mahl Jesu (war) ursprünglich nicht, wie V.12–16 voraussetzt, ein Paschmahl“; anders A.Y. Collins, Mk 646: „This passage was probably not in Mark’s passion source. The story may once have circulated independently“. 350 Dtn   19,15 entsprechend: „die glaubwürdige Verkündigung eines Auftrages Jesu“ bedarf „des Zeugnisses zweier Männer“ (Dormeyer, Passion 89). 351  Die Einleitung des Auftrags ist jeweils gleich formuliert: „Geht in das Dorf, das vor euch liegt …!“ (Mk  11,2) bzw. „Geht in die Stadt…!“ (Mk  14,13). Vgl. 1Sam  10,5: καὶ ἔσται ὡς ἂν εἰσέλθητε ἐκεῖ εἰς τὴν πόλιν, καὶ ἀπαντήσεις χορῷ προφητῶν … 352  Lührmann, Mk  236. 353  Das Verbum ἑτοιμάζειν = „(ein Mahl) bereiten“ auch in Mt  2 2,4 („Seht, ich habe mein Mahl bereiten lassen [ἡτοίμακα]“); Lk 17,8 („Bereite mir das Abendessen [ἑτοίμασον τί δειπνήσω]!“).

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standteile ist nicht die Rede. Die Person Jesu wird in die Mitte gerückt. „Wo willst du, dass wir hingehen und das Paschamahl bereiten, damit du es essen kannst?“, fragen ihn seine Jünger (V.12d). Dem Hausherrn in Jerusalem sollen sie ausrichten: „Wo ist mein Raum, wo ich das Pascha mit meinen Jüngern essen kann?“ Wichtig ist, dass es ein Pascha-Feiern mit Jesus als Gastgeber ist, ein Mahl in seinem Namen. „Die V.12–16 sind von bruchloser Geschlossenheit“, sie bilden „eine stilistische Einheit“354. Die „doppelt geschichtete Rede“ V.13c–15355 , Jesu Auftrag an die beiden Jünger und sein darin eingebettetes Wort an den Jerusalemer Hausbesitzer samt Botenformel („Der Lehrer lässt sagen“), ist gerundet: Die Rede greift am Ende nochmals die Frage der Jünger aus V.12d (ποῦ θέλεις … ἑτοιμάσωμεν) auf und beantwortet sie (V.15b: καὶ ἐκεῖ ἑτοιμάσατε ἡμῖν). Die Wortstatistik, die Dormeyer zu den Versen bietet, verzeichnet einige Hapaxlegomena und Besonderheiten, die aber nicht darüber entscheiden können, ob die Episode vormarkinisch ist oder aus der Feder des Evangelisten stammt356 . Wenn sie seiner Passionsüberlieferung zugeschrieben wird, hängt das mit dem weithin gepflegten Bild des konservativen Redaktors Markus zusammen, dem eine derart legendarisch anmutende Passage nicht zugetraut wird. Dabei ist die Kreativität des Evangelisten nicht zu unterschätzen 357. Was Mk  14,12–16 angeht, so sind die Verse, die sich konventioneller Motivik bedienen 358 , Exposition der Mahlszene 14,17–25 und erfüllen als solche eine wichtige Funktion, der auch die Zeitangabe V.12a dient, welche die Szene in den Zeitablauf der Passion einstellt. Die Einleitung ihres Hauptteils V.17: „als es Abend geworden war“, knüpft daran an. Weil V.12a sich der Hand des Evangelisten verdankt359, wird die Episode insgesamt auf ihn zurückgehen, was auch die Bezeichnung Jesu als „der Lehrer (ὁ διδάσκαλος)“360 nahelegt: Für den Evangelisten ist Jesus „der Lehrer“ schlechthin, wie die vielen Passagen in seinem Buch belegen, die er einführt mit: „er lehrte sie …“361. Durch die Einfügung der „Abendmahlsüberlieferung“ erhält die Mahlszene im Vergleich zu ihrer Vorform im Archetyp der Passionserzählung größeres Gewicht. Mit Brot- und Bechergestus und vor allem Jesu Wort von seinem Bundesblut erhält 354 

Dormeyer, Passion 91. Pesch, Mk II 341. 356 Anders Dormeyer, Passion 88–91. 357  Vgl. als Beispiel etwa die mkn. Neufassung des Streitgesprächs zur Frage nach der Vollmacht Jesu, Mk  12,27–33 (dazu unten II.  3.5 unter [2]). 358 A.Y. Collins, Mk 647: „The literary context of Mark supports the hypothesis that this story is modeled on 1 Kgdms 10 [= 1Sam  10]. In V.1a of that chapter Samuel pours oil on Saul’s head, anointing him privately as king of Israel. He then describes what Saul will encounter after he leaves Samuel’s presence, story that resembles this one (1 Kgdms 10:1b–8)“. 359  Vgl. unten Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten. 360 Wenn Dormeyer, Passion 90, erklärt: „ὁ διδάσκαλος ist singuläre Selbstbezeichnung Jesu“, und daraus auf vormkn. Tradition schließt, übersieht er, dass es sich bei V.14c: „Der Lehrer lässt sagen“ um die Botenformel handelt, auf die das eigentliche Wort („wo ist mein Raum, wo ich das Pascha mit meinen Jüngern esse?“) erst folgt. 361  Vgl. Mk  2 ,13; 4,2; 6,2.34; 8,31; 9,31; außerdem 1,22.27; διδάσκαλος: 4,38; 5,35 (die Leute des Jairus: „Was belästigst du den Lehrer?“); 9,17.38; 10,17.20.35; 12,14.19.32; 13,1; 14,14. 355 

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sie bei Markus eine theologische Klimax, die der Deutung seines Todes im Licht biblischer Sinaitradition dient. Wer für die literarische Ausgestaltung der Mahlszene verantwortlich ist, kommt auch für die Schaffung ihrer Exposition in Frage. Sie liefert das Vorzeichen, um die Mahlszene im Licht biblischer Paschatradition zu lesen. Ursprünglich wusste die PE lediglich von einem Abschiedsmahl Jesu in der Nacht vor seiner Auslieferung. Der älteste Evangelist transformiert dieses Abschiedsmahl in ein Urbild frühchristlicher Paschafeier, indem er die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls vorschaltet und die Abendmahlsparadosis in den Mahlkontext implantiert, in den sie ursprünglich hineingehörte362 . Der Widerspruch zwischen den Synoptikern und Johannes in der Passionschronologie findet damit eine plausible Erklärung: Der älteste Evangelist (ihm folgen die beiden anderen Synoptiker) weicht von der joh. Chronologie deswegen ab, weil er die frühchristliche Paschafeier als Nacht des Gedenkens an den Tod Jesu in seine Passionserzählung zurückprojiziert hat 363. Diese Umgestaltung nach dem Bild des gegenwärtig Gefeierten hat er mit der Episode von der Vorbereitung des Paschamahls eingefädelt. Lukas, auf narrative Plausibilität bedacht, ist diesen Weg konsequent weitergegangen. Die Konturen der Mahlszene in der alten Passionserzählung Gegen die Analyse der mkn. Mahlszene könnte eingewandt werden, dass sie ohne die Abendmahlsparadosis ihrer eigentlichen Mitte beraubt sei. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Gesten und Mahlworten hat sich dem christlichen Gedächtnis so tief eingeprägt, dass die Szene sich gar nicht mehr anders vorstellen lässt. Sie bietet zwar in der PEG ein Bild, das mit einfachen Strichen gezeichnet ist, der Situation des Abschieds aber doch nachdrücklich Ausdruck verleiht. Der Bedeutung der Stunde gemäß kreisen die szenisch eingebetteten Jesus-Worte um die Themen Verrat, Verleugnung, Abschied und Tod und gipfeln in einem Wort der Hoffnung. Wer sich an den Übereinstimmungen der unterschiedlichen Überlieferungszweigen orientiert, wird mindestens folgende Bausteine für die PEG postulieren können 364: (1) Auf eine Notiz von der Rückkehr Jesu (mit den Seinen) aus Betanien nach Jerusalem 365 folgte eine Mahleröffnungsnotiz, wie Mk  14,18a bzw. Joh  13,2a sie noch aufbewahren 366 . 362 Vgl. Theobald, Anfänge 61 f. („Frühchristliche Paschafeier als ursprünglicher ‚Sitz im Leben‘ der Abendmahlsparadosis“). 363  Blinzler, Prozess 107: „Die synoptische Passionschronologie ist vermutlich darauf zurück­zuführen, dass die Urgemeinde jüdischer Sitte entsprechend alljährlich in der Nacht zum 15. Nisan das Paschafest feierte, wobei sie natürlich auch des Letzten Mahles ihres Herrn gedacht […], und dass diese liturgische Praxis allmählich zu der Vorstellung verleitete, schon Jesu Letztes Mahl sei ein termingerechtes Paschamahl gewesen“; Schürmann, Anfänge 205: „die synop­ tischen Abendmahlberichte“ sind „aller Wahrscheinlichkeit nach ein Spiegelbild urchristlicher Paschafeier in apostolischer Zeit“; B. Lohse, Passafest 105 Anm.  3. 364  Nachweise unten in II.  5. 365  Siehe oben I.  1.4.1 unter (3) am Ende! 366  Fraglich ist, ob die Mahleröffnungsnotiz auch eine Zeitangabe mit sich führte, wie Schle-

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(2) Das Corpus der Erzählung enthielt drei prophetische Amen-Worte: (a) die Ansage der „Auslieferung“ Jesu durch einen seiner Jünger (Mk  14,18–20 par. Joh  13,21–22.24.26) (b) die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus (Mk  14,30 f. par. Joh  13,37 f.): In der markinischen Überlieferung ist die Ansage durch einen Szenenwechsel von der Mahlepisode getrennt (Mk  14,26), bei Lukas und Johannes in sie integriert. (c) das eschatologische Wort Mk  14,25 mit einer Einleitung, wie sie noch in Lk  22,17 durchscheint 367: Und er nahm einen Becher, sagte Dank und sprach: [Nehmt diesen und teilt ihn unter euch auf 368]. Amen, ich sage euch, dass ich von jetzt an vom Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinke, bis ich davon […] im Reich Gottes trinken werde“. Die Klimax der Szene – Lk  22,17 samt eschatologischem Wort 22,18 – ist einerseits in die mkn. Überlieferung gelangt (Mk  14,25)369, andererseits über die PElk/joh ins Lukasevangelium. Johannes wird das Wort mit seinem Ausblick auf die kommende Basileia als nicht kompatibel mit seiner Eschatologie herausgefiltert haben.

(3) Dem Mahl folgte in der alten PE die Szene vom Gebetsringen Jesu in Getsemani (Mk  14,32–42), die in die seiner Gefangennahme einmündete (Mk  14,43–52 par. Joh  18,2–11). Johannes sparte zwar aus nachvollziehbaren Gründen Getsemani aus, bietet in Joh  12,23.27 f.; 14,30 f. und 18,11 aber wesentliche Elemente dieser Überlieferung, woraus sich schließen lässt, dass er sie in der ihm vorgegebenen PEjoh gelesen hat. Ihr Ort ist zwischen Joh  18,1 („als Jesus dieses gesagt hatte, ging er mit seinen Jüngern hinaus über den Bach Kidron, wo ein Garten war, in den ging er hinein – auch seine Jünger“) und 18,2 („Judas aber, der ihn auslieferte, wusste um den Ort ….“) zu denken. Damit zeichnen sich die Umrisse der Eröffnung des Mittelteils in der PEG ab. Festzuhalten bleibt, dass die Abendmahlsüberlieferung samt Pascha-Vorzeichen erst im mkn. Überlieferungszweig nachgetragen wurde, ihre Sühne- oder OpferChristologie gegenüber der Psalter-Christologie der alten PE sekundär ist370 .

ritt, Passionsbericht 245–249, vorschlägt („vor Pascha“); siehe unten I.  1.6.1 und S.  283 Anm.  282 im Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten. 367 Ähnlich Bradshaw, Origins 11 ff. Vgl. Bultmann, Geschichte 286: „Ein Rudiment des verdrängten Berichtes hat sich bei Mk offenbar noch in V.25 erhalten; das zeigt Lk  22,14–18, wo die ältere Tradition vollständiger erhalten“ ist. 368  Die Aufforderung könnte auf Lk zurückgehen. Ob er damit zum Ausdruck bringen wollte, dass Jesus selbst nicht aus dem Becher trank? 369 Die Einfügung der Abendmahlparadosis unmittelbar vor dem eschatologischen Wort Mk  14,25 machte dessen szenische Einbettung („und er nahm einen Becher …“) überflüssig. 370 Anders Maurer, Knecht 1–38, der bereits die älteste Fassung der PE von Jes  53 her zu deuten versucht.

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1.4.4 Jahresringe wachsender Erinnerung? Der Grundbestand der alten Passionserzählung Dieter Lührmann meinte, „die Schilderung der Kreuzigung Jesu und seines Todes“ sei möglicherweise der „Kern der Passionsgeschichte“ gewesen, „der dann später (aber schon vor Mk) nach vorne erweitert“ wurde. Der Abschnitt unterscheide sich stilistisch stark „von der sonst als Mk vorgegeben rekonstruierten Passionsgeschichte“371. Wer die strukturelle Bedeutung von Ps  22 für die Gestaltung insbesondere der Kreuzigungsszene sieht, wird Sympathien für diese Annahme hegen. Die Lektüre von Psalm  22 im Kontext der Erinnerung an Jesu Kreuzigung stand wahrscheinlich am Ursprung der werdenden Passionsmemoria, wobei der Psalm als ganzer, einschließlich Danklied und endzeitlichem Lob an sein Finale, der treibende Faktor bei der Gestaltwerdung der alten Passionserzählung gewesen sein könnte372 . Das lässt sich zwar nicht schlüssig beweisen, passt aber zu dem, was weiter unten zum „Sitz im Leben“ der PE auszuführen sein wird. Die ersten Jesusanhänger lebten im Psalter. Sie lasen ihn im Licht ihrer Ostererfahrung und formten aus seinem Nährboden und weiteren Schrifttexten die Passionsmemoria. Von der Frage nach dem Nukleus der Passionsmemoria ist die nach diversen „Kurzformen“ der Passionserzählung373 zu unterscheiden. In der Regel wird sie durch Verweis auf Zäsuren im Erzählablauf beantwortet – gleichsam Spuren von Jahresringen, die Informationen über das Wachstum der Passionserinnerung enthalten könnten: (a) Einzug nach Jerusalem (Mk  10,52/11,1 par. Mt  20,34/21,1; Lk  19,28/29) (b) Todesbeschluss der Jerusalemer Obrigkeit (Mk  13,37/14,1 par. Mt  25,46/26,1; Lk  21,38/­ 22,1) (c) Letztes Mahl Jesu (Joh  12,50/13,1) (d) Gefangennahme Jesu (Joh  17,26/18,1).

Beliebt ist (vgl. oben in 1.4.1) die Annahme einer Kurzform ab Gefangennahme. Sie wird von der Zäsur zwischen Joh  17,26/18,1 gestützt, aber nicht von Markus, der zwischen 14,42 und 14,43 keine mit Joh  17,26/18,1 vergleichbare Zäsur bietet 374. Für eine Rekonstruktion der ältesten Gestalt der Passionserzählung (= PEG) nach Modell  6 sind derartige Annahmen gegenstandslos. Dennoch nimmt Frank Schleritt, beeindruckt durch die Argumentation von Joachim Jeremias, an, „dass der Pas­ sionsbericht, auf den PBMk und PBJoh zurückgehen, also PBG, auf einem ‚Kurz­ bericht‘ basier(e), der lediglich die Passionsereignisse im engeren Sinn zum Inhalt hatte“ und mit dem Gebetskampf Jesu begann 375. Literargeschichtlich erreichbar ist 371 

Lührmann, Mk  265. Vgl. oben I.  1.2.1.2. 373  Vgl. oben unter I.  1.4.1. 374  Ursprünglich schloss Joh  18,1–11, die Gefangennahme Jesu, unmittelbar an Joh  14,31 an: „Steht auf, lasst uns von hier weggehen (ἐγείρεσθε, ἄγωμεν ἐντεῦθεν)!“ (= Mk  14,42: ἐγείρεσθε ἄγωμεν); die Abschiedsreden Joh  15–17 sind sekundär nachgetragen worden. Siehe unten II.  7. 375  Schleritt, Passionsbericht 150 mit Anm.   34: Die Gefangennahme Jesu sei „als Anfang einer eigenständigen Passionsgeschichte denkbar ungeeignet“. Sein Argument zugunsten eines 372 

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nur die PEG. Ein Wachstum der mündlichen Passionsmemoria vor deren literarischer Gestaltwerdung ist wahrscheinlich, aber nicht nachweisbar376 . 1.5 Die Gattung der Passionserzählungen Eine der schwierigsten Fragen ist die nach der Gattung der Passionserzählungen: Haben sie literarische Vorbilder? Schreiben sie sich in die Geschichte eines schon bestehenden Texttyps ein? Oder führt die Frage in eine falsche Richtung, weil sie etwas vorgibt, was gar nicht existiert? So meinte etwa Karl Ludwig Schmidt, die „Leidensgeschichte“ sei das erste Exemplar einer neuen Gattung, „das älteste und vornehmste Dokument aus dem Kranze der christlichen Märtyrerakten“377. Gegenstand dieses Kapitels ist die Frage nach dem Texttyp, den die Passions­ erzählungen möglicherweise aufgreifen, variieren und kreativ fortschreiben. Damit verquickt ist die Frage nach dem ursprünglichen „Sitz im Leben“ der vorkanonischen Passionserzählungen, der von ihrem literarischen „Sitz im Leben“ in den Evangelien zu unterscheiden ist (1.6)378 . Voraussetzung für die Abklärung beider Fragen ist die bereits gewonnene Einsicht in den Umfang der ältesten Passionserzählung. Dass die Erzählung vom Auftritt eines himmlischen Boten, der in der von den Frauen aufgefundenen leeren Grabkammer die „Auferweckung“ des Gekreuzigten verkündet, von Anfang an zu ihr gehörte und ihren axiomatischen Ausgangspunkt bildet, ist wichtig für die Gattung-Frage. Der umgekehrte Weg, von der mutmaßlichen Gattung auf den Umfang der Erzählung zu schließen 379, ist methodisch fragwürdig und führt in die Irre. 1.5.1 Methodologische und terminologische Vorfragen (1) Um Gattung oder Texttyp380 der Passionserzählungen zu bestimmen, muss klar sein, welche antiken Texte zum Vergleich heranzuziehen sind. „Kurzberichts“ ist die Disparatheit der Stoffe im Eingangs- und Mittelteil vor der Getsemani-Szene: ebd. 149 f. 376  Vgl. die Hinführung 1.1.3 unter (1) sowie I.  1.3.1 zum Problem Schriftlichkeit und Mündlichkeit. 377  K.L. Schmidt, Eigenart 18 f., der dieses Urteil mit der Annahme verband, dass „die Märtyrerakten, die vielfach ganz bald nach dem Tode des Blutzeugen niedergeschrieben wurden, der geschichtlichen Wirklichkeit ungleich näher (stehen) als die später fixierte Legende“, was auch für die Passionserzählungen gelte (19); vgl. Dibelius, Formgeschichte 202–204, zur Lk-Passion, und Schelkle, Passion 9: „Beispiel und Sonderfall einer Märtyrerakte“. – Zu den christlichen Märtyrerakten Seeliger/Wischmeyer, Märtyrerliteratur. 378  Vgl. Hinführung 2.3 unter (2). Ähnliches gilt auch für viele der nachfolgend zu besprechenden Erzählungen: Sie können Teil eines größeren Erzählzusammenhangs sein, aber auch Züge der Selbständigkeit an sich tragen, z. B. 2Makk  7 (siehe unten I.  1.5.2.4). 379  Nickelsburg, Genre, und A.Y. Collins, Genre, leiten aus ihrer Gattungsbestimmung ab, dass die PEmkn mit dem Bekenntnis des Centurio geendet haben müsste (siehe unten). 380  Verwendung der Termini im Anschluss an Richter, Exegese 74: „Form“ bezieht sich auf einen Einzeltext, „Gattung“ meint einen „Texttypus“; ebd. 131 f.: Voraussetzung einer „Gattung“ ist, „dass eine bestimmte Form mehr als einmal, und zwar unabhängig voneinander, nachweisbar ist“. Einen anderen Zugang wählt Dormeyer, Überlegungen 220: Gattungen „sind Argumenta-

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Aufgrund welcher Merkmale empfehlen sie sich für einen Vergleich?381 Sind es Merkmale eher formaler oder eher inhaltlicher Natur?382 Weisen die Texte klar definierbare Formmerkmale oder Strukturmuster auf, besitzt die Behauptung einer in ihnen sich ausformenden Gattung ein literarisches Fundament. Ist das Maß gemeinsamer formaler Kennzeichen dagegen gering und werden Texte eher nach inhaltlicher Nähe zusammengestellt, erhöht sich der konstruktive Anteil und die Gattungsbestimmung droht diffus zu werden.

(2) George W.E. Nickelsburg verfolgt einen inhaltlichen Ansatz, wenn er die Markuspassion frühjüdischen Erzählungen zuordnet, die sich dem Thema widmen: „the rescue and vindication of a persecuted innocent person or persons“ – „Befreiung und Rechtfertigung einer verfolgten unschuldigen Person oder mehrerer“383. Die Erzählungen, die er unter diesem Label subsumiert384, können indes nicht unterschiedlicher sein. So handeln einige von ihnen von Befreiung vor dem Tod, andere aus dem Tod385. Nickelsburg bleibt aber nicht auf der thematischen Ebene, sondern postuliert nach strukturalistischer Art ein um die Rollen von Protagonist und Antagonist etc. gruppiertes Handlungsschema, das er in allen Erzählungen wiederfindet und von dem er annimmt, dass es das Thema narrativ umsetzt386 . In der Notiz vom Zerreißen des Tempelvorhangs, Mk  15,38, und dem abschließenden Bekenntnis des Centurio, Mk  15,39, etwa findet er die Komponenten „Vindication“ und „Acclamation“ wieder – die himmlische Bestätigung der „Erhöhung Jesu im Augenblick seines Todes“ samt menschlicher Antwort darauf387 –, weshalb beide Elemente seiner Meinung nach das Ende der PEmkn markierten. Thematisch angelegt ist auch der Vorschlag von Lothar Ruppert, die Genese der Markuspassion vom Modell der passio iusti (Psalter; Weish 2 + 5) her zu verstehen388 .

tionsmuster, die dafür sorgen, dass nur bestimmte Motive, Handlungsträger und Sätze eine Verbindung eingehen“ (mit Verweis auf D. Breuer, Einführung in die pragmatische Texttheorie [UTB 106], München 1974, 167 ff.). 381  Richter, Exegese 132: „Gattung“ meint „eine ‚ideale‘ oder ‚typische‘ Form, wie sie in der Realität nicht existiert; sie wird gewonnen durch den Vorgang der Auswahl (Abstraktion), die einige Merkmale einer Form für charakteristisch hält, von anderen aber absieht. ‚Gattung‘ ist also ein theoretisches Ergebnis der Wissenschaft; in der konkreten Literatur existieren nur die Formen. Sie ist aber nicht reines Theorem. Denn wenn verwandte Formen unabhängig voneinander existiert haben, muss man erschließen, dass ein gewisses Strukturmuster den einzelnen Formen vorausgelegen hat, das eine bestimmte Anzahl von Strukturregeln umfasst“. 382 Während Richter, Exegese 125–137, die Bestimmung einer „Gattung“ von der Erhebung formaler Strukturmuster abhängig macht (75–79), berücksichtigen Fohrer u. a. Exegese 81–99, mit der Größe „Sitz im Leben“ auch inhaltliche Gesichtspunkte. 383  Nickelsburg, Genre 156. 384  Der Joseph-Zyklus Gen 37–50; die Achikar-Erzählung; das Buch Esther; Dan 3 und 6; die Susanna-Erzählung (= Dan 13); Weish 2.4 f.; 2Makk 7; 4Makk. 385  „Many of the narrative elements are expressed at such a high level of abstraction that major differences between the stories are obscured“, so A.Y. Collins, Genre 4, in ihrer Kritik am Ansatz von Nickelsburg. 386 Die wichtigsten Rollenmuster: Provocation; Conspiracy; Accusation; Trial; Condemna­ tion; Protest; Rescue; Vindication; Exaltation; Acclamation etc. 387  Nickelsburg, Genre 165.183 f. 388  Ruppert, Jesus; ders., Skandalon.

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Dieses Motivcluster konstituiert aber noch keine Gattung. Es begegnet in unterschiedlichen Textsorten, in Psalmen, aber auch Weisheitsbüchern etc.389. (3) Es fällt auf, dass Nickelsburg die Gattung, die er für die Markuspassion konstruiert, ausschließlich jüdisch bestimmt sieht. Auch Detlev Dormeyer macht eine kulturell definierte Differenz stark, wenn er PEG als Gattungsmix aus „Jüdischer Martyriumserzählung“ und den „Akten heidnischer Märtyrer“ definiert390 . Dagegen steht der schon von Martin Hengel erhobene Befund, dass die jüdische Kultur in hellenistischer Zeit weithin von hellenistischen Denkformen und Vorstellungen durchdrungen war, was auch literarische Konventionen betrifft 391. Insofern ist bei der Frage nach der Gattung der neutestamentlichen Passionserzählungen auf die Interferenz griechisch-hellenistischer und jüdischer Sprachformen zu achten. (4) Im Unterschied zum thematischen Zugang von Nickelsburg sucht Adela Yarbro Collins eher einen formalen, wenn sie die „existence of a literary genre from the fifth century BCE onward“ postuliert, „which can be labeled the ‚story of the death of a famous man‘“ – „Erzählungen vom Tod berühmter Männer“ (= τελευταί)392 . Dieser Zugang hat zwei Vorteile: Erstens ist er im Sinne des unter (3) Gesagten kulturübergreifend, weil er sowohl jüdische als auch pagane Zeugnisse berücksichtigt. Zweitens vermeidet er inhaltliche Klassifizierungen wie „jüdische Martyrien“ oder Ähnliches, die als Gattungsbezeichnungen immer problematisch sind, weil sie Späteres in Früheres zurückprojizieren 393. Andererseits steht das Label aufgrund seiner Formalität, die es erlaubt, darunter Texte vom 5.  Jh. vor bis ins 2.  Jh. nach Chr. zu subsumieren, in der Gefahr, eine über die Jahrhunderte hinweg sich entfaltende Gattungsgeschichte vorzuspiegeln, die es so nicht gab. Collins selbst scheint dieser Gefahr mittels verschiedener Differenzierungen entgegenzusteuern. (a) Grundsätzlich stellt sie fest, dass die Erzählungen der Gattung story of the death of a famous man deshalb so unterschiedlich sind, weil sie die Vielfalt von Biographie und Historie widerspiegeln 394. Das vereitle eine globale Definition der Gattung395. (b) Weiterführend ist deshalb ihre Differenzierung der Gattung in Subtypen, entsprechend den sozialen Rollen der Protagonisten der Erzählungen, nämlich „rulers, rebellious 389  In Jesus 59 unterscheidet Ruppert die „Gestalt“ der Erzählung von der in ihr verarbeiteten Motivik. 390  Dormeyer, Passion 47–50. 391  Hengel, Judentum. Vgl. v. a. die Geschichtsschreibung (Jason; Jos, Ant und Bell), selten die Tragödie (Vogt, Tragiker Ezechiel); Überschneidungen auch in literarischen Kleinformen wie der Anekdote und Chrie etc. 392 A.Y. Collins, Genre 6. Wie bei Nickelsburg entscheidet auch ihre Gattungsbestimmung über den Umfang der PEmkn (siehe oben); vgl. auch van Henten, Jewish Martyrs 343 f. (zu Lk). 393  Zur Problematik von Gattungsbezeichnungen vgl. auch Richter, Exegese 139–141. 394 A.Y. Collins, Genre 6 f.: „the genre was closely linked to history and biography and the variety associated with it reflects the variety of history“; vgl. ebd. 7.14 f.16. Deshalb fänden sich derartige Erzählungen auch oft genug in antiken Geschichtswerken. 395  Ebd. 23, Note 27, unter Rekurs auf Fowler, Kinds 25.39: „Fowler has argued that the changing and interpenetrating nature of the genres makes their definition impossible, although we can apprehend them intuitively […]; he also suggests that a genre is usually characterized by very few ‚necessary‘ elements“.

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subjects, philosophers“396 . Sie generierten Erzählungen mit jeweils eigener Kontur. Ihren „subtype ‚death of a messianic pretender‘“397, dem Collins die Mk-Passion subsumiert, stützt sie auf Erzählungen von Rebellen mit königlich-messianischem Anspruch aus den beiden Geschichtswerken des Josephus398 , denen allerdings Merkmale der mimetischen Erzählkunst, wie sie für die PEmkn charakteristisch sind, völlig abgehen. Es sind Berichte des Historikers, durchsetzt mit Wertungen, ohne episodische Gliederung und ohne Dialoge und Worte des jeweiligen Protagonisten 399, mit der Mk-Passion kaum vergleichbar. (c) Collins unterscheidet bei ihrer Gattungsbestimmung mit Alastair Fowler zwischen „äußerer“ und „innerer Form“. Bezogen auf die PEmkn: „The pre-Markan passion narrative is best understood as an early Christian adaptation of the widespread and well known Greek genre τελευτή. Most of the differences are connected with the rather frequent allusions to the psalms in the passion narrative. One could say that the genre or external form of the narrative is the τελευτή, but its tone or internal form derives from the psalms of lament“400 .

(5) In Aufnahme und Weiterführung des Ansatzes von Adela Yarbo Collins liegt den folgenden Ausführungen die Differenzierung möglicher Subtypen der Gattung Erzählung vom Tod berühmter Männer zugrunde, entsprechend dem Profil des jeweiligen Protagonisten: Herrscher, Philosoph oder Weiser, speziell im jüdischen Kulturkreis; Prophet401 und charismatischer Lehrer. Ob sich eine „Gattungsgeschichte“ Erzählung vom Tod berühmter Männer402 schreiben lässt oder ob es mit einer literarischen Gruppierung von Texten mit je spezifischen Merkmalen, ohne genetisch-diachrone Abhängigkeiten zu konstruieren, sein Bewenden haben muss, ist schwer zu beantworten. Es wäre schon viel, im Anschluss an Nickelsburg narrative Charakteristika herausarbeiten zu können, die sich in den unterschied­ lichen Zeugnissen durchhalten und übergreifende Linien andeuten. 1.5.2 Vom Tod berühmter Männer. Jüdische und pagane Erzählungen zwischen dem 5.  Jh.  v.  Chr. und dem 2.  Jh.  n .  Chr. Die Texte, die für einen Vergleich mit den neutestamentlichen Passionserzählungen in Frage kommen, sind bekannt und bieten keine inhaltlichen Überraschungen. Neue Einsichten sind nur von der Art und Weise ihrer Zusammenstellung zu erwarten, die es erlaubt, dass sie sich gegenseitig erhellen. Die folgende Erkundung ist exemplarisch und chronologisch angelegt, letzteres, soweit die Quellen es erlauben. 396 A.Y. Collins, Genre 17. – Es fehlt in ihrer Liste möglicher Protagonisten der Prophet (vgl. unten Punkt 5). 397 Ebd. 398  Ebd.; siehe unten Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. 399  Anders die Erzählung von Jesus ben Ananias (Jos, Bell  6 ,300–309), die dem Subtyp Tod eines Propheten gehorcht. Vgl. unten III.  1.7. 400  Ebd. 17; vgl. Note 8 S.22. Daran lässt sich anknüpfen: vgl. unten zur Bestimmung des „Sitzes im Leben“ der PE in 1.6. 401  Dazu neben 1.5.2.3 die Erzählungen vom Tod des Propheten Jesus ben Ananias (Josephus) und vom Ende des Täufers (Mk  6 ,17–29; vgl. Jos, Ant  18,116–119). 402 A.Y. Collins, Genre 6, mit Verweis auf Hdt   1,30,4 (siehe unten): „We may infer form Herodotus that such accounts were called τελευταί by the Greeks, from at least the fifth century” (in Analogie zur exitus-Literatur, siehe unten); genauer: λόγοι κατὰ τὴν τελευτὴν βίου (vgl. unten Hdt  1,214,5).

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Die jüdischen und paganen Erzählungen kommen nicht gesondert zur Darstellung, damit mögliche Interferenzen zwischen ihnen im hellenistischen Kulturzusammenhang deutlich werden403. 1.5.2.1 Die Historien des Herodot „Im Allgemeinen lässt Herodot [490/480 – bis ca. 425] Leben und Taten bedeutender Persönlichkeiten ganz hinter dem historischen Geschehen zurücktreten. Und doch gibt es Ausnahmen – Berichte, in denen ein Lebensablauf als Ganzes dargestellt ist“404. Unter derartigen „biographischen Exkursen“405 ragen zwei hervor, der Bericht über den Perserkönig Kyros (Regierungszeit von 559 bis 529 v.  Chr.) und der über seinen Sohn Kambyses (Regierungszeit von 529 bis 522 v.  Chr.). Beide zeigen Interesse an der jeweiligen Person. Geboten werden Angaben zu Herkunft, Geburt und Jugend des Protagonisten, Erzählungen von seinen Leistungen und Feldzügen, vor allem aber von den Umständen seines Todes. Die Berichte sind nicht fortlaufend, sondern verteilen sich auf unterschiedliche Abschnitte406 . Durch ethnographisch-geographische und andere Abschweifungen mehrfach unterbrochen, gehören die Teile doch innerlich zusammen. Wenn Herodot das Leben der beiden Monarchen als von höherer Schicksalsgewalt geleitet darstellt407, vermittelt er den „Eindruck, dass es sich um die Ganzheit eines menschlichen Lebens“ handelt, „das nicht nur durch äußerliche Fakten zusammengehalten wird“408 . Der biographische Exkurs zu Kyros bietet knappe Dialoge. Einprägsam ist das Drohwort der Tomyris, der Königin des gegnerischen Volkes, dem Kyros erliegt. Das Wort, die Pointe der Erzählung, erfüllt sich, was Tomyris angesichts der geschändeten Leiche des Kyros am Ende auch ausdrücklich feststellt (Hdt  1,214,5). Letzte Worte des Kyros fehlen. Herodot schließt mit der Feststellung: „Dieser Bericht über das Lebensende des Kyros ist von den vielen, die im Umlauf sind, meiner Meinung nach der glaubwürdigste (τὰ μὲν δὴ κατὰ τὴν Κύρου τελευτὴν τοῦ βίου πολλῶν λόγων λεγομένων ὅδε μοι ὁ πιθανώτατος εἴρηται)“ (Hdt  1,214,5). Die Erzählung vom Fall und Sterben des Kambyses, des Kyros-Sohns, enthält eine Abschiedsrede, die Kambyses vor den Vornehmsten der Perser hält – mit Ansage dessen, was 403  Versnel, Athenis 193, zur Herkunft von Aspekten des „Effective Death“: „Die Frage ‚griechisch‘ oder ‚jüdisch‘ könnte möglicherweise weniger simplistisch jedoch befriedigender beantwortet werden mit: ‚hellenistisch‘“ (193). Dies gilt auch für gattungsgeschichtliche Fragen. 404  Homeyer, Biographie 76; die Autorin zeigt, dass die Ursprünge der späteren Biographik bei Herodot zu suchen sind. Sonnabend, Geschichte 21–25, setzt weitere Akzente. 405  Sonnabend, Geschichte 21. 406  Kyros-Erzählung: Hdt  1,107–130,3 (Abstammung, Geburt, Jugend).177–188 (ausgewählte Taten).201–214,5 (letzter Feldzug und Tod). – Kambyses-Erzählung: Hdt  3,1–66. 407  In der Kyros-Erzählung geschieht dies mittels eines Traums (1,209), durch den „die Gottheit“ (ὁ δαίμων) auf ihn einwirkt. „Aber die Gottheit wollte ihm durch den Traum nur verkünden, dass er selbst hier sterben und sein Königreich an Dareios übergeben werde“ (1,210,1); bei der Kambyses-Erzählung mittels eines Orakels, das den Kambyses tragisch verstrickt. „Es liegt eben nicht in der Macht des Menschen, eine Schicksalsfügung abzuwenden (ἐν τῇ γὰρ ἀνθρωπηίῃ φύσι οὐκ ἐνῆν ἄρα τὸ μέλλον γίνεσθαι ἀποτρέπειν)“ (3,65,3). 408  Homeyer, Biographie 78, zum Kyros-Logos (vgl. bes. 126,6; 204,1–2).

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nach seinem Tod, der Folge eines Unfalls sein sollte, politisch zu geschehen habe (Hdt  3,65 f.)409. Nachkommenschaft besitzt er nicht: „Er hinterließ keine Kinder, weder Söhne noch Töchter“ (Hdt  3,66,2).

Von den griechischen Führern liegt im Werk Herodots „kein auch nur annähernd so ausführlicher, zusammenhängender Lebenslauf vor“410 . Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen fußen Kyros- und Kambyses-Logos sehr wahrscheinlich auf persischer Überlieferung; die von Herodot erzählten Taten der griechischen Heerführer Miltiades und Themistokles hingegen lagen noch nicht so lange zurück, um „auf eine über der Tagespolitik stehende Ebene“ gehoben zu werden, „und das in einer Form, die der späteren Biographie vorgearbeitet“ hätte411. Entscheidend aber ist: „Herodot schrieb in der zweiten Hälfte des 5.  Jahrhunderts v.  Chr., war also ein Autor der klassischen Poliszeit. Das Hervorheben einzelner Persönlichkeiten widersprach dem Selbstverständnis der in kollektiven Kategorien denkenden Polisgemeinde“412 . Anders verhielt es sich bei den Persern: Bei ihnen war „die Politik nicht eine gemeinschaftliche Angelegenheit entweder von Aristokraten oder – wie in Athen – von Demokraten, sondern allein und ausschließlich die Sache eines Einzelnen, des Großkönigs. Schon von daher ließ sich persische Politik kaum anders darstellen als in Form von Beschreibung der Taten dieses Großkönigs“413. Herodot empfing demnach die Anregung, für griechische Führungsgestalten Ähnliches zu versuchen, aus den Quellen zur persischen Geschichte. Biographische Ansätze bieten vor allem die Berichte über den jüngeren Miltiades, Sieger von Marathon, und Themistokles414. Von den Ereignissen, mit denen beide Personen verknüpft sind und denen sie ihren Nachruhm verdanken, heben sie sich durch ihr persönliches Profil ab. Der Bericht von Miltiades nähert sich der biographischen Form (zu Beginn mit Nachrichten über Abstammung und Vorfahren und am Ende über seinen Tod). Zudem steht Miltiades im Mittelpunkt der Ereignisse. Persönliches wird eingeflochten. Der Versuch, sein Leben „als Einheit zu erfassen“415 wird vor allem gegen Ende deutlich, wenn dieses dank des delphischen Orakels als vorherbestimmt erscheint (Hdt  6 ,132–136). Die Pythia habe den Pariern erklärt, so Herodot, „es sei ihm (Miltiades) […] bestimmt, ein böses Ende zu nehmen (ἀλλὰ δεῖν […] Μιλτιάδεα τελευτᾶν μὴ εὖ)“ (Hdt  6 ,135,3). Der göttliche Wille ist es, dem die Darstellung der Ereignisfolge ihre Zielgerichtetheit verdankt. Erwähnenswert ist die in den ersten Teil der Miltiades-Erzählung eingeschobene „Kurzbiographie“ von Miltiades dem Älteren, Sohn des Kypselos (Hdt  6,34–38), die Homeyer „meisterhaft“ nennt; sie enthalte alles, „was eine echte Einzelbiographie enthalten muss“416 . Wieder spielt das Delphische Orakel eine wichtige Rolle für die Zielgerichtetheit der Erzählung. Die Todesnotiz ist unspektakulär: „So kam Miltiades mit Kroisos’ Hilfe davon, starb aber bald danach kinderlos und überließ die Herrschaft und den Besitz dem Stesagoras, dem Sohn des Halbbruders Kimon. Die Bewohner der Chersonnes opfern dem Toten nach 409 

Ebd. 78: ultima verba, die dem durch Orakel angezeigten Tod vorausgehen. Ebd. 79. 411  Ebd. 83. 412  Sonnabend, Geschichte 23 f. 413 Ebd. 414  Homeyer, Biographie 79 f. 415  Ebd. 80. 416  Ebd. 80. „Für das Leben des älteren Miltiades lag der Stoff fertig vor“. 410 

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Brauch als dem Gründer der Kolonie und veranstalten Wagenrennen und gymnische Spiele, an denen kein Lamsakener teilnehmen darf“. Die Themistokles-Erzählung lässt, „obwohl kein abgeschlossenes Leben vorliegt“ (es fehlen vor allem Nachrichten über seinen Tod417), das Bild eines Heerführers entstehen, das „über einen bloßen Tatsachenbericht“ hinausgeht und „sich in Handlungen und Aussprüchen spiegelt“418 . Ein weiteres Beispiel bietet die Geschichte des Kleomenes, des am Ende wahnsinnig gewordenen Königs der Spartaner, „dessen Herkunft (Hdt  5,39–41) und letzte Schicksale (Hdt  6 ,73–84) zusammenhängend behandelt werden“419. Ein weiteres Mal zeigt sich, wie wichtig das Orakel von Delphi für derartige Darstellungen ist. „Seine [sc. des Kleo­ menes] Bestechung der Pythia, damit sie jenen Ausspruch über Demaratos gebe, war die Ursache seines Todes, wie die meisten in Griechenland meinten“ (Hdt  6 ,75,3). Der Bericht von seiner Selbstzerfleischung – wahrhaftig kein noble death – ist genau das Gegenstück der kleinen Erzählung, die abschließend zu würdigen ist.

Der reiche Kroisos zeigt Solon seine Schatzkammer in Sardes, macht ihm Komplimente und stellt ihm eine Frage: „Gastfreund aus Athen, verschiedene Kunde über dich ist zu uns gedrungen, über deine Weisheit und deine Reisen. Man hat uns erzählt, du habest als Freund der Weisheit, und um die Welt kennen zu lernen, viele Länder der Erde besucht. Nun möchte ich dich doch gerne fragen, ob du schon einen Menschen gefunden hast, der am glücklichsten auf Erden ist. Er erkundigte sich danach, weil er meinte, selbst der glücklichste Mensch auf Erden zu sein“ (Hdt  1,30,2 f.). Solon antwortet: „Ja, König, Tellos aus Athen“, und erzählt dessen Geschichte (Hdt  1,30,4 f.): 4 Tellos lebte in einer blühenden Stadt, hatte treffliche, wackere Söhne und sah, wie ihnen allen Kinder geboren wurden und wie diese alle am Leben blieben. Er war nach unseren heimischen Begriffen glücklich (εὖ), und ein herrlicher Tod (τελευτὴ τοῦ βίου λαμπροτάτη) krönte sein Leben. 5 In einer Schlacht zwischen Athenern und ihren Nachbarn in Eleusis brachte er durch   sein Eingreifen die Feinde zum Weichen und starb den Heldentod (ἀπέθανε κάλλιστα). Die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo er gefallen war, und ehrten ihn sehr (ἐτίμησαν μεγάλως).

Diese knappe Erzählung macht den Eindruck einer Kurzbiographie. Obwohl auf ein Individuum namens Tellos bezogen, der ansonsten völlig unbekannt ist, könnte sie genauso auch von anderen erzählt werden, die das hier veranschaulichte Ideal des „Glücklichseins“ verwirklichen. Zu diesem Ideal gehören ein Weiterleben in den Kindern und Kindeskindern, vor allem aber der Tod für die eigene Polis – das „schöne Sterben“ –, das die kleine stereotype Erzählung der höchsten Ehre (τιμή) wert preist. Die Notiz vom Begräbnis des Gefallenen durch die Gemeinschaft am Ende bringt genau das zum Ausdruck. Ein solcher Mensch verdient tatsächlich „der Glücklichste auf Erden“ zu heißen. 417 Vgl. aber Thuc   1,138,3, der auch Nachrichten zum Leben des Themistokles bietet (ebd. 135–138). 418  Ebd. 81. 419  Ebd. 81 Anm.  1.

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Auf die Frage des Kroisos bezogen, erklärt Solon schließlich: „Das, wonach du mich fragst, kann ich dir nicht eher beantworten, als bis ich erfahre, dass du dein Leben auch glücklich beendet hast. […]. Vor dem Tode muss man sich im Urteil zurückhalten und darf niemanden glücklich nennen, sondern nur vom Schicksal begünstigt. […] Überall muss man auf das Ende und den Ausgang sehen. Vielen schon winkte die Gottheit mit Glück und stürzte sie dann ins tiefste Elend“ (1,32,5.7.9). Die Zusammenschau der herodot’schen Erzählungen vom Tod berühmter Männer zeigt: Der historischen Buntheit und Vielheit entsprechend differieren sie stark voneinander. Sie bilden noch keinen einheitlichen Erzähltypus aus, tragen aber zur Entstehung des biographischen Schemas bei420 . Gemeinsam ist ihnen der gewaltsame Tod des Helden. Wird er für die Polis erlitten, erscheint er im hellsten Licht. Die Erzählung von Tellos transportiert zum ersten Mal eine Vorstellung, die in der jüngeren Forschung unter dem Label des noble death Geschichte machen sollte. Die Überzeugung, dass in allem ein göttliches Geschick waltet, förderte zielgerichtetes Erzählen. Herodot hat sie als erster für ein einheitliches biographisches Erzählen nutzbar gemacht. Sie bestimmt auch die neutestamentlichen Passionserzählungen, die unter dem Vorzeichen der „Leidensankündigungen“ stehen und dank ihrer Psaltermatrix auf den göttlichen Willen bezogen sind. 1.5.2.2 Der „edle Tod“ (καλὸς θάνατος) des Sokrates als „Archetyp“ Mit Platon (428/427–348/347 v.  Chr.) bleiben wir im griechischen Sprachraum, jetzt in der ersten Hälfte des 4.  Jh.s  v.  Chr. Wenn Sokrates, vom Gerichtshof der Stadt Athen 399 v.  Chr. zum Tod verurteilt, zum „Archetypos einer langen Überlieferung“421 wurde, zum Urbild eines Philosophen oder Weisen, der im Streit mit Tyrannen sein Leben opferte, dann verdanken wir dieses Bild Platons Apologie. Zum vorbildlich Sterbenden wurde er durch die beeindruckende Literarisierung seines Abschieds aus dem Leben im Phaidon 422 . Dessen Schlussszene (117a–118a) kulminiert im letzten Wort des Sokrates, das in herausragender Weise zeigt, was für verba ultima im Allgemeinen gilt: dass sie angesichts des Todes eines Menschen, sein „Wesen“ und die Wahrheit seines Lebens rückblickend in verdichteter Form aussprechen423. Weil für die Bildung solcher Worte die Szene des Phaidon wirkungsge420 A.Y. Collins, Genre 6: „The causes and manners of death differ in these stories and they have no fixed structure. This flexibility does not undercut the suggestion that these texts belong to the same ‚kind‘ of literature“. 421  Ronconi, Art. Exitus 1258; ebd. 1258 f. eine Reihe von Zeugnissen, die „an eine Tradition von loci communes denken“ lassen, „die letzten Endes auf Platon zurückgehen“. 422  Viele Sokrates-Schriften sind verloren; Harker, Loyalty 142 f. zufolge gab es im Athen des 4.  Jh.  v.  Chr. eine regelrechte „trial literature“, Apologien (Platon, Xenophon, Lysias), die Sokrates vorbildhaft in Szene setzten, aber auch umgekehrt Anklageschriften gegen ihn. Zur späten Tradition, dass Sokrates vor Gericht geschwiegen haben soll, vgl. Theobald, Verantwortlichkeit 249– 251. 423  C. Gnilka, Verba 7. Vgl. Berger, Gattungen 1257–1259; Theobald, Tod 107–144.

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schichtlich von größter Bedeutung ist424 , soll sie nachstehend (in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher) umfänglich zu Wort kommen: „Darauf winkte denn Kriton dem Knaben, der ihm [sc. Sokrates] zunächst stand, und der Knabe ging heraus, und nachdem er eine Weile weggeblieben, kam er und führte den herein, der ihm den Trank reichen sollte, welchen er schon zubereitet im Becher brachte. – Als nun Sokrates den Menschen sah, sprach er: Wohl, Bester, denn du verstehst es ja, wie muss man es machen? – Nichts weiter, sagte er, als wenn du getrunken hast, herumgehen, bis dir die Schenkel schwer werden, und dann dich niederlegen, so wird es schon wirken. Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn, und ganz getrost, o Echekrates, ohne im mindesten zu zittern oder Farbe oder Gesichtszüge zu verändern, sondern, wie er pflegte, ganz gerade den Menschen ansehend, fragte er ihn: Was meinst du von dem Trank wegen einer Spendung? Darf man eine machen oder nicht? – Wir bereiten nur soviel, o Sokrates, antwortete er, als wir glauben, dass hinreichend sein wird. – Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muss es, dass die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge (τὴν μετοίκησιν τὴν ἐνϑένδε ἐκεῖσε εὐτυχῆ γενέσθαι), worum denn auch ich hiermit bete, und so möge es geschehen (καὶ γένοιτο ταύτῃ). Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Und von uns waren die meisten bis dahin ziemlich imstande gewesen sich zu halten, dass sie nicht weinten; als wir aber sahen, dass er trank und getrunken hatte, nicht mehr. Sondern auch mir selbst flossen Tränen mit Gewalt, und nicht tropfenweise, so dass ich mich verhüllen musste und mich ausweinen, nicht über ihn jedoch, sondern über mein eigenes Schicksal, was für eines Freundes ich nun sollte beraubt werden. Kriton war noch eher als ich, weil er nicht vermochte die Tränen zurückzuhalten, aufgestanden. Appollodoros aber hatte schon früher nicht aufgehört zu weinen, und nun brach er völlig aus, weinend und unwillig sich gebärdend, und es war keiner, den er nicht durch sein Weinen erschüttert hätte, von allen Anwesenden als nur Sokrates selbst. Der aber sagte: Was macht ihr doch, ihr wunderbaren Leute! Ich habe vorzüglich deswegen die Weiber weggeschickt, dass sie dergleichen nicht begehen möchten; denn ich habe immer gehört, man müsse stille sein, wenn einer stirbt. Also haltet euch ruhig und wacker.

424 

Connors, Words.

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Als wir das hörten, schämten wir uns und hielten inne mit Weinen. Er aber ging umher, und als er merkte, dass ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken, denn so hatte es ihm der Mensch geheißen. Darauf berührte ihn eben dieser, der ihm das Gift gegeben hatte, von Zeit zu Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann drückte er ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle; er sagte nein. Und darauf die Knie, und so ging er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn noch einmal und sagte, wenn ihm das bis ans Herz käme, dann würde er hin sein. Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt, und sagte, und das waren seine letzten Worte: O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht. Das soll geschehen, sagte Kriton, sieh aber zu, ob du noch sonst etwas zu sagen hast. Als Kriton dies fragte, antwortete er aber nichts mehr, sondern bald darauf zuckte er, und der Mensch deckte ihn auf; da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah, schloss er ihm Mund und Augen“.

Im Unterschied zu den übrigen hier zu besprechenden Erzählungen ist diese zwar entsprechend der Dialog-Gattung ein Bericht in Wir-Form425 , aber mit jenen doch vergleichbar426: Erzählende Passagen herrschen vor, Wortwechsel charakterisieren den Protagonisten. Drei religiöse Elemente sind hervorzuheben: (1) die von Sokrates erwogene Trank-Spende an die Götter, die ihm der Scherge angesichts des knapp bemessenen Tranks verwehrt; (2) sein Gebet, das die Trank-Spende ersetzt; (3) das dem Kriton im verbum ultimum aufgetragene Opfer an Asklepios427. Ein Gebet zu den Göttern kurz vor dem Tod hält Sokrates für unerlässlich. Sein Inhalt kann entsprechend seiner Lehre nur die Bitte um das Glück sein, das darin besteht, dass „die Wanderung“ im Tod „von hier nach dort“ gelingt. Der Tod ist für Sokrates nicht Sterben in ein Nichts, sondern „Umzug (μετοίκησις)“ und neue Beheimatung428 . Sokrates sagt dies nicht nur, er betet auch darum: „so möge es geschehen (καὶ γένοιτο ταύτῃ)“. 425  Der Namensgeber des Dialogs trägt ihn geraume Zeit nach der Hinrichtung des Sokrates unter Einbezug der damals im Gefängnis mitanwesenden Schüler und Freunde (Platon war nicht dabei) seinem Freund Echekrates vor. 426  Phaidon schließt seinen Bericht unter Verwendung des für alle Texte charakteristischen Terminus: „Dies, o Echekrates, war das Ende (ἥδε ἡ τελευτή) unseres Freundes, des Mannes, der unserem Urteil nach von den damaligen, mit denen wir es versucht haben, der trefflichste war und sonst der vernünftigste und gerechteste“ (Phaed  118a). 427  Verba ultima begegnen in unterschiedlichen Gattungen, hier in einem Dialog, sonst in Biografien (z. B. Suet, Nero  49,1: qualis artifex pereo), auch in Texten romanhaften Charakters (Curtius, Hist  10,1,37; vgl. auch Xenoph, Cyrop  8 ,7,6): Ronconi, Art. Exitus 1260. 428  Vgl. auch Plat, Ap  40c: „Denn eines von beiden ist das Totsein, entweder soviel als nichts sein (μηδὲν εἶναι) noch irgendeine Empfindung von irgend etwas haben, wenn man tot ist; oder, wie auch gesagt wird, es ist eine Versetzung (μεταβολή) und Umzug der Seele von hinnen an einen andern Ort (μετοίκησις τῇ ψυχῇ τοῦ τόπου τοῦ ἐνθένδε εἰς ἄλλον τόπον)“.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Wenn er zuletzt noch seinem Freund Kriton ein Opfer an Asklepios aufträgt, den Gott der Heilkunde und Ärzte, tut er dies ohne Angabe eines Grundes. „Der Leser, angeregt, ihn hinzuzudenken, kann ihn nur in den vorangegangenen Gesprächen über die Unsterblichkeit finden. Unter diesen Umständen fällt auf die einfachen Worte ein wunderbares Licht: denn sie erscheinen nun als die Äußerung dessen, der die beginnende Heilung von allen irdischen Leiden bereits an sich empfindet, dessen Seele der Morgenhauch der Ewigkeit umwittert, und schließen so die Gespräche über die Unsterblichkeit aufs schönste ab, indem sie auf die dialektisch und naturphilosophisch gewonnenen Resultate durch die persönliche Erfahrung des Sokrates und deren Bekenntnis gewissermaßen das Siegel aufdrücken“429.

Mit seinem letzten Wort deutet Sokrates seinen nahen Tod, der damit zur Beglaubigung dessen wird, was er zeit seines Lebens lehrte. Was wäre seine Philosophie, wenn er für sie nicht zuletzt im Sterben einstehen würde?430 Gebet und Auftrag an den Schüler werden in Folge zu stabilen Formelementen der Erzählungen vom Sterben großer Männer. Die Nachwirkung der platonischen Szene in paganen griechischen und lateinischen antiken Texten war enorm431. Drei Beispiele müssen genügen. Plutarch zufolge liest Cato der Jüngere im Phaidon, bevor er 46  v.  Chr. seiner drohenden Ermordung unter Caesar durch Suizid zuvorkommt432 . Wie Sokrates (zu Beginn des Kriton) fällt auch er zwischen seiner Lektüre in einen tiefen Schlaf, tadelt seinen weinenden Sohn und befragt die Freunde, ob sie seiner Gelassenheit im Angesicht des Todes gültige Argumente entgegenzusetzen hätten. Noch deutlicher ist die Inszenierung des platonischen Dialogs in der Erzählung vom Tod des Seneca, die in zwei Varianten überliefert ist, bei Dio Cassius und Tacitus. Tacitus zufolge liest Seneca in der Stunde seines Todes zwar nicht im Phaidon, hat ihn aber verinnerlicht und benutzt ihn gleichsam als Handlungsanweisung, um

429 

Hirzel, Dialog I 194 f., zitiert bei C. Gnilka, Verba 9; vgl. Most, Cock 96–111. Huttner, Sterben 316, zum Sokrates-Paradigma: „Dass die Autorität der Philosophen den Weg durch die gesamte Spanne des bewussten Lebens wies, kann somit nicht erstaunen; dass sie gerade im Hinblick auf das Ende dieser Spanne, auf das Sterben also, besondere Autorität beanspruchen durften, wird damit zu tun haben, dass sie auch als Experten für das ‚Danach’ betrachtet wurden, dass sie eben Konzepte entwickelt hatten, was Tod bzw. Totsein eigentlich bedeuten“; A.Y. Collins, Genre 7: „The death of Socrates redefined the noble death in philosophical terms“. 431  Schon Xenophon erklärt, kein Mensch sei κάλλιον – schöner und edler – gestorben als er, und das sei eine allgemein anerkannte Auffassung (Mem  4,8,8 f.). Huttner, Sterben 301: „Der καλὸς θάνατος, der edle Tod des Sokrates gerann zum Muster für die nachfolgenden Generationen bis weit in die Spätantike hinein“; zur frühkirchlichen Wirkungsgeschichte von Plat, Resp  361d–e (dem gekreuzigten Gerechten, bezogen auf Sokrates) als pagane Prophetie des Todes Jesu vgl. Benz, Gerechte 37–41, unter Verweis auf das Zitat der Stelle in den Akten des Apollonius 42, und ClemAl, Strom  5,14 (108,3). 432  Plut, CatoMinor 68–70; zu den zahlreichen zeitgenössischen Quellen dieser Begebenheit und ihrer Nachwirkung Huttner, Sterben 301–302; dort auch (Anm.  19) der Hinweis auf die weit verbreitete Geschichte vom Philosophen Kleombrotos, einem Zeitgenossen Platons, der sich nach der Lektüre von Platons Phaidon von einer Mauer in den Tod gestürzt haben soll. 430 

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wie Sokrates zu sterben433. Wegen angeblicher Beteiligung an der „Pisonischen Verschwörung“ von Nero im Jahr 65 zum Suizid gezwungen, öffnet er sich die Adern und verlangt, als er schon ganz durch Blutverlust geschwächt ist, zusätzlich noch den Schierlingsbecher: „Inzwischen bat Seneca, da sich das Sterben noch weiter hinzog und nur langsam vor sich ging, Statius Annaeus, der sich ihm schon lange durch seine treue Freundschaft und seine ärztliche Kunst bewährt hatte, das längst vorbereitete Gift (provisum pridem venenum) zu holen, mit dem die vom Volksgericht der Athener Verurteilten hingerichtet wurden; als man es brachte, trank er es, aber ohne Folgen, da seine Glieder schon erkaltet waren und der Körper sich der Wirkung des Giftes verschloss. Endlich stieg er in ein Bassin mit heißem Wasser, wobei er die zunächst stehenden Sklaven besprengte und hinzufügte, er weihe dieses Nass Iuppiter, dem Befreier. Dann in das Dampfbad gebracht und in dessen Qualm erstickt, wurde er ohne jede Leichenfeier verbrannt. So hatte er in seinem Testament verfügt, da er auch zu einem Zeitpunkt, als er noch im Vollbesitz seines Reichtums und auf der Höhe der Macht stand, für sein Ende vorsorgte“ (Ann  15,64,3–4).

Mehrere Motive verknüpfen die Geschichte intertextuell mit dem Phaidon: der Schierlingsbecher, „offensichtlich ein rein literarisches, aus Platon übernommenes Motiv, das zu dem geschichtlichen Detail des Verblutens einfach addiert ist“434, der Hinweis auf die ärztliche Kunst des Statius Annaeus (Asklepius!), eines der Freunde Senecas, sowie die Benetzung der anwesenden Sklaven mit Wasser, begleitet vom verbum ultimum, er weihe diese Libation Jupiter Liberator, dem Befreier. Letzteres ist „bewusste Aufnahme und Interpretation“ des dem Sokrates im Phaidon verwehrten Wunsches, vom Gift den Göttern ein Trankopfer darzubringen. Dabei ist „offenbar auch der in dem Opfer an Asklepios enthaltene Gedanke mit ausgedrückt, […] dass der Tod eine Heilung bzw. Befreiung bringe“435.

433  Tac, Ann  15,60–64; dazu Schmal, Held 105–123; Huttner, Sterben 295–320, mit dem bezeichnenden Untertitel: „Zur Inszenierung des Todes in der Antike“. Auch in der verkürzten Version des Cassius Dio findet sich das Motiv des literarischen Interesses. „Seneca habe – so Cassius Dio – erst dann an sich Hand angelegt, nachdem er in dem Buch, an dem er gerade schrieb, Korrekturen eingefügt hatte (62,25)“ (ebd. 297). – Zum Inszenierungsgestus vgl. Sen, EpMor  77,20: „Wie im Theaterstück, so im Leben kommt es nicht darauf an, wie lange, sondern wie gut es gestaltet ist. Nichts tut es zur Sache, an welcher Stelle du aufhörst. Wo immer du willst, höre auf: nur sorge für einen guten Schluss (tantum bonam clausulam impone). Leb wohl“; vgl. 66,48. 434  Ronconi, Exitus 1259; anders Maurach, Seneca 46 f. Huttner, Sterben 319, wehrt sich dagegen, alle diese Züge auf das Konto literarischer Stilisierung zu setzen: „Es kann keinen Zweifel geben, dass sich in diesen Texten auch reelles [sic! reales?] Sterben widerspiegelt. Zwar mag die eine oder andere Szene von den Literaten überformt und eben auch an literarischen Vorbildern ausgerichtet sein, doch auch diese – im Einzelfall kaum zu entlarvenden – Textpassagen verlieren keineswegs ihren Wert als Symptome ein und derselben Mentalität“, nämlich den Tod zu inszenieren. 435  C. Gnilka, Verba 10. – Was Seneca seinen Freunden als Testament hinterlassen möchte – „das Schönste, was er besitze, nämlich das Bild seines Lebens (imaginem vitae suae)“: „wenn sie dieses in Erinnerung behielten (cuius si memores essent), würden sie den Ruf einer sittlich einwandfreien Haltung als Frucht ihrer so beständigen Freundschaft einbringen“(Ann  15,62,1) –, das löst Tacitus mit seiner memoria ein.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Mit der Episode vom Tod des Thrasea Paetus brechen die Annalen des Tacitus im 16. Buch ab, weshalb die Episode nur fragmentarisch überliefert ist436 . Sie ist Teil einer größeren Erzählung von einem Senats-Prozess, in dem auch andere angebliche Verschwörer gegen Nero zur Strecke gebracht wurden (Ann  16,21–35)437. Vieles erinnert an den Phaidon (und Seneca): Als das Todesurteil des Senats dem Thrasea überbracht wird, debattiert er in einem Park am Abend in Anwesenheit zahlreicher Menschen mit dem Kyniker Demetrius „über das Wesen der Seele und die Trennung von Geist und Körper“ (de natura animae et dissociatione spiritus corporisque). Die weinenden Anwesenden, auch seine Frau, schickt er fort. Im Haus hält er die Puls­ adern beider Arme hin, besprengt den Boden mit seinem Blut und spricht dazu: „Wir bringen Iuppiter dem Befreier ein Opfer (libamus Iovi Liberatori) […]. Als dann das langsame Eintreten des Todes schwere Qualen mit sich brachte, wandte er sich zu Demetrius […]“. Zu erwarten wäre ein weiteres verbum ultimum, aber es kommt nicht dazu, der Satz bricht ab. „Das Gedenken eines ehrenvollen Untergangs“ (memoriam honesti exitus) (16,25) sollte dank Tacitus dem Thrasea gewiss sein. Der „Archetyp“ Sokrates wirkte nicht nur in der paganen Antike, sondern auch im frühen Judentum und Christentum nach438 . Bereits der Autor der lukanischen Passionserzählung hatte ihn vor Augen439. In der Geschichte der „Erzählungen vom Tod berühmter Männer“ ist er so etwas wie eine „Wasserscheide“. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass er Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Antike gefunden hat440 . 1.5.2.3 Der Tod des Propheten Secharja (2Chr  24,20–22) Die kleine Episode vom Tod des Priestersohns Secharja, 2Chr  24,20–22, gehört zum Werk des sog. „Chronisten“, das nicht vor dem 3.  Jh. zu datieren ist und möglicherweise aus der Zeit der frühmakkabäischen Restauration stammt441. In 436 

Tac, Ann  16,34 f. Petersen, Recht 392–399. 438  Baumeister, Anytos; Benz, Gerechte; Döring, Exemplum; ders., Sokrates 166–171; Geffken, Sokrates; Huttner, Sterben; K.W. Müller, Schierlingstrank. – Versnel, Athenis 181 (unter Bezug auf Döring, Exemplum 13): Die Bedeutung des exemplum Socratis im kynisch-stoischen Schrifttum der beiden ersten Jh.  n.  Chr. erklärt sich durch „das Interesse an der Ruhe, die die philosophische Kontemplation in einer verwirrenden Realität spenden kann, und insbesondere das Bedürfnis nach einem Beispiel der Sicherheit für diejenigen, die in einer Zeit der Tyrannei (Nero, die Flavier) ihre kynische oder stoische Haltung gegenüber der Übermacht der Tyrannei behaupten wollten“. 439  Sterling, Mors. – Pisonius, Märtyrer 250   n.  Chr. in Smyrna unter Kaiser Decius, vergleicht seine Richter mit Anytos und Meletos, den Hauptanklägern gegen Sokrates (MPion  17,2), aber sein letztes Wort lautet: Κύριε, δέξαι μου τὴν ψυχήν (21,9): vgl. Apg  7,59 (auch Lk  23,46); Huttner, Sterben 305 f.: „Im Augenblick des Todes war also das Leitbild des Sokrates von dem des Christengottes verdrängt worden“. 440  Unter Christen grassierte freilich auch manches Unverständnis gegenüber Sokrates: Tertullian, Apol  46,5; De Anima  1,4; Orig, Cels  6 ,4; Lact, Epit  3,20; Eus, PraepEv 13,14,3 f.; Prud, Apoth 203–206. – Minucius Felix spottete gar über den „Hanswurst aus Attika“ (Oct  38,5; vgl. 26,8 f.). 441  Steins, Bücher 325–327. Zur Erzählung siehe Herrmann, Strategien 40–43; Surkau, Martyrien 74–82; Kalimi, Murder 200–209; zu ihrer Wirkungsgeschichte ders., Story 246–261. 437 

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I. Teil: Die Quellen

2Kön  12, der Vorlage von 2Chr  24, fehlt die Geschichte noch. Das biographische Interesse, das sich in ihr äußert, verrät Einfluss griechischer Historiographie442 . Die kleine Geschichte lautet: 19 a Und er (sc. Jhwh) sandte zu ihnen Propheten, um sie zur Umkehr zu Jhwh zu be­ wegen, und sie warnten, aber man hörte nicht auf sie. 20 a Und der Geist Gottes kam über Secharja, den Sohn des Priesters Jojada, b und er trat vor das Volk c und sprach zu ihnen: d   So spricht Gott: e   Warum übertretet ihr die Gebote Jhwhs? f   Ihr werdet keinen Erfolg haben, g   denn ihr habt Jhwh verlassen, h   und er hat euch verlassen! 21 a Da verschworen sie sich gegen ihn b und steinigten ihn auf Befehl des Königs im Vorhof des Hauses Jhwhs. 22 a Und Joasch, der König, dachte nicht mehr an die Barmherzigkeit, b die Jojada, sein Vater, ihm erwiesen hatte, c und er brachte dessen Sohn um. d Und als dieser im Sterben lag, e sprach er: f   Jhwh möge es sehen und (Rechenschaft) fordern. V.19 ist Scharniervers, der die Episode an ihren Kontext anbindet. Der Priestersohn Secharja, von dem V.20a eingangs sagt: „Und der Geist Gottes kam über ihn“, erscheint so als einer dieser Propheten. Er warnt, doch niemand hört ihn, im Gegenteil: Sie bringen ihn um. Auch V.22a–c verknüpft die Episode mit dem, was vorweg erzählt wird. Der Oberpriester Jojada, der Vater des Secharja, hatte zeit seines langen Lebens – er wurde 130 Jahre alt (V.15) – loyal an Joaschs Seite, des Königs von Juda (835–796 v.Chr.), gestanden und ihm manche Wohltat erwiesen (vgl. V.3.12.14). Nach seinem Tod fiel der König mit seinem Gefolge von Jhwh ab und hörte nicht auf die Propheten. Dieser Faden wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch einmal aufgegriffen: „Seine Diener verschworen sich gegen ihn wegen der Blutschuld am Sohn des Priesters Jojada und erschlugen ihn auf seinem Bett. Man begrub ihn in der Davidstadt, aber nicht [im Unterschied zu Jojada: V.16] in den Gräbern der Könige“ (V.25).

Die Episode selbst ist formal wie inhaltlich gerundet und steht in sich. Nach knapper Einführung des Protagonisten (V.20a) wird zuerst sein Auftritt vor dem Volk erzählt. Er spricht ein prophetisches Gerichtswort mit Botenspruchformel (V.20d), Anklage (V.20e–g) – „ihr habt Jhwh verlassen“ – und Kundgabe der entsprechenden Antwort Jhwhs: „Er hat euch verlassen“. Es folgt die Verschwörung gegen ihn samt Steinigung im Vorhof des Tempels443. Der Ortsangabe zufolge könnte Secharja sein prophetisches Wort auch im Tempelbezirk gesprochen haben. Bringen sie 442 A.Y.

Collins, Genre 6: „may be“; Knoppers, Historiographie 627–650. Collins, Genre 6: „The references to conspiracy and stoning may imply a judicial proceeding“; Kalimi, Murder 205, vergleicht die Episode mit der des Nabot (1Kön  21,1–13, bes. 9 f.): „Like Naboth, perhaps also Zecharjah was blamed for blasphemy, and stoned to death in accordance with a similar law that appears in Lev  24:11–16,23“. 443 A.Y.

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ihn „auf Befehl des Königs“ um, so verschärft dies die kontextuelle Einbindung der Episode in V.22a–c dahingehend, dass „er, der König, ihn umbrachte“. Die Episode schließt mit einem Bittgebet des Secharja als letztem Wort444. Ob der Text tatsächlich als ältestes Beispiel der frühjüdischen Gattung „Martyrium“ gelten kann, ist fragwürdig445. Adela Yarbo Collins subsumiert die Episode unter dem Label τελευτή446 . Mit prophetischem Gerichtswort und letztem Wort des sterbenden Protagonisten meldet sich der Subtyp: „Erzählung vom Tod eines Propheten“ an447. Die Episode besitzt eine erstaunliche Wirkungsgeschichte. Sie hat sich dem kollektiven jüdischen Gedächtnis tief eingeprägt448 . „[E]ine solche Gräueltat mitten im Tempel, am heiligsten Ort, der überdies noch Asylort war“, schien „unfassbar zu sein“449. Auch die Logienquelle bezeugt die Geschichte (vgl. Mt  23,34–36 par. Lk  11,49–51)450 . Das letzte Wort des sterbenden Stephanus Apg 7,60: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an“ klingt wie ein Gegenwort zu dem des Secharja. 1.5.2.4 Jüdische Martyrien im 2. und 4. Makkabäerbuch Das 2. Makkabäerbuch, die bald nach 124 v.  Chr. erstellte „Kurzfassung“ eines verloren gegangenen fünfbändigen Werks eines ansonsten unbekannten Jason von Kyrene, wohl Zeitgenosse des Makkabäers Judas (vgl. 2,19–32)451, enthält in den Kap.  6 und 7 neben summarischen Berichten (6,10.11; vgl. 1Makk  1,60 f.; 2,29–38) auch zwei ausführliche Erzählungen von Menschen, die der Religionsverfolgung unter 444  Dieses Bittgebet, das zum nächsten seine Erfüllung berichtenden Abschnitt überleitet, sowie das vorangehende Gerichtswort des Secharja folgen dem für die Chronik typischen „theological scheme of ‚reward (for good deeds) and punishment (for sins)‘“ (Kalimi, Murder 201). Das Bittgebet erinnert im Übrigen an Ex  5,21a: „Jhwh möge sich euch sehen lassen und richten“ (zu den intertextuellen Bezügen der Episode zu anderen biblischen Büchern vgl. ebd. 203–204). 445  Dormeyer, Passion 43; ebd. 47 Anm.  99 schränkt er ein: „die knappe Notiz 2Chron  24,20– 22 gehört allerdings nicht in die Gattung des ausgestalteten, spätjüdischen Martyriums“. 446  Siehe oben 1.5.1 unter (4). 447  Die ältere Erzählung von der Hinrichtung des Propheten Urija, des Sohnes Schemajas, Jer 26,20–23, spricht nur pauschal von seinen Weissagungen „gegen diese Stadt und dieses Land (mit ganz ähnlichen Worten wie Jeremia)“; sie kennt auch noch kein letztes Wort (vgl. die Todesnotiz V.23). 448  Josephus, Ant  9,168 f.; VitProph 23,1 f.; zu den rabbinischen und sonstigen Quellen: Str.Bill. I 940–942; H. Blank, Death; Schwemer, Prophet 325 mit Anm.  26; Kalimi, Murder 208; zum Pyramiden-Monolith zu Ehren zweier priesterlich-prophetischer Secharjas im Jerusalemer Kedrontal siehe Küchler, Jerusalem 724–730. 449  Luz, Mt III 373. 450  Q  11,49–51: „Darum sagte die Weisheit …: Ich werde zu ihnen Propheten und Weise senden, und einige von ihnen werden sie töten und verfolgen, damit das Blut aller Propheten, das von Anfang der Welt an vergossen wurde, von dieser Generation eingefordert wird, vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der zwischen dem Altar und dem Tempel umgekommen ist. Ja, ich sage euch, von dieser Generation wird es eingefordert werden“ (Hoffmann/Heil, Spruchquelle 73); zur umstrittenen Indentifizierung dieses Zacharias (Mt 23,35 nennt ihn „Barachia’s Sohn“) vgl. Luz, Mt 373 f. (nur Secharja aus 2Chron  24,20–22 kommt in Frage); Kalimi, Story 248–257. – Vgl. auch noch Protev 23 f. 451 Vgl. Engel, 2Makk 398–406; Lichtenberger, Martyrium 73.

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I. Teil: Die Quellen

Antiochus IV. (175–164 v.  Chr.) zum Opfer fielen, weil sie sich weigerten, entgegen der Tora Schweinefleisch zu essen (6,1.18; 7,1)452 . Stilistisch gerundet, von Dialogen geprägt, mit theologisch bedeutsamen verba ultima ausgestattet, stehen beide in hellenistischer Tradition453. Wenn der Erzähler am Endes des Martyriums des ­Eleazar erklärt: „Er hinterließ (καταλιπών) nicht nur für die Jungen, sondern für die meisten des Volks seinen eigenen Tod als Beispiel des Edelmuts (ὑπόδειγμα γενναιότητος) und ein Denkmal von Tugend (μνημόσυνον ἀρετῆς)“ (6,31; vgl. 6,28), verrät er sein literarisches Interesse: Er möchte seinen Lesern exempla, „Beispiele“ (ὑποδείγματα) vor Augen stellen und sie in ihrer Gesetzestreue stärken. Es sind ­keine „Apologien“454 , sondern „Erzählungen vom ehrenhaften Tod großer Männer“455 , die ihrer nachahmenswerten Tugend ein „Denkmal“ (μνημόσυνον) setzen456 . Die erste Erzählung, 2Makk  6 ,18–31, hat drei Teile: (1) Die Exposition, V.18–20, stellt den Protagonisten vor, Eleazar, einen der „angesehensten Schriftgelehrten“ seiner Zeit, und beschreibt den Konflikt. – (2) Das Mittelstück, V.21–30, hat zwei Szenen: (a) einen Wortwechsel zwischen seinen ehemaligen „Freunden“, die ihn von seiner Toratreue abzubringen suchen, und Eleazar (V.21–28); (b) seine Hinrichtung, die in seinem verbum ultimum kulminiert (V.29–30). – (3) V.31 rundet die Erzählung ab.

Die Figur des Eleazar457 erinnert an Sokrates458 . Beide sind hochbetagt und betrachten die ihnen noch verbleibende Lebensspanne als etwas, wovon sie sich leicht trennen können (6,24 f.; vgl. Plat, Ap  38c). Beiden bietet sich die Möglichkeit, der Hinrichtung zu entgehen, sie wählen aber „freiwillig“ (6,19: αὐθαιρέτως) den Weg in den „Hades“ (6,23; vgl. Plat, Ap  36b–38b). Beide ziehen einen „ehrenhaften Tod“ einem „Leben in Schande“ (6,19) vor, den Gehorsam der Tora bzw. dem Recht gegenüber einem gesetzlosen Leben (6,23–28; vgl. Plat, Crito  54b–d). Durch die Worte beider Angeklagten fühlen sich die Peiniger provoziert; sie betreiben die Vollstreckung des Todesurteils (6,29; Plat, Ap  38c). Beide sterben als leuchtende „Beispiele“ für die Nachwelt (6,28.31). 452 

Hierzu und 4Makk van Henten, Martyrs; ders., Selbstverständnis 137–143. die verwendete Begrifflichkeit zeigt dies: „edler Entschluss“ (λογισμὸν ἀστεῖον ἀναλαβών) (6,23), „in den Hades schicken“ (προπέμπειν εἰς τὸν ἅδην) (6,23), „eines schönen Todes sterben“ (ἀπευθανατίζειν) (6,28); „Beispiel edler Gesinnung“ (ὑπόδειγμα γενναιότητος) (6,31) usw. 454  Dormeyer, Passion Jesu 43: „Die Martyrien 2Makk sind Apologien im aretalogischen Stil und gipfeln jeweils in den Verteidigungsreden der Märtyrer“. 455  Hengel, Judentum 181 f., schreibt ihre Formung Jason zu: „indem er sie mit dem hellenistischen Motiv des ‚exitus clarorum virorum‘ verband, eine für die griechischsprachige Welt wirksame Form“, wurde er „der Vater des Märtyrerberichts“; A.Y. Collins, Genre 8. 456  2Makk  6 ,31: καταλείπω μνημόσυνον. Bei Herodot findet sich mit μνημόσυνον λιπέσθαι eine vergleichbare Wendung, die auf materielle Denkmäler bezogen ist, die jemand „hinterlässt“: Hdt  1,185,1; 1,186,1 (in der Kyros-Erzählung, siehe oben); 4,166,1; vgl. auch 2,101,2 etc. 457  Der Name (seine gräzisierte Form ist „Lazaros“: Lk  16,20; Joh  11,1) bedeutet: „Gott hilft“. Klauck, 4Makk 709 Anm.  4, mit Verweis auf unterschiedliche Träger dieses Namens (vgl. 3Makk 6,1–15): „Es scheint ein prototypischer jüdischer Name zu sein. Im Namensträger verkörpern sich die besten Eigenschaften des jüdischen Volkes“. 458  Goldstein, II Maccabees 898; von Dobbeler, 1/2 Makk 199; A.Y. Collins, Genre 8. 453 Auch

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Gipfelt die erste Szene des Mittelstücks im Testament des Eleazar an die Jugend  – „Den jungen (Leuten) hinterlasse ich ein edles Beispiel (ὑπόδειγμα γενναῖον καταλελοιπώς), wie man bereitwillig und aufrecht für die ehrwürdigen und heiligen Gesetze gut stirbt (ἀπευθανατίζειν)“ (V.28) –, so legt die zweite Szene den Fokus auf sein verbum ultimum: „Dem Herrn, der die heilige Erkenntnis hat (τῷ κυρίῳ τῷ τὴν ἁγίαν γνῶσιν ἔχοντι), ist offenbar, dass ich, der ich dem Tode hätte entgehen können, harte körperliche (κατὰ τὸ σῶμα) Schmerzen ertrage, wenn ich gegeißelt werde, sie jedoch wegen der Furcht vor ihm in meiner Seele (κατὰ ψυχήν) gerne ertrage“. Das Wort richtet sich zwar indirekt an alle Umstehenden, ist aber zugleich ein Wort coram Deo („dem Herrn … ist offenbar“). Die Leib-Seele-Anthropologie deutet an, worin die Hoffnung des Sterbenden gründet: in der Gewissheit der Unsterblichkeit seiner Seele, die im Tod zu Gott zurückkehrt. Die zweite Erzählung, 2Makk  7, die sich an die erste unmittelbar anschließt, überbietet diese an Länge und Gewicht. Nicht nur, dass das Martyrium gleich acht Menschen, sieben Brüder und ihre Mutter, erleiden, es sind vor allem deren Worte angesichts des Todes, welche die Erzählung „zu einer Art Lehrerzählung“459 machen. Sie umfasst nach knapper Exposition (V.1) neun Episoden mit Worten der Betroffenen. Von Mal zu Mal werden diese ausführ­ licher, die Schilderungen der ihnen beigefügten Qualen dagegen immer kürzer. Mit dieser literarischen Technik gelingt es dem Erzähler, das Gewicht der nur „kurzen Leiden“ Schritt für Schritt abzublenden, um dem Leser die Gewissheit „ewigen Lebens“, in der diese Menschen sterben, immer nachdrücklicher vor Augen zu führen460 . Nach den ersten sechs Episoden (V.2–6/7–9/10–12/13–14/15–17/18–19) retardieren die siebte und achte das Erzähltempo und erhöhen die Spannung. Nach einer Profilierung der Mutter (in V.20–24) wird (in Entsprechung zu 6,21–28) erzählt, wie der König versucht, den noch verbliebenen jüngsten Sohn durch ihre Vermittlung von seinem Entschluss abzubringen. Die Mutter, die nach Zureden des Königs einwilligt, ihren Sohn zu überreden, tut dann aber „in der väterlichen Sprache“, die der König nicht versteht, genau das Gegenteil (V.25– 29). Die neunte Episode enthält das Martyrium beider (V.30–41). V.42 ist die „Schlussnotiz“ des Epitomators461.

Drei Merkmale zeichnen diese Erzählung im Vergleich zur Eleazar-Geschichte aus: (a) Sind die Gegner des Eleazar ein unbestimmtes „sie“, während die Figur des „Königs“ (Antiochus) noch im Hintergrund verbleibt (vgl. 6,21), so ist dieser jetzt der direkte Gegenspieler der sieben Brüder und ihrer Mutter (V.2.9.16 f.18 f.31.34– 37). „Der König“ steht damit Menschen gegenüber, die ihre geistige Überlegenheit der Einsicht in Gottes Souveränität verdanken. Es handelt sich hier um einen der ältesten Belege des später weit verbreiteten Topos „Der Herrscher und der jüdische Weise im Gespräch“462 . Grundlegend ist die Opposition zwischen dem König der 459 

Von Dobbeler, 1/2Makk 201 f. 2Makk  7,36: „Unsere Brüder sind jetzt nach kurzem Leiden mit der göttlichen Zusicherung ewigen Lebens gestorben“, erklärt der Jüngste am Ende. 461  Engel, Makk 403: Vielleicht verweist dieser Abschlussvers mitsamt den vier übrigen des Buches 3,40; 10,9; 13,26 und 15,37a „noch auf die Stoffeinteilung der 5 Bücher Jasons“. 462 Älter sind die „Bekennererzählungen“ Dan   3/6, „eine Vorstufe der Märtyrergeschichte“ (Hengel, Judentum 182 Anm.  318), aus dem ersten Teil des Danielbuches (Niehr, Buch  624: „Die entscheidende Zeit für die Herausbildung des Danielbuches stellt die erste Hälfte des 2.  Jh.s v. 460 

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I. Teil: Die Quellen

Welt und seinen Gesetzen einerseits und dem Tyrannen und seinen Erlassen andererseits: „Du Unmensch! Du nimmst uns dieses Leben; aber der König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferstehen lassen, weil wir für seine Gesetze gestorben sind“ (V.9), erklärt der erste der Brüder dem König463. (b) Die verba ultima im Munde der Protagonisten vermitteln eine eigene Eschatologie mit Gerichts- und Auferstehungsvorstellung464. Die Episoden enden zwar alle mit dem Martyrium, aber der Leser, der in 2Makk  9 von der Einlösung der Gerichts­ androhung der Brüder gegen Antiochus (7,17.19.35–37) hören wird, darf gewiss sein, dass Gott auch die Getöteten durch ihre Auferweckung rehabilitieren wird. (c) Nach vorne geöffnet wird die Erzählung auch durch das letzte Wort des siebten Bruders: „Ich aber gebe wie (meine) Brüder Leib und Leben hin für die Gesetze der Väter und rufe Gott an, dass er bald (seinem) Volk milde gestimmt werde“ (7,37). Die Fortsetzung in den Kap.  8 ff. wird dann tatsächlich von der Heilswende für das Volk erzählen465. Dank des Martyriums der jüdischen Treuen „wandelt sich der Zorn des Herrn in Erbarmen“ (8,5; vgl. 8,2 f.)466 . Damit ergibt sich ein interessanter Befund: Die Gattung „Erzählung vom Tod berühmter Männer“467 hat sich in 2Makk  6 f. in bemerkenswerter Weiser weiterentwickelt. Zwar enden beide Erzählungen mit dem Tod der Märtyrer, aber in die zweite, welche die Klimax der Kapitel ist, schreibt sich mit der Auferstehungserwartung eine neue Dynamik ein, von der später auch die neutestamentlichen Passionserzählungen mit ihrer Kundgabe der Auferweckung Jesu profitieren sollten.

Chr. dar“). Dan  3 bietet eine Konstellation, die den Topos vorbereitet: Drei junge jüdische Männer bieten König Nebukadnezzar in einem knappen Wortwechsel Paroli (Dan  3,14–15/16–18). Die Geschichte endet aber nicht mit ihrem Tod, sondern mit ihrer Errettung aus dem Feuerofen und ihrer Rehabilitierung durch den König. 463  Vgl. auch das Wort des sechsten Bruders gegen den König: „du hast es gewagt, mit Gott zu kämpfen“ (2Makk 7,19). In der Eleazar-Geschichte steht die Opposition im Hintergrund: 6,21 („wie es der König befohlen habe“); 6,26 („nie werde ich […] den Händen des Allherrschers [τὰς τοῦ παντοκράτορος χεῖρας] entfliehen“). 464  So eines der Worte, das durch seine ausdrücklich markierte Intertextualität auffällt: „Der Herr, Gott, sieht zu und wird sich unser sicherlich erbarmen, so wie Moses durch (sein) Lied, mit dem er offen anklagte, erklärte, als er sprach: Und er wird sich seiner Diener erbarmen“ (2Makk  7,6: vgl. Dtn  32,36). 2Makk  7,14 („[Es ist] zu wünschen, dass die von den Menschen Scheidenden sich auf die Verheißungen von Gott verlassen, dass sie von ihm wieder auferweckt werden“) spielt gleichfalls auf das Moselied an, Dtn  32,39: „Ich werde töten und lebendig machen“. Schwemer, Prophet 327: „die einzige Stelle im Gesetz Moses, der heiligen Schrift mit der höchsten Autorität, die die Auferstehungshoffnung belegt“; auf sie spielt auch 4Makk  16,19 an: vgl. van Henten, Martyrs 182. 465  Die „Gebetsankündigung“ 7,37 markiert die Wende auch insofern, als die Zeit davor „eine ‚gebetslose‘ Zeit“ ist (abgesehen von 2Makk 3 und 5,2–4), „die Zeit des Erbarmens Gottes“ danach aber „von Gebeten bestimmt (ist), die Gottes sichtbares Erscheinen erbitten oder preisen“ (Lichtenberger, Martyrium 74 f.). 466  Van Henten, Martyrs 187–269 („Dying for the Jewish people“). 467 Mit der Mutter der sieben Brüder wird allerdings eine Frau zur Märtyrerin. Alle acht ­Menschen sind ohne Namen, auch eine Neuerung in der Gattungsgeschichte. Wie der Name des Eleazar (siehe oben) und die Zahl sieben deutet auch dies auf ihre repräsentative Rolle hin.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Das Vierte Makkabäerbuch, entstanden gegen Ende des 1.  Jh.s  n.  Chr. oder im ersten Drittel des 2.  Jh.s468 , bietet eine Relecture der Martyriumserzählungen von Eleazar (5,1–7,23), den Sieben Brüdern (8,1–14,10) und ihrer Mutter (14,11–17,6) aus 2Makk  6 f., die stark von der Zielsetzung des Buches bestimmt ist, einer „überaus philosophischen Rede“ (φιλοσοφώτατος λόγος) (vgl. 1,1). Als historische exempla jüdischer Geschichte sollen sie dessen Hauptthese untermauern, dass „die fromme Urteilskraft souveräne Herrscherin über die Leidenschaften ist“ (1,1). Dem dienen die großen Reden, welche die Protagonisten zu halten haben (vgl. 5,14–38; 9,1–9 etc.), wie die vom Autor eingeschobenen philosophischen Reflexionen und Lobreden auf die Märtyrer (vgl. etwa 6,31–7,23; 13,1–14,10 etc.). Gattungsgeschichtlich bezeugen die Erzählungen eine Weiterentwicklung des martyrologischen Subtyps der Gattung „Erzählung vom Tod berühmter Männer“. Der Topos „Der Herrscher und der jüdische Weise im Gespräch“ ist prägend geworden. Rededuelle zwischen dem „Tyrannen“ (ὁ τύραννος) und den jüdischen Weisen über deren „Philosophie“ (5,22) bilden das Szenario – über 2Makk  6 hinaus jetzt auch in der Erzählung von Eleazar, „der Herkunft nach einem Priester, der Bildung nach einem Gesetzeskundigen“ (τὴν ἐπιστήμην νομικός) (5,4; vgl. 2Makk  6 ,18). Von den jüdischen Weisen sagt der Erzähler, sie gingen „mit rednerischem Geschick“ vor (6,1) und „argumentierten in philosophischer Manier“ (8,15) in allem Freimut, einer Einstellung, die zum Topos gehört und durch den Kontrast ihrer Qualen und Schmerzen (vgl. nur 6,2–11.24 f.; 8,12–14) noch gesteigert wird. Mit dem Gattungselement verbum ultimum geht der Erzähler bei der Vielfalt der Reden kreativ um. Die aus 2Makk ererbte Vorstellung, dass Gottes Zorn gegen sein Volk sich dank des Gebets der Märtyrer in sein Erbarmen umkehrt, entwickelt 4Makk unter Verwendung atl. Opfer- und Kultsprache weiter: Jetzt ist ihr sühnendes Sterben, das dem Volk zugutekommt (6,28 f.; 17,20–22)469. Damit hat das Vierte Makkabäerbuch das pseudepigraphe Corpus Ignatianum470 , aber auch frühchristliche Märtyrererzählungen beeinflusst und wurde so zu einer wichtigen Schaltstelle zwischen frühjüdischer und frühchristlicher Martyriumsliteratur. 1.5.2.5 Philosophisch-Biographisches: Anekdoten, Exempla-Sammlungen und Exitus-Literatur Frühjüdische Texte wie das 2. und 4.  Makkabäerbuch haben den Topos Konfrontation des Weisen mit dem Tyrannen von der paganen griechischen Literatur der hellenistischen Zeit geerbt. Noch in der lateinischen Literatur der römischen Kaiserzeit spielt der Topos eine wichtige Rolle. Er vermittelt das „Idealbild des Weisen, 468  Klauck, 4Makk 668 f.; Lichtenberger, Martyrium 78; van Henten, Datierung 136–149. Zum stoischen Einfluss Trelenberg, Märtyrer 331 f. 469  Klauck, 4Makk 670–672; Lichtenberger, Martyrium 81: „Da in 4Makk die Märtyrer sündlos und – wie Opfertiere – ohne Fehl sind, bringen sie durch ihren Martertod ein vollgültiges Opfer dar und schaffen die ‚Reinigung’ des Landes, während die Märtyrer in 2Makk (auch) für ihre eigenen Sünden sterben, wodurch der göttliche Zorn abgewendet wird“. 470  Theobald, Israel-Vergessenheit 279–283.

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I. Teil: Die Quellen

der unter Inkaufnahme persönlicher Gefahren auch vor dem Mächtigen die Wahrheit ausspricht. Der Stammbaum dieser ‚Wahrsprecher‘ lässt sich mindestens bis zum platonischen Sokrates zurückführen“471. Der Topos begegnet in verschiedenen literarischen Gattungen, in Anekdoten, Exempla-Sammlungen und in der sog. Exitus-­Literatur472 . Plutarch (ca. 45–125 n.  Chr.) und vor allem Diogenes Laertius (1. Hälfte des 3.  Jh.s) bieten entsprechende Anekdoten473. Sie handeln von bekannten Philosophen wie Diogenes von Sinope, Zenon von Elea oder Anaxarchos. Berühmt ist die Begegnung des Diogenes mit Alexander dem Großen. Sie endet nicht tödlich, sondern zeigt exemplarisch, wie der Philosoph dem König, der die Welt erobern will, an Weisheit überlegen ist: „Als dieser ihn mit seinem Namen begrüßte und ihn fragte, ob er irgendeine Bitte habe, antwortete er: ‚Nur eine kleine: Geh mir aus der Sonne!“ (Plut, Alex  14). Diogenes Laertius, der sein anekdotisches Wissen aus Exempla-Sammlungen schöpft474, bietet knappe Berichte zur Hinrichtung des Callisthenes durch Alexander (5,5)475, zu Zenon und dem Tyrannen (9,26–28)476 und zur Ermordung des Philosophen Anaxarchus aus Ab­ dera durch Nicocreon von Salamis (9,59)477. Zenon und Anaxarchos waren bereits zu „rühmlichen Vorbildern“ (species honestae) der Tapferkeit geworden (Cic, Tusc  2,52) und bilden bei Cicero zusammen mit Sokrates ein Dreigespann, das auf geprägte Exempla-­

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Hartmann, Judenhass 170. Harker, Loyality 142 Anm.  5; 147: „The stories of confrontations between emperors and their Greek subjects survive mainly in the form of anecdotes but are developed further in several literary works“; Berger, Gattungen 1257–1259. 473  Bekannt sind Sammlungen von historischen Anekdoten auch aus der Feder eines Zeitgenossen Kaisers Tiberius namens Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (in 9 Büchern), oder eines Timotheos von Pergamon: Über die Tapferkeit der Philosophen (Περὶ τῆς τῶν φιλοσόφων ἀνδρείας): Hartmann, Judenhass 171. 474  Ronconi, Art. Exitus 1260, nennt sie „Hilfsmittel für Rhetoren“; ebd. 1261 f. zur Beliebtheit solcher Sammlungen in den Rhetorenschulen. 475  Genannt werden lediglich Grund und Umstände seiner Hinrichtung (damnatio ad bestias); als sein Verwandter Aristoteles sah, dass er dem König in seinen Reden zu freimütig entgegentrat, soll er ihn mit den Worten gewarnt haben: „Bald, mein Sohn, verblühet das Leben dir, so wie du redest!“ (Ilias 18,95): Diogenes Laertius, Leben, Bd.  53, 243. 476  Diogenes führt vier verschiedene Varianten vom Zusammenstoß mit dem Tyrannen unter Angabe des jeweiligen Gewährsmannes auf: Hermippos zufolge ging es für Zenon tödlich aus; er wurde in einen Trog geworfen und zerstoßen. Am Ende steht ein Epigramm: „Zenon, ein herr­ liches Ziel verfolgtest du, wolltest den Herrscher / Töten und so dein Land von der Versklavung befreien. / Doch du erlagst: es ließ dich der Herrscher im Troge zermürben. / Doch was sage ich? Nein, nur deinen Leib, nicht dich selbst (τί τοῦτο λέγω; σῶμα γάρ, οὐχὶ δὲ σέ)“ (DiogL  9,28; Diogenes Laertius, Leben [54] 173 f.); vgl. Lk  12,4: „Ich sage aber euch, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können …“. Wolter, Lk 442, verweist auf „Selbstvergewisserungen von verfolgten Philosophen“ (Plutarch; Epiktet; 4Makk  9,7 etc.). 477  Auch hier geht es um die Konfrontation mit einem Tyrannen; den Philosophen charakterisieren seine knappen, scharfen Sprüche gegen den Tyrannen, die er selbst im Augenblick des Todes nicht aufgibt (verba ultima). Ein Epigramm relativiert seinen Tod: „Stampft, stampft zu, und immer noch mehr, es ist ja ein Sack nur, / Stampft, Anaxarchos selbst weilt ja schon lange bei Zeus (Ἀνάξαρχος δ’ ἐν Διός ἐστι πάλαι) […]“ (Diogenes Laertios, Leben [54] 190 f.). Zur Wirkungs­ geschichte dieser Episode gerade bei Kirchenschriftstellern siehe Alföldi, Philosoph. 472 

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Tradition zurückgeht (NatDeor  3,82478), wie Cicero andernorts selbst erklärt: „clarissimo­ rum virorum nostrae civitatis gravissimos exitus in consolatione collegimus“ (Divin  2,22).

„It was undoubtedly in the Alexandrian period that collections were first made of the τελευταί of philosophers and heroes“479. Eine der ältesten solcher Exempla-­ Sammlungen scheint die des Hermippus von Smyrna (3. bis 2.  Jh.  v.  Chr.), Schüler des Kallimachos, gewesen zu sein, auf die Diogenes Laertius sich in seinem anek­ dotenhaften Bericht vom Tod des Chrysippos bezieht (7,184)480 . Erhalten ist von dieser Sammlung nichts. „[T]he portrait of the vir bonus et sapiens resisting the tyrant became a stock motif in the rhetorical and philosophical schools, especially during the Roman period“, erklärt Herbert A. Musurillo481. „Entsprechende Verhaltensnormen für den Weisen formulierten Horaz, Seneca und vor allem Epiktet. Gerade der letztgenannte kennt den Philosophen auch explizit als μαρτὺς ὑπὸ τοῦ θεοῦ κεκλημένος“482 . ­Viele der erwähnten Anekdoten fanden Eingang ins frühchristliche Gedächtnis, wie etwa das ins Jahr 250 n.  Chr. datierte „Martyrium des heiligen Pionios“ aus Smyrna belegt: Als man Pionios zum Opfern zwingen wollte, sprach „ein gewisser Rufinus, der […] im Rufe stand, in der Redekunst (ἐν τῇ ῥητορικῇ) hervorzuragen“, zu ihm: „‚Hör auf, Pionios, gib dich dem leeren Wahn nicht hin (μὴ κενοδόξει).‘ Er aber (sagte) zu ihm: ‚Sind das deine Redekünste? Steht das in deinen Büchern? So etwas erlitt nicht einmal Sokrates von den Athenern. Nun aber sind alle Anytos und Meletos. Gaben sich demnach Sokrates und Aristides und Anaxarchos und all die anderen nach eurer Ansicht leeren Wahnvorstellungen hin (ἐκενοδόξουν), weil sie Philosophie, Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung übten?‘ Als er dies hörte, schwieg Rufinus still“ (MPion  17,1–4)483.

Als Exitus-Literatur im engeren Sinn werden jene „antimonarchischen […] Literaturwerke mit stoischem Gepräge“ der Kaiserzeit bezeichnet, „welche die Opfer der Tyrannei der Caesaren zu verherrlichen suchen“, insbesondere unter Nero und Do478  Der Erwähnung von Anaxarchos und Zenon fügt er hinzu: „Und was soll ich erst von Sokrates sagen, über dessen Tod ich Tränen vergieße, sooft ich Platon lese?“ 479  Musurillo, Acts 238. 480  Ronconi, Art. Exitus 1260. 481  Musurillo, Acts 239, unter Bezug auf Horat, Ep  1,16,73–79: „Der Ehrenmann, der Weise (vir bonus et sapiens) wird freien Mutes sprechen: ‚Pentheus, Machthaber zu Theben, wo sind nun deine Schrecken? Was willst du mir an Leid und Qual auferlegen?‘ – ‚Wegnehmen will ich deine Güter.‘ – ‚Also wohl Vieh und Bargeld, Möbel und Tafelsilber? Nimm es hin!‘ – ‚In Handschellen, im Fußeisen sollst du mir sitzen, in der Haft eines grausamen Kerkermeisters.‘ – ‚Er selbst, der Gott, wird, sobald ich will, mich befrein (ipse deus, sumulatque volam, me solvat).‘ Ich ahne, was er im Sinne hat: freiwilligen Tod! Denn der Tod macht aller Not ein Ende“ (Übers. W. Schöne). 482  Hartmann, Judenhass 171; ebd. 172: „Epiktet erkennt auch durchaus die Parallelen zwischen seinem furchtlosen Weisen und der Todesverachtung der Christen an, diskreditiert aber letztere als ὑπὸ μανίας begründet, während der Weise ὑπὸ λόγου δὲ καὶ ἀποδείξεως handle. Schließlich sei darauf verwiesen, dass Celsus – was selbst Origenes anerkennen musste – den Gehorsam gegenüber der Gottheit als so wichtig erachtete, dass man für ihn auch Folterqualen ertragen müsse“; vgl. auch Starr, Epictetus 20–29. 483  Seeliger/Wischmeyer, Märtyrerliteratur 160–163; vgl. auch Acta Apollonii 41. – Musirillo, Acts  238.

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mitian. „Bekanntlich übertrug der römische Stoizismus seinen Freiheitsbegriff von der Ebene der Ethik auf die Ebene der Politik u(nd) wurde damit ein unerbittlicher Gegner der Kaiser. So reifte z. B. die pisonische Verschwörung in stoischen Kreisen“484. „Exitus literature was a phenomenon of the first century AD only“485. Erhalten ist von dieser Literatur nichts. Dank Plinius und Tacitus sind wenigstens einige Autorennamen und Grundzüge ihrer Werke bekannt. Plinius erwähnt in Ep  8 ,12,4 f. ein Werk über „die Tode berühmter Männer“ (exitus inlustrium virorum) aus der Feder eines Titinius Capito: „Er schreibt über das Ende erlauchter Männer, darunter einige, die mir besonders teuer sind“486 . Über den jähen Tod eines anderen Autors, Gaius Fannius, der sein Werk mit dem Titel exitus occisorum aut relegatorum a Nerone („Das Ende der von Nero Getöteten und Verbannten“) unvollendet zurücklassen musste487, äußert Plinius sich in einem anderen Brief mit bewegenden Worten (Ep  5,5). Den Stil des Werkes beschreibt Plinius als „lateinisch im besten Sinne des Wortes, die Mitte haltend zwischen Umgangssprache und geschichtlicher Darstellung (Latinos atque inter sermonem historiamque medios)“ (ebd.)488 . Tacitus bestätigt nicht nur die Existenz dieser Literatur489, sondern scheint in seiner Darstellung der Majestätsprozesse der neronischen Periode auch reichlich von ihr profitiert zu haben490 . Das lässt Schlüsse auf ihren Charakter zu: „The evidence suggests that exitus literature consisted of short biographical pamphlets, episodic and eulogistic, which focused primarily on the death scene (usually suicide) and last words of the martyr. Some examples recorded trial scenes with dialogue in direct and indirect speech, but there is no evidence that they imitated the form of minutes“491. 484  Ronconi, Art. Exitus 1258; Reitzenstein, Stück 327, spricht vom „Lieblingsstoff des damaligen Lesepublicums“ bzw. von „Unterhaltungsliteratur“ (ebd. 330). Vgl. auch Berger, Gattungen 1257–1259 (Lit.); Eigler, Art. Exitus; Harker, Loyality 143–14. Huttner, Sterben 317: „Das ausgeprägte Interesse für das Lebensende evozierte in der Kaiserzeit ein eigenes literarisches Genos, das sich ausschließlich mit dem Sterben, dem exitus, wie es im Titel immer heißt, berühmter Persönlichkeiten auseinandersetzt“. 485  Harker, Loyality 146; vgl. auch Herrmann, Strategien 154–156. 486  Er fährt fort, von Titinius Capito zur Lesung in dessen Haus eingeladen: „So glaube ich, nur eine fromme Pflicht zu erfüllen, wenn ich gleichsam ihren zwar verspäteten, aber um so aufrichtigeren Grabreden (funebribus laudationibus) beiwohne, deren Beisetzung mit zu begehen mir nicht vergönnt war“. In 1,17.3–4 rühmt er Capito, es läge in seinem „Wesen, berühmte Männer zu ehren; sonderbar, mit welcher Pietät, welcher Hingebung er die Bilder eines Brutus, Cassius und Cato in seinem Haus hegt, wo es ihm niemand verbieten kann. Überdies feiert er das Leben aller Berühmtheiten in trefflichen Versen“. 487  Er habe nur drei Bücher fertig stellen können, „und wünschte um so mehr, die übrigen zu vollenden, je fleißiger diese gelesen wurden“. 488 Dazu Reitzenstein, Kleinliteratur 328. Laut Ep   9,13,1.18 verfasste Plinius selbst eine Schrift De ultione Helvidii – „Über die Rechtfertigung des Helvidius (Priscus, des Jüngeren)“; dieser wurde unter Domitian 93 n. Chr. zum Tode verurteilt. 489  Tac, Ann  6 ,7,5: „Ich weiß sehr wohl, dass von den meisten Geschichtsschreibern die Prozesse und Verurteilungen vieler Männer (multorum pericula et poenas) übergangen worden sind, da sie bei deren Menge ermüden oder befürchten müssen, das, was ihnen selbst als zu viel und niederdrückend vorgekommen war, könnte die zukünftigen Leser mit gleichem Widerwillen erfüllen: mir bot sich sehr vieles als wissenswert dar, obwohl es von anderen nicht erwähnt wurde“. 490  Marx, Tacitus 83–103. Vgl. auch Schunck, Sterben. 491  Harker, Loyality 146. Die Abhandlung von Laktanz, De mortibus persecutorum, kann „als ein letzter Ausläufer dieses Schrifttums gedeutet werden“ (Huttner, Sterben 318 mit Anm.  78).

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Die Emphase, mit der Tacitus Todesszenen darstellt492 , wirft Licht auf diese Literatur, die ohne Zweifel „letzte Worte“ kannte493. Prozess-Szenen spielten eher eine geringe Rolle494. Römer tendierten dahin, Anklagen durch Suizid zuvorzukommen495. 1.5.2.6 Gerichtsprotokolle, die Acta Alexandrinorum und weitere Prozesserzählungen „[…] bei dem Verhör führte Macro den Vorsitz, wie die dem Senat übersandten Protokolle zeigten (commentarii ad senatum missi)“496 . Mit commentarii können Aufzeichnungen privaten, aber auch öffentlichen Charakters gemeint sein: Protokolle, Akten und Register in den Amtsbüchern der Magistrate497. Die commentarii des Caesar „mit ihrem schlichten auf rhetorisches Beiwerk verzichtenden Stil“ bildeten ein selbständiges literarisches Genus498 . Im Folgenden wird es um „nicht-­ literarische“ und „literarische“ Gerichtsprotokolle gehen. Gerichtsprotokolle Ein umfangreicher Bestand griechischer Gerichtsprotokolle steht, wenn auch nur fragmentarisch, ab dem 1.  Jh. auf Papyri zur Verfügung499. Revel A. Coles hat sie intensiv untersucht mit dem Ergebnis, dass sie – formal besehen – gewöhnlich aus vier Teilen bestehen 500: 1. „the introductory formulae“, 2. „the body of the trial“, 3. „the judgement“ (κρίσις) and 4. „concluding matter such as subscriptions of scribes“. Die „introductory formulae“ bezeichnen die Art des Dokuments (z. B. ob es sich um ein Exzerpt aus Mitschriften handelt oder eine Kopie etc.), führen den Vorsitzenden der Verhandlung mit Namen und Titel auf und verzeichnen Datum, Ort501 und die Namen der Parteien. Beim Corpus des Protokolls fällt der Stil der Redeeinleitungen auf: In den ältesten Dokumenten findet sich der „no-introductory-­ 492  Zu Seneca und Thrasea Paetus siehe oben unter 1.5.2.2; vgl. außerdem Tac, Ann  15,68 f. über Ostorius Scapula und 16,14 f. über Julius Vestinus. 493  Vgl. Tac, Ann  15,64,4; 16,34 f. 494  Vgl. Tac, Ann  16,22–35 (Prozesse des Thrasea Paetus, Barea Soranuns und seiner Tochter Servilia mit abgekürzten Versionen von Anklage- und Verteidigungsreden im Senat). – Plin, Ep  7,19,5, scheint in seinem Brief über Fannia den entscheidenden Wortwechsel aus dem Prozess gegen ihren Mann Herennius Senecio und sie selbst vor Domitian im Jahr 93 wiederzugeben; ob er aus einem Protokoll zitiert, ist nicht klar. 495  Bei den Acta Alexandrinorum ist das genau umgekehrt, hier sind die Prozess-Dialoge entscheidend, Todesszenen fehlen oder wurden nicht mitüberliefert (siehe unten 1.5.2.6)! 496  Tac, Ann  6 ,47,3. 497  Lippold, Art. Commentarii 1257–1259. Zur Form der Akten etc. vgl. Hartmann, Judenhass 123 Anm.  23. 498  Lippold, Art. Commentarii 1259. 499  Coles, Reports 55–63, bietet eine Liste von knapp 200 Papyri in chronologischer Folge (1. bis 4.  Jh. n.  Chr.), nur wenige der Papyri sind älter. Vgl. den Exkurs bei Musurillo, Acts 249–252 („The ‚Protocol‘“) sowie Bisbee, Acts. 500  Coles, Reports 29–54. 501  P.Oxy. 37: ἐπὶ βήματος = auf dem Richterstuhl; vgl. Joh 19,13. Auch der Ort der Verhandlung

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verb type“, seit dem Ende des 1.  Jh.s wird εἶπεν + ἀπεκρίνατο gebräuchlich502 . Die Rede-Teile sind kurz. „The remarks of the persons involved are usually brief, prosaic, and business like“503. Zuweilen gibt es auch „intermediate narrative passages“504. Diese sind gleichfalls kurzgehalten. Es wird sich zeigen, dass die joh. Erzählung vom Pilatus-Prozess mit ihren Wortwechseln und wenigen narrativen Rahmennotizen die Gattung der commentarii = Gerichtsprotokolle widerspiegelt, freilich literarisch überformt wie in den folgenden Beispielen. Acta Alexandrinorum Bei den sog. Acta Alexandrinorum505 handelt es sich um ein Konvolut von in Ägypten gefundenen Papyri aus dem 2. und 3.  Jh.  n.  Chr. mit Protokollen von Verhandlungen alexandrinischer Gesandter vor dem Kaiser in Rom 506 . Weil nur einige von ihnen mit Todesurteilen enden 507, führt ihre herkömmliche Bezeichnung als „Akten heidnischer Märtyrer“508 in die Irre. In der neutestamentlichen Forschung zu den Passionserzählungen werden die Papyri zwar erwähnt, aber nicht mit der Aufoder das Gebäude, in dem sie stattfindet, können angegeben sein, sogar die Stadt: Coles, Reports 33 f. mit Anm.  1. 502  Coles, Reports 43: „The εἶπεν-formula is also found together with other indicative verbs. The most obvious of these is ἀπεκρίνατο“. Zum εἶπεν bemerkt er: „Its occurrence in some of the early fragments of the Acta Alexandrinorum does suggest that it may possibly derive from the use of dixit in Latin commentarii”. 503  Musurillo, Acts 249. 504  Coles, Reports 46. 505  Kritische Edition der fragmentarisch erhaltenen Papyri mit Kommentar 1954 durch Musurillo, Acts; ders., Acta; ein kommentiertes Verzeichnis aller Texte bietet Harker, Loyality 179–211; vgl. auch Tcherikover u. a. (Hg.), Corpus II, 55–107 (= Nr.  154–159); Sarischouli, Acta; ders., BKT IX 64. 506  In den Acta Isidori ist dies Kaiser Claudius. „Weitere Texte berichten unter anderem von Verhandlungen des Hermaiskos vor Trajan, des Paulus und Antoninus vor Trajan oder Hadrian, des Athamas und des Athenodoros vor einem unbekannten Kaiser sowie des Appianos vor Commodus“ (Hartmann, Judenhass 121 f.). 507  Hartmann, Judenhass 157: „In der Gerousie-Akte erscheint Caligula den Alexandrinern durchaus freundlich gesonnen und lässt ihren Widersacher vor dem Kaisergericht brandmarken bzw. verbrennen. Auch die alexandrinische Anklage gegen C. Vibius Maximus war offenbar durchaus erfolgreich. Dass Trajan durch das Schweißwunder des Serapis in den Acta Hermaisci bekehrt wird, lässt sich aufgrund des Abbrechens des Textzeugen nicht sicher sagen, kann aber nicht völlig ausgeschlossen werden“; ebd. 157 f.: „Keinesfalls darf man daher ein ‚Martyrium‘ der erwähnten Gesandten einfach generell voraussetzen. Auch sind die Stücke nicht durchgängig auf Gerichtsverhandlungen fokussiert. Andererseits scheint eine Bedrohungssituation vielfach durch und in einem Fall wird die Folterung eines Gesandten geschildert [sc. in den Acta Pauli et Antonini]. Vor allem aber wird in den Acta Appiani eine Vorbildhaftigkeit der mehr als ein Jahrhundert zuvor hingerichteten Gesandten Isidoros, Lampon und Theon explizit benannt – insofern liegt die Zentralität des Sterbemotivs deutlich zu Tage“. Die erhaltenen Fragmente geben nicht einmal zu erkennen, ob die Acta gegebenenfalls auch von einer Urteilsvollstreckung erzählten. 508 A. Bauer, Märtyrerakten; vgl. auch Ronconi, Art. Exitus 1264: „Die vorherrschende Meinung, die an Geffcken [Martyrien] orientiert ist, erkennt in der heidn(ischen) Literaturgattung das direkte Vorbild der Märtyrerakten; diese Idee hat die Gelehrten veranlasst, von christlichen und heidnischen Acta martyrum zu sprechen“ (dieser Einschätzung neigt R. auch selbst zu). Von Märtyrerakten sprechen u. a. noch Berger, Formgeschichte 334, und Dormeyer, Passion 44: „In

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merksamkeit bedacht, die ihnen eigentlich gebührt509. Es sind keine authentischen Gerichtsprotokolle, wie gerne angenommen wird510 , sondern parteiische Stilisierungen von Verhandlungen auf dem Niveau von Pamphleten, die erst geraume Zeit nach den jeweils thematisierten Vorfällen entstanden 511. „Die meisten Textzeugen der Acta“ stammen „aus der Severerzeit [193–235 n. Chr.]; ob sie auf einer zeitnahen Tradition beruhen, muss man mehr postulieren, als dass man es beweisen könnte“512 . Es handelt sich um Kleinliteratur, die auf Papyri in teils unterschiedlichen Abschriften verbreitet wurde513. Weil die Acta Isidori als „archétype de ce corpus“514 gelten, sei ihnen im Folgenden eigene Aufmerksamkeit geschenkt 515. Die antijüdischen Ausschreitungen in Alexandria 38  n.  Chr., über die auch Philos beide Schriften Gegen Flaccus und die Gesandtschaft an Gaius informieren, bilden den historischen Hintergrund. Interessant sind die unterschiedlichen Perspektiven. Während der Jude Philo den Protagonisten der Acta, Isidoros, wie nicht anders zu erwarten, als Unruhestifter darstellt, ist er für die Acta, die aus der hellenistischen Oberschicht Alexandrias stammen und der Befürchtung römischer wie jüdischer Überfremdung der Stadt Ausdruck verleihen 516 , ein Held: Der Gymnasiarch Isidoros517 wagte es, König Agrippa I. im der frühen Kaiserzeit entsteht eine neue Gattung der hellenistischen Literatur, die Märtyrerakte. Frühestes Zeugnis dieser Gattung sind die Acta Alexandrinorum“. 509  Dormeyer, Passion 44–47; ders., Überlegungen 230–232; Berger, Gattungen 1250 f.; Ronconi, Art. Exitus 1264–1266; zuletzt Herrmann, Strategien 156–171 (dazu Hartmann, Judenhass 127 Anm.  48: „eine kursorische Behandlung der Texte“, die „wenig hilfreich“ ist). 510  Heute etwa Magnani, Processo, der – wie andere italienische Forscher auch – versucht, „die Acta als zumindest weitgehend authentische Quellendokumente nutzbar zu machen“ (Hartmann, Judenhass 124); ebd. 124 f.: „Zumeist wird den Acta heute bestenfalls noch zugebilligt, aus einem dokumentarischen Kern entwickelt zu sein“. Wegen ihrer Parteilichkeit sei „die Frage nach der Authentizität eine ganz unerhebliche“. „Äußerste Vorsicht bei der Auswertung ist also in jedem Fall angebracht“. – Schon Niedermeyer, Protokoll-Literatur 24–26.28, wies darauf hin, dass die Darstellung der Acta in weiten Teilen historisch nicht plausibel sei; Musurillo, Acts 124, vermutet sogar reine Fiktion. – Vogler, Untersuchungen, wertete die Acta rechtshistorisch aus. 511  So die jüngere Forschung: Harker, Loyality; Hartmann, Judenhass (122–127: zur Forschungsgeschichte der Acta); Hennig, Märtyrerakte; Kozirakis/Franoulaki, Notes; Rodriguez, P. Mich. Inv. 4800; ders., PSI inv. 123; ders., Acta. – Berger, Formgeschichte 335, spricht von „patriotischen Traktaten“, denen er eine „kynisch-philosophische Tendenz“ zuschreibt, was indes strittig ist. 512  Hartmann, Judenhass 125; Harker, Loyality 44, nennt sprachliche Details, die auf das 2.  Jh. verweisen. 513  BGU II 511 und P. Lond. Inv. 2785, zwei Zeugen der Acta Isidori etwa, sind Dubletten, die sich in nur wenigen sprachlichen Details unterscheiden; Abschriften der Acta Isidori waren üblich. 514  Rodríguez, Acta 2; ein Beispiel romanhafter Weiterentwicklung bieten die Acta Appiani: vgl. Hartmann, Judenhass 158; Musurillo, Acts 252 f. 515  Zu ihnen Hartmann, Judenhass 119–209; Herrmann, Strategien 156–160; Magnani, Processo; Rodriguez, Acta; ders., P. Mich. Inv. 4800; ders., PSI inv. 123. Zum historischen Hintergrund der Acta: Blouin, Conflit; Harker, Loyalty 99–140; Schimanowski, Juden 211–220. 516  Zu den „Ethnizitätsdiskursen im kaiserzeitlichen Ägypten“ siehe Hartmann, Judenhass 127–156; Blouin, Conflit 31–59. 517  Gymnasiarch war die Bezeichnung für den Leiter eines Gymnasiums, der den Unterricht zu führen und öffentliche Veranstaltungen vor Ort zu koordinieren hatte.

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Interesse Alexandrias bei Kaiser Claudius in Rom zu verklagen518 . Dass er damit sein Leben riskierte, bestätigt der Ausgang des Verfahrens: Der Kaiser verurteilt ihn zum Tod. Über die Urteilsvollstreckung verlautet nichts, die Acta Appiani nehmen aber später Bezug auf sein Schicksal. Insgesamt fünf Fragmente werden den Acta Isidori zugeordnet519. Formal betrachtet sind es Verhördialoge mit szenischen Rahmennotizen, die (nach Art von Gerichtsprotokollen) Zeit, Ort sowie die beteiligten Personen aufführen 520 . Wenige Zwischenbemerkungen unterbrechen die Dialoge, die den Text dominieren. Dank seiner szenischen Rahmung ist von einem narrativen Text zu sprechen. Die in direkter Rede stehenden Dialoge, die jeweils von knappen Sprecherangaben (mit oder ohne verba dicendi) eingeführt werden, sind „nicht erzählend, auch nicht streng argumentativ. Sie sind vielmehr durchsetzt mit Bitten, Ermahnungen, Invektiven und rhetorischen Gestaltungsmitteln wie rhetorischen Fragen […]“521. Schon die Parteilichkeit, welche die Darstellung durchzieht, widerstreitet der Annahme, dass ein authentisches Protokoll vorliegt. Die Wiedergabe der Dialoge ahmt zwar die äußere Form der commentarii nach, überformt sie aber literarisch 522 .

Vom Ablauf des Prozesses ist zunächst so viel deutlich, dass er an zwei Tagen stattfand: Eine Sitzung des Gerichtskollegiums ging wohl schon voraus, als die Gesandten gerufen werden, um die Verschiebung des Termins auf den nächsten Tag zu erfahren523. Am zweiten Tag wird verhandelt: Isidor gegen Agrippa (Fr.  1, Zl.  6), wobei die Klage des Alexandriners gegen Agrippa, der wohl erst kurz zuvor die Stadt besucht hatte, inhaltlich nicht geklärt wird524. In seiner ersten Wortäußerung bittet Isidor zwar den Kaiser darum, „anzuhören (ἀκοῦσαι)], was [seine Heimatstadt be]drängt“ (Fr.  1, Zl.  15), aber der Kaiser verbietet es ihm, „irgendetwas, bei den Göttern, gegen seinen Freund zu sagen (Fr.  1, Zl.  21) 525. Er wirft ihm vor, er wolle Agrippa nur beseitigen (wie zuvor schon zwei seiner Freunde). Dieser Vorwurf taucht im weiteren Verlauf des Prozesses mindestens noch zweimal auf, wobei der Kontext in Fr.  2 und 3 darauf hindeutet, dass der Konflikt zwischen den Alexandrinern und den „Freunden 518 

Musurillo, Acts 124.126.128. Auf ihre kolometrische Wiedergabe sei hier verzichtet; sie findet sich samt Kommentar und Analyse der Fragmente in: Theobald, Gattungswandel 461–467  ; die Angaben im Folgenden beziehen sich auf die dortige Gliederung in Zeilen. 520  Die Nennung des Gremiums mit seinen senatorischen Mitgliedern in Fr. 1 (= BGU II 511, Z.7 f.) zeigt den offiziellen Charakter der Verhandlung an. 521  Herrmann, Strategien 158: „Man kann nur mit Einschränkungen von einem narrativen Text sprechen. Dominierend ist der Verhördialog in direkter Rede, der jeweils von einer knappen Sprecherangabe eingeleitet wird“. 522  Hartmann, Judenhass 124; ebd. 123 f. zum Einfluss von Motiven aus dem antiken Roman auf die Acta; ebd. 125 Anm.  37: „Am klarsten von allen Akten“ haben übrigens die Acta Appiani, „wiewohl sicher zeitnah aufgezeichnet, […] literarischen Charakter“. 523  Fr.  1 Zeile  1 f. 524  Hartmann, Judenhass 157 f.: „Die alexandrinischen Protagonisten erheben gegen den Kaiser keine Vorwürfe, die auf einen konkreten Prozessgegenstand bezogen sind. Im Mittelpunkt steht allein die Betonung der eigenen Würde im Konflikt mit der römischen Kaisermacht“. 525  Mehrfach spricht der Kaiser von seinen Freunden. Vgl. Joh  19,12. Nach Schnackenburg, Joh III 303, stand der „Titel ‚amicus Caesaris‘ […] allen Senatoren ex officio zu“, wurde aber „auch anderen hervorragenden Männern verliehen“, Pilatus etwa: Bammel, Φίλος 205–210. 519 

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des Kaisers“ mit den Tempeln der Stadt zu tun hat – vielleicht konkret mit den Tempeln, die dem Kaiser geweiht sind (vgl. Fr.  2, Zl.  51). Auch die Juden Alexandrias sind in den Konflikt verwickelt, denn Isidor „klagt sie an, sie wollten die ganze Welt in Aufruhr bringen“ (Fr.  4, Zl.  4 f.) 526 , und der Kaiser sei ihnen willfährig. In einem weiteren Prozessgang (Fr.  3 + 4) weitet sich das Tableau: Es tritt die Gruppe der Gesandten Alexandrias auf, aus der eingangs drei namentlich hervorgehoben werden (neben Isidor noch Tiberius Claudius Balbillus und Dionysos). Von ihnen melden sich neben Isidor im weiteren Verlauf der Verhandlung Balbillus sowie der eingangs nicht genannte Lampon zu Wort. Zudem tritt König Agrippa auf. Fr.  5 bringt das böse Ende, für Isidor wie für Lampon. Wohl wegen des Vorwurfs, „Freunde des Kaisers“ aus dem Weg geschafft zu haben, aber vor allem wegen ihrer beleidigenden Rede büßen sie mit dem Tod, der wohl schon vorher beschlossene Sache war. Zentral für die Acta ist der Topos Konfrontation von Herrscher (hier der Kaiser) und einem ohnmächtigen, aber dafür wortgewaltigen Intellektuellen. Der Intellektuelle, ein vornehmer Bürger Alexandrias, beharrt auf seiner Ehre und Würde. „In diesem Sinne handelt es sich um Bekenntnisliteratur“527. Der literarisch-fiktionale Charakter des Prozesses erinnert an den Pilatus-Prozess bei Johannes. Trotz formaler Übereinstimmungen unterscheiden sich beide Texte darin, dass Jesus allein vor seinem Richter steht. Auch führt er im Unterschied zu den alexandrinischen Gesandten keine beleidigenden Worte im Mund528 . Er strahlt menschliche wie göttliche Würde aus. Weitere Prozesserzählungen (Philostratos) Literarisierungen von Prozessprotokollen sind – über die Acta Alexandrinorum ­hinaus – des Öfteren in der kaiserzeitlichen Literatur zu finden 529. Ein Beispiel dafür sind die beiden Prozesse gegen Apollonius von Thyana, von denen Philostratos530 in seiner Biographie des Wundertäters zu erzählen weiß531. Beide Prozesse gehen gut 526  Ein geläufiger antijudaistischer Topos, der mit dem der Misanthropie zusammenhängt; vgl. Theobald, Gattungswechsel 469 Anm.  82. 527  Hartmann, Judenhass 158. 528  Auch nicht in Joh  18,20 f., obwohl der Diener, der Jesus wegen seiner Äußerung schlägt, im dies vorwirft: „Redest du so mit dem Hohepriester?“ 529  Ronconi, Art. Exitus 1265, zu den Acta Alexandrinorum: „Diese Auseinandersetzungen erinnern an die mehr oder weniger flüchtig skizzierten Wortgefechte, die Tacitus anlässlich von Prozessen wegen Majestätsverbrechen einflicht; man denkt erneut an die Existenz einer Tradition, welche von den Acta über die E(xitus) i(llustrium) v(irorum) bis zu Tacitus reicht“. Vgl. das Gespräch zwischen Kaiser Vespasian und Helvidius Priscus bei Epict, Diss  1,2,19–24 (dazu ­ Theobald, Gattungswechsel 470–474). Die Erzählung vom Prozess Alexanders gegen Gymnosophisten bei Plut, Alex  64, der auch von zwei Papypri bezeugt wird (Harker, Loyality 143 Anm.  10), verarbeitet (gegen Harker) einen anderen Topos, nämlich den der Lösung von Rätselfragen als Bedingung für eine Auslösung des Beklagten. 530  Das Wirken des Philostratos fällt in die Zeit des Kaisers Septimius Severus, dessen Gattin Julia Domna ihm den Auftrag zur Abfassung der Apollonius-Biographie erteilt hatte (vgl. V ­ itAp  1,3). 531 Zu ihnen vgl. Geffken, Martyrien 497–500; Hartmann, Judenhass 170: „die nächsten ­literarischen Parallelen für die Gerichtsszenen der Acta [Alexandrinorum] überhaupt“.

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I. Teil: Die Quellen

aus, der erste unter Nero vor dem Präfekten Tigellinus aufgrund der übermensch­ lichen Weisheit des Apollonius, der zweite unter Domitian aufgrund von dessen wunderbarer Errettung532 . Die erste Prozessschilderung (4,44) lautet533: 1

Als sich in Rom eine Epidemie ausbreitete, welche die Ärzte Katarrh nennen und die sich durch Husten und Heiserkeit äußerte, da strömte alles in die Tempel, um zu beten, dies umso mehr, als auch dem Kaiser der Hals anschwoll und seine Stimme heiser wurde. 2 Apollonios geriet außer sich angesichts der Unvernunft des Volkes, tadelte aber niemanden und warnte auch Menippos, der über die Ereignisse empört war, und hielt ihn zurück, indem er ihm riet, es den Göttern nachzusehen, wenn sie an solchen Possen Gefallen fänden. 3 Diese Äußerung wurde dem Tigellinus hinterbracht, der den Apollonios sofort vor Gericht (δικαστήριον) führen ließ, um ihn wegen Majestätsbeleidigung (ἀσεβεῖν ἐς Νέρωνα) zur Verantwor­t ung zu ziehen. 4 Hauptteil Man hatte sich gegen ihn einen Ankläger (κατήγορος) verschafft, I. Episode der schon vielen zum Verderben geworden war und zahlreiche olympische Siege dieser Art vorzuweisen hatte. Dieser Mann hielt eine Anklageschrift (γραμματεῖον) in der Hand, die er wie ein Schwert gegen Apollonios schwang, mit den Worten, sie sei ganz scharf gewetzt und werde ihn dem Verderben preisgeben. Als nun Tigellinus dieses Schriftstück auseinanderrollte, fand er darin nicht die geringste Spur einer Schrift vor, sondern sah nur ein unbeschriebenes Buch vor sich. Er kam deshalb auf den Gedanken, dass hier ein Dämon im Spiel sei. Ein ganz ähn­li­cher Vorfall soll sich später auch unter Domitian ereignet haben. 5 II. Episode Tigellinus ließ daraufhin Apollonios vor das Geheimtribunal (ἀπόρρητον δικαστήριον) führen, wo über die wichtigsten Dinge fern von der Öffentlichkeit (ἀφανῶς) Recht gesprochen wurde. 6 Erste Als sich nun alle auf sein Geheiß entfernt hatten, Frage fragte er (ἐρωτῶν) den Apollonios in befehlendem Tone, wer er sei (ὅστις εἴη). 7 Apollonios nannte seinen Vater und sein Vaterland und sagte (ἔφασκε),  dass, soweit er über die Weisheit verfüge, er sie dazu gebrauche, die Götter zu erkennen und die Menschen zu verstehen; denn einen anderen zu erkennen sei schwieriger, als sich selbst zu erkennen. 8 Zweite Wie prüfst du denn Dämonen und Gespenstererscheinungen, Frage mein lieber Apollonios? sprach Tigellinus (εἶπεν). Exposition

532  VitAp 8,1–8. Apollonius entschwindet vor Domitian, wie Phytagoras vor dem Tyrannen (Jambl, VitPyth  217). Mit dieser wunderbaren Entrückung endet das Werk, was von ferne an die Buchschlüsse der Evangelien erinnert; vgl. Petzke, Traditionen 183–187 („Das Verlassen der Welt“). 533  Übersetzung nach Mumprecht (Hg.), Philostratos 452–457 (kolometrische Zählung zusätzlich von mir).

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9 Genau gleich wie Mörder und gottlose Menschen, sagte Apollonios (ἔφη).   Dies sagte er (ἔλεγεν) aber mit einer ironischen Anspielung   auf Tigellinus selbst,   der ja Nero zu allen Ausschweifungen und Grausamkeiten   anstachelte und ermutigte. 10 Dritte Würdest du mir weissagen (μαντεύσαιο), Frage sprach jener (ἔφη), wenn ich dich darum bäte? – 11 Wie könnte ich dies, sagte Apollonios (εἶπεν), da ich ja kein Prophet bin (μὴ μάντις ὤν). – 12 Man sagt sich aber doch, sprach der Mann (ἔφη), du habest prophezeit, es werde etwas Großes geschehen und doch nicht geschehen. – 13 Das hast du ganz recht vernommen, sagte Apollonios (εἶπεν), aber schreibe dies nicht der Seherkunst (μαντικῇ), sondern der Weisheit (σοφίᾳ) zu, die Gott weisen Männern verleiht (ἣν θεὸς φαίνει σοφοῖς ἀνδράσιν). – 14 Vierte Weshalb aber fürchtest du Nero nicht? Frage sprach nun Tigellinus (ἔφη). 15  Weil Gott, der Nero furchterregend erscheinen lässt (φοβερῷ δοκεῖν), mir Furchtlosigkeit verliehen hat (κἀμοὶ δέδωκεν ἀφόβῳ εἶναι), sagte Apollonios (εἶπεν). 16 Fünfte Wie denkst du überhaupt über Nero? Frage sprach er (εἶπε). 17 Besser als ihr, sagte er (εἶπεν), denn ihr findet, es sei seiner würdig, Sänger zu sein, ich aber bin der Ansicht, das Schweigen stünde ihm besser an.534 18 Schluss Entlas- Diese Worte machten Tigellinus so betroffen (ἐπιπλαγείς), sung dass er sagte (ἔφη): Geh, aber stelle Bürgen für deine Person! 19 Da sprach Apollonius (εἶπεν): Wer aber wird denn Bürge für einen Menschen sein, den niemand fesseln kann? 20 Diese Worte klangen nun dem Tigellinus so dämonisch und übermenschlich (πρόσω ἀνθρώπου), dass er, wie wenn er sich fürchtete, gegen die Götter zu kämpfen (θεομαχεῖν), sprach (ἔφη): Geh, wohin du willst! Du bist zu stark, um von mir beherrscht werden zu können. 534 

Das Motiv „Beleidigung“ auch in den Acta Isidori (siehe oben unter 2).

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I. Teil: Die Quellen

Die Szene gliedert sich in Exposition (44,1–3), Hauptteil (44,4–17) und Schluss (44,18–20). Die Exposition erzählt vom Hintergrund des Prozesses und nennt das „Vergehen“ des Angeklagten („Majestätsbeleidigung“). Der Hauptteil enthält die Gerichtsverhandlung in zwei Teilen: den obligatorischen Auftritt des bestellten Klägers vor dem ganzen Gremium – seine Anklage läuft auf wunderbare Weise ins Leere (44,4) – und die Befragung des Angeklagten durch den Präfekten in einem Geheimtribunal (44,5–17) 535. Weil der Angeklagte alle fünf ihm gestellten Fragen überlegen, ja auf „dämonische und übermenschliche“ Weise beantwortet (44,20), entlässt ihn der Präfekt, getrieben von numinoser Scheu. Das Verhör selbst besteht aus knappen Wortwechseln. Die Redeäußerungen werden jeweils mit „er sagte“ eingeführt. An einer Stelle fügt der Autor der Antwort des Apollonius einen kurzen Erzählerkommentar hinzu (44,9).

Inhaltlich ist bemerkenswert, wie die rhetorische Überlegenheit des Apollonios, der die Szene als Sieger verlässt, begründet wird: als Ausdruck seiner ihm von den Göttern verliehenen Weisheit. Diese macht ihn „furchtlos“ (ἄφοβος), wie es ausdrücklich heißt, wohingegen Nero nur „furchterregend erscheint“ (44,15). Vroni Mumprecht merkt an: „Wenn wir dieser Gerichtsszene und auch der Szene in 1,21536 diejenige des vierten Evangeliums gegenüberstellen, können wir eine gewisse stilistische und literarische Ähnlichkeit kaum übersehen. Wie Jesus sich nicht vor Pilatus fürchtet, so hat Apollonios vor Nero keine Angst. Und es ist auch aus Scheu vor ihrer Göttlichkeit, dass die beiden freigelassen werden“537. Letzteres stimmt zwar nicht, weil Pilatus sich am Ende den jüdischen Autoritäten willfährig zeigt (Joh  19,16a.b). Aber der Präfekt gibt sich nach dem zweiten Verhör immerhin entschlossen, Jesus freizugeben (Joh  19,12a), getrieben wie Tigellinus von dämonischer Frucht (Joh  19,8). Beide Inszenierungen bedienen sich auch der kunstvoll literarisierten Gattung „Gerichtsprotokoll“ und lassen sich leiten vom Topos „Konfrontation eines Herrschers mit einem (gottgesandten) Weisen“.

535  Damit lässt sich der szenische Wechsel im joh. Pilatus-Prozess vergleichen: Die Episoden „Der Präfekt im Gespräch mit den jüdischen Anklägern“ wechseln mit den Verhören Jesu unter vier Augen im Inneren des Prätoriums ab; Demandt, Pontius Pilatus 78: „Die Gegenüberstellung der Exponenten zweier Welten war von hohem literarischem Reiz, sie diente der Kennzeichnung der unvereinbaren Positionen, die dennoch beide in die göttliche Ordnung der Menschendinge gehören. Ähnliche Begegnungen fingiert die antike Literatur zwischen dem weisen Solon und dem reichen Krösus, zwischen Alexander dem Großen und dem todwunden Darius, zwischen dem Kaiser Domitian und dem Wundermann Apollonius von Tyana“. 536  VitAp  1,21 bietet keine Prozess-Szene, aber ein Verhör des Apollonius durch einen Satrapen an der Grenze zu Babylon, bestehend aus kurzen Redewechseln. Die erste Frage, die der Satrap Apollonius stellt – verwirrt durch den von ihm ausgehenden Glanz – lautet: „Woher bist du uns gesandt (πόθεν ἡμῖν ἐπιπεμφθεὶς ἥκεις)?“, die zweite: „Wer er denn sei (ὅστις ὤν), dass er des Königs Land besuchen wolle?“, worauf er zur Antwort erhält: „Die ganze Erde gehört mir, und ich bin berechtigt, sie zu durchwandern“. Nach einem weiteren Wortwechsel fragt der Satrap erneut: „Wer bist du denn (τίς εἶ)?“ 537  Mumprecht, Philostratos 1075 Anm.  109.

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1.5.2.7 Martyrien von Propheten und Rabbinen Die hier zu besprechenden Texte538 unterscheiden sich derart nach Herkunft, Form und Inhalt, dass Fragezeichen hinter ihre Subsumierung unter das (christlich geprägte) Lemma „Märtyrererzählung“ angebracht sind. Das gilt vor allem für die erste Gruppe: „Martyrien von Propheten“. Weil Erzählungen vom Tod berühmter Männer durch den Typ ihres jeweiligen Protagonisten geprägt sind539, empfiehlt es sich, die Texte nach Prophetenerzählungen einerseits und Geschichten jüdischer Tora-Lehrer andererseits zu unterscheiden. Martyrien von Propheten So verbreitet der Topos von der Verfolgung und Tötung der Propheten im Frühjudentum und im ältesten Christentum ist540 , so wenig ist er durch konkrete Erzähltraditionen des Alten Testaments gedeckt541. Legenden von der Ermordung von Propheten gibt es erst aus später hellenistischer Zeit. Von den dreiundzwanzig Propheten, zu deren Leben die in ihrem Kernbestand möglicherweise aus dem 1.  Jh.  v.  Chr. stammenden Vitae Prophetarum Basiswissen zusammentragen, erleiden sechs einen gewalttätigen Tod. „Die Martyrien werden mit knappen Worten und ohne Ausdeutung berichtet“542 . Hebr 11,37 („sie wurden gesteinigt, zersägt, starben den Tod durch das Schwert“) nimmt Bezug auf derartige Traditionen, wobei das seltene „zersägt“ auf die Überlieferung vom Zersägen des Propheten Jesaja durch König Manasse anspielen dürfte. Diese Überlieferung wird auch in der Erzählung vom Martyrium des Jesaja verarbeitet, mit der die frühchristliche Apokalypse „Die Himmelfahrt des Jesaja“ einsetzt (AscIsa  1–5) und auf die sie nach den „Gesichten“ des Jesaja bei seiner „Himmelfahrt“ (AscIsa  6 –11), den Rahmen schließend, noch einmal kurz zurückkommt (AscIsa  11,41 f.). Lange Zeit war es Konsens der Forschung, dass die wohl aus dem 2.  Jh.  n.Chr. stammende christliche Apokalypse in Kap.  1–5 eine jüdische Martyriumserzählung verarbeitet. Ältere Studien führen den Text deshalb als Beispiel der Gattung „Jüdische Martyrien“543 auf. Aus AscIsa  1–5 eine vorgegebene Erzählung rekonstruieren zu können, wird aber inzwischen in Zweifel gezogen 544. Die Frage muss hier nicht entschieden werden, weil 538  Surkau, Martyrien 34–57; Goldberg, Martyrium; Dormeyer, Passion 39  ff.; 273 ff.; Holtz, Herrscher. – Texte bei van Henten/Avemarie, Martyrdom; vgl. auch Lichtenberger, Martyrium 70 f. 539  Vgl. oben 1.5.1 unter (5). 540  Steck, Israel. Im NT vgl. Mt  23,34 f.; Lk  13,24; Apg  7,52; 1Thess  2 ,15. 541  Vgl. etwa Jer  26,23 (Ermordung des Urija). 542  Schwemer, Vitae 551. 543  Surkau, Martyrien 30–33; Berger, Gattungen 1255 Anm.  2 26. AscIsa  3,13–4,22 ist in jedem Fall christlich (Jesaja sagt den Untergang Satans und Jesu irdisches Wirken voraus); Kap.  1 ist seit langem umstritten (Charles, Apocrypha XII, etwa schied 1,2b–6a als spätere Hinzufügung aus). Hammershaimb, Martyrium, bietet eine deutsche Übersetzung des nur im Äthiopischen ganz erhaltenen Teils AscIsa  1–5 (= MartJes) einschließlich Kap.  1; die von ihm postulierte hebräische Vorlage datiert er in das letzte Drittel des 1.  Jh.s. 544  Vgl. die Darstellung der jüngeren Forschungsgeschichte bei Dochhorn, Ascensio 6–9;

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I. Teil: Die Quellen

die Erzählung – auch unabhängig von ihrer Herkunft und Genese – gattungs­ kritisch aufschlussreich ist. (a) Das Martyrium des Jesaja (AscIsa  1–5*) Die in sieben Episoden gegliederte Erzählung lebt von der Konfrontation des Königs Manasse, Sohn des Hiskija, und dem Propheten Jesaja. Auslöser des Geschehens ist dessen Unheilsprophetie, die er schon eingangs in Anwesenheit des Hiskija über dessen Sohn Manasse spricht: „So wahr Gott lebt […], er wird viele in Jerusalem und Juda dazu bringen, den rechten Glauben zu verlassen, und Beliar wird in Manasse wohnen, ich aber werde durch seine Hände zersägt werden“ (1,7.9). Die zweite Episode erzählt vom religiösen und moralischen Niedergang Jerusalems unter Manasse, die dritte vom Exil des Jesaja auf einem einsamen Berg in der Nähe Bethlehems, die vierte vom Auftreten eines Lügenpropheten mit Namen Balkira, die fünfte und sechste von dessen Agitation gegen Jesaja, dessen Rückzugsort er entdeckt und den er vor Manasse anklagt: „Jesaja und die, die bei ihm sind, weissagen gegen Jerusalem und gegen die Städte Judas, dass sie verwüstet werden sollen, […] und auch gegen dich, Herr und König, dass du mit Haken und eisernen Ketten gefesselt fortgehen sollst“ (4,6). „[…] So brachte er viele Anklagen gegen Jesaja und die Propheten bei Manasse vor“ (4,10). Die siebte und letzte Episode erzählt vom Martyrium des Jesaja, seiner Verspottung durch die Lügenpropheten, dem Versuch, ihn von seiner Prophetie abzubringen, und seinen letzten Worten an Balkira: „Ausgestoßen und verflucht seist du und alle deine Mächte und dein ganzes Haus. Denn du kannst nicht mehr als die Haut meines Fleisches nehmen“ (5,9 f.); es folgen seine Worte an seine Mitpropheten: „Geht in die Gegend von Tyrus und Sidon, denn für mich allein hat Gott den Becher gemischt 545. Und Jesaja schrie weder, noch weinte er, als er zersägt wurde, sondern sein Mund redete mit dem Heiligen Geist, bis er in zwei Teile zersägt war“ (5,13 f.). (b) Das Martyrium des Täufers Johannes (Mk  6 ,17–29) Die Geschichte hat der älteste Evangelist offenkundig aus der Überlieferung, ohne dass sich sagen ließe, wo er sie gehört oder gelesen hat. Jedenfalls ist es keine „christliche“ Geschichte, sondern eine galiläisch-jüdische, die möglicherweise aus Täuferkreisen stammt. In der Bestimmung ihrer Textsorte ist sich die Forschung uneins. Handelt es sich um eine „Täuferlegende“ (Rudolf Bultmann) 546 , eine „Anekdote“ über Herodes Antipas (Martin ­Dibelius)547, eine „Skandalgeschichte“ vom Hof des Herodes (Dieter Lührmann)548 oder ist zuletzt Schwemer, Zersägung. Teils wird bei einer möglichen Vorlage mit genuin christlicher Herkunft gerechnet. 545  Vgl. Mt  20,22; Mk  10,38; Lk  2 2,42 par. 546  Bultmann, Geschichte 328. 547  Dibelius, Überlieferung 79 f. 548  Lührmann, Mk 114.

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sie im Kern eine „Martyriumserzählung“ (Rudolf Pesch/Joachim Gnilka)549? Die Antwort hängt davon ab, aus welcher Perspektive sie gelesen wird. Mit allerlei volkstümlichen Motiven angereichert 550 , besitzt sie einen spezifischen Charakter. An den Martyriumserzählungen von 2Makk darf sie nicht gemessen werden. Die Suche nach einer einfachen und reinen Form, die methodisch grundsätzlich problematisch ist, dürfte sich erst recht bei den „Erzählungen vom Tod berühmter Männer“ als sinnlos erweisen, da diese durchweg biographische Individualität aufweisen und viel weniger typisiert sind als z. B. Exorzismen oder Therapien. Die Annahme, „dass dem ausführlichen Bericht eine knappe Überlieferung zugrunde liegt, die den Anforderungen des jüdischen Martyriums entspricht“551, bleibt problematisch. Die Erzählung ist in der Gestalt zu interpretieren, in der sie überliefert ist.

Aufschlussreich ist die Figurenkonstellation, die Konfrontation von Prophet und „König“552 . Dass Johannes Prophet ist, sagt die Erzählung nicht553, setzt es bei der Darstellung seines Auftretens aber voraus: Wer den König zur Rechenschaft zieht und ihn der Gesetzesübertretung anklagt, agiert als Prophet; seine freimütige Anklage: „Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu haben“ (Mk  6 ,18; vgl. Ex  20,17 und Lev  18,16; 20,21), ist der Auslöser der Geschichte und führt zu seinem Tod. Die Begegnung von „König“ und Prophet besitzt noch eine andere Seite. Als Herodes Johannes auf Veranlassung der Herodias „in Gewahrsam nimmt“, auch um ihn gegen deren Tötungsabsicht zu schützen, hört er ihn, den er für einen „heiligen und gerechten Mann“ hält, „zuweilen gerne an“ (Mk 6,20). Numinose Furcht vor ihm erfasst ihn. „König“ und Weiser begegnen sich 554. Trotz der Sympathien des Herodes für seinen Gefangenen vermag er ihn aber am Ende nicht vor der Rachsucht der Herodias zu bewahren. Verstrickt in seinen Eid, den er ihrer Tochter schwur555 , geht die Geschichte für den Propheten tödlich aus. 549 J.

228.

Gnilka, Martyrium; Pesch, Mk I 338 f. Vgl. den Überblick bei Hartmann, Tod 221–

550 Zu nennen sind vor allem das Motiv „Die in ihrer Ehre verletzte Herrscherfrau“ und „Freistellung eines Wunsches oder einer Bitte“; vgl. die Motivkritik und -geschichte bei Hartmann, Tod 170–189. 551 J. Gnilka, Mk I 246; vgl. ders., Martyrium 84–87; Überlieferung: V.17 f.27b und V.29 (mit Fragezeichen). 552  Die Bezeichnung des Herodes als König (Mk 6,14.22.25–27) fällt auf; sein richtiger Titel lautete „Tetrarch“ (Mt 14,1; Lk 3,1; 9,7). Herodes bemühte sich wohl um den Königs-Titel, aber das wurde ihm zum Verhängnis (Jos, Ant 18,240–246). 553  Lührmann, Mk 115: Der Text zeige kein Interesse an Zügen einer Martyriumserzählung, „auch nicht an der deuteronomistischen Vorstellung vom Tod der Propheten. In der Geschichte erscheint Johannes nicht einmal als Prophet (vgl. 20), nur im Rahmen 14–16 sowie in 1,1–8 und 9,11–13.“ 554 J. Gnilka, Mk I 250: „Der Gottesmann, Profet oder Philosoph am Hof eines Fürsten, den Neugier, Staunen oder Furcht leiten, sich mit seinem sonderbaren Gast oder Gefangenen zu unterhalten, ist […] ein beliebtes Motiv in Geschichten der vorliegenden Art (vgl. Apg 24,24–26: Paulus in der Hand des Statthalters Felix)“ (mit Verweis auf Bonner, Note 41–44: dort weiteres Material); vgl. auch Hartmann, Tod 170–175 („Eine prophetische bzw. philosophische Gestalt tritt gegen den König auf“). 555  Mk 6,23: „Was du von mir erbittest, will ich dir geben, bis zur Hälfte meines Königreiches“; vgl. Est  5,3; 7,2. Zu weiteren Anspielungen auf Ester Pesch, Mk I 339.

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I. Teil: Die Quellen

Rudolf Pesch zufolge löst die Konfrontation des Johannes mit dem „König“ und seiner unrechtmäßigen Frau noch eine weitere Assoziation aus: Sie erinnert an den Zusammenstoß des Elija mit Ahab und Isebel: „Wie Elija dem Ahab wegen Isebels Tat (1Kön  21; vgl. MartJes  2,14–16) und Joram 2Chr  21,12 ff.) entgegentrat, tritt Johannes Herodes wegen der Heirat mit Herodias entgegen, die ihm, wie Isebel dem Elija (1Kön 19,2), nach dem Leben trachtet“556 . Joachim Gnilka hält eine Elija-Typologie nicht für zwingend, will sie aber auch nicht ausschließen 557.

Von den Makkabäer-Martyrien unterscheidet sich die Erzählung darin, dass sie die Hinrichtung des Johannes weder ausmalt noch seinem Tod einen theologischen Sinn zuspricht558 . Mit ihrer Beisetzungsnotiz V.29 endet sie denkbar schlicht: „Und als seine Jünger (das) hörten, kamen sie und nahmen seinen Leichnam und setzten ihn in einem Grab bei“559. (c) Vom Tod des Propheten Jesus ben Ananias (Josephus, Bell  6 ,300–309) Von einem Martyrium im strengen Sinn kann bei dieser Geschichte, die sich 62  n.  Chr. in Jerusalem zutrug, nicht die Rede sein 560 . „Die Archonten“ Jerusalems verhaften zwar Jesus ben Ananias wegen seiner Unheilsprophetie gegen Stadt und Tempel und überstellen ihn nach seinem Verhör dem römischen Statthalter. Der versucht ihn unter Geißelhieben zu verhören, lässt ihn aber laufen, weil er ihn für einen geistesgestörten Einzelgänger hält. Sein Tod ist auch kein ehrenhafter Tod, sondern der Zufall scheint die Regie zu führen: Als er 69 n. Chr. von den Mauern Jerusalems herab immer noch sein Weh-Geschrei ausstößt, wird er von einem Stein aus einer römischen Wurfmaschine tödlich getroffen. Auf den ersten Blick ein tragischer Unfall, ist sein Tod nach Darstellung des Josephus aber mehr: die Erfüllung der Unheilsprophetie genau zu dem Zeitpunkt, da die römische Belagerung der Stadt einsetzt, ein Geschick, das den Untergang von Tempel und Stadt im Tod des Propheten vorwegnimmt. Als sich der „Warnruf“ Gottes (Bell  6 ,288) zu erfüllen beginnt, mit dem Jesus ben Ananias eins geworden war, entfällt jeder Grund für ihn weiter zu leben. Zwar liegt keine typische Martyriumserzählung vor, aber doch die Geschichte eines leidenden Propheten. Als Unheilsprophet steht Jesus ben Ananias in der Tra556 

Pesch, Mk I 339: Gnilka, Mk I 252: „Weil Markus im Täufer die Verheißung von der Wiederkunft des Elija erfüllt sieht, kann man vermuten, dass er eine Verbindung zwischen Elija und Jezabel einerseits und Johannes und Herodias anderseits erblickte, sicher ist dies aber nicht“; ebd. 249: „[D]er Auftritt vor Königen“ ist „ein beliebtes Motiv im jüdischen Martyrium“, auch sind „die Anlässe der Schelte bei Elija und beim Täufer verschieden“; Jezabel gelingt es nicht, ihren Plan durchzuführen. 558 J. Gnilka, Mk I 246: „Der Tod des Täufers wirkt nahezu sinnlos“. Dazu passt, dass ein verbum ultimum fehlt. 559  Die Schlichtheit dieser Schlussnotiz gewinnt Sinn im mkn. Makrokontext: Im Geschick des Täufers bildet sich das Jesu ab. – Die abschließende Notiz von der Beisetzung des Johannes hat ihre Parallelen in den Vitae Prophetarum (schon deren Titel enthält das Element „und wo sie begraben liegen“, jeweils mit Ortsangabe versehen) (vgl. oben auf S. 105 Anm. 273). 560  Der Text unten in III.  1.7. 557 J.

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dition des Jeremia, dessen Worte er sich zu eigen macht. Seine Prophetie, hinter der er als Person zurücktritt (Bell  6 ,302.305), hat so sehr von ihm Besitz ergriffen, dass sie ihn am Ende auch umbringt561. So unterschiedlich die vorgestellten Erzählungen sind, alle drei werden von einer Unheilsprophetie (Jesaja, Jesus ben Ananias) bzw. einem prophetischen Scheltwort (Johannes der Täufer) eröffnet. Es ist jedes Mal derart markant, dass es als ursächlich für den Tod des Propheten erscheint bzw. sein Geschick ins Rollen bringt und zu seinem Tod führt. Die Konfrontation der drei Propheten mit den jeweils Herrschenden – „Könige“ (Martyrium des Jesaja und des Johannes) bzw. „Archonten“ (Jesus ben Ananias) – treibt die Handlung voran. Von daher fällt Licht auch auf die neutestamentlichen Passionserzählungen, die mit der Unheilsprophetie Jesu gegen den Tempel einen vergleichbaren Dreh- und Angelpunkt besitzen, der zur Konfrontation mit den Herrschenden führt. Ihrem Typ nach sind es gleichfalls Erzählungen vom Tod eines Propheten. Martyrien von Rabbinen Die Erzählungen bieten Besonderheiten, die eine Beschäftigung mit ihnen nicht leichtmachen 562: (a) Das betrifft zunächst den Umfang des Materials: Die jüdische Traditionsliteratur bietet aus früher Zeit nur wenige „Märtyrererzählungen“563. Sie sind mit den Namen R. Jose b. Joezer, R. Aqiva, R. Jehuda b. Baba und R. Ḥanina b. Teradyon564 verbunden, von denen die drei zuletzt Genannten ins Umfeld des Bar-Kochba-Aufstands gegen Rom gehören 565. (b) Eine weitere Einschränkung betrifft den Überlieferungszustand der Erzählungen: Sie stehen nicht in sich selbst, sondern dienen dem jeweiligen Tora-Diskurs in Talmud oder Midrasch mit der Folge, dass sie teils unvollständig sind, teils fragmentiert in einzelne Episoden 566 . Auch kennen sie unterschiedliche Fassungen, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen. Sie wurden nicht ad hoc gebildet, sondern entstammen der Tradition. Welchen „Sitz im Leben“ sie ursprünglich hatten, gibt das spärliche Material nicht preis. „[S]o wie sie 561  Bell  6 ,309: „er gab, jene Weherufe noch auf den Lippen, seinen Geist auf (τὴν ψυχὴν ἀφῆκε)“. Die Prophetie, zu der er am Ende ein „Wehe auch mir!“ hinzufügt, wird zu seinem verbum ultimum. Offenkundig weiß Josephus um die Bedeutung dieses für Erzählungen vom Tod berühmter Männer charakteristischen Gattungselements. 562  Surkau, Martyrien 34–51; Goldberg, Martyrium. 563  Goldberg, Martyrium 46 f.; vgl. Holtz, Herrscher 185–189 (zu den Traditionen tannaitischer Herkunft); Herrmann, Strategien 93–107. 564  R. Jose b. Joezer: BerR  65,22 (Strack/Stemberger, Einleitung 72) – R. Aqiva: bBer  61b; yBer 9,7 (14b); MMish 9,2; vgl. auch bEr 21b – R. Jehuda b. Baba (Zeitgenosse Aqibas und einer seiner älteren Schüler): bSan  13b  f.; bAS  8b – R. Ḥanina b. Teradyon (Zeitgenosse Aqibas, durch seine Tochter Berurja Schwiegervater des R. Meir): bAS  17b–18a (Text bei Holtz 207); SifDev  32,4 (§  307); Sem 8; Kalla (Ende). 565  Beschreibungen der Hinrichtungen dieser drei auch im späten „Midrasch von den Zehn Märtyrern“ (Midrasch Elle Ezkera): Strack/Stemberger, Einleitung 303 f.; Reeg, Geschichte; dazu ders., Bild 255–273; junge Texte bei Surkau, Martyrien 51–57 (§  5: Texte aus dem jungen Midrasch). 566  Surkau, Martyrien 45, zu den beiden Erzählungen über R. Jehuda ben Baba: „Wir vermissen vor allem einen pointierten Schluss“.

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I. Teil: Die Quellen

vorliegen, haben sie nur einen Sitz in der Literatur“567. Daraus folgt: Die Ursprungsform einer Martyriumserzählung gibt es nicht. Die Varianten der Erzählungen verdanken sich einem Repertoire von Motiven und Topoi, dessen konkrete literarische Realisierung von den Argumentationszielen der übergeordneten Kontexte abhängt.

Diese Grundeinsichten seien an einem repräsentativen Beispiel veranschaulicht, der Erzählung vom Martyrium des Rabbi Aqiva nach ihrer ältesten überlieferten Gestalt in bBer  61b568: Martyrium des Rabbi Aqiva […] Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben (Dtn 6,5) 569. Es wird gelehrt: (1) R. Eliezer sagt: Wenn es heißt: mit deiner ganzen Seele, warum heißt es (dann auch): mit deinem ganzen Vermögen? Und wenn es heißt: mit deinem ganzen Vermögen, warum heißt es (dann auch): mit deiner ganzen Seele? Allein: wenn du (da) einen Menschen hast, dem sein Leib lieber ist als sein Geld, deshalb heißt es: mit deiner ganzen Seele. Und wenn du (da) einen Menschen hast, dem sein Geld lieber ist als sein Leib, deshalb heißt es: mit deinem ganzen Vermögen. (2)

R. Aqiva sagt: Mit deiner ganzen Seele: sogar wenn er deine Seele nimmt.

(3)

Die Rabbanan lehrten: Einmal erließ das frevelhafte Reich (einen Erlass), dass sich Israel nicht mit der Tora beschäftigen dürfe [und dass jeder, der sich mit der Tora beschäftigt, mit dem Schwert durchbohrt werde. (Was tat R. Aqiva?) Er ging hin und versammelte Versammlungen in der Öffentlichkeit und beschäftigte sich mit der Tora].

(4) (5)

Kam Pappos b. Yehuda und fand Aqiva, der Versammlungen versammelte in der Öffentlichkeit und sich mit der Tora beschäftigte. Er sprach zu ihm: Aqiva, fürchtest du dich nicht vor dem Reich?!

567  Goldberg, Martyrium 47; er hält es für möglich, dass die Erzählungen aus einer verloren gegangenen Sammlung, einer Art „Martyrologium“, stammen. 568  Übersetzung nach Goldberg, Martyrium ebd. 4–7; textlich Unsicheres steht in eckigen Klammern, Gliederungsmerkmale sind hinzugefügt, die narrativen Elemente sind fett hervorgehoben; vgl. Schäfer, R. Aqiva 104; Surkau, Martyrien 36–44. 569  Lemma am Schluss des Traktats Berakhot der Mischna, dem die folgende Gemara des Talmuds zugeordnet ist. Zur Auslegung des Verses bei den Rabbinen vgl. Börner-Klein, Herz 203–215.

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(6) Er sprach zu ihm:  [Bist du der Pappos b. Yehuda, und man sagt über dich, dass du weise bist? Du bist nicht weise, sondern dumm]. Ich will dir ein Gleichnis machen. Was ist dieser Sache ähnlich? Ein Fuchs, der am Rande des Flusses ging. Er sah Fische, die von Ort zu Ort fliehen. Er sprach zu ihnen: Warum flieht ihr? Sie sprachen zu ihm: Wegen der Netze, die die Menschen über uns bringen. Er sprach zu ihnen: Gefällt es euch, dass ihr aufs Trockene heraufkommt und dass ihr und ich beieinander wohnen, wie meine Väter mit euren Vätern wohnten? Sie sprachen zu ihm: Bist du es, den man den Klügsten unter den Tieren nennt? Nicht klug bist du, sondern dumm bist du! Wenn wir uns schon am Ort unseres Lebens fürchten müssen, am Ort unseres Todes um wieviel mehr! (7) Auch wir: Jetzt, da wir sitzen und uns mit der Tora beschäftigen, in der geschrieben ist: Ja, sie ist dein Leben und Länge deiner Tage (Dtn 30,20); (und es ergeht uns) so. Wenn wir gehen und von ihr ablassen, um wieviel mehr! (8) (9)

Sie sagten: Es waren nur wenige Tage, bis sie ihn ergriffen, den R. Aqiva, und ihn ins Gefängnis sperrten. Und sie ergriffen Pappos b. Yehuda und sperrten ihn bei ihm ein. Er sprach zu ihm: Pappos, was hat dich hierher gebracht? Er sprach zu ihm: Selig bist du, R. Aqiva, dass du wegen der Worte der Tora ergriffen wurdest, Wehe dem Pappos, dass er wegen nichtiger Dinge ergriffen wurde!

(10)

Sie sagten: Die Stunde, da sie R. Aqiva zur Hinrichtung hinausführten, das war die Zeit der Rezitation des Schma.

(11)

Und sie kämmten sein Fleisch mit Kämmen aus Eisen.

(12)

Und er nahm das ‚Joch des Himmelreiches‘ auf sich570 .

(13) (14)

(Da) sprachen seine Schüler zu ihm: Unser Meister, bis hierher? Er sprach zu ihnen: All meine Tage quälte ich mich wegen dieses Schriftverses mit deiner ganzen Seele: Sogar, wenn er deinen Lebensodem nimmt. Ich sprach: wann kommt es mir zu Händen, dass ich es erfüllen kann? Und jetzt, da es mir zu Händen kommt, sollte ich es nicht erfüllen?!

(15)571 [Sie sagten: Und er richtete seinen Geist (auf seine Worte)]572 . 570 

Feststehender Ausdruck für die Rezitation des Schma. Ab hier eine von Goldberg abweichende Zählung der Einheiten, um den Einschnitt mit der Formel: „Sie [sc. die Rabbanan] sagten“ zu markieren. 572  D.h., er konzentrierte sich ganz auf die Rezitation; vgl. yBer 9,7 (14b): „Und nun, da (die Zeit) kommt ‚mit meiner ganzen Seele‘, und es ist die Zeit der Rezitation des Schma, wurde mein Sinn nicht davon abgelenkt“. 571 

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I. Teil: Die Quellen

(16)

Und er zog (die Rezitation) hin beim (Worte) einzig, bis sein Lebensodem ausging bei einzig.

(17)

Da kam eine Stimme [vom Himmel] und sprach: Selig bist du, Rabbi Aqiva, dass dein Lebensodem bei einzig ausging!

(18)

Die Dienstengel sprachen vor dem Heiligen, gesegnet sei Er: Dies die Tora und dies ihr Lohn?! Von den Leuten deiner Hand, Herr, den Leuten (dieser Welt usw., Ps 17,14). Er sprach zu ihnen: Ihr Anteil ist im Leben!

(19)

Da kam eine Stimme [vom Himmel] und sprach: Selig bist du, Rabbi Aqiva, Denn du bist bestimmt zum Leben der kommenden Welt.

(a) Die Erzählung (kenntlich im Text durch fette Hervorhebung) ist einer Debatte über Dtn  6 ,5 zugeordnet 573, genauer: der Deutung des Verses durch Rabbi Aqiva mit der Pointe, dass Gott lieben „mit ganzer Seele“ heißt, selbst im Sterben an ihm festzuhalten (2: „sogar wenn er deine Seele nimmt“). Die Erzählung nimmt darauf später Bezug, wenn R. Aqiva in der „Stunde“ seines Todes das Schma (Dtn  6 ,4 f. etc.) zitiert, um die ihn ein Leben lang beschäftigende Auslegung von Dtn  6 ,5 mit seinem Tod zu besiegeln (10–18). (b) Klimax der Todesszene ist die Rezitation des Schma, die „Übernahme des ‚Jochs des Himmelreichs‘“ (12). Bestätigt wird dies durch die Wiederaufnahme dieses Themas in 15 f. im Anschluss an das eingeschobene Lehrer-Schüler-Gespräch (13 f.), welches die Erzählung in die übergeordnete Debatte einbindet. Der „Überschuss“ der Erzählung ist Indiz ihres Überlieferungscharakters. (c) Die narrativen Elemente sind durchweg der die Tradition legitimierenden Autorität der „Rabbanan“ zugeordnet. Die Formel „Die Rabbanan lehrten“ (3) bzw. „sie sagten“ (8.10.15) steht jeweils am Eingang der einzelnen Episoden. Zusammen ergeben diese eine fortlaufende Geschichte, die mit einer Situationsangabe (römischer Erlass und Verstoß des Rabbi dagegen) einsetzt (3), mit der Gefangennahme von Aqiva und Rabbi Pappos b. Yehuda fortfährt (8), vom Sterben des Aqiva erzählt und mit zwei Seligpreisungen schließt, die vom Himmel her erschallen (15–17.19). Die erste Seligpreisung (17) ist genuiner Bestandteil der Sterbe-Szene, denn sie knüpft an das voranstehende narrative Element (16) „einzig“ unmittelbar an 574. (d) Der Bezug der Erzählung zur Zeitgeschichte bleibt schemenhaft: Nur vom „frevelhaften Reich“ ist die Rede575 , eine genaue zeitliche Einordnung unterbleibt („einmal“, „wenige Tage“, „die Stunde“). Spezifische Ortsangaben fehlen. Es geht nicht vorrangig um das „historische Ereignis“, von dem die rabbinischen Quellen kaum etwas preisgeben 576 , sondern um die Lehren, die zu ziehen sind. Die historische Figur des Aqiva scheint austauschbar, sie ist exemplum für den Diskurs577. 573  Anders in MMish 9,2 („die Weisheit hat ihren Tisch gedeckt“), wo die Erzählung dem übergeordneten Vers entsprechend dazu dient zu zeigen, dass die Tora dem Frommen, der für sie stirbt, den Tisch in der himmlischen „Herberge“ bereitet. 574  Die zweite Stimme vom Himmel (18) thematisiert – über das Sterben des R. Aqiva hinaus – auch seine Anteilhabe am ewigen Leben; sie könnte hinzugewachsen sein. 575  Es steht in Opposition zum „Himmelreich“ (12). 576  Aqiva kam während der Hadrianischen Verfolgung im Zusammenhang mit dem Bar Kochba-Aufstand ums Leben, vgl. Schäfer, Geschichte 159–175; Goldberg, Martyrium. 577  Goldberg, Martyrium 36: „[L]iterarisch sind die Handelnden […] nur Exempla. Aber sie

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(e) Insgesamt sind es vier Lehrgespräche in Form von Frage und Antwort, denen die narrativen Passagen zugeordnet sind bzw. auf die hin sie erzählt sind: zwei Gespräche unter Lehrern (5–7/9), ein weiteres zwischen Lehrer und Schüler (13–14) und ein letztes im Himmel zwischen den Dienstengeln und Gott (18). Findet der erste Wortwechsel zwischen Aqiva und Pappos zu einem Zeitpunkt statt, da ersterer noch unbehelligt lehrt – auf dessen Frage, woher er den Mut nehme, gegen den römischen Erlass zu verstoßen, antwortet Aqiva mit einer Fabel und deren Auslegung –, so findet der zweite im Gefängnis statt. Pointe ist die Seligpreisung des Aqiva durch Pappos. Es geht durchweg um die Befassung mit der Tora, die von nichts gestört werden darf, selbst von drohender Lebensgefahr nicht. (f) Die Überlieferung des Martyriums des R. Aqiva ist reich an Varianten. Der eine Zweig enthält Anekdoten 578 , Namen und Zeitangaben 579, der andere weicht davon ab. Derselbe Stoff kann in unterschiedlichen Formen dargeboten werden: das eine Mal als Lehrer-Schüler-Gespräch, das andere Mal als „Gespräch eines Herrschers mit einem Weisen“: Was R. Aqiva in bBer  61b vor seinem Sterben mit seinen Schülern bespricht (13 f.), ist in yBer  9,7 (14b) in ein Gespräch mit dem Statthalter „Turnuns Rufus, dem Frevler“, gekleidet 580 . Die Überlieferung unterliegt einem internen Gattungswandel.

Drei Einsichten aus einer Beschäftigung mit rabbinischen Martyriumserzählungen sind geeignet, Licht auf die Passionserzählungen zu werfen 581: (1) Sie unterscheiden sich von diesen darin, dass es Erzählungen von Tora-Lehrern (nicht von Propheten) sind582: Sie sterben, wie die makkabäischen Märtyrer (2Makk  7,37), wegen ihres unerschrockenen Einsatzes für Gottes Weisungen, wofür sie himmlischen Lohn erhalten, was am Ende in einzelnen Fällen auch aus-

werden mit historischen Personen identifiziert, sodass die Bereiche des historisch Faktionalen und des literarisch Fiktionalen sich überschneiden“. 578  Die späte Variante MMish 9,2 (par. bEr 21b) bietet eine Anekdote zum Händewaschen im Gefängnis (R. Aqiba verzichtet lieber auf das Trinken als auf das Händewaschen) und eine zu seinem Leichnam, der im Gefängnis bewacht, aber von Elija geholt und in einer Höhle bestattet wird etc. (Surkau, Martyrien 38 f.) 579  Bemerkenswert ist die Identifizierung von Aqivas Todestag in MMish 9,2 mit dem Versöhnungstag; Surkau, Martyrien 41: „Wer an diesem hochheiligen Tag stirbt, dessen Tod hat auch besondere Bedeutung; er weist den Menschen, dem dies geschieht, als einen bevorzugten Frommen aus“. 580  Text bei Holtz, Herrscher 191; vgl. Schäfer, R. Aqiva 110; Herrmann, Strategien 100– 102. In der Parallele MMish 9,2 heißt der Statthalter Tifus Annius Rufus. – Der Topos Herrscher und Weiser im Gespräch auch in der Erzählung vom Martyrium des Rabbi Ḥanina b. Teradyon (bAS  17b–18a). 581  Dormeyer, Überlegungen 232: „Die frühjüdische Personallegende hat […] Ähnlichkeiten zur Passionsgeschichte“. Allerdings ist auf den Unterschied in der Typik zu achten: hier geht es um Tora-Lehrer, dort um den Propheten Jesus von Nazareth. 582  Holtz, Herrscher 311: „Der Rekurs auf die Schrift“ stellt „in den rabbinischen Texten […] eine Konstante dar“. Es müssen nicht immer Toralehrer sein, vgl. etwa die Erzählung von den sieben Brüdern, die unter einem anonymen Kaiser um ihrer Toratreue willen hingerichtet werden: KlglR zu 1,16.– Vgl. auch Jos, Bell  1,648–655, die Erzählung von der Verbrennung zweier Gesetzeslehrer durch Herodes, die, entschlossen, „für das Gesetz der Väter zu sterben“, anstatt „das Sterben auf dem Krankenbett einem ehrenvollen Tod vorzuziehen“, junge Leute dazu angestiftet hatten, den von Herodes am Tempeltor angebrachten goldenen Adler herunterzuschlagen.

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I. Teil: Die Quellen

drücklich festgehalten wird583. Auf drastische Darstellung wird weithin verzichtet584. Der Tod wird nicht heroisiert. (2) Die Martyrien von Rabbinen gehören in die frühjüdische bzw. hellenistische Tradition der Erzählungen vom Tod berühmter Männer. Das zeigt sich u. a. daran, dass auch sie sich des gattungstypischen Elements der verba ultima bedienen. Rabbi Aqiva stirbt, während er Dtn  6 ,5 rezitiert585. Sein „letztes Wort“ kann nur ein Wort der Tora sein. (3) Die meisten dieser Erzählungen liegen in unterschiedlichen Varianten vor. Das erinnert an die Mehrfachüberlieferung der Passionserzählungen 586 . Auch diese sind, wie die rabbinischen Erzählungen, für eine Gattungsentwicklung offen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 1.5.3 Die neutestamentlichen Passionserzählungen als Beispiele der Gattung τελευτή. Tradition und Innovation Nach der Darbietung exemplarischer „Erzählungen vom Tod berühmter Männer“ aus dem griechisch-hellenistischen und frühjüdischen Kulturbereich stellt sich die Frage, ob und wie sich die neutestamentlichen Passionserzählungen der vielfach variierten Gattung der τελευτή zuordnen lassen. Zu berücksichtigen ist, dass individuelle Faktoren wie die Erinnerung an die letzten Tage Jesu oder analoge Erfahrungen der ersten Jesus-Anhänger (auch sie hatten sich vor Gericht zu verantworten 587) die Adaption der Gattung mitprägten. Das Zusammenspiel unterschied­ 583  So in den Stimmen vom Himmel am Ende der Martyrien des Aqiba und des Ḥanina b. Teradyon (bAS 18a). – In den ntl. Passionserzählungen entspricht dem die Bestätigung des Gekreuzigten durch die himmlische Proklamation seiner Auferweckung in der leeren Grabkammer. 584  Holtz, Herrscher 319: „Die Folter selbst wird nur in dem Maße beschrieben, in dem sie für die Erzählung von Interesse ist“. In der Überlieferung von Aqivas Tod findet sich nur eine kurze Notiz vom grausamen „Kämmen seines Fleisches mit Eisenkämmen“. Ausführlich ist die Darstellung bei R. Ḥanina b. Teradyon (bAS 18a): „Da brachten sie ihn und wickelten ihn in die Torarolle, sie umgaben ihn mit Bündeln von Weinreben, sie zündeten Feuer daran. Und sie brachten wollene Schwämme, sie befeuchteten sie mit Wasser und legten sie an sein Herz, damit seine Seele nicht (so) schnell von ihm ausgehe“ (bei Goldberg, Martyrium 52). 585  Wie die ntl. Jesus-Überlieferung kennt auch die vom Tod des Aqiba unterschiedliche verba ultima; in einer der Versionen des Midrasch Elle ezkera lauten sie: „Gerecht ist der Herr (vgl. Klgl  1,18)! Der Fels, dessen Wirken vollkommen, ja all seine Wege sind recht. Ein Gott der Treue ist er und ohne Falsch. Gerecht und gerade ist er (Dtn  32,4)!“ Goldberg, Martyrium 12 f.: „Der Hersteller des Textes hat die eher allgemeine Tradition, nach der Dtn  6 ,5 das letzte Wort R. Aqivas war, entweder nicht gekannt oder er hatte eine andere Tradition darüber – beides wäre in gleicher Weise bemerkenswert“. 586  Wie bei Lukas einer der beiden Schächer sich voll Vertrauen Jesus zuwendet und dieser ihm zusagt: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ (Lk  23,43), so bittet der für die Hinrichtung zuständige Quaestor R. Ḥanina b. Teradyon: „[…] Bringst du mich zum Leben der kommenden Welt?“, was dieser ihm zusichert; als er sich daraufhin zum Rabbi ins Feuer stürzt, erschallt vom Himmel eine Stimme: „Rabbi Ḥanina b. Teradyon und Qaestor sind bestimmt zum Leben der kommenden Welt!“ Angefügt ist ein Wort vom weinenden Rabbi: „Mancher erwirbt seine Welt in einer Stunde, mancher erwirbt seine Welt in vielen Jahren“ (bAS  18a). (Holtz 216 f.). 587  Vgl. oben I.  1.2.2 mit Exkurs 1: Die Sprüche vom „Bekennen“ und „Verleugnen“ des Menschensohnes.

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licher Faktoren macht die Besonderheit der Erzählungen aus und erklärt, warum ihre gattungsgeschichtliche Einordnung so schwierig ist588 . Sie bewegen sich zwischen Konvention und Innovation und geben damit ihre spezifische Kontur und Intentionen zu erkennen, denen sie ihre Genese verdanken. Führte der gattungsgeschichtliche Überblick zur Einsicht in unterschiedliche Erzähltypen, die mehr oder weniger dem Profil des jeweiligen Protagonisten entsprechen, stellt sich die Frage, inwieweit sich die Passionserzählungen nicht nur der Gattung der τελευτή im Allgemeinen, sondern auch einem bestimmten Erzähltyp zuordnen lassen. Grundsätzlich gilt, dass sie mit ihrem Protagonisten Jesus von Nazaret einen Typ von Erzählung ausgebildet haben, der „prophetisch“ geprägt ist. Wie bei anderen derartigen Erzählungen ist auch hier ein prophetisches Wort bzw. eine prophetische Aktion der Auslöser der Handlung589. Alle vier kanonischen Passionserzählungen werden von der Tempelthematik bestimmt, freilich in unterschiedlicher Intensität. Die Tora spielt keine Rolle. Der Rückbezug auf die Schrift ist zwar fundamental, bewegt sich jedoch auf anderer Ebene590 . Die Passionserzählungen folgen nicht der Traditionslinie der makkabäischen „Märtyrer“, die gefoltert werden und für die Tora ihr Leben lassen591, sondern eher derjenigen des Propheten Secharja (2Chr  24,20–22). Ein Formmerkmal hält sich in allen Ausprägungen der Gattung der τελευτή durch: ihre Ausstattung mit einem oder mehreren verba ultima. Auch die Passionserzählungen weisen dieses Formmerkmal auf, das für die Gattung wesentlich ist. Wahrscheinlich gipfelte bereits ihr Archetyp in einem derartigen Wort. Seine Bedeutung für die Gattung beschreibt Klaus Berger so: „Wichtig ist vor allem in der exitus-Literatur, dass der Sterbende als moralisches Vorbild dargestellt wird, besonders in Ruhe und Mut. Seine letzten Worte deuten den Gesamtvorgang“592 . Was der Auctor ad Hebraeos seinen Lesern empfiehlt, als er ihnen das Leben ihrer einstigen Gemeindeleiter als Vorbild vor Augen stellt: „Schaut auf das Ende ihres Lebens und ahmt ihren Glauben nach!“ (Hebr  13,7), gilt erst recht für Jesus: In seinem Sterben vollendet sich sein Leben, offenbart sich in seinen „letzten Worten“ sein Wesen. Das entspricht genau der hinter der exitus-Literatur und dem Strom der „Erzählungen vom Tod berühmter Männer“ stehenden „Mentalität“, die „von einem starken Interesse am Tod geprägt war, und damit von der Vorstellung, dass dem Sterben als letzter Lebensstation eine essentielle Bedeutung zukommt“593. 588  Eine Auskunft wie die von Herrmann, Strategien 383: „So schafft Markus mit der Passion eine Gattung sui generis, die sich durch ihr christologisches Profil von den anderen Gattungen absetzt“, bleibt unbefriedigend, zumal Mk die Gattung nicht „geschaffen“ hat. 589  Das gilt nicht nur für die oben in I.  1.5.2.7 behandelten „Martyrien“. 590  Siehe unten den Abschnitt: Die Psalter-Matrix der neutestamentlichen Passionserzählungen als ihr Spezifikum. 591  Zum Motivfeld „Folter“ im Kontext von „Körperdiskursen“ vgl. Diefenbach, Sorge 99– 131 (mit dem Akzent auf den christlichen Märtyrern). 592  Berger, Gattungen 1259; ebd.: „Eine Reihe von Zügen der Passionstradition der Evange­ lien ist der Literaturgattung der exitus sehr verwandt und am besten von daher zu erklären“. 593  Huttner, Sterben 318.

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I. Teil: Die Quellen

Die Passionserzählungen enden jedoch nicht mit dem Tod des Protagonisten, sondern kulminieren in der Proklamation seiner „Auferweckung“. Von den „Erzählungen vom Tod berühmter Männer“ her betrachtet, ist das eine Neuerung. Allerdings kommt diese nicht völlig unerwartet, sondern liegt auf der Linie früh­ jüdischer Rettungserzählungen (wie Weish  2.4 f. oder 2Makk  7594). Sie setzt den Glauben an die „Auferweckung“ voraus und erweist sich damit als Variante frühjüdischer Adaption der Gattung. Von einer „Mixtur“ aus Einflüssen jüdischer „Martyrien“ und heidnischer Gerichts-„Akten“ bzw. von deren Kombination (Dormeyer) 595 kann nicht die Rede sein. Wie 2Makk  7 samt Rezeption in 4Makk, das Martyrium des Täufers (Mk  6 ,17– 29) oder später die Rabbinen-Erzählungen zeigen, war die Gattung τελευτή offen für den Topos „Herrscher und Weiser im Gespräch“, und damit auch für die Ausgestaltung der neutestamentlichen Prozessszenen. Die drei im Folgenden zu besprechenden Formmerkmale, Topoi oder Teilgattungen, die der Gattung der τελευτή inhärieren bzw. eine besondere Affinität zu ihr haben, signalisieren einen beachtlichen „Gattungswandel“596 zwischen den vier kanonischen Passionserzählungen. Jesus von Nazaret, ursprünglich dem Typ des Propheten zuzuordnen, wird zum exemplarischen „Weisen“ oder gar „Philosophen“, der in der Auseinandersetzung mit dem Herrscher nicht schweigt, sondern sich ihm schlagfertig überlegen zeigt (Joh  18,33–38; 19,8–11). Die Gattung der τελευτή ist wandlungsfähig und offen für Einflüsse unterschiedlicher Herkunft. Die (Teil-)Gattung „Herrscher und Weiser im Gespräch“ Die maßgebliche Monografie zum Thema stammt von Gudrun Holtz (1996)597. Sie behandelt die Gespräche zwischen jüdischen Weisen und Fremdherrschern in 2/4 Makk und der rabbinischen Literatur und vergleicht die Verhöre der kanonischen Passionserzählungen mit ihnen. Trotz Disparatheit im Einzelnen weisen die jüdischen Gespräche ihr zufolge drei konstante Formmerkmale auf: (1) einen „fundamentalen Gegensatz zwischen Herrscher und Weisem, der auch dann nur graduell vermindert ist, wenn der Herrscher oder sein Vertreter diesem scheinbar wohlgesonnen ist“; (2) ein „einheitliches Muster“ des Gesprächsverlaufs: Der Herrscher beginnt das Gespräch mit einer Aufforderung oder einer Frage an den Weisen598 , 594 

Vgl. oben I.  1.5.2.4. Siehe oben 1.5.1 unter (3); zur Kritik vgl. auch Myllykoski, Tage I 25 f. 596 Vgl. Theobald, Gattungswandel 448 f. 597  Holtz, Herrscher; ebd. 331: Die bearbeiteten „jüdischen und neutestamentlichen Gespräche zwischen Herrscher und jüdischem Weisen im Prozess- und Martyriumskontext lassen sich […] als eine Gattung verstehen, zeigen sie doch, was die gattungskonstitutiven Grunddimensionen Form, Inhalt und Funktion anbelangt, ein relativ einheitliches Bild“. Da sie in der Regel in Texte eigener Gattung eingebettet sind, sollte von einer Teilgattung gesprochen werden. 598  Dass ein Gespräch mit einer vom Herrscher erteilten Redeerlaubnis an sein Gegenüber einsetzt, ist selten: Apg 26,1; ARN 4 (9) etc. 595 

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der das letzte Wort hat; (3) eine relative Kürze der Gespräche, „in bezug auf die Zahl und die Länge der Wortwechsel in aller Regel […] Kleinformen“599. Die Reden der Herrscher enthalten folgende Elemente: (a) die „Frage nach der Identität des Weisen“600 , (b) die „Frage des Herrschers nach Gott bzw. der göttlichen Wirklichkeit“, (c) das Motiv der „Verführung des Weisen zu einem dem Willen Gottes widersprechenden Handeln, die den Charakter der Versuchung haben kann“601. Die Reden der Weisen begegnen (a) als „Worte gegen den Herrscher“602 und (b) als „Selbst­ aussagen des Weisen“603 . Darüber hinaus gibt es allen Textgruppen gemeinsame Motive in den Gesprächen wie in deren narrativen Einkleidungen604.

Zwei Grundtypen von Gesprächen zeichnen sich Holtz zufolge ab: ein „explikativ-­ homologisch(er)“ Typ, „wesentlich durch Selbstexplikation und bekenntnishafte Affirmation des Weisen“ bestimmt605 , und ein zweiter Typ, für den „die Verbindung von Selbstexplikation und Affirmation einerseits und argumentativ-diskursiver Auseinandersetzung mit dem Herrscher andererseits kennzeichnend“ ist606 . Dabei handelt es sich allerdings nicht um zwei klar voneinander unterscheidbare Grundformen, denn die Übergänge zwischen ihnen können fließend sein: Einfache 599  Holtz, Herrscher 306 f. Die Gespräche umfassen meist nur einen oder zwei Wortwechsel, selten mehr; Ausnahmen: 4Makk  5; 8,1–9,9; Apg  24,1–23; 26,1–23 etc. 600  NT: Mk  14,61par.; 15,2par; Joh  18,33.37; Apg  21,38 (in negierter Form); 22,27. Rabbinische Texte: jBer 9,7 („[4] Bist du ein Zauberer oder trotzt du den Züchtigungen?“); ARN (A) 4 („[3] Er = Vespasian sagte zu ihm: Bist du Rabban Jochanan ben Sakkai?“) par. ARN (B) 6. 601  Holtz, Herrscher 313. 602 Tyrannenschelte (Holtz, Herrscher 310, zufolge im NT nur Joh   18,19–23; 19,9–11; Apg  23,1–5); Gerichtsdrohung; Beschimpfung des Herrschers oder Polemik gegen ihn; Aufforderung an den Herrscher, die Weisen zu foltern und zu töten; Anklage des Herrschers; Motiv der Ohnmacht des Herrschers in Verbindung mit der Vorstellung, seine Macht sei ihm von Gott verliehen). 603  Unschuldsbekundungen; Bekenntnisse zur göttlichen Autorität; Ausdruck der Standfestigkeit; apologetische Selbstdarstellungen etc. 604 Motive der Theodizee (2Makk   7,18.32 f.; 4Makk  10,10 etc.); Gott als Retter (Apg  26,17: Christus als Retter); Hoffnung des Weisen auf eine Bekehrung des Herrschers; Verwunderung bzw. Furcht des Herrschers angesichts des Weisen (2Makk  7,12; 4Makk  6 ,11.13; 8,4; 9,26; Mk  15,5; Mt  27,14; Joh  19,8; Apg  24,25; 26,24; yBer  9,7 [4]; Philostr, VitAp  4,44[15]); Freude im Leiden; die Klugheit des Weisen, die ihm in der Auseinandersetzung mit dem Herrscher hilft (Apg  23,6) etc. 605  Holtz, Herrscher 310: „bekenntnishafte Affirmation, verstanden als Formulierung homologischer und liturgischer Sätze bzw. Wendungen der jeweiligen religiösen Gemeinschaft“. Diesem Typ gehorchten Wortwechsel aus bAS  17b.18a; bGit 57b; yBer 9,7; tChul 2,24; SifDev 32,4 (§  307): Die Befragten antworten durchweg mit Zitaten aus der Tora (v. a. Dtn  4,5.39; 6,4 f.; 7,21; 32,4 etc.); so auch Dan 3,17LXX (die drei Jünglinge an Nebukadnezzar: „König, wir haben es nicht nötig, dir in Bezug auf diese Anordnung zu antworten. Denn der Gott im Himmel ist unser einziger Herr, den wir fürchten“) und 2Makk  7,37; vgl. auch 4Makk  5,24 (μόνον τὸν ὄντα θεὸν σέβειν). – Im NT begegnet dieser Typ in Mk  14,60–62; Mt  26,62–64 und in den synoptischen Verhören durch Pilatus (Holtz, Herrscher 310 mit Anm.  17). 606  Ebd. 312. Zu diesem Typ vgl. yBer 9,7 (Gespräch zwischen R. Aqiba und Turnus Rufus) und EkhaR (= KlglR) 1,31 (zu 1,5): Gespräche zwischen Jochanan ben Sakkai und Vespasian; beide Texte seien mit Elementen der Chrie verquickt. – Im NT begegnet der Typ in Lk  22,66–71 und Joh  19,9–11 jeweils mit „Elementen der Chrie“ und in Joh  18,33–38 mit „Merkmale(n) des Offenbarungsdialogs, für den u. a. das ‚Missverständnis‘ konstitutiv“ sei (ebd. 312).

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I. Teil: Die Quellen

Wortwechsel werden erweitert und mit diskursiven Formelementen angereichert607. Bezeichnend ist EkhaR zu 1,16 mit Gesprächen zwischen einem anonymen Kaiser und den sieben Söhnen und ihrer Mutter608: Die ersten sechs Wortwechsel folgen dem ersten „Grundtyp“, während der letzte, die Klimax der Einheit, sich zu einem ausgedehnten Streitgespräch entwickelt über das Thema: Das Wesen Gottes und das der Götter (Ps 115). Ausgerechnet der jüngste Sohn wächst hier in die Rolle eines disputierenden Schriftgelehrten hinein. Zur Einordnung der jüdischen Gespräche, die alle aus späterer Zeit stammen, scheint es wichtig zu sein, sie nicht zu isolieren, sondern in einem größeren kulturgeschichtlichen Horizont zu sehen. Zu erinnern ist an die oben (in 1.5.2.5) erwähnten von Plutarch und Diogenes Laertius überlieferten Anekdoten und Exempla mit ihrem Topos Konfrontation des Weisen mit dem Tyrannen, aber auch an die Acta Alexandrinorum, die inszenieren, was dort anekdotisch erzählt wird609. Damit treten auch die neutestamentlichen Prozessszenen ins Blickfeld, die genau dasselbe tun: unter Verwendung des bekannten Topos die Konfrontation Jesu mit den Herrschenden in Gestalt von Verhören in Szene zu setzen. Dabei zeigen die verschie­ denen Fassungen, werden sie miteinander verglichen, ähnliche Entwicklungen, wie sie bei den anderen Textcorpora zu beobachten sind. Bei Markus und Matthäus sind die Verhöre durch den Hohepriester und Pilatus nach dem einfachen Muster Frage des Herrschenden – (bekenntnishafte) Antwort des Weisen gestaltet610 . Anders der dritte und vierte Evangelist: Während sich ­Lukas um historische Plausibilisierung seiner Überlieferung bemüht, präsentiert Johannes Jesus als den Weisen schlechthin, der dem Herrscher rhetorisch und argumentativ in allen Belangen überlegen ist611. Wer von sich sagt, er sei die personifizierte „Wahrheit“ (Joh 14,6), hat dies auch im Dialog mit den Mächtigen zu erweisen. Hinzu kommt, dass der vierte Evangelist den Topos in einem Text realisiert, der nach dem Gattungsmuster „literarisierte Gerichtsprotokolle“ (siehe oben 1.5.2.6) gestaltet ist. Auch bei den verba ultima zeigt sich eine innerchristliche Weiterentwicklung der Gattung τελευτή.

607  Holtz ordnet das Gespräch zwischen R. Aqiva und Turnus Rufus (yBer 9,7) mit einfachem Wortwechsel, aber ausgearbeiteter Antwort (dazu ebd. 189–197) bezeichnenderweise unter beide Rubriken ein. 608  Text, Übersetzung und Analyse von EkhaR (= KlglR) 1,50 (zu 1,16) bei Holtz, Herrscher 233–249; vgl. auch 2Makk  6 f.; 4Makk  8 ,1–17,6. 609  Weil in den Acta Alexandrinorum im Unterschied zu den rabbinischen Texten (siehe oben) Bekenntnisse fehlen, übergeht sie Holtz beim Vergleich mit den neutestamentlichen Erzählungen. 610  Vgl. einerseits Mk  14,61b–62 par. Mt  26,63b–64, andererseits Mk  15,2 par. Mt  27,11; erweitert jeweils durch eine Aufforderung an Jesus, zu den gegen ihn vorgebrachten Anklagen Stellung zu beziehen, woraufhin dieser schweigt. 611  Zeller, Philosophen 123–127; Theobald, Gattungswandel 447–483; beachtlich ist die Ver­ mehrung der Äußerungseinheiten: Mk  15,2: zwei – Joh  18,33–28: sieben; Mk  15,4 f.: eine (+ Schweigen Jesu) – Joh  19,8–12a: drei (+ Schweigen Jesu).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Verba ultima Seit Herodot und Platon sind verba ultima relativ fester Bestandteil von Sterbe­ szenen, sowohl in jüdischen als auch in paganen Erzählungen. So verwundert es nicht, dass sie auch in den neutestamentlichen Passionserzählungen begegnen. Die Tradition zählt sieben derartige Worte Jesu, die sie zu einer kleinen Evangelien-­ Harmonie mit eigenem christologischem Profil zusammengestellt hat612: I.

Lk  23,34

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Gebet

II.

Lk  23,43

Amen, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

Heilszusage

III.

Joh  19,26.27 Frau, siehe dein Sohn! Siehe, deine Mutter!

IV.

Mk  15,34 (Mt  27,46)

Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?

Ps 22,2

V.

Joh  19,28

Mich dürstet!

Ps 69,22 Ruf des Menschen

VI.

Joh  19,30

Es ist vollbracht!

Ruf des Gottessohns

Vater, Ps 31,6 in deine Hände lege ich meinen Geist!

Gebet

VII. Lk  23,46

Jesu Testament Gebet

Markus und Matthäus bieten jeweils nur ein verbum ultimum, Lukas drei 613, ­Johannes gar vier614. Die Kreativität der Tradition ist offenkundig615. Der Archetyp der Passionserzählungen wird gattungsgemäß ein verbum ultimum enthalten haben. Die diachrone Analyse wird diese Annahme bestätigen können616 . Die Form der Worte variiert: Unter ihnen finden sich drei Gebete, eine Heilszusage, ein Testament und zwei Ausrufe. Drei der Worte sind dem Psalter entnommen617. Die Worte transportieren je eine eigene Sicht vom Tod Jesu. In Mk  15,34 = Ps  22,2 schreit der Gekreuzigte, „wozu“ Gott ihn verlassen habe, Joh  19,30 stellt die Vollendung des Heilswerks in Jesu Tod vor Augen und Joh  19,26 f. öffnet die Szene ekklesiologisch nach vorne. Die lkn. Worte wären verkannt, wollte man sie von der Absicht diktiert sehen, die mkn. Gottverlassenheit Jesu zu verdrängen. Ihr Anlie612 Vgl.

Theobald, Tod 115–123; ebd. zur Geschichte dieser Komposition seit Tatian. Das textkritisch strittige Gebet Lk  23,34 (siehe unten II.  10.1 unter [3]) mitgezählt! 614  Joh  19,26 und 27 sind zwei Worte, das eine an die Mutter Jesu gerichtet, das andere an den geliebten Jünger; die Tradition zieht sie zu einem Wort zusammen, um die Zahl 7 zu erreichen. 615  EvPetr bietet noch ein weiteres Wort: „Und der Herr schrie auf und rief: ‚Meine Kraft, du hast mich verlassen!‘“ (5[19]). 616  Siehe II. unter 10.6 und 10.7. 617  Schwemer, Worte 13, zufolge sei es „üblich“ gewesen, „Märtyrern als letzte Worte Psalmen und Psalmzitate in den Mund zu legen“ – mit Verweis auf die griech. Versionen von Dan  3 (Volksklage und Hymnus) und 2Makk  7 (Dtn  32). 613 

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I. Teil: Die Quellen

gen zielt vielmehr dahin, im Anschluss an die griechisch-hellenistische Tradition der ars moriendi Jesus als den vorbildlich Sterbenden zu zeigen, an dem sich die Leser aufrichten können618 . Der betende Jesus steht bei Lukas immer schon im Kontakt mit seinem „Vater“, so auch im Angesicht des Todes619. Wenn Lukas die letzten Worte Jesu als Ausdruck seines souveränen Sterbens, ja „ehrenhaften Todes“ versteht, überschreitet er die binnenchristliche Perspektive und sucht Anschluss an die jüdisch-hellenistische Tradition vom Tod großer Männer, in die er „seinen“ Jesus einordnet. Vom ehrlosen zum ehrenhaften Tod (Noble Death) 620 Einen „ehrenhaften Tod“ stirbt, wer ihn im Wissen um die Unsterblichkeit seiner Seele angstfrei und in Würde stirbt – wie Sokrates, der nach Platon einen solchen Tod nicht nur lehrte, sondern im eigenen Sterben den Seinen auch „vorlebte“: „In der Tat also, o Simmias, trachten die richtig Philosophierenden danach zu sterben, und tot zu sein ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar (τὸ τεθνάναι ἥκιστα αὐτοῖς ἀνθρώπων φοβηρόν)“ (Phaid. 67e). Seneca an Lucilius: „Wenn es dir nun auch mit Griechen zusammenzuleben Freude macht, verkehre mit Sokrates, mit Zenon: der eine wird dich zu sterben lehren, wenn es notwendig ist (alter te docebit mori si necesse erit), der andere, bevor es notwendig ist (alter antequam necesse erit)“621. Gregory E. Sterling zufolge hat der dritte Evangelist seine Passionserzählung nach dem sokratischen Vorbild eines angstfreien, vertrauensvollen Sterbens umgestaltet622 . Wie Sokrates in den Willen der Götter einwilligt623, so auch Jesus (Lk  23,46). Die Brennpunkte der Umgestaltung sind die Getsemani-Episode, die bei Lukas aller emotionalen Erregungsmomente entbehrt (Lk  22,40–42.45 f.), das letzte Wort Jesu (Lk  23,46) – keine Klage wie bei Markus, sondern eine Vertrauensäußerung – und die Reaktion des Hauptmanns: „Dieser Mensch war wirklich ein Gerechter (δίκαιος)!“ (Lk  23,47). Sterling zufolge hat dieses Wort Signalcharakter. Es greift ein spezifisches Moment des verbreiteten Sokrates-Bild auf, das im Finale des Phaidon seinen Ursprung hat: „Dies, o Echekrates, war das Ende (ἡ τελευτή) unseres Freundes, des Mannes, der unserm Urteil nach von den damaligen, mit denen wir es versucht haben, der 618  Die Kirche hat das verstanden, als sie Lk  23,46 = Ps  31,6 als Responsorium in ihr Stundengebet, die Komplet, übernommen hat. 619  In der traditionellen Komposition der 7 Worte bilden die zwei, in denen Jesus Gott als ­„Vater“ anspricht, den Rahmen. 620 Eine Textsammlung bieten van Henten/Avemarie, Martyrdom; außerdem vgl. van Henten, Entstehung; Droge/Tabor, Noble Death. 621  Seneca, EpMor  104,21. 622  Sterling, Mors; vgl. auch Kloppenborg, Exitus; W. Kraus, Evangelium 35–43; van Henten, Jewish Martyrs, 343 f. (ebd. 326–333 Vorbehalte gegen eine formgeschichtliche Annäherung der Lk-Passion an jüdische Martyriumserzählungen seit Dibelius, Formgeschichte 202–205). 623  Plat, Crito  43d: „Wenn es den Göttern so genehm ist, sei es so (εἰ ταύτῃ τοῖς θεοῖς φίλον, ταύτῃ ἔστω)“; Epict, Diss  1,4,24, greift dies auf.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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trefflichste (ἀρίστου) war und sonst der vernünftigste (φρονιμωτάτου) und gerechteste (δικαιοτάτου)“ (118a). Eine vielfach überlieferte Anekdote (χρεία) knüpft daran an: Sokrates erklärt einem Schüler, um wieviel besser es doch sei, dass er „ungerechterweise“ sterbe als „gerechterweise“624. Die Anekdote wurde zum Standardtopos in rhetorischen Schulübungen und war weit verbreitet625. Die Verbindung mit dem Tadel des Schächers, der Jesus lästert, durch den reuigen: „Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Urteil (κρίμα) getroffen? Uns geschieht recht (δικαίως), wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes (οὐδὲν ἄτοπον) getan“, macht es wahrscheinlich, dass der sokratische Topos die lukanische Umgestaltung der Kreuzesszene samt Bekenntnis des Hauptmanns als Klimax inspiriert hat. Aus dem „schändlichsten Tod“ am Kreuz (mors turpis­ sima) ist ein in Würde gestorbener Tod geworden, ein Tod, der dadurch geadelt ist, dass Jesus ihn – wie Sokrates – als „Gerechter“ gestorben ist, Unrecht erleidend von denen, die ihm diesen Tod beigebracht haben, aber ohne Hass auf sie, vielmehr betend für sie (Lk  23,34). Ähnliche Transformationen sind beim vierten Evangelisten zu beobachten, wenn er mit seinem Jesus an das exemplarische Bild des Philosophen oder Weisen anschließt, der den Herrschenden Paroli bietet (vgl. oben 1.5.3.1). Die alte Passionserzählung rückt damit auch bei ihm in jüdisch-hellenistische Gattungskontexte ein und wird anschlussfähig für übergreifende Diskurse um Wahrheit und Tod. Aus einem ehrlosen ist ein ehrenvoller Tod geworden. Die Psalter-Matrix der neutestamentlichen Passionserzählungen als ihr Spezifikum Phänomene der Intertextualität sind den Erzählungen vom Tod großer Männer nicht fremd. Jüdische oder pagane Erzählungen assoziieren motivisch die Sokrates-Tradition. Jüdische zeichnet es aus, dass sie sich auf die Tora beziehen626 . Aber im Vergleich zu ihnen ist die Dichte, mit der die neutestamentlichen Passionserzählungen von Anspielungen, Motiven und Zitaten der Schrift durchzogen sind, einzigartig. Dabei sind die Bezüge insbesondere auf den Psalter den Passionserzählungen nicht erst nachträglich aufgesetzt worden, sondern machen weithin ihre narrative Substanz aus627. Gattungsgeschichtlich betrachtet ist die Psalter-Matrix der 624  Xenoph, Ap  28: „Now there was a certain Apollodorus, who was an enthusiastic lover of the master, but for the rest a simple-minded man. He exclaimed very innocently: ‚But the hardest thing of all to bear, Socrates, is to see you put to death unjustly (ἀδίκως ἀποθνῄσκοντα)‘. Whereupon Socrates, it is said, gently stroked the young man’s head: ‚Would you have been better pleased, my dear one, to see me put to death for some just reason rather than unjustly? (δικαίως ἢ ἀδίκως ἀποθνῄσκοντα)‘ and as he spoke he smiled tenderly“ (Übers. LCL). Zahlreiche weitere Belege bei Sterling, Mors 398 f. 625  Sterling, Mors 399: „For these reasons I think that many first-century Christians would have recognized Socrates’ death in the confession of the centurion“. 626  Siehe oben zu 2 und 4  Makk, zum Auftritt von Jesus ben Ananias (Bezug auf den Propheten Jeremia), aber auch zu den rabbinischen Erzählungen vom Tod eines Lehrers. 627  Conzelmann, Art. Jesus Christus 646: „Ganze Motive, ja Szenen (J. vor Herodes Lk  23,6 ff.) sind aus dem AT herausgesponnen“; im Einzelnen siehe die Analysen unten in II. und III.

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I. Teil: Die Quellen

neutestamentlichen Passionserzählungen ihr Spezifikum, eine Einsicht, die für die Bestimmung ihres „Sitzes im Leben“ grundlegend ist. Psalmengesang und -rezitation spielten der jüngeren Forschung zufolge „vor allem in ‚privaten‘ gottesdienstlichen Versammlungen eine wichtige Rolle“ (Erich Zenger) 628 . Die Psalter-Matrix der Passionserzählungen könnte somit auf gottesdienstliche Versammlungen der frühchristlichen Hausgemeinden als ihren ursprünglichen „Sitz im Leben“ verweisen629. Die Annahme liegt nahe, dass der Archetyp für den Ort geschaffen wurde, an dem sich die Jesus-Anhänger nach Ostern ihres Glaubens an den auferweckten Gekreuzigten vergewisserten, vor allem für ihre Paschafeier. Die These lautet: Die Passionserzählung war als kultisch-liturgischer Erinnerungstext gedacht, der in der gemeindlichen Feier zum Gedächtnis von Tod und Auferweckung Jesu alljährlich zum Vortrag kam. 1.6 Die vorkanonischen Passionserzählungen. „Kulterzählungen“ frühchristlicher Paschafeiern Die Frage nach dem „Sitz im Leben“ der vorevangeliaren Passionserzählungen wurde lange Zeit nur pauschal beantwortet. Die Erzählungen hätten der „Katechese“ gedient bzw. mit ihren Figuren, „die positiv und negativ nachahmbar sind“, der „Paränese“630 . Sie seien Teil der „Lehre“ gewesen631 oder der „Predigt“632 . Ein soziologisch plausibler „Sitz im Leben“, der sowohl die erstaunliche Länge der Erzählungen, ihre relative Geschlossenheit und ihre lokale Verbreitung erklärt, die 628  Zenger/Hossfeld, Buch   451: Im Judentum zur Zeit Jesu war das „Psalmenbuch zum Grundtext der persönlichen Frömmigkeit und der messianischen Hoffnungen“ geworden. „Es war das ‚Lebensbuch’ jener Gruppen, die in den Psalmen ‚die Armen‘, ‚die Frommen‘ und ‚die Gerechten‘ genannt werden. Beim Singen – auch losgelöst von der offiziellen Tempelliturgie – der (auswendig gelernten) Psalmen als ihrer ‚Volkslieder‘ fanden sie Trost, Hoffnung und Lebensweisung, aber auch Gemeinschaft mit ihrem auf dem Zion gegenwärtigen Gott“. Der Psalter dürfte vor allem in privaten gottesdienstlichen Versammlungen präsent gewesen sein, ersichtlich an der Existenz von Psalmen-Rollen in Qumran oder Philo, VitCont 80.83–89 (über die Nachtfeier der in Ägypten beheimateten Therapeuten); auch ntl. Indizien deuten auf die Verwendung biblischer Psalmen in christlichen (Haus-)Gottesdiensten hin: z. B. Apg  2,46: ἐν ἀγαλλιάσει (sehr oft im LXX-Psalter: 42,4; 47,1; 126,2 etc.); 4,24–30; 16,25: Im Gefängnis zu Philippi „beteten Paulus und Silas um Mitternacht Loblieder (προσευχόμενοι ὑμνοῦν τὸν θεόν), und die Gefangenen hörten ihnen zu“; Kol  3,16 par. Eph  5,19; Offb  11,17 f.; 15,3 f. u. ö.! Vgl. Füglister, Verwendung; vgl. auch Schaper, Septuaginta-Psalter 177–180. 629  Aitken, Death 22: „Although […] I am in fundamental agreement with Crossan that the story of Jesus’ passion arises out of the scriptures of Israel, I question his dependence on scribal exegesis as the vehicle for the formation of this story. Instead, I locate the development of such a narrative in relation to the cultic practice of various early Christian communities. That is, instead of speaking of ‚prophecy historicized,‘ I would rather speak of the reactualization of scripture in the context of its performance in ritual […]“. Zurecht lehnt Trocmé, Passion 55–60, es ab, die Gattung der Passionserzählung als „Midrasch“ zu bestimmen. 630  Dormeyer, Passion 288 f.: In der „Katechese“ habe die Passionserzählung „aufgrund des einfachen, aber dennoch kunstvollen Stils und aufgrund der knappen Handlungsführung als schriftliche Vorlage zum Auswendiglernen gedient“. 631  Reinbold, Bericht 196 f. 632  Dibelius, Formgeschichte 185; siehe den Überblick bei Green, Death 175–215.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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hinter ihrer verzweigten Überlieferungsgeschichte steht, wurde nur vereinzelt diskutiert. Karl Ludwig Schmidt (1919) 633, Georg Bertram (1922) 634, Gottfried Schille (1955) 635 vermuteten einen gottesdienstlichen Hintergrund, Hans Koester (1993/94) konkret das eucharistische Mahl636 , Etienne Trocmé (1983), Josef Blank (1988) u. a. ein frühchristliches Pascha637. Für Letzteres spricht die Korrespondenz von Memoria und Ritus („interrelation of ritual and narrative“) 638: Die Länge der Erzählungen639 erklärt sich, wenn sie für die Feier die Funktion einer Art „Kultlegende“ besaßen. Auch die Diversität ihrer sich schon bald verzweigenden Überlieferungsgeschichte findet bei Annahme eines jährlich von den an Jesus glaubenden Juden begangenen Pascha-Gedenkens an Tod und Auferstehung Jesu eine plausible Erklärung: Wenn das jährliche Fest nicht nur von den an den Messias Jesus glaubenden Juden in Jerusalem begangen wurde, ­sondern auch von den „Hellenisten“, die es nach Damaskus und Antiochien mitbrachten, von wo aus es sich verbreitete, dann wanderte auch die Passionserzählung mit, um an unterschiedlichen Orten ihre je eigene Färbung und Ausprägung zu erhalten. 633 K.L. Schmidt, Rahmen 305: „Im ganzen Umfang wird man die Leidensgeschichte im Gottesdienst in einer lectio continua vorgelesen haben“. 634  Bertram, Leidensgeschichte: Der Glaube an den „Kultheros“ Jesus habe die Passionserzählungen, ersichtlich etwa an der Gefangennahme bei Joh oder Getsemani (47.53 f.), inspiriert. 635  Schille, Leiden, erwägt bei Unterscheidung der Überlieferungskomplexe drei Kontexte: für die Nachtszene das eucharistische Mahl (176–180), für die Kreuzigung einen „Karfreitagsbericht“ (198) und für die Grablegenden eine „Osterfeier“ mit „einer Begehung am Grabe selbst (?)“ (an letztere denken auch Broer, Urgemeinde, und L. Schenke, Auferstehungsverkündigung). – Vgl. auch A.Y. Collins, Genre 17: „Such a prose text (sc. the pre-Markan passion narrative) could well have functioned in early Christian gatherings in a way analogous to the reading of narrative texts from the Torah in the worship of the Synagoge“; dies., Beginning 118; vgl. auch Schwemer, Worte 9 Anm.  18; Guttenberger, Mk 316. 636  Koester, Leiden 204: „Feier des Herrenmahles und Erzählung vom Leiden und Tod Jesu gehören von Anfang an […] zusammen. Diese Erzählung lässt sich […] ohne weiteres als ‚Kultlegende‘ bezeichnen“; ders., Presence 556: „The history and development of the passion narrative cannot be understood unless one takes into account its life situation, namely, the cult of the Kyrios. It was primarily a story that was remembered, told, and celebrated“; vgl. ebd. 554–557 („Cult, narrative, and community“) seine Hinweise zu Griechenland (Homer) und Rom: Zu einem Fest gehört immer auch eine die Feiernden miteinander verbindende story (Olympia, Isthmia, Nemea, Delphi, Rom: Vergil etc.). – Vgl. auch Green, Death 214 f.; Kleinknecht, Gerechtfertigte 181: „Das nachösterliche Problem der notwendigen Loslösung des Herrenmahls vom Passatermin und die damit verbundene Transformation des einmaligen Abschiedspassa zu einem Erinnerungsmahl der Gemeinde“ führte „zu einer Neukonzeption der Mahlgemeinschaft. In ihr hat die Passionsüberlieferung ihren Ort“. 637 J. Blank, Johannespassion 154 f.179 f. ; vgl. auch A.Y. Collins, Mk 774: „either an annual commemoration of Jesus’ death held in conjunction with Passover or the more frequent ritual of the Lord’s Supper“; Wilckens, Theologie I/2, 56.79; Bovon, Jours 18 f. 638  Aitken, Death 15. 639  „[D]ie besondere Sprachform des Passionsberichts“ lässt „als Rezitation auf einen Gottesdienst als ursprünglichem Überlieferungsort (= Sitz im Leben) schließen. Denn nur so ist eine Gemeinde vorstellbar, die diesem langen Bericht kontinuierlich zuhört“ (Wilckens, Theologie I/2, 79).

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I. Teil: Die Quellen

Es lohnt sich, diese These näher zu prüfen: Wie ist das Pascha-Kolorit der Erzählungen zu verstehen? Bislang wurde dieses zumeist einseitig nur unter der historischen Fragestellung untersucht, ob Jesus am „Rüsttag“ (Joh  19,14) oder am Festtag selbst (Synoptiker) gestorben ist? Bieten die Erzählungen Indizien, die auf eine ­Paschafeier als ihren „Sitz im Leben“ verweisen (1.6.1)? Lässt sich ein frühchrist­ liches Paschafest angesichts der spärlichen Quellenlage überhaupt plausibel machen (1.6.2)? 1.6.1 Das Pascha-Kolorit und die unterschiedlichen Chronologien der Passionserzählungen: Starb Jesus am „Rüsttag“ (Joh  19,14) oder am Festtag selbst (Synoptiker)? Die Frage, ob die Passionserzählungen Indizien für eine Paschafeier als ihren „Sitz im Leben“ enthalten, ist kaum eingehender behandelt worden. Etienne Trocmé (1983) ist einer der wenigen, der die These: „The Sitz im Leben of the original Passion narrative […] was doubtless the liturgical commemoration of Christ’s death by Christians during the Jewish Passover celebration“640 , näher zu begründen versucht hat. Drei Feststellungen sind ihm wichtig: (a) Eine erste betrifft „die liturgische Farbgebung der Eröffnung der Passionserzählung“641: Die Erzählung von der verschwenderischen Salbung in Betanien und dem letzten Mahl samt seiner Bereitung seien „gestures that can only be described as cultic“. Signifikant sei der Pascha-­Kontext des letzten Mahles Jesu. (b) Bemerkenswert sei überdies der dichte chronologische Ablauf der Erzählungen: Historisch betrachtet böten sie zu viele Geschehnisse in zu kurzer Zeit642 . Von der Mahlszene bis zur Beisetzung Jesu seien es weniger als 24 Stunden. Die Erzählung rhythmisiere die Ereignisse artifiziell: die Getsemani-Szene enthält drei Episoden, die Verleugnung Jesu durch Petrus ebenso viele, der Todestag Jesu läuft nach in einem Drei-Stunden-Takt ab643. Dahinter stünden „kultische“ Impulse, die auf Wiederholung setzten644. (c) Wie die Eröffnung zeige auch der Schluss der Erzählung mit den Episoden von der Grablegung des Leichnams Jesu und der Salbungsabsicht der Frauen ein kultisches Ambiente: „[I]t is significant also that the last two episodes in the original Passion narrative should have to do with the paying of the last honours to the body of Jesus according to the rites of the Jews“645.

640  Trocmé, Passion 82; ebd. 80 f.; viele Beobachtungen auch schon bei Schille, Leiden (oben Anm. 635). 641  Ebd. 78: „The liturgical colouring of the beginning of the archetype of the Passion narratives“. 642  Ebd. 53: „This archetype of the canonical narratives for some reason crammed a number of events into an incredibly narrow chronological framework. By doing so, its author showed that his goal was not to write a plain chronicle, but to interpret the facts“. 643  Ebd. 79: „The time-table was part of the original story and was progressively eliminated when its meaning was not perceived any longer, that is, when the Passion narrative became a mere record of events“; Schille, Leiden 197 f. 644  Ebd. 79: „some kind of cultic drama“; das dreifache Beten Jesu in Getsemani (Mk) könne durch Ps 42,6.12.5 (dreimal: „Meine Seele, warum bist du so betrübt …?“) inspiriert sein (ebd. 59). 645  Ebd. 80.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Fraglich ist, ob die aufgeführten Elemente alle schon den Archetyp prägten oder erst später hinzugewachsen sind. Die eucharistische Kultätiologie wird von Markus in die Erzählung implantiert worden sein646 , auch der Drei-Stunden-Takt des Todestags Jesu geht auf ihn zurück647. Dennoch bleiben die Beobachtungen von E. Trocmé gültig: Der Rahmen der alten Passionserzählung mit der Erzählung von Jesu Salbung in Betanien und dem entsprechenden Ansinnen der Frauen am ­Ostermorgen lassen einen Gestus der Verehrung Jesu erkennen, der gut zu einem liturgischen Kontext passt. Die Mahlszene mit Jesu prophetischem Wort, das auf das vollendete Mahl der Gottesherrschaft vorausblickt, ist auch ohne die eucharistische Kultätiologie Urbild frühchristlicher Mahlgemeinschaft: Sie lässt den Ort aufscheinen, an dem die Erzählung jährlich kommemoriert wurde. Das Pascha-­ Kolorit verdankt sie ihrem chronologischen Rahmen, der im mkn. und joh. Überlieferungszweig jeweils eigenständig ausgebaut wurde. In der Vergangenheit wurden die entsprechenden chronologischen Angaben der Passionserzählungen allerdings zumeist einseitig unter historischer Fragestellung betrachtet: Starb Jesus am „Rüsttag“ (Joh  19,14) oder am Festtag selbst (Synoptiker)? Bevor diese Frage, die seit langem strittig ist648 , beantwortet werden kann, sind die beiden voneinander differierenden Überlieferungsstränge der Passion gesondert zu betrachten. Im Eingangsteil A der Passionserzählung sind die synoptische und die johanneische Überlieferung noch beieinander. Der Tötungsplan des Hohen Rates (Episode Nr  4) ist in Mk  14,1 (par. Mt  26,2; Lk  22,1) wie in Joh  11,55 (Nr.  5) durch die „Nähe“ des Paschafestes motiviert. Markus und Matthäus thematisieren sogar die kurze Zeitspanne bis zum Fest („nach zwei Tagen“), um zum Ausdruck zu bringen: Die Zeit für ein Komplott gegen Jesus drängt. Alles, was folgt, steht unter dem Vorzeichen von Pascha, was auch schon für den Archetyp der Erzählung gelten dürfte. Mk  14,2 par. Mt  26,5 („nicht am Fest649, damit es keinen Volksaufruhr gibt“) reibt sich mit der im Mittelteil B klaren Chronologie: Die Autoritäten verfolgen die Strategie, den Fall noch vor dem Fest zu erledigen, was nach der joh. Darstellung auch gelingt. Ein Scheitern des Zeitplans wird bei Markus nirgends vermerkt650 . Lukas scheint die Angabe nicht grundlos getilgt zu haben (vgl. Lk  22,2).

646 

Siehe oben I.  1.4.3. Vgl. unten Exkurs 9: Vom Sinn des Stunden-Schemas bei Markus. 648 Genannt seien hier nur Bultmann, Joh 353 f. Anm.   6; J. Jeremias, Abendmahlsworte 9–82; Strobel, Termin; Brown, Death II 1356–1373; Herzer, Passionschronologie (ebd. 94 Anm.  4 mit weiterer Lit.). 649  Dietzfelbinger, Sohn 161, übersetzt (unter Berufung auf J. Jeremias, Abendmahlsworte 65–67) μὴ ἐν τῇ ἑορτῇ mit: „nicht in der Festmenge“. Hintergrund ist die Annahme, Jesus sei als Verführer des Volks (Dtn 13,7–12) hingerichtet worden. Aus Dtn 17,12 f. („alles Volk soll es sehen und hören …“) folgert Jeremias, „dass die Hinrichtung in diesen von der Tora angeführten Fällen schwerster Vergehen – trotz des Verbotes, an Festtagen Hinrichtungen zu vollziehen … ‚am Fest‘ zu erfolgen hatte“ (ebd. 72). 650 J. Gnilka, Mk II 220, sucht den internen Widerspruch der mkn. Chronologie durch Theologisierung zu entschärfen: „Für Markus […] komme es darauf an, dass die Pläne der Menschen 647 

174

I. Teil: Die Quellen

Im Mittelteil (B) gehen Synoptiker und Johannes eigene Wege. Erzählen die Synoptiker von einem Paschamahl Jesu mit den Seinen, so weiß Johannes nur von einem Abschiedsmahl „vor dem Fest“ (Joh  13,1: πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα). Weil erst Markus (bzw. seine Überlieferung) durch den Vorbau von Mk  14,12–16 daraus ein Paschamahl gemacht hat651, bezeugt Johannes seinen ursprünglichen Charakter. Sollte die bei ihm voranstehende Zeitangabe Joh  13,1 („vor dem Paschafest“) aus der PEjoh bzw. der PEG stammen652 , wäre es vom Beginn der Traditionsbildung an nicht als Paschamahl gedacht gewesen. Aber auch ohne diese Annahme steht fest, dass es erst nachträglich zu einem Paschamahl erklärt wurde. Ein Indiz dafür liefert auch die Episode der sog. Pascha-Amnestie, die in allen vier Evangelien begegnet. Sie macht erzählerisch nur Sinn, wenn der römische Präfekt sie vor dem Fest erlässt, damit der Amnestierte noch am Paschamahl teilnehmen kann653. Mittelteil (B): Pascha-Notizen

Donnerstag Vorbereitung des Mahls

Markus

Matthäus

Lukas

14,12–16 (V.12: „und am ersten Tag der ungesäuerten Brote,

26,17–19 (V.17: „und am Ersten [Tag] der ungesäuerten Brote“)

22,7–13 13,1: „Vor dem Fest (V.7: „Es kam aber der Tag der des Pascha“ ungesäuerten Brote, an dem das Paschalamm geschlachtet werden musste“)

(V.16d: „und sie bereiteten das Paschamahl vor“)

(V.19c: „und sie bereiteten das Paschamahl vor“)

(V.13d: „und sie bereiteten das Paschamahl vor“)

keine ­expliziten Paschamahl-­ Hinweise

keine expliziten Paschamahl-­ Hinweise

14,30: „in dieser Nacht“

26,34: „in dieser Nacht“

22,15 f.: „Mich hat sehr danach verlangt, dieses Pascha mit euch zu essen […]“

an dem man das Pascha­ lamm schlachtete“)

Mahl

Johannes

durchkreuzt werden (vgl. 16,3). Auch das ist ein Mittel zu verdeutlichen, dass in der Passion Gott das Geschehen lenkt“. 651  Siehe oben 1.4.3. 652  Schleritt, Passionsbericht 245–249; allerdings ist diese Annahme keineswegs sicher: siehe unten S. 283 Anm. 282 im Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten. 653  Blinzler, Prozess 106.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

Freitag Prozess vor Pilatus

Markus

Matthäus

Amnestie „zum (κατά) Fest“: 15,6

Amnestie „zum (κατά) Fest“: 27,15

Lukas

175

Johannes Amnestie „am (ἐν) Paschafest“654: 18,39 18,28 („und sie gingen nicht in das Prätorium hinein, um …. das Paschalamm essen zu können“) 19,14 („es war aber Rüsttag des Pascha, ungefähr die sechste Stunde“)

Eine der Amnestie-Episode vergleichbare Ungereimtheit (aus Perspektive der synoptischen Chronologie) enthält im Schlussteil (C) die Notiz Mk  15,21 par. Lk  23,26 zu Simon von Kyrene, der am hohen Festtag von seiner morgendlichen „Arbeit“ auf den Feldern (ἀπ’ ἀγροῦ) in die Stadt zurückkehrt655. Gehört die Notiz zum Archetyp der Passionserzählung, spricht sie gegen die Identifikation des Todestags Jesu mit dem Paschafest. Die Zeitangaben im Schlussteil (C) wie im Epilog (D) der unterschiedlichen Überlieferungszweige stimmen weithin überein. Nur die Erläuterung der Zeitangabe Joh  19,31 („denn es war Rüsttag“): „denn groß war jener Tag des Sabbats“, die auf den Evangelisten zurückgeht656 , macht die Identität dieses Sabbats mit dem ­Pascha-Fest ausdrücklich. Der Archetyp der Passionserzählung betont den Zu­ sammenfall von Sabbat und Pascha nicht eigens. Schlussteil (C) und Epilog (D): Die relevanten chronologischen Angaben Markus 15,42: Rüsttag „Abend“ (Freitag) Begräbnis Jesu „Rüsttag“ „Vorsabbat“

Matthäus

Lukas

Johannes

27,57: „Abend“

23,54:

19,31:

„Rüsttag“ „der Sabbat brach an“

„Rüsttag“ (42: „der Juden“) 657 „der Tag des Sabbats“ – „ein großer“

654  Pesch, Mk II 325, presst die Angabe, wenn er aus ihr einen „Widerspruch innerhalb der joh. Chronologie“ konstruiert, „sofern der 15. Nisan vorausgesetzt wäre“. ἐν: an = aus Anlass des Festes. 655  Theißen, Lokalkolorit 188; anders A.Y. Collins, Mk 736: „The statement is not precise enough to make clear what the exact circumstances of Simon’s activity were“ (sie übersetzt: „who was coming from the country“). Aber Matthäus streicht die Notiz nicht ohne Grund. 656  Joh  7,37 kennzeichnet auch den „letzten Tag“ des Laubhüttenfestes als „groß“; vgl. Schnackenburg, Joh III 334; Becker, Joh II 705; Schnelle, Joh 372 Anm.  60; Weidemann, Tod 415 f. 657  Zu den auffälligen Übereinstimmungen von Lk  23,54 und Joh  19,42 (beide übergehen den

176

I. Teil: Die Quellen

Markus Sabbat (Samstag)

Erster Tag der Woche (Sonntag)

Matthäus

Lukas

Johannes

24,1: „am ersten Tag der Woche, ganz in der Frühe“

20,1: „am ersten Tag der Woche, in der Frühe, als noch Finsternis war“

27,62 „nach dem Rüsttag“ (Rückblende) 16,1: „als der Sabbat vorüber war“ 16,2: „sehr früh am ersten Tag der Woche“

28,1: „nach dem Sabbat, in der Dämmerung zum ersten Tag der Woche“

Die synoptische und johanneische Passionschronologie widersprechen sich. Oft wird dafür der vierte Evangelist mit seiner symbolischen Deutung der Todeszeit Jesu verantwortlich gemacht, weil ihm zufolge Jesus gegen zwölf Uhr der Kreuzigung übergeben wird (Joh  19,14), als im Tempel die Opfer vorbereitet werden, und stirbt, als mit der Schlachtung begonnen wird658 – er, das Paschalamm, das in Wahrheit „die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh  1,29; vgl. 1,36 659). Um dieser Pascha-Christologie willen habe Johannes die bei Markus aufbewahrte ursprüngliche Chronologie abgewandelt660 . Aber diese Erklärung ist voreilig. Beide Passionschronologien, die synoptische wie die johanneische, sind an der Paschathematik interessiert, setzen sie nur jeweils narrativ unterschiedlich um: Während Markus (und ihm folgend Matthäus) und Lukas das letzte Mahl Jesu deswegen als Paschamahl darstellen, weil sie in der Szene das Urbild des frühchrist­ lichen Paschagedenkens sehen661, verbindet der vierte Evangelist die Thematik mit seiner Sicht des Todes Jesu. Beide Darstellungen sind theologische Konstrukte. Deshalb ist es methodisch kurzschlüssig, die Antwort auf die Frage, welche der beiden Passionschronologien ursprünglich ist, unmittelbar historisch auszuwerten662 . ZuHinweis auf den „Abend“ und bieten den auf „den Rüsttag“ erst am Ende der Erzählung) siehe unten in II.  11.1 (4). 658  Philo, SpecLeg  2 ,145: „vom Mittag bis zum Anbruch der Nacht“; Jos, Bell  6 ,423: „da nun gerade das Paschafest begann, an dem von der neunten bis zur elften Stunde geopfert wird“; Ant  17,213 (ohne Zeitangabe). – Schlund, Knochen 121 f., versteht die Stundenangabe als narratives Mittel, die „Königsproklamation“ Jesu durch Pilatus (V.14) und seine „Übergabe zur Kreuzigung“ hervorzuheben, dies aber auf der „Folie“ des nun unmittelbar bevorstehenden Paschafestes; „[D]er Anbruch des Pesach und der Anbruch der Stunde Jesu, des wahren Königs“, fallen zusammen. 659  Theobald, Joh I 166–169; Joh  18,28 und 19,36 stützen die mit der Chronologie verquickte Paschalamm-Symbolik. 660  Zuletzt u. a. Herzer, Passionschronologie 100–104.112; Hengel/Schwemer, Jesus 555–557. 661  Siehe oben in I.   1.4.3 den Abschnitt Die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16 par. 662  So u. a. Pesch, Mk II 323–328 („Exkurs: Zur Chronologie der Passion Jesu“); ebd. 326: „Die joh. Chronologie erweist sich also gegenüber der syn., insbesondere der Chronologie der vormk. Passionsgeschichte als sekundär. Das historische Datum des Todes Jesu ist ein Freitag, der 15. Nisan“.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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nächst kann es nur um eine literargeschichtliche Frage gehen: Welcher Chronologie folgte die PEG und welches Gewicht maß sie ihr bei? Die Antwort darauf hängt von der überlieferungskritischen Beurteilung der Zeitangaben Mk  14,1 (vgl. Lk  22,1; Joh  11,55); Mk  14,12; Joh  12,1; 13,1; 18,28 und 19,14 ab663. Mk  14,1 (par. Lk  22,1; Joh  11,55) deutet ohne Zweifel darauf hin, dass schon die PEG die Ereignisse allesamt unter das Pascha-Vorzeichen stellte. Mk  14,12, Joh  12,1 und 13,1 werden sekundär sein664. Joh  18,28 verdankt sich nach verbreiteter Einschätzung der Pascha-Christologie des Johannes. 19,14 ist umstritten665. Den Todestag Jesu identifizieren die Evangelien einhellig als „Rüsttag“ zum Sabbat (siehe die Tabelle oben) 666 .

Wer die historische Frage nach dem Datum des Todestags Jesu stellt, wird von der PEG lediglich zwei Antworten erhalten: (1) Die Ereignisse trugen sich vor einem Paschafest zu. (2) Jesus starb am Rüsttag eines Sabbats. So mager dieses Ergebnis ausfällt, die chronologische Offenheit der PEG erklärt, inwiefern die unterschiedlichen Überlieferungszweige ihre Zeitvorgaben jeweils präzisieren und theologisieren konnten. Für die historische Frage, die erst Teil  III behandelt, sind eigene Plausibilitätskriterien in Anschlag zu bringen. 1.6.2 Was lässt sich über das frühchristliche Pascha sagen? (1) Die frühesten Quellen für ein christliches Pascha – genannt das quartodezimanische Pascha, weil es zeitgleich mit Pessach in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan begangen wurde – stammen aus der Mitte des 2.  Jh.s667. Sie gewähren Einblick in Verlauf und Verständnis der nächtlichen Feier. Sie war zweigeteilt und bestand aus einer Trauer- und einer Freudenphase, womit „liturgisch die Wende der Äonen durch Christi Kreuzestod gefeiert“ wurde668: Am Abend versammelten sich die Christen zu einer Nachtwache (Vigil), dem gemeinsamen Abschluss des Osterfastens, das schon ein oder mehrere Tage zuvor begonnen hatte669. Um Mitternacht 663 

Vgl. mit teils anderen Ergebnissen Schleritt, Passionsbericht 245–248.394.417.448 f. Siehe unten Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten. 665 V.14a: παρασκευή τοῦ πάσχα („Rüsttag des Pascha“) = ‫( ערב פסח‬Str.-Bill. II 834; das griech. Pendant dieses Terminus nur hier in den Evangelien). – Bultmann, Joh 503, und Schleritt, Passionsbericht 417, weisen beide Zeitangaben, V.14a und b („es war ungefähr die sechste Stunde“), dem Evangelisten zu, Becker, Joh II  686; Dauer, Passionsgeschichte 136; Dodd, Tradition 109; Schnelle, Joh 361 Anm.  114; Weidemann, Tod 361, der Tradition. 666  Mk  15,42: παρασκευὴ ὅ ἐστιν προσάββατον. Auch wenn der erläuternde Relativsatz sekundär sein sollte, schon „bloßes παρασκευή“ hat „im NT die feststehende Bedeutung ‚Rüsttag auf den Sabbat‘“ (Str.-Bill. II 835); des Näheren vgl. unten S. 483 mit Anm.  340 f. 667 Melito, Pascha; EpAp   12; Didask  21; Eus, HistEccl  5,23–25. – Vgl. B. Lohse, Passafest 9–20; W. Huber, Passa 12–16; Bradshaw/Hoffmann (Hg.), Passover; Rouwhorst, Passover; ders., Gottesdienst 539–545; Meßner, Einführung 302–322; Leonhard, Pesach. 668  Meßner, Einführung 315. 669  Eus, HistEccl   5,24,12 f.: „Die einen glauben nämlich, nur einen einzigen Tag, andere zwei, andere noch mehr fasten zu sollen; wieder andere dehnen die Zeit ihres Fastens auf vierzig Stunden, Tag und Nacht, aus […]“ (Irenäus, brieflich an Viktor von Rom im Kontext des Osterfeststreits). – Meßner, Einführung 315: „Man wacht gemeinsam, weil man (zumindest in der frühes664 

178

I. Teil: Die Quellen

brachen sie das Fasten, um im Gedenken an Jesu Tod und Auferstehung Mahl zu halten. Die Feier, die bis zum ersten Hahnenschrei dauerte670 , war geprägt von Gebet, Gesang und Lesung aus den Schriften, vor allem Ex  12671, wobei wahrscheinlich auch die Passionserzählung samt Kundgabe der Auferstehung zum Vortrag kam672 . Die Wurzeln des quartodezimanischen Pascha liegen im jüdischen Pascha, wie es bis zur Tempelzerstörung gefeiert und dann an die neu entstandene Lage angepasst wurde (Sedermahl) 673. Strittig ist, ob die quartodezimanische Feier eine christliche Innovation des 2.  Jh.s war oder in Kontinuität mit alter judenchristlicher Tradition stand (siehe unter 2). Inhaltlich war das christliche Pascha von der typologischen Interpretation der Geschichte vom ägyptischen Pessach und vom Auszug aus Ägypten (nach Ex  12) bestimmt. Im 2.  Jh. erhielt es massive Konkurrenz von der Oster­ feier, wie sie in „heidenchristlichen“ Ekklesien am Sonntag nach dem jüdischen Pessach gefeiert wurde (dominikale Osterpraxis), überlebte aber noch geraume Zeit. (2) Wenn es eindeutige Belege für die Existenz einer frühchristlichen Paschafeier erst seit der Mitte des 2.  Jh.s gibt674, muss daraus nicht geschlossen werden, die Feier sei erst zu dieser Zeit in Kleinasien entstanden. „[A]ngesichts der mutmaßlichen Entwicklung des Festes aus dem jüd(ischen) Passa“ und der Konstanz liturgischer Konvention675 ist seine Existenz schon im 1.  Jh. sehr wahrscheinlich676 . Zur Stütten Zeit) auf den in der Osternacht zur Parusie wiederkommenden Christus wartet“. – Die Christen hielten ihr Trauerfasten, während die Synagoge in Freude Pascha beging (vgl. Jub  49,2: „Denn in dieser Nacht – der Anfang des Festes und der Anfang der Freude ist sie!“; 49,22: „an jenen sieben Tagen der Freude vor dem Herrn“; Esr  6 ,22; Jos, Ant  11,110; 17,213; Melito, Pascha  80). 670  EpAp  15. 671  In den Gemeinden Melitos und des Pseudo-Hippolyt wurde über diesen Text auch gepredigt; vgl. Hinführung unter 1.2.1. 672  Meßner, Einführung 315 f. 673  Albertz, Ex 1–18, 213 f. („Zur Geschichte des Passafestes“); Meßner, Einführung 304– 311. – Die chronologisch älteste Erwähnung des Festes ist Dtn  16,1–8; Ex  12 (das ägyptische Pascha) wird in sehr unterschiedlicher Weise von Jub  49,1–23, Weish  18,6–9 (vgl. Leonhard, Eucharist 277–287) und EzTrag 156–174 rezipiert, außerdem vgl. 11QT   17,6–16; in Erzähltexten: 2Chron  30,1–27; Esr  6 ,19–22: Schlund, Knochen 9–56; dies., Deutungen 398–403. – Leonhard, Pesach 117: „Palestinian rabbis and adherents to their movement celebrated Pesach after 70 C.E. by adapting it to the customary forms of Hellenistic symposia“; ders., Eucharist 290–292; Transparenz auf die zeitgenössische Weise, wie Juden in Kleinasien Pascha feierten, besitzt Melito, ­Pascha  80: „du warst fröhlich, […], du trankest Wein und aßest Brot, […], du warst strahlenden Angesichts, […], du warst voll Jubel, […], du sangest Psalmen, […], du tanztest, […], du lagst auf weichem Lager ausgestreckt, […]“; dazu Leonhard, Pesach 50: „If one can learn something about the Jewish Pesah from this line, it is only the fact that the latter participates in the surrounding culture“. 674  Von im Detail vielleicht fragwürdigen, aber doch bezeichnenden Nachrichten wie der des Eusebius, Polykarp habe Irenäus zufolge versichert, persönlich mit dem Apostel Johannes und anderen Pascha gefeiert zu haben (Eus, HistEccl  5,24,6 und 16), ist abzusehen. 675  Sie scheint noch durch bei Eusebius trotz seiner Parteilichkeit in HistEccl  5,23,1 („die Gemeinden von ganz Asien glaubten auf Grund sehr alter Überlieferung, man müssen den 14. Tag des Mondes, an welchem den Juden die Opferung des Lammes befohlen war, als Fest des Erlösungspascha feiern“) wie in dem von ihm zitierten Brief des Polykrates (24,6: „diese alle haben gemäß dem Evangelium das Pascha am 14. Tag gefeiert; sie sind keine eigenen Wege gegangen, sondern der vom Glauben gewiesenen Richtung gefolgt“), dazu: Brox, Tendenzen 124–127. 676  Kinzig, Art. Ostern II. 729; ebenso Meßner, Einführung 311–313; anders Leonhard,

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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zung dieser Annahme wäre es freilich gut, mehr über das jüdische Pascha zu wissen, wie es vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem677, aber auch in der Diaspora begangen wurde. „Leider wissen wir zu wenig über die Paschafeier in der Diaspora. Philo und Josephus sind keine große Hilfe, Josephus nicht, weil er noch von der Erinnerung an das Tempelpascha zehrt, Philo nicht, weil er allegorisch auslegt“678 . Der Alexandriner bezieht sich in SpecLeg  2,145–­149 – nach seinem Grundtext, der Tora, ist das nicht anders zu erwarten – auf Jerusalem, wo das Fest zur „dankbaren Erinnerung“ an den Exodus (SpecLeg  2,146) begangen wird, was ein Diaspora-Pascha nicht ausschließt679. Auch Hans-Josef Klauck geht davon aus, „dass man [in der Diaspora] ein feierliches Mahl im Familien- und Freundeskreis hielt680 . Eine Vorschrift in der Mischna (Pes 4,4) kann man dahingehend verstehen, dass dort, wo man schon vor Zerstörung des Tempels in den Paschanächten gebratenes Fleisch aß, diese Praxis fortbestehen darf, während man es an anderen Orten, wo es nicht Brauch war, nicht einführen soll, um nicht den falschen Eindruck eines Opferdienstes ohne Tempel zu erwecken“681. Trotz Mangels eindeutiger Belege scheint es plausibel, von der Praxis eines Paschamahls in der jüdischen Diaspora vor 70  n.  Chr. auszugehen682 . Davon profitiert die Annahme einer christlichen Paschafeier in den Hausgemeinden Jerusalems und der Diaspora.

Die ältesten Indizien für eine solche Feier führen Joachim Jeremias zufolge „in die apostolische Zeit“683. So heißt es im Kontext einer christologischen Adaption von Paschalamm-Traditionen in 1Kor  5,8: „Deshalb wollen wir nicht mit dem alten Pesach 119 f.: „If the destruction of the Temple in Jerusalem and the decline of Palestinian Jewry because of the Bar Kochba revolt, as well as that of the Jewish communities in the Cyrenaica and Egypt in the wake of the Diaspora uprising in 117 C.E., are taken seriously, Jewish and Christian liturgies that begin to be attested after this period can be explained as new beginnings rather than as proofs for a never-interrupted practice“; vgl. ebd. 268 f. 677  Albertz, Ex 1–18, 213 mit Anm.  19: „In der nachexilischen Zeit liefen häusliches und tempelbezogenes Passa nebeneinander her; in Elephantine etwa sind beide Formen belegt“. Auf der Linie deuteronomischer Kultzentralisation Jub  49,21: „Und sie werden das Pessach nicht halten können in ihren Städten und an allen Orten, außer vor dem Zelt des Herrn – und wenn nicht, dann vor seinem Haus, wo sein Name wohnt“. 678  Klauck, Herrenmahl 201  f.; Philo erwähnt das Fest v. a. in SpecLeg   2,145–149 und VitMos   ­ 2,224–232, Josephus in Bell   6,423–427; Ant   2,312 f.; 3,248–249; 9,263–272; 10,70–72; 11,109 f.; 17,213 f. Die Texte beider stellt ausführlich vor: Schlund, Knochen 57–76.84–97; ebd. 95 f. zur Studie von Colautti, Passover, zu Josephus, mit der Annahme, „dass Josephus eine Pesachfeier unabhängig vom […] Tempel kannte und wahrscheinlich praktizierte“; vgl. Ant  2,313: „das jetzt“ begangene Pascha (νῦν ἔτι κατὰ τὸ ἔθος οὕτως θύομεν τὴν ἑορτὴν πάσχα καλοῦντες). 679  Stemberger, Pesachhaggada 372, und J. Marcus, Mk 309, letzterer mit Hinweis auf §  149: „jedes Haus (ἑκάστη … οἰκία) erhält in jener Zeit den Charakter (σχῆμα) und die Heiligkeit eines Tempels“; Löhr, Abendmahl 112 Anm.  36: „Dass Privathäuser in Jerusalem gemein sind, betont Philo nicht“. Anders Leonhard, Eucharist 308 Anm.  109: „these passages from Philo’s oeuvre do not even hint at celebrations of Pesach in Alexandria. They speak about the festival in Jerusalem“. 680  Mit Hinweis u. a. auf EzTrag  167–174/175–193. 681  Klauck, Herrenmahl 202. 682  Rouwhorst, Gottesdienst 527 f.; Leonhard, Eucharist 279: „There is no attestation whatsoever that Pesach was celebrated outside of a temple before the destruction of the Temple of Jerusalem. Of course, it cannot be ruled out that a Jewish club should have held a festive banquet associated with the celebration of Pesach in Jerusalem. Jews in the Diaspora may have refrained from the consumption of leavened bread in that season“. 683 J. Jeremias, Art. πάσχα 900; B. Lohse, Passafest 101–112; Schürmann, Anfänge 199–206.

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I. Teil: Die Quellen

S­auerteig feiern (ἑορτάζωμεν), auch nicht mit dem Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit den ungesäuerten Broten der Aufrichtigkeit und Wahrheit!“ Ist dies rein metaphorisch zu verstehen684 oder steht eine christliche Paschafeier im Hintergrund685? Mk  2,20, eine redaktionelle Fortschreibung des Jesusworts 2,19, entstand kurz nach der Tempelzerstörung: „Es werden Tage kommen, wenn der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten an jenem Tag“. So unbestimmt diese in den Mund Jesu gelegte Prophetie ist, sie könnte sich auf ein jährliches Fasten an seinem Todestag und damit auf ein christliches Pascha zum Gedenken an die „Hinwegnahme“ des Bräutigams beziehen686 . Das lkn. Doppelwerk zeigt deutliche Spuren eines christlichen Pascha. Lk  12,38 mit seinem Hinweis auf die „Nachtwache“ (φυλακή) bleibt noch offen687. Anders die bewusste Ausgestaltung des Abschiedsmahls Jesu durch Lukas zu einem Pascha­ mahl (Lk  22,14 ff.), die ein christliches Pascha zum Hintergrund haben 688 wird . Gleiches gilt von der Erzählung der Gefangennahme und Befreiung des Petrus in den „Tagen der Ungesäuerten Brote“ Apg  12,3–19, die nicht nur motivisch auf das ägyptische Pessach und die mit ihm verbundenen Befreiungstraditionen anspielt689, sondern Petrus auch „in jener Nacht“ (Apg  12,6) 690 wie selbstverständlich zum „Haus Marias“ eilen lässt, „wo viele beieinander waren und beteten“ (Apg  12,12691). Im Hintergrund steht wohl die Praxis der „Paschavigil der Gemeinde“692 . Die Epistula Apostolorum 15(26) greift Apg  12 um die Mitte des 2.  Jh.s auf und verdeutlicht die Pascha-Bezüge des Kapitels: 684 

Wick, Gottesdienste 169 f.; vgl. auch Schrage, 1Kor I 384. Windisch, Art. ζυμή 905; J. Jeremias, Art. πάσχα 900, Anm.  41; Hengel, Mahl 462–464; Meßner, Einführung 312: 1Kor 5,8, „Konzentrat einer christlichen Pesacherzählung“; „schon um die Mitte des 1.  Jahrhunderts“ wurde also „Ex  12 typologisch auf Christi Kreuzestod interpretiert […], wie es für die christliche Osterpredigt seit den ältesten erhaltenen Zeugnissen aus dem 2.  Jahrhundert charakteristisch ist“; vorsichtig bleibt Schürmann, Anfänge 203: „Aus dem Inhalt von 1Kor  5,7–8 selbst lässt sich weder beweisen, dass Paulus keine christliche Paschafeier gekannt habe, noch, dass er sie gekannt hat“; zum Verständnis von 1Kor 5,7 f.: Schlund, Deutungen 404 f. 686  Schmithals, Mk I 179; Hengel, Mahl 464; Eckey, Mk  28. – Auch ein Fasten am Freitag wird erwogen: Pesch, Mk I 175; Schmithals, Mk I 59 f.; Lührmann, Mk 63. Mt  9,15 tilgt „an jenem Tag“, Lk  5,35 setzt die Wendung passend zum Eingang des Verses in den Plural „in jenen Tagen“. 687  Eckey, Lk II 602: „Im Hintergrund des christlichen Wachens bei Nacht steht die von Juden alljährlich als Nacht des Wachens begangene Passanacht (Ex  12,42)“. 688  Schürmann, Anfänge 203 f.; B. Lohse, Passafest 110 f., stimmt ihm zu; vgl. bereits J. Jeremias, Abendmahlsworte 117; F. Hahn, Motive 355 f. – Anders Roloff, Gottesdienst 56. 689  Apg  12,17 (vgl. V.11): Petrus erzählt, „wie der Herr ihn aus dem Gefängnis herausführte (ἐξήγαγεν ἐκ)“, knüpft an die Exodus-Tradition an (vgl. Apg  7,36: ἐξήγαγεν). Vgl. Christopher, Appropriation 172–186. 690 Mit Apg   12,6: „in jener Nacht (τῇ νυκτὶ ἐκείνῃ)“ vgl. Ex  12,12 (ἐν τῇ νυκτὶ ταύτῃ); 12,42 (ἐκείνη ἡ νύξ); Jub 49,2 („denn in dieser Nacht …“); Weish  18,6 (ἐκείνη ἡ νύξ); Mk  14,30 = Mt  26,34 (ἐν ταύτῃ τῇ νυκτί), auch V.31. 691  Vgl. bereits 12,5b den Hinweis auf das inständige Gebet der Ekklesia für Petrus. 692  Meßner, Einführung 312; vgl. auch J. Wanke, Beobachtungen 20: „auch für die urkirchlichen Gemeinden“ war „dieses Fest von Bedeutung“. Allerdings spiegelt Apg  12 eine derartige Feier in Jerusalem wider. 685 

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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„Und ihr jedoch begeht das Gedächtnis meines Todes, welcher das Pascha ist, dann wird man einen von euch […] um meines Namens willen in das Gefängnis werfen, und er wird sehr betrübt und traurig sein, weil – während ihr das Pascha feiert – er, der im Gewahrsam ist, es nicht mit euch gefeiert hat. Und ich werde meine Kraft im Gleichnis meines Engels senden, und das Tor des Gefängnisses wird sich öffnen, und er wird zu euch herauskommen, um mit euch zu wachen und zu ruhen. Und wenn ihr beim Hahnenschrei meine Agape und mein Gedächtnis vollendet, so wird man ihn wiederum nehmen und ihn zum Zeugnis in das Gefängnis werfen, bis dass er herausgeht, um zu predigen, wie ich euch befohlen habe. Und wir sprachen zu ihm: ‚O Herr, hast du nicht das Trinken des Paschas vollendet? Obliegt es uns denn, es wiederum zu tun?‘ Und er sprach zu uns: ‚Ja, bis ich komme vom Vater mit meinen Wunden‘“693.

Das Johannesevangelium spricht mehrfach vom „Pascha der Juden“ (Joh  2,13; 6,4; 11,55). Mit dem Genitiv „der Juden“ „unterscheidet (es) offenbar das jüdische Passa vom christlichen“694. Nicht nur lässt sich die quartodezimanische Paschatradition „mit der johanneischen Chronologie viel einleuchtender erklären als mit der synoptischen“695. „Man kann (auch) vermuten, dass diese (kleinasiatischen) Kreise nicht nur die Terminfrage wie das Johannesevangelium beurteilten, sondern dass die Termine des Johannesevangeliums selbst schon eine christliche Praxis spiegeln“696 . Josef Blank fügt hinzu: „Allerdings wird man dann auch viel stärker als [B.] Lohse betonen müssen, dass diese Passa-Feier wirklich ‚Gedächtnis des Todes und der Auferstehung Jesu‘ gewesen ist und nicht primär von der Parusie-Nah­ erwartung beherrscht war“697. Es gibt also genügend Spuren im Neuen Testament, die auf ein frühchristliches Paschafest im 1.  Jahrhundert verweisen. Wer mit einem solchen schon für die Jahrzehnte vor der Tempelzerstörung 70 n. Chr. rechnet698 , dem wird der Befund einer vorevangeliaren Passionserzählung, die in unterschiedlichen Varianten vorliegt, auf neue Weise plausibel. Bis in Struktur und Textgewebe hinein ist diese vom Psalter geprägt, ein deutliches Indiz dafür, dass sie ihren „Sitz im Leben“ in „gottesdienstlichen“ Versammlungen besaß699, genauer: in einer jährlichen Paschafeier zum Gedächtnis an Tod und Auferweckung Jesu700 . Die tiefe Verwurzelung dieses Festes 693  Markschies/Schröter, Apokryphen I/2, 1071 (äthiopische Fassung: C.D.G. Müller); die Herkunft der Epistula Apostolorum ist strittig, Ägypten, aber auch Syrien kommt in Frage (vgl. Schlund, Knochen 177). 694 J. Jeremias, Art. πάσχα 900 Anm.   43; Schürmann, Anfänge 202; Schlund, Knochen 176–181. 695 J. Blank, Meliton 38; vgl. ders., Johannespassion 179 f. 696  Schürmann, Anfänge 201; dazu J. Blank, Meliton 38 Anm 20: „Ich halte diese Vermutung für sehr wahrscheinlich. Dann würde daraus folgen, dass johanneische Chronologie und älteste Passafeier-Tradition zusammengehören. Wie weit reichen sie zurück? Hier erschiene der Kult als ein traditionsbildendes Element, diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen“. 697 J. Blank, Meliton 38 f.; zu B. Lohse, Passafest, ebd. 35–39. 698 J. Blank, Meliton 33: „Es ist vollkommen undenkbar und psychologisch unwahrscheinlich, dass eine Christengemeinde, die den Ereignissen selbst zeitlich noch nahestand, das jüdische Passafest habe am Himmel heraufziehen sehen, ohne dabei lebendig an all das erinnert zu werden, was im Jahre 30 mit Jesus von Nazareth geschehen war“. 699  Goodacre, Scripturalization 42–45. 700 J. Blank, Johannespassion 155: Wir stehen hier „an der Wiege des christlichen Osterfestes“.

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I. Teil: Die Quellen

im kulturellen Gedächtnis der Juden legt es nahe, dass diejenigen, die zum Glauben an den Messias Jesus gelangten, es weiterhin begingen und mit ihrem Gedenken an Jesus füllten701. Die vorevangeliaren Passionserzählungen sind keine „Schreibtisch“-Produkte, sondern entstammen lebendiger Pascha-Tradition. 1.7 Ort und Zeit der Entstehung des Archetyps der Passionserzählungen Die These, dass der Archetyp (PEG) der Passionserzählungen im Kontext des jährlichen Paschagedenkens der ersten Jesusanhänger entstanden ist, spricht für Jerusalem als sein Entstehungsort. Personal- und Lokaltraditionen, die zum Urgestein der Überlieferung gehören, stützen diese Annahme702 . (a) Simon von Kyrene, der Jesus das Kreuz trägt, wird in Mk  15,21 überraschenderweise nicht, wie üblich, über seinen Vater, sondern über seine Söhne Alexander und Rufus, die nicht-jüdische Namen tragen, definiert703. An ihnen haftet das Interesse. Wahrscheinlich gehörten sie zum Kreis der Jerusalemer „Hellenisten“ (vgl. Apg  6 ,19)704. Ihr Vater war Diasporajude, „der in Jerusalem (als Rückkehrer in die heilige Stadt) wohl der Synagoge der Zyrener (Apg  6 ,9; Jos, Ap  2,4; vgl. auch Apg  2,10; 11,20) angehörte und zu den jüdischen ‚Hellenisten‘ (Apg  9,29) zu zählen war“705. Im Unterschied zu seinen beiden Söhnen war er selbst wohl kein Jesus-Anhänger. Ein 1941 in einem Felsengrab im Südwesten des Kidrontales gefundenes Ossuarium bietet eine zweisprachige Inschrift mit dem Namen ­Alexander, Sohn des Simon und „dem hebräischen Zusatz qrnjt, was wohl ‚aus Kyrene‘ bedeutet“706 . Nicht auszuschließen ist, dass es sich um das Felsengrab der Familie handelt707.

(b) Die drei Frauenlisten Mk  15,40.47; 16,1 samt Parallelen708 markieren den Zusammenhang von Kreuzigung, Begräbnis und Auffindung der leeren Grabkammer. Seine Annahme, die PE sei als „christliche“ Haggada „neben oder anstelle der jüdischen Pessach-Haggada“ zum Vortrag gekommen, ist allerdings anachronistisch; zur Spätdatierung der Pascha-Haggada siehe Leonhard, Pesach 73–118. 701  Die Getsemani-Szene, ein Drama im Drama (vgl. unten II.  13.2), besitzt, gelesen auf dem Hintergrund der mutmaßlichen nächtlichen Pascha-Feier eine besonderen Klang: Der Tadel Jesu an die Adresse des Simon: „Konntest du nicht eine Stunde wachen?“ ist Ansporn der Gemeinde zur nächtlichen Gebetswache (vgl. Lk  12,38; Apg  12,12). 702  Theißen, Lokalkolorit 177–211, 192; vgl. Pesch, Mk II 21; Wilckens, Theologie I/2, 56; zurückhaltend Becker, Auferstehung 19: „Über einen Entstehungsort kann man […] m. E. nur spekulieren“. 703  Der Vater wird „als ‚ein gewisser Simon aus Kyrene‘ eingeführt, nicht als eine bekannte Größe. Dagegen werden mit den Namen Alexander und Rufus vertraute Personen genannt. Sie werden nicht erläutert“ (Theißen, Lokalkolorit 188 Anm.  25); vgl. den Literatur-Bericht von Lyons, Hermeneutics 139–154, zur Frage, ob die Figuren im Dienst der Paränese fiktiv sind oder historische Reminiszenzen enthalten. 704  L. Schenke, Christus 91 f.; Pesch, Mk  II  477; J. Gnilka, Mk  II  315; A.Y. Collins, Mk 736. Ob der hier genannte Rufus mit dem von Röm  16,13 identisch ist, muss offenbleiben. 705  Pesch, Mk  II  477. Vgl. auch Allison, Constructing 425 mit Anm.  138. – Apg  13,1 weiß um einen „Lucius von Kyrene“ aus der antiochenischen Gemeinde 706  Hengel/Schwemer, Jesus 614; vgl. Avigad, Depository 9. 707  Pesch, Mk  II  477. 708  Siehe die Tabelle oben in 1.4.2 unter (1).

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Mk  15,41 zufolge stammen die Frauen aus Galiläa. Bei Maria aus Magdala ist das offenkundig. Sie wird ihren Beinamen außerhalb ihrer Heimatstadt erhalten haben, um sie von anderen Marien im Kreis Jesu zu unterscheiden709. Die Frauen „müssen in der Urgemeinde bekannt gewesen sein, haben wahrscheinlich in ihr gelebt und ihre Rolle gespielt“710 . (c) Josef von Arimathäa, „ein angesehener Ratsherr“ (Mk  15,43), war in der Stadt, obwohl kein gebürtiger Jerusalemer 711, nicht unbekannt. „[S]ein Gang zu Pilatus (setzt) seinen hohen Rang voraus, am ehesten doch wohl seine Zugehörigkeit zum Synedrion, auch seinen (zumindest ‚zweiten‘) Wohnsitz in Jerusalem“712 . Die den Archetyp der Passionserzählung schufen, wussten um seine Bedeutung. (d) Schließlich deuten Ortsnamen, die von Kundigen stammen dürften, auf Jerusalem hin. Außerhalb bzw. am Rand der Stadt sind gelegen: – Betfage (Mk  1,1 par. Mt  21,1; Lk  19,29) und Betanien (zusätzlich Mk  14,3 par. Mt  26,6; Joh  12,1); – Getsemani (Mk  14,32 par. Mt  26,36); –  der Winterbach Kidron (Joh  18,1); – Golgota, „das heißt übersetzt: Schädelstätte“ (Mk  15,22 par. Mt  27,33; Joh  19,17)713.

Innerhalb der Stadt: – „der Palast (Hof) (ἡ αὐλή)714 des Hohepriesters“ (Mk  14,54 par. Mt  26,58; Mk  14,66 par. Mt  26,69715) samt „Vorhof (προαύλιον)“ (Mk  14,68) bzw. „Torgebäude (πυλών)“ (Mt  26,71)716;

709  Pesch, Mk  II  505 f. mutmaßt: „Ihre frühere Krankheit (Lk 8,2 spricht von sieben Dämonen, die aus ihr ausfuhren) könnte verständlich machen, dass sie unverheiratet war und deshalb im Unterschied zu den übrigen Frauen durch die Herkunftsbezeichnung identifiziert wird“. 710  Pesch, Mk  II  505. 711  Theißen, Tempelweissagung 149; A.Y. Collins, Mk 777: „a native of Arimathea [= Ramatajim (1Sam  1,1; LXX: Αρμαθαιμ)]“; im Unterschied zu Mk  15,43 (ὁ ἀπό …); Lk  23,51; Joh  19,38 legt Mt  27,57 nahe, dass Josef eigens aus Arimathäa gekommen sei, um den Leichnam zu erbitten. 712  Pesch, Mk  II  512 f.; weitere Überlegungen zu seiner Person siehe unten III.  2.8. 713  Die griechische Wiedergabe trifft die Bedeutung des aramäischen Wortes: Küchler, Jerusalem 420–422; siehe unten III.  2.7.1 unter (1) 714  Αὐλή = „Hof“ kann beides bezeichnen: einen offenen, umfriedeten Raum an einem Haus, aber auch den „Hof“ eines Fürsten bzw. den Palast: Jos, Bell  2,328 (Residenz des Statthalters Florus in Jerusalem: ἡ βασιλικὴ αὐλή); Vit  66.295; vgl. W. Bauer, Wörterbuch 243; Liddel-Scott, Lexicon 276. 715  Lührmann, Mk 247.254, übersetzt beide mkn. Stellen (auch Mk   15,16) konkordant mit „Residenz“, während Pesch, Mk II 425.447, die erste Stelle, Mk  14,54, mit „Palast“ wiedergibt (dafür spricht der nur hier begegnende Genitiv τοῦ ἀρχιερέως), die zweite, Mk  14,66 (κάτω ἐν τῇ αὐλῇ), hingegen mit „unten im Hof“, was dort angesichts der Umstände (Kälte, offenes Feuer, Wachpersonal) naheliegt. – Aufschlussreich ist ein Blick in die syn. Parallelen: Mt  26,69: ἔξω ἐν τῇ αὐλῇ = draußen im Hof; Lk ersetzt an der ersten Stelle, 22,54, um der Eindeutigkeit willen αὐλή durch οἰκία (V.54), während er an der zweiten, V.55, αὐλή in der Bedeutung „Hof“ beibehält. 716  Mk denkt an ein größeres Gebäude; Pesch, Mk  II 449 Anm.  2: „Offenbar ist aus konkreter Anschauung des Palastes erzählt, in dem der Versammlungsraum höher lag als der Innenhof“; anders Lührmann, Mk 252: „Nach Mk ist […] ist die αὐλή des Hohenpriesters sein Amtssitz wie das Prätorium in 15,16 die αὐλή des Pilatus. Das alles verrät gerade nicht Kenntnisse der speziellen Gegebenheiten in Jerusalem, sondern ist in hohem Grade typisiert“.

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I. Teil: Die Quellen

– der Amtssitz des Pilatus: „der Palast (Hof) (ἡ αὐλή), das ist das Prätorium“ (Mk  15,16; par. Mt  27,27; vgl. Joh  18,28.33; 19,9)717; –  „der Lithostrotos, auf Aramäisch Gabbata“ (Joh  19,13)718 am Amtssitz des Pilatus.

Wenn Markus den Amtssitz des Statthalters mit dem passenden Terminus „Prä­to­ rium“ erläutert719, können sich seine Hörer die Lokalität vorstellen: Prätorien720 gab es überall im Imperium Romanum, wo ein römischer Statthalter seines Amtes waltete: nicht nur in Jerusalem, Cäsarea (Apg  23,35) oder Ephesus (Phil  1,23), auch z. B. in der fernen Colonia Claudia Ara Agrippinensium. Mk  15,46, die An­gabe zum Grab, setzt Ortskunde voraus: Aus Felsen gehauene Gräber sind typisch für Jerusalem und seine Umgebung 721. Jürgen Becker führte die Ortsangaben zunächst als Argument für Jerusalem auf722 , rückt davon aber später ab: „[B]ei näherem Hinsehen“ sei es „ein recht schwaches Argument. Denn man muss nicht in Jerusalem seinen andauernden Lebensmittelpunkt gehabt haben, um solche Geografie Jerusalems in Stichworten im Kopf zu haben“723. Tatsächlich bietet die vorjoh. Weiterentwicklung der Passionserzählung, die nicht unbedingt in Jerusalem vor sich gegangen sein muss, Ortsangaben, die zuverlässig erscheinen (Joh  18,1; 19,13). Nun spiegelt aber die PEG „Gegebenheiten“ wider, „die kohärent sind und gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit in vielen Einzelzügen historische Plausibilität haben“724, was für Jerusalem spricht.

Der Zeit-Korridor für die Entstehung des Archetyps der PE reicht vom mutmaß­ lichen Todesjahr Jesu 30 n.  Chr. bis zur Tempelzerstörung 70 n.  Chr. – vorausgesetzt, dass der älteste literarische Zeuge der Erzählung, das Markusevangelium, um oder kurz nach 70 n.  Chr. zu datieren ist. Weil einerseits die Passionserzählung das Christusbekenntnis 1Kor  15,3–5(7) voraussetzt (siehe den nachfolgenden Exkurs), andererseits mit einer gewissen Zeitspanne zu rechnen ist, bis sie zum ältesten Evangelist sei es in Rom oder Syrien gelangte, empfiehlt es sich, mit ihrer Datierung nicht zu nah an die Ränder des Korridors heranzugehen725.

717 Die Angabe Mk   15,8: das Volk „zog hinauf (ἀναβάς)“, deckt sich mit der Angabe des J­ osephus, der den ehemaligen Königspalast, in dem die Statthalter residierten, in der Oberstadt lokalisiert: Jos, Bell  2,315.429. J. Gnilka, Mk II 301: ἀναβαίνω „könnte auf einen höher gelegenen Ort im Stadtgebiet hinweisen, […] braucht dies aber nicht. Gericht wie Heiligtum können auch ohnedies Orte sein, zu denen man hinaufzieht“. 718 Vgl. Benoit, Prätorium 162–166 („Lithostroton und Gabbatha“), zuletzt Vollmer, Toponymen 185.118–193. 719  Lateinisches Lehnwort; sollte αὐλή in Mk  15,16 den Innenhof des Palastes bezeichnen, dann nähme die (nachträgliche) Erklärung ὅ ἐστιν πραιτώριον den „Teil für das Ganze“ (J. Gnilka, Mk II 307). 720  Zur „Bedeutung des Wortes ‚Prätorium‘ in der griechisch-römischen Welt“: Benoit, Prätorium 150–153. 721  Siehe unten III. in 2.8. 722  Becker, Joh II 636. 723  Ders., Auferstehung 17 f. 724  Küchler, Jerusalem 416, zu den Ortsangaben im Zusammenhang mit Kreuzigung und Grablegung ebd. 416–418. 725  Becker, Auferstehung 17–19, will sie nicht zu früh datieren.

1. Die Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien

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Einen Fingerzeig auf Entstehungsmilieu und -zeit der PEG könnten die oben erwähnten beiden Söhne des Simon, Alexander und Rufus, geben, falls diese tatsächlich, wie angenommen, zum Kreis der „Hellenisten“ gehörten. Die PEG dürfte auf Griechisch abgefasst bzw. früh ins Griechische übertragen worden sein726 . Setzt sie mit der Erzählung von der Tempelaktion Jesu ein, dann ist zu bedenken, dass die „Hellenisten“ Jesu Tempelkritik aufgriffen und weiterführten727 und Stephanus wegen ihr das Martyrium in Jerusalem erlitt. Möglicherweise erhielt die PEG im Kreis der „Hellenisten“ ihre Formung 728 . Da die Steinigung des Stephanus und die Vertreibung der „Hellenisten“ nur wenige Jahre nach Jesu Tod anzusetzen sind (vgl. Apg  7,58), würde diese Argumentation zu einer Frühdatierung der PEG führen729. Jürgen Becker empfiehlt allerdings „Zurückhaltung gegenüber zu großer Hypothetik“: „Wir wissen, die Passionserzählung muss vor Mk entstanden sein. Da die dem vierten Evangelium bekannte Variante der vormarkinischen Passion­s­ tradition eine gewisse Zeit des Eigenlebens brauchte, um zur vorjohanneischen Erzählweise heranzuwachsen, kann man eventuell mit aller Vorsicht bis in die vierziger oder fünfziger Jahre des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zurückgehen“730 . 726 Vgl. S. 235 Anm.  73 zur Verwendung des gräzisierten Ἱεροσόλυμα in der PEG. Zur Rolle des Griechischen im Jerusalem des 1.  Jh.s Hengel, Jerusalem; ebd. 148: „[…] So wage ich die Behauptung, dass Jerusalem als die wohl bedeutendste religiöse Pilgerstadt der frühen Kaiserzeit bis zu seiner Zerstörung das eigentliche geistig-geistliche Zentrum gerade auch des griechischsprechenden Judentums war“. 727  Hengel, Geschichtsschreibung 55 f. 728  Vgl. unten II.  3.7. 729  Die PEG könnte allerdings auch nach der Vertreibung der „Hellenisten“ außerhalb Jerusalems entstanden sein. Aber es gibt keine Hinweise zugunsten dieser Annahme. – Pesch, Mk II 21, votiert für eine Entstehung der PE noch zur Amtszeit des Kajaphas (18–37 n.Chr.), weil ab Mk  14,47 der Name des Hohepriesters nicht genannt und bei den Ersthörern als bekannt vorausgesetzt würde; Theißen, Lokalkolorit, bietet zur Namenlosigkeit zwei Erklärungen an: (1) „Bei der jüdischen Institution wird das Vorgehen gegen Jesus dem ‚Amt‘ (unabhängig vom konkreten Inhaber) angelastet, bei der römischen Institution dagegen der konkreten Person. Damit würde betont: Römische Präfekten sind nicht qua Institution gegen Jesus (und das Christentum), bei jüdischen Konfliktpartnern wird die Spannung zum Christentum dagegen mit der Institution verbunden“ (183). (2) Weil die Familie des Kajaphas auch nach dessen Absetzung das Sagen in Jerusalem hatte und den Christen alles andere als freundlich gesonnen war, blieb es opportun, seinen Namen „nicht in negativen Zusammenhängen ins Spiel zu bringen“ (185). Theißen votiert für eine Entstehung der PE in der Regierungszeit des Agrippa I. (41–44 n.Chr.), weil „die Ansicht, eine jüdische Instanz könne Todesurteile gegen religiöse Dissidenten fällen [vgl. Mk  14,64!], sich […] „erst unter dem Eindruck“ von dessen eigenmächtigem Vorgehen gegen den Zebedaiden ­Jakobus und auch Petrus (Apg  12,1 ff.) bilden konnte. Mit seiner Feststellung, dass „nirgendwo […] in der Passionsgeschichte die Einberufung des Synedriums zu einem ‚Prozess gegen Jesus‘ als Kompetenzüberschreitung kritisiert“ werde (205), unterstellt der PE historisches Interesse; Näheres siehe unten III.  2.5. 730  Becker, Auferstehung 19. Guttenberger, Mk 358: „Der Verzicht auf die namentliche Nennung des Hohenpriesters und die Erwähnung des amtlichen Rangs des Pilatus einerseits und die Identifikation des Simon von Kyrene und der Maria durch die Söhne könnte darauf schließen lassen, dass die Leserschaft der vor-mk Passionserzählung mit diesen Personen vertraut war. Dies wiederum lässt eine Entstehung der vor-mk Passionserzählung noch in den 40er Jahren als mögliche erscheinen“.

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I. Teil: Die Quellen

Exkurs 2: Das Verhältnis der alten Passionserzählung zum Kerygma 1Kor  15,3–5(7) Rudolf Bultmann war einer der ersten, der den Befund, dass die Passionserzählung im Unterschied zur sonstigen Perikopen-Überlieferung einen größeren Erzählzusammenhang darstellt, vom vorausliegenden „Kerygma“ her erklärte, „wie es in den Leidens- und Auferstehungsweissagungen Mk  8 ,31; 9,31; 10,33 f. und in den Reden der Act vorliegt. Dies Kerygma wird man als die älteste zusammenhängende Tradition vom Leiden und Sterben Jesu betrachten müssen“731. Gegen die Annahme, das Kerygma sei der genetische Nukleus der Passionserzählungen gewesen, argumentiert Trocmé damit, dass ihr Archetyp laut Mk  16,1– 8 gar keine Christophanie enthalten habe, was nach 1Kor  15,3–5 für die Osterverkündigung aber unabdingbar sei732 . Nun erzählt Markus zwar keine Christophanie, aber der himm­ lische Bote im Grab kündigt sie an (Mk  16,7). Dessen Botschaft an die Frauen enthält auch die übrigen Bausteine der vorpln. Formel 1Kor  15,3–5, was strukturelle Verwandtschaft anzeigt: gestorben/gekreuzigt – begraben – auferweckt – erschienen. Die drei ersten Bekennt­ niselemente sind durch die Frauenlisten Mk  15,40 f.47 und 16,1 markiert733. Mk  16,6 f. (6) Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferweckt (ἠγέρθη), er ist nicht hier. Seht da der Ort, wo sie ihn hingelegt haben. (7) Aber geht hin, sagt seinen Jüngern und dem Petrus: „Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen (ὄψεσθε), wie er euch gesagt hat (vgl. Mk 14,28).

1Kor  15,3–5 [Christus ist gestorben] er ist auferweckt (ἐγήγερται) am dritten Tag [er ist begraben worden] dem Kephas, dann den Zwölf er ist erschienen

Entgegen der These von Ulrich Wilckens, 1Kor  15,3–5(7) sei aus Mk  16,1–7, einem alten Erlebnisbericht, generiert734, wird die Relation der beiden Überlieferungen genau umgekehrt zu bestimmen sein: Das Bekenntnis von 1Kor  15,3–5(7) wurde in Mk  16,1–7 nachträglich mittels biblischer Motive in Szene gesetzt735. Es geht der Passions- und Ostererzählung voraus und enthält deren theologische Voraussetzungen736 . Dabei ging mit der Umsetzung des Bekenntnisses in eine narrative Geschehensfolge eine bemerkenswerte Transformation der Zeitvorstellung einher. Weil die Rede vom „dritten Tag (gemäß den Schriften)“ sich in der vorpaulinischen Formel auf Gottes Auferweckungstat an Jesus bezieht, handelt es sich ursprünglich um ein „theologisches Datum“737, das besagt: Gott hat den Gekreuzigten (der Schrift entsprechend) 731 

Bultmann, Geschichte 297 f. Trocmé, Passion 61–66 („An expanded form of kerygma?“). 733  Siehe oben 1.4.2 unter (1). – G. Schneider, Passion 156, zu Mk: „Der kerygmatische Charakter“ seiner Erzählung „wird dadurch unterstrichen, dass sie die Stationen des ältesten Osterkerygmas (1Kor  15,3b–5), den Kreuzestod, das Begräbnis und die Auferweckung in je einer Perikope zur Sprache bringt“. 734  Eine einlinige Ableitung entwickelt Wilckens, Theologie I/2, 114; auch Hengel, Begräbnis; Söding, Grab, u. a. verteidigen die Historizität von Mk  16,1–8. 735  Siehe unten II.  12.8. 736  So bereits J. Jeremias, Abendmahlsworte 90. 737  Schrage, 1Kor IV 42, mit Verweis vor allem auf Hos 6,2; daneben „gibt es eine außeror732 

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nach kurzer Zeit aus dem Tod errettet. Die PEG übersetzt dieses „theologische Datum“ in die reale Zeit, indem sie die Auffindung der leeren Grabkammer durch die Frauen auf den ersten Tag der Woche datiert – den dritten seit Jesu Kreuzigung, den Freitag miteingerechnet. Die hinter den Texten liegende Geschichte wird sich zeitlich gedehnt haben. Wann die „Osterkehre“ der Anhänger Jesu aufgrund der sog. „Erscheinungen“ geschah, entzieht sich unserer Kenntnis738 . Die PEG transformierte die Geschichte entsprechend dem oben festgestellten liturgischen „Sitz im Leben“ der Überlieferung in einen strukturierten Zeitraum, was als wesentliches Moment der Formung von Erinnerung zu gelten hat.

1.8 Die älteste Passionserzählung – eine historisch verwertbare „faktuale Erzählung“? Schon die PEG, der Archetyp der kanonischen Passions- und Ostererzählungen, ist ein literarisches Konstrukt. Ihr Ziel besteht darin, der Ausbildung der Glaubens­ identität der Anhängerschaft Jesu zu dienen. Sie ist nicht der älteste erreichbare Bericht vom Leiden Jesu, der kundtut, was geschehen ist, sondern bietet eine „heilsgeschichtliche Darstellung“739. Erzähltheorien zufolge gehört sie unter die Rubrik der „faktualen“, nicht „fiktionalen Erzählungen“. „Als fiktionale Erzählungen gelten diejenigen, die im Wesentlichen erfunden sind, vergleichbar etwa mit Romanen. Faktuale Erzählungen hingegen sind solche, die sich an Er­ eignissen orientieren, die stattgefunden haben […]. Für sie gilt – wie nicht viel anders für Geschichtsschreibung – dass sie stets auch immer (Ver)Dichtungen von real oder möglich geschehenen Ereignissen aus ganz bestimmten Blickwinkeln sind und somit die Komplexität von Realität reduzieren“740 .

In diesem Sinne sind die Passionsgeschichten „faktuale Erzählungen“, eine Kennzeichnung, die als Einstieg in die Untersuchungen von Teil II und III hilfreich ist. Vielfach bezieht sich die PEG auf Personen, Orte, Zeiten und Sachverhalte der außertextlichen Wirklichkeit, insbesondere auf Jesu Kreuzigung, ist also keine „erfundene“ Geschichte im Sinne einer „fiktionalen Erzählung“. Auch eine solche kann vermittelte Realitätsbezüge enthalten, wie umgekehrt „faktuale Erzählungen“ sich fiktionalisierender Erzählverfahren bedienen und fiktive Inhalte transportieren können741. Da die Frage im Raum steht, ob die Schrift Erzählung genedentlich große Fülle weiterer Belege, in denen der Dreitageszeitraum im Alten Testament eine bedeutsame Rolle spielt. Das erlaubt in der Tat den Schluss, dass der dritte Tag ‚die Wendung zum Neuen und Besseren’ sowie ‚eine Sache von Entscheidung durch Gottes Heilstat zur endgültigen und Geschichte schaffenden Lösung’ bringt“; vgl. Lehmann, Tag. 738  Siehe unten III.  2.9 unter (1). 739 H. Zimmermann, Methodenlehre 158: „die Leidensgeschichte“ wird man „ihrer Form nach weder als erbaulichen Traktat noch als historischen Bericht bezeichnen […], sondern […] als ‚heilsgeschichtliche Darstellung‘“. Lührmann, Mk 230: „die Passionsgeschichte, die Mk aufnimmt, und wohl auch keine ihrer denkbaren Vorstufen (ist) ein einfacher Bericht gewesen […] [V]on Anfang an (wurde) von Jesu Tod und Auferweckung nur deshalb erzählt, weil man darin Heil erschlossen sah“. 740  Eisen, Literatur 122; vgl. Luther (Hg.), Geschichten. 741 R. Zimmermann, Geschichtstheorien 437–440 („Wirklichkeitserzählungen: Fiktionales versus faktuales Erzählen“), über Genette, Narrative, hinaus, der zwischen „Fiktionalität“ und „Faktualität“ eine Diastase sieht (ebd. 428 f. Anm.  61).

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I. Teil: Die Quellen

rierte oder die Erzählung erst Bezugnahmen auf die Schrift anregte742 , ist grundsätzlich damit zu rechnen, dass die PEG fiktive, aus der Schrift generierte Inhalte transportiert und sich dazu auch biblisch geprägter fiktionaler Erzählverfahren bedient. Hinzu kommt die Gattungsfrage, die sowohl für die vier kanonischen Passionserzählungen als auch für den Archetyp differenziert zu stellen ist. Wenn Ute Eisen die Passionserzählungen in die Rubrik der Geschichtsschreibung einordnet, trifft das auf die lkn. PE zu, nicht jedoch auf die PEG. Diese ist kein „historiographischer“ Text, der zwar kritisch auf seine spezifische Perspektive auf die Geschichte hin zu befragen, im Großen und Ganzen aber „zuverlässig“ ist, sondern ein kultisch-liturgischer Erinnerungstext der frühchristlichen Paschafeier, der eigenen Gesetzen gehorcht. Für Teil  III der Untersuchung, der nach den historischen Hintergründen der Passionserzählung fragt, bedeutet dies, dass es eigener Kriterien bedarf, um beim Archetyp zwischen konstruktiven und nicht-konstruktiven Momenten textanalytisch unterscheiden zu können.

2. Apokryph gewordene Evangelien Wer von den kanonisch gewordenen Passionserzählungen zu den apokryphen Erzählungen vom Tod Jesu kommt, wird nach den zuletzt gemachten Feststellungen nicht der verbreiteten Meinung erliegen, er würde nun den Schritt von „Berichten“ zu „Legenden“ tun. Art und Charakter der „Faktualität“ wandeln sich zwar, ein qualitativer Sprung geht damit aber nicht einher. Die bedeutendste unter den apokryph gewordenen Erzählungen ist das sog. Petrusevangelium (EvPetr)743. Weil einige Forscher es als Zeugin einer eigenständigen Passionsüberlieferung neben den kanonisch gewordenen Passionserzählungen beanspruchen bzw. sogar als deren älteste Vorform744, ist es angezeigt, den Text ausführlich vorzustellen.

742  Für die erste Alternative steht Crossan, Cross, für die zweite Hengel/Schwemer, Jesus 574: „Man hat nicht hemmungslos die Leidensgeschichte aus alttestamentlichen Texten ‚herausgesponnen‘, sondern einzelne Texte mit der Erinnerung an Jesu Passion verbunden“; vgl. auch Frenschkowski, Offenbarung 200: „Die atl. Anspielungen sind das gegenüber der Geschichte Sekundäre, oft eher Artifizielle“; sie haben „(abgesehen von dem Psalmzitat 15,34) etwas Zusammengesuchtes und Sekundäres“. – Siehe Hinführung 2.2 den letzten Abschnitt: „History remembered“ oder „prophecy historicized“? 743  Zu nennen sind überdies: Evangelium der Ebionäer Fr.  7, eine vom Vegetarismus bestimmte Neufassung von Lk  22,15: „Nicht begehre ich, Fleisch an diesem Pascha mit euch zu essen“ (Lührmann, Fragmente 38 f.; vgl. ebd. 32), Hebräerevangelium Fr.  6 , eine Auferstehungserzählung (ebd. 52 f.), oder das Unbekannte Berliner Evangelium (Papyrus Berolinensis 22220) mit einer Relecture der Getsemani-Überlieferung (Einleitung und Übersetzung von H.-M. Schenke, Berliner Evangelium; Frey, Leidenskampf 71–96). 744  Siehe unten!

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2. Apokryph gewordene Evangelien

2.1 Die Passions- und Ostererzählung des Petrusevangeliums Das EvPetr ist auf Griechisch verfasst und stammt wohl aus der ersten Hälfte des 2.  Jh.s. Von Hinweisen altkirchlicher Schriftsteller und wenigen umstrittenen Fragmenten abgesehen, ist es lediglich aus einer einzigen Handschrift bekannt, einem 1886/87 in Akhmim in Oberägypten gefundenen Pergamentcodex745 , der neben dem EvPetr noch die griechische „Offenbarung des Petrus“ enthält (PCair  10759). Lediglich die Passions- und Ostererzählung ist erhalten und von ihr nur ein Teil746 . Die nachfolgende Textdarbietung747 verzeichnet in der rechten Spalte die Parallelen der kanonischen Passionserzählungen wie die alttestamentlichen Bezüge, deren Repertoire im Vergleich zum Bekannten erstaunlich erweitert ist748 . Petrusevangelium

Bibl. Parallelen

1 Von den Juden aber wusch sich keiner die Hände, weder Herodes noch einer seiner Richter. Und als sie sich nicht waschen wollten, stand Pilatus auf.

Mt  27,24; Ps  25,6LXX749 Lk  23,6–12

(1)

Ps  25,4 f.LXX750

Und da befiehlt der König Herodes751, den Herrn abzuführen, indem er ihnen sagt:   Was ich euch befohlen habe, an ihm zu tun,   das tut.

(2)

2(3)Es stand aber dort Joseph, der Freund des Pilatus und des Herrn, und als er sah, dass sie ihn kreuzigen würden,

Mk  15,43 par.

745  Die Handschrift des Codex deutet auf das Ende des 6. bzw. den Beginn des 7.  Jh.s hin. Zu den Einleitungsfragen: Vielhauer, Geschichte 641–648; Vinzent/Nicklas, Petrusevangelium 682–691; auch Becker, Auferstehung 31–33; Brown, Gospel; ders., Death II 1317–1349; Demandt, Hände 104 f.215–224; Dibelius, Motive; Henderson, Gospel; Johnston, Resurrection; Koester, Gospels 216–240; Luz, Mt  I V, 10–12.389–391; Nicklas/ Kraus, Evangelium; Reinbold, Bericht 25 f.; ders., Prozess 32–34.183–187. 746  Verglichen mit der oben (in 1.1.1) gebotenen Übersicht der PE, fehlen der „Eingangsteil“ A, weithin der „Mittelteil“ B sowie ein Teil des „Epilogs“ D. 747 Übersetzung nach Schneemelcher (Hg.), Ntl. Apokryphen I 185–188 (C. Maurer); griech. Text: Lührmann, Fragmente 72–95 (mit Übersetzung); Nicklas/Kraus, Petrusevangelium 32–53; Markschies/Schröter (Hg.), Apokryphen I/1 691–695 (M. Vincent/T. Nicklas). Vgl. Brown, Death II 1323–1325: „Table 10. Sequence in the Gospel of Peter and the canonical Gospels“. 748  Dibelius, Motive; Denker, Stellung 58–77; Hieke, Petrusevangelium 91–115. 749  Ps  25,6a LXX: „Unter Unschuldigen (ἐν ἀθῴοις) werde ich meine Hände waschen“. 750  Ps  25,4 f.: „In einer nichtigen Ratsversammlung (μετὰ συνεδρίου ματαιότητος) habe ich mich nicht niedergelassen […]“. Zum wohl unmittelbar vorausgegangenen Händewaschen des Pilatus (vgl. Mt  27,24) folgt das passende Wort erst unten in V.46. Pilatus trägt im Unterschied zu Mt  27,2 keinen Titel. 751  Herodes Antipas war Tetrarch von Galiläa und Peräa (vgl. Mt  14,1; Lk  3,1.19; 9,7; Apg  13,1), nicht König (so auch Mk  6 ,14; Mt  14,9). Ist seine Figur hier „von der Rolle Herodes des Großen in den Kindheitserzählungen Jesu überlagert“ (Omerzu, Pilatusgestalt 334 Anm.  34)? Wirkt Ps  2,1 f. ein (Denker, Stellung 59)?

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I. Teil: Die Quellen

kam er zu Pilatus und bat um den Leib des Herrn zum Begräbnis. Mk  15,43 par. (4) Und Pilatus sandte zu Herodes752 und bat um seinen Leib. (5) Und Herodes sprach:   Bruder Pilatus,   auch wenn niemand um ihn gebeten hätte,   würden wir ihn begraben,   da ja auch der Sabbat aufleuchtete. Lk  23,43   Denn es steht im Gesetz geschrieben, Dtn  21,22 f.  die Sonne dürfe nicht über einem Getöteten untergehen (vgl. V.15.23). Und er753 übergab ihn dem Volk (καὶ παρέδωκεν αὐτὸν τῷ λαῷ) am Tag vor den ungesäuerten Broten, ihrem Fest. Mk  15,15b par. Joh  19,14.16a 3(6) Sie aber nahmen den Herrn (οἱ δὲ λαβόντες τὸν κύριον) und stießen ihn eilends und sprachen:   Lasset uns den Sohn Gottes schleifen,   da wir Gewalt über ihn bekommen haben. (7) Und sie legten ihm ein Purpurgewand um und setzten ihn auf den Richtstuhl (ἐπὶ καθέδραν κρίσεως) und sprachen:   Richte gerecht (δικαίως κρῖνε), o König Israels!754 (8) Und einer von ihnen brachte einen Dornenkranz und setzte ihn auf das Haupt des Herrn. (9) Und andere, die dabeistanden, spien ihm ins Angesicht, und andere schlugen ihm auf die Wangen, andere stießen ihn mit einem Rohr, und etliche geißelten ihn und sprachen:   Mit solcher Ehre wollen wir den Sohn Gottes ehren. 4(10)Und sie brachten zwei Übeltäter und kreuzigten den Herrn mitten zwischen ihnen. Er aber schwieg, wie wenn er keinen Schmerz empfände. (11) Und als sie das Kreuz aufgerichtet hatten, schrieben sie darauf: Dies ist der König Israels756 .

Joh  19,16b

Joh  19,10 Mk  15,17; Joh  19,2 Joh  19,13 (ἐπὶ βῆματος) Jes  58,2755 Mk  15,17; Mt  27,29 Mk  15,19; Mt  27,30 Joh  19,3; Jes  50,6 Mk  15,15b; Mt  27,26

Mk  15,27 par. Mk  15,24a.27 Jes  53,7; Mk  14,61 par.; Joh  19,8

Mk  15,32 par. Mt  27,42

752  Nach V.1 befinden sich eigentlich beide am selben Ort. Zu ihrer Kooperation vgl. auch Just, 1Apol  40,5 f. 753  Nicht Pilatus, wie in den kanonischen Evangelien! 754  Vgl. auch Just, 1Apol  35,6: „Höhnend haben sie (= die Juden) ihn auf den Richterstuhl gesetzt (ἐκάθισαν ἐπὶ βήματος) und gesagt: Sei uns Richter (κρῖνον ἡμῖν)!“ 755  Jes  58,2LXX: „Wie ein Volk, das Gerechtigkeit geübt […] hat, (so) verlangen sie jetzt von mir gerechtes Gericht (κρίσιν δικαίαν) und trachten danach, sich Gott zu nähern“. 756  Vgl. Melito, Pascha  96 (siehe Hinführung 1.2.1).

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2. Apokryph gewordene Evangelien

Und nachdem sie die Kleider vor ihn gelegt hatten, teilten sie sie auf und warfen das Los über sie757. (13) Einer aber von den Übeltätern schalt sie und sprach:   Wir sind ins Leiden geraten um der Freveltaten willen,   die wir begangen haben.   Dieser aber, der der Heiland der Menschen geworden ist,   was hat er euch zu Leide getan? (14) Und sie wurden zornig über ihn und befahlen, dass ihm758 die Schenkel nicht gebrochen würden, damit er unter Qualen sterbe. (12)

Ps  21,19LXX; Mk  15,24par. Lk  23,41

Ps  33,21LXX; Joh  19,33

Am  8 ,9759; Mt  27,45 par. 5(15)Es war aber Mittag (ἦν δὲ μεσημβρία), da er ja noch am Leben war. und eine Finsternis bedeckte ganz Judäa (πᾶσαν τὴν Ἰουδαίαν)760 . Und sie gerieten in Angst und Unruhe darüber (ἐθορυβοῦντο), dass die Sonne schon untergegangen sei, (Denn) es steht ihnen geschrieben, Dtn  21,22 f. die Sonne dürfte nicht über einem Getöteten untergehen (vgl. oben V.5). (16) Und einer unter ihnen sprach:   Gebt ihm Galle mit Essig761 zu trinken. Ps  68,22LXX; Mt  27,34.48 Und sie mischten es und gaben ihm zu trinken. (17) Und sie erfüllten alles Joh  19,28 und machten voll (ἐτελείωσαν) das Maß der Sünden über ihr Haupt. Joh  19,30 (1Thess  2,16) (18) Viele aber gingen mit Lichtern umher, Jes  59,9 f.762 da sie meinten, es sei Nacht (ὅτι νύξ ἐστιν), (und) fielen hin. (19) Und der Herr schrie auf und rief:   Meine Kraft, du hast mich verlassen! Mk  14,35 par. Mt  27,46 Und indem er dies sagte, wurde er aufgenommen. Lk  24,51 (20) Und zu derselben Stunde riss der Vorhang des Tempels zu Jerusalem entzwei. Mk  15,38 par. 757  Dibelius, Motive 230: „Ausdrücklich wird betont, dass sie die Kleider erst hinlegen und verteilen, alsdann verlosen; sie machen also (durch Sonderung oder Zerreißung?) Haufen, über deren Besitz dann Los oder Würfel entscheiden. Diese Auslegung deutet den Parallelismus [von Ps  21,19] auf zwei Handlungen; wir befinden uns hier abseits von dem synoptischen Verständnis der Sache, aber auf dem Wege zu der Erklärung, die bei Johannes auftritt […]“. 758  Wem? Jesus oder dem Übeltäter? Vgl. Nicklas, Juden 217. 759  Am  8 ,9LXX: „da wird die Sonne am Mittag untergehen“ (δύσεται ὁ ἥλιος μεσημβρίας). 760  Im Unterschied zu den Synoptikern (Land/Erde) ergeht das Gericht über „die Juden“, die eigentlichen Akteure gegen Jesus. 761 Auch Melito, Pascha    79.80.93, nennt nebeneinander Galle und Essig; vergleichbar nur Mt  27,34.48. 762  Jes  59,9 f.LXX: „… und sie werden hinfallen am Mittag, als ob es Mitternacht wäre (πεσοῦνται ἐν μεσημβρίᾳ ὡς ἐν μεσονυκτίῳ); wie Sterbende werden sie stöhnen“.

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I. Teil: Die Quellen

6(21)Und da zogen die Juden die Nägel aus den Händen des Herrn und legten ihn auf die Erde. Und die ganze Erde erbebte und große Furcht entstand. Mt  27,51; 28,2.4 Da leuchtete die Sonne (wieder), und es fand sich, dass es die neunte Stunde war. (23) Die Juden (οἱ Ἰουδαῖοι) aber freuten sich und gaben seinen Leib dem Joseph, damit er ihn beerdigte, da er ja geschaut hatte, was alles Gutes (ὅσα ἀγαθά) er [= Jesus] getan hatte763. (24) Er nahm aber den Herrn, wusch ihn764, hüllte ihn in eine Leinwand und brachte ihn in sein eigenes Grab, genannt Josephs Garten (κῆπον). (22)

7 Da erkannten die Juden und die Ältesten und die Priester, welch großes Übel sie sich selbst zugefügt hatten, und begannen zu klagen (ἤρξαντο κόπτεσθαι) und zu sagen:   Wehe über unsere Sünden,   das Gericht   und das Ende Jerusalems ist nahe herbeigekommen. (25)

Ich aber trauerte mit meinen Genossen und verwundeten Sinnes verbargen wir uns, denn wir wurden von ihnen gesucht als Übeltäter und solche, die den Tempel anzünden wollten766 . (27) Wegen all dieser Dinge fasteten wir und saßen trauernd und weinend da Nacht und Tag bis zum Sabbat767.

Mk  15,33 Joh  19,31

Joh  19,40 Mk  15,46 Joh  19,41 Joh  8 ,28; 19,37; Lk  23,48 Sach  12,10765

(26)

8(28)Als sich aber die Schriftgelehrten und Pharisäer und Ältesten miteinander versammelten und hörten, dass das ganze Volk murre (ὁ λαὸς ἅπας γογγύζει) und sich an die Brust schlage und sage:  Wenn bei seinem Tod diese überaus großen Zeichen geschehen sind,   so sehet, wie gerecht er ist (πόσον δίκαιός ἐστιν)!, (29) da fürchteten sie sich und kamen zu Pilatus, baten ihn und sprachen:  (30) Gib uns Soldaten,   damit wir sein Grab drei Tage lang bewachen,

Mk  16,1; Lk  23,54.56 Mt  27,62–66 Lk  23,48 Lk  23,47 Mt  27,63 f.

763  Joseph, Zeuge der Wunder Jesu und auch sein „Freund“: vgl. oben EvPetr   2. – Mt  27,57; Lk  23,50. 764  Ohne Parallele in den kanonischen Evangelien. 765  Sach   12,10: „und sie werden über ihn trauern (κόψονται) mit einer Klage wie über einen Geliebten und sie werden betrübt sein mit einer Betrübnis wie über einen Erstgeborenen“. Dibelius, Motive 236. 766  Es handelt sich wohl um eine Erweiterung des Motivs von der Jüngerflucht. 767  In die Geschichte zurückprojiziertes Trauerfasten des quartodezimanischen Pascha?

2. Apokryph gewordene Evangelien

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damit nicht seine Jünger kommen und ihn stehlen und das Volk (ὁ λαός) heimlich verbreitet, er sei von den Toten auferstanden, und uns Böses antut. (31) Pilatus aber gab ihnen den Hauptmann (κεντυρίων) Petronius mit Soldaten, Mt  27,65; Mk  15,39 um das Grab zu bewachen. Und mit diesem kamen Älteste und Schriftgelehrte zum Grabe. (32) Und alle, die dort waren, wälzten zusammen mit dem Hauptmann und den Soldaten einen großen Stein herbei Mt  27,60 (λίθον μέγαν und legten ihn vor den Eingang des Grabes. τῇ θύρᾳ τοῦ μνημείου) (33) Und legten sieben Siegel an, Mt  27,66 schlugen ein Zelt auf und hielten Wache. 9(34)Frühmorgens, als der Sabbat anbrach, kam eine Menge (ὄχλος) aus Jerusalem und der Umgebung, um das versiegelte Grab zu sehen. In der Nacht aber, in welcher der Herrentag aufleuchtete, Lk  23,54 (Sabbat) als die Soldaten, jede Ablösung zu zweit, Wache standen, erscholl eine laute Stimme im Himmel, (36) und sie sahen die Himmel geöffnet und zwei Männer in einem großen Lichtglanz von dort herniedersteigen und sich dem Grabe nähern. Lk  24,4; Joh  20,12768 (37) Jener Stein, der vor den Eingang des Grabes gelegt war, geriet von selbst ins Rollen und wich zur Seite, und das Grab öffnete sich, und beide Jünglinge traten ein. 10 (38)Als nun jene Soldaten dies sahen, weckten sie den Hauptmann und die Ältesten – auch diese waren nämlich bei der Wache zugegen769. (39) Und während sie erzählten, was sie gesehen hatten, sehen sie wiederum drei Männer aus dem Grabe herauskommen und die zwei den einen stützen und ein Kreuz ihnen folgen (40) und das Haupt der zwei bis zum Himmel reichen, dasjenige des von ihnen an der Hand Geführten aber die Himmel überragen. (41) Und sie hörten eine Stimme aus den Himmeln rufen:   Hast du den Entschlafenen gepredigt? (42) Und es wurde vom Kreuz her die Antwort laut:  Ja. 11(43)Jene erwogen nun miteinander, hinzugehen und dies dem Pilatus zu melden. (35)

768  Während der Text hier an Lk  24,4 par. (zwei Engel!) anknüpft, reproduziert er in 55 die mkn. Rede von dem einem Jüngling. 769  Der (parenthetische) Hinweis auf die „Ältesten“ verbindet die Überlieferung mit der vorangehenden von der Sicherung des Grabes.

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I. Teil: Die Quellen

Und während sie noch beratschlagten, sieht man wieder, wie die Himmel sich öffnen und ein Mensch heruntersteigt und ins Grab hineingeht. (45) Als die Leute um den Hauptmann dies sahen, eilten sie in der Nacht zu Pilatus und verließen das Grab, das sie bewachten, und erzählten alles, was sie gesehen hatten, voller Unruhe (ἀγωνιῶντες) und sprachen:   Wahrhaftig, er war Gottes Sohn. (46) Pilatus antwortete und sprach:  Ich (ἐγώ) bin rein am Blut des Sohnes Gottes,  Ihr 770 habt solches beschlossen (ὑμῖν δὲ τοῦτο ἔδοξεν). (47) Da traten alle (πάντες)771 zu ihm, baten und ersuchten ihn dringend, dem Hauptmann und den Soldaten zu befehlen, niemandem zu sagen, was sie gesehen hatten.  (48) Denn es ist besser für uns,   – sagten sie –   uns der größten Sünde vor Gott schuldig zu machen,  als in die Hände des Volks der Juden (τοῦ λαοῦ τῶν Ἰουδαίων) zu fallen   und gesteinigt zu werden. (49) Pilatus befahl nun dem Hauptmann und den Soldaten, nichts zu sagen. (44)

12(50)In der Frühe des Herrentags nahm Maria Magdalena, die Jüngerin des Herrn – aus Furcht wegen der Juden, da (diese) vor Zorn brannten, hatte sie am Grabe des Herrn nicht getan, was die Frauen an den von ihnen geliebten Sterbenden zu tun pflegten – (51) mit sich ihre Freundinnen und kam zum Grabe, wo er hingelegt war. (52) Und sie fürchteten, die Juden würden sie sehen, und sprachen:   Wenn wir auch an jenem Tag, da er gekreuzigt wurde,   nicht weinen und klagen konnten,   so wollen wir solches wenigstens jetzt an seinem Grabe tun.   (53)Wer aber wird uns auch den Stein,   der an den Eingang des Grabes gelegt ist, wegwälzen,   damit wir hineingelangen,   uns neben ihn setzen und tun, was sich gehört?   (54) – denn der Stein war groß –   und wir fürchten, dass uns jemand sieht.   Und wenn wir es nicht können,

Mt  27,54; vgl. Mk  15,39 Mt  27,24; vgl. Ps  26,6 Mt  28,11–15

Mk  16,1 f. par.; Joh  20,1 Joh  7,13; 9,22; 19,38; 20,19

Mk  16,3 Mk  16,4d

770 Erzählerisch nicht konzis: Gemeint sind „die Ältesten“ als Repräsentanten der Juden (V.38), angesprochen sind „die Leute um den Hauptmann“ (V.45). Vgl. V.47. 771  Vgl. V.28.31.

2. Apokryph gewordene Evangelien

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  so wollen wir wenigstens am Eingang niederlegen,   was wir zu seinem Gedächtnis mitbringen,   wollen weinen und klagen,   bis wir wieder heimgehen. 13(55)Und als sie hingingen, Mt  28,3–6; Mk  16,4–6 fanden sie das Grab geöffnet. Und sie traten herzu, bückten sich nieder und sahen dort einen Jüngling (νεανισκός) sitzen mitten im Grabe, anmutig und bekleidet mit einem hell leuchtenden Gewande, welcher zu ihnen sprach:   (56)Wozu seid ihr gekommen?   Wen sucht ihr?   Doch nicht jenen Gekreuzigten?   Er ist auferstanden und weggegangen.   Wenn ihr aber nicht glaubt,   so bückt euch hierher und sehet den Ort, wo er gelegen hat,   denn er ist nicht da.  Denn er ist auferstanden und dorthin gegangen (ἀπῆλθεν ἐκεῖ)772 , Mt  28,7; Mk  16,7   von wo er gesandt worden ist (ὅθεν ἀπεστάλη). (57) Da flohen die Frauen voller Furcht (φοβηθεῖσαι). Mt  28,8; Mk  16,8 14(58)Es war aber der letzte Tag der ungesäuerten Brote, und viele gingen weg Lk  24,13 und wandten sich nach Hause, da das Fest zu Ende war. (59) Wir aber, die zwölf Jünger des Herrn, weinten und trauerten, und ein jeder, voller Trauer über das Geschehene, ging nach Hause. (60) Ich aber, Simon Petrus, und mein Bruder Andreas nahmen unsere Netze und gingen ans Meer. Joh  21,2; vgl. Lk  5,4–11 Und es war bei uns Levi, der Sohn des Alphäus, Mk  2,14 welchen der Herr … Auffällig im Vergleich zu den kanonischen Evangelien ist (1) die Neustrukturierung der weitergeschriebenen und ergänzten alten Traditionen und (2) die damit einhergehende Neu­ modellierung der Erzählfiguren. (1) Die Zäsur zwischen dem „Mittelteil“ B (= Prozess Jesu) der PE und ihrem „Schlussteil“ C (Kreuzigung und Tod Jesu) ist gleich geblieben: Der Befehl des Königs Herodes, die Verurteilung Jesu zu vollstrecken (V.2), und Jesu „Übergabe“ an das Volk (V.5 Ende) besiegeln den Prozess. Die Notiz: „Sie aber nahmen den Herrn“ (V.6) eröffnet den Schlussteil773. Wenn Jesu Verspottung, die in den kanonischen Passionserzählungen noch zu B gehört, nun Auftakt des „Schlussteils“ ist, widerspricht das nur scheinbar dieser Struktur: Nicht mehr 772  Im Hintergrund könnte die Ansage des Gehens Jesus nach Galiläa stehen: „Dort (ἐκεῖ) werdet ihr ihn sehen“. 773 Der Übergang entspricht genau dem von Joh   18,16a (παρέδωκεν αὐτὸν αὐτοῖς) zu 19,16b (παρέλαβον οὖν τὸν Ἰησοῦν) und löst die dort zu beobachtende Ambivalenz (wem übergibt Pilatus Jesus? Wer übernimmt ihn?) auf: Ab sofort ist „das (jüdische) Volk“ Träger der Handlung in Teil  C .

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I. Teil: Die Quellen

die römischen Soldaten (wie in den kanonischen Evangelien) verspotten Jesus, sondern „das Volk“774. Pilatus und die römischen Soldaten haben in Teil C (im Unterschied zu den kanonischen Evangelien) keinen Auftritt; erst im „Epilog“ D betreten sie wieder die Bühne. Die beiden Episoden mit Joseph (V.3–5/22–24) rahmen Teil C: Seine Bitte um den Leichnam Jesu richtet er zwar wie in den kanonischen Evangelien an Pilatus, zuständig ist aber König Herodes. Am Ende bestattet Joseph den Leichnam, ohne dass Pilatus in Erscheinung treten muss. Teil C endet mit zwei gegensätzlichen Reaktionen auf den Tod Jesu: der Wehklage der Juden (V.25) und dem Zeugnis der Jünger Jesu, die sich verbergen müssen und in Wir-Rede sich selbst äußern775 (V.26 f.). Die Geschichte der Versiegelung des Grabes auf Veranlassung der jüdischen Autoritäten, V.28–34, orientiert sich an Mt  27,62–66 und fungiert als eine Art Übergang. Mit der sich anschließenden Szene, die in der Nacht des heraufziehenden Herrentags spielt (V.35–49), ist die Versiegelungsgeschichte aber kompositionell derart verschränkt, dass Teil D – der „Epilog“ – schon mit V.28 einzusetzen scheint. Die beiden Episoden mit Pilatus (V.29–31/45–49) legen „einen Rahmen um die Binnenerzählung von der eigentlichen Bewachung des Grabes (V.32–44)“776 , wobei die Binnenerzählung aus der Perspektive der Wachhabenden berichtet, wie zwei Männer aus dem Himmel herabkommen, in das sich geheimnisvoll öffnende Grab gehen und mit Jesus samt dem ihm folgenden Kreuz wieder herauskommen. Die Wächter werden damit zu Zeugen himmlischer Epiphanien. Die anschließende Pilatus-Episode schließt den Rahmen, der in V.28–31 geöffnet wurde. Es folgt der Grabbesuch Maria Magdalenas und ihrer Freundinnen samt Begegnung mit dem himmlischen Boten und wohl an dritter und letzter Stelle die Erscheinung Jesu vor Petrus und seinen Gefährten am See Genezareth. Dieser nur zu vermutende Abschluss dieser Passions- und Ostererzählung ist nicht erhalten. B

Aufbau der PEEvPetr Vorletzte Szene (V.1 f.) – Prozessende (mit König Herodes als Richter und Pilatus in unbestimmter Nebenrolle) Letzte Szene (V.3–5): 1. Episode: Bitte Josephs um den Leichnam Jesu (V.3) 2. Episode: Ersuchen des Pilatus an König Herodes wegen Jesu Leichnams samt dessen Antwort (V.4–5a) 3. Episode: Übergabe Jesu an das Volk (vor dem Fest) (V.5b)

C

Erste Szene (V.6–9): 1. Episode: Übernahme des verurteilten Jesus durch das Volk (V.6) 2. Episode: Verspottung Jesu durch das Volk (V.7–9) Zweite Szene (V.10–14): 1. E  pisode: Jesu Kreuzigung inmitten zweier Verbrecher (titulus crucis; ­K leiderverteilung) (V.10–12) 2. Episode: Scheltrede eines der Mitgekreuzigten und Reaktion des Volkes (V.13–14) Dritte Szene (V.15–21) – Finsternis am Mittag 1. Episode: Aktivitäten des Volks (V.15–18) 2. Episode: Letztes Wort Jesu und seine „Aufnahme“ (V.19) 3. Episode: Zerreißen des Tempelvorhangs (V.20) 4. Episode: Kreuzesabnahme – Erdbeben (V.21)

774 

Die traditionellen Elemente der Verspottung sind auf unterschiedliche Volksgruppen verteilt. Dieses Jüngerzeugnis ersetzt die Frauenliste der Synoptiker und ist wie diese nach der Episode des Begräbnisses Jesu platziert. 776  Omerzu, Pilatusgestalt 339. 775 

2. Apokryph gewordene Evangelien

197



Vierte Szene (V.22–24) – Wiederkehr des Sonnenlichts 1. Episode: Übergabe des Leichnams an Joseph (V.22–23) 2. Episode: Jesu Bestattung im Grab des Joseph (V.24) Fünfte Szene (V.25–27): 1. Episode: Reaktion der Juden, Ältesten und Priester (V.25) 2. Episode: Reaktion des Petrus und seiner „Freunde“ (Ich-Rede) (V.26–27)

D

Übergang (V.28–34): 1. E  pisode: Sicherung und Versiegelung des Grabes durch Pilatus auf Bitte der Ältesten (V.28–33) 2. Episode: Besichtigung des versiegelten Grabes durch eine Volksmenge am frühen Sabbat (V.34) Erste Szene (V.35–49) – in der Nacht vor dem Herrentag 1. E  pisode: Ankunft von zwei Männern vom Himmel, ihr Eintritt in die geöffnete Grabkammer (V.35–37) 2. Episode: Ihre Rückkehr aus dem Grab mit einem dritten Mann samt Kreuz (V.38–42) 3. E  pisode: Nach Ankunft eines weiteren Mannes im Grab Schweigebefehl des Pilatus (V.43–49) Zweite Szene (V.50–57) – beim Anbruch des Herrentags 1. Episode: Weg der Magdalenerin und ihrer Freundinnen zum Grab (V.50–54) 2. Episode: Begegnung mit dem jungen Mann im Grab und dessen Osterverkündigung (V.55–56) 3. Episode: Flucht der Frauen (V.57) Dritte Szene (V.58–60) – am letzten Tag der ungesäuerten Brote 1. Episode: Heimkehr der Menschen (V.58) 2. Episode: Heimkehr der Zwölf (Wir-Bericht) 3. Episode: Petrus und andere zum Fischfang ans Meer



(2) Der Neustrukturierung der Erzählsequenzen entspricht die Neumodellierung der Erzählfiguren: Im Unterschied zu den kanonischen Erzählungen sind „die Juden“ (V.1.21.23.25.50.52) unter König Herodes für Jesu Tod alleinverantwortlich777. Wenn im Eingang des Fragments erzählt wird, dass die Juden sich – im Unterschied zu Pilatus – die Hände nicht in Unschuld waschen, heißt das: Sie übernehmen die Verantwortung für die Verurteilung und Hinrichtung Jesu. Die römischen Soldaten sind an der Hinrichtung Jesu nicht beteiligt; erst nach Jesu Tod treten sie auf Befehl des Pilatus in Erscheinung, um das Grab zu sichern. Laut V.45 wächst ihnen dabei eine besondere Rolle zu: In Mt  27,54 legen der Centurio und die wachhabenden Soldaten ein inchoatives Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu unmittelbar nach seinem Tod ab. Im EvPetr bekennen sie: „Wahrhaftig, er war Gottes Sohn“, tatsächlich erst, nachdem sie mit eigenen Augen gesehen haben, wie Jesus das Grab verlässt. Die Römer werden zu Zeugen der Auferstehung. Pilatus scheint das Bekenntnis aufzugreifen, ist aber in-

777  Zur Erzählfigur der Ἰουδαῖοι vgl. die grundlegende Monographie von Augustin, Juden, mit ihrem (im Anschluss an Nicklas, Juden) narratologischen Ansatz; ebd. 410: „[D]as Lexem Ἰουδαῖοι“ wird „mit wechselnden Referenzgruppen gebraucht: Zu Beginn des Fragments ein Sammelbegriff für alle jüdischen Figuren [V.1; V.23], wird es zwischenzeitlich synonym für das Volk [V.25] und in der vorletzten Szene dann wieder für alle jüdischen Figurengruppen verwendet [V.50.52]. Schlussendlich treten alle jüdischen Figuren im ersten Teil der Erzählung als Gegner des Kyrios auf, die ihn aus Überzeugung hinrichten wollen und dies ungeachtet des Protestes durch den römischen Statthalter auch eigenhändig tun“.

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I. Teil: Die Quellen

konsequent, wenn er auf Bitten der „Ältesten“ den Soldaten untersagt, das Gesehene weiterzuerzählen. Er versucht, die Osterbotschaft zu unterdrücken, aber es gelingt ihm nicht.

Die Belastung „der Juden“ nicht nur mit der Verantwortung für die Verurteilung Jesu zum Tod, sondern sogar mit der Durchführung der Kreuzigung entspricht der auch bei Melito im 2.  Jh. zu beobachtenden Tendenz. Melito stellt die Juden als „Gottesmörder“ hin, EvPetr als Mörder des „Gottessohns“ (V.6.9). Es fällt allerdings auf, dass zwar die Erzählfigur „der Juden“ bzw. des „Volkes“ (V.5) bis V.27 einheitlich auftritt, sich aber nach Jesu Tod aufspaltet in das Gegenüber von „Schriftgelehrten, Pharisäer und Ältesten“ einerseits und „dem ganzen Volk“, das ausruft: „Sehet, wie gerecht er war!“ (V.28; vgl. 30) andererseits. Vielleicht schwingt bei einer solchen Darstellung die Hoffnung mit, Juden zum Evangelium bekehren zu können778 . Sie steht aber nicht im Fokus. Wie Philipp Augustin gezeigt hat, deutet die das EvPetr prägende Thematik der Verfolgung (V.26.50.52.54) auf eine entsprechende Situation der angesprochenen Christen hin, verbunden mit der Absicht, ihnen durch die Erzählung „Tröstung und Ermahnung in der Verfolgungssituation“ zuteilwerden zu lassen779. Sie sollen „standhaft“ bleiben und „wie der Kyrios und seine ersten Jüngerinnen und Jünger das Vertrauen in Gott nicht […] verlieren“, vielmehr im Blick auf Christi leibliche Auferstehung „im Angesicht des drohenden Martyriums“ auf Gottes Errettung hoffen780 . Als Dokument des 2.  Jh.s macht das Fragment einen kompakten Eindruck, der es nicht erlaubt, literarkritische Vorstufen zu eruieren781. Im Interesse an der petrinischen Konstruktion sind die Inhalte der Erzählung vielleicht schon so gewählt, 778  Omerzu, Pilatusgestalt 337; Nicklas, Juden 221, sieht die „Hoffnung mitschwingen, dass das ‚Volk der Juden‘ sich doch noch zu seinem ‚Herrn‘ bekehrt“; Augustin, Juden 410 f.: „Man kann den Sinneswandel des jüdischen Volkes zwar so verstehen, dass der Erzähler es immerhin für möglich hielt, dass sich das Volk doch noch zum Kyrios hinwenden werde, eine explizit formulierte Hoffnung darauf wie in anderen frühchristlichen Schriften [sc. Paulus, ApkPetr, Unbekanntes Berliner Evangelium] findet sich aber nicht. Im Gegenteil: Das letzte Mal in unserem Fragment erwähnt werden die jüdischen Figuren – hier sind wieder pauschal οἱ Ἰουδαῖοι genannt – von den Frauen auf dem Weg zum Grab: Sie haben Angst, von den Juden entdeckt zu werden, die die Anhängerinnen und Anhänger des Kyrios verfolgen“. 779  Augustin, Juden 404; ebd. 406: „Das EvPetr wurde […] aller Wahrscheinlichkeit nach in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im südöstlichen Mittelmeerraum im Kontext eines Konfliktes zwischen Christen und Juden verfasst“. 780  Ebd. 414. 781  Crossan, Cross, rekonstruiert eine Urfassung (Mitte des 1.  Jh.), „from which all four of the intracanonical versions derive“ (ebd. 17). – Zu erwägen ist, ob der Autor des EvPetr eine Passionsund Ostererzählung aus dem liturgischen Gebrauch seiner Gemeinden im Kontext einer quartodezimanischen Pascha-Feier im Hintergrund kannte (EvPetr folgt der joh. Chronologie). Das würde vielleicht den archaisch wirkenden Gebrauch des AT (Dibelius, Motive) erklären: EvPetr stellt (wie die älteste PE) Vorgänge in biblisch gesättigter Sprache dar, ohne sich in Form markierter Zitate auf die Schrift zu beziehen (Ausnahme V.5.15). Brown, Death II 1335: „The spoken background of GPet is echoed in the fact that about one-third of its verses are in direct discourse“. Aber „GPet […] was not meant to be read in liturgy but to help people picture imaginatively the career of Jesus“. Mt habe für den Autor des Evs deshalb eine so große Rolle gespielt, weil er es vom sonntäglichen Gottesdienst her kannte, „so that it gave the dominant shaping to his thought“ (1334 f.); Vielhauer, Geschichte 645: „Als Basis der erhaltenen Erzählung dient der Mt-Bericht“.

2. Apokryph gewordene Evangelien

199

dass diese als eigenständiger Bericht des Apostels wahrgenommen werden konnte: Er unterscheidet sich von anderen bekannten Fassungen und kann mit ihnen konkurrieren. EvPetr bezieht sich mehrfach auf Sondergut der kanonischen Erzählungen, was deren Kenntnis durch den Autor erweist782 . „Nach einer über 100-jährigen Diskussion der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem EvPetr und den kanonisch gewordenen Evangelien muss es als erwiesen gelten, dass sich der Petrus-­ Evangelist einiger, eventuell sogar aller kanonisch werdender Evangelien als Quellen bediente“783. Der Text oszilliert allerdings „zwischen Charakteristika münd­ licher und schriftlicher Überlieferung sowie großer literarischer Freiheit und detailgetreuer Nähe zu den kanonisch gewordenen Evangelien“. So bleibt es schwierig, „den Überlieferungsweg“, der von jenen zum EvPetr führte, „zu rekonstruieren und in seine Einzelstränge aufzuteilen“784. Weiter führt die Annahme, dass es sich beim EvPetr um „eine aktualisierende Neuerzählung der Passion und Auferstehung Jesu Christi“ handelt: „Es greift kanonisch und apokryph werdende Tradi­ tionen auf, gestaltet aus ihnen eine eigenständige Erzählung und aktualisiert in dieser Form das foundational narrative des Christentums für seine intendierten Leser des zweiten Jahrhunderts“785. Damit steht fest: Einen Zugang zum ältesten Stadium der Passionsüberlieferung bietet EvPetr nicht786 , für eine Rekonstruktion der PEG fällt es definitiv aus. 2.2 Evangelium des Nikodemus (die sog. Pilatusakten) Wollte man den Titel „Acta Pilati“, den die Schrift auch trägt, beim Wort nehmen, müsste diese bzw. ihr erster Teil, der den Pilatus-Prozess samt Kreuzigung Jesu enthält, als offizielles Dokument zu den römischen Jesus-Quellen (siehe unter 4) gerechnet werden. Die erstaunliche Popularität der Schrift in Spätantike und Mittelalter – über 500 Handschriften in Griechisch, Latein und den alten Sprachen des 782  Brown, Death II 1327–1331, listet alle Berührungen auf, z. B.: Ausschließlich mit Mk trifft sich EvPetr in den Termini κεντυρίων (V.31.38.45.47.49) und νεανίσκος (V.55) wie insgesamt in der Grabeserzählung; das Sondergut des Mt wird greifbar etwa in V.1 (Motiv des Händewaschens), in V.46 (Unschuldserklärung des Pilatus) und in V.29–33 (Grabeswache), das des Lk in V.1–5 (Herodes Antipas), V.13 (der verständige Mitgekreuzigte) und in V.25 (das klagende Volk). Der Einfluss von Joh zeigt sich an der Rede von „den Juden“, am Motiv des „Gartens“ (V.24) oder dem der „Furcht wegen der Juden“ (V.50) usw.; vgl. auch Schleritt, Passionsbericht 121 f. 783  Augustin, Juden 97; für Abhängigkeit von den (später) kanonisch gewordenen Evangelien auch: Vielhauer, Geschichte 641–648; Klauck, Evangelien 118; Green, Gospel 293–301; Reinbold, Bericht 25; Schleritt, Passionsbericht 123 f. u. a. 784  Augustin, Juden 97. Brown, Gospel 321–343; ders., Death II 1334 f., rechnet – abgesehen von literarischen Bezügen – auch mit Aufnahme bekannter Evangelien-Motive aus mündlicher Überlieferung (second orality). 785  Augustin, Juden 109. 786 So Koester, Gospels 220–240, der (in Modifikation der Thesen von Crossan, Cross) EvPetr als unabhängigen Zeugen den kanonischen Passionserzählungen gleichberechtigt zur Seite stellt; dazu kritisch Brown, Gospel; ders., Death II 1322 Anm.  9; 1332 f.; Reinbold, Bericht 25 Anm.20. – Vincent, Marcion 273–275, vermutet Abhängigkeit des EvPetr von Markions Evangelium.

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I. Teil: Die Quellen

Ostens bis hin zu den alten europäischen Volkssprachen in unterschiedlichen Rezensionen sind bekannt787 – verdankt sie u. a. der Fiktion des Titels, ein amtlicher Zeuge der Jerusalemer Vorkommnisse zu sein788 . Das Buch insgesamt, „Evangelium des Nikodemus“ betitelt, verkörpert „den Typ eines reinen Passions- und Osterevangeliums“789, bestehend aus Prolog, einem ersten Teil mit besagtem Pilatusprozess (Kap.  1–8) und Jesu Kreuzigung (Kap.  9–11), gefolgt von einem Bericht über das Geschick Josephs von Arimathäa sowie in den Hohen Rat eingebrachte Auferstehungszeugnisse (Kap.  12–16), und einem zweiten Teil mit Christi „Höllenfahrt“, seinem descensus ad inferos (Kap.  17–27). Die unförmige Schrift, deren Text sich „in ständiger Evolution“ befand790 , ist literarisch gewachsen, was schon die Doxologie am Ende von Kap.  16 als Schlusssignal mitten im Text verrät. Die mutmaßliche Vorgängerfassung, Kap.  1–16, entstand laut Prolog der Rezension Griechisch A mit lediglich diesen Kapiteln unter Kaiser Theodosius II. um das Jahr 425791. Eine Fassung, die mit den Kap.  1–11 nur Prozess und Kreuzigung Jesu bis zu seiner Grablegung durch Joseph von Arimathäa enthielt, an die in einem ersten Schritt die Kap.  12–16 angehängt wurden, ging wahrscheinlich voraus792 . Ausweislich Epiphanius von Salamis, der zur Abfassungszeit von Haer  1,5–8 (entstanden zwischen 374 und 377) die Existenz christlicher Pilatusakten in unterschiedlichen Fassungen voraussetzt, könnte eine solche Ausgabe als Reaktion auf antichristliche Pilatusakten, die Kaiser Maximinus Daia ca. 311–12 im Umlauf brachte793, bald danach794 oder „im Zuge der Restaurationspolitik Kaiser Julians“ in den 60er Jahren des 4.  Jh.s entstanden sein795. Weil bereits Justin um die Mitte des 2.  Jh.s seine Leser auf Pilatusakten verweist796 , ist nicht auszuschließen, dass die aus dem 4.  Jh. 787  Klauck, Evangelien 128; Schärtl, Nikodemusevangelium 237: „Die älteste deutsche Handschrift stammt aus dem Jahr 1330“; vgl. dies., Volk; Klauck, Evangelien 118–131. Dt. Übersetzung in Markschies/Schröter, Apokryphen I/1 240–261 (Monika Schärtl). 788  Dem Prolog der lat. Fassung A soll es sich bei dem Text um „die Taten und Handlungen unseres Herrn Jesus Christus“ handle, „die unter dem Kaiser Theodosius dem Großen zu Jerusalem im Prätorium des Pontius Pilatus in den öffentlichen Archiven gefunden wurden“ (Markschies/Schröter, Apokryphen I/1 240). 789  Klauck, Evangelien 118; Schärtl, Nikodemusevangelium 237. 790  Klauck, Evangelien 129; ebd. 121: „Die Handschrift mit der Version griech. A, die nur Kap.  1–16 enthält, also ohne die Höllenfahrt auskommt, stammt erst aus dem 12.  Jahrhundert. Die lateinischen Handschriften sind teils erheblich älter. Durch sie sind die Kap.  1–16 für das 5.  Jahrhundert sicher bezeugt und Kap.  17–27 für das 9.  Jahrhundert“. 791  Schärtl, Nikodemusevangelium 238. 792  Klauck, Evangelien 120; Schärtl, Volk 170: Ursprünglich umfassten die Pilatusakten Kap.  1–11 (ohne 4,2 und 5) und 13,1–2, das Nikodemusevangelium Kap.  12–16 (ohne 13,1–2). 793  Eus, HistEccl  9,5,1; 9,7,1; vgl. 1,9,3 f. 794  Klauck, Evangelien 121, vermutet als Entstehungszeit, „die ersten Jahrzehnte nach 300“. 795  Schärtl, Nikodemusevangelium 238. 796  Just, 1Apol 35,9: „Und dass das so geschehen ist [Justin bezieht sich auf die Kreuzigung Jesu], könnt ihr aus den unter Pontius Pilatus geführten Akten ersehen“; 48,3: „Und dass er das wirklich bewirkt hat [gemeint sind Jesu Heiltaten gemäß Mt  11,5; Jes  35,5 f.], könnt ihr aus den unter Pontius Pilatus aufgenommenen Akten ersehen“; tatsächlich enthalten die überlieferten Akten neben dem Kreuzigungsbericht Kap.  10 f. Zeugenberichte über die Heilungstätigkeit Jesu, die in den Pilatus-Prozess eingebunden sind.

3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz

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bekannten Akten auf der Verarbeitung älteren Materials fußen. Zwei Befunde sind bemerkenswert797: (1) Kap.  1–8 der Pilatusakten orientieren sich weithin an Matthäus und Johannes, die Hauptquelle der Kap.  9 –11 ist Lukas. Das Material der bekannten Evangelien wird kreativ ergänzt, ohne dass weitere Quellen erkenntlich oder gar nachweisbar wären. (2) Die Erzählung vom Pilatusprozess besteht nahezu ausschließlich aus Rede und Gegenrede, Verhör und Zeugenaussagen, wohingegen der Erzähler zurücktritt und sich auf die üblichen Redeeinleitungen oder Angaben zu den Orten der Handlung beschränkt. Die aus den Evangelien bekannten Protagonisten treten auf, aber auch Juden, die von der Heilungstätigkeit Jesu in Galiläa, der Auferweckung des Lazarus oder Jesu Einzug in Jerusalem Bericht erstatten. Der Anteil der Zeugenaussagen erhält damit großes Gewicht. Die Beteiligten beteuern die Wahrheit des Mitgeteilten oder greifen dafür sogar zum Mittel des Schwurs. Die Fiktionalität der Erzählung wird von einem gezielt anti-fiktionalen Duktus auf der Oberfläche des Textes konterkariert798 . Dazu passt die gewählte Gattung literarisierter Prozess­ akten, die für das 2.  Jh. durch die Acta Alexandrinorum belegt ist. Schon auf den Pilatusprozess in der Gestaltung durch Johannes (18,28–19,16a) wirkte sie ein799.

3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz An vorderster Stelle ist das sog. Testimonium Flavianum zu nennen, das „(Jesus-) Zeugnis“ des Flavius Josephus. Es verspricht Aufschluss über eine Sicht vom Lebensende Jesu, wie sie gegen Ende des 1.  Jh.s in jüdischen Kreisen Roms zirkuliert haben dürfte (3.1). Auch die Notiz des Tacitus zum Tod Jesu im Rahmen seiner Ausführungen zum Stadtbrand unter Nero ist ein Echo dessen, was „man“ in Rom darüber wusste (3.2). In späten Äußerungen des babylonischen Talmuds spiegeln sich jüdisch-christliche Auseinandersetzungen wider. Sie sind zwar historisch für den Prozess Jesu nicht unmittelbar von Bedeutung, aber dennoch geeignet, genuin jüdisches Licht auf ihn zu werfen (3.3).

797  Schärtl, Volk 65–165, bietet eine gründliche Analyse der Akten, v. a. des Prozessverlaufs und der Kreuzigungsszene. 798  Dobschütz, Prozess 89–114, versteht den Text als „Versuch, den Process Jesu als in allen Formen des römischen Strafprocesses, wie er dem Verfasser geläufig war, verlaufen darzustellen“ (91). 799  Siehe oben in 1.5.2.6 den Abschnitt Acta Alexandrinorum. Ein Kontinuum wird sichtbar, das es nicht erlaubt, apokryphe Darstellungen vom Tod Jesu prinzipiell von denen der kanonisch gewordenen Evangelien abzuheben.

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I. Teil: Die Quellen

3.1 „[…] auf Anzeige unserer führenden Männer“ gekreuzigt. Das sog. Testimonium Flavianum (Josephus, Ant  18,63 f.) Im 18.  Buch seiner 93/94  n.Chr. in Rom verfassten „Jüdischen Altertümer“ berichtet Josephus ausführlich über die Amtszeit des Pilatus (26–36/37 n.Chr.) in insgesamt sechs Szenen, deren dritte Wirken und Tod Jesu unter dem Statthalter beinhaltet800 . Die Passage lautet801: 63 a Zu dieser Zeit trat ein Jesus auf (γίνεται […] Ἰησοῦς), ein weiser Mensch (σοφὸς ἀνήρ), b – wenn man ihn überhaupt einen Menschen (ἄνδρα) nennen darf –; c er war nämlich Vollbringer von unglaublichen Taten (παραδόξων ἔργων ποιητής), d ein Lehrer der Menschen (διδάσκαλος ἀνθρώπων), die mit Freude das Wahre aufnehmen. e Und er zog viele Juden an (ἐπηγάγετο), aber auch viele aus dem griechischen (Volksstamm) (τοῦ Ἑλληνικοῦ). f Er war der Messias (ὁ Χριστὸς οὖτος ἦν). 64 a Und obwohl Pilatus ihn auf Anzeige unserer führenden Männer (ἐνδείξει τῶν πρώτων ἀνδρὼν παρ’ ἡμῖν) mit dem Kreuz bestraft hatte (σταυρῷ ἐπιτετιμηκότος Πιλάτου), b hörten die, die ihn zuvor liebten (οἱ τὸ πρῶτον ἀγαπήσαντες), nicht (damit) auf (οὐκ ἐπαύσαντο). c Denn er erschien (ἐφάνη) ihnen am dritten Tag wieder lebend, d wie die göttlichen Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge (θαυμάσια) über ihn prophezeit hatten. e Und noch bis heute ist das Geschlecht der nach ihm benannten Christen (τῶν Χριστιανῶν ἀπὸ τοῦδε ὠνομασμένον […] τὸ φύλον) nicht verschwunden. 800  Ant  18,55–89: dazu und zu den Parallelen der beiden ersten Szenen im Bellum siehe unten III.  1.4. Zwei Szenen (Nr.  4: Kreuzigung von Betrügern im Isistempel von Rom; Nr.  5: Vertreibung der Juden aus Rom nach einem Skandal in der römischen Oberschicht, der durch einen betrügerischen Juden ausgelöst worden war) gehören zwar zur Amtszeit des Pilatus, haben mit ihm selbst aber nichts zu tun. Thema ist die prekäre Situation der römischen Juden. Nr.  6 , die in Samarien spielt, betrifft ihn wieder und führt zu seiner Absetzung. 801  Feldman, Josephus 9 (LCL) 48–51; der von kleinen Varianten abgesehen einhellig überlieferte Text beruht auf Handschriften aus dem Mittelalter (vgl. R. Marcus, Josephus 6 [LCL] vii), wird in dieser Form aber schon von Eusebius bezeugt: HistEccl  1,11,7–8. Die komplexe textgeschichtliche Situation (vgl. Horn, Testimonium 118–124) hängt damit zusammen, dass es abweichende Fassungen gibt, deren Rückführung auf den eusebianischen Text nach wie vor problematisch ist (vgl. die Übersicht bei Niemand, Testimonium 49–53), darunter der Bericht des melkitischen Bischofs Agapius von Hierapolis aus seiner Universalgeschichte (10.  Jh.): „[…] dass zu der Zeit ein weiser (ḥakīm) Mann war, der Ješȗ ac (Īsū c) genannt wurde, einen guten Lebenswandel aufwies und als tugendhaft (oder: gelehrt) bekannt war und viele Leute von den Juden und von anderen Völkern als Jünger hatte. Pilatus hatte ihn zur Kreuzigung und zum Tode verurteilt, aber diejenigen, die seine Jünger geworden waren, gaben seine Jüngerschaft (oder: Lehre) nicht auf und erzählten, dass er ihnen drei Tage nach der Kreuzigung erschienen sei und lebe und daher vielleicht der Messias sei, in Bezug auf den die Propheten Wunderbares gesagt haben“ (Übersetzung Maier, Jesus 42 f.). Flusser, Tage 155–163 (vgl. ders., Bericht 216–225) hält diese Fassung für weitgehend identisch mit dem ursprünglichen Josephus-Text; zurückhaltend Niemand, Testimonium 51. Vgl. auch Gemeinhardt, Zeugnisse 210 (Lit.).

3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz

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Bis ins 16.  Jh. hinein galt dieser Text unbestritten als authentische Äußerung des Josephus802 . Mit dem Siegeszug der historischen Kritik kamen Zweifel auf mit dem Ergebnis, dass der Text weithin zur christlichen Interpolation erklärt wurde803. Gegen Ende des 20.  Jh. schlug das Pendel um und ein neuer Konsens begann sich herauszubilden: Das Zeugnis ist weder in Gänze authentisch804 noch in Gänze christliche Interpolation, die Wahrheit liegt in der Mitte. Seiner Substanz nach ist es echt, aber Christen, die das Geschichtswerk tradierten und der Nachwelt erhielten, kommentierten es und vereindeutigten das Jesus-Bild des Josephus in ihrem Sinne805. (1) Obwohl das Testimonium eine Sonderrolle im Pilatus-Zyklus spielt806 , ist es in den Makrokontext des Geschichtswerks fest eingebunden: Die im 20.  Buch folgende Erzählung vom Tod des „Bruders Jesu, des sogenannten Christus, Jakobus mit Namen“ (Ant  20,200) 807, setzt voraus, dass Jesus den Lesern bekannt ist, und zwar vom 18.  Buch her, wo ihn der Autor einführt und vorstellt. Bei Eliminierung des Testimoniums liefe der Rückverweis im 20.  Buch ins Leere. Die Episode ist auch im unmittelbaren Kontext plausibel verortet808 . Eine Begebenheit, in der zahllose Jerusalemer Juden wegen Pilatus ihr Leben verlieren, geht voraus; eine Kreuzigung von Betrügern in Rom schließt sich an. „Einen ‚besseren‘ 802  Whealey, Josephus 73: „[F]rom the time of Eusebius through the medieval period no Christian, either in the West or in the East, is known to have questioned the authenticity of the Testimonium Flavianum. This was to change in the sixteenth century […]“. 803 Prominent: Norden, Josephus (1913); Conzelmann, Art. Jesus 622. 804  Die Echtheitshypothese wird kaum mehr vertreten; Meier, Jew I 73, nennt Ausnahmen, dazu noch Victor, Testimonium (2010). 805  Vgl. v. a. Meier, Jew  I  59–88; Maier, Jesus 42–45; Mason, Flavius Josephus 245–267; Horn, Testimonium; Niemand, Testimonium; Theißen/Merz, Jesus 74–82.93–95.498–502. 806  Mason, Flavius Josephus 247 f.: „Wie ein Tourist im Nahen Osten, der sich eben noch durch das geschäftige Gewimmel eines Marktes geschlagen und hart um den Preis einer Ware gefeilscht hat, und plötzlich durch die Tür eines Klosters tritt, wo ihn friedliche Stille und ein mildes Licht umgeben, so werden auch die Leser des Josephus von einem Stimmungswechsel überrascht. Josephus berichtet von Aufständen, aber hier ist von Aufstand keine Rede […]“. 807  Die Hinzufügung „des sogenannten Christus“ (τοῦ λεγομένου Χριστοῦ) soll wohl Jesus von anderen Personen des gleichen Namens unterscheiden (vgl. Kol  4,11: Ἰησοῦς ὁ λεγόμενος Ἰοῦστος = „Jesus mit dem Beinamen Justus“). Auf mögliche messianische Implikationen dieses Beinamens geht Josephus nicht ein. 808  Schwierig erscheint der Anschluss der nachfolgenden Szene: „Und zur gleichen Zeit (καὶ ὑπὸ τοὺς αὐτοὺς χρόνους) traf auch noch ein anderes Unglück (ἕτερόν τι δεινόν) die Juden …“ (18,65). Weil die Annahme, Josephus könnte die Hinrichtung Jesu als ein „Unglück“ für die Juden bezeichnet haben, schwierig ist, dürfte die Zeitangabe, die der im Eingang des Testimonium entspricht (63a: κατὰ τοῦτον τὸν χρόνον), sich auf die davorstehende Szene von dem durch Pilatus angezettelten Blutbad unter den Jerusalemer Juden beziehen. Das wird freilich auch gerne als Argument zugunsten der Annahme angeführt, die dazwischenstehende Jesus-Szene sei interpoliert. Dagegen aber spricht: (1) Die beiden ersten Szenen (von den „Feldzeichen“ und dem Aquädukt) hat Josephus aus dem Bellum übernommen; in den Antiquitates schließt er mit beinahe identischer Formel („zu dieser Zeit“) parallel zwei neue Szenen an. (2) Mit dem mutmaßlichen Rückbezug von 18,65 auf 60–62 über 63 f. hinweg ist die Verklammerung der beiden folgenden Episoden in 18,65 vergleichbar: Von dem in 18,65 angesagten „anderen Unglück“ berichtet Josephus nicht unmittelbar danach, sondern erst nach der eingeschalteten Episode vom römischen Isis-Tempel 18,66–80. (3) Die Komposition des Josephus, der insgesamt „frei und assoziativ“ arbeitet, zeigt lockeren

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I. Teil: Die Quellen

Kontextort für eine Jesus-Notiz wird man bei Josephus schwerlich finden!“809 Das lässt sich präzisieren: (a) So sehr es dem Testimonium um den Weisheitslehrer Jesus geht, wichtiger noch scheint die „bis heute“ nicht ausgestorbene Anhängerschaft Jesu zu sein: „das Geschlecht der nach ihm benannten Christen“. Weil Josephus um die „Christen“ in Rom wahrscheinlich wusste, fügt das Testament sich gut zu den beiden nachfolgenden Episoden in der römischen Hauptstadt. (b) Das eigentliche Ziel des Erzählzyklus ist zwar die Darstellung der prekären Lage der Juden, Josephus hat aber noch andere gleichfalls gefährdete Minoritäten wie die Samaritaner (6. Szene) oder die ägyptischen Priester des Isis-Kults in Rom (4. Szene) im Blick, wenn auch aus anderen Gründen. Dazu passend erwähnt er mit den „Christen“ einen weiteren aus römischer Perspektive fremden Kult.

(2) Spricht der Kontext für einen Verbleib des Testimonium im Geschichtswerk, so enthält es andererseits Passagen, die spezifisch christlich sind: (a) den Vorbehalt in 63b, ob man Jesus „überhaupt einen Menschen nennen könne“, (b) das Messias-Bekenntnis in 63f („er war der Messias“) 810 , und (c) die Rede von seinem österlichen Selbsterweis „am dritten Tag“ entsprechend den Voraussagen der Propheten811. (3) Das Testimonium wegen dieses christlichen Anstrichs Josephus einfach abzusprechen, erscheint aufgrund einzelner Züge, die zur neutestamentlichen Tradition quer stehen, nicht möglich. Die Art, wie hier von Jesus als „weisem Menschen“ gesprochen wird, klingt einerseits respektvoll, andererseits auch ein wenig distanziert812 . Den Evangelien widerspricht, dass Jesus neben vielen Juden auch zahlreiche griechische Anhänger gehabt haben soll. Von seinem Lebensende heißt es nüchtern in einem Nebensatz, er sei von Pilatus „auf Anzeige unserer Ersten“ gekreuzigt worden813. Wenn Christen das Testimonium interpoliert hätten, hätten sie es, so beschämend das Argument ist, sehr wahrscheinlich antijüdisch zugespitzt814. Der Schluss des Testaments klingt, als äußere sich sein Autor „indigniert staunend über die Hartnäckigkeit, mit der sie (sc. die Christen) ihrem vor ca. 60 Jahren gekreuzigEpisodenstil. „Das Apropos ist bei ihm ein zugelassener und durchaus häufiger Anordnungsgrund!“ (Niemand, Testimonium 58). 809 Ebd. 810  Vgl. Lk   23,35; Joh  7,26; Apg  9,22; dass 63f im Unterschied zu den ntl. Bekenntnissen im Präteritum steht, befremdet nicht, wie Whealey, Testimonium 88, meint, denn nur so passt die Wendung zur Erzählperspektive des Textes. 811  Vgl. 1Kor  15,4; Lk  24,44–46; Röm  1,2–4. 812 Vgl. Meier, Jew  I  84 Anm.  4 4, zu 63d: „Notice that Josephus does not say outright that Jesus was a teacher of the truth; rather, he was a teacher of people who receive the truth with pleasure“; ἐπηγάγετο in 63e („er zog viele Juden an“) könne auch pejorativ gemeint sein: „seduced, led astray“: Josephus befleißige sich einer „studied ambiguity“ (ebd. 78 Anm.  34). 813  Der Vorgang entspricht dem, was Josephus über Jesus ben Ananias erzählt, siehe unten III.  1.7. 814  Niemand, Testimonium 59: „Die kirchliche Tendenz zur steigenden Belastung der jüdischen Seite (bis hin zur Alleinverantwortung) ist bekannt. Es ist traurig, sagen zu müssen: Einem kirchlichen Autor im Umfeld des damaligen Antijudaismus ist eine nüchterne Formulierung des Instanzenzugs ohne jede antijüdische Invektive wie hier schlichtweg nicht zuzutrauen“. So schon P. Winter, Trial 40.

3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz

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ten Lehrer anhängen“815. Ohne die oben aufgeführten Züge lässt sich die Passage problemlos einem jüdischen Historiker zuschreiben. Die dargestellten Befunde rufen nach einer Überarbeitungshypothese. Von den unterbreiteten Vorschlägen ist der moderate von John P. Meier am ehesten konsensfähig816 . Er lautet: Die drei Passagen 63b.f und 64c–d, die eindeutig einen christlichen Standpunkt vertreten, sind nachträgliche Glossen. Sie heben sich auch formal von ihrer Umgebung ab: (a) Josephus begründet seine Einschätzung, Jesus sei ein „weiser Mensch“ gewesen, zweifach: Er wirkte außerordentliche Taten (63c) und war „ein Lehrer der Menschen“ (63d) 817. Der christliche Glossator trennt mit 63b die These von ihrer Begründung ab, wenn er die Bemerkung einschiebt, dass ein bloßes Bekenntnis zur Menschheit Jesu nicht genüge. (b) Am Ende von 63 überbietet der Glossator die Qualifizierung Jesu als „Lehrer“ mit dem Messias-Bekenntnis (mit 63f), das merkwürdig nachklappt818 . (c) Den Hinweis auf die Kreuzigung Jesu in 64a konnte der Glossator so nicht stehen lassen: Ohne den Glauben an die Auferstehung lässt sich aus christlicher Perspektive vom Kreuz nicht reden. Die Glosse 64c–d unterbricht den Zusammenhang von 64a.b und e (der Bestand der Anhängerschaft Jesu trotz dessen Kreuzigung bis heute). Nach Abzug der Glossen zeigt sich ein kohärenter Zusammenhang: 63 a Zu dieser Zeit trat ein Jesus auf, ein weiser Mensch […]. c er war nämlich Vollbringer von unglaublichen Taten819, d ein Lehrer der Menschen, die mit Freude das Wahre aufnehmen. e  Und er zog viele Juden an, aber auch viele aus dem griechischen (Volksstamm) […]. 815 

Niemand, Testimonium 65. Meier, Jew I 60–64; vgl. bereits Klausner, Jesus 68, mit der vorsichtigen Einschränkung: „Ob an Stelle der eingeschobenen andere Worte über Jesus gestanden haben, die dem christlichen Empfinden nicht entsprachen und deshalb ausgemerzt und verändert wurden, oder ob sie ganz und gar Interpolation sind, lässt sich schwer entscheiden“ (72); Theißen/Merz, Jesus 78 („für diese Lösung spricht ihre Einfachheit“; Horn, Testimonium 135; Niemand, Testimonium 61 („die annähernd plausibelste Position“). – Theißen/Merz, Jesus 78–82, bieten einen Überblick über weitreichendere Hypothesen, wie die von Eisler, ΙΗΣΟΥΣ; Bienert, Jesusbericht; Brandon, Jesus (im Ergebnis ähnlich: Bammel, Testimonium), denen zufolge Josephus ursprünglich von einem politischen Aufstandsversuch Jesu gegen die Römer berichtet hätte; P. Winter, Josephus, vermutet, dass hinter den christlichen Formulierungen neutrale Aussagen zu postulieren seien; zu Flusser siehe oben Anm. 801. 817  Das Urteil „weiser Mensch“ wird mit Hinweis auf die Taten und Worte („Lehrer“) Jesu begründet. 818  Meier, Jew I 60: „[…] the statement ‚He was the Messiah‘ seems out of place in its present position and disturbs the flow of thought. If it were present at all, one would expect it to occur immediately after either ‚Jesus‘ or ‚wise man‘, where the further identification would make sense“. Whealey, Testimonium 88–91, nimmt an, dass der Text entsprechend seiner Wiedergabe durch Hieronymus (De viris illustribus 13,5: et credebatur esse Christus) ursprünglich gelautet habe: „man hielt ihn (νομίζετο) für den Messias“. Aber dann hätte Josephus seinen römischen Lesern den jüdischen Terminus χριστός (wörtlich =„der Befeuchtete“) erklären müssen (Mason, Flavius ­Josephus 248 f.). Der Schluss des Textes („der nach ihm benannten Christen“) zeigt indes, dass Josephus um „Christus“ als Beinamen Jesu weiß: vgl. oben zu Ant  20,200. 819  Die Wendung παράδοξα ἔργα ist nicht typisch christlich; im NT nur Lk  5,26: εἴδομεν παράδοξα σήμερον. 816 

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I. Teil: Die Quellen

64 a U  nd obwohl Pilatus ihn auf Anzeige unserer führenden Männer mit dem Kreuz bestraft hatte, b hörten die, die ihn zuvor liebten, nicht (damit) auf […]. e Und noch bis heute ist das Geschlecht der nach ihm benannten Christen nicht verschwunden.

Wann die Glossen entstanden, wissen wir nicht. Falls Origenes das Testimonium noch ohne sie kannte820 , werden sie nach ihm und vor Eusebius in der zweiten Hälfte des 3.  Jh.s in den Text geraten sein821. Das Testimonium in seiner ursprünglichen Fassung hat zwei Teile: Der erste spricht nach Art einer Kurzbiographie von Jesu Wirken (63), der zweite von seiner ihn überlebenden Anhängerschaft822 (64). Da Josephus an der Parallelstelle des Bellum Iudaicum, des gleichfalls in Rom entstandenen Vorgängerwerkes, über die Christen noch nichts verlauten lässt, scheinen sie ihm zwischenzeitlich bekannt geworden zu sein. Er gibt seiner Verwunderung Ausdruck, dass es sie trotz schändlicher Kreuzigung ihres Namengebers nach wie vor gibt823. Woher Josephus seine Kenntnis über Jesus bezog, darüber lässt sich nur spekulieren824. Bemerkenswert ist die knappe wie nüchterne Nennung der Todesumstände Jesu in einem Nebensatz. Die christliche Tendenz der Entlastung des Pilatus bei gleichzeitiger Belastung der jüdischen Autoritäten hat nicht auf den Text abgefärbt. Josephus nennt keinen Grund für die an Jesus vollzogene „Kreuzesstrafe“. Wenn er am Ende vom „Geschlecht der nach ihm benannten Christen“ und im 20.  Buch von Jakobus, „dem Bruder Jesu, dem sogenannten Christus“, spricht, geht er nicht auf den Messiasanspruch ein, der sich mit diesem Namen verbindet, und nennt ihn erst recht nicht als Verurteilungsgrund. Das entspricht seinem auch sonst zu beobachtenden Vorgehen, nirgends gegen Rom kämpfende Aufständische als Messiasprätendenten sichtbar zu machen, auch wenn einzelne von ihnen es tatsächlich waren825. Dem Duktus des Testimonium zufolge scheint der große Erfolg Jesu bei den Menschen für die Führungsschicht der Grund gewesen zu sein, ihn aus dem Weg räumen zu lassen826 . Vielleicht klingt bei Josephus die Erfahrung an, dass Menschen, welche die Wahrheit sagen, bei den Autoritäten nicht gelitten sind. 820 

Whealey, Josephus 12–18, insbesondere 15; Niemand, Testimonium 51–53. Olsen, Eusebius, schreibt das Testimonium wegen seiner nächsten Parallelen bei Eusebius ihm zu, aber deswegen müssen sie „nicht notwendig“ von ihm „eingetragen worden sein“ (Horn, Testimonium 135). 822  63e („und er zog viele Juden, aber auch viele der Griechen an“) verbindet den zweiten mit dem ersten Teil. 823  Meier, Jew I 66: „one is amazed to note, says Josephus, that this group of postmortem lovers […] has not disappeared even in our day (does Josephus have in the back of his mind Nero’ attempt to get it to disappear?). I detect in the sentence as a whole something dismissive if not hostile (though any hostility here is aimed at Christians, not Jesus): one would have thought by now that this ‚tribe‘ of lovers of a crucified man might have disappeared. This does not sound like an interpolation by a Christian of any stripe“. 824  Vom Hörensagen aus christlichen Kreisen in Rom? Aus Archiven? Aus palästinischer Tradition? Vgl. Meier, Jew I 67 f. Vermes, Notice, denkt an populäre Volksüberlieferung aus Palästina. 825  Dazu siehe unten Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. 826  Meier, Jew I 62: „presumably“! 821 

3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz

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Rechtshistorisch ist das Testimonium insofern relevant, als es eine Kompetenz­ aufteilung zwischen den jüdischen Autoritäten und dem römischen Prokurator zu erkennen gibt, von der Josephus auch andernorts weiß827: Bei Störungen der öffentlichen Ordnung ist das Synedrion zuständig; besondere Fälle sind den Römern nicht nur „anzuzeigen“, sondern auch zu übergeben. Von einem Prozess auf jüdischer Seite ist keine Rede828 , wohl geht Josephus davon aus, dass „unsere führenden Männer“ die Initiative zur Auslieferung Jesu ergriffen. Der Text zeigt, was Josephus, „diesem gebildeten und breit informierten Juden ca. 60 Jahre nach Jesu Tod als Umstände dieses Todes plausibel und einsichtig“ erschien 829. Kommt dies dem historischen Verlauf nahe, den auch eine kritische Analyse der Passionserzählungen als wahrscheinlich erweisen kann, dann ist das Testimonium als unabhängiges, nicht-christliches Zeugnis als flankierende Stütze von großer Bedeutung. 3.2 „[…] durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet“ (Tacitus, Ann  15,44,3) Zeitlich und räumlich Josephus benachbart ist P. Cornelius Tacitus (56/57 bis ca. 120). Anlässlich seiner Darstellung des Stadtbrandes Roms unter Nero kommt er in seinen „Annalen“ kurz auf die Christen und ihren Namensgeber zu sprechen830 . Auch er weiß wie Josephus darum, dass die Christen nach ihrem Patron so heißen, kennt aber im Unterschied zu ihm den Namen Jesus nicht und hält „Christus“ dafür. Mit Christen hatte er vielleicht schon in seiner Zeit als Prokonsul der Provinz Asia (112/113 n.Chr.) gerichtlich zu tun831, auch von Rom her kennt er sie. Die Passage lautet832: […] Aber nicht durch menschliche Hilfeleistung, nicht durch Spenden des Kaisers oder die Maßnahmen zur Beschwichtigung der Götter ließ sich das böse Gerücht unterdrücken, man glaubte vielmehr fest daran: befohlen worden sei der Brand. Daher schob Nero, um dem Gerede ein Ende zu machen, andere als Schuldige vor und belegte die mit den ausgesuchtesten Strafen, die wegen ihrer Schandtaten verhasst, vom Volk Chrestianer genannt wurden (per flagitia invisos vulgus chrēstianos appellabat). 3 Der Mann, von dem sich dieser Name herleitet (auctor nominis eius), Christus, war unter der Herrschaft des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden (Tiberio imperante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio affectus erat), und für den Augenblick unterdrückt, brach der unheilvolle Aberglaube (superstitio) wieder hervor, nicht nur in Judäa, dem Ursprungsland dieses Übels (per Iudaeam, originem eius mali),

2

827 

Siehe unten III.  1.7. Stegemann, Beteiligung 19 f. 829  Niemand, Testimonium 67 f. 830  Leider sind Teile der Annalen verloren, ausgerechnet auch die, welche die Zeit zwischen 29 und 31  n. Chr. behandeln, so dass unbekannt bleibt, ob Tacitus Jesus dort schon erwähnt hat. Buch  15 dürfte er gegen Ende seines Lebens verfasst haben, das Werk bricht nach dem 16.  Buch ab. 831  Meier, Jew I 91. „In addition, Pliny was a close friend of Tacitus and might have conveyed to him the knowledge he had gained about Christians“. 832  Übersetzung nach Heller, Annalen 748–751. 828 W.

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I. Teil: Die Quellen

sondern auch in Rom, wo aus der ganzen Welt alle Gräuel und Scheußlichkeiten zusammenströmen und gefeiert werden. 4 So verhaftete man zunächst diejenigen, die ein Geständnis ablegten, dann wurde auf ihre Anzeige hin eine ungeheure Menge schuldig gesprochen, nicht so sehr des Verbrechens der Brandstiftung als einer hasserfüllten Einstellung gegenüber dem Menschengeschlecht (odio humani generis) wegen […].

Für Tacitus ist der christliche Glaube nichts anderes als „unheilvoller Aberglaube“, ein orientalischer Kult, der sich bis nach Rom verbreitet hat, wo „alle Gräuel und Scheußlichkeiten“ zusammenkommen und die Dekadenz der Stadt befördern. Der Hinweis auf die Hinrichtung des Manns, von dem sich der Name des Kultes herleitet, durch den Prokurator genügt, um diesen „Aberglauben“ als „Gräuel“ abzutun. Im Vergleich zu dem Bild, das Josephus von den Christen hat, ist seines eingedunkelt, wenn er die öffentliche Meinung über sie in Rom, sie seien „wegen ihrer Schandtaten verhasst“, ungefiltert weitergibt. Was den Stadtbrand betrifft, lässt er allerdings durchblicken, „dass die Christen dieses besondere Verbrechen nicht begangen hatten, wodurch er den Verdacht gegen Nero implizit aufrecht(erhält)“833. Wie Josephus weiß er um den Ursprung der christlichen Bewegung in Judäa, auch dass die Hinrichtung jenes Mannes sie nicht hat zum Erliegen bringen können, der „Aberglaube“ vielmehr bis nach Rom gekommen sei834. Die Notiz zur Hinrichtung Jesu ist eher schemenhaft. Dass er gekreuzigt wurde, setzt Tacitus als selbstverständlich voraus835. Zu einer Beteiligung der einheimischen Autoritäten sagt er nichts. Hält er es für überflüssig, sie zu erwähnen, weil es ihm lediglich an der zeitlichen Einordnung des Vorfalls „unter der Herrschaft des Tiberius“ und der negativen Beurteilung des Mannes liegt, der „durch (per) den Prokurator Pontius Pilatus“ hingerichtet wurde?836 Das per dieser Feststellung ist ernst zu nehmen: „‚durch‘ Pontius Pilatus, auf Befehl und unter der alleinigen Verantwortung des römischen Präfekten“837. Wolfgang Stegemann entnimmt der Notiz, dass sie „keine Delation Jesu durch irgendeine jüdische Instanz voraus(setze)“, weshalb er damit rechnet, „dass Jesus von römischer Seite festgenommen und dem Präfekten vorgeführt worden ist“838 . Damit überfordert er allerdings die Notiz839. 833 

Liebs, Richtern 108, zum letzten oben zitierten Satz („nicht so sehr […] als“). Meier, Jew I 91: „What should be noted here, is that Tacitus implies by his phraseology that the Christian movement was already in existence before Christ’s execution; otherwise, it could not have been ‚suppressed‘ for a brief period by his death“. 835  Ebd. 101 Anm.  11: die Aussage Christus […] supplicio adfectus erat wird von gleichlautenden zu den römischen Christen gerahmt: Nero subdidit reos et quaeritissimis poenis adfecit (2) und aut crucibus adfixit (4). Wie ihr Namensgeber wurden auch seine Anhänger „ans Kreuz geheftet“. 836  Brown, Death I 381: „This passage does not concern itself with the issue of Jewish participation since it seeks to explain to the Romans about ‚the depraved group who were popularly called Christians […]‘“. W. Stegemann, Beteiligung 7: „Das einzig diskutable pagane Zeugnis (Tacitus), das gerade keine jüdische Beteiligung erwähnt, wird [hier] leichthin wegerklärt“. 837  Reinbold, Bericht 198. 838 W. Stegemann, Beteiligung 19. 839  So auch Broer, Death 156. 834 

3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz

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Woher der römische Historiker sein Wissen über die Christen geschöpft hat, lässt sich nicht sagen, aus einer Kenntnis der Antiquitates des Josephus wohl nicht840 . Wahrscheinlich kolportiert er nur wie vor ihm Josephus, was „man“ in Rom über die „Chrestiani“841 wusste. Josephus, der von Jesus als Weisheitslehrer und Wundertäter zu berichten weiß, verfügte über deutlich bessere Quellen. 3.3 Die Hinrichtung Jesu nach dem Talmud (bSan  43a) Auf die Frage, was die Rabbinen für wert erachteten, vom Verfahren des Synedrions gegen Jesus zu erwähnen, lautet die Antwort: „sehr wenig. Im umfangreichen Korpus der rabbinischen Literatur finden wir nur einen einzigen Verweis auf den Prozess Jesu und seine Hinrichtung, und das auch nur beiläufig, als Bestandteil einer breitangelegten halakhischen Diskussion, die nichts mit Jesus als historischer Figur zu tun hat“842 . Warum sollte also in einer Untersuchung zum Prozess Jesu dieses Zeugnis Erwähnung finden, wenn es mehrere Jahrhunderte danach entstanden ist und keinerlei Anspruch auf Historizität erheben kann? Eine Antwort ergibt sich aus den folgenden Hinweisen, die sich weithin auf die Darstellung des Themenkreises „Jesus im Talmud“ von Peter Schäfer stützen. Es geht um folgende Baraita aus dem Traktat Sanhedrin des babylonischen Talmuds, bSan  43a843: (Am Vorabend des Sabbats und) 844 am Vorabend des Paschafestes wurde Jesus von Nazaret845 gehängt (tela’uhu) 846 . Und ein Herold ging 40 Tage vor ihm aus (und verkündete):    Jesus von Nazaret847 wird hinausgeführt, um gesteinigt zu werden,    weil er Zauberei praktizierte (kischschef )    und Israel aufgewiegelt (hesit)    und (zum Götzendienst) verführt (hiddiach) hat.    Jeder, der etwas zu seiner Entlastung weiß, soll kommen und es vorbringen. Aber weil man nichts zu seiner Entlastung fand, hängte man ihn (am Vorabend des Sabbats und) 848 am Vorabend des Paschafestes. Kontext dieser Baraita ist eine Diskussion der Mischna, die die Prozedur der Todesstrafe regelt. Legt sie nur fest, dass der Herold bei der Herausführung eines Delinquenten zur 840 

Meier, Jew I 91. Niemand, Testimonium 65, zu den Bezeichnungen Chrestiani/Christiani bzw. Χριστιανοί: „Auffällig ist […], dass beide Autoren keinen eigentlich semantischen Klärungsbedarf sehen, ­sondern eben nur einen sozusagen ‚genealogischen‘. Offensichtlich sind die Bezeichnungen […] wegen ihrer bekannten Referenz semantisch autosuffizient und bedürfen keiner ‚Übersetzung‘“. 842  Schäfer, Jesus 129; ebd. 129–152 („Die Hinrichtung Jesu“) zum ganzen Argumentationszusammenhang. Vgl. auch Klausner, Jesus 29–31; Blinzler, Prozess 41–45; Maier, Jesus; Horbury, Trial; Catchpole, Trial 4–9; Meier, Jew I 96 f. 843  Übersetzung und Anmerkungen zum Text: Schäfer, Jesus 131 f. 844  Nur in Ms. Florenz. 845  Der Name „Jesus“ in Ms. (= Manuskript) München getilgt. 846  Wörtlich: „sie hängten ihn“. 847  Der Name „Jesus“ auch hier in Ms. München getilgt. 848  Wieder nur in Ms. Florenz. 841 

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I. Teil: Die Quellen

Steinigung dessen Verbrechen kund zu tun habe, so fordert Abaje (ein babylonischer ­Amoräer des frühen 4.  Jh.s) die Bekanntgabe zusätzlich von Ort und Zeit des Verbrechens. So können mögliche Entlastungszeugen noch gehört werden. Ein weiterer (anonymer) Kommentar erklärt: Der Herold hat nicht irgendwann vor der Hinrichtung tätig zu werden, sondern bei der Herausführung des Delinquenten. Dem scheint die alte Baraita zu widersprechen, die im Fall Jesu von Nazaret den Herold 40 Tage vor dessen Hinrichtung849 auftreten lässt: „Aber, es wird doch (im Gegensatz dazu) gelehrt (tanja): […]“. Ulla (ebenfalls ein ­Amoräer des frühen 4.  Jh.s) schließlich erklärt, dass die Prozedur bei Jesus kein „halakhisch gültiger Präzedenzfall“, sondern eine Ausnahme gewesen sei850 : Ulla sagte:    Meinst du denn,    dass Jesus von Nazaret851 jemand war,    für den man eine Entlastung hätte vorbringen können?    Er war doch ein mesit (einer, der Israel zum Götzendienst anstiftete),    über den der Barmherzige [Gott] sagt:     Du sollst kein Erbarmen mit ihm haben und (seine Schuld) nicht bedecken (Dtn  13,9).    Mit Jesus von Nazaret852 verhält es sich anders,    weil er der Regierung (malkhut) nahestand.

Weil Jesus in der „Regierung“ mächtige Freunde gehabt habe (Pilatus war von seiner Unschuld überzeugt), „ergriffen die Juden besondere Vorsichtsmaßnahmen, bevor sie ihn hinrichteten. Sie gingen über den Buchstaben des Gesetzes hinaus, damit niemand unter seinen mächtigen Freunden sie bezichtigen konnte, einen unschuldigen Mann hinzurichten“853. Nicht nur der mutmaßliche Bezug der Baraita auf die Darstellung des Pilatus-­ Prozesses in den Evangelien verrät, dass hier eine „polemische Gegenerzählung zu den Evangelien“ vorliegt854, auch der Erzählzug, der Herold sei 40 Tage vor der Hinrichtung Jesu aufgetreten, ist apologetisch: Die Verurteilung Jesu durch den Hohen Rat war seit Wochen bekannt. Übereilt wurde nichts. Mögliche Entlastungszeugen hatten ausreichend Zeit, sich zu melden. Das Verfahren gegen Jesus war fair und rechtens. Dieses Narrativ ist „das genaue Gegenteil des evangelischen Berichtes, nach dem das Urteil gegen Jesus im Synedrion mit größter Eile gefällt und durch den römischen Prokurator schnell vollstreckt wurde“855. Wollten die Passionserzählungen mit ihrer engen zeitlichen Taktung der Ereignisse ursprünglich den Weg zum Tag 849  Unklar ist, ob der Herold vierzig Tage lang bis zur Hinrichtung oder lediglich am vierzigsten Tag vor der Hinrichtung tätig wurde; Schäfer, Jesus 133: „wahrscheinlich im letzteren Sinne“ zu verstehen. 850  Schäfer, Jesus 134. 851  Wieder nur in Ms. Florenz. 852  Der Name ist in Ms. München wieder getilgt. 853  Schäfer, Jesus 133 f. 854  Schäfer, Jesus 145; ebenso Meier, Jew I 97: „most likely the talmudic text is simply reac­ ting to the gospel tradition“. 855  Klausner, Jesus 30; Blinzler, Prozess 43; Meier, Jew I 97: „an apologetic thrust against the canonical Gospels’ depiction of arrest, trial, and execution, all in one twenty-four-hour period“.

3. Weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz

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der Auferstehung in seiner göttlichen Zielgerichtetheit abbilden, so wurden sie schon bald als Berichte missverstanden und antijüdisch missbraucht. Dagegen protestiert die Baraita: Im Gegenangriff sucht sie Jesus als falschen Propheten zu entlarven. Ihr Motiv der 40 Tage am Ende des Lebens Jesu spielt möglicherweise ironisch auf die 40 Tage zu Beginn seiner Wirksamkeit (Mk  1,13 par. Mt  4,2; Lk  4,2) an, verstanden als eine vom Synedrion Jesus eingeräumte Frist der Besinnung und Umkehr zum jüdischen Bekenntnis. Ihr „Subtext“ reagiert „feinsinnig (oder auch nicht so feinsinnig) auf die Erzählung des Neuen Testaments“856 . Als Gegenerzählung zu den Evangelien kann bSan  43a keine historische Quelle sein. Ihre gegen Jesus gesammelten Anklagepunkte besitzen dennoch einen gewissen „historischen Wert“857, zunächst im Blick auf die seit langem von jüdischer Seite geäußerten Vorwürfe gegen seine Jünger in den Kirchen858: Der erste Vorwurf lautet auf Magie oder Zauberei (vgl. Dtn  18,10 f.). Er betrifft nicht speziell Jesu letzte Tage859, sondern sein Wirken insgesamt. „Die Weisen des Talmud leugnen nicht, dass Jesus Wundertaten vollbrachte, nur halten sie diese für Zauberei“860 . Der Vorwurf hat eine lange Geschichte. Nicht erst Justin861, schon die Synoptiker kennen ihn862 . Auch der Vorwurf, Jesus „wiegele“ Israel „auf“ (vgl. Dtn  13,6.11 etc.), ist alt; schon die lukanische Darstellung des Prozesses vor Pilatus reagiert auf ihn863. Der dritte Anklagepunkt – Verführung zum Götzendienst (Dtn  13,3.7.14; 17,2–7; 18,20) – macht Sinn im Blick auf Jesu Anhängerschaft, die sich zu ihm als Gottessohn bekennt, worin die Synagoge einen Verstoß gegen das Grundgebot: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer“ erkennt. Auch Jesu eigenes Bekenntnis im Verhör durch den Hohe­priester verstand sie in diesem Sinne. Der Eindruck bestätigt sich, dass bSanh  43a eine Gegenerzählung zum christlichen Narrativ ist. 856  Schäfer, Jesus 144; die Baraita opponiert gegen das Bild Jesu als eines Propheten, der seinen Tod mehrfach vorausgesagt habe: „Wir wissen doch alle, so der Talmud, dass man ihn hinrichten würde: weil unser (jüdisches) Gericht diese Entscheidung in öffentlicher Sitzung – wie nach jüdischem Recht üblich – getroffen und sogar noch einen Herold ausgeschickt hat, der dieses Urteil vierzig Tage vor der Hinrichtung (eine ungewöhnlich lange Frist, die die Mischna nicht vorschreibt) öffentlich verkündete, damit jeder Kenntnis davon erlangen könne und, falls nötig, ausreichend Zeit hätte, entlastende Beweise vorzubringen, um ein Fehlurteil zu verhindern“ (ebd. 143 f.). 857  Klausner, Jesus 29; ebd. 26 verweist er noch auf bSan 107b; bSota 47b; yChag 2,2 (74d). 858  Klausner, Jesus 30: „Dass über Jesus als Verführer und Anstifter zur Abtrünnigkeit das Todesurteil gesprochen wurde, war den Tannaiten klar; denn zu ihrer Zeit bildeten seine Jünger eine besondere jüdische Sekte, die viele religiöse Grundelemente des Judentums leugnete: ein Beweis dafür, dass ihr Meister Jesus sie verleitet und abtrünnig gemacht und sie dem jüdischen Glauben entfremdet hatte“. 859  Schäfer, Jesus 140, verweist auf „die angebliche Behauptung Jesu, er könne den Tempel zerstören und in drei Tagen wieder aufbauen: Diese Behauptung konnten die Talmud-Editoren leicht als Zauberei auslegen“. 860  Klausner, Jesus 31; Meier, Jew I 96 f. (mit Anm.  50): „not even the miracles of Jesus are denied, but are rather interpreted as acts of sorcery“. 861  Just, Dial  69: μάγον εἶναι αὐτὸν ἐτόλμων λέγειν; vgl. auch EvNik 1.(1): „Er ist ein Magier“; vgl. 2.(1); 2.(5). 862  Jesus stehe als Exorzist im Bund mit „Beelzebul“ bzw. dem „Herrscher der Dämonen“: Mt  9,34; 12,24; Mk  3,22; Lk  11,15; siehe unten III.  2.5.3 unter (b). 863  Lk  23,2.5; 23,14; siehe unten III.  2.5.3 unter (a).

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I. Teil: Die Quellen

Peter Schäfer zufolge haben wir es bei bSan  43a „mit einer völligen Umkehrung der neutestamentlichen Botschaft von Scham und Schuld zu tun: Wir akzeptieren – so der Talmud – die Verantwortung für den Tod dieses Häretikers, aber es gibt keinen Grund für Scham oder Schuldgefühle. Wir sind nicht die Mörder des Messias und des Gottessohnes, auch nicht des Königs der Juden, wie es Pilatus gerne gehabt hätte. Wir sind vielmehr die rechtmäßigen Vollstrecker des Urteils über einen Gotteslästerer und Götzendiener, der mit dem vollen Gewicht unseres Rechtes, aber auch nach einem fairen Verfahren, verurteilt wurde“864. Für die historische Frage nach dem Vorgehen des Synedrions ist die hier ent­ worfene Perspektive gegen den ersten Anschein nicht unwichtig. bSan  43a ist zwar keine historische Quelle für das Verfahren gegen Jesus865 , aber die aufgeführten Anklagepunkte zeigen doch, aus welchen Quellen sich die Positionierung der Autoritäten Jerusalems gegen Jesus gespeist haben könnte: aus denen des jüdischen Rechtes, wie es im Deuteronomium grundgelegt ist866 .

864  Schäfer, Jesus 151; ebd. 151 f.: „Wenn diese Interpretation zutrifft, sind wir hier mit einer Botschaft konfrontiert, die stolz und geradezu aggressiv die Beschuldigung der Christen, die ­Juden seien die Mörder Jesu, pariert. Zum ersten Mal in der Geschichte treffen wir Juden an, die, statt in die Defensive zu gehen, ihre Stimme erheben und sich gegen das wehren, was bald die ewig gültige Botschaft der triumphierenden Kirche werden sollte“; Catchpole, Trial 4: „the Jews fully accept responsibility for the trial and execution of Jesus“. 865  Immerhin bezeugt die Baraita (wie Johannes) als Todesdatum Jesu den Tag vor dem Paschafest. Blinzler, Prozess 45, rechnet mit einer in jüdischen Kreisen lebendig gebliebenen „Erinnerung“; anders Lindeskog, Jesusfrage 15; vgl. Catchpole, Trial 6. 866  Siehe unten III.  2.5.3.

II. Teil

Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption „L’art de ‚faire du neuf avec du vieux‘ a l’avantage de produire des objects plus complexes et plus savoureux que les produits ‚faits exprès‘ (Gerard Genette)1

Die Präsentation der Quellen zu den letzten Tagen Jesu in Teil I setzte mit einer synchron orientierten Übersicht zu den Überlieferungsbeständen der vier kanonischen Passions- und Ostererzählungen ein, drängte auf unterschiedlichen Ebenen aber schon dahin, die diachrone Dimension in die Untersuchung mit einzubeziehen. Die Einsicht etwa, dass die Erzählungen jeweils eigenen Gattungsmustern gehorchen, die historiographisch interessierte Darstellung des Lukas oder die ­ ­Dramatisierung der Passionsüberlieferung durch Johannes gattungsgeschichtliche Neue­r ungen sind, führte unausweichlich zur Frage, was denn vorgegeben war und am Ursprung stand. Diese Frage in ihrer ganzen Komplexität steht jetzt an. Ziel der Untersuchung in Teil II ist eine Rekonstruktion des Archetyps der kanonischen Passions- und Ostererzählungen (PEG) entsprechend dem Modell, das in Teil I entwickelt wurde. Wer sich von diesem Unternehmen einen „legendenfreien“ Bericht als Keimzelle der Überlieferungsgeschichte erhofft (Rudolf Bultmann), der wird enttäuscht werden. Einen solchen Bericht hat es nie gegeben. Schon die PEG bietet im Sinne von Gérard Genette einen Text, der auf Prätexten basiert und mit ihnen im Gespräch ist, den Schriften Israels und unter ihnen besonders dem Psalter. Den Archetyp der vier Passionserzählungen überlieferungskritisch zu eruieren, erfordert eine eigene methodische Reflexion, über deren Grundsätze und Kriterien zunächst Rechenschaft abzulegen ist 2 .

1 

Genette, Palimpsestes 451. Vgl. v. a. Reinbold, Bericht 73–78; Schleritt, Passionsbericht 125–141; Weidemann, Tod 221–242. 2 

214

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

1. Synchronie und Diachronie. Prinzipien, Methoden und Kriterien der Untersuchung (1) Wer sich in die kanonischen Passions- und Ostererzählungen vertieft, stellt fest, dass jede ihrer Fassungen ein in sich kohärentes Ganzes darstellt, das nicht der Ergänzung durch eine der anderen bedarf. Die vier sind aber miteinander verwandt und verflochten. Wenn sie im Folgenden jeweils zu Beginn der einzelnen Abschnitte miteinander verglichen werden („Die Varianten der Szene und ihre Quellen“), dann dient dieser erste orientierende Schritt dazu, ihr je eigenes Profil zu schärfen, aber auch schon Übereinstimmungen – spezifische Wortverbindungen, Motive oder strukturelle Gleichheiten – zu notieren und daraufhin zu prüfen, ob sich das in Teil  I entwickelte Rahmenmodell (Nr.  6)3 zu ihrer Erklärung eignet. Im Vordergrund stehen die strittigen Bezüge zwischen Johannes und den Synoptikern, vor allem Lukas – weniger die synoptischen Binnenbezüge, die im Sinne der „Zwei-­ Quellen-Theorie“ als grundsätzlich geklärt vorausgesetzt werden können4. (2) Entsprechend dem Primat der Synchronie vor der Diachronie5 ist die Basis der literar- bzw. überlieferungskritischen Rückfrage6 die Beschreibung der formalen und inhaltlichen Grundzüge der jeweils vorliegenden Fassung. Dienen einzelne Textsegmente dem Ganzen und erlangen ihre Bedeutung erst aus der Dynamik der Erzählung insgesamt, dann wird sich die diachrone Analyse davor hüten, sie aus ihrem Kontext „herauszubrechen“. Erst wenn Indizien für die Existenz einer Überlieferung vorliegen, kann versucht werden, diese nach bestimmten Kriterien be­ hutsam zu rekonstruieren. Im Fall der Passionserzählungen ist in den fraglichen Textpartien aus den in Teil  I dargelegten Gründen grundsätzlich mit einem vor­ gegebenen (schriftlichen) Zusammenhang zu rechnen. Matthäus hat neben der Markuspassion nach breitem Konsens keine weitere Quelle benutzt, die für die Erhebung des Archetyps der PE relevant sein könnte7. Seine Fassung wird deshalb im Folgenden auch nicht in der Intensität berücksichtigt, wie die des Lukas und Johannes es erfordern. (3) Die Passionserzählung zu eruieren, die dem ältesten Evangelium zugrunde liegt (PEmk), bedarf es einer internen und externen Analyse, die erst im Zusammenspiel ein kontrolliertes Vorgehen ermöglichen. Eine rein interne literar- bzw. überlieferungskritische Analyse der Markuspassion ist mit Unsicherheitsfaktoren behaftet und führt zu Ergebnissen, die nicht nur stark divergieren, sondern oft genug auch den Eindruck erwecken, auf subjektiven Ermessensurteilen zu beruhen8 . Wo3 

Vgl. oben I.  1.3.2. Zusätzlich wird hier (mit Ennulat, Agreements, u. a.) damit gerechnet, dass Mt und Lk ihre Mk-Vorlage abweichend von der uns bekannten Gestalt des Mk in leicht revidierter Form benutzten (= Deutero-Mk); vgl. auch Neirynck, Agreements. 5  Theobald, Primat. 6  Vgl. die grundsätzlichen Erwägungen in der Hinführung unter 1.1.3 (1) und in I.  1.3.1. 7 Repräsentativ Luz, Mt IV 8: „Bei Mt gibt es kaum Erinnerungen an geschichtliche Einzelheiten der Passion Jesu, welche über das hinausgehen, was uns Mk berichtet“. 8  Siehe oben I.  1.3.2 zu Modell 1. Gleiches gilt für Joh: Eine Rekonstruktion seiner ihm vorge4 

1. Synchronie und Diachronie. Prinzipien, Methoden und Kriterien der Untersuchung

215

ran etwa ist zu erkennen, ob „Spannungen“ oder „Doppelungen“ literarkritisch tat­sächlich auswertbar oder vom Erzähler gewollt sind? Welche Rolle spielt das Stil-Kriterium, wenn der Evangelist seine Überlieferung in seinen Sprachduktus eingeschmolzen hat?9 Anders stellt sich der diachrone Zugriff dar, wenn das vierte Evangelium zur Kontrolle berücksichtigt wird. Übereinstimmungen zwischen ihm und Markus geben den harten Kern der ihnen gemeinsamen Überlieferung zu erkennen, womit bereits ein Grundbestand der PEG feststellbar ist. Bei diesem muss es nicht bleiben10 . Überhänge des einen gegen dem anderen Überlieferungsstrang sind daraufhin zu prüfen, ob sekundäre Zuwächse bzw. nachträgliche Kürzungen vorliegen11. (4) Die interne Analyse der einzelnen Szenen und Episoden, sei es nun auf der Basis des Markus- oder des Johannesevangeliums, hat anhand folgender Maßgaben zu erfolgen12: (a) Grundlegend ist die Einsicht in die narrative Struktur einer Einheit: Wie ist sie aufgebaut? Wie funktioniert die Erzählung, wie sieht ihre interne Logik aus? Was ist die Pointe? (b) Zeichnen sich Kohärenz-Faktoren ab, können Überhänge einer Einheit im Vergleich zum parallelen Überlieferungsstrang daraufhin überprüft werden, ob es sich um sekundäre Weiterungen, Fortschreibungen, Ergänzungen oder um Elemente handelt, die wesentlich für die Kohärenz der jeweiligen Einheit, also ursprünglich sind. Sollte sich letzteres andeuten, müsste eine Gegenprobe am anderen Überlieferungsstrang triftige Gründe für die Auslassung des Elements bzw. die Neuschreibung der Einheit benennen13. (c) In diesem Referenzrahmen kommen gegebenenfalls auch die klassischen literar- bzw. überlieferungskritischen Kriterien wie „Spannung“, „Doppelung“ und „Bruch“ zum Zug. Die mit ihnen bezeichneten Textphänomene sind Kohärenz-Störungen, die sich als solche an der narrativen Struktur der Einheit auszuweisen haben14. (d) Die Einsicht in die Makrokontexte ist Voraussetzung dafür, die Intention des jeweiligen Evangelisten, die er mit einer bestimmten Szene oder Episode verbindet, besser profilieren bzw. überhaupt erst identifizieren zu können. Die Elemente einer Szene oder Episode, gebenen Passionserzählung allein auf der Basis einer internen Analyse führt zu Fehlurteilen, die nur vermieden werden können, wenn die Markuspassion als Kontrollinstanz mit herangezogen wird. Damit unterscheidet sich die hier angewandte multiple Methode grundlegend von der alten Literarkritik mit ihren auf jeweils einzelne Texte bezogenen Kriterien (Spannungen, Doppelungen etc.). 9 Im Unterschied zu älteren Studien (Dormeyer, Passion 26–29; Merklein, Epilog 211; Green, Death 24–104 [zur PElk] u. a.) wird hier auf Stil- und Vokabelstatistiken, die schon wegen des relativ geringen Textbestandes der Passionserzählungen problematisch sind, weitgehend verzichtet. 10  Andernfalls käme nur ein recht dürres Erzählgerüst heraus, wie die Rekonstruktion von Reinbold, Prozess 188–192, zeigt. 11  Reinbold, Bericht 75 f.: „Grundsätzlich gilt für die Geschichte der erzählenden Passions­ tradition dasselbe wie für die synoptische Tradition insgesamt: die Tradition wächst“. Und: „Im Zweifel ist daher für das Wachstum der erzählenden Passionstradition zu plädieren“. 12  Es überrascht, wie oft literarische Urteile aufgrund historischer Annahmen gefällt werden; beides ist streng auseinanderzuhalten. 13  Nachträgliche Kürzungen hält Schleritt, Passionsbericht 128, angesichts der Wachstumstendenz von Überlieferung allerdings für nicht wahrscheinlich. 14  Fohrer u. a., Exegese 48–53.126–128.

216

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

die der übergeordneten Intention dienen, diese stützen oder unterstreichen, können vorgegeben, aber auch erst redaktionell eingetragen sein.

(5) Was für die Überlieferungsstränge des Markus und Johannes gilt, gilt mutatis mutandis auch für Lukas und Johannes mit dem Unterschied, dass die Verhältnisse komplexer sind15. Übereinstimmungen zwischen beiden16 sind nicht nur als Indi­ zien für die Existenz der PElk/joh zu interpretieren, sie erlauben auch Rückschlüsse auf deren Eigenheiten im Vergleich zum mkn. Überlieferungsstrang. Die PElk/joh wird in ihrer Substanz der mkn. Überlieferung aber gleichen. Nur so ergibt sich am Ende auch die Hypothese, dass beide Überlieferungsstränge auf einem gemeinsamen Archetyp (= PEG) fußen, der in der PR lk/joh mittels markanter Änderungen weitergeschrieben wurde. In welchem Umfang, wird die konkrete Arbeit an den Texten zeigen. Die teils gravierenden Unterschiede zwischen Lukas und Johannes lassen vermuten, dass der Abstand der PElk/joh von der PEG im Vergleich zu dem der vorjoh. Passionserzählung (= PEjoh) zu ihr geringer ist. (6) Die Besonderheiten der Johannespassion gehen bei weitem nicht alle auf das Konto des vierten Evangelisten. Bereits die ihm vorgegebene Passionserzählung (PEjoh) dürfte eine markante Weiterentwicklung der PElk/joh darstellen, was exemplarisch die Szene von der Fußwaschung, deren Grundbestand (samt der sog. zweiten Deutung der Symbolhandlung Jesu) auf die PEjoh zurückgeht, veranschaulichen kann. Bei der Rekonstruktion der vorjoh. Passionserzählung greifen die oben unter 4. genannten Kriterien. „Hingegen sind sprachlich-stilistische Beobachtungen oftmals von zweifelhaftem Wert und daher als Mittel der Analyse nur bedingt geeignet“17. (7) Nicht nur die Übereinstimmungen zwischen Johannes und Markus, sondern auch die zwischen Johannes und Lukas sind auf den unterschiedlichsten Ebenen (Wortverbindungen; Motive; Strukturparallelen etc.) zu identifizieren und für eine Profilierung zunächst der PEjoh, dann der PElk/joh zu nutzen. Wenn es sich bei den Eigentümlichkeiten der PElk/joh, die sich im Vergleich zur vormkn. Passionserzählung herausschälen, um Weiterschreibungen vorgegebener Erzählzusammenhänge handelt, besitzt für die Konturierung der PEG die PEmk den Vorrang. Nicht auszuschließen ist die Alternative, dass die PElk/joh älteste Lesarten der PE enthält, die noch die Lukas- und Johannespassion aufbewahren.

15  Schleritt, Passionsbericht 129: „Die lk. Passionsstoffe haben für die Analyse insofern nicht den gleichen Wert wie die markinischen und die johanneischen, als ihnen auch das MkEv zugrunde liegt“. 16  Zu klären ist, nach welchen Kriterien Übereinstimmungen als signifikant und nicht zufällig gelten können, z. B. im Fall der Feststellung wörtlicher Übereinstimmungen: Ein einzelnes übereinstimmendes Lexem (abgesehen von herausragenden Signalwörtern) dürfte nicht schon per se Signifikanz anzeigen, wohl aber ein übereinstimmendes Syntagma (die Verbindung von zwei oder drei Lexemen); vgl. Pichler, Jesus 173–175. 17  Schleritt, Passionsbericht 131; „insofern kann aber auch die These von E. Schweizer, E.  Ruckstuhl und anderen, dass das JohEv stilistisch weitgehend einheitlich sei, nicht als ein Hindernis angesehen werden, das eine Analyse unmöglich machen würde“.

1. Synchronie und Diachronie. Prinzipien, Methoden und Kriterien der Untersuchung

217

(8) Die Bewertung der Textphänomene kann nach Maßgabe des hier bevorzugten Modells der literarischen Genese der Passionserzählungen im Fall der identifizierten Übereinstimmungen durchaus zu eindeutigen überlieferungskritischen Urteilen führen. Die Bewertung der Unterschiede verlangt dagegen Abwägungen, die zu Urteilen von höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit führen. Die Anwendung des Modells bleibt mit Unsicherheiten behaftet. Die nachfolgenden Analysen gehen der Szenenfolge entlang, wie sie nach Erkundung des Umfangs der alten Passionserzählung in Teil I (unter 1.4) naheliegt. Strukturell ergeben sich vier Blöcke: „Eingangsteil“ (oder Vorgeschichte), „Mittelteil“ (oder Entscheidung), Schlussteil (oder die Folgen), Österlicher Epilog.

A. Vorgeschichte (Eingangsteil) Der Eingangsteil der Passionserzählung umfasst drei Szenen: den Einzug Jesu in die Stadt (unter 2.), seine Aktion im Tempel mit anschließender Befragung durch die Autoritäten (unter 3.) sowie den Todesbeschluss des Synedrions samt Initiative des Judas als Rahmen für Jesu Salbung in Betanien (unter 4.).

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.) Die Szene besteht aus zwei Episoden: (a) der (wunderbaren Auf-)„Findung“ eines jungen Esels (bei Matthäus auch des Muttertieres), auf den „sich“ Jesus „setzt“ (bei den Synoptikern in Betfage bzw. Betanien auf dem Ölberg situiert), und (b) der Huldigung, die Jesus auf dem Weg in die Stadt vom Volk bzw. von seinen Jünger­ innen und Jüngern (so bei Lukas) zuteil wird. Schon diese programmatische erste Szene der Passionserzählung ist von der Schrift imprägniert, die auf allen ihren Ebenen zur Geltung kommt: in den Erzähltext eingewoben (Sach  9,9 in Mk  11,2d.e.7c par.), im Mund von Erzählfiguren (Ps  118,25 f.: Mk  11,9 f. par.) und in Form von Kommentaren der Erzähler auf Metaebene (Sach   9,9 + Jes   62,11: Mt   21,4  f.; Joh  12,14b.15). Weil die Szene bereits den Archetyp der Passionserzählung (PEG) eröffnet, stellt sich die Frage, ob sie dort auch einen eigenen „Auftakt“ besaß und wie ihre Funktion als „Präludium“ der PEG zu bestimmen ist. 2.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Die synoptischen Fassungen der Erzählung sind strukturell gleich, die joh. geht eigene Wege: Markus, Matthäus und Lukas bieten zuerst die Episode von der Auffindung des Fohlens (II.), dann die Huldigungsepisode (III.), bei Johannes ist es umkehrt1. Mk 11,1–10

Mt 21,1–9

Lk 19,28–40

I.

Joh 12,12–19 Volksauftritt „Einholung“ Jesu: Huldigungsgesten + Akklamation

1 

Zur joh. Fassung siehe Theobald, Joh II 781–792.

220 II.

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mk 11,1–10

Mt 21,1–9

Lk 19,28–40

Joh 12,12–19

Wunderbare „Auffindung“ des Fohlens

Wunderbare „Auffindung“ des Fohlens und seiner Mutter

Wunderbare „Auffindung“ des Fohlens

„Finden“ des Fohlens

Die Jünger lassen Jesus „aufsteigen“ (ἐπ-εβίβασαν)

Jesus „setzte sich“ (ἐκάθισεν) auf das „Eselchen“

Schriftzitat: Jes  62,11 +Sach  9,9 Jesus „setzte sich“ (ἐκάθισεν) auf das „Fohlen“

Jesus „setzte sich“ (ἐπ-ἐκάθισεν) auf das „Fohlen und die Eselin“

Schriftzitat: Sach  9,9 III. (= I.)

Volksauftritt Einzug: Huldigungsgesten + Akklamation

Volksauftritt Einzug: Huldigungsgesten + Akklamation

Jünger Einzug: Huldigungsgesten + Akklamation

(siehe oben I.)

Kommentar zu I. und II. IV. Reaktion der Pharisäer

Volksauftritt Zeugnis des Volkes Reaktion der Pharisäer

Beim Fortgang verzweigen sich die Erzählungen: Während bei Markus sich Jesus nach Betreten der Stadt im Tempel nur „umschaut“ und noch nicht aktiv wird (Mk  11,11), schließt sich bei den anderen Synoptikern seine Aktion im Tempel unmittelbar an. Bei Matthäus „erbebt“ die Stadt, als Jesus in sie einzieht (Mt  21,10 f./12–17), bei Lukas weint er auf der Kuppe des Ölbergs, als er die Stadt sieht (Lk  19,41–44) 2; ohne sie zu betreten, erreicht er den Tempel direkt von Osten her3. Bei Johannes folgt auf den Einzug Jesu die Episode mit den „Hellenen“, die „Jesus (im Tempel) sehen wollen“ (Joh  12,20 f.).

Mit der unterschiedlichen Abfolge der Fohlen- und Huldigungsepisode bei den ­Synoptikern und Johannes verbinden sich unterschiedliche Perspektiven: Die Synoptiker erzählen aus der Perspektive Jesu. Angesichts des nahen Jerusalems ergreift Jesus die Initiative, schickt zwei seiner Jünger ins nahe Dorf auf dem Ölberg und weiß im Voraus, was geschehen wird. Als er sich auf das Fohlen (bzw. Fohlen und Eselin [Mt]!) setzt, ist das für die „vielen“ Menschen, die ihn auf der Wallfahrt nach Jerusalem begleiten, das Signal, ihm in Gestus und Wort zu huldi2  Lk beschreibt die Route Jesu von Ost nach West genau: „als er sich Betfage und Betanien näherte (ἤγγισεν) am sogenannten Ölberg“ (19,29); „als er aber schon nahekam dem Abstieg des Ölbergs (ἐγγίζοντος)“, also dessen Kuppe (19,37); „als er sich näherte (ἤγγισεν) und die Stadt sah“ (19,41): Jetzt befindet er sich auf dem Gipfel; die Stadt liegt ihm zu Füßen. Das Stichwort ἐγγίζω/ ἐγγύς benutzt Lk am Ende seines „Reiseberichts“ mehrfach (18,35; 19,11.29.37). 3  Schaefer, Zukunft 152; 154 f.

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

221

gen (Mk  11,7–8 par. Mt  21,8 f.). Bei Lukas jubelt ihm seine „ganze Anhängerschar“ (ἅπαν τὸ πλῆθος τῶν μαθητῶν) zu, als er sich der Kuppe des Ölbergs nähert (Lk  19,37), nicht das Volk4. Johannes erzählt aus der Perspektive der Volksmenge. Schon seit Tagen „suchen“ die Leute nach Jesus; im Tempel fragen sie sich, „ob er wohl zum Fest kommt“ (Joh  11,56). Jetzt „hören sie, dass er nach Jerusalem kommt“ (12,12). Sie ziehen ihm entgegen, um ihn „einzuholen“ (εἰς ὑπάντησιν αὐτῷ) (12,13), und begleiten ihn mit Palmzweigen in den Händen und dem Hochruf: „Hosanna! […] König Israels!“ auf den Lippen wie einen Imperator oder siegreichen Feldherrn in seine Stadt5 (=  I.). Nachgetragen wird, dass Jesus ein „Eselchen“ fand, auf das er „sich setzte“, gemäß der Prophetie des Friedenskönigs Sach  9,9 eine Zeichenhandlung, die seine Jünger allerdings erst nach Jesu „Verherrlichung“ verstanden hätten (Joh  12,14 f./16) (=  II.). Damit wird die kleine Episode zum Korrektiv für den vorangegangenen könig­ lichen „Einholungs“-Ritus. Sie entlarvt die dort zelebrierte politische Huldigung Jesu als „König Israels“ nachträglich als Missverständnis und deutet an, dass sich das wahre Königtum Jesu erst am Kreuz, in der Niedrigkeit des Entehrten, offenbart. Wenn noch ein weiterer Volksauftritt folgt – die Menge legt Zeugnis für Jesus ab und die Pharisäer erklären erschrocken: „Seht, die Welt läuft hinter ihm her!“ (=  I V) –, schließt sich der Rahmen, und die Zentralität der Episode mit dem „Eselchen“ wird unterstrichen: A    B A’

Volksauftritt (mit „Einholungs“-Ritus) Episode mit dem „Eselchen“ als Korrektiv in der Mitte Zweiter Volksauftritt6

A und B sind durch die Inclusio von V.12d („Jesus kommt nach Jerusalem“) und V.15b ­(„Siehe, dein König kommt“) absichtsvoll zusammengeschlossen. V.12d steht wie eine Überschrift über der Szene.

(2) In Aufbau und Wortlaut der Szene liegen die Synoptiker nahe beieinander. ­Matthäus und Lukas kürzen allerdings ihre Vorlage7. Matthäus ersetzt den Erfül4  Bei den Synoptikern trägt die Szene, genauer: die Huldigungsepisode, Züge eines antiken Triumphzugs; zu diesem Ritual umfassend Lau, Triumphtor 149–315 („Der römische Triumphzug“), bezogen auf Mk  11,1–11 ebd. 537–566. 5  Zu den antiken Parallelen Theobald, Joh I 787 f.; außerdem vgl. PsSal  8 ,16 f. vom Einzug des Pompeius in Jerusalem: „Die Herrscher des Landes gingen ihm entgegen (ἀπήντησαν αὐτῷ) mit Freuden, sie sprachen zu ihm: ‚Gesegnet dein Weg! Ziehe ein in Frieden!‘ […]“; Jos, Bell  4,575, die Begrüßung von Simon, Sohn des Giora, durch die Bevölkerung Jerusalems: „er zog als Befreier von den Zeloten in die Stadt ein und wurde vom Volk als Retter und Beschützer begrüßt (σωτὴρ ὑπὸ τοῦ δήμου καὶ κηδεμὼν εὐφημουμένος)“ (siehe unten Nr.  18 der Tabelle in Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc.). – Lau, Triumphator 173–175.558, zum Ritual des adventus (rituelle Einholung des Herrschers in die Stadt durch die Elite). 6  A’ erklärt nachträglich, warum die Menge Jesus „entgegenging“ (ὑπήντησεν) (= A): weil sie vom Wunder-„Zeichen“ der Erweckung des Lazarus „gehört“ hatte (vgl. 12,9). Die joh. Kritik am Zeichenglauben der galiläischen Volksmenge, die Jesus nach der wunderbaren Speisung „zum König erheben“ will (Joh  6 ,15; vgl. 6,26), ist auch hier mitzuhören. 7  Fuchs, Agreements 215–227, schließt aus der Beobachtung, dass Mt und Lk durchgehend gleiche Änderungen an ihrer Vorlage vornehmen, auf „Deuteromarkus“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

lungsbericht Mk  11,4–6 durch die Notiz: „Die Jünger gingen und taten, wie Jesus ihnen aufgetragen hatte“ (Mt  21,6), und Lukas tilgt Mk  11,8b: „andere (streuten) Laubbüschel, die sie von den Feldern abrissen“, um das Motiv vom Ausbreiten der Gewänder zu betonen (Lk  19,36). Beide prägen die Geschichte je eigen und gewichten die Episoden neu: Ist bei Markus der Übergang von der ersten zur zweite Episode gleitend (Mk  11,8: „und viele […]“), so verdeutlicht Matthäus die Zäsur (Mt  21,8: „die sehr große Volksmenge aber […]“) 8 . Lukas bringt in 19,37 eine zusätzliche Ortsangabe an („als er sich aber gerade dem Abstieg des Ölbergs näherte“) und akzentuiert durch diesen „kleinen zeitlichen und räumlichen Sprung“9 die nachfolgende Huldigung, die Jesus von seiner Anhängerschar zuteil wird. (3) Erwähnenswert sind drei Berührungen von Johannes mit den Synoptikern, eine mit Matthäus, zwei mit Lukas: (a) Sowohl der erste als auch der vierte Evangelist zitieren Sach  9,9, allerdings an anderer Stelle und in unterschiedlicher Form. Matthäus beschließt mit dem Zitat (+ Jes  62,11) die Auftragsrede Jesu an seine Jünger (Mt  21,2 f.), Johannes lässt auf die Notiz: „er setzte sich“ auf ein „Eselchen“, das Zitat in Kurzform folgen (Joh  12,14 f.)10 . Die Zitateinleitungen sind jeweils anders11. (b) Lukas und Johannes erweitern die Akklamationen des Volkes bzw. der Anhängerschaft Jesu gegen Markus und Matthäus mit dem βασιλεύς-Titel, den sie beide in unterschiedlicher Positionierung an den Lobspruch Ps  118,26 anhängen (siehe die Tabelle). Ursprünglich gilt dieser Lobspruch den Pilgern bei ihrem Einzug in den Tempel. Schon Markus wird ihn auf Jesus als „den Kommenden“12 bezogen haben, was Lukas mittels der eingeschobenen Apposition ὁ βασιλεύς verdeutlicht13. Auch beim vierten Evangelisten ist die Akklamation auf den Messiaskönig bezogen, wie deren explikative Wiederaufnahme durch „und (das heißt): der König Israels“ zeigt. Die Akklamation ist bei ihm ein Glied in der Kette, die von Joh  1,49 (Nathanael: „Du bist der König Israels“) über 6,14 f., 12,13 bis hin zu 18,36 f. führt, wo abschließend klargestellt wird, dass Jesu Königtum von grundsätzlich anderer Art ist als jedes irdisches Königtum – und eben auch anders, als es sich die Menschen, die hier Jesus „einholen“, vorstellen können. Mk  11,9 f.

Mt  21,9

Hosanna!

Hosanna dem Sohn Davids!

Gepriesen der Kommende

Gepriesen der Kommende

Lk  19,38

Joh  12,13 Hosanna!

Gepriesen der Kommende,

Gepriesen der Kommende

8 Schon bei Mk deutet πολλοί gegenüber den Jüngern der vorausgehenden Verse ein neues Subjekt an, nämlich „die Volksmenge“, die Jesus (neben den „Jüngern“) seit Mk  10,46 begleitet; Mt verdeutlicht dies. 9  Wolter, Lk 626. 10  Menken, Quotations 79–97; vgl. auch Bruce, Book 339 f. 11  Mt  21,4 bietet ein für den ersten Evangelisten typische Erfüllungsformel, in Joh  12,14c heißt es lediglich: „wie geschrieben steht (καθώς ἐστιν γεγραμμένον“ (so auch Joh  6 ,31)“. – Auch Mt  21,8 (ὁ δὲ πλεῖστος ὄχλος) und Joh  12,12 (ὁ ὄχλος πολύς) gleichen sich: Mt fußt auf dem mkn. πολλοί, Joh schreibt die eigene Vorlage weiter. 12  Mk  11,9; zum „Titel“ „der Kommende“ vgl. Mt  11,3; 23,39; Joh  1,27; 6,14; 11,27. 13  Mt stellt das mittels des vorangehenden „Hosanna dem Sohn Davids!“ klar.

223

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

Mk  11,9 f.

Mt  21,9

Lk  19,38

im Namen des Herrn!

im Namen des Herrn!

der König (ὁ βασιλεύς), im Namen im Namen des Herrn! des Herrn!

Gepriesen die kommende Königsherrschaft (βασιλεία) unseres Vaters David!

Hosanna in den Höhen!

(siehe oben!)

Hosanna in den Höhen!

Joh  12,13

Und (καί): der König Israels! (ὁ βασιλεὺς Ἰσραήλ)

Im Himmel Frieden und Herrlichkeit in den Höhen

(c) Lukas und Johannes berühren sich auch darin, dass sie beide eine Reaktion der Pharisäer nachtragen14. Diese steht beim dritten Evangelisten dort, wo nach dem Jubel der Jesus begleitenden Anhängerschar eigentlich seine Begrüßung durch die Stadtbevölkerung zu erwarten wäre (Lk  19,39 f. par. Joh  12,19). Aber „die Einwohner Jerusalems“ nehmen „den Einzug Jesu als Messiaskönig nicht zur Kenntnis […]. Der Ruf der Jünger findet keine Antwort“15. Beim vierten Evangelisten reagieren die Pharisäer auf die Begeisterung der Volksmenge über den Wundertäter Jesus, die ihm wegen der Lazarus-Erweckung einen großen Empfang bereitet. Bietet Lukas ein Apophthegma, bestehend aus der Aufforderung der Pharisäer: „Rabbi, weise deine Jünger zurecht!“ und der Antwort Jesu: „Ich sage euch, wenn diese schweigen, dann werden die Steine schreien“, sprechen bei Johannes die Pharisäer zueinander: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet! Seht, die Welt läuft hinter ihm her!“

Um die wenigen Berührungen von Johannes mit Matthäus und Lukas zu erklären, bedarf es nicht der Hypothese, der vierte Evangelist habe beide benutzt. Der Gedanke, Sach  9,9 ausdrücklich zu zitieren, lag bei einer Geschichte, die selbst schon auf den Prophetentext anspielt, unmittelbar nahe. Die Verwendung des βασιλεύς-­ Titels in Lk  19,38 und Joh  12,13 gehört zu den zahlreichen minor agreements zwischen Johannes und Lukas in ihren Passions- und Ostererzählungen, welche die Hypothese der PElkn/joh stützen16 . Auch die beiden gemeinsame Reaktion der Pharisäer in Lk  19,39 f. par. Joh  12,1917 fällt unter diese Kategorie. In der PElkn/joh dürfte am Ende der Einzugsgeschichte ein Apophthegma gestanden haben, dem die lkn. Version nahekommt. Die joh. Variante trägt die Handschrift des vierten Evangelisten.

14 

Dietzfelbinger, Joh I 386 f. Wolter, Lk 642; wenn es V.39 heißt: „und einige der Pharisäer aus dem Volk (ἀπὸ τοῦ ὄχλου)“, stellt Lukas sich das so vor, „dass die Pharisäer aus der Volksmenge heraus […] von Jesus verlangen, seine Jünger zum Schweigen aufzufordern“. 16  Siehe das 6. Modell oben in I.  1.3.2; auch die Rede von der „kommenden Königsherrschaft unseres Vaters David“ fehlt in Lk und Joh. Patsch, Einzug 13 f.: „der johanneische Bericht entspricht in großen Teilen der lukanischen Sonderquelle“; deren Rekonstruktion allein aufgrund wortstatistischer Beobachtungen überzeugt freilich nicht. 17  Auch die Redeeinführung εἶπαν πρός ist beiden gemeinsam (Schleritt, Passionsbericht 215). 15 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(4) Die Metareflexion Joh  12,16 zu V.14 f. (samt abschließendem Segment V.17–19) geht auf den Evangelisten zurück. An V.16 hängt seine Konzeption, dass Jesu „Sitzen“ auf einem „Eselchen“ bei seinem königliche „Einzug“ aus österlicher Perspektive in einem tieferen Sinn zu verstehen ist: als Epiphanie des Friedenskönigs (Sach  9,9), dessen „Reich nicht von dieser Welt ist“ (Joh  18,36). Die Annahme, der vierte Evangelist habe sich ansonsten an einen der Synoptiker angelehnt und aus ihnen seine Lesart entwickelt, lässt sich nicht begründen. Spuren, die auf Kenntnis ihrer redaktionellen Konturen hindeuten, fehlen. 2.2 „Wir steigen hinauf nach Jerusalem“ (Mk  10,33). Die Einzugserzählung bei Markus und in der PEmk Mit dem Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,11) gelangt „der Weg“, den Markus seit 8,27 mit theologischer Tiefe zur Darstellung bringt18 , zu seinem Ziel: „Seht, wir steigen hinauf nach Jerusalem“ (10,33). Jesus geht diesen „Weg“ nicht allein, sondern in Begleitung seiner Jünger, seit Jericho folgt ihm auch eine Volksmenge (10,46.52c). Aber er „geht voran“ und die Gefühle derer, die ihm nachfolgen, sind gespalten (10,32). In der Nähe der Stadt angelangt, brechen die Wallfahrer19 in Jubel aus: „Hosanna! Gepriesen (sei), der kommt im Namen des Herrn! Gepriesen (sei) die kommende Königsherrschaft (ἡ ἐρχομένη βασιλεία) unseres Vaters David!“ (11,10) 20 . Die Geschichte ist in die Dynamik des Makrokontextes eingelassen, ersichtlich etwa an der Erzählfigur der „vielen“ (11,8), die mit Jesus von Jericho heraufziehen, in der Erwartung der nahen βασιλεία, mit deren „Kommen“ sie in Jerusalem jetzt rechnen. Seit Beginn seines Wirkens spricht Jesus von der βασιλεία, aber stets von der βασιλεία Gottes (Mk  1,15) 21, wohingegen die Menge den Anbruch der messianischen „Herrschaft“ Davids erwartet. Ihr „Ausruf (zeigt) im Sinne des Mk nur ein halbwegs richtiges Verständnis dessen, wer Jesus ist“22 . Das Lehrgespräch über die Davidssohnschaft in Mk  12,35–37 am Ende seiner Lehrtätigkeit im Tempel bestätigt das 23. Gottes Reich ist von anderer Art als das erwartete irdische davidische Königtum. 18  Das „Weg“-Motiv prägt den Mittelteil des Buchs (Mk  8 ,27; 9,33 f.; 10,17.32.46.52), als Raumvorstellung, aber auch als theologische Idee, weil eine Reihe katechetischer Lehrstoffe an diesen „Weg“ gebunden sind (Mk  10,2–45: Ehe, Kinder, Reichtum und Armut, Herrschen und Dienen). In 12,14 erklären die Pharisäer und Herodianer Jesus, um ihm zu schmeicheln: „Du lehrst in Wahrheit den Weg Gottes (τὴν ὁδὸν τοῦ θεοῦ)“ – ohne zu erkennen, dass alle Halacha, alles Ethos, sich in der Nachfolge Jesu an seinem „Weg“ orientieren wird (vgl. 10,21.28.31.32.52). 19  V.8: „viele“ (πολλοί), vgl. mit 10,46.48 (πολλοί). 20  Der Jubelruf ist wie ein Echo auf die Worte des blinden Bartimäus am Ortsausgang von ­Jericho: „Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!“ (Mk  10,47.48). 21  4,11.26.30; 9,1.47; 10,14.15.23–25. 22  Lührmann, Mk 189; ebd.: „Das ‚Reich (βασιλεία) unseres Vaters David‘ war nie Inhalt der Verkündigung Jesu, sondern das ‚Reich Gottes‘ (1,15)“. 23  Der „Messias“ als Kyrios ist diesem Lehrgespräch zufolge nicht „Sohn Davids“. Von einer „Übersteigerung“ (März, König 51) kann nicht die Rede sein. Richtig Guttenberger, Mk 288:

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

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Wer die von Markus aus der PEmk rezipierte Überlieferung identifizieren will, wird einerseits ihre redaktionelle Einbindung in den übergeordneten Erzählfaden, andererseits die Kohärenz ihres Hauptteils erkunden. Einige diskutierte Fragen erledigen sich, wenn die strukturparallele Version des vierten Evangeliums, die von Markus unabhängig ist, mitbedacht wird 24. (a) Eingang und Schluss der Erzählung V.1/11 verraten die Hand des Evangelisten. V.11, das Scharnier zur nachfolgenden Handlungssequenz, geht ganz auf ihn zurück 25. An der ersten Hälfte von V.1 irritiert die Häufung von gleich vier Ortsangaben. Weil anschließend nur von einem Dorf die Rede ist, in das Jesus zwei seiner Jünger schickt 26 , erscheint die Nennung von zwei in V.1 nicht konsistent 27. Auch könnte irritieren, dass entgegen der Ost-West-Route des Aufstiegs von Jericho nach Jerusalem Betfage vor Betanien genannt wird. Aber die Richtung des ­Weges dürfte keine Rolle spielen 28 , es geht um den Signalwert des Namens Betfage für die Erzähllogik der Geschichte29: Ist Betfage in rabbinischen Texten das Dorf, welches die östliche Grenze des Stadtgebiets von Jerusalem darstellt, „jenseits der die religionsgesetzlichen Bestimmungen, die die Stadt oder den Tempel betreffen, keine Geltung mehr hatten“30 , dann legte sich die Erstnennung des Dorfes am östlichen Rand von Jerusalem nahe. Als Jesus die Grenze überschreitet, erhebt sich der messianische Jubel der Wallfahrer. Anders verhält es sich mit Betanien. Der Ort samt seiner Lokalisierung „am Ölberg“31 weist über die Geschichte hinaus auf den Fortgang der Passionserzählung. Nicht nur die spätere Salbung Jesu spielt dort (Mk  14,3). Betanien erweist sich schon unmittelbar nach der Einzugsgeschichte als ein wesentlicher Baustein der mkn. ­Topografie: Jesus lehrt tagsüber im Tempel (Mk  11,17; 11,27–12,44), hält sich des Nachts aber „außerhalb der Stadt“ in Betanien auf (Mk  11,11 f.19). „[D]ie theologische Distanz des Markus zu Jerusalem“, genauer: zur dort residierenden jüdischen „Als Synonym für den Christustitel wird er (sc. ‚Sohn Davids‘) abgelehnt: Der Christus ist nicht Davidssohn, die beiden Titel bedeuten nicht dasselbe“. 24  So etwa die Frage, ob Mk  11,9b (= Ps  118,25a.26a) auf die Redaktion des ältesten Evangelisten zurückgeht, oder ob die Erzählung vom Esel und die vom messianischen Jubel ursprünglich zwei Geschichten waren: J. Gnilka, Mk II 113 f.; Patsch, Einzug 1–26; vgl. die Forschungsgeschichte bei März, König 48 f. 25  März, König 28–30. 26  Küchler, Jerusalem 915: bei Mk und Lk „am ehesten das erstgenannte Betfage“ (zu Mt siehe die nächste Anm.). 27  Wohl um diese Unstimmigkeit zu beseitigen, ist Betanien in Mt  21,1 gestrichen: „Und als sie sich Jerusalem näherten und nach Betfage am Berg der Oliven kamen, […]“. Küchler, Jerusalem 915: „Bei Mt kommt Jesus in der Nähe von Jerusalem nach Betfage, weshalb das ‚gegenüberliegende Dorf‘ nicht nochmals Betfage sein kann, sondern ein weiterer namenloser Weiler sein muss“. 28 Nach Pesch, Mk II 177, ist die Reihenfolge Betfage – Betanien „zutreffend“; sie entspreche „Jerusalemer Perspektive (die schon in der Formulierung ἐγγίζουσιν εἰς Ἱεροσόλυμα dominiert)“, nicht der Sicht derer, die von Jericho heraufsteigen. 29  Dieses Dorf erscheint nur hier in den Evangelien. 30  Küchler, Jerusalem 913 f.; ebd. 932; vgl. Dalman, Jerusalem 52 f.254.260 f. 31  Gewöhnlich werden die beiden Ortsangaben syntaktisch zusammengezogen: „Betanien am Ölberg“. Zum Ölberg vgl. Mk  13,3 („der Ölberg dem Tempel gegenüber“) (redaktionell); 14,26.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Obrigkeit findet so „ihren topographischen Ausdruck“32 . Danach besagt die Verortung von 11,1–10 in der Nähe von Betanien im mkn. Kontext, dass sich die Szene noch „außerhalb der Stadt“ (vgl. Mk  11,19) zuträgt, wohingegen Betfage die unmittelbare Nähe zu ihr signalisiert, um den ausbrechenden messianischen Jubel zu motivieren. Die Annahme, dass die zusätzliche Nennung von „Betanien am Ölberg“ auf Markus zurückgeht, ist plausibel33. (b) Die erste Episode des Corpus der Erzählung (V.1b–7) ist zweigipflig: Zuerst wird die wunderbare Auffindung des Reittiers erzählt (V.1b–6), dann, wie die Jünger das Tier zu Jesus „bringen“, ihre Kleider auf ihm ausbreiten und Jesus sich darauf „setzt“ (V.7). Auf diesen Moment läuft die Handlungssequenz zu. Sie ist formal gerundet und relativ eigenständig. V.7c, durch Sach  9,9 inspiriert, ist das „Herzstück des gesamten Textes“34. Die zweite Episode, die Huldigung der „vielen“ (V.8–10)35 , schließt bruchlos an und gipfelt in den Jubelrufen der Menschen. Strukturelle Gründe sprechen dafür, dass Markus beide Episoden in ihrer Substanz aus seiner PE übernommen hat. Auch der vierte Evangelist bezeugt sie, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge und aus der ersten Episode nur den zweiten Gipfel36 . Markus hält sich an seine Überlieferung, setzt aber auch eigene Akzente37. Zwei seien genannt: V.8 zu Beginn der zweiten Episode nennt als Huldigungsrituale das Ausbreiten der Gewänder und das Wedeln mit Laubbüscheln 38 . V.9a, der „unvermittelt de(n) Eindruck einer feierlichen Prozession“ entstehen lässt, „die Jesus in ihrer Mitte führt“39, schließt an die Weg-Vorstellung an, die Markus seit 8,27 immer wieder 32 

März, König 27; die Nennungen von Betanien in 11,11b.12 (ebenso 11,19) sind redaktionell. März, König 22–24; J. Gnilka, Mk II 115. Den Ölberg könnte indes schon die PEG erwähnt haben (siehe unten). 34  März, König 45. 35  Angezeigt durch den Subjektswechsel (πολλοί). 36  Warum nicht auch den ersten Gipfel, die wunderbare Auffindung des Reittieres, ist unten in 2.3. zu klären. 37  Ebd. 30–52. Zur ersten Episode verweist er etwa auf V.3e: „und er [sc. der Herr] lässt es [das Reittier] rasch (εὐθὺς … πάλιν) wieder zurückbringen“ (diff. Mt  21,3; bei Lk fehlt die Notiz). „Aus dem ‚messianischen‘ Reittier, das Jesus in Vollmacht anfordert, wird plötzlich wieder ein geborgter Esel“. Die mkn. Vorzugsvokabeln εὐθὺς und πάλιν verraten, dass Mk hier seine Vorlage bearbeitet hat; ursprünglich lautete diese vielleicht in Entsprechung zu V.6c: „und sie werden euch gewähren lassen“ (ebd. 39). 38  V.8: „Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg, andere Laubbüschel, die sie auf den Feldern abschnitten“. Das erste Motiv des Huldigungsrituals, V.8a, erklärt sich vom AT her (2Kön  9,13: vgl. unten 2.4.2), das zweite, V.8b (eine nachklappende Partizipialkonstruktion), vom Usus, dem einziehenden Triumphator Blumen zu streuen (Lau, Triumphator 254); bei Mk „genügen Dinge des Alltags, die jede/r sich offenbar kostenlos besorgen kann“ (Laubbüschel), um diesem so gänzlich anderen König zu huldigen (ebd. 556). 39  März, König 47; Schleritt, Passionsbericht 148, weist auf die Dichte unterschiedlicher Aktionen auf engstem Raum hin: In V.7–9 „werden nicht weniger als vier, z. T. konkurrierende Gruppen unterschieden: Die einen legen ihre Kleider auf den Esel (Mk  11,7a), die anderen legen ihre Kleider auf den Weg (Mk  11,8a); wieder andere reißen Laubbüschel ab (Mk  11,8b); und dann gibt es noch solche, die vorangehen und nachfolgen und dabei Ps  118,25 f. ausrufen (Mk  11,9)“. Allerdings ist zu unterscheiden: In V.7a.b agieren die beiden von Jesus ausgesandten Jünger, ab V.8 die πολλοί, eine nicht näher bezeichnete Menge von Pilgern, die Jesus begleitet. Die beiden Erwäh33 

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

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anklingen lässt. Das Motiv könnte auch hier von ihm redaktionell eingebracht worden sein40 . Die Jubelrufe samt ἔκραζον würden dann in der PEmk unmittelbar an V.8 anschließen. Nach dem persönlich formulierten Jubelruf V.9b fällt der auf die Sachgröße der βασιλεία bezogene zweite Jubelruf V.10a aus dem Rahmen. Ohne Anhalt an der Überlieferung wird er, wie die oben genannte Beobachtung zum βασιλεύς-Titel in der PElk/joh zeigt, aber nicht sein. Bot schon der Archetyp der PE den Titel (siehe unten), dann stellt sich die Frage, auf welcher Stufe der mkn. Überlieferung er in das Abstractum βασιλεία umgewandelt wurde: schon in der PEmk oder erst vom Evangelisten? Für diesen spricht, dass es sich um das Zentralsymbol seines Evangeliums handelt (= βασιλεία τοῦ θεοῦ), hier freilich im Makrokontext bewusst zur „βασιλεία unseres Vaters David“ verfremdet41. Durch das Gegenbild vom davidischen Königtums gibt Markus seinen Lesern zu verstehen, dass die Vollendung des Reiches Gottes eben nicht politischer-irdischer Natur ist, sondern den Eingang in das „ewige Leben“ bedeutet (vgl. Mk  10,17–28.35–45; 13,24–27 u. ö.). 2.3 Königliches Huldigungsritual oder „Einholung“ des Triumphators. Der markinische und johanneische Überlieferungszweig im Vergleich Wer die mkn. und joh. Überlieferung miteinander vergleicht, hat zwei Fragen zu beantworten: (1) Welche Fassung der Episode von der Auffindung des Reittiers ist ursprünglicher: die eingipflige des Johannes, die lediglich vom „Finden“ des Eselchens weiß und davon, dass Jesus sich auf das Tier „setzt“ (Joh  12,14), oder die zweigipflige des Markus, die davor noch von der wunderbaren Auffindung des Tieres durch Jünger nach Jesu Weisung erzählt? (2) Beide Überlieferungszweige bieten mit der prophetischen Zeichenhandlung des auf einem Fohlen „sitzenden“ Jesus und seiner Ehrung durch die Menschen zwei Episoden, nur in unterschiedlicher Abfolge. Welche der beiden ist ursprünglich? 2.3.1 Eine „Findungsnotiz“ als Keimzelle einer Legende Jesu Aussendung zweier seiner Jünger, um für ihn das am Dorfrand an einen Zaun „gebundene“ messianische Reittier in Beschlag zu nehmen42 , kann nach breitem nungen der Kleider (τὰ ἱμάτια) sind keine Doppelung: Im ersten Fall satteln die Jünger das Reittier, der zweite Fall gehört zur Topik einer Huldigungsszene (vgl. 2Kön  9,13 etc.). 40  Dieselbe Abfolge von προάγω und ἀκολουθέω auch in Mk  10,32. 41 Auch Lührmann, Mk 189, vermutet, „dass Mk hier gegenüber seiner Vorlage geändert hat, die dann ‚König Israels‘ entsprechend Joh enthalten haben kann“; die ungewöhnliche Rede von „unserem Vater David“ (jüdisch ist die von den Patriarchen als Israels Vätern) bestätigt die Vermutung. März, König 50–52, rechnet mit vormkn. Redaktion. 42  Dibelius, Formgeschichte 118: Als messianisches Reittier „kann es nur vermöge göttlicher Leitung gefunden werden und trägt auch sonst die Merkmale des Besonderen: es ist noch nie geritten worden und steht außen auf der Straße angebunden, als werde es für die Jünger bereitgehalten. Dieses Tier ist darum so bedeutungsvoll, weil mit seiner Verwendung sich die Prophezeiung aus Sach  9,9 erfüllt“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Konsens der Forschung als eine von Gen  49,11 und Sach  9,9 inspirierte nachträg­ liche Erweiterung der auch von Johannes gebotenen einfachen „Findungsnotiz“ gelten43. Das Erzählschema der Erweiterung ist konventionell: Auf einen Auftrag in wörtlicher Rede (zuweilen verbunden mit einer sich erfüllenden Voraussage) folgt die genaue Ausführung44. Deutliches Indiz für einen Nachtrag ist die Spannung zwischen der christologischen (ὁ κύριος: Mk  11,3) und der theozentrischen Rede vom „Herrn“ im Jubelruf Ps  118,25 = Mk  11,9 (ὁ ἐρχομένος ἐν ὀνόματι κυρίου). Mit der Tilgung der Erweiterung wird die Episode nicht zu einem „Bericht“ ohne messianische Einfärbung. Ihr zweiter und eigentlicher Gipfel – Jesus „setzte sich“ auf das Fohlen – ist messianisches „Erfüllungszeichen“45 im Sinne von Sach  9,9 und motiviert die anschließende Huldigung. Wahrscheinlich erfolgte die Erweiterung schon in der vormkn. Fassung der Erzählung (PEmk), denn der Evangelist setzt eigene Akzente (siehe oben 2.2)46 . Außerdem inspirierte sie ihn, wie oben deutlich wurde47, zu seiner Gestaltung der Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16, was bedeutet: Sie war ihm vorgegeben. Wenn also Johannes mit seinen beiden Notizen zum Esel (V.14: Jesus „fand“ ihn und „setzte sich“ auf ihn48), abgesehen von der Umwandlung eines ursprünglichen Plurals (sie [sc. die Jünger] „fanden“ einen Esel) in den Singular, die ältere Gestalt der Episode aufbewahrt, dann ist klar, dass diese über seinen Überlieferungsstrang (PElk/joh – PEjoh) auf den Archetyp der Erzählung zurückgeführt werden kann. Ursprünglich hieß es deshalb dort umstandslos: „sie fanden ein Fohlen und Jesus setzte sich darauf“. 2.3.2 „Erfüllungszeichen“ und Huldigung. Zur Ursprünglichkeit der markinischen Abfolge Welche der beiden Abfolgen von prophetischer Zeichenhandlung des auf einem Fohlen „sitzenden“ Jesus und seiner Ehrung durch die Menschen ist ursprünglich? Die Antwort kann nur lauten: die mkn. Abfolge von „Erfüllungszeichen“ und Huldigung, denn mit der Huldigung Jesu reagieren die Menschen auf das Zeichen des auf einem Füllen „sitzenden“ Jesus.

43  Reinbold, Bericht 132: die einfache Notiz war „der Samen, aus dem sich im PBmk die Episode 11,1b–7 entwickelt hat“; andersherum Bultmann, Joh 320 Anm.  2. – Joh  12,14a: εὑρὼν δὲ ὁ Ἰησοῦς ὀνάριον entspricht Mk  11,4b: εὗρον πῶλον. Bei Joh steht die Wendung im Unterschied zu Mk im Singular: Die Aktion mit dem Esel geht von Jesus aus, der in allem, was er tut, souverän ist. 44  Vgl. 1Sam 10,2–10; 1Kön 17,8–16. Berger, Formgeschichte 317; Dormeyer, Passion 92–94; siehe auch oben I.  1.4.3: Die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16 par. 45  März, König 173. 46 J. Gnilka, Mk II 114; Lührmann, Mk 187; Guttenberger, Mk 257, bleibt vage: „Das Motiv von der Auffindung des Reittiers (V.1b–7) wird redaktionell sein“. 47 Vgl. oben in I.   1.4.3 den Abschnitt: Die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls Mk  14,12–16 par. 48  Wie sich die Notizen vom „Finden“ des Esels bei Mk und Joh entsprechen, so auch die sich anschließenden vom „Sich-Setzen“: ἐκάθισεν ἐπ’ αὐτό (Joh  12,14b); ἐκάθισεν ἐπ’ αὐτόν (Mk  11,7c).

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

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Frank Schleritt entwickelt die Gegenthese: Die joh. Abfolge sei ursprünglich und fände sich schon im Archetyp der Erzählung. Sein Argument: „die Notiz über die Auffindung des Esels (ist) dem Bericht über die Huldigungen (Joh  12,12 f./Mk  11,8–10) erst in dem Moment vorangestellt worden […], in dem sie zu der legendenhaften Erzählung Mk  11,1b–7 ausgestaltet wurde“49. Dabei setzt er voraus, dass der Einzugserzählung ursprünglich die Salbungserzählung vorausgegangen sei, der auslösende Faktor der Huldigung also die Erwartung der Volksmenge ist, Jesus komme aus Betanien nach Jerusalem 50 , nicht das „Erfüllungszeichen“ des auf einem Fohlen „sitzenden“ Jesus. Dieses klappt in seiner Rekonstruktion der PEG51 seltsam nach und erscheint funktionslos, zumal er annimmt, das zur Notiz gehörige Schriftzitat Sach  9,9 sei erst auf der Ebene der PEjoh hinzugewachsen 52 .

Gegen die Position von Schleritt spricht nicht nur, dass die legendarische Ausgestaltung der Notiz von der Auffindung des Esels eine Umstellung der Episoden nicht zur Bedingung hat, sondern vor allem die Einsicht in das gattungsgeschichtliche Gefälle von einer ursprünglich als königliche Jubelszene gestalteten Episode53 hin zu einer Hypantēsis, dem Zeremoniell der feierlichen „Einholung“ eines Trium­pha­ tors, wie Joh  12,12–19 es zeichnet54. Hinzu kommt die unten zu begründende Einsicht in den proömialen Charakter der Erzählung: Die alte Passionserzählung beginnt mit ihr, ohne die Kenntnis einer anderen Geschichte vorauszusetzen55. Der Grund der Huldigung kann deshalb kein anderer sein als das vorweg erzählte Zeichen des auf einem Fohlen thronenden Jesus. 2.3.3 Die Geschichte im johanneischen Überlieferungsstrang (Joh  12,12–19) Wenn die bei Johannes belegte Abfolge von Huldigung und Zeichenhandlung (Joh  12,12–13/14–15) sekundär ist, stellt sich die Frage, auf welcher Stufe der joh. Überlieferung und aus welchem Grund die ursprüngliche Abfolge umgekehrt ­w urde. Sind die Autoren der PElk/joh dafür verantwortlich, der PEjoh oder der Evangelist? 2.3.3.1 „[…] wenn diese schweigen, dann werden die Steine schreien“ (Lk  19,40). Zur PElk/joh (1) Ausweislich der festgestellten minor agreements verwendete die PElk/joh in der Huldigungs-Episode den βασιλεύς-Titel, und zwar wahrscheinlich in der bei Jo49 

Schleritt, Passionsbericht 218. Ebd. 214; so auch März, König 163: „vorjohanneisch mit der Salbungsgeschichte verbunden“. 51  Sie lautet: „Am nächsten Tag hörte eine zahlreiche Menge (…), dass Jesus nach Jerusalem komme, (…), breitete Laubbüschel auf den Weg und schrie: ‚Hosanna, gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt!‘, und: ‚König Israels!‘ Jesus aber fand ein Eselchen und setzte sich darauf“ (Schleritt, Passionsbericht 220). 52  Das überzeugt deshalb nicht, weil die Erzählernotiz ἐκάθισεν ἐπί … (V.14) und Sach  9,9 mit seiner Klimax καθήμενος ἐπί … (V.15) genau aufeinander abgestimmt sind. 53  Siehe unten 2.4.2. 54  Die umgekehrte Entwicklung einer nachträglichen Umwandlung der Hypantēsis-Szene in eine biblisch inspirierte Huldigungszene ist nicht wahrscheinlich. 55  Siehe unten 2.4.4. 50 

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hannes gebotenen Form mit dem Genitiv τοῦ Ἰσραήλ: „der König Israels“56 . Sie folgte damit der Fassung des Jubelrufs in der PEG, die von Markus sekundär in das Abstraktum βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν Δαυίδ umgewandelt wurde (siehe oben unter 2.2). So korrespondiert die Szene am Anfang der PEG auch der Episode der Verspottung des Gekreuzigten durch die „hohen Priester“ mit „König Israel!“ an ihrem Ende57. (2) Die PElk/joh beschloss die Erzählung mit einer Vorform von Lk  19,39 f.58 . Der dritte Evangelist stimmt dieses Apophthegma auf seine Lesart der Geschichte ab, wenn er die Pharisäer sagen lässt, Jesus möge „seine Jünger“ zum Schweigen bringen. Die Jünger nämlich sind es, die ihm zufolge Jesus huldigen (V.37: τὸ πλῆθος τῶν μαθητῶν), nicht die Volksmenge, wie Mk  11,8 (πολλοί) bzw. die PEG es darstellt. Die Anwesenheit des „Volkes“ bei der Huldigung lässt Lukas aber noch durchschimmern, wenn er die protestierenden Pharisäer „aus dem Volk heraus (ἀπὸ τοῦ ὄχλου)“ auftreten lässt. (3) Wenn die PElk/joh die Szene mit der Aufforderung „einiger Pharisäer“ beschließt, Jesus möge die Leute zum Schweigen bringen, ist klar, dass die Jubelrufe der Menschen unmittelbar vorausgingen. Das bedeutet für unsere Frage: Die PElk/ joh hat die ursprüngliche Abfolge der Geschichte noch bewahrt. Sie erzählte (im Duktus der PEG) zuerst, wie die Jünger ein Reittier „fanden“ (Lk  19,32 par. Mk  11,4) und Jesus sich auf das Tier „setzte“ (Mk  11,7), dann, wie auf dieses Zeichen hin die Menschen ihm huldigten: Sie breiteten ihre Gewänder aus und begannen zu jubeln (Mk  11,8–10) 59. 2.3.3.2 Zur vorjohanneischen Fassung der Erzählung (PEjoh) Das Profil von Joh  12,12–19 ist, wie oben deutlich wurde, dadurch geprägt, dass dem narrativen Teil, den das Schriftzitat abschließt (Joh  12,12–14b/14c–15), ein Kommentar des Evangelisten auf Metaebene folgt (V.16–18), bevor dann V.19 noch einmal zur Erzählebene zurückkehrt (Reaktion der Pharisäer). Wie der Evangelist die Erzählung zu Beginn in den Makrokontext einbindet (V.12) 60 , so tut er dies auch an ihrem Ende (V.16–19) 61. Auf den ersten Blick legt solche Perspektivierung 56  Lührmann, Mk 189: „Joh dürfte ihn (sc. den Titel) aus der Tradition übernommen haben, da er für sein eigenes Verständnis Jesu nicht konstitutiv ist, sondern in Joh  18,36 uminterpretiert wird“; ebenso Becker, Joh II 442–444; Mohr, Markus- und Johannespassion 59 f.; Schleritt, Passionsbericht 216. 57  Diese kontextuellen Bezüge sind auch der Grund dafür, warum die joh. Form der lkn. ohne den Genitiv (Lk  19,38: ὁ βασιλεύς) unbedingt vorzuziehen ist. 58  Siehe oben in II.  2.1 den Absatz (3) unter (c). 59  Lk hat diese Passage stilistisch überarbeitet; Mk folgt noch dem Duktus der PEG. 60  Setzt die Zeitangabe „am folgenden Tag (τῇ ἐπαύριον)“ (auch Joh  1,29.35.43 und 6,22) die Geschichte zu den vorangehenden Ereignissen in Beziehung (vgl. 12,1 f.), so spinnt die Partizipial­ wendung „die große Menge, die zum Fest gekommen war (ὁ ἐλθών)“ den Faden von Joh  11,55; 12,9–11 weiter. 61  V.16 blendet die nachösterliche Hermeneutik des Evangeliums ein, V.17 f. schließen die Erzählung mit der von der Erweckung des Lazarus, Joh  11, zusammen und V.19 schließlich deutet die Erfolglosigkeit der gegnerischen Opposition an, die hier indirekt zum Ausdruck bringt, „dass

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

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nahe, dass das Corpus der Erzählung (V.12–15.1962) aus der vorjoh. Überlieferung stammt, die Kommentierung auf Metaebene (V.16–18) dagegen vom Evangelisten63. Für die hier interessierende Frage würde diese Annahme bedeuten: Die Nachstellung der Symbolhandlung des „Sich-Setzens“ Jesu auf ein Fohlen verdankt sich dem Autor der PEjoh. Dem Erklärungsmodell von Frank Schleritt zufolge geht diese Fassung der Erzählung freilich nicht auf PEjoh zurück, sondern diese transportiert nur weiter, was die PEG und dann die PElk/joh schon dargeboten haben. Überzeugend ist diese Annahme aus den oben dargelegten Gründen aber nicht. Schleritt bedenkt auch nicht, was seine zutreffende Feststellung zur PElk/joh, diese habe einen von ihr neugeschaffenen Wortwechsel zwischen den Pharisäern und Jesus (vgl. Lk  19,39 f.) an die Erzählung angehängt, für deren Abfolge bedeutet: Sie musste mit den Jubelrufen geendet haben. Zugunsten der Annahme, dass Joh  12,12–15 vorjoh. Überlieferung enthält, nennt Schleritt als Argument noch eine Spannung zwischen V.12 und dem anschließenden Kommentar des Evangelisten: Während V.18 nachträglich erklärt, die Menge habe Jesus deshalb „eingeholt“, weil ihr die Auferweckung des Lazarus zu Ohren gekommen war, heißt es in V.12 zu Beginn der Szene lediglich, die Menge sei Jesus deshalb entgegengegangen, weil sie überhaupt von seinem „Kommen“ nach Jerusalem gehört habe. „Daraus muss man schließen, dass der Abschnitt V.12–13a auf der Grundlage von PBjoh formuliert ist“64. Tatsächlich expliziert der Kommentar am Ende, warum die Menge Jesus „entgegenging“, nämlich weil sie (wie zuvor in Galiläa) nach sensationellen „Zeichen“ Jesu verlangt. V.12 dagegen erklärt nur, sie hätten gehört, dass „Jesus nach Jerusalem kommt (ἔρχεται)“. Weil diese Formulierung in Vorwegnahme des Schriftzitats Sach  9,9 („siehe, dein König kommt [ἔρχεται]“) bewusst als Motto über die Geschichte gesetzt ist, fragt sich, ob hier wirklich von einer literarkritisch relevanten „Spannung“ oder nicht viel mehr von gezielter Gestaltung gesprochen werden muss.

Die verbreitete Annahme, das Corpus der Erzählung Joh  12,12–15 sei im Unterschied zum anschließenden Kommentar joh. Überlieferung, klingt plausibel. Methodisch ist freilich zu bedenken, dass derartige synchrone Maserungen eines Textes nicht unbedingt 1:1 diachron auszuwerten sind. Feststeht, dass die V.16–19 als makrokontextuell eingebundener Kommentar redaktionell sind. Aber könnte der Evangelist seine Überlieferung, die er vorweg darbietet, nicht im Sinne seines Kommentars neugestaltet haben? Deshalb lautet die entscheidende Frage, ob schon die PEjoh ein Motiv für die Umstellung und Neugestaltung der Episoden zu erkennen gibt oder dies erst auf der Ebene des Endtextes plausibel wird. Weil die Antwort im die Tötung Jesu die einzige Möglichkeit ist, die Lage wieder in den Griff zu bekommen“ (Schleritt, Passionsbericht 220). 62  Siehe oben 2.3.3.1 unter (2). 63  So u. a. März, König 151–163; Dietzfelbinger, Joh I 387; Schleritt, Passionsbericht 220 (allerdings mit der fragwürdigen Aufteilung von V.14a.b und V.14c.15 auf unterschiedliche Schichten etc.). – Auch die makrokontextuellen Signale in V.12 könnten in diesem Erklärungs­ modell auf den Evangelisten zurückgehen; anders Schleritt, Passionsbericht 215: Weil er den Konnex von Salbung und Einzug Jesu schon für die PEjoh postuliert, schreibt er diese Signale der Überlieferung zu (vgl. oben I.  1.4.1 [3]); ähnlich März, König 168. 64  Schleritt, Passionsbericht 215. – Die Erzählung wird durch die Stichwörter ὑπάντησις/ ὑπαντάω (V.13/18) und ἀκούω (V.12/18) gerahmt, wohl eine bewusst gesetzte Inclusio, wie dies auch zwischen V.12c und 15b zu beobachten ist (siehe oben).

232

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

zweiten Sinne ausfällt, folgt daraus für die PEjoh: Über sie lässt sich nur sagen, was schon von der PElk/joh her bekannt ist. Wahrscheinlich wird sie deren Einzugserzählung samt Apophthegma Joh  12,19 par Lk  19,39 f. weiterüberliefert haben, ohne sie zu verändern65. 2.3.3.3 Das „Eselchen“ als Korrektiv zur triumphalen Huldigung Jesu. Zur Fassung des vierten Evangelisten Johannes hat die ihm (in V.12–15.19) vorgegebene Überlieferung im Sinne seines Kommentars V.16–18 neugestaltet. Das Motiv des auf einem Fohlen sitzenden Jesus zog er nach hinten und wandelte die ihm vorgegebene Notiz in Anpassung an das von ihm in die Überlieferung eingebrachte Sacharja-Zitat in den Singular um: „Jesus aber fand ein Eselchen und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: […]“. Der Grund für die Umstellung ist klar66: Die Symbolhandlung mit dem Eselchen ist nachträgliches Korrektiv zur vorangehenden königlichen Huldigung Jesu, wobei V.16 zufolge die Szene erst nach Ostern als Epiphanie des Friedenskönigs (Sach  9,9) begreiflich wird67. Die vorangestellte Huldigungsepisode stilisierte der Evangelist im Sinne des zeitgenössischen „Einholungs“-Zeremoniells: „Sie nahmen die Blätter der Palmbäume und zogen (aus der Stadt) hinaus, zur Einholung ihm entgegen, und schrien immerfort: […]“ (Joh  12,13). Anstelle der noch von Markus bezeugten „Laub­ büschen“ tragen jetzt die Menschen das Siegeszeichen der Palmzweige68 . Auch hier ist der Grund der Neugestaltung durchsichtig: Schon in Galiläa wollten die Menschen, „als sie das Zeichen sahen, das Jesus tat“ (Joh  6 ,14; vgl. 12,18), „kommen und Jesus ergreifen, um ihn zum König zu machen“ (Joh  6 ,15). Gleiches geschieht jetzt in Jerusalem. Beeindruckt vom Lazaruswunder (Joh  12,17 f.), ziehen sie Jesus entgegen, um ihn als ihren König „einzuholen“. Damit missverstehen sie aber die Sendung Jesu.

65  Die Besonderheiten von Joh  12,12–15 auf PEjoh und den Evangelisten aufzuteilen, empfiehlt sich nicht. Denkbar wäre, dass schon die Autoren der PEjoh das Motiv der „Einholung“ in die Überlieferung einbrachten, so Schleritt, Passionsbericht 220 (aber aus welchem Grund?). Eine Verpflanzung der Notiz, dass Jesus sich auf ein Fohlen „setzte“, nach hinten, hätte dies nicht nach sich gezogen. Sollte PEjoh, wie Schleritt annimmt, die Geschichte um 12,14c–15 erweitert haben (dagegen spricht die enge Verbindung mit 12,14a.b), stellt sich die Frage, was mit Joh  12,19* (vgl. Lk  19,39 f.) ist; der Wortwechsel mit den Pharisäern würde noch weiter von den Jubelrufen, auf die er reagiert, abgerückt. Was der Wortwechsel auf der Ebene der PEjoh beinhaltete, lässt Schleritt offen (ebd. 519). 66 Auch Bultmann, Joh 320 Anm.  2 ; Barrett, Joh 411; Brown, Joh I 463 schreiben die Umstellung dem Evangelisten zu. 67  Siehe oben II.  2.1 unter (4). 68  Der Erzählzug, der vom Motiv der „Einholung“ nicht zu trennen ist, knüpft an das Wissen um Palmzweige als Schmuck beim „Triumphzug von Königen und Helden“ an (W. Bauer, Joh 106); vgl. 1Makk  13,51; 2Makk  14,4; auch Offb  7,9. Theobald, Joh I 786 f.

233

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

2.4 Der Friedenskönig. Die Einzugserzählung in der PEG Aus der bisherigen Deutung der Befunde lässt sich zweierlei für die Erzählung der PEG ableiten: Bei der Alternative „Findungsnotiz“ oder „Findungslegende“ bietet die joh. Überlieferung die ursprüngliche Gestalt, bei der Frage der Abfolge der Episoden die mkn. Die diachrone Entwicklung der Erzählung stellt sich dann folgendermaßen dar: PEG Ortsangabe (A) Findungsnotiz + Motiv des königlichen „Sitzens“ (B) Huldigung + Jubelrufe auf den „König Israels“ PEmk

PElk/joh

Ortsangabe (A) Findungslegende + Motiv des königlichen „Sitzens“ (B) Huldigung + Jubelrufe

Ortsangabe (A) Findungsnotiz + Motiv des königlichen „Sitzens“ (B) Huldigung + Jubelrufe auf den „König Israels“ Reaktion der Pharisäer

PE-Mk/Lk

PE-Joh

Ortsangabe A) Findungslegende + Motiv des königlichen „Sitzens“ (B) Huldigung + Jubelrufe (Lk: Reaktion der Pharisäer)

(B) Einholung Jesu durch die Jerusalemer Menge samt Huldigung (A) Findungsnotiz + Motiv des königlichen „Sitzens“ + Schriftzitat: Sach  9,9 (C) Metakommentare Reaktion der Pharisäer

2.4.1 Die Einleitung der Erzählung – „Auftakt“ der PEG An der folgenden Synopse lässt sich zeigen, dass der Einleitung der Einzugserzählung im Archetyp eine Notiz vorausging, die der Passionserzählung ursprünglich als „Auftakt“ diente. Markus und Johannes bewahren diese Notiz getrennt von der Einzugserzählung auf, bei Lukas geht sie ihr unmittelbar voran69: Mk  10,32 f.

Mk  11,1

Lk  19,28 f. (vgl. 18,31)

Joh  2 ,13 (5,1b; vgl. 7,10; 11,55); 12,12

Und nachdem er dies gesagt hatte,

28

69  Schleritt, Passionsbericht 146.518, nimmt wegen der Parallele Joh  2 ,13b und Mk  10,32a an, dass die PEjoh ursprünglich von Joh  2,13b eingeleitet wurde: „Jesus ging hinauf nach Jerusalem“. Darauf sei – so Schleritt – die Tempelaktion, nicht der Einzug gefolgt. Die Berücksichtigung von Lk  19,28 führt allerdings zu einem anderen Ergebnis.

234

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mk  10,32 f.

Mk  11,1

Lk  19,28 f. (vgl. 18,31)

Joh  2 ,13 (5,1b; vgl. 7,10; 11,55); 12,12

ging er voraus (vgl. Mk  10,32), Und nahe war das Pascha der Juden

2,13

hinaufsteigend nach Jerusalem (ἀναβαίνων εἰς Ἱεροσόλυμα).

32 Sie waren aber auf dem Weg hinaufsteigend nach Jerusalem (ἀναβαίνοντες εἰς Ἱεροσόλυμα).

und Jesus stieg nach Jerusalem hinauf (καὶ ἀνέβη εἰς Ἱεροσόλυμα).

Und Jesus ging ihnen voraus (ἦν προάγων αὐτούς). und sie verwunderten sich, und diejenigen, die ihm nachfolgten, fürchteten sich. Und er nahm wieder die Zwölf zu sich und begann ihnen zu sagen, was auf ihn zukommt: [18,31Seht, wir steigen hinauf nach Jerusalem (ἀναβαίνομεν εἰς Ἰερουσαλήμ) …].

Seht, wir steigen hinauf nach Jerusalem (ἀναβαίνομεν εἰς Ἱεροσόλυμα) […].

33

Und

Und es geschah:

1

29

als sie sich Jerusa­lem (εἰς Ἱεροσόλυμα) nähern (ἐγγίζουσιν),

Als er sich

(εἰς …) Betfage und Betanien am Ölberg (πρὸς τὸ ὄρος τῶν ἐλαιῶν),

(εἰς …) Betfage und Betanien am sogenannten Ölberg (πρὸς τὸ ὄρος τὸ καλούμενον ἐλαιῶν),

entsendet er zwei seiner Jünger […].

entsandte er zwei der Jünger […].

näherte (ἤγγισεν)

12,12 Die große Menschenmenge, als sie hörten, dass Jesus nach Jerusalem kommt, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen […].

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

235

Lk  19,28, Scharniervers zwischen Lk  19,11–27 und der Einzugserzählung, ist Abschluss („nachdem er dies gesagt hatte“) und Auftakt zugleich („er ging voraus …“). Mit seiner Partizipialwendung ἀναβαίνων εἰς Ἱεροσόλυμα („hinaufsteigend nach Jerusalem“) erweckt der Vers den Eindruck einer Überschrift. Die nachfolgende Einzugsgeschichte ist mittels der Formel καὶ ἐγένετο = und es geschah V.29a abgesetzt. Synchron betrachtet, könnte V.28 „Wiederaufnahme von ἀναβαίνειν εἰς Ἰερουσαλήμ aus 18,31“ sein70 , diachron die Verarbeitung des alten „Auftakts“ zur Passions­ erzählung, der dem dritten Evangelisten noch bekannt war 71. Folgende Beobachtungen sprechen zugunsten dieser These: Auch Markus und Johannes haben den Satz: Jesus stieg hinauf nach Jerusalem, in den Kapiteln vor ihrer PE verarbeitet. Beim ältesten Evangelisten gehört er zum Vorspann seiner dritten Leidens- und Auferstehungsprophetie Jesu (10,33 f.), eines (im Unterschied zu den beiden ersten Prophetien Mk  8,31; 9,31) vorweggenommenes Summariums der PE72 . Der vierte Evangelist bietet den Satz vor der Erzählung von der Tempelaktion Jesu, die er aus seiner PE nach vorne gezogen hat; im weiteren Verlauf seiner Erzählung lässt er ihn mehrmals anklingen – immer als Auftakt zu einem der Besuche Jesu in der Stadt. Von daher fällt nochmals Licht auf den mit vier Ortsangaben überfüllten Beginn der Einzugserzählung in Mk  11,1. Weil Markus den Auftakt seiner PE nach 10,32 f. vorgezogen hat, integriert er die von dort her stammende Nennung Jerusalems in den Beginn der Einzugserzählung mit der Folge, dass jetzt gleich zwei mit εἰς an ἐγγίζω angeschlossene Angaben aufeinander folgen: „Jerusalem“ (εἰς Ἱεροσόλυμα) und „Betfage und Betanien am Ölberg“ (εἰς Βηθφαγὴ καὶ Βηθανίαν). Die erste Angabe gehört, wie die Parallelen Lk  19,18c und Joh  2,13b belegen, zum „Auftakt“ oder Vorspann der PEG. Wie dieser genau lautete, ob er noch weitere Elemente aufwies wie die Nennung der Begleiter und Begleiterinnen Jesu („Jesus stieg mit seinen Jüngern hinauf nach Jerusalem“), entzieht sich der Kenntnis, ist aber gut möglich. Fest steht: Der Vorspann markiert den Anfang der alten PE in einem doppelten Sinn: Der Aufstieg Jesu nach Jerusalem73 ist der Beginn seines Weges in die Heilige

70  Wolter, Lk 625; πορεύεσθαι ἔμπροσθεν = vorausgehen „vielleicht nach Mk  10,32: ἦν προάγων αὐτοὺς ὁ Ἰησοῦς“ gebildet. 71 Wenn Lk im Unterschied zu dem aus dem Hebräischen transkribierten Ἰερουσαλήμ von 18,31 in 19,28 zum griech. Ἱεροσόλυμα wechselt, kann sich das „dem Einfluss von Mk  11,1“ verdanken (ebd.), aber auch Indiz der alten PE sein. – Die Annahme von Küchler, Jerusalem 915, Lukas denke in 19,28 („hinaufsteigend nach Jerusalem“) (diff. Mk  11,1) „vielleicht schon an die zu seiner Zeit bestehende ‚Römerstraße‘“, geht wohl doch zu weit. 72  Wegen des „ein wenig unvermittelte(n) Hinweis(es) auf die ‚Anabasis‘ Jesu nach Jerusalem“ in Mk  10,32 f., vermutet März, König 64, dass „die Einzugsgeschichte vormals [d. h. in der vormkn. PE] durch eine summarische Notiz eingeleitet wurde, die das ‚Kommen‘ Jesu [ebd.87: „und seiner Begleiter“] nach Jerusalem zur Sprache brachte“. 73  Es ist bemerkenswert, dass nach dem einhelligen Zeugnis der vier Evangelisten schon die PEG die gräzisierte Namensform Hierosolyma benutzt. Sie weist „auf eine frühe bewusste Interpretatio Graeca der jüdischen Tempelstadt hin […] in jüdisch-hellenistischen Kreisen“ (­ Hengel, Jerusalem 118).

236

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Stadt, zugleich seines Leidens, das sich dort erfüllen wird. Der Vorspann enthält alles in nuce, was auf Jesus zukommt. Zur unmittelbaren Einleitung der Erzählung (Mk  11,1*) lässt sich so viel sagen, dass Betfage als Jerusalemer Grenzort gewiss zur alten Geschichte hinzugehört74. Auch die Lokalisierung des Dorfs „am Ölberg“ (πρὸς τὸ ὄρος τῶν ἐλαιῶν) dürfte alt sein. Die Synoptiker bezeugen sie, in der joh. Überlieferung ist sie ausgefallen75. Trifft die Annahme zu, dann enthielt die Erzählung von Anfang an eine Assoziation auch der eschatologischen Bedeutung des Berges76 . 2.4.2 Das Corpus der Erzählung Samt der eben eruierten Einleitung könnte die Erzählung in der PEG in etwa so gelautet haben: Markus Lukas Jesus stieg [mit seinen Jüngern] hinauf (ἀνέβη) nach Jerusalem. [10,32] A. Als sie77 sich Betfage am Ölberg näherten. fanden sie ein Fohlen und Jesus setzte sich darauf.

11,1 11,4 11,7c

B. Und die Menge [viele78] breitete auf dem Weg ihre Gewänder aus, andere Laubbüschel, die sie von den Feldern abrissen […], und sie riefen:  Hosanna!   Gesegnet (sei) der da kommt im Namen des Herrn –   der König Israels!   (Hosanna in den Höhen!)

11,8a 11,8b 11,9a 11,9b 11,9c 11,10b

19,28

Johannes 2,13

[12,14a] 12,14b

12,13c 12,13d 12,13e 19,38c 12,13f

74  Siehe oben 2.2 unter (a). J. Gnilka, Mk II 115: „Das nur hier in den Evangelien erwähnte Betfage […] ist ursprünglicher Bestandteil der alten Einzugserzählung“. 75  Die Komposition Joh  12,1–8/12–19 gibt aber zu erkennen, dass Jesus die Stadt von Betanien aus erreicht. 76  Bultmann, Geschichte 281 Anm.  1: „… der Ölberg, von dem her Sach  14,4 die eschatologische Erscheinung Jahves erwartet, und von der nach dem Volksglauben offenbar der Messias kommen soll [Jos, Bell 2,262; Ant 20,169] hat vielleicht messianische Bedeutung“. Zur frühjüdischen „Theologie des Ölbergs“ siehe ausführlich C. Schaefer, Zukunft 198–204. 77  Der Vorspann setzte mit dem Namen Jesu ein. Wahrscheinlich nannte er auch seine Begleiter. 78  πολλοί = „viele“ (Mk  11,8) könnte auf Mk zurückgehen (vgl. oben); vielleicht ist ὁ ὄχλος πολύς (Joh  12,12) ursprünglich (vgl. Mt  21,8: ὁ δὲ πλεῖστος ὄχλος).

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

237

Die Handlung besteht aus der Aktion Jesu (A) und der Reaktion der Menschen (B). Jesu Aktion – er „setzte sich“ auf ein Reittier – ist nicht der Beginn eines Eselritts, der anschließend gar nicht erzählt wird, sondern hat „demonstrativen Charakter und kann deshalb wohl nur sinnvoll auf dem Hintergrund von Sach  9,9 verstanden werden: als ‚Erfüllungszeichen‘, das andeutet, dass die Weissagung des Deuterosacharja im ‚Kommen‘ Jesu nach Jerusalem ihre Erfüllung findet“79. Die Menge reagiert darauf mit zwei Huldigungsgesten und Jubelrufen, dem „Hosanna“ und dem Segensspruch aus Ps  118,25b.26, die dem „König Israels“ gelten. Die Stilisierung der Handlung ist deutlich: Im Alten Testament folgen auf die Inthronisation oder Salbung des Königs die Jubelrufe seiner Untergebenen, „Sich-Setzen“ Jesu80 auf das Reittier das „Hosanna“ der Menge. Das inszenierte Ritual zeigt, welche biblischen Texte gattungsprägend waren: Erzählungen von der Inthronisation eines Königs81, darunter vor allem die Geschichte von der Erwählung und Salbung des Jehu samt anschließender Akklamation seiner Untergebenen, 2Kön 9,1–1382: 2Kön  9,12 f.

Mk  11,7c.8a.9 f. par.

„So spricht der Herr: Ich salbe dich zum König über Israel“ (Jehus Kundgabe seines von Jhwh inaugurierten Königtums)

7c

„Sogleich nahmen alle ihre Kleider, legten sie ihm zu Füßen auf die bloßen Stufen, stießen in das Horn und riefen:

„Und die Menge breitete ihre Kleider auf dem Weg aus […] und sie schrien:

12

13

Jesus „setzte sich“ auf das Reittier

(Jesu Kundgabe seines Königtums im Zeichen)

Jehu ist König. […] Gepriesen der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels“.

Die in Mk  11,1–10 (PEG) verarbeitete Gattung ist angereichert durch biblische Assoziationen, die sich im Prozess der Weitergabe der Erzählung und ihrer überlieferungsgeschichtlichen Entwicklung noch vermehren.

79 

März, König 108. common symbol of royal rule is sitting on the throne“ (Menken, Testament 92). Mit καθίζω (diff. Sach  9,9LXX; siehe unten) ist dies hier auf Jesu „Sitzen” auf dem Esel projiziert. 81  Ausführliche Erzählungen dieser Art sind im AT selten: 1Kön  1,38–40 (Salomo); 2Kön 9,1– 13 (Jehu); 2Kön  11,12 f. (Joasch). 82  März, König 111; dort auch eine schematische Gegenüberstellung der beiden Texte; ebd. 222 Anm.  490: „die strukturellen Verbindungen zwischen 2  Kön 9,12 ff. und Mk  11,7c–10 finden … kaum Beachtung“. Die Gattungsbestimmung von Berger, Formgeschichte 232 („erzählte Akklamation“) bleibt ungenügend. 80  „A

238

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

2.4.3 Die Erzählung als Inszenierung biblischer Motivcluster (1) Grundlegend für die Erzählung ist die Anspielung von Mk  11,7 auf Sach  9,9 f. 83, weshalb hier der Text84 ausführlich zu würdigen ist: A. 9Juble laut, Tocher Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem!

A. Jubelszene (Mk  11,9b–10 par. Joh  12,13d–f)

B. Jesu Kommen nach Jerusalem und B. Siehe, dein König85 kommt zu dir (ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι). Gerecht ist er und Rettung wurde ihm zuteil86; demütig ist er und reitet auf einem Esel Besteigen des Esels (Mk  11,4 par. Joh  12,14) (ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὑποζύγιον), auf einem Fohlen der Eselin (πῶλον νεόν). C. 10Ausmerzen werde ich87 die Streitwagen aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem, ausgemerzt wird der Kriegsbogen. Er wird den Nationen Frieden verkünden; Und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer Und vom Strom bis an die Enden der Erde88 .

Strukturell sind Sach  9,9 und die Einzugserzählung gleich, nur hat diese die Abfolge der beiden Elemente des Prophetenspruchs (A: Aufruf zum Jubel; B.: Begründung) umgekehrt89. Der in PEmk hinzugewachsene Erzählzug, dass noch kein Mensch auf dem Reittier saß (Mk  11,2 par. Lk  19,30), ist aus der Bezeichnung des Esels als Jungtier (Sach  9,9: πῶλον νεόν) „midraschartig“ herausgelesen90 . Bevor Matthäus und Johannes Sach  9,9 zitieren, ist die Erzählung selbst schon auf ihren unterschiedlichen Stufen vom Prophetenwort geprägt91. Für das Gesamtverständnis der Einzugserzählung fundamental ist die Art, wie Sach  9,9 f. die messianische Königsfigur zeichnet: „[V]or dem anzunehmenden zeitgeschichtlichen Hin83  Vergleichbar ist Zef  3,14–17: „Der König Israels, der Herr, ist in deiner Mitte …“ (V.15b): ὁ βασιλεὺς τοῦ Ἰσραήλ [Joh  12,13]); Joh  12,15 verbindet das Zitat von Sach  9,9 eingangs möglicherweise mit einer Assoziation an Zef  3,16: „fürchte dich nicht!“ Vgl. auch Jes  40,9; 44,2. 84  Im Folgenden nach dem hebr. Text (LXX-Wendungen in Klammern). Patsch, Einzug 8, verweist auf Angleichung des Lk an die LXX: V.35: ἐπιρρίπτω ἱμάτιον 2Sam 20,12; 1Kön 19,19; ἐπιβιβάζω 1Kön 1,33 beim Krönungszug des Salomo. „Der königliche Charakter des Einzugs wird damit verstärkt“ (siehe dazu allerdings unten 2.4.3 unter [3]); Kuhn, Reittier 90. 85  Lk  19,38c („König“) par. Joh  12,13f: „König Israels“; mit Genitiv schon in Sach  9,9. 86  LXX: „und ein Retter (ist) er“. 87  LXX: „Und er wird …“. 88  In der LXX lauten die letzten drei Zeilen: „und (es wird sein) Fülle und Friede fern von (den) Nationen (oder: aus [den] Nationen). Und er wird Gewässer beherrschen bis zum Meer und Flussmündungen auf der Erde.“ 89  März, König 111; ebd. 112: „Die Umkehrung der Elemente von Sach  9,9 in der Einzugs­ geschichte zeigt an, dass die Erfüllung des Prophetenspruches ‚in Szene‘ gesetzt ist“, 90  Pesch, Mk II 179. πῶλοs bezeichnet eigentlich das Jungtier (Mk  11,4 par. Lk  19,33 u. ö.; für den Esel wird sonst ὄνος verwendet: vgl. Lk  13,14; 14,15); weil das Wort auch im LXX-Text von Sach  9,9 begegnet, bezeichnet es auch in der Einzugserzählung das Fohlen. 91  Vgl. auch Pesch, Mk II 178 f.

2. Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk  11,1–10 par.)

239

tergrund“ ist sie „zu einer Gegenfigur zu den hellenistischen Königsideologien“ geworden. „Während sich der hellenistische König als Kriegskönig präsentiert und legitimiert, zieht der König Jerusalems in seine Hauptstadt nicht auf dem Kriegsross und an der Spitze eines siegreichen Heeres ein, sondern auf dem Esel, dem Reittier der Richter der Richterzeit (vgl. Ri  10,4; 12,14) bzw. gemäß der Verheißung Gen  49,11“92 .

(2) Gen  49,10–12, der Jakobsegen über Juda, auf den sich Sach  9,9 f. zurückbezieht93, könnte Mk  11,2 (par. Mt  21,2; Lk  19,30) das Motiv geliefert haben: „Der ‚angebundene Jungesel‘ ist der Jungesel von Gen  49,11 (vgl. auch Just, [1]Apol  32,6)“94: 10 Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis Schilo (‫)שילה‬95 kommt, dem der Gehorsam der Völker gebührt. 11 Er bindet an den Weinstock seinen Eselhengst (δεσμεύων πρὸς ἄμπελον τὸν πῶλον αὐτοῦ), an die Edelrebe das Füllen seiner Eselin (τὸν πῶλον τῆς ὄνου αὐτοῦ). Er wäscht in Wein sein Kleid, in Traubenblut sein Gewand. 12 Dunkler als Wein sind die Augen, seine Zähne weißer als Milch96 .

Wie die rabbinische Auslegung97, so könnte auch Joh  12,15 beim Prophetenspruch Sach  9,9 den Jakobssegen mit im Blick haben98 . (3) Zum biblischen Kontext der Einzugsgeschichte gehört schließlich noch die Erzählung von der Salbung Salomos zu Davids Nachfolger 1Kön  1,33–40, wo der alte König dem Priester Zadok, sowie den Propheten Natan und Benaja befiehlt: 33 […] Nehmt das Gefolge eures Herrn mit euch, setzt (ἐπιβιβάσατε) meinen Sohn Salomo auf mein eigenes Maultier (ἐπὶ τὴν ἡμίονον τὴν ἐμήν) und führt ihn zum Gihon hinab! 34 Dort sollen ihn der Priester Zadok und der Prophet Natan zum König von Israel (βασιλέα ἐπὶ Ισραηλ)99 salben

92  Dohmen (Hg.), SAT II 2188 (E. Zenger/T. Maierhofer); ebd. 2187: Sach   9–11 „deute die durch Alexander den Großen um 330 v.Chr. ausgelöste Veränderung der Machtverhältnisse und setze dessen Machtanspruch nicht zuletzt mit dem Bild vom gewaltlosen Messias (9,9–10) die Vision von der Beseitigung aller Kriegsmächte entgegen“. 93  Blenkinsopp, Oracle 57; Menken, Testament 88 f., verweist auf die beiden Texten gemeinsamen Stichwörter. 94  Pesch, Mk II 179. 95  Nach der Biblia Hebraica. Stuttgartensia vielleicht zu lesen als ‫„ = משלו‬sein Herrscher“. 96 4QPatr (4Q252)   1–7 bietet eine messianische Deutung des Juda-Segens: „3[…], bis dass kommt der Gesalbte der Gerechtigkeit, der Sproß 4Davids; denn ihm und seinem Samen ist der Bund der Königsherrschaft über sein Volk gegeben für ewige Geschlechter […]; vgl. Menken, Testament 88 Anm.  33. 97  BerR   75,6 (zu Gen  32,6): „Ass refers to the royal Messiah, for it says of him, Lowly, and ­r iding upon an ass (Zech. IX,9)“ (Übersetzung H. Freedman); 98,9; 99,8; bBer 56b–57a. – Just, Dial  53,1–4; ClemAl, Paed  1,15. 98  Menken, Testament 88 f., mit Hinweis darauf, dass Joh  12,15 den Dativ der Sacharja-Prophetie: „dein König kommt zu dir“ auslässt, analog zu Gen  49,10 (?). 99  Vgl. Lk  19,38c par. Joh  12,13 f.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

und ihr sollt in das Horn stoßen und rufen:   Es lebe König Salomon (Ζήτω ὁ βασιλεὺς Σαλωμων)! (vgl. 2Kön  9,12 f.) 35 Dann zieht mit ihm herauf (ἀναβήσεσθε ὀπίσω αὐτοῦ100)! Er soll kommen, sich auf meinen Thron setzen (καθήσεται ἐπὶ τοῦ θρόνου μου) und König werden an meiner Stelle; denn ich habe ihn zum Fürsten von Israel und Juda bestimmt […].

Die Ausführung dieses Befehls erzählen V.38–40: „Sie setzten (ἐπ-εκάθισαν) Salomo auf das Maultier des Königs David […] und alles Volk rief: ‚Es lebe König Salomo!‘“ (V.38 f.) „Sitting on David’s mule functions here as an anticipation of sitting on his throne“101. Vielleicht „beeinflusste“102 auch diese Geschichte von Davids Sohn (vgl. Mk  10,47 f.; Mt  20,30 f.; 21,9; Lk  18,38) die Einzugserzählung103. (4) Die Geschichte von der Eroberung Jerusalems durch David und seinem Einzug in die Stadt (2Sam  5,6–12) hallt in der Erzählung vom Einzug Jesu nicht nach, wohl aber in der Fassung der Tempelaktion, die sich beim ersten Evangelisten unmittelbar anschließt. Wenn es dort heißt: „Im Tempel kamen Lahme und Blinde zu ihm und er heilte sie“ (Mt  21,14), spielt dies auf 2Sam  5,6 an, wo die Jebusiter zu David sagen: „Du kommst hier nicht herein; vielmehr werden dich die Lahmen und die Blinden vertreiben“. 2.4.4 Die Einzugserzählung als Proömium der PEG Die Einzugserzählung mit ihrer Königstitulatur hat ihre Entsprechung in der Kreuzigungsszene samt titulus crucis am Ende der PEG. Als narrative Inszenierung der prophetischen Erwartung eines demütig auf einem Esel reitenden Friedens­ königs, der jeglicher Gewalt eine Absage erteilt, bietet die Erzählung das theologische Vorzeichen, von dem her die spätere Verwendung der Königstitulatur für Jesus zu verstehen ist: im Pilatusprozess, der anschließenden Verspottung Jesu durch die Soldaten, dann des Gekreuzigten durch die hohen Priester („König Israel!“) und schließlich im titulus crucis104. Daraus folgt: Die Erzählung ist Proömium der PEG und gezielt als solches konzipiert worden. Die im ersten Teil der Studie überliefe100 

„Ihr sollt hinter ihm hinaufsteigen“: vgl. Lk  19,28. Menken, Testament 93. 102  Ebd.; vgl. auch Ferdinández Marcos, Unción 89–97. 103  Die lkn. Version der Erzählung scheint für diesen Bezug besonders hellhörig zu sein: Ferdinández Marcos, Unción 89–97. Lk  19,35: ἐπιβιβάσατε entspricht 1Kön  1,33b (allerdings lässt Lk  10,34 auch der Samariter den unter die Räuber Gefallenen auf sein Reittier „steigen“ (ἐπιβιβάσας δὲ αὐτόν …), und Apg 23,24 soll Paulus auf einem Reittier „aufsitzen“ (ἵνα ἐπιβιβάσαντες τὸν Παῦλον). 104  März, König 121–123; ebd. 122; „In Sach  9,9 f. findet diese frühe Gemeinde offenbar einen angemessenen theologischen Topos, um die von jeglicher menschlichen Herrschaft unterschiedene Art des Königtums Christi auch auf dem Hintergrund der Verheißung glaubend zu entfalten. Die für den Prophetenspruch so bezeichnende Spannung zwischen dem tatsächlichen Herrschaftsanspruch des messianischen Königs über die ganze Welt und der Armut und Machtlosigkeit seines Kommens sieht die christliche Gemeinde im Schicksal Jesu, besonders im Passionsgeschehen, erfüllt. Sie versteht das ‚Kommen‘ Jesu zur Passion als erfüllenden Vollzug von Sach  9,9 und stellt damit die Leidensgeschichte insgesamt in das Licht dieser Weissagung“; vgl. auch Reinbold, Bericht 132. 101 

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3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

rungskritisch begründete Annahme, dass sie die PEG tatsächlich eröffnet105 , findet auf inhaltlicher Ebene damit ihre Bestätigung: Keine andere Erzählung aus dem Eingangsbereich der PEG kommt für die Übernahme dieser proömialen Funktion in Frage als nur die vom „Kommen Jesu nach Jerusalem“.

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.) Die Erzählung von der Tempelaktion Jesu106 darf nicht isoliert betrachtet werden. Mit ihr verbindet sich ein Wortwechsel Jesu mit den Autoritäten des Tempels, der bei Markus und Matthäus abgesetzt ist, bei Lukas und Johannes aber unmittelbar folgt. Bei den Synoptikern ist die Erzählung (mit der vom Einzug Jesu in die Stadt) der furiose Auftakt seines zum Tod hinführenden Jerusalemaufenthalts, beim vierten Evangelisten der programmatische Beginn seines Wirkens insgesamt, weshalb sie am Eingang seines Buches steht. 3.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Aufschlussreich ist die jeweilige kontextuelle Einbettung der Szene. Markus rahmt sie mit der Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums, Matthäus löst diesen Rahmen auf und erzählt zuerst von der Aktion Jesu, dann vom Feigenbaum. Lukas übergeht die Geschichte, Johannes scheint sie nicht zu kennen. Kontext

Markus

Matthäus

Verfluchung des Feigenbaums

11,12–14

(siehe unten)

(A) Die Tempelaktion Jesu (samt Reaktion der Autoritäten)

11,15–17. 18–19

21,12–13 (+ 14–17)

Der verdorrte Feigenbaum samt Weisungen Jesu zu Glauben und Gebet

11,20–25

21,18–22

11,27–33

21,23–27

(B) Kontroversszene (Zeichen- bzw. Vollmachtsfrage) Tempelwort Jesu

Lukas

Johannes

19,45–46. 47–48

2,14–17

20,1–8

2,18–22

(14,58; vgl. 15,29) (26,61; vgl. 27,40) (vgl. Apg  6 ,14) 2,19

Die Kontroversszene (= B), die auf die Erzählung von der Aktion Jesu (= A) folgt, wird durch eine offizielle Befragung Jesu durch die Tempelautoritäten angestoßen. 105 

Siehe oben I. 1.4.1. Wedderburn, Jesus 1–5, dokumentiert die zahlreichen Deutungen, die der Erzählung zuteil wurden: quot homines, tot sententiae (5). 106 

242

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Es geht um die „Vollmacht“ Jesu (Synoptiker) bzw. die Forderung eines ihn be­ glaubigenden „Zeichens“ (Joh). Trotz Trennung durch die Feigenbaumgeschichte, die sich erst am folgenden Tag zuträgt, knüpft die Befragung auch bei Markus und Matthäus an die Tempelaktion an: „In welcher Vollmacht tust du dies oder wer hat dir diese Vollmacht gegeben, dass du dies tust?“ (Mk  11,28 par. Mt  21,23). Ein ursprünglicher Konnex der beiden Überlieferungen deutet sich an. (2) Der kompositionelle Befund könnte die Annahme nahelegen, der vierte Evangelist habe verbunden, was er bei Markus und Matthäus durch die Feigenbaum­ geschichte getrennt vorfand107. Für die alternative Annahme, dass er über eine eigene Überlieferung (PEjoh) verfügte108 , sprechen indes die besseren Argumente: (a) In zahlreichen (gewiss nicht redaktionell zu erklärenden) Details unterscheidet sich Johannes von den Synoptikern: Jesus trifft im Tempel nicht nur auf Taubenhändler und Wechsler (so Mk  11,15 par. Mt  21,12), sondern auch auf Verkäufer von Groß- und Kleinvieh. Käufer von Opfermaterie (so Mk und Mt) kommen nicht vor. Jesus bedient sich einer aus Stricken verfertigten Peitsche, um das Groß- und Kleinvieh aus dem Tempelbezirk zu vertreiben. Die Tische der Geldwechsler stößt er nicht nur um (so Mk und Mt), sondern schüttet auch noch zuvor ihr Geld aus. Bei Johannes richtet sich Jesu Aktion (im Unterschied zu den Synoptikern) gezielt gegen den „Inhalt“ des „Kaufhauses“ (V.16), nicht gegen die Menschen. Das Deutewort spielt auf Sach  14,21 an, während es sich bei den Synoptikern auf Jes  56,7 und Jer  7,11 bezieht109. (b) Die unmittelbare Verknüpfung von Tempelaktion und Kontroversszene bei Johannes dürfte ursprünglich sein. Die Gegenprobe wird die Analyse der mkn. Komposition liefern110 . Erweist sich seine Rahmung der Tempelaktion mit der Feigenbaumgeschichte bzw. die damit zusammenhängende Abtrennung der Gesprächsszene als sekundär, ist der Konnex von Tempelaktion und Wortwechsel schon für die PEG gesichert. (c) Zugunsten der Ursprünglichkeit der szenischen und thematischen Abfolge bei Johannes spricht auch, dass bei ihm (im Unterschied zu Markus) die Antwort Jesu auf die Frage der Autoritäten nach einem Beglaubigungs-„Zeichen“ mit seinem Tempelwort situationskonform ausfällt. Demnach wird Joh  2,19, wenn auch nicht unbedingt in der hier vorliegenden christologischen Zuspitzung, zur Überlieferung gehören und stand möglicherweise schon in der PEG111.

Für die weitere Analyse bedeutet dies, dass die Rekonstruktion der ältesten Fassung der Szene (PEG) sich an Markus und Johannes halten muss112 . Während Mat107 

So z. B. Barrett, Joh 217 f. Becker, Joh I 144 f.; Dodd, Tradition 156–162; W. Kraus, Tod 224; Matson, Contribution 495–499; Mohr, Markus- und Johannespassion 78–99; Paesler, Tempelwort 62–67; Schleritt, Passionsbericht 156–173; Petersen, Mutmaßungen 284 f.; Schnider/Stenger, Johannes 37; Stowasser, Tempelaktion 59 f.; Zeller, Beseitigung 262 f.; Theobald, Joh I 225. 109  Sprachliche Varianten im gemeinsamen Textbestand: Joh  2 ,14: κερματιστής statt κολλυβιστής (Mk  11,15/Mt  21,12) (anders V.15: τῶν κολλυβιστῶν … τὰ κέρματα) (zu beidem Spicq, Notes I 430– 432); Joh  2,15: ἀνέτρεψεν statt κατέστρεψεν (Mk  11,16/Mt  21,12). 110  Siehe unten 3.5 unter (2). 111  Zur ältesten erreichbaren Form des Tempelworts (Joh  2 ,19 par. Mk  14,58/Mt 26,61; Mk  15,29/­ Mt  27,40; Apg  6 ,14) siehe unten II.  3.6. 112  Damit sind Rekonstruktionen der ältesten Überlieferung auf der Basis nur von Mk (­ Roloff, Kerygma 90–90; J. Gnilka, Mk II 127; Trautmann, Handlungen 81–128; Söding, Tempel­ aktion 36–64 etc.) hinfällig; Paesler, Tempelwort 235, stellt einige dieser Versuche vor. 108 

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

243

thäus lediglich seine Markus-Vorlage überarbeitet hat113, ist die lkn. Fassung zu knapp, um sagen zu können, ob sie neben Markus auch noch PElk/joh verarbeitet hat. Immerhin fällt auf, dass Lukas und Johannes die Gesprächsszene unmittelbar an die Tempelaktion anschließen und damit dem szenischen Arrangement des vor­ lukanischen bzw. vorjohanneischen Traditionsstranges folgen dürften, dem die Feigenbaumgeschichte unbekannt war. 3.2 Die Tempel-„Austreibung“ nach Markus (Mk  11,15–18) Die Erzählung spielt in der Konzeption des Jerusalem-Teils des Markusevange­ liums eine wichtige Rolle, die eigens zu bestimmen ist (3.2.2). Das Profil, das ihr Markus verliehen hat, ist zunächst nachzuzeichnen (3.2.1) 3.2.1 „Ein Haus des Gebets für alle Völker“ (Jes  56,7). Die Pointe der markinischen Darstellung Die Erzählung, die von Mk  11,15a und 19 gerahmt wird114 , bietet zwei Episoden: die Aktion Jesu im Tempel mit anschließender „Lehre“ (15b–17) und die Reaktion der hohen Priester und Schriftgelehrten (V.18). 15

a

Und sie kommen nach Jerusalem.

b Und als er in das Heiligtum hineinkam, c fing er an, die Händler und Käufer im Tempel auszutreiben (ἐκβάλλειν)115 , d und die Tische der Geldwechsler und die Sitze der Taubenhändler stieß er um 16 a und ließ nicht zu, b dass jemand ein Gerät (σκεῦος) durch den Tempel trug, 17 a und er lehrte (ἐδίδασκεν) b und sagte zu ihnen: c Ist nicht geschrieben: d  „Mein Haus soll ein Haus des Gebetes heißen für alle Völker?“ (Jes 56,7d) e Ihr aber habt es zu einer „Räuberhöhle“ (Jer 7,11) gemacht. 18 a b c d 19

a b

Und die hohen Priester und die Schriftgelehrten hörten [das] und suchten, wie sie ihn vernichten könnten. Sie fürchteten ihn nämlich, denn das ganze Volk erregte sich über seine Lehre (ἐπὶ τῇ διδαχῇ αὐτοῦ). Und als es Abend wurde, gingen sie aus der Stadt heraus.

Die Aktion Jesu umfasst drei Handlungen: (a) das „Austreiben“ von Händlern und Käufern, (b) das Umstürzen der Tische der Geldwechsler und der Sitze der Tauben113 

Siehe unten II.  3.4 unter (1). Rahmen spricht von „ihnen“: Jesus und seinen Jüngern, die Erzählung handelt allein von Jesus. 115  Hahn, Gottesdienst 28: „Das beherrschende Stichwort des gesamten Überlieferungsbestandes ist ἐκβάλλω, so dass die Bezeichnung ‚Tempelaustreibung‘ in jedem Falle sachgemäß ist“. 114  Der

244

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

händler und (c) den Versuch116 , den Transport von Gefäßen auf dem Tempelplatz zu unterbinden. Die erste Handlung ist allgemeiner Natur, die zweite konkretisiert sie, die dritte nennt ein zusätzliches Element. Den Sinn der drei Handlungen erschließt Jesu abschließende „Lehre“, die zwei Teile hat: einen Verweis auf die Schrift, wobei das Zitat Jes  56,7dLXX den von Gott gewollten Zweck des Tempels benennt (V.17d), und eine Anklage, die auf Jer  7,11 anspielt und besagt: Ihr habt den von Gott gewollten Zweck des Tempels durch euer Treiben verraten! Das Zitat Jes  56,7d stammt aus der Eröffnung des dritten und letzten Teils des Jesaja-Buches (Jes  56,1 f.3–8) und ist deren Klimax. Nach dem Auftakt V.1 f. thematisieren V.3–7 die Zulassung von Fremden und Eunuchen zur JHWH-Gemeinde. „Die Erfahrung der Fremde von Seiten der Heimkehrer aus Babel und der Diaspora haben die Knechtsgemeinde für die Zulassung von Jhwh-Verehrern aus den Völkern offen gemacht. Gott selbst bringt diese zu seinem heiligen Berg und nimmt ihre Schlacht- und Brandopfer wohlgefällig an, denn sein Haus ist ein Haus des Gebetes für alle Völker“117. Die Rede vom „Haus des Gebets für alle Völker“ schließt den Opferkult nicht aus. Wenn Gott die Fremden zu seinem Berg führt, werden ihre unter Gebet dargebrachten Brand- und Schlachtopfer bei ihm Annahme finden (V.7c). Das Stichwort „Räuberhöhle (σπήλαιον λῃστῶν)“ assoziiert die Unheilsprophetie des Jeremia gegen den Tempel Jer  7. Sie konfrontiert die Verstöße „ganz Judas“ gegen den Dekalog mit seinem trügerischen Vertrauen auf den Tempel als unverbrüchlichen Wohnort Gottes: „[…] ihr kommt und tretet vor mein Angesicht in diesem Haus, über dem mein Name ausgerufen ist, und sagt: Wir sind geborgen!, um dann weiter alle jene Gräuel zu treiben. Ist denn in euren Augen dieses Haus, über dem mein Name ausgerufen ist, eine Räuberhöhle geworden? Gut, dann betrachte auch ich es so – Spruch Jhwhs“ (10 f.).

Pointe von Jes  56,7 ist die Aufnahme der Völker in das eschatologische Heil unter Einbezug eines von paganen Praktiken gereinigten Opferkults in Jerusalem (vgl. Jes  66,18–23.24)118 . Mk  11,17 knüpft daran an, schlägt indes eine andere Richtung ein, ersichtlich an der Anbindung des Jes-Zitats an Jesu Aktion gegen diejenigen, die den Opferkult mit ihrem Gewerbe sicher stellen119. So geht es „nicht bloß um eine ‚Reinigung‘ des Tempels von finanziellen oder anderen Unsitten […], sondern um eine andere Bestimmung der Funktion des Jerusalemer Heiligtums: nicht vom Opfer her bestimmter Tempel, sondern […] opferlose Synagoge“ sein zu sollen, „offen auch für die ‚Heiden‘, nicht nur für Israeliten“120 . ἤφιεν ist Impf. de conatu (Pesch, Mk  II  198). Berges, Jesaja 134; vgl. auch Westermann, Jes  40–66, 252: Jes  56,3–8 proklamiert „das Offensein der Jahwegemeinde“ für die Fremden – „im Gegensatz zu einer priesterlich-gesetz­ lichen Traditionslinie, die das Sich-Abschließen der Jahwegemeinde anstrebt“. Vgl. auch aus Salomos Tempelweihgebet 1Kön 8,41–43. 118  Der Abschnitt, eine Vision des eschatologischen Jerusalems, rahmt mit Jes  56,1–8 den dritten Großteil des Jesaja-Buches; Berges, Jesaja 133; ebd. 156 f.: „Ein gottgefälliger Kult ist nicht mehr durch Israel allein zu erreichen, sondern nur durch eine Verehrung von allem Fleisch (ḵolbāsār V.23; vgl. V.16), d. h. von allen aus Israel und den Völkern, die sich von den Fremdkulten lossagen und sich Jhwh anbetend zuwenden“. 119  Sie tun dies durch Umwechslung des Geldes der Pilger in die tyrische Silberdrachme, das einzig zugelassene Zahlungsmittel für die Tempelsteuer (zur Tempelsteuer: Stenger, Kaiser 151– 184; vgl. unten S. 619 Anm.  523). 120  Lührmann, Mk 193. Die Validität dieser Deutung wird die Analyse des mkn. Makrokon116 

117 

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

245

Entspricht dem V.15b–d, so bereitet die Integration von V.16 in diesen Kontext Probleme. Entweder will hier Jesus durch Unterbindung des Transports kultischer Gegenstände im Tempelbezirk ein Zeichen für den geforderten Abbruch des Opferkults zu setzen121 oder es geht ihm um die Heiligung des Ortes: Weil σκεῦος „alle möglichen Utensilien aus verschiedenem Material (Glas, Metall, Holz, Gewebe)“ bezeichnen kann, könnte hinter V.16 „die Vorschrift“ stehen, „den Tempel nicht mit Traglasten zu betreten oder ihn mit solchen abkürzend zu durchqueren“122 . Dann meldete sich in V.16 eine Deutung zu Wort, die das Geschehen als „Tempelreinigung“ zu verstehen nahelegt.

Die Anklage der aus dem Tempel Vertriebenen erinnert mit dem Stichwort „Räuberhöhle“ an Jer  7. Das fügt sich gut zur Rezeption von Jes 56,7d als Plädoyer für einen „opferlosen“ Gottesdienst: Meinte „Juda“ im Haus Gottes eine „Versicherung“ gegen alles Unheil zu besitzen123, so wird ihm diese „Versicherung“ nun genommen. Auch Mk  11,17 proklamiert das Ende des Opferkults, ohne das Versagen derer, die hier angeklagt werden, beim Namen zu nennen124. Das Stichwort „Räuberhöhle“ könnte allerdings auf den Missbrauch des Tempels durch die von Josephus „Räuber“ genannten Aufständischen im jüdischen Krieg anspielen, die sich in das Heiligtum als vermeintlichen Schutzraum wie in eine „Höhle“ zurückzogen125. In der zweiten Hälfte der Szene (V.18) reagieren diejenigen, die für den Tempel verantwortlich sind, auf Jesu Absage an den Opferkult mit der Absicht, ihn zugrunde zu richten. Das hebt sie von der Volksmenge ab, denn diese „fürchtete“ Jesus und „war über seine Lehre erregt (ἐξεπλήσσετο ἐπὶ τῇ διδαχῇ)“126 . Der Abstand zwischen den Autoritäten und dem Volk bleibt. Erst in der Pilatusszene erklärt sich das Volk gegen Jesus (Mk  15,11). textes erhärten: siehe im Folgenden 3.2.2. Die Alternativdeutung bietet Becker, Jesus 408: „Die vom Allerheiligsten ausgehende abgestufte Reinheit und Heiligkeit der einzelnen Tempelbezirke wird erweitert. Auch der Tempelvorhof ist nun so heilig, dass das, was sich an Treiben auf ihm eingebürgert hatte, dort nicht mehr sein darf“. 121  Lührmann, Mk 193: „vom Kontext her legt sich nahe, dass kultische Geräte gemeint sind“; Stenger, Kaiser 184 (im Anschluss an Bartsch, Bedeutung 100); Ådna, Act 465 f. – Vgl. Philo, VitMos2,94 (σκεύη ἱερά); Jos, Bell  6 ,389. 122  Pesch, Mk II 198; ebd.: „der kürzeste Weg vom östlichen zum westlichen Stadttor und umgekehrt führte über den Tempelplatz“; Zeller, Beseitigung 265 Anm.  14. – Buchanan, Money-Changers 281, sieht unter Verweis auf mBer 9,5 („He may not enter into the Temple Mount with his staff or his sandal or his wallet, or with the dust upon his feet, nor may he make of it an short by-path; still less may he spit there“) in V.16 „an isolated halachic recollection, different from the ordinary gospel material“. Jos, Ap  2,106 („no vessel whatever might be carried into the temple [nec uas aliquod portari licet in templum], the only objects in which were an altar, a table, a censer, and a lampstand, all mentioned in the Law“ [LCL 186, 334 f.]) spricht von „Gefäßen“, die nicht in das Heiligtum selbst gebracht werden dürfen, Jesus hindert, sie über den Tempelplatz bzw. διὰ τοῦ ἱεροῦ zu tragen. 123  Genau dies meint das Wort von der „Räuberhöhle“: Die gegen Gottes Willen verstoßen, wähnen sich im Tempel sicher: „Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist hier“, lauten die „trügerischen Worte“ von Jer  7,4. 124  Im Kontext geschieht das erst im Gleichnis von den Weinbergspächtern (Mk  12,1–12) und in der Polemik gegen die Schriftgelehrten (Mk  12,38–40). 125  Buchanan, Brigands; Ferda, Jeremiah 167 Anm.   31 (Josephus selbst ließ sich von der Wendung inspirieren: Bell 5,402: ebd. 169 f.); Guttenberger, Mk 263; Marcus, War 441–462. – Evans, Jesus 362 f., bezieht die Wendung generell auf Korruption im Zusammenhang mit dem Tempel; vgl. ebd. 319–344. 126  Dieselbe Wendung bereits in 1,22: καὶ ἐξεπλήσσοντο ἐπὶ τῇ διδαχῇ; ebenso 6,2; 7,37; 10,26.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Bedeutung und Relevanz der mkn. Fassung der Erzählung für den Evangelisten erschließen sich erst, wenn der weitere Kontext der Passionserzählung, in die er sie eingeflochten hat, in die Lektüre mit einbezogen wird. 3.2.2 Die Bedeutung der Erzählung für die Christologie des Markus Zum Beziehungsnetz, das der Evangelist geflochten hat, gehören (1) die Feigen­ baumerzählung mit ihrer Gebetsunterweisung im Anschluss an Jes  56,7 („Haus des Gebets“), (2) der Nachklang des Motivs der Entgrenzung („für alle Völker“) vor allem in den Abendmahlsworten Jesu (Mk  14,24: „mein Blut […] für viele“) sowie (3) die Wiederaufnahme des Tempelmotivs in der weiteren Passionserzählung. (1) Die Erzählung vom unfruchtbaren Feigenbaum, die Jesu Tempelaktion rahmt127, bietet den Schlüssel zum Verständnis der Erzählung. Das Bildfeld vom Feigenbaum, seinen Früchten und seinem Verdorren, wird im Alten Testament verschiedentlich auf Kollektive angewendet: auf Israel, Juda oder die Führer des Volks etc.128 . Markus bezieht es auf die „hohen Priester und Schriftgelehrten“ als die für den Tempel und seinen Opferkult Verantwortlichen, die keine Früchte mehr bringen, wie Jesus ihnen unmittelbar danach im Gleichnis von den bösen Weinbergspächtern vorhält (12,12). Auch der Opferkult des Tempels, den sie zur „Räuber­ höhle“ gemacht haben129, ist „unfruchtbar“ geworden, sein Ende ist da. Das Bild vom „dürren Baum“ begegnet ausgerechnet auch in Jes  56,1–8: „Der Eunuch soll nicht sagen: Sieh, ich bin ein dürrer Baum“ (V.3). Da Markus dem Abschnitt aus Tritojesaja bereits sein Deutewort V.17 (= Jes  56,7) entnommen hat, wird er durch ihn auch zur Einfügung der Feigenbaumgeschichte veranlasst worden sein130 . Auch Hos  9,15, ein Gerichtswort Jhwhs über Ephraim, wird hereinspielen: „Ihrer bösen Taten wegen will ich sie aus meinem Haus vertreiben (ἐκ τοῦ οἴκου μου ἐκβαλῶ)131 und sie nicht mehr lieben. Aufrührer sind alle ihre Regierenden (οἱ ἄρχοντες αὐτῶν)“. Das Bild vom verdorrten Baum folgt: „Efraim ist zerschlagen, seine Wurzeln sind verdorrt (τὰς ῥίζας αὐτοῦ ἐξηράνθη), Frucht bringen sie nicht mehr hervor (καρπὸν οὐκέτι μὴ ἐνέγκῃ)“ (V.16).

Passend zum wirkmächtigen Wort Jesu gegen den Feigenbaum (11,14) folgt in 11,(22.)23 das Wort vom Berge versetzenden Glauben, aus dem Markus die Zusage unbedingter Gebetserhörung ableitet: Deshalb sage ich euch: alles, worum ihr betet (προσεύχεσθε) und bittet, glaubt, dass ihr es (schon) empfangen habt, und es wird euch zuteil (Mk  11,24 par. Mt  21,22; vgl. Joh  14,13f).

127 

Guthrie, Tree 27–30. Vgl. Jer  8 ,13; 24,2–10; Ez  17,24; Hos  9,10.16; Joel  1,7.11 f.; Mi  7,1; Spr  27,18. 129  Pellegrini, Jesus 107 f. 130  Schnider/Stenger, Johannes 33 f. „Darum ist anzunehmen, dass derselbe, der die Tempelreinigungsperikope mit der Geschichte vom Feigenbaum umgab, auch das Schriftzitat von V.17 in die Tempelreinigungsperikope einfügte“, also Markus (ebd. 36); Guthrie, Tree 33–35. 131  11,15: „er fing er an, die Händler und Käufer im Tempel auszutreiben (ἐκβάλλειν)“. 128 

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

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Angehängt ist eine Weisung, die (wie Mt  6 ,14 f.) mit der Gebetsthematik verbunden ist: Und wenn ihr betend steht (στήκετε προσευχόμενοι), vergebt, wenn ihr etwas gegen jemanden habt, damit auch euer Vater in den Himmeln euch eure Verfehlungen vergibt (Mk  11,25 par Mt  6 ,14 f.). Markus hat die beiden vorgegebenen Wortüberlieferungen mit dem Stichwort προσεύχεσθαι, das in den neutestamentlichen Parallelen fehlt132 , miteinander verknüpft. Nicht das private, sondern das gemeinschaftliche, liturgische Gebet der Jüngerschaft bzw. der späteren Gemeinde ist im Blick. Der (von V.23 abweichende) Plural in V.24 f., die in V.25a erwähnte Gebetshaltung des „Stehens“ und die (aus Mt  6 ,14 f. bekannte, dort mit dem Vaterunser verbundene) liturgische Aussage V.25d stützen diese Annahme: „damit auch euer Vater, der in den Himmeln, euch eure Verfehlungen vergibt“ 133.

Für das mkn. Verständnis der Tempelaktion folgt daraus: Die Gebetsweisung Mk  11,25 f. am Ende der Komposition führt das zentrale Thema der „Lehre“ Jesu im Tempel weiter: Wenn der Tempel nach der Intention Gottes ein „Haus des Gebetes“ sein soll, dann realisiert sich dies im neuen „Haus“ der Ekklesia, in ihrem gottesdienstlichen Tun134. (2) Nicht nur das Motiv vom „Haus des Gebetes“, auch die Entgrenzung: „für alle Völker (πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν)“ (Jes  56,7) strahlt auf den Kontext aus. Bereits am Ende des zweiten Hauptteils des Evangeliums (8,27–10,52) gibt Jesus zu verstehen: „[…] Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele (ἀντὶ πολλῶν)“ (10,44 f.). Wer diese „Vielen“ sind, ist offen. Legt der Prätext Jes  53,10–12 einen Bezug auf ganz Israel nahe, für das der Gottesknecht sein Leben gibt, so empfiehlt der Makrokontext des Evangeliums eine Ausweitung auf alle Menschen. Jesus betritt schon zuvor mehrmals heidnisches Gebiet im Umkreis des Sees Genezareth und wirkt dort als Wundertäter. Die zweite Speisung einer unabsehbaren Volksmenge 8,1–9 deutet nach der ersten, die auf Israel bezogen ist (6,34–44), an, dass Jesus Brot genug darzubieten hat, nämlich für alle Menschen. Nach 13,10 muss das Evangelium, bevor das Ende kommt, „zuerst allen Völkern (εἰς πάντα τὰ ἔθνη) verkündet werden“, und nach 13,27 wird der Menschensohn bei seinem Erscheinen „seine Erwählten von den vier Winden, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels versammeln“. Sein letztes Mahl mit den Zwölfen legt den Grund für diese universale Perspektive, wenn es nach der Bemerkung: „alle tranken“ aus dem Becher, heißt: „Dies ist mein Bundesblut, das vergossen wird für viele“ (14,24). Diese „Vielen“ sind aus der Gesamtperspektive des Buches Juden und Heiden.

Jesus erwirkt durch seinen Tod, was Gott nach Jes  56,7 immer schon intendiert: Am Ende der Zeiten bereitet er Heil „für alle Völker“135. 132 

Mt  7,7 f./Lk  11,9 f.; Mt  17,20/Lk  17,6; Joh  14,13 f. etc.; Jak  1,5 f.; 4,2 f. Lührmann, Mk 195: „Der paränetische Schluss 25 bezieht sich auf die gottesdienstliche Situation: zum gemeinsamen Gottesdienst soll wie die Vergebung durch Gott selber die gegen­ seitige Vergebung gehören […]; Mk könnte nach 15–19 dies jedoch nicht wie Mt  5,23 f. auf die Situation des Opfergottesdienstes beziehen. Singulär ist bei Mk die Gottesbezeichnung ‚euer Vater, der in den Himmeln ist‘, die auf gottesdienstliche Sprache verweist“. 134  Söding, Tempelaktion 40. – Zum „Haus“ als ekklesiologischer Metapher vgl. Mk  7,17; 9,28.33; 10,10. 135  Schnider/Stenger, Johannes 36: Die Tempelaktion Jesu „als universalistisches Heilszei133 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(3) In 11,27–12,44 ist der Tempel entsprechend der Raum-Vorstellung der Kapitel der maßgebliche Orientierungspunkt. Er ist der Ort, an dem Jesus lehrt und mit unterschiedlichen Gruppen disputiert. Kap.  13 lenkt den Blick „zum Ölberg dem Tempel gegenüber“ (Mk  13,3), wo Jesus seinem engeren Schülerkreis eschatologische Weisung erteilt. 13,1: „als Jesus den Tempel (definitiv) verließ“, bildet das Scharnier. „Die Lehre im Tempel“ wird zur „Rede über den Tempel“136 . Gegen Ende der Passionserzählung in 15,38 tritt er ein letztes Mal ins Blickfeld: „Und der Vorhang des Heiligtums zerriss in zwei Teile von oben bis unten“. Überlieferungsgut, das am Tempel haftet, ist in diesen Rahmen eingefügt: die Erzählung von der Witwe am Opferkasten des Tempels (12,41–44 am Ende der Lehre Jesu im Tempel), das theozentrische Tempelwort 13,1 f. als Auftakt der Rede Kap.  13137 und das christologische Tempelwort im Prozess vor dem Synedrion und in der Spottrede der Passanten nach Jesu Kreuzigung (14,58; 15,29). Das Gespräch über „das erste Gebot von allen“ zeigt, wie wichtig für Markus die Tempelthematik ist: Der Schriftgelehrte führt Jesu Antwort auf die von ihm gestellte Frage weiter mit der Bemerkung, dass Gottes- und Nächstenliebe „weit mehr ist als alle Brandopfer und anderen Opfer“ (12,33).

Markus will die von ihm rezipierten Tempeltraditionen vom Makrokontext der Kapitel her gedeutet wissen. Warum die Wiedergabe des Tempelwortes Jesu in 14,57 f. vom Erzähler als Falschzeugnis deklariert wird, begreift der Leser nur dann, wenn er sich daran erinnert, dass Jesus selbst in 13,2 von der Zerstörung der Tempelgebäude im Passiv gesprochen hat. Die Erzählung als ganze setzt die Zeugen ins Unrecht, wenn sie behaupten, Jesus habe gesagt, er selbst werde den Tempel zerstören138 . Das von ihnen wiedergegebene Wort enthält indes einen tieferen Sinn, den zu entdecken 10,45; 14,24 (Jes  53,10–12) und 11,17 (Jes  56,7) anleiten: Es stimmt, dass Jesus das vorfindliche „Heiligtum niederreißt“, aber nicht mit Gewalt, wie die Falsch­zeugen unterstellen. Als Menschensohn, der sein Leben „für viele“ hingibt, „setzt“ er den Tempel als Heilsort „außer Kraft“139, indem er „ein anderes, nicht von Händen erbautes Heiligtum“ an seine Stelle setzt, die Ekklesia, die Jesus nach chen ‚für alle Völker‘ […] partizipiert […] an der in Jesu Kreuz und Tod sich vollziehenden Entschränkung des Heils“. 136  Guttenberger, Mk 299. 137  Dort auch ein indirekter Bezug auf die Profanierung des Tempels in Mk  13,14: „Wenn ihr aber sehen werdet den Gräuel der Verwüstung dastehend, wo er nicht stehen darf – wer es liest, merke auf –, dann sollen die in Judäa in die Berge fliehen […]“); vgl. Lührmann, Mk 222. 138  Becker, Jesus 403: „Speziell Markus will, dass seine Leser das Wort [Mk  14,58] von Mk  13,2 her korrigieren, also gerade auch die Ich-Rede im Sinne aktiver und gegenwartsbezogener Tempelbedrohung durch Jesus als Verleumdung erkennen“; Lührmann, Mk 249; Petersen, Mutmaßungen 300. 139  καταλύω kann, bezogen auf ein Bauwerk, „abreißen“ bedeuten (vgl. οἰκοδομέω im Nachsatz), bezogen auf Ordnungen: „außer Kraft setzen“: vgl. Mt  5,17: „ich bin nicht gekommen, die Tora aufzulösen (καταλῦσαι τὸν νόμον)“; Röm  14,20: „Reiß nicht wegen einer Speise das Werk Gottes (=die Gemeinde, sein Bauwerk [vgl. V.19]) nieder (μή […] κατάλυε τὸ ἔργον τοῦ θεοῦ)“. Auch Philo, LegGai 298, an Caligula: „Wie aber steht es mit Deinem anderen Großvater, Tiberius Caesar? Zeigte er nicht ein gleiches Wohlwollen? Jedenfalls achtete er in den dreiundzwanzig Jahren seiner kaiserlichen Regierung den seit uralten Zeiten überlieferten Tempeldienst (τὴν κατὰ τὸ ἱερὸν … θρησκείαν), ohne auch nur ein Stück von ihm aufzulösen oder beiseite zu schieben (οὐδὲν αὐτῆς παραλύσας ἢ παρακινήσας μέρος)“; Jos, Ant  13,296 (νόμιμα … καταλῦσαι); anders Ant  9,161: Joas,

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

249

Ostern von Galiläa aus sammeln wird (14,27 f.; 16,7)140 . Sie ist 11,24 f. zufolge das „Haus des Gebets für viele Völker“, offen für alle, Juden und Heiden, wie es der Intention Gottes (11,17) und der Jesu (10,45; 14,24) entspricht. Der tiefere Sinn des christologischen Tempelworts ist christologischer und ekklesiologischer Natur. Beide Aspekte gehören zusammen. Unmittelbar nach Jesu Tod notiert der Erzähler nicht nur das Zerreißen des Tempelvorhangs, sondern zugleich den „Nachruf“ eines römischen Centurio: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“141 Wenn ein Nicht-Jude, zudem Beamter des römischen Imperiums, sich öffentlich so über Jesus äußert, kündet sich die Weite und Größe des neuen „Hauses Gottes“ an. Jesu Tod öffnet Markus zufolge das Evangelium in die Völkerwelt. Der Tempel als Leitmotiv in den Evangelien Markus

Matthäus

Lukas

Johannes

2,41–52: Der zwölfjährige Jesus im Tempel Aktion Jesu im Tempel

11,15–17: Die Aktion Jesu 11,18–19: Reaktion der Autoritäten auf die „Lehre“ Jesu

Lehre Jesu im Tempel

11,27–12,44: Streitgespräche, Gleichnis, Worte gegen ­Schriftgelehrte (12,41–44: Die Witwe am Opferkasten des Tempels)

21,12–13: Die Aktion Jesu 21,14–17: Jesus heilt im Tempel Reaktion der Autoritäten

19,45 f.: Die Aktion Jesu 19,47 f.: Tägliche Lehre Jesu im Tempel Reaktion der Autoritäten (eröffnendes Summarium)

2,14–22

21,23–23,39: ­Streitgespräche, Gleichnisse, Wehe-Rede

20,1–21,4: Streitgespräche, Gleichnis

Kap.  5.7.8. 10.12

(21,1–4: Die Witwe am Opferkasten des Tempels) 21,5–36: eschatologische Rede 21,37 f.: Tägliche Lehre im Tempel (abschließendes Summarium)

der König zu Jerusalem, erhebt „zur Wiederherstellung des unter Joram, Gotholia und deren Nachkommen in Verfall geratenen Tempels (τοῦ ναοῦ καταλυθέντος)“ Steuern. 140  Die Übertragung der Tempelmetaphorik auf eine Gemeinschaft ist frühjüdisch geläufig: vgl. Dimant, 4QFlor, mit älterer Lit. 141  Zur Deutung der Episode siehe unten II.  10.2.

250

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Lehre Jesu gegenüber dem Tempel

Markus

Matthäus

13,1–37: eschatologische Rede (13,1 f.: Tempelwort; 13,14: „Gräuel der Verwüstung, wo er nicht stehen darf“)

24,1–25,46: eschatologische Rede Gleichnisse

Prozess vor 14,57 f.: Falschzeugnis dem Hohen Rat (Tempelwort)

26,60 f.: Falschzeugnis (Tempelwort)

Kreuzigung

27,40: Spottrede der Passanten (Tempelwort) 27,51: Zerreißen des Tempelvorhangs

15,29: Spottrede der Passan­ten ­( Tempelwort) 15,38: Zerreißen des Tempelvorhangs

Lukas

Johannes

(siehe oben)

23,45: Zerreißen des Tempelvorhangs

Eine Darstellung der mkn. „Theologie des Tempels“ eröffnet Perspektiven für eine diachrone Analyse der Texte. Dies gilt zunächst für die Komposition als ganze: Die Raumaufteilung der Kapitel mit Jesu zweifacher „Lehre“ im Tempel und diesem gegenüber ist (wie die zeitliche Gliederung in Tage) Konstrukt des Evangelisten. Die Geschichte von der armen Witwe am Opferkasten des Tempels beschließt die „Lehre“ im Tempel, das theozentrische Tempelwort eröffnet die Rede Kap.  13 gegenüber dem Tempel.

Mit der Tempelaktion eröffnet seine Konzeption. Angesichts der Sinnlinie, die von 11,17 über 11,24 f. zu den weiteren Tempel-Passagen der PE verläuft, ist zu vermuten, dass Jesu „Lehre“, die mit ihrer Verknüpfung von Jes  56,7 und Jer  7,11 über die Situation hinausweist, auf Markus zurückgeht. Der Vergleich mit der joh. Fassung wird diese Annahme erhärten. Gleiches gilt von der Rahmung der Tempelaktion durch die Feigenbaumgeschichte, ursprünglich eine selbständige Geschichte, vergleichbar mit Lk  13,6–9, einer virtuellen Gegengeschichte. Die von Markus hier angewandte „Sandwich-­ Technik“ begegnet auch andernorts im Evangelium142 . Jes  56,1–8 steht inspirierend im Hintergrund. Die Analyse der Szenen vom Prozess Jesu vor dem Hohen Rat und seiner Kreuzigung wird zeigen, dass Markus hier sowohl das christologische Tempelwort als auch die Notiz vom zerreißenden Tempelvorhang eingefügt hat. Der Tempel ist Leitmotiv seiner PE. Die mit ihm verbundene quasi-kultische Theologie des Todes Jesu als dem Ende des Opferkults im Tempel löst nach dieser großräumigen literarischen Konzeption ein, was die Erzählung von der Tempelaktion Jesu als Ouvertüre der Szenenfolge grundgelegt hat. 142 

Vgl. Mk  2,1–12; 3,20–35 5,21–43; 14,53–72.

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

251

3.3 Der inkarnierte Logos als Gottes wahrer Tempel in dieser Welt (Joh  2 ,13–22) Das vierte Evangelium besitzt eine spezifische Tempelchristologie, deren Vorzeichen der Prolog liefert: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet (ἐσκήνωσεν ἐν ἡμῖν) und wir haben seine Herrlichkeit geschaut […]“ (1,14). Veranschaulicht wird dies am ersten „Zeichen“ Jesu in Kana: „und er offenbarte seine Herrlichkeit“ (2,11). Die Anspielungen beider Texte auf die Sinai-Theophanie143 zeigen: Das „Zelt Gottes“ oder „Ort der bleibenden Gegenwart Gottes“ unter den Menschen ist der inkarnierte Logos144. Die Erzählung von der Aktion Jesu im Tempel gleich zu Beginn des ersten Hauptteils des Buches, die programmatisch allen folgenden Tempelszenen voransteht (siehe die Tabelle oben), spricht ausdrücklich von Jesus als dem personifizierten Heiligtum Gottes (2,19–21): 13

a b

Und nahe war das Pascha der Juden, und Jesus stieg hinauf nach Jerusalem.

14 a Und er fand im Heiligtum die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler dasitzen, 15 a und er machte eine Peitsche aus Stricken b und trieb alle(s) (πάντας)145 aus dem Heiligtum hinaus (ἐξέβαλεν): c die Schafe wie die Rinder, d und das Kleingeld der Wechsler schüttete er aus e und die Tische stieß er um 16 a und zu den Verkäufern der Tauben sagte er: b   Nehmt das weg von hier! c  Macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Handelshaus (οἶκον ἐμπορίου) (vgl. Sach  14,21)! 17 a Seine Jünger erinnerten sich, b dass geschrieben steht: c Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren (Ps  69,10). 18 19 20 21 143 

a Da ergriffen die Juden das Wort und sagten zu ihm: b   Welches Zeichen zeigst du uns, c   dass du solches tun darfst? a Jesus antwortete und sagte zu ihnen: b   Brecht diesen Tempel ab, c   und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten. a Da sagten die Juden: b   In sechsundvierzig Jahren wurde dieser Tempel erbaut, c   und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? a Er aber hatte von dem Tempel seines Leibes gesprochen.

Theobald, Joh I 130.210. Schnelle, Joh  77; E.W. Stegemann, Tempelreinigung 515, verweist auf die „‚Entpolitisierung‘ des messianischen Anspruchs“ Jesu, die mit dieser Tempelchristologie einhergeht. 145  πάντας bezieht sich nicht zurück auf die Händler und Geldwechsler (Die Taubenhändler sind nach der Aktion immer noch vor Ort: V.16), sondern auf die nachstehend genannten Tiere. Das männliche Geschlecht erklärt sich vom Maskulinum „die Rinder“ (βόας) her; vgl. Theobald, Joh I 230. 144 

252

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

22 a Als er nun von den Toten auferweckt worden war, b erinnerten sich seine Jünger, c dass er das gesagt hatte; d und sie glaubten der Schrift und dem Wort, e das Jesus gesprochen hatte.

V.13 situiert die Geschichte in Zeit und Ort. Jesu Tempelaktion und seine Kontroverse mit den „Juden“ folgen (V.14–16/18–21). Beide Episoden münden jeweils in eine Notiz des Erzählers zu den Jüngern ein, von denen es heißt, sie hätten post factum im Licht der Schrift (Ps  69,10) verstanden, was im Tempel damals geschah (V.17), und seien nach Ostern zum Glauben an „die Schrift“ und „das Wort“ gelangt, „das Jesus gesprochen hatte“ (V.22)146 . Drei Zeitebenen sind miteinander ­verschränkt: die Zeit des Erzählten, die Erinnerung der „Jünger“ nach Jesu Auferweckung und die Zeit des Erzählers. V.14 zu Beginn der ersten Episode nennt summarisch die Personen, die von Jesu Aktion betroffen sind, die Verkäufer (von Rindern, Schafen und Tauben) und die Geldwechsler. In V.15 f. folgen die entsprechenden Aktionen: (a) die „Austreibung“ der Rinder und Schafe mit einer Peitsche, (b) das Ausschütten der Gelder der Wechsler und das Umstoßen ihrer Tische und (c) das Wort an die Taubenhändler147. Nur sie spricht Jesus an („Nehmt das weg von hier!“), die Fortsetzung seines Wortes: „Macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Handelshaus!“ richtet sich aber an alle. Den Schlüssel zum Verständnis der Aktion bietet das Stichwort „Handelshaus (οἶκος ἐμπορίου)“. Es spielt auf den letzten Vers des Sacharjabuches an, Sach  14,21148 , nicht den griechischen149, sondern den hebräischen Wortlaut: „An jenem Tag wird es keinen (Vieh-) Händler (‫ )כנעני‬mehr geben im Haus des Herrn der Heerscharen“150 . Das Wort passt zu Jesu Aktion. Diese gilt nicht (wie bei Markus) den Käu146  Die Stellung von V.17 erlaubt zwar die Deutung, die Jünger hätten unmittelbar nach Jesu Aktion den Psalmvers auf ihn bezogen, aber der implizite Hinweis auf seinen Tod („Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren“ [im Unterschied zur LXX: „hat mich verzehrt“) setzt voraus, dass sie „die Schrift“ erst nach Ostern verstanden; vgl. Theobald, Joh I 231 f.; Schnelle, Tempelreinigung 361 f. 147  Jesus handelt bei den Taubenhändlern nicht (wie zuvor) selbst, sondern fordert sie auf, zu handeln: Die Käfige umzustoßen oder zu öffnen, hätte ihre Besitzer geschädigt. 148  Bruce, Book 351; Dodd, Tradition 159 f.; Matson, Contribution 501 f.; Sabbe, Cleansing 337 (anders 351 f.); Schnelle, Joh 96, Schnider/Stenger, Johannes 42 f. u. a. Das Stichwort „Haus“ und der durative Aspekt des Imperativs Präsens μὴ ποιεῖτε stützen die Annahme einer Anspielung: „Macht das Haus meines Vaters [von nun an] nicht [mehr] zu einem Handelshaus!“, was der zeitlichen Perspektive von Sach  14,21 entspricht. – Anders Schnackenburg, Joh I 362: „keine unmittelbare Anspielung auf ein Schriftwort“; W. Kraus, Tod 207–209, sieht Sach  14,21 bereits hinter Mk  11,15 stehen. 149  Sach  14,21LXX: „Und es wird keinen Kanaanäer mehr geben im Haus des Herrn, des Allherrschers, an jenem Tag“ (vgl. auch Sach  11,7); Septuaginta Deutsch, E  II  2468: „die Bedeutung von ‫‚ כנעני‬Händler‘“ scheint der Dodekapropheton-LXX „unbekannt zu sein, so dass sie ‚Kanaan‘ bzw. ‚Kanaanäer‘ übersetzt“. 150  Zu Sach  14,20 f. vgl. K.R. Schaefer, Study 81.85 f. – „Die Bedeutung ‚Händler‘ für ‫כנעני‬ (Reventlow, Propheten 128) wird in 14,21 auch von Tg und Vg bestätigt. Das Neue Testament hat daher mit der Darstellung der Erfüllung von 14,21 in der sogenannten Tempelreinigung Jesu

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

253

fern der Opfermaterie, sondern den Händlern. Zwar „treibt“ Jesus nicht sie (so Markus), sondern ihr Vieh „aus“, wozu er (wieder im Unterschied zu Markus) eine Peitsche aus Stricken benötigt. Aber mit dem „Austreiben“ der Tiere und dem Ausschütten der Münzen etc. ist auch das Geschäft der Händler beendet, was der Intention von Sach  14,21 entspricht. Sach  14 bietet ein großes, mit reichen Anspielungen auf vorgegebene biblische Texte ausgestattetes Tableau vom Tag Jhwhs in drei Teilen151. Die beiden ersten Teile weisen dunkle apokalyptische Farbtöne auf, der dritte und letzte hellt sich auf (V.16–21). Er blickt auf das zukünftige Laubhüttenfest, das Israeliten und die zum Zion wallfahrenden Völker in Jerusalem Jahr für Jahr gemeinsam feiern werden. Das Buch schließt mit V.20 f.: An jenem Tag wird auf den Schellen der Pferde stehen: Heilig für Jhwh152 . Und die Kochtöpfe im Haus Jhwhs werden wie die Opferschalen vor dem Altar sein; und jeder Kochtopf in Jerusalem und in Juda wird Jhwh Zebaot heilig sein; und alle Opfernden werden kommen und von ihnen nehmen und darin kochen. An jenem Tag wird es keinen (Vieh-)händler mehr geben im Haus Jhwhs Zebaot. „Die Lebensfülle Jhwhs wird dabei so gewaltig sein, dass es bei diesem Fest in Jerusalem keine Unterschiede zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘, zwischen Israeliten und Nichtisraeliten mehr geben wird: Sogar die Kochtöpfe in den Karanwansereien kann man benutzen, um an den kultischen Opfermählern teilzunehmen. So schließt die Sacharja-Schrift mit der Utopie von einem Friedensmahl aller Völker auf dem Zion – gemäß der auch in Jes 25,6–8 entworfenen Vision“153.

Mit der Anspielung auf Sach  14,21 wird das ganze Kapitel lebendig. Jesu Tempel­ aktion offenbart ihre eschatologische Relevanz. Das Ende des Opferkults, das sie zeichenhaft kundtut, bedeutet Sach  14 zufolge nicht auch das Ende des Tempels überhaupt, sondern den Anbruch der Königsherrschaft Gottes „über die ganze Erde“ (vgl. Sach  14,9), die eschatologische Bereitung des Heilsortes Zion für alle Welt durch Aufhebung des Unterschieds zwischen „rein“ und „unrein“. „[A]ller nicht auf den Wortlaut der LXX zurückgegriffen (Mk  11,15 f. par; Joh  2,14)“ (Septuaginta Deutsch, E  II  2452.2474). Vg: et non erit mercator ultra in domo Domini exercituum in die illo; ebenso Aquila und – neben Tg – auch bPes  50a. „Der Verweis auf die Abwesenheit eines Kanaanäers bzw. eines Händlers [im hebr. Text] bleibt letztlich rätselhaft, jedoch weist Mason darauf hin: ‚In the prophets and in Deuteronomy the Canaanite had become a symbol of apostasy and idolatry, and hence it was impossible that a Jew, brought up on the law and prophets, should not see here a picture of the perfect and comprehensive cleansing of the Temple‘“ (Schlegel, Jerusalem 312 f., mit Nachweis des Zitats). – Roth, Cleansing 180: Zur Zeit Jesu gab es zwei Deutungen von Sach  14,21, „that in Messianic days no trafficker would be seen in the Temple; or, that no ‚Canaanite‘ alien would be admitted to it“; Jesus sei der ersten gefolgt, die Zeloten, die das Opfer für den Kaiser im Tempel unterbanden, der zweiten (= Reinigung des Tempels von Fremden). 151 Sach   14,1–11: der endzeitliche Krieg um Jerusalem; V.12–15: Rückblende; V.16–21: das eschatologische Laubhüttenfest, das zentrale Fest am endzeitlich erneuerten Tempel: hierzu ­Rubenstein, History 45–50; Schlegel, Jerusalem 302–313. 152  Diese Formel auch in Ex 28,36 für den Turban des Hohenpriesters, in Jer  31,40 für ein um seine Außenbezirke erweitertes Jerusalem; vgl. auch Jes  52,1; Joel  4,17. 153  Dohmen (Hg.), SAT II 2195 (E. Zenger/T. Maierhofer); Reventlow, Propheten 128: „Die Grenze von Heiligem und Profanem wird vollständig aufgehoben sein (vgl. Jes  4,3). An ein Aufhören des Opferkults im Tempel aber ist nicht gedacht“.

254

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Kauf- und Verkaufsbetrieb im Tempelbezirk (wird) überflüssig“154. Ps  69,10 schließt daran an und erklärt, dass Jesu Aktion gegen den Opferkult „Eifer für das Haus“ Gottes sei und ihn „verzehrt“, d. h. ihm das Leben kosten wird (V.17). Die zweite Episode, V.18–22, verbleibt nicht auf der Ebene der ersten, sondern fügt ihr die joh. Tiefensicht hinzu, womit sie die mögliche Fortführung der ersten konterkariert: Die Kehrseite der Beendigung des Opferkults ist nicht die Verwandlung des Tempels durch Jesus in einen Ort endzeitlicher Anbetung Gottes, sondern die Einsicht, dass Jesus in Person der eschatologische Heilsort ist, der den Tempel ersetzt155. Wenn „die Juden“ ihn nach einem „Zeichen“ fragen, das sein Tun legitimiert, dann ist er es selbst als der Gekreuzigte und Auferweckte, der allen, die an ihn glauben, ewiges Heil erwirkt156 . 3.4 Ein Seitenblick auf Matthäus und Lukas: Die „Vollmacht“ des „Davidssohns“ über den Tempel (Mt  21,12–17) und das Heiligtum als Ort der Lehre Jesu (Lk  19,45–48) (1) Matthäus verstärkt über Markus hinaus die Bezüge zur Schrift und unterstreicht damit, dass Jesu Aktion allein dem Zweck dient, den Tempel seinem gottgewollten Zweck zuzuführen. Das „Hosanna dem Sohn Davids“ der Jesus begleitenden Volksmenge aus der Einzugserzählung (Mt  21,9) hallt zum Ärger der „hohen Priester und Schriftgelehrten“ jetzt auch noch aus dem Mund von Kindern nach (Mt  21,15). Der in die Heilige Stadt eingezogene „Davidssohn“ ergreift Besitz vom Heiligtum, wie seinerzeit David von Jerusalem (2Sam  5,6–9a157). Wenn die Autoritäten am Tag danach Jesus fragen, in welcher Vollmacht er im Tempel „lehrt“, dann kann die Antwort, die Jesus verweigert, nur lauten: „im Namen des Herrn“ (Mt  21,9 = Ps  118,26) bzw. in der „Vollmacht“ des „Davidssohns“ (Mt  21,9.15; vgl. bereits 1,1; 9,27; 15,22; 12,23; 20,30 f.). Die beiden Hälften der Szene (Mt  21,12 f./14–16), die jeweils in ein Schriftwort einmünden158 , entsprechen einander wie Gericht und Heil159: Proklamiert Jesus mit der Vertreibung „aller“160 Händler und Käufer das Ende des Opferkults, so gibt sein anschließendes Wirken als Heiland der Lahmen und Blinden „im Tempel“ diesem seine ureigene Bestimmung als Heilsort zurück161. Folgende Akzentsetzungen sind bemerkenswert:

154  Deissler, Zwölfpropheten III  313: „Alle ‚Kochtöpfe in Jerusalem und Juda‘ werden von den Pilgerscharen für den Gebrauch bei den Liturgien zugelassen werden, so dass aller Kauf- und Verkaufsbetrieb im Tempelbezirk überflüssig wird“. 155  Zur Tempel-Christologie des Joh vgl. Cullmann, L’opposition 168–173. 156  Im Einzelnen vgl. Theobald, Joh I 233–237; ders., Raum- und Zeitkonstruktion. 157  Siehe oben II.  2.4.3. 158  Einerseits Jes  56,7LXX + Jer  7,11 („Räuberhöhle“), andererseits Ps  8 ,3LXX: „Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du Lob bereitet“. 159  Wiefel, Mt 359: „dort der züchtigende Gerichtsherr, hier der barmherzige Helfer“. 160  Mt hat πάντας zum dem ansonsten nahezu unveränderten V.15 seiner Mk-Vorlage hinzugefügt; zur Parallele Joh  2,15 (πάντας ἐξέβαλεν) vgl. oben Anm.  162 in 3.3. 161  Vgl. 2Sam  5,8 (vgl. oben II.  2.4.3 unter [4]); auch CD  15–17; 1QSa  2 ,5–7; vgl. 1QM  7,4; 4Q394 Frg.  8: 4,2–4.

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

255

(a) Das Jesaja-Zitat im Wort Jesu am Ende der ersten Hälfte kürzt Matthäus um πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν: „Mein Haus wird ein Haus des Gebets genannt werden“ (21,13). „[D]ie Zuwendung des Heils zu allen Völkern ereignet sich durch die Eingliederung von Menschen aus allen Völkern in die Kirche (16,18 28,19 f.)“ erst nach Ostern aufgrund der göttlichen Beauftragung des Auferweckten mit universaler Vollmacht162 . (b) Das anschließende Scheltwort, der Tempel sei zu einer „Räuberhöhle“ degeneriert (Jer  7,11), erhält auf der Linie von Mt  9,13; 12,7: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“ (Hos  6 ,6) einen besonderen Akzent. Es „unterstreicht, dass Jesu Kritik auf die finanziellen Vorteile zielt, den die Jerusalemer Autoritäten aus dem Tempel ziehen; selbst die Armen […] ‚beraubt‘ man“163. (c) In der zweiten Episode, die Matthäus neu geschaffen hat, wird aus der „Räuberhöhle“ „durch Jesu Präsenz – für kurze Zeit – ein Ort barmherziger Zuwendung (vgl.  14,14; 20,34)“164. „Die hohen Priester und die Schriftgelehrten“ protestieren nicht, wie eigentlich zu erwarten, gegen Jesu Angriff auf die Händler und Käufer im Tempel, sondern auf sein Wunderwirken, durch das er sich, wie schon in Galiläa (vgl. Mt  4,23 f.; 9,35; 12,15; 14,14; 15,30; 19,2), als Davidssohn und Heiland der Kranken erweist (vgl. 2Sam  5,8). (d) In der nachfolgenden Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums (Mt  21,18–22) begegnet ein Motiv, das für das Gleichnis von den bösen Winzern (Mt  21,45), aber auch sonst im Evangelium von größter Bedeutung ist: das vom „Fruchtbringen“165. So bezieht sich die Geschichte von der Unfruchtbarkeit des Feigenbaums weniger auf die Institution des Tempels als solche, auch nicht auf das Volk, sondern auf das Verhalten der Jerusalemer Autoritäten (vgl. Mt  21,15).

(2) Lukas166 übernimmt aus Markus nur den ersten Satz („und er ging hinein in das Heiligtum und begann die Händler auszutreiben“), um daran unmittelbar (wie Matthäus) das Deutewort Jesu anzuschließen (Lk  19,46). Das Summarium, das folgt („und er lehrte täglich im Tempel“) samt anschließender Reaktion der „hohen Priester und Schriftgelehrten“, fußt zwar auf Mk  11,17–19, ist aber zur eigentlichen Pointe der Erzählung ausgestaltet: Indem Jesus die Händler aus dem Tempel „treibt“, bereitet er das Heiligtum zum Ort seiner eigenen Lehre167. Schon die Vorgeschichte Lk  2,41–52 sprach vom lehrenden Jesus im Tempel, und nach Ostern bleibt er für die erste Gemeinde Ort des Gebetes (Lk  24,53; Apg  2,46). Erst Stephanus wird die Intention der Tempelaktion Jesu aufgreifen und unter Rückgriff auf Jes  66,1 f. kundtun, dass der Höchste nicht in von Menschen gemachten Gebäuden wohnt (Apg  7,48). Dem Gewicht von Lk  19,47 f. entspricht es, wenn die vom Vori162 

Konrad, Mt 324; anders Mk mit seiner Theologie des Todes Jesu (siehe oben). Konrad, Mt 325; ebd. 324: „Die Erwählung speziell der Tische der Taubenverkäufer […] lässt Ausbeutung der Armen durch überteuerte Preise für Opfertiere (vgl. mKer  1,7) als spezifischen Kritikpunkt erkennen, denn die Tauben sind die den Armen konzedierten Opfertiere (Lev  5,7; 12,8 u. ö.)“. 164  Ebd. 325. 165  Mt  3,8.10; 7,16–20; 12,33 u. ö. 166  Wolter, Lk  635: „Lukas lässt Jesu Einzug im Tempel enden, was den antiken Parallelen entspricht“, vgl. Polyb  16,25,5–7; Jos, Ant  7,153.155; 11,336; 16,14; 17,200.205. Ähnlich ist es in Rom: „der römische Triumphzug endete mit einem Opfer vor dem Tempel des Iuppiter Capitolinus“: vgl. Suet, Nero  25,2. 167  Conzelmann, Mitte 71, zufolge ist die lkn. Tempelreinigung „Mittel der Besitzergreifung“ durch Jesus – im Gegensatz zu Mk ohne eschatologischen „Eigen-Sinn“. 163 

256

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

gen klar abgegrenzte Episode mit der Vollmachtsfrage sich nicht mehr auf die Tempelaktion bezieht, sondern (wie übrigens auch bei Matthäus) auf das „Lehren und „Verkündigen“ Jesu im Tempel. 3.5 Von der Erfüllung der Prophetie des Sacharja. Ein Vergleich der markinischen und johanneischen Erzählfolge und deren Urgestalt in der PEG (1) Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, lassen sich die mkn. und joh. Fassung der Tempelaktion leicht einander zuordnen. Ihr Vergleich verspricht Aufschluss über mögliche Entwicklungen der Grunderzählung hin zur PEmk und zur PEjoh. Tempelaktion

Mk  11,15 f.17

Joh  2 ,14 f.16 (17)

1. „Austreibung“ von Verkäufern und Käufern

Summarische Nennung aller Beteiligten: (Verkäufer von Groß-, Kleinvieh und Tauben sowie Geldwechsler) 1. „Austreibung“ von Klein- und Großvieh mit einer Peitsche (keine Aktion gegen Menschen) 2. Geldwechsler: Jesus schüttet ihr Geld aus und stößt ihre Tische um.

Handlung

2. Geldwechsler + Taubenverkäufer:

Deutewort

Kommentar

Jesus stößt die Tische der Geldwechsler und Sitze der Taubenverkäufer um. 3. Jesus versucht Leute daran zu hindern, „Gefäße“ über den Tempelplatz zu tragen. adressiert an alle vorweg Genannten Doppelte „Lehre“: Was der Tempel nach der Schrift sein soll + Anklage: was man aus ihm gemacht hat Jes  56,7 + Anspielung auf Jer  7,11

3. an die Taubenverkäufer Doppelte Aufforderung: alles zu entfernen + das Haus nicht zum Kaufhaus zu machen. Anspielung auf Sach  14,21 Ps  69,10

Bei Johannes sind Szenario und Handlung Jesu gesteigert. Nicht nur Tauben, die kleinsten Opfertiere, werden auf dem Tempelplatz angeboten, sondern auch Großund Kleinvieh, das zu vertreiben eine Peitsche erfordert. Jesus schüttet zuerst die Münzen der Geldwechsler aus, dann stößt er (wie bei Markus) ihre Tische um. Nicht gegen die Menschen geht er vor, sondern gegen die Handelsware. Die einfache mkn. Fassung (= Mk  11,15b–d) wird die ursprüngliche Gestalt der Szene bewahren168 , die des Johannes ist weiterentwickelt (= PEjoh).

168  Mk  11,16, Handlungsmoment Nr.  3, wird Zuwachs sein (PEmk), so breiter Konsens der Forschung.

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

257

Beim Deutewort verläuft das Gefälle anders herum: Johannes, nicht Markus, kommt der ursprünglichen Fassung nahe. In ihrer Substanz stimmen beide Fassungen überein, sind also nicht unabhängig voneinander entstanden169.

1 2 3 4 5

Mk  11,17d.e

Joh  2 ,16c

(siehe Zeile 5) Mein Haus (ὁ οἶκός μου) soll ein Haus des Gebetes sein für alle Völker (Jes 56,7). Ihr aber habt es zu einer ‚Räuberhöhle’ (Jer 7,11) gemacht (πεποιήκατε).

Macht (ποιεῖτε) das Haus meines Vaters (τὸν οἶκον … μου)

nicht zu einem Handelshaus! (Sach 14,21) (siehe Zeile 1)

Beide Fassungen halten mit der Schrift daran fest, dass der Tempel „Haus“ Gottes ist und bieten eine vergleichbare Apostrophierung dessen, wozu die Händler ihn „gemacht haben“ (jeweils ποιέω): zu einer „Räuberhöhle“ (= Jer  7,11) bzw. einem „Handelshaus“ (= Sach  14,21).

Das Deutewort Joh  2,16b.c passt perfekt zur Handlung: Jesus „treibt“ die Händler „aus“ und erläutert das mit dem Wort vom „Handelshaus“. Für prophetische Zeichenhandlungen ist eine derartige Kongruenz typisch, was für die Originalität des joh. Wortes spricht. Markus hat es in eine eigenständige „Lehre“ Jesu umgewandelt, die über die konkrete Situation hinausgeht170 . Grund dafür ist nach den obigen Ausführungen seine Überzeugung vom Heilstod Jesu für die „Vielen“, der den Tempel als Ort der Heilsvermittlung ablöst und zur Errichtung eines anderen Tempels aus Juden und Heiden führt. Der universale Akzent von Jes  56,1–8 („für alle Völker“) veranlasste Markus, das Prophetenwort als „Prätext“ der „Lehre“ Jesu zu wählen. Den semantischen Überschuss des Verses über Jesu Aktion gegen den Opferkult hinaus holt er mit seiner Christologie und Ekklesiologie ein. Gegen die Annahme der Priorität von Joh  2,16c ließe sich die joh. klingende Rede vom „Haus meines Vaters“ anführen. Aber abgesehen davon, dass es eine lkn. Parallele gibt, welche die Erschwinglichkeit der Wendung auch ohne joh. Sohnes­ christologie erweist171, steht die Hochschätzung des vorfindlichen Tempels als 169  Die Annahme, dass die ursprüngliche Erzählung kein Deutewort enthielt, vielmehr ein solches in der mkn. und der joh. Überlieferung unabhängig voneinander hinzukam, ist unwahrscheinlich. Auch Zeller, Beseitigung 263 f., registriert die Übereinstimmung beider Worte und bestimmt Mk  11,17 (mit Schweizer, Mk 127) als vormkn. „Zuwachs“, ohne aber Joh  2,16c näher in Augenschein zu nehmen. 170  V.17a (καὶ ἐδίδασκεν καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς) ist eine typisch mkn. Redeeinführung, die bei einem Scheltwort gegen Händler als unpassend erscheint (Adressat der „Lehre“ sind die Leser des Buches!); auch die Zitatenkombination Mk  11,17 (Jes  56,7 + Jer  7,11) ist redaktionell: J. Gnilka, Mk  II 127: „die Ankündigung eines Bethauses für alle Völker (sprengt) die Situation“; vgl. auch Bultmann, Geschichte 36; F. Hahn, Verständnis 28 Anm.  2; Mohr, Markus- und Johannes­ passion 82–86; Roloff, Kerygma 91; Schnider/Stenger, Johannes 30 f. – Anders Söding, Tem­ pelak­tion 45 Anm.42 (Mk  11,17 [Jes  56,7] assoziiere „den Gedanken der Völkerwallfahrt zum Zion“, an dem der älteste Evangelist sonst nicht interessiert sei); Paesler, Tempelwort 242 (vor­ mkn.; V.17a.b und 17c auf unterschiedliche Schichten verteilt). 171  Lk  2 ,49: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist“.

258

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

„Haus des Vaters“ in Spannung zur Sicht des Evangelisten. Er „entleert“ den vorfindlichen Tempel theologisch, indem er Jesus zum wahren Tempel Gottes unter den Menschen erklärt. 2,16 dürfte ihm deshalb vorgegeben gewesen sein (PEjoh). Gleiches gilt vom Rekurs auf Ps  69,10, der mit seiner Darstellung der Todesursache Jesu kollidiert172 . Schon die PEjoh, die sich auch sonst des „Schriftbeweises“ bedient, wird den Psalmvers geboten haben – vielleicht mit anderer Zitateinleitung173.

Exkurs 3: Prophetische Zeichenhandlungen Charakteristisch für prophetische Zeichenhandlungen174 ist die Kongruenz von Handlung und deutendem Wort. Wenige Beispiele mögen dies belegen175: (a) 1Kön  11,29–32: Der Prophet Ahija von Schilo zerreißt vor Jerobeam seinen Mantel in zwölf Stücke, fordert ihn auf: „Nimm dir zehn Stücke!“ und liefert ihm dazu die passende Deutung: „Denn so spricht Jhwh, der Gott Israels: Ich nehme Salomo das Königtum weg und gebe dir zehn Stämme. Nur ein Stamm soll ihm verbleiben wegen meines Knechtes David und wegen Jerusalem, der Stadt, die ich aus allen Stämmen Israels erwählt habe“ (V.32). Was folgt, ist eine ausführliche Begründung des Gerichtshandelns Gottes an Salomon. (b) Jes  20,2–4: Auf Befehl Gottes geht Jesaja drei Jahre lang nackt und barfuß, das korrespondierende Gotteswort kündigt Ägypten und Kusch an, nackt und barfuß in die Verbannung gehen zu müssen. (c) Jer  19,1 f.10 f.: Jhwh fordert Jeremia auf: „Geh und kauf einen Krug aus Ton und nimm einige Älteste des Volkes und Älteste der Priester mit dir. Dann geh hinaus zum Tal Ben-Hinnom am Eingang des Scherbentors!“ (V.1 f.) „Dann zerbrich den Krug vor den Augen der Männer, die mit dir gehen! Sag ihnen: So spricht der Herr der Heerscharen: Ebenso zerbreche ich dieses Volk und diese Stadt, wie man Töpfergeschirr zerbricht, sodass es nicht wiederhergestellt werden kann“ (V.10 f.). (d) In Jer  27,2 erhält Jeremia von Jhwh den Auftrag, Jochhölzer auf seine Schulter zu legen als Zeichen für die Unumgänglichkeit des „Joches des Königs von Babel“ (V.8.11 f.). Wenig später heißt es in Jer  28,10 f.: Der Prophet Hananja nahm „das Jochholz vom Nacken des Propheten Jeremia und brach es entzwei“. Dazu sagte er „vor den Augen des ganzen Volkes“: „So spricht Jhwh: Ebenso zerbreche ich binnen zwei Jahren das Joch Nebukadnezzars, des Königs von Babel, vom Nacken aller Völker“. In den aufgeführten Fällen deutet das prophetische Gotteswort die Handlung, indem es an deren Besonderheit anknüpft. Dabei geht es zumeist um Aktionen, die eine kommende Gottesstrafe anzeigen und dazu dienen, die Beteiligten aufzurütteln176 . Die Tempelaktion Jesu steht mit ihrer Stilisierung als prophetische Zeichenhandlung in dieser Tradition: Auch sie bietet Aktion und Deutewort (Joh  2,16) in genauer Entsprechung und ist zeichenhafte Prophetie, die das Ende des Opferkultes ansagt.

172  Grund für „die Juden“, Jesus nach dem Leben zu trachten, ist sein hoher christologischer Anspruch (5,18; 10,30 f. u. ö.), nicht sein Einsatz für den Tempel. 173  Typisch für PEJoh ist die Erfüllungsformel mit πληρόω: Joh  13,18; 17,12; 19,23 f.36; vgl. auch 12,38; 15,25. – 19,28 mit τελειόω. 174  Fohrer, Handlungen; Trautmann, Handlungen; Paesler, Tempelwort 257 f. 175  Vgl. auch Ex  4,1–3; Jer  13,1–11; Ez  5,1–17; Hag  2 ,11–14. 176  Vgl. auch die Vierzeichenkomposition Ez  4,1–5,4.

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

259

(2) Tempelaktion und Kontrovers-Szene waren in der PEG (und den anderen vor­ evangeliaren Fassungen) eine Einheit, die noch Johannes und Lukas bezeugen177. Kontroverse

Mk  11,27–33

Joh  2 ,18–21

Fragesteller Frage Antwort

hohe Priester, Schriftgelehrte und Älteste nach Jesu Vollmacht Jesus und der Täufer Johannes

„die Juden“ nach einem Zeichen Christologisches Tempellogion

Die Rede von Jesu „Vollmacht (ἐξουσία)“ ist typisch für Markus und seine Christologie. Sie geht wie auch Jesu Antwort (samt Schweigen der Gesprächspartner) auf ihn zurück178 . Der Bezug von Mk  11,29 auf „die Taufe des Johannes“ ist nur im Makrokontext des Evangeliums sinnvoll. Die Substanz der joh. Fassung lässt sich dagegen über die PEjoh auf die PEG zurückführen. Hier waren es ursprünglich „die hohen Priester und Schriftgelehrten“, die Jesus um ein Legitimations-„Zeichen“ (vom Himmel) ersuchen (nicht wie bei Johannes „die Juden“). Wie Jesus darauf antwortet, ist umstritten: mit dem Tempelwort in der joh. oder in der mkn. Gestalt? Wenn Markus das Wort erst im Prozess vor dem Synedrion bietet, hat er es aus der Kontrovers-Szene (im Zuge ihrer Neugestaltung) nach 14,58 verpflanzt. Möglicherweise ist die älteste Gestalt hinter beiden Fassungen zu suchen. 3.6 Das christologische Tempelwort (Mk  14,58 par. Joh  2 ,19 etc.) und seine Urgestalt In Abgrenzung vom sog. theozentrischen Tempelwort (Mk  13,1 f.) wird im Folgenden jenes Tempelwort das christologische genannt, das nicht Gott, sondern Jesus als Handelnden nennt. Acht Varianten sind belegt, davon sieben im Neuen Testament179. In Joh  2,19 und in ThomEv  71 ist es Jesus in den Mund gelegt180 , ansonsten den falschen Zeugen im Prozess gegen ihn bzw. Stephanus sowie den Spöttern unter dem Kreuz.

177  Schnider/Stenger, Johannes 30; Schleritt, Passionsbericht 146: „Tempelreinigung, Zeichenforderung und Tempelwort (gehören) ursprünglich zusammen“; bei Joh sind sie „noch in ihrer ursprünglichen Abfolge erhalten“. Anders Becker, Jesus 404: „dass in der Tempelperikope und in dem Tempelwort andere Vokabeln für den heiligen Ort verwendet werden“ (zuerst ἱερόν, dann ναός), sei „ein untrügliches Indiz für ehemalige Unabhängigkeit“ beider Überlieferungen. Allerdings ist zuerst der Tempelbezirk, dann das Heiligtum selbst gemeint. 178  Mk  1,22.27; 2,10; 3,15; 6,7; 13,34. 179  In der Tabelle nicht aufgeführt ist die Variante von D W it Cypr zu Mk  13,2, die das theozentrische folgendermaßen ergänzen: καὶ διὰ τριῶν ἡμερῶν ἄλλος ἀναστήσεται ἄνευ χειρῶν. 180  Die Ergänzung von Mk  13,2 durch die positive Hälfte von 14,58 ist textkritisch sekundär: D W it.

260

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Joh  2 ,19 ThEv  71

Mk  14,58

Jesus Jesus bei der Tempel­ aktion

Falsch­zeugen Spötter Falsch­zeugen Falsch­zeugen Spötter beim Prozess beim Prozess unter dem unter dem beim Prozess gegen Kreuz Kreuz gegen Jesus gegen Jesus Stephanus

Jesus sprach:

Mt  26,61

Ich werde λύσατε τὸν ναὸν [dieses] Haus τοῦτον zerstören,

δύναμαι ἐγὼ καταλύσω καταλῦσαι τὸν ναὸν τὸν ναὸν τοῦ θεοῦ τοῦτον τὸν χειροποίητον

καὶ

καὶ

ἐν τρισὶν ἡμέραις ἐγερῶ αὐτόν.

und niemand

καὶ

διὰ τριῶν διὰ τριῶν ἡμερῶν ἡμερῶν wird es ἄλλον wieder ἀχειροποίητον aufbauen. οἰκοδομήσω. οἰκοδομῆσαι.

Mk  15,29 f. Mt  27,40

οὐὰ ὁ καταλύων τὸν ναὸν

ὁ καταλύων τὸν ναὸν

καὶ καὶ οἰκοδομῶν ἐν τρισὶν ἐν τρισὶν ἡμέραις ἡμέραις,

Apg  6 ,14

Ἰησοῦς ὁ Ναζωραῖος οὗτος καταλύσει τὸν τόπον τοῦτον. καὶ [ἀλλάξει τὰ ἔθη ἃ παρέδωκεν ἡμῖν Μωϋσῆς.]

οἰκοδομῶν.

Das Wort begegnet in einer Langform, die aus einer negativen und positiven Hälfte besteht (Niederreißen+[Wieder-]Aufbau: Joh  2,19; Mk  14,58 par. Mt  26,61; Mk  15,29 f. par. Mt  27,40; ThomEv  71) und in einer Kurzform mit negativer Hälfte. Diese begegnet nur in Apg  6 ,14, wo sie um den Vorwurf der gegen Stephanus aufgebotenen „Falschzeugen“ ergänzt ist, Jesus würde „die Bräuche ändern, die uns Mose gegeben hat“. Lukas hat die Langform (die er in seiner Fassung der Synedrion-Szene übergeht) in die Kurzform umgewandelt und zugleich um eine Aussage zur Tora ergänzt. Die Langform ist gewiss die älteste Gestalt des Logions181. Auffällig ist die Differenz zwischen Joh  2,19 und Mk  14,58. In der joh. Fassung geht es im Vorder- und Nachsatz um ein- und denselben Tempel – Jesus, der getötet und auferweckt wird182 –, wohingegen die mkn. Fassung den Blick im Nachsatz auf einen anderen Tempel lenkt, der „nicht von Händen gemacht“ ist. Nur hier ist von zwei Tempeln die Rede, alle sonstigen Belege sprechen von einem Tempel, auch Mk  15,29 f., wo die Spötter das Wort Mk  14,58 aufgreifen. Mt  26,61 mildert das Wort ab: „Dieser sagte: Ich kann den Tempel Gottes zerstören und binnen dreier Tage (wieder) aufbauen“. Wenn davon auszugehen ist, dass das christologische Tempelwort von Anfang an zur Gesprächsszene Joh  2,18–22 (= PEG) gehört, also nicht als isoliertes Logion umlief183, ergeben sich drei Fragen: (1) Wie gelangte das Tempelwort bei Markus in die Synedrions- und Kreuzigungsszene? – (2) Wie lautete das Wort in der PEG und was 181 F.

Hahn, Verständnis 29 Anm.  3. Hier steht ἐγείρω statt οἰκοδομέω, das aber V.20 bezeugt. 183  Paesler, Tempelwort 228. 182 

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

261

besagte es dort? (3) Ist die Gesprächsszene Joh  2,18–22 der erste Überlieferungsort des Tempelwortes, ist sie dann auch dessen Entstehungskontext? (1) Die Analyse der mkn. Synedrion-Szene (unter II.  8.3) wird belegen, dass ­Markus das Tempelwort in 14,58 sekundär eingefügt hat. Wie oben angedeutet, hat er es aus der Kontrovers-Szene hierhin transplantiert. Auch Mk  15,29 f. im Mund der Spötter verdankt sich seiner Redaktion. (2) Bei der Rekonstruktion der ursprünglichen Gestalt des christologischen Tempelworts in der PEG ist zwischen Joh  2,19 und Mk  14,58 abzuwägen. Beide Varianten stimmen in ihrer Substanz überein (siehe obige Synopse). So ist entweder die eine auf die andere Variante zurückzuführen oder beide auf eine gemeinsame Urform. Für eine Entscheidung ist zu beachten, dass beide Varianten Rätselworte sind: Johannes bezieht es auf Christus, Markus lädt es soteriologisch-ekklesiologisch auf184. Wie die Rede von den „drei Tagen“, ein Verweis auf Jesu Auferweckung „nach drei Tagen“, in beiden (!) Fassungen zeigt, war das Wort schon in der PEG enigmatisch, also von Anfang an für deren Leser bestimmt.

Zugunsten des an die Fragesteller gerichteten Imperativs von Joh  2,19 als der ältesten Form des Logions („Löst diesen Tempel auf …“) nennt Schleritt zwei Argumente: (a) „[D]ie Annahme, frühe Christen hätten erzählt, dass Jesus auf eine an ihn herangetragene Zeichenforderung mit der Ankündigung reagiert […], er werde den Tempel abreißen“, sei „absurd“185; (b) Joh  2,19 lasse sich „vortrefflich als eine ironische Abweisung der Zeichenforderung verstehen“186 . Das Logion hätte in der PEG gelautet187:   Löst diesen Tempel auf (λύσατε τὸν ναὸν τοῦτον),   und ich werde ihn in drei Tagen aufbauen (καὶ ἐν τρισὶν ἡμέραις οἰκοδομήσω αὐτόν).

Weil der Imperativ des Vordersatzes einem Konditionalsatz gleichkäme und der Nachsatz von einem καί consecutivum eröffnet werde, sei zu übersetzen:    Brecht diesen Tempel ab,   dann werde ich ihn innerhalb von drei Tagen (wieder) aufbauen188 . Diese Übersetzung führt ihn zu folgender Deutung: „Jesus wird mit der Frage nach einem Zeichen konfrontiert, das ihn legitimiert, ‚dies‘ – nämlich die Tempelreinigung – zu tun 184 

Siehe oben II.  3.2.2 unter (3) sowie unten 8.2 unter (1). Schleritt, Passionsbericht 168; die Abfolge von Zeichenforderung und Mk  14,58 ist aber nur dann ein „unmöglicher und nicht tradierbarer Wortwechsel“, wenn man im Tempelwort eine den Fragestellern tatsächlich erteilte Antwort Jesu sehen möchte. Das Wort, das für „christliche“ Rezipienten gebildet wurde, erschließt sich aber allein im Kontext der Passionserzählung. 186  Ebd.; zugunsten der Ursprünglichkeit der joh. Fassung auch Becker, Jesus 403 f. 187  Das christologische Stichwort ἐγείρω im Nachsatz ginge auf das Konto des Evangelisten; ersetze ein vorgegebenes οἰκοδομήσω (Mk  14,58). 188  Schleritt, Passionsbericht 548, unter Bezug auf BDR  §  387,2; 442,2; ebenso Bultmann, Joh 88: „ironischer Imperativ des prophetischen Stils“ (Am  4,4; Jes  8 ,9 f. u. ö.); der Vordersatz meine das Gericht der Tempelzerstörung“ als „Folge des Unglaubens an Jesus“, der Nachsatz „das Erscheinen des eschatologischen Heils“. 185 

262

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(2,18). Er ist bereit, ein solches Zeichen zu geben. Es besteht darin, dass er in der Lage ist, in der kurzen Frist von drei Tagen ein dem gewaltigen Jerusalemer Tempel entsprechendes Bauwerk zu errichten (2,19). Zu diesem Kunststück ist er allerdings nur unter der Voraussetzung bereit, dass die Fragesteller den alten Tempel zuvor abreißen. Anders gesagt: Jesus knüpft seine Bereitschaft, das gewünschte Zeichen zu vollbringen, an eine unmögliche oder doch zumindest völlig unrealistische und groteske Bedingung. Das aber heißt nichts anderes, als dass er die Zeichenforderung mit beißender Ironie zurückweist“189.

Gegen die Deutung spricht, dass die Drei-Tage-Formel im Neuen Testament durchgängig auf die Auferweckung Jesu bezogen ist190 . An der Formel hängt der Rätsel-Charakter des Wortes. Die Stichworte „beißende Ironie“, Ansage eines „Kunststücks“, „unrealistisch und grotesk“ verfehlen seine Gattung. Beide, Johannes und Markus haben unabhängig voneinander (!) die Drei-Tage-Formel auf Ostern bezogen, dem Wort also einen tieferen Sinn gegeben. Deshalb dürfte Johannes nicht nur ein ursprüngliches οἰκοδομέω gegen ἐγείρω ausgetauscht, sondern auch den Vor­ dersatz in eine verdeckte Aufforderung an „die Juden“, ihn zu töten, umgestaltet haben191 – entsprechend der Souveränität, die „seinen“ Jesus, der bis in den Tod hinein selbstbestimmt handelt, auch sonst auszeichnet. Die mkn. Ich-Form in beiden Hälften des Worts ist also älter, die joh. Variante ist davon abgeleitet192 . Auf Markus geht die Vorstellung von zwei Tempeln (im Unterschied zu dem ­einen Tempel bei Johannes) zurück sowie die damit verbundene Opposition χειροποίητος/ἀχειροποίητος („von Händen gemacht“/„nicht von Händen gemacht“)193. Die Urform des Logions in der PEG dürfte demnach gelautet haben:    Ich werde diesen Tempel niederreißen (ἐγὼ καταλύσω τὸν ναὸν τοῦτον)    und in drei Tagen [wieder] aufbauen (καὶ διὰ τριῶν ἡμερῶν οἰκοδομήσω αὐτόν). Zugunsten dieser Fassung194 spricht, dass sich aus ihr sowohl die joh. als auch die mkn. Vari­ ante erklären lässt: Während Johannes die ihm vorgegebene Fassung, die nur von einem 189  Schleritt, Passionsbericht 548; Becker, Jesus 403: „Erfüllt ihr nur die Bedingung, diesen Tempel abzureißen, dann werde ich Wort halten und ihn wieder aufrichten!“ 190 Vgl. Paesler, Tempelwort 167–178 („Die Dreitagesfrist“) mit einer Aufreihung aller ntl. Varianten der Formel, die zeigt, dass sie „im überwiegenden Teil der Belege im Zusammenhang mit dem Ostergeschehen gebraucht“ wird; anders Bultmann, Joh 88 f. Anm.  7, der gegen einen Osterbezug die Fristangabe „in (ἐν) drei Tagen“ gelten macht, die Zeitangabe entsprechend rabbinischer Deutung von Hos  6 ,2 auf die Auferstehung der Toten am „dritten Tag nach dem Weltende“ als Anbruch des eschatologischen Heils bezieht (weitere Deutungen dieser Art bei Paesler, Tempelwort 167–171) und das Wort in diesem Sinne dem historischen Jesus zutraut. 191  Roloff, Kerygma 104 Anm.  182; Trocmé, L’arrière-plan 263. – Paesler, Tempelwort 67 Anm.  50; 177 Anm.  75: „Johannes konstruiert Zeitangaben vorzugsweise mit ἐν plus Dativ, so auch im folgenden Vers 20“; ursprünglich ist die διά-Formel bei Mk. 192 Auch Paesler, Tempelwort 68–70, votiert für die Ursprünglichkeit der mkn. Ich-Form gegenüber Joh, sieht aber von der vorgegebenen Kontroversszene als ältestem Kontext ab und postuliert ein ursprünglich selbstständig überliefertes Logion, dessen „Stammbaum“ (10) mit insgesamt vier Überlieferungsstufen unnötig kompliziert ausfällt. 193  Paesler, Tempelwort 74 f.: Gegenüber Mk 14,58 falle auf, „dass vorjohanneisch von demselben Tempel die Rede ist, der zerstört und neu errichtet werden soll, was als Hinweis auf eine ältere Traditionsstufe verstanden werden kann“ (mit weiterer Lit.). 194  So auch Lohmeyer, Mk 326.

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

263

Tempel sprach, in beiden Hälften christologisiert (Tod und Auferweckung Jesu), trägt Markus in das (von ihm nach 14,58 transponierte) Wort seine christologisch-ekklesiologische Vorstellung von zwei ihrem Wesen nach verschiedenen Heiligtümern ein. Wurde das erste Heiligtum – der Tempel mit seinem Opferkult – durch den Tod Jesu außer Kraft gesetzt, so tritt nach Ostern ein zweites Heiligtum – die von Jesus begründete Gemeinde – an die Stelle des Tempels195. Die Betonung der Alterität der beiden „Heiligtümer“ („von Händen gemacht“ versus „nicht von Händen gemacht“), die einen Standort jenseits eines vom Tempel her sich definierenden Judentums widerspiegelt, stützt die Annahme einer Umwandlung des christologischen Tempelwortes durch Markus.

Wenn der älteste greifbare Überlieferungsort des christologischen Tempelworts die Kontroversszene mit ihrer Frage nach einem Legitimationszeichen Jesu ist (vgl. Joh  2,18–22), dann bestimmt dieser Überlieferungsort zusammen mit der voran­ stehenden Episode der Tempelaktion Jesu auch über den Sinn des rekonstruierten Wortes, worauf bei der abschließenden Betrachtung der Szene in der PEG zurückzukommen sein wird. (3) Ist der älteste Überlieferungsort des christologischen Tempelwortes auch sein Entstehungskontext? Zugunsten dieser Annahme spricht die christologische Einpassung des Wortes in die PEG. Die Rede vom Aufbau des Tempels „binnen drei Tagen“ in ihrer Eröffnungsszene weist auf die Schlussszene voraus, die Kundgabe der Auferweckung Jesu durch den Jüngling im Grab „am ersten Tag der Woche“ (Mk  16,2.6). Wie die erste Hälfte des Proömiums der PEG, die Erzählung vom Kommen des messianischen Königs in seine Stadt (Sach  9,9 f.), auf Jesu Kreuzigung als „König der Juden“ am Ende vorausblickt, so gilt Gleiches auch von Jesu anschließendem Auftritt im Tempel: Das christologische Tempelwort und Mk  16,6 bilden eine großräumige inclusio um die PEG und nennen die Voraussetzung, unter der diese insgesamt zu verstehen ist: den Glauben an die Auferweckung Jesu „nach drei Tagen“. Wenn das christologische Tempelwort für die PEG gestaltet wurde, schließt dies nicht aus, dass es auf einem älteren Wort aufruht, aus dem es hervorgegangen ist. In dem zur Verfügung stehenden Quellenbestand kommt dafür nur das theozentrische Tempelwort Mk  13,2 in Frage – vorausgesetzt, dieses ist kein vaticinium ex eventu der Tempelzerstörung 70  n.Chr. aus der Feder des Markus, sondern altes Überlieferungsgut196 . Zugunsten der Annahme eines überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhangs beider Worte spricht ihre Übereinstimmung im Signalwort καταλύω197. Strittig ist, welcher Art ihre Abhängigkeit ist198 . Wer für einen indirekten Zusammenhang votiert, postuliert ein Herrenwort, das Merkmale von Mk  13,2 195 

Siehe oben II.  3.2.2 unter (3). Vgl. unten in III  2.3.3. 197  Überdies vgl. den gemeinsamen Gebrauch der Deixis „Ich werde diesen (τοῦτον) Tempel abreißen“ bzw. „Siehst du diese (ταύτας) großen Bauten (οἰκοδομάς)?“ und die Übereinstimmung in οἰκοδομέω / οἰκοδομή. 198  Linnemann, Studien 118 f., hält Mk  14,58 für eine von 13,2 „unabhängige freie Bildung“; auch Paesler, Tempelwort 76–79, der eine Fassung des christologischen Wortes ohne Dreitage-­ Formel postuliert, plädiert für Unabhängigkeit, was grundsätzlich möglich, angesichts der aufgeführten Übereinstimmungen indes nicht wahrscheinlich ist; vgl. auch W. Kraus, Tod 219–222. 196 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

und 14,58 aufweist, also zweigliedrig ist, von Gottes Handeln spricht und in apokalyptischer Tradition die endzeitliche Erneuerung des Tempels ansagt199. Da ein solches Herrenwort nicht existiert, bleibt diese Annahme „im Bereich der Spekulation“200 . Bei direkter Abhängigkeit wird entweder Mk  14,58 oder 13,2 zur Basis des jeweils anderen Wortes erklärt 201. Die Priorisierung von 14,58 bleibt schwierig202 . Zugunsten von Mk  13,2 spricht grundsätzlich, dass eher ein theozentrisches in ein christologisches Wort umgewandelt wurde als umgekehrt. Die hier entwickelte Hypothese bietet eine einfache Erklärung sowohl für die Ich-Form von 14,58 als auch für die über Mk  13,2 hinausgehende Neubildung der positiven Ansage, dass Jesus „den Tempel nach drei Tagen (wieder-)errichten“ wird. Beides geht auf den Verfasser der PEG zurück. Die Umwandlung des theozentrischen in das christologische Tempelwort ist für die Jesusüberlieferung kein ungewöhnlicher Vorgang. Die Bildung derartiger „Metaworte“ lässt sich des Öfteren beobachten 203. Die Zerstörung des Tempels durch Gottes endzeitliches Handeln beim Vollanbruch seiner βασιλεία ist im christologischen Wort in die „AußerKraft-­Setzung“ des Heiligtums samt Opferkult durch Jesu Heilstod umgewandelt. Im Blick steht jetzt der durch seine Auferweckung neu eröffnete Heilsraum, in dem seine Nachfolgegemeinschaft sich um ihn als Messias Israels schart. Das für die PEG neu geschaffene Wort besitzt proömiale Funktion. 3.7 Vom messianischen König und seinem Tempelneubau. Die Erzählung in der PEG Die Erzählung vom Kommen Jesu nach Jerusalem in der PEG gipfelt in den Jubelrufen der Volksmenge. Sein Einzug in das Heiligtum schließt sich nahtlos an. Ziel seines Jerusalembesuches ist der Tempel. Und als er in das Heiligtum (εἰς τὸ ἱερόν) hineinkam, fing er an, die Händler […] im Tempel (ἐν τῷ ἱερῷ) auszutreiben (ἐκβάλλειν), und stieß die Tische der Geldwechsler um (κατέστρεψεν204) […]

Markus Johannes 11,15b (2,14) 11,15c (2,15b) 11,15d (2,15c)

199  Vielhauer, Oikodeme 59–66; F. Hahn, Verständnis 29 (Anm.  3).99–101. Markus müsste das postulierte Wort in 13,2 gekürzt und in 14,58 ekklesiologisch umgedeutet haben. 200  Paesler, Tempelwort 76. 201  Zugunsten der Priorität von Mk  14,58 plädieren Dormeyer, Passion 159–163; Lührmann, Mk 217 f.; zugunsten der von Mk  13,2 Schlosser, Parole 411; Strecker, Passionsgeschichte 237; vgl. Dupont, Pierre 301–306. 202  Ablesbar an der Argumentation von Lührmann, Mk 218, der „ein ursprüngliches – in seinem Wortlaut freilich kaum zu rekonstruierendes – Wort Jesu in der Ich-Form“ postuliert, „das durch die Ereignisse des Jüdischen Krieges ungeheure Bisanz bekommen musste“, dann aber durch die sekundäre Bildung von Mk  13,2, eines Rückblicks auf die tatsächlich geschehene Zerstörung des Tempels, vorweg entschärft wurde. Die literarische Verhältnisbestimmung (der Leser soll mittels 13,2 die Zeugenaussage in 14,58 als haltlos durchschauen können) ist zutreffend beobachtet, erlaubt indes keine direkten genetischen Schlüsse. 203 Vgl. Theobald, Sayings 383–405; dass authentische Jesusworte weitergebildet oder weitergeschrieben wurden („Metatexte“), erklärt die Bildung neuer Jesusworte. 204  Légasse, Procès 57 Anm.  31: „Le verbe katastrephein, surtout comme équivalent de hafak

265

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

und sagte zu den Verkäufern der Tauben:   Nehmt das weg von hier!   Macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Handelshaus!

2,16a 2,16b 2,16c

Da sagten die hohen Priester und die Schriftgelehrten zu ihm:     Welches Zeichen zeigst du uns, (11,28) 2,18     dass du dieses tun darfst? Jesus antwortete und sagte zu ihnen:    Ich werde diesen Tempel (τὸν ναόν) auflösen/niederreißen (κατα-λύσω) 14,58 2,19     und ihn in drei Tagen (wieder) aufbauen.

Die Szene gipfelt im Wort Jesu gegen das Heiligtum, auf das die Fragesteller nicht mehr reagieren 205. Auch die Parallelen, die Erzählungen von der Zeichenforderung Mk  8,11 f. par. Q  11,16.29 f., enden mit der autoritativen Antwort Jesu: Die an ihn gerichtete Forderung lehnt er entweder rundweg ab (so Markus) bzw. antwortet im Rätsel (in Q  11,29 f. und hier) 206 . Gattungskritisch ist die Szene ein compositum mixtum, bestehend aus einer „prophetischen Symbolhandlung“207 und einer Kontroverse. Mit ihren beiden Jesus-­Worten ist die Szene zweigipflig. Von ihnen her erschließt sie sich. Beide Worte passen genau zueinander208 . Das Deutewort Joh  2,16 gibt unter Anspielung auf Sach  14,21 („Und kein Händler wird an jenem Tag mehr im Haus des Herrn sein“) zu verstehen, dass Jesus, indem er alles, was dem Opferkult dient, aus dem Tempel vertreibt, jetzt schon seine eschatologische Reinigung erwirkt, eine Reinigung, die den Tempel der Prophetie zufolge zum Ort der wahren Anbetung Gottes werden lässt, zu dem die Völker wallfahren werden (Sach  14) 209. Das christologische Tempelwort bietet die Erläuterung dazu: Der Tempel, d. h. der Opferkult wird durch Tod und Auferstehung Jesu „außer Kraft gesetzt“ (καταλύω) 210 , „in drei Tagen“ aber als eschatologischer Ort der Anbetung Gottes wieder „errichtet“ werden. Die für die PEG neu geschaffene Ich-Form des Wortes erklärt sich durch den hergestellten Bezug auf das Christusgeschehen 211. Das Wort enthält zwar eine (litt. ‚retourner‘), exprime souvent dans la Bible grecque la destruction de villes“ (mit zahlreichen Belegen). 205 Die Reaktion erfolgt erst mit dem sog. Todesbeschluss. Mk   11,18 geht nach einhelliger Überzeugung auf mkn. Redaktion zurück; vgl. Becker, Jesus 407 Anm.  16. 206  Möglicherweise ist die Kontroversszene in Kenntnis dieser synoptischen Überlieferung in Analogie zu ihr gebildet worden. 207  Siehe oben Exkurs 3: Prophetische Zeichenhandlungen. 208  Das darf als Bestätigung der oben vorgeschlagenen Rekonstruktion des Tempelworts gelten: Die Rede von nur einem Tempel entspricht dem Deutewort Joh  2,16*, dem es gleichfalls um den einen Tempel und seine eschatologische Erneuerung geht. 209  Vgl. auch PsSal  17,30 f. vom messianischen davidischen König: „[…] er wird Jerusalem reinigen in Heiligkeit (καθαριεῖ Ιερουσαλημ ἐν ἁγιασμῷ), wie es auch von Anfang an war, sodass Heidenvölker kommen vom Ende der Erde, seine Herrlichkeit zu sehen, als Gaben bringend ihre erschöpften Söhne, und um zu sehen die Herrlichkeit des Herrn, mit welcher sie Gott verherrlicht hat“ (Septuaginta Deutsch 929). 210  Die Doppeldeutigkeit des καταλύω ist mitzuhören; siehe oben II.  3.6 zu Mk  14,58 unter (3). 211  Ein Blick in die frühjüdischen Texte zum endzeitlichen Tempel (siehe unten) bestätigen die

266

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

scharfe Opposition zum Opferkult, den es als eschatologisch überholt erklärt, lehnt mit seiner metaphorisierenden Rede den Tempel als Ort der Anbetung Gottes als solchen aber nicht ab212 . Auch das Deutewort Joh  2,16 lehnt ihn in dieser Funktion nicht ab. Im Unterschied zu ihm besitzt das Tempelwort einen beachtlichen semantischen Überschuss: Sein neugeschaffener Nachsatz: „ich werde ihn (sc. den ­Tempel) in drei Tagen aufbauen“, knüpft an die im Frühjudentum verbreitete Vorstellung vom eschatologischen Tempel an 213 und spitzt sie unter Anspielung auf Sach  6 ,12 f. messianisch zu: […] Siehe da, ein Mann, Spross ist sein Name; von dort, wo er steht, wird es sprossen und er wird den Tempel des Herrn bauen (καὶ οἰκοδομήσει τὸν οἶκον κυρίου). 13 Er ist es, der den Tempel des Herrn bauen wird. Er ist mit Hoheit bekleidet und wird auf seinem Thron sitzen und herrschen […]. 12

Salomo, Sohn Davids, war der Erbauer des Tempels. Der verheißene Davidide („Spross“) wird ihn neu errichten 214. Das christologische Tempelwort adaptiert die Vorstellung auf den in Tod und Auferweckung Jesu gründenden Gottesdienst der Ekklesia, die sich im Namen Jesu versammeln und Ort der Lobpreisung Gottes sein wird. Die Szene passt vorzüglich zur mutmaßlichen Tempeltheologie der Hellenisten. Zwar sahen sie wegen des Sühnetods Jesu (vgl. Röm  3,24) den Opferkult als überholt an. Aber den Tempel betrachteten sie nach wie vor als Wohnstatt Gottes und den privilegierten Ort seiner Anbetung. Sie nahmen nicht mehr am Opferkult, aber an den Gebetszeiten des Tempels teil (vgl. Apg  2,46; 3,1; 5,12). Er blieb ihr Lebensmittelpunkt, auch wenn sie sich zum Mahl in den Häusern trafen. Bereits das Exordium der PEG lässt ihren „Sitz im Leben“ durchscheinen 215. Annahme: „There are no texts that predict the appearance of a messianic figure who first destroys (or predicts the destruction of) the temple and then rebuilds it“; Tg  Jes 53,5 („he shall build the sanctuary“), „a post-70 C.E. tradition and, in any event, say nothing about the Messiah first destroying the temple“ (Evans, Action 250). 212  Anders klingt Mk  14,58 mit seiner Rede von zwei verschiedenen Heiligtümern, die nach 70 n.Chr. eine Distanz zu dem vom Tempel her sich definierenden Judentum durchscheinen lässt. 213 Vgl. Ådna, Tempel 44 f.104; Paesler, Tempelwort 156–165; vgl. auch Bill.   I 28;1004 f.; IV  884 f.925–933. – Tobit  14,4–7; Jub  1,27–29; 25,21; 1Hen  61,8; 90,28–29; 91,13 (dazu Barn  16,6); 4QFlor = 4Q174: 1,2–13; 0QNJ (= Neues Jerusalem) (Maier, Qumran-Essener I 38 f.); 11QT  29,7– 10; 4Esr  10,46–55; 2Bar  4,1–5,6; TestLev  5,1 f.; TestDan  5,9; TestBen  9,2 (christlich überarbeitet); vgl. Koch, Tempel 262–264; Lichtenberger, Mythos 100 f. – Petersen, Mutmaßungen 303: „Eine geprägte und feststehende Verbindung zwischen Tempelzerstörung und Neubau“ geben die jüdischen Parallelen nicht zu erkennen; „beide Motive treten zwar gelegentlich in denselben Schriften auf, aber auch dann eher nicht im selben Kontext oder gar in einem Einzelsatz in der Art von Mk  14,58“. Auch dies spricht für eine Neubildung von Mk  14,58. 214  Zu Sach  6 ,9–15 siehe Dohmen, SAT II 2183 f. (E. Zenger/T. Maierhofer). 215  Die Umbildung des theozentrischen in das christologische Tempelwort geht möglicherweise auf die Hellenisten zurück. Auch das Deutewort Joh  2,16 mit seiner Anspielung auf Sach  14,21 (Öffnung zur Völkerwelt) passt gut zu ihrer Theologie. Bedeutet dies, dass die PEG in Jerusalem entstand, noch bevor sie aus der Stadt vertrieben wurden? Oder das Tempelwort ist nur Nachhall ihrer Christologie, wobei offenbleibt, wann es im Kontext des Entstehungsprozesses der PEG gebildet wurde.

267

3. Die Tempelaktion Jesu (Mk  11,15–17 par.)

Exkurs 4: Die Bezeichnung der Gegner Jesu in den Passionserzählungen Nach den Passionserzählungen sind die Gegner Jesu „die hohen Priester“ (οἱ ἀρχιερεῖς), die „Schreiber“ oder „Schriftgelehrten“ (οἱ γραμματεῖς) und die „Ältesten“ (οἱ πρεσβύτεροι). An der Spitze dieser drei Gruppen, der Elite Jerusalems, steht „der Hohepriester“ (ἀρχιερεύς). Die Bezeichnungen sind relativ konstant: Markus

Matthäus

Lukas

Johannes

11,18

„die hohen Priester und die Schriftgelehrten“

21,15

„die hohen Priester und die Schriftgelehrten“

„die hohen Priester und die Schriftgelehrten“

„die Juden“

11,27

„die hohen Priester und Schriftgelehrten und Ältesten“

21,23

„die hohen Priester und die Ältesten des Volkes (τοῦ λαοῦ)“

20,1

14,1 „die hohen Priester und Schriftgelehrten“

26,3

„die hohen Priester und die Ältesten des Volkes (τοῦ λαοῦ) in der Residenz des Hohepriesters“

22,2

14,10

„die hohen Priester“

26,14

„die hohen Priester“

22,4

„eine Schar (ὄχλος)… von den hohen Priestern, Schriftgelehrten und Ältesten“

„eine große Schar … von den hohen Priestern und Ältesten des Volkes (τοῦ λαοῦ)“

22,47

14,43

26,47

19,47

„die hohen Priester und Schriftgelehrten mit den Ältesten“

„die hohen Priester und Schriftgelehrten“

„die hohen Priester und Kommandanten“ (στρατηγοί) „eine Schar“

„die hohen Priester, die Tempelhauptleute (στρατηγοὶ τοῦ ἱεροῦ) und die Ältesten“ 22,52

22,54 „der Hohepries- 26,57„der Hohepries„die Residenz ter“ – „alle hohen ter“ des Hohepriesters“ Priester und die Ältesten und die „die Schriftgelehrten Schriftgelehrten“ und die Ältesten“ 14,53

14,55

„die hohen Priester“, „der ganze Hohe Rat“

26,59 „die hohen Priester und der ganze Hohe Rat“

„die hohen Priester mit den Ältesten und Schriftgelehrten und der ganze Hohen Rat“

27,1 22,66 „alle hohen „der Ältestenrat Priester und Ältesten des Volkes des Volkes (τοῦ λαοῦ)“ (πρεσβυτήριον τοῦ λαοῦ), hohe Priester und Schriftgelehrte“

15,1

11,47/57 „die hohen Priester und Phari­ säer“ versammeln das Synedrion

„die Kohorte (σπεῖρα) [römische Soldaten] und Diener (ὑπηρέται) von den hohen Priestern und Pharisäern“ 18,3

268

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Markus

Matthäus

Lukas

„die hohen Priester“

„die hohen Priester und Ältesten“

23,2

15,3

27,12

Johannes

„sie“ (vgl. 22,66)

„die hohen Priester und die Scharen (ὄχλοι)“

23,4

23,10 „die hohen Priester und Schriftgelehrten“ 23,13 „die hohen Priester und die Obersten (ἄρχοντες) und das Volk (λαός)“

„die hohen Priester“ 15,10

15,11 „die hohen Priester“ – „die Menge“ (ὁ ὄχλος)

27,20 „die hohen Priester und die Ältesten“ – „die Mengen“ (οἱ ὄχλοι)

„die hohen Priester der Juden“ 19,21

„die hohen Priester mit den Schriftgelehrten“

15,31

27,41 [18,35 „dein Volk „die hohen Pries- 23,35„das Volk“ ter mit den Schriftge- (ὁ λαός) „die Führer“ (τὸ ἔθνος τὸ σόν) und lehrten und Ältesten“ (οἱ ἄρχοντες) die hohen Priester“] 27,62 (21,45) „die hohen Priester und die Pharisäer“ 28,11 f. „die hohen Priester“ – „(die hohen Priester) mit den Ältesten“

„Die hohen Priester“ (ἀρχιερεῖς)216 stehen in der Regel an erster Stelle217, zuweilen treten sie allein 218 oder als Repräsentanten des Gremiums auf219. Der diachronen Analyse der Pas­ sionserzählungen zufolge dürften die ἀρχιερεῖς ursprünglich sein, die übrigen Gruppen könnten hier oder dort hinzugewachsen sein, um die Beteiligung des ganzen Gremiums zu 216  Maier, Leidensgeschichte 280 f.: „Die Übersetzungen geben das meist mit ‚Hohepriester‘ wieder, was vermuten ließ, es handelte sich um ehemalige Hohepriester, was jedoch nicht zu­ treffen kann. Tatsächlich dürfte es sich […] um Priester handeln, die dank ihrer Abstammung am Jerusalemer Tempel die Schlüsselpositionen innehatten, also ‚hohe Priester‘ bzw. ‚Erzpriester‘, am ehesten aus jenen Familien, die in anderen Texten, v. a. aus Qumran, Sadokiden (benȇ Șadȏq) genannt werden“. 217  Nur in Mk  8 ,31 an zweiter Stelle, in Mt  26,57 fehlen sie. 218  Mk  14,10; 15,3.10.11. 219  Mk  14,55 par. Mt  26,59. Vgl. Apg 2,30.

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 269

unterstreichen 220 . Auch Josephus spricht des Öfteren von den „hohen Priestern“ allein als denjenigen, die in Jerusalem das Sagen haben.

Wenige redaktionellen Besonderheiten der gebotenen Listen seien notiert:

(1) Wenn der vierte Evangelist von den „hohen Priestern“ und ihren „Dienern“ (18,35; 19,6) spricht, alternierend dazu auch von „den Judäern“ bzw. „den Juden“ (οἱ Ἰουδαῖοι: 18,31.36.38; 19,7.12), scheint er beide Gruppen miteinander zu identifizieren. Wenige Jahrzehnte nach der Tempelzerstörung verschmilzt er den eigenen Horizont mit dem der Pas­ sionsgeschichte: Er projiziert die ihm vertrauten Verantwortlichen der zeitgenössischen ­Synagoge – „Pharisäer“ und „Archonten“ (vgl. 3,1; 7,45.47 f.; 12,42) – in die damaligen Verantwortlichen für den Tempelstaat und spricht distanziert von ihnen als den Ἰουδαῖοι. Der Terminus bezeichnet nicht pauschal „die Juden“221. (2) Wenn Matthäus und Johannes Pharisäer den damals im Verfahren gegen Jesus Verantwortlichen hinzurechnen (Mt  27,62; Joh  11,46 f.57; 18,3), entspricht dies der Situation nach 70, da jetzt nach und nach „die sogenannten Pharisäer die Führungsrolle im Rahmen einer neu aufkeimenden jüdischen Selbstverwaltung“ übernahmen 222 . Die PEG nennt sie nicht, auch nicht die anderen alten Fassungen der PE (einschließlich Mk und Lk). Im Verfahren gegen Jesus werden sie keine Rolle gespielt haben. (3) Von den „Schriftgelehrten“ (γραμματεῖς)223, zu denen auch Pharisäer gehörten, spricht Markus des Öfteren, Matthäus übergeht sie mitunter 224, Johannes, der die Pharisäer als „Schriftgelehrte“ zu behandeln scheint, kennt sie nicht (8,3 ist sekundär). (4) Lukas bedient sich teils einer auch sonst in Gemeinwesen gebräuchlichen Terminologie, wenn er vom „Ältestenrat des Volkes“ oder „Archonten“ = Oberen spricht. (5) So gewiss der Rat Jerusalems ganz Judäa repräsentiert, durch die mehrfache Hinzu­ fügung von „Volk“ (Lk  22,66; 23,13.35; Joh  18,35) – bei Matthäus als Zusatz zu den „Ältesten“ (Mt  21,23; 26,3.47; 27,1)225 – bekommt die Terminologie einen generalisierenden Zug. Ähn­liches gilt für den Umgang mit der Terminologie in der Pilatus-Szene226 .

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas (Mk  14,1–11 par.) Die Szenenfolge enthält drei Episoden: den Komplott des Hohen Rats in Jerusalem gegen Jesus, seine Salbung durch eine Frau in Betanien und das Angebot des Judas an den Hohen Rat, Jesus „auszuliefern“. Die Geschichte in der Mitte wird von den 220 

Grundsätzlich zutreffend Dormeyer, Passion 69–71. Theobald, Joh I 66–70, sowie unten II.  9.5 unter (1). 222  Maier, Leidensgeschichte 282. 223  Ebd.: „Juristen, offensichtlich spezialisierte ‚Schreiber‘ im Dienst des Kultapparates. Nicht aber in erster Linie Exegeten, wie die in den Übersetzungen dominierende Wiedergabe mit ‚Schriftgelehrte‘ suggeriert“; ebd. Anm.  4 reiche Lit. zur Berufsgruppe von „Schreibern“ in antiken Kulturen; außerdem Saldarini, Pharisees 241–276 („The Social Roles of Scribes in Jewish Society“). 224  E. Lohse, Art. συνέδεριον 862 Anm.  27: „Da der Begriff des Schriftgelehrten in die Kirche des Mt Eingang gefunden hat (Mt  13,52; 23,34), tritt er als Bezeichnung jüd. Autoritäten zurück“. 225  Maier, Leidensgeschichte 284: „Die Ältesten werden […] von alters her auch als ‚Älteste des Volkes‘ bezeichnet und waren auf allen administrativen Ebenen vertreten, im nahöstlichen wie im griechischen Raum. Von daher geriet der Ausdruck laós im Sinne von ‚Volk‘ hier mit in die Kontexte des Geschehens am Heiligtum zu Jerusalem“. 226  Siehe unten Exkurs 8: Von den „hohen Priestern“ bzw. vom „Haufen“ zum „ganzen Volk“ etc. 221 Vgl.

270

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

beiden das Synedrion betreffenden Episoden gerahmt. Diese Abfolge findet sich allerdings nur bei Markus und Matthäus. Lukas übergeht die Geschichte von der Salbung, weil er eine Variante von ihr bereits in 7,36–50 geboten hat, und Johannes bringt sie unmittelbar nach seiner Doppelepisode von der Beschlussfassung der hohen Priester und der Reaktion des Judas (Joh 12,1–8). Daraus ist zu schließen, dass er sie (wie Markus) in seiner Passionserzählung vorgefunden hat. Schon der Archetyp der PE wird sie dort geboten haben, wo sie jetzt beim ältesten Evangelisten steht. Es wird zu fragen sein, ob die formale Verklammerung der Salbungsgeschichte mit der Rahmenhandlung eine inhaltliche Entsprechung besitzt. 4.1 Die Varianten der Rahmenhandlung und ihre Quellen Die Synopse visualisiert drei Überlieferungskomplexe: (1) die Episode vom sog. „Todesbeschluss“ des Synedrions (= A), (2) die vom Pakt des Judas mit den Autoritäten (= B1), die bei Lukas unmittelbar anschließt (bei Markus steht die Salbungs­ erzählung dazwischen), und schließlich (3) die kleine Erzählung von der nach Jesus im Tempel suchenden Volksmenge, die in der „steckbrieflichen“ Suche Jesu durch die Autoritäten gipfelt. Das dritte Element – eine Alternative zu B1 (deshalb mit B2 gekennzeichnet) – bietet nur Johannes, und zwar nach der Episode vom sog. „Todesbeschluss“ (11,47–53). Lediglich das Itinerar V.54 steht dazwischen. Mk 14,1 f./10 f.

Mt 26,1–5/14–16

Α.

Und es geschah, als Jesus alle diese Worte vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern:

Lk 22,1–6

Joh 11,47–53.55–57 (13,27)

Es nahte aber (ἤγγιζεν δέ)

(siehe unten V.55a)

1

Ihr wisst, dass nach zwei Tagen 2

Es war aber nach zwei Tagen

1

1

das Fest der Ungesäuerten, das Pascha

Pascha ist,

und die Ungesäuerten [Brote]. und der Menschensohn ausgeliefert wird, um gekreuzigt zu werden.

das sogenannte Pascha.

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 271

Mk 14,1 f./10 f.

Mt 26,1–5/14–16

Lk 22,1–6

Joh 11,47–53.55–57 (13,27)

Und die hohen Priester und die Schrift­ gelehrten

47

Da versammelten sich (συνήχθησαν) 3

Und die hohen ­Priester und die Schrift­ gelehrten

die hohen Priester und Ältesten des Volkes

2

Die hohen Priester und die Pharisäer

im Hof des Hohepriesters, der Kajaphas heißt [vgl. Mt 26,3a]

suchten (ἐζήτουν),

und beschlossen (συνεβουλεύσαντο)

führten also (συνήγαγον) eine Versammlung (συνέδριον) 227 herbei (…). suchten (ἐζήτουν),

4

wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten.

dass sie Jesus mit List ergriffen und töteten.

2

Sie sagten nämlich (γάρ):

5

Nicht am Fest, damit es keinen Aufruhr im Volk (τοῦ λαοῦ) gibt.

Nicht am Fest, damit es keinen Aufruhr im Volk (ἐν τῷ λαῷ) gibt.

Von jenem Tag an waren sie nun entschlossen (ἐβουλεύσαντο), 53

dass wie sie ihn aus dem Weg räumen sie ihn töteten. könnten (ἀνέλωσιν);

Sie sagten aber (δέ):

[47und sagten: „Was sollen wir tun? (…)“ (V.47b–48)]

sie fürchteten nämlich das Volk (τὸν λαόν). [V.54] B2

[vgl. Lk 22,1a]

Es war aber nahe (ἦν δὲ ἐγγύς) das Pascha der Juden 55a

und viele zogen vom Land hinauf nach Jerusalem vor dem Pascha, um sich zu reinigen.

55b

227  Goodblatt, Principle 120: „The lack of a definite article here makes it probable that we should translate the Greek word simply as ‚meeting‘, not as a proper noun denoting the Judean national council“.

272

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mk 14,1 f./10 f.

Mt 26,1–5/14–16

Lk 22,1–6

Joh 11,47–53.55–57 (13,27) Da suchten sie (ἐζήτουν) Jesus und sagten zueinander, als sie im Heiligtum standen: 56

Was meint ihr? Wird er etwa nicht zum Fest kommen? Die hohen Priester und die Pharisäer hatten aber Anordnungen erlassen, dass jemand, wenn er erführe, wo er sei, es anzeige, damit sie ihn festnehmen könnten (πιάσωσιν).

57

[Salbung in Betanien: V.3–9]

[Salbung in Betanien: V.6–13]

Β1 Und Judas

[Salbung in Betanien: 12,1–8]

10

Es fuhr aber Satan in Judas (εἰσῆλθεν δὲ σατανᾶς εἰς Ιούδαν), 3

Iskarioth, der eine (ὁ εἷς τῶν δώδεκα) von den Zwölfen,

der Iskariot genannt wurde, 14 Da ging einer (εἷς) der Zwölf,

einen aus der Zahl der Zwölf;

der Judas Iskariot heißt, ging zu den hohen Priestern,

zu den hohen Priestern 15 und sprach: Was wollt ihr mir geben,

um ihn ihnen auszuliefern.

und er ging hin und besprach sich mit den hohen Priestern und Hauptleuten,

4

dass ich ihn euch ausliefere?

wie er ihn ihnen ausliefern könnte.

13,27: Und nach dem Bissen, da fuhr der Satan in ihn (τότε εἰσῆλθεν εἰς ἐκεῖνον ὁ σατανᾶς). [13,2.26]

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 273

Mk 14,1 f./10 f.

Mt 26,1–5/14–16

Als sie das hörten, freuten sie sich und versprachen, Sie setzten ihm drei­ihm Geld zu geben. ßig Silberlinge aus.

Lk 22,1–6

Joh 11,47–53.55–57 (13,27)

11

5 Da freuten sie sich und vereinbarten, ihm Geld zu geben.

Und er sagte zu und suchte (ἐζήτει) eine Gelegenheit (εὐκαιρίαν), ihn abseits des Volks (ἄτερ ὄχλου) dass er ihn überliefere. zu überliefern. 6

Und er suchte (ἐζήτει), wie er ihn bei Gelegenheit (εὐκαίρως) überliefern könnte.

Und von da an suchte er (ἐζήτει) eine Gelegenheit (εὐκαιρίαν),

16

(1) Episode A, von den drei Synoptikern und Johannes überliefert (Mk 14,1 f. par. Mt 26,1–5; Lk  22,1 f.; Joh  11,47–53), datiert Markus: „nach zwei Tagen“. Matthäus folgt, legt die Zeitangabe aber Jesus in den Mund und nimmt sie zum Anlass, eine Übergangsepisode zu bilden mit einem Jesus-Wort, das wie eine Überschrift über der nachfolgenden Passionserzählung insgesamt steht: Und es geschah, als Jesus alle diese Worte vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern:    Ihr wisst,    dass nach zwei Tagen Pascha ist     und der Menschensohn ausgeliefert wird,     um gekreuzigt zu werden (Mt 26,1 f.).

Im Unterschied zu Markus und Matthäus bleibt Lukas bei der Datierung des Geschehens vage: „Es nahte aber das Fest der Ungesäuerten, das sogenannte Pascha“ (Lk 22,1) 228 . Ebenso Johannes, der zu Beginn der anschließenden Episode B2 eine vergleichbare Zeitangabe macht (Joh 12,55a: „Es war aber nahe [ἦν δὲ ἐγγύς] das Pascha der Juden“). Das erzählte Geschehen besitzt unterschiedliche Qualität in den vier Versionen. Markus und Lukas sprechen von einem „Suchen“ (ζητέω) der Akteure, also einer „andauernden Bemühung“229, ohne direkt zu sagen, worin es sich äußert. Bei ­Markus lassen einzelne Momente an eine Beratung des höchsten Gremiums denken: die Datierung auf einen bestimmten Tag, die direkte Rede der Akteure sowie die Angabe, worum es in ihrem „Suchen“ geht. Lukas formuliert offener: Weder legt er das Geschehen zeitlich fest, noch lässt er die Akteure reden. Dafür nennt er ein Motiv ihres tödlichen Plans: „sie fürchteten nämlich das Volk“230 . Liegt ihm 228  Die Formulierung entspricht dem, wie Josephus vom Fest zu seiner römischen Leserschaft spricht: „das Fest der Ungesäuerten (τῆς τῶν ἀζυμῶν … ἑορτῆς) stand gerade unmittelbar bevor, das bei den Juden Pascha genannt wird (ἥ πάσχα παρὰ Ἰουδαίοις καλεῖται)“ (Bell  2,10). 229  Pesch, Mk  II 320, zum Imperfekt ἐζήτουν (Mk und Lk). 230  Anlass zu dieser Bemerkung war wohl die von Lk getilgte Rede der Autoritäten: „… damit es keinen Aufruhr des Volkes (τοῦ λαοῦ) gibt“ (Mk  14,2).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

daran, dass Volk und Autoritäten in ihrer Haltung zu Jesus gespalten sind, diese Jesus umbringen wollen, weil sie im Volk eine Bewegung befürchten, die sich nicht mehr kontrollieren lässt 231? Matthäus und Johannes sprechen ausdrücklich von einer Sitzung der Autoritäten. Sie „versammelten sich“ (συνήχθησαν) (Mt  26,3) 232 – nach Matthäus „im Palast (αὐλή) des Hohepriesters Kajaphas“ – bzw. „beriefen eine Versammlung ein“ (συνήγαγον συνέδριον). Johannes erzählt sogar von deren Verlauf, der Beratung („was sollen wir tun? […]“) und der Rede des Kajaphas, die zur Entscheidung führt: „von jenem Tag an waren sie entschlossen (ἐβουλεύσαντο233), ihn zu töten“ (Joh  11,53). Ähnlich Mt  26,4: Sie „beschlossen gemeinsam (συν-εβουλεύσαντο) 234, Jesus mit List zu ergreifen und zu töten“. Während Johannes eher an eine seitdem feststehende Absicht der Autoritäten (ohne förmlichen Beschluss235) denkt, spricht Matthäus von einer offiziellen Beschlussfassung als Resultat der Beratung236 . Markus stellt das Geschehen in biblischer Farbgebung dar: Jesu Gegner, die dem Gerechten „nach dem Leben trachten“, rotten sich zusammen, um ihn „mit List zu fangen“237. Matthäus führt das weiter, wenn er den von Markus nahegelegten Gedanken, dass es sich um eine offizielle Zusammenkunft der Autoritäten handelt, narrativ ausführt. Johannes erzählt von einer Sitzung, die ergebnisoffen zu beginnen scheint, durch Kajaphas aber in eine eindeutige Richtung gelenkt wird. Auf dieses Weise bekommt das vom Psalter her geprägte Erzählen „historisches“ Profil. Die Bezeichnung der Akteure variiert leicht: „die hohen Priester und die Schriftgelehrten“ (Mk, Lk) bzw. „die hohen Priester und die Ältesten des Volkes“ (Mt) 238 . Nur Johannes weicht davon ab, wenn er an zweiter Stelle die „Pharisäer“ nennt (11,47.57) 239, die in den kanonischen Passionserzählungen sonst keine Rolle spielen. „Selbst im Matthäusevangelium, wo die Pharisäer meist als Hauptgegner Jesu auf231 Zur Erzählfigur des „Volkes“ in der lkn. Passionserzählung siehe unten II.   10.3 und IV.  1.2.3. 232  Vgl. Mt  13,2; 22,34; 25,32; 26,57; 28,12. 233  βουλεύεσθαι heißt (wie das Kompositum bei Matthäus) entweder „mit sich zu Rate gehen, überlegen“ oder „einen Beschluss fassen“ (W. Bauer, Wörterbuch 290). 234  συμβουλεύεσθαι (außer Mt   26,4 im NT nur noch Joh  18,14; Apg  9,23 [dort ebenfalls mit nachfolgendem ἵνα-Satz] und Apk  3,18) ist wie das Simplex mehrdeutig: Luther: „und (sie) hielten Rat“, EÜ: „und (sie) beschlossen“: W. Bauer, Wörterbuch 1552, unter 2. Med.: „gemeinsam beschließen, übereinkommen“ oder „mit sich zu Rate gehen, überlegen“. Der Beschluss ist das Ergebnis des gemeinsamen Mit-sich-zu-Rate-Gehen; nach Liddel-Scott, Lexicon 1677, ist die Hauptbedeutung: to consult, to deliberate, auch to agree ist möglich. Zumeist wird mit „beschließen“ übersetzt: J. Gnilka, Mt II 382; Wiefel, Mt  4 41; Konradt, Mt 397 („sie beschlossen gemeinsam“). Luz, Mt  I V 53, entschließt sich für die Übersetzung mit „sich beraten“, weil dies die Hauptbedeutung des Verbs sei; die Alternative sei „nicht ganz ausgeschlossen“. 235  Wengst, Joh  II 42; vgl. Theobald, Joh  I 757. Die Notiz zur „steckbrieflichen“ Suche Jesu durch den Hohen Rat 11,57 scheint allerdings einen entsprechenden Beschluss des Gremiums vorauszusetzen. 236  Vgl. Mt  12,14; 22,15; 27,1.7; 28,12, wo Matthäus ein συμβούλιον λαμβάνω = consilium capere (Latinismus) = einen Beschluss fassen benutzt. 237  Vgl. I.  1.2.1.1 unter 3: Geprägte Motive. 238  Vgl. Mt  21,23; 26,47; 27,1. 239  In der joh. Passionserzählung nur noch Joh 18,3.

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treten, kommen sie in der Passionsgeschichte nur ganz am Rande vor (Mt  27,62; vgl. 21,45)“240 . Episode B1, die von der Reaktion des Judas auf den Tötungsplan der Autoritäten und seine Abmachung mit ihnen erzählt, ist wie ein Echo auf die erste Episode: Der Plan der Autoritäten trägt Früchte. Während Matthäus mittels direkter Rede des Judas die Episode dramatisiert und mit der Reaktion der hohen Priester eine sublime Anspielung auf Sach  11,12LXX einbringt241, lässt Lukas Judas nicht aus eigener Initiative zu den Priestern gehen (wie bei Mk und Lk), sondern weil „Satan“ von ihm Besitz ergreift (Lk  22,3). Eine fast wortgleiche Notiz findet sich bei Johannes, allerdings erst in der Szene von der Identifizierung des Judas als Verräter (Joh  13,27). Episode B 2, die ohne Parallele bei den Synoptikern ist, erzählt von der Ankunft vieler Menschen vom Land in Jerusalem „vor dem Paschafest“, um sich kultisch zu reinigen. Wenn sie anschließend im Tempelbezirk nach Jesus suchen, erinnert das an entsprechende Episoden in Joh  7242 . Ihre Neugierde, ob Jesus zum Fest kommt, wird mit Hinweis auf die „steckbriefliche“ Suche Jesu durch „die hohen Priester und Pharisäer“ im abschließenden V.57 motiviert. Erst in 13,27.30 und 18,2 f.(5) wird der Evangelist erzählen, dass Judas, der um Jesu Aufenthaltsort weiß, deren tödlicher Initiative dienen wird. (2) Matthäus und Johannes berühren sich, wie dargestellt, gegen Markus und Lukas in der Benutzung der Verben συνάγω (in je verschiedener Konstruktion) und βουλεύεσθαι (bei Matthäus ein Kompositum mit der Präposition σύν). Daraus lässt sich dennoch nicht auf eine überlieferungsgeschichtliche Verbindung zwischen ihnen schließen. Dass die Feinde „beratschlagen“ (βουλεύεσθαι), ist Motiv der passio iusti-Tradition (vgl. Ps  71,10 f.). Die Verben dienen dazu, der Episode den Anstrich einer offiziellen Versammlung zu geben. Damit kommt bei beiden Evangelisten eine Tendenz zum Zug, die in der vorgegebenen Überlieferung angelegt ist (siehe oben). Gleiches gilt für die Erwähnung des Kajaphas, bei Matthäus im Kontext seiner Ortsangabe (vgl. auch Mt 26,57), bei Johannes als eigenständige Erzählfigur (Joh 11,49), die er sonst mit Hannas zusammen (Joh  18,13 f.24.28; vgl. Lk  3,2; Apg  4,6) als Gespann erwähnt. Beide verfügen über den ältesten Evangelisten hinaus über zeitgeschichtliches Wissen, das sie unabhängig voneinander einsetzen 243. 240 

Reinbold, Prozess 54. „sie aber zahlten ihm 30 Silberstücke aus“. Konradt, Mt 402: „[…] auch ein Bezug auf Ex  21,32 (ist) mitzuhören, wo dreißig Silberstücke als Schadensersatzleistung für den Besitzer eines – durch ein Rind ums Leben gekommenen – Sklaven genannt werden. Matthäus verweist damit in subtiler Weise auf die Geringschätzung Jesu bei den Hohepriestern, die in schroffem Kontrast zu der Wertschätzung steht, die Jesus durch die Salbung mit kostbarem Öl in V.7 zuteil wurde“. 242  Auch dort ist Jesus zunächst nicht in Jerusalem, „die Juden suchen (ἐζήτουν) ihn“ (7,11; vgl. 11,56) und im Volk gibt es „ein (heimliches) Geraune (γογγυσμός) über ihn“ (7,12; vgl. 11,56), weil die Autoritäten längst darauf aus sind, „ihn zu töten“ (7,25; vgl. 11,57). Bedienen sich diese in Kap.  7 „der Gerichtsdiener“, um ihn festzunehmen (7,32), so suchen sie ihn jetzt „steckbrieflich“ (11,57). Wie in Kap.  7 entsteht auch in 11,55–57 der Eindruck: Jesus ist und bleibt Herr des Geschehens. 243 Anders Thyen, Joh 541: Joh benutze Mt. – Dahl, Passionsgeschichte 209 f.220 f., zählt die 241  Mt  26,15c:

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(3) Im Unterschied zu den beiden lexikalischen Berührungen zwischen Matthäus und Johannes stützt die erwähnte Übereinstimmung des dritten und vierten Evangelisten in den beiden markanten Sätzen – der Zeitangabe Lk  22,1 par. Joh  11,55 und der Notiz vom Satan, der in Judas eingeht – die Hypothese einer Lukas und Johannes gemeinsamen Überlieferung (= PElkn/joh) 244. Ihre unterschiedliche Platzierung in beiden Evangelien könnte zwar gegen diese Annahme sprechen, aber strukturelle und theologische Gründe aufseiten des Johannes erweisen sie als plausibel. Wenn Lukas die Doppelepisode nicht mit der mkn. Zeitangabe der „zwei Tage“, sondern eher vage mit dem Hinweis auf die Nähe des Festes beginnt, das er mit Markus zugleich „das Fest der Ungesäuerten“ nennt, folgt er der PElkn/joh. Der vierte Evangelist bietet die gleiche Zeitangabe245 , aber erst eingangs von B2, was mit seiner Neustrukturierung der Handlungsabläufe zusammenhängt: Während er Episode A an die in Kap.  11 erzählte Lazarus-Erweckung unmittelbar anbindet – sie ist der Grund für den Todesbeschluss des Hohen Rats –, dient ihm Episode B2 als Eröffnung eines neuen Makroteils: der Erzählung von den letzten Begegnungen Jesu mit dem Volk in Jerusalem (11,55–12,36) 246 . Dazu passt die Neupositionierung der Zeitangabe, die jetzt nicht mehr (wie in der vorlkn./vorjoh. Passionserzählung) Episode A eröffnet, sondern B2. Die satanologische Notiz Lk  22,3: εἰσῆλθεν δὲ σατανᾶς εἰς Ιούδαν247, mit der sich der dritte Evangelist ein weiteres Mal seiner vorgegebenen Passionserzählung anschließt, belegt ihre theologische Weiterentwicklung: Judas geht nicht mehr aus ­eigener Initiative zu den „hohen Priestern“ (wie noch Mk  14,10), sondern weil „Satan“ von ihm Besitz ergriffen hat. Auch der vierte Evangelist bedient sich dieser Notiz fast wortgleich: τότε εἰσῆλθεν εἰς ἐκεῖνον ὁ σατανᾶς (Joh  13,27) 248 . Dies zeigt, dass Lukas die Episode vom Pakt des Judas mit dem Hohen Rat (= B1) der ihm vorgegebenen Passionserzählung, aus der die Notiz stammt, gekannt haben muss. B1 ersetzt er durch die von ihm neu gebildete Alternative B2. Für diese literarische Operation gibt es plausible Gründe. Wenn Johannes in der von ihm als Eröffnung seines neuen Buchteils 11,55–12,36 selbst gestalteten Episode249 im Unterschied zu B1 Judas nicht erwähnt, sie aber wenigen Berührungen zwischen Joh und Mt auf, die nirgends für Abhängigkeit sprächen, wohl ein „Ineinander von schriftlicher und mündlicher Überlieferung“ (210) bezeugten. 244  Klein, Frage 73. 245  Lediglich um den Genitiv τῶν Ἰουδαίων ergänzt. 246  Theobald, Joh I 761 f. 247  Im lkn. Doppelwerk begegnen sowohl σατανᾶς (Lk 10,18; 11,18; 13,16; 22,3.31; Apg 5,3; 26,18) als auch διάβολος (Lk 4,2.3.6.13; 8,12; Apg 10,38; 13,10). 248  Joh benutzt das griechisch transkribierte σατανᾶς nur hier, sonst bevorzugt er das genuin griechische διάβολος: dreimal im Evangelium (6,70; 8,44; 13,2), viermal in 1Joh (3,8: 3mal; 3,10). – Das dämonologische εἰσέρχεσθαι (vgl. Mt 12,29.45; Mk 3,27; 5,12.13; Lk 8,30.32.3311,26) begegnet im vierten Evangelium nur in 13,27, was nicht überrascht, weil Joh grundsätzlich nicht von Jesu Exorzismen spricht; der „endgültige[…] Exorzismus“ des Satans findet am Kreuz statt (Berger, Anfang 171). 249  Auf joh. Gestaltung verweist insbesondere die oben schon vermerkte Gleichartigkeit der Episode mit Joh 7, aber auch das Reinheitsthema, das immer wieder in Joh anklingt: 3,25; 13,10; 18,28.

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 277

narrativ nach vorne öffnet – der Leser ist gespannt, welche Folgen die „steckbrief­ liche“ Suche Jesu haben wird –, bereitet er indirekt die späteren Judas-Erwähnungen vor. Maßgebend für die Versetzung der ihm aus der Episode vom Pakt des Hohen Rats mit Judas bekannten satanologischen Notiz in die Szene der Identifizierung des Verräters durch Jesus (13,27) ist seine christologische Sicht: Jesus ist es, der initiativ wird – er reicht Judas den in die Schüssel eingetauchten Bissen und erlaubt Satan, von Judas Besitz zu ergreifen, und unterstreicht dies noch durch sein Wort an Judas: „was du tun willst, tue bald!“ (ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον) 250 . Sowohl der dritte als auch der vierte Evangelist haben die ihnen in ihrer Passionserzählung vorgegebene satanologische Notiz zum Anlass genommen, eine je eigenständige Konzeption vom Wirken Satans zu entwickeln: Lukas stellt die Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu zwischen seiner Versuchung durch Satan, der nach seinem dritten Versuch „bis zur bestimmten Zeit (ἄχρι καιροῦ) von ihm ablässt“ (Lk  4,13), und der Inbesitznahme des Judas durch Satan (Lk  22,3) als eine von teuflischen Angriffen freie Zeit dar251. Der vierte Evangelist spitzt seine Satanologie christologisch zu: Jesus gibt seinem Widersacher nicht nur den Freiraum, sich Judas als seiner Marionette zu bedienen (Joh  13,26 f.) 252; er besiegt Satan auch dort, wo dieser, so paradox es klingt, über ihn zu triumphieren scheint, im Tod: „Jetzt wird der Herrscher dieser Welt herausgeworfen werden; und wenn ich erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen“ (Joh  12,31 f.) 253. Beide Konzeptionen sind unabhängig von­ einander entwickelt, aber durch die ihnen gemeinsame Passionsüberlieferung veranlasst worden. 4.2 Die Gegner des Gerechten rotten sich zusammen. Die markinische und vormarkinische Gestalt der Rahmenhandlung Die Doppelepisode Mk 14,1 f./10 f. ist zuerst synchron (1), dann diachron zu analysieren (2): a Es war aber nach zwei Tagen (μετὰ δύο ἡμέρας) das Pascha und die Ungesäuerten [Brote]. b Und die hohen Priester und die Schriftgelehrten suchten (ἐζήτουν), c wie (πῶς) sie ihn (αὐτόν) mit List ergreifen (κρατήσαντες) d und töten könnten (ἀποκτείνωσιν). a Sie sagten nämlich (γάρ): b   Nicht am Fest, c   damit es keinen Aufruhr im Volk (θόρυβος τοῦ λαοῦ) gibt.

1 2 250 

Theobald, Widersacher 180 f. „Am Ende des Zusammenstoßes in der Wüste hatte Satan aufgeben müssen (4,1–13). Doch hat er auf seine Pläne nicht verzichtet. Hier [sc. in 22,3] greift er auf Umwegen wieder an. Im Gegensatz zu der Ansicht von H. Conzelmann, der von einer ‚satansfreien Zeit‘ spricht, ist der Satan während Jesu ganzer öffentlicher Tätigkeit wachsam geblieben (vgl. 22,28)“ (Bovon, Lk IV 215). 252  Laut Kap.  8 bedient sich „der Teufel“ auch „der Juden“, die ihn „töten“ wollen, weshalb sie Jesus „Teufelskinder“ nennt (vgl. 8,44); 8,44 ist keine Entgleisung, sondern zentraler Baustein der joh. Theologie des Todes Jesu: Theobald, Joh I 607–610; vgl. auch Klauck, Judas 141. 253 Vgl. Theobald, Widersacher 189–191. 251 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

10 a Und Judas Iskarioth, der eine von den Zwölf (ὁ εἷς τῶν δώδεκα), ging zu den hohen Priestern, b um ihn (αὐτόν) ihnen zu auszuliefern (παραδοῖ). 11 a Als sie das hörten, b freuten sie sich c und versprachen, d ihm Geld zu geben. e Und er suchte (ἐζήτει), d wie (πῶς) er ihn bei Gelegenheit ausliefern könnte (παραδοῖ).

(1) Die erste Sequenz ist temporal gerahmt: Sie beginnt mit einer Zeitangabe (V.1a) und endet mit einem indirekten Verweis der „hohen Priester und Schriftgelehrten“ auf die Nähe des „Festes“ (V.2b.c). Beides entspricht sich. Die Wendung „nach zwei Tagen …“ meint: „am folgenden Tag (am zweiten von heute gerechnet)“254. Vorausgesetzt ist das römisch-griechische Zeitmaß, welches den Tag in der Frühe (πρωΐ) beginnen lässt 255 , nicht das jüdische, das vom Abend an rechnet 256 . V.1 nennt noch neben dem Pascha-Fest das der Ungesäuerten Brote, das mit Pascha beginnt, aber sieben Tage lang dauert. Ursprünglich ein Frühjahrsfest der Ackerbaukultur zu Beginn der Gerstenernte und vom nomadischen Pascha-Fest unterschieden, wurde das Fest der Ungesäuerten Brote im Alten Testament mit dem Pascha-Fest kombiniert (Lev  23,5/6–8) und im Frühjudentum mit ihm (15. Nisan) in eins gesetzt, obwohl es vom 15. bis 21. Nisan begangen wurde. Die Doppelbezeichnung τὸ πάσχα καὶ τὰ ἄζυμα Mk  14,1a ist nicht ungewöhnlich und in Variationen vielfach belegt, vor allem bei Josephus257.

Warum hier das Fest „der Ungesäuerten“ hinzugefügt ist, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Entspricht dies nur einer Konvention jüdischer Festbezeichnung oder verbindet sich damit ein eigener inhaltlicher Akzent? In V.12 nennt Markus (im Unterschied zu V.1) das Fest zuerst und lässt eine Bemerkung zum Schlachten der Paschalämmer folgen. Es scheint ihm von vorrangiger Bedeutung zu sein 258 . „Die Leser des Markusevangeliums sollen das letzte Mahl Jesu semantisch mit dem Fest ‚der Ungesäuerten‘ in Verbindung bringen“259. Dennis E. Smith verweist auf 254 

Pesch, Mk II 342. So auch Mk  14,12, wo die Datierung von V.1 aufgegriffen und weitergeführt wird. 256  Andernfalls müsste es heißen: „nach drei Tagen“, vom Geschehen Mk  14,1 f. aus betrachtet am Abend darauf (Mk  14,17), dem Beginn des dritten Tags (den ersten von Mk  14,1 f. eingerechnet). 257  2Chr  35,17: „Sieben Tage lang begingen damals die Israeliten […] das Pascha und das Fest der Ungesäuerten Brote (τὸ φασεκ … καὶ τὴν ἑορτὴν τῶν ἀζύμων ἑπτὰ ἡμέρας)“; ähnlich 1Esr  1,17 (τὸ πάσχα καὶ τὴν ἑορτὴν τῶν ἀζύμων ἡμέρας ἑπτά); Jub  49,22; Jos, Bell  2,10 („das Fest der ungesäuerten Brote …, das bei den Juden Pascha genannt wird“ [τῆς τῶν ἀζύμων … ἑορτῆς, ἣ πάσχα παρὰ Ἰουδαίους καλεῖται]); Jos, Ant  3,249.248 f. (detailliert); 9,271; 10,70; 11,109 f.; 14,21; 17,213; 18,29; 20,106; vgl. auch Philo, SpecLeg  1,181 f.; 2,41.150. 258  Zuweilen auch bei Josephus (siehe die vorige Anm.), wenn er seinen römischen Lesern zuerst den unmittelbar verständlichen Ausdruck nennt (Verzehr von ungesäuertem Brot als Fest­ ritus), dann den jüdischen Terminus, der nur Eingeweihten verständlich ist: Colautti, Passover 144–152; Ebner, Etablierung 20 f. 259  Ebner, Etablierung 21; gegenüber der Nachordnung des Terminus in V.1 wird in V.12 255 

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8,15, wo der Evangelist den Gegenbegriff „Sauerteig“ pointiert am Ende eines längeren Buchabschnitts mit Mahltexten einsetzt 260 – in Erinnerung an die Speisungen des Volks durch Jesus (8,16–21) wie in Opposition zur pharisäischen Mahlpraxis mit ihrer abgrenzenden Reinheitstora (7,3 f.) und der tödlichen herodianischen Tafelrunde (6,21): „Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes!“ (8,15). Hier ist Sauerteig eine negativ besetzte Metapher (Gärung und Fäulnis) und steht für das Wachstum des gegnerischen Einflusses261. Das semantische Netzwerk, das der Evangelist Martin Ebner zufolge über weite Teile seines Buches legt, könnte dafür sprechen, dass er Jesu Abschiedsmahl auf das Fest „der Ungesäuerten“ (14,1.12) datiert, um es von allen Gegenbildern, die er zuvor im Buch geboten hat, gezielt abzuheben. In ihrer Substanz sind V.1 f. als narrative Umsetzung dessen zu lesen, was der Beter des Psalters aus seiner Ich-Perspektive heraus so artikuliert: Denn meine Feinde haben gegen mich geredet, die auf mich lauern, haben sich gemeinsam beraten (ἐβουλεύσαντο ἐπὶ τὸ αὐτό). Sie sagen:    Gott hat ihn verlassen.    Verfolgt und ergreift ihn (καταλάβετε αὐτόν)!    Für ihn gibt es keinen Retter (Ps  71,10 f.).

Wie im Psalter262 äußern sich auch die Gegner Jesu in 14,2 direkt. Den Beter ver­ folgen seine Feinde wegen seiner Frömmigkeit, 14,1 nennt zwar keinen Grund für die Tötungsabsicht der Autoritäten 263, setzt ihn im Kontext der Passionserzählung aber voraus: Jesu Auftritt im Tempel 264. Auch sonst binden 14,1 f. das aus dem ­Psalter übernommene Erzählmuster kontextuell ein. Die beiden Aktionen V.1c.d κρατέω und ἀποκτείνω weisen auf Jesu Gefangennahme (κρατέω: 14,44.46.49 f.) und seine „Auslieferung“ an Pilatus voraus, die seine „Tötung“ anzielt, ebenso die ­direkte Rede: „Nur ja nicht am Fest, damit es keinen Aufruhr im Volk gib!“ Die „List“265 bezieht sich auf eine möglichst geräuschlose Umsetzung ihres Tötungsἄζυμα „zum Hauptbegriff, der damit erläutert wird, dass am ersten Tag dieses Festes das Pascha geopfert wird (ὅτε τὸ πάσχα ἔθυον); geradezu als wäre ‚Pascha‘ ein untergeordneter Handlungs­ aspekt des Festes ‚der Ungesäuerten‘“. Es scheint, dass Markus hier (wie in 7,3 f.) auf seine heidenchristlichen Leser achtet. 260 D.E. Smith, Symposium 249. 261  Vgl. 1Kor  5,6–9. 262  Vgl. auch Ps  41,8 f., auch 22,8 f. u. ö. 263  Die Tötungsabsicht wird mit der geprägten, vom Psalter her bekannten Wendung ζητέω + töten/verderben (vgl. Ps  37[36],32: ζητεῖ τοῦ θανατῶσαι) oder ζητέω + Leben (Ps  54,5; 86,14: sie trachten mir nach dem Leben) ausgedrückt. 264 Vgl. Mk   11,18 („die hohen Priester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn verderben könnten“), einer mit 14,1 vergleichbaren Notiz, die unmittelbar auf Jesu Tempelauftritt (11,15–17) folgt; vgl. auch 12,12 im Anschluss an das „Gleichnis von den bösen Winzern“. Lk  22,2c motiviert das Vorhaben der Autoritäten mit dem Hinweis auf ihre Angst vor dem Volk. 265  Zu diesem Motiv vgl. oben I.  1.2.1.1 unter 3: Geprägte Motive; außerdem Jos, Ant  20,161: „So nahm er (sc. Felix) auch Eleazar, den Sohn des Dinaeus, der eine ganze Räuberbande um sich gesammelt hatte, mit List gefangen“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

willens und besteht darin, den Festtag zu umgehen, nicht wegen dessen Heiligkeit, sondern wegen des Volkes, das mit Jesus sympathisiert 266 . Im Makrokontext erinnert V.1d daran, dass „die Menge“267 gegenüber Jesus positiv eingestellt ist (11,8–10; 12,12b), sogar „über seine Lehre außer sich vor Staunen“ gerät (11,18e) und erst im Pilatusprozess durch „die hohen Priester“ genötigt werden muss, Barabbas (statt Jesus) freizupressen (15,11). V.10 f., die zweite Hälfte der Episode, werden vom Stichwort παραδιδόναι gerahmt (inclusio). Sie sind wie ein Echo auf V.1 f., da sie das tödliche „Suchen“ der Gegner Jesu im „Suchen“ des Judas nach einer günstigen Gelegenheit, ihn auszuliefern, aufgreifen und weiterführen 268 . Der Leser erfährt, wie die von den „hohen Priestern und Schriftgelehrten“ gesuchte „List“ aussieht: in der Bestechung eines Jüngers mit Namen Judas Iskariot, der hier mit dem Zusatz „der Eine der Zwölf (ὁ εἷς τῶν δώδεκα)“ in die Passionserzählung eingeführt wird. Die substantivierte Form ὁ εἷς, die in 14,20.43 nicht mehr begegnet269, ist ein Semitismus, der Markus vorgegeben zu sein scheint 270 . V.10 f. weisen, wie V.1 f., die Konturen der passio-iusti-Tradition auf, vielleicht nicht ganz so deutlich, weil geprägte Lexeme wie ζητέω oder δόλος fehlen. Aber dem Kenner des Psalters ist klar: Judas ist der heimtückische Mensch, der schon dort dem Frommen auflauert 271, bzw. der treulose Freund, der ihn verrät, Ps  41,8–10: Gemeinsam tuscheln über mich alle, die mich hassen, und gegen mich sinnen sie Böses: 9    Verderben hat sich über ihn ergossen;    Wer einmal daliegt, der steht nicht mehr auf. 10 Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat die Ferse gegen mich erhoben 272 . 8

Das Versprechen der hohen Priester, Judas Geld zu geben, enthält bei Markus noch keine Schriftanspielung, erst in Mt  27,15. (2) Die Substanz der Doppelepisode 14,1 f./10 f. geht auf den Archetyp der PE zurück. Dafür sprechen die lkn./joh. Parallelen 273, aber auch das literarische Profil, 266 J.

Gnilka, Mk II 220. ὄχλος, nur in 14,2 λαός, wohl deshalb, weil hier die offiziellen Vertreter des „Volkes“ sprechen: vgl. Mt  26,3: „die Ältesten des Volkes (τοῦ λαοῦ)“. 268  Auch die Satzkonstruktionen entsprechen sich: jeweils ein ζητέω + πῶς-Satz. 269  Auch in Mt  26,14.47; Lk  2 2,47 und Joh  6 ,71 heißt es lediglich: εἷς τῶν δώδεκα. 270  Pesch, Mk II 337, mit Verweis auf Gen  42,32 („Wir waren zwölf Brüder, Söhne ein und desselben Vaters. Einer [‫ ;האחד‬LXX: ὁ εἶς] ist nicht mehr und der Jüngste ist gegenwärtig bei unserem Vater im Land Kanaan“): „trad. Identifizierung des Judas bei seiner Ersterwähnung in der Passionsgeschichte“. – Der mkn. Redaktion weisen die Wendung zu: L. Schenke, Studien 123– 126; Dormeyer, Passion 83; Klauck, Judas 48; A.Y. Collins, Mk 644: „the [notorious] one of the Twelve“. 271  Pesch, Mk II 338. 272  Ausdrücklich zitiert in Joh  13,18. 273  Diese bestätigen z. B. auch das Alter der mkn. Doppelbezeichnung für die Gegner Jesu (οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ γραμματεῖς) (siehe unten); Dormeyer, Passion 70, der diese Parallelen ausschaltet, hält die „Schriftgelehrten“ für eine mkn. Hinzufügung. 267 Überall

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 281

das sie mit den anderen Abschnitten der PEG teilt: ihre Anlehnung an den Psalter274. Vokabelstatistische Argumente tragen wenig bei 275. Die Handschrift des ältesten Evangelisten verrät sich an der Nennung der beiden Feste und der Zeitangabe in V.1a. Die zweite Fest-Bezeichnung neben τὸ πάσχα, „die Ungesäuerten (τὰ ἄζυμα)“, dürfte wegen der oben dargestellten Bedeutung des Themas „Sauerteig“ für das Evangelium auf Markus zurückgehen; im Johannesevangelium fehlt sie. Zur Wendung „nach zwei Tagen“ beobachtet Detlev Dormeyer zutreffend: „Die Formulierung μετὰ δύο ἡ[μέρας] ist bewusster Anklang an die Leidensankündigungen, die sich in dem 14,1 folgenden Geschehen erfüllen werden“276: „Nach drei Tagen (μετὰ τρεῖς ἡμέρας)“ wird der Menschensohn „auferstehen“ (8,31; 9,31; 10,34). Die Analyse des lkn./joh. Überlieferungsstranges (siehe unten) wird zeigen, dass die Tagesangabe ein nicht näher bestimmtes „das Paschafest war nahe“ verdrängt haben wird. 14,1 ist Teil des Wochenschemas, welches die Passionsereignisse zeitlich strukturiert und wahrscheinlich auf Markus zurück geht.

Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten Die folgende Übersicht bietet die mkn. und joh. Tagesaufteilung der Passionsereignisse im Vergleich dar 277. Nicht die parallelen Überlieferungen (z. B. Jesu Salbung in Betanien) stehen synoptisch nebeneinander, sondern die Ereignisse, die nach beiden Erzählsträngen auf denselben Tag fallen. Ungefähr decken sie sich erst ab dem fünften Tag (dem Donnerstag).

1. Tag [Palmsonntag]

Markus

Johannes

11,1–11: Einzug Jesu in Jerusalem samt 1. Besuch des Tempels

12,1–11: Salbung Jesu in Betanien

(11b–d: „und nachdem er ringsum alles angeschaut hatte – es war schon späte Stunde –, ging er hinaus nach Betanien mit den Zwölf“)

(1 f.: „Jesus kam sechs Tage vor dem Paschafest nach Betanien […]; dort bereiteten sie ihm ein Gastmahl [δεῖπνον]“)278

274  Zur Überlieferung rechnen Mk  14,1 f. auch Lührmann, Mk 229 f.; anders J. Gnilka, Mk II 219; Dormeyer, Passion 66–72: V.1 f. seien mkn. Nachbildung des traditionellen Verses 11,18. 275  Dormeyer, Passion 66 mit Anm.  31, hält ζητέω aufgrund der Statistik für eine mkn. Vokabel, ohne zu berücksichtigen, dass es sich um eine aus der Psalter-Sprache stammende, geprägte Wendung mit „negativ-feindliche(r) Färbung“ (Pesch, Mk  II 320) handelt (siehe oben). 276  Dormeyer, Passion 67. 277  Zu Mk vgl. Pesch, Mk II 323. 278  Schnackenburg, Joh II 459: „Wann das Mahl stattfand, ist nach der Zeitangabe in V.1 nicht sicher. Die ‚sechs Tage‘ führen am ehesten auf den Sonntag; doch kann das Mahl auch schon am Sabbat nach Sonnenuntergang stattgefunden haben“; anders rechnet Barrett, Joh 406: „Joh schreibt, dass das Passa am folgenden Freitag beginnt (13,1; 18,28; 19,31.42). Rechnet man sechs Tage zurück, dann bringt uns dies zum vorausgehenden Sabbat“; ebd. 407 zu 16,2: „Wenn δεῖπνον ‚Abendmahl‘ ist, dann haben wir hier das Abendmahl am Sabbat“.

282

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

2. Tag [Montag]

3. Tag [Dienstag]

Markus

Johannes

11,12–19: 2. Besuch der Stadt und des Tempels

12,12–36[.37–50]: Einzug Jesu in Jerusalem und letzte Worte zur Volksmenge

(12a: „und am nächsten Tag, als sie Betanien verließen […]“) (19: „und als es spät wurde, gingen sie aus der Stadt hinaus“)

(12: „am nächsten Tag 279 hörten sie – die große Volksmenge […] –, dass Jesus nach Jerusalem kommt“)

11,20–13,37: 3. Besuch der Stadt und des Tempels

???

(11,20: „und als sie in der Frühe vorbeikamen […]“) (11,27: „und sie kommen wieder nach Jerusalem, und als er im Tempel umherging […]“) 4. Tag [Mittwoch]

14,1–11: Initiative des Hohen Rates ??? samt Salbung Jesu in Betanien (14,3–9) (1: „es war aber das Pascha und die Ungesäuerten [Brote] nach zwei Tagen“)

14,12–72: Von der Bereitung des 5. Tag Paschalamms bis zum nächtlichen [Donnerstag + Nacht zu Freitag] Prozess

13,1–18,27: Vom Abschiedsmahl Jesu bis zum nächtlichen Verhör

(13,1: „vor dem Paschafest wusste (12: „und am ersten Tag der Ungesäuerten [Brote], als man das Jesus […]“) Paschalamm schlachtete“) (13,30: „es war aber Nacht“) (17: „und als es Abend wurde, kommt er […]“) (30: „heute, in dieser Nacht, […] wirst du mich dreimal verleugnen“) 6. Tag [Freitag]

15,1–15,47: Vom Prozess vor Pilatus bis zur Grablegung

18,28–19,42: Vom Prozess vor Pilatus bis zur Grablegung

(1: „und sogleich in der Frühe“) (42: „als es Abend wurde am Rüsttag, das ist der Vorsabbat […]“)

(18,28: „es war früh am Morgen“) (19,14: „es war am Rüsttag des Pa­schafestes, um die sechste Stunde“)

7. Tag [Samstag]

16,1: Sabbatruhe („und als der Sabbat vorbei war“)

„Erster Tag der Woche“ [Ostersonntag]

16,2–8: Auffindung des leeren Grabes

20,1–18: Auffindung des leeren Grabes

(2: „und sehr früh am ersten Tag der Woche kommen sie zum Grab, als gerade die Sonne aufging“)

(1: „Am ersten Tag der Woche kommt Maria Magdalena früh, als es noch finster war, zum Grab“)

279 

Ebd. 468.

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 283

Es ist kein Zufall, dass das Erzähltempo am Ende des Markusevangeliums verlangsamt ist, wie dies sonst nur noch an dessen Eingang zu beobachten ist: In 1,21–38 stellt Markus einen paradigmatischen Tag in Kafarnaum dar, einen Sabbat samt den Ereignissen an dessen Ende, der nachfolgenden Nacht und dem nächsten Morgen. Mit dem erzähltechnischen Mittel der „Verlangsamung“ vergegenwärtigt er die betreffende Geschehensfolge in besonderer Weise und zieht den Leser damit gleichsam in das Geschehen hinein. Der Kern der letzten Woche Jesu in Jerusalem ist das Triduum der alten Passionserzählung mit dem Todestag Jesu, dem nachfolgenden Sabbat und dem ersten Tag der Woche280 . 14,1 und 12 erweitern das Triduum nach vorne. Vor allem 14,12 gibt immer wieder Anlass zu Nach­fragen, weil die Formulierung: „Und am ersten Tag der Ungesäuerten Brote, als man das Paschalamm schlachtete […]“aus jüdischer Perspektive wenig sinnvoll erscheint. In Jub  49,1 heißt es etwa: „Du sollst dich an das Gebot erinnern, das dir der Herr geboten hat über das Pascha, dass du es zu seiner Zeit machst, am 14. des ersten Monats, dass du es schlachtest, bevor es Abend wird (Ex 12,6), und dass ihr es in der Nacht esst, am Abend des 15., von der Zeit des Untergangs der Sonne an“. Die Schlachtung der Lämmer erfolgt am 14.  Nisan, das Fest der ἄζυμα aber wird an den sieben Tagen begangen, die auf den Tag der Schlachtung folgen (Jub  49,22). Wenn Markus beides zeitlich in eins setzt, orientiert er sich am griechisch-römischen Zeitmaß: Das eigentlich erst am Abend zusammen mit Pascha beginnende Fest der Ungesäuerten Brote rechnet er noch zu dem (aus jüdischer Perspektive vorigen) Tag, der mit dem Morgen einsetzt und den er „den ersten der Ungesäuerten“ nennt. 14,1 und 12 gehorchen derselben Tageseinteilung und gehen wahrscheinlich auf den ältesten Evangelisten zurück 281. Zwischenlösungen mit einer Verteilung der gesplitteten Zeitangaben auf unterschiedliche Schichten können nicht überzeugen 282 . Bereits vor 14,1 sind die Jerusalem-Ereignisse unterschiedlichen Tagen zugeordnet, allerdings künstlich, so scheint es, und mit einem nur lockeren Übergang von den ersten drei Tagen hin zu den nachfolgenden ab Kap.  14. Jesu Einzug in die Stadt endet zwar im Tempel, 280  Formal gleichen diese drei Tage dem Erzählzyklus zu Beginn des Buches, auch inhaltliche Bezüge gibt es, z. B. das Motiv der „Suche“ Jesu: 1,36 f.; 16,6: vgl. Nizeyimana, Prière 103. 281  Lührmann, Mk 229: „Die Konfusion in der Datierung geht auf Mk selbst zurück […]“; ebd. 235; ebenso Becker, Joh II 635. Zu 14,1 siehe oben II.  4.2 unter (2). 282  Dormeyer, Passion 88, verteilt 14,1 und 12 auf unterschiedliche Schichten und nimmt an, der Evangelist wolle mit der „korrektere(n) Zeitangabe“ V.1 die traditionelle Angabe V.12 vorweg „richtigstellen“. Diese sei „sachlich falsch, in der Umgangssprache aber möglich“ (nicht nachvollziehbar ist auch sein Vorschlag, ebd. 66, Mk  14,12–15,47 zu einem Tag, dem 5. der Woche, zusammenzuziehen); Schleritt, Passionsbericht 245–249, splittet die Angaben von V.12 auf, was die Sache verkompliziert: τῇ πρώτῃ ἡμέρᾳ τῶν ἀζύμων gehe auf Mk zurück, ὅτε τὸ πάσχα ἔθυον dagegen auf denjenigen, der die Episode von der Vorbereitung des Paschamahls sekundär gebildet habe (Schleritt hält diese Episode für vor-mkn.). Der Hinweis auf das Schlachten der Opfertiere sei nicht ohne Anhalt an der Überlieferung, sondern knüpfe nach Ausweis der Parallele Mk  14,12.17/ Joh  13,1a (siehe oben die Tafel zum 5. Tag [Donnerstag]) an eine Pascha-Zeitangabe an, die mit der Mahleröffnung verbunden gewesen sei: In beiden Überlieferungssträngen wäre ursprünglich auf die Zeitangabe (vielleicht nur ein πρὸ δὲ […] τοῦ πάσχα) die Eröffnung des Mahles unmittelbar gefolgt: Mk  14,18a/Joh  13/2a. So scharfsinnig diese Beobachtung ist, die Folgerung, die Schleritt aus ihr zieht, steht auf tönernen Füßen: Johannes war nach den von ihm gebildeten Zwischenszenen in Kap.  12 für den Neueinsatz von 13,1 gezwungen, einen Zeitmarker zu setzen. Auch ist es die nach 11,55; 12,1 dritte Ankündigung der Nähe des Festes, was auf gezielte redaktionelle Setzung hindeutet.

284

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

die dortige prophetische Symbolhandlung – die Klimax seines Jerusalem-Besuches – wird aber merkwürdigerweise auf den nächsten, den zweiten Tag der Woche verschoben. Der dritte ist „im Vergleich zu den anderen Tagen mit Ereignissen überlastet“283. Die Konsequenz aus dieser Beobachtung kann nur lauten: Das Tages- bzw. Wochenschema stammt vom Autor des Buches284. Es verdankt sich der Absicht der narrativen Strukturierung und Vergegenwärtigung des Erzählten und nicht dem liturgischen Interesse, eine „Passions­ woche“ zu etablieren 285. Matthäus und Lukas halten sich zwar ungefähr an den Aufriss des Markus, weichen in ihrer Tageseinteilung aber deutlich von ihm ab: (a) Matthäus verteilt die Ereignisse der drei ersten Tage auf nur zwei Tage: Am ersten erfolgen Jesu Einzug in die Stadt und seine Aktion im Tempel (Mt  21,1–17286); der zweite beginnt „in der Frühe“ (πρωΐ) (Mt  21,18; vgl. Mk  11,20) mit der Erzählung vom verdorrten Feigenbaum am Wegrand, setzt sich fort mit Jesu Auftritt und Reden im Tempel (Vollmachtsfrage; Gleichnisrede; Streitgespräche; Wehe-Rede) und endet am Ölberg mit Jesu Endzeit-Rede (Mt  21,18–25,46). Im Unterschied zu Markus ist dieser Tag aufgrund des von Matthäus eingebrachten umfangreichen Sonderguts jetzt derart angefüllt, dass die Ereignisse den zeitlichen Rahmen zu sprengen drohen. Die Bemerkung zu Beginn der Streitepisode mit den Sadduzäern Mt  22,23: „an jenem Tag“ scheint die Tagesgliederung in Erinnerung rufen zu wollen. Ist schon das mkn. Wochenschema nicht unproblematisch, so hat die Materialfülle in Mt  21–25287 zur Folge, dass ein die Kap.  21–28 überwölbendes Wochenschema verblasst, ja vom Leser nur mit Mühe wahrgenommen wird. Hinzu kommt, was auch für den mkn. Aufriss gilt: Eine explizite Zählung der Tage („der erste“, „zweite“ etc.) wird nicht vorgenommen, weswegen das Wochenschema Konstrukt des Lesers bleibt. (b) Lukas lässt, wie Matthäus, die Einzugsgeschichte in die Tempelaktion einmünden (Lk  19,29–46)288 , ohne die beiden Ereignisse auf unterschiedliche Tage zu verteilen, ja er erweckt sogar den Eindruck, dass Jesus die Stadt selbst gar nicht betritt, sondern sich vom Ölberg aus „direkt – ohne Umweg über die Stadt – in den Tempel begibt (19,35)“289. Im Anschluss an das eröffnende Diptychon Begrüßung Jesu am Ölberg und Tempelaktion erzählt er von Jesu Evangeliumsverkündigung im Tempel, die er mit 19,47 f. und 21,37 f. rahmt 290 : Tagsüber lehrt Jesus im Tempel, die Nächte verbringt er am Ölberg (vgl. 22,39.53). 283 

Dormeyer, Passion 67 Anm.  37. Lührmann, Mk 186; anders Pesch, Mk II 323: Bestandteil der vormkn. PE, und damit historisch (!). 285  Eckey, Mk 28, unter Berufung auf Mk  2 ,19 f.: „Vermutlich wurde in der Gemeinde des Markus die Karwoche schon so begangen, wie seine zeitliche Disposition der Stoffe vom Einzug in Jerusalem am Sonntag vor Ostern (11,1–11) bis zum Ostersonntagmorgen (16,1–8) erkennen lässt“. 286  Die Einheit endet mit V.17: „und er ließ sie (sc. die hohen Priester und Schriftgelehrten) stehen und ging aus der Stadt hinaus nach Betanien; dort übernachtete er“. Gegen Mk löst er Jesu Tempelaktion aus der Rahmenerzählung vom verdorrten Feigenbaum und ordnet sie dem ersten Tag zu. 287  Hinzu kommt die tiefe Zäsur 26,1 f. (siehe oben) mit der nach vorne weisenden Zeitangabe im Munde Jesu: „Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Paschafest ist“. 288  Hinzugefügt sind lediglich in V.41–44 Jesu Weinen über die Stadt und die Ankündigung ihrer Zerstörung. 289  Hengel, Historiker 154; Lukas setzt „wohl voraus, dass man den Tempel unmittelbar von der Seite des Ölbergs her betreten konnte. Dies war für den Pilger, der von Osten kam, der nächste Weg ins Heiligtum“ (ebd. 160); vgl. Lk  19,45 diff. Mk  11,15a. 290  Der Einsatz der großen Passage innerhalb dieses Rahmens lautet: „Und es geschah: An einem der Tage lehrte er das Volk im Tempel und verkündete das Evangelium (εὐαγγελιζομένου) […]“ (20,1). 284 

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 285

Eine dermaßen gerahmte zeitlich nicht definierte Phase erschien dem Historiker Lukas wohl plausibler als das künstlich anmutende Tagesschema des Markus. Ab 22,1 erzählt er von Jesu Passion wieder im Anschluss an dessen Schema. Zum Johannesevangelium zeigt obige Synopse mit ihren Fragezeichen, wie wenig der vierte Evangelist an der Konstruktion einer „Passionswoche“, gar mit liturgischem Hintergrund 291, interessiert ist. Die einzige genauere Angabe, 12,1, die wohl redaktionell ist, „gibt an, dass der Leser in die letzte Lebenswoche des joh. Jesus eintritt“292 . Da sie die anschließende Mahlszene wahrscheinlich auf den Sonntag vor Ostern datiert 293, könnte der Evangelist mit ihr einen Hintersinn verbinden: Das Mahl, an dem der von den Toten erweckte Lazarus anwesend ist (12,2.9), verweist nicht nur auf den „Tag des Begräbnisses“ Jesu, sondern zugleich auf seinen Eingang ins Leben bei Gott 294. Die völlig andere zeitliche Strukturierung des letzten Jerusalem-Aufenthalts bei Johannes bestätigt ein weiteres Mahl dessen Eigenständigkeit den Synoptikern gegenüber.

4.3 „Was sollen wir tun?“ (Joh  11,47) – Die johanneische Fassung der Doppelepisode und ihre Vorform In zwei Punkten unterscheidet sich Johannes deutlich von den Synoptikern: Deren (vom Psalter geprägte) Darstellung gibt nicht zu erkennen, dass die Autoritäten den Fall Jesu ergebnisoffen behandeln. Bei Johannes sticht demgegenüber ihre Unentschlossenheit ins Auge. Der Rat des Kajaphas klingt wie eine neue Idee. Damit gerät die Szene in Spannung zu der spätestens seit Joh  5,19 feststehenden Tötungsabsicht „der Juden“, was eindeutiges Indiz dafür ist, dass in 11,47–53 Überlieferung vorliegt, ein Stück der vorjoh. Passionserzählung295. Ein zweiter Unterschied betrifft den unmittelbaren Kontext der Episode: Bei der mkn. Ereignisfolge veranlasst Jesu Tempelaktion das Einschreiten der Autoritäten, bei Johannes Jesu Zeichenwirken bzw. konkret: die Auferweckung des Lazarus. Dieses größte aller Zeichen Jesu hat die Menschen derart in Erregung versetzt, dass ihn seine wachsende 291  Barrett, Joh 406, mit Verweis auf 12,1 und die Eröffnung des Evangeliums (vgl. 1,29.35.43; 2,1.13): „Möglicherweise liegt so etwas wie ein liturgisches Motiv hinter diesen Einteilungen bedeutsamer Wochen“; dagegen zu Recht Brown, John I 452: „[I]n this Johannine account of the end of the ministry there is no insistent counting of days such as we found in ch. 1“. 292  Zumstein, Joh 442. 293  Vgl. oben Anm. 278. 294  Ebd. 441: „[F]estzustellen (ist), dass das gemeinsame Festmahl in Betanien das letzte Mahl Jesu mit den Seinen vorwegnimmt: Judas wird noch vor der Ankündigung seines Verrats (13,21– 30) delegitimiert (V.4–6) und Maria salbt die Füße Jesu (V.3), bevor Jesus die Füße seiner Jünger wäscht (13,2–11)“. Wenn am Abend des Ostersonntags der Auferweckte der versammelten Jüngerschar begegnet (und dann nochmals eine Woche später: 20,26), bildet sich bereits hier die spätere nachösterliche Mahlgemeinschaft am Sonntag ab. 295  Schleritt, Passionsbericht 176: Nach Joh  7,32 hatten die Autoritäten Diener ausgesandt, die Jesus ergreifen sollten. „Sie waren mit ihren Überlegungen also schon einmal weiter voran­ geschritten, als 11,47 f. vermuten lässt“. In der vom Hohepriester vorgebrachten Überlegung schwingt zudem ein leichter Skrupel mit: „Gewiss, es ist nicht schön, wenn einer sterben muss, aber allemal besser, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. Das passt ebenfalls nicht recht zur vorangehenden Darstellung, der zufolge es für die Juden völlig außer Frage steht, dass Jesus aufgrund seines blasphemischen Anspruchs, Gott gleich zu sein, getötet werden muss (vgl. 5,18; 10,30 f.)“.

286

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Anhängerschaft (11,45; 12,19) nach Meinung der „hohen Priester und Pharisäer“ (Joh  11,47) zu einer politischen Gefahr für den Tempelstaat werden lässt: 47 c Was sollen wir tun, d denn dieser Mensch tut viele Zeichen? 48 a Wenn wir ihn (weiter) so (gewähren) lassen, b werden alle an ihn glauben, c und es werden die Römer kommen d und uns die Stätte wie die Nation nehmen“

Was hier durchscheint, ist das zweigliedrige ordnungspolitische Vorgehen, wie es u. a. aus der von Josephus erzählten Jesus ben Ananias-Geschichte bekannt ist: Die lokale Obrigkeit bedenkt ihr Tun im Blick auf die römischen Besatzer, die sie nötigen, ihre ordnungspolitische Verantwortung im gesetzten Rahmen wahrzunehmen 296 . Die geäußerte Sorge, die durch Jesus ausgelöste messianische Bewegung könne die Römer auf den Plan rufen mit der Folge, dass der Obrigkeit die ohnehin beschränkte Vollmacht über Volk und Tempel ganz entzogen würde, wird auf der Ebene des Endtextes das historische Wissen widerspiegeln, dass es tatsächlich so gekommen ist – trotz des Versuchs der hohen Priester, die drohende Gefahr auf den pragmatischen Rat des Kajaphas hin durch Preisgabe Jesu zu bannen. Dahinter verbirgt sich joh. Ironie. Schon aufgrund der genannten makrokontextuellen Spannung steht fest, dass 11,47–53 in seiner Substanz auf Überlieferung fußt. In seiner Endgestalt präsentiert sich der in die Geschehensfolge eingebundene Text als gut johanneisch. Zu nennen ist: a) die Verzahnung der Episode mit der vorangehende Erzählung von der Auferweckung des Lazarus in V.47d.48b (oben kursiv gesetzt); b) die Nennung der Pharisäer an der Seite der „hohen Priester“ in V.47a, die seit Beginn des Evangeliums gegen Jesus agitieren 297; vor allem aber c): der theologisch tiefsinnige Rat des Kajaphas vom Nutzen des Sterbens des einen Menschen „für das Volk“, damit nicht dieses insgesamt zugrunde gehe; dem Kommentar von V.51 zufolge tut er unwissentlich damit christologische Einsicht kund.

V.49–51 sind ein komplexes Gebilde. Es verdankt sich der vertiefenden Arbeit des vierten Evangelisten und einer nachträglichen Kommentierung durch den Redaktor des Buches298 . Für die hier interessierende Frage nach der Gestalt der Episode in der vorjoh. PE reichen folgende Beobachtungen: (a) Wahrscheinlich gehen die Pharisäer – die Hauptgegner Jesu im vierten Evangelium – auf dessen Verfassers zurück, der durch ihren Eintrag die Szene mit seinem Buch verzahnt. Wie in der synoptischen Überlieferung werden schon in PEjoh zwei Gruppen agiert haben: „die Hohenpriester und Schriftgelehrten“. Letztere tauschte Johannes gegen „die Pharisäer“ aus. (b) Die Redeeinführung von V.49a: „einer von ihnen“ (εἷς δέ τις ἐξ αὐτῶν) ist präzise mit „ein beliebiger (von ihnen)“299 wiederzugeben. Das „stößt sich sowohl mit der Nennung ei-

296 

Siehe unten in Teil III.  1.7 die Analyse der Geschichte. 4,1; 7,32.45.47 f.; 8,13; 9,13.15 f.40; 11,46 f.57; 12,19.42; 18,3; vgl. bereits 1,24. 298  Zur Begründung siehe Theobald, Joh I 747–751. 299  BDR  §  274.2. 297 

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 287

ner konkreten Person (Kajaphas) als auch mit der eines alleinigen Amtsinhabers“300 . Der Name des Kajaphas ist nicht ursprünglich, sondern vom Evangelisten nachgetragen. (c) V.50c.d sind in ihrer vorliegenden Gestalt asymmetrisch: Es nützt euch, dass ein Mensch für das Volk (ὑπὲρ τοῦ λαοῦ) stirbt und nicht die ganze Nation (ὅλον τὸ ἔθνος) zugrunde geht. Die Präpositionalwendung „für das Volk“ (ὑπὲρ τοῦ λαοῦ) ist „auffällig“ und scheint im Blick auf die dem Rat zugrunde liegenden Opposition („ein Mensch“ – „die ganze Nation“) „überflüssig“ zu sein 301. Sie dient dazu, den Rat für seine vertiefte christologische Deutung zu öffnen, weshalb auch λαός und nicht ἔθνος verwendet wird302 . Zur pragmatischen Klugheitsabwägung – lieber den Tod eines Menschen in Kauf nehmen, als den Untergang der ganzen Nation riskieren! – passt sie eigentlich nicht.

Unter Berücksichtigung dieser Beobachtungen zeichnet sich für die Fassung der Episode in der PEjoh folgende Gestalt ab: 47 48 49 50 53

a Die hohen Priester und [die Schriftgelehrten] beriefen eine Versammlung ein b und sprachen: c     Was sollen wir tun? […] a     Wenn wir ihn (weiter) so (gewähren) lassen […], c     werden die Römer kommen d     und uns die Stätte wie die Nation nehmen. a Einer aber von ihnen (εἷς δέ τις ἐξ αὐτῶν) […] d sprach […]: a    Ihr bedenkt nicht, b     dass es euch nützt, c    dass (nur) ein Mensch […] stirbt d    und nicht die ganze Nation zugrunde geht. a Von jenem Tag an waren sie also entschlossen, b dass sie ihn töten würden.

Werden die lkn./joh. Übereinstimmungen mitberücksichtigt, ist zu vermuten, dass die Episode mit der folgenden Zeitangabe einsetzte: „Es war aber das Pascha […] nahe“ (Joh  11,55a par. Lk  22,1a). In der PEjoh folgte die zweite Episodenhälfte, der Pakt des Hohen Rats mit Judas, die der vierte Evangelist durch seine Volksepisode 11,55–57 ersetzte. Um in Erfahrung zu bringen, welche Konturen die älteste Fassung der Episode in der PEG besaß, sind die drei vorkanonischen Varianten der PEmkn, PEjoh. und­ PElkn/joh miteinander zu vergleichen.

300 

Schleritt, Passionsbericht 182. Schnackenburg, Joh III 450. 302  ἔθνος kohärent in V.48d und 50d. 301 

288

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

4.4 Tödliches Komplott und Todesprophetie (Salbung in Betanien). Die Szenenfolge in der PEG (1) Zur ältesten Fassung der Doppelepisode vom Komplott gegen Jesus und der Initiative des Judas in der PEG führt Markus, nicht der lkn./joh. Zweig der Überlieferung. Die Fassung der PEjoh bietet eine „anschauliche Szene“303, zu der sie die Vorgabe der PElk/joh kreativ umgestaltet hat: Aus dem „Suchen“ der Autoritäten ist eine „Versammlung“ geworden, aus der Äußerung: „Nicht am Fest, damit es keinen Aufruhr (θόρυβος) im Volk gibt!“ ein Dialog der Ratsmitglieder. Auf die Frage: „Was sollen wir tun? […]“ folgt der pragmatische Rat von einem aus ihrer Mitte. Der Verweis auf ein mögliches Einschreiten der Römer ist wie ein Echo auf das Motiv des θόρυβος304. Sollte die Rede von der Wegnahme der „Stätte“ und der „Nation“ die Katastrophe der Zerstörung des Tempels voraussetzen, wäre das ein Indiz dafür, dass PEjoh nach 70 n.Chr. entstanden ist. (2) Im Vergleich zu Markus bietet die Episode der PElkn/joh, auf der die PEjoh fußt, zwei Besonderheiten: die unbestimmte Zeitangabe („Es war aber nahe das Pascha“) und die Rede vom Eingang des Satans in Judas. Letztere ist gegenüber der unprätentiösen Erzählernotiz Mk  14,10 eine nachträgliche Theologisierung. (3) Mk  14,1 f. dürfte der PEG nahestehen 305. Lediglich die Zeitangabe: „Es war aber nach zwei Tagen das Pascha“ geht auf das Konto des ältesten Evangelisten. Sie gehört zum Tagesschema, mit dem er seine Passionserzählung nachträglich rhythmisiert. Ursprünglich ist die unbestimmte Rede von der Nähe des Festes (PElkn/ joh 306 ) . Sie motiviert, warum sich „die hohen Priester und die Schriftgelehrten“307 genötigt sehen, Jesus aus dem Weg zu räumen („Nur ja nicht auf dem Fest …“). Auch das korrespondierende Stück, Mk  14,10 f., wird im Wesentlichen die Fassung der PEG aufbewahrt haben. Sowohl die mkn. als auch die joh. Fassung308 setzen für die Initiative der Jerusalemer Autoritäten eine Ereignisfolge voraus. Die beliebte Annahme, die alte PE hätte mit Mk  14,1 f. par. Joh  11,47–53 eingesetzt 309, ist deshalb hinfällig. Ἦν δὲ ἐγγὺς τὸ πάσχα (Joh  11,55) ist „kein Neueinsatz“310 , die Handlung wird weitergeführt. Grund für den hier inszenierten Kom303 

Schleritt, Passionsbericht 186. Die schon Mk  14,2 vor Augen stehende politische Wirkung des Falls Jesu entfaltet die PEjoh narrativ; das spricht für das hohe Alter von Mk  14,2. 305  Reinbold, Prozess 53, schreibt in Missachtung der Übereinstimmung der mkn. und joh. Überlieferung das Stilmittel der direkten Rede der Gegner Jesu Mk zu. Mit dem Argument, das Motiv der List samt der Wendung: „nicht auf dem Fest“ hätten in der joh. Überlieferung keine Parallele, weshalb sie vormkn. hinzugewachsen seien, postuliert Schleritt, Passionsbericht 180, für die PEG folgende Aussage: „Sie suchten, wie sie Jesus […] ergreifen und töten könnten; denn sie sagten: […] Damit kein Aufstand des Volkes entsteht!“ 306  Reinbold, Prozess 53. 307  Joh  11,47, wo οἱ Φαρισαῖοι das zweite Glied ersetzt, belegt die Ursprünglichkeit des Tandems. 308  Ohne Joh  11,47d.48b, die der Verzahnung der Episode mit dem joh. Kontext dienen und sekundär sind, bleibt offen, was unter dem „so weiter gewähren lassen“ (V.48a) zu verstehen ist. 309  Lührmann, Mk 229; dagegen zurecht Myllykoski, Tage I 183–185. 310  Dormeyer, Passion 67 (zu Mk  14,1 f., allerdings mit der Absicht, „die Parenthese“, die den 304 

4. Der „Todesbeschluss“ des Synedrions, die Salbung Jesu und die Initiative des Judas 289

plott gegen Jesus ist seine Aktion im Tempel. Noch die PEjoh bringt als Argument der „hohen Priester und Schriftgelehrten“ den Tempel (= Stätte [τόπος]) ins Spiel.

(4) An einer objektiven Darstellung der Jerusalemer Verantwortlichen liegt der PEG nicht. Die Art, wie sie vom Komplott gegen Jesus spricht, entspricht der passio iusti-­ Tradition 311. Die Rolle der Feinde des Gerechten haben „die hohen Priester und Schriftgelehrten“ inne. Die korrespondierende Episode vom Gang des Judas zu den Autoritäten, die ihm Geld für seinen Verrat versprechen, passt ins Bild. „Sie haben den Gerechten für Geld verkauft“ (Am  2,6LXX). Mk  14,55 (sie „suchten Zeugnis gegen Jesus, um ihn zu töten“) wird diesen Faden weiterspinnen. In der PEG hatte die Doppelepisode also ungefähr den folgenden Wortlaut 312: Markus Lukas Johannes A. Es war aber nahe das Pascha. 22,1 11,55 Und die hohen Priester und die Schriftgelehrten suchten (ἐζήτουν), 14,1b–2 22,2 11,47 wie (πῶς) sie ihn (αὐτόν) mit List ergreifen (κρατήσαντες) und töten könnten (ἀποκτείνωσιν). Sie sagten nämlich (γάρ):    Nicht am Fest,     damit es im Volk keinen Aufruhr (θόρυβος τοῦ λαοῦ) gibt. B. Und Judas Iskariot (Ἰούδας Ἰσκαριώθ), 14,10 22,4 [13,2] der Eine der Zwölf (ὁ εἷς τῶν δώδεκα), [6,71] ging zu den hohen Priestern, dass er ihn ihnen ausliefere (παραδοῖ). Als sie das hörten, 14,11 22,5 f. freuten sie sich und versprachen, ihm Geld zu geben. Und er suchte (ἐζήτει), wie er ihn bei Gelegenheit (εὐκαίρως) ausliefern könnte (παραδοῖ).

(5) Die Salbung Jesu in Betanien in der Mitte der Szene hat eine komplizierte Vorgeschichte, die im Detail hier nicht aufgehellt werden muss313. (a) Am Ursprung der Überlieferungsgeschichte steht Lk  7,36–50: Eine anonyme „Sünderin“ benetzt am Rande eines Mahls mit den Tränen ihrer Reue Jesu Füße, trocknet sie mit ihren Haaren, küsst und salbt sie mit Öl (V.37 f.). Noch Johannes hat Züge dieser alten Überlieferung aufbewahrt (Joh  12,3), was zeigt, dass sie in der Betanien-Geschichte weiterlebt. (b) Die Geschichte wurde in die Salbungserzählung transformiert im Zuge ihrer Integrierung in die PEG: Aus der „Sünderin“ wird jetzt die Frau mit dem kostbaren Nardenöl, und Jesu Antwort besteht nicht mehr aus dem Zuspruch der „Sündenvergebung“, sondern Worten, die das Tun der Frau im Blick auf seinen Tod deuten 314. Zweck habe, „durch Erläuterungen den Gang der Handlung verständlich zu machen“, der mkn. Redaktion zuzuweisen). 311  Pesch, Mk  II 338 f. 312  Myllykoski, Tage I 183: „Die traditionelle Zusammengehörigkeit von V.1–2 und 10–11 dürfte kaum überzeugend zu bestreiten sein“. 313  Theobald, Joh I 767–773: „Exkurs: Die Salbungserzählung und ihre synoptischen Verwandten (Mk  14,3–9 par. Mt  26,6–13 sowie Lk  7,36–50)“. 314  Bultmann, Geschichte 37; Reinbold, Bericht 110 f.; Schleritt, Passionsbericht 204.

290

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(c) Die vormkn. Fassung wandelte das Motiv von der Salbung der Füße Jesu aus der PEG um in das vom Salben seines Hauptes. Die dazu gewählte Formulierung („sie goss Salböl auf Jesu Haupt [κατέχεεν]“) assoziiert das alttestamentliche Motiv der Königssalbung (vgl. 1Sam  10,1; 2Kön  9,3.6; vgl. auch Ex  29,7), womit das Königsmotiv, das die PE insgesamt prägt, sich auch hier Geltung verschafft. (d) Die PElk/joh überlieferte hinsichtlich des Tuns der Frau noch die ursprüngliche Fassung der PEG: „sie salbte die Füße Jesu und wischte/trocknete sie mit ihren Haaren ab“ (Joh  12,3). Über die PEjoh wanderte diese Formulierung in das vierte Evangelium. (e) Die Personen, die gegen das scheinbar verschwenderische Tun der Frau protestieren, wechseln: Judas (Joh  12,4), „die Jünger“ (Mt  26,8), „einige“ (Mk  14,4). Die unbestimmte Form ist die ursprüngliche.

Joh  12,7: „Lass sie! Sie sollte es [das Öl] für den Tag der Zurüstung zu meinem Begräbnis aufbewahren!“315 Dieser Tag ist jetzt, da die Frau Jesus salbt – das Begräbnis selbst steht aus. Jesu prophetisches Wort nimmt seinen Tod voraus. Erscheint Jesus in den Rahmenepisoden als Opfer eines Komplotts gegen ihn, so zeigt die Szene in der Mitte einen souveränen Jesus, der seinen Tod vorhersagt.

315 Die mkn. Variante: „Sie hat im Voraus meinen Leib zum Begräbnis gesalbt“ glättet die schwierige bei Joh aufbewahrte ursprüngliche Fassung.

B. Entscheidung (Mittelteil) Der Mittelteil B der Passionserzählung umfasst fünf größere Szenen: Jesu letztes Mahl, Getsemani, die „Auslieferung“ Jesu, das Verhör vor dem Hohen Rat samt Verleugnung des Petrus und den Pilatus-Prozess. Die drei ersten Szenen – vom letzten Mahl Jesu bis zu seiner Verhaftung – sind eng miteinander verbunden, auch die beiden Verhörszenen vor dem Hohen Rat und vor Pilatus. Weil die Geschehnisse in der „Nacht, in der er ausgeliefert wurde“ (1Kor  11,23) in den vier kanonischen Fassungen stark divergieren, sei vorweg ein synoptisches Tableau der Episoden geboten: Mt  26,17–46

Mk  14,12–42

Lk  22,7–46

1

Vorbereitung des Paschamahls (17–19)

Vorbereitung des Paschamahls (12–16)

Vorbereitung des Paschamahls (7–13)

2

Mahl

Mahl

Mahl

Mahl

2a

Szenische Einführung (20)

Szenische Einführung (17)

Szenische Einführung (14)

Szenische Einführung (1)

2b 2c

Joh  13–17

Paschamahl-Eröffnung (15–18) Ansage der „Auslieferung“ (20–25)

Ansage der „Auslieferung“ (18–21)

2d Gesten und Worte des Abendmahls (22–24)

(siehe 2g)

(siehe 2g)

(siehe 3a)

Fußwaschung samt Deutung (2–17)

Gesten und Worte des Abendmahls (19 f.)

2e

Gesten und Worte des Abendmahls (26–28)

2f

Vom Trinken des Vom Trinken des (siehe unter 2a) Weins an jenem Tag Weins an jenem Tag im Reich Gottes (29) im Reich Gottes (25)

2g

Ansage der „Auslieferung“ (21–23)

Ansage der „Auslieferung“ (18 f.) Identifikation des „Ausliefernden“ (21–30)

292

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mt  26,17–46

Mk  14,12–42

Lk  22,7–46

Joh  13–17

3

Letzte Worte

Letzte Reden

3a

A. Rangstreit der Jünger (24–27) einschließlich des Wort Jesu vom „Tischdiener“ (27)

[Fußwaschung – Liebesdienst Jesu (2–17)]

3b

Verheißung der Teilhabe am Mahl der Gottesherrschaft (28–30)

3c

B. Aufforderung an Petrus, die Brüder zu stärken (31 f.)

3d (siehe 4b)

(siehe 4b)

Ansage der Verleugnung des Petrus (33–34)

Ansage der Verleugnung des Petrus (36–38)

C. Weitere Worte (35–38) Abschiedsreden (Kap.  13–17) 4

Auf dem Weg zum Auf dem Weg zum Ölberg Ölberg

4a

Ansage des Abfalls aller (31 f.)

[16,32]

Ansage des Abfalls aller (26–29)

4b Ansage der Verleugnung des Petrus (33–35)

Ansage der Verleugnung des Petrus (30–31)

5

Getsemani

Getsemani

[Getsemani] (22,39–46)

5a

Gebet Jesu (39)

Gebet Jesu (35 f.)

Gebet Jesu

[Gebet Jesu: 12,27 f.]

Aufbruchssignal (14,42a)

Aufbruchssignal (22,46b.c)

Aufbruchssignal (14,31c)

5b Aufbruchssignal (26,46)

(siehe 3d)

(siehe 3d)

Alle vier Evangelien bieten eine abendliche Mahlszene. Die Synoptiker erzählen im Anschluss an sie vom Gebetsringen Jesu und seiner Verhaftung in Getsemani, ­Johannes nur von seiner Verhaftung bzw. seiner Selbstübergabe an die Häscher. Markus und Matthäus überbrücken den Weg Jesu mit den Seinen nach Getsemani mit Worten Jesu, wohingegen Lukas einige dieser Worte in die Mahlszene integriert. Die Einheiten Nr.  1 (= Vorbereitung des Paschamahls) und 2e (Gesten und Worte des Abendmahls) fanden den Analysen von I  1.4.3 zufolge erst sekundär Eingang in die mkn. Überlieferung. Nr.  1 ist eine Neubildung, 2e fußt auf alter Abendmahls-

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

293

überlieferung, die Markus in die Passionserzählung implantiert hat. Sie bestimmt fortan das Bild der synoptischen Mahlszenen im Unterschied zu Johannes, bei dem die Fußwaschungserzählung die Position einnimmt, die dort die Abendmahlsüberlieferung besitzt. Der Nachweis, dass Nr.  5, die Getsemani-Szene, kein sekundäres Produkt der synoptischen Überlieferung ist, sondern schon zur PEG gehörte, wird weiter unten (in 6.) zu leisten sein.

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.) Die Mahlszenen der vier Evangelien unterscheiden sich beträchtlich. Ihr Umfang reicht von 9 Versen bei Markus bis zu 5 Kapiteln bei Johannes (Mt: 16 Verse; Lk: 25 Verse). Bei Lukas spricht Jesus nach dem Mahl letzte Worte (Lk  22,24–38), bei Johannes hält er mehrere Reden (Joh  13,31–16,33), die in ein großes Gebet einmünden (Joh  17). Im Unterschied zu Markus und Matthäus mit ihren wenigen Jesus-Worten erinnern Lukas und Johannes an ein antikes Symposion mit Reden und Gesprächen. Die Mahlszene bot sich an für eine kontinuierlich wachsende Überlieferung. Im Szenenwechsel unterscheiden sich die Evangelien: Lukas und Johannes bieten Nr.  4b (Ankündigung der Verleugnung des Petrus) im Kontext der Mahlszene, Markus und Matthäus dagegen erst auf dem Weg zum Ölberg. So empfiehlt es sich, Nr.  4 im Zusammenhang mit der Mahlszene zu behandeln. 5.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Markus (14,17–25) bietet die Szene in zwei Teilen, ersichtlich an der szenischen Eröffnung (V.17: καὶ ἐσθιόντων), die er eingangs von V.22 wieder aufnimmt: Vorweg steht die Ansage der „Auslieferung“ Jesu (V.18–21), es folgen Jesu Mahlgesten und -worte einschließlich eschatologischem Ausblick (V.22–25). Verbindendes Thema beider Teile ist der Tod Jesu – betrachtet aus der Sicht dessen, der ihn herbeiführt (V.18–21), und der Heilsperspektive, die Jesus mit ihm verbindet. (2) Matthäus schließt sich Markus an. Aus Eigenem fügt er lediglich den Wortwechsel zwischen Jesus und Judas am Ende von Nr.  2c in V.25 hinzu. (3) Anders Lukas: In Nr.  2g, der Episode von der Ansage des Verrats des Judas (Lk  22,21–23), scheint er Markus zu folgen. Aber die Position der Episode nach der Abendmahlsparadosis stimmt mit der Akoluthie des Johannes überein, der die Mahlszene gleichfalls nicht mit der Ansage der „Auslieferung“ (wie Markus und Matthäus) eröffnet, sondern sie in Gestalt der Identifizierung des Verräters nach seiner Erzählung von der Fußwaschung bietet. Auch bei der folgenden Einheit bleibt Lukas nahe beim vierten Evangelisten, zunächst wieder in der Struktur: Jesus sagt die Verleugnung des Petrus nicht unterwegs zum Ölberg an (wie bei Markus und Matthäus), sondern im Haus. Weder Lukas noch Johannes kennen eine Übergangsepisode „Auf dem Weg zum Ölberg“. Dazu kommen Übereinstimmungen kompositorischer, syntaktischer und lexikalischer Natur, wie die nachfolgende Synopse belegt:

294

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mk 14,26–31 par. Mt 26,30–35

Lk 22,31–34

Joh 13,36.37 f.

31 Simon, Simon, siehe, der Satan hat sich euch ausgebeten, um (euch) zu sieben wie den Weizen. 32 Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Du aber stärke, wenn du dich einst zurückgefunden hast, deine Brüder.

3c

4a I. 26Und nach dem Lobgesang gingen sie hinaus zum Ölberg. 27a

Da sprach Jesus zu ihnen:

Ihr werdet alle Ärgernis nehmen (πάντες σκανδαλισθήσεσθε); 27cdenn es steht geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen (Sach 13,7) […].

27b

Petrus aber sprach zu ihm:

29a

Wenn auch alle Ärgernis nehmen (πάντες σκανδαλισθήσονται), ich aber nicht (ἀλλ’ οὐκ ἐγώ).

29b

Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr (κύριε), wohin gehst du? Jesus antwortete ihm: Wohin ich gehe, kannst du mir jetzt nicht folgen (ἀκολουθῆσαι), du wirst mir aber später folgen (ἀκολουθήσεις). 36

(siehe unten)

II. 33Er aber sprach zu ihm:

37

Herr (κύριε), mit dir (μετὰ σοῦ) bin ich bereit, auch ins Gefängnis

Herr (κύριε), warum kann ich dir (σοι) jetzt nicht folgen (ἀκολουθῆσαι)? Mein Leben will ich für dich (ὑπὲρ σοῦ) hingeben.

und in den Tod zu gehen.

Petrus spricht zu ihm:

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

Mk 14,26–31 par. Mt 26,30–35 3d

30a

Da spricht Jesus zu ihm:

Lk 22,31–34 Er (sc. Jesus) aber sprach:

34

295

Joh 13,36.37 f. 38

Jesus antwortete:

Dein Leben willst du für mich hingeben? Amen, ich sage dir:

Ich sage dir, Petrus:

Amen, amen, ich sage dir:

ehe (πρίν) der Hahn zweimal (δίς) kräht,

Der Hahn wird heute nicht krähen,

Der Hahn wird nicht krähen,

wirst mich dreimal verleugnen.

bis (ἕως) du dreimal geleugnet hast, mich zu kennen (εἰδέναι)1.

bis (ἕως οὗ) du mich dreimal verleugnet hast.

30b

Du (σύ), heute (noch), in dieser Nacht,

30c

Er aber sagte (umso) nachdrücklich(er):

31a

(Selbst) wenn ich mir dir sterben müsste (συν-αποθανεῖν σοι), so werde ich dich (doch) keineswegs verleugnen.

31b

(siehe oben)

Ebenso sprachen aber auch alle (anderen).

31c

(a) Der II. Wortwechsel stimmt bei Lukas und Johannes in der Abfolge der Redebeiträge überein: Petrus beteuert seine Bereitschaft zu sterben, Jesus reagiert. Bei Markus und Matthäus ist es genau umgekehrt (V.31b entspricht Lk  22,32 par. Joh  13,37). (b) Beide bieten das Wort Jesu vom krähenden Hahn (gegen Mk und Mt) in syntaktisch gleicher Abfolge: Der Hauptsatz steht voran, der temporale Nebensatz mit der Konjunktion ἕως folgt 2 . Sie erwähnen die Nacht nicht (Mk und Mt nennen ausdrücklich die Paschanacht) und lassen den Hahn auch nicht (wie diese) zweimal krähen (δίς). (c) Beim Petrus-Wort fällt die identische Anrede Jesu mit κύριε auf, wohingegen sonst der Wortlaut differiert und dem jeweiligen Sprachduktus der beiden Evangelisten angeglichen ist.

Die aufgeführten Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes lassen nur eine Deutung zu: Die beiden verarbeiten jeweils eigenständig, aber unabhängig voneinander ein Stück der ihnen gemeinsamen Passionsüberlieferung (PElk/joh): Nicht nur die vorangehenden Dialogstücke (Lk  22,31 f.; Joh  13,33.36) belegen dies, auch die Gestaltung der Verleugnungsansage selbst3. Während Petri Beteuerung bei Lukas, mit Jesus ins Gefängnis und in den Tod zu gehen, dem Leser das spätere εἰδέναι nimmt das οὐκ οἶδα αὐτόν der Verleugnungsszene voraus (Lk  22,57; vgl. V.60). Mk formuliert die zeitliche Grenze stattdessen mit einem durch πρίν eingeführten Temporal-

1 Das 2 

satz. 3  Green, Death 48–50, kommt aufgrund allein vokabelstatistischer Beobachtungen zu einem ähnlichen Ergebnis für Lk  22,33 f. („pre-Lukan“), ohne Joh zu berücksichtigen. V.31 f. seien „Luke’s redaction“ (49).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Geschick des Apostels in Erinnerung ruft4, geht es dem vierten Evangelisten um mehr: um das rechte Verständnis der „Nachfolge“ Jesu, die nicht mit der Lebenshingabe im Martyrium zu verwechseln ist. Die unterschiedliche Abfolge der beiden Redeteile im II. Wortwechsel bei Markus einerseits und Lukas/Johannes hängt offenkundig mit den jeweils voranstehenden Dialogteilen zusammen: Bei Markus setzt die Sequenz „auf dem Weg zum Ölberg“ mit Jesu Ankündigung ein: „alle werdet ihr an mir Ärgernis nehmen“ (V.27b.c). Dagegen protestiert Petrus: „ich nicht (ἀλλ’ οὐκ ἐγώ)“ (V.29b)5. Die mit dem hervorgehobenen „Du“ (σύ) darauf genau abgestimmte Ansage seiner Verleugnung (V.30c) musste folgen. Die erneute Beteuerung Petri, sogar „mit“ Jesus „sterben“ zu wollen (V.31b), ist die Klimax der kleinen Einheit. Der Erzählerkommentar am Schluss unterstreicht, dass Petrus in aller Namen spricht (V.31c.). Bei Lukas ist der Grund für die alternative Reihenfolge das vorangestellte Jesus-Wort an Petrus: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat sich euch ausgebeten, um (euch) zu sieben wie den Weizen […]“. Petri Beteuerung, für den Herrn sogar in den Tod zu gehen, schließt nahtlos an. Das Wort vom krähenden Hahn, autoritativ mit „ich sage dir, Petrus“ eingeführt, schließt die Sequenz. Ähnlich verhält es sich bei Johannes: Die Ankündigung Jesu, zu „gehen“, verbunden mit der Einschränkung, dass die Seinen ihm „jetzt“ noch nicht „folgen“ können (13,33.36), veranlasst Petrus zu beteuern, „sein Leben“ für Jesus „einzusetzen“ (13,37).

Die Mahlszene bestätigt die bisherige Linie der diachronen Analyse der Passionserzählungen: Auch die vier Varianten dieser Szene basieren auf den zwei bekannten Überlieferungssträngen, der PEmk einerseits und der PElk/joh andererseits. 5.2 „Alle werdet ihr Ärgernis nehmen“ (Mk  14,27). Die Mahlszene mit anschließender Episode auf dem Weg zum Ölberg bei Markus Markus ist nicht der „konservative Redaktor“, für den die Forschung ihn lange Zeit hielt6 . Mit seinen Vorgaben geht er kreativ um, was auch seine Mahlszene belegt. Deren Gestaltung ist weniger „eucharistietheologisch“ als vielmehr „christologisch-­ soteriologisch“ interessiert7. Folgende Züge der Szene dürften auf ihn zurückgehen: (a) Die szenische Eröffnung Mk  14,17 (Nr.  2a) trägt seine Handschrift, ersichtlich an der Erzählfigur der „Zwölf“ (ἔρχεται μετὰ τῶν δώδεκα), die seit 3,14 in seinem Buch eine wichtige Rolle spielt8 . Er bringt die „Zwölf“ ein9, weil sie Israel repräsentieren bzw. „die Vielen“, 4  Apg  12,3–5. Wie die Apg das Martyrium des Paulus voraussetzt (vgl. Apg  20,22–24), ohne davon am Ende zu erzählen, so wohl auch das des Petrus. 5  Zu V.28, der den vorgegebenen Zusammenhang von V.27 und 29 unterbricht, siehe unten 5.2. 6  Pesch, Mk I 15–32; 15: „In der redaktionsgeschichtlichen Forschung der letzten zwanzig Jahre ist die literarische Leistung des Evangelisten Markus erheblich überschätzt und seine Bindung an die ihm vorgegebene Jesusüberlieferung entsprechend unterschätzt worden“. 7  Vgl. den Nachweis oben in I.  1.4.3: Die Abendmahlsüberlieferung Mk  14,22–24 (unter 2). 8  Vgl. Mk  3,14; 4,10; 6,7; 9,35; 10,32; 11,11; 14,10. Auch A.Y. Collins, Mk 649, bemerkt die Spannung von V.17 zum Kontext („The main clause, ‚he came with the Twelve‘ […], presupposes the preceding account, in spite of the difficulty of relating ‚the Twelve‘ to ‚the disciples‘“), schließt aber daraus, auf die red. Zusammenstellung zwei unterschiedlicher Überlieferungen (Mk  14,12–16 und 14,17–25) durch Mk. Anders J. Gnilka, Mk II 235: „Vers 17 ist Übergang. Die Zeitbestimmung und die Erwähnung der Zwölf sprechen für Markus“ (ebenso Dormeyer, Passion 94 f.). 9  Vielleicht veranlasst durch die Einführung der Judas-Figur 14,10 (PEmk).

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

297

für die Jesus der Abendmahlsparadosis zufolge (V.24) in den Tod geht. Auch die Tageszeitangabe καὶ ὀψίας γενομένης = und als es Abend wurde wird sich ihm verdanken. Sie ist Teil des Tagesschemas, mit dem er den Jerusalem-Aufenthalt Jesu strukturiert10 . Dass es sich um eine abendliche Szene handelt, geht indirekt aus der nachfolgenden Redeeinleitung hervor: καὶ ἀνακειμένων αὐτῶν = als sie11 sich zu Tisch legten. (b) Vor allem fügt Markus die Abendmahlsparadosis ein, gestaltet sie narrativ aus und bündelt ihre christologischen Aussagen im Becherwort12 . (c) Die neben „heute“ (σήμερον) zweite Zeitangabe „in dieser Nacht“ in V.30 geht gleichfalls auf ihn zurück: Sie entspricht dem von ihm geschaffenen Pascha-Rahmen13. (d) Eine weitere Änderung betrifft das szenische Arrangement: Markus erzählt (gegen Lk und Joh) im Anschluss an die Mahlszene von einem Gespräch Jesu mit den Jüngern, das sich auf dem Weg zum Ölberg zuträgt (14,26–31). Lukas und Johannes bieten das entsprechende Material, wie oben gezeigt, im Kontext ihrer Mahlszenen. Weil die Idee des Weges spätestens seit Mk  8,21 für den ältesten Evangelisten theologisch hochbedeutsam und in unmittelbarer Nähe zum Tod Jesu krisenhaft zugespitzt wird14, dürfte die szenische Neugestaltung auf ihn zurückgehen: Auf dem letzten Stück gemeinsames Weges sagt Jesus seinen Jüngern voraus, dass sie ihm ihre Nachfolge aufkündigen werden. Umgekehrt findet sich kein Argument, das beim lkn./joh. Überlieferungszweig für eine nachträgliche Eliminierung der Übergangsepisode samt Einbezug der Ansage von Petri Verleugnung in die Mahlszene sprechen könnte.

Um die Aussageabsicht zu erfassen, die Markus mit seiner Darstellung verfolgt, ist auf die mehrfachen πάντες-Formulierungen zu achten. Das Gespräch unterwegs beginnt mit der Voraussage Jesu: „Ihr alle (πάντες) werdet an mir Anstoß nehmen“ (V.27); es schließt mit der Bemerkung nach Petri Beteuerung, für Jesus, wenn notwendig, zu sterben: „Ebenso sprachen aber auch alle (anderen)“ (πάντες) (V.31c)15. Der Voraussage von V.27 entspricht die Notiz V.50 in der Szene von der Gefangennahme Jesu: „und es verließen ihn und flohen alle (πάντες)“. Was Markus im Evangelium immer wieder zu erzählen weiß, dass nämlich die Jünger „nicht verstehen“, was Jesus sagt und tut, steigert sich am Ende zu purer Ablehnung in den unterschiedlichsten Formen: Verrat, Verleugnung und Flucht. Dazu setzt der Evangelist einen zweifachen Kontrapunkt. Den ersten bietet die Abendmahlsparadosis mit dem Becherwort vom Blut, „das für viele (= alle) vergossen wird“. Der Becher des Heils ist gerade für die gedacht, die angesichts des Todes Jesu scheitern, wie die dem Becherwort vorangehende Notiz: „und sie tranken alle (πάντες) aus ihm“ (14,23b), andeuten möchte – ob sie ihn nun verraten, verleugnen oder fliehen. 10  Siehe oben Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten. 11  In der vorgegebenen PEmk waren dies Jesus und „die Jünger“ – wie im joh. Überlieferungszweig. 12  Ausführlich oben in I.  1.4.3 den entsprechenden Abschnitt. 13  Die Wendung ταύτῃ τῇ νυκτί ist von daher geprägt: siehe zu Apg  12,6 unter I.  1.6.2 unter (2). Mt bietet die Angabe bereits redaktionell in 26,31, dann in 26,34 (im Anschluss an Mk  14,30). Schenk, Passionsbericht 227: Mk-R. – σήμερον auch in Lk  22,34. 14  Um das Weg-Motiv gruppieren sich andere Motive: Gehen hinter Jesus her = Nachfolge, Jesu Weg als Stärkung der Leidensnachfolge, Glaube etc.; vgl. Mk  9,33 f.; 10,17.32.46; vgl. bereits 1,2 f.; 2,23; 6,8; 8,3.27 etc. 15 J. Gnilka, Mk II 251: „Alle werden von Jesus angesprochen (27), alle reagieren (31b). Diese Inklusion hält das Ganze zusammen“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Der zweite Kontrapunkt ist V.28: „aber nach meiner Auferweckung werde ich euch nach Galiläa vorausgehen“. Markus setzt diese Ansage pointiert gegen die davorstehende, dass „alle“ Anstoß nehmen werden16: Auch wenn sie Jesus ausnahmslos die Nachfolge aufkündigen, er bleibt ihnen treu und wird sie nach Ostern erneut in seine Nachfolge rufen17. Was Markus aus seiner Vorlage geschaffen hat, ist nichts anderes als eine inszenierte Theologie der Gnade – nach paulinischem Muster: „alle (πάντες) haben gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit Gottes“ (Röm  3,23), „auf dass er sich aller (πάντας) erbarme“ (Röm  11,32). Wenn Markus betont, dass „alle“ aus dem Becher des Heils tranken, schließt er Judas mit ein. Damit gibt er seinen Lesern – im Unterschied zu Johannes – die Heilsmöglichkeit selbst des Verräters Jesu zu denken auf. Zwischen Verrat, Verleugnung und Flucht besteht letztlich kein Unterschied. Alle sind auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen. 5.3 Die Mahlszene in der PEmk Auf die eröffnende Mahlnotiz Mk  14,18a (vgl. Joh  13,2a)18 folgten die Ansage Jesu seiner „Auslieferung“ durch einen seiner Jünger, deren ratlose Reaktion und die rätselhafte Antwort Jesu: „Der (seine Hand) mit mir in die(selbe) Schüssel taucht“ (Mk  14,18–20 par. Joh  13,21–22.24.26). In der PEmk besaß die Sequenz möglicherweise folgenden Wortlaut (ohne die eingeklammerten Satzteile19):    18Und als sie zu Tisch lagen und aßen,    sprach Jesus:        Amen, ich sage euch:        Einer von euch wird mich ausliefern (παραδώσει)        [, der mit mir isst]20 .     [19Sie wurden traurig und sprachen zu ihm, einer nach dem anderen: Bin ich es etwa?]21 20     Er aber sprach zu ihnen:        [Einer der Zwölf,]22        der (seine Hand) mit mir in die(selbe) Schüssel taucht. 16 

V.28 geht, weil makrokontextuell eingebunden (vgl. 16,7), auf Markus zurück. Siehe unten II.  12.2. 18  V.17, der bei Joh keine Parallele besitzt, ist mkn. Übergangsvers: vgl. oben 5.2 unter (a). 19  Über sie lässt sich erst nach einem Vergleich mit der PElk/joh befinden, siehe die nachfolgenden Anm. 20  Der Zusatz klappt seltsam nach und stört die Kohärenz des Textes, weil er die konkrete Antwort von V.20 vorwegnimmt. Sein Zweck besteht darin, den dort verarbeiteten Topos von der Abwendung selbst der Freunde des Gerechten (siehe oben I.  1.2.1.1 unter „3. Geprägte Motive“) durch Anspielung auf Ps  41,10 zu verdeutlichen (μετ’ ἐμοῦ sowohl in V.18 als auch in V.20!). In der Parallele Joh  13,21b fehlt der Zusatz. Wenn Joh  13,18 Ps  41,10 zitiert, beweist dies nicht, dass der vierte Evangelist Mk  14,18 kennt. Die Form seines Zitats (ὁ τρώγων μου τὸν ἄρτον […]; vgl. Joh  6 ,54.56 f.) weicht von der mkn. Anspielung deutlich ab. Bei einer Klärung des Topos lag es bei einer Mahlszene nahe, gerade auf Ps  41,10 zurückzugreifen. 21  Mk bietet – im Unterschied zu Lk/Joh – eine dramatisierte Fassung, die veranschaulicht, dass jeder am Tisch als Sünder infrage kommt (siehe oben 5.2 zur mkn. Theologie; der Zusatz in V.18 wird derselben Intention geschuldet sein). Sie ist nicht ursprünglich (siehe unten). 22  Mk hat die Wendung nachgetragen: (1) In der vorgegebenen Fassung bezeichnet Jesus den 17 

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

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Ob der sich anschließende Spruch vom „Hingang“ des Menschensohns (Mk  14,21a.b) samt Wehe über den, der ihn ausliefern wird (Mk  14,21c–f), schon in der PEmk stand 23 oder Markus die Sequenz ganz oder teilweise gebildet hat 24 , ist strittig: Ι. ΙΙ.1 ΙΙ.2

Denn (ὅτι) der Menschensohn (ὁ μὲν υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) geht zwar hin (ὑπάγει), wie über ihn geschrieben ist. c Wehe aber (δέ) jenem Menschen (τῷ ἀνθρώπῳ ἐκείνῳ), d durch den der Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) ausgeliefert wird (παραδίδοται); e es wäre besser (καλόν) für ihn, f wenn jener Mensch (ὁ ἄνθρωπος ἐκεῖνος) nicht geboren worden wäre. a

b

Der Spruch ist nicht einheitlich. Stilistische und inhaltliche Beobachtungen legen nahe, den Wehe-Spruch (II.) von seinem schrifttheologischen Vorspann (I.) abzuheben 25. Der Wehe-­ Spruch redet in Anknüpfung an 14,18 („Einer von euch wird mich ausliefern [παραδώσει]“) im Passiv davon, dass dies am Menschensohn geschehen wird. Der Vorspann betont die Freiwilligkeit seines „Hingehens“. Jesus übernimmt sein Todesgeschick „aktiv“ 26 , „wie über ihn geschrieben ist“. Wahrscheinlich stammt der Vorspann von Markus, wohingegen der Wehe-Spruch, wie das vergleichbare Logion Lk  17,1 f. (vgl. Mt  18,7b) zeigt, auf Überlieferung beruht: Mk  14,21c–f Lk  17,1 f. Es ist unvermeidlich, dass Ärgernisse kommen; Aber wehe (οὐαὶ δὲ) jenem Menschen, aber wehe (dem) (οὐαὶ δὲ), durch den (δι’ οὗ) der Menschensohn durch den (δι’ οὗ) sie kommen. ausgeliefert wird. Es wäre besser für ihn (καλὸν αὐτῷ), Es wäre besser für ihn (λυσιτελεῖ αὐτῷ), wenn (εἰ) jener Mensch nicht geboren wenn (εἰ) ein Mühlstein um seinen Hals gehängt worden wäre. und er ins Meer geworfen würde, als dass er einem von diesen Kleinen zum Ärgernis wird. Ludger Schenke zufolge hat Markus mit dem von ihm gebildeten Vorspann (I.) einen alten prophetischen Wehe-Spruch (V.21c–f) in seine Szene eingebunden. Dessen nicht mehr erhal„Auslieferer“ als Mahlgenossen, dessen Identifizierung als „einer der Zwölf“ ist ein zusätzliches Element, das den Skandal noch verschärft: Er stammt aus Jesu engstem Kreis, den „Zwölf“. – (2) Schon in V.17 hat Mk „die Zwölf“ nachgetragen (siehe oben 5.2 unter [a]). – (3) Auch V.18 erklärt unbestimmt: „Einer von euch wird mich ausliefern“ (ebenso Joh  13,21). – (4) Weder Lk noch Joh sprechen in ihrem Mahlszenen von den „Zwölf“ (vgl. Lk  22,21; Joh  13,21.26). – (5) Der Eintrag dient dem übergeordneten Aussageinteresse des Mk: „‚Einer‘ der ‚Zwölf‘ ist der Verräter, aber jeder der ‚Zwölf‘ kann dieser ‚Einer‘ sein“ (L Schenke, Studien 277). 23  Liebers, Studien 116 f.119–128, hält aus vokabelstatistischen und formkritischen Gründen V.21 insgesamt als Mk vorgegeben; die stilistischen Eigenheiten (metaphorische Verwendung von ὑπάγω im Sinn von „sterben“; die wortspielartige Fügung: „der Menschensohn“ – „jener Mensch“ etc.) verwiesen auf palästinisch-judenchristliche Herkunft. 24  Lührmann, Mk 237: Der Spruch ist „nicht ohne Anhalt in der ihm (sc. Mk) vorgegebenen Passionsgeschichte“, dürfte aber „als ganzer auf Mk zurückgehen, wobei Mk einen Spruch ähnlich Lk  17,1 f./Mt  18,6 (vgl. Mk  9,42) verwertet hat“; vgl. L. Schenke, Studien 237–271; J. Gnilka, Mk II 235 f. 25 L. Schenke, Studien 241–244. 26 J. Gnilka, Mk II 238; L. Schenke, Studien 242: Der Wehe-Spruch betont „die Notwendigkeit des Leidens“, V.21a.b „die schriftgemäße Freiwilligkeit des Hingangs des Menschensohns“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

tener Auftakt – vergleichbar mit dem von Lk  17,1 – habe möglicherweise gelautet: „Der Menschensohn wird […] überliefert werden“27. Dieses Logion sei die Keimzelle der gesamten von Markus redaktionell geschaffenen Szene 14,17–20, allerdings eine Hypothese, die an der joh. Parallele scheitert.

Auszugehen ist von der Beobachtung, dass V.21 zwei paradoxe Aussagen miteinander verbindet: „Obwohl Jesu Tod nach der Schrift geschehen muss, kommt doch der, der Jesus ausliefert, unter den Fluch, der mit diesem ‚Wehe‘ ausgesprochen ist“28 . Das abgründige Wehe, das „jenen Menschen“ als Gegenspieler des „Menschensohns“ ewigem Verderben überantwortet 29, steht quer zur Aussageabsicht, die Markus mit seiner Mahlszene insgesamt verfolgt: Alle stehen unter dem Gericht Gottes, alle bedürfen seiner Barmherzigkeit, die ihnen das „für viele vergossenen Blut“ Jesu (Mk  14,24) zuwendet 30 . Wahrscheinlich fand Markus den Wehe-Spruch in seiner PE vor, stellte ihm aber seine eigene Überzeugung voran, dass Jesus deshalb in den Tod ging, weil dies den Schriften, also Gottes Willen entspricht31. Unter diesem Vorzeichen liest sich der Wehe-Spruch anders32 . Wenn die Szenerie des Gesprächs auf dem Weg zum Ölberg von Markus stammt, wird die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus (Mk  14,30 f.) (wie bei Lukas und Johannes) ursprünglich Teil der Mahlszene gewesen und in der PEmk der Verratsansage gefolgt sein, allerdings nicht unmittelbar, sondern in Verbindung mit Mk   14,27a.b. Ablesbar ist das daran, dass der anschließende Schriftbezug auf Sach  13,733 samt österlicher Verheißung V.28 den vorgegebenen Zusammenhang von V.27a.b und V.29 unterbricht: „Die Antwort des Petrus [in V.29] nimmt auf Schriftbezug und Verheißung keinen Bezug“34. Weil Markus für diesen Einschub verantwortlich ist, wird er den von ihm unterbrochenen Zusammenhang in seiner Passionserzählung vorgefunden haben. Schon dort besaß der Wortwechsel Petri mit Jesus die Gestalt, die er nun in 14,29–31c (abweichend von der lkn./joh. Ako27 L. Schenke, Studien 267; ebd. einschränkend: „Eine gewisse Umständlichkeit in der Formulierung (vgl. das doppelte υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) ist zuzugeben“. Es handle sich um ein „isoliert überlieferte(s), palästinensisches Wehelogion“, „das stark die Verantwortlichkeit des Verräters für das Passionsschicksal Jesu hervorhob“ (342). 28  Lührmann, Mk 237. 29  Vgl. Ijob  3,1–19; Sir  23,14b.c. 30  Siehe oben II.  5.2. 31 J. Jeremias, Art. παῖς 704 Anm.  405, sieht Jes  53 im Hintergrund (V.6.12: παρεδόθη). „Der Schrifthinweis müsste“ aber „in diesem Fall Bestandteil des Weherufes sein, in dem die Übergabe-Formulierung begegnet. Hingegen ist in Jes  53 weder vom ‚Menschensohn‘ noch von dessen ‚Hingehen‘ die Rede“ (Liebers, Studien 127); Pesch, Mk  II 347.352, bezieht den Schriftverweis generell auf die biblisch-frühjüdische Überlieferung von der passio iusti; V.18.20 lassen indes v. a. an Ps  41,10 denken. 32  In der vorgegebenen Sequenz (ohne V.21a.b) schloss der Spruch nahtlos an Jesu Wort V.20 an (siehe unten): (1) Zur unbestimmten Weise, vom „Auslieferer“ in V.18.20* zu sprechen, passt die Rede von „jenem Menschen“. – (2) Mit V.19.20* ist der Spruch durch Stichwortanschluss verbunden: παραδώσει με – παραδίδοται. 33  Sach  13,7 steht auch im Hintergrund der Anspielung von Joh  16,32 auf die syn. Tradition der Jüngerflucht, „die im joh. Passionsbericht fehlt und fehlen muss“ (Dietzfelbinger, Joh II 180). 34 J. Gnilka, Mk II 252.

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

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luthie) besitzt. Nicht auszuschließen ist, dass die ausweitende Notiz am Ende: „Ebenso sprachen auch alle“, auf mkn. Redaktion zurückgeht. Entgegen der von Markus redaktionell hergestellten Abfolge wird das eschatologische Wort Mk  14,25 mit einer Einleitung, wie sie in Lk  22,17 noch durchscheint 35 , den Szenenabschluss gebildet haben – die natürliche Position eines eschatologischen Ausblicks. Damit zeichnet sich die Gestalt der vormkn. Mahlszene ab:     Und […] als sie zu Tisch lagen und aßen,    sprach Jesus:       Amen, ich sage euch:        Einer von euch wird mich ausliefern (παραδώσει) […].    [Ratlosigkeit der Jünger untereinander, wer es wohl sei]     Er aber sprach zu ihnen:        […] Der (seine Hand) mit mir in die(selbe) Schüssel taucht.       […] Wehe jenem Menschen,        durch den der Menschensohn ausgeliefert wird (παραδίδοται).       Es wäre besser für ihn,        wenn jener Mensch nicht geboren worden wäre.     […] Und Jesus spricht zu ihnen:        Alle werdet ihr an mir Ärgernis nehmen […].     Petrus aber sagte zu ihm:       Auch wenn alle Ärgernis nehmen werden,       ich nicht.     Und Jesus spricht zu ihm:       Amen, ich sage dir:       Heute (noch) […],       ehe der Hahn [zweimal36] kräht,       wirst mich dreimal verleugnen.     Er aber sagte (umso) nachdrücklich(er):        (Selbst) wenn ich mir dir sterben müsste,       so werde ich dich keineswegs verleugnen.     [Und er nahm einen Becher, sagte Dank und sprach:]       Amen, ich sage euch: Ich werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tag,               wenn ich davon […] trinke im Reich Gottes. 35  Siehe oben in I.  1.4.3 den Abschnitt: Die Konturen der Mahlszene in der alten Passionserzählung, unter (2) (c). 36  Vom zweiten Hahnenschrei ist nur bei Mk, nicht in den anderen Evangelien die Rede; es wird sich um einen mkn. Zusatz handeln. J. Gnilka, Mk II 254: „Der zweite Hahnenschrei […] besitzt in der griechisch-römischen Literatur zahlreiche Parallelen und markiert den Sonnenaufgang“, letzteres allerding nur bei Ammianus Marcellinus (Rer. gest. 22,14,4: unde secundis galliciniis videtur primo solis exortus); anders Öhler, Hahnenschrei 146: lediglich: „sehr früh“. Lanzinger, Petrus 32–50, sieht eine „Spannung“ zwischen der dreifachen Verleugnung des Petrus und dem zweifachen Hahnenschrei, die er als Vorausdeutung auf einen dritten „Hahnenschrei“ liest: die neronische Verfolgung, bei der Petrus seine Zugehörigkeit zu Jesus nicht mehr verleugnet, sondern zum Märtyrer wird.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

5.4 Vom Tischdiener Jesus zur Fußwaschung. Die PElk/joh als Vorlage des Lukas und Johannes Die Gestalt der Mahlszene in der PElk/joh ist entlang der drei folgenden Einheiten zu erkunden: (1) der Ansage der „Auslieferung“ Jesu (Lk  22,21–23 par. Joh  13,21–30), (2) des Wortwechsels Jesu mit Petrus anlässlich der Ansage seiner Verleugnung (Lk  22,31–34 par. Joh  13,36–38)37 und (3) des lkn. Spruchs vom Tischdiener (Lk  22,27) im Vergleich zur joh. Erzählung von der Fußwaschung (Joh  13,1–20). (1) Markus und Matthäus eröffnen die Mahlszene mit der Ansage der „Auslieferung“ Jesu durch Judas, Lukas bietet diese erst im Anschluss an die Mahlgesten und -worte Jesu, an die er sie in gekürzter und zugespitzter Form38 eng mit einem πλὴν ἰδού = „doch seht …!“ anbindet (Lk  22,21–23). Das bedingt eine weitere Umstellung der Elemente, durch die sich Lukas markant von Markus und Johannes unterscheidet: Die Notiz zur Ratlosigkeit der Jünger beschließt die Einheit (Lk  22,23; anders Mk  14,19 par. Joh  13,22), wohingegen die Qualifizierung des Verräters als Tischgenosse samt Verweis auf die theologische Notwendigkeit des Todes Jesu ­voranstehen (Lk  22,21.22; anders Mk  14,20.21): Mk  14,18–21 (1)

Lk  22,21–23

Amen, ich sage euch:

Einer aus euch wird mich ausliefern

Joh  13,21–30 Amen, amen, ich sage euch:

18b

21d

(vgl. V.21)

e

(siehe unten)

22

Einer aus euch wird mich ausliefern.

[, der mit mir isst]. (2) 19Sie begannen, traurig zu werden und zu ihm zu sprechen, einer nach dem anderen: Etwa ich?

(3) 20Er aber sagte ihnen: 21 [Einer der Zwölf,] Nur seht (πλὴν ἰδού): [D]er eintunkt Die Hand dessen, der mich (ὁ ἐμ-βαπτόμενος) mit mir ausliefert, (μετ’ ἐμοῦ) in dieselbe Schüssel. (ist) mit mir (μετ’ ἐμοῦ) am Tisch.

Die Jünger blickten einander (εἰς ἀλλήλους) ratlos (ἀπορούμενοι) an, über wen (περὶ τίνος) er spricht. […]

Jesus antwortet: Jener ist es, dem ich den Bissen Brot eintauchen (βάψω) und geben werde. 26a b

37  Die oben bereits in 5.1 unter (3) gewonnenen Einsichten sind hier aufzugreifen und weiterzuführen. 38  Die Ansage: „Einer wird mich übergeben“ ist in Lk  2 2,21 in das Genitivpartizip „(die Hand) dessen, der mich übergibt“ transformiert, die Wendung „der eintunkt mit mir …“ kondensiert zu: „(ist) mit mir am Tisch“. Auch V.22 hat Lk gekürzt, vor allem den Wehe-Spruch. Die Rahmung von V.22 mit dem Stichwort παραδίδωμι zeigt, worauf es Lk ankommt: das Involviert-Sein des Judas in den Tod Jesu.

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

Mk  14,18–21

Lk  22,21–23

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Joh  13,21–30 Dann tauchte er den Bissen ein, nimmt und gibt (ihn) Judas (dem Sohn) des Simon Iskariot […].

c

Jener nahm den Bissen und ging sofort hinaus […].

30

(4) 21Denn der Menschensohn muss zwar gehen, wie über ihn geschrieben ist. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird; es wäre besser für ihn, wenn jener Mensch nicht geboren worden wäre.

Denn der Menschensohn geht nach dem (für ihn) Bestimmten.

22

Nur wehe jenem Menschen, durch den er ausgeliefert wird.

(2) 23Und sie begannen, untereinander (πρὸς ἑαυτοὺς) zu forschen, wer (τίς) es von ihnen sei, der dieses tun wird.

Die Neuordnung der Elemente geht ohne Zweifel auf Lukas zurück. Wenn er die Ansage der „Auslieferung“ Jesu durch Judas (παραδίδωμι) unmittelbar an die Mahlworte anschließt 39, will er sagen: Die abgründige Tat „jenes Menschen“, der den „Menschensohn“ ausliefert (V.20 f.), und Jesu Hingabe um der Menschen willen, aus der ihnen Heil erwächst (V.19 f.), sind wie zwei Seiten einer Medaille. Jesu „Weg“ in den Tod (V.22: πορεύεται) entspricht seiner göttlichen „Bestimmung“, die Figur des Judas ist dem einzuordnen. Die joh. Parallele (Joh  13,21–30) bietet ein weiterentwickeltes Bild. Das Grundgerüst der alten Überlieferung zeichnet sich deutlich ab, bestehend aus (a) der Verratsansage (V.21b), (b) der Notiz zur Ratlosigkeit der Jünger (V.22) und (c) dem Motiv vom „Eintauchen“ (eines Bissens) (V.26)40 . Dieses bot den Anstoß dazu, die Geschichte fortzuschreiben: Aus der Verrats-Ansage bei den Synoptikern (Mk  14,20 par. Mt  26,23; Lk  22,21) wurde die Identifizierung des Verräters mittels der Geste des Darreichens des Bissens: Jesus „nimmt“ den Bissen und „gibt“ ihn Judas. Judas „nimmt“ ihn und „verlässt“ den Kreis (V.26/30). Bei den Synoptikern fällt nirgends der Name des Judas, die Ansage bleibt den Anwesenden ein Rätsel. Johannes lüftet es. Die Geschichte wird er im beschriebenen Umfang (V.21d.e.22.26.30a.b) in sei39  Es entsprechen sich τὸ ὑπὲρ ὑμῶν διδόμενον V.19 bzw. τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον V.20 und παρα-διδόντος μέ bzw. παρα-δίδωται (V.21 f.) 40  Vgl. Rut  2 ,14: „Zur Essenszeit sagte Boas zu ihr: Komm hierher und iss von dem Brot, tauch deinen Bissen in die Würztunke!“

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

ner PE vorgefunden und sie zu der Gestalt weiterentwickelt haben, wie sie jetzt im Wesentlichen vorliegt41. Nicht zu übersehen ist schließlich, dass Lukas und Johannes sich darin treffen, wie sie die Reaktion der Jünger auf Jesu Ansage schildern. Bei Markus und Matthäus wenden sich die Jünger direkt an Jesus, einer nach dem anderen („Etwa ich?“), bei Lukas und Johannes zeigen sie sich untereinander ratlos, wer so etwas tun könne (Lk  22,23; Joh  13,22). Die dramatisierte Fassung (mit direkter Rede) wird sich der Intention des Markus verdanken, jeden am Tisch als möglichen Täter hinzustellen. Tatsächlich verlassen Jesus „alle“, nicht nur Judas. Daraus ergibt sich: (a) Die sachliche Übereinstimmung von Lk  22,23 und Joh  13,22 deutet wieder auf die PElk/joh als gemeinsamen Ahnen der beiden Evangelisten hin, wobei Johannes auf ihr nicht unmittelbar fußt. Vielmehr hat er die Geschichte, wie oben gezeigt, in weiterentwickelter Gestalt der PEjoh entnommen. (b) Geht die dramatisierte Form der Jüngerreaktion auf Markus zurück, so bewahren Lk  22,23 und Joh  13,22 (= PElk/joh) die Fassung der Notiz auf, die sie bereits in der PEG hatte. Mehr als dass sie vom „Untereinander“ (πρὸς ἑαυτούς – εἰς ἀλλήλους) und vom fraglichen Täter in der dritten Person („über wen er spricht“ bzw. „wer es ist“42) handelte, lässt sich nicht sagen. (2) Zur Mahlszene der PElk/joh gehörte zweitens Jesu Wortwechsel mit Petrus in einer Gestalt, die sich von der mkn. Parallele, wie oben dargelegt43, durch ihre Abfolge unterscheidet: Die enthusiastische Beteuerung des Jüngers, sein Leben für Jesus einzusetzen, steht voran, die ernüchternde Ansage seiner Verleugnung folgt (Lk  22,33 f. par. Joh  13,37 f.). Beide Evangelisten fassen diese ihnen vorgegebene Sequenz neu, indem sie jeweils ein weiteres Jesus-Wort aus ihrer Überlieferung vorschalten: Lukas das vom Sieben des Satans (Lk  22,31 f.)44 , Johannes das Herrenwort vom „Fortgang“ Jesu im Tod (Joh  13,33)45. Endet damit das Proömium seiner ersten Abschiedsrede (13,31–38), so fügt Lukas der Sequenz noch V.35–38 redaktionell an: Mit allen Feindseligkeiten, die den Jüngern in Zukunft vonseiten der Menschen 41  Unter Abzug des Einschubs von V.23–25 zur Figur des geliebten Jüngers, den die Redaktion des vierten Evangeliums sekundär nachgetragen hat: Theobald, Jünger 503–505); auf den Evangelisten gehen zurück: (a) das „Jüngerunverständnis“ V.28 f. (des Öfteren bei Joh: 13,6–10.36–38; 14,5.8 f.; 18,10 f. etc.); (b) die Transposition der satanalogischen Notiz von ihrem ursprünglichen Ort in der PElk/joh hierhin nach 13,27a (siehe oben 4.1 unter [2.b]) und (c) die symbolträchtige Nennung der „Nacht“ in V.30c (vgl. Joh  1,5; 3,19–21; 8,12; 9,4; 12,35 f.). Da V.27–29 den Zusammenhang von V.26 und 30 unterbrechen, geht der Block auf den Evangelisten zurück. 42  Angemerkt sei, dass zur Fassung in der 3. Person die Antwort Jesu ὁ ἐμβαπτόμενος … viel besser passt als zur direkten Rede („Bin ich es?“) bei Mk. 43  Vgl. die Übersicht in II.  5.1 unter (3). 44  Das Wort fügt sich in sein Gesamtbild ein, nach dem Satan auch nach Ostern die Menschen angreifen wird, selbst in der Gemeinde, wenn er z. B. „das Herz“ des Ananias „erfüllt“, der „den Heiligen Geist belügt“ (Apg  5,3). Nur die Bekehrung zu Jesus befreit aus dem „Machtbereich ­Satans“ (Apg  26,18). Lukas erwähnt das Satanische jetzt dreimal in seiner Passionserzählung: in Lk  22,3.31 und in Jesu letztem Wort am Ölberg vor seiner Gefangennahme: „das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“ (22,53). 45  Vgl. Joh  7,33 f.; 8,21; 13,33. Theobald, Herrenworte 424–455.

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

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drohen werden, kommt die Situation in den Blick, in der Petrus – dem eröffnenden Wort zufolge – „die Brüder“ „stärken“ soll. Bemerkenswert ist, dass Lukas die Ansage der Verleugnung des Petrus (22,33 f.) samt vorgeschaltetem Satanswort (22,31 f.) von der Ansage der „Auslieferung“ Jesu durch Judas (22,21– 23) deutlich abhebt. Bei Markus war diese nur ein Moment der Dynamik, die alle an Jesu Tisch als Sünder erscheinen lässt: neben Judas auch Petrus und die übrigen Jünger. Demgegenüber weist der dritte Evangelist Judas eine Sonderrolle zu, wenn er die Ansage seiner Tat von den Aussagen über die Jünger absetzt. In 22,31–34 liegt ihm daran, den Blick über Petri Versagen hinaus auf seine nachösterliche Rolle zu lenken, „wenn er sich wieder bekehrt hat“ (V.32). In der Szene der Gefangennahme Jesu verschweigt er die Jüngerflucht. Das Erschrecken bei Markus darüber, dass ausnahmslos alle Sünder sind – in Verbindung mit seiner Überzeugung vom Heilstod Jesu für alle –, ist bei Lukas der paränetischen Absicht gewichen, Jesus als Vorbild für seine Jünger hinzustellen.

(3) Deutlich wird dies an der zwischengeschalteten Jesus-Rede Lk  22,24–30 zum Thema Herrschen und Dienen 46 . Die Überlieferung, der Lukas folgt, ist auch aus Mk  10,41–44 bekannt: „Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll wie der Kleinste werden und der Führende wie der Dienende (ὁ ἡγούμενος ὡς ὁ διακονῶν)“ (Lk  22,25 f.). Das zweite, im Vergleich zur mkn. Variante hervorstechende Oppositionspaar „Führender“ und „Dienender“ scheint die Jünger – es sind bei Lukas „die Apostel“ (Lk  22,14) – als Muster der zukünftigen Gemeindeleiter und Vorsteher der eucharistischen Mahlgemeinschaften anzusprechen. Die Weisung wird mit Jesu eigener, vorbildlicher Rolle begründet:     Denn wer ist größer?     Der zu Tisch liegt (ὁ ἀνακείμενος) oder der bedient (ὁ διακονῶν)?     Nicht der zu Tisch liegt?    Ich aber (ἐγώ) bin in eurer Mitte als der [euch] bedient (ὁ διακονῶν) (V.27).

Es folgt die Verheißung Jesu an die Jünger, die mit ihm in den Versuchungen ausharrten, „essen und trinken“ zu dürfen an seinem Tisch in seinem ihnen vermachten Reich und auf Thronen zu sitzen und die zwölf Stämme Israels zu richten (V.28–30). Die Redesequenz ist zweigeteilt (V.24–27/28–30)47. Beide Hälften gipfeln in einem Verweis auf das Mahl: im Wort vom Tischdiener Jesus (V.27) als der christologischen Klimax der Paränese V.24–27 und im Ausblick auf das eschatologische Mahl im vollendeten Reich wiederum am „Tisch“ Jesu (V.30)48 . Wer von hierher auf die joh. Erzählung von der Fußwaschung blickt, findet für deren doppelte Deutung – die christologische (Joh   13,6–10) und paränetische (13,12–17) –, eine plausible Erklärung. Letztere ist, das zeigt eine genaue Analyse 46  Vom vorausgehenden Mahl ist die Rede szenisch abgehoben: „Es entstand nun (ἐγένετο δέ) auch ein Streit unter ihnen darüber, wer von ihnen als der Größte zu gelten habe“ (V.24). 47  Wie die nachfolgende Redesequenz zu Petrus (V.31–34) und der zukünftigen Gefährdungssituation der Jünger (V.35–38). 48  Dasselbe Stichwort „mein Tisch“ bereits in V.21.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

der Szene49, in ihrer Substanz dem Evangelisten vorgegeben, die christologische verdankt sich seiner Gestaltung. Bei der Überlieferung, die er rezipierte, handelt es sich um ein „Apophthegma“, bestehend aus einem knappen szenischen Rahmen – beim Mahl steht Jesus auf, wäscht seinen Jüngern die Füße und nimmt wieder Platz (V.2a.4 f.12a–d) – und einer anschließenden paränetischen Weisung, die dazu aufruft, was Jesus getan hat, auch untereinander zu tun (V.13 f.). Zwei Botensprüche, V.16.20, waren dem „Apophthegma“ beigegeben. Dieses „Apophthegma“ war keine frei umlaufende mündliche Überlieferung50 , sondern Teil der PEjoh, in welcher der Evangelist die Geschichte vorfand51. Zugunsten dieser Annahme könnte auch die überraschende inhaltliche Parallele zwischen dem Tischdiener-Spruch Lk  22,27 und der Fußwaschungsepisode sprechen 52 , die nach einer Erklärung verlangt. Hans Klein zufolge war das Logion „im Zusammenhang der Mahlszene in der Vorlage des Lk verankert“53, was bedeutet, dass die Autoren der PEjoh es kannten und zum Anlass nahmen, es mit ihrer Erzählung von der Fußwaschung „in die bildhafte Form einer konkreten Szene“ zu kleiden 54 , um am Tun Jesu zu zeigen, was es in letzter Konsequenz bedeutet, anderen zu „dienen“55. Lukas platzierte den Tischdiener-Spruch an das Ende seiner Paränese, wo er deren ursprüngliche Klimax, den Spruch vom Lösegeld Mk  10,45, ersetzt. Dort, wo Mk  10,41–44 der Markus-Akoluthie zufolge eigentlich hätte hingehört, zwischen Lk  18,34 und 35, übergeht er die Passage. In den am Ende stehenden Spruch V.26– 30 par. Mt  19,28, der wohl aus der Logienquelle stammt, hat er das Bild vom Mahl am Tisch Jesu in der vollendeten Reich Gottes eingetragen (V.30a), um den Spruch in den Mahlkontext zu integrieren. – Wahrscheinlich enthielt die PElk/joh also folgende vier Einheiten: (a) die Ansage des Judas-Verrats in einer von der PEmk nur unwesentlich abweichenden Form, bestehend aus dem Amen-Wort Jesu (Joh  13,21 par. Mk  14,18; vgl. Lk  22,22), der Reaktion der ratlosen Jünger (Lk  22,23 par. Joh  13,22) und der Bezeichnung des Verräters als Tischgenosse (Joh  13,26 par. Mk  14,20; vgl. Lk  22,21), (b) die Beteuerung 49 

Theobald, Herrenworte 130–138; vgl. auch Schleritt, Passionsgeschichte 256–267. Bultmann, Joh  352. 51  Schleritt, Passionsbericht 267 f.; die Annahme, dass die Quelle V.2a.4 f.12–17.20 „dieselbe war, die der Evangelist auch vorher und nachher zur Grundlage seiner Darstellung machte – nämlich PBjoh – kann im Vergleich zu anderen möglichen Erklärungen zumindest den Anspruch erheben, die einfachste und daher die plausibelste zu sein“. 52  Klein, Frage 74: Das Stichwort διακονέω hat – abweichend von der gewöhnlichen Bedeutung („für jemanden einen Auftrag ausführen“) in Lk  22,27 exakt die Bedeutung „Tischdienst leisten“, wozu auch der Dienst der Fußwaschung zählt. 53  Ebd. 74. 54  Bultmann, Geschichte 49: „Herrenworte … werden nach rabbinischer Art in die bildhafte Form einer konkreten Szene gekleidet. […] Ein deutliches Beispiel dafür ist die Geschichte von der Fußwaschung Joh  13,4 f.12–15, die […] auf Lk  22,27 (oder einem verwandten Logion) beruht“. 55  Mahnt Jesus in Lk  2 2,27 zu einem gegenseitigen διακονέω in der Gemeinde, so könnte vor allem der zweite Botenspruch Joh  13,20 andeuten wollen, dass es immer auch um Gastfreundschaft der christlichen Gemeinden untereinander geht, um die Aufnahme von „Gesandten“ (ἀπόστολοι) (V.16) im Namen Jesu. 50 

5. Jesu letztes Mahl mit den Seinen (Mk  14,17–31 par.)

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des Petrus, (im Gegensatz zum „Verräter“) sein eigenes Leben für Jesus in die Waagschale werfen zu wollen, verbunden mit der Ansage seiner Verleugnung (Lk  22,33 f. par. Joh  13,37 f.) und (c) als Klimax das Wort vom Trinken des Weins im kommenden Reich Gottes (Lk  22,18 par. Mk  14,25): Lukas hat dieses Wort in die Eröffnung seines Mahlberichts verschoben, wohingegen Johannes es als nicht kompatibel mit seiner Eschatologie aus seiner Überlieferung ausgeschieden hat. In der PElk/joh war es (wie in der vormkn. Überlieferung und schon in der PEG) mittels einer szenischen Einleitung, die in Lk  22,17.18a noch durchscheint, an die voran­ gehenden Einheiten angebunden 56 . Hinzugekommen in der PElk/joh ist schließlich (d) das Wort von Jesus als Tisch­ diener Lk  22,27, dessen konkrete Verortung in der vorlkn. Mahlszene allerdings vor Probleme stellt57. Am ehesten stand es eingangs der Mahlszene unmittelbar nach ihrer szenischen Eröffnung, woran seine Rede vom ἀνακείμενος anknüpfen konnte. Wie die Anbindung konkret aussah, lässt sich nicht sagen. Die Einheiten (a) und (b), deren Abfolge in den Evangelien stabil ist, schlossen sich an. Die Notiz vom Abschiedsbecher mit begleitendem eschatologischem Wort bildete den Schluss der Einheit. 5.5 Von Verrat, Verleugnung, Abschied und Hoffnung. Die Mahlszene der PEG im Spiegel der PEmk und PElk/joh Die Analyse der beiden Überlieferungsstränge erlaubt es, die oben 58 dargebotene Übersicht über die Mahlszene der PEG zu präzisieren. Sie besteht aus drei jeweils szenisch eingebetteten Amen-Worten Jesu. Das erste löst (entsprechend der lkn/ joh. Version) unter den Jüngern Ratlosigkeit aus. Jesus entlarvt die ihn „ausliefernde“ Person als Tischgenossen. Dies hat den Sinn, ein weiteres Mal sein Geschick als „leidender Gerechter“, der von einem seiner engsten Freunde preisgegeben wird (vgl. u. a. Ps  41,10) 59, ins Bild zu setzen. Der Wehe-Spruch, der bei Markus folgt, ist gemäß dem Gesetz der wachsenden Überlieferung wohl nachträglich angehängt worden, wahrscheinlich auf der Ebene der PEmk. Wird die erste Sequenz vom Amen-Wort eröffnet, so ist es in der zweiten umgekehrt. In der strittigen Frage, welche der beiden Überlieferungsformen (die mkn. oder die lkn./joh.) ursprünglich ist, wird zugunsten der einfacheren Form zu entscheiden sein: Besteht die lkn./joh. Fassung lediglich aus Petri Beteuerung und Jesu Ansage seiner Verleugnung, so bietet die mkn. zwei Redebeiträge des Jüngers, was mit der vorangestellten Ankündigung Jesu: „Ihr werdet alle zu Fall kommen“ zusammenhängt. Diese Fassung, die der Ebene der PEmk zuzuweisen sein dürfte, wird sich der Absicht verdanken, ne56  Siehe oben in I.   1.4.3 den Abschnitt: Die Konturen der Mahlszene in der alten Passions­ erzählung, unter (2) (c). 57  Klein, Frage 74: Der Spruch gehört zwar zur lkn. Vorlage, „[e]in vorlkn. Zusammenhang lässt sich aber nicht mehr rekonstruieren“ 58  In I.  1.4.3: Die Konturen der Mahlszene in der alten Passionserzählung (unter [2]). 59  Eine mögliche Anspielung auf Ps  41,10 wird erst nachträglich verdeutlicht. Auch der Beter von 1QH  13 (= 5),23 f. bezieht Ps  41,10 auf seine Gegner (Maier, Qumran-Essener I  79).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

ben dem Verrat des Judas und der Verleugnung des Petrus auch die später erzählte Jüngerflucht durch Jesus ankündigen zu lassen. Damit zeichnet sich die ungefähre Gestalt der Szene in der PEG ab: Markus

Lukas

Johannes

22,23

13,2a 13,21a 13,21b 13,21c 13,22

I. Und als es Abend wurde […] und sie zu Tisch lagen und aßen / während des Mahls sprach Jesus:    Amen, ich sage euch:    Einer von euch wird mich ausliefern (παραδώσει) […]. [Ratlosigkeit der Jünger, wer dies sein könne] Er aber sprach zu ihnen:   […] Der (seine Hand) mit mir in die(selbe) Schüssel taucht […].

14,17a 14,18a 14,18b 14,18c 14,18d [14,19] 14,20a 14,20c

II. Petrus aber sagte zu ihm: [Beteuerung, selbst sein Leben für Jesus einzusetzen] Und Jesus spricht zu ihm:   Amen, ich sage dir:    Heute (noch),   ehe der Hahn […] kräht,   wirst du mich dreimal verleugnen.

14,29a 22,33a [14,29b.c 22,33b 14,30 22,34

III. Und er nahm einen Becher, sagte Dank und sprach […]:   Amen, ich sage euch:   Ich werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr    trinken bis zu jenem Tag,   wenn ich davon […] trinke im Reich Gottes.

13,37 13,37b.c] 13,38

22,17

14,25

22,18

Geprägt ist die Mahlszene von Jesu durchgängiger vollmächtiger Redeweise: Seine drei Worte sind Amen-Worte, Ansagen nicht nur dessen, was unmittelbar bevorsteht („Auslieferung“ und Verleugnung), sondern auch der eschatologischen Zukunft, nämlich seiner zukünftigen Teilhabe am eschatologischen Mahl der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Damit kommt eine Dynamik der Hoffnung ins Bild, die selbst über den Epilog der PE mit der Kundgabe der Auferweckung Jesu durch den himmlischen Boten in der leeren Grabkammer hinausreicht: Das Abschiedsmahl wird zum Vorschein des eschatologischen Mahls, Grundsymbol des nahen Gottesreichs60 . Wer der Gastgeber sein wird, ist nicht gesagt, aber vorausgesetzt: Gott in der Voll­ endung seines Reiches61.

60  61 

Bergmann, Endzeit. Siehe unten III.  2.4.3 unter (2) (c).

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

309

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.) Nur die Synoptiker bieten die Getsemani-Szene, bei Johannes fehlt sie. Deshalb muss sie nicht sekundär sein62 . Das Gegenteil trifft zu: Der vierte Evangelist kannte sie aus seiner Passionsüberlieferung, ließ sie aber aus theologischen Gründen aus. 6.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen Die bisherigen Ergebnisse lassen erwarten, dass auch den synoptischen Varianten der Getsemani-Szene (Mt  26,36–46; Mk  14,32–43; Lk  22,39–46) die zwei bekannten Quellen zugrunde liegen: einerseits PEmk (→  Mk/Mt/Lk), andererseits PElk/joh (→  Lk/[Joh]). Die Szene der PEmk ist in Umrissen gut erkennbar, der Rekonstruktion der zweiten Quelle sind deutliche Grenzen gesetzt. (1) Wie bei der Episode vom Gang Jesu mit seinen Jüngern zum Ölberg (Mt  26,30– 35 par. Mk  14,26–31) schließt sich Matthäus auch hier eng an Markus an. Beide bieten im Unterschied zu Lukas eine dreifach gestaffelte Bühne: Im Grundstück Getsemani angelangt, trennt sich Jesus von seinen Jüngern und nimmt Petrus, Jakobus und Johannes zu einer zweiten Station mit. An einer dritten Station betet er in Einsamkeit – unterbrochen von zwei Gängen zu den drei Vertrauten, die er jedes Mal schlafend vorfindet. Beim dritten und letzten Mal drängt er sie zum Aufbruch („Steht auf, wir wollen gehen!“) und kündigt das Kommen des „Auslieferers“ an. (2) Lukas bietet die Szene in 22,39–46 in einer von Markus stark abweichenden Form. Er übergeht die Figur der drei Vertrauten Jesu, weiß nur von zwei, nicht drei Orten und berichtet auch nur von einer Rückkehr Jesu zu den schlafenden Jüngern. Ohne die textkritisch strittigen Verse 43 f., die sekundär sein dürften (Exkurs 6), ergibt sich ein konzentrischer Aufbau der Szene mit Jesu Gebet in der Mitte: A Mahnung: „Betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet!“   B   Jesus entfernt sich von den Jüngern    C    Jesus kniet nieder zum Gebet    D    Das Gebet Jesu    C’    Jesus erhebt sich vom Gebet   B’   Jesus kehrt zu den Jüngern zurück. A’ Mahnung: „Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet!“

V.40c V.41a V.41b.42a V.42b–f V.45a V.45b.c V.46c

Lukas rahmt die Szene mit der von ihm leicht redigierten Mahnung Mk  14,38, was seine paränetische Absicht zu erkennen gibt. Dem entspricht die Auslassung der drei Gebetsgänge Jesu. Im Zentrum steht das Gebet Jesu, das von den Notizen zur Gebetsgestik des Sich-Kniens und Erhebens (C – C’), zur Trennung Jesu von seinen Jüngern und der Rückkehr zu ihnen (B – B’) gerahmt wird.

62  Reinbold, Bericht 88: Der Name des Grundstücks (Getsemani) (vgl. Joh  18,2) wie das Geschehen dort seien dem vierten Evangelisten unbekannt; deshalb geht auch Lührmann, Mk  241, davon aus, dass die Episode „der ursprünglichen Passionsgeschichte [vormkn.] zugewachsen“ sei.

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Exkurs 6: Jesus wird von einem Engel gestärkt. Zur textkritischen Problematik von Lk  22,43 f. Eine Reihe von Handschriften63 bieten gegenläufig zur Tendenz der Verknappung der mkn. Vorlage durch Lukas im Anschluss an das Gebet Jesu folgende zusätzliche Episode: 43 44

Es erschien ihm aber (ὤφθη δέ) ein Engel vom Himmel, der ihn stärkte. Und als er in inneren Aufruhr geriet (καὶ γενόμενος ἐν ἀγωνίᾳ), betete er noch inständiger (ἐκτενέστερον). Und es wurde (καὶ ἐγένετο) sein Schweiß wie Blutstropfen, die auf die Erde fallen.

Die Verse sind nicht nur textkritisch, sondern auch in ihrer Deutung umstritten64. Weil das Gebet Jesu V.42 in seiner Einwilligung in Gottes Willen gipfelt („doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe!“), kann jedenfalls nicht gesagt sein, dass Jesus nun doch noch in seinem Gebet darum ringt, den eigenen Lebenswillen durchzusetzen. Was aber ist dann die Intention der Verse? Zunächst überrascht, dass Jesus in heftige Erregung gerät, nachdem ihn ein Engel gestärkt hat. Zu erwarten wäre die umgekehrte Reihenfolge: Jesus befällt Todesangst, dann erscheint ein Engel, um ihn zu stärken. Jerome Neyrey erklärt sich das so, dass ἀγωνία hier gar nicht „innerer Aufruhr“ oder „Todesangst“, sondern neutral „Streit“ oder „Kampf“ (= ἄγων) bedeutet, den Jesus gegen Satan (vgl. 4,1–13; 22,3.31.53) in seinem inständigen Gebet ausfechtet („victorious struggle“) und zu dem ihn der Engel vorweg gestärkt hat65. Der Vorteil dieser Deutung ist: So passen die Verse zum lkn. Bild von der Seelenruhe Jesu angesichts größter Not (siehe unten). Gegen sie spricht die geläufige „syntagmatische Verknüpfung“ von ἀγωνία mit γενόμενος ἐν = „in Erregung / Angst geraten“66 . Auch bringt dieser Zustand, in den Jesus gerät, ihn erst dazu, noch „inständiger“ zu beten als zuvor (V.42) 67 – wie intensiv, zeigt sein Schweiß, der wie Blut auf die Erde tropft68 . Wenn die Notiz vom Erscheinen des Engels voransteht, dann deswegen, weil sie die Mitte der Szene markieren soll (siehe unten). 63  ‫*א‬2b D K L Q etc. Holleran, Gethsemane 92 Anm.  51. Da Just, Dial  103,8, sich bereits um 150  n.  Chr. auf die Episode bezieht, müsste sie, falls sie sekundär ist, zeitig in das Evangelium Eingang gefunden haben. 64  Überblicke bieten Holleran, Gethsemane 92–101; Ehrman/Plunkett, Angel 401–416; Brown, Death I 180–185; Wolter, Lk 722–724, u. a. – Für ursprünglich halten V.43 f. Surkau, Martyrien 99; G. Schneider, Engel; Neyrey, Absence; ders., Passion 49–68; Brown, Death I 180–185; Grundmann, Lk 410.402; Eckey, Lk 904, u. a., für einen Einschub Bultmann, Geschichte 306; E. Lohse, Geschichte 65; Sterling, Mors 396; Ehrman/Plunkett, Angel 401– 416, u. a. – Wolter, Lk 723, nach Abwägung aller Argumente (ohne Berücksichtigung struktureller Beobachtungen [siehe unten]): „Es muss also bis auf weiteres bei einem non liquet bleiben“. 65  Neyrey, Passion 58 (kritisch dazu Sterling, Mors 396); ähnlich Tuckett, Agony 138 f., u. a. 66  Wolter, Lk 723 f., mit Belegen; van Henten, Jewish Martyrs 339, verweist auf den Gebrauch von ἀγωνία in 2Makk  3,14.16: „This passage is highly relevant for the interpretation of Luke  22,44, because the high priest’s ἀγωνία in 2Macc  3,16 goes together with strong physical transformations: his appearance and color of skin as well as his trembling body show his agony (3,16–17), as Jesus’ sweating shows his. It should be noted that this passage in 2 Maccabees too is situated in a context of prayer“. Van Henten betont, dass die Parallele mit dem Thema „Märtyrertum“ nichts zu tun hat! Siehe unten zur martyrologischen Deutung von V.43 f. 67  ἐκτενῶς = inständig (hier der Komparativ); in Verbindung mit Beten auch Jdt  4,12; 3Makk  5,9; Joel  1,14; Jon  3,8; Apg  12,5. 68  Wolter, Lk 724: „Tertium comparationis“ des Vergleichs ist die „Menge“ des Schweißes:

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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Was Jesus betet, wird über V.42 hinaus nicht gesagt. Es dürfte aber weiterhin darum gehen, dass Jesus in seiner ἀγωνία jetzt noch intensiver darum ringt, sich dem Willen seines Vaters unterzuordnen. Ein einfaches: „Dein Wille geschehe!“ reicht nicht, ein inständiges Beten ist gefordert, weil Jesus – darin ganz Mensch – von innerer Aufruhr und Angst um sein Leben erfasst wird. Der Vergleich seines Schweißes mit zu Boden fallenden „Tropfen Bluts“ (θρόμβοι αἵματος) unterstreicht das69. Wird die Episode so gedeutet, dann könnte sich ihre nachträgliche Bildung im frühen 2.  Jh. der Intention verdanken, gegen ein überzogenes göttliches Verständnis Jesu, der dem Leiden gegenüber unempfindlich zu sein scheint, sein Menschsein antidoketisch zu betonen70 . Umgekehrt wird als Argument für ihre nachträgliche Streichung in vielen Handschriften die Absicht angeführt, dem Missverständnis vorzubeugen, Jesus würde unter die Engel gestellt, was seiner göttlichen Würde nicht entspräche (vgl. Hebr  1,4–14; Phil  2,9–11)71. Zudem wird auf lkn. Stileigentümlichkeiten und Parallelen im Doppelwerk verwiesen72 . Den Ausschlag in der schwierigen textkritischen Entscheidung gibt die Frage, ob sich die Verse in die lkn. Sicht der Getsemani-Szene einfügen oder nicht. Wie schon an ihrer Rahmung mit der Mahnung: „Betet, dass ihr nicht in Versuchung geratet!“ (V.40.46) deutlich wurde, hat Lukas die Paränese über Markus hinaus verstärkt. Ihm geht es um das Vorbild Jesu, an dem die Christen, wenn sie beten, Maß nehmen können. Ein Blick auf seine redaktionellen Akzente bestätigt dies73: Er übergeht die Aussagen, dass Jesu „Seele betrübt“ war „bis zum Tod“ und „er zu zittern und zu zagen begann“ (Mk  14,33 f.). Jesus „kniet“ würdevoll „nieder“ um zu beten, aber „wirft sich“ nicht „auf die Erde“ wie bei Markus (14,35). So wird er mit seiner Seelenruhe und vertrauensvollen Hingabe an den Vater angesichts des ihm drohenden Todes zum Vorbild seiner Jünger – wie Sokrates ein solches Vorbild war74. Nicht Jesus bedarf der Stärkung, sondern seine Jünger, von denen es (über Markus hinaus) heißt, sie seien „vor Traurigkeit“ eingeschlafen (V.45c: diff. Mk  14,37). Das Gebet in der Mitte der Szene bekräftigt die Tendenz: Indem Lukas das mkn. πάντα δυνατά σοι durch εἰ βούλει ersetzt75, verschiebt er „den Inhalt der Bitte aus dem Bereich des Könnens in den des Wollens Gottes“76 . Die Umgestaltung von Mk  14,36d.e in V.42e.f (vgl. auch Apg  21,14) erinnert an die dritte Bitte des Vaterunsers bei Matthäus (26,42c) und macht Jesu Gebet für alle, die ihm nachfolgen, zum Vorbild. „Sie ist so groß, dass sich – wie wenn ein Mensch stark blutet – Tropfen bilden, die zu Boden fallen. Die Pointe der Aussage will also die Intensität des Betens Jesu sowie – jedenfalls mittelbar – die Größe seiner ἀγωνία veranschaulichen“. 69  Wolter, Lk 724: Jesus bekommt „hier unverwechselbare menschliche Züge“. 70  Sterling, Mors 396, u. a. – Just, Dial  103,8, und Iren, Haer  3,22,2, benutzen die Episode in diesem Sinne antidoketisch. 71 G. Schneider, Lk II 459: „Man tilgte sie wohl aus christologischen Gründen (vgl. Epiphanius von Salamis: Ancoratus 31). Jesus sollte nicht von einem Engel Stärkung erfahren haben“. 72 G. Schneider, Engel 112–116; ders., Lk II 458. 73  Neyrey, Absence 153–157; Sterling, Mors 395 f. 74  Mit Einfluss der Sokraktes-Tradition rechnet Sterling, Mors 395 (unter Verweis auf Kloppenborg, Exitus); ebenso A.Y. Collins, Genre 14: „the prayer concludes with the serene ac­ ceptance of God’s will; the finishing touches of the portrait thus call to mind Socrates and t­ hose who followed his example in meeting death with composure and courage“; vgl. auch van Henten, ­Jewish Martyrs 344; ders., Märtyrertum 166 Anm.  97: „Der Kelch kann auf die Sokrates-Tradi­ tion bezogen sein; er ist aber auch ein Motiv in frühchristlichem Märtyrertum (AscIsa  5,13; ­MartPol  14,2; ApkPetr, Fragment Rainer; EpAp  15 [26]“. 75  Die Gebetsparaphrase Mk  14,35d.f übergeht Lk. 76  Wolter, Lk 722.

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V.43 f. ändern demgegenüber die Blickrichtung. Sie sind nicht paränetisch interessiert, zeigen Jesus nicht in seiner Vorbildlichkeit, sondern in einer Ausnahmesituation: Seine Grundstimmung ist ἀγωνία, Angst um das eigene Leben, nicht „Seelenruhe“ (ἀταραξία). Jesus besiegt die Angst, gestärkt durch den Engel, indem er betet77. Aber V.43 f. sprechen nicht vom Sieg Jesu über die ἀγωνία, was bei paränetischer Aussageabsicht zu erwarten wäre, sondern lassen an seinem inständigen Beten, welches ihm alles abverlangt, sein Mensch-Sein aufscheinen78 . Hinzu kommt, dass die Verse die Struktur der Szene mit Jesu Gebet V.42b–f in der Mitte neu gewichten. Raymond Brown zufolge funktioniert der konzentrische Bauplan zwar auch unter Einbezug von V.43 f.79, wie die folgende Übersicht zum Mittelstück D zeigt:     [d] V.42     [e] V.43    [d’] V.44

Jesu Gebet zu seinem Vater Antwort des Vaters in Gestalt der Erscheinung eines Engels Jesu intensiviertes Gebet

Doch mit dem Einschub steht jetzt nicht mehr das vorbildliche Gebet Jesu V.42 im Mittelpunkt, sondern die Stärkung Jesu durch den Engel. Das läuft der paränetischen Aussage­ absicht des Lukas, dem es um die Jünger und ihre Stärkung geht, zuwider80 . Lange Zeit war die Passionsüberlieferung einem Wachstumsprozess ausgesetzt (vgl. EvPetr), der sich auch in der handschriftlichen Bezeugung der kanonischen Evangelien niedergeschlagen hat – wie hier in Lk  22,43 f.

Wie erklärt sich die Entstehung der lkn. Fassung der Szene? Verdankt sie sich einer redaktionellen Verknappung der Mk-Vorlage81 oder fand Lukas in der PElk/joh ein Pendant ohne die drei Vertrauten Jesu vor82? Der vierte Evangelist, der die Getsemani-Szene unterdrückt hat, fällt als Kontrollinstanz aus. Immerhin weist die Ein77  Beachtlich ist die martyrologische Deutung durch Grundmann, Lk 412 („Solche Stärkung geschieht den Märtyrern, z. B. in der jüdischen Literatur den drei Männern im feurigen Ofen […]. Vielleicht muss aus dem Lukas-Bericht gefolgert werden: die Stärkung durch den Engel geschieht in der Einsicht der Jesus neu enthüllten Notwendigkeit seines Leidens, ähnlich wie Lk  9,31“) und Eckey, Lk 904, u. a., die damit aufzeigen wollen, dass die Verse sich zum lkn. Gesamtkonzept fügen; dazu van Henten, Jewish Martyrs 338 f. 78  Sterling, Mors 396: „The best explanation is that a second-century scribe included it to accentuate Jesus’ humanity over against those who might have used the absence of Jesus’ emotions in this text to call his humanity into question“; vgl. auch Ehrman/Plunkett, Angel 406 f.; van Henten, Jewish Martyrs 340. 79  Brown, Death 183; ebd. 182: Jesu Gebet = „the centerpiece of the scene“; dazu im Widerspruch erklärt er dann aber „Jesus‘ Agony“ zum „central point“ des Mittelteils D (189). 80  Strukturelle Gründe gegen Ursprünglichkeit machen u. a. auch Ehrman/Plunkett, Angel 416, geltend. 81  Dabei muss seine Mk-Vorlage nicht, wie die zahlreichen minor agreements (Mt par Lk) zeigen, die Gestalt des uns bekannten kanonischen Mk gehabt haben: vgl. Wolter, Lk 721. 82  Grundmann, Lk 410 f., nennt zwei Beobachtungen für die Annahme einer lkn. Sonderquelle: (1) „Lukas schließt die Überlieferung vom Gebetskampf am Ölberg unter Vermeidung des fremdartigen Ortsnamens Gethsemane, darin in Übereinstimmung mit Johannes, an die Abschiedsgespräche im Raum des letzten Mahles Jesu an. Deshalb fallen die Gespräche auf dem Wege fort, deren Inhalt in die Abschiedsgespräche beim Mahl hineingenommen ist, wie das auch bei Johannes geschieht“ (410). (2) „Der einmalige Gebetsgang steht […] einer älteren Form der Überlieferung näher als die in Mk 14,32–42 vorliegende Gestalt“ (411). Ähnlich Bovon, Récit 413–15: Lk benutzte für die Getsemani- und Kreuzigungsszene eine eigene Quelle; vgl. auch die Übersicht bei Holleran, Gethsemane 181–198.

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

313

leitung der lkn. Szene gegen Markus und Matthäus überraschende Übereinstimmungen mit dem Eingang von Joh  18,1–11 auf, wo zwischen V.1 und 2 das Corpus der Getsemani-Szene zu erwarten wäre: Mk  14,26.32a (vgl. Mt  26,30.36) 26 Und nachdem sie den Lobpreis gesungen hatten, gingen sie hinaus (ἐξῆλθον)

zum Berg der Oliven.

Lk  22,39 f.

Nachdem Jesus dies gesagt hatte83,

1

Und er ging hinaus ging er hinaus (ἐξῆλθεν) (ἐξελθών) und begab sich gemäß seiner Gewohnheit (κατὰ τὸ ἔθος) 39

zum Berg der Oliven; ihm folgten aber auch die Jünger

32 Und sie kommen zu einem Grundstück (χωρίον),

Joh  18,1 f.

mit seinen Jüngern

Als er aber zu dem Ort (ἐπὶ jenseits des Winterbachs, τοῦ τόπου) kam, des Kidron,

40

wo ein Garten (κῆπος) war, in den ging[en] er (εἰσῆλθεν) und seine Jünger. dessen Name Getsemani (ist), und er spricht zu seinen Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich bete.

sprach er zu ihnen: Betet, dass ihr nicht in Versuchung geratet. Es kannte aber auch Judas, der ihn überlieferte, den Ort (τὸν τόπον), weil Jesus dort oft mit seinen Jüngern zusammenkam.

2

(a) Lukas und Johannes betonen die Protagonisten-Rolle Jesu, wenn sie (gegen Markus und Matthäus) im Singular sagen: „er ging hinaus“, und seine Begleiter erst an zweiter Stelle nennen84. (b) Der Hinweis κατὰ τὸ ἔθος Lk  22,39 hat eine inhaltliche Parallele in Joh  18,2b („Jesus kam dort oft mit seinen Jüngern zusammen“). Schon in der lkn./joh. Überlieferung könnte das Motiv dazu gedient haben, die Preisgabe des Aufenthaltsorts Jesu durch Judas (über die PEG hinaus) plausibel zu machen. (c) Schließlich stimmen Lukas und Johannes in der Rede vom τόπος = Ort überein, ohne den Namen Getsemani zu erwähnen (Lk  22,40a; Joh  18,2a) 85. ταῦτα εἰπών verknüpft die Szene mit den vorangehenden Abschiedsreden (Joh  13,31–17,26). Dauer, Passionsgeschichte 22; ebd. 54: Wenn Lk die Jünger nicht einfach mit σύν anschließt (vgl. 8,1; 22,14), liegt das an seiner Betonung des Nachfolge-Gedankens; tatsächlich bleiben ihm zufolge die Jünger in Jesu Nähe bis zum Kreuz (23,49). 85  Sabbe, Arrest 359: „his (sc. John’s) reasons for dropping the name Gethsemane were not the 83 

84 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Es ist gut möglich, dass Lukas und Johannes über eine von Markus unterschiedene Fassung der Getsemani-Szene verfügten86 . Deren Exposition wird Johannes in leicht weitergebildeter Fassung (PEjoh) in 18,1 f. verarbeitet haben. Markus und Matthäus sprechen von einem „Grundstück“ oder „Landgut“ (χωρίον), Johannes von einem „Garten“ (κῆπος) (vgl. auch Joh  19,41 f.; 20,15). Vor Augen steht ein idealer Ort in abgeschiedener Ruhe, an dem der Lehrer seine Schüler unterweist, wie dies bei antiken Philosophen der Brauch war87. Die Vorstellung dürfte auf Johannes zurückgehen88 . In der PEjoh vorgefunden hat er die Lokalisierung des Gartens „jenseits des Winterbachs Kidron“. Vom Kidron als „Winterbach“ ist den geologischen Verhältnissen entsprechend mehrfach im AT die Rede, so in 2Sam  15,23, 1Kön  15,13 oder 1Makk  12,37 (vgl. auch Jos, Ant  8 ,17). In 2Sam  15, der Erzählung von Davids Flucht vor Abschalom, heißt es: „und der König überschritt den Bach Kidron“ (V.23) 89. Es ist gut möglich, dass Jesu Gang aus der Stadt heraus von der PEjoh bewusst als ein Überschreiten des Kidron erzählt wurde, um Jesus unter Bezug auf David als den messianischen König erscheinen zu lassen90 . Sie verrät nicht unbedingt Ortskenntnis91.

Zwischen Joh  18,1[2] und 18,3–11 ließ der vierte Evangelist den Hauptteil der Getsemani-Erzählung aus, um direkt zur Auslieferungsszene überzugehen. Die nachstehend gesammelten Beobachtungen stützen diese These. (3) Im vierten Evangelium wird „das eigentliche Geschehen in Getsemani […] nirgends erwähnt“92 . Aber es bietet Jesus-Worte, die in der synoptischen Getsemaniszene Parallelen besitzen, freilich „über sechs Kapitel verstreut“93. Schwerpunktsame as Luke’s, who, not appreciating the Semitic words in general, has a certain preference for the Mount of Olives“; unter Voraussetzung seiner Quellentheorie (Joh ist abhängig von den Synoptikern) erklärt er ebd. 355–363 die genannten Berührungen redaktionell; vgl. auch Feldmeier, Krisis 45. 86  Ihre Einleitung auf der Basis obiger Synopse mittels stilistischer Beobachtungen zu rekonstruieren, ist nicht möglich. Zum Fortgang der Erzählung in der PElk/joh lässt sich lediglich sagen, dass sie die Figur der von Jesus ausgesonderten Vertrauten nicht kannte; diese brachte Mk in die Überlieferung ein (siehe unten). 87  Dazu siehe unten 7.2! 88 Anders Dauer, Passionsgeschichte 23. 89  Küchler, Jerusalem 670: „Das Überschreiten dieser markantesten Stadtgrenze Jerusalems hatte […] besonders stark die Bedeutung von ‚Verlassen der Stadt‘, wie dies bei der Flucht Davids vor Abschalom (2Sam  15,23), bei der todbringenden Grenzüberschreitung Schimis (1Kön  2,37), beim Auszug der ‚Herrlichkeit Gottes‘ aus dem Tempel (Ez  11,23) und auch beim Rückzug Jesu nach Getsemani zum Ausdruck kommt. Jenseits des Kedrons lag der Bereich des Todes, begann bereits die Fremde, so wie man jenseits des Ölbergs praktisch schon im Exil im ungeschützten Bereich war“. 90  Loisy, Jean 820; Lagrange, Jean 454; Schenk, Art. Γεθσεμανί 577; Lang, Johannes 63.85; skeptisch Brown, John II 806 („not obviously symbolic“). – In 2  Sam 15,14 erklärt David: „Steht auf und lasst uns fliehen (ἀνάστητε καὶ φύγωμεν)“. Das damit vergleichbare Aufbruchssignal Joh  14,31 (vgl. Mk  14,42a.b) könnte in der frühen joh. Rezeption der PE die Leser an jene Geschichte von David erinnert haben. Im Unterschied zu ihm entzieht Jesus sich seinem Widersacher nicht durch Flucht, sondern geht ihm souverän entgegen. 91  Brown, John II 806: „John’s use of the correct terminology for the Kidron is not necessarily a proof that the Gospel is drawing on an authentic Palestinian tradition“; anders Sabbe, Arrest 358: „John may well dispose of a good topographical knowledge of his own“. 92  Reinbold, Bericht 88. 93  Ebd. – Reinbold fügt hinzu: „sie erscheinen nicht einmal in der mk. Reihenfolge“.

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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mäßig begegnen sie in Joh  12,20–33, einer Episode, die mit guten Gründen als Neufassung der alten Getsemani-Episode verstanden werden kann94: Mk  14,34.35 f.41 f. (Lk  22,43 f.) Vgl. V.41d Vgl. V.41e Meine Seele ist betrübt (περίλυπός ἐστιν ἡ ψυχή μου) bis zum Tod (Ps  42,6.12; 43,596)

34b

Und er betete, dass, wenn es möglich wäre (εἰ δυνατόν ἐστιν), e die Stunde an ihm vorübergehe (παρέλθῃ).

Joh  12,23.27 –29 (18,11; 14,31/30) Die Stunde ist da (ἐλήλυθεν ἡ ὥρα)95, dass (ἵνα) der Menschensohn verherrlicht werde. 27a Jetzt ist meine Seele erschüttert (ἡ ψυχή μου τετάρακται) (Ps  6 ,497). b Und was soll ich sagen?

23b c

35c d

Abba, Vater, alles ist dir möglich (πάντα δυνατά σοι). d Nimm diesen Becher von mir (παρένεγκε ἀπ’ ἐμοῦ)! e Aber nicht, was ich will, sondern was du (willst).

Vater, rette mich (σῶσόν με) aus dieser Stunde? (Ps 6,598)

27c

36b c

[18,11den Becher, den der Vater mir gegeben hat, soll ich ihn nicht trinken?] 27d Aber deswegen bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen. Und eine Stimme kam aus dem Himmel: c Ich habe verherrlicht und werde wieder verherrlichen. 29 Die Menge, die dastand und es hörte, sagte:    Es war ein Donner. Andere sagten:   Ein Engel (ἄγγελος) hat zu ihm gesprochen99. 28a b

[Lk  22,43 f.: Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel her, ihn stärkend (…)]. Gekommen ist die Stunde (ἦλθεν ἡ ὥρα). Seht, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert.

41e f

94 

Theobald, Joh I 792–815; vgl. u. a. Haenchen, Historie 183; Kelber, Hour 56 Anm.  35. Im Unterschied zu Mk  14,41e (Aorist) im Perfekt! 96  Ps  42,6 (=12; Ps  43,5)LXX: ἵνα τί περίλυπος εἶ, ψυχή; 97  Ps  6 ,4a LXX: καὶ ἡ ψυχή μου ἐταράχθη σφόδρα; Ps  42,7LXX: πρὸς ἐμαυτὸν ἡ ψυχή μου ἐταράχθη. 98  Ps  6 ,5b: σῶσόν με ἕνεκεν τοῦ ἐλέους σου. 99  Sollte Lk  2 2,43 f. textkritisch doch authentisch sein (siehe den Exkurs oben), dann beruhte die lkn.-joh. Übereinstimmung entweder auf Zufall oder auf einer entsprechenden Notiz der PElk/joh. 95 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mk  14,34.35 f.41 f. (Lk  22,43 f.)

Joh  12,23.27 –29 (18,11; 14,31/30)

Steht auf, wir wollen gehen! 42b Seht, der mich Ausliefernde ist nahe.

[14,31 Steht auf, wir wollen weg von hier gehen!] [14,30Es kommt der Herrscher der Welt.]

42a b

Nicht nur die Wort- und Motivübereinstimmungen fällt auf, auch die Abfolge einzelner Elemente ist gleich. Sowohl bei den Synoptikern als auch bei Johannes relativiert ein „aber“ die Bitte Jesu, dass die Stunde „vorübergehe“ bzw. er aus ihr „gerettet“ werde (Mk  14,35 f. par. Joh  12,27d)100 , und leitet über zur Einwilligung Jesu in den Heilsplan Gottes. In beiden Überlieferungssträngen ist Jesu Bekenntnis in Psalter-Sprache gekleidet (Mk  14,34b par. Joh  12,27a) und richtet sich sein Gebet an den Vater („Abba“ – „Vater“). Bei Markus begegnet die Metapher vom Becher im Gebet Jesu (Mk  14,36d), bei Johannes im Wort Jesu an Simon Petrus (Joh  18,11c)101. Der Eindruck, die Parallelen seien über viele Kapitel „zerstreut“ und deshalb zufällig (Wolfgang Reinbold), kann mit Hinweis auf die planvolle Gestaltung der Abschiedsszenen im vierten Evangelium relativiert werden: 1. Buchhälfte (Ende)

Hellenenrede (Joh 12)      „Die Stunde ist da“: 12,23 ff.

2. Buchhälfte

Das letzte Mahl Jesu (13 f.)     Abschiedsrede Jesu (13,31–14,31)      Ankündigung des „Herrschers dieser Welt“ 14,30     Aufbruchssignal: 14,31 Verhaftung Jesu im Garten (18,1–11)      Das Kommen des Verräters (18,2 f.)     Wort vom Becher: 18,11

Vorauszusetzen ist, dass die Abschiedsreden Joh  15–17 von der Redaktion des Buches nachgetragen wurden. Daraus ergibt sich für das Aufbruchssignal Jesu 14,31 (samt neu gestalteter Ankündigung des Verräters [Joh  14,30]): In der Erstfassung des Buches stand es unmittelbar vor der Episode von der Verhaftung Jesu im Garten, also dort, wo es auch in der alten PE gestanden haben muss. Das Wort vom Becher lässt seine alte Umgebung noch in seiner joh. Neugestaltung erahnen. Von der Erschütterung Jesu angesichts seines Todes (Joh  12,23.27 f.) konnte Johannes unmöglich nach den Abschiedsreden erzählen102 . Das Motiv ist dort verarbeitet, wo es kompositorisch hingehört: an das Ende der ersten Buchhälfte (Joh  1–12).

Die Schlussfolgerung liegt nahe: Der vierte Evangelist kannte die Getsemani-­Szene. Im Kontext seiner Hellenen-Rede formte er sie in einen Selbstdialog Jesu um, der in der Bitte um die Verherrlichung des Namens Gottes gipfelt. Die Spuren des von den Synoptikern erzählten Gebetskampfes Jesu sind noch deutlich zu erkennen. Ihn Mt  26,39 par. Lk  22,42 bieten übereinstimmend statt ἀλλά ein πλήν. überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang von Joh18,11c par. Mk   14,36b/ Mt  26,39.42 vgl. Dauer, Passionsgeschichte 47 f. 102  Schnackenburg, Joh II 485: „nach dem Hochgebet [sc. Joh 17] im Abendmahlssaal wäre dazu nicht der richtige Ort gewesen“. Im Zusammenhang der Verratsansage findet sich in Joh  13,21a noch eine mit 12,27a vergleichbare Aussage: „Nachdem Jesus dieses gesagt hatte, wurde er im Geist erschüttert“. 100 

101 Zum

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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selbst unterdrückte der vierte Evangelist, weil dieses innere Ringen seiner hoheitsvollen Christologie widersprach. 6.2 Getsemani – Herzstück der Markuspassion (1) Die Bedeutung der Getsemani-Szene Mk  14,32–42 für Passion und Evangelium zeigt sich schon daran, wie sich der „allwissende Erzähler“ hier über die bislang zu beobachtenden einfachen narrativen Techniken (wie Redeeinleitungsformeln oder Beschreibungen von Geschehensabfolgen) hinaus zur Geltung bringt. Er weiß nicht nur, was Jesus betet, während die Jünger schlafen, sondern auch, was Jesus innerlich bewegt, sei es, dass er seinen Seelenzustand direkt beschreibt – „er begann sich zu entsetzen (ἐκθαμβεῖσθαι) und zu ängstigen (ἀδημονεῖν)“ –, sei es, dass er ihn indirekt zum Ausdruck bringt: „er warf sich nieder auf die Erde“ (V.33)103. Der Erzähler zitiert das Gebet Jesu nicht nur direkt (V.36), sondern paraphrasiert es vorweg, was außergewöhnlich ist: „er betete, es möge, wenn möglich, die Stunde an ihm vorübergehen“ (V.35d–f). Der Sinn dieses vorangestellten Kommentars scheint der zu sein, Jesu Gebet mit der Zeit-Ansage V.41f in Beziehung zu setzen. Wenn Jesus am Ende erklärt: „Gekommen ist die Stunde […]“, weiß der Leser, dass der Vater Jesu flehentliches Bittgebet, die Stunde möge an ihm vorübergehen, nicht angenommen hat104. (2) Die Szene bündelt wie im Brennglas bisher Erzähltes und öffnet das Geschehen zugleich nach vorne: Getsemani „markiert den endgültigen Umschlag“ von Jesu „Handeln in Vollmacht zu Leiden und Tod“105. (a) Vier Mal erzählt Markus vom Beten Jesu: am Anfang, in der Mitte und am Ende seines Buches (1,35; 6,46; 14,35 f.; 15,34)106 . Nach dem ersten Tag seiner Wirksamkeit in Kafarnaum zieht Jesus sich „noch in der Dunkelheit“ sehr früh in die Einsamkeit zurück, um zu beten (1,35). Was er betet, erfährt der Leser nicht, wohl aber, was er seinen Jüngern, die nach ihm suchen, zur Antwort gibt: „Wir wollen anderswohin gehen, in die Nachbardörfer, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich ausgegangen“ (1,38). Jesu Sendung gründet in seinem Gottesverhältnis. In 6,46 betet Jesus nach Sonnenuntergang auf einem Berg, gleichsam in 103 Eine Emotion brachte bislang lediglich Mk   14,19 („sie begannen, traurig zu werden [λυπεῖσθαι]“) zum Ausdruck. „Die Schilderung“ der Getsemani-Szene ist „ungewöhnlich gefühlsbetont“ (Frey, Leidenskampf 87). 104  Dibelius, Gethsemane 259: „Der Erzähler hat es […] für sehr wichtig gehalten, das Ringen Jesu, wie es sich in Klage und Gebet ausdrückt, zu zeichnen. Was er nicht gezeichnet hat, ist eine Stärkung und Tröstung Jesu. Damit sind wir weit entfernt von der üblichen Vorstellung, die gewöhnlich an den stärkenden Engel denkt (Lk  22,43), und die Szene von hier aus deutet. Markus jedoch weiß nichts von solcher göttlichen Hilfe“. Feldmeier, Krisis 184, spricht vom „anstößige(n), die ganze Perikope bestimmende(n) Schweigen Gottes“; zum Motiv „Schweigen Gottes” ebd. 187–191; Nicklas, Christ 367 f.: „In the context of Ps  42, it is clear that there is no answer from God; the father appears to have ‚forgotten‘ him (Ps  42:9)“. Frey, Leidenskampf 85–95, zeichnet die frühe Rezeptionsgeschichte der mkn. Erzählung als „eine einzige Geschichte ihrer Entschärfung und Umdeutung“ (87) nach. 105  Feldmeier, ebd.; Kelber, Hour 50: „Gethsemane marks a climactic point not only in the Mkan Passion Narrative but in the Gospel’s total thematic development“. 106  Nizeyimana, Prière. Es fällt auf, dass Dunkelheit, Nacht und Einsamkeit überall die Umstände des Betens Jesu sind, auch in 15,33 f.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Vorbereitung der „außeralltägliche(n) Demonstration seiner Souveränität“ beim nächtlichen Seewandel107. In der Dunkelheit von Getsemani ringt er angesichts des drohenden Todes um die Vollendung seiner Sendung. (b) Wenn Jesus sein Gebet in Getsemani mit „Abba, Vater“ (αββα ὁ πατήρ) beginnt, äußert sich darin sein Vertrauen in die Güte und Macht seines Vater-Gottes in einer Stunde, in der dieses Verhältnis zugleich auf dem Prüfstand steht. Von Gott bei der Taufe als „geliebter Sohn“ angesprochen (1,11), auf dem Berg der Verklärung vor seinen Vertrauten Petrus, Jakobus und Johannes als solcher proklamiert (9,7), tritt seine Sohnes-Beziehung zu Gott in Getsemani nun in die entscheidende Phase ihrer Bewährung. (c) Mit der Figur der drei Vertrauten, die sich in Getsemani in unmittelbarer Nähe Jesu aufhalten, greift Markus einen weiteren wichtigen Erzählfaden seines Buches auf. In 1,16–20 erzählt er von ihrer Berufung (wie der des Andreas), in 1,36, wie sie dem in nächtlicher Einsamkeit betenden Jesus nachgehen, um ihn nach Kafarnaum zurückzuholen. Nur ihnen (wie den Eltern ihrer verstorbenen Tochter) gestattete Jesus den Zutritt zu der Kammer, in der er diese zum Leben erweckt (5,37.40). Hier erfahren sie seine Macht über den Tod. Auf dem Berg wird er „vor ihnen verwandelt“ (9,2) und sie schauen proleptisch seine Auferstehungsherrlichkeit (Mk  9,9). Beides Mal – im Haus des Jairus und auf dem Berg – geschieht „eine Offenbarung dessen, was Jesus nach seiner himmlischen Herkunft in Wahrheit ist“108 . Doch die drei begreifen nicht, was geschieht. Als Petrus auf dem Berg für Elija, Mose und Jesus drei Hütten bauen will, merkt der Erzähler an: „Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte; denn sie waren vor Furcht ganz benommen“ (9,6). Schließlich sind die drei zusammen mit Andreas bei Jesu eschatologischer Rede auf dem Ölberg dabei (13,3), als er ihnen das Ende der Zeit offenbart.

„Im Fall der Getsemaniszene ist jedoch keine Offenbarung zu empfangen“109. Aber „wer Jesus ist, versteht man erst dann, wenn man von Getsemani Kenntnis nimmt“110 . Die Szene steht im Kontrast zu der von Jesu Verklärung auf dem Berg111. Im Erleiden der zutiefst menschlichen „Angst“ vor dem Tod (V.33 f.) zeigt sich Jesu wahres Wesen als „Sohn Gottes“, der sich in aller Ausweglosigkeit an seinen Vater wendet, um sich ihm zu unterstellen. Zwar sind die drei Vertrauten als Zeugen dieser paradoxen christologischen „Offenbarung“ vorgesehen, aber sie verschlafen die Stunde112 . Dreimal kehrt Jesus zu ihnen zurück und dreimal findet er sie schlafend. In Kürze wird Petrus ihn gleichfalls dreimal verraten (14,54.66–72) und „alle“ Jünger werden fliehen (14,50). (3) Markus zieht hier eine Linie aus, die er zuletzt in der Abendmahlsszene profiliert hat: das Motiv vom Versagen der Jünger. Unterschiedslos alle bedürfen der göttlichen Barmherzigkeit. Dort ist es das Wort vom „Blut des Bundes, das für viele (= alle) vergossen wird (14,24), welches anzeigt, wo Heil angesichts des umfas107 

Guttenberger, Mk 332. Dibelius, Gethsemane 264. 109 Ebd. 110 J. Gnilka, Mk  II 259. 111  Guttenberger, Gottesvorstellung 191 f.; Nicklas, Christ 367 Anm.   62: „Gethsemane scene […] a contrast to the transfiguration scene“. Schon in Kap.  9 hat Mk zu dem, was oben auf dem Berg geschieht, einen Kontrapunkt gesetzt, wenn er vom Versagen der Jünger unten am Fuß des Bergs erzählt, die es nicht vermögen, den an Epilepsie leidenden Jungen zu heilen (Mk  9,17 f.). 112  In V.40: „und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten“ klingt das typische „Jünger-­ Unverständnismotiv“ des Mk an: 4,13; 6,52; 7,18; 8,17 f.21; 9,6 u. ö. 108 

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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senden menschlichen Versagens gestiftet wird: im Kreuz Jesu. Hier, in der Getsemani-Szene, klingt die rettende Perspektive in seinem Gebet an: 36 a b c d e

Und er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Becher von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du (willst)!

Nicht das Bild eines absoluten Herrschers, der nach Gutdünken entscheidet, sondern das eines Vater-Gottes, der das Heil der Menschen will, prägt das Gebet. Die Metapher vom bitteren Becher des Todes, den nicht kosten oder ausleeren zu müssen Jesus den Vater bittet, steht für sein nahes Todesgeschick, weist aber deutlich darüber hinaus. Nach alttestamentlichem Verständnis steht die Metapher für das göttliche Gericht, das über die sündige Menschheit ergeht113. Es droht Markus zufolge den Menschen, weil sie Jesus, den eschatologischen Boten Gottes, der die Nähe seines Reiches kundtut, und damit Gott selbst ablehnen. Im Bild vom Zornesbecher klingt der Gerichtsgedanke nur an. Dieser Becher wird im stellvertretenden Sterben Jesu für die Menschen in einen Becher des Heils verwandelt, wie der Leser von 14,24 her verstehen darf114. „Aber nicht, was ich will, sondern was du (willst)!“ Mit „Aber“ setzt Jesus neben sein Erschrecken vor dem drohenden Gericht sein Einverständnis mit Gottes Willen, dass dessen Reich Wirklichkeit werde – durch seinen Tod hindurch. Die gleiche Dialektik von Gericht und Heil wird dem Leser im Bild des Gekreuzigten auf dem Höhepunkt der Passionserzählung begegnen, wenn dieser in der Finsternis versinkt, die den Tag zur Nacht der Gottesferne macht (15,33 f.). (4) Wenn Markus von den Jüngern spricht, sind eigentlich die Leser gemeint: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ (V.38). Sie sollen beten wie Jesus115, aber sie können auch mit ihm beten, gestärkt durch ihn in der Hoffnung auf Errettung. Angesichts des Schweigens Gottes in Getsemani geht es darum, den Glauben nicht zu verlieren116  – im nüchternen Wissen um die „Schwäche“ der menschlich-irdischen Konstitution, des „Fleisches“. 6.3 „Konntest Du nicht eine Stunde wachen?“ Die Szene in der PEmk Die mkn. Erzählung 14,32–42 ist weder „ein geschlossenes Ganzes“, das sich jeg­ licher Dekomposition verweigert117, noch entstand sie, wie die zu beobachtenden 113 Vgl. Ps   75,9; Jer  49,12; 51,7; Ez  23,31 f. Hab  2,16 u. ö. – In martyrologischen Kontexten: MartJes (AscIsa)  5,13; MartPol  14,2. 114 J. Gnilka, Mk II 260: „Hier mischen sich beide Aspekte [sc. der des Zornes- bzw. Gerichtsbechers und der des Leidensbechers], so dass Jesus mit dem Leiden den Zorn, der andere treffen soll, übernimmt“; vgl. ebd. 102. 115  Dibelius, Gethsemane 265: „Jesus betet, wie der Christ beten soll“. 116  Das ist mit der „Versuchung“ gemeint. 117  Pesch, Mk II 386, nach Lohmeyer, Mk 313.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Doppelungen und Spannungen118 auch gedeutet werden, aus einer Verbindung von zwei ehedem selbständigen Geschichten119. Vielmehr basiert sie auf einer Grund­ erzählung, die durch „Kommentare“ etc. (möglicherweise in mehreren Schritten) erweitert wurde120 . „Ihre Dekomposition aber ist extrem schwierig, wie die unterschiedlichen Resultate der Einzelbemühungen unter Beweis stellen“121. Maßgebend ist das jeweils zugrunde gelegte Rahmenmodell122 . Die Überlagerungen der alten Überlieferung sind an der internen Schichtung der Erzählung, aber auch an Ver­ netzungen mit dem Makrokontext des Buches ersichtlich: Überlagerungen (Mk  14,32–42)

Die vorgegebene Erzählung (PEmk)

32 a Und sie kommen zu einem Grundstück (χωρίον), b dessen Name Getsemani (ist), und er spricht (καὶ λέγει) zu seinen Jüngern: c  d Setzt euch hier nieder, e solange ich bete. 33 a Und (nur) Petrus, Jakobus und Johannes nahm er mit. b Und er begann zu zittern (ἐκθαμβεῖσθαι) und zu zagen (ἀδημονεῖν). 34 a Und er spricht (καὶ λέγει) zu ihnen: b   Meine Seele ist betrübt bis zum Tod. c   Bleibt hier und wacht! 35 a Und er ging ein wenig weiter, b warf sich auf die Erde nieder (ἔπιπτεν ἐπὶ τῆς γῆς) c und betete, 118  Der Text enthält (1) mit V.32d.e und 34c zwei Aufforderungen Jesu an die Jünger zurückzubleiben, (2) mit V.33b und 34b zwei Beschreibungen seines seelischen Zustands, (3) mit V.35c.d und 36 zwei Gebete und (4) mit V.41g und 42c zwei Ankündigungen der anschließenden Verhaftungsszene. – ὥρα wird auf engstem Raum unterschiedlich benutzt: in V.37e als Zeitangabe, in V.35d.41f im Sinn der von Gott gesetzten „Stunde“. 119  Unter der Voraussetzung, dass die alte PE erst mit der Szene der Gefangennahme einsetzte: Kuhn, Jesus 260–285; Holleran, Gethsemane 130–145 (samt weiteren Vertretern von „[m]ultiple Source Theories“). 120  Bultmann, Geschichte 288 f.; L. Schenke, Studien 477 f. (zur Getsemani-Szene insgesamt: 461–560); J. Gnilka, Mk II 256–258; Söding, Gebet 76–100; Lührmann, Mk  241; A.Y. Collins, Mk 675; vgl. Holleran, Gethsemane 112–130 („Single Sources Theories“). 121 J. Gnilka, Mk II 256 mit Anm.  5: „Vergleicht man die Ergebnisse der Analysen […], so bleibt als übereinstimmendes Urteil nicht viel mehr als die Zuweisung der Ortsangabe Getsemani zur Tradition übrig“. Das hier favorisierte Modell grenzt die Möglichkeiten ein, weil es mit Johannes (und möglicherweise auch Lukas) über eine unabhängige Kontrollmöglichkeit verfügt. – Überblicke über die Forschung bieten L. Schenke, Studien 472–480; Mohr, Markus- und Johannespassion 226–228; A.Y. Collins, Mk 673–675. 122  Bultmann, Geschichte 288, zufolge hat Mk eine „Einzelgeschichte“ rezipiert (ebenso Linnemann, Studien 11–32), nach der Mehrheitsmeinung folgt er der vormkn. PE, als deren Beginn L. Schenke, Christus 124–129; Feldmeier, Krisis 126 f.; A.Y. Collins, Mk 673, die Szene ansehen möchten. – Die Forschung rechnet in der Regel nur mit zwei Schichten (Überlieferung + mkn. Redaktion), J. Gnilka, Mk 257, zusätzlich mit einer „apokalyptischen“ Zwischenschicht (14,35c.d und 41 f.g).

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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d dass, wenn es möglich wäre (εἰ δυνατόν ἐστιν), die Stunde an ihm vorübergehe (παρ-έλθῃ ἀπ’ αὐτοῦ), 36 a und sprach: b   Abba, Vater, c  alles ist dir möglich (πάντα δυνατά σοι). d  Nimm diesen Becher von mir (παρ-ένεγκε ἀπ’ ἐμοῦ)! e   Aber nicht, was ich will, f   sondern was du (willst). 37 a Und er kam (zurück) b und fand sie schlafend c und sprach zu Petrus: d   Simon, schläfst du? e  Konntest du nicht eine Stunde wachen? 38 a   Wachet und betet, b   dass ihr nicht in Versuchung geratet! c   [Der Geist ist willig,   Der Geist ist willig, d   aber das Fleisch ist schwach]123.   aber das Fleisch ist schwach. 39 a Und wieder ging er weg b und betete mit den gleichen Worten. 40 a Und als er zurückkam, b fand er sie wieder schlafend, c denn ihre Augen waren schwer geworden, d und sie wussten nicht, e was sie ihm antworten sollten. 41 a Und er kam zum dritten Mal b und sprach zu ihnen: c  Ihr schlaft weiter (καθεύδετε τὸ λοιπόν) d   und ruht euch aus (ἀναπάυεσθε)?124 e   Es ist vorbei (ἀπέχει)125 , f   die Stunde ist gekommen. g  Siehe, ausgeliefert wird der Menschensohn in die Hände der Sünder. 123 

Die Sentenz V.38c.d könnte im Anschluss an den Tadel V.37d.e auch zur PEmk gehört haben. Das Wort ist „vorwurfsvoll, mag man es als Frage […] oder als exklamatorische Feststellung auffassen“ (J. Gnilka, Mk II 263). Als Tadel gelesen, entspricht es V.37d.e. Oder ist es als Aufforderung zu verstehen und dann ironisch gemeint? „Schlaft weiterhin und ruht euch aus!“– ἀναπάυεσθε ist vielleicht mkn. (siehe unten). 125  Das viel umrätselte ἀπέχει ist „ein Term der Geschäftssprache, der ‚empfangen haben, quittieren‘ bedeutet. […] Wahrscheinlich muss man unpersönlich übersetzen, aber nicht wie die Vulgata ‚es ist genug‘ (sufficit), sondern in Bezug auf die Zeit: Es ist vorbei“ (J. Gnilka, Mk  II 263; vgl. W. Bauer, Wörterbuch 169); L. Schenke, Studien 538: „Jesus deutet mit ἀπέχει seinen Jüngern gegenüber an, dass nun die Entscheidung gefallen ist“. Er erklärt also nicht, dass es mit dem Schlafen jetzt „genug“ sei, sondern das Wort ist zum Folgenden zu ziehen (siehe unten!). 124 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

42 a   Steht auf, b   wir wollen gehen! c  Siehe, der mich Ausliefernde ist da.

(1) „Am Anfang konkurriert die Gesamtheit der Jünger V.32 […] mit den drei Vertrauten V.33, und damit auch die Aussagen V.32b [= d.e] und V.34“126 . Weil das Dreigespann Petrus, Jakobus und Johannes im übrigen Evangelium eine wichtige Rolle (siehe oben) spielt, in der PE aber sonst nicht mehr vorkommt, wird Markus es hier eingetragen haben127. Die Absicht, die er damit verband, könnte darin bestanden haben, Getsemani gezielt als Kontrapunkt zur Verklärung Jesu auf dem Berg erscheinen zu lassen, bei der Jesu Leidensgeschick gleichfalls als „gottgewollte Notwendigkeit“ bedacht wird128 . „Ganz anders als bei der Verklärung (9,14) ist die Abtrennung [sc. der drei Vertrauten] am Ende der Szene einfach fallen gelassen und die Rückkehr zu den anderen Jüngern überhaupt nicht erwähnt“129. So wird die Szene ursprünglich nicht drei, sondern nur zwei Orte gekannt haben. In V.37, wo Petrus noch zusätzlich erwähnt wird, repräsentiert er wie in 14,29 f. alle Jünger. Sollte die lkn. Variante, die ohne die drei Vertrauten auskommt, ein Reflex der PElk/ joh sein, würde sie die Rekonstruktion bestätigen. Hinzu kommt die Beobachtung, dass die beiden Aufforderungen Jesu an die Jüngergruppe (V.32d.e) bzw. an Petrus, Jakobus und Johannes (V.34b.c) Dubletten sind. Die erste stammt wahrscheinlich von Markus: (a) V.32d.e: „Setzt euch hier nieder, solange (ἕως) ich bete!“ enthält Spracheigentümlichkeiten des Markus130 . Das Motiv des „Wachens“ in V.34c ist vorgegeben. V.37e („Konntest du nicht eine Stunde wachen?“) knüpft daran an. (b) Die Anspielungen auf den Psalter in V.34b sind typisch für die alte PE131 und besitzen in Joh  12,27a eine Parallele. Demgegenüber verraten „die Wendung ἄρχομαι c.inf. als auch das Wort ἐκθαμβέομαι“ in V.33b „die Handschrift des Evangelisten“132 . (c) Wenn Markus die Redeeinführung V.32c in V.34a nach dem Einschub nochmals aufgreift, um mit seiner Vorlage fortzufahren, setzt er die gebräuchliche „Redaktionstechnik“ der „Wiederaufnahme“ ein133.

126 

Bultmann, Geschichte 288. Schenke, Studien 480–485; J. Gnilka, Mk  II 257; Söding, Gebet 80; anders Mohr, Markus- und Johannespassion 228–230. 128  Pesch, Mk II 389; dieser Bezug nötigt ihn nicht, V.33 als redaktionell zu erklären, weil er bereits die Verklärungsszene zur vormkn. PE rechnet (siehe oben I.  1.4.1). V.33a stimmt mit 9,2 nahezu wörtlich überein. – L. Schenke, Studien 482 zufolge verdankt sich die Einführung der drei Vertrauten der Absicht, „die Aussage über das Versagen der Jünger, die auch in der vormarkinischen Erzählung schon enthalten gewesen ist“, zu steigern. 129  Dibelius, Gethsemane 265. 130 L. Schenke, Studien 488, verweist auf den „konjunktionelle(n) Gebrauch des ἕως“, wie die durchgängig redaktionelle Verwendung von προσεύχεσθαι im Evangelium (1,35; 6,46; 14,35). 131  Ebd. 489. 132  Söding, Gebet 81. 133 Hierzu Boismard/Lamouille, Werkstatt 29–34. 127 L.

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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(2) Auch die beiden in V.35c.d indirekt und in V.36b–f direkt formulierten Gebete Jesu sind Dubletten. Eines von ihnen wird redaktionell sein. Die mit der ersten Fassung verbundene Intention, Jesu Wort vom „Gekommen-Sein“ der Stunde am Ende der Szene durch sein Gebet vorweg zu beleuchten134, weist es zusammen mit mkn. Spracheigentümlichkeiten als Hinzufügung des Evangelisten aus135. Ludger Schenke zufolge stehen eigentlich beide Fassungen „in gewisser Weise in Spannung zu den redaktionellen Aussagen des Markusevangeliums, in denen Jesus sein notwendiges Leiden in Jerusalem voraussagt (vgl. 8,31; 9,9 ff.; 9,31; 10,33 f.; 10,45) und freiwillig auf sich nimmt (14,21a)“. Das voranstehende Gebet nehme jedoch die ­Bitte im Blick auf Gottes Heilsplan „fast“ schon zurück136 . Auch das deutet auf Markus hin. Im Übrigen sprechen die joh. Parallelen zugunsten des direkt wiedergegebenen Gebetes als ursprünglich: Die „Vater“-Anrede Gottes ist identisch, die Todes-Metapher des Bechers begegnet bei beiden Evangelisten (vgl. Mk  14,36c mit Joh  18,11) und die Gebets-Struktur mit ihrem theozentrischen Vorbehalt („aber“) stimmt überein137. Wenn Markus und Johannes sich im Motiv der von Gott gesetzten Stunde treffen (vgl. Mk  14,35d.e mit Joh  12,27c), muss das kein Einwand gegen diese Analyse sein. Fest steht, dass die am Ende der Szene stehende Zeitansage „Gekommen ist die Stunde“ beiden Evangelisten, die sie jeweils eigenständig weiterdachten, vorgegeben war (siehe unten). Joh  12,23: „die Stunde ist da“ (vgl. 13,1; 16,32; 17,1), markiert das Ziel einer Reihe von Erwähnungen der (noch nicht gekommenen) Stunde (vgl. 2,4; 4,21.23; 5,25.28; 7,30; 8,20). Wollte Johannes aus der ihm überlieferten PE die Bitte Jesu um Rettung aufgreifen, lag die Formulierung: „Rette mich aus dieser Stunde!“ entsprechend seiner Wertschätzung dieses Motivs unmittelbar nahe. Markus nahm die Zeitansage am Ende zum Anlass für seinen vorweggenommenen Kommentar V.35d.

(3) Der nach dem christologischen ersten Teil sich „auf das Versagen der Jünger“ konzentrierende zweite Teil der Szene, V.37–41c, wird „seinem Ende zu erzählerisch immer dürftiger […], obwohl der Erzähler gerade zu dem spannungssteigernden Motiv des dreimaligen Kommens Jesu zu den Jüngern greift“138 . 134  Siehe oben 6.2 unter (1). Deshalb sollte auch nicht, wie üblich, von zwei Gebeten gesprochen werden, sondern davon, dass die vorwegstehende Paraphrase das folgende Gebet kommentiert. 135  Hervorzuheben ist insbesondere die bei Mk häufige indirekte Rede mit ἵνα; vgl. etwa 3,9; 5,10.18; 6,8 f. u. ö.: L. Schenke, Studien 493–507; Söding, Gebet 81; Mohr, Markus- und Johannespassion 232. – Bultmann, Geschichte 289: „Die zweite Fassung, die das Gebet in direkter Rede angibt, ist […] die sekundäre“ (vgl. ebd. 295); ebenso Lührmann, Mk 244: Mk fasst „die allgemeinere Bitte von 35b neu, durch Rückbezug auf 10,38 f. […]“; 136 L. Schenke, Studien 495.500: Mit εἰ δυνατόν „ist nicht die Allmacht Gottes angesprochen, sondern sein Heilsplan“, nach dem der Menschensohn leiden muss. Dieser Heilsplan wird durch das εἰ δυνατόν „in keiner Weise in Zweifel gezogen oder negiert, sondern die Zustimmung zu ihm wird durch die Wendung vielmehr gerade betont. […] Das aber bedeutet, dass die Bitte Jesu von vornherein eingeschränkt, ja fast zurückgenommen wird“. vgl. auch Mk  9,22 f. 137  Siehe oben II.  6 .1 unter (3)! In 10,38 f. antizipiert Mk aus der PE die Becher-Metapher. – Das dem direkt formulierten Gebet zugrunde liegende Schema mit dem vielfältig belegten Allmachts-Topos (vgl. Mk  10,27) ist traditionell: van Unnik, Alles 27–36. Mk  9,23 f. wandelt ihn ab. 138 L. Schenke, Studien 473. „So wird in V.39 nicht mehr der Wortlaut des Gebetes Jesu gebo-

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Der Tadel V.37d.e: „Simon, schläfst du, konntest du nicht eine Stunde wachen?!“ „klingt so, als sei mit ihm die Möglichkeit zu weiterer Wachsamkeit vorbei. Petrus und in ihm alle Jünger werden so getadelt, als hätten sie den entscheidenden Augenblick zur Bewährung verpasst und damit in diesem Punkte endgültig versagt. Anders ist das οὐκ ἴσχυσας μίαν ὥραν γρηγορῆσαι nicht zu verstehen. Dass den Jüngern im Folgenden weitere Möglichkeiten zur Bewährung ihrer Wachsamkeit eröffnet werden (vgl. V.39–41), kommt in V.37 nicht in den Blick. Dieser Umstand muss erstaunen und lässt mit der Möglichkeit rechnen, dass der dreimalige Gebetsgang Jesu nicht ursprünglich zur Tradition gehört hat“139. Daraus wie aus weiteren Beobachtungen folgert Ludger Schenke: Markus habe unter Verarbeitung einzelner Elemente der ihm vorgegebenen Überlieferung (V.38c.d.40c) den dreimaligen Gebetsgang redaktionell gebildet140 . Zwingend ist diese Schlussfolgerung, die nur mit zwei Instanzen rechnet (Überlieferung + mkn. Redaktion), jedoch nicht.

Möglich ist auch, dass Markus einen ihm in V.37d.e-41d vorgegebenen dreimaligen Gebetsgang nachträglich kommentiert hat: zunächst in V.38a in Anknüpfung an das Stichwort γρηγορέω (V.34c.37d) mit der Mahnung: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung geratet!“141. Diese auch andernorts im Neuen Testament begegnende Paränese, die über die Szene hinausweist142 , bezieht ihre Dringlichkeit aus dem Wissen um das nahe Ende und die Gefährdung der Glaubenden vor dem Ende. Sie ist kontextuell mit der eschatologischen Rede Jesu auf dem Ölberg Mk  13 vernetzt, die angesichts des Nicht-Wissens um den Zeitpunkt der Wiederkunft des Herrn in der Weisung gipfelt:     Was ich aber euch [sc. Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas] sage,     das sage ich allen:    Seid wachsam (γρηγορεῖτε)! (Mk  13,37; vgl. V.33.35)143.

Es folgt in der Getsemani-Szene noch die Sentenz V.38c.d, die auf „die Erfahrung des in sich gespaltenen Menschen“144 verweist. Schenke zufolge145 könnte sie Teil der Überlieferung gewesen sein, in der sie unmittelbar an den Tadel V.37c.d anten, sondern nur noch gesagt, dass Jesus τὸν αὐτὸν λόγον spreche, und in V.41 lässt der Erzähler überhaupt jegliche Erwähnung des Weggehens und Betens Jesu beiseite“; ebd. 526: „Die Schilderung dieser Szene ist denkbar unanschaulich und schematisch und steht schon dadurch in Gegensatz zu der ausführlichen und lebendigen Schilderung des ersten Gebetsganges Jesu und seines Zurückkommens zu den Jüngern“. 139  Ebd. 510 f. 140  So auch Dormeyer, Passion 130 f. 141  Söding, Gebet 82: „Während 14,37 im Singular steht und an Petrus gerichtet ist, formuliert V.38 im Plural und hat dabei alle (drei) Jünger im Auge“; Lührmann, Mk 244: V.38 „erhebt die Situation ins Allgemeine und kann daher eher auf Mk zurückgehen“. 142  Vgl. 1Thess  5,6; 1Kor  16,13; 1Petr  5,8; auch 1Kor  10,13. – Dibelius, Gethsemane 263: „Man kann von diesem Wort sicher behaupten, dass es für seinen Kontext nicht gesprochen noch niedergeschrieben ist. Denn wenn die Versuchung gemeint gewesen wäre, die nun, in der Nacht der Passion, über die Jünger kam, dann wäre die Warnung, einfach wach zu bleiben, ohne jeden Nutzen gewesen; dieser Versuchung wären auch hellwache Jünger unterlegen“. 143 Auch zum vorausstehenden Gleichnis vom abwesenden Hausherrn und dem Türhüter (13,34 f.) besteht ein Bezug: „[…] damit er nicht plötzlich kommend euch schlafend findet (μὴ ἐλθὼν … εὕρῃ ὑμᾶς καθεύδοντας)“ (V.35): Mk antizipiert die Situation von Getsemani. 144  E. Schweizer, Art. πνεῦμα κτλ. 394. 145 L. Schenke, Studien 521–523.

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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schloss, um Petrus und die Jünger durch Verweis auf die menschlichen „Schwäche“ zu entschuldigen. Ausschließen lässt sich das nicht. Ein zweiter Kommentar aus der Feder des Markus findet sich in V.40d.e. Wenn Jesus bei seiner zweiten Rückkehr die Jünger wieder schlafend findet, werden zwei Umstände benannt, ein erster, der gut zur Situation passt (V.40c: „denn ihre Augen waren schwer geworden [καταβαρυνόμενοι]146“), und ein zweiter, der die Ratlosigkeit der Jünger thematisiert, auf einen (dieses Mal freilich unausgesprochenen) ­Tadel Jesu zu reagieren: „und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten“ (V.40d.e). Die Bemerkung, die in der Verklärungsszene 9,6a ihre genaue Parallele besitzt, gehört zu den Stellen im Evangelium, an denen Markus die Jünger als unverständig darstellt. Dem ersten Tadel Jesu (V.37d.e: „Simon, schläfst du […]?“) entspricht der letzte V.41c.d an die Adresse aller Jünger: „Ihr schlaft weiter und ruht euch aus?“ „Das Ausruhen, das er ­ihnen einst vergönnte (6,31), wird in dieser Situation zur Sünde“147. Möglicherweise hat Markus ἀναπάυεσθε in Erinnerung an 6,31 ergänzt. Lk  22,46 bietet, vielleicht der PElk/joh entsprechend, nur τί καθεύδετε.

(4) V.41e–42c schließen die Szene ab und öffnen sie zugleich nach vorne. Ihre „Überladenheit“148 fällt auf. Gleich zwei Ankündigungen, beide mit ἰδού und dem Verb παραδιδόναι, weisen auf das Kommende hin: „Siehe (ἰδού), ausgeliefert wird (παραδίδοται) der Menschensohn in die Hände der Sünder“ (V.41g) – „Siehe (ἰδού), der mich Ausliefernde (ὁ παραδιδούς) ist da!“ (V.42c). Die erste knüpft an die Worte vom Leiden und Auferstehen des Menschensohns an (Mk   8,31; 9,31; 10,33 f.; 14,21)149 und erklärt aus theologischer Perspektive, dass dieser nach Gottes Ratschluss „dahingegeben“ wird, die zweite spricht profan vom „Ausliefern“ Jesu150 . Jene verdankt sich der theologischen Vertiefung des Geschehens durch Markus151, diese wird samt voranstehendem Aufbruchssignal („Steht auf, wir wollen gehen!“) ursprünglicher Bestandteil der Erzählung sein. Strittig ist die Zeitansage V.41f: „Die Stunde ist gekommen!“ Bildet sie mit dem nachfolgenden Menschensohn-Wort eine unauflösliche Einheit oder ist sie unabhängig vom ἰδού-Satz V.41g zu beurteilen?152 Richtig ist, dass dieser ἰδού-Satz jetzt den Inhalt der „Stunde“ nachträglich expliziert: „In dem Geschehen der Überliefe146 

Ein ntl. Hapaxlegomenon! Gnilka, Mk 263; 6,31 lautet: „Kommt, ihr allein, an einen einsamen Ort, und ruht euch etwas aus (ἀναπαύσασθε ὀλίγον)!“ 148 L. Schenke, Studien 465. 149 9,31 spricht allgemein von der „Auslieferung“ des Menschensohns εἰς χεῖρας ἀνθρώπων, 10,33 bezieht dies auf „die hohen Priester und die Schriftgelehrten“. Die Rede von „den Sündern“ (οἱ ἁμαρτωλοί) in 14,41f dürfte jüdischem Sprachgebrauch entsprechend „die Heiden“ einbeziehen, konkret: die Römer. Sie passt im Übrigen gut zur Psalter-Matrix der PE: „Die Sünder“ sind im Psalter die Gegner des Gerechten. 150  Sie ist persönlich formuliert (ὁ παραδιδούς με), die erste Ankündigung spricht vom Menschensohn. 151 L. Schenke, Studien 463–471; J. Gnilka, Mk II 257 f.; Söding, Gebet 82. Anders Mohr, Markus- und Johannespassion 233 f. 152  So etwa Bultmann, Geschichte 288; anders Kuhn, Jesus 273 f. 147 J.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

rung Jesu zur Passion […] enthüllt und erfüllt sich die eschatologische Stunde“153. Deshalb müssen V.41f und g, überlieferungskritisch betrachtet, aber keine Einheit sein, die Markus eingefügt hat154. Näher liegt es zunächst, V.41f im Gefälle des ­voranstehenden ἀπέχει zu lesen: „Es ist vorbei, die Stunde ist gekommen“. Beide Aussagen gehören zusammen. Jesus stellt fest, „dass er in seinem Gebetskampf volle Klarheit über den ihm vom Vater abverlangten Weg gewann“155. Aufbruchssignal und Ankündigung, der ihn Ausliefernde sei da, erfüllen die Prophetie von 14,18 und schließen sich nahtlos an: Sie erläutern, was mit der „Stunde“ gemeint ist156 . Der Kontrollblick auf Johannes bestätigt diese überlieferungskritische Sicht. Die Zeitansage Mk  14,41f: „die Stunde ist gekommen“, stimmt fast wörtlich mit Joh  12,23b überein157. Das Aufbruchssignal Mk  14,42a.b ist mit Joh  14,31 identisch (ἐγείρεσθε ἄγωμεν [ἔντεῦθεν]). Die Ansage vom Eintreffen des „Auslieferers“ Mk  14,42c hat der Evangelist seinem satanologischen Verständnis entsprechend umgeformt: „Es kommt der Herrscher der Welt“ (Joh  14,30). Freilich überrascht, dass beide Evangelisten die Stunden-Ansage mit einem Menschensohn-Wort erläutern, das mittels eines passivum divinum (παραδίδοται/δοξασθῇ) jeweils den Tod Jesu reflektiert158 . Daraus zu schließen, dass bereits die PEG das Wort (dann in der mkn. Gestalt) enthalten hat, scheitert an den oben dargebotenen Argumenten zugunsten seiner nachträglichen Einfügung durch den ältesten Evangelisten. Näher liegt die (schon zu Mk  14,35e/Joh  12,27c geäußerte) Annahme, dass beide die ihnen vorgegebene Rede von der gekommenen „Stunde“ zum Anlass genommen haben, sie jeweils eigenständig weiterzudenken. Beide verfügen über eine Menschensohn-Christologie, die mit der Rede vom Heilsplan Gottes bzw. der von ihm gesetzten „Stunde“ zu verbinden nahelag (vgl. auch Joh  5,25.27, 13,31 f. [νῦν]). 153 L.

Schenke, Studien 504; ebenso Kuhn, Jesus 273. Schweizer, Mk 169, vermutet im Hintergrund ein „umlaufende(s), für die Gemeinde wichtige(s) Wort“; vgl. Gnilka, Söding u. a. (siehe oben). – Nicht zwingend L. Schenke, Studien 505: „der prägnante absolute Sprachgebrauch von ἡ ὥρα“ im eschatologischen Sinn „kann schwerlich schon auf vormkn. Tradition zurückgeführt werden. Im Alten Testament sowie in frühen ntl. Traditionen lässt sich dieser Sprachgebrauch noch nicht nachweisen. Erst das Johannesevangelium greift ihn auf und macht ihn zu einem festen Terminus johanneischer Eschatologie“. V.41f, gelesen im Kontext der Getsemani-Szene, bedeutet: „Es ist vorbei, die von Gott gesetzte Stunde ist gekommen“ (siehe oben). Ein solche Wendung ist frühjüdisch durchaus geläufig: Delling, Art. ὥρα 678. Warum soll sie erst Mk, nicht schon der Überlieferung zugetraut werden? 155 J. Gnilka, Mk II 263. 156  Wenn die formelhafte Wendung „die Stunde ist gekommen“ (oder ähnlich) ohne explizite Erläuterung begegnet, ergibt sich ihr Sinn aus dem Kontext, vgl. etwa Lk  22,14 oder Epict, Diss  1,1,36, auch Joh  2,4; 7,30; 8,20; 17,1; weitere Belege bei Delling, Art. ὥρα κτλ. 157  Joh bietet das Verb im Perfekt („die Stunde ist da“), Mk im Aorist. – Wenn Joh den Inhalt der gekommenen Stunde unmittelbar anschließend expliziert (mit einem ἵνα- [12,23; 13,1; 16,2] oder ὅτε-Satz [4,21.23; 5,25]), erscheint ὥρα ohne Artikel, nur in 12,23 nicht; das hängt vielleicht mit der rezipierten Getsemani-Überlieferung zusammen; 17,1 ist Wiederaufnahme von 12,23. – Beiseite bleiben können die Belege von ὥρα mit Artikel, die den Terminus mit einem Personalpronomen versehen (2,4; 7,30; 8,20; 13,1). „Eschatologische“ Verwendung des Terminus auch in Röm  13,11; Offb  3,10; 14,7.15. 158  Mk benutzt (neben παραδίδωμι = ausliefern) das Verb mehrfach im theologischen Sinn (9,31; 10,30; 14,41), Joh kennt dagegen nur die profane Bedeutung. Der theologische Gebrach des Wortfelds δοξάζω ist umgekehrt typisch joh., Mk dagegen fremd. 154 

6. Jesu Gebetsringen in Getsemani (Mk  14,32–42 par.)

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(5) Im Rückblick lässt sich auch der dem Versagen der Jünger gewidmete zweite Teil der Szene (V.37–41d) überlieferungskritisch einordnen. Er war weder Bestandteil schon der PEG noch entstammt er der Redaktion des Markus. Gegen die erste Alternative159 spricht trotz des Einsatzes des „spannungssteigernden Motiv(s) des dreimaligen Kommens Jesu zu den Jüngern“ seine narrative „Dürftigkeit“ (Ludger Schenke), auch die Spannung zwischen ὥρα als einfacher Zeitangabe in V.37 und dem gefüllten Gebrauch des Terminus im Sinne der von Gott gesetzten „Stunde“ in V.41160 . Sollte Lukas eine eigene Fassung ohne die drei Gebetsgänge bezeugen, böte er ein zusätzliches Argument. Gegen die Zuschreibung des Abschnitts an Markus spricht seine an den kommentierenden Ergänzungen (V.38a.b.40d.e.41c.41d[?]) ablesbare Schichtung. Dem Modell PEG – PEmk – Mk lassen sich die Befunde am besten zuordnen: Die PEmk hat den Abschnitt nachgetragen161, Markus hat ihn kommentiert. Der Nachtrag der PEmk setzt mit Jesu Tadel an Simon ein. Das könnte zusammen mit dem Dreitakt der Rückkehr Jesu zu den schlafenden Jüngern verraten, warum die Szene erweitert wurde: um die dreimalige Verleugnung Jesu durch Petrus vorzubereiten. Ausschlaggebend könnte folgendes Motiv gewesen sein: Wenn Jesus sich dreimal zum Gebet zurückzieht, soll das nicht seinen „Gebetskampf“ steigern162 , sondern spiegelt „die geläufige Vorstellung“ wider, „dass erst ein dreimaliges Gebet vollständig und wirksam ist“163. Es geht nicht um Jesus, sondern um die Jünger. Die Rede von der „einen Stunde“, die zu wachen Simon „nicht vermochte“164, könnte deshalb die nächtliche Gebetswache der Christen in der Pascha-Nacht (Apg  12,12) assoziieren als positives Gegenbild zu den schlafenden Jüngern. Markus wird die Szene so verstanden haben, als er die Weisung einfügte: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt!“ Wenn Matthäus den Tadel Jesu: „Simon, du schläfst? Konntest Du nicht eine Stunde wachen?“ um ein „mit mir“ ergänzt (Mt  26,40), dachte auch er vielleicht an die Praxis der nächtlichen Gebetswache in der Erinnerung an Jesus. 6.4 „Die Stunde ist gekommen“ (Mk  14,41 par. Joh  12,23). Die Szene in der PEG Aufgrund der voranstehenden Analysen kann für die PEG mit folgender Gestalt gerechnet werden: 159  Als ursprünglich sehen die drei Gebetsgänge an: J. Gnilka, Mk 257 f. (mit Verweis auf die regel de tri); Lührmann, Mk 241.243; Guttenberger, Mk 312; ebenso Mohr, Markus- und Johannespassion 235 f.; Söding, Gebet 81 f.: vormkn. 160  Weil L. Schenke nicht nur V.35, sondern auch V.41f („die Stunde ist gekommen“) Mk zuweist, ist er – bei mangelnder Differenzierung zwischen PEG und PEmk – gezwungen, V.37 alter Überlieferung zuzuweisen (Studien 510). 161  Ab V.41 folgt die PEmk der PEG, hat aber καθεύδετε wegen des jetzt dreifach festgestellten Schlafens der Jünger um τὸ λοιπόν ergänzt. 162  Zutreffend L. Schenke, Studien 532. 163  Schmeller, 2Kor II 308, zu 2Kor  12,8. 164  Die PEmk hat den Aorist ἴσχυσας (dazu oben unter [3]) im Blick auf den Nachtrag insgesamt gewählt.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mk

Lk

Joh

A. Und sie gingen hinaus (ἐξῆλθον) und kommen zu einem Grundstück, dessen Name Getsemani (ist); und er spricht zu seinen Jüngern […]:     Meine Seele ist betrübt bis zum Tod.     Bleibt hier und wacht!

14,26b 14,32a 14,32b 14,32c 14,34b 14,34c

[22,39a

18,1b]

B. Und er ging ein wenig weiter, warf sich auf die Erde nieder […] und sprach:    Abba, Vater,     alles ist dir möglich!     Nimm diesen Becher von mir!     Aber nicht, was ich will,     sondern was du (willst).

14,35

C. Und er kommt und findet sie schlafend und spricht zu ihnen:    Ihr schlaft […]?    Es ist vorbei,     die Stunde ist gekommen […].    Steht auf,    wir wollen gehen!     Siehe, der mich Ausliefernde (ὁ παραδιδούς) ist da.

14,37a.41a 14,37b 14,41b 14,41c 14,41e 14,41f 14,42

14,36 12,27c

[12,27d]

22,46b 12,23b 14,31e 14,31f 14,30b

Die Szene ist fest in der PEG verankert: Mit der voranstehenden Mahlszene verbindet sie der Gelenk-Vers Mk  14,32: „Und sie kommen zu einem Grundstück, dessen Name Getsemani (ist)“165 , mit der nachstehend erzählten Verhaftung die Worte Jesu an seine schlafenden Jünger (Mk  14,41c–42 par. Joh  14,30 f.). Die Erklärung: „Die Stunde ist gekommen!“ markiert die Wende der Passionserzählung vom selbstbestimmten Handeln Jesu hin zu seinem Leiden und Tod. Die Erzählung ist zutiefst biblisch geprägt. Das zeigen Jesu Worte in Mk  14,34b und sein Gebet V.36 mit der biblischen Metapher vom Becher Gottes, aber auch das Szenario: Die Entfernung Jesu von seinen Begleitern erinnert an Gen  22,5166 und nimmt seine spätere Verlassenheit am Kreuz vorweg (vgl. Ps  27,10; 31,12; 69,9). Der Gebetsgestus Jesu erinnert zwar an die Proskynese167, ist aber nicht „formel165  Warum die Bezeichnung des „Grundstücks“ mit Getsemani (aram. ‫ = גת־שמני‬Ölkelter) im lkn./joh. Überlieferungszweig verloren ging, entzieht sich einer Erklärung. Weil die PEG mehrfach Jerusalemer Ortstraditionen verarbeitet, ist anzunehmen, dass sie ursprünglich ist. 166  Gen  2 2,5: „Da sagte Abraham zu seinen Jungknechten: Bleibt mit dem Esel hier! Ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen und uns niederwerfen; dann wollen wir zu euch zurückkehren“. Vgl. auch Ex  19,2 f.; Jer  15,17. 167 Vgl. Gen 17,3 sowie 1Kor   14,25; Offb   4,10; 5,8.14: 7,11; 19,4.10; 22,8; Mt   4,9; ferner Apg  10,25 f.

7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.)

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haft“168 , sondern emphatisch artikuliert: „Jesus fällt zur Erde und bleibt am Boden liegen“169. Im Licht des Alten Testaments gelesen, „war Jesu Gebetsringen nichts, was verheimlicht werden musste oder nur widerwillig zugegeben werden durfte; es war nicht Schmach, sondern Beweis seiner Messianität“170 . Genau dies bringt die biblische Matrix der Szene zum Ausdruck.

7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.) Die Szene bildet die Peripetie der Passionserzählung: „Seine bisherige Rolle als Handlungssouverän […] geht an die Opponenten“171. Doch kommt dieser Umschwung nicht überraschend. Zum wiederholten Mal kündigte Jesus seine „Auslieferung“ an und rang zuletzt im Gebet mit dem Vater darum, seinem Geschick zu entkommen. Mit seiner Einwilligung nimmt es seinen Lauf. 7.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen Den vier Fassungen der Szene (Mt  26,47–56; Mk  14,43–52; Lk  22,47–53; Joh  18,1–11) liegen die bekannten zwei Überlieferungsstränge zugrunde: PEmk einerseits und PElk/joh andererseits. Was schon beim Umgang des Johannes mit der vorigen Szene zu beobachten war, setzt sich hier fort: sein höchst kreativer Umgang mit der Überlieferung, die ihrer Neufassung gleichkommt. Das ursprüngliche Bild der Szene zeichnet sich dennoch ab. (1) Bei Markus schließt die Szene mit einem εὐθύς = sofort unmittelbar an die voranstehende an172 . Sie hat drei Episoden: Die erste erzählt von der Identifizierung Jesu durch den (Begrüßungs-)Kuss des Judas und der Verhaftung Jesu durch den vom Hohen Rat ausgesandten Trupp (V.43–46), die zweite vom Schwertstreich „eines der Dabeistehenden“173, von der Reaktion Jesu und der Flucht seiner Jünger (V.47–50), die dritte von einem jungen Mann, der Jesus zunächst folgt, dann aber nackt fliehen muss, weil sie auch ihn zu ergreifen suchen (V.51 f.). Nur Markus kennt in seinem reichen Tableau der an der Szene beteiligten Figuren zwei, die nicht nur anonym auftreten, sondern deren Bezug zu Jesus auch im Dunkeln bleibt: den Mann, der den Schwertstreich ausübt, und den nackt fliehenden Jüngling. Den Mann identifizieren die anderen Evangelisten als einen „von denen, die mit Jesus waren“ (Mt  26,51; vgl. 168 

Pesch, Mk II 390. So gibt Feldmeier, Krise 163, die Imperfektform ἔπιπτεν wieder. 170  Dibelius, Gethsemane 262; nicht zureichend Lührmann, Mk 245: „In der Christologie (sc. der Szene) zeigt sich das typische Motiv des leidenden Gerechten, der Gott als Vater anredet (vgl. Weish  2,16.19)“. 171  Guttenberger, Mk 313. 172  Mt und Lk bieten statt des typisch mkn. εὐθύς unabhängig voneinander ein ἰδού = siehe (Deutero-Markus). 173  Das doppelte εἷς δέ τις (das τις ist allerdings textkritisch strittig) fällt auf, „als wolle Mk sagen ‚irgendein Jemand unter den Dabeistehenden‘. εἷς + Genitiv ist im MkEv die übliche Wendung zur Einführung einer anonymen Person“ (Theißen, Lokalkolorit 196). 169 

330

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Lk  22,50), Johannes sogar mit Simon Petrus (18,10 f.). Vom Jüngling schweigen sie. Wer ist jener anonyme Mann? Einer „aus der Schar der Häscher, der im Handgemenge (V.46) zum Schwert greift, aber unglücklicherweise (wie die christlichen Erzähler vielleicht mit ironischer Genugtuung festhalten) den Knecht des (amtierenden) Hohenpriesters (= seinen Beamten, den Anführer der Truppe?) trifft und ihm das Ohr abschlägt“174? Irgendein anderer, der „anwesend“ war? Ein Sympathisant Jesu?175 Ein Jünger?176 Warum belässt der Erzähler die Figur in ihrer Anonymität? Gerd Theißen spricht von bewusster „Verdunklung“ der „positiven Beziehung“ dieser Figur zu Jesus, von „Schutzanonymität“, woraus er schließt, dass der Mann ein Mitglied der Jerusalemer Gemeinde gewesen sein muss177. An einen Jesus-Jünger zu denken, liegt auch bei der rätselhaften Figur des jungen Mannes (V.51 f.) nahe, weil die Episode auf die Fluchtnotiz (V.50) folgt und somit von einer Ausnahme erzählen könnte. Nur warum identifiziert der Erzähler den jungen Mann nicht178? Wenn es sich in beiden Fällen um „Jünger“ handelt, wofür einiges spricht (siehe unten), dann ist bemerkenswert, dass hier ein Kreis vorausgesetzt wird, der nicht auf „die Zwölf“ eingegrenzt werden kann, wie Markus dies in seiner Erzählung überall suggeriert.

(2) Matthäus verfügt über keine eigene Quelle, sondern folgt seiner mkn. Vorlage, die er neu strukturiert und zuspitzt. Die erste Episode (V.47–50) entspricht der des Markus, trägt aber dank des eingefügten Wortes Jesu auf den Begrüßungskuss des Judas hin: „Freund, dazu bist du hergekommen!“ (V.50) einen neuen Akzent179. Die Notiz zum Schwertstreich hat der Evangelist dadurch, dass er eine Mahnung Jesu an die Adresse seiner Jünger zur Gewaltlosigkeit anschließt, zu einer eigenen Episode ausgebaut (V.51–54)180 . Die dritte und letzte Episode (V.55 f.), mit der er wieder Markus (V.48 f.) folgt, setzt er von der vorigen mit dem Zeitsignal: „In jener Stunde sprach Jesus zu den Volksmengen“181, ab und beschließt sie – wie die zweite  – mit einer ausführlichen Schrifterfüllungsformel (V.54.56). Die beiden kleinen Reden Jesu an die Jünger und „die Volksmengen“, die sein Wort an Judas am Ende der ersten Episode überbieten, entsprechen sich und prägen das Gesicht der Szene: Selbst im Moment der Gefangennahme übt Jesus souverän seine Rolle als messianischer Lehrer aus182 . Bemerkenswert ist, dass aus der „Schar“ des Polizeitrupps bei 174 

270.

Pesch, Mk II 400, im Anschluss an L. Schenke, Christus 120; ebenso J. Gnilka, Mk II

175  Schweizer, Mk 174 „die Ausdrucksweise scheint […] auf einen weiteren Kreis von zufälligen Zuschauern hinzuweisen, von denen sich einer für Jesus wehren will“. Dieser Auslegungstyp weckt den Eindruck, als dürfe die Gewaltepisode keinesfalls mit dem Jüngerkreis in Verbindung gebracht werden. 176 A.Y. Collins, Mk 685 f.; Guttenberger, Mk 335; Sommer, Passionsgeschichte 125. 177  Theißen, Lokalkolorit 198; „Dieser Schwertschlag ist Gewaltanwendung mit möglicher Todesfolge“. „Solange die Knechte des Hohenpriesters lebten (und solange die Folgen des Schwertschlags zu sehen waren), war es inopportun, ihre Namen zu nennen“ – auch für den fliehenden Jüngling nimmt Theißen „Schutzanonymität“ an. 178  Einen umfassenden Einblick in die Auslegungsgeschichte der beiden Verse (seit Epiphanius) bietet A.Y. Collins, Mk 688–693. 179  Konradt, Mt 416: „‚Freund/Genosse‘ ist im Licht der beiden vorangehenden Belege in 20,13; 22,12 keineswegs wohlwollend oder gar als Ausdruck von Nähe zu verstehen. Jesu Feststellung […] behaftet Judas bei seiner Tat: Jesus durchschaut Judas; sein Kuss dient dem Verrat“. 180  Sie setzt wie die erste Episode (V.47) mit dem Signal καὶ ἰδού = und siehe ein. 181  Während Mk in V.48 nur ein αὐτοῖς bietet, präzisiert Mt die Adressatenschaft der Rede Jesu. 182  Wenn Jesus seine Aufforderung an den gewalttätigen Jünger, er solle sein Schwert an seinen

7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.)

331

Markus bei ihm „eine große Menge“ (V.47: ὄχλος πολύς), ja „Volksmengen“ (V.55: ὄχλοι) geworden sind. (3) Lukas bietet seine mkn. Vorlage in einer kürzeren Version183, die er (wie Matthäus) in drei Episoden gliedert: Die erste (V.47 f.) gipfelt in der Begegnung des Judas mit Jesus, bei der es aber – im Unterschied zu Markus – nicht zum Begrüßungskuss zu kommen scheint: Als Judas sich Jesus nähert, „um ihn zu küssen (φιλῆσαι)“, tadelt ihn Jesus: „Judas, mit einem Kuss lieferst du den Menschensohn aus!“ Die zweite Episode (V.49–51) beinhaltet den „Versuch der Gegenwehr aus dem Kreis der Jünger“184, konkret: die Geschichte vom Schwertstreich – eingeführt von der Frage seiner Begleiter: „Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“ (V.49) –, die Re­ aktion Jesu auf den erfolgten Schwertstreich („Lasst das! Schluss jetzt!“) und die Heilung des abgeschlagenen Ohrs (V.51). Die dritte Episode (V.52–53) besteht aus Jesu Rede an „die hohen Priester, Tempeloffiziere und Älteste“, ergänzt durch den redaktionellen Zusatz: „Doch dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“185. (4) Lukas und Johannes bieten wie bei den voranstehenden Szenen wieder Indizien, die auf eine Variante der Erzählung in der PElk/joh verweisen. (a) Auf ihre Übereinstimmungen in der Einleitung zur Getsemani-Szene (bei Johannes zur Verhaftungsszene) wurde schon oben hingewiesen. Zu ergänzen ist, dass Judas bei beiden eine Führungsrolle spielt: Bei Markus heißt es: „es kommt Judas […] und mit ihm eine Schar“ (Mk  14,43; vgl. Mt  26,47), bei Lukas: „Judas […] ging ihnen voraus (προήρχετο)“ (Lk  22,47)186 . Wenn eine derartige Wendung schon in der PElk/joh (und der PEjoh) stand187, konnte Joh  18,3 mit dem übersteigerten Bild des Judas als Anführer eines ganzen Heeres gut daran anknüpfen. (b) Bei Lukas kommt es nicht zum Judas-Kuss, bei Johannes ist er unterdrückt. Der vierte Evangelist bringt zu Ende, was tendenziell in seiner Passionsüberlieferung schon angelegt war188 . (c) Während Markus Jesu Verhaftung vor der Episode vom Schwertstreich erzählt (Mk  14,46 par. Mt  26,50), ist die entsprechende Notiz bei Lukas und Johannes nicht nur an das Ende bzw. den Übergang zur nachfolgenden Szene versetzt, sondern (gegen Markus) mit συλλαβόντες/συνέλαβον + ἤγαγον auch gleich formuliert (Lk  22,54 par. Joh  18,12). (d) Bei beiden Evangelisten ist es (gegen Markus und Matthäus) das „rechte Ohr“ des Knechts, das abgeschlagen wird, was die entstandene Notlage vielleicht steigern soll189. Ort stecken, mit der Sentenz begründet: „Denn alle, welche das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen!“ (V.52; vgl. v. a. Offb  13,10), wird damit die Botschaft der Bergpredigt bzw. die fünfte Antithese von der Gewaltlosigkeit veranschaulicht: „Jesus gibt mit seinem eigenen Verhalten ein Beispiel dafür, wie sie gemeint ist, nämlich als radikaler, kompromissloser Pazifismus, der auch zur Selbstverteidigung keinen Raum lässt“ (Luz, Mt IV 166). 183  Es fehlen: (a) die Rückblende auf die Verabredung des Judas mit den Autoritäten Mk  14,44; (b) die Notiz von der Jüngerflucht (Mk  14,50); (c) die Episode vom nackt fliehenden Jüngling (Mk  14,51 f.). 184  Wolter, Lk 725. 185  Lk zieht die satanologische Linie von 22,3.31 aus, vgl. 4,13. 186  Aufgenommen in Apg  1,16: Judas „Anführer (ὁδηγός) derer, die Jesus gefangen nahmen“. 187  Sabbe, Arrest 364: „It is […] difficult to decide whether a dependence upon Luke can be affirmed in this case or whether we have to do with what we can call an accidental minor agreement between John and Luke“. Das hier verfolgte Quellenmodell bleibt bei Sabbe außer Betracht. 188  Ebd. 368: „an accidental agreement with Luke“ bzw. Bearbeitung der Lk-Vorlage durch Joh. 189  Wolter, Lk 727, verweist auf LibAnt 53,6: „Das rechte Ohr hört den Herrn bei Nacht, das

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

7.2 „Ich bin es“. Jesu Selbst-„Auslieferung“ nach Johannes (18,1–11) Die Szene, die auf die Abschiedsreden Jesu (Joh  13,31–17,26) folgt, bildet den Auftakt zum ersten Akt der joh. Passionsgeschichte. Sie besteht aus einer Exposition (V.1–3) und einem Hauptteil mit zwei Episoden: einer längeren, die von der „Epiphanie“ Jesu vor dem von Judas angeführten Trupp der Häscher erzählt (V.4–6/7–9), und einer kürzeren vom Schwertstreich (jetzt) des Petrus und Jesu Reaktion darauf (V.10–11). Die Exposition nennt den Ort des Geschehens – einen „Garten“ (κῆπος) jenseits des Baches Kidron – und zeigt die Protagonisten auf dem Weg dorthin: Jesus und seine Jünger einerseits (V.1), Judas und den von ihm angeführten Trupp andererseits (V.3). V.2 bietet Hintergrundinformation190: Judas kennt „den Ort“, weil sich Jesus dort des Öfteren mit den Seinen aufgehalten hat. Der geschützte Ort (siehe unten) mochte gebildete zeitgenössische Leser an den berühmten „Garten“ (κῆπος) des Epikur erinnern, in dem der Philosoph sich mit seinen Schülern aufzuhalten pflegte und nach dem auch seine Schule benannt wurde191. Der „Garten“, in dem Jesu Leichnam beigesetzt wird (19,41) und in dem er am ersten Ostertag Maria Magdalena erscheint (vgl. 20,15), ist ein anderer und liegt in der Nähe des Hinrichtungsplatzes (19,42). Das Garten-Motiv rahmt nach Art einer inclusio die Passionserzählung und ruft allerlei Assoziationen wach. Der Evangelist scheint es mit Bedacht verwendet zu haben.

Der Hauptteil der Szene spielt vor dem Garten. Niemand dringt ein in seinen geschützten Raum. Jesus verlässt ihn im Wissen um „alles, was auf ihn zukommt“, und tritt dem Trupp mit der Frage: „Wen sucht ihr?“ hoheitsvoll entgegen. Wenn er ihnen auf ihre Antwort hin: „Jesus, den Nazoräer“, erklärt: „Ich bin (es)“, identifiziert er sich, spricht aber in eins damit das göttliche „Ich bin“ (ἐγώ εἰμι), das die Leser des Buches seit 6,20 kennen192 . Bestätigt wird diese Annahme durch die Reaktion der Angesprochenen: „Als er ihnen sagte: Ich bin (es), wichen sie zurück und fielen zu Boden“ (V.6). Damit spielt der Erzähler auf den Psalter an, der Gleiches von den Gegnern des Gerechten sagt193, verbunden mit dem biblisch-frühjüdischen Topos vom machtvollen Erscheinen des Messias, der seine Feinde allein durch sein Wort zuschanden werden lässt194. Indem Jesus die Häscher ein zweites Mal fragt: linke aber (nur) den Engel“ (Übersetzung Dietzfelbinger). Ebd.: „Ansonsten galt natürlich die rechte Seite generell als die günstigere Seite“. – Statt des im NT gewöhnlichen ὠτάριον bzw. ὠτίον (so Joh  18,10.26) ist οὖς bei Lk „ein attizistischer Ausrutscher“, den er in V.51 gleich wieder korrigiert (ebd). Beachtenswert ist auch die bei Lk und Joh gegen Mk/Mt abweichende Stellung des Genitivs: τοῦ ἀρχιερέως τὸν δοῦλον. 190  Sie steht im Imperfekt (ἤιδει δὲ καὶ Ἰούδας …), während V.1 und 3 im punktuellen Aorist ἐξῆλθεν … εἰσῆλθεν erzählen. 191  Kramp, Garten 43–55. 192  Es hat noch einen zweifachen Nachhall, in der Erzählernotiz V.6 und im Rückblick Jesu V.8: „wenn ich euch gesagt habe: Ich bin (es), […]“, begegnet also insgesamt drei Mal! 193 Ps   27,2: „[…] meine Bedränger und Feinde; sie sind gestrauchelt und gefallen (ἔπεσαν)“; Ps  35,4: „[…]. Zurückweichen sollen (ἀποστραφήτωσαν εἰς τὰ ὀπίσω) und vor Scham erröten, die auf mein Unglück sinnen“; Ps  56,10: „Dann weichen die Feinde zurück, am Tag, da ich rufe […]“.  – Reinbold, Bericht 140. 194  Nicht plausibel Lang, Johannes 71: „hintergründig“ sei dieses Hinfallen „die dem Menschensohn zukommende Anbetungsgeste“; ebd. 85.

7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.)

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„Wen sucht ihr?“195 , löst er sie aus ihrer Erstarrung und liefert sich ihnen aus, was der Erzähler freilich nur indirekt durch Jesu Befehl, „diese (sc. die Jünger) gehen zu lassen“, zum Ausdruck bringt196 . Angefügt ist die Erfüllungsformel, die hier zum ersten Mal im Evangelium nicht auf die Schrift, sondern auf ein Wort Jesu bezogen ist: „auf dass sich das Wort erfüllte (ἵνα πληρωθῇ ὁ λόγος), das er gesprochen hatte: Die du mir gegeben hast (δέδωκας μοι), keinen von ihnen habe ich verloren“. Die in der joh. Lesart auf Petrus bezogene Episode vom Schwertstreich zieht die Linie von 13,36–38 weiter aus. Wie dort Petrus, verhaftet im irdischen Denken, beteuert: „Herr, weshalb kann ich dir jetzt nicht folgen? Mein Leben setze ich ein für dich“ (V.37), so bleibt ihm jetzt verschlossen, dass Rettung nicht durch Einsatz eigener Kräfte kommt, sondern allein durch Jesu Tod hindurch – im Trinken des bitteren Bechers, den der Vater Jesus „gegeben hat“ (δέδωκέν μοι) (V.11c). 7.3 Von der PEjoh zur PElk/joh Die Szene verdankt sich joh. Erzählkunst. Ihre Vorlage zeichnet sich dennoch deutlich ab: Wenn Judas als Verkörperung des „Herrschers der Welt“ (Joh  14,30) ein dämonisches „Heer“ anführt, das aus einer römischen „Kohorte“197 und „Dienern der Juden“ (18,2.12)198 besteht und den Ansturm des κόσμος gegen den Offenbarer sinnenfällig macht199, dann erklärt sich das am besten als symbolische Überhöhung einer vorgegebenen Notiz, die von Judas bereits als „Anführer eines Haufens“ sprach (siehe oben). Die historische Frage einer römischen Beteiligung an der Festnahme Jesu erledigt sich damit von selbst 200 . Wenn die Soldaten nicht nur „Waffen“, sondern auch „Fackeln und Laternen“ tragen (so nur Joh), dann passt dieses Detail zur „Nacht“-Szenerie (vgl. Joh  13,30: „es war aber Nacht“). Der Evangelist, dem an der Symbolik von Licht und Finsternis liegt, könnte es sekundär eingetragen haben.

Vom Judas-Kuss, dessen narrative Funktion darin besteht, Jesus zu identifizieren, ist im Unterschied zu den Synoptikern nicht mehr die Rede. Der Evangelist hat den einprägsamen wie anstößigen Erzählzug durch Jesu Selbstanzeige ersetzt 201. Bei 195  Mit der Wiederholung der Frage setzt parallel zur ersten die zweite Sequenz der ersten Episode ein. 196  Schnackenburg, Joh III 254: „In dieser indirekten Aufforderung, ihn zu ergreifen, liegt hohe Erzählkunst“. 197  Brown, Death I 248 f.: Entweder ist bei σπεῖρα an eine Kohorte (mit ca. 600 Mann) zu denken oder an einen Manipel (manipulus) (mit ca. 200 Mann); zugunsten einer Kohorte spricht die Erwähnung des χιλιαρχός V.12 (= tribunus militium) (an der Spitze eines Manipel steht ein decurio); Jos, Bell 2,11: ὑποπέμπει μετὰ σπείρας χιλίαρχον. 198  V.12 („von den Juden“) generalisiert V.2: „von den hohen Priestern und von den Pharisäern“. 199  Dauer, Passionsgeschichte 27: „Hier aber, zum erstmöglichen Zeitpunkt, lässt der Evangelist den gottfeindlichen Kosmos in seiner ganzen Größe auftreten: Juden wie Römer sind der Kosmos, Juden wie Römer, die ganze gottabgewandte Welt, sind die Gegner und Feinde Jesu, die sich zu seiner Vernichtung aufmachen“. 200  Siehe unten III.  2.4.4 unter (1). 201  „der ist es“ → „ich bin es“

334

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

ihm konzentriert sich die Rolle des Judas auf die des „satanischen“ Anführers des „Heeres“ (vgl. 14,30). Wenn er ihn in V.5e ein zweites Mal erwähnt, degradiert er ihn dort zum Statisten. Das kann als Überrest der ursprünglichen Begegnung des „Auslieferers“ mit Jesus Auge in Auge gedeutet werden 202 . Die Notiz von der unehrenhaften Jüngerflucht hat der Evangelist gleichfalls getilgt. Das von ihm gebildete Ersatz-Wort Jesu, das den freien Abzug der Jünger befiehlt, belegt, dass er sie in der PEjoh gelesen hat. Die Episode vom Schwertstreich stand schon in der PElk/joh. Sie bot auch den Erzählzug vom „rechten Ohr“. Der Name Malchus dürfte erst auf der Ebene der PEjoh in die Geschichte gelangt sein 203; Lukas kennt ihn nicht. Hinzugewachsen ist auf der Ebene des Evangelisten – neben der Identifizierung des Schwertträgers mit Petrus – auch die Reaktion Jesu auf seine Tat, und zwar beide Worte: „Stecke dein Schwert in die Scheide!“ 204 und die rhetorische Frage: „Soll ich den Becher, den mir der Vater gegeben hat (τὸ ποτήριον ὃ δέδωκέν μοι ὁ πατήρ), nicht trinken?“ Abge­ sehen davon, dass die Umformung aus einem Gebet und die Formulierung mit dem ὁ πατήρ und δίδωμι johanneisch ist 205 , stammt das Wort aus der vom Evangelisten unterdrückten Getsemani-Szene, aus der er es hierhin transponiert hat 206 . Das Wachstum der Szene von der PElk/joh über die PEjoh hin zu Joh lässt sich folgendermaßen veranschaulichen: PEjoh/lkn Exposition

PEjoh

Joh

„jenseits des Baches Kidron“

„ein Garten jenseits des Baches Kidron“

Judas geht den Häschern voraus

Judas als Anführer eines dämonischen „Heeres“:

Diener der hohen Diener der hohen Priester Priester

Kohorte (römischer Soldaten) + Diener der hohen Priester und der Pharisäer 207

202  Lang, Johannes 73: „In veränderter Perspektive bleibt Judas der, der Jesus direkt gegenübersteht (18,5 μετὰ αὐτῶν).“ 203  „Malchus“: Name eines (Araber-) Fürsten: Jos, Ant  13,5,1; 14,14,1; 15,6,2; in der Form „Malichus“ Name eines vornehmen Juden: Jos, Ant  14,5,2; 14,11,2. Lang verweist auf „joh. Gemeindetradition“, „die vermutlich noch darum wusste, dass ein Verwandter dieses Malchus bei der Verleugnung anwesend war (Joh  18,26)“. 204  Ähnlich Mt  26,52: ἀπόστρεψον τὴν μάχαιράν σου εἰς τὸν τόπον αὐτῆς; aber Joh  18,11 ist anders formuliert. Lang, Johannes 82: V.11b könnte „aus joh. Traditionsmaterialien seiner Gemeinde“ stammen, „da θήκη ntl. Hapaxlegomenon ist“; „eine direkte Abhängigkeit“ zu Mt 26,52 „besteht kaum“; in Anm.  89 bietet er Belege für den häufig beschriebenen Vorgang des Schwert-­ Ziehens bei Homer, Plutarch und Josephus. 205  Vgl. 3,16; 4,10; 5,22.26; 6,37.39 u. ö. – Lang, Johannes 82: „Redaktionell dürfte die Wendung ὅ δέδωκέν μοι ὁ πατήρ sein […]“. 206  Siehe oben 6.1 unter (3). 207  Die PEjoh sprach von den „hohen Priestern“, Joh trug „die Pharisäer“, die nichts mit der PE zu tun haben, nach.

7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.)

335

PEjoh/lkn

PEjoh

Joh

Judas-Kuss

Judas-Kuss

Jesu Selbstanzeige

Jüngerflucht

Jüngerflucht

Von Jesus befohlener freier Abzug der Jünger

Ein namenloser „Knecht“

Name des „Knechts“ Malchus

Name des „Knechts“ Malchus

„Rechtes Ohr“ des „Knechts“

„Rechtes Ohr“ des „Knechts“

„Rechtes Ohr“ des „Knechts“

Hauptteil 1. Episode

2. Episode

Schwertträger = Simon Petrus

Reaktion Jesu auf Petrus Übergang

„sie ergriffen … „sie ergriffen … und und führten ihn“ führten ihn“

„sie ergriffen … und führten ihn“

7.4 „Wie gegen einen Banditen …“. Markus und die PEmk Markus folgt auch in dieser Szene seiner Passionserzählung und schreibt sie weiter208 . Zwei der Prophetien, die Jesus während seines letzten Mahls mit den Seinen gesprochen hat, erfüllen sich jetzt: „Einer der Zwölf“ wird Jesus „ausliefern“ und „alle“ werden Ärgernis an ihm nehmen. Darüber hinaus ist die Szene mit dem Makrokontext dadurch verzahnt, dass Jesus an seine „tägliche“ Lehre im Tempel erinnert (mit 14,49 vgl. 11,17; 12,35.38), ohne dass sie ihn festgenommen hätten (12,12), aber so „die Schriften erfüllt werden“ müssten (V.49), wie es in Weiterführung von 14,21 und 27 heißt. Die dem Evangelisten in der PE vorgegebene Szene wurde nachträglich „aufgefüllt“– nach dem hier favorisierten Modell nicht unbedingt in einem Zug (PEG – PEmk – Mk) 209. Über die möglichen sekundären Elemente herrscht weithin Einigkeit, strittig ist ihre jeweilige Zuordnung. Überlagerungen (Mk  14,43–52)

Vorgegebene Erzählung (PEmk)

43 a Und sogleich (εὐθύς), während er noch redet (ἔτι αὐτοῦ λαλοῦντος), b (es) trifft Judas ein (παραγίνεται), einer der Zwölf, und mit ihm eine Schar mit Schwertern und Knüppeln 208  Eine Reihe von Forschern sehen mit der Szene von der Gefangennahme Jesu die sog. „Kurzform“ der PE einsetzen (siehe I.  1.4.1 und 4). 209 J. Gnilka, Mk II 267, zufolge ist mit der „traditionsgeschichtlichen Auffüllung“ der alten Überlieferung zu rechnen. Das von Linnemann, Studien 41–69, vertretene Modell der Kombination unterschiedlicher Überlieferungen durch Mk hat sich auch hier nicht bewährt.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

von den hohen Priestern [vom Hohepriester?/den hohen Priestern?]. und den Schriftgelehrten und den Ältesten. 44 a Der ihn Ausliefernde (ὁ παραδιδοὺς αὐτόν) aber hatte ihnen ein Zeichen (σύσσημον) gegeben b und gesagt: c   Den ich küssen werde, d   der ist es. e   Ergreift ihn (κρατήσατε αὐτόν) f  und führt ihn sicher ab (ἀπάγατε ἀσφαλῶς). 45 a Und als er kam (ἐλθών), trat er [sogleich (εὐθὺς)] an ihn heran (προσελθών) (und) spricht: b  Rabbi! c und küsste ihn. 46 a Sie aber legten Hand an ihn b und ergriffen ihn (ἐκράτησαν αὐτόν). 47 a Einer aber (εἷς δέ τις) [von den dabei Stehenden] zog das Schwert b und verwundete den Knecht des Hohe­ priesters c und schlug ihm das Ohr ab. 48 a Und Jesus antwortete und sagte zu ihnen: b  Wie gegen einen Banditen (λῃστήν) seid ihr ausgezogen mit Schwertern und Knüppeln,   um mich festzunehmen (συλλαβεῖν)! 49 a  Täglich war ich bei euch im Tempel, um zu lehren, b  und ihr habt mich nicht ergriffen (οὐκ ἐκρατήσατέ με). c  Aber [dies geschieht,] damit die Schriften erfüllt werden! 50 a Da verließen sie ihn b und flohen alle (καὶ ἔφυγον πάντες). 51 a Und ein Jüngling (νεανίσκος τίς) wollte mit ihm gehen (συνηκολούθει αὐτῷ) 210 , bekleidet (nur) mit einem Hemd auf nacktem Leib. b Und sie ergreifen ihn (κρατοῦσιν). 52 a Er aber ließ sein Hemd zurück b und floh nackt (γυμνὸς ἔφυγεν). 210 

Impf. de conatu.; das Kompositum συν-ακολουθέω auch Mk  5,37.

7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.)

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Die erste Episode (V.43–47) stammt in ihrer Substanz aus der PEmk 211. Mit leichten Retuschen des Markus ist aber zu rechnen: (a) In V.43a hat Markus die Szene mittels (des für ihn typischen) εὐθύς und dem Genitiv­ partizip λαλοῦντος noch enger an die Getsemani-Szene angebunden und damit Jesu „Vorherwissen“ unterstrichen 212: Noch „während“ Jesus die Ankunft des Verräters ansagt, trifft dieser schon ein. (b) Der Protagonist der Szene wird gleich dreifach gekennzeichnet: mit seinem Namen (Judas), seiner Gruppenzugehörigkeit (V.43: „einer der Zwölf“) und durch seine Tat (V.44: „der ihn ausliefert“). Ursprünglich ist auf alle Fälle der Name. Eine der beiden zusätzlichen Kennzeichnungen dürfte auf Markus zurückgehen, wahrscheinlich εἷς τῶν δώδεκα213. Markus unterstreicht damit das Ungeheuerliche, dass einer aus Jesu engstem Kreis ihn verraten hat (vgl. bereits V.20). Die Identifizierung des Judas mit seiner Tat (ὁ παραδιδοὺς αὐτόν) knüpft an die unmittelbar voranstehende Ansage V.42b an und wird traditionell sein 214. Sie findet sich auch in der joh. Parallele (18,2.5e). (c) Beim bewaffneten Trupp handelt es sich um die Tempelpolizei, die dem „Hohepriester“ untersteht, nicht dessen Beirat (Synedrion). Markus dürfte deshalb wie andernorts auch hier die anderen „Fraktionen“ des Synedrions nachgetragen haben 215.

Im Unterschied zur ersten Episode ist die zweite (V.47–50) deutlich aufgefüllt. In V.48 f. richtet Jesus sich „an ein Publikum, das über die Anwesenden hinausgreift“216 , ohne vom unmittelbar vorausgehenden Schwertstreich Notiz zu nehmen 217. Stattdessen spricht er von seiner Lehre im Tempel und der schriftgemäßen Notwendigkeit seiner Verhaftung bzw. seiner Passion insgesamt. „[D]ie erzählerisch zu erwartende und notwendige Reaktion“218 auf den Schwertstreich bietet erst die Fluchtnotiz V.50, die deshalb ursprünglich auf V.47 folgte. Für den Einschub von V.48 f. wird in der Regel Markus verantwortlich gemacht 219. 211  J. Gnilka, Mk II 267: „Weitgehend einig ist man sich […] darin, dass die Verse 43–46 einen zusammengehörigen Komplex darstellen“. Dormeyer, Passion 138 f., schreibt die parenthetische Rückblende V.44 Markus zu, der mit ihr die Begrüßung durch Judas vorweg als „listige Verstellung des Verräters“ demaskiert. Der Vers ist narrativ aber „unabdingbar“ (G. Schneider, Verhaftung 194). Er erläutert, inwiefern der Begrüßungskuss Jesus in der Gruppe der Jünger identifiziert. 212 G. Schneider, Verhaftung 199 f.; ebd. 192 f.; so auch J. Gnilka, Mk II 267. – L. Schenke, Christus 117 (abweichend von ders., Studien 359), und A.Y. Collins, Mk 684, lassen dies nur für εὐθύς gelten. 213 L. Schenke, Christus 117; Dormeyer, Passion 83; anders G. Schneider, Verhaftung 196; A.Y. Collins, Mk 684. – Varia lectio: ὁ εἷς … (A B) wie in 14,10, wo der Zusatz zum ersten Mal begegnet und dort vorgegeben sein dürfte (siehe oben 4.2 unter [1]); nachgetragen ist er dann auch in 14,17.20 (siehe oben unter 5.3). 214 L. Schenke, Christus 117 f.; vgl. auch G. Schneider, Verhaftung 197 f. 215 G. Schneider, Verhaftung 197.200: Mk liebt „Dreier- und Zweier- Gruppierungen zur Bezeichnung der jüdischen Jesusgegner“; eine Bestätigung bietet Joh  18,3: ἐκ τῶν ἀρχιερέων (siehe oben 7.3). – Attraktiv ist der Vorschlag L. Schenkes, Christus 118: „Ursprünglich dürfte nur ‚vom Hohenpriester aus‘ gestanden haben. Dem entspricht, dass auch in V.47 […] vom Hohenpriester im Singular gesprochen wird, und der Anschluss V.53a“. – 216 J. Gnilka, Mk II 267; ebd. 270: „Vers 49 redet über die Häscher hinweg Jerusalem an“. 217  Erst die anderen Evangelisten lassen Jesus direkt auf den Vorfall reagieren. 218 L. Schenke, Christus 113. 219 G. Schneider, Verhaftung 202–204; L. Schenke, Christus 120 f.; Lührmann, Mk 246: „48f geht wegen der die Passionsgeschichte übergreifenden Verknüpfung und des auch in 21 re-

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(a) Auf Jesu Verhaftung am Ende der ersten Episode folgt zu Beginn der zweiten der Auftritt eines Anonymus, der zur Waffe greift. Warum, wird nicht gesagt 220 . Handelt es sich um einen Jünger, dann wehrt er sich gegen die Verhaftung Jesu 221. Zugunsten dieser Lesart spricht der Kontext: Die Verhaftung geht voraus, die Flucht „aller“ Jünger folgt. Ausgelöst ist diese durch den Schwertstreich des „einen“, der die Gefahr schlagartig für alle erhöhte. Joachim Gnilka hält es für wahrscheinlich, „dass (erst) die Seitenreferenten die Jünger an dieser Stelle einführen, um ihre Flucht zu entlasten“222 . Aber schon die alte PE könnte dieses apologetische Motiv verfolgt haben, als sie es überhaupt für wert erachtete, den Vorfall festzuhalten. Wie sie in V.50 von πάντες ohne den Zusatz μαθηταί spricht, sowenig sieht sie sich in V.47 genötigt, diesen „einen“ ausdrücklich dem Kreis der Jünger zuzuweisen. Von der Getsemani-Szene her setzt sie deren Anwesenheit wie selbstverständlich voraus223. (b) Gegenüber der Mehrheitsmeinung, die V.48 f. insgesamt Markus zuweist, bemerkt Gnilka, dass aus makrokontextuellen Gründen sich nur V.49a.b eindeutig dem Evangelisten zuordnen lasse: „Der Verweis auf die Lehre im Tempel verknüpft die ‚Jerusalemer Streitgespräche‘ mit der Passionsgeschichte (vgl. 12,35: διδάσκων ἐν τῷ ἱερῷ, und 12,12)“224. Den Rest der Rede V.48b.49b („Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen mit Schwertern und Knüppeln, aber [dies geschieht,] damit die Schriften erfüllt werden“) hält er für „eine vormarkinische Erweiterung“ der alten PE mit Verweis darauf, dass der „Erfüllungsgedanke“ bei Markus „ohne Beispiel“ sei 225. Andererseits könnte V.48b.49a einen mit Bedacht hergestellten Zusammenhang bilden. Das Stichwort λῃστής, mit dem V.43b aufgegriffen wird, kehrt in der Kreuzigungsszene wieder, wo die beiden Mitgekreuzigten Jesu so tituliert werden (Mk  15,27). Die Kontrastierung des martialischen Aufgebots von „Schwertern und Knüppeln“ mit dem Bild des „täglich im Tempel (friedlich) lehrenden“ Jesus, der nicht festgenommen wurde, könnte die Absurdität des Vorwurfs gegen ihn unterstreichen wollen, er sei ein „Bandit“ bzw. für Rom gefährlicher Aufrührer gewesen 226 . So liegt es vielleicht näher, die kleine Rede Jesu nicht auseinander zu reißen, sondern einer Hand zuzuweisen, eben Markus.

Die dritte Episode von der Flucht des Jünglings (V.51 f.) wird „fast allgemein als Nachtrag empfunden“, sei es von Markus oder einem vormkn. Redaktor227. Unklar ist, wie die rätselhafte Geschichte zu lesen ist: als historische Reminiszenz, als verdaktionellen Hinweises auf die Schrift auf Mk zurück; 48 wiederholt dabei noch einmal den in 43 geschilderten Vorgang“; A.Y. Collins, Mk 686 f. 220  Deshalb arbeitet jede Deutung mit Eintragungen, sei es der Annahme, einer aus dem Ordnungstrupp des Hohepriesters habe „aus Versehen“ (J. Gnilka, Mk II 270; vgl. Pesch, L. Schenke) den Knecht getroffen, sei es die Deutung, die Aktion sei eine Reaktion auf Jesu Verhaftung. 221  Theißen, Lokalkolorit 196: „Man wird zugeben müssen: Der unbefangene Leser denkt an Menschen, die auf Jesu Seite stehen“; ebenso Schweizer, Mk 174; Guttenberger, Mk 335; A.Y. Collins, Mk 685 f.; Suhl, Funktion 301. 222 J. Gnilka, Mk II 270. 223  Die These Theißens von der „Schutzanonymität“ (siehe oben 7.1 unter [1]) erklärt das Verschweigen des Namens. 224 J. Gnilka, Mk II 267. 225  Ebd. 271; πληρόω bei Mk sonst nur in 1,15: πεπλήρωται ὁ καιρός. Die Rede von der grundsätzlichen Erfüllung der Schriften im Passionsgeschehen erinnert an 1Kor  15,3. 226 A.Y. Collins, Mk 686: „This reproach [V.48b] reflects the situation of the evangelist and his aim of contrasting Jesus with the revolutionaries who engaged in the revolt that led to the first Jewish war with Rome“. 227 J. Gnilka, Mk II 267; er hält den Nachtrag für „vormarkinisch“. Bultmann, Geschichte 290: „Rudiment alter Tradition“; zugunsten des Nachtragscharakters nennt L. Schenke, Christus 114, zwei Argumente: „V.51 f. setzt die Abführung Jesu bereits voraus (vgl. das συνακολουθέω

7. Jesu „Auslieferung“ (Mk  14,43–52 par.)

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steckter Hinweis auf den Verfasser des Evangeliums oder bildhaft? Gegen eine historische Reminiszenz228 könnten die Unschärfe der Episode229 wie das mögliche Vorliegen eines folkloristischen Motivs sprechen: „flight after leaving behind one’s garment“230 ; gegen die Annahme, der Buchautor verstecke sich hier, „wie sich alte Maler auf ihren Bildern in einem Winkel unterbrachten“231, das Fehlen des Augenzeugenmotivs232 . Aus der Wiederkehr der Stichworte „Leinen“ und „Jüngling“ in Mk  15,46 (σίνδων) und 16,5 (νεανισκός) Sinn zu generieren, fällt schwer233. Weiterführend ist die Beobachtung, dass die Episode unmittelbar an die Notiz von der Jüngerflucht anschließt. „Der Jüngling macht den Versuch der engeren Jesusnachfolge; er möchte über die allgemeine Flucht hinaus bei Jesus bleiben. Doch in der – vielleicht nach Am  2,16 und Mk  13,14–16 – eschatologischen Bedrängnis zieht er das nackte Leben der Leidensnachfolge vor“234. Am  2,6–16 enthält eine Gerichtsrede Jhwhs über Israel, bestehend aus Anklage (V.6–8), Geschichtsrückblick (V.9–12) und Ankündigung des Gerichts (V.13–16), deren pointierter Schluss V.16 lautet: „Selbst der Beherzteste unter den Vorkämpfern, nackt flieht er an jenem Tag, Spruch Jhwhs“235. Der „Tag Jhwhs“ ist ein Tag des Gottesschreckens. Auch der Tag = nachfolgen), die aber erst in V.53a erzählt wird. […] Es bleibt im Zusammenhang gänzlich unklar, woher der ungenannte (τίς) Jüngling so plötzlich kommt“. 228  Dibelius, Formgeschichte 183; u. a. auch Schweizer, Mk 173: „eine alte Notiz […] von einem jungen Mann, der, ohne zum Kreis der Zwölf zu gehören, die Verhaftung Jesu miterlebte und sich später der Gemeinde anschloss“; Lührmann, Mk  246: „Mk und seine Leser müssen wohl noch gewusst haben, wer hier gemeint war“; Theißen, Lokalkolorit 198, erklärt die Anonymität des in ein Handgemenge verwickelten jungen Mannes, der in Jerusalem noch bekannt gewesen sein könnte, als gezielte „Schutz“-Maßnahme des Erzählers. 229 A.Y. Collins, Mk 693: „The lack of any attempt on the evangelist’s part to explain how the young man happened to be at the scene […] makes it unlikely that the brief narrative is a historical reminiscence“. 230  Ebd. unter Bezug auf Linnemann, Studien 51; vgl. Bertram, Leidensgeschichte 51 Anm.  4: Gen  39,12; ActThom 98. Vearncombe, Cloaks 693–701, nennt Papyri mit vergleichbaren Konstellationen, „in which a cloak was lost in a situation of conflict, generally because it was grabbed by someone else“ (702). Σινδών „was more expensive than the ἱμάτιον (generally made out of wool) […]. The garment as an indicator of some wealth and status is implicit in the term“. 231  Mit diesem Bild beschreibt J. Gnilka, Mk II 271, diesen häufig in älteren Kommentaren zu findenden Deutungstyp. 232  Vgl. auch L. Schenke, Christus 122: „Dass hier eine wirkliche Begebenheit geschildert wird oder ein Zeuge der Verhaftung Jesu benannt werden soll“, ist wegen des Nachtrags-Charakters der Verse wohl „auszuschließen und scheitert auch an der Tatsache, dass anders als in 15,21.47 der Name des Jünglings offenkundig nicht bekannt ist“. 233  Vanhoye, Fuite 403–405, nimmt aufgrund wiederkehrender Stichworte in Mk  16,1–8 (vor allem νεανισκός 16,5) an, es handle sich um eine verschlüsselte Präfiguration des Jesus-Geschicks: „Comme le jeune homme appréhendé réussit a s’échapper, Jesus, lui aussi, échappera finalement à ses ennemis“ (406); ähnlich Myllykoski, Tage II 111 f.169 f. 234 G. Schneider, Verhaftung 206. 235  Masora (in der Übersetzung von Hans Walter Wolff); die LXX-Fassung des Verses lautet: „Und er wird sein Herz Mächten (unterworfen) finden (καὶ εὑρήσει τὴν καρδίαν αὐτοῦ ἐν δυναστείαις), der Nackte wird an jenem Tag verfolgt werden, spricht der Herr (ὁ γυνμὸς διώξεται ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ, λέγει κύριος)“; v.l.: φεύξεται statt διώξεται (vgl. J. Ziegler [Hg.], Duodecim prophetae, Göttingen 1943,185 f.). Wenn, dann steht wohl der hebräische Text im Hintergrund von Mk  14,50 f.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

der Festnahme und Hinrichtung des Gottessohns ist ein Gerichtstag. Die Jünger fliehen und sind voller Schrecken (vgl. Mk  10,33).

Es ist gut möglich, dass V.51 f. aus Am  2,16 generiert wurde, ein Verfahren, das oft genug in der Passionsüberlieferung zu beobachten ist 236 . Weil Markus auf Amos auch in 15,33 anspielt – die mitten am Tag eintretende Finsternis, Am  8,9, versinnbildlicht das Gottesgericht –, könnte er auch V.50 f. gebildet haben 237. Die Möglichkeit einer legendarischen Erweiterung schon in der PEmk lässt sich nicht ausschließen. Das Stichwort „eschatologische Bedrängnis“ (Gerhard Schneider) trifft die Aura der Episode: „Wahrscheinlich haben wir es mit einem Bild zu tun, das den chaotischen Charakter der Jüngerflucht nachtragen und diese als ein das bevorstehende Endgericht anzeigendes Geschehen kennzeichnen soll. Für Markus beleuchtet die Szene das Versagen der Jüngerschaft. Der sein Leinenhemd aufgebende Jüngling soll nicht ein Lächeln, sondern Schrecken auslösen“238 . 7.5 Judaskuss und Jüngerflucht. Die Szene in der PEG Die kleine Szene fungiert in der PEG als (unselbständiges) Scharnier zwischen Getsemani und der Prozess-Erzählung. Wer den mkn. und joh. Überlieferungsstrang zusammenschaut, bekommt ihre ursprünglichen Konturen zu Gesicht: Entgegen verbreiteter Ansicht waren Schwertepisode und Flucht-Notiz immer schon Bestandteil der Szene239: Mk Lk Joh Und […] es kommt (παραγίνεται) Judas […] 14,43 par. 18,3 und mit ihm eine Schar mit Schwertern und Knüppeln 240 vom Hohepriester (den hohen Priestern). Der ihn Ausliefernde (ὁ παραδιδοὺς αὐτόν) aber hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt:   Den ich küssen werde,   der ist es.   Ergreift ihn (κρατήσατε αὐτόν)   und führt ihn sicher ab (ἀπάγατε ἀσφαλῶς)241. 236 Ebenso Schenk, Passionsbericht 211; zuletzt A.Y. Collins, Mk 694. Anders Dibelius, Formgeschichte 183 Anm.  1: „Dass die kleine Szene aus Amos  2,16 heraus entwickelt sei […], ist darum unwahrscheinlich, weil diese Amos-Stelle im messianischen Beweis keine Rolle spielt“; ebenso J. Gnilka, Mk II 271: „Amos spielt […] in der theologischen Aufarbeitung der Passion sonst keine Rolle“; L. Schenke, Christus 122; Lührmann, Mk  246. 237  So mit demselben Argument auch A.Y. Collins, Mk 693 f. – G. Schneider, Verhaftung 195; L. Schenke, Christus 122. 238 J. Gnilka, Mk II 271; ebd. 267: „In der chaotisch wirkenden Flucht wirkt sich ein apokalyptisches Motiv aus (vgl. Offb 6,15f; 12,6; äthHen 62,10; Mk 13,14–20)“. 239  G. Schneider, Verhaftung 201 f.204 f., stuft beide Elemente als „Nachträge“ ein, A.Y. Collins, Mk 686, hält V.47 für „redactional“. 240  Blinzler, Prozess 92: „Requisiten“ eines Polizeitrupps (mit Belegen in Anm.  57). 241  Dormeyer, Passion 139 (unter Verweis auf W. Bauer, Wörterbuch): Termini der Rechtssprache.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

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Und gekommen, tritt er […] zu ihm hin (προσελθὼν αὐτῷ), 14,45 (18,5e) (und) sagt:  Rabbi! Und er küsste ihn. Sie aber legten Hand an ihn 14,46 18,54 und ergriffen ihn (ἐκράτησαν αὐτόν). Einer aber von den Dabeistehenden zog das Schwert 14,37 und verwundete den Knecht des Hohepriesters und schlug ihm das Ohr ab.

18,10

Da verließen sie ihn 14,50 und flohen alle.

18,8

„Der Stil“ ist „fast distanziert nüchtern, und das, obwohl ein tumultartiges Geschehen erzählt wird und mit dem (sprichwörtlich gewordenen) ‚Judaskuss‘ beim Leser sicherlich hohe Emotionen angesprochen werden“242 . Judaskuss und Jüngerflucht sind die beiden Pole der Szene. Jesus spricht kein einziges Wort. Was die Passionserzählung insgesamt prägt, „(Jesu) Weg als den des leidenden Gerechten darzustellen, der vor seinen Gegnern verstummt und von den Freunden verlassen wird“, ist als „Absicht“ auch hier „zu erkennen“243. Das Motiv des Judas-Kusses ist mit dem vom gemeinsamen Essen aus derselben Schüssel Mk  14,20 vergleichbar. Ist es dort die Tischgenossenschaft, die den Verrat als ungeheuerlich erscheinen lässt, so ist es hier das Verhältnis des Schülers zum Rabbi, der von ihm mit einem Kuss begrüßt wird. Die Jüngerflucht macht Jesu Einsamkeit von Getsemani zur Gewissheit. Seine Prophetie vom letzten Mahl erfüllt sich: Nicht nur „liefert“ einer der Seinen ihn „aus“, „alle“ verlassen ihn.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus – Bild und Gegenbild (Mk  14,53–72 par.) Die Passionserzählung bisher bot Szenen und Episoden in einfacher linearer Folge. Jetzt ändert sich das Bild: Die Szene vom Verhör Jesu durch die Autoritäten spielt auf zwei Bühnen – im Inneren des hohepriesterlichen Palastes und in dessen Hof – und bietet mehrere Episoden zugleich. Die erzählte Zeit der komplexen Szene ist die Nacht nach dem abendlichen Mahl Jesu mit den Seinen und seinem Gebets­ ringen in Getsemani 244 , deren Ende das frühmorgendliche Krähen des Hahnes ankündigt. Davon abweichend bietet Lukas Verhör und Verleugnung nicht gleich­ zeitig, sondern verlegt jenes auf den frühen Morgen des darauffolgenden Tages. Die joh. Fassung (Joh  18,12–27) unterscheidet sich beträchtlich von der synoptischen 242  Lührmann, Mk 246; zum Judaskuss als konventionellem Begrüßungsritual: III.   2.4.4 un­ter (2). 243 G. Schneider, Verhaftung 206; L. Schenke, Christus 123. 244  Die Notiz Mk  14,54: „Petrus […] wärmte sich am Feuer“ assoziiert die Kälte der Nacht.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(Mk  14,53–14,72 par.). Die Notiz zur Überstellung Jesu an Kajaphas (Joh  18,24) deutet sogar einen dritten Ort an, der aber nicht präzisiert wird, so dass eine be­ merkenswerte Leerstelle entsteht. Übereinstimmung zwischen Johannes und den Synoptikern besteht aber in der charakteristischen Verschränkung des Verhörs Jesu mit seiner Verleugnung durch Petrus, wobei sich beides in räumlicher Nähe zuträgt. Die Szenen gehören wie Bild und Gegenbild innerlich zusammen. 8.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Markus beginnt die Erzählung mit einer Übergangsnotiz (transitio) zur Überstellung Jesu an den Hohepriester (14,53a) und einer doppelten Exposition: zur Zusammenkunft aller weiteren Repräsentanten Jerusalems (V.53b) und zu Petrus, der Jesus „von weitem bis hinein in das Innere des Palastes des Hohepriesters folgt“ (V.54) 245. Die Szene im Inneren besteht aus drei Episoden: dem Auftritt der Falschzeugen (V.55–59), Verhör und Verurteilung Jesu (V.60–64) und seine Verspottung und Misshandlung durch „einige“ aus dem Kreis der Versammlung und „die Diener“ (V.65). Die synchron dazu ablaufende Szene im Hof erzählt von Jesu dreifacher Verleugnung durch Petrus, der nach dem zweiten Hahnenschrei Tränen der Scham und Reue vergießt. (2) Matthäus folgt seiner mkn. Vorlage, formuliert teils gefälliger und setzt inhaltlich neue Akzente. Über eine weitere Quelle verfügt er nicht. Wenn er den bei Markus anonymen Hohepriester Kajaphas nennt (26,57), verdankt er das seinem zeitgeschichtlichen Wissen. (3) Bei Lukas laufen die Ereignisse nicht gleichzeitig im „Hof“ des hohepriesterlichen „Hauses“ (22,54 f.) 246 und am Versammlungsort der hohen Priester und Schriftgelehrten ab, sondern nacheinander: In der Nacht verleugnet Petrus Jesus im Hof, in dem sich auch Jesus befindet und wo die Wachleute mit ihm ihren Mutwillen treiben. Als frühmorgens der Hahn kräht, „wandte sich der Herr um und blickte Petrus an“ (V.61). Als es Tag wird, führt man ihn „in ihr Synedrion“ (V.66) bzw. „in die Versammlung“ des „Ältestenrats des Volkes“247. Mit dieser Neuordnung der Szene folgt Lukas keiner zweiten Quelle neben Markus, sondern erweist sich als Historiker, der die Ereignisse in Kenntnis der Rechtsgepflogenheiten der Zeit nach ihrer plausiblen Abfolge konstruktiv umzugestalten weiß. Für ihn scheint es selbstverständlich zu sein, dass gerichtliche Verhandlungen nicht des Nachts stattfinden, so wenig es ihm plausibel erscheint, dass Mitglieder 245 

V.53b ist die Exposition für V.55–65, V.54 für V.66–72. Doppelung ἔσω εἰς unterstreicht, dass sich Petrus bis in das Innere des gegnerischen Hauses hinein vorwagt. Zur Übersetzung von αὐλή = Palast/Hof (Mk  14,54.66) siehe oben I.  1.7 unter (d). 247  Εἰς τὸ συνέδριον αὐτῶν: Wolter, Lk  735: „Das Attribut αὐτῶν und die Fortsetzung mit λέγοντες (V.67a) legen es nahe, dass συνέδριον nicht das Versammlungsgebäude […], sondern die Versammlung als solche bezeichnet“; Goodblatt, Principle 121. 246  Die

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

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des Gremiums sich nach dem Verhör an der Verspottung und Misshandlung Jesu beteiligt haben sollen. So verlegt er diese in die Nacht und macht für sie die wachhabenden Männer verantwortlich. Die Frage nach einer weiteren Quelle des Lukas ist damit aber noch nicht erledigt 248 . Sie stellt sich neu, wenn es um die lkn.-joh. Parallelen geht (siehe unten). Bei den Parallelen zwischen Lukas und Matthäus gegen Markus, den sog. minor agreements, handelt es sich teils um zufällige bzw. von der Sache her erwartbare Übereinstimmungen, teils um Indizien des Deutero-Markus249.

(4) Johannes weist beachtliche Abweichungen auf. Im Unterschied zu den Synoptikern erzählt er von zwei Verhören, einem ersten vor Hannas, dem „Schwiegervater des Kajaphas“ (18,19–23; vgl. V.13 f.) und einem zweiten vor diesem selbst. Jenes läuft völlig anders ab als Jesu Verhör durch den Hohepriester und seinen Rat bei den Synoptikern, dieses wird gar nicht erst mitgeteilt, der Text enthält eine be­ merkenswerte Leerstelle: Der Leser erfährt nur von der Überstellung Jesu an den amtierenden Hohepriester (V.24) bzw. von ihm an Pilatus (V.28) 250 . Weil diese amtlichen Vorgänge mit den drei Petrus-Episoden verschränkt sind, entsteht der Eindruck, dass beides zeitgleich abläuft. Auch die Eröffnung der Petrus-Episoden ist anders bei Johannes gestaltet251: ­Neben Petrus folgt noch „ein anderer Jünger“ Jesus nach (V.15a). Er ist „mit dem Hohepriester bekannt“ und gelangt umstandslos „mit Jesus“ in den Hof (V.15b). Als er bei der Türhüterin interveniert, erhält auch Petrus Zutritt zum Hof (V.16). 248  Dauer, Spuren 321–323, bietet zur Quellenfrage einen instruktiven Forschungsüberblick; sein eigenes Resümee bleibt unbefriedigend: „Auch die lk. Version dürfte im wesentlichen auf Mk zurückgehen, die Änderungen gegenüber Mk sind wohl durchweg redaktionell. Eine Paralleltradition ist kaum anzunehmen, wenn auch nicht alle Bedenken ausgeschieden werden können“. 249  (a) Lk  2 2,57 par. Mt  27,70b: οὐκ οἶδα statt οὔτε οἶδα οὔτε ἐπίσταμαι (Mk  14,68). – (b) Lk  2 2,61 par. Mt  26,75: τοῦ ῥήματος statt τὸ ῥήμα Mk  14,72 (nicht auszuschließen ist, dass τοῦ λόγου τοῦ κύριου die ursprüngliche lkn. Lesart ist). – (c) Auslassung des δίς (Mt  26,75 par. Lk  22,61). – Auffällig ist die Übereinstimmung von Lk  22,62 und Mt  26,75c gegen Mk gleich in einem ganzen Satz: καὶ ἐξελθὼν ἔξω ἔκλαυσεν πικρῶς = und er ging hinaus und weinte bitterlich. Entweder ist das mit Deutero-Mk zu erklären (Ennulat, Agreements 378) oder Lk  22,62 ist textgeschichtlich sekundär (mt. Paralleleinfluss: der Vers fehlt allerdings nur in wenigen Handschriften der lat. Überlieferung: Metzger, Commentary 178; Brown, Death I 609). Da eine sekundäre Streichung sich nicht wirklich begründen lässt, könnte die zweite Erklärung zutreffen (Wolter, Lk 730), zumal „[d]er Übergang von V.62 zu V.63 etwas verunglückt (ist), denn wer die Jesusgeschichte nicht kennt, wird die Pronomina αὐτόν und αὐτῷ in V.63 auf Petrus und nicht auf Jesus beziehen“ (ebd. 728). 250  V.24 („Hannas […] schickte (ἀπέστειλεν) ihn gebunden zum Hohepriester Kajaphas“) und V.28 („Sie führen nun Jesus von Kajaphas in das Prätorium“) rahmen die zweite und dritte Verleugnungsepisode. 251  Das viel umrätselte ἀπέχει ist „ein Term der Geschäftssprache, der ‚empfangen haben, quittieren‘ bedeutet. […] Wahrscheinlich muss man unpersönlich übersetzen, aber nicht wie die Vulgata ‚es ist genug‘ (sufficit), sondern in Bezug auf die Zeit: Es ist vorbei“ (J. Gnilka, Mk  II 263; vgl. W. Bauer, Wörterbuch 169); L. Schenke, Studien 538: „Jesus deutet mit ἀπέχει seinen Jüngern gegenüber an, dass nun die Entscheidung gefallen ist“. Er erklärt also nicht, dass es mit dem Schlafen jetzt „genug“ sei, sondern das Wort ist zum Folgenden zu ziehen (siehe unten!).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Während das Hannas-Verhör johanneisches Sondergut ist, legt der Name des amtierenden Hohepriesters, Kajaphas, es nahe, dass die vor ihm verhandelten Fragen die sein dürften, die auch der Hohepriester bzw. die Ratsmitglieder im synoptischen Verhör Jesus stellen. Wenn es eine Entsprechung zu den Synoptikern gibt, dann hier beim zweiten johanneischen Verhör. Nur warum wird dieses nicht inhaltlich wiedergegeben? Was ist der Grund für die Leerstelle? Der Vergleich mit Lukas führt weiter. (5) Schon seit längerem wird beobachtet, dass die im Vergleich zu Markus recht eigenwillige Form des Verhörs in Lk  22,63–71 eine bemerkenswerte Parallele in Joh  10,24 f.36 besitzt, der letzten und abschließenden Auseinandersetzung Jesu mit „den Juden“ mit quasi gerichtlichem Charakter 252 . Es handelt sich um zwei Episoden (Joh  10,22–30; 10,31–39), die beide in einen Tötungsversuch „der Juden“ einmünden. Folgende Synopse verdeutlicht die Übereinstimmungen der beiden Evangelisten gegen Markus und Matthäus: Mk  14,61b–64

Mt  26,63b–66

Lk  22,66–23,1

Joh  10,24 f./[33]36

24 Und als es Tag Da umringten ihn wurde, die Juden trat der Ältestenrat des Volkes zusammen, hohe Priester und Älteste, und sie führten ihn in ihre Versammlung 22,66

Wieder fragte ihn der Hohepriester

61b

und sagt zu ihm:

Der Hohe­ priester

63b

sagte zu ihm:

22,67

und sagten:

und sagten ihm:

Ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, dass du uns sagst, Bist du der Messias

ob du der Messias bist,

der Sohn des Hochgelobten?

der Sohn Gottes!

Wenn du der Messias Wenn du der Messias bist (εἰ σὺ εἶ ὁ χριστός), bist (εἰ σὺ εἶ ὁ χριστός),

sage es uns (εἰπὸν ἡμῖν)! sage es uns (εἰπὲ ἡμῖν) offen! Er sprach zu ihnen:

Jesus antwortete ihnen:

Wenn ich (es) euch sage 25 Ich habe (es) euch gesagt (εἶπον ὑμῖν) (ἐὰν ὑμῖν εἴπω), 252  Schniewind, Parallelstellen 43, hat, angeregt durch die am Rand seiner Nestle-Ausgabe angegebenen Parallelstellen, Lk  22,67 f. einerseits und Joh  10,24, 3,12 und 8,45 andererseits, bereits 1914 beides miteinander verglichen. Die Parallelen reichen aber weiter, wie insbesondere Dauer, Spuren 309–311 (ebd. Anm.  10.19 weitere Stimmen), und Schleritt, Passionsbericht 369–374, herausgearbeitet haben.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

Mk  14,61b–64

Mt  26,63b–66

345

Lk  22,66–23,1

Joh  10,24 f./[33]36

glaubt ihr nicht (οὐ μὴ πιστεύσητε);

doch ihr glaubt nicht (καὶ οὐ πιστεύετε).

22,68

wenn ich aber frage

antwortet ihr nicht. (siehe unten!)

(siehe unten!)

Von jetzt an wird der Menschensohn sitzen zur Rechten der Macht Gottes.

22,69

22,70

Da sagten alle: Über ihn, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagt ihr: du lästerst Gott, weil ich gesagt habe:

36

(siehe unten!)

(siehe unten!)

Bist du also der Sohn Gottes? Jesus aber sprach:

Sohn Gottes

Jesus sagt zu ihm: Er aber sprach zu ihnen:

62

64

Ich bin es,

Du hast (es) gesagt. dass ich (es) bin (ἐγώ εἰμι).

Ihr sagt es, bin ich (εἰμί).

Nur sage ich euch: Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.

Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Him­mels kommen sehen.

63 65 Da zerriss der Da zerriss der Hohepriester seine Hohepriester seine Gewänder und sagt: Gewänder und sagt:

22,71

Da riefen sie:

Er hat Gott gelästert. Wozu brauchen wir Wozu brauchen wir Wozu brauchen noch Zeugnisse? wir noch Zeugnis- noch eine Zeugen­ aussage? se? [33Nicht wegen eines guten Werks wollen wir dich steinigen,

346

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Mk  14,61b–64

Mt  26,63b–66

Ihr habt die Gotteslästerung

Seht, jetzt habt ihr die Gotteslästerung

64

gehört (ἠκούσατε).

gehört (ἠκούσατε).

Was dünkt euch?

66

Sie alle urteilten,

Sie antworteten und sprachen:

dass er des Todes schuldig ist.

Er ist des Todes schuldig.

Was dünkt euch?

Lk  22,66–23,1

Joh  10,24 f./[33]36 sondern wegen der Gotteslästerung,

Wir haben es selbst aus seinem Mund gehört dass du, ein Mensch, (ἠκούσαμεν). dich selbst zu Gott machst.]

Bereits das Profil der Fragesteller gleicht sich. Während bei Markus und Matthäus der Hohepriester persönlich das Verhör führt, stellt bei Lukas und Johannes jeweils ein Kollektiv die Fragen: die Mitglieder des Ältestenrats (Lk  22,66 f.) bzw. „die Juden“. Bei Markus und Matthäus verknüpft der Hohepriester in seiner Frage die beiden Titel „Messias“ und „Sohn des Hochgelobten“ miteinander, so dass sie sich gegenseitig interpretieren, während bei ­Lukas aus der einen Frage zwei geworden sind. Die beiden Episoden Joh  10,22–30 (24) und 31–39 (36) entsprechen dem, wobei der vierte Evangelist die Gelegenheit nutzt, zu verdeut­ lichen, wie nach seinem Verständnis der Sohn-Gottes-Titel den des Messias transzendiert (vgl. 10,30.33.36). Schließlich gibt es motivische und lexikalische Übereinstimmungen: Nicht nur die jeweilige Formulierung der Messias-Frage ist bei Lukas und Johannes nahezu identisch, auch ihre argumentative Einfassung gleicht sich.

Daraus folgt: Die lkn. Darstellung orientiert sich an Markus und berücksichtigt zugleich die Darstellung der PElk/joh. Der vierte Evangelist kennt die Szene aus der PEjoh, hat sie aber nach Joh  10,22–39 vorgezogen 253. Die folgende Übersicht veranschaulicht die Inszenierung des Verhörs Jesu durch den Hohen Rat bzw. „die Juden“ in den vier Evangelien: Mk  14,53–15,1

Mt  26,57–27,1

Lk  22,54–23,1

Joh  10,24–36; 18,12–28

In der Nacht 14,53 f.: Doppelte Exposition (zur Rats- und Verleugnungsepisode)

26,57 f.: Doppelte Exposition (zur Rats- und Verleugnungsepisode)

22,54: Doppelte Exposition (zur Rats- und Verleugnungsepisode)

18,12–14: Doppelte Exposition (zum Hannas-Verhör und zur Kajaphas-Notiz)

22,55–62: Dreifache Verleugnung des Petrus

18,15–18: 1. Verleugnung des Petrus (in Gegenwart des anonymen Jüngers)

253 Auch Dauer, Spuren 311, rechnet beim Grundbestand von Joh  10,22–39 mit einem „ursprünglichen Bericht der vor-joh. Quelle zu einer jüdischen Synedriumsverhandlung“, muss aber diese Quelle, da er Lk  22,61–71 als rein redaktionelles Gebilde auf der Basis der Mk-Vorlage erklärt, vom Lk-Ev selbst beeinflusst sehen.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

Mk  14,53–15,1

Mt  26,57–27,1

Lk  22,54–23,1

347

Joh  10,24–36; 18,12–28 18,19–21: Verhör durch Hannas

22,63: Misshandlung / Verspottung 14,55–64: Verhandlung vor dem Hohepriester Kajaphas bzw. dem Rat

18,22 f.: Misshandlung 18,24: Überstellung an den Hohepriester Kajaphas

26,59–66: Verhandlung vor dem Hohepriester bzw. dem Rat

61: Messias- bzw. 63: Messias- bzw. Sohn Gottes-Frage Sohn Gottes-Frage

Vgl. Joh  10,24 ff.

64: Blasphemie

65: Blasphemie

Joh  10,33.36

14,65: Misshandlung und Verspottung Jesu

26,67 f.: Misshandlung und Verspottung Jesu

14,66–72: ­Drei­fache Verleugnung des Petrus

26,69–75: Dreifache Verleugnung des Petrus

18,25–27: 2. und 3. Verleugnung des Petrus Am frühen Morgen 10,24 ff.: 22,66–71: Verhör Verhör durch den Ältestenrat durch „die Juden“ 67: Messias-Frage 70: Sohn Gottes-­ Frage

siehe oben

siehe oben

Am frühen Morgen 15,1: Übergangsnotiz „Auslieferung“ an Pilatus (Todes­beschluss)

27,1 f.: Übergangsnotiz „Auslieferung“ an Pilatus (Todes­beschluss)

10,24: Messias-­Frage 36: Sohn Gottes­Frage 10,33.36: Blasphemie

23,1: Abschließende Notiz „Auslieferung“ an Pilatus

18,28: Übergangsnotiz „Auslieferung“ an Pilatus

348

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

8.2 Jesu Bekenntnis und Petri Verleugnung. Die christologische Klimax des Markusevangeliums Die Gerichtsszene ist die christologische Klimax des Markusevangeliums. Sie hat zwei Brennpunkte: (1) das von den Falschzeugen gegen Jesus vorgebrachte Tempelwort (V.58), und (2) das Bekenntnis Jesu zu seiner Messianität und Gottessohnschaft (V.61e.62) mit der Szene seiner Verleugnung als Gegenbild (3). (1) Das Wort vom „Abriss“ des bestehenden Tempels und dem „Aufbau“ eines anderen „in drei Tagen“ ist mehrdeutig, je nachdem, aus welcher Perspektive es gelesen wird. Die Attribute „von Händen“ bzw. „nicht von Händen gemacht“ wie der Hinweis auf die drei Tage ermuntern den Leser, es bildlich-symbolisch zu deuten. Entschlüsselt er es im Licht der mkn. Tempeltheologie, dann verweist es auf eine nachösterliche Wirklichkeit, die nicht irdischen, sondern himmlischen Ursprungs ist: auf die Gemeinschaft derer, die der auferweckte Jesus nach Ostern neu in seine Nachfolge berufen und dann als „Tempel“ Gottes konstituieren wird. Drei Sinnschichten enthält das Wort: (a) Nach Meinung der Falschzeugen diskreditiert es Jesus, weil er angeblich den Anspruch erhebt, den Tempel mit Brachialgewalt zu „zerstören“254. (b) Aus der Sicht des Lesers, der zum Vergleich Jesu eigenes Wort über den Tempel heranziehen kann (13,2)255, besteht die Falschaussage darin, dass die Zeugen die Zerstörung des Tempels Jesus zuschreiben, wo sie ihm zufolge doch Gottes Werk ist (13,2: passivum divinum). (c) Nochmals anders zeigt sich das Wort, wenn es im Licht der mkn. Tempeltheologie gelesen wird. Dann tritt seine christologische und ekklesiologische Bedeutung hervor: Jesus256 wird das „Heiligtum“, sprich: seine Ordnung, seine Tora, und damit den Opferkult 257 in seinem Sterben „für viele“ „außer Kraft setzen“, um ein „Heiligtum“ ganz anderer und neuer Art zu „errichten“258 .

(2) Der zweite (christologische) Brennpunkt ist das Bekenntnis Jesu vor dem Hohepriester (V.62). In der „Stunde der Wahrheit“ (August Strobel) steht Jesus zu seiner ihm von Gott zugedachten Sendung und offenbart seine Hoheit. In Galiläa befahl er den Jüngern, seine messianische Würde bis zur Auferweckung des Menschensohnes geheim zu halten (vgl. Mk  9,9). Jetzt, im Angesicht des Todes, bekennt er sich zu ihr in aller Offenheit. Die Frage des Hohepriesters und die Antwort Jesu sind passend zum jüdischen Kolorit des Verhörs gestaltet. Beide vermeiden es, den Namen Gottes im Mund zu 254 

Wie sollte er das? Mt  26,61 mildert ab: „Ich kann niederreißen […]“. Siehe oben II.3.6 unter (3). 256  Das Personalpronomen ἐγώ nur in dieser Variante des Wortes, siehe den Überblick oben in II.3.6. 257  Der Terminus ναός in Verbindung mit καταλύω steht eponymisch für θρησκεία = Gottesdienst, also das, was im Allerheiligsten der Tora gemäß vollzogen wird; siehe die Belege oben S.  248 Anm. 139. 258  Vögtle, Verständnis 176–178.182 f., zur metaphorischen Deutung beider Spruchhälften; ebd. 176: Für ein ekklesiologisches Verständnis des Nachsatzes „beruft man sich zu Recht auf die bildliche Verwendung von Bau und Tempel in den Qumrantexten und im Besonderen auf die seit Paulus (1Kor  3,16; 2Kor  6 ,16) belegte Spiritualisierung des ‚Tempels‘ als der Gemeinde Jesu Christi“; vgl. auch Mt  16,18. 255 

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

349

führen und reden stattdessen vom „Hochgelobten“ bzw. von der „Rechten der Macht“259. Trotz fiktiver Einpassung lassen Frage und Antwort aber das nach­ österliche Bekenntnis der mkn. Gemeinde durchscheinen 260 . Die wichtigsten Christustitel des Evangeliums sind versammelt: „der Messias (ὁ χριστός)“261 – „der Sohn (Gottes) (ὁ υἱός)“262 – „der Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου)“263, und wenn das Motiv der österlichen „Sitzens“ des Auferweckten „zur Rechten der Macht“ auf seinen titularen Kern zurückgeführt wird, auch das Prädikat „der Herr (ὁ κύριος)“264. Wir haben ein „compendium christologique“ des Markus vor uns265. Eine derartige Kombination von Christustiteln bot das Buch bislang nicht. Vergleichbar mit der Frage des Hohepriesters ist allenfalls die Überschrift des Buches: „Anfang des Evangeliums Jesu, (des) Messias (und des) Gottessohns (ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ υἱοῦ θεοῦ) (1,1)“266 . Bereits 8,29.31.34–38, eine Komposition des ältesten Evangelisten, bietet die christologische Trias von „Messias“, „Sohn“ und „Menschensohn“, allerdings nicht in der Verdichtung von 14,61 f., sondern verteilt über einen Spannungsbogen: Auf das Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Messias“ (V.29), folgt als Gegenreaktion Jesu Wort vom leidenden und auferstehenden „Menschensohn“ (V.31), dann die Nachfolge-Worte V.34–38, die im Wort vom kommenden „Menschensohn“ V.38, der eschatologischen Klimax der Komposition, gipfeln. Wenn es heißt, er werde „mit den heiligen Engeln kommen in der Herrlichkeit seines Vaters“ (V.38c), ist die Sohneswürde impliziert. 259  Als Grund des in V.64 erhobenen Blasphemie-Vorwurfs entfällt damit der später von der Mischna (San  7,5) thematisierte Fall des unerlaubten oder ungehörigen Aussprechens des Gottesnamens (Tetragramm), den bereits die LXX-Fassung von Lev  24,16 im Blick hat, die abweichend vom hebräischen Text („Und wer den Namen des Herrn lästert, […]“) lautet: „Wer aber den Namen des Herrn nennt (ὀνομάζων δὲ τὸ ὄνομα κυρίου), soll durch den Tod hingerichtet werden“: dazu Vahrenhorst, in: S.EuK I 412: „Hier wird schon das Aussprechen des Gottesnamens unter Todesstrafe gestellt“ (vgl. den anschließenden „Exkurs: Übersetzung und Gebrauch des Gottesnamens“ [M. Rösel] ebd. 413 f.); Num  15,30 f.: Gotteslästerung = „Schmähung“ oder „Verfluchung“ des Gottesnamens; Philo, VitMos  2,206; anders noch Beyer, dem zufolge die „formalistische Auslegung des Begriffs durch das spätere rabbinische Recht […] zur Zeit Jesu noch nicht in Kraft“ stand (Art. Art. βλασφημέω 621); siehe auch unten III.  2.5.3. 260  Bertram, Leidensgeschichte 58, begreift den Passus mit dem zentralen Bekenntnisinhalt der christlichen Gemeinde als die für den Kultus entscheidende Stelle; Holtz, Herrscher 310 Anm.  17. 261  1,1; 8,29; 9,41; 12,35; 13,21; 14,61; 15,32. 262  1,1; 1,11; 3,11 5,7; 9,7; 13,32; 14,61; 15,39. – Vgl. auch 12,6. Aus diesen Stellen ragen drei hervor: die himmlische Stimme anlässlich der Taufe Jesu, 1,11: „Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe“: Jesus ist Träger des göttlichen Geistes, mit dem sich Gott dadurch identifiziert, dass er seinen Geist „in ihn“ gibt; die Himmelsstimme auf dem Berg der Verklärung, 9,9: „dieser ist mein geliebter Sohn, ihn sollt ihr hören!“ (Vgl. Dtn  18,15); schließlich das Bekenntnis des Centurio am Kreuz, 15,39. 263  2,10.28; 8,31.38; 9,9.12.31; 10,33.45; 13,26; 14,21.41.62. 264 5,19; 7,28; 11,3; 12,36 f.; vgl. auch 2,28. – Bedeutsam ist 12,35–37, wo der Messias-Titel gleichsam neu „definiert“ wird: Jesus ist „Messias“ nicht im Sinne des „Sohnes des Davids“, sondern ist diesem als κύριος überlegen. Deshalb nennt David ihn auch nicht seinen „Sohn“, sondern „meinen Herrn“! 265  Légasse, Procès I 72. 266  Diese Übersetzung ist angesichts des sonstigen Gebrauchs der beiden Titel χριστός und υἱός im Evangelium der gängigen Wiedergabe (EÜ: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Got­tes Sohn“) vorzuziehen.

350

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

13,24–27, die Klimax der eschatologischen Rede Kap.  13, greift das Menschensohn-Wort 8,38 auf, das nur die negative Seite von seinem endzeitlichem Kommen thematisiert – er wird sich derer „schämen“, die sich auf Erden seiner „schämen“, d. h. er wird im Gericht nicht zu ihnen stehen 267 –, um nun auch dessen positive Seite, die Errettung der „Erwählten“ am Ende der Zeiten, unter Rückgriff vor allem auf Dan  7,13 f., zu explizieren: Aber in jenen Tagen nach jener Drangsal wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben (Jes 13,10LXX) […]. 26 Und dann werden sie den Menschensohn auf den Wolken kommen sehen (ὄψονται τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου … ἐρχόμενον ἐν νεφέλαις) (Dan  7,13)    mit großer Macht (vgl. 14,62) und Herrlichkeit (vgl. 8,38b) 27 und dann wird er die Engel aussenden (vgl. 8,38b) und er wird seine Erwählten sammeln (ἐπισυνάξει τοὺς ἐκλεκτούς) von den vier Winden,     vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels. 24

14,62 knüpft an 8,38 und vor allem 13,26 an und appliziert die Erwartung des kommenden Menschensohns auf die Gerichtssituation. Nach Bejahung der Frage des Hohepriesters mit einem „Ich bin (es)“ erklärt Jesus seinen Richtern: 62 […] und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht (ἐκ δεξιῶν καθήμενον τῆς δυνάμεως) (Ps  110,1) und kommen mit den Wolken des Himmels (ἐρχόμενον μετὰ τῶν νεφελῶν) (Dan  7,13).

Der erste Teil dieser Ankündigung ist nicht ohne weiteres zu verstehen: Wie sollen Jesu Gegner den österlich Erhöhten „zur Rechten der Macht sitzen“ (Ps  110,1) sehen können? Wird ihnen eine Vision des Erhöhten zuteil, die ihnen ihr falsches Tun vor Augen führt? Übergeordnet ist entsprechend 13,26a (vgl. Dan  7,13) die Aussage καὶ ὄψεσθε τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου … ἐρχόμενον μετὰ τῶν νεφελῶν268 . Die Rede von der seditio ad dexteram maiestatis ist darin eingebettet. Der Akzent liegt auf der Ankündigung des kommenden Menschensohns. Dem entspricht, dass die Klimax der mkn. Christologie nicht die österliche Machtstellung Jesu ist, in die er durch seine Auferweckung gelangt, sondern seine erwartete „Wiederkunft“269. Ist V.62 aufgrund seiner kontextuellen Funktion „Gerichtswort“ oder Unheilsankündigung an die Adresse derer, die Jesus verurteilen („ihr werdet sehen …“), dann erschließt sich der Sinn des ἐκ δεξιῶν καθήμενον τῆς δυνάμεως: In Anspielung auf das Zitat von Ps  110,1 in Mk  12,36 ist der ganze Psalmvers zu assoziieren: „… setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde (τοὺς ἐχθρούς σου) unter deine Füße gelegt habe“. Die seditio ad dexteram maiestatis beinhaltet nicht nur Jesu Inthronisation und seine österliche Rehabilitierung durch Gott, sondern vor allem seinen endzeit267  8,38: „Denn wer sich meiner und meiner Worte in diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln kommt“. 268  Vgl. Offb  1,7. 269  Mk vertritt keine österliche Herrlichkeitschristologie, die den Glaubenden schon in der Gegenwart Erfüllung schenkt, sondern er sieht den Glauben an den Auferweckten immer schon auf dessen Wiederkunft ausgerichtet, welche das in seinem irdischen Auftreten grundgelegte Heil realisieren wird. Glauben heißt für Mk, in der Nachfolge Jesu auf die Zukunft endgültiger Errettung bauen.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

351

lichen Triumph über seine Feinde. Die österliche Daseinsweise des Auferweckten stellt nach Markus nicht gleichsam eine eigene Phase seiner „Karriere“ dar, sondern ist auf die endgültige Durchsetzung der βασιλεία im Endgericht ausgerichtet. Das „Gerichtswort“, in das das Motiv der seditio ad dexteram maiestatis eingebettet ist, stellt Jesus zwar nicht als Richter vor (wie das später Matthäus tut) 270 , aber doch als den maßgeblichen Repräsentanten des Gottesreiches, zu dem sich zu verhalten über das eschatologische Heil entscheidet. Da Jesus damit eine Rolle beansprucht, die nach biblisch-frühjüdischem Denken allein Gott gebührt – „Ich töte und ich mache lebendig, ich zerschlage und ich heile; und es gibt keinen, der aus meiner Hand rettet“ (Dtn  32,39) 271 –, zerreißt der Hohepriester seine Gewänder, erklärt Jesus der „Blasphemie“ überführt und „alle urteilen, er sei des Todes schuldig“ (14,63 f.)272 . Der todeswürdige Tatbestand der „Blasphemie“ oder „Gotteslästerung“273 besteht nach Darstellung des Markus also weder darin, dass Jesus den Gottesnamen deutlich ausgesprochen hätte – er umschreibt ihn mit seiner Rede von der „Macht“ (siehe oben) –, noch darin, dass er sich in Beantwortung der Frage des Hohenpriesters zu seiner messianischen Würde bekennt („ich bin [es]“). Entscheidend ist die Deutung dieser Würde durch seine Rolle als Menschensohn 274: Jesus beansprucht ein Privileg, das nach Ansicht seiner Gegner ausschließlich Gott zusteht. Diese Sicht wird bestätigt durch die großräumige inclusio von 14,62–64 mit 2,1–12, wo zum ersten Mal im Evangelium ein Zusammenstoß Jesu mit jüdischen Autoritäten („Schriftgelehrten“) erzählt wird, der ausgelöst wird durch sein Wort an den Gelähmten: „Kind, deine Sünden sind vergeben!“ (V.5). Nur hier und in 14,64 wird der Vorwurf der „Blasphemie“ gegen Jesus erhoben: „Er lästert (βλασφημεῖ): Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott (εἷς ὁ θεός)!“ (V.7). Wie in 14,62 ist die Repräsentanz des einen Gottes (vgl. Dtn  6 ,4) durch Jesus auch hier an dessen Menschensohn-Würde gebunden: „[…] der Menschensohn hat Vollmacht, auf Erden Sünden zu vergeben“ (V.10). Geht es in 2,5 um die heilwirkende Seite der Vollmacht Jesu, so in 14,62 um Leben oder Tod, Heil oder Unheil 275.

270  So das gewöhnliche Verständnis, vgl. etwa Guttenberger, Mk 339: „Wie jetzt die Mitglieder des Synhedriums Richter über Jesus sind, so wird Jesus als kommender Menschensohn Richter über diese sein“; Eckey, Mk 475: „Gott überträgt ihm seine Gewalt, Gericht über die Welt zu halten“. Zutreffend Reichardt, Endgericht 284–333. 271  Vgl.1Sam  2 ,6; 4Makk  18,19 u. ö. 272 So die gewöhnliche Übersetzung von V.64c.d (vgl. 10,33: κατακρινοῦσιν αὐτὸν θανάτῳ): Pesch, Mk II 429; Lührmann, Mk 247; Guttenberger, Mk 336, u. a. – Historisierend Schwemer, Passion 152: Von einer „rechtskräftigen Verurteilung zum Tode“ könne nicht die Rede sein. „κατακρίνω hat hier die Nuance ‚beschuldigen‘ und ἔνοχος ‚er hat den Tod verdient‘“. 273  Zum Thema Gotteslästerung im AT und Frühjudentum: Bock, Blasphemy; Evans, Jesus 409–411; Mathys, Blasphemie 101–125 (ebd. 106: „Das Hebräische wie das LXX-Griechisch kennen keinen einheitlichen Begriff für den Tatbestand der Blasphemie, was zugleich deutlich macht, dass es einen solchen nicht gab, dieser vielmehr schwammige Konturen aufwies“); Mayordomo, Jesus 131–135; Walfish, Art. Son 94–96; zum römischen Recht: Mommsen, Religionsfrevel. 274 Zutreffend Guttenberger, Mk 339: „Wer Jesus ist, lässt sich unter Absehung der Rede vom Menschensohn nicht angemessen sagen. Die Titel Christus und Gottessohn sind nicht hinreichend“; A.Y. Collins, Charge 149–170; Evans, Jesus 113–423, der allerdings, wie Bock, Blasphemer, die Passage für den historischen Jesus reklamiert. 275  Mayordomo, Jesus 143 f.

352

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(3) Die szenische Kehrseite zum Bekenntnis Jesu zu seiner Würde vor dem Rat ist die dreifache Verleugnung durch Petrus vor der Dienerschaft des Hohepriesters „unten im Hof“ (14,66). Die Petrus mit dem „Nazarener“ verbindende galiläische Herkunft wird gekonnt als Merkmal eingesetzt, das ihn als Gefolgsmann Jesu verrät (V.67; vgl. V.70). Am Ende erinnert er sich an Jesu Wort vom Abend zuvor, das sich in trauriger Weise erfüllt. Eine knappe und eindringliche Erzählernotiz beschließt die Szene: „und er brach in Tränen aus“ (καὶ ἐπιβαλὼν ἔκλαιεν) (V.72f)276 . Ob Petrus sie öffentlich vergießt oder nach seinem „Weggang“ (Mt  26,75), ist nicht gesagt 277. Es geht um die Leser, bei denen die Tränen „Sympathie und Mitleid mit Petrus hervorrufen“, sie aber auch an 3,28 erinnern sollen, das Wort von der Ver­ gebung der Sünden 278 . Die gesamte Szene mit ihrer Opposition bekennen versus verleugnen ist, wie oben dargelegt 279, paradigmatisch. 8.3 Jesus, Messias und Gottessohn. Von der markinischen zur vormarkinischen Gestalt der Szene Die Doppelszene war Markus vorgegeben. Sie schloss in seiner Passionserzählung an die vorangegangene Szene unmittelbar an. Die Erwartung, die von der transitio V.53a: „und sie führten Jesus zum Hohepriester“ geweckt wird, löst die Erzählung vom Verhör Jesu ein. Die Verleugnung Petri war von Anfang an Teil der Szene, denn „als ursprünglich selbständige […] Einzelgeschichte“, die dennoch „auf die Passion Jesu bezogen“ gewesen sein soll 280 , war sie nicht überlieferungsfähig. Denkbar ist, dass die beiden Szenenhälften ursprünglich hintereinander erzählt wurden und erst Markus sie entsprechend seiner Vorliebe für die sog. Sandwich-Technik miteinander verschachtelt hat 281. Der hier vorliegende Fall unterscheidet sich aber 276  Die Übersetzung ist „mit dem dunklen Partizip ἐπιβάλων belastet“ (Pesch, Mk   II 451); ἐπιβάλλω, ein Verb der Bewegung ([etwas] überwerfen; sich auf etwas werfen [vgl. Mk  4,37]) wird hier übertragen zu verstehen sein (= beginnen; so auch die lectio varia ἤρξατο κλαίειν: D Θ 565 latt samss; vgl. W. Bauer, Wörterbuch 587); geht es um eine innere Bewegung, wird das Partizip die mit der Aussage verbundenen Emotionalität unterstreichen; vgl. A.Y. Collins, Mk 710; Guttenberger, Mk 337. 277  Guttenberger, Mk 340, hebt auf die öffentliche Seite des Geschehens ab: „Tränen appellieren in antiker Kultur an das Mitleid und sind eine nonverbale Bitte um Verschonung. Öffentliches Weinen galt als Ausdruck von Trauer, Angst und Verzweiflung für Männer und für Frauen als angemessen (z. B. Il 8.227–244; Ps  38,13; 2Kön  20,5)“. 278  Ebd. 340. 279  In I.  1.2.2: Jesus und Simon Petrus: Bekennen versus Leugnen. 280 L. Schenke, Christus 22 (die Erzählung verdanke sich der Paränese); ähnlich Bultmann, Geschichte 301; Dibelius, Formgeschichte 215 f.; Linnemann, Studien 82–85; vgl. auch A.Y. Collins, Mk 699. Anders J. Gnilka, Mk II 291: Die Geschichte ist „auf mancherlei Weise mit dem Kontext verknüpft“. Sie „wurde entweder zum älteren Bestand der Passionsgeschichte hinzukomponiert oder gehörte schon immer zu diesem“. – Wer joh. Unabhängigkeit voraussetzt, rechnet die Geschichte zur PEG: Reinbold, Bericht 146–156; ders., Prozess 62 f.; Schleritt, Passionsbericht 383 f. 281 L. Schenke, Christus 15: „Mit der Verschachtelung der beiden Szenen liegt ein Kompositionsverfahren vor, das im Mk-Ev öfter anzutreffen ist: vgl. 3,20–35; 5,21–43; 6,7–30; 11,12–25; 14,1–11. Mit ziemlicher Sicherheit ist dieses Verfahren in jedem Fall auf den Evangelisten zurück-

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

353

von den anderen Beispielen für diese Technik im Evangelium. Nur ihre Expositionen sind miteinander verknüpft, was der Erzählduktus unmittelbar nahelegt: Die Notiz, dass Petrus Jesus „in den Palast des Hohepriesters“ folgte, schließt nahtlos an dessen Abführung an 282 . Die Pilatus-Szene kennt mit Jesus und Barabbas einen vergleichbaren Kontrast (siehe unten). Das bewährte „Auffüllungsmodell“ legt sich auch hier nahe, um das Wachstum der Szene zu erklären: Die ursprüngliche Doppelszene283 wurde im Prozess ihrer Weitergabe ergänzt, wobei strittig ist, welcher Schicht (PEmk oder Mk) die Erweiterungen jeweils zuzurechnen sind: Vorgegebene Erzählung (Mk  14,53–72)

Überlagerungen

53 a A. Und sie führten Jesus zum Hohepriester ab b und es kommen alle zusammen (συνέρχονται): die hohen Priester und die Ältesten und die Schriftgelehrten. 54 a und Petrus folgte ihm von ferne bis hinein in den Palast (ἕως ἔσω εἰς τὴν αὐλήν) des Hohepriesters284 b und saß (dort) zusammen mit den Dienern und wärmte sich am Feuer (φῶς). 55 a B. Die hohen Priester aber [und das ganze Synedrion/die ganze Versammlung: ὅλον τὸ συνέδριον285] suchten Zeugnis gegen Jesus, um ihn zu töten, b und sie fanden keines. 56 a Viele nämlich legten falsches Zeugnis gegen ihn ab b und die Zeugenaussagen waren nicht gleich. 57 a Und einige standen auf b (und) legten falsches Zeugnis gegen ihn ab, c indem sie sprachen: zuführen“ (zu nennen wäre noch 2,3–12). J. Gnilka, Mk II 275, schreibt die Verschachtelung gleichfalls Mk zu, hält aber die Verleugnungsgeschichte für vorgegeben (siehe oben). Richtig Brown, Death I  426: „[W]hen Mark and John present a common sequence, that sequence may well be quite old in Christian tradition“. 282 Die Verleugnungen selbst sind zusammenhängend erzählt (14,66–72). Auch Joh   18,13.15 belegt die Ursprünglichkeit von Mk  14,53 f. 283  Querverweise erhöhen die innere Kohärenz der Szene: V.60e knüpft an V.55 f. an, V.63b erinnert an den Auftritt der Zeugen. Wenn am Ende der „Gerichtsszene“ in V.65d die ὑπηρέται auftreten, wird übergeleitet zur Verleugnungsszene mit den „Dienern“ (V.54b) und „Mägden“ des Hohepriesters. 284  Möglich auch: „bis hinein in den Hof des Hohepriesters“ (vgl. oben S.  183 Anm.  714). 285  ὅλον τὸ συνέδριον greift V.53b (συνέρχονται) auf und ist mit „die ganze Versammlung“ zu übersetzen; anders die üblichen Übersetzungen, die vom rabbinischen Konzept des nationalen jüdischen Gerichtshofs (Sanhedrin) inspiriert sind: „das ganze Synedrion“; vgl. Goodblatt, Principle 123. Siehe unten III.  1.5.3.

354

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

58 a Wir haben ihn sagen gehört: b  Ich werde diesen von Händen gemachten Tempel niederreißen  und nach drei Tagen einen anderen, nicht von Händen gemachten errichten. 59 Und auch so war ihr Zeugnis nicht gleich. 60 a Da erhob sich der Hohepriester(, trat) in die Mitte b und fragte Jesus mit den Worten: c   Antwortest du nichts? d   Was bezeugen diese gegen dich? 61 a Er aber schwieg und antwortete nichts. b Wieder fragte ihn der Hohepriester c und spricht zu ihm: d  Bist du der Messias, der Sohn Gottes (des Hochgelobten)? 62 a Jesus aber antwortete: b Ich bin es (ἐγώ εἰμι)! c Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und kommen sehen mit den Wolken des Himmels. 63 a Da zerriss der Hohepriester seine Gewänder (und) spricht: b   Was haben wir noch Zeugen nötig? 64 a   Ihr habt die Gotteslästerung gehört! b   Was meint ihr? c Und alle urteilten sie, d er sei des Todes schuldig (αὐτὸν ἔνοχον εἶναι θανάτου). 65 a Und einige begannen ihn anzuspucken a1 und sein Gesicht zu verhüllen a 2 und ihn zu schlagen a 3 und zu ihm zu sagen: b  Prophezeie! c Und die Diener empfingen ihn mit Ohrfeigen (ῥαπίσμασιν αὐτὸν ἔλαβον286). 66 a C. Und während Petrus unten im Hof (κάτω ἐν τῇ αὐλῇ) ist, b kommt eine der Mägde des Hohepriesters. 67 a Und als sie Petrus sah, wie er sich wärmte, b blickte sie ihn an c und sagt: d   Auch du warst mit dem Nazarener Jesus. 286 J. Gnilka, Mk II 284 Anm.  52: „ganz vulgäres Griechisch“; wahrscheinlich handelt es sich um einen Latinismus: verberibus eum acceperunt (vgl. BDR  §  5,3b; 198,3).

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

68

a Er aber leugnete b und sagte: c   Weder weiß noch verstehe ich, d   was du sagst. e Und er ging hinaus in den Vorhof (προαύλιον). f [Und der Hahn krähte.]287

69 70

a Und wieder die Magd, die ihn sah, b begann zu den Dabeistehenden zu sprechen: c   Dieser gehört zu ihnen. a Er aber leugnete wieder.

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b Und nach einer Weile sagten die Dabeistehenden zu Petrus: c   Du gehörst tatsächlich zu ihnen. d   Du bist nämlich auch ein Galiläer. 71 a Er aber begann zu fluchen und zu schwören: b   Ich kenne diesen Menschen nicht, c   von dem ihr redet. 72 a Und sogleich krähte der Hahn [zum zweiten Mal]. b Und Petrus erinnerte sich an das Wort, c das Jesus zu ihm gesagt hatte: d   Ehe der Hahn zweimal (δίς) kräht, e   wirst du mich dreimal verleugnen. f [und er] brach in Tränen aus (καὶ ἐπιβαλὼν ἔκλαιεν).

(1) In der Exposition der Erzählung (A) weitet Markus wie schon zu Beginn der Verhaftungsszene in V.44 (vgl. 8,31; 11,27; 15,1) die Gruppe der Gegner Jesu aus. Auf seine Redaktion geht V.53b zurück 288 , dann auch καὶ ὅλον τὸ συνέδριον V.55a 289. Die Versammlung erhält so einen hochoffiziellen Charakter: „[D]ie Re­ ­ präsentanz des Tempelstaates tritt in dieser Nacht geschlossen gegen Jesus auf“290 . Ursprünglich bestand die Exposition lediglich aus V.53a und 54 (angeschlossen mit καί). (2) Die erste Episode der „Gerichtsszene“ V.55–59 erzählt vom Auftritt der Zeugen. Das geschieht nicht neutral, sondern negativ wertend. V.55 ist der „Obersatz“, V.56 der „Untersatz“, den V.57–59 konkretisieren. Die beiden Sequenzen laufen ­parallel und sind vom Tempelwort abgesehen, das im weiteren Verlauf keine Rolle

287  V.68f fehlt in wichtigen Handschriften und einem Großteil der syr. und kopt. Übersetzung; angeregt von V.72a.d (ἐκ δευτέρου/δίς), dürfte der Satz ergänzt worden sein. 288 L. Schenke, Christus 31; Reinbold, Bericht 153; A.Y. Collins, Mk 699. 289  Reinbold, Bericht 153. 290  Eckey, Mk 470.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

mehr spielt, Dubletten 291. V.57 f. sind nachgetragen 292 . V.59 nimmt den mit V.56b verlassenen Faden wieder auf293. Obersatz 55

Die hohen Priester […] suchten Zeugnis gegen Jesus, um ihn zu töten, und fanden keines.

Generelle Explikation Konkretisierung 56a 57 Viele nämlich (πολλοὶ γάρ) Und einige (καί τινες) standen auf legten falsches Zeugnis gegen ihn ab (und) legten falsches Zeugnis gegen ihn ab (ἐψευδομαρτύρουν κατ’ αὐτοῦ) (ἐψευδομαρτύρουν κατ’ αὐτοῦ), indem sie sprachen: 58 Wir haben ihn sagen gehört: Ich (ἐγώ) werde diesen von Händen gemachten Tempel niederreißen und nach drei Tagen einen anderen, nicht von Händen gemachten errichten. 56b und die Zeugenaussagen waren nicht gleich 59Und auch so war ihr Zeugnis nicht gleich (καὶ ἴσαι αἱ μαρτυρίαι οὐκ ἦσαν). (καὶ οὐδὲ οὕτως ἴση ἦν ἡ μαρτυρία). Wer V.57–59 nachgetragen hat, ist kontrovers294. Wegen der Einbindung der Verse in den Kontext ist es Markus gewesen 295: Dass die Zeugenaussage falsch ist, „weiß der Leser, denn Jesus hat zwar wiederholt im Tempel und auch über den Tempel gesprochen, nie aber hat er so geredet. Der im Sinne des Mk ‚authentische‘ Wortlaut steht vielmehr in 13,2“296 . Markus kennt das Tempellogion V.58 aus der Erzählung von der Tempelaktion Jesu (PEmk), hat es hierhin in die Synedrion-Szene verpflanzt und den Falschzeugen in den Mund gelegt 297.

(3) Die zweite Episode beinhaltet das Verhör Jesu durch den Hohepriester (V.60– 62). Die erste Frage, die er ihm stellt, irritiert: „Antwortest du nichts? Was bezeugen diese gegen dich?“298 „Nach der Feststellung, dass das Zeugenverhör erfolglos

291 

Paesler, Tempelwort 27: „Doppelung“. Schenke, Christus 32 f.; J. Gnilka, Mk II 276 (Anm.  9 ältere Vertreter dieser Ansicht); Paesler, Tempelwort 22–30; Schleritt, Passionsbericht 371; Vögtle, Verständnis 172 u. a. – Das Wort gegen den Tempel spielt im Fortgang der Verhandlung keine Rolle mehr, woraus historische Schlüsse zu ziehen methodisch voreilig wäre. 293  Zur literarischen Technik der „Wiederaufnahme“ des Fadens nach sekundären Einschüben siehe bereits oben in II.  6.3 unter (1) (c) zu Mk  14,32c/34a. 294  Mit einem vormkn. Einschub in die PE rechnen L. Schenke, Christus 36 (wegen V.58 aus den Kreisen der Hellenisten, ebenso J. Gnilka, Mk II 276); Paesler, Tempelwort 22–30; Schleritt, Passionsbericht 147 (mit der Begründung: „Was Jesus aber tatsächlich gesagt hatte, war in PBmk vorher, im Zusammenhang der Tempelreinigung, nachzulesen – nicht: ‚Ich werde diesen handgemachten Tempel abbrechen …‘, sondern: ‚Brecht diesen handgemachten Tempel ab …‘“ [170]). 295  Lührmann, Mk 249. 296  Ebd.; siehe oben II.  3.2.2 unter (3). – Mk nimmt in Kauf, dass die Wiederaufnahme von V.56b in 59 im Anschluss an das Zitat unpassend ist, denn das Tempelwort bietet er ja nur in einem Wortlaut, so dass es Dtn  17,6; 19,15 zufolge eigentlich rechtsgültig ist. Angesichts der Möglichkeit, es anhand von 13,2 überprüfen zu können, spielt das offenkundig keine Rolle. 297  Siehe oben II.  3.6 unter (2) und (3). 298  Gewöhnlich wird V.60c.d als eine Frage gedeutet: „Antwortest du gar nichts auf das, was 292 L.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

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geblieben ist (V.59)“, erscheint diese Frage „als ‚unmotiviert‘“299. Deswegen V.60b– 61a für einen Nachtrag zu erklären 300 , dürfte voreilig sein. Abgesehen davon, dass die negativ wertende Perspektive des Erzählers nicht die der Erzählfiguren im Text ist, der Hohepriester also Jesus zur Stellungnahme zu den Zeugen auffordert, ohne selbst von deren Falschheit überzeugt sein zu müssen, ist die von ihm gestellte Frage in zweifacher Hinsicht sinnvoll: Zum einen hat sie die narrative Funktion, „die Frage des Hohenpriesters V.61b [= d] als ultima ratio zu kennzeichnen und damit den Höhepunkt der Erzählung herbeizuführen“301. Zum anderen dient sie zusammen mit der auf die Frage genau abgestimmten Reaktion Jesu: „Er aber schwieg und antwortete nichts“302 , dazu, das Bild vom „Gerechten“ aus dem Psalter zu evozieren, der zu den Beschuldigungen seiner Gegner schweigt (Ps  38,14–18; 39,10; auch Jes  53,7): Genauso wird Jesus von den Zeugen mit falschen Anklagen überhäuft, aber er „antwortet nichts“. Der Erzählzug gehört zum Urgestein der Passionsgeschichte. Die christologische Klimax der zweiten Episode ist die Frage nach der Messianität und Gottessohnschaft Jesu. Ursprünglich wird dessen Antwort lediglich gelautet haben: ἐγώ εἰμί = ich bin es. V.62c ist Nachtrag303, nicht von der Hand eines vormkn. Redaktors304, sondern des Evangelisten 305. Weil Jesu Antwort in der vorliegenden Form die Christologie des Buches bündig zusammenfasst, muss Markus sie gestaltet haben. Bedacht auf die jüdische Kontur des Wortwechsels, könnte sich neben der indirekten Gottesrede vom „Sitzen zur Rechten der Macht“ auch die vom „Hochgelobten“ im Mund des Hohepriesters ihm verdanken 306 . diese gegen dich bezeugen?“ (Lührmann, Mk 247); Holtz, Herrscher 100 Anm.  11, verweist aber auf BDR  §  298,8, wonach es sich verbietet, die beiden Kola zu einer Frage zu verbinden, „weil ἀποκρίνεσθαι ein πρός verlangen würde“; ebenso J. Gnilka, Mk II 274. 299 G. Schneider, Szene 30, unter Bezug auf Bultmann, Geschichte 291. 300  Ebd.; der Nachtrag stünde „offensichtlich im Dienste der Gottesknecht-Christologie“; kritisch dazu L. Schenke, Christus 29: „Wer V.60.61a nach V.56 für sinnlos und unmotiviert hält, muss dafür historisierend argumentieren. Aber nicht ein vorstellbarer Geschehensablauf kann ­literarkritische Probleme entscheiden, sondern allein die Frage, ob ein Text eine sinnvolle Erzähl­ einheit ist“. 301 Ebd. 29. 302  Damit kommt gleich dreimal Jesu Schweigen zum Ausdruck, zweimal in V.61a und vorweg in V.60c: „Antwortest du nichts?“. Beachtlich ist auch die doppelte Verneinung mit οὐκ [ἀπεκρίνατο] οὐδέν sowohl in V.60c als auch in V.61a. 303  Zwei Indizien: (1) der Wechsel vom „ich“ zur dritten Person („der Menschensohn“); (2) „ein Wechsel in den Personen der Angeredeten […], ohne dass dies eigens deutlich gemacht würde“ (L. Schenke, Christus 27). 304  Ebd. 43: Weil Apg  7,56 die Verbindung von Dan  7,13 und Ps  110,1 bezeuge, nimmt er an, der Nachtrag stamme aus „Kreisen der hellenistischen Judenchristen um Stephanus“; vormkn. auch J.  Gnilka, Mk II 276 f.; Reinbold, Bericht 152 Anm.  203, Schleritt, Passionsbericht 371 Anm.  80. 305  Zager, Gottesherrschaft 288–291. – Lührmann, Mk 248, hält Jesu Antwort auf die Messiasfrage für insgesamt redaktionell; die Vorlage sei nicht mehr „rekonstruierbar, da die Parallele Joh  18,19–24 in keinem Einzelzug übereinstimmt“; dagegen siehe unten. 306  Siehe oben II.  8 .2. δύναμις = „Macht“ als Ersatz für θεός/κύριος empfahl sich Mk von 13,26 her, wo er das Wort schon im Zusammenhang mit Dan  7,13 benutzt.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Die Frage, worin die Anklage auf „Gotteslästerung“ V.63c gründet, die in der PEmk (und der PEG) auf Jesu Bejahung der Frage des Hohepriesters („ich bin es“) unmittelbar folgte, ist nach Abschluss der Analyse eigens aufzugreifen (siehe unten).

(4) Wie Jesus später im Anschluss an den Prozess vor Pilatus misshandelt wird (15,16–20), so auch hier (14,65). Die Tendenz zur Parallelisierung der beiden Episoden ist deutlich. Vom Thema der Entehrung abgesehen, kommen sie allerdings nur im Motiv des „An­ spuckens“ (ἐμπτύω: 14,65a; 15,19) überein. Ansonsten sind sie auf ihren Kontext abgestimmt: Die Anspielungen auf Jes  50,6LXX (vgl. 53,5LXX) in 14,65 assoziieren das Bild vom „Gottes­ knecht“, der die Entehrung vonseiten des eigenen Volkes erfährt. Zunächst wird Jesus von „einigen“ Mitgliedern des Hohen Rats misshandelt (V.65a–b), dann von den „Dienern“ des Hohepriesters (V.65c). Auch die Aufforderung der Ratsmitglieder: „Prophezeie!“ passt zur Rahmenszene: Sie „bezieht sich nicht auf das Erraten dessen, der schlägt (so Mt  26,68; Lk  22,64), sondern allgemein auf Jesu profetisch-messianische Vollmacht […]. Vom eschatologischen Heilbringer erwartete man, dass er mit Weisheit und besonderer Einsicht ausgerüstet sein wird“307. Die Episode stand wohl schon in der PEmk.

(5) Die entsprechend der volkstümlichen Regel-de-tri aus drei Episoden bestehende Verleugnungsszene (V.66–72) wird Markus aus seiner Passionserzählung übernommen, sprachlich vielleicht unwesentlich überarbeitet und am Ende erweitert haben 308 . Gegen ihre Dekonstruktion spricht, dass die drei Episoden eng miteinander verflochten sind und sich deutlich steigern: Zuerst wird Petrus von einer Magd entdeckt 309, diese spricht über ihn zu „Dabeistehenden“, die sich dann selbst an Petrus wenden. Von Mal zu Mal wird die Situation für ihn prekärer: Zuerst stellt er sich taub („Weder weiß noch verstehe ich, was du sagst“), dann „verleugnet“ er Jesus. Schließlich „beginnt er zu fluchen und zu schwören“. Der Tiefpunkt ist mit dem (zweiten) Krähen des Hahnes verbunden.

Die Formulierung von V.72 legt nahe, dass Markus die Erinnerung des Petrus an das Wort Jesu 14,30 selbst eingebracht hat, um den Eintritt der Prophetie ausdrücklich zu machen. Auch in 11,21 „erinnert sich“ (ἀναμνησθείς) Petrus an ein Wort Jesu310 . „Für Markus hat ein Jesuslogion den gleichen Rang wie die Schrift“311. Der 307 J. Gnilka, Mk II 284; Van Unnik, Verhöhnung 310 f., verweist auf Poll, Onom  9,113.129, als Beleg für das Spiel, jemanden mit verbundenen Augen raten (μαντεύομαι) zu lassen, wer ihn geschlagen hat; in Mk  14,65 lauten die entsprechenden Termini: περικαλύπτω τὸ πρόσωπον und προφητεύω. Weil es aber Mitglieder des Synedrions sind, die mit Jesus das Spiel treiben, geht es um mehr als nur um ein Ratespiel, nämlich um die Verhöhnung angeblich prophetischer Vollmacht. 308  Zum Folgenden J. Gnilka, Mk II 290–292, dort auch zu älteren Versuchen einer Rückführung der Geschichte auf eine Verleugnungsepisode und zu möglichen stilistischen Eingriffen des Mk. 309  Wenn er sich danach „in den dunklen Torgang“ (V.68e) zurückzieht (so deutet Schenk, Passionsbericht 221), dann trifft dies sicher „die erzählerische Absicht“ (J. Gnilka, Mk II 290); ebd. zur Szenerie: „Der Rückzug in den Vorhof verunmöglicht nicht die beiden folgenden Konfrontationen, sondern steigert die Spannung des Lesers. Nur ein völliger Rückzug des Petrus hätte den Abschluss markieren können“. 310  ῥῆμα als Bezeichnung für ein Wort Jesu auch in 9,32. 311 J. Gnilka, Mk II 291.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

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Schluss der Szene lautete demnach ursprünglich: „Und es krähte der Hahn 312 , und Petrus brach in Tränen aus“. 8.4 Die Verhandlung vor dem Jerusalemer Rat bei Lukas – nur ein Vorverhör (Lk  22,54–71) (1) Lukas hat die Doppelszene neu arrangiert, weil er als Historiker Bedenken trug gegen die von Markus behauptete Versammlungszeit des jüdischen Gremiums in der Nacht. Auch bei vergleichbaren Konflikten in der Apostelgeschichte weiß er nur von Sitzungen des Hohen Rats am Morgen 313. Das entspricht römischer Praxis, aber auch jüdischer, denn nach der Mischna durften Kapitalprozesse nicht des Nachts verhandelt werden 314. In allen diesen Fällen geht eine nächtliche Gefangenschaft der Delinquenten den Verhören voraus. Auch Lk  22 bietet diese Abfolge: Des Nachts erfolgen Festnahme und Überstellung Jesu in die Residenz des Hohepriesters, in dessen Hof Petrus seinen in Sichtweite befindlichen „Herrn“ dreimal verleugnet (V.56–61) und die wachhabenden Männer Jesus verspotten (V.63–65). Erst „als es Tag wird“ (V.66), wird Jesus im Innern der Residenz verhört. Ein weiteres Bedenken des Lukas richtete sich auf den Charakter der Versammlung: Erzählt Markus von einem regelrechten Prozess mit Zeugen, Eingeständnis, Feststellung des Straftatbestandes („Blasphemie“) und Urteilsfolge („er ist des Todes schuldig“), so bietet Lukas lediglich ein Vorverhör, das er in einer plausibel strukturierten Verfahrensfolge vor unterschiedlichen Instanzen 315 als erstes Glied dem Pilatus-Prozess vorgeschaltet sieht. Es fehlen Zeugenauftritt, Straftatfeststellung und Verurteilung durch das Gremium. Der Auftritt von Zeugen, die Jesu Tempelwort vorbringen, ist in das Verfahren gegen Stephanus verpflanzt (vgl. Apg  6 ,13 f.). Eine Spur dieses Auftritts bietet noch Lk  22,71b („Wozu brauchen wir noch eine Zeugenaussage?“316). Die Straftatfeststellung Mk  14,64: „ihr habt die Blasphemie gehört!“ fehlt, wofür vor allem schrifttheologische Gründe namhaft zu machen sind: Lukas dürfte es als nicht plausibel erachtet haben, dass der (Psalm  2 etc. entsprechende) Anspruch Jesu, der Gesalbte und Sohn Gottes zu sein, eine „Blasphemie“ sein soll. Seine Schrifttheologie verwehrte ihm dieses Urteil, zumal es ihm in der Christologie um Kontinuität mit dem Judentum ging. Zudem sollte das jüdische Vorverhör nur Anklagepunkte für den Prozess vor Pilatus sammeln 317. Wenn Jesus zugibt, er verstehe sich als „Gesalbter“ 312 

Wie in 14,30 stammt das Motiv des zweiten Krähens auch hier in V.72a.d von Mk. Apg  4,3.5–22 (Verhör von Johannes und Petrus); 5,21–40 (Verhör der Apostel); 22,30–23,10 (Verhör des Paulus). 314  MSan  I V,1; die Römer pflegten Gerichtsverhandlungen „beim ersten Morgenlicht“ (Sen, De ira 2,7: prima luce) zu beginnen. 315  Siehe dazu auch unten 9.1 unter Punkt (3)! 316  Diese Feststellung am Ende des (aus Sicht des Gremiums) erfolgreichen Verhörs suggeriert, dass eine „Zeugenvernehmung“ eigentlich im Anschluss an eine erste Anhörung des Beschuldigten hätte erfolgen müssen. 317  Umgekehrt waren nach Apg  2 2,30 die Römer auf die Anklageerhebung durch die einheimische Obrigkeit angewiesen: „Am nächsten Tag wollte er (Lysias) genau erkunden, warum Paulus 313 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

und „Sohn Gottes“ (V.70), dann bot er ihnen damit einen Anklagepunkt, auf den die Römer allergisch reagieren mussten: den Anspruch auf angeblich politisch zu verstehende Herrschaft. Die theologische Dimension des Bekenntnisses Jesu zu seiner Gottessohnschaft („Blasphemie“) interessiert das Gremium nicht 318 . So tilgte Lukas dieses Motiv, wie auch die Notiz des Markus, dass Jesus des Todes schuldig gesprochen worden sei, wohl im Wissen darum, dass die Römer sich das ius gladii vorbehalten hatten, sie also das Urteil sprechen müssten 319. Eigentümlich ist die lkn. Gestaltung des Zwiegesprächs zwischen Jesus und dem „Ältestenrat“. Auf dessen Aufforderung hin, Jesus solle seinen Messiasanspruch zugeben, weist Jesus dieses Ansinnen mit der ironisch klingenden Begründung zurück, dass er keinen Glauben von ihnen erwarte. Sollte V.67e–68b auf Jer  38,14 f. anspielen 320 , würde Jesus dem Propheten Jeremia zur Seite gestellt, der mit seiner Opposition gegen König und Tempelestablishment sein Vorbild wäre: Jer  38,14 f. (= 45,14 f.LXX)

Lk  22,67 f.

Und der König sagte zu Jeremia:   Ich stelle dir eine Frage;   verheimliche nichts vor mir. b Wenn du der Messias bist, c dann sag es uns! 15 d Jeremia aber sagte zu Zidkija: Er antwortete ihnen: e   Wenn ich dir Auskunft gebe, Wenn ich es euch sage, f   wirst du mich dann nicht mit glaubt ihr mir ja doch nicht;   Sicherheit töten? 68a   Und wenn ich dir einen Rat gebe, und wenn ich euch etwas frage (ἐὰν δὲ ἐρωτήσω),   wirst du ja doch nicht auf mich b   hören antwortet ihr nicht 321  (οὐ μὴ ἀκούσῃς μου). (οὐ μὴ ἀποκριθῆτε). 14

Da schwor König Zidkija dem Jeremia im Verborgenen:   So wahr der HERR lebt,   der uns dieses Leben erschaffen hat,   ich werde dich nicht töten. V.69 blickt – im Unterschied zu Mk  14,62 – nicht auf das zukünftige Kommen des Menschensohns, sondern auf die österliche Inthronisation Jesu: „Von nun an (ἀπὸ τοῦ νῦν) wird der Menschensohn zur Rechten der Macht Gottes sitzen“. Wenn darauf das Gremium in V.70 mit der Frage reagiert: „Du bist also der Sohn Gottes?“, dann wird deutlich, dass „Mesvon den Juden verklagt wurde. Er ließ ihn von den Ketten lösen und befahl den hohen Priestern und dem ganzen Hohen Rat zusammenzukommen, und führte Paulus hinab und stellte ihn vor sie“. 318  Dauer, Spuren 334: „ausschlaggebend für den Tod Jesu war sein Messiasbekenntnis nicht als Blasphemie, sondern als ein Politikum (cf. 23,2)“. 319  Auch hier berührt sich Lk mit Joh (18,31). 320 Skeptisch Wolter, Lk 736: „eine gewisse, aber nur formale Analogie“. 321  So im Streitgespräch Lk  20,1–7, als die Ratsmitglieder, durch Jesu Frage: „Stammte die Taufe des Johannes vom Himmel oder von den Menschen?“, in Verlegenheit gebracht, ihm die Antwort verweigern.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

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sias“- und „Sohn Gottes“-Titel synonym gebraucht werden und der Königsgedanke entsprechend Ps  110,1 mit der Vorstellung göttlicher Inthronisation verknüpft ist (vgl. Apg  2,32–36). Ps  2 mit seiner Ineinssetzung von „Gesalbter“ (Messias) und König steht im Hintergrund322 .

(2) Die Szene von der dreimaligen Verleugnung Petri streckt Lukas zeitlich ein wenig323, um die späten Nachtstunden, in der sie sich zuträgt, besser zu „füllen“. Bei allen vier Evangelisten ist es zuerst eine Magd, die Petrus erkennt; bei Markus beharrt diese in Anwesenheit von „Dabeistehenden“ ein zweites Mal auf ihrer Beobachtung, und es kommt zur erneuten Verleugnung des Petrus. Bei den anderen Evangelisten sind es jeweils unterschiedliche Personen, die Petrus als Jünger Jesu identifizieren. Abwechselnd sprechen sie ihn direkt an („auch du warst mit dem Nazarener, dem Jesus!“: Mk  14,67; vgl. Mk  14,70; Mt  26,69.73; Lk  22,58) und reden über ihn („dieser ist von ihnen“: Mk  14,69; vgl. Mt  26,71). Nur Lukas lässt die Magd mit einer Rede über ihn beginnen („auch dieser war mit ihm“: Lk  22,56; vgl. 22,59), worauf Petrus antwortet, wie es ihm Jesus vorausgesagt hat: „Ich kenne ihn nicht, Frau!“ (V.57; vgl. Lk  22,34324). Beim zweiten Mal spricht ein Diener (ἕτερος) ihn an: „Auch du bist von ihnen!“, worauf er antwortet: „Mensch, ich bin (es) nicht (οὐκ εἰμί)!“ (V.58) – das Gegenstück zum jesuanischen „ich bin (es)“ (ἐγώ εἰμι) am frühen Morgen (V.70): Jesus bekennt, Petrus leugnet. Als ein weiterer Knecht erklärt: „Wahrhaftig, der war auch mit ihm; er ist doch auch ein Galiläer“ (Lk  22,59), spielt Petrus den Ahnungslosen: „Mensch, ich weiß nicht, wovon du redest“ (V.60). Von einer Selbstverfluchung (wie bei Markus) lässt Lukas (wie Johannes) nichts ver­ lauten; einen derartigen Absturz scheint er ihm ersparen zu wollen. Die Szene ­beschließt er (wiederum wie Johannes) nicht mit dem bitterlichen Weinen des ­Petrus325 , sondern mit der bewegenden Notiz: „und es wandte der Herr sich um und blickte Petrus an“ (V.61), woraufhin dieser sich an das Wort erinnert, das Jesus am Abend zuvor zu ihm gesprochen hat. Wieder einmal erweist Jesus sich als Prophet. Umso grotesker ist die sich unmittelbar anschließende Episode, wenn die wachhabenden Männer ihn verspotten, „ihm sein Gesicht verhüllen“ und ihm zurufen: „Erweise dich als Prophet (προφήτευσον)! Wer ist es, der dich schlug?“ (V.64). 8.5 Ein argumentierender Jesus – und zwei Jünger im Gegenlicht. Die johanneische Version der Doppelszene (Joh  18,12–27) (1) Wie beim letzten Mahl tritt auch hier neben Petrus ein anderer, namenloser Jünger auf (18,15 f.). Die Handschriften, die als Zeugen des ältesten Textes gelten, verweisen nicht mit anaphorischem Artikel auf 13,23 zurück („der andere Jünger“, d. h. derjenige, von dem bereits in 13,23 die Rede war), sondern sagen unbestimmt: 322 

Siehe oben I.  1.2.1.2. Heißt es in V.58: „kurz danach“, so trägt sich die dritte Episode „etwa eine Stunde später“ (V.59) als die zweite ab. 324  Lk  2 2,34: „Nicht wird heute der Hahn krähen, bis du geleugnet hast, mich zu kennen (με … μὴ εἰδέναι)“; diff. Mk  14,30; Mt  2 6,34; Joh  13,38. 325  Lk  2 2,62 verdankt sich Paralleleinfluss (Mt  26,75), ist also nachgetragen, vgl. oben 8.1 unter (3). 323 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

„ein anderer Jünger (ἄλλος μαθητής)“, als würde eine neue Figur eingeführt 326 . Gegen dieses Verständnis spricht aber, dass der Jünger wie in 13,23–25, 20,2–10 und Kap.  21 Partner des Petrus ist und sich so verhält, wie der Leser es vom Jünger erwartet, „den Jesus liebte“: „[a]ls der stille Zeuge, der Jesus auf dem Leidensweg begleitet, ohne sich in ihm zu täuschen und ohne ihn zu verlassen. Neben Petrus, der das trügerische Nahe-Sein symbolisiert, personifiziert dieser Jünger die verläss­ liche Weggemeinschaft“327. Der Vergleich mit den Synoptikern belegt, dass die Figur nachträglich in die Passionserzählung eingefügt wurde, wahrscheinlich von der sekundären Redaktion des vierten Evangeliums, die für alle Lieblingsjünger-Stellen verantwortlich ist328 . Der Evangelist kommt dafür nicht in Frage. Sein Interesse bei der Neugestaltung der Szene zielt in eine andere Richtung. (2) Johannes sieht im Prozess vor dem Hohen Rat, „den Juden“, mitnichten ein einzelnes Ereignis. Der Rechtsstreit ist in seiner Darstellung seit Jesu Befragung im Anschluss an seine Tempelaktion im Gang und entwickelt sich im Fortgang der Handlung zu einem Streit, den nicht „die Juden“, sondern er als der wahre Kläger gegen sie führt. Höhepunkt ist das Tempelweihfest im Winter (10,22–30/31–39), als „die Juden“ ihn mit der Anklage konfrontieren: „Du, ein Mensch, machst dich selbst zu Gott“ (10,33), und er mit seiner Antwort auf diese Anklage sein „Offenbarer“-Wirken vor ihnen definitiv beendet. Deshalb konnte der vierte Evangelist auch nicht von einem Prozess mit öffent­ lichem Bekenntnis Jesu im Rahmen seiner Passionserzählung erzählen: Die Verhör-Szene seiner PEjoh zog er nach vorne (10,22–39) und ließ zwischen 18,24 und 28 eine Leerstelle329. So schuf er ein neues Verhör, das seiner dramaturgischen Gestaltung entsprechend aber inhaltslos bleiben musste. Der Hohepriester sucht Jesus „über seine Jünger (περὶ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ) und über seine Lehre (περὶ τῆς διδαχῆς αὐτοῦ)“ auszufragen, aber Jesus blickt auf sein abgeschlossenes Wirken zurück und erklärt: 20b Ich habe öffentlich zur Welt geredet, ich habe allezeit in der Synagoge und im Heiligtum gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen, und im Verborgenen habe ich nichts geredet. 21 Was fragst du mich? Frage diejenigen, die gehört haben, was ich gesagt habe. Siehe, sie wissen, was ich gesagt habe.

326  Bultmann, Joh 369; der Artikel fehlt in P66 ‫ *א‬C K L etc.; der Nachsatz V.15b spricht aber vom μαθητὴς ἐκεῖνος, wie 21,7: „jener Jünger, den Jesus liebte“. 327  Zumstein, Joh 680. 328  Theobald, Jünger 500 f.505. 329  Den Namen des amtierenden Hohepriesters, Kajaphas, den er mit dem Prozess vor dem Synedrion verbindet, wird er wie Mt (26,57) zeitgeschichtlichem Wissen verdanken.

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

363

Was seine „Lehre“ betrifft, so fordert Jesus den Hohepriester auf, sich bei den Abgesandten, die ihn damals am Laubhüttenfest gehört haben (7,32.45–49), nach ihr zu erkundigen 330 . Zu seinen „Jüngern“, nach denen der Hohepriester ihn zuerst gefragt hat, äußert er sich nicht. Seine Verleugnung durch Petrus, die sich unmittelbar anschließt, spricht für sich: Vom Gefolge seiner Jünger geht für den Tempelstaat keine Gefahr aus! Als „einer der dabeistehenden Knechte“ Jesus ins Gesicht schlägt, zeigt sich ein weiterer Zug der joh. Inszenierung: Nicht als schweigender Leidtragender wird ­Jesus gezeichnet, sondern als jemand, der seinem Richter souverän entgegentritt, mit der Autorität seines Wortes und seines Arguments331: Wenn ich verkehrt gesprochen habe, dann weise mir das Verkehrte nach; wenn ich aber recht gesprochen habe, was schlägst du mich?

23b

(3) Eine Zusammenschau von Joh  18 und 10,22–39 zeigt, wie die Szene in der PEjoh ausgesehen haben dürfte: PEjoh

Joh 18

Überstellung Jesu (an Hannas) + Petrus folgt (Exposition)

18,13a

(12: Verhaftung Jesu) 18,13–14

Verleugnung Jesu durch Petrus (1. Episode)

(siehe unten!)

18,15a

A. 18,15a. 18,17–18

Hannas-Verhör

B. 18,19–24

Überstellung Jesu (von Hannas zu Kajaphas)

18,24

Verleugnung Jesu durch Petrus (2./3. Episode)

(siehe unten!)

Prozess vor dem Hohen Rat

Erste Frage: Bis du der Messias? Ausweichende Antwort Jesu

330 

Joh 10,22–39

A᾽. 18,25–27

Joh  10,24 (vgl. Lk  22,67 f.)

Weidemann, Tod 291–294. Schon die Abgrenzung der Szene zeigt das Bemühen, die Souveränität Jesu herauszustellen: Die Notiz von seiner Verhaftung V.12 schließt nicht (wie bei den Synoptikern) die vorangehende Szene ab (diese endet mit dem Befehl, den Seinen freien Abzug zu gewähren, und seinem Wort vom „Becher“, den ihm der Vater zu trinken gegeben hat); sie findet vielmehr als Teil der Exposition der Verhörszene lediglich en passant Erwähnung. 331 

364

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

PEjoh

Joh 18

Joh 10,22–39

Zweite Frage: Bist du der Sohn Gottes? Bejahende Antwort Jesu

Joh  10,36 (vgl. Lk  22,70)

Blasphemie-Vorwurf

Joh  10,33.36

Entehrung Jesu durch „dabeistehende ­K nechte“: „Schläge“ ins Gesicht

18,22b

Verleugnung Jesu durch Petrus (1.-3. Episode) (18,17–27) Überstellung Jesu (von Kajaphas an Pilatus)

18,28

Die Szene wird in der PEjoh analog zu Markus folgende Elemente enthalten haben: (a) Exposition – (b) Verhör Jesu vor dem Hohepriester 332 – (c) Entehrung Jesu durch „dabeistehende Diener“ (?)333 – (d) Verleugnung Jesu durch Petrus334. Johannes hat die Szene neugestaltet, indem er folgende literarische Operationen vornahm: Verschiebung des Verhörs vor dem Hohen Rat nach Kap.  10; Neuschaffung des Hannas-Verhörs; Aufsplittung der drei Verleugnungsepisoden, um das Hannas-Verhör zu rahmen (A – B – A᾽); Neugestaltung der Überstellungsnotizen V.24 und 28335. 8.6 „Du bist also der Sohn Gottes?“ Die Szene in der PElk/joh (1) In der Exposition stimmen Lukas und Johannes gegen Markus und Matthäus in der Verwendung des Simplex ἄγω überein (Lk   22,54; Joh   18,13: „sie führten“ 336 [ἤγαγον] Jesus) sowie darin, dass von einer Zusammenkunft des ganzen Syned332  Spuren der Episode vom Zeugenauftritt gibt es bei Joh nicht. War sie im vorlkn./vorjoh. Überlieferungsstrang unbekannt oder wurde sie dort bewusst ausgelassen? 333  Möglicherweise hat auch Johannes (im Anschluss an das Verhör) die Episode in seiner PEjoh gelesen. Indiz dafür könnte die Nähe von Joh  18,22 (εἷς παρεστηκὼς τῶν ὑπηρετῶν ἔδωκεν ῥάπισμα) zu Mk  14,65 (οἱ ὑπηρέται ῥαπίσμασιν αὐτὸν ἔλαβον) sein. Zur Rede von „einem Dabeistehenden“ (Joh  18,22: εἷς παρεστηκώς) vgl. Mk  14,69 f. (οἱ παρεστῶτες). 334  Zugunsten der Nachordnung der Petrus-Verleugnungen in der PEjoh (wie bei Mk) spricht: (a) Der Hauptteil der Episode folgt dem (Hannas-) Verhör; Joh hat (veranlasst durch die Exposition der Szene) die erste Episode vorgezogen, um das Verhör zu rahmen; (b) in V.19–23 trägt der „Hohepriester“ keinen Namen die Rede (anders der Rahmen V.13 f.24) – entsprechend dem (von Joh vorgezogenen) synoptisch geprägten Verhör, an welches sich die Verleugnungsgeschichte (abgesehen von der Exposition) ursprünglich anschließt. 335  Im Übrigen hat Joh die Szene mit dem Makrokontext geschickt verknüpft: bei der Einführung des Hannas als Schwiegervater des Kajaphas (vgl. 11,49 f.) oder des Knechts des Hohepriesters als „Verwandter dessen, dem Petrus das Ohr abgehauen hatte“: „Habe ich dich nicht im Garten mit ihm (μετ᾽ αὐτοῦ) gesehen?“ (18,26: vgl. Mk  14,67: „mit ihm [μετά] …“). 336  Mk   14,53; Mt  26,57 bieten das Kompositum ἀπήγαγον: „sie führten ihn fort“; die gleiche Übereinstimmung gegen Mk und Mt findet sich auch im Übergang zur Pilatus-Szene, in Lk  23,1/

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

365

rions nichts verlautet (anders Mk  14,53b par. Mt  26,57). Lukas folgt allerdings zu Beginn der eigentlichen Verhörszene der mkn. Generalisierung, wenn es dort heißt: „Der Ältestenrat des Volkes (τὸ πρεσβυτέριον τοῦ λαοῦ) trat zusammen, hohe Priester und Schriftgelehrte, und sie brachten ihn in ihre Versammlung (εἰς τὸ συνέδριον αὐτῶν)“ (Lk  22,66). (2) Konturen der PElk/joh zeichnen sich im Kern der Verhör-Szene ab. Die oben festgestellten Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes gegen Markus und Matthäus337 zeigen, dass bereits die PElk/joh die eine Frage der Hohepriester in zwei aufgesplittet und zu einem kleinen Dialog weiterentwickelt hat. Die erste Frage lautete wohl: „Wenn du der Messias bist, sage es uns!“ 338 . Darauf antwortet Jesus: „Wenn ich es euch sage, glaubt ihr mir nicht“ 339. Die Fragesteller lassen nicht locker und gehen aufs Ganze: „Dann bist du der Sohn Gottes?“ Jetzt bejaht Jesus und erklärt: „(Ihr sagt es:) Ich bin (es)“ (ἐγώ εἰμι). Damit erhält der „Sohn-Gottes“-Titel das Achtergewicht. Vom Titel des „Gesalbten“ unterscheidet er sich darin, dass er den Bezug des messianischen Königs zu Gott – und damit Jesu Gottesbezug – eigens zum Ausdruck bringt. Vielleicht ist das der Grund, warum die PElk/joh das Verhör umgestaltet hat. Leitend könnte das Interesse gewesen sein, die nachfolgende Anklage auf „Gotteslästerung“ (βλασφημία) eigens mit dem „Sohn-Gottes“-Bekenntnis der Gemeinde zu begründen. Diese Anklage fehlt zwar bei Lukas, wird wegen ihrer Bezeugung durch Johannes (10,36.[33]) aber Teil der PElk/joh gewesen sein. Lukas hatte Gründe, sie zu streichen bzw. nicht aus Mk  15,64a zu übernehmen 340 . Alle sonstigen Beobachtungen zu Lukas und Johannes sind derart, dass sie Rückschlüsse auf die PElk/joh nicht zulassen 341. (a) Der mkn. Fassung zufolge fällen die Autoritäten am Ende des Verhörs ein Todesurteil. Diesen Erzählzug kennt weder Lukas noch Johannes (10,22–39). Dort schreiten „die Juden“ gleich zur Tat: „Sie trugen Steine herbei, um ihn zu steinigen“ (10,31; vgl. V.39). (b) Weder Lukas noch Johannes bieten den aus der mkn. Überlieferung bekannten Erzählzug von der „Suche“ der Autoritäten nach Zeugnissen gegen Jesus (Mk  14,55 f.). Johannes hätte Gründe gehabt, ihn zu übergehen, Lukas, der ihn von Markus her kannte, hat das Motiv in den Stephanus-„Prozess“ transferiert (Apg  6 ,13 f.). Lk  22,71b („Was brauchen wir eine Zeugenaussage?“) wird aus Mk  14,63c generiert sein.

(3) In der Exposition der Verleugnungsszene stimmen Lukas und Johannes gegen Markus und Matthäus darin überein, dass das wärmende Feuer im Hof nicht schon brennt, sondern erst entzündet wird (Lk  22,55 par. Joh  18,18). In der zweiten Episode sprechen die Umstehenden Petrus direkt an („Auch du bist aus ihnen“ bzw. „Bist Joh  18,28: ἤγαγον/ἄγουσιν (siehe unten 9.1 [6] [a]). – Genannt sei noch die Übereinstimmung von Lk  22,54; Joh  18,15; Mt  26,58 in ἠκολούθει: Petrus „folgte“, gegen Mk  14,54: ἠκολούθησεν. 337  Vgl. oben die Synopse in 8.1 unter (5). 338  Joh fügt ein „offen“ (παρρησίᾳ) hinzu; vgl. Joh  7,4.13.26; 11,14.54; 18,20. 339  Nach Lk; Joh wandelt den ursprünglichen Konditionalsatz um in einen Rückblick („Ich habe [es] euch gesagt“), der nur im Kontext des Joh Sinn macht, nicht in dem der PElk/joh; vgl. Schleritt, Passionsbericht 369. 340  Vgl. oben in 8.4 unter (1), dort auch zum anschließenden Problem. 341  Erst der Einbezug der PEmk führt weiter (siehe unten 8.7 unter [1]).

366

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

nicht auch du aus seinen Jüngern?“)342 und dieser antwortet: „ich bin (es) nicht“ (οὐκ εἰμί) (Lk  22,58 par. Joh  18,25[17]). Weil οὐκ εἰμί dem ἐγώ εἰμι Jesu in der Verhör­ szene entspricht, ist damit zu rechnen, dass die Autoren der PElk/joh den Kontrast zwischen Jesus und Petrus auf diese Weise nachträglich verdeutlicht haben. In der dritten Episode könnten zwei markante Motive, die von Markus her bekannt sind, ausgefallen sein: die Selbstverfluchung des Petrus und seine Tränen der Reue. Hat die PElk/joh das Petrus-Bild gemildert oder Lukas und Johannes unabhängig voneinander? 8.7 Das Bekenntnis zum Messias Jesus und das „Ärgernis des Kreuzes“. Gestalt und Intention der Szene in der PEG Nach Ausweis der beiden Überlieferungsstränge (PEmk /PElk/joh) bot schon die PEG die Doppelszene343: Den Tradenten ging es von Anfang an um den Kontrast zwischen dem bekennenden Jesus und dem leugnenden Petrus und damit um den paradigmatischen Charakter der Konstellation, in die sie die Hörer oder Leser involviert sahen. Die Urgestalt der Doppelszene wird am ehesten in der mkn. Überlieferung aufbewahrt sein. Die Varianten der PElk/joh sind sekundär. Mit folgender Gestalt ist zu rechnen: Mk A. Und sie führten (καὶ ἀπήγαγον) Jesus zum Hohepriester ab […] und Petrus folgte ihm von ferne bis hinein in die Residenz (αὐλή) des Hohepriesters und saß (dort) zusammen mit den Dienern und wärmte sich am Feuer.

Lk

Joh

14,53a

18,(13a.)24

14,54

18,15a 18,18c.d.25

B. I. Die hohen Priester aber […] suchten gegen Jesus Zeugnis, 14,55 um ihn zu töten, und fanden keines. Viele nämlich legten falsches Zeugnis gegen ihn ab 14,56 und die Zeugenaussagen waren nicht gleich. […] II. Da erhob sich der Hohepriester (und trat) in die Mitte und fragte Jesus mit den Worten:    Antwortest du nichts?    Was bezeugen diese gegen dich? Er aber schwieg und antwortete nichts.

342 

14,60

14,61

Anders Mk und Mt: Hier sprechen sie über Petrus: „dieser war […]“. Annahme von Lietzmann (Hinführung 2.2: Der Synedrion-Prozess: historisch oder Fiktion?), zuletzt von A.Y. Collins, Mk 698 f.712, Mk habe die Verhörszene nachträglich geschaf­ fen, erledigt sich damit, ebenso die von G. Schneider, Szene 34, u. a., die Verleugnungserzählung und damit das „Diptychon“ ginge auf Mk zurück. 343  Die

367

8. Jesu Verhör durch das Synedrion und seine Verleugnung durch Petrus

Mk

Lk

Joh

22,67 22,70

10,24 10,36

Wieder fragte ihn der Hohepriester und spricht zu ihm:    Bist du der Messias,   der Sohn Gottes? Jesus aber sagte:    Ich bin es.   […]. Der Hohepriester aber, der seine Gewänder zerriss, spricht:    Was haben wir noch Zeugen nötig?    Ihr habt die Gotteslästerung gehört!    Was meint ihr? Und alle urteilten sie, er sei des Todes schuldig.

14,62

14,63 14,64

III. Und einige begannen ihn anzuspucken und sein Gesicht zu verhüllen und ihn zu schlagen und zu ihm zu sagen:   Prophezeie! Und die Diener gaben ihm Ohrfeigen.

14,65

C. I. Und während Petrus unten in der Residenz (κάτω ἐν τῇ αὐλῇ) ist, kommt eine der Mägde des Hohepriesters. Und als sie Petrus sah, der sich wärmte, blickte sie ihn an und sagte:    Auch du warst mit dem Nazarener Jesus. Er aber leugnete und sagte:    Weder weiß noch verstehe ich,    was du sagst. Und er ging hinaus in den Vorhof (προ-αύλιον).

14,66

II. Und die Magd sah ihn Und begann wieder zu den Dabeistehenden zu sprechen:    Dieser gehört zu ihnen. Er aber leugnete wieder.

10,33.36

18,22 18,17

14,67

14,68

14,69

18,25

14,70

III. Und nach einer Weile sagten die Dabeistehenden zu Petrus:    Du gehörst tatsächlich zu ihnen.    Du bist nämlich auch ein Galiläer. Er aber begann zu fluchen und zu schwören: 14,71    Ich kenne diesen Menschen nicht,    von dem ihr redet. Und sogleich krähte der Hahn […], 14,72 und Petrus […] brach in Tränen aus.

18,26–27a

18,27b

368

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(1) Die PEG führte eingangs neben dem Hohepriester lediglich die hohen Priester (Mk  14,55) als Akteure auf344, entsprechend dem Ort, wo die anschließende Verhandlung allen Fassungen zufolge stattfindet, in der „Residenz des Hohepriesters“ (Mk  14,54 [αὐλή] par. Joh  18,15 [αὐλή]; Lk  22,54 [οἰκία]). Die Frage, ob die generelle Aussage vom „Suchen“ der hohen Priester nach einem Zeugnis „gegen Jesus“ (Mk  14,55 f.) schon in der PEG stand, ist nicht schon deswegen negativ zu beantworten, weil die lkn/joh. Überlieferung sie nicht bezeugt 345. Zugunsten ihrer Ursprünglichkeit sprechen drei Beobachtungen: (a) ihre Prägung durch den Psalter; (b) ihre Integration in die Eröffnung der Szene mit Nennung der Akteure (οἱ ἀρχιερεῖς); (c) der Fortgang der Episode: Der Auftritt des Hohepriesters schließt sich organisch an. Seine Worte an die Priester in V.63b („Was haben wir noch Zeugen nötig?“) setzen die Aussage nach der Suche eines Zeugnisses gegen Jesus voraus346 . Das zweigliedrige Verhör gipfelt in der Frage des Hohepriesters an Jesus, ob er „der Messias, der Sohn Gottes“ ist. Als er sie mit ἐγώ εἰμι bejaht, zerreißt der Hohepriester seine Gewänder347 und erklärt den Tatbestand der „Gotteslästerung“ (βλασφημία) für erfüllt. Weil auch die PElk/joh die Anklage der „Gotteslästerung“ enthielt, gehört diese bereits zur PEG. Bei der Reaktion des Gremiums („und alle urteilten sie, er sei des Todes schuldig“) bleiben Zweifel, weil die PElk/joh als Kontrollinstanz ausfällt. Wenn schon die Tora den Konnex von „Blasphemie“ und Todesurteil aufweist (Lev  24,16; Num  15,30 f.)348 , ist dies auch hier erwartbar. Zweifel an der Zugehörigkeit zur PEG könnten auch bei der Episode der Verspottung Jesu durch einige aus dem Gremium und deren „Diener“ aufkommen, vor allem, wenn mit Paralleleinfluss der Pilatus-Szene und deren Verspottungsepisode auf die Gestaltung der Synedrion-Szene gerechnet wird349. Wenn die PEjoh die Episode kannte, wofür es Indizien gibt350 , gehörte sie zu PEG. Zugunsten dieser Annahme sprechen auch die Anspielungen auf den jesajanischen Gottesknecht 351. (2) Auf den ersten Blick scheint eine typische Gerichtsszene vorzuliegen, die alles Nötige dafür aufbietet: das zuständige Gremium, den Auftritt von Zeugen, das Verhör des Delinquenten durch den Hauptankläger, sein Geständnis und schließlich die Feststellung des Straftatbestands samt abschließendem Urteil. Wie die gewalttätige Entehrung Jesu am Ende durch Mitglieder des Gremiums zeigt, handelt 344 

Siehe oben Exkurs 4: Die Bezeichnung der Gegner Jesu in der alten Passionserzählung. So aber Reinbold, Bericht 152 f.; ders., Prozess 62 f. 346 Ähnlich Schleritt, Passionsbericht 372 f. 347  Vgl. 2Kön  18,37; 19,1. – Sanh  V II 5b zur Verurteilung eines Gotteslästerers: „Die Richter aber stehen [währenddessen] auf den Füßen, zerreißen [ihre Kleider], die sie nicht [wieder] vernähen“ (Krauß, Gießener Mischna IV/4, 221). 348  Lev  24,16: „Und wer den Namen des Herrn lästert (καταράσηται), hat den Tod verdient; die ganze Gemeinde wird ihn steinigen […]. Wenn er den Gottesnamen lästert, wird er getötet werden“; vgl. Num  15,30 f. 349  Siehe unten Exkurs 7: Zur Parallelität von jüdischem und römischem Verfahren in der Markuspassion. 350  Siehe oben II.  8 .5 unter (3). 351  Siehe II.  8 .3 unter (4). 345 

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

369

es sich aber eher um die Karikatur einer Gerichtsszene: Die „Frevler“ und „Feinde“ des Gerechten sitzen wie im Psalter352 über Jesus zu Gericht und fällen ihr Urteil, was in den Augen Gottes nur ein Unrechtsurteil sein kann. Dabei verdeutlicht Psalm  2 im Hintergrund, dass nicht nur ein vorbildlicher „Gerechter“ oder ein frommer Israelit vor Gericht steht, sondern der davidische „Gesalbte“ und „Sohn Gottes“, wie ihn der messianisch gelesene Psalter für das Ende der Zeit erwarten lässt. Von einem „Bericht“ kann keine Rede sein, nur von einer „narrativen Inszenierung“353 aus dem Geist der Schrift, die eine biblische Grundkonstellation auf Jesus und die „hohen Priester“ anwendet. (3) Das Urteil des Hohepriesters, Jesus habe mit der Bejahung der Frage, ob er „der Messias, der Sohn Gottes“ ist, eine todeswürdige Gotteslästerung begangen, spiegelt die Situation seiner Anhängerinnen und Anhänger nach Ostern wider354. Deren Bekenntnis zum Gekreuzigten als „Messias“ war der Stein des Anstoßes355. Wie konnte jemand, auf den das Verdikt der Tora zutraf, er sei ein „Fluch“ oder „Verfluchter Gottes“ (Dtn  21,22 f.), als „Messias“ verehrt werden! Wenn Jesus sich gerade in seiner Erniedrigung zu seiner königlich-messianischen Würde bekennt, bringt die Szene genau dies ins Bild356 . Fortan gehört beides zusammen: Jesu Hoheit und seine Niedrigkeit, verstärkt am Ende durch seine Entehrung und Verspottung durch Mitglieder des Gremiums.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild (Mk  15,1–20c par.) Im Vergleich zur Synedrion-Szene gehen die vier Evangelien jetzt noch weiter auseinander. Nur Matthäus erzählt vom Ende des Judas (27,3–10), von der Frau des Pilatus, die wegen Jesus in der Nacht zuvor „im Traum viel gelitten“ hat und deshalb bei ihrem Mann interveniert (Mt  27,19), und auch nur er kennt den berüchtigten Blutruf des „ganzen Volkes“, als Pilatus sich coram publico die Hände in Unschuld wäscht: „Sein Blut über uns und unsere Kinder!“ (Mt  27,24 f.). Lukas weiß 352  Vgl. auch Weish  2 ,20: „Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen (θανάτῳ ἀσχήμονι καταδικάσωμεν αὐτόν), er behauptet ja, es werde ihm Hilfe gewährt“. 353  Eisen, Literatur 107, zu den Fassungen des Mt und Lk. 354 E. Lohse, Geschichte 87: „[D]er gegen Jesus geltend gemachte Vorwurf der Lästerung“ wird „vollauf von der Situation her verständlich, in der sich die christliche Gemeinde gegenüber der Synagoge befand. Denn zwischen Juden und Christen bildete in der Tat das Bekenntnis zur Messianität und Gottessohnschaft Jesu die Ursache und den Gegenstand harter Auseinandersetzungen“; Burkill, Trial 9 f.; Schleritt, Passionsbericht 566 f. 355  Insofern stellt sich mit W. Stegemann, Beteiligung 13, „die berechtigte Frage, ob der Begriff [sc. Gotteslästerung] überhaupt im Sinne eines justiziablen Vergehens“ zu verstehen ist oder „nicht besser aus dem christologisch-pragmatischen Kontext der Perikope“. 356  Dazu passt der Verweis von Lohmeyer, Mk 328, auf das syntaktisch an sich unnötige, emphatische σύ der Frage des Hohepriesters, das hier aber den Sinn habe, der „Würde“ des Gesalbten – „ὁ χριστός ist, streng genommen, wegen des Artikels das grammatische Subjekt“ – „das ‚Du‘ dieses Gefangenen zu kontrastieren“; V. Taylor, Mk 567; J.B. Gibson, Function 173.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

im Unterschied zu Markus und Matthäus von zwei Verhandlungen vor Pilatus sowie einer zwischenzeitlichen Überstellung Jesu an Herodes Antipas (Lk  23,1–5/6– 12/13–25). Johannes bietet einen eigenen dramatischen Handlungsablauf in sieben Episoden (Joh  18,28–19,16b). Alle vier Evangelisten scheinen im Auftritt Jesu vor dem offiziellen Vertreter Roms so etwas wie die Ur-Szene aller späteren Konfrontationen von Christen mit den Vertretern des Imperium Romanum zu sehen. Sie verbinden mit ihr die Botschaft, dass der Statthalter, überzeugt von der Unschuld Jesu, indirekt auch die politische Harmlosigkeit all derer bestätigt, die sich nach Jesu Tod auf ihn berufen. Mit der Ent-lastung des Pilatus, die von Fassung zu Fassung zunimmt 357, geht die wachsende Be-lastung der jüdischen Autoritäten einher. Wieder stehen sich Bild und Gegenbild gegenüber: Der Gerechte wird dem Tod überantwortet, der Verbrecher wird begnadigt (Mt  27,26; Mk  15,15; Lk  23,25; vgl. Apg  3,14; Joh  18,40). Ein stärkerer Kontrast ist kaum denkbar. 9.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Markus bietet die einfachste Fassung, die deswegen aber nicht die älteste sein muss (Mk  15,1–20c)358 . Die Übergangsnotiz V.1 (transitio) stellt (nach der Unterbrechung durch die Verleugnung Petri) den Anschluss an die nächtlichen Gerichtsszene her („die hohen Priester […] fassten einen Beschluss“) und leitet zur neuen Szene über („sie übergaben ihn dem Pilatus“). Der Hauptteil V.2–15 umfasst zwei Episoden: (a) das Verhör Jesu durch Pilatus und (b) das Ringen des Pilatus mit der „Volksmenge“ um die Amnestierung des Barabbas oder Jesu. Am Ende steht dessen Auslieferung. Der Schlussteil V.16–20c, der von der Misshandlung Jesu durch die Soldaten im Prätorium erzählt (V.16–20a), bildet die Brücke zur Kreuzigungsszene359. (2) Matthäus (27,1–31b) fußt auf Markus, gliedert dessen Darstellung anders und gestaltet sie insgesamt neu. Der Anschluss der Szene nach hinten ist verdeutlicht: „Als es Morgen geworden war“, bringt der Hohe Rat den nächtlichen Prozess mit seiner Beschlussfassung

357  Mk und Mt zufolge tragen für den Ausgang der Barabbas-Episode und damit die Auslieferung Jesu ans Kreuz die „hohen Priester (und Ältesten)“ (Mk  15,10 f. par. Mt  27,20) die Verantwortung. Bei Mt gibt Pilatus sie durch den Gestus des Händewaschens an die „hohen Priester“ und das Volk ab. Lk schreibt Pilatus ausdrücklich eine gute Absicht zu (Lk  23,20: „er will ihn freilassen“; vgl. Apg  3,13: κρίναντος ἐκείνου ἀπολύειν) und lässt ihn zweimal einen „Kompromiss“ vorschlagen („ich züchtige ihn, dann lasse ich ihn frei“: vgl. Lk  23,16.22). Bei Lk und Joh erklärt Pilatus drei Mal Jesu Unschuld. Allen vier Evangelisten zufolge steht Pilatus unter dem Druck der „Menge“. Bei Joh setzen die „hohen Priester“ die Loyalitätspflicht des Statthalters gegenüber dem Kaiser als zusätzliches Druckargument ein (Joh  19,12). 358  Vgl. unten II.  9.6. 359  Die Erzählfigur der „Soldaten“ verbindet beide Teile miteinander.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

371

zum Abschluss (27,1 f.)360 . Die angehängte Geschichte vom Ende des Judas (V.3–9) verleiht dem Auftakt der neuen Szene Gewicht 361. Beim Verhör Jesu durch Pilatus (V.11–14) – der ersten Episode des Hauptteils – lehnt sich der Evangelist eng an Markus an362 . Die Geschichte mit Barabbas – die zweite Episode (V.15–26) – dramatisiert er durch Einfügung der Intervention der Frau des Pilatus und dessen Gestus des Händewaschens samt Blutruf des „ganzen Volkes“ (V.24 f.). Die Intervention der Frau des Pilatus wirkt wie ein Ritardando und erhöht die Spannung der Erzählung (V.19)363. Der Dialog zwischen Pilatus und dem „ganzen Volk“ treibt die Szene zu ihrem Höhepunkt. Beide Eingriffe gehen auf Matthäus zurück. Das „Blut“-Motiv verbindet die eingefügten Teile untereinander und dem weiteren Kontext (V.4.6.8.24 f.; vgl. 23,30.35; 26,28). (3) Auch Lukas knüpft an Markus an, arrangiert aber die Ereignisse, ergänzt um die Episode der Überstellung Jesu an Herodes (Lk  23,6–12), nach seinen Rechtsvorstellungen neu (22,66–23,25). Die mkn. transitio (Mk  15,1) integriert er in die von ihm gebildete frühmorgendliche Sitzung des „Ältestenrats“ (22,66–23,1) entsprechend seiner Vorstellung, dass nächtliche Sitzungen, auch wenn es sich „nur“ um ein Vorverhör ohne Beschlussfassung handelt, historisch betrachtet, unwahrscheinlich sind364. Das Vorverhör, das die Funktion besitzt, die Anklagepunkte für das weitere Verfahren zu sammeln, lässt er unmittelbar in die Überstellung Jesu365 an Pilatus einmünden. Zusammen mit dem Vorverhör erfolgt der Prozess bei ihm vor drei Instanzen: dem Jerusalemer „Ältestenrat“ (22,66–23,1), dem Statthalter (23,2–7.13–25) und Jesu Landesherrn Herodes (23,8–12); vor dem Statthalter erscheint Jesus zweimal366 .

360  Mt versteht seine Vorlage Mk  15,1 also nicht so, dass dort von einer zweiten Sitzung des Gremiums am Morgen die Rede wäre, sondern deutet den mkn. Übergangsvers als Hinweis auf die Beendigung der nächtlichen Sitzung durch morgendliche Beschlussfassung: συμβούλιον ποιήσαντες (Mk  15,1) wandelt er um in die finite Aussage συμβούλιον ἔλαβον = sie fassten den Beschluss (Latinismus: consilium capere) (vgl. auch Mt  27,7: συμβούλιον […] λαβόντες; 28,12). Zu Mk  15,1 siehe unten. 361  Der Kern der Erzählung stammt, wie die Parallele Apg  1,16–20 belegt, aus mündlicher Tradition: Der Grad der Übereinstimmung beider Fassungen ist gering: Gemeinsam sind lediglich die Verbindung der Motive „Judaslohn“ und Erwerb eines Ackers („Blutacker“) wie der Bezug auf die Schrift, allerdings mit unterschiedlichen Prätexten. Mt hat die Geschichte schrifttheologisch angereichert und dem Kontext dienstbar gemacht. Vgl. Luz, Mt 229–233; Konrad, Mt 427–430; zur Deutung vgl. auch Daube, Judas 738–799. 362  Die Einschaltung V.3–10 erforderte mit V.11 einen den Hauptteil der Szene eröffnenden neuen Satz: „Jesus aber wurde vor den Statthalter gestellt“. 363  Die Episode V.19 verschiebt die Antwort des Volkes auf die von Pilatus zuvor gestellte Frage, wen er freilassen soll (Mt  27,17), und gibt Raum für den anschließenden Versuch der „hohen Priester“, das Volk aufzuwiegeln (Mt  27,20; vgl. Mk  15,11). Die erneute Frage des Pilatus, wen er freilassen soll, und ihre Beantwortung durch das Volk (V.21) erscheint dann umso dramatischer als Wende des Geschehens, durch die Pilatus zum Getriebenen wird. 364  Vgl. oben 8.4 unter (1). 365  Im Unterschied zu Mk erwähnt Lk nicht, dass Jesus gefesselt wird, womöglich deshalb nicht, weil er vorweg nur ein Vorverhör – ohne Urteilsfällung – stattfinden lässt. 366  Heusler, Kapitalprozesse 98 f.; ebd. 239: ausweislich Lk  23,2, der Anklage Jesu durch die

372

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Der Rechtshintergrund dieser Verhandlungsprozedur – „von Pontius zu Pilatus“! – ist ein doppelter: (a) Todesurteile sollten römischer Praxis nach nicht in der ersten, sondern nach Unterbrechung erst in einer weiteren Sitzung gefällt werden. An diesem Grundsatz richtet Lukas seine Darstellung aus und vermeidet so den Eindruck, Pilatus könnte den Fall Jesus „im Schnellverfahren“ erledigt haben 367. (b) Als Pilatus erfährt, dass Jesus Galiläer ist (23,6 f.), also aus dem „Herrschaftsgebiet“ des Herodes Antipas (ἡ ἐξουσία Ἡρώδου) stammt, bezieht er den in Jerusalem weilenden König in den Prozess mit ein 368 . Er respektiert seine rechtliche Zuständigkeit, worüber die beiden zu Freunden werden (23,12). Der Einheit des Geschehens entspricht die Einheit der Zeit: Der Prozess wird am Morgen ein- und desselben Tages abgewickelt369. Die einzelnen Stationen folgen einander ohne Unterbrechung: Jesus wird von einer zur anderen Instanz „überstellt“, ein Vorgang, den Lukas mit dem dafür passenden Rechtsterminus ἀναπέμπω (V.7.11) bezeichnet 370 . Ein Vergleich der lkn. Prozessdarstellung mit dem Paulus-Prozess der Apostelgeschichte371 untermauert die These, dass sich das spezifische Arrangement in 22,66–23,25 der Redaktion des dritten Evangelisten verdankt:

Verhaftung Vorverhör

1. Station (judäische Selbstverwaltung)

Eigentlicher 2. Station Prozess ­(Statthalter)

Jesus

Paulus

Lk  22,54

Apg  22,22–29

Lk  22,66–71 Hoher Rat Am Tag nach der ­Verhaftung

Apg  22,30–23,10 Hoher Rat Am Tag nach der Verhaftung

Lk  23,1–5 Prozesseröffnung mit (dreifacher) Anklage und erstem Verhandlungsgang vor Pilatus

Apg  24,1–22 Prozesseröffnung mit (dreifacher) Anklage und erstem Verhandlungsgang vor Felix

3. Station Lk  23,6–12 (Ortszuständigkeit) König Herodes 4. Station: (Statthalter)

Apg  25,13–26,32 König Agrippa

Lk  23,13–25 Apg  25,1–12 Fortführung und Abschluss Statthalterwechsel: Festus

judäischen Autoritäten, handele es sich Lk zufolge um einen sog. „Akkusationsprozess“ (siehe unten III.  1.3.4 in [1]). 367  Ebd. 261. Vgl. auch Sanh  I V  1h: „Kapitalsachen beendet man […] an demselben Tage zur Freisprechung, aber erst am folgenden Tage zur Schuldsprechung“ (Krauß, Sanhedrin 146 f.). 368  Analog dazu ist der Auftritt von König Agrippa im Paulusprozess: Apg  25,13–26,32. 369  Die nächste auf 22,66 („und als es Tag wurde“) folgende Zeitangabe erst in 23,44 („Und es war schon um die sechste Stunde“). 370  ἀναπέμπω = „überstellen“ ist in einer Reihe von amtlichen Papyri mit Petitionen um oder Befehlen zur „Überstellung“ belegt: Kreinecker, Remark, mit Hinweisen auf Hagedorn, Formular; Drexhage, Überstellungsbefehlen. 371  Heusler, Kapitalprozesse 89 f.132 f.178 f. (Übersichten).

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

373

Die Episode von der Vorführung Jesu vor Herodes Antipas geht, wie die Parallelen der Apostelgeschichte372 und die zahlreichen Lukanismen zeigen 373, auf den dritten Evangelisten zurück 374. Er orientiert sich an Markus und, wie der Vergleich mit Johannes ein weiteres Mal bestätigt, zusätzlich an der PElk/joh. (4) Johannes bietet den Pilatus-Prozess in sieben Episoden nach Art eines Dramas375 , das sich abwechselnd auf „zwei verschiedenen Bühnen“376 zuträgt, auf einer hinteren Bühne, dem Inneren des Prätoriums, und auf einer Vorderbühne, dem Platz davor. Dieses Bühnenbild ist theologisch motiviert: Es garantiert „den Juden“ auf dem Vorplatz die Bewahrung ihrer kultischen Reinheit (vgl. 18,28), wie es andererseits die Offenbarungsworte, die Jesus vor Pilatus spricht, vor ihnen verbirgt. Die Anordnung der sieben Episoden ist konzentrisch377: Die Mitte bildet die Episode von der Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten im Prätorium (D). Davor steht eine Dreier-Reihe, bestehend aus zwei Episoden mit den jüdischen Autoritäten und Pilatus auf dem Vorplatz (A – C), die das erste Verhör Jesu durch den Präfekten im Inneren (B) rahmen. Die Dreier-Reihe nach dem Zentrum ist gleich gebaut: Zwei Episoden vor dem Prätorium (C’ – A’) rahmen das zweite Verhör Jesu durch den Präfekten im Inneren (B’)378 . Schematisch dargestellt und mit den synoptischen Parallelen versehen, stellt die Sequenz sich folgendermaßen dar: Johannes

Markus

Matthäus

Lukas

Eröffnungsnotiz (18,28)

Vor dem Prätorium

15,1b.c

27,2

23,1

A: Außen (18,29–32)

Anklage (V.29: κατηγορία)

15,3 (κατηγορέω)

27,12 (κατηγορέω)

23,2/5 (κατηγορέω)

372 

Apg  25,19 f. – Wolter, Lk 742, verweist noch auf Apg  18,15 Müller, Jesus 141: „Nichts spricht […] dagegen, dass Lk  23,6–12 ohne Abstriche eine Komposition des Lukas ist“. 374  Dibelius, Herodes 278–292, und viele andere; vgl. Bielinski, Jesus 138–141 (mit Anm.  389); damit steht dann auch fest, dass Lk  23,6–12 kein „direct historical account“ sein kann (Brown, Death I 783). Anders zuletzt Wilker, Rom 108–117, mit dem Argument, Lk  23 stünde in einem „fundamentalen Widerspruch“ zu Apg  4,25–27: „Während die Jerusalemer Urgemeinde hier Pilatus und Antipas als Feinde Jesu nennt, treten im lukanischen Passionsbericht beide als Zeugen der Unschuld Jesu auf“ (115 f.). Doch warum sollte die Anwendung des Zitats aus Ps  2,1 f. (= Apg  4,25 f.) auf den Prozess in V.27 („Wahrhaft, verbündet haben sich […] gegen deinen Knecht Jesus […] Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels“) im Widerspruch zu Lk  23 stehen? 375  Gniesmer, Prozess. 376  Haenchen, Historie 191. 377  Das sehen die meisten Kommentatoren so, vgl. Potterie, Passion 61–64; Dietzfelbinger, Joh  II 266 f., zuletzt Zumstein, Joh 688–690; Pichler, Jesus 184, informiert über alternative Gliederungsvorschläge. 378  Mit der Konzentrik der Episodenfolge verbindet sich die Linearität dramatischer Steigerung, was die Besonderheiten der zweiten Dreier-Serie von Episoden erklärt: Die Grenzen zwischen Außen und Innen werden durchlässig. So spielt die 5. Episode (= C’) zwar vor dem Prätorium, aber Jesus, der sich bisher nur in seinem Inneren aufhielt, wird hier schon von Pilatus „den Juden“ vorgeführt. In der 6. Episode (= B’) dringt das Geschrei „der Juden“ in das Innere des Prätoriums und setzt Pilatus unter Druck. In der 7. Episode kommt er mit Jesus aus dem Innern heraus (19,12 f.) und setzt sich auf den Richterstuhl. Das Drama nimmt seinen Lauf. 373 K.

374

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Johannes

Markus

Matthäus

Lukas

15,2–5

27,11–14

23,2–7 [1. Verhandlung]

B: Innen (18,33–38a)

1. Verhör („König der Juden“)

C: Außen (18,38b–40)

1. Unschuldserklärung (38b) Barabbas-Episode (39 f.)

D: Innen (19,1–3)

Geißelung und Verspottung Jesu als König

C’: Außen (19,4–7)

Vorführung des Königs Jesu (Ecce homo) 2. Unschuldserklärung (4) 15,13 27,22.23 Kreuzigungsruf (6a–c) (σταύρωσον) (σταυρωθήτω) (2x: σταύρωσον) 3. Unschuldserklärung (6e) (siehe oben!) (siehe oben!) Anklageerhebung („Sohn Gottes“)

B’: Innen (19,8–12)

2. Verhör Jesu Frage des Pilatus: Jesus schweigt (9) „Die Vollmacht“ des Pilatus“ Pilatus sucht Jesus freizugeben (12a)

A’: Außen (19,13–15)

23,4 15,6–14

27,15–23

15,16–20

27,27–31

15,4 15,5

[2. Verhandlung: 23,13–23] 23,14c.d 23,21 (2x: σταύρου) 23,22c (siehe oben!)

27,13 f.

23,20

Pilatus auf dem Richterstuhl (13): „Euren König soll ich kreuzigen?“ – „Wir haben keinen König als den Kaiser“.

Abschluss(Freilassung des Barabnotiz (19,16a) bas)379 Übergabe Jesu an „die Juden“

23,18 f.

15,15a 15,15b

27,19

23,24 (ἐπέκρινεν)

27,26a 27,26b

23,25a 23,25b

Sowohl die Gattung „Gerichtsprotokolle“ als auch der Topos „Konfrontation eines Herrschers mit einem (gottgesandten) Weisen“380 hat auf 18,28–19,16a eingewirkt. Ersichtlich ist das an der Vermehrung der Redebeiträge Jesu, aber auch an formalen Merkmalen wie der Angabe von Ort und Zeit des Prozesses und der Erwähnung der Urteilsfällung mit Hinweis auf den „Richterstuhl“ (βῆμα), was dem Ganzen einen quasi-protokollarischen Anstrich gibt. Die Redebeiträge Jesu zeigen ihn als souverän argumentierenden „Weisen“, der zugleich mit göttlicher Hoheit ausgestattet ist, die numinose Furcht einflößt. Ein Vergleich mit den Synoptikern zeigt, wie 379  Von einer Freilassung des Barabbas ist am Ende nicht die Rede; das Amnestieangebot von 18,39 scheint sich erledigt zu haben. 380  Zu beidem siehe oben I.  1.5.2.6 sowie in 1.5.3 den Abschnitt: Die (Teil-)Gattung „Herrscher und Weiser im Gespräch“.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

375

souverän der Autor den Stoff unter seinem leitenden Vorzeichen des Königtums Jesu umgestaltet und ihm eine neue Struktur verliehen hat: Während die Synoptiker die Verspottung Jesu durch die Soldaten erst ganz am Ende bieten, ist sie bei Johannes ins Zentrum gerückt, von dem aus sie auf die ganze Sequenz ausstrahlt. Während die Paschaamnestie mit der von Pilatus eröffneten Alternative Barabbas oder Jesus bei Markus und Matthäus einen Großteil der Szene beherrscht, bietet Johannes (wie Lukas) dazu lediglich einen Wortwechsel zwischen Pilatus und „den Juden“, der auch keine unmittelbaren Folgen für die „Auslieferung“ Jesu ans Kreuz (wie bei Markus und Matthäus) besitzt. An der kreativen Gestaltungskraft des vierten Evangelisten bei der Gestaltung des Pilatus-Prozesses besteht kein Zweifel. Ein Vergleich mit den Synoptikern zeigt indes, dass er nicht ohne Orientierung an Quellen gearbeitet hat. (a) Das erste Verhör Jesu durch Pilatus bei Johannes liest sich wie eine Auffüllung des von Markus gebotenen Wortwechsels zwischen den beiden 381: Mk  15,2

Joh  18,33–38

33 Pilatus also ging wieder in das Prätorium, rief Jesus Und Pilatus fragte ihn (ἐπηρώτησεν): und sagte zu ihm (εἶπεν):   Bist du der König der Juden? Bist du der König der Juden?  (σὺ εἶ ὁ βασιλεὺς τῶν (σὺ εἶ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων;) 34   Ἰουδαίων;) Jesus antwortete:  Sagst du dies aus dir selbst oder haben es andere dir über mich gesagt? 35 Pilatus antwortete:   Bin ich denn ein Jude?   Dein Volk und hohen Priester haben dich mir übergeben.   Was hast du getan? 36 Jesus antwortete:   Mein Königtum ist nicht aus dieser Welt.  Wenn mein Königtum aus dieser Welt wäre, hätten meine Diener gekämpft, damit ich nicht den Juden ausgeliefert würde. Jetzt aber ist mein Königtum nicht von hier. 37 Da sagte Pilaus zu ihm:   Also bist du ein König? Er aber antwortete ihm Jesus antwortete und sagt:   Du sagst es (σὺ λέγεις),   Du sagst es (σὺ λέγεις).   ich bin ein König.   Dazu bin ich geboren worden und in die Welt gekommen,   damit ich für die Wahrheit zeuge.   Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme. 38 Pilatus spricht zu ihm:   Was ist Wahrheit?

381  Das Verhör Jesu durch Pilatus hat in allen vier Evangelien zwei Teile. Gegenstand des zweiten ist die Frage des Pilatus, was Jesus zu den Anklagen sage, woraufhin er (bei Mk und Mt) schweigt, nicht bei Lk. Auch Joh bietet zwei Verhörgänge, die erweitert sind (2. und 6. Episode). Auch bei ihm begegnet das Schweigemotiv im zweiten Gesprächsgang (Joh  19,9).

376

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Anzahl und Art der Parallelen zu Markus sind derart, dass eine literarische Abhängigkeit des vierten vom zweiten Evangelisten alles andere als zwingend ist. Sprachliche Übereinstimmungen gibt es kaum 382 . So liegt es auch hier wieder nahe, die Berührungen von Joh  18,33–38 mit Mk  15,2 mit gemeinsamer Passionsüberlieferung zu erklären.

(b) Zu Matthäus unterhält die joh. Darstellung, abgesehen von dem mit Mk  15,2 identischen Wortwechsel Mt  27,11 (vgl. auch Lk  23,3) und dem Motiv des „Richterstuhls“ (βῆμα) Mt  27,19, keine nennenswerten Bezüge. Anders sieht sein Verhältnis zu Lukas aus. Die Liste der übereinstimmenden Wendungen, Motive und Erzählzüge ist beträchtlich: [1] Für die Abführung Jesu benutzen Lukas und Johannes gegen Markus und Matthäus383 das simplex ἄγω, nur in unterschiedlicher Zeitstufe (Lk  23,1; Joh  18,28) und mit unterschiedlichem Bezug („zu Pilatus“ bzw. „in das Prätorium“)384. Vom „Ausliefern“ (Mk  15,1 par. Mt  27,2)385 oder davon, dass die jüdischen Autoritäten Jesus „gebunden“ Pilatus übergeben (so Mk  15,1; Mt  27,2)386 , verlautet bei beiden nichts. [2] Während Markus und Matthäus von der (pauschalen) Anklageerhebung der „hohen Priester“ erst nach dem Verhör Jesu durch Pilatus erzählen, bieten Lukas und Johannes eine Abfolge, die der erwartbaren Geschehenslogik entspricht: erst die Anklageerhebung (Lk  23,2; Joh  18,29), dann deren Überprüfung im Verhör (Lk  23,3; Joh  18,33–38b). [3] Lukas und Johannes konkretisieren die Anklage. Jener nennt drei Punkte: Jesus wiegelt angeblich das Volk auf, ist gegen die Abgabe der Kaisersteuer und behauptet, er sei ein gesalbter König (Lk  23,2). Dieser lässt die „hohen Priester“ Jesus zuerst pauschal verklagen (Joh  18,30: „ein Übeltäter“), dann explizit religiös (Joh  19,7: „er hat sich selbst zum Sohn Gottes gemacht“) und schließlich politisch: „jeder, der sich selbst zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser“ (Joh  19,12). Es entsprechen sich Lk  23,2 (λέγοντα ἑαυτὸν χριστὸν βασιλέα) und Joh  19,12 (πᾶς ὁ βασιλέα ἑαυτὸν ποιῶν)387. [4] Im Anschluss an das erste Verhör Jesu durch Pilatus erklärt dieser sowohl bei Lukas als auch bei Johannes nahezu gleichlautend Jesu Unschuld (Lk  23,4 par. Joh  18,38)388 . Das tut er bei beiden insgesamt dreimal (siehe noch Lk  23,14 [15389].22; Joh  19,4.6), bei Lukas jeweils im 382 Wörtlich stimmen Mk   15,9/Joh   18,39 (ἀπολύσω ὑμῖν τὸν βασιλέα τῶν Ἰουδαίων;) und Mk  15,15/Joh  19,16a (παρέδωκεν … ἵνα σταυρωθῇ) überein. 383  Mk  15,1 und Mt  27,2 bieten verba composita: Mk  15,1: ἀπο-φέρω; Mt  27,2: ἀπ-άγω. 384  Bei Lk entspricht ἤγαγον αὐτὸν ἐπὶ τὸν Πιλᾶτον der Eröffnungsnotiz seiner vorhergehenden Szene: ἀπ-ήγαγον αὐτὸν εἰς τὸ συνέδριον αὐτῶν (22,66). – Kritisch Pichler, Jesus 187: Das Verbum [ἄγω] selbst ist weder für Lk noch für Joh „ungewöhnlich“, denn dieser benutze es insgesamt 12mal, das lkn. Doppelwerk 39-mal. 385  Bei Joh begegnet das Verb später im Mund der Ankläger (18,30: „Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert [παρεδώκαμεν]“) und des Pilatus (18,35: „Dein Volk und die hohen Priester haben dich an mich ausgeliefert [παρέδωκάν σε ἐμοί]“). 386  Joh bietet das Motiv schon in 18,12, vielleicht wiederholt er es deshalb nicht. 387  Mit 19,7 vgl. 5,18; 10,33.36 (par. Lk  2 2,70). 388  Pichler, Jesus 190 (unter Bezug u. a. auf Becker, Joh II 672; Dauer, Passionsgeschichte 120): Die jeweils ersten Unschuldserklärungen entsprechen sich „sowohl in struktureller als auch in sprachlicher Hinsicht“, in struktureller Hinsicht wegen gleicher Abfolge weiterer Erzähl­ elemente (siehe unten 9.7). – Die Rede von „diesem Menschen“ in der ersten lkn. Unschuldserklärung (Lk  23,4) begegnet auch in Joh  18,29: „Welche Anklage habt ihr gegen diesen Menschen (κατὰ τοῦ ἀνθρώπου τούτου)?“ 389  Mit ähnlichen Worten berichtet Pilatus von Herodes Einschätzung des Falles: „und siehe: Es gibt nichts Todeswürdiges (ἄξιον θανάτου), das von ihm getan wurde“ (Lk  23,15); ἄξιον θανάτου (statt bloßes αἴτιον), eine Steigerung, auch in der letzten Unschuldserklärung.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

377

Rückbezug auf die erste Erklärung, bei Johannes jeweils im Präsens: „Ich finde keine Schuld an ihm“390 . [5] Bei Markus und Matthäus „wiegeln“ „die hohen Priester“ das Volk „auf“ (Mk  15,11), Barabbas anstatt Jesus von Pilatus zu fordern bzw. sie „überreden“ es dazu (Mt  27,20). Lukas und Johannes kennen die Polarität der beiden Akteure nicht: „Die hohen Priester“ und „das Volk“ agieren von Anfang an gemeinsam (Lk  23,4.13; vgl. Joh  18,35: τὸ ἔθνος … καὶ οἱ ἀρχιερεῖς παρέδωκάν σε ἐμοί)391. [6] Lukas und Johannes legen dem Gegenüber des Pilatus einen vergleichbaren Ruf in den Mund, der bei Markus und Matthäus ohne Parallele ist. Erst darauf folgt der Erzählerkommentar zu Barabbas, der in Mk  15,7 par. Mt  27,16 die Episode eröffnet: Lk 23,18

Joh 18,39 f.

Es ist euch aber eine Gewohnheit, dass ich euch einen am/zum Paschafest freilasse (ἕνα ἀπολύσω ὑμῖν ἐν τῷ πάσχα). Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe? Sie schrien (ἀν-έκραγον) aber alle zusammen: 40  Da schrien sie (ἐκραύγασαν) wiederum: Nimm diesen weg (αἶρε τοῦτον)! Nicht diesen (μὴ τοῦτον), Gib uns den Barabbas (τὸν Βαραββᾶν) frei! sondern den Barabbas (τὸν Βαραββᾶν). Barabbas aber war (ἦν) ein Räuber. Dieser war (ἦν) wegen eines Aufruhrs, der in der Stadt geschehen war, und wegen Mordes ins Gefängnis geworfen worden. 39

[7] Nur Lukas und Johannes sagen ausdrücklich, dass Pilatus gewillt war, Jesus „freizulassen“ (Lk  23,20; vgl. Joh  19,12)392 . [8] Lukas und Johannes lassen die Menge ein doppeltes „Kreuzige, kreuzige [ihn]!“ rufen (Lk  23,21; Joh  19,6)393, Markus und Matthäus begnügen sich mit einfachem „Er soll gekreuzigt werden!“ (Mk  15,13.14; vgl. Mt  27,22 f.: σταυρωθήτω). [9] Am Ende fällt bei Markus und Matthäus Pilatus kein Urteil, wohingegen Lukas und Johannes einen förmlichen Verfahrensabschluss wenigstens andeuten: Lukas erklärt, Pilatus habe „entschieden, dass ihrer Forderung entsprochen werde (ἐπέκρινεν γενέσθαι τὸ αἴτημα αὐτῶν) (Lk  23,24)394, Johannes, er habe sich „auf den Richterstuhl gesetzt“ (Joh  19,13). [10] Bei der Übergabe Jesu ans Kreuz erwähnen weder Lukas noch Johannes die „Geißelung“ (anders Mk  15,15; Mt  27,26: φραγελλώσας), sagen im Unterschied zu den beiden anderen Evangelisten aber explizit, wem Jesus ausgeliefert wird: „ihrem Willen“ (Lk  23,25) bzw.

390  Lk  23,14.22 stehen im Unterschied zur ersten Unschuldserklärung 23,4 im Aorist: „Ich fand (εὗρον) keine Schuld [V.14: als ich ihn verhörte] …“, beziehen sich also auf den Beginn des Prozesses zurück. Beide Evangelisten verwenden im Kontext der zweiten Unschuldserklärung jeweils ein verstärkendes ἰδού bzw. ἴδε (vgl. Lk  23,14 [15]; Joh  19,4). 391  Beim „Volk“ variiert Lk die Terminologie: τὸ ἔθνος (23,2), ὄχλοι (23,4), λαός (23,13 f.). Zur Rede von „den Juden“ beim vierten Evangelisten siehe unten eingangs von 9.5. 392  Lk  23,20: θέλων ἀπολῦσαι τὸν Ἰησοῦν; Joh  19,12: ἐζήτει ἀπολῦσαι αὐτόν. 393  Bei Joh ohne Objekt und im Aorist, bei Lk mit Objekt und im Präsens. 394  Damit versucht Lk wohl den Eindruck zu zerstreuen, Pilatus sei seinem Gegenüber willfährig gewesen (Mk  15,15).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

„ihnen“ (Joh  19,16a). Markus und Matthäus nennen den erwartbaren Dativ zu παρέδωκεν (vgl. Mk  14,10; 15,1) nicht, weil vom nachfolgenden Satz mit den Soldaten als Subjekt (Mk  15,16 par. Mt  27,27) klar ist, wem Jesus von Pilatus zur Kreuzigung übergeben wird.

Die aufgeführten Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes betreffen nicht ihr jeweiliges Sondergut wie etwa die Episode der Vorführung Jesu vor Herodes Antipas (Lk  23,6–12), sondern den beiden gemeinsamen Markus-Stoff. Wie bei den vorherigen Abschnitten folgt daraus: Johannes bedient sich nicht direkt des dritten Evangeliums, vielmehr fußen beide auf gemeinsamer Passionsüberlieferung (= PElk/joh)395. Welche der aufgeführten Übereinstimmungen auf PElk/joh zurück­ zuführen sind396 , bedarf gesonderter Untersuchung. Der vierte Evangelist hat die ­beiden gemeinsame Überlieferung wahrscheinlich in nochmals weiterentwickelter Gestalt (PEjoh) kennengelernt. 9.2 Von der Durchsetzung des Todesurteils durch die hohen Priester. Die Darstellung des Markus (Mk  15,1–20c) Bereits der Text des ältesten Evangelisten birgt Probleme. Auch seine Übersetzung ist strittig: 1



A Und sogleich in der Frühe397 fassten die hohen Priester mit (μετά) den Ältesten und Schriftgelehrten, also (καί)398 das ganze Synedrion/die ganze Versammlung (ὅλον τὸ συνέδριον)399, einen Beschluss (συμβούλιον ποιήσαντες400), b fesselten Jesus (δήσαντες), a

395  Sabbe, Trial 467–513, informiert über eine Reihe von quellenkritischen Analysen der joh. Prozesserzählung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, um sie unter Voraussetzung seiner eigenen Quellenhypothese (Abhängigkeit des Joh von den Synoptikern) einer kritischen Evaluation zu unterziehen. 396  Zufälliges Zusammentreffen lässt sich nicht ausschließen. 397  Eine große Anzahl von Textzeugen (einschließlich des Mehrheitstextes) lesen: ἐπὶ τὸ πρωΐ = zur Frühe hin. Sie glätten den schwierigen Text (siehe die nächste Anm.). 398  Goodblatt, Principle 121: καί = „explanatory, meaning ‚that is‘“. 399 Nach dem Kontext ist „die Versammlung“ der vorweg genannten Gruppen (vgl. auch Mk  15,53.55) gemeint; Goodblatt, ebd. 123: „the whole assembly“: Unter dem Eindruck der späteren rabbinischen Terminologie (Sanhedrin) wird συνέδριον zu Unrecht zumeist als Terminus einer festen Institution verstanden, vgl. unten III.  1.5.3. 400 Statt συμβούλιον ποιήσαντες (A B K N W etc. – D Θ it Or etc.: ἐποίησαν) lesen ‫ א‬C L 892 etc. συμβούλιον ἑτοιμάσαντες = nachdem sie einen Beschluss gefasst hatten, was gegenüber der lectio difficilior συμβούλιον ποιέω (Metzger, Commentary 117: „ambiguous, meaning either ‚to convene a council‘ or ‚to take counsel; to make a plan‘) sekundär sein dürfte; A.Y. Collins, Mk 711, zieht deshalb συμβούλιον ποιήσαντες vor, übersetzt die Wendung aber mit: „the chief priests held a consultation […]“ (ebenso Myllykoski, Tage I 94); auch Lührmann, Mk 254, präferiert συμβούλιον ποιήσαντες, allerdings mit anderer Wiedergabe: „nachdem sie den Beschluss gefasst hatten“ (ebd. 253; ebenso Gnilka, Mk II 296). Ausschlaggebend für die Übersetzung ist der Kontext (siehe unten). Sherwin-White, Society 44: συμβούλιον ποιέω „certainly cannot mean ‚held a council meeting‘, but must bear the same meaning of ‚taking a decision‘ or ‚forming a plot‘ that the phrase has elsewhere (vgl. Mk  3,6)“ (gegen Lietzmann). Wie in 3,6 liegt bei Varianz der Verben ein Latinismus vor: consilium capere: J. Gnilka, Mk I 126 mit Anm.  9; ders., Mk II Anm.  15. Zum Zusammenhang der Lesarten in 3,6 und 15,1 ausführlich Myllykoski, Tage I 94–96.

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c d

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und führten (ihn) ab (ἀπήνεγκαν)401 und übergaben (ihn) (παρέδωκαν) Pilatus.

Und Pilatus fragte ihn: 2 a B1 b   Bist du der König der Juden? c Er aber antwortete d und spricht: e   Du sagst es. 3 a Und die hohen Priester brachten viele Anklagen gegen ihn vor (κατηγόρουν … πολλά). 4 a Pilatus aber fragte ihn wiederum: b   Antwortest Du gar nichts? c  Siehe, d  wie viele Anklagen sie gegen dich vorbringen (πόσα σου κατηγοροῦσιν)! 5 a Jesus aber antwortete gar nichts, b so dass sich Pilatus wunderte. 6 a B2  Zum Fest (κατὰ δὲ ἑορτήν) pflegte er ihnen einen Gefangenen freizulassen (ἀπέλυεν)402 , b den sie sich erbaten (παρῃτοῦντο). 7 a Es war aber der Barabbas Genannte (ὁ λεγόμενος Βαραββᾶς)403 mit den Aufständischen (μετὰ τῶν στασιαστῶν) gefangen (δεδεμένος)404, b die bei dem Aufstand (ἐν τῇ στάσει)405 einen Mord begangen hatten (φόνον πεποιήκεισαν). 8 a Und die Volksmenge (ὁ ὄχλος)406 stieg hinauf (ἀναβάς)407 b und begann zu bitten (αἰτεῖσθαι), c (er möge tun,) wie er es ihnen zu tun pflegte (καθὼς ἐποίει αὐτοῖς). 401  So J. Gnilka, Mk II 296, der die beiden Aoristpartizipien den verba finita zuordnet; Mk „greift den in 14,65 fallengelassenen Faden wieder auf. Er stellt sich vor, dass sich die Sitzung bis in den Morgen erstreckte“ (298 f.). Lührmann, Mk 253, übersetzt das erste Partizip vorzeitig: „Und sogleich in der Frühe, nachdem die Hohenpriester […] den Beschluss gefasst hatten, fesselten sie Jesus und führten ihn ab und übergaben ihn Pilatus“. 402  Iterativer oder durativer Impf.; auch Impf. de conatu ist möglich: „Am Fest war er bemüht, ihnen einen Gefangenen freizugeben“ (J. Gnilka, Mk II 301): vgl. unten II.  9.9; Kodex D liest: κατὰ δὲ τὴν ἑορτήν: zu dem Fest: Ist gemeint: zum diesjährigen Paschafest? 403  Oder: „der sogenannte Barabbas“; A.Y. Collins, Mk 711 (ohne Berücksichtigung des Artikels): „a man called Barabbas“; gegen die Übersetzung von Pesch, Mk II 463, „ὁ λεγόμενος = der [von der Volksmenge, siehe V.8 f.] Nominierte“ (ebenso Légasse, Procès II 74: „le nommé Barabbas“), spricht nicht nur, dass von der Bitte des Menge um Amnestie erst anschließend in V.8 die Rede ist, sondern auch, dass Barabbas nicht ihr Kandidat sein kann (siehe unten Punkt [3]). 404  ἦν δέ + δεδεμένος: constructio periphrastica. 405  Die Artikel vor στασιαστῶν und στάσει überraschen: Der Vorfall wird wie eine dem Leser bekannte Größe behandelt, obwohl von ihm bislang nicht die Rede gewesen ist; vgl. Donahue/ Harrington, Mark 433. 406  Nicht irgendeine „Menge“, sondern „die (aus dem weiteren Kontext bekannte) Volksmenge (Jerusalems)“. 407  Interessant ist die von vielen Textzeugen gebotene, aber (gegen Colin, Villes 14) sekundäre Variante ἀναβοήσας, die unter Verwendung eines terminus technicus auf die antike Praxis der Akklamation (= ἐπιβόησις) Bezug nimmt. – ἀναβάς stimmt mit der archäologischen Annahme überein, dass der Statthalter im hochgelegenen Herodespalast in der Nähe des (heutigen) Jaffators residierte. Siehe oben I.  1.7.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

9 10 11 12 13 14

a [1] Pilatus aber ergriff das Wort b und sprach zu ihnen: c   Wollt ihr (θέλετε), d   dass ich euch den König der Juden freilasse? a    Er hatte nämlich erkannt, b    dass ihn die hohen Priester aus Neid ausgeliefert hatten. a Die hohen Priester aber wiegelten die Volksmenge auf (ἀνέσεισαν), b dass er ihnen lieber den Barabbas freilasse. a [2] Pilatus aber ergriff abermals (πάλιν) das Wort b und sprach zu ihnen: c   Was also [– wollt ihr (θέλετε) –] soll ich tun mit dem d   [den ihr nennt (ὃν λέγετε) den] König der Juden?408 a Sie aber schrien wieder (πάλιν): b   Kreuzige ihn! a [3] Pilatus aber sprach zu ihnen: b   Was hat er denn Böses getan? d Sie aber schrien umso mehr: e   Kreuzige ihn!

15

a Pilatus aber, der sich der Menge gefällig erweisen wollte (βουλόμενος … τὸ ἱκανὸν ποιῆσαι) 409, b ließ ihnen den Barabbas frei, c und lieferte Jesus aus (παρέδωκεν)410 , d ließ ihn geißeln (φραγελλώσας), e dass er gekreuzigt würde.

16

a

C. Die Soldaten aber führten ihn ab in das Innere der Residenz (ἔσω τῆς αὐλῆς)411 b – das ist das Prätorium (ὅ ἐστιν πραιτώριον) – c und rufen die ganze Kohorte zusammen. 17 a Und sie ziehen ihm ein Purpurgewand an b und setzen ihm einen Akanthuskranz auf, c den sie geflochten hatten, 18 a und begannen, ihn zu grüßen: b   Sei gegrüßt, c   König der Juden! 19 a Und sie schlugen seinen Kopf mit einem Rohr b und bespuckten ihn, c und indem sie die Knie beugten, d huldigten sie ihm. 408  Textkritisch ist diese umständlich anmutende Formulierung umstritten, dürfte aber als die schwierigere Lesart ursprünglich sein (Lührmann, Mk 256): θέλετε wird immerhin von Handschriften wie ‫ א‬B C W etc. und ὃν λέγετε von A D W Θ ausgelassen. 409 Wohl ein Latinismus: satisfacere alicui = jmdm. genugtun o. jmdm. den Gefallen tun (W.  Bauer, Wörterbuch 760; BDR  §  5,4). Pesch, Mk II 466, versteht die Wendung als Rechts­ terminus (vgl. Georgi, Handwörterbuch II 4273): Pilatus „gibt der Amnestieforderung für ­Barabbas statt“ (vgl. auch Dormeyer, Passion 184 f.). 410  Die Parallelen 14,10 und 15,1 (παραδίδωμι jeweils mit Dativ) legen es nahe, auch hier ein indirektes Objekt zu ergänzen, V.16a zufolge ταῖς στρατιώταις. – V.15e gehört syntaktisch zu 15c, 15d hat parenthetischen Charakter. 411  Oder: „in den Hof hinein“, philologisch ist beides möglich (siehe oben I.  1.7 unter [d]).

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a b c

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Und als sie ihren Mutwillen mit ihm getrieben hatten, zogen sie ihm das Purpurgewand aus und zogen ihm seine Kleider an.

Mk  15,7 bedarf einer ausführlichen Anmerkung. Abgesehen von Varianten zu στασιαστῶν (siehe Nestle-Aland, 28. Aufl.) ist der Vers textlich unstrittig. Dennoch birgt er Probleme. Obwohl Barabbas hier zum ersten (und letzten) Mal im Evangelium auftaucht, wird er nicht, wie bei der Figurenbehandlung durch Markus sonst üblich, artikellos eingeführt, sondern mit dem definiten Partizip ὁ λεγόμενος412 . Theißen zufolge wird damit auf eine der Leserschaft bekannte Person verwiesen: „Jeder weiß, wer der ‚sogenannte Barabbas‘ ist“. „Liegt hier nicht ein Vertrautheitsindiz vor, das eine große Nähe zu den Ereignissen verrät?“413.

In einem anderen Licht zeigt sich der Textbefund, wenn Mt  27,16 f. in der wahrscheinlich ältesten Textform mitberücksichtigt wird: „Sie hatten aber damals einen berüchtigten Gefangenen, der Jesus Barabbas hieß (λεγόμενον Ἰησοῦν Βαραββᾶν)“ (V.16)414. Beide Gefangenen tragen bei Matthäus denselben Namen, aber mit unterschiedlichem „Beinamen“: der eine „Jesus Barabbas“ und der andere „Jesus, der Messias heißt (Ἰησοῦν τὸν λεγόμενον χριστόν)“ (V.17). „Verwendet Mt hier eine eigene alte Tradition?“ Kennt er den Namen „aus mündlicher Tradition“?415 Oder hat er ihn etwa in seiner Markusvorlage gelesen, die mit der uns vorliegenden Fassung nicht identisch sein muss416? Dann hätte auch das Markusevangelium in seiner ältesten Version die Textfassung geboten, die schon Erich Klostermann vor Jahrzehnten als Konjektur erwogen hat, um die seltsame Rede von Mk  15,7 zu heilen: ἦν δὲ Ἰησοῦς ὁ λεγόμενος βαραββᾶς417. Zugunsten dieser Annahme spricht neben der narrativ ungewöhnlichen Einführung des Barabbas im vorliegenden Markus-­ Text, dass Barabbas = Sohn des Abbas Beiname ist, der zu seinem eigentlichen Namen hinzutritt – so wie Barjona (= Sohn des Johannes) zu Simon (Mt  16,17; vgl. Joh  1,42). Warum die uns bekannte Fassung des Evangeliums wie auch Lukas und Johannes den Namen ohne Ἰησοῦς bieten (wie auch ein Großteil der Handschriften zu Mt  27,16 f.), ist mit Origenes ohne weiteres zu beantworten: „In vielen Abschriften ist nicht enthalten, dass Barabbas auch ‚Jesus’ genannt wurde, und das ist wohl 412 A.Y. Collins, Mk 717; ebd.: „The participial form λεγόμενος (‚called‘) is not used any­where else in Mark“. Bei der Ersterwähnung des Johannes heißt es: ἐγένετο Ἰωάννης ὁ βαπτίζων … (Mk  1,4), an der zweiten Stelle: καὶ ἦν ὁ Ἰωάννης ἐνδεδυμένος … (Mk  1,6); ebenso Mk  1,9: ἦλθεν Ἰησοῦς, Mk  1,14: ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς. Neue Personen werden stets unbestimmt eingeführt, vgl. etwa Mk  5,22: καὶ ἔρχεται εἷς τῶν ἀρχισυναγώγων, ὀνόματι Ἰαϊρος …; danach mit dem Artikel: 5,35.36.38. – J. Gnilka, Mk II 301: „Die Umschreibung ὁ λεγόμενος könnte mit der Etymologie des Namens (= Sohn des Vaters) in Verbindung stehen und andeuten wollen, dass diese Bezeichnung eigentlich nur Jesus zusteht. Er ist der wirkliche ‚Sohn des Vaters‘.“ 413  Theißen, Lokalkolorit 194, unter Verweis auf Mt  27,16 („damals ein berüchtigter Gefangener“): „Was Mt explizit aus narrativer Distanz heraus darstellt, setzt Mk naiv voraus: die Bekanntheit des Barabbas“. Theißen neigt wegen der „großen Nähe“ des Textes „zu den Ereignissen“ zur Annahme seiner Historizität (siehe ebd. Anm.  37 f.). 414  Zur textkritischen Frage siehe unten 9.3 unter (2). 415  Luz, Mt IV 267 mit Anm.  9. 416  Dass die von Mt benutzte Fassung des Mk nicht mit der uns heute bekannten identisch sein muss, zeigen ja auch die minor agreements in dem mit Lukas gemeinsamen Markus-Stoff. 417  Klostermann, Mt 220.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

richtig, damit nicht der Name Jesu zusammenkommt mit einem der Sünder“418 . Ursprünglich könnte Vers 7 also gelautet haben: a Es war aber (ein) Jesus (Ἰησοῦς), der Barabbas hieß (ὁ λεγόμενος Βαραββᾶς), gefangen mit den Aufständischen, b die bei dem Aufstand einen Mord begangen hatten.

7

Die Szene gliedert sich in die Übergangsnotiz A, die beiden Episoden des Hauptteils B und die Schlussepisode C: A. Übergang (transitio) Rückblick und Exposition (V.1) B1. Erste Episode

Anklage und Verhör Jesu (V.2–5)   1. Frage des Pilatus samt nachgetragener Anklage (V.2 f.)   2. Frage des Pilatus: Schweigen Jesu (V.4 f.)

B2. Zweite Episode

Jesus oder Barabbas? (V.6–14) Exposition:   Paschaamnestie (V.6);   Einführung der Person des Barabbas (V.7);   die Volksmenge tritt auf, um ihr Recht wahrzunehmen (V.8) Hauptteil:   1. Frage des Pilatus (V.9)   Erzählerkommentar (V.10)   Reaktion der Volksmenge, vom Erzähler angedeutet (V.11)   2. Frage des Pilatus   Reaktion der Volksmenge: „Kreuzige ihn!“ (V.12 f.)   3. Frage des Pilatus („Was hat er den Böses getan?“)   Reaktion der Volksmenge: „Kreuzige ihn!“ (V.14) Schluss: Amnestierung des Barabbas und Auslieferung Jesu (V.15)

C. Schlussepisode

Verspottung Jesu (V.16–20c)

Die hohen Priester sind die Hauptakteure: Sie lösen das Verfahren gegen Jesus aus, treiben es voran und führen es zur Entscheidung, indem sie eine anwesende „Menge“ für ihre Absicht instrumentalisieren (15,1.3.10 f.)419. Am Ende ist Pilatus ihnen willfährig. Leitmotiv der Szene ist die Rede vom „König der Juden“. Nur Nicht-Juden ­führen sie im Munde: Pilatus und die römischen Soldaten in der Schlussepisode (15,2.9.12.18). (1) Die Übergangsnotiz V.1 hat keine zweite Sitzung des Gremiums am frühen Morgen im Blick420 , sondern knüpft an die nächtlichen Vorgänge an: V.1a erinnert 418 

Comm. in Mt  27,16–18 (GCS 38,255). In V.1 stehen sie wie in 14,55 vorweg; in V.3.10 f. agieren sie allein. 420 G. Schneider, Szene 27 f.; Brown, Death II 629–632; anders u. a. Légasse, Procès I 78, Myllykoski, Tage I 96–99, zuletzt A.Y. Collins, Mk 711, die dem Modell Lietzmanns (siehe Hinführung unter 2.2) folgt, wenn sie die Synedrion-Szene 14,55–64 zur mkn. Einfügung in ei419 

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entweder (in vorzeitiger Übersetzung) an den in 14,64 gefällten „Beschluss“421 oder meint den Auslieferungsbeschluss des Gremiums, der am Ende der Sitzung in der Frühe fällt422 . Der Fortgang des Verses in b-d spricht für die zweite Deutung423. Es geht den Autoritäten um die „Durchsetzung des Todesurteils“424 , das sie in der Nacht gefällt haben, weshalb sie Jesus „fesseln“ und Pilatus „ausliefern“. Wenn das Verfahren vor dem Präfekten nicht mit einem förmlichen Urteilsspruch enden wird, ist das nur konsequent. V.1 ist in der Schrift vorgezeichnet: „Wehe ihrer Seele, denn sie haben einen bösen Ratschluss gegen sich selbst gefasst (βεβούλευνται βουλὴν πονηρὰν καθ’ ἑαυτῶν), als sie sagten: ‚Lasst uns den Gerechten fesseln (δήσωμεν τὸν δίκαιον), denn er ist uns lästig‘“ (Jes  3,9 f.LXX). In Ps  27,12 fleht der Beter: „Gib mich nicht meinen gierigen Gegnern preis (LXX: παραδῷς); denn falsche Zeugen standen gegen mich auf und wüten“425.

(2) Die holzschnittartige Verhörszene 15,2–5 gehorcht der Gattung „Der Herrscher und der Weise im Gespräch“426 . Deshalb steht die Jesus gestellte Frage nach seiner Identität427 auch voran428 . „Über das von den modernen Auslegern verhandelte Problem, woher Pilatus um die ‚richtige‘ Frage weiß, reflektiert Mk hier nicht; für den Leser seiner Passionsdarstellung stellt sich diese Frage ohnehin nicht: natürlich vom Hohepriester“429. Die beiden Identitätsfragen gleichen sich: 14,61 (σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ εὐλογητοῦ;) entspricht 15,2 (σὺ εἶ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων;). Beachtlich sind die Artikel: Geht es in der nen Zusammenhang erklärt, der ursprünglich nur in 15,1 von einer Synedrion-Sitzung gesprochen habe. Die Idee einer (zweiten) morgendlichen Sitzung ist aus Lk eingetragen, der umgekehrt Mk  15,1 zum Anlass seiner Darstellung in 22,66–23,1 genommen hat. 421  Lührmann, Mk 254: Mit συμβούλιον ist „das in 14,64 ausgesprochene Todesurteil“ gemeint; Reinbold, Bericht 148 Anm.  188. Zu erwarten wäre dann allerdings der Artikel: „den (τὸ) [oben, in 14,64, gennannten] Beschluss“. 422  Siehe oben Anm. 401 die alternativen Wiedergaben von V.1 durch Gnilka und Lührmann. Blinzler, Prozess 211 Anm.  82, zieht zwar die Lesart συμβούλιον ἑτοιμάσαντες vor (so auch L. Schenke, Christus 51), meint aber, auch für den Fall, dass συμβούλιον ποιήσαντες ursprünglich sein sollte, wäre „nicht an eine neu einberufene Versammlung zu denken, sondern an das Ende der einen Nachtsitzung, bei dem man sich über das vor Pilatus einzuschlagende Verfahren schlüssig geworden ist“. 423  Gnilka, Mk II 299: „Dieser Beschluss kann sich nur auf die Auslieferung Jesu an Pilatus beziehen“. 424  So überschreibt Lührmann, Mk 254, den Abschnitt 15,1–20 treffend. 425  Von der „Auslieferung“ (παραδίδωμι) des Gerechten auch Ps  73,19LXX ; 118,21LXX ; Jes  53,6.12. 426  Siehe den entsprechenden Abschnitt in I.  1.5.3. 427  Ihr geht es nicht um Identität im vordergründigen Sinn (Name, Herkunft etc.), wie bei einem gewöhnlichen Verhör, sondern um das Selbstverständnis des Gesprächsgegenübers. 428 Die Geschehenslogik hätte es nahegelegt, die Anklage der hohen Priester vorzuziehen (15,3), die Verhörfrage des Pilatus folgen zu lassen (wie bei Lukas zu lesen). Doch bestimmt nicht die Geschehenslogik den Text, sondern die Gattung „Herrscher und Weiser“, der es zuvörderst um das Selbstverständnis des Befragten geht. 429  Reinbold, Bericht 160 Anm.  230. Die Voranstellung der Frage ist völlig korrekt. „Denn anders als beim Synhedriumsprozess hat das Bekenntnis Jesu hier eben keine Wirkung auf den Richter, weshalb das Verhör weitergehen kann und sogar muss, bis Klarheit geschaffen ist“. Anders Schleritt, Passionsbericht 398 f.

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Frage des Hohepriesters um „den Messias“ und „den Gottessohn“, wie die christliche Gemeinde ihn bekennt, so fragt Pilatus analog nach „dem (ὁ) König der Juden“, mit dem die Gemeinde Jesus identifiziert430 . 14,61 ist mit der Vermeidung des Gottesnamens auf die ­jüdische Perspektive des Hohepriesters abgestimmt, die Rede vom „König der Juden“ in 15,2 auf die pagane des Pilatus.

Das viel diskutierte Problem, ob σὺ λέγεις = „du sagst es“ ein verklausuliertes „Nein“ signalisiert, ein geschicktes Ausweichmanöver darstellt431 oder als Zustimmung zu deuten ist432 , muss von der vorausgehenden Identitätsfrage her im Sinne einer grundsätzlichen Zustimmung gelöst werden. Im Unterschied zu 14,62 aber, wo Jesus sich die Frage des Hohepriesters mit ἐγώ εἰμι ungebrochen zu eigen macht, deutet σὺ λέγεις einen Vorbehalt an433: Entweder bezieht sich dieser auf die römisch-pagane Formulierung der Frage als dem jüdischen Bekenntnis zu Jesus als „gesalbtem König (χριστός)“ nicht gemäß – dann drückte σὺ λέγεις inhaltliche Zustimmung unter Ablehnung der Form aus434. Oder es schwingt unter der Oberfläche der Zustimmung zum Königtum Jesu noch das römisch-politische Verständnis mit: „Du sagst es! Ich bin König, aber König im religiösen Sinn“, wie ihn die Schrift, vor allem der Psalter, sieht435. Wenn Pilatus in der Antwort Jesu „keinen strafwürdigen Tatbestand“ erkennt, „obwohl verschiedene Überlieferungen darauf hinweisen, dass es jüdische Führer mit einem solchen Anspruch gegeben hat, die von den Römern blutig verfolgt worden sind“436 , bestätigt sich die Annahme eines grundsätzlich religiösen Verständnisses des Königs-Titels als Vorzeichen für Frage und Antwort437. Die Szene ist theologisches Konstrukt, kein historischer Bericht438 . 430  Reinbold, Bericht 162: „Die Begriffe χριστός und ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων sind im Kontext bedeutungsgleich“. 431  Haacker, Tode 34 Anm.  49, möchte „die Frage des Pilatus als Fangfrage“ verstehen: Dieser „stellt die zu Beginn eines Verhörs übliche Frage zur Person in einer Formulierung, die eine Schuldfeststellung impliziert; Jesu Antwort [„Du sagst es“] aber zeigt, dass er sich auch in dieser Situation (wie im Falle der Steuerfrage) nicht für dumm verkaufen lässt“; auch A.Y. Collins, Mk 713, behauptet „similarity to his response to the question about paying the taxes to Caesar. His answer there is equally evasive“. 432  Reinbold, Bericht 162 Anm.  239: „Man hat die Wendung in allen nur erdenklichen Variationen übersetzt: ‚Ja‘, ‚Nein‘, ‚Du sagst es‘, ‚Du sagst es‘, etc.“, mit Verweis auf Blinzler, Prozess 280 Anm.  10; Gnilka, Verhandlungen 10 Anm.  16; Pesch, Mk II 457 f. 433  So weithin die altkirchliche Deutung: Irmscher, Σὺ λέγεις 156 f. 434  Reinbold, Bericht 162; ders., Prozess 86: „im Deutschen vielleicht am besten mit ‚Wenn Sie so wollen‘ wieder(zu)geben“. „Es ist ein ‚Ja‘ mit dem Zusatz: ‚(wenn ich es auch so nicht formulieren würde)‘“. 435  Schleritt, Passionsbericht 571: Jesus ist zwar „als der Christus natürlich ‚der König der Juden‘ oder – so der korrekte Titel der jüdischen Königsmessianologie – ‚der König Israels‘ (vgl. Mk  15,32; Joh  12,13). Aber als dieser König ist er eben weder das, was er gemäß der herkömm­ lichen Erwartung eigentlich sein müsste, noch das, was Pilatus sich darunter vorstellt“. 436  Lührmann, Mk 255. 437  Bammel, Trial 434 f.: „The βασιλεύς-theme is not given a new, a political interpretation. If it had been, an investigation into the activities of the disciples would have been unavoidable“ Gnilka, Mk II 300: „Für Markus und den christlichen Glauben ist Jesus der König der Juden, aber in einem religiösen Sinn“. 438  So aber die Autoren, die den Königstitel in der Frage des Pilatus exklusiv politisch verstehen (Paulus, Prozess 27 mit Anm.  114). – Wenn Gnilka, Mk  II 299 erklärt: Aus der Sicht des Pilatus

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Die Gattung „Der Herrscher und der Weise im Gespräch“ bestimmt auch die Reaktion des Pilatus auf Jesu Schweigen, als er ihn auffordert, sich zu den „vielen“ Anklagen der hohen Priester zu äußern: Er „wundert sich“, was die Würde und Hoheit seines Widerparts widerspiegelt439. Der Weise ist über die ungestümen Anklagen seiner Gegner erhaben; er verzichtet auf seine Verteidigung und schweigt. Damit öffnet sich die Verhörszene, die weder mit einer Verurteilung noch einem Freispruch endet, literarisch gezielt zur nachfolgenden Barabbas-Episode440 . (3) Die Exposition der zweiten Episode, V.6–8, enthält drei Elemente: die Beschreibung der Paschaamnestie und die Einführung von zwei neuen Erzählfiguren: des Barabbas und des Volkes. V.7 dürfte ursprünglich gelautet haben: „Es war aber Jesus mit dem Beinamen Barabbas (ἦν δὲ Ἰησοῦς ὁ λεγόμενος Βαραββᾶς441) mit den Aufständischen gefangen, die bei dem Aufstand einen Mord begangen hatten“. Es heißt zwar nicht (wie in Lk  23,19), Barabbas hätte selbst gemordet, sondern nur, dass er „mit den Aufrührern“, die einen Mord begangen haben, gefasst worden sei442 . Aber wahrscheinlich war er einer von ihnen443. Die bestimmten Artikel klingen, als sei der Leserschaft der Vorgang bekannt444. Es ist gut möglich, dass die Entstehungssituation des Evangeliums mit ihrer zeitlichen Nähe zum jüdischen „Aufstand“ gegen Rom auf die Formulierung abgefärbt hat445. Im Kontext dient V.7 dazu, die Botschaft der trägt die von ihm aufgegriffene jüdische Messiaserwartung „primär politischen Charakter“, dann mag das auf die Erzählfigur zutreffen. Aber seine Erwartung, dass angesichts „der Ambivalenz des Titels“ und der Annahme, dass Jesu Antwort „offen“ bleibe, „im weiteren Verlauf geklärt werden (müsse), in welchem Sinn er König der Juden ist“ (ebd. 300), wird vom Text nicht erfüllt; dieser berichtet nicht, sondern steht unter der Prämisse eines religiösen Verständnisses des Titels, auch wenn das politische durchschimmert. 439  Vgl. oben S. 165 Anm. 604. 440 L. Schenke, Christus 47. 441  Siehe oben die Anm. zum Markus-Text in II.  9.2. 442  Pesch, Mk II 462 f., entnimmt der „eigentümliche(n) Formulierung“ – „mit den Aufständischen“ –, dass er „unschuldig miteingekerkert worden sein könnte (und vielleicht deshalb der Amnestiekandidat der Menge sein mochte)“. Er stützt diese Deutung mit seiner Übersetzung des Partizips ὁ λεγόμενος = „der Nominierte“, die sich aber nicht halten lässt (siehe oben die Anm. zum Text in II.  9.2). 443  Hengel, Zeloten 340: „mit (anderen) Aufständischen“. Barabbas gehörte „der jüdischen Freiheitsbewegung“ an, „die beim Volk gewisse Sympathien besaß“. 444  Anders A.Y. Collins, Mark 718 (im Anschluss an Klostermann, Mk 159 f.): „vivid storytelling technique“. 445  Lührmann, Mk 256: „Die generelle Formulierung weist auf die Zeit des Mk; für ihn gibt es schon immer ‚den Aufstand‘ und ‚die Aufständischen‘ des Jüdischen Krieges. Die historisch nachweisbaren Unterschiede zwischen den einzelnen Phasen des jüdischen Widerstands gegen Rom – und die Zeit Jesu war eine relativ ruhige Zeit – verschwimmen in dieser Perspektive. Erneut zeigt sich, wie der aktuelle Bezug auf den Jüdischen Krieg in die Passionsgeschichte hineingenommen ist“; ebenso Schleritt, Passionsbericht 406. Anders Brandon, Trial 40: „an insurrection (stasis) had taken place just before or during Jesus’ last days in Jerusalem“; Theißen, Lokalkolorit 195, bezieht V.7 auf die bekannten Konflikte des Pilatus mit der jüdischen bzw. samaritanischen Bevölkerung, die sich aber nicht einfach unter die Kategorie von „Aufständen“ subsumieren lassen, wie V.7 sie im Blick hat, nämlich Erhebungen gegen die römische Herrschaft im Kontext der Freiheitsbewegung (siehe unten III.  1.4). Lohmeyer, Mk 337: „Die Erzählung ist an den näheren

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Barabbas-Szene zu verstärken: Der des Aufruhrs zu Unrecht Beschuldigte muss ans Kreuz, ein Aufständischer wird freigelassen. V.8 führt mit der Volksmenge den neben Pilatus und den hohen Priestern dritten Handlungsträger in die Erzählung ein. Ὄχλος mit bestimmtem Artikel hat die aus dem weiteren Kontext schon bekannte Erzählfigur der Jerusalemer „Volksmenge“ im Blick (vgl. 11,12; 12,12), nicht aber, wie oft vermutet wird, die Anhängerschaft des Barabbas446 . V.11 wird das nachträglich bestätigen: Die hohen Priester müssten nicht die Menge dazu „aufwiegeln“, Barabbas zu fordern447, wenn es sich um seine Anhängerschaft handeln würde. (4) Der Hauptteil der kleinen Erzählung besteht aus den drei Fragen des Pilatus samt Reaktion des Volkes (V.9–14). Wenn Pilatus „die Volksmenge“ fragt, ob er ihr „den König der Juden“ freigeben soll (V.9), rechnet er damit, dass sein Angebot angenommen wird und er den harmlosen wie grundlos verklagten Jesus los wird, den gefährlichen Aufständischen aber nicht laufen lassen muss. Der Erzählerkommentar V.10448 begründet sein Vorgehen damit, dass er das Motiv der hohen Priester durchschaut habe (ἐγίνωσκεν): „Neid (φθόνος)“ auf Jesus449, in dem sie einen über­ legenen Konkurrenten um die Gunst des Volkes sehen. Sie befürchten, dass er mit seiner „Vollmacht“ (1,22; 11,28 f.33) ihre auf der Tora gründende Machtposition im Volk untergräbt450 . Dieses wird in seiner Sympathie für Jesus, so hofft Pilatus, auf sein Angebot positiv reagieren. Ein Blick in den weiteren Kontext der Passions­ erzählung bestätigt diese Deutung: Die Erzählung von Jesu Einzug in Jerusalem gipfelt in 11,8 f.: „Und viele breiteten auf dem Weg ihre Gewänder aus […] und riefen: Hosanna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn! Gepriesen sei die kommende Königsherrschaft (βασιλεία) unseres Vaters David“. Wie ein Echo darauf klingt, wenn Pilatus in 15,12 die „Volksmenge“ fragt: „Was also soll ich mit dem tun, den ihr den König der Juden nennt?“ Bei seinem Einzug in die Stadt haben die Umständen dieser Episode nicht interessiert“; Schürer, History I 385: „Just as little is known of ‚the rebels who had committed murder in the insurrection‘ (Mk  15:7) with whom Barabbas was thrown into prison, to be released at the the time of Jesus’ trial“. Phantasievoll ist der Vorschlag von Aus, Release 141–147, die „Freilassung“ des Barabbas sei nach dem „Vorbild“ der „Freilassung“ des verklagten Herodes durch Hyrkan (Jos, Bell  1,204–215; Ant  14,158–184: siehe unten III.  1.5.2 unter [1]) gestaltet. 446  Pesch, Mk II 463. 447 Ebd. 465, trägt seine Annahme, bei der Menge handle sich um die Anhängerschaft des ­Barabbas in seine Paraphrase von V.11b (ἵνα μᾶλλον τὸν Βαραββᾶν ἀπολύσῃ αὐτοῖς) ein: „Sie wiegeln die Menge auf […] und bestärken sie zu fordern (ἵνα), Pilatus solle ihnen nicht Jesus, sondern vielmehr (μᾶλλον) den Barabbas freigeben“. Danach hatte die Menge also schon die Absicht, ­Barabbas freizupressen, musste darin von den hohen Priestern nur „bestärkt“ werden. 448  Mit einem γάρ V.9 zugeordnet. 449  Lührmann, Mk 256: „Pilatus, der vorerst sachlich bleibende Richter, hat die Voreingenommenheit der jüdischen Richter […] als φθόνος durchschaut – einen schwereren Vorwurf kann man Richtern nicht machen, und das disqualifiziert für den Leser im Rückblick noch einmal das Verfahren des Synedrions in 14,55–65“. 450  Die Konkurrenz zwischen den „hohen Priestern“ und Jesus um die Gunst des Volkes hat eine Vorgeschichte; vgl. Mk  1,22 („wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten“), 2,7 („er lästert“) u. ö. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schriftgelehrten Mk zufolge aus Jerusalem kommen (vgl. 7,1), der Stadt, in der die „hohen Priester“ das Sagen haben.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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Menschen tatsächlich das Kommen der Königsherrschaft Davids mit der Person Jesu verbunden. Im Anschluss an die Tempelaktion heißt es: „Und es hörten davon die hohen Priester und die Schriftgelehrten und sie suchten, wie sie ihn vernichten könnten. Denn sie fürchteten ihn. Denn das ganze Volk (πᾶς … ὁ ὀχλος) war außer sich über seine Lehre“ (11,18; vgl. bereits 1,22). 12,12 bringt die Dreiecksbeziehung Jesus – Volk – hohe Priester ein weiteres Mal zum Ausdruck: „und sie (sc. die hohen Priester etc.) suchten ihn zu verhaften (κρατῆσαι), und sie fürchteten das Volk (τὸν ὄχλον), denn sie erkannten, dass er das Gleichnis [von den Weinbergspächtern] gegen sie gesprochen hatte“. Die Rede vom „Neid“ als Motiv ihres Handelns bringt diese Dreieckbeziehung auf den Punkt.

Nach der Logik des Textes unterschätzt Pilatus das Durchsetzungsvermögen der hohen Priester. Wenn sie das Volk „aufwiegeln“, Barabbas frei zu pressen, instrumentalisieren sie es für ihren Vernichtungsplan. Nicht das Volk trägt die Verantwortung für den Tod Jesu, sondern die hohen Priester. Sie haben die Kehrtwendung des Volkes zu verantworten: Stand dieses bisher auf Jesu Seite, so ruft es jetzt nach dessen Kreuzigung. Markus benutzt die Erzählfigur zur Schuldzuweisung an die hohen Priester und vermeidet es zugleich, dem Volk die Verantwortung aufzubürden. (5) Die Schlussnotiz V.15 stellt entsprechend zum Anfang der Episode V.6 („einen Gefangenen, den sie sich erbaten“) fest, dass Pilatus „dem Volk zu Gefallen“ Bar­ abbas freigibt451. Jesus „liefert er“ zur Kreuzigung „aus“, ohne ein Todesurteil zu sprechen. Die Logik der Erzählung erfordert das auch nicht, denn die hohen Priester haben das Urteil schon in ihrer nächtlichen Sitzung über Jesus gefällt. (6) Das die drei Episoden miteinander verknüpfende Leitmotiv der Erzähleinheit „König der Juden“ (V.2.9.12.18) wird in der letzten (V.16–20c) regelrecht in Szene gesetzt452: Die Soldaten statten den Gegeißelten im Prätorium vor der „ganzen Kohorte“453 mit Purpurmantel und Akanthuskranz, „Spottrequisiten zum Zweck der Verhöhnung des angeblichen Königs“454 , aus und huldigen ihm mit dem Ruf: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ Wenn sie sein Haupt mit dem Rohr schlagen455 und ihn 451 V.15b: ἀπέλυσεν αὐτοῖς entspricht V.6a: ἀπέλυεν αὐτοῖς. Der Abschnitt ist gerahmt (inclusio).

452  Ohne Zweifel liegt eine Karikatur oder Parodie des Königsmotivs vor; strittig ist, ob auf ein bestimmtes Ritual, eine Inthronisation bzw. Investitur (Pesch, Mk II 470–474; Dormeyer, Passion 189–191; Lau, Triumphator 334) oder eine königliche Audienz (Mutschler, Verspottung 63–116), angespielt wird. Für Letzteres bietet Philo, Flacc   36–40, eine Parallele (zwei weitere Beispiele bei Evans, Dead 146): Eine Volksmenge ergreift in Alexandria einen „Geisteskranken namens Carabas“, verkleidet ihn als König und ruft „Marin“ = Herr (Syrisch), womit König Agrippa verspottet werden soll (Mutschler, Verspottung 23–49). Bei Mk fehlt allerdings das zu einer Audienz gehörige Motiv „Vorbringen von Anliegen“ (Lau, Triumphator 87 f.). Lau versteht die Episode, Triumphzügen der Kaiserzeit entsprechend, als Auftakt der „jesuanische(n) Prozession“ (331) zum Kreuz (ebd. 317–368). 453  Lührmann, Mk 257: „für den ursprünglichen Leser bedeutete das: ca. 1000 Mann!“ A.Y. Collins, Mk 725: „The cohorts of the auxiliary troops varied in number from five hundred to one thousand men. In the first century CE, the smaller size was more common“; dies unterstreicht den parodistischen Charakter der Szene. 454  Mutschler, Verspottung 98; zu den Spottrequisiten ebd. 80–107; Lau, Triumphator 344– 347 (corona triumphalis); vgl. bereits Delbrueck, Antiquarisches 124–145. 455  Ebd. 105: „So wie die Schläge auf den Kopf und damit zugleich auf den königlichen ‚Kranz‘ als Hoheitssymbol zielen, könnten sie mit einem anderen Hoheitssymbol, nämlich dem vermeint-

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

anspucken, wird die Entehrung des Verhöhnten in schmerzlicher Weise anschaulich456 . Da es römische Soldaten sind, die Jesus als „König der Juden“ verspotten, ist das Ritual antijüdisch aufgeladen. Obwohl die Episode voraussetzt, dass Jesus als für schuldig befunden wurde, den Anspruch eines Königsprätendenten erhoben zu haben, vermittelt die Szene insgesamt ein anderes Bild: Ein Unschuldiger wird dem Tod „ausgeliefert“ – anstelle eines schuldigen Aufständischen.

Exkurs 7: Zur Parallelität von jüdischem und römischem Verfahren in der Markuspassion Die beiden Verfahren gegen Jesus sind in der Markuspassion, wie die folgende Übersicht zeigt, in auffälliger Weise parallel strukturiert: Verfahren vor dem Rat (14,53–72)

Verfahren vor Pilatus (15,1–20c)

Personen: Gremium: „das ganze Synedrion“; Richter (der Hohepriester [ohne Namens­ nennung]); Zeugen; Angeklagter

Personen: Richter (der Präfekt457); Ankläger (die hohen Priester); Angeklagter In einer zweiten Verhandlungsphase anwesend: „die Volksmenge“

Ablauf des Verhörs 1. Frage des Hohepriesters (als Reaktion auf die Zeugenaussagen): οὐκ ἀποκρίνῃ οὐδέν; τί οὗτοί σου καταμαρτυροῦσιν; Reaktion Jesu: Schweigen

Ablauf des Verhörs (parallel zur 2. Frage des Pilatus)

2. Frage des Hohepriesters (nach der Identität Jesu):

1. Frage des Pilatus (nach der Identität Jesu):

„Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“

„Bist du der König der Juden?“

Bejahende Antwort: ἐγώ εἰμι

Bejahende Antwort: σὺ λέγεις

(siehe zur 1. Frage des Hochpriesters)

2. Frage des Pilatus (im Anschluss an die gegen Jesus vorgebrachten Anklagen): οὐκ ἀποκρίνῃ οὐδέν; ἴδε πόσα σου κατηγοροῦσιν; Reaktion Jesu: Schweigen

lichen Szepter ausgeführt worden sein. Dann wäre das Szepter zwar nicht bei der Beschreibung der Kostümierung erwähnt, käme aber später bei der Misshandlung als Teil der Audienz-Parodie in den Blick“. 456  Ebd. 145: Liegt in 14,65 eine „Misshandlung mit Spottelement“ vor, so in 15,16–20a eine „‚Verspottung mit Misshandlungselementen‘. Der Akzent liegt im hohepriesterlichen Palast auf der physischen Malträtierung, im Prätorium des Pilatus auf der psychischen“. 457  Der Präfekt wird nicht mit seinem Titel (ἔπαρχος), sondern nur mit Namen genannt. Vgl. 4Makk 5,16–21: Eleazar redet „den Herrscher denkbar knapp und ohne jede Ehrbezeigung mit dem bloßen Namen an“ (Holtz, Herrscher 76).

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

Verfahren vor dem Rat (14,53–72)

Verfahren vor Pilatus (15,1–20c)

Formelles Todesurteil

Kein formelles Todesurteil Amnestie eines „Aufständischen“, verbunden mit der „Auslieferung“ Jesu

Kontrast: Jesus – Simon Petrus (Schachteltechnik)

Kontrast: Jesus – Barabbas (Schachteltechnik)

Entehrung Jesu durch einige Ratsmitglieder („Weissage uns!“) und Diener

Entehrung Jesu durch die Soldaten („König der Juden“)

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„In der Struktur wie in der Zahl der Wortbeiträge stimmen die beiden Gespräche zwischen Richter und Angeklagtem (14,60–62; 15,2–5) weitestgehend überein, mit der Einschränkung freilich, dass sie fast spiegelverkehrt aufgebaut sind“458: Im Synedrion-Prozess steht die Identitätsfrage an zweiter Stelle, im Pilatus-Prozess an erster. Dort geht die durch Jesu Schweigen quittierte Befragung voran, hier folgt sie. Die beiden Verhöre machen zwar den Eindruck von Prozess- oder Gerichtserzählungen, gehorchen aber der Teilgattung „Herrscher und Weiser im Gespräch“459. Die Titel, die im Mund der Fragesteller begegnen, „Gesalbter“, „Sohn Gottes“ und „König“, korrelieren. Der sie verbindende Schrifttext ist Psalm  2460 . Dass ihre religiöse Verwendung im Pilatus-Prozess politisch umgemünzt würde, gibt die Markuspassion nicht zu erkennen. Der terminologische Wechsel von „Gesalbter“ zu „König der Juden“ bedeutet keine semantische Verschiebung. Die Rede vom „König“ ist zwar geeignet, an den pagan-römischen Kontext ­anzuknüpfen, aber auch hier liefert der messianisch gelesene Psalm im Rahmen seiner „frühjüdischen Auslegungsmöglichkeiten“461 den maßgeblichen Verstehenshorizont. Das Jesus-­ Bekenntnis erhält seine spezifische Kontur durch den Kontrast von messianisch-königlicher Würde und Entehrung, die in den beiden Verspottungs-Episoden jeweils am Ende der Prozess-Einheiten zum Ausdruck kommt: Jesus ist „der Gesalbte“, „der Sohn Gottes“ und „der König“, aber als Erniedrigter und Entehrter. Darin stimmen beide Hälften der Erzählung überein. Ein weiterer Kontrast ist bemerkenswert: In der ersten Hälfte steht dem sich bekennenden Jesus der verleugnende Petrus gegenüber, in der zweiten „Jesus Barabbas“. Die Gegenfigur wirft Licht auf den Protagonisten462 . Aufgrund dieser Entsprechungen wurde immer wieder behauptet, dass die Verhandlung vor dem Hohepriester der Pilatus-Verhandlung, die älter, ja ursprünglich sein müsse, sekundär nachgebildet sei463, auch die Episode der Entehrung Jesu durch Ratsmitglieder derjenigen durch römische Soldaten464, oder alternativ zu dieser These, wenigstens einzelne Er-

458  Holtz, Herrscher 100 (Jesu Schweigen in die Zahl der Äußerungen eingerechnet). Auch Gnilka, Mk II 275, hält „die parallele Struktur von 14,50–62 und 15,2–4“ für „auffällig“ und sieht darin ein Indiz, „dass beide Berichte vom gleichen Erzähler stammen“. 459  Siehe oben I.  1.5.3 den entsprechenden Abschnitt. 460  Siehe oben Teil I unter 1.2.1.2. Zum βασιλεύς-Titel vgl. die Gottesrede Ps  2 ,6: „Ich habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligem Berg“. 461  Hartenstein, Psalm 2, 125. 462  Zum verwendeten rhetorischen Mittel der σύγκρισις vgl. oben S. 81 Anm.  150. 463  Braumann, Markus 278 (dort auch Angaben zu Vorgängern dieser These). 464 P. Winter, Trial 144–152; vgl. auch Grundmann, Mk 300; G. Schneider, Szene 30. Zurecht weist Mutschler, Verspottung 145, auf die unterschiedlichen Schwerpunkte der beiden Episoden (Misshandlung – Verspottung) hin, weshalb passender von Korrespondenz als Verdoppelung gesprochen werden sollte.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

zählzüge seien hinzugewachsen, um die Parallelität der beiden Szenen zu stärken465. Markus fällt nach den hier gebotenen Analysen hierfür definitiv aus. Auch die vorevangeliare Überlieferungsgeschichte der Passionserzählungen bietet keine Indizien für eine nachträgliche Verstärkung der Parallelität. Beide Szenen dürften schon in der Phase der Formierung der PEG unter Rückgriff auf die ihnen gemeinsame Teilgattung „Herrscher und Weiser im Gespräch“ gezielt miteinander parallelisiert worden sein466 .

9.3 „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Die Darstellung des Matthäus (Mt  27,1–26) Die Erzählfiguren, die das älteste Evangelium vorgibt, entwickelt Matthäus weiter und ergänzt sie mit der Frau des Pilatus um eine weitere Figur. Die Geschichte des Judas erzählt er bis zu dessen bitterem Ende. Für die Handlung entscheidend ist (wie bei Markus) das Dreieck: (1) „Hohe Priester und Älteste des Volks“, (2) Pilatus und (3) „das Volk“. Das mkn. Leitmotiv „König der Juden“ wandelt Matthäus ab (4). (1) Auf 27,1 f.467 folgt unmittelbar die Geschichte vom Ende des Judas (27,3–10). Als er „sieht“, dass Jesus „verurteilt“ wurde (κατεκρίθη)“468 , überkommt ihn Reue (V.3: μεταμεληθείς). Aber er kehrt nicht um, sondern verzweifelt. Das „Hauptaugenmerk“ des Einschubs richtet sich indes nicht auf ihn, sondern auf „die hohen Priester und Ältesten“. Sie „reagieren auf Judas‘ Schuldbekenntnis mit ostentativem Desinteresse, in dem sich ihr Desinteresse an einem gerechten Verfahren und ihr unbedingter Wille zur Tötung spiegeln. Jesu Unschuld ist für sie nicht neu“469. Die Figurenzeichnung der „hohen Priester und Ältesten“ im Fortgang der Erzählung gleicht in etwa Markus: Sie verklagen Jesus vor dem Statthalter (27,12) und „überreden“ die Volksmengen dazu, Barabbas zu fordern und Jesus zu „verderben“ (ἀπολέσωσιν) (27,20; vgl. 12,14). Statt: „sie wiegelten sie auf“ (Mk  15,11) heißt es: „sie überredeten die Volksmengen (ἔπεισαν τοὺς ὄχλους)“, worin sich die von Matthäus aufgewertete Rolle des „Volkes“ spiegelt, das am Ende die Verantwortung für sein Tun ausdrücklich übernimmt, also nicht lediglich Opfer der Agitation der „hohen Priester“ ist470 . 465  Eduard Norden etwa zufolge (bei G. Schneider, Szene 27) sei das Schweige-Motiv im Pilatus-Prozess beheimatet gewesen und von dort nachträglich in die Verhandlung vor dem Hohepriester hinübergewandert. 466  So auch L. Schenke, Christus 59 f.: „Der erste Erzähler der Passionsgeschichte hat beide Verhandlungsberichte bewusst nach dem gleichen Schema und damit ein eindrucksvolles Doppelbild geschaffen“. 467  V.1 nennt die Handlungsträger: „alle hohen Priester und die Ältesten des Volkes“ (der Genitiv τοῦ λαοῦ bei den „Ältesten“ nur hier); stereotyp dann noch in 27,3.6.12.20. 468  κατεκρίθη bezieht sich zurück auf V.1: „sie fassten einen Beschluss gegen Jesus, um ihn zu töten“ (vgl. 26,59), womit von vorneherein klar ist: Das Todesurteil über Jesus fällten die jüdischen Autoritäten, nicht Pilatus! 469  Konradt, Mt 428. 470  Anders Konradt, der ebd.434 ἔπεισαν im Sinne von „verführen“ deutet und erklärt: „Die Verführung des vor Pilatus versammelten Volkes wird zum Modell für jede Art von Verführung des Volkes durch die Jesus feindlich gesonnenen Autoritäten und damit zur Warnung, sich diesen in irgendeiner Form anzuvertrauen“.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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(2) Pilatus wird von Matthäus durchgängig mit ἡγεμών = Statthalter (27,2.11.15.21.27) betitelt, was seine amtliche Funktion unterstreicht. Dem entspricht V.19 die Rede vom „Richterstuhl (βῆμα)“, auf dem der Platz nimmt. Verläuft Jesu Verhör wie bei Markus (vgl. Mt  27,11–14 mit Mk  15,2–5), so weist die Barabbas-Szene beträchtliche Änderungen auf: Die Initiative zur Paschaamnestie geht nicht wie bei Markus von der Volksmenge, sondern von Pilatus aus471, seiner amtlichen Rolle als ἡγεμών gemäß472 . Die Nachricht, die ihn während der Verhandlung vonseiten seiner Frau erreicht: „Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten (μηδὲν σοὶ καὶ τῷ δικαίῳ)! Denn ich habe heute im Traum viel gelitten wegen seiner“, unterstreicht nicht nur die Unschuld Jesu, sondern deutet auch an, wie Pilatus sich anschließend aus der Affäre zu ziehen sucht. Nachdem er mit seiner Taktik gescheitert ist, dem Volk „Jesus, den sogenannten Messias“, nicht „Jesus, den Barabbas“473, als Amnestiekandidaten aufzudrängen (V.17), will er nicht nur Jesus loswerden, sondern mit ihm auch seine Verantwortung als Richter. Um das Band zwischen seiner Person und diesem „Gerechten“ zu lösen (= μηδὲν σοὶ καὶ τῷ δικαίῳ), wäscht er seine Hände „im Angesicht des Volks“ (κατέναντι τοῦ ὄχλου)“474 und erklärt: „Ich bin unschuldig am Blut von diesem. Seht ihr zu!“ (V.24). Als Richter und „Statthalter“ tritt er ab und schiebt dem Volk die Verantwortung zu. Ähnlich lauteten die Worte der „hohen Priester und Ältesten“, als ihnen Judas erklärte: „Ich habe gesündigt, indem ich unschuldiges Blut ausgeliefert habe“: „Was geht das uns an? Sieh du zu!“ (V.4). Der Gleichklang lässt aufhorchen: Weder den „hohen Priestern und Ältesten“ noch ­Pilatus wird es gelingen, mit verbaler Distanzierung die Verantwortung abzuschütteln. Der Statthalter versucht zwar, die Entscheidung an das Volk abzuschieben, kommt nach dessen Erklärung aber nicht umhin, sie doch zu fällen (V.26). Was zurückbleibt, ist der Eindruck eines zwiespältigen Charakters. Für den Erzähler ist wichtig: Der „Statthalter“ Roms hat die Unschuld Jesu bestätigt. (3) Bei Matthäus übernimmt „das ganze Volk“ (πᾶς ὁ λαός) die Verantwortung für die Hinrichtung Jesu. Mit dem Ruf: „Sein Blut über uns und über unsere Kinder“ (27,25)475 erklärt sich die Volksmenge bereit, für die Verurteilung Jesu mit dem 471 

So auch Joh  18,39. streicht die Notiz Mk  15,8: „und die Volksmenge stieg hinauf und begann zu fordern […]“, dafür heißt es: „als sie sich nun versammelt hatten (συνηγμένων οὖν αὐτῶν), sprach Pilatus zu ihnen […]“ (Mt  27,17). Mit den „sie“ ist wohl der ὄχλος gemeint – entsprechend V.15: „Zum Fest aber pflegte der Statthalter dem Volk (τῷ ὄχλῳ) einen (ἕνα) Gefangenen freizugeben, den sie wollten“. 473  Die Namensform „Jesus Barabbas“ (27,16 f.) wird von Θ, einigen Minuskeln, wenigen Alt­ lateinern, einem Teil der syrischen Übersetzung (f1 700 l 844 syrs) und Origenes bezeugt. Heute halten „die meisten textkritischen Fachleute“ sie für ursprünglich (Luz, Mt IV 265 Anm.  3); vgl. Vogels, Handbuch 171; Metzger, Commentary 67 f. – Rigg, Barabbas 428–431; Schweizer, Mt 332: „Da eher anzunehmen ist, dass der später geheiligte Name Jesus gestrichen als zugefügt worden ist, schlägt sich hier vielleicht älteste Erinnerung nieder“. 474  Zur Geste des Händewaschens vgl. Dtn  21,1–9; außerdem Ps  26,6; 73,13 sowie Jes  1,15 f. und Arist  305 f. 475  Die Wendung ist im AT verbreitet: vgl. 2Sam  1,16; 1Kön  2 ,33.37; Jer  51,35; Ez  18,13 u. ö.; im NT: Apg  18,6. Vgl. zum Blutruf auch unten IV.  1.2.2 unter (3) (b). 472  Mt

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

eigenen Leben zu haften. Diese Haftung gilt unter Einschluss der nächsten Generation, wie die Einbeziehung der Kinder in den Blutruf andeutet. Aus Sicht des Matthäus erlischt sie mit der Zerstörung Jerusalems, die er ausweislich von 22,7 und 23,35 f. in Verbindung mit 23,39 als Strafe Gottes für die Verwerfung Jesu deutet476 . Der Blutruf ist nicht als Selbstverfluchung des „ganzen Volkes“ zu verstehen, die sich in jeder Generation aufs Neue bestätigt, wie eine unheilvolle Auslegungstradition Jahrhunderte lang mit schlimmen Folgen für die Juden behauptet hat477. Vielmehr bewegt sich Matthäus auf den Bahnen nachexilischer Theologen, denen die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier als Strafe Gottes für die Ablehnung seiner Propheten durch Juda galt. Ihre Überzeugung, dass Judas Schuld mit der Zerstörung der Stadt und dem nachfolgenden Exil bei Gott abgegolten war, hat Matthäus auf seine zeitgenössische Situation übertragen.

Die Rede vom „ganzen Volk (πᾶς ὁ λαός)“ in 27,25 überrascht, denn unmittelbar zuvor spricht Matthäus noch vom ὄχλος im Singular oder Plural (27,15.20.24; vgl. 21,10 f.46; 23,1), womit er die Jerusalemer Volksmenge bezeichnet, die Jesus bei seinem Einzug in die Stadt begrüßte und sich jetzt vor dem „Richterstuhl“ des Statthalters versammelt. Transzendiert die Wendung πᾶς ὁ λαός diese Szene, indem sie Israel als Gottesvolk vor Augen stellt, das seinen Messias ablehnt478? Eher signalisiert Matthäus mit πᾶς ὁ λαός, dass diese Ablehnung ein „Geschehen in Israel“ ist und „sich in die Kette des Widerstandes gegen Gottes Boten in der Geschichte Israels einreiht (vgl. 21,33–46)“479, begreift sie also nicht als „Ende der Erwählung des Volkes Israel“480 . (4) Das mkn. Leitmotiv „König der Juden“ begegnet bei Matthäus nur zwei Mal, eingangs im Mund des Pilatus und am Ende bei der Verspottung Jesu durch römische Soldaten. In den Fragen, die Pilatus der Volksmenge stellt, hat Matthäus den 476  Mußner, Traktat 309; Luz, Mt III 242 (zu 22,7). 280 f. (zu 23,39); unbegründet seine Ausdehnung der Perspektive von 27,25 auf das Ende der Welt: in ders., Jesusgeschichte 152: „Bei ‚unsere Kinder‘ denkt er (sc. Mt) natürlich nicht an alle kommenden Generationen Israels während Hunderten von Jahren, aber an die Nachkommen des Volkes, die es in der kurzen verbleibenden Zeit bis zum Ende der Welt noch geben wird“. 477  Kampling, Blut; Luz, Mt IV 288–291 („Wie gehen wir heute mit diesem schwierigen Text um?“). 478  Luz, Mt IV 279; ebd. 278 f. zur Terminologie; ders., Jesusgeschichte 152f: Mt „hat in seiner Gegenwart erfahren, dass sein ganzes Volk Israel Jesus ablehnt; diese Erfahrung trägt er in die Geschichte Jesu zurück und sagt, was sie für das Volk bedeutet“. 479  Konradt, Mt 436. Die Wendung nimmt „nicht nur im engeren Kontext ‚alle‘ aus V.22 auf und dient so der Herausstellung des tumultuarischen Charakters der Szene, sondern Matthäus knüpft damit zugleich auch an 2,3 (‚ganz Jerusalem‘) und 21,10 (‚die ganze Stadt‘) an. Der in 2,3–6 signalhaft eröffnete Spannungsbogen gelangt mit 27,25 ans Ziel […]“. 480  So aber Luz, Jesusgeschichte 154 f.: „Von 21,43; 23,34–39 und vor allem von 27,25 her muss man so lesen“. Anders Konradt, Mt 13: „Mit der Entstehung der Kirche verbindet Matthäus […] nicht die Ersetzung Israels. Wohl aber ist in dem Glauben, Nachfolger des Messias zu sein, der Anspruch der Kirche impliziert, die einzig legitime Sachwalterin der theologischen Tradition Israels zu sein. Damit geht einher, dass der von den jüdischen Autoritäten in Israel erhobene Führungsanspruch nach mt Sicht auf die Jesusnachfolger übergegangen ist“; vgl. auch W. Kraus, Passion 416 f.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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Titel getilgt und durch χριστός ersetzt: „Welchen wollt ihr, dass ich euch freigeben soll, Jesus, den Barabbas, oder Jesus, der Messias – χριστός – genannt wird“? (27,17; ebenso V.22). Dieser Austausch belegt die Kompatibilität der beiden Titel: Bezeichnet χριστός den „gesalbten König“ aus jüdischer Sicht, so βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων aus pagan-römischer; beides Mal geht es um einen möglichen jüdischen König(sprätendenten). Eine Sinnverschiebung von der religiösen zur politischen Ebene geht nicht damit einher. Anders sehen dies Lukas und Johannes. 9.4 Der Pilatus-Prozess aus der Sicht des Lukas: regelkonform, aber ungerecht (Lk  2 3,1–25) Lukas versetzt die Königstitulatur in einen politischen Kontext (23,2). Das Figurendreieck „hohe Priester“ – Pilatus – „Volk“, das ihm überkommen ist, ergänzt er an der zweiten Position durch Herodes, dem Eingang von Ps  2 entsprechend: „[…] die Herrscher (οἱ ἄρχοντες) haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Messias“ (V.2). Lukas zitiert diesen Psalmvers in Apg  4,25 f. und fügt ein Summarium an, das zeigt, wie er den Prozess Jesu im Licht der Schrift sieht: „Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels (λαοῖς Ἰσραήλ), um alles auszuführen, was deine Hand und dein Wille im Voraus bestimmt haben, dass es geschehe“ (Apg  4,27 f.).

(1) Bei Lukas ist von Anfang an „das Volk“ dabei481. Es betritt die Bühne nicht (wie bei Markus und Matthäus) erst in der Amnestie-Episode und muss dort auch nicht von den „hohen Priestern“ dazu überredet werden, von Pilatus an Jesu Stelle die Freilassung des Barabbas zu fordern482 , sondern ist beim öffentlichen Verhör Jesu durch Pilatus bereits präsent (23,4)483. Die Autoritäten Jerusalems und „das Volk“ agieren einvernehmlich, weshalb der Spannungsbogen, der bei Markus und Matthäus aus deren anfänglichem Gegenüber resultiert, entfällt. Nur in der Herodes-­ Episode, die sich an einem nicht-öffentlichen Ort zuträgt, treten „die hohen Priester und die Schriftgelehrten“ ohne das Volk auf (V.10). Zu Beginn der sich anschließenden zweiten Pilatus-Verhandlung zählt Lukas die Gruppen getrennt auf: „Pilatus rief die hohen Priester und die Obersten (τοὺς ἄρχοντας) und das Volk (τὸν λαόν) zusammen“ (V.13). In V.18 heißt es: „Alle miteinander (παμπληθεί) schrien sie“, was auch für die weiteren Äußerungen V.21 und 23 gilt. Wenn Pilatus am Ende 481  λαός hat hier die gleiche semantische Weite wie in den Worten der Ankläger V.5: „er wiegelt das Volk (τὸν λαόν) auf, indem er in ganz Judäa lehrt, von Galiläa angefangen bis hierher“. 482  Lukas übergeht Mk  15,10 f. 483  Unmittelbar nach dem Verhör wendet Pilatus sich in 23,4 an die „hohen Priester und die Volksmengen“ und erklärt in 23,14 rückblickend, er habe Jesus „in ihrer Gegenwart (ἐνώπιον ὑμῶν)“ verhört. Wenn er zu Beginn der zweiten Verhandlung zu den Versammelten, also auch zum λαός, sagt: „Ihr (sc. die hohen Priester, die Archonten und das Volk [V.13]) habt mir diesen Menschen vorgeführt als einen, der das Volk (τὸν λαόν) aufhetzt […]“, scheint angedeutet zu sein, dass schon die Überstellung Jesu an Pilatus im Einvernehmen mit „dem Volk“ erfolgte, was 23,1 allerdings nicht sagt.

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der Szene Jesus „ihrem Willen (τῷ θελήματι αὐτῶν)“ übergibt, sind „die Oberen“ und das Volk gemeint. In der anschließenden Kreuzigungsszene wird sich die Erzählfigur „Volk“ bei Lukas über Markus hinaus weiterentwickeln. Zahllose Menschen begleiten Jesus auf seinem Weg nach Golgota484 und bilden zusammen mit dem Centurio und den vielen Frauen nicht nur eine riesige Zuschauerschaft des sich dort zutragenden „Schauspiels“ (θεωρία)485 , sondern reagieren auf Jesu Tod auch mit Reue: „als sie sahen (θεωρήσαντες), was geschah, schlugen sie sich an die Brust und kehrten heim“. In der Verhandlung mit Pilatus lehnen sie dreimal (!) Jesu Freilassung ab (23,18.21.23) – wie Petrus dreimal Jesus verleugnet. Jetzt empfinden sie Reue – wie Petrus, als Jesu Blick auf ihn fällt (22,62). Handelt „das Volk“ in der Pilatusszene einmütig mit den Autoritäten, so dissoziiert Lukas im Schlussakt beide voneinander. Schon in 23,35a lässt er „das Volk“ nur dastehen und „schauen“ (θεωρῶν), nicht aber an der Verspottung Jesu durch „die Archonten“ (35b) teilnehmen.

Während sich im heilsgeschichtlich entscheidenden Moment der „Auslieferung“ Jesu in den Tod Herodes und Pilatus „mit Israels Stämmen (λαοῖς Ἰσραήλ) verbünden“ (Apg  4,27 f.)486 , öffnet die Kreuzigungsszene die Geschichte nach vorne. In seinem zweiten Band, der Apostelgeschichte, wird Lukas zeigen, wie aus der Reue der Menschen an Pfingsten ihre „Umkehr“ erwächst. Etwa 3000 Menschen bekehren sich zum Evangelium (Apg  2,41) und die Gemeinde des Messias Jesus beginnt zu wachsen. Israels Geschichte ist nicht zu Ende, sie hat eine Zukunft. (2) Pilatus geht, formal betrachtet, korrekt vor. Er „verhört“ Jesus (V.14: ἀνακρίνω) auf die vom Synedrion vorgebrachten Anklagen hin, „überstellt“ ihn (ἀναπέμπω)487, von seiner Unschuld überzeugt, zur Überprüfung des Sachverhalts an Herodes, „aus dessen Hoheitsgebiet“ er stammt (V.7)488 , und versucht, nachdem auch dieser zu keinem anderen Ergebnis gelangt (V.15), in einer zweiten Verhandlungsrunde, die Kläger von Jesu Unschuld zu überzeugen und ihn freizugeben. Um sie zufrieden zu stellen, bietet er ihnen zwei Mal an, ihn auspeitschen und nach dieser Ordnungsstrafe489 ziehen zu lassen (V.16.22). Markus bringt Pilatus durch das Angebot 484  23,27: „es folgt ihm eine große Menge des Volkes [πολὺ πλῆθος τοῦ λαοῦ], darunter auch Frauen, die um ihn klagten und weinten […]“; 23,27–31 ist Einschub in die mkn. Vorlage. 485 Lk identifiziert in 23,35a die schaulustigen Passanten der Markuspassion auf Golgota (Mk  15,29: οἱ παραπορευόμενοι) mit dem λαός und spricht in 23,48 von „allen Scharen (πάντες … ὄχλοι), die sich zu diesem Schauspiel eingefunden hatten (ἐπὶ τὴν θεωρίαν)“. 486  Das Stichwort „Stämme Israels“ assoziiert die Geschichte Israels, womit das Verhalten des λαός im Pilatus-Prozess im Horizont vergangenen Ungehorsams des Volkes gegenüber Gott erscheint: vgl. Lk  13,34; Apg  7,39–43.51–53. 487  Zur juristischen Terminologie bei Lk siehe Kreinecker, Remark. 488  Sherwin-White, Society 28–31: Die Vorstellung, dass für einen Angeklagten der Gerichtsherr zuständig ist, aus dessen Gebiet jener stammt (forum domicilii), begann sich zu Beginn des 2.  Jh.s zu etablieren, im 1.  Jh. galt grundsätzlich das forum delicti, also das Gericht, in dessen Zuständigkeitsbereich die Tat begangen wurde. „Pilate, Felix and Gallio [Lk/Apg] did not feel bound to refuse jurisdiction over extraneous defendants and to send them back to their provinces of origin for trial“; im Fall des Paulus ging es nicht darum, „to protect the rights of the accused, or those of another governor, but to enable the procurator or proconsul in question to avoid a tire­ some affair altogether“. 489  Sherwin-White, Society 27. Am Ende lässt er Jesus nicht geißeln (diff. Mk  15,15).

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der Pascha-Amnestie in eine Zwangslange. Lukas befreit ihn von dieser Peinlichkeit490: Bei ihm sind es die Kläger und das Volk, die Barabbas ins Spiel bringen. Pilatus erklärt drei Mal die Unschuld Jesu, das erste Mal nach seinem Verhör (V.4), das zweite und dritte Mal in der zweiten Verhandlungsrunde (V.14 f.22). Drei Anläufe unternimmt er (V.13–19/20 f./22–23), am Ende fällt er gegen bessere Einsicht um. Er weicht dem Geschrei der Menge, das immer lauter wird. Wenn es in V.24 heißt: „er beschloss“ oder „entschied (ἐπέκρινεν), dass ihrer Forderung entsprochen werde (γενέσθαι τὸ αἴτημα αὐτῶν)“, ist wenigstens der Anschein richterlicher Souveränität gewahrt. Dabei könnte ἐπέκρινεν sogar ein förmliches Todesurteil durch Pilatus andeuten491. Näher liegt ein Bezug auf die in V.25 anschließend genannte „Auslieferung“ Jesu „an den Willen“ der Kläger492 . (3) Matthäus kann die beiden Titel „Messias (χριστός)“ und „König (βασιλεύς)“ gegeneinander austauschen (siehe oben). Lukas kombiniert sie in seiner Fassung der Anklage miteinander und verdeutlicht damit den bei Markus schwierig erscheinenden Übergang von der Verhandlung vor dem Synedrion zu der vor Pilatus: Wenn die Synedristen Jesus verklagen, er „selbst sage, er sei (der) Messias-König (oder: [der] gesalbte[r] König [χριστὸς βασιλεύς])“ (Lk  23,2), ist an einen politischen Herrschaftsanspruch gedacht, den Jesus auch dadurch erhoben habe, dass er – so der zweite Anklagepunkt – „hindere (κωλύοντα), dem Kaiser Steuern zu zahlen“493. Der vorwegstehende erste Vorwurf scheint die beiden folgenden zusammenzu­ fassen, denn im Report des Pilatus V.14–16 wird nur er genannt: „Er wiegelt unser Volk auf“ (vgl. V.14)494. Wortgleich mit Markus (und den übrigen Evangelisten) legt Pilatus Jesus die Frage vor: „Bist du der König der Juden (σὺ εἶ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων)?“, worauf dieser antwortet: „Du sagst es (σὺ λέγεις)“. Auch im lkn. Kontext ist diese Antwort umstritten. Mit zu berücksichtigen ist die Beobachtung, dass 490  Er übernimmt Mk  15,6 nicht. V.17 („es bestand die Notwendigkeit, ihnen zum Fest einen freizugeben“) ist textgeschichtlich sekundär. 491  Brown, Death I 853: „Luke does mean to describe a formal judgement here, just as at the beginning of the trial he added a set of charges. He is fleshing out the tradition taken from Mark in order to make it conform to the familiar pattern of Roman trials“; anders G. Schneider, Lk II 479: „[N]icht von einem Endurteil (krisis) […], sondern von einem Entscheid des Statthalters (epekrinen), der Forderung der Synedristen zu entsprechen“, ist die Rede; ähnlich Kirner, Strafgewalt 284 Anm.  132: „das epikrinein bei Lk 23,24 ließe sich – wenn auch nicht mit Gewissheit – als Hinweis auf ein Strafurteil deuten, wird dann jedoch ebenfalls durch die Verwendung einer Form von paradidomi aufgeweicht“. – Neben κατακρίνω (Mk  10,33 par. Mt  20,18; 14,64; Joh  8 ,10 f.; Jos, Ant  10,124) kann auch ἐπικρίνω ein offizielles Urteil bezeichnen. Vgl. 2Makk  4,47: „Dieser sprach den Urheber der ganzen Intrige, Menelaos, von den Anklagepunkten frei (ἀπέλυσεν), die Unglückseligen jedoch, die […] als Unschuldige einen Freispruch erreicht hätten (ἀπελύθησαν ἀκατάγνωστοι), verurteilte er zum Tode (θάνατον ἐπέκρινεν)“ – das gleiche Gegenüber von ἀπολύω und ἐπικρίνω wie in Lk  23,24 f., allerdings mit θάνατον verbunden. 492  Unmittelbar bezieht ἐπέκρινεν sich auf γενέσθαι τὸ αἴτημα αὐτῶν, womit die „Auslieferung“ ans Kreuz gemeint ist. 493  Nach Lk  20,20–25 ist das eine Verleumdung, die aber 20,20 entspricht: Sie legen ihm die Steuerfrage vor, um „ihn der Macht und Gewalt des Statthalters übergeben“ zu können. 494 G. Schneider, Lk 472: „V.2 ist nach seiner grammatikalischen Struktur nicht im Sinne dreier Anklagepunkte zu verstehen, sondern nennt zuerst die Anschuldigung, Jesus habe das Volk aufgewiegelt (vgl. 23,5.14), und spezifiziert sie dann in zwei Punkten“.

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Lukas gegen Mk  15,9: „Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe?“ (vgl. noch Mk  15,12) Pilatus in der zweiten Verhandlung (V.13–23) das Wort „König“ in Bezug auf Jesus strikt vermeiden lässt, wohl deshalb, weil dieser die Antwort Jesu (wie seinen Auftritt insgesamt) als Beleg dafür nimmt, dass Jesus keinen königlich-herrschaftlichen Anspruch stellt, den er als Angriff auf die römische Herrschaft ahnden müsste. Für die Deutung des rätselhaften „Du sagst es!“ folgt daraus: Im lkn. Kontext ist es als ein „halb offen(es)“ Ja495 zu verstehen, als „mehrdeutige Aussage“496 . Zu berücksichtigen sind dabei die unterschiedlichen Verständnisebenen: „Jesus ist nach Lukas der Christus im Sinne des ‚Sohnes Gottes‘, nicht jedoch in der politischen Nuancierung eines Königs. Dass Jesus in einem anderen Sinn – in dem des zur Rechten Gottes inthronisierten Herrschers (22,69 f.) – König ist, weiß Lukas, da er Jesus selbst diesen Anspruch erheben lässt (V.3)“497. Für Pilatus als Figur in der Erzählung begründet die schwebende Antwort sein Urteil: „Ich finde keine Schuld an diesem Menschen“ (23,4), sie erklärt aber auch, dass nach dem Entscheid des Pilatus Jesus dann doch als „König der Juden“ hingerichtet wird (23,38). Jesus selbst bekommt nach Lukas keine Gelegenheit mehr, sich zu äußern, da Mk  15,4 f. (erneute Rückfrage des Pilatus; Schweigen Jesu; Pilatus wundert sich) durch Lk  23,4 f. ersetzt ist. Weil Lukas auch die Verspottung Jesu durch die Soldaten als König getilgt hat, tritt die Königstitulatur insgesamt bei ihm zurück. Der Grund dafür ist klar: Der Prozess vor dem römischen Prokurator soll belegen, dass Jesus eben nicht als politischer Aufrührer, als Königsprätendent hingerichtet wurde. Das Interesse, Theologie von Politik zu unterscheiden, bestimmt seine Dar­ stellung. 9.5 Der Herrscher und der Weise. Die johanneische Inszenierung des PilatusProzesses (Joh  18,28–19,16b) (1) Bei Johannes hat sich das synoptische Figurendreieck Pilatus, „die hohen Priester“ und „das Volk“ in das Gegenüber Pilatus und „die Juden“ (οἱ Ἰουδαῖοι) verwandelt. Allerdings begegnet auch bei ihm noch die Rede von den hohen Priestern, aber die beiden Bezeichnungen οἱ ἀρχιερεῖς und οἱ Ἰουδαῖοι scheinen austauschbar zu sein498 . Danach sind „die Juden“ die Eliten Jerusalems. Haben diese auch in Judäa das Sagen, ist zu überlegen, ob der Terminus im Deutschen nicht besser mit „die Judäer“ anstatt mit „die Juden“ wiederzugeben ist499. Dagegen spricht 18,35, die Antwort des Pilatus auf Jesu Replik, ob er die Frage nach dem Königtum „von sich aus“ oder wegen anderer gestellt habe: „Bin ich etwa ein Jude (Ἰουδαῖος)? Dein Volk (τὸ ἔθνος τὸ σόν) und die hohen Priester haben dich mir ausgeliefert“. Insinuiert 495 

Klein, Lk 698. Heusler, Kapitalprozesse 79. 497 G. Schneider, Lk 472. 498  Vgl. einerseits 18,31.36.38; 19,7.12.14 („die Juden“), andererseits 19,6 („die hohen Priester und die Diener“) und 19,15 („die hohen Priester“). Theobald, Joh I 152–154: „Exkurs: Die Juden im Johannesevangelium“. 499  So etwa das Münchener Neue Testament, Studienübersetzung (Düsseldorf 1988). 496 

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wird, dass „die hohen Priester“ im Einklang mit dem „Volk“ handeln500 . Deshalb tritt dieses auch nicht eigenständig auf, sondern ist mit der Figur „der Juden“ verschmolzen. Wenn diese „schreien“ (18,40; 19,6.12.15: ἐκραύγασαν), äußert sich nicht wie bei Markus „die Volksmenge“ im Unterschied zu den „hohen Priestern“ (Mk  15,13 f.), sondern die eine Erzählfigur „der Juden“. Pilatus als Nicht-Jude und Repräsentant des Imperium Romanum steht den Anklägern Jesu gegenüber. Der Terminus οἱ Ἰουδαῖοι scheint die Eliten Jerusalems und Judäas als Repräsentanten des jüdischen Volkes im Blick zu haben 501. Raymond Brown verweist zur Erklärung dieses zur Pauschalisierung tendierenden Sprachgebrauchs zurecht auf das Phänomen der Horizontverschmelzung: „John is generalizing, for he sees ‚the Jews‘ of his time who have expelled Christian believers from the synagogue as the heirs of the hostile authorities of Jesus‘ time“502 . Anders Rudolf Schnackenburg, der 18,35 freilich historisiert: Hier könne mit τὸ ἔθνος „nicht das ganze jüdische Volk gemeint sein, das Jesus ja nicht an Pilatus ausgeliefert hat, vielmehr handelt es sich um seine Repräsentanz im Synedrium, wahrscheinlich um die Ältesten“503. Von „den Ältesten“ ist bei Johannes aber nirgends die Rede.

(2) Wie grundlegend die Opposition jüdisch – römisch/pagan für die Szene ist, lässt sich auch an dem sie beherrschenden Gegenüber von Tora und römischem Recht ablesen: Schon in der ersten Episode fordert Pilatus „die Juden“ auf, Jesus „nach ihrem Gesetz (κατὰ τὸν νόμον ὑμῶν)“ zu richten (18,31). Sie selbst erklären in der vierten Episode: „wir haben ein Gesetz (ἡμεῖς νόμον ἔχομεν) und nach dem Gesetz (κατὰ τὸν νόμον) muss er sterben“ (19,7). Andererseits zwingt Pilatus sie mit seiner Aufforderung 18,31 nicht nur zur Offenlegung dessen, was sie eigentlich wollen (Jesus töten zu lassen), sondern auch zum Eingeständnis ihrer rechtlichen Nicht-Zuständigkeit: „Uns ist es nicht erlaubt (ἡμῖν οὐκ ἔξεστιν), jemanden zu töten“ (18,31). Damit wird auf die Kapitalgerichtsbarkeit angespielt, welche die Römer dem Synedrion entzogen und sich vorbehalten haben 504. Am dramaturgischen Höhepunkt der Szene erscheint die Opposition jüdisch – römisch in neuem Gewand: Wenn die „hohen Priester“ ausrufen: „Wir haben keinen König außer dem Kaiser“ (19,15), verleugnen sie die messianischen Erwartungen ihres Volkes und unterstellen sich dem Kaiser. Die Worte Jesu vor Pilatus lassen eine weitere Opposition aufscheinen, die „von oben“ und unten (19,11), „nicht von hier“ und „aus dieser Welt“ (18,36) – keine horizontal-geschichtliche, sondern eine vertikal-transzendente Opposition. Pilatus ordnet zwar Jesus dem „jüdischen Volk“ zu, wenn er in 18,35 erklärt: „dein Volk (τὸ ἔθνος τὸ σόν) und die hohen Priester haben dich mir ausgeliefert“, aber Jesus 500 

Anders übersetzt Wengst, Joh II 214: „Dein Volk, und zwar (καί) die Oberpriester“. Tendenz, den auf die Elite Jerusalems fokussierten Terminus οἱ Ἰουδαῖοι semantisch zu weiten, zeigt sich auch an der mehrfach begegnenden Rede von den Festen „der Juden“: vgl. 2,13; 5,1; 6,4 etc.; vgl. auch den Genitiv „die hohen Priester der Juden (οἱ ἀρχιερεῖς τῶν Ἰουδαίων)“ in 19,21. Reinhartz, Gospel 112–114. 502  Brown, Death I 749. 503  Schnackenburg, Joh III 283; Zumstein, Joh 696. 504  Siehe unten III  1.5.5. 501  Dieselbe

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unterläuft diese Zuordnung, wenn er die Frage des Pilatus nach seiner Herkunft (19,9: „woher bis du?“) unbeantwortet lässt und damit auf eine gänzlich andere Dimension verweist, die sein Wesen bestimmt. Bereits im ersten Verhörgang deutete er auf sie hin, ohne sie vor Pilatus näher zu entfalten: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“ (18,37). Beide Oppositionen – die horizontale und vertikale – überschneiden sich in der Figur des Pilatus. Der Römer verhandelt mit „den Juden“ und zeigt sich zugleich von dem Einbruch der Transzendenz, den er in diffuser Weise erfährt, derart irritiert, dass sein Agieren gegen „die Juden“ davon mitbestimmt wird. (3) Die Dramatik des Prozess-Geschehens verändert die Personen. Es empfiehlt sich, die Erzählfiguren nicht je für sich, sondern in ihren Interaktionen in den Blick zu nehmen. (a) Kontur gewinnt die Erzählfigur „der Juden“ schon durch das Bühnenbild, das die Eröffnung der Szene Joh  18,28 erstellt: Das Innere des Prätoriums, wo Pilatus Jesus verhört, steht für die pagane Welt, welche „die Juden“ nicht betreten, um sich wegen des bevorstehenden Paschamahls nicht zu verunreinigen. Sie bleiben draußen und verkennen, bedacht auf ihre Reinheit, das wahre Paschalamm Jesus im Inneren des Palastes (vgl. 1,29.36; 19,36). ­Pilatus sieht sich gezwungen, zwischen den beiden Schauplätzen hin und her zu gehen. Er sollte Herr des Verfahrens sein, wird in dessen Verlauf aber immer mehr zum Getriebenen. (b) Der Frage des Pilatus, „welche Anklage sie gegen diesen Menschen vorbringen“, weichen „die Juden“ aus, indem sie gezielt nebulös von Jesus als jemandem reden, der „Übles“ (κακόν) tue (18,30). Weil sich dieses an ihren Maßstäben bemisst, verweist Pilatus sie an „ihr Gesetz“. Der Wortwechsel 18,29–31 (samt Erzählerkommentar V.32) markiert die Ausgangssituation: einerseits die bedingungslose Tötungsabsicht der Ankläger, beruhend auf „ihrem Gesetz“, andererseits ihr rechtliches Angewiesensein auf den Präfekten, sie auch umsetzen zu können. (c) Das anschließende Verhör Jesu – die Begegnung des Herrschers mit dem überlegenen Weisen 505 – führt bei Pilatus zu einem zwiespältigen Ergebnis: Einerseits geht er, „vor die Wahrheit gestellt, ihr aus dem Wege […], weil er keine Wahrheit kennt und anerkennt“506 , andererseits gelangt er zur Einsicht, dass der Fall eigentlich nicht vor das römische Tribunal gehört: Jesus bedient sich nicht der Mittel „dieser Welt“ (18,36), um die Wahrheit, für die er Zeugnis ablegt, durchzusetzen, sondern baut allein auf die Macht des Wortes und des Arguments. Deshalb erklärt Pilatus auch zum ersten Mal öffentlich die Schuldlosigkeit Jesu (18,38; sodann 19,4.6) und sucht, ihn freizugeben. 505 

Siehe oben in I.  1.5.3 den Abschnitt: Die (Teil-)Gattung „Herrscher und Weiser im Gespräch“. Schlier, Jesus 65, der die Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“ als faktische Ablehnung des Wahrheitsanspruchs Jesu deutet: „Ein Ausweichen vor der Wahrheit […] ist angesichts der Wahrheit eine Ablehnung der Wahrheit. Wie Pilatus diese Frage stellt, neugierig, wissensdurstig, arrogant, höhnisch und welche Tonart die Exegeten darin sonst noch finden mögen, ist im Sinne des Evangelisten gar nicht zu fragen“ (ebd.); Zumstein, Joh 700: Die Frage ist als „Ausweichmanöver“ zu verstehen, genauer: „als Verweigerung gegenüber dem Zeugnis Jesu“. Der Richter verliert seine Neutralität, das Verfahren kippt um, wie J. Blank, Joh IV/3, 87, zutreffend bemerkt: „An diesem Punkt entscheidet sich der Ausgang des Verfahrens“. Anders versteht Bultmann, Joh 507 Anm.  8 , die Pilatusfrage, nämlich als „Ausdruck der Neutralität des Staates, den als solchen die den Menschen bewegende Frage nach der tragenden Wirklichkeit seines Lebens nicht interessiert“; gegen die verbreitete Deutung der Frage als „Äußerung eines gleichgültigen oder sogar heimlich verzweifelten Zynikers“ Haenchen, Historie 196 f. mit Anm.  29. 506 

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(d) „Absurderweise“507 bezieht Pilatus unmittelbar danach den für unschuldig Erklärten in die Paschaamnestie ein (18,39 f.), lässt ihn geißeln und als Spottfigur mit Königsinsignien vorführen, um „den Juden“ zu zeigen, was er von ihm hält508 . Sein Bemühen scheitert und verstärkt den Widerstand, zwingt indes „die Juden“ zuzugeben, warum sie Jesus für schuldig halten: „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zum Sohn Gottes gemacht (ὅτι υἱὸν θεοῦ ἑαυτὸν ἐποίησεν)“ (19,7). Der „Kern der Sache“ ist offen gelegt 509, die Verhandlung steht wieder am Anfang (vgl. 18,31): Wie soll ein religiöser Anspruch des Angeklagten vom Vertreter des römischen Imperiums als Straftatbestand geahndet werden können? (e) Die Rede vom „Sohn Gottes“ stürzt Pilatus in numinose Furcht510 . Die Karikatur ist offensichtlich: Der vor dem Anspruch der „Wahrheit“ ausgewichen ist (18,38: „Was ist Wahrheit?“), ängstigt sich vor dem, der ihm unheimlich und übermenschlich vorkommt. Fragt er Jesus: „Woher bist du?“, so kann er darauf keine Antwort erhalten (19,9). Der Offenbarer erschließt sich nur dem, „der aus der Wahrheit ist“ (18,37). Auch sein Versuch, Jesus mit Verweis auf seine rechtlichen Befugnisse zu einer Antwort auf seine Frage zu nötigen, scheitert und veranlasst diesen, zu antworten: „Du hättest keine Macht gegen mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre“ (19,11). Damit gibt er „keine Grundsatzerklärung zu der von Pilatus verwalteten staatlichen Macht“511 im Sinne von Röm  13,1b ab – „es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott“ –, sondern bezieht sich konkret auf die dem Statthalter „von oben“ gegebene Vollmacht „gegen“ ihn (κατ’ ἐμοῦ). Pilatus kann zwar mit ihm „verfahren, wie er will, aber nur deshalb, weil ihn Gott gewähren lässt“512 . (f) Zwei „Argumente“ der Ankläger setzen Pilatus am Ende zu: der Appell an seine Loyalität zum Kaiser: „wenn du diesen freigibst, bis du kein Freund des Kaisers513: Jeder, der sich selbst zum König macht (πᾶς ὁ βασιλέα ἑαυτὸν ποιῶν), widerspricht dem Kaiser“ (V.12), und ihre eigene Loyalitätserklärung dem Kaiser gegenüber: „Wir haben keinen König außer dem Kaiser“ (19,15) 514. Das zweite Argument verstärkt das erste und führt dazu, dass Pilatus gegen seine bessere Einsicht Jesus der Kreuzigung ausliefert. (g) Am Anfang noch Herr des Verfahrens ist Pilatus am Ende denen willfährig, die ihm Jesus auslieferten. „Da lieferte er ihn ihnen aus, dass er gekreuzigt würde“ (19,16a). Obwohl es zuvor hieß: „er setzte sich auf den Richterstuhl“ (19,13)515 , entsteht der Eindruck, als 507  Schleritt, Passionsbericht 401. – Die „Absurdität“ seines Handelns ist die Folge des inneren Widerspruchs, in den er sich zuvor mit der Flucht in seine „Entscheidungslosigkeit“ (J. Blank, Joh IV/3, 87) manövriert hat. 508  Das Angebot der Amnestierung Jesu mündet in die Vorführung Jesu ein; von Barabbas und seiner Freilassung ist am Ende nicht die Rede. Pilatus soll wohl von dem Makel befreit werden, einen Aufrührer freigelassen zu haben. 509  Schlier, Jesus 68: „Sie (sc. die Juden) kommen zum Kern der Sache. Es ist ihr Widerspruch gegen Gott in seinem Offenbarer. Ihr Gott steht gegen den offenbaren Gott (vgl. 5,18; 10,33 ff.)“. 510  19,8: „er fürchtete sich noch mehr“; zum Topos oben S. 165 Anm.  604; vgl. Zeller, Philosophen 123. 511  Schnackenburg, Joh III 301 (gegen Bultmann, Schlier u. a.); zu einer solchen Auslegung wird verleitet, wer fälschlich übersetzt: „[…] wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“ (Bultmann, Joh 512). 512  Ebd. 302; Haenchen, Historie 201: „Er ist eine Figur im Heilsplan Gottes“. 513  „Das war Pilatus, zumal im formalen Sinne, nie. Die kleine Gruppe der amici Caesaris, die engsten Vertrauten des Kaisers, waren hochgestellte Persönlichkeiten, deren Namen wir großenteils kennen. Ein kleiner ritterlicher Beamter wie Pilatus gehörte nicht zu diesem illustren Kreis“ (Demandt, Pontius Pilatus 60 f.). 514  „Damit hat nach der Sicht des Evangelisten […] Israel sein Vorrecht weggeworfen; ohne seinen messianischen König ist es auch kein messianisches Volk mehr“ (Haenchen, Historie 204). 515  Alternative Übersetzung, die mit joh. Ironie rechnet: „Pilatus führte Jesus hinaus und setz-

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spräche er jetzt gar kein Urteil, sondern gäbe das Verfahren an „die Juden“ ab. Diese „nehmen“ Jesus (19,16b) und führen ihn zur Kreuzigung ab516 .

(4) „König der Juden“ ist das Leitmotiv der johanneischen Szene, das mehrfach gebrochen begegnet (18,33.37.39; 19,3.10.14.15) 517. Den Schlüssel zu seinem Verständnis liefert das erste Pilatus-Verhör mit der Pointe, dass Jesu Hoheit sich zwar mit dem Titel βασιλεύς bezeichnen lasse, sein „Königtum“ aber nicht irdisch-politischer, sondern von ganz anderer Art sei, nämlich „von oben“. Im Hintergrund steht die platonische Vorstellung: Der wahre König ist der Philosoph oder der Weise518 . Jesus übertrifft alle. Er ist kein „Liebhaber der Weisheit“, sondern „die Weisheit“ oder „Wahrheit“ in Person (vgl. 14,6). Im Klartext heißt das: Dieser Jesus erhebt keine Machtansprüche nach Art der Könige dieser Erde. Er ist kein Messias­ prätendent, der Rom die Herrschaft streitig macht. Die sich auf ihn berufen, sollten von den Vertretern des Imperium Romanum deshalb auch nicht politisch verdächtigt oder verfolgt werden. Sie glauben an den „Zeugen der Wahrheit“, der gesandt ist, die Menschen vor Gott zu stellen, damit aber auch hier und jetzt schon „legitimen Anspruch auf die Welt“ erhebt519. Ein weiteres Mal wird das Königs-Motiv in der zentralen Episode der Szene verfremdet, in der Verspottung Jesu durch die Soldaten im Inneren des Prätoriums: „Sei gegrüßt, König der Juden (χαῖρε ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων)!“ Daraufhin führt ihn Pilatus den draußen Stehenden vor und erklärt: „Seht, der Mensch (ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος)!“ (18,5). Hinter Jesu entehrter und verspotteter Gestalt soll der Leser dessen wahre Würde als „König“ und „Mensch“520 wahrnehmen, hinter der täuschenden Oberfläche dessen eigentliches Wesen. Die dritte Brechung des Motivs betrifft den Genitiv „König der Juden“: Auf die provozierende Rückfrage des Pilatus hin: „Euren König (τὸν βασιλέα ὑμῶν) soll ich kreuzigen?“, antworten „die hohen Priester“: „Wir haben keinen König außer dem Kaiser“ (19,15). Sie lehnen Jesus ab und geben den messianischen Anspruch ihres Volkes preis – aus der Sicht des Evangelisten, der diesen dramaturgischen Schlusspunkt setzt, die eigene Identität521. Die Verbindung des „Königs“ zu „den Juden“ ist gelöst – zugunsten seiner Hinordnung auf die „Welt“ (κόσμος), „in die er gekommen ist, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“ (18,37). Die Perspektive der Ofte [ihn] auf den Richterstuhl“; so u. a. Haenchen, Historie 203, mit Verweis auf EvPetr  3(7) par. Just, 1Apol  35,6, wo diese Lesart aber aus Jes  58,2 abgeleitet sein dürfte (siehe oben I.  2.1 z. St.); vgl. auch Légasse, Procès II 520–522. 516  19,16, aber auch V.19 („sie kreuzigten ihn“) ist ambivalent: „Die Juden“ (zuletzt V.12, erst in V.21 wieder) scheinen nach wie vor das handelnde Subjekt zu sein, eigentlich aber sind es „die Soldaten“, die freilich erst in V.23 genannt werden. 517 Hierzu Hengel, Reich; Pellegrini, Verständnis; Söding, König. 518  Plat, Resp  473c–d; Philo überträgt dies auf Mose: VitMos  2 ,2. 519  Schlier, Jesus 62; ebd.: Das Reich Jesu, von dem Jesus in 18,36 spricht, hat „seinen Grund und seine Kraft in der kommenden Welt“, aber „steht als solches doch schon in dieser Welt, um schon jetzt in ihr und über sie seine eigentümliche Herrschaft auszubreiten“. 520  Theobald, Ecce homo. 521  Bultmann, Joh 515: „damit gibt das jüdische Volk sich selbst preis“; Schlier, Jesus 73: sie geben das auf, „wofür sie siegen wollen: ihren eigenen Messias und ihre eigene Hoffnung“.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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fenbarung vor der Welt – die Opposition von „oben“ und „unten“ – gewinnt Oberhand über die Scheidung der Menschheit in Juden und Nicht-Juden. Jesu Sendung richtet sich an alle, sie gilt der ganzen Welt (vgl. 1,3.9; 8,12). 9.6 Von der Agitation der „hohen Priester“ – die Szene in der PEmk Markus folgt in 15,1–20c seiner Passionserzählung522 . Die beliebte Annahme, die Barabbasepisode sei nachträgliche Zutat523, scheitert nicht nur an der joh. Parallele. Die in 9.2 gebotene synchrone Beschreibung der Szene liefert der diachronen Analyse die Basis. (1) Der Gelenkvers 15,1 verbindet die Pilatus- mit der Synedrionsszene. Der makrokontextuelle Rückverweis auf 3,6 – das Stichwort συμβούλιον erinnert an den dortigen „Beschluss“ der Pharisäer und Herodianer „gegen“ Jesus, „ihn zu verderben (ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν)“524 – ist Indiz für mkn. Autorenschaft der Wendung συμβούλιον ποιήσαντες525: Die bereits in 3,6 geäußerte Absicht der Gegner Jesu realisiert sich jetzt mit dem „Beschluss“, ihn „auszuliefern“. Außerdem weitet Markus die Gegnerschaft der hohen Priester (wie in 14,55) auf die Ältesten und Schrift­ gelehrten aus526 und betont, „die ganze Versammlung“ stünde hinter dem „Beschluss“. Der vorgegebene Gelenkvers wird in der PEmk gelautet haben: „Und […] in der Frühe527 fesselten (δήσαντες) die hohen Priester […] Jesus, führten (ihn) ab (ἀπήνεγκαν) und lieferten (ihn) (παρέδωκαν) Pilatus aus“.

(2) Das Verhör Jesu durch Pilatus hat der Evangelist wohl unverändert aus seiner Passionserzählung übernommen. Wo die Einheit dekonstruiert wird, sind historische Urteile im Spiel. So soll V.2 sekundär sein, weil eine (wenn auch vorsichtige) Bejahung der Pilatusfrage durch Jesus ein weiteres Bemühen des Richters erübrigt hätte528 . Oder der Vers stelle „die Darstellung“ nachträglich „unter den Gesichtspunkt, dass Jesus wegen seines Messiasanspruchs hingerichtet worden“ sei, wohin522 L. Schenke, Christus 47–55; Gnilka, Mk II 296–298; A.Y. Collins, Mk 712; Guttenberger, Mk 357 f., u. a. 523  A.Y. Collins, Mk 712 („Markan redaction“). – Bultmann, Geschichte 293: „legendarische Erweiterung“; L. Schenke, Christus 47–51: vormkn. zugewachsen; Guttenberger, Mk 357. 524  Mk  15,1: εὐθὺς … συμβούλιον ποιήσαντες οἱ ἀρχιερεῖς μετὰ τῶν πρεσβυτέρων … erinnert auch sprachlich an 3,6: οἱ Φαρισαῖοι εὐθὺς μετὰ τῶν Ἡρῳδιανῶν συμβούλιον ἐδίδουν. 525  Lohmeyer, Mk 334; Schenk, Passionsbericht 243; Schleritt, Passionsbericht 396 („mk. oder vormk. Zusatz“). Gnilka, Mk II 297 („schwer zu entscheiden“) lässt die Frage offen. 526  μετὰ τῶν πρεσβυτέρων καὶ γραμματέων = mkn. Redaktion: L. Schenke, Christus 50 f.; Gnilka, Mk II 297; A.Y. Collins, Mk 712; strittig ist ὅλον τὸ συνέδριον: L. Schenke und Gnilka belassen die Wendung der Überlieferung, Collins schreibt sie gleichfalls Mk zu. Schleritt, Passionsbericht 396, unter Heranziehung von Joh  19,6 (PEjoh): Ursprünglich sei „die hohen Priester und die Diener“; „die Angabe ‚die Diener‘ (wurde) zunächst durch ‚das ganze Synhedrium‘ ersetzt und später noch um die Notiz ‚mit den Ältesten und Schriftgelehrten‘ erweitert“. 527  Gnilka, Mk II 297: „Die Zeitangabe ‚am Morgen‘ wird ursprünglich sein, da sich die Verbindung ‚und sogleich am Morgen‘ nur hier findet. Außerdem passt die Zeitbestimmung ausgezeichnet zu einer römischen Gerichtssitzung. Das Wörtchen εὐθύς stammt vom Evangelisten“. Zugunsten der Ursprünglichkeit von πρωΐ spricht seine Bezeugung in Joh  18,28b: ἦν δὲ πρωΐ. 528  Dormeyer, Passion 175 f.; L. Schenke, Christus 53.

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gegen V.3–5 mit dem Motiv des „Schweigens“ Jesu authentische historische Erinnerung aufbewahre529. „Historische Urteile aber können literarische Fragen nicht entscheiden“, wendet Joachim Gnilka zurecht ein 530 . So sprechen zugunsten der Einheit von V.2–5 gattungs- und formkritische Argumente: die Bedeutung des Schemas „Der Herrscher und der Weise im Gespräch“ für die Synedrion- und ­Pilatusszene; die damit gegebene Parallelität der beiden Verfahren 531; nicht zuletzt die Einsicht in die Leitmotivik der Königstitulatur in der PE, die es nicht erlaubt, V.2 herauszubrechen 532 . (3) Anders sieht es bei der zweiten Episode, dem Amnestieangebot des Pilatus an die Volksmenge, aus. Auch hier empfiehlt sich wieder das bewährte „Überlagerungsmodell“ mit einer Grunderzählung und Zusätzen, sei es von der Hand des Markus, sei es von der Hand des vormkn. Redaktors. Gewissheit über das Modell stellt sich erst ein, wenn die PElk/joh mit in die Argumentation einbezogen wird (vgl. 9.8). Weil diese von der „Volksmenge“ nichts weiß, wird die entscheidende Frage lauten: Gehört diese Erzählfigur zum Urgestein der Episode oder wurde sie nachträglich eingeführt? Die inner-mkn. Analyse bietet erste Hinweise zugunsten der zweiten Alternative: Dialogischer Kern mit Exposition und Schluss (Grunderzählung)

Paraphrasen/Kommentare des Erzählers/ Kontext-Vernetzungen

Exposition Zum Fest aber (δέ) pflegte er ihnen einen Gefangenen freizulassen den sie sich erbaten (παρῃτοῦντο). [?]

15,6

Es war aber (δέ) (ein) Jesus mit Namen Barabbas mit den Aufständischen gefangen, die bei dem Aufstand einen Mord begangen hatten. 8 Und die Volksmenge stieg hinauf und begann zu bitten (αἰτεῖσθαι), (er möge tun,) wie (καθώς) er es ihnen zu tun pflegte. 15,7

529  Bultmann, Geschichte 293, fußend auf seiner Annahme, dass dem Text „ein alter Geschichtsbericht“ (ebd. 294) zugrunde liegt. Zu V.4 f. hat er das richtige Gespür (siehe unten III.  2.5.1), allerdings ist sein Absprung vom Text in die Geschichte unvermittelt. 530  So treffend Gnilka, Mk II 296. 531  Siehe oben Exkurs 7: Zur Parallelität von jüdischem und römischem Verfahren in der Markuspassion. 532  Auch die joh. Parallelen stützen die Annahme der ursprünglichen Einheit V.2–5 (siehe unten II.  9.8).

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

403

Hauptteil I.9Pilatus aber (δέ) ergriff das Wort und sprach zu ihnen:   Wollt ihr (θέλετε),  (dass) ich euch den König der Juden freilasse? Er hatte nämlich (γάρ) erkannt, dass (ὅτι) ihn die hohen Priester aus Neid ausgeliefert hatten. 11 Die hohen Priester aber (δέ) wiegelten die Volksmenge auf, dass er ihnen lieber (ἵνα μᾶλλον) den Barabbas freilasse. 10

II. 12Pilatus aber (δέ) ergriff abermals (πάλιν) das Wort und sprach zu ihnen:  Was wollt ihr also (θέλετε), soll ich tun mit dem,   den ihr den König der Juden nennt? 13 Sie aber (δέ) schrien wieder (πάλιν):   Kreuzige ihn! III. 14Pilatus aber (δέ) sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Sie aber (δέ) schrien umso mehr: Kreuzige ihn! Schlussteil Pilatus aber (δέ), der sich der Menge gefällig erweisen wollte, ließ ihnen den Barabbas frei, und lieferte Jesus aus, nachdem er ihn hatte geißeln lassen, auf dass (ἵνα) er gekreuzigt würde.

15

Die „mehrfach neu und umständlich“ einsetzende533 Exposition V.6–8 birgt mehrere Probleme: (a) Wer sind die „sie“, denen Pilatus einen Gefangenen freizugeben pflegt? Im Anschluss an V.1–5 sollten es die hohen Priester sein, V.8 zufolge, der nachgeschoben wirkt, „die Volksmenge“534. (b) Weil die Art, wie V.7, „the narrator’s aside“535 , Jesus Barabbas einführt, die Entstehungszeit des Evangeliums kurz nach dem jüdischen Krieg durchscheinen lässt, geht zumin533 L.

Schenke, Christus 47. Schleritt, Passionsbericht 403; der Übergang von V.1–5 zu V.6–8 ist künstlich: Die Menge erscheint „just in dem Moment auf der Bildfläche, in dem sie gebraucht wird“. Pesch, Mk II 463, historisiert: „Während des Verhörs Jesu […] ist die Menge zur Residenz des Prokurators […] hinaufgezogen“ (404). 535 A.Y. Collins, Mk 717. 534 

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dest die Formulierung der Notiz auf Markus zurück 536 . Sie dient ihm dazu, das Paradox zu unterstreichen, dass ein „Aufrührer“ gegen Rom freigelassen, der angebliche „Königsprätendent“ aber hingerichtet wird. Irgendeine Notiz zu Barabbas muss aber in der Vorlage gestanden haben. An dieser Stelle kommt die alternative Fassung der PElk/joh ins Spiel. (c) Wie oben dargestellt, erhellt die Bedeutung der in V.8 eingeführten Erzählfigur ὁ ὄχλος = die Volksmenge erst aus dem Makrokontext des Evangeliums, was auf Markus als Urheber der Notiz hindeutet. Die Alternative, den Artikel vor ὄχλος als Indiz lebendiger Erzählung unübersetzt zu lassen und zu deuten, dass irgendeine Menge zu Pilatus zieht, um das Recht der Amnestie zu beanspruchen, überzeugt vom Kontext her nicht.

Beim ersten der drei Wortwechsel des Pilatus mit der Volksmenge im Hauptteil der Erzählung fällt der große Anteil des Erzählers (V.10 f.) auf. Nur die Frage des Präfekten steht in direkter Rede (V.9c.d), die Reaktion der Volksmenge – sie fordert die Freilassung des Barabbas – ist der Paraphrase V.11 zu entnehmen537. Der zweite und dritte Wortwechsel bestehen dagegen aus den üblichen Bausteinen: Redeeinleitungsformel – Frage – Antwort. Wahrscheinlich wurde die erste Sequenz sekundär „überlagert“. Im Einzelnen ist Folgendes bemerkenswert: (a) Der Einsatz des Hauptteils steht in Spannung zur Exposition: Nach V.6.8 scheint die Volksmenge das Vorschlagsrecht im Amnestieverfahren zu besitzen, nach V.9 präsentiert Pilatus Jesus als Kandidaten 538 . (b) Der Erzählerkommentar V.10 deutet den Vorschlag des Pilatus aus Perspektive des weiteren Kontextes539. Pilatus, der die Motive der Kläger durchschaut, schlägt Jesus für die Amnestie vor, weil er mit der Sympathie der Menge für diesen rechnet. V.10 verdankt sich dem Evangelisten 540 . (c) Gleiches wird von V.11 gelten, der – in Fortführung von V.10 – die Konsequenz aus dem „Neid“-Motiv nennt: Die hohen Priester „wiegeln die Volksmenge auf“, von Pilatus die Freigabe des Barabbas zu verlangen. (d) Bei der zweiten Frage des Pilatus fallen Umständlichkeit und Distanziertheit im Ton auf: „Was also wollt ihr (θέλετε), dass ich mit dem tue (ποιήσω), den ihr den König der Juden nennt (ὃν λέγετε)?“ (V.12). Pilatus betont, dass es im Amnestieverfahren auf den Willen des Volkes ankommt, distanziert sich so aber auch vom Ergebnis (vgl. bereits V.9c: θέλετε). Juden „nennen“ Jesus nicht „König der Juden“, sondern würden Jesus „König Israels“ nennen (15,32), „Sohn Davids“ (10,47; 12,35–57). ὃν λέγετε wird Zusatz des Evangelisten sein, der nicht nur zum Ausdruck bringt, dass Pilatus von der Anklage nichts hält, sondern auch den Makrokontext des Evangeliums assoziiert. In der Vorlage wird Pilatus gerade heraus gefragt haben: „Was also soll ich mit dem König der Juden tun?“ 536 

Lührmann, Mk 256; Schleritt, Passionsbericht 406. Die zweite Frage des Pilatus bestätigt diese Deutung: „Was also […] soll ich mit dem König der Juden tun?“ 538 P. Winter, Trial 134: „The offer (sc. des Pilatus) to choose between two persons […] denies the free exercise of the prerogative of the people’s will. On this point the gospels are self-contradictory in their reports“. 539  Vgl. die synchrone Analyse des Textes oben in 9.2 unter (4). 540  Lohmeyer, Mk 337 f.: V.10 ist ein „ungeschickter Nachtrag“ des Mk; Gnilka, Mk II 298: „Die Begründung für die Frage des Pilatus (10) wird wahrscheinlich nachgeliefert sein“; sonst sind die Sätze der Episode fast ausschließlich mit δέ verknüpft, nur hier mit einem explizierenden γάρ; Lührmann, Mk 256: eine „erläuternde[..] Bemerkung“ des Erzählers, deren Herkunft (Mk oder die ihm vorgegebenen PE) er (wie Gnilka) offen lässt. 537 

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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(e) V.11 zufolge drängten die hohen Priester die Menge lediglich dazu, sich für die Freigabe des Barabbas einzusetzen, nicht für die Kreuzigung Jesu. „Es bleibt demnach unklar, warum die Menge in 15,13 f. eben dies von sich aus tut“541.

Die Schlussnotiz V.15 macht mit der einzigen Partizipialwendung der Episode (βουλόμενος τῷ ὄχλῳ τὸ ἱκανὸν ποιήσαι), die nach V.8.11 wieder ausdrücklich die Volksmenge als Gegenüber zu Pilatus nennt, einen kompakten Eindruck. Womöglich ist diese Wendung im Zusammenhang mit V.8.11 nachgetragen worden. Nach dieser ersten Durchsicht des Textes auf interne Spannungen und kontex­ tuelle Vernetzungen zeichnet sich ein Ergebnis ab: Die Grunderzählung wurde sekundär „überlagert“. Die Zusätze drehen sich um die Erzählfiguren Volk und hohe Priester. Die Vernetzung des Endtextes mit dem weiteren Kontext deutet auf Markus als Redaktor hin. Mehr zu sagen erlaubt ein Vergleich mit der PElk/joh. (4) Die letzte Episode der Szene, die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten, wird ungefähr so, wie Markus sie bietet, auch in der PEmk gestanden haben542 . Sie ist formal gerundet und kohärent erzählt543. Der Text bietet – vielleicht abgesehen von der Erklärung für die Leser V.16b (ὅ ἐστιν πραιτώριον), die der Evangelist nachgetragen haben könnte544 – keinerlei Handhabe zur Annahme redaktioneller Eingriffe. 9.7 Ein erster Versuch der Plausibilisierung des Geschehens – die Szene in der PElk/joh Die oben gebotene Liste von Übereinstimmungen zwischen Johannes und Lukas in der Pilatus-Szene (9.1 unter [6]) verzeichnet gemeinsame Wendungen, ähnliche Auslassungen und gleiche Sequenzen. Die folgende Synopse orientiert sich an der Struktur der Szene, wie sie einerseits Lukas, andererseits Johannes bietet. Die mittlere Spalte führt die Elemente auf, die für die PElk/joh in Frage kommen:

541  Schleritt, Passionsbericht 403; Mt bemerkt diese leichte Unstimmigkeit seiner Vorlage und korrigiert: „Die hohen Priester und Ältesten aber überredeten die Volksmengen, den Barabbas zu verlangen, Jesus aber zugrunde zu richten“ (27,20). 542 L. Schenke, Christus 54 f.; Pesch, Mk  II 468. – Bultmann, Geschichte 299, zufolge habe die Episode „im ‚Ur-Mk‘ gefehlt“. „Die Verspottung Jesu 15,16–20a ist eine Einfügung, die das Motiv des φραγελλώσας 15,15b ausführt“. Aber die Misshandlung, um die es bei der Geißelung geht, ist in der Verspottungsepisode nur Randmotiv. 543  Sie besteht aus drei Teilen: Einleitung (V.16), Hauptteil (V.17–19) und Schluss (V.20). Die Dreiteilung wiederholt sich im Hauptteil: Der Huldigungsruf, der in der Mitte steht (V.18), wird einerseits von der Ausstaffierung Jesu zum „König“ (V.17), andererseits vom Vollzug der „Huldigung“ gerahmt; Pesch, Mk II 469 f. – 10,34 antizipiert das Stichwort ἐμπαίζω = mit jmd. seinen Mutwillen treiben (V.20), das den Gehalt der Episode (Verspottung) auf den Punkt bringt (vgl. noch 15,31), und Stichwort ἐμπτύω = anspucken (V.19). 544  Schleritt, Passionsbericht 408, beobachtet, „dass ὅ ἐστιν πραιτώριον bei Mk deutlich nachklappt“. Anders Reinbold, Bericht 143 Anm.  163: wegen Joh  18,28.33; 19,9 ursprünglich.

406

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Lk  2 3545

PElk/joh

Überstellung Jesu an Pilatus (23,1)

Joh  18,28–19,16b546 Überstellung Jesu an Pilatus (18,28)

1. Verhandlung vor Pilatus Anklage Jesu (konkretisiert) (V.2)

1. Verhandlung vor Pilatus Anklage Jesu (konkretisiert)

(1) 1. Verhandlung vor Pilatus Anklage Jesu („ein Übeltäter“) (18,29–32) [Konkrete Anklagepunkte: 19,7.12]

Befragung Jesu samt Antwort (V.3)

Befragung Jesu samt Antwort

(2) Erste Befragung Jesu samt Antwort (18,33–38b) (3) 2. Verhandlung vor Pilatus (18,38c–40) Erster Versuch des Pilatus, Jesus freizugeben

[1.] Unschuldserklärung: „Ich finde an diesem Menschen keine Schuld“ (V.4) Reaktion der Kläger (V.5) Überstellung Jesu an Herodes (V.6–12) Schweigen Jesu (V.9) Anklage der „hohen Priester …“ (V.10) Verspottung Jesu (V.11) Herodes und Pilatus: Von nun an Freunde (V.13) 2. Verhandlung vor Pilatus (23,13–23) Drei Wortwechsel: Erster Versuch des Pilatus, Jesus freizugeben (V.13–19) [2.] Unschuldserklärung (Rückblick auf die erste: „Ich fand an diesem Menschen keine Schuld“: V.14; vgl. V.15) Angebot: Geißelung + Freilassung (V.13–16) [Unvermittelte] 547 Forderung der Freilassung des Barabbas (V.18 f.)

Erster Versuch des Pilatus, Jesus freizugeben: [1.] Unschuldser- [1.] Unschuldserklärung: „Ich finde an ihm keine Schuld“ (18,38f) klärung (23,4)

Erneute Anklage [Anklage: siehe unten (5): 19,7] Schweigen Jesu [Schweigen Jesu: siehe unten (6): 19,8]

Amnestienotiz548 Amnestieangebot und -angebot Forderung der Freilassung Forderung der des Barabbas (18,39–40) Freilassung des Barabbas

545 Auf die erste Verhandlung vor Pilatus (Lk   23,2–5) folgt nach dem Herodes-Intermezzo (23,6–12) eine zweite Verhandlung vor Pilatus mit drei Versuchen des Statthalters, Jesus freizu­ geben; jedem dieser Versuche ist ein Wortwechsel zugeordnet: 23,13–16/18–19/20–22; V.24 f. beschließt die Szene. Wolter, Lk 745. 546  Die Ziffern in runden Klammern von (1) bis (7) bezeichnen die 7 Episoden, in die Joh die Szene konzentrisch gegliedert hat: vgl. oben 9.1 unter (4). 547  V.17 (ἀνάγκην δὲ εἷχεν ἀπολύειν αὐτοῖς κατὰ ἑορτὴν ἕνα), den weder Nestle-Aland, 28. Aufl., noch die gängigen Übersetzungen (EÜ; Luther; Zürcher etc.) bieten, wurde in der Textgeschichte nachgetragen (Paralleleinfluss). 548  Von Lk gestrichen, siehe unten.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

Lk  2 3

Zweiter Versuch des Pilatus (23,20 f.): „Wieder sprach Pilatus zu ihnen in der Absicht, Jesus freizulassen“ (V.20) Antwort: doppelter Kreuzigungsruf

407

PElk/joh

Joh  18,28–19,16b

(Siehe unten!)

(4) Geißelung und Verspottung Jesu (19,1–3)

Zweiter Versuch des Pilatus: [?]

(5) Vorführung Jesu (19,4–7): Zweiter Versuch des Pilatus mit [2.] Unschuldserklärung: „Ich finde keine Schuld an ihm“ (19,4)

Antwort: doppelter Kreuzigungsruf

Antwort: doppelter Kreuzigungsruf [3.] Unschuldserklärung: „Ich finde nämlich keine Schuld an ihm“ (19,6) (6) Zweite Befragung Jesu (19,8–11) Schweigen Jesu (V.8) (Ergebnis V.12a: „Von da an suchte Pilatus ihn freizulassen“; vgl. Lk  23,20)

Dritter Versuch (23,22 f.): „Was hat dieser denn Böses getan?“549 [3.] Unschuldserklärung: „Ich fand nichts Todeswürdiges an ihm“ (V.22). Erneutes Angebot: Geißelung + Freilassung Erneute Forderung der Kreuzigung Abschluss „er entschied“ (ἐπ-έκρινεν): Amnestie des Barabbas + Auslieferung Jesu

Dritter Versuch des Pilatus: „Was hat dieser denn Böses getan?“

Abschluss

(7) Letzte Verhandlung mit „den Juden“ (19,12b–15) Dritter Versuch des Pilatus: „Euren König soll ich kreuzigen?“ (Siehe oben unter [1])!

Abschluss „auf dem Richterstuhl“:

Amnestie des Barabbas + Auslieferung Jesu Auslieferung Jesu Verspottung

(Siehe oben unter [4]!)

Die vielfältigen Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes lassen die spezifischen Konturen der Pilatus-Szene in der PElk/joh in Umrissen erkennen 550 . Gerahmt von den Notizen der Überstellung Jesu an Pilatus und seiner Auslieferung umfasste sie (wie die PEmk) die beiden Episoden des Verhörs Jesu (1) und der Amnestie (2) – im Vergleich zur mkn. Überlieferung allerdings in erweiterter Form. Am Ende leitete die Episode von der Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten (3) wie im alternativen Überlieferungszeig zum Kreuzweg Jesu über. Lk  23,22: τί γὰρ κακὸν ἐποίησεν οὗτος; damit vgl. Joh  18,30: εἰ μὴ ἦν οὗτος κακὸν ποιῶν […]. Siehe die Liste der Übereinstimmungen zwischen Lk und Joh oben in II.  9.1 unter (4) (b). – Ein Seitenblick auf Mk kann die Rekonstruktion der Szene in der PElk/joh dort stützen, wo sie sich mit dem ältesten Evangelisten berührt. 549 

550 

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(1) Der erste Verhandlungsgang, das Verhör Jesu durch Pilatus, wird im Anschluss an seine Überstellung an den Präfekten „in der Frühe“551 von der Anklage der „hohen Priester“ eröffnet. Diese ergeht nicht pauschal, sondern benennt in Anknüpfung an das nächtliche Vorverhör einen konkreten Punkt: Jesus nenne sich „(Gesalbten) König“ (Lk  23,2) bzw. „mache sich selbst zum König“ (Joh  19,12) 552 . Pilatus will wissen, was von dieser Anklage zu halten ist, und fragt Jesus: „Bist du der König der Juden?“ Anklage und erste Verhör-Frage passen bruchlos zusammen553. Jesus bejaht wie bei Johannes und Markus die Frage mit σὺ λέγεις (Lk  23,3 par. Joh  18,37; Mk  15,2), womit die Verhandlung aber nicht zu Ende sein kann. Weil Lukas die wesentlichen Elemente des von Markus überlieferten zweiten Verhörgangs, der im Unterschied zum ersten ergebnislos bleibt (Mk  15,3–5), in seiner Herodes-Einlage verarbeitet (Lk  23,9 f.) 554, und auch Johannes das Schweige-Motiv nach erneuter Anklage Jesu (19,7) in seinem zweiten Jesus-Verhör bietet (Joh  19,9d), ist davon auszugehen, dass ein zweiter Verhörgang, der im Schweigen Jesu endet, in einer Markus vergleichbaren Gestalt auch in der PElk/joh stand und dort den ersten Verhandlungsgang abschloss555. Erster Verhandlungsgang 1. Wortwechsel

1. Die hohen Priester: 2. Pilatus: 3. Jesus:

Anklage auf Königsprätendentenschaft „Bist du der König der Juden?“ „Du sagst es“.

2. Wortwechsel

1. Die hohen Priester: 2. Pilatus: 3. Jesus:

pauschale Anklage „Antwortest du nicht? …“ Schweigen

551  Vgl. Lk  23,1 par. Joh  18,28, andererseits Mk  15,1. Wie die Notiz in der PElk/joh genau gelautet hat, lässt sich nicht sagen; vielleicht erwähnte sie Jesu Fesselung nicht und verwendete neben παραδιδόναι („ausliefern“) (vgl. Joh  18,30.35) das Verb ἄγω („führen“). Ob sie neben Pilatus auch den Ort der Verhandlung nannte (πραιτώριον), muss offenbleiben. 552  Die beiden anderen aus makrokontextuellen Gründen genannten Sachverhalte (Aufwiegelung des Volks; Aufforderung zur Verweigerung der Kaisersteuer) gehen auf Lk zurück. 553 G. Schneider, Lk II 471: „Aus dieser Anklage, die den Königsanspruch erwähnt, ergibt sich logisch die entsprechende Verhörfrage des Statthalters“. Das spricht gegen die Annahme Schleritts, Passionsbericht 408, dass Lk in seiner PE folgende Sequenz vorgefunden habe: konkrete Anklage – Schweigen Jesu – Frage des Pilatus – Antwort Jesu. Diese Abfolge macht keinen Sinn: Zuerst soll Jesus auf die Anklage der Königsprätendentenschaft schweigen, dann aber auf die Nachfrage des Pilatus sich zu ihr äußern. Beides passt nicht zusammen. Das hat Folgen für die Frage, wie die Urgestalt der Episode aussah (siehe unten 9.8 unter [1]). 554  Die Notiz vom Schweigen Jesu (V.9: „er antwortete ihm [sc. Herodes] nicht“) steht im Unterschied zu Mk  15,3–5 voran, der Hinweis auf die hohen Priester (und Schriftgelehrten) (V.10: sie „standen dabei und verklagten ihn heftig“) folgt. 555  Mk  15,5b („so dass Pilatus sich wunderte“) hat bei Lk und Joh kein Echo. Entweder hat die PElk/joh dieses Motiv durch die unmittelbar anschließende 1. Unschuldserklärung des Pilatus verdrängt oder sie hat es in PEG nicht gelesen; dann wäre es redaktionelle Zutat der PEmk bzw. des Mk (so Schleritt, Passionsbericht 399).

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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(2) Der zweite Verhandlungsgang, in den Jesus selbst nicht mehr einbezogen ist, umfasst (wie in der mkn. Überlieferung) drei erfolglose Anläufe des Pilatus, Jesus „freizugeben“ 556 – über Markus hinaus von gleichfalls drei Erklärungen der Unschuld Jesu flankiert (regel de tri). Die erste Unschuldserklärung folgt bei beiden Evangelisten auf den ersten Verhandlungsgang und hält dessen Ergebnis aus Sicht des Pilatus fest (Lk  23,4; vgl. Joh  18,38). Bei Johannes eröffnet die Erklärung zugleich die Barabbas-Episode (Joh  18,39 f.) 557. Auch in der PElk/joh wird sie das Scharnier zwischen dem ersten und zweiten Verhandlungsgang gebildet haben, dessen markanter Auftakt sie ist. Die hohen Priester stehen weiterhin alleine Pilatus gegenüber, nicht (wie bei Markus) zusammen mit der hinzukommenden Volksmenge. (a) Im ersten Versuch bietet Pilatus den hohen Priestern die Freigabe des „Königs der Juden“ über den Weg der Paschaamnestie an (Joh  18,39) 558 . Lukas verschweigt diese wohl deshalb, weil er sie historisch für nicht glaubhaft hält 559. Daraus folgt, dass die Sequenz in der PElk/joh entsprechend der oben 560 dargebotenen Synopse Joh  18,39 f. par. Lk  23,18 f. folgende Elemente enthielt: Erwähnung des Amnestie-Brauchs (συνήθεια)561 – Angebot des Pilatus („Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe?“) – Antwort der hohen Priester („nicht diesen, sondern Barabbas“) – Erklärung zur Person des Barabbas. Lukas bietet eine Neuformulierung von Mk  15,7562 , Johannes eine Notiz, die nicht knapper sein könnte: „Barabbas aber war ein Räuber“. Diese stand möglicherweise schon in der PElk/joh563. (b) Wie der erste Versuch des Pilatus, Jesus freizugeben, am Widerstand der „hohen Priester“ scheitert, so auch der zweite. Wie er diesen motiviert, ist auf den ersten Blick nicht klar. Johannes begründet ihn mit der demonstrativen Vorführung Jesu als Spottkönig, zu der er Pilatus erklären lässt: „Siehe, ich führe ihn euch heraus, damit ihr erkennt: Ich finde keine Schuld an ihm“ (Joh  19,4). Diese Verknüpfung geht eindeutig auf das Konto des vierten Evangelisten. Im Vergleich dazu bleibt Lukas vage: „Wieder redete Pilatus auf sie ein (προσεφώνησεν αὐτοῖς) in der Absicht, Jesus freizulassen“ (Lk  23,20). Mit welchem Argument Pilatus die „hohen Priester“ für sich gewinnen will, verrät Lukas nicht. Stattdessen konstatiert er nahezu wortgleich mit Johannes das Scheitern auch dieses Versuchs: „Sie aber schrien anhaltend laut (ἐπεφώνουν): „Kreuzige, kreuzige ihn!“ (Lk  23,21 par. Joh  19,6) 564. Weiter führt die Beobachtung, dass die zweite Unschuldserklärung, die Johannes wohl zutreffend mit dem zweiten Versuch des Pilatus verknüpft (Joh  19,4 f.), bei Lukas in der von 556 

Lk sagt es ausdrücklich: „Er aber (sc. Pilatus) sprach zum dritten Mal zu ihnen“ (23,22). Bei Lk steht die Erklärung vor der redaktionellen Überleitung (V.5–7) zum Herodes-Intermezzo (V.8–12). Die zweite Unschuldserklärung befindet sich in der lkn. Eröffnung des zweiten Verhandlungsgangs (V.13–16), und zwar in V.14, wo sie zusammen mit V.15 den kleinen Barabbas-Wortwechsel vorbereitet. 558  Joh  18,39c fast wortgleich mit Mk  15,9b. 559  Es ist ein Beispiel unter vielen für seine im Proömium programmatisch beschriebene Vorgehensweise, allem „genau (ἀκριβῶς)“ nachzugehen und es auf seine Glaubwürdigkeit hin zu prüfen (Lk  1,3). Zur Frage der Historizität der Pascha-Amnestie siehe unten III.  2.6.1.3. 560  In II.  9.1 (4) unter (b) [6]. 561  Möglicherweise in Form der Ich-Rede (Joh); sie würde in der PElk/joh nahtlos an die erste Unschuldserklärung anschließen. 562  Lk  23,17 ist textkritisch sekundär: siehe oben Anm. 547. 563  Schleritt, Passionsbericht 406; vgl. Reinbold, Bericht 161. 564  ἐπ-εφώνουν entspricht προσ-εφώνησεν αὐτοῖς in V.20; es verdankt sich lkn. Redaktion, während ἐκραύγασαν Joh  19,6 aus der PElk/joh übernommen sein könnte (vgl. 18,40). Κράζω: Mk  15,13.14; Lk  23,18. 557 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

ihm gestalteten Eröffnung des zweiten Verhandlungsgangs verarbeitet ist und dort zusammen mit dem Kompromissvorschlag, Jesus „züchtigen“, dann freilassen zu wollen, den kurzen Barabbas-Wortwechsel einführt. Weil Lukas den Verweis auf die jährliche Osteramnestie für nicht glaubhaft hielt und unterdrückte, benötigte er für das Vorhaben des Pilatus, Jesus freizugeben, eine andere Strategie. V.16 liefert sie ihm: „Nachdem ich ihn habe züchtigen lassen (παιδεύσας), werde ich ihn also freigeben“. Der untenstehende Vergleich der Sequenzen bei Lukas und Johannes legt folgende Annahme nahe: Schon die PElk/joh führte den zweiten Versuch des Pilatus mit dem Kompromissvorschlag einer Auspeitschung und anschließenden Freilassung Jesu ein. Lukas versetzte dieses Element aus genanntem Grund nach vorne und bot dafür dort, wo es in der PElk/joh ursprünglich stand, eine eher vage Paraphrase (V.20). Johannes hat die Auspeitschung Jesu samt Verspottung durch die römischen Soldaten gezielt in die Mitte seiner Komposition gerückt. Wie Frank Schleritt zutreffend beobachtet, könnte ihn dazu die Fassung seiner PE veranlasst haben, die den Kompromissvorschlag der Auspeitschung im Anschluss an den Barabbas-Wortwechsel bot, also dort, wo jetzt bei Johannes die zentrale Episode steht. Dieser hätte den Kompromiss „in 19,1–3 gewissermaßen in Szene gesetzt“565. Vielleicht enthielt die PEjoh bzw. die PElk/joh das von ihm benutzte Verb μαστιγόω, nicht παιδεύω, das eher auf Lukas hindeutet. Lk  2 3,14c.d.16.[20.]21

Joh  19,4c–e.6

4c und siehe, Siehe, ich führe ihn euch nach draußen, d damit ihr erkennt: ich […] fand an diesem Menschen nicht die Schuld, eIch finde an ihm keine Schuld […]. d derer ihr ihn angeklagt habt […]. 16 Nachdem ich ihn habe züchtigen lassen, gebe ich ihn also frei. [20Wieder redete Pilatus auf sie ein in der Absicht, Jesus freizulassen.] 21 6 Sie aber schrien anhaltend laut: Sie (sc. die hohen Priester …) schrien: Kreuzige, kreuzige ihn! Kreuzige, kreuzige! 14c

Der zweite Versuch des Pilatus enthielt in der PElk/joh also folgende Elemente: Zweite Unschuldserklärung – Kompromissvorschlag (Auspeitschung, dann Freilassung) – Kreuzigungsruf der „hohen Priester“. (c) Wie die dritte und letzte Initiative des Pilatus nach der PElk/joh abläuft, ist unmittelbar an Lk  23,22 f. ablesbar: Pilatus fragt, „was dieser denn Böses getan hat“, und begründet das mit seiner dritten Unschuldserklärung: „Nichts Todeswürdiges (αἴτιον θανάτου) fand ich an ihm“. Darauf566 schreien die „hohen Priester“ noch stärker und fordern seine Kreuzigung. Auch bei Johannes erklärt Pilatus ein drittes Mal die Unschuld Jesu (Joh  19,6), worauf in der siebten und letzten Episode „die Juden“ zum zweiten Mal „schreien“: „Nimm, nimm, kreuzige ihn!“567 Joh  18,30 (οὗτος κακὸν ποιῶν) entspricht Lk  23,22 (τί γὰρ κακὸν ἐποίησεν οὗτος;).

565 

Schleritt, Passionsbericht 408. παιδεύσας οὖν αὐτὸν ἀπολύσω dürfte als wörtliche Wiederholung von V.16 lkn. Redaktion sein. 567  Die PElk/joh bot wörtliche Rede; die elegante wie eindrückliche Beschreibung in Lk  23,23 verdankt sich Lk. 566 V.22d:

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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(d) Die Episode endet in der PElk/joh mit der dem Statthalter abgerungenen „Auslieferung“ Jesu, ob auch (wie in der mkn. Überlieferung) mit der Amnestierung des Barabbas und der „Geißelung“ Jesu ist fraglich. Der Name Barabbas fällt beim vierten Evangelisten am Ende nicht mehr. Die Auspeitschung Jesu in der Mitte der Verhandlung (Joh  19,1) scheint die unmittelbar vorangegangene Forderung der „Juden“, Barabbas zu amnestieren (Joh  18,40), kompensiert oder vergessen gemacht zu haben. Der Nebeneffekt: Der Statthalter wird vom Makel, auf Druck einen Kriminellen ausgeliefert zu haben, befreit. So könnte es sein, dass Johannes den Erzählzug am Ende bewusst aus der Überlieferung seiner PE getilgt hat. Lukas dagegen belegt und verstärkt ihn, wenn er das Paradox – einen „wegen Aufstand und Mord“ Gefangenen wollen sie befreit, Jesus aber vernichtet sehen – nochmals in Erinnerung ruft (Lk  23,25; vgl. V.18). Die Auspeitschung Jesu erwähnen beide nicht. Bei Lukas gehört sie zum zweiten Kompromissvorschlag des Pilatus (Lk  23,16.22), den die „hohen Priester“ zurückweisen, weshalb sich die Sache am Ende erledigt. Johannes bietet das Element nicht, weil er es im Zentrum seiner Komposition bereits in Szene gesetzt hat (Joh  19,1). Nicht auszuschließen ist, dass schon die PElk/joh den Erzählzug in Folge des Kompromissvorschlags, den sie in die Überlieferung eingebracht hat (siehe unten), am Ende getilgt hat. Wenn Pilatus bei Lukas und Johannes Jesus nicht den Soldaten „ausliefert“, sondern „ihrem Willen“ (Lk  23,25) bzw. „ihnen“ (Joh  19,16) (siehe L[10]), dürfte bereits die PElk/joh den Dativ αὐτοῖς geboten haben. Er entspricht ihrer Linie: Trotz dreimaligem Rettungsversuch unterliegt Pilatus den „hohen Priestern“, ihnen muss er Jesus am Ende „ausliefern“. 2. Verhandlungsgang 1. Wortwechsel

Pilatus: Die hohen Priester:

1. Unschuldserklärung Amnestieangebot Ruf: „Nimm diesen, aber gib den Barabbas frei!“

Erzählerkommentar zu Barabbas 2. Wortwechsel

Pilatus: Die hohen Priester:

3. Wortwechsel

Pilatus: Die hohen Priester:

Erzählerkommentar

2. Unschuldserklärung Kompromiss: Züchtigung + Freilassen Ruf: „Kreuzige, kreuzige!“ „Was hat er denn Böses getan?“ 3. Unschuldserklärung „Nimm, nimm, kreuzige ihn!“

Freigabe des Barabbas + Auslieferung Jesu an die „hohen Priester“

(3) Die Episode von der Verspottung Jesu durch die Soldaten im Inneren des Gebäudes (Joh  19,2 f.) war in Entsprechung zum mkn. Überlieferungszweig Teil auch der PElk/joh. Lukas übergeht sie568 , womit er die römische Seite schont. Johannes regte sie dazu an, den Prozess auf zwei Schauorte zu verteilen, in das „Innere“ (vgl. Mk  15,16) und „Äußere“ des Palastes569. Als dem Zentrum seiner Komposition (Nr.  4) hat er ihr eine besondere Rolle zugewiesen. 568 

So bleibt ihre Gestalt mangels Vergleichsmöglichkeit (Joh – Lk) ungewiss. Mk die αὐλή von 15,16 nachträglich „Prätorium“ nennt, so führt auch Joh den term. tech. für eine Statthalter-Residenz zur Verdeutlichung des Ambientes in seine Erzählung ein 569  Wie

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die PElk/joh zeichnet aus, möglichst plausibel zu erzählen. Das Verhör Jesu durch Pilatus lässt sie regelkonform mit einer Anklageerhebung beginnen (siehe unten 9.8). Die drei anschließenden Versuche des Statt­ halters, die Ankläger von Jesu Unschuld zu überzeugen, folgen konsequent auf­ einander. Pilatus fährt schrittweise seine Strategie herunter: von zwei Lösungen, die beide Seiten zufriedenstellen könnten – die erste ohne Schaden für Jesus (Freilassung auf dem Weg der Amnestie), die zweite zu seinem Schaden (Züchtigung und anschließende Freilassung570) – hin zum Sieg der Ankläger und dem Erweis der Hilflosigkeit des Statthalters (Übergabe ans Kreuz statt Freilassung)! Die Darstellung ent-lastet Pilatus und be-lastet die jüdischen Autoritäten. Sie sind es, die mit Barabbas einen „Räuber“ ins Spiel gebracht haben. Johannes hat die PElk/joh in weiter entwickelter Gestalt (PEjoh) kennengelernt. Nur wenige, vage bleibende Aussage sind möglich, da nur inner-joh. Befunde vorliegen. Zwar lässt sich begründet annehmen, dass eine Ortsangabe wie die von Joh  19,13: „Pilatus […] setzte sich auf einen Richterstuhl an einem Platz, der Lithostroton (Steinpflaster) heißt, auf Hebräisch Gabbatha“, nicht der Feder des Buchautors entstammt, der konkrete Angaben in der Regel seinen Quellen entnimmt571. Da weder die PElk/joh noch die mken. Überlieferung diese Ortsangabe enthielt, kommt nur die PEjoh für sie in Frage. Aber wie sie in diese gelangte und wo sie platziert war, lässt sich nicht sagen 572 . Plausibel ist, dass die PEjoh den ersten Verhandlungsgang, wie die PElk/joh ihn bot, mit der einem Richter anstehenden Frage: „Welche Anklage habt ihr gegen diesen Menschen?“ (Joh  18,29), eröffnet hat573, aber das bleibt Spekulation. 9.8 Die PEmk und PElk/joh im Vergleich – auf dem Weg zur PEG Ein Vergleich der PElk/joh mit der mkn. Überlieferung erlaubt es, die Szene in der Fassung der PEG in Umrissen zu rekonstruieren: (1) Ein Vergleich der ersten Befragung Jesu durch Pilatus in der PEmk mit dem ersten Verhandlungsgang vor dem Statthalter in der PElk/joh erlaubt folgenden Schluss: Eine unvermittelte Eröffnung des Verhörs mit der Frage des Pilatus nach dem Königtum Jesu und anschließender pauschaler Verklagung Jesu (Mk  15,2–5) wurde in die plausibel erscheinende Form mit Konkretisierung der Anklage vorweg und dazu passender Frage des Pilatus nach Jesu Königtum nachträglich umgewandelt (Lk  23,2 f.). Dies ist wahrscheinlicher als der umgekehrte Vorgang. Die Abfolge der PEmk wird also ursprünglich sein. (Joh  18,28.33; 19,9). Eine solche Explikation lag jeweils nahe, sie ist kein Indiz für Abhängigkeit des vierten vom zweiten Evangelisten. 570  Eine Auspeitschung konnte allerdings tödlich enden, siehe unten III.  2.6.3. 571  Schnackenburg, Joh III 306: „Wie die Ortsangabe wird der Evangelist auch die Zeitangabe [V.14] aus der Quelle übernommen haben. Sie klingt protokollarisch: Tag und Stunde werden genannt, um den Termin des Urteilsspruches festzuhalten“. Bei der Zeitangabe V.14 („es war aber Rüsttag des Paschafestes, ungefähr die sechste Stunde“) bleiben Fragezeichen. Wahrscheinlich stammt sie von Joh: siehe unten S. 458 Anm.  186. 572  Schleritt, Passionsbericht 569, platziert sie nach 18,28. 573 Ebd.  

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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Die alternative Annahme Frank Schleritts, die Grunderzählung hätte die Abfolge Mk  15,3 f./2 geboten, die nachträglich von der PEmk bzw. Markus umgestellt worden wäre574, ist aus verschiedenen Gründen nicht plausibel. Zum einen überzeugt das von ihm angegebene Motiv einer solchen Umstellung in der mkn. Überlieferung nicht 575. Wie eine solche Umstellung tatsächlich motiviert wurde, zeigt die PElk/joh, welche die Anklage vorzieht und zugleich konkretisiert, so dass sich die ohnehin schon konkrete Frage des Pilatus nach Jesu Königsanspruch unmittelbar anschließen konnte. Im Übrigen lässt die PElk/joh noch die Sequenz pauschale Anklage – zweite Frage des Pilatus – Schweigen Jesu folgen, woraus zu schließen ist, dass sie auf einer Gestalt des Verhörs in der PEG fußte, die derjenigen von Mk  15,2–5 gleicht 576 .

(2) Ein Vergleich des zweiten Verhandlungsgangs nach Markus bzw. der PEmk mit der PElk/joh ermöglicht die Rekonstruktion der ältesten Gestalt der Szene in Umrissen: Markus (PEmk)

PElk/joh

Erster Versuch des Pilatus Lk  2 3,4/Joh  18,38d.e Pilatus sprach zu ihnen: Ich finde an diesem Menschen (ihm) keine Schuld. Mk  15,6 – /Joh  18,39a.b Zum Fest aber pflegte er Es ist aber eine Gewohnheit für ihnen einen Gefangenen freizulassen, euch, dass ich euch einen freilasse am Paschafest. den sie sich erbaten. [7(Jesus)577, der sogenannte Barabbas, aber (siehe unten!) war mit den Aufständischen gefangen, die bei dem Aufstand einen Mord begangen hatten. 8 Und die Menge ging hinauf und begann zu bitten, (er möge tun,) wie er es ihnen zu tun pflegte.]

574  Ebd. 399: „Im Anschluss an Mk   15,1/Joh  18,28 wurde in PBG […] offenbar zunächst erwähnt, dass Jesus von den Anklägern beschuldigt wird“. Darauf fragt Pilatus, was Jesus dazu sagt, aber dieser antwortet nichts („Mk bzw. PBmk ist dann für das οὐκέτι in V.5a und den jetzt recht elegant zur Barabbasepisode überleitenden ὥστε-Satz […] verantwortlich“). 575  Mk bzw. die PEmk hätten „den Dialog Mk   15,2“ vorangestellt, „um noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen, dass Pilatus in der Antwort Jesu Mk  15,2d kein Verbrechen sieht“ (ebd. 399). 576  Seltsam ist auch die Abfolge, mit der Schleritt, Passionsbericht 399.408, für die PElk/joh rechnet: Jesus schweigt zuerst zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf eines Königsanspruchs, um sich auf Rückfrage des Pilatus anschließend doch zu ihm zu bekennen, vgl. oben 9.7 unter (1). – Die sekundäre Fassung der PElk/joh entstand nicht, indem die beiden Hälften von Mk  15,2/3–5 einfach umgestellt worden wären. Zwar hätte dies die plausible Abfolge Anklageerhebung – Verhörfrage erbracht, aber letztere wäre unmotiviert geblieben. Die Umstellung muss mit einer Konkretisierung der Anklage, wie die PElk/joh sie vorweg bietet, einhergegangen sein. 577  Siehe oben die Anm. zum Mk-Text in II.  9.2 sowie unten in (a).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Markus (PEmk)

PElk/joh

9 Pilatus aber ergriff das Wort und sprach zu ihnen: – /Joh  18,39c.d Wollt ihr (θέλετε), Wollt ihr nun (βούλεσθε οὖν), dass ich euch den König der Juden freilasse? dass ich euch den König der Juden freilasse? [Er hatte nämlich erkannt, dass ihn die hohen Priester aus Neid ausgeliefert hatten. 11 Lk  2 3,18 (Joh  18,40a) Die hohen Priester aber wiegelten die Sie aber schrien … und sagten: Menge auf, dass er ihnen Nimm diesen, lieber den Barabbas freilasse.] aber lass uns den Barabbas frei! [Lk  2 3,19/Joh  18,40b (siehe oben V.7!) Barabbas aber war ein Räuber.

Zweiter Versuch des Pilatus Pilatus aber ergriff wieder (πάλιν) das Wort und sprach zu ihnen:

Pilatus aber sprach zu ihnen:

12

Joh  19,4/Lk  2 3,13

Siehe, ich finde keine Schuld an ihm (an diesem Menschen). Lk  2 3,16/Joh  19,1 Ich lasse ihn züchtigen und dann frei. Joh  19,4/Lk  2 3,14

Was also [wollt ihr], das ich mit dem […] König der Juden tun soll? 13 Sie aber schrien wieder: Kreuzige ihn!

Sie aber schrien … Kreuzige ihn, kreuzige ihn!

Joh  19,6/Lk23,21

Dritter Versuch des Pilatus Pilatus sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? 14

Lk  2 3,22a/Joh  19,6d

Pilatus sprach zu ihnen: Was hat dieser denn Böses

Lk  2 3,22b(Joh  18,30)

getan?

Ich finde keine Schuld an ihm. Sie aber schrien: Nimm, kreuzige ihn!

Lk  2 3,22c/Joh  18,6f

Sie aber schrien noch mehr: Kreuzige ihn!

Joh  19,15 (Lk  2 3,23)

Abschlussnotiz Pilatus aber [, der dem Volk Genüge tun wollte,] gab ihnen den Barabbas frei und lieferte Jesus aus, dass er – gegeißelt  – gekreuzigt würde. 15

Lk  2 3,25a/ –

frei

Pilatus aber gab (ihnen Barabbas)

und lieferte ihnen Jesus aus, dass er gekreuzigt würde.

Lk  2 3,25a/Joh  18,16a

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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Beide Fassungen sind gleich strukturiert: Drei Mal versucht Pilatus im Ringen mit seinem Gegenüber, Jesus „freizugeben“ – ohne Erfolg, wie die abschließende Erzählernotiz feststellt. Die teils wörtlichen Übereinstimmungen (durch Unterstreichungen markiert) belegen, dass es sich um Varianten ein- und derselben Grunderzählung handelt. Doch weisen beide auch jeweils charakteristische Überschüsse auf: Markus (bzw. die PEmk) führt mit der „Volksmenge“ eine eigene Erzählfigur ein, die PElk/joh drei Unschuldserklärungen des Pilatus und die Motivierung dessen zweiter Initiative als Kompromissvorschlag. Die hier deutlich werdende Absicht, Pilatus nachhaltig zu entlasten – er hat alles getan, was er konnte, um den von ihm als unschuldig erkannten Jesus „freizugeben“ – lässt keinen Zweifel daran, dass es sekundäre Fortschreibungen der Grunderzählung sind. Zudem war die PElk/joh an der Dramatisierung des Erzählten interessiert, wie ihre Verdoppelung des Kreuzigungsrufes zeigt. Anders sieht es bei der mkn. Figur der „Volksmenge“ aus. Die Forschung rechnet sie zwar weithin wie selbstverständlich zum Urgestein der Episode578 . Aber die von Konkurrenz und Agitation bestimmte Relation zwischen den Autoritäten und dem „Volk“, wie Markus sie in wenigen Strichen zeichnet, ist sowohl der lkn. als auch der joh. Fassung unbekannt. Zweifel an der Ursprünglichkeit der Figur sind angebracht579. Zugunsten eines Nachtrags spricht die oben (in 9.6) aufgewiesene Uneinheitlichkeit der Darstellung des Markus. Die Vernetzung der Episode mit dem Makro­ kontext legt es nahe, die Einführung der Figur seiner Redaktion zuzuweisen, nicht der PEmk580 . Die Selbstverständlichkeit, mit der zumeist von der Ursprünglichkeit der Erzählfigur ausgegangen wird, hängt mit ihrer scheinbaren Notwendigkeit für das Amnestieverfahren zusammen. Ist es vorstellbar, dass ein Richter sein Amnestieangebot den Klägern unterbreitet, nicht dem Volk?581 Doch funktioniert das Argument besser in umgekehrter Richtung: Im Wissen um Amnestieverfahren seiner Zeit im Imperium Romanum582 korrigiert Markus die ihm schwierig erscheinende Vorlage583 und nutzt die Gelegenheit zu einer Erklärung, warum das zunächst auf 578  Dabei wird die Fassung des Lk, der vom Verhandlungsbeginn an (Lk  23,4) das Volk einmütig mit den hohen Priestern agieren sieht – von seiner Instrumentalisierung durch diese lässt er nichts verlauten –, in der Regel als Ausweitung der mkn. Fassung verstanden. Die joh. Erzählfigur der „Juden“ wird als Transformation der mkn. Figur des „Volkes“ verstanden. 579  Maccoby, Jesus 56, liegt richtig, wenn er – zwar ohne weitere literarische Analysen – vermutet: „The cry ‚Crucify him!‘ may have existed in the original pre-Marcan story, as a cry, not of the crowd, but of the ‚high priests‘ (in which form it has survived in the Fourth Gospel)“. 580 So Schleritt, Passionsbericht 403. 581  Dies tut er freilich nach der joh. Darstellung, was z. B. Zumstein, Joh 701, als Taktik des Pilatus deutet: Er „scheint mit seinem Angebot geschickt vorzugehen: Er will Jesus freilassen, ohne sich die Sympathie der jüdischen Autoritäten zu verscherzen. Deshalb setzt er sich ihrer Entscheidung aus“. 582  Hinweise bietet Colin, Villes, der Verfahren in hellenistischen Städten auf der Basis von Akklamationen untersucht (dazu Strobel, Besprechung) 583  Schleritt, Passionsbericht 404, spricht von einer „sekundäre(n) Rationalisierung, welche auf der Überlegung beruht, dass ein Richter, der ernsthaft um die Freilassung eines Angeklagten bemüht ist, nicht so töricht sein kann, sich von den Anklägern Unterstützung für seinen Amnestieversuch zu erhoffen“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

der Seite Jesu stehende Volk am Ende die Kreuzigung Jesu fordert 584. Verantwortlich dafür ist die Agitation der hohen Priester (siehe oben 9.2). Unter dieser Prämisse lässt sich das redaktionelle Vorgehen des Evangelisten transparent nachvollziehen: (a) Die Barabbas-Notiz, die in der lkn./joh. Fassung passend auf die voranstehende Forderung der hohen Priester, ihn freizugeben, folgt, wo sie die Ungeheuerlichkeit ihres Begehrens zum Ausdruck bringt 585, hat Markus nach vorne gezogen 586 und unter dem Eindruck des jüdischen Krieges neugestaltet. Die Notiz wird schon in der PElk/joh den vollen Namen des zur Amnestie Vorgeschlagenen geboten haben, wohl in der folgenden Gestalt: „Jesus, der sogenannte Barabbas (ὁ λεγόμενος Βαραββᾶς), war aber ein Räuber (λῃστής)“587. (b) V.8 fügte er hinzu, um die Episode in die Situation des in V.6 angekündigten Amnestieverfahrens einzubetten und seine neue Figur einzuführen: Das Volk steigt hinauf zu Pilatus, um sein Recht einzufordern. (c) V.10 und 11 dienen Markus zur Bestimmung des Verhältnisses der hohen Priester zum Volk. Hat er V.10 von sich aus eingebracht, so zeigt der Vergleich von V.11 (μᾶλλον τὸν Βαραββᾶν) mit der lkn./joh. Parallele, dass er einen ihm vorgegebenen Antwort-Ruf der ­hohen Priester auf die Frage des Pilatus: „Soll ich euch den König der Juden freigeben? (V.9) in seine Paraphrase umgewandelt hat unter Hinzufügung der Pointe: Die hohen Priester haben die Menge zu ihrer Forderung gedrängt, sie sind die eigentlichen Drahtzieher im Hintergrund. Lukas und Johannes bieten den Ausruf mit jeweils eigenem Akzent: „Nimm diesen, aber gib uns den Barabbas frei!“ (Lk  23,18) bzw.: „Nicht diesen, sondern Barabbas!“ (Joh  18,40a). Die schneidend-lakonische Form wird auf den vierten Evangelisten zurückgehen, die verbal formulierte auf Lukas. Sie dürfte ursprünglich sein (PElk/joh = PEG) und so auch Markus in seiner Passionserzählung zugänglich gewesen sein 588 . Der Antwort Lk  23,18 (Joh  18,40a) passt im Übrigen perfekt zur gleichlautenden Frage des Pilatus. Schon die PEG ging hier wie in den beiden folgenden Sequenzen dialogisch vor. Auch von daher erweist sich die Paraphrase Mk  15,11 als sekundär. (d) Beim zweiten und dritten Wortwechsel hat Markus kaum eingegriffen, lediglich durch Einfügung von θέλετε (auch V.9) und ὃν λέγετε in V.12 den distanzierten Ton in die Fragen des Pilatus eingebracht. Am Ende in V.15 geht auch die Wendung βουλόμενος τῷ ὄχλῳ τὸ ἱκανὸν ποιῆσαι auf sein Konto. 584  Rosen, Rom 47, verweist auf die hier waltende „historische und literarische Topik“: „In Rom war es geradezu ein Topos, dass bei Prozessen, an denen Juden beteiligt waren, ein geschlossenes jüdisches Publikum erschien, das die Richter unter Druck setzte. Cicero (Pro Flacco  66; 69) und Horaz (Sermones  1,4,142) persiflieren diese Seite der bekannten jüdischen concordia (Tacitus, Historiae 5,5,1). Beide sprechen von der jüdischen turba, dem ὄχλος der Synoptiker, der den Prozess Jesu entschieden haben soll“. 585  Auch aus narrativen Gründen war die Erzählung nach der unvermittelten Einführung des Barabbas durch die hohen Priester eine Erklärung schuldig, um was für eine Person es sich handelt. 586  Mit Umstellung rechnet auch Reinbold, Bericht 161 (mit Verweis auf Dormeyer, Passion 181; Mohr, Markus- und Johannespassion 292). 587  Für die Annahme, dass die Notiz in dieser Gestalt ursprünglich ist, spricht auch die Verwendung von λῃστής in der Kreuzigungsszene (Jesus zwischen zwei λῃσταί!). 588  Zugunsten der Ursprünglichkeit der lkn. Fassung, die Joh verknappt hat, spricht (1), dass ἀπόλυσον … ἡμῖν (Lk  23,18) der Frage des Pilatus entspricht: ἀπολύσω ὑμῖν (Mk  15,9 = Joh  18,39c.d), (2), dass auch Mk das Verb ἀπολύω in seiner Paraphrase V.11 benutzt, und (3): Die Aufforderung „nimm (αἶρε)!“ wiederholen die „hohen Priester“ am Ende, wie Joh  19,15b belegt.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass erst Markus aus einem ursprünglichen Bar­ abbas-Dialog zwischen Pilatus und den hohen Priestern, wie ihn die PEG, die PElk/joh und wohl auch die PEmk boten, zu einer Amnestie-Geschichte mit drei Erzählfiguren weiterentwickelt hat. Eine narrative Notiz zur Pascha-Amnestie, die Mk  15,6 noch aufbewahrt589, eröffnete den dreigliedrigen Dialog ursprünglich und band ihn an die vorangehende Verhörszene an. (3) Die Verspottungsepisode liegt in zwei Varianten vor, Mk  15,16–20c und Joh  19,2 f.590 , die in den wichtigsten Motiven übereinstimmen: den königlichen Insignien, „Purpurmantel“ und Akanthuskranz sowie dem Huldigungsgruß: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ Bei Johannes fällt die Episode deswegen so knapp aus, weil ihre neue szenische Einbettung Einleitung und Schluss (wie in Mk  15,16 bzw. 20) überflüssig machte. Im Anschluss an den Huldigungsruf gehen beide Fassungen auseinander: Johannes bietet lediglich das Motiv der „Ohrfeigen“ (ῥαπίσματα) (19,3d) 591, bei Markus schlagen die Soldaten Jesus mit einem Rohr auf sein Haupt, „bespucken“ ihn und „beugen ihre Knie“, um ihm zu huldigen (Mk  15,19). Weil der mkn. Text keinen Grund zur Annahme redaktioneller Eingriffe bietet und auch formal in sich geschlossen ist592 , spricht alles dafür, dass diese Fassung in dieser oder einer ähnlichen Form schon in der PEG stand593. Der vierte Evangelist bietet sie in einer verknappten Form, „weil er entweder die verborgene (göttliche) Hoheit Jesu wahren oder sich auf die Vorführung mit den zwei Spottinsignien konzentrieren wollte“594. 9.9 „Wer Schuldige freispricht und wer Unschuldige verurteilt“ (Spr  17,15). Die Szene in der PEG Die Pilatus-Szene besaß in der PEG ungefähr folgende Textgestalt: Markus Lukas Johannes I. A. Und […] in der Frühe ließen die hohen Priester Jesus fesseln und abführen und lieferten (ihn) Pilatus aus.

15,1

18,28a.b

589 Die narrative Form Mk   15,6 dürfte den Vorzug vor der direkten Rede des Pilatus (Joh  18,39a.b) verdienen, weil diese sich als Angleichung an die in der PElk/joh vorausgehenden 1.  Unschuldserklärung des Statthalters erklärt. Der Vergleich der Fassungen erweist zudem ὃν παρῃτοῦντο = den sie sich erbaten (Mk  15,6b) als mkn. Überhang, der V.8 (ἤρξατο αἰτεῖσθαι …) vorbereitet. 590 Mt   27,27–31c ist von Mk abhängig, bei Lk fehlt die Episode (siehe oben). EvPetr  3(7–9) schöpft aus den kanonischen Evangelien, strukturiert die Episode neu und bringt eine Schriftanspielung ein (Jes  58,2); siehe oben I.  2.1. 591  Soll der Zug an Joh  18,22 erinnern? 592  Vgl. oben II.  9.6 unter (4); V.16b (ὅ ἐστιν πραιτώριον) könnte nachgetragen sein (Gnilka, Mk II 307). 593  Für die älteste Passionserzählung reklamieren die Episode u. a. Mohr, Markus- und Johannespassion 302–308; Reinbold, Bericht 119.164–166; Schleritt, Passionsbericht 406–410. 594  Schnackenburg, Joh III 292.

418

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

B. Und Pilatus fragte ihn:   Bist du der König der Juden? Er aber antwortete ihm und sagt:   Du sagst es. Und die hohen Priester brachten viele Anklagen gegen ihn vor. Pilatus aber fragte ihn wiederum und sprach:   Antwortest du gar nichts?  Siehe,   wie viele Anklagen sie gegen dich vorbringen! Jesus aber antwortete nichts mehr [,] [so dass Pilatus sich wunderte].

15,2

Zum Fest aber war er bemüht, ihnen einen Gefangenen freizugeben (ἀπέλυεν) […]. Pilatus aber […] sprach zu ihnen:   Wollt ihr,   dass ich euch den König der Juden freilasse (ἀπολύσω)? Sie schrien … und sagten:   Nimm diesen,   aber gib uns den Barabbas frei (ἀπόλυσον). [Jesus,] der sogenannte Barabbas, aber war ein Räuber. Pilatus aber […] sprach wieder zu ihnen:   Was (…) soll ich dann mit dem König der Juden (…) tun? Sie aber schrien wieder:   Kreuzige ihn! Pilatus aber sprach zu ihnen:   Was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien noch mehr:   Kreuzige ihn!

18,33 18,37

15,3 15,4

(18,30)

15,5

19,9

15,6

18,39a.b

15,9

(15,11b)

23,18

18,39c 18,39d (18,40a.b)

(15,7) 15,12

18,40c

15,13

19,6b 19,6c

15,14

(18,30b) 19,15a 19,15c

C. Pilatus aber ließ ihnen den Barabbas frei (ἀπέλυσεν), und lieferte Jesus aus, ließ ihn geißeln (φραγελλώσας), dass er gekreuzigt würde.

15,15b 15,15c 15,15d 15,15e

II. Die Soldaten aber führten ihn ab ins Innere der Residenz […] und rufen die ganze Kohorte zusammen. Und sie ziehen ihm ein Purpurgewand an und setzen ihm einen Akanthuskranz auf, den sie geflochten hatten, und begannen, ihn zu grüßen:   Sei gegrüßt,   König der Juden! Und sie schlugen seinen Kopf mit einem Rohr und bespuckten ihn und indem sie die Knie beugten, huldigten sie ihm. Und als sie ihren Mutwillen mit ihm getrieben hatten (ἐνέπαιξαν αὐτῷ), zogen sie ihm das Purpurgewand aus und zogen ihm seine Kleider an.

15,16

19,1–3

15,17

19,2

15,18

19,3

15,19

15,20

19,16a 19,16b

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

419

Die Szene besitzt zwei Hälften: das Verfahren vor Pilatus (I.) und Jesu Verspottung durch die römischen Soldaten (II.). Teil I wird von einer Exposition mit überleitender Funktion (transitio) (A) und einem knappen Schlussteil (C) gerahmt. Der Schlussteil nennt das Ergebnis des Verfahrens und öffnet die Erzählung nach vorne („dass er gekreuzigt würde“). Die Verspottungsepisode mit ihrer Königsthematik (II.) rundet die Szene ab595. Sie wirkt wie ein Ritardando, bevor der Schlussakt der Passionserzählung einsetzt. Das Verfahren vor Pilatus besteht aus zwei Teilen: dem Verhör Jesu und dem Ringen des Pilatus mit den „hohen Priestern“ um die „Freilassung“ Jesu596 . ἀπέλυεν (Mk  15,6) wird gewöhnlich als duratives Imperfekt verstanden: Pilatus „pflegte ihnen zum Fest einen Gefangenen freizugeben“. Mk  15,8 (καθῶς ἐποίει αὐτοῖς) stützt diese Übersetzung597. Möglich ist aber auch ein Impf. de conatu: „Sieht man von Vers 8 einmal ab […], lässt sich die Aussage auf einen einmaligen Akt beziehen: am Fest war er bemüht, ihnen einen Gefangenen freizugeben. Die traditionsgeschichtliche Entwicklung von einem einmaligen Geschehen zu einem Rechtsusus könnte durch die Seitenreferenten bestärkt werden, die hier noch unzweideutiger sprechen“598 . Diese Beobachtung Joachim Gnilkas verdient es, aufgegriffen und weitergeführt zu werden. Wenn V.8 auf das Konto der mkn. Redaktion geht, legt sich nämlich folgende Annahme nahe: Die PEG sprach noch nicht (jedenfalls nicht explizit) von einem Rechtsusus, sondern von einem einmaligen Begnadigungsakt. Der anschließende Wortwechsel zeigt allerdings, dass das Angebot des Statthalters diesen verpflichtete. Anders wäre es nicht begreiflich, warum er nach Ablehnung seines Vorschlags durch die hohen Priester sich gezwungen sieht, ihnen Barabbas freizugeben, nicht Jesus. Dennoch ist bemerkenswert: Erst Markus bzw. die PElk/joh haben ihre Vorlage im Sinne eines Rechtsusus gedeutet – Markus zusätzlich unter Einsatz der verbreiteten Vorstellung einer Audienz, die der Herrscher dem Volk gewährt 599.

Im Unterschied zur Amnestie-Geschichte bei Markus bietet die PEG nur knappe Wortwechsel mit Erzählerkommentar, wodurch Jesus Barabbas und Jesus, „der König der Juden“, noch deutlicher zusammenrücken als in der späteren narrativen Entfaltung. Am Ende werden beide mittels der rhetorischen Figur der σύγκρισις („Vergleich“) unmittelbar miteinander verknüpft: Der Gerechte wird dem Tod übergeben, „der Räuber“ wird „ihnen“ freigegeben. In Erinnerung an weisheitliche Mahnungen der Schrift 600 ist die Widersinnigkeit offen595  Das Stichwort ἐμπαίζω = mit jmd. seinen Mutwillen treiben/verspotten (Mk  15,20) fasst die Episode zusammen. 596  Leitwort dieses Abschnitts ist das Verb ἀπολύω. 597  Vgl. die Wiedergabe des Textes mit Anmerkungen oben in II.  9.2. 598 J. Gnilka, Mk II 301; V.8 rechnet er zur Vorlage des Mk (siehe oben II.  9.8 unter [2]). 599  Die ursprünglichen Rufe der „hohen Priester“ werden im Kontext der Audienz zu Volksakklamationen. Zu derartigen „Akklamationen“ siehe Mayer-Maly, Auftreten 231–245 (mit Belegen aus Tacitus); ders., Bibelkunde 66. 600  Spr  17,15: „Wer Schuldige freispricht und wer Unschuldige verurteilt, beide sind dem Herrn ein Gräuel“. Spr  18,5: „Es ist nicht gut, für einen Schuldigen Partei zu ergreifen und einen Unschuldigen abzuweisen vor Gericht“. Jes  5,23: „Die dem Schuldigen gegen Bestechung Recht zusprechen und Gerechten die Gerechtigkeit vorenthalten“. – Lk bringt die Widersinnigkeit des Geschehens in Apg  3,14 so auf den Punkt: „Ihr habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und habt gebeten, dass euch ein Mörder geschenkt würde“, erklärt Petrus.

420

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

kundig601. Der Kontrast ist mit dem zwischen Petrus und Jesus in der Synedrionsszene vergleichbar. Die insgesamt vier Mal begegnende Titulierung Jesu als „der König der Juden“ verbindet die drei Teile der Szene. Die Bejahung der eröffnenden Pilatus-Frage, ob er „der König der Juden“ sei, durch Jesus und die Episode seiner Verspottung durch die Soldaten als König am Ende entsprechen sich. Für die PEG ist klar: Jesus ist „der König der Juden“– abgesehen vom sprachlichen Vorbehalt, dass die Rede vom „König der Juden“ die römische Perspektive voraussetzt, in jüdischer Tradition aber vom „König Israels“ die Rede sein müsste (vgl. Mk  15,32). Die Verspottungsszene stützt den affirmativen Gebrauch des Titels: Wenn die Soldaten Jesus als „König der Juden“ huldigen, setzen sie sein Eingeständnis („du sagst es“) voraus602 . Die Evangelisten reiben sich am identifikatorischen Gebrauch des Königstitels für Jesus und bestätigen ihn damit: Markus lässt Pilatus erklären, dass das Volk ihn so nenne (15,12); Lukas vermeidet den Titel außerhalb des Pilatus-Verhörs; Johannes lässt Jesus in quasi-philosophischer Manier sein Königtum gegen Missverständnisse abgrenzen. Die Titel „Gesalbter“, „Sohn Gottes“ und „König“, die in der Synedrion- und Pilatus-Szene nicht Jesus, sondern andere im Mund führen, sind untereinander kompatibel603. Eine semantische Verschiebung von einem religiösen zu einem politischen Gebrauch der Titulatur im Pilatus-Prozess gibt die PEG nicht zu erkennen. Wohl erlaubt die „Übertragung“ von χριστός („Gesalbter [König])“ in βασιλεύς („König“) an den pagan-römischen Verstehenshorizont anzuknüpfen. Für das Verständnis des Titels entscheidend ist die Paradoxie der Doppelszene: Die königliche Würde Jesu entspricht nicht menschlichen Erwartungen und Vorstellungen. Epiphan wird sie in seinem Verzicht auf Verteidigung und Selbstrechtfertigung wie in seiner Entehrung: „Die Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (2Kor  12,9).

Exkurs 8: Von den „hohen Priestern“ bzw. vom „Haufen“ zum „ganzen Volk“. Zur unheilvollen Karriere einer Nebenrolle der Passionserzählung Wer die Turba-Chöre der bachschen Matthäuspassion in der romantischen Interpretation mit großem Sängeraufgebot im Ohr hat, denkt bei den „Kreuzige ihn!“-Rufen in der Pilatusszene unweigerlich an eine Volksmasse, die in bedrohlicher Lautstärke den Präfekten zur Auslieferung Jesu ans Kreuz nötigt. Derartige Aufführungen, welche die Hörer in ihrem Vorurteil bestärken, das „ganze Volk“ sei am Tod Jesu schuldig gewesen, haben nicht wenig zur antijudaistischen Wahrnehmung der Passionserzählungen im 19. und 20.  Jh. beigetra601 Ein verborgener Heilssinn der Szene – Jesus wird anstelle/zugunsten des eigentlichen Schuldigen dem Tod ausgeliefert – ist nicht angedeutet. 602  Auch die Parallelstruktur von jüdischem und römischem Verfahren (siehe oben Exkurs 7) bestätigt die Annahme, dass Jesu Antwort auf die Pilatus-Frage im Sinne ihrer Bejahung zu verstehen ist. 603  Siehe I.  1.2.1.2. Zum Königstitel vgl. insbesondere Ps  2 ,6: „Ich habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligem Berg“. Diese Gottesrede hat sich der PEG zufolge an Jesus bewahrheitet.

9. Jesus vor Pilatus und die Begnadigung des Barabbas. Nochmals: Bild und Gegenbild

421

gen604. Historisch wird die Volks-Szene immer noch weithin für bare Münze genommen605. Die im Imperium Romanum den Juden nachgesagte „Neigung zu Massenaufläufen“ scheint sich auch hier auszuwirken606 . Schon ein differenzierter Vergleich der Terminologie mahnt indes zur Vorsicht. „In bestimmten Szenen der Passionsgeschichten wird ein Publikum erwähnt. Anwesend konnten tageszeitlich und umständehalber eigentlich nur die wenigen sein, die bei der Verhaftung dabei waren und noch hinzukamen, doch ist eine deutliche Tendenz zu beobachten, Rolle und Bedeutung dieses Publikums zu vergrößern. Im griechischen Originaltext wird das Publikum zudem auf eine kennzeichnende Weise unterschiedlich bezeichnet und in den Bibelübersetzungen auf bemerkenswerte Weise variierend und teilweise sehr folgenreich wiedergegeben“607. Ὄχλος etwa, das „Haufen“, „Menge“ und gegebenenfalls auch „Volksmenge“ oder „Volk“ bedeuten kann, wird in Mk  15,8.11.15 von der Lutherübersetzung 2017 mit „das Volk“ wiedergegeben, von der EÜ 2016 mit „Volksmenge“ bzw. „Menge“, ὄχλοι im Plural in Lk  23,4 von der Lutherübersetzung mit „das Volk“, von der EÜ mit „die Volksmenge“. Bei Lukas wurde „da und dort aus dem ochlos, dem anwesenden ‚Haufen‘, der laós, das Volk, und bei Johannes gar ‚die Juden‘“. „Werden diese Angaben über das Volk und die Juden ohne Berücksichtigung des differierenden Befundes verabsolutiert, erscheint nicht mehr das politische Establishment als verantwortlich handelnd, sondern die Gesamtheit“608 . Die hier gebotene historisch-kritische Analyse nötigt dazu, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen: Die PEG sprach in der Pilatus- und Barabbas-Szene weder von einem anwesenden „Haufen“609, noch von der Jerusalemer Bevölkerung, sondern nur von den hohen Priestern. Die Beteiligung des „Volkes“ am Verfahren gegen Jesus ist sekundäre Zutat. Erklärungen dafür gibt es: Markus benutzte die Erzählfigur, um zu zeigen, wie das priesterliche Establishment die Menge für sich zu instrumentalisieren verstand. Lukas und Mat­ thäus diente sie dazu, den Präfekten zu ent-lasten, der unter dem Druck der Straße gestanden haben soll. Die Kosten für diese interessegeleitete Geschichtsklitterung sind enorm. Die sie bewerkstelligten, hatten von den Folgen noch keinerlei Ahnung. Nirgendwo in der Passions­ überlieferung wird die Dringlichkeit historisch-kritischer Aufklärung so deutlich wie hier.

604 J.M.

Schmidt, Matthäus-Passion. Strobel, Stunde 119: „Weil letztlich jetzt die Stimme des Volkes ausschlaggebend war, ging die Rechnung des Pilatus, der vielleicht hin und wieder im Blick auf die Verurteilung Jesu Skrupel verspürte, letztlich nicht auf“; ebd. 131; Wenger, Berührungen 574 f., spricht von den „hasserfüllte(n) Feinde(n) Jesu“, die „unter Mitwirkung der fanatisierten Volksmenge ihr Ziel“ erreichten. 606  Demandt, Pontius Pilatus 56 f.: „Ihre (sc. der Juden) bis in die Spätantike bezeugte Neigung zu Massenaufläufen hatte sie unbeliebt gemacht, wie wir aus Ciceros Rede für Flaccus und aus Versen bei Horaz entnehmen können“. Die Kollektivstrafe, die Tiberius wegen der Vergehen eines einzelnen Juden in Rom über der ganze dortige Judenschaft verhängt, „wäre unverständlich, wenn die Juden nicht immer wieder lautstark in Massen (lateinisch turba, griechische thorybos) aufgetreten wären“ (siehe oben Anm. 584). „Die Ausweisung der Juden wiederholte sich unter Claudius 49 n.Chr., diesmal wieder wegen tumultuarischer Aufläufe“. 607  Maier, Leidensgeschichte 282. 608  Ebd. 284 f.; Vogels, Methodisches 370 f., verweist auf die frühe syr. Übersetzung, die statt erwartetem Pendant zu ὄχλος vermeintliches λαός wiedergibt. 609  Beliebt ist die Annahme, bei diesem „Haufen“ handele es sich um die Anhängerschaft des Barabbas. 605 

C. Das Finale (Schlussteil) Der von der Abführung Jesu bis zum Begräbnis seines Leichnams reichende Teil C der Passionserzählung scheint von anderer literarischer Art zu sein als die beiden vorangehenden Teile A und B. Im Unterschied zu den kompakten Szenen bisher folgen jetzt Momentaufnahmen oder Episoden in solcher Dichte aufeinander, dass eine Gliederung, abgesehen von der Exposition (Nr.  1–3)1 und der eigenständigen Begräbniserzählung, künstlich wirkt2 . Ein Grund für diesen Befund ist die Bindekraft von Ps  22, der die Geschehenssequenz zusammenhält, ein anderer der narrative Spannungsbogen, der mit dem Tod Jesu zum Höhepunkt und dem Begräbnis seines Leichnams zum Abschluss gelangt3. Die mkn. Darstellung, der die beiden anderen Synoptiker folgen, wird durch ihre Stundenzählung rhythmisiert. Empfiehlt es sich, die Texte jeweils zusammenhängend zu untersuchen oder die einzelnen Sequenzen (wie die gängigen Synopsen sie bieten) je für sich4? Der zweite Weg ist vielleicht übersichtlicher, der erste bietet die Chance, die jeweilige Gesamtkonzeption der Evangelisten besser darstellen zu können (Mk  15,20d–41; Mt  27,32–56; Lk  23,26–49; Joh  19,16c–37). Dem soll hier der Vorzug gegeben werden – abgesehen von der Begräbniserzählung (Mk   15,42–47 par. Mt   27,57–61; Lk  23,50–56; Joh  19,38–42), die gesondert untersucht wird. Exposition

„Kreuzweg“ Jesu (Nr.  1–3)

Hauptteil

Ankunft des Hinrichtungskommandos auf Golgota samt Kreuzigung der Delinquenten bis zu Jesu Tod (Nr.  4 –35)

Schluss

Kreuzesabnahme des Leichnams und seine Bestattung

Die Exposition, die den Übergang von der Verspottungsszene (transitio) zur Kreuzesszene herstellt, erzählt vom Weg Jesu nach Golgota. Bei Markus sind dies knapp

1 

Siehe die nachfolgende tabellarische Übersicht! Die vier Fassungen sind auch umfangreich: Bei Mk sind es 32 Verse, bei Mt 35, bei Lk 31, bei Joh 26. 3  Vgl. die zeitliche Anbindung des Schlussteils (vgl. Mk  15,42 par. Mt  27,57 einerseits, Lk  23,54; Joh  19,42 andererseits). 4  Josef Schmid bietet in seiner Synopse (142016) folgende Unterteilungen: Jesu Gang nach Golgota; die Kreuzigung; der Tod Jesu; das Begräbnis Jesu. Die Synopse von Kurt Aland gliedert: Der Weg nach Golgota; die Kreuzigung; der Gekreuzigte wird gelästert; die beiden Übel­täter; der Tod Jesu; Zeugen unter dem Kreuz; Beweis des Todes Jesu; das Begräbnis Jesu. 2 

424

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

zwei Verse (Mk  15,20d–21) 5. Erst Lukas nutzt die Exposition, um den Weg Jesu zu einer Prozession auszugestalten (Lk  23,26d–32).

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.) Die nachstehende Synopse listet die Erzählmomente, die in den vier Fassungen teils unterschiedlich platziert sind, teils stabile Sequenzen bilden, im Einzelnen auf: Nr. Mt 27

Mk 15

Lk 23

Joh 19

1

Abführung Jesu (V.31d.e)

Herausführung Jesu (V.20d.e)

Abführung Jesu (V.26a)

Ergreifung Jesu (V.16c)

2

Simon von Kyrene (V.32)

Simon von Kyrene (V.21)

Simon von Kyrene (V.26b–e)

Jesus „selbst“ trägt das Kreuz (V.17a)

3

Gefolge Jesu (viel Volk und zwei „Übeltäter“); die Wehklage der Frauen und Jesu Reaktion (V.27–32)

4

Ankunft auf Golgota (V.33)

5

Gabe von mit Galle Angebot von mit vermischtem Wein Myrrhe gewürztem Wein (V.23) (V.34)

6

Kreuzigung Jesu (V.35a)

7

(siehe unten Nr.  13)

8

Ankunft auf Golgota (V.22)

Ankunft auf Golgota (V.33a)

Ankunft auf Golgota (V.17b.c)

Kreuzigung Jesu (V.24a)

Kreuzigung Jesu (V.33b)

Kreuzigung Jesu (V.18a)

(siehe unten Nr.  13)

und zweier Verbrecher (V.33c–e)

und zweier Verbrecher (V.18b–c)

Gebet Jesu für seine Henker (V.34a–d)

9

Verlosung der Verlosung der Verlosung der Kleider Jesu (V.35b) Kleider Jesu (V.24b) Kleider Jesu (V.34e.f)

10

Bewachung des Kreuzes

(siehe unten Nr.  20)

5  Dies spricht gegen den Interpretationsansatz von Ebner, Markusevangelium 180 f. (mit weiterer Lit.); Lau, Triumphator 368 u. ö., Mk habe den Weg Jesu in subtiler Anspielung auf römische Triumphzüge „zum triumphalen Prozessionsweg stilisiert“. „Der in V.20d begonnene Weg Jesu kommt“, wie Lau selbst ebd. 381, feststellt, „mit V.22 bereits an sein Ende“.

425

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

Nr. Mt 27

Mk 15

11

Stunde der Kreuzigung Jesu

Lk 23

Joh 19

12

Inschrift (V.37)

Inschrift (V.26)

(siehe unten Nr.  17)

Inschrift (V.19)

13

Kreuzigung von zwei Verbrechern (V.38)

Kreuzigung von zwei Verbrechern (V.27)

(siehe oben Nr.   7)

(siehe oben Nr.   7)

14

Verspottung Jesu (1) durch Passanten (V.39 f.)

Verspottung Jesu (1) durch Passanten (V.29 f.)

(2) durch „die hohen Priester mitsamt den Schriftgelehrten und Ältesten“ (V.41–43)

(2) durch „die hohen Priester mitsamt den Schriftgelehrten“ (V.31–32c)

15

16

(zur Darreichung von Essig siehe unten Nr.  27)

17 18

(3) durch die Mitgekreuzigten (V.44)

Statistenrolle des zuschauenden „Volks“ (V.35a) Verspottung Jesu (1) durch „die Archonten“ (V.35b)

(2) durch die (zur Darreichung Soldaten: Dar­ reichung von Essig von Essig siehe unten Nr.  27) und Spottrede („König der Juden“) (V.36 f.)

(siehe oben Nr.  12)

Aufschrift der Schuldtafel (V.38)

(3) durch die Mitgekreuzigten (V.32d)

Gegensätzliche Reaktionen der beiden „Übeltäter“ (Dialogepisode) (V.39–43)

19

(siehe oben Nr.  12)

Vom titulus crucis und dem Gesuch der hohen Priester, ihn abzuändern (V.20–22)

20 (siehe oben Nr.  9)

(siehe oben Nr.  9)

(siehe oben Nr.  9)

Verlosung der Kleider (V.23–24)

21

(siehe unten Nr.  35)

(siehe unten Nr.  35)

Zeugen am Kreuz (Frauenliste) (V.25)

22

(siehe unten Nr.  35)

Jesus, seine Mutter und der geliebte Jünger (V.26 f.)

426

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Nr. Mt 27

Mk 15

Lk 23

23 Finsternis von der 6. bis 9. Stunde (V.45)

Finsternis von der 6. bis 9. Stunde (V.33)

(Sonnen-)Finsternis von der 6. bis 9. Stunde (V.44.45a)

24

(siehe unten Nr.  32)

Zerreißen des Tempelvorhangs (V.45b)

letztes Wort Jesu = Ps  22,2 zur 9. Stunde (V.34)

(siehe unten Nr.  30)

(siehe unten Nr.  32)

25 letztes Wort Jesu = Ps  22,2 zur 9. Stunde (V.46)

Joh 19

26 Elija-Missverständ- Elija-Missverständnis einiger nis einiger Umstehender (V.47) Umstehender (V.35) Darreichung von Essig durch einen „Hinzulaufenden“ (V.48)

Darreichung von Essig durch einen „Hinzulaufenden“ (V.36a)

28 Elija-Wort aus dem Mund „anderer“ (V.49)

Elija-Wort des Essig-Darreichenden (V.36b)

29 lauter Schrei Jesu (φωνὴ μεγάλη) (V.50a)

lauter Schrei Jesu (φωνὴ μεγάλη) (V.37a)

27

30

(siehe oben Nr.  16)

Darreichung von Essig (V.29)

lauter Schrei Jesu (φωνὴ μεγάλη) (V.46a) mit

Temporalsatz + Redeeinleitung (V.30a.b):

letztem Wort Jesu = letztes Wort Jesu Ps  31,6 (V.46b) (V.30c)

31

Tod Jesu (V.50b)

Tod Jesu (V.37b)

Tod Jesu (V.46c)

32

Zerreißen des Tempelvorhangs (V.51a)

Zerreißen des Tempelvorhangs

(siehe oben Nr.  23)

33

Erdbeben, Öffnung der Gräber der „Heiligen“ (etc.) (V.51b–53) „Nachruf“ des Centurio (V.39)

„Nachruf“ des Centurio und Reaktion des Volks (V.47 f.)

34 „Nachruf“6 des Centurio und der wachhabenden Soldaten (V.54) 35

6 

Tod Jesu (V.30d.e)

Zeugen „von ferne“ Zeugen „von ferne“ Zeugen „von ferne“ (siehe oben Nr.  21) (V.49) (V.40 f.) (Frauen­ (V.55 f.) (Frauen­ liste) liste)

Berger, Formgeschichte 234.

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

427

10.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Markus bietet nach der Exposition mit Übergangsnotiz V.20d und der Simon von Kyrene-Episode V.217 im Hauptteil drei größere Sequenzen (15,22–41) 8: die Ankunft der Soldaten auf Golgota mit der Kreuzigung Jesu und zweier weiterer Delinquenten (V.22–27) 9, die dreifache Verspottung Jesu durch die Passanten, die jüdischen Autoritäten und Mitgekreuzigten (V.29–32)10 und schließlich die Begleitumstände seines Todes (V.33–39)11. Die Notiz zu den vielen Frauen, die Jesus „nachgefolgt waren, als er noch in Galiläa war“ und nun „von ferne“ zuschauen (V.40 f.), klingt wie ein Nachtrag. Nicht nur diese Bemerkung, auch der Hinweis auf Jesu Wundertätigkeit V.31 („anderen hat er geholfen [ἔσωσεν]“)12 und das Elija-Thema V.35.36e (vgl. Mk  6 ,15; 8,28; 9,4.11–13) verbinden die Szene mit dem Makrokontext des Evangeliums. Die Königstitulatur prägt die erste Sequenz (V.26: titulus crucis) und die zweite (V.31 f.: „sich selbst kann er nicht helfen, der Messias, der König Israels“). Sie schließt den Bogen, der die Einzugserzählung mit den Hochrufen auf „die kommende Königsherrschaft unseres Vaters David“ eröffnet (11,10) und im Prozess vor dem Syn­ hedrion und Pilatus zu seinem Höhepunkt gelangt. Eine Besonderheit der mkn. (und mt. Darstellung) sei hier schon vermerkt: Jesus schreit ein letztes Wort heraus (V.34) und stirbt kurz danach mit einem zweiten, jetzt aber wortlosen Schrei (V.37). (2) Matthäus folgt in 27,31d–56 seiner mkn. Vorlage, überarbeitet sie stilistisch, gliedert sie ein wenig anders und gewichtet neu. Die Notiz von der „Abführung“ Jesu ist in den voranstehenden Abschnitt integriert. Die Szene setzt mit der Episode des Simon von Kyrene ein (Mt  27,32)13. Das Motiv vom Zerreißen des Tempelvorhangs ist um die neu gebildete Episode vom Erdbeben und dem Sich-Öffnen der Gräber der „Heiligen“ erweitert, so dass V.51– 54 einschließlich der Reaktion des Hauptmanns und der wachhabenden Soldaten14 7  Gerahmt wird die Exposition vom Stichwort „Kreuz“/„kreuzigen“ (jeweils in einem Finalsatz): V.20d (ἵνα σταυρώσωσιν αὐτόν) – V.21b (ἵνα ἄρῃ τὸν σταυρὸν αὐτοῦ). 8  Am Wechsel der Subjekte ablesbar: Von V.20d bis 27 sind es „die Soldaten“ (V.16), ab V.29 „die Vorübergehenden“, „die Hohenpriester“ und „die Mitgekreuzigten“, ab V.33 bzw. 34 Jesus (V.36; mit Unterbrechung in V.35). – Wendungen mit παρά prägen die jeweiligen Abschnitte: V.21: Simon von Kyrene, „einer, der gerade vorbeikommt“ (παρ-άγοντά τινα); V.29: „die Vorübergehenden“ (οἱ παρα-πορευόμενοι); V.35: „einige derer, die dabeistanden“ (τίνες τῶν παρ-εστηκότων): Der damit vermittelte Eindruck des Zufälligen kontrastiert scharf zur gnadenlos ablaufenden Kreuzigung Jesu. 9  Die erste Sequenz ist stark parataktisch geprägt: Die meisten Sätze sind mit καί verbunden und stehen fast ausnahmslos im praesens historicum. 10  Durchweg im Präteritum erzählt. 11  Hier herrschen Aoriste vor: so in den Sätzen mit Jesus als Subjekt (V.34.37), aber auch in V.38 f. 12  Σῴζω in mkn. Wundererzählungen: Mk  3,3; 5,23.28.34; 6,56; 10,52. 13  Die bei Mk eigenständige Notiz von der „Herausführung“ Jesu ist in das Partizip ἐξερχόμενοι umgewandelt. 14  Bei Mt legt nicht nur (wie bei Mk) der Hauptmann ein Bekenntnis zu Jesus als „Gottessohn“ ab, sondern zusammen mit ihm auch die wachhabenden Soldaten (V.54), die von ihm bereits in V.36 eingeführt werden.

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jetzt einen eigenständigen (nach V.32–38/39–44/45–50) vierten Abschnitt ergeben15. Als Antwort auf das Gebet Jesu V.46, das „nicht ungehört bleibt“16 , sind sowohl das Zerreißen des Tempelvorhangs als auch die auf das Erdbeben folgenden Ereignisse Gerichtszeichen Gottes gegen diejenigen, die für den Tod Jesu verantwortlich sind: Das Zerreißen des Vorhangs signalisiert Gottes Auszug aus dem Tempel, der als Stätte seiner Gegenwart ausgedient und später auch zerstört werden wird. Die „Heiligen“, die aus ihren Gräbern kommen, stehen für die „Propheten“ und „Gerechten“ von Mt  23,29–36, deren unschuldiges Blut in Israels Geschichte vergossen wurde. Wenn sie „in die prophetenmordende Stadt“ gehen, wird diese „bei ihrer Schuld behaftet“17. Matthäus hat die Motivik aus der Schrift geschöpft18 , wie er zuvor schon die Schriftbezüge verstärkt hat: so in der Notiz von der Gabe mit Galle vermischten Weines (V.34: Ps  69[68],22) und der Erweiterung der Spottrede der Synedristen durch den redaktionellen V.43 (Ps  22[21],9; Weish  2,16–1819). Die Rede vom Gottessohn legt er bereits den Spöttern in den Mund (vgl. V.40.43)  – sozusagen als Widerlager zum Bekenntnis des Centurio und der wachhabenden Soldaten am Ende („dieser ist wahrhaft Gottes Sohn gewesen“). Während die Spötter erwarten, dass Jesus sich als „Gottessohn“ aus eigener Vollmacht retten könne bzw. Gott ihn retten müsse, weiß Jesus sich im scharfen Kontrast dazu als „Sohn Gottes“ ganz dem Willen seines Vaters unterstellt (26,39.42). Die mt. Darstellung besitzt keinen eigenen Quellenwert. Sie verdankt sich der Redaktion der mkn. Vorlage durch Matthäus. (3) Auch Lukas hat die Erzählung im Vergleich zu Markus stilistisch überarbeitet, mit weiterem Material angereichert und mit neuen Akzenten versehen (23,26– 49). Die szenische Gliederung in Exposition und dreiteiligen Hauptteil behält er bei. Doch die Sequenzen sind jetzt profilierter, weil die einzelnen Momentaufnahmen stärker miteinander verbunden und teils auch neu geordnet sind. Bei Markus umfasst die Exposition nur zwei, bei Lukas sieben Verse (V.26–33). Aus dem Begleitzug der Jesus „abführenden“ Soldaten mit Simon von Kyrene, der ihm das Kreuz nachträgt, ist über die Genannten hinaus ein ganzer Prozessionszug geworden, bestehend aus „einer großen Menge Volks und über ihn klagende und weinende Frauen“ sowie zwei „Verbrecher“, die wie Jesus zur Hinrichtung geführt werden und die Lukas hier schon einführt. Die Pointe der Exposition ist das Wort

15  Mt setzt diesen vierten Abschnitt vom dritten betont mit „und siehe (καὶ ἰδού)“ (V.51) ab. „Von der Struktur des gesamten Kapitels her gesehen handelt es sich um die Klimax“ (W. Kraus, Passion 421). 16  Konradt, Mt 446. 17  Ebd. 447; vgl. Herzer, Auferstehung 131–141. V.53 verknüpft die Episode theologisch mit der Auferweckung Jesu. 18  Die Motive Erdbeben und Öffnen der Gräber stammen aus Ez   37,7.12 f.LXX, Spaltung der Felsen (des Ölbergs), Erdbeben, Kommen der Heiligen aus Sach  14,4 f.; vgl. Konradt, Mt 447; W.  K raus, Passion 420: „Die Auferweckung der Toten in Kombination mit einer ‚messianischen‘ Gestalt begegnet 1Hen  51,3 ff. (vgl. 52,4 ff.)“. 19  Siehe oben I. unter 1.2.1.2.

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Jesu an die Frauen, die er mit „Töchter Jerusalems“ anredet und auffordert, nicht über ihn, sondern über sich selbst zu weinen (V.28b–31). Wie die Exposition wird auch der Hauptteil von einem Temporalsatz eingeleitet 20 . Die erste Sequenz (V.33–34) erzählt von der Kreuzigung Jesu und der beiden „Verbrecher“ und gipfelt in einem weiteren Wort Jesu, seinem Gebet für die ­Henker: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (V.34b–e)21. Die Notiz von der Verlosung der Kleider schließt sich an. Die zweite Sequenz (V.35–43) berichtet, wie in Gegenwart des „zuschauenden Volks“ zuerst „die Führer“ (οἱ ἄρχοντες) ­Jesus mit ihren Reden verspotten, dann die Soldaten, die ihm zusätzlich zu ihrem Spott noch Essig reichen, und schließlich „einer der gehenkten Verbrecher“. Auch diese Sequenz gipfelt in einem Wort Jesu, jetzt an den bußwilligen Übeltäter gerichtet: „Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein!“ (V.43). Die dritte Sequenz (V.44–48), die markant mit Stundenangabe und den ­beiden himm­ lischen Zeichen einsetzt – der Sonnenfinsternis und dem Zerreißen des Tempel­ vorhangs – hat zwei Hälften: Sie bietet das letzte Wort Jesu, sein zweites Gebet, mit dem auf den Lippen er stirbt: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (V.46: Ps  31,6), und erzählt von der Reaktion des Hauptmanns und „all der Volksmassen, die zu diesem Schauspiel gekommen waren (πάντες οἱ συμπαραγενόμενοι ὄχλοι ἐπὶ τὴν θεωρίαν ταύτην)“: Der Hauptmann „preist Gott“, die Menschen „schlagen sich an die Brust und kehren heim“. Wie bei Markus folgt noch der Nachtrag zu den Frauen, „die ihn von Galiläa her begleitet hatten […]“ und „dies (mit)ansahen“, wobei Lukas die Erzählfigur der „Bekannten“ Jesu neu einbringt (V.49). Lukas und Matthäus übergehen den Hinweis des Markus auf Alexander und Rufus, wohl deshalb, „weil sie mit den Namen der beiden Söhne [des Simon] nichts mehr anfangen können“22; auch die übrigen minor agreements (etwa in der Exposition statt ἐξ-άγω = „herausführen“ jeweils ἀπ-άγω = „abführen“) sind „nicht besonders aufregend“23.

Auf den ersten Blick scheint es so, als habe Lukas lediglich seine Markus-Vorlage neugeordnet, redigiert und angereichert. Doch wird auch hier wieder der Vergleich mit Johannes Indizien zu Tage befördern, die auf die PElk/joh als weitere Quelle des dritten Evangelisten verweisen.

20  Vgl. Lk  23,26a: καὶ ὡς ἀπήγαγον αὐτόν, mit V.33a: καὶ ὅτε ἦλθον ἐπὶ τὸν τόπον τὸν καλούμενον Κρανίον. 21  Strittig ist, für wen Jesus hier bittet: für die Autoritäten Jerusalems oder die römischen Soldaten. Wohl nicht nur für diese, die ihn gerade gekreuzigt haben, sondern vor allem für jene, die Lk zufolge die Verantwortung dafür tragen. – In wichtigen Textzeugen fehlt das Gebet: P75 ‫א‬1 B D* W Θ, doch interne Gesichtspunkte der Textkritik sprechen für seine Ursprünglichkeit (Theobald, Tod 115–119), u. a. dass „der bald aufkommende altkirchliche Antijudaismus, der in allen Juden Christus- und Gottesmörder sah […], eine sekundäre Tilgung dieser Bitte sehr viel wahrscheinlicher (macht) als eine nachträgliche Ergänzung“ (Wolter, Lk 757;). – Zur altkirch­ lichen Rezeptionsgeschichte siehe M. Blum, Rezeption. 22  Wolter, Lk 752. 23  Wolter listet sie ebd. auf.

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(4) Bei Johannes besteht die Szene (19,16c–37) aus sechs Episoden 24. Während Lukas den Weg Jesu nach Golgota zur Exposition der Szene ausgestaltet hat, sind die entsprechenden Notizen bei Johannes in die erste Episode V.16c–19 integriert. Deren Fokus liegt auf der Kreuzigung Jesu „in der Mitte“ zwischen „zwei anderen“ samt Anbringung des titulus an Jesu Kreuz. Die zweite Episode V.19–2225 knüpft daran an und erzählt von der Forderung der „hohen Priester der Juden“ an Pilatus, den titulus abzuändern, was dieser aber ablehnt. Die dritte Episode V.23–24 beschreibt, wie die Soldaten gemäß der Schrift (Ps  22,19) aus den Kleidungsstücken Jesu vier Teile machen – „für jeden Soldaten einen Teil“ – und über seinen nahtlos gewobenen Rock das Los werfen. Die vierte Episode V.25–27 bietet ein Gegenbild dazu, wenn sie von vier Frauen und dem geliebten Jünger (gleichsam der zukünftigen Kerngemeinde) am Kreuz erzählt, von dem herab Jesus sein Testament an den geliebten Jünger erlässt. Die fünfte Episode V.28–30 26 beinhaltet die letzten Worte Jesu und seinen Tod, die sechste Episode V.31–37 dessen Feststellung durch den Lanzenstich eines Soldaten. Die sechs Episoden sind jeweils paarweise einander zugeordnet: I.

1. Kreuzigung Jesu und Anbringung des titulus durch Pilatus (19,16c–19) 2. Forderung der „hohen Priester der Juden“ an Pilatus, den titulus crucis abzuändern (19,20–22) II. 3. Teilung und Verlosung der Kleider durch die vier Soldaten (19,23–24) 4. Die vier Frauen und der geliebte Jünger am Kreuz; das Testament Jesu (19,25–27) III. 5. Die beiden letzten Worte Jesu und sein Tod (19,28–30) 6. Bitte der „Juden“ an Pilatus um Abnahme der Leichname – Jesus, das wahre Pascha­ lamm 19,31–37

(5) Johannes lässt einige von den Synoptikern her bekannte Erzählzüge vermissen: den Auftritt des Simon von Kyrene; die Darreichung von mit Myrrhe (Mk  15,23) bzw. Galle (Mt  27,34) vermischtem Wein; die Verspottung Jesu durch Passanten, hohe Priester und die Mitgekreuzigten (bzw. einen von ihnen); das apokalyptische Zeichen der Verfinsterung der Sonne und das vom Zerreißen des Tempelvorhangs; die Elija-Passagen. Auch das mkn. Stundenschema fehlt. Neu sind: die Einführung des Pilatus schon in der ersten Episode (V.19)27; das Verlangen der ἄρχοντες, den titulus crucis abzuändern; die narrative Umsetzung von Ps  22,19 in V.23 f.; der zwei24 Ähnlich Bultmann, Joh 515–517; Zumstein, Joh 713, die allerdings die beiden ersten Episoden zu einer Sequenz zusammenziehen; Schnackenburg, Joh III 248, hebt beide voneinander ab („Die Kreuzigung auf Golgota“ und „Der Kreuzestitel und der Streit darum“); anders ebd. 311; H.-C. Kollmann, Kreuzigung 205–339, vergleicht Joh  19,16–22 detailliert mit den Synoptikern. 25  Sie hebt sich von der ersten ab durch Einführung des neuen Personenkreises („viele der Juden“) und Ortsangabe („denn der Platz, wo Jesus gekreuzigt wurde, lag nahe bei der Stadt“); letztere begründet, warum so viele Menschen die Inschrift lasen, weshalb auch die ἄρχοντες der „Juden“ bei Pilatus vorstellig werden. Im Übrigen ist das syntaktische Signa οὖν V.20 (vgl. V.23.31, ansonsten V.21.24.26.30.32) Indiz einer neuen Einheit. 26  Von den vorangehenden ist sie durch das Zeitsignal μετὰ τοῦτο (vgl. V.38) abgesetzt. 27  Wenn Pilatus (gegen die Synoptiker) bereits in den Episoden 1 und 2 agiert, entspricht das seiner Bedeutung in 18,28–19,16b. Die Episoden mit Pilatus (1/2 und 6) rahmen die Kreuzigungsszene.

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malige Auftritt des geliebten Jüngers (V.26 f.35); die letzten Worte Jesu; die Episode vom Crurifragium. Auffällige Bezüge zu Markus, Matthäus28 oder Lukas in redaktionellen Passagen enthält Johannes nicht. Er stimmt mit dem dritten Evangelisten gegen Markus und Matthäus aber kompositionell an drei Stellen überein: (a) Die Notiz zu den beiden Übeltätern folgt bei ihnen unmittelbar auf die von der Kreuzigung Jesu (= Nr.  6.7)29. Markus und Matthäus bieten sie erst an späterer Stelle (= Nr.  17). (b) Jesus stirbt ihnen zufolge mit einem letzten Wort auf den Lippen (= Nr.  29 + 30)30 , Markus und Matthäus zufolge mit einem wortlosen Schrei, den er nach seinem Klageruf (= Ps  22,2) und einer weiteren, dazwischengeschobenen Episode ausstößt. (c) Johannes und Lukas bieten weder die Notiz von der Darreichung des mit Myrrhe gemischten Weines (= Nr.  5) noch erwähnen sie Elija (Nr.  26+28).

Überdies berühren sie sich sprachlich mehrfach gegen Markus und Matthäus: (d) Die Notiz von der Kreuzigung Jesu verknüpfen sie mit der voranstehenden Ortsangabe31 mittels eines lokalen Adverbs: „dort (ἐκεῖ) kreuzigten sie ihn“ (Lk  23,33) bzw. „wo (ὅπου) sie ihn kreuzigten“ (Joh  19,18)32 . (e) Die „Aufschrift“ (Lk  23,38) bzw. den „titulus“ (Joh  19,19) platzieren sie „über“ (= ἐπί) Jesus bzw. „oben“ am Kreuz (= ἐπί). Auch Matthäus lässt die Aufschrift „über seinem Haupt“ anbringen, benutzt aber das Kompositum ἐπ-έθηκαν. „Markus setzt noch nicht voraus, dass die Schuldtafel am Kreuz angebracht ist. Eher ist sie als neben dem Kreuz liegend vorgestellt“33. (f) Bei Lukas und Johannes „reichen“ „Soldaten“ Jesus den Essig (unter Verwendung desselben Verbs προσφέρω [Lk  23,36; Joh  19,29]34). Bei Markus und Matthäus wird nur „einer [von ihnen]“ tätig, nach Ausweis der Rede, die er im Mund führt (Elija), ein Jude. (g) Lukas und Johannes eröffnen die Frauenliste mit der Wendung: „es standen aber da (εἱστήκεισαν δέ) […]“ (Lk  23,49; Joh  19,25), im Unterschied zu Mk  15,40 par. Mt  27,55, wo es heißt: „es waren aber da (ἦσαν δέ) […]“. Diese unscheinbare Veränderung könnte sich der Absicht verdanken, die Anspielung auf Ps  38,1235 zu verstärken.

Die aufgeführten kompositionellen und sprachlichen Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes dürfen wieder als Indizien ihres gemeinsamen Ahnen PElk/joh gedeutet werden 36 . 28  Nennenswert ist die sachliche Übereinstimmung Mt  27,50b: ἀφῆκεν τὸ πνεῦμα und Joh  19,30e: παρέδωκεν τὸ πνεῦμα. 29  Sprachlich unterscheiden sie sich: Lk  23,33c spricht von „Verbrechern“ (κακοῦργοι), Joh  19,18b von „zwei anderen“, die Lk  23,33d (darin Mk folgend) „zur Rechten“ und „zur Linken“ Jesu platziert sieht, Joh  19,18b „hier und dort“. 30  Bei Lk mit Ps  31,6 im Mund: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk  23,46), bei Joh mit: „Es ist vollbracht“ (Joh  19,30). 31  Gegen Mk und Mt geben Lk und Joh der Übersetzung des Ortsnamens („genannt Schädelstätte“) den Vorzug; Joh lässt den Hinweis auf das aramäische Golgota noch folgen, Lk streicht ihn. 32  Bei Mk und Mt steht die Notiz von der Darreichung des mit Myrrhe gemischten Weines dazwischen. 33 J. Gnilka, Mk  II  318. 34  Mk  15,36 par. Mt  27,48: „jemand gab ihm zu trinken (ἐπότιζεν)“ – im Anschluss an Ps  69,22LXX. 35  Die LXX bietet allerdings den Aorist ἔστησαν: Ps  37,12LXX. 36  Matera, Death 469–485, behauptet exklusive Abhängigkeit des Lk von Mk, ohne Berücksichtigung der Berührungen mit Joh.

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10.2 „Jesus stieß einen lauten Schrei aus […]“. Die Darstellung des Markus (15,20d–41) Bei Markus ist die Kreuzigungsszene das Gegenstück zur Getsemaniszene. Die Klausel, unter die Jesus dort sein Beten gestellt hat: „[…] nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (Mk  14,36), bewahrheitet sich jetzt in verstörender Weise. Jesus überkommt eine Gottverlassenheit, die keiner der Evangelisten in ihrer Abgründigkeit so wie Markus in Szene gesetzt hat. Um deren Vielschichtigkeit zu erkennen, bedarf es einer Differenzierung zwischen den Erzählfiguren und dem Erzähler: Während Jesus nach Gottes rettendem Eingreifen ruft und am Ende mit wortlosem Schrei stirbt, führt der Erzähler seiner Hörerschaft die Heilsnotwendigkeit des Sterbens Jesu vor Augen und lässt in „Zeichen“ des Himmels die Gegenwart des Deus absconditus anschaulich werden 37. (1) Die Episode von der Verspottung Jesu (15,29–32) verdeutlicht, was „Glauben“ (15,32) im Angesicht des Kreuzes heißt. Die Reden der Spötter steigern sich: Rufen Passanten: „Rette dich selbst! (σώσον σεαυτόν)“ (V.30), so erklären die hohen Priester und Schriftgelehrten: „Andere hat er gerettet (ἄλλους ἔσωσεν), sich selbst kann er nicht retten (ἑαυτὸν οὐ δύναται σῶσαι)“ (V.32). Jesus, der Thaumaturg, der so viele Menschen „geheilt“ bzw. „gerettet“ hat (5,34: „Dein Glaube hat dich gerettet!“)38 , wird in verzweifelter Lage aufgefordert, „sich selbst zu retten“39. Seine absolute Hilflosigkeit am Kreuz ist zur Zielscheibe des Spotts geworden. Die Passanten verbinden ihre Aufforderung an den Gekreuzigten mit einem „Ausdruck spöttischen Erstaunens“40 : οὐά = „ach! O! Der (du) den Tempel niederreißt und in drei Tagen (wieder) aufbaust!“ Was für sie Ausdruck von Größenwahn ist, enthält für den Leser tiefere Wahrheit: Gewiss kann Jesus nicht sich selbst retten, aber Gott wird ihn erretten, in der „Erweckung“ aus dem Tod „in drei Tagen“. Die hohen Priester und Schriftgelehrten rufen Jesus mit „Messias, König Israels (ὁ χριστὸς ὁ βασιλεὺς Ἰσραήλ)“, womit sie, gemessen an ihrem Bild eines messianischen Königs, meinen, Jesus verspotten zu können. Doch auch ihr Spott enthält tiefere Wahrheit: Jesus ist „Messias“ und „König Israels“, aber als derjenige, der sein Leben „für viele“ gibt.

Beide Gruppen rufen Jesus zu, er möge vom Kreuz herabsteigen (15,30.32). Wenn er nach Meinung der Passanten mit seiner Ankündigung, den Tempel niederreißen und in drei Tagen wiederaufbauen zu wollen, vorgibt, übermenschliche Kräfte zu besitzen, dann soll er sie durch Rettung der eigenen Person unter Beweis stellen. Die Präposition κατά = herab zieht sich durch den ganzen Text (κατα-βαίνω = herabsteigen bzw. καθ-αιρέω = [vom Kreuz] herabholen: 15,30.32.36.46)41. „Die hohen Priester und Schriftgelehrten“ drängen: „Steige jetzt (νῦν) vom Kreuz“ und setzen 37  Schweizer, Mk 192, überschreibt seine Auslegung von 15,33–39, treffend mit der Überschrift: „Der Tod Jesu als die Offenbarung Gottes“. 38  Σῴζω bei Mk meint beides: „heilen“ und „retten“: vgl. 3,4; 5,23.28.34; 6,56; 8,35; 10,26.52; 13,13.20. 39  Vgl. Lk  4,23: „Arzt, heile dich selbst!“ 40 W. Bauer, Wörterbuch 1196. 41  Dazu kommt noch das κατα-λύω des Tempelworts!

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hinzu: „[…] damit wir sehen und glauben (ἵνα ἴδωμεν καὶ πιστεύσωμεν)“. Sie fordern Beweise, einen mirakulösen Machterweis des angeblichen „Messias“. Aber Glauben heißt Markus zufolge: auf Gott bauen, gerade dort, wo, menschlich betrachtet, nur Ohnmacht und Dunkelheit herrschen42 . Als Jesus dem Vater des an Epilepsie leidenden Kindes in Galiläa erklärt: „Alles vermag, wer glaubt“ (8,23), da antwortet dieser: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ (8,24). Jesus „steigt“ nicht vom Kreuz „herab“, wie auch Elija nicht kommt und ihn „herabholt“. Dem Glauben wird zugemutet, gerade im Angesicht des Gekreuzigten an Gottes Macht zu glauben. Genau das veranschaulicht Markus an der Gegenfigur der „hohen Priester“. (2) Gott ist auf Golgatha als deus absconditus anwesend. Die beiden Zeichen des Himmels, welche die Sterbeszene rahmen – die dreistündige Finsternis „über der ganzen Erde“ und das Zerreißen des Tempelvorhangs „von oben bis unten“43 – deuten dies an. Die Notiz zur Finsternis ist kein „Satz aus dem Wetterbericht“44 zu Jerusalem, sondern Bildrede mit dem Gerichtsspruch Am  8,9 f. als Deutehorizont45: 9

a Und es wird geschehen an jenem Tag, Spruch des Herrn YHWH, b da lasse ich die Sonne am Mittag untergehen (LXX: καὶ δύσεται ὁ ἥλιος μεσημβρίας46) c und bringe Finsternis über die Erde am helllichten Tag (LXX: καὶ συ-σκοτάσει ἐπὶ τῆς γῆς ἐν ἡμέρᾳ τὸ φῶς). 10 a Und ich verwandle eure Feste in Trauer b und alle eure Gesänge in Totenklage c und lege um jede Hüfte einen Trauerschurz d und auf jedes Haupt eine Glatze. e Und ich mache es wie bei der Trauer um den einzigen (Sohn) (LXX: ἀγαπητοῦ) f und das Ende davon wie einen bitteren Tag.

42  Vgl. v. a. 5,36 (μὴ φοβοῦ μόνον πίστευε); 9,23 f.; 11,23 f. – Zur Fragwürdigkeit eines Glaubens aufgrund von Gesehenem: 13,21. 43  Von derartigen Unheils-„Zeichen“ ist in antiker Literatur des Öfteren die Rede: Vergil, Georg  1,469–471, erklärt, dass beim Tod Caesars „Erde und Meerflut, […] auch Unheil kündende Hunde und leidbringende Vögel Zeichen gaben (signa dabant)“ (Übersetzung Schönberger); zu Josephus siehe unten III.  1.7. 44  Burchard, Markus 7 Anm.  21, zu Pesch, Mk II 493 f., der ein „historisch-meteorologische(s)“ Verständnis für möglich hält: „atmosphärische Verdunkelung, z. B. durch schwarz aufziehende, tiefhängende Wolken“. „[E]in Verständnis der Finsternis als eines legendären Zeichens“ weist Pesch mit dem Hinweis zurück, dass ein derartiges Zeichen, „gemessen an den Parallelen“, „eher angesichts oder nach Jesu Tod situiert worden wäre“ (494) (dazu siehe unten). Klumbies, Mythos 267 f.: „Angesichts der Bedeutung der Tages- und Nachtzeiten sowie der Lichtverhältnisse für das mythische Denken erübrigt es sich, nach historischen Hintergründen dieser Angabe, etwa einer Sonnenfinsternis, zu suchen“. 45  Vgl. auch Dtn  28,29 („am hellen Mittag tappst du im Dunkel“). Finsternis als Zeichen göttlichen Gerichts: Ex 10,22LXX: καὶ ἐγένετο σκότος … ἐπὶ πᾶσαν γῆν Αἰγύπτου τρεῖς ἡμέραις; Jes  13,10 f.; Jer  15,9 („die Mutter, die sieben Söhne gebar, welkte dahin, verhauchte ihr Leben. Ihr sank die Sonne mitten am Tag […]“); Joel  2,2.10; 3,4LXX: ὁ ἥλιος μεταστραφήσεται εἰς σκότος; Zef  1,15. 46  EvPetr  5(15) greift das Stichwort μεσημβρία auf.

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Gelesen auf diesem Hintergrund, ist die Finsternis „über der ganzen Erde“47 Zeichen des göttlichen Gerichts48 . Sie setzt ins Bild, was Paulus ὀργὴ τοῦ θεοῦ (vgl. Röm  1,18) nennt: den Gotteszorn über die Sünden der Menschen. Auch der Gekreuzigte versinkt an Seite derer, denen das Gericht Gottes gilt, drei Stunden lang in der Finsternis. Das deutet sein stellvertretendes Todesleiden an (vgl. Mk  10,45; 14,24)49. Wenn Jesus sein letztes Wort „in der neunten Stunde“, also gegen Ende der Finsternis herausschreit: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“, entsteht das beeindruckende Bild, dass die Finsternis auf diesen Ruf hin endet und das Sonnenlicht zurückkehrt50 . Die genaue griechische Wiedergabe des Psalmwortes (in seiner aramäischen Transkription) mit seinem Fragewort „wozu“ (εἰς τί) durch den Erzähler unterstreicht, dass es nicht rückwärtsgewandt nach dem Grund der Gottverlassenheit fragt, sondern in die Zukunft gerichtet ist, oder wie Christoph Burchard formuliert: „Jesus drängt Gott zum Handeln, indem er ihn rhetorisch anschreit, wozu oder warum er am Kreuz hängt. Er klagt den Zweck seines Todes ein“51. 47 Nur diese Übersetzung (nicht: „Land“!) entspricht der hier zum Ausdruck kommenden Vorstellung einer alle betreffenden Gerichtsfinsternis; vgl. Schweizer, Mk 194; J. Gnilka, Mk II 321 u. a. 48  Conzelmann, Art. σκότος κτλ. 440: „Der Sinn ist, die Heilsbedeutung des Todes Jesu einzuprägen durch den Hinweis auf die eschatologische, kosmische Dimension dieses Sterbens“; zutreffend L. Schenke, Christus 95: V.33 deutet das „sich im Kreuz Jesu“ vollziehende „endzeitliche Gericht“ an, seine Einschränkung: Gericht über „das Judentum und den Tempel“ verfehlt allerdings die Grundsätzlichkeit der mkn. Christologie (siehe oben II.  5.2); nicht zureichend auch Blinzler, Prozess 420 („die Natur zeigt die Trauer Gottes an“) oder Lührmann, Mk 262, der in V.33 unter Verweis auf Mk  13,24 ein himmlisches Beglaubigungszeichen sehen möchte, das den leidenden und sterbenden Menschensohn als den am Ende (vgl. 13,24–27; 14,62) Kommenden ausweist: „Die ‚Zeichen der Zeit‘ verstehen, heißt also, den Gekreuzigten als den Menschensohn erkennen“. A.Y. Collins, Mk 752, und D.A. Smith, Tomb 88: die Finsternis ist Zeichen der Trauer Gottes um seinen „geliebten Sohn“ (Am  8 ,10e). 49  Delling, Kreuzestod 70 (unter Verweis auf Mk  10,45): „Wenn Jesus mit seinem Sterben das antallagma gibt, das die anderen als Schuldverhaftete nicht geben können, um ihre vor Gott verlorene Existenz zu retten (8,37), dann trägt er am Kreuz ihre Schuld, dann geht er für sie in die Gottferne, die die äußerste Folge ihrer Schuld ist, das Verlorensein“; Burchard, Markus 7 f.; Kammler, Verständnis 483 f.: Jesus nimmt „auf Golgotha – den ihm vom Vater gereichten ‚Todeskelch‘ gehorsam trinkend (10,38 f.; 14,36) – die Schuld und Gottesferne der gesamten Menschheit auf sich“ und stirbt „den Tod aller […], um ihnen gerade so die Gemeinschaft mit Gott zu eröffnen“. 50 J. Schreiber, Sonne 363: „Im Aufgang der Sonne am Karfreitag erstrahlt die neue Schöpfung, der Karfreitag ist schon der Ostertag des Erlösers und der ihm wirklich Nachfolgenden“; Klumbies, Mythos 269: „In der neunten Stunde, in die das Ende der Dunkelheit fällt, stößt Jesus seine letzten Worte hervor (V.34). Mit der doppelten Zeitangabe V.33 Ende und V.34 Anfang stellt der Erzähler die exakte Abstimmung der Geschehnisse sicher. Der Ruf Jesu von V.34 koinzidiert mit der Aufhellung der verdunkelten Szenerie. Beim Tod Jesu ist es hell“ (unter Verweis auf Zwick, Montage 439); vgl. Klumbies, Konzept 114 f.; auch Kammler, Verständnis 483, sieht, „dass das Ende der Gerichtsfinsternis mit dem Ruf Jesu koinzidiert“. Anders Janowski, Konflikt­ gespräche 363 f.: „Gott, der vom Gekreuzigten mit der ‚Wozu‘-Frage angeredet wird (‚du‘), […] schweigt. Und auch der Erzähler Markus gibt vorerst mit keinem Wort zu erkennen, wie und wann Gott reagiert. Im Kreuzigungsbericht gibt es ‚keinen verborgenen Lichtglanz‘, alles ist Finsternis“ (korrigiert in: Janowski, Rezeption 397 f.). 51  Burchard, Markus 8; vgl. Ahearne-Kroll, Psalm 21, 143: Mk  15,34, „the final attempt of Jesus to convince God to save him from his suffering“. Siehe oben S. 63 Anm. 60.

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Die zeitgenössische Literatur kennt das Motiv, dass nach dem Tod eines großen Heros sich die Sonne verfinstert 52 , nach Caesars Ermordung ab hora sexta bis zur Nacht 53. Anders Markus: Er lässt die Verfinsterung der Sonne dem Tod Jesu vorausgehen. Das stützt die gerichtstheologische Deutung dieses göttlichen Zeichens54.

(3) Der „Zweck“ des Todes Jesu kann nur erreicht werden, indem er von Jesus durchlitten wird, nicht unter seiner mirakulösen Umgehung. Er ist heilsnotwendig. Das veranschaulicht Markus mit dem Missverständnis des Psalmworts durch „einige Dabeistehende“, die meinen gehört zu haben, er rufe Elija, und nun zuwarten, ob der „Nothelfer“55 „kommt (ἔρχεται)“, um ihn vom Kreuz „herab zu nehmen“ (καθελεῖν αὐτόν) 56 . Aber Elija kommt nicht. Denn der Prophet, der vor Zeiten zu Gott entrückt worden ist und am Ende der Tage zurückerwartet wird, ist, wie die Leser des Evangeliums wissen, „schon gekommen (9,13: ἐλήλυθεν)“ – im Täufer, der vor Jesus den Märtyrertod erlitten hat (9,11–13). Erst Josef von Arimathäa wird Jesus „herabnehmen“, dann aber seinen Leichnam 57. Die Pointe der mkn. Kreuzigungsszene besteht darin, dass sie den Tod Jesu in seiner soteriologischen Einzigartigkeit und Notwendigkeit vor Augen führt: „Der Menschensohn muss (δεῖ) vieles leiden und […] getötet werden und nach drei Tagen auferstehen“ (Mk  8 ,31). Aber die Eindrücklichkeit, mit der hier die Vergeblichkeit gezeigt wird, den Tod zu umgehen, enthält auch paränetisches Sinnpotential: „Wer immer nämlich seine Seele retten will (σῶσαι), der wird sie verlieren; wer immer aber seine Seele verliert um meinetwegen und des Evangeliums wegen, der wird sie retten (σώσει)“ (Mk  8 ,35). Die Szene hat möglicherweise auch die prekäre Situation derer im Blick, die Jesus auf seinem Kreuzesweg nachfolgen und leiden müssen wie er.

Wenn Jesus mit einem großen Schrei auf den Lippen stirbt, ohne dass Elija das Mirakel gewirkt hat, ist dieser Schrei kein Verzweiflungsschrei und auch keine wortlos herausgeschriene Anklage Gottes58 . Aus Sicht des ältesten Evangelisten 52  Vgl. Vergil, Georg  1,463–468 („Sie [die Sonne] sah ja bei Caesars Tod [extincto … Caesare] mit Jammer auf Rom, hüllte ihr strahlendes Haupt in tiefes Dunkel, und das verruchte Geschlecht fürchtete ewige Nacht“ [Übersetzung Schönberger]); Plut, Pelop  295a; DiogL  4,33,12. Vgl. auch Philo, De Providentia 2,50 (nach Eus, PraepEv 8,14,50); Jos, Ant  14,309; 17,167. – Rabbinische Parallelen: Str.-Bill. I 1040–1042. 53  Pesch, Mk II 494, zu Vergil. 54  Pesch, Mk  II 493 f., bemerkt die mkn. Abweichung von besagtem Motiv, wertet sie aber zugunsten seiner historisierenden Interpretation. In die Irre führt seine Bemerkung, dass die aufgeführten „Parallelen in den hellenistischen Vorstellungsraum“ wiesen, „der die alte Passionsgeschichte nicht prägt“. 55  Öhler, Elia 139–141.147: Die „Nothelfertradition“ entspricht „am besten dem Wortlaut des Textes“. Es wäre ihr frühester literarischer Beleg. 56  Dalman, Jesus 186: Der Talmud erzählt, dass Eleazar ben Perata, der von den Römern gerichtet werden sollte, von Elija 400 Meilen weit versetzt wurde (bNed  50a). 57  Mk  15,46 benutzt dasselbe Verb wie Mk  15,36: „und er (sc. Josef von Arimathäa) kaufte ein Leinentuch, nahm ihn ab (καθελὼν αὐτόν), wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen gehauen war […]“. 58  Popkes, Christus 231 Anm.  656, bietet eine Übersicht über die vielen Deutungen, die geboten werden; vgl. auch Gut, Schrei. – Unterbewertet ist der Erzählzug, wenn der Schrei „einfach den Tod Jesu der Welt kundtun“ soll (J. Gnilka, Mk  II  323: „eine genaue Festlegung [sc. des Sinnes]“ müsse „problematisch bleiben“).

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liegt die Annahme eines Siegesschreis näher, den Jesus im festen Wissen darum ausstößt, dass sein Vater nicht allein ihn durch den Tod hindurch erretten, sondern sein „für viele vergossenes Blut des Bundes“ (Mk  14,24) allen Menschen heilvoll zuwenden wird. Diese Deutung findet ihre Bestätigung in den beiden abschließenden Episoden der Sterbeszene, dem himmlischen Zeichen des Zerreißens des Tempelvorhangs und der Reaktion des römischen Centurio auf die Umstände, unter denen Jesu Sterben sich zuträgt. Otto Betz verweist auf den Topos des „großen Schreis“, der in der frühjüdischen Literatur „vor allem das Reden von Engeln, Geistern und Geistträgern“59 charakterisiert. Auch Jesus sei der mkn. Christologie zufolge Geistträger60 . „Die Engel preisen Gott μεγάλῃ φωνῇ Apk  5,12 oder verkündigen so ein eschatologisches Urteil Gottes, damit es von den Erdbewohnern vernommen werde“61. „So klingt das Schreien μεγάλῃ φωνῇ wie das Brüllen eines Löwen Apk  10,3, vgl. Am  1,2; Hos  11,10, wie der Hall einer Trompete Apk  1,10 u(nd) das Tosen von vielen Wassern Apk  1,15; 14,2; 19,6, vgl. Ez  1,24; 43,2“62 . „Von daher gesehen dürfte Markus den lauten Schrei, mit dem Jesus auf Golgota verschieden ist, epiphan verstanden haben. Denn das ἀφεὶς φωνὴν μεγάλην (Mk  15,37) beendet die Finsternis und wird mit dem Bekenntnis des Centurio zum Gottessohn in einen ursäch­ lichen Zusammenhang gebracht (15,37.39)“63.

(4) Das Zerreißen des Tempelvorhangs64, das zweite vom Himmel her gewirkte „Zeichen“, das unmittelbar nach V.37 als „Wirkung des Todes Jesu vorgestellt“ ist65 , wird als himmlische Bestätigung des Tempelprophetie Jesu Mk  13,2 zu verstehen sein. Sein Sinn ist soteriologischer Natur: Das in Jesu Tod vergossene Bundesblut setzt jeglichem Opferhandeln im Tempel ein Ende66 . Die „Gegenwart“ Betz, Art. φωνή κτλ. 287. ἐκπνέω = aushauchen; im mkn. Kontext bezieht es sich auf Jesus „als Geistträger“ (Pesch, Mk  II  497); Theobald, Gottessohn 65 mit Anm.  112. 61  Betz, ebd., mit Verweis auf Offb  14,7.9; 18,2; vgl. 8,13; 14,18. 62 Ebd. 63  Ebd.; hinter Mk  15,37 stehe Joel  4,15 f.LXX: „Die Sonne und der Mond werden finster werden und die Sterne werden untergehen lassen ihren Glanz. Der Herr aber wird aus Sion laut schreien (ἀνακεκράξεται), und aus Jerusalem wird er geben seine Stimme (δώσει φωνὴν αὐτοῦ), und erschüttert werden wird der Himmel und die Erde. Der Herr aber wird verschonen sein Volk, und stark machen wird der Herr die Söhne Israels“ (nach: Septuaginta Deutsch). – Pesch, Mk  II  498: „Ob Jesu letzter Schrei als Gebetsschrei zu verstehen ist (so vielleicht Mtpar), der im nachfolgenden ‚Zeichen‘ eine göttliche Antwort erhält, mag offenbleiben“. 64  Gemeint ist wahrscheinlich „der Vorhang“ (καταπέτασμα) vor dem ναός (auch in Mk  14,58 und 15,29), dem Wohnort Gottes (Ex 26,31–33), den nur der Hohepriester einmal im Jahr betreten darf. Der bestimmte Artikel vor καταπέτασμα deutet auf den Vorhang vor dem Allerheiligsten hin: vgl. Ex  26,34 f.; ferner Hebr  9,3 („hinter dem zweiten Vorhang“); 10,20. Wenn der Vorhang „in zwei Teile von oben bis unten“ zerreißt, ist seine Zerstörung irreversibel. – Zu den unterschied­ lichen Deutungsmöglichkeiten siehe A.Y. Collins, Mk 759 f. 65  Pesch, Mk  II  498. 66  Vögtle, Verständnis 188: „sehr wahrscheinlich“ veranschaulicht das Zeichen „die durch das bundstiftende Sühnesterben Jesu ermöglichte Gründung der endgültigen, Juden und Heiden umfassenden Heilsgemeinde, deren effektive Konstituierung ‚binnen drei Tagen‘ (= in kurzer Frist) erfolgen wird“; Paesler, Tempelwort 38 f.; Fritzen, Gott 348–354; Kammler, Verständnis 484 f. Anders A.Y. Collins, Mk 761 (“It is not so clear, however, that there is an ‚anti-temple‘ theme in chapters 11–15“). 59 

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Gottes im Allerheiligsten ist „erloschen“67. Jetzt wirkt Gott durch Jesus zum Heil aller Menschen. (5) Dazu fügt sich der „Nachruf“68 des Centurio, V.39, mit dem ein Mensch aus der paganen Welt, ein römischer Beamter, zu einer positiven Einschätzung Jesu gelangt69. Markus platziert ihn „Jesus gegenüber (ἐξ ἐναντίας αὐτοῦ)“70 , so dass er alles genau beobachten kann: Als er „sah […], dass Jesus so (οὕτως) verschied, sprach er: „Wahrhaftig, dieser Mensch war (ein) Gottes Sohn“ (V.39)71. Das Stichwort „sehen“ wie auch die Positionierung von V.39 unmittelbar nach den Notizen vom Sterben Jesu und dem Zerreißen des Tempelvorhangs legen es nahe, dass οὕτως sich nicht nur auf den „lauten Schrei“ von V.37, sondern auf die Umstände des Sterbens Jesu insgesamt bezieht – bis hin zur mittäglichen Verfinsterung der Sonne. Danach sind es die das Sterben Jesu begleitenden numinosen „Zeichen“, die den Centurio zu seiner Einschätzung des Verstorbenen als υἱὸς θεοῦ gelangen lassen72 . Sein „Nachruf“ ist deshalb auch kein „vollgültiger Ausdruck christlichen Glaubens“ im Sinne des Markus73, doch ist der Centurio auf dem richtigen Weg. Aus seinem kulturellen Kontext heraus erfasst er inchoativ die Bedeutung Jesu, wenn er „aufgrund seiner Erfahrung mit dem Herrscherkult“ Roms74 Jesus υἱὸς θεοῦ (Gottessohn = divi filius) nennt75. Als eine Art Brücken67  Lange, Ausgestaltung 50; eine soteriologische Deutung bietet auch Feldmeier, Gekreuzigte 213–232. – Erst in zweiter Linie ist das Zeichen vaticinium ex eventu der Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n.Chr. (Lührmann, Mk  264). 68  Berger, Formgeschichte 234; zur Forschungsgeschichte des nach wie vor strittigen Centurio-Wortes vgl. Wypadlo, Überlegungen 179–186. 69 Das lateinische Lehnwort κεντυρίων (= centurio) anstelle des im NT sonst üblichen ἑκατοντάρχης weist den Mann als römischen Beamten aus; Mt  27,54 und Lk  23,47 ersetzen das mkn. κεντυρίων (im NT sonst nur noch Mk 15,44 f.) durch ἑκατοντάρχης = Befehlshaber einer Hundertschaft; vgl. Mt  8 ,5.8.13; Lk  7,2.6; Apg  10,1.2 u. ö. 70  Ebner, Schatten 69: „Jesus direkt gegenüber, auf Augenhöhe sozusagen“. 71 A.Y. Collins, Mk 766 f., stellt zu Recht fest, dass das Fehlen der Artikel beim Prädikatsnomen nicht notwendigerweise auf dessen indefiniten Gebrauch schließen lässt; grammatikalisch bleibt der Satz ambivalent. 72 Ebd. 765: „The cultural milieu of Mark supports the inference that the centurion’s statement about Jesus is a response to one or more omens“. 73 J. Gnilka, Mk II 325; dagegen spricht die Vergangenheitsform ἦν: Kampling, Henker 177; Wypadlo, Überlegungen 207: „Ohne die Ostererfahrung bleibt jedes Bekenntnis zu Jesus ein Fragment“; Rose, Theologie 241: „Der Ausdruck ‚Bekenntnis‘ sollte entsprechend in diesem Zusammenhang vermieden werden“. 74  Kampling, Henker 189 Anm.  53, hält es für denkbar, dass „der Centurio als einer gedacht ist, der gleichsam aufgrund seiner Erfahrung mit dem Herrscherkult zu dieser Einschätzung gelangen konnte“, und begründet dies damit, dass „die Kennzeichnung eines Sterblichen“ als υἱὸς θεοῦ in der antiken Literatur „relativ selten“ war (vgl. Plut, Kleom  39: Kleomenes, ein Liebling Gottes und θεῶν παῖς). 75  Eine Anspielung auf den Kaisertitel Divi filius (= θεοῦ υἱός) (in dieser Reihenfolge!) halten inzwischen viele für gegeben: A.Y. Collins, Mk 768: „The cultural expectation that the centurion would be Roman or a Romanized provincial supports the hypothesis that there is an allusion to the imperial cult here“; D.A. Smith, Tomb 88; Lau, Triumphator 446 f. (ebd. Anm.  115 weitere Vertreter dieser Deutung): „Urmodell […] ist Augustus, der Caesar vergöttlichen ließ und so selbst zum Gottessohn wurde. Inschriften – etwa auch die des Titusbogens, die den bereits vergöttlichten, also verstorbenen Titus als Gottessohn bezeichnet [Anm.: Zu lesen ist: DIVO TITO

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figur aus der paganen Welt hin zum Glauben an Jesus, „Messias und Sohn Gottes“ (1,1; 14,61)76 , steht er „an der Schnittstelle zwischen Glauben und Nichtglauben. Er bleibt eine ambivalente Figur“77, die unterschiedlichen Funktionen dient: Sie lässt die Konkurrenz des christlichen Glaubens zum paganen Herrscherkult78 wie den Weg des Evangeliums zu den Völkern des Imperium Romanum erahnen 79. Zudem hat das Wort aus dem Mund gerade eines römischen Beamten apologetisches Gewicht: Jesus war „Sohn Gottes“, kein Aufrührer gegen Rom! Das „Nachwort“ (Klaus Berger) öffnet den Blick nach vorne in die Zukunft des Evangeliums. Auf die Reaktion des Mannes folgt noch die Notiz zu den Frauen, die Jesus schon in Galiläa „nachgefolgt“ und „mit ihm nach Jerusalem hinaufgestiegen waren“ (V.41) und jetzt – wie der Centurio – „sehen“ (V.40; vgl. 39), was geschehen ist. Ist der Centurio eher „eine Gestalt des Dazwischen“80 , so weist die Gruppe der Frauen, von denen einige auch beim Begräbnis Jesu und beim österlichen Grabbesuch anwesend sein werden, nach vorne81. 10.3 Jesu vorbildliches Sterben – „ein Schauspiel (θεωρία)“. Die Darstellung des Lukas (23,26–49) Wie Markus bedient sich auch Lukas in der Kreuzigungsszene der Motive der mittäglichen Finsternis und des Zerreißens des Tempelvorhangs, aber er entkleidet sie ihrer apokalyptischen Bedeutung als Gerichtszeichen und behandelt sie als Historiker: Das verstörende Geschehen am helllichten Tag macht er zur Sonnenfinsternis (ἔκλειψις ἡλίου), einem „allgemein bekannte(n) Phänomen“82 , und verknüpft DIVI VESPASIANI F[ILIO]] – und Münzen verkündigen diesen Titel mannigfach in der römischen Welt“. 76  Lau, Triumphator 447, benennt die eine Richtung des Transfers: „Was der Centurio hier macht, die Anwendung des Kaisertitels auf Jesus, gleicht […] einer kulturellen Übersetzungsleistung“; die Gegenrichtung gilt aber ebenso: Der vom Centurio aufgrund numinoser Erfahrung auf Jesus aus fremden Kontexten übertragene Titel bringt den Rezipienten, bei denen „das Wissen aus Mk  1,1.11; 9,7 nochmals eingespielt“ wird (Rose, Theologie 240), dazu, den Titel in die christologische Dynamik des Buches insgesamt einzuordnen; Wypadlo, Überlegungen 208: „streng genommen wird ihm [sc. dem Centurio] nicht mehr ‚zugemutet …, als er als Heide sagen kann‘ (Philipp Vielhauer) –, aber er symbolisiert als frommer und mit Sensibilität für die σημεῖα der Sterbeszene Jesu ausgestatteter Heide ein solches Bekenntnis [sc. zum υἱὸς θεοῦ] mit Blick auf die nachösterlichen Leser“. 77  Kampling, Henker 184. 78 Dass Rezipienten ἀληθῶς = wahrhaftig in Opposition zum Kaiserkult auffassten (Jesus, nicht der Kaiser, hat Anspruch auf den Titel), ist möglich: „Those members of the audiences of Mark familiar with the imperial cult would understand that the centurion recognizes Jesus, rather than the emperor, as the true ruler of the known world“ (A.Y. Collins, Mk 768). 79  Frenschkowski, Offenbarung 202, und Fritzen, Gott 354–357, zufolge präfiguriert die Reaktion des Centurio die spätere Antwort der „Heidenchristen“. 80  Wypadlo, Überlegungen 187. 81  Die Frauen sind Bindeglied einerseits zwischen Jesu galiläischer Wirksamkeit und seinen letzten Jerusalemer Tagen, andererseits zwischen seinem Sterben und dem österlichen Neuaufbruch: siehe oben in I.  1.4.2 unter (1). 82  Wolter, Lk 761. – Plut, Pelop  295a: ὁ ἥλιος ἐξέλιπε. – Auch andere antike Historiker bringen eine Verfinsterung der Gestirne gerne als himmlisches Unheilszeichen mit dem Tod berühmter

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es mit dem Zerreißen des Tempelvorhangs als „offenkundige(r) Beschädigung eines Teils der Tempelausstattung“83, worin er ein Vorzeichen des Tempeluntergangs 70  n.Chr. sieht84. Ihm geht es um Geschichte, die er von den ausstehenden Endereignissen gezielt abhebt (vgl. 21,20–24). Während Markus an der Kreuzigungsszene seine Vorstellung vom Tod Jesu als heilschaffendem Sühnopfer anschaulich werden lässt, gestaltet Lukas die Szene aus dem Geist seiner exemplum-Christologie85: Jesus ist der vorbildlich Sterbende. Er vertraut auf seinen Gott, der ihn ins Leben führen wird. Damit eröffnet er allen, die ihm folgen, begründete Aussicht auf Heil86 . Ps  22,1 tauscht der Evangelist nicht deswegen gegen Ps  31,6 aus, weil er die Härte der mkn. Darstellung scheut, sondern weil er am Sterben Jesu christliche ars moriendi zeigen möchte87. Vorbild war wohl Sokrates, der angstfrei starb88 . Mag die pagane Welt zum Philosophen des wahren Lebens aufschauen, die Christen haben im Leben und Sterben Jesus als Vorbild. Selbst ein römischer Centurio nennt ihn „einen Gerechten“ (23,47). Deshalb inszeniert Lukas Jesu Sterben auch gezielt als öffentliches Sterben und nennt seine Kreuzigung in 23,48 ein „Schauspiel (θεωρία)“89. Zu diesem „Schauspiel“ gehört ein Publikum, das „Volk“ samt seinen „Führern“, der Centurio, klagende Frauen und Jüngerinnen und Jünger. Auf das, was sich vor ihren Augen abspielt, reagieren sie auf jeweils ihre Weise. (1) Viele Menschen90 begleiten in großer Prozession Jesus auf seinem letzten Weg nach Golgota (23,27) und sehen, wie er dort stirbt. Am Ende „schlagen sie sich“ umkehrwillig „an die Brust“ (23,48). Zu Beginn tritt eine besondere Gruppe aus der Menge hervor, klagende Frauen, „Jerusalems Töchter“, wie Jesus sie nennt (23,28), auch sie von seiner Person berührt. Lukas hat Erzählfiguren geformt, die wie im Spiegel die verwandelnde Kraft des Sterbens Jesu anschaulich werden lassen, besonders eindrücklich bei der Figur des reuigen Übeltäters (23,40–43) 91. Am Männer in Verbindung, siehe bereits oben in 10.2 zu Mk  15,33 sowie die Belege bei Wolter, Lk 761 f. 83  Wolter, Lk 762. 84  Josephus vergleichbar, der von sieben Zeichen im und am Tempel als Vorzeichen der Katastrophe erzählt, siehe unten in III.  1.7 zur Erzählung von Jesus ben Ananias. 85  Der Terminus verdankt sich der Christologie der Patristik, prominent Augustinus: Geerlings, Christus Exemplum; Pendant ist die imitatio Christi. 86  Jesus ist für Lk kein Beispiel unter anderen; der exemplum-Charakter seines Weges ist eingefasst von einer an den Lebensdienst Jesu insgesamt gebundenen Heilsvorstellung: IV.  1.2.3 unter (4). 87  Christologisch betrachtet zeigt Lk  23,46 (Ps  31,6) Jesus zugleich als Geistträger: vgl. IV.  1.2.3 unter (3) (a). 88  Vgl. oben I. in 1.5.2.2. 89  Das Verb θεωρέω in gleichem Sinn auch in 23,35 („und es stand das Volk da und schaute zu [θεωρῶν]“) und 23,48 („sie schauten [θεωρήσαντες], was geschah“), außerdem ὁράω in 23,49. Kany, Bericht 82, hält es für bemerkenswert, „dass Lk die Szenerie als θεωρία […] bezeichnet: Auch in den [zeitgenössischen] Romanen, vor allem bei Chariton wird hin und wieder das Geschehen im gleichen Sinne wie bei Lk als Drama bezeichnet (z. B. Char.  V 8,2)“. 90  Zur Erzählfigur des „Volkes“ siehe oben 9.4 unter (1) sowie unten IV  1.2.3 unter (2) (b). 91  Söding, Soteriologie 386: Die Kreuzigungsszene bei Lk ist „narrative Soteriologie. Sie be-

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Ende preist der römische Centurio Gott mit den Worten: „Dieser Mensch war wirklich ein Gerechter“ (23,47). (2) Getrennt vom „Volk“ agieren seine „Führer (ἄρχοντες)“, die Jesus mit seinem Anspruch, „der Messias Gottes“ und „der Auserwählte“ zu sein, verspotten (23,35). Weil sie nicht wissen, dass der „Messias Gottes“ leiden und von den Toten auferstehen muss (24,26.46; Apg  3,18; 17,3), meinen sie, der Anspruch Jesu sei durch seine Kreuzigung erledigt. Sie vermeiden den Titel „König“ (diff. Mk  15,32), den „die Soldaten“ im Munde führen: „Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich selbst!“ (23,37). (3) In der Szene der Gefangennahme Jesu (22,47–53) unterdrückt Lukas die Notiz des Markus, dass alle Jünger geflohen seien (Mk  14,50). Jetzt erwähnt er sie unter Anspielung auf Ps   38,12: „Es standen da aber alle seine Bekannten von ferne (εἱστήκεισαν δὲ πάντες οἱ γνωστοὶ αὐτῷ ἀπὸ μακρόθεν), auch die Frauen, die ihn von Galiläa her begleitet hatten, und sahen das alles“ (23,49) 92 . Da von „allen“ Bekannten die Rede ist, dürften „die Apostel“ miteingeschlossen sein (vgl. Lk  8,1–3; 24,10; Apg  1,13 f.21 f.), die gemeinsam mit den Frauen den Kern der Anhängerschaft Jesu bilden und aus Sicht des Lukas die Kontinuität zwischen vorösterlicher und nach­ österlicher Zeit gewährleisten. Da sie, wenn auch nur „von ferne“, „gesehen“ haben, was auf Golgota geschehen ist (23,49), gründet auf ihrem Zeugnis die Kirche. 10.4 „Mich dürstet“. Zur Symbolik des vierten Evangelisten (Joh  19,16c–37) Johannes bietet eine in jeder Hinsicht eigenständige Version der Szene. Folgen Lukas einer Exemplum- und Markus einer Sühnetod-Christologie, so zeichnet sich bei Johannes eine Art Weg-Christologie ab (vgl. 14,4), nach der Jesu Sterben am Kreuz Weg ins Leben ist: Jesus „geht zum Vater“ und schlägt damit für alle, die an ihn glauben, die Bresche aus dem „Totenhaus“ dieser Erde in das „Haus des Vaters“ (14,2 f.). Menschlich betrachtet, ist sein Sterben ein Desaster, in Wahrheit sein „Hingang“ zum Vater (7,33; 8,21; 13,33). Was frühchristliche Theologie gewöhn­ licherweise erst mit der Verkündigung der Auferweckung Jesu verbindet, holt die johanneische Bild- und Symbolsprache93 in die Kreuzigungsszene hinein. Das ist der Grund, warum hier Jesu Hoheit seine Niedrigkeit überstrahlt. Wie in den Szenen des letzten Mahles (13,23–25) und der Verleugnung Jesu durch Petrus (vgl. 18,15 f.) ist die Figur des anonymen Jüngers, den Jesus liebte, auch in der Kreuzigungsszene richtet nicht nur über das Ende des Lebens Jesu. Sie kennzeichnet die Wirkungen, die von der Kreuzigung Jesu auf diejenigen ausgehen, die sie sehen. […] Das Kreuz Jeu deckt typische Formen menschlicher Schuld auf – aber nicht, um sie zu brandmarken, sondern um zu zeigen, dass Jesus sie vergibt, und um Wege aus der Schuld zu weisen“; Untergaßmair, Kreuzestheologie 46–50. 92  Ps  38,12LXX: „Meine Freunde (οἱ φίλοι μου) und meine Nächsten (οἱ πλησίον μου) sind mir gegenüber hingetreten und haben sich hingestellt, und meine engsten (Angehörigen) (οἱ ἔγγιστά μου) haben sich in der Ferne hingestellt (ἀπὸ μακρόθεν ἔστησαν)“ (Septuaginta Deutsch 788 Anm.: „mir gegenüber: wohl in feindlichem Sinne gedacht“); par. Ps  88,9LXX: „Du entferntest meine Vertrauten (τοὺς γνωστούς μου) von mir, sie machten mich zum Abscheu für sich […]“. 93  Vgl. Zumstein, Joh 713 f.: „Exkurs: Die Funktion des symbolischen Codes in Joh  19,16b–37“.

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sekundär von der Redaktion des Evangelienbuches nachgetragen worden94. Gleich zwei Mal taucht der Jünger auf: in 19,26 f. neben der Mutter Jesu „gleichsam aus dem Nichts“95, dann in V.35 als Augenzeuge für den Austritt von Blut und Wasser aus Jesu Seite. V.35 ist im Buch einzigartig, weil sich der Erzähler hier unter Verweis auf den Anonymus unmittelbar an die Leser des Buches wendet: „und der (es) gesehen hat, legt Zeugnis ab, und sein Zeugnis ist wahr, und jener weiß, dass er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt“ (19,35). An beiden Stellen ist der anonyme Jünger Identitätsfigur der johanneischen Gemeinden. Dazu wird er V.26 f. zufolge durch Jesus testamentarisch beglaubigt. Als Beleg einer ersten Relecture von Joh  19 im johanneischen Kreis sind die beiden Passagen von großer Bedeutung. Wenn es um die ursprüngliche Konzeption des Textes geht, dessen Pointe sie nicht unwesentlich verschieben, können sie vernachlässigt werden.

(1) Die beiden ersten Episoden (V.16c–19/20–22) erzählen von der Kreuzigung Jesu und vom titulus crucis, aber in einer Weise, die den Leser die tiefere Bedeutung des Geschehens erfassen lässt. Obwohl Jesus zum willenlosen Objekt des Handelns degradiert wird (V.16c: „Sie übernahmen Jesus“), behält er seine Würde und Souveränität: „Und er selbst trug das Kreuz und ging hinaus […]“, was wie ein bewusst gesetzter Kontrapunkt zur Geschichte von Simon von Kyrene klingt96 . Wenn der Erzähler betont, dass Jesus „in der Mitte“ zwischen den „anderen“ gekreuzigt wird97, entsteht das Bild eines Königs, der zwischen zwei Adjutanten thront. Das Königtum Jesu ist universal, wie die Notiz zur Dreisprachigkeit des titulus crucis (V.20) 98 andeutet. Es ist johanneische Ironie: Ausgerechnet der Vertreter des römischen Imperiums hat den titulus anfertigen lassen und befördert so die Proklamation des Königtums Jesu. Weil wegen der Nähe des Hinrichtungsortes zur Stadt „viele Juden“ den titulus lesen (V.20), suchen „die hohen Priester“ sie vor dem Anblick dieses Ehrentitels99 zu verschonen und fordern Pilatus auf: „Schreibe nicht: Der König der Juden, sondern, dass jener gesagt hat: Ich bin König der Juden“. Die

94  Über den Nachtrag der Figur besteht Konsens, nicht in der Frage, auf wen sie zurückgeht, auf den Evangelisten oder die Redaktion. Zur zweiten Annahme vgl. Theobald, Jünger 506–508 und 531 f. 95  Kästle, Mutter 317; ebd. 317 f.: „[I]n der einleitenden Aufzählung (der Frauen)“ wird der Lieblingsjünger „nicht mit eingeführt, sondern (wird) plötzlich stillschweigend als ebenfalls anwesend konstatiert“. 96  Schnackenburg, Joh III  312; Myllykoski, Tage I 124: Im Hintergrund steht die Überlieferung „von einem fremden Kreuzträger“, welcher „kaum mit einer anderen Person als dem bei Mk genannten Simon identisch sein kann“; anders Reinbold, Bericht 171: die joh. Wendung βαστάζων ἑαυτῷ τὸν σταυρόν sei „völlig unbetont“, weil es „offenbar allgemein üblich“ war, „dass ein Verurteilter sein Kreuz selbst zur Hinrichtungsstätte trug“. Aber warum wird erzählt, was selbstverständlich ist? 97  H.-C. Kollmann, Kreuzigung 338: „Joh verschweigt, dass sie Verbrecher sind, um Jesus so wenig wie möglich zu diffamieren“. 98  Geiger, Titulus 204 f., verweist auf die Tempelschranken, die in Latein und Griechisch abgefasst waren. – Joh verwendet in Entsprechung zu ἐπιγραφή (Mk  15,26) (beides ist äquivalent: A.Y. Collins, Mk 747) das lateinische Lehnwort τίτλος/titulus (= Aufschrift; im Sinne einer Tafel: Suet, Cal  32,2; Dom  10,1: siehe unten III.  2.2.1 unter [3]). 99  τίτλος hat auch die hier vielleicht mitklingende Bedeutung „der Titel“, „die ehrenvolle Benennung“, „der Ehrenname“; vgl. Der Neue Georges, II 4755 zu titulus unter II.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Proklamation des Königtums Jesu ist jedoch endgültig, nicht revidierbar: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben“, stellt Pilatus fest100 . (2) Die dritte und vierte Episode (V.23 f./25) entsprechen sich. Den vier Soldaten101 stehen vier Frauen gegenüber102: die Mutter Jesu und die Schwester seiner Mutter, die Frau des Klopas mit Namen Maria und Maria aus Magdala103. Während die Synoptiker die Frauen erst nach Jesu Tod erwähnen, spricht der vierte Evangelist von ihnen vor seinem Tod. Der Grund dieser Umstellung könnte die Kombination der Frauenliste mit der Episode vom Lieblingsjünger sein, denn nur so wurde eine „letzte Begegnung zwischen dem ‚erhöhten‘ Christus und den zwei zentralen Figuren der joh. Erzählung, der Mutter Jesu und dem Lieblingsjünger“ möglich104. Wahrscheinlicher ist indes, dass die Frauenliste aus Gründen nach vorne versetzt wurde, die unabhängig vom Nachtrag des Lieblingsjüngers sind: (a) Wenn Joh  19,25 über die ursprünglich drei Frauen der mutmaßlich vorgegebenen Liste hinaus vier Frauen aufführt105, dann wegen des gewollten Kontrastes zu den vier Soldaten: Nicht nur Gegner, auch seine Verwandten und Nachfolgerinnen umgeben Jesus in seiner letzten Stunde. So „schauen“ die Frauen auch nicht mehr (wie bei den Synoptikern) lediglich „von ferne“ zu, sondern stehen (wie die Soldaten) am Fuß des Kreuzes (παρὰ τῷ σταυρῷ). (b) Nicht nur das Faktum der Viererliste, auch die Reihenfolge, in der die Liste die Frauen nennt, ist aufschlussreich. Bei den Synoptikern steht Maria Magdalena – die einzige mit Joh  19,25 identische Person – am Kopf aller Listen, bei Johannes am Ende. Die Erststellung behält er der „Mutter Jesu“ vor, so dass die Liste von ihr und der Magdalenerin gerahmt wird. Wie unten noch deutlich wird, sind es für den Evangelisten die beiden entscheidenden Figuren106 . Die Funktionen, die er ihnen zuschreibt, erforderte die Positionierung der Liste vor dem Tod Jesu107. Die testamentarische Verfügung Jesu an die Adresse des Lieblings­ jüngers (und seiner Mutter) in V.26 f. setzt demgegenüber neue und andere Akzente. Sie verdankt sich dem Redaktor des Evangeliums.

Die beiden Episoden besitzen über ihren unmittelbaren Sinn hinaus symbolische Bedeutung. Strittig ist der Erzählzug der dritten Episode vom nahtlos gewebten „Untergewand“ Jesu (V.23), der von der anschließenden Rede der Soldaten, das 100  Rosen, Rom 58, zufolge könnte hinter dem Wort das Wissen darum stehen, „dass die Verlautbarung, die der Statthalter auf einem Tribunal verkündet, ‚ein Urteilsspruch ist, der, einmal verlesen, weder um einen Buchstaben vermehrt noch vermindert werden darf, sondern so, wie er vorgetragen worden ist, in das Archiv der Provinz aufgenommen wird‘ (Apuleius, Florida 9,12)“. 101  Aus der Vierteilung der Kleider erschließbar; vgl. auch Apg  12,4: Petrus wird von 4 x 4 Soldaten bewacht (ein τετράδιον = eine Abteilung von 4 Soldaten). 102  „Das Wortpaar μέν – δέ (‚einerseits – andererseits‘) strukturiert die Folge der V.24b–25 und die vier Frauen aus V.25 werden somit den vier Soldaten von V.24b gegenübergestellt“ (Zumstein, Joh 722). 103  Weidemann, Tod 377 f.; ebd. 378: „Vier Männern werden vier Frauen gegenübergestellt“; vgl. 380 f. 104  Zumstein, Erinnerung 161. 105  Vgl. die Synopse der Frauenlisten oben in I.  1.4.2 ad (1). 106  Die zwei in der Mitte stehenden Frauen komplettieren das Vierer-Tableau. Es bietet zwei anonyme Verwandte und mit Maria Magdalena am Ende eine Jüngerin; die Frau des Klopas begegnet sonst nirgends (Klopas könnte mit Kleopas aus Lk  24,18 identisch sein: vgl. Theobald, Studien 240). 107  Weidemann, Tod 410–412, führt den Nachweis, dass die Umstellung der Liste auf den Evangelisten zurückgeht.

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Gewand nicht zerteilen zu wollen, noch verstärkt wird (V.24). Vor allem zwei Deutungen stehen zur Debatte108: (a) Der Erzählzug deutet auf die priesterliche Würde Jesu hin109. Doch kennt der vierte Evangelist keine hohepriesterliche Christologie. Auch das sog. „hohepriesterliche Gebet Jesu“ Joh  17 ist nicht von diesem Paradigma her zu verstehen. (b) Das „Untergewand“ Jesu, das nicht „zerteilt“ (σχίζω) werden soll110 , symbolisiert die Einheit der Kirche111. Tatsächlich spielt dieses Thema eine wichtige Rolle im Evangelium (vgl. 10,16; 11,52; 17,21–22; auch 11,51 f.), allerdings nur in Passagen der sekundären Redaktion112 . Der Kontext der Kreuzigungsszene unterstützt diese Deutung nicht113, wohl eine christologische.

13,4 legt eine Spur: „er steht vom Mahl auf und legt seine Gewänder ab (τίθησιν τὰ ἱμάτια)“. Dem entspricht 13,12: Nachdem er ihre Füße gewaschen hatte, „nahm er seine Gewänder wieder (ἔλαβεν τὰ ἱμάτια αὐτοῦ)“. Das Ablegen der Gewänder veranschaulicht die Erniedrigung Jesu zum Sklavendienst der Fußwaschung, die Verteilung der Kleider (τὰ ἱμάτια) unter die Soldaten kündigt seinen Tod an. Wenn aber sein Untergewand gemäß der Schrift nicht „zerteilt“ wird, ist das ein „Zeichen für Gottes Behütung“114. Es deutet die „Erhöhung“ Jesu im Tod an, seinen „Hingang“ zum Vater. Der tiefere Sinn der vierten Episode erschließt sich, wenn die narrative Funktion der beiden an den Eckpunkten der Liste stehenden Frauen bedacht wird: „Die Mutter Jesu wird beim sog. Kana-Wunder erwähnt (2,1–11), Maria Magdalena dagegen wird in Joh  20 der Ersterscheinung des Auferstandenen gewürdigt. Mit den beiden Frauen steht also die ‚Zeugin‘ der δόξα des Irdischen zwischen Kana und Golgotha neben der ‚Zeugin‘ der δόξα des Auferstandenen (Joh  20) unter dem Kreuz“. Anders gesagt: Die Liste stellt „die Kontinuität zum Irdischen durch Familienmitglieder, 108 

Zur Auslegungsgeschichte vgl. Schnackenburg, Joh III 317 f.; Brown, Death II 955–958. Stütze dieser Deutung wird des Öfteren Jos, Ant  3,161, herangezogen: „Dieser Rock (χιτών) besteht nicht aus zwei Stücken, so dass er auf den Schultern und an der Seite genäht wäre (ῥαπτός), sondern er ist aus einem einzigen Faden gewebt (ὑφασμένον)“. Aber Josephus spricht vom langwallenden Obergewand des Hohepriesters, Joh vom Untergewand Jesu. 110  σχίσμα bezeichnet in 7,43; 9,16; 10,19 die Spaltung, die Jesu Auftritt im Volk auslöst. In 21,11, wo σχίζω ein zweites Mal im Buch begegnet, geht es um das Netz, das Petrus an Land zieht und das trotz der Fülle der Fische nicht zerreißt; es symbolisiert die Kirche. Zumstein, Joh 719 Anm.  193, verweist noch auf das AT, wo „das Zerreißen eines Kleidungsstückes ein Symbol für die Spaltung des Volkes (1Kön  11,29–31)“ ist. 111  Cyprian, UnitEccl 7; Loisy, Évangile 876 f.; Barrett, Joh 530; Potterie, Passion 104 f.; zuletzt Zumstein, Joh 719. 112  Zu ihr gehören die Hirtenrede 10,1–18, das Abschiedsgebet Joh  17, aber auch die Erweiterung der Kajaphas-Rede um 11,52 (siehe oben II.  4.3). 113  Das gilt auch für V.26 f.; anders Bultmann, Joh 521: Weil die Mutter das „Judenchristentum“, der Lieblingsjünger das „Heidenchristentum“ darstelle, sei der Sinn der Worte Jesu „der gleiche wie der seiner Worte im Gebet 17,20 f., der Bitte für die ersten Jünger und für die, die durch ihr Wort zum Glauben kommen: ἵνα πάντες ἓν ὦσιν“. Zumstein, Joh 720, vermag lediglich darauf zu verweisen, „der aufmerksame Leser (werde) zweifellos bemerken, dass das Handeln der Soldaten direkt der Gründung der neuen Familie Jesu vorangeht“. Aber nicht deren Einheit ist das Thema von V.26 f., sondern die Legitimierung des Lieblingsjüngers durch Jesu Testament (siehe unten). 114  Schnackenburg, Joh III 318 f. 109  Als

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die zum Auferstandenen durch Maria Magdalena her“115. Philipp Kästle setzt den Akzent noch etwas anders: Jesu Mutter tritt im Evangelium „ausschließlich“ über ihre Mutter-Rolle in Erscheinung (vgl. noch 6,42), so dass diese „personenkonstituierenden Rang“116 erhält: „Sie hat Jesus zur Welt gebracht, steht somit für seine irdische Existenz und ist folglich auch die Zeugin par excellence für sein mensch­ liches Dasein in der Welt […]. Mit seinem Tod ist […] ihre Funktion erfüllt“117. Anders die Figur der Maria Magdalena: Sie bildet die Brücke zu den Ostererzählungen, in denen sie die wichtige Aufgabe übernehmen wird, als apostola apostolorum die Osterbotschaft den Jüngern auszurichten. Beide Figuren gehören mit ihrer christologischen Verweisfunktion zusammen: Die „Mutter“ Jesu markiert die ir­dische Existenz Jesu, Maria Magdalena verweist auf das Leben des zum Vater „Erhöhten“, dessen erste Zeugin sie am Ostertag sein wird. Von dieser auf den Evangelisten zurückgehenden Konzeption hebt sich die Lieblingsjüngerepisode V.26 f. deutlich ab: Jesus bestellt kraft testamentarischer Verfügung den Lieblingsjünger zu seinem Nachfolger und gibt ihm seine Mutter in Obhut. „Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (V.27c). Während die Rolle der „Mutter“ Jesu beim Evangelisten auf sein irdisches Leben begrenzt ist, reicht das von der Redaktion in V.26 f. erstellte „neue Beziehungsgefüge, welches Jesus unmittelbar vor seinem Tod installiert hat, in die nachösterliche Zeit hinein […]. Die Zeit ist dadurch qualifiziert, ‚dass nun der Lieblingsjünger an der Sohnesstelle steht und die Mutter Jesu, die nächste leibliche Verwandte des irdischen Jesus, bei sich aufnimmt‘“118 . Formal geht es dem Redaktor um die Installation des Lieblingsjüngers zur Legitimations- und Identifikationsfigur der johanneischen Gemeinden durch Jesus selbst119, inhaltlich um den Gesichtspunkt der Leiblichkeit, womit er zur späteren christologischen Diskussion in den joh. Gemeinden beiträgt: Wenn der Lieblingsjünger die Mutter von jener Stunde an bei sich aufnimmt, „sichert“ er „die Bedeutung, die sie repräsentiert: die irdische Existenz Jesu und zwar in ihrer Funktion als leibliche Verwandte. Die Mutter wird hier zur Garantin der sarkischen Existenz Jesu und zur ‚Bezugsperson für die inkarnatorische Christologie der johanneischen Redaktion‘“120 .

(3) Die fünfte und sechste Episode V.28–30/31–37 bieten Momentaufnahmen vor und nach Jesu Tod, auch sie gehören innerlich zusammen. Die erste Episode V.28–30 wird vom Stichwort der „Vollendung“ gerahmt (inclusio). Eingangs heißt es: „Jesus wusste, dass nun alles vollendet ist (τετέλεσται)“121, 115 

Weidemann, Tod 380 f. Kästle, Mutter 323. 117  Ebd. 324. „Deshalb spielt sie weder bei der Grablegung noch im Rahmen der Ostererzählungen des vierten Evangelisten eine Rolle (anders dagegen Apg  1,14). Sie verbleibt ganz auf der Seite der irdischen Existenz Jesu zurück“. 118  Ebd. 322 (Kursive von mir) (unter Bezug auf Weidemann, Tod 241). – Ebd. verweist er auf den unterschiedlichen Gebrauch des Terminus ὥρα: „Läuft die gesamte Gestaltung des Evangeliums auf die entscheidende Stunde (ὥρα) Jesu zu (vgl. 2,4; 7,30; 8,20; 12,23.27), welche mit seinem Tod gekommen ist, so weist der Gebrauch der Wendung ‚von jener‘ (ἀπ᾽ ἐκείνης) nun über diese Stunde hinaus“. 119  Theobald, Jünger 520. 120  Kästle, Mutter 328 (unter Bezug auf Weidemann, Tod 241). 121  Gleich drei Mal begegnet auf engstem Raum das Motiv der „Vollendung“, in V.28 unmittelbar hintereinander in einem syntaktisch schwerfälligen Satz: „Danach (μετὰ τοῦτο), da Jesus wuss116 

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am Ende: „es ist vollbracht (τετέλεσται)“122 . Mit der „Vollendung“ des Heilswerks verbindet sich die der Schrift: „Damit die Schrift vollendet würde (τελειωθῇ), spricht er: Mich dürstet“. Angesichts des Todes geht es um die Erfüllung nicht ­lediglich einer Schriftstelle (Ps  69,22), sondern des in der Schrift überhaupt dokumentierten Gotteswillens im Heilswerk Jesu. Der Durst, an dem Jesus leidet, ist kein leiblicher, sondern der Durst nach Gott, der unbedingte Wunsch, dass Gottes Willen auf Golgota zu seinem Recht gelangt. Der merkwürdige Hinweis auf den Ysop-Büschel, auf dem Jesus der Essig gereicht wird, bietet einen versteckten Hinweis auf die inhaltliche Bestimmtheit der Erfüllung der Schrift: Jesus ist das wahre Paschalamm, das den „Verderber“, der auf das Leben der Menschen aus ist (Ex  12,23), abzuwehren und endgültig zu besiegen imstande ist123. Jesu Sterben ist die Vollendung, weil es zugleich „Hingang“ zum Vater ist, weil es die Bresche aus dem „Totenhaus“ dieser Welt ins ewige Leben allen denen zugute schlägt, die zu ihm gehören. Wenn Jesus ruft: „Mich dürstet!“, dann ergreift er die Initiative – im Unterschied zu Markus, wo „einer“ der Dabeistehenden auf den Gedanken kommt, ihm Essig zu reichen. Selbstbestimmt und souverän ist Jesus selbst im Augenblick des Todes: „Da er den Essig genommen hat, sprach Jesus: Es ist vollbracht. Und er neigte das Haupt und übergab den Geist (παρέδωκεν τὸ πνεῦμα)“. Veranschaulicht der Gestus des Haupt-Neigens124 die Einwilligung Jesu in den Heilswillen Gottes, so drückt die Rede von der „Übergabe des Geistes“, eine Abwandlung bekannter Sterbeformeln wie ἀφιέναι τὴν ψυχήν („die Seele übergeben“)125 , seine vertrauensvolle „Selbsthingabe an den Vater“ aus126 . Die Episode ist theozentrisch orientiert. te (εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς), dass schon alles vollendet ist (ἤδη πάντα τετέλεσται) – damit die Schrift vollendet würde, spricht er: Mich dürstet“. Die kursiv gesetzte Passage dürfte wie die Lieblingsjüngerepisode auf die sekundäre Redaktion zurückgehen. Das ἤδη πάντα τετέλεσται blickt auf Jesu letzte Verfügung zurück. 122  Das Verb τελειόω kann sowohl beenden als auch vollenden bedeuten (Bultmann, Joh 522 Anm.  2). Ähnlich verhält es sich mit εἰς τέλος ἠγάπησεν in 13,1: „er liebte bis zum Ende/bis zur Vollendung“. 123  Weidemann, Tod 386 f.; vgl. Schlund, Knochen 122–124; dies., Deutungen 406–408. 124  Dazu bietet die zeitgenössische Literatur keine Parallelen. 125 Joh wird zur Benutzung von τὸ πνεῦμα durch die Wendung: Jesus „hauchte aus“ (vgl. Mk  15,37 par. Lk  23,46: ἐξ-έπνευσεν), die er in der PElk/joh vorfand, angeregt worden sein; ähnlich verfährt Mt mit seiner Vorlage: ἀφῆκεν τὸ πνεῦμα (Mt  27,50). Diese diachrone Einsicht bestärkt die oben gegebene anthropologische Deutung der Sterbenotiz. 126  Schnackenburg, Joh III 332; vgl. Theobald, Eschatologie 567–569. Diese Deutung erklärt zum einen die Wahl des in Sterbenotizen nur selten benutzten παρα-δίδωμι (vgl. TestAbr B12: „Als Sara, seine Frau, nicht wusste, was Abraham geschehen war, ward sie von Trauer ergriffen und gab ihre Seele auf [παρέδωκεν τὴν ψυχήν]“; vgl. auch Apg  15,26: „Männer, die ihr Leben für den Namen unseres Herrn hingegeben haben [παραδεδωκόσι τὰς ψυχὰς αὐτῶν]“. In Plat, Prot  312c, „du weißt nicht, wem du deine Seele übergibst [παραδίδως τὴν ψυχήν], ob einem guten oder schlechten Ding“, geht es um einen Schüler, der sich rückhaltlos einem Lehrer anvertraut). Zum anderen wird die Auslassung des Dativs plausibel: Der theozentrische Horizont der Episode (19,28–30) lässt ungezwungen an „Gott“ bzw. den „Vater“ denken, dem Jesus seinen Lebensodem/ seinen „Geist“ (vgl Joh  11,33; 13,21; vgl. 12,27) „übergibt“. Das entspricht im Übrigen frühjüdischen Sprachmustern: vgl. Koh 12,7: καὶ τὸ πνεῦμα ἐπιστρέψῃ πρὸς τὸν θεόν, ὃς ἔδωκεν αὐτό; Weish 15,8: ὃς πρὸ μικροῦ ἐκ γῆς γενηθεὶς μετ ὀλίγον πορεύεται ἐξ ἧς ἐλήμφθη, τὸ τῆς ψυχῆς ἀπαιτηθεὶς χρέος (er, der vor kurzem aus Erde entstand und bald dorthin zurückkehrt, woher er gekommen

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Die sechste und letzte Episode V.31–37 lässt – dem Beginn der Szene entsprechend – „die Juden“ wieder auf den Plan treten (V.31: „Die Juden nun …“). Sie stellen nach 19,21 ihr zweites Bittgesuch an Pilatus: Wegen des anstehenden Feiertags soll er veranlassen, dass „die Leichname nicht am Kreuz bleiben“, vielmehr „ihre Beine zerschlagen und sie abgenommen werden“. Diese Forderung hat einen Hintersinn: Sie möchten ohne den Blick auf das Paschalamm am Kreuz „ihr“ Pascha feiern – wie in der zweiten Episode, in der sie nicht mit dem Ehrentitel „der König der Juden“ konfrontiert werden wollen. Wie ihr erstes Gesuch ist auch ihr zweites erfolglos: Werden die Beine der mit Jesus Gekreuzigten zerschlagen, so ist Jesus schon verstorben, als die Soldaten zu ihm kommen. Sie brechen seine Beine nicht, sondern versichern sich mit dem Stich der Lanze in die Seite seines Todes. Der Anblick des durchbohrten Gekreuzigten wird „den Juden“ nicht erspart: „sie werden schauen auf den, den sie durchbohrt haben“ (Sach  12,10), heißt es am Ende tiefsinnig127. Was der Text zum Leichnam Jesu sagt – „sie brachen seine Beine nicht“; „einer der Soldaten stach mit einer Lanze in seine Seite“; „sofort kam Blut und Wasser hervor“ (V.33 f.) –, ist polyvalent. Die beiden ersten Elemente werden in gleicher Reihenfolge von zwei Schriftzitaten, die von den Bezugsversen allerdings durch die (redaktionelle) Parenthese V.35 getrennt sind, kommentiert (V.36 f.)128 . Das dritte Element – „sofort kam Blut und Wasser hervor“ (V.34b) – ist ein Überhang, den die Parenthese V.35 würdigt: 33 A […] Sie brachen seine Beine nicht. 34 B Aber einer der Soldaten stach mit einer Lanze in seine Seite, C und sofort kam Blut und Wasser hervor. C’ 35Und der es gesehen hat, legt Zeugnis ab […]. 36 A’  […] Kein Knochen wird ihm zerbrochen werden (Ps  34,21; Ex  12,10.22.46). 37 B’  […] Sie werden schauen auf den, den sie durchbohrt haben (Sach  12,10).

Die Elemente A, B und C geben im Spiegel der anschließenden Deutungen wie weiterer joh. Bezugstexte unterschiedliche Sinnschichten zu erkennen: (a) Die Herkunft des ersten Schriftworts ist ambivalent: Der Quelltext ist entweder Ps  34,21, dann ist der Sinn: Wie der leidende Gerechte wird auch Jesus in allem Unbill von Gott bewahrt, oder Ex  12,10.46 (vgl. Num  9,12). Dann lautet die Pointe: Das wahre Pascha­ lamm ist Jesus. Wegen des indirekten Hinweises auf das Paschafest in der Einleitung der ist, wenn seine Seele – das ihm anvertraute Darlehen – zurückgefordert wird) (Weish benutzt ψυχή und πνεῦμα gleich: vgl. 15,8 mit 15,11!). – Die Deutung, der zufolge Jesus sich den Seinen, die am Fuß des Kreuzes stehen, zuneigt und ihnen „den (heiligen) Geist überliefert“ (Brown, Death II 1082 f.; Zumstein, Joh 728), muss den Dativ aus der vorangegangenen Episode ergänzen und trägt einen ekklesiologischen Akzent in die Notiz ein, der an dieser Stelle unangebracht ist. 127 Zutreffend Schnackenburg, Joh III 336: „die Juden drängen auf den Abschluss der Exekution, Jesus soll vom Kreuz verschwinden und nicht länger als ‚König der Juden‘ proklamiert werden (vgl. 19,20 f.). Aber Gott lenkt es anders: Sie sollen auf den schauen, den sie durchbohrt haben“. – „Durchbohrt“ hat ihn zwar ein Soldat, aber verantwortlich für seinen Tod sind aus der Sicht des Evangelisten die jüdischen Autoritäten (vgl. 8,28). 128  Eingeführt werden sie durch die formelhafte Rede: „denn dies geschah (ἐγένετο γὰρ ταῦτα), damit die Schrift erfüllt werde: (…)“. ταῦτα bezieht sich – über V.35 hinweg – auf V.33 f.

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Episode – „denn groß war der Tag jenes Sabbats“ – ruht für den Evangelisten der Akzent auf dieser zweiten Sinnschicht129. (b) Die Herkunft des zweiten Zitats, Sach  12,10b, ist eindeutig. Seine Textform weicht von der Masora130 und der LXX131 ab und stellt wahrscheinlich eine „spezifisch christl(iche) Version von Sach  12,10“ dar, „die der johanneischen Schule vorgegeben war“132 . Sie ist noch in Offb  1,7133, Barn 7,9134 und Just, Dial  14,8135 greifbar, dort allerdings – im Unterschied zu Joh  19,37 – auf die zukünftige Begegnung Israels mit dem Parusie-Christus bezogen. Auch Mt  24,30 spielt in einem Parusie-Kontext auf Sach  12,10b an und verknüpft die Anspielung (wie Offb  1,7 und Just, Dial  14,8) mit Dan  7,14. Joh  19,37 spricht gleichfalls von einem „Sehen“ im Futur (ὄψονται). Aber im Rahmen der präsentischen Eschatologie des vierten Evangelisten kann nicht das „Sehen“ des kommenden Menschensohns, sondern nur das des durchbohrten Gekreuzigten gemeint sein – unmittelbar nach seinem Tod oder in der nach­ österlichen Gegenwart. Auch das erste Zitat steht im Futur (οὐ συντριβήσεται αὐτοῦ). So empfiehlt es sich, ὄψονται als prophetisches Futur zu verstehen, das im Angesicht des Durchbohrten seine Erfüllung findet. Der Bezug des Zitats ist strittig. Entweder sind die am Geschehen unmittelbar Beteiligten gemeint, „die Juden“ (V.31: siehe oben), oder der Blick geht über die Szene hinaus. Dann wäre an ein rettendes „Sehen der Gläubigen“ nach Ostern zu denken136 , wobei das Subjekt vom Haupt- zum Relativsatz wechseln würde: „Sie werden schauen auf den, den man durchbohrt hat“. Näher liegt eine Deutung des Zitats aus der Perspektive der Erzählung: „Den Juden“, die eingangs der Episode darum bitten, die Leichname wegen des Festes zu entfernen, wird der Anblick des Durchbohrten nicht erspart. Dann handelt es sich entweder um ein Gerichtswort oder ein Wort der Hoffnung auf ihre Umkehr. Für die zweite Deutung könnte die Rahmung des Zitats bei Sacharja sprechen: „[Ü]ber das Haus David und über die Einwohner Jerusalems werde ich einen Geist des Mitleids und des flehentlichen Bittens ausgießen […] Sie werden um ihn [sc. den Durchbohrten] klagen, wie bei der Klage um den Einzigen; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint“ (Sach  12,10a/c). So attraktiv es ist, die joh. Fassung des Wortes zumindest doppelsinnig zu verstehen, der Kontext 129 

Schlund, Knochen 124–128. (Masora): „Und sie werden auf mich blicken im Bezug auf den, den sie durchbohrt haben“ (Reventlow, Propheten 114); vgl. Groß, Angst 121 f. 131  Sach  12,10bLXX: „Und sie werden auf mich schauen, weil sie [triumphierend] getanzt haben“ (Kraus/Karrer [Hg.], Septuaginta 1223). 132  Karrer/Kraus (Hg.), Septuaginta II, 2470 (T. Pola); Menken, Quotations 185. 133  Offb  1,7: „Siehe, er kommt mit den Wolken und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben; und alle Völker der Erde werden seinetwegen jammern und klagen“. 134  Barn  7,9: „denn sie werden ihn sehen (ὄψονται αὐτόν) am einst kommenden Tag (τότε τῇ ἡμέρᾳ) … und werden sagen: Ist das nicht der, den wir einst gekreuzigt haben, nachdem wir ihn verhöhnt, durchstochen (κατακεντήσαντες) und bespuckt hatten? Wahrhaftig, das war er, der damals sagte, er sei Gottes Sohn“. 135  Just, Dial  14,8: „Diese und ähnliche Prophetenworte sprechen teils von der ersten Parusie Christi […], teils von seiner zweiten Parusie, wo er in Ehren über den Wolken erscheinen wird und euer Volk [ihn] sehen (ὄψεται ὁ λαὸς ὑμῶν) und in ihm den erkennen wird, den sie durchbohrt haben (γνωριεῖ εἰς ὃν ἐξεκέντησαν), wie Hosea (!), einer der zwölf Propheten, und Daniel vorhersagten“; vgl. auch Dial  32,2; 64,7; 118,1; 1Apol  52,12. 136  Zumstein, Joh 735, wegen des Futurs ὄψονται: „ein die nachösterliche Zeit qualifizierendes rettendes Sehen“. Ähnlich Schnackenburg, Joh III 344; ebd.: „Beim ‚Sehen‘ wird der Evangelist nicht nur allgemein an den ‚Durchbohrten‘ denken, sondern auch an das aus der Seite Jesu hervortretende Blut und Wasser. Wie immer er das näherhin verstand, war es für ihn sicher ein Strom des Segens und Heils“. 130  Sach  12,10b

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empfiehlt den Gedanken an eine mögliche Umkehr „der Juden“ in der Zukunft nicht. Die Annahme eines Gerichtswortes liegt näher137. (c) Der Erzählzug vom Lanzenstich passt zunächst gut zum Duktus des Geschehens. Der auf das Herz zielende Lanzenstich138 soll den eingetretenen Tod sichern139. Das Hervorquellen von „Blut und Wasser“ als Beweis dafür ist aus Sicht nicht der modernen Medizin140 , sondern der populären antiken Auffassung zu beurteilen, der zufolge der Mensch zur einen Hälfte aus Blut, zur anderen aus Wasser besteht, weshalb aus Wunden Blut und farbloses Blutwasser (ἰχώρ, bisweilen ὕδωρ) hervortreten141. Beim Martyrium des ältesten der sieben makkabäischen Brüder fließen Blut (αἵμα) und Blutwasser (ἴχωροι) in solcher Menge, dass die Flammen, in denen sie umkommen sollen, erlöschen (4Makk  9,20). (d) Die Notiz V.34 hat über ihren unmittelbaren Sinn hinaus auch eine symbolische Bedeutung. Um die Breite der vorgeschlagenen Deutungen142 einzugrenzen, empfiehlt es sich, zwischen den literarischen Schichten zu unterscheiden. Für das Verständnis des Evangelisten ist vom Nachtrag der johanneischen Redaktion, V.35, abzusehen. Dann fällt auf, dass die beiden folgenden Schriftzitate V.36 f., die das Geschehen deuten, in Gestalt von Sach  12,10b das Motiv des Lanzenstichs aufgreifen143, nicht aber das vom Hervortreten von „Blut und Wasser“. Wer nach der symbolischen Bedeutung dieses Vorgangs fragt, wird zu berücksichtigen haben: Entsprechend dem oben gegebenen Hinweis auf die Relevanz des „Blutwassers“ liegt der Akzent der Doppelwendung auf dem nachstehenden Element ὕδωρ. Das Motiv des „Wassers“ spielt im Evangelium von Anfang an eine gewichtige Rolle (1,33144; 2,7.9; 3,5 [ἐξ ὕδατος καὶ πνεύματος]; 3,22; 4,10–15; 5,7; 6,35; 7,37–39; 13,5.10). Vor allem 7,37–39 wirft Licht auf 19,34, wenn es dort von Jesus heißt: „Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Inneren (ἐκ τῆς κοιλίας) fließen“ (V.38c), was dort ausdrücklich auf „den Geist“ (τὸ πνεῦμα) bezogen wird, der, wenn Jesus „verherrlicht“ ist, denen, die an ihn glauben, zuströmen wird. Wahrscheinlich will der Evangelist die Notiz V.34b im Licht von 7,37–39 verstanden wissen. 137  Theobald, Joh I 584; dort zum Spruch 8,28, der 19,37 nahesteht. Zur Israel-Theologie des vierten Evangelisten ebd. 823 f.; siehe auch unten IV.  1.2.4. 138  πλεύρα = Seite steht hier für das angezielte Herz. 139  Ein solcher Stich war die einzige Möglichkeit, den Tod sicher zu stellen. Römische Soldaten waren geübt, ihn auszuführen. Quintilian, Declamationes maiores 6,9: cruces succiduntur, percussos sepeliri carnifex non vetat. Crosses are cut down, the executioner does not prevent those who have been struck/pierced from being buried (Cook, Crucifixion 111 f., mit Hinweis auf Origenes, Comm in Mt  140 [zu Mt  27,54], der diese Praxis bestätigt. 140 Phantasievoll Fried, Tod 25–50: Der Lanzenstich in die Lunge (Pleura) habe bei Jesus als Entlastungspunktion gewirkt und seine Atemnot gelindert mit der Folge, dass er nur tot schien, von Nikodemus und Josef in ein Scheingrab gelegt wurde, um nach seiner Erholung im fernen Orient weiter zu wirken; dazu Riesner, Tod 112–115; Kessler, Auferstehung 53–62, der auch noch andere derartige Konstruktionen bespricht. 141  Schweizer, Zeugnis 381 f., bietet eine Reihe von Belegen. Nach Eintritt des Todes trennen sich rote Blutzellen und farbloses Blutserum; vgl. auch Schnackenburg, Joh III 338 f. 142 Beliebt ist die Deutung auf Taufe (Wasser) und Eucharistie (Blut), wobei zum Element „Blut“ auf 6,53–56 zu verweisen wäre (so etwa Zumstein, Joh 731). Da 6,51c–58 zur joh. Redaktion gehört, gilt Gleiches auch für die sakramententheologische Deutung von 19,34. V.34b zur Redaktion zu schlagen (Bultmann, Joh 525), ist nicht möglich. Der Erzählzug lässt sich von V.34a nicht abtrennen. So bleibt nur zu erwägen, ob der Redaktor von V.35 den Erzählzug nachträglich sakramententheologisch gedeutet sehen will. Zwischen seinem Verständnis und dem des Evangelisten ist jedenfalls zu unterscheiden. 143  Dem Erzählzug des „Lanzenstichs“ entspricht das Motiv vom „Durchbohren“. 144  1,33: „der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, jener sprach zu mir: Auf den du heiligen Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, dieser ist es, der mit heiligem Geist taufen wird“. Diese Gegenüberstellung insinuiert: Der heilige Geist ist das wahrhaft reinigende Wasser.

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

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(e) Der redaktionelle Nachtrag V.35 lässt den Anonymus (= Lieblingsjünger) den Austritt von Blut und Wasser145 aus Jesu Seite bezeugen. Weil es um den Glauben der angesprochenen Leser geht, kann sein Zeugnis nicht lediglich die Bestätigung eines äußeren Vorgangs sein, sondern muss sich auf dessen eigentlich gemeinten tieferen Glaubenssinn beziehen. Im Horizont des 1.  Johannesbriefs und dessen Polemik gegen die dualistische Christologie seiner Gegner gelesen, bezeugt das Hervortreten von „Blut und Wasser“ am ehesten die Leiblichkeit Jesu146 bzw. den im johanneischen Kreis umstrittenen Heilssinn des für die Sünden der Menschen vergossenen „Blutes“ Jesu (1Joh  1,7; 2,2; 4,10; 5,6.8)147.

Was bei der letzten Episode überdeutlich ist – sich überlagernde Sinnschichten –, zeichnet die joh. Szene insgesamt aus. Ihre Mehrschichtigkeit erlaubt es, die Vorlage des Evangelisten wenigstens in Umrissen von ihrer Letztgestalt zu unterscheiden. 10.5 „… damit die Schrift erfüllt würde“. Die Kreuzigungsszene in der PEjoh (1) Ausleger der Alten Kirche wie Origenes, aber auch viele Exegeten nach ihm harmonisieren Mk  15,21 gerne mit Joh  19,17, indem sie erklären, Jesus und Simon hätten das Kreuz abwechselnd getragen148 . Aber Joh  19,17 ist eine christologisch begründete Replik auf die aus den Synoptikern bekannte Episode, die nach dem hier vertretenen Modell in ähnlicher Form schon für die PEjoh postuliert werden muss. Der vierte Evangelist transformierte die Episode in sein hoheitsvolles Bild von Jesus, der „selbst (ἑαυτῷ) sein Kreuz trug und hinaus zur sogenannten Schädelstätte ging (ἐξῆλθεν)“ (V.17)149. Auch sonst zeigt die erste Episode V.16c–19 deutliche Spuren redaktioneller Bearbeitung. Die über die Synoptiker hinausgehende Bemerkung, dass Jesus „in der Mitte“ zwischen den beiden anderen gekreuzigt wurde (μέσον δὲ τὸν Ἰησοῦν), ist dem Interesse des Johannes an der Königs-Thematik geschuldet, wie auch die Einführung des Pilatus, der den titulus crucis hat „schreiben“ und „am Kreuz anbringen“ lassen, joh. Ironie verrät: Der Vertreter des Imperium veranlasst ungewollt, dass Jesus öffentlich als „König der Juden“ proklamiert wird – in drei Sprachen, wie es anschließend in V.20 heißt. (2) Die zweite Episode V.19–22, die vom Gesuch der „hohen Priester der Juden“ an Pilatus um Abänderung des titulus crucis handelt (vgl. oben Nr.  13), scheint eine joh. Neubildung zu sein. Frank Schleritt weist indes auf Übereinstimmungen struktureller und motivischer Art mit der mkn. Verspottungsepisode (= Nr.  18 f.) 145  Einige Textzeugen gleichen die Reihenfolge an 1Joh  5,6 an (siehe die Hinweise bei Schnackenburg, Joh III 338 Anm.  80a): „Wasser und Blut“. Ginge es um die Sakramente (Taufe und Eucharistie), wäre tatsächlich diese Reihenfolge zu erwarten. 146  Kästle, Mutter 328; Weidemann, Tod 242. 147  Eine alternative Deutung wäre der Bezug von „Blut und Wasser“ auf Eucharistie und Taufe, deren Heilskraft in Jesu Tod gründet; 1Joh  5,6.8 stützt aber diese nicht, vgl. Klauck, 1Joh 301. 148  Orig, Comm in Mt  126; Aug, ConsEv  3,10 etc. Vgl. W. Bauer, Joh 221. 149  Schleritt, Passionsbericht 427 f., beobachtet, dass in Mk  15,20d–24 „durchgängig die Soldaten das Subjekt (ἐξάγουσιν – ἀγγαρεύουσιν – φέρουσιν – σταυροῦσιν)“ sind, wohingegen Joh  19,16c–18 sich „durch einen zweifachen Subjektswechsel aus(zeichnet): παρέλαβον – ἐξῆλθεν  – ἐσταύρωσαν. Das ist kaum ursprünglich, sondern das ἐξῆλθεν dürfte gegenüber der Angabe in Mk  15,22, dass die Soldaten Jesus nach Golgota bringen (φέρουσιν αὐτόν), sekundär sein […]“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

hin150 . Bei beiden Evangelisten treten hintereinander zwei Akteure auf: bei Markus zuerst nicht näher qualifizierte Passanten („die Vorübergehenden“), beim vierten Evangelisten „viele Juden“; bei beiden dann die „hohen Priester“: Mk  15

Joh  19

Und die Vorübergehenden lästerten […] (V.29a); Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn es war nahe an der Stadt, wo Jesus gekreuzigt wurde […] (V.20a–c). […] ebenso höhnten auch die hohen Priester […] Die hohen Priester der Juden und sagten (V.31a): sagten zu Pilatus (V.21a): […] Der Christus, der König Israels, steige er jetzt herab vom Kreuz! […] (V.32a.b)

Schreibe nicht: der König der Juden. sondern dass jener gesagt hat: Ich bin der König der Juden (V.21b–e)

Außerdem beziehen sich die „hohen Priester“ auf den titulus crucis bei Markus und Johannes, allerdings mit entgegengesetztem Sinn: Bei Markus verhöhnen sie Jesus, indem sie auf die Kreuzesinschrift verweisen. Bei Johannes protestieren sie gegen die Inschrift bei Pilatus, der sie brüsk mit seinem quod scripsi scripsi abweist. „[D]ie Verspottung Jesu durch die Hohenpriester“ ist „zu einer Verspottung der Hohenpriester durch Pilatus geworden“151. Daraus ergibt sich: Der vierte Evangelist erfand die Episode nicht, sondern wandelte die von ihm in der PEjoh vorgefundene Fassung um. Weil sie im mkn. und lkn./joh. Überlieferungszweig stand, muss sie Bestandteil schon der PEG gewesen sein152 . (3) Die dritte Episode, die Verteilung der Kleider Jesu und Verlosung seines Untergewands durch die Soldaten (V.23 f.) (= Nr.  14), besitzt zwar synoptische Parallelen (= Nr.  9), zeichnet sich aber dadurch aus, dass die Schriftanspielungen, die der Episode eingeschrieben sind, jetzt regelrecht in Szene gesetzt sind. Der Bezugstext Ps  22,19 wird am Ende samt einer Schrifterfüllungsformel zudem ausdrücklich zitiert153:

150 

Schleritt, Passionsbericht 430–432. Ebd. 432. 152 Gegen Reinbold, Bericht 170: Weil Joh zur mkn. Verspottungsepisode keine Parallele böte, müsse diese sekundär im mkn. Überlieferungszweig hinzugewachsen sein. Siehe auch unten 10.6 unter (5). 153  Bei Mk ist Ps  2 2,19, gekürzt um die Erwähnung des Gewandes, in die Geschichte eingeflochten. Joh zitiert den Vers vollständig, weil vorweg beide Hälften – die Verteilung von Jesu Gewändern und das Los-Werfen über sie, konkret sein Untergewand – narrativ umgesetzt sind. 151 

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

Mk  15,24

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Joh  19,23 f. Die Soldaten nun, als sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Oberkleider und machten vier Teile, jedem Soldaten ein Teil, und das Untergewand. Es war aber das Untergewand nahtlos, von oben an durchgewebt zur Gänze. 24 Sie sprachen nun zueinander: Wir wollen es nicht zerreißen, sondern wir wollen losen um es, wessen es sein soll, damit die Schrift erfüllt würde:   Sie teilten meine Kleider unter sich,  und über mein Gewand warfen sie ein Los. (siehe oben v.24d!) 23

Und sie kreuzigen ihn,

(siehe unten V.24d!) und sie teilen seine Kleider auf, ein Los über sie werfend, wer was nähme.

Die Synopse zeigt anschaulich, wie aus einem Schrifttext sekundär eine kleine Geschichte generiert wurde, deren Tenor lautet: Selbst wenn der Gerechte seiner Kleider und damit seiner Ehre beraubt wird: Gott behütet ihn. Einiges spricht dafür, dass der Evangelist diese Schriftreflexion in der PEjoh vorgefunden hat154. Die Episode vom Crurifragium, die gleichfalls zur PEjoh gehört, weist dieselbe Tendenz auf. (4) Die Frauenliste V.25 am Eingang der vierten Episode hat Johannes, wie oben schon gezeigt, redaktionell überarbeitet. Welche Frauen der ihm vorgegebenen Liste er durch Jesu Mutter, dessen Tante und vielleicht auch „Maria, (Frau) des Klopas“ ersetzt hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Lukas spricht nur allgemein von Frauen, ohne konkreten Hinweis auf die Liste in der PElk/joh. Der vormkn. Gestalt wird diese nicht unähnlich gewesen sein. (5) Auch die fünfte Episode V.28–30 zeigt deutliche Spuren der Redaktionsarbeit des Evangelisten. Zu ihrer Substanz gehört ausweislich der synoptischen Parallelen (= Nr.  27) die Notiz, dass Jesus ein Schwamm voll Essig gereicht wird155. Das aus Ps  69,22 abgeleitete Wort Jesu: „Mich dürstet“, wie der Hinweis auf den Ysop-­Büschel verdanken sich dagegen dem Evangelisten, weil beide Elemente seine vertiefte christologische Sicht ausdrücken. Gleiches gilt vom letzten Wort Jesu: τετέλεσται (V.30b), wobei noch offenbleiben muss, welches verbum ultimum der PEjoh es verdrängt hat. Die Sterbenotiz: „er neigte sein Haupt und übergab den Geist“, die bei

154  Schnackenburg, Joh III 316: „Eine solche weitergehende Reflexion aufgrund des Schriftwortes würde gut zu einer Quelle passen, die später als die Syn anzusetzen ist. Hinzu kommt, dass die Darstellung bis zum Schriftzitat keine joh. Stilkriterien ausweist“; Schleritt, Passionsbericht 433: „Damit sich der Psalmvers wörtlich erfüllen konnte, war […] zusätzlich ein Untergewand (χιτών) vonnöten – und zwar ein nahtloses, denn ein zusammengeflicktes hätte man ja auftrennen und ebenfalls verteilen können. Da für den Evangelisten diese Penibilität ganz untypisch wäre, wird man davon ausgehen, dass es zu der Ausgestaltung der Szene bereits in PBJoh gekommen ist“. 155  Der Plural προσήνεγκαν (vgl. Lk  23,36) – bei Mk  15,36 par. Mt  27,48 ist im Sing. von „jemandem (τίς)“ bzw. „einem“ die Rede (siehe oben 10.1 unter [5] [f]) – fand sich wohl schon in der PEjoh.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

den Synoptikern ohne Parallele ist, wird in dieser Form gleichfalls sekundär sein. Sie bringt die Überzeugung des Evangelisten zum Ausdruck, dass Jesus selbstbestimmt gestorben bzw. zum Vater „hinübergegangen“ ist. (6) Auch der Kern der sechsten Episode V.31–37 stammt aus der PEjoh. Sie erzählt, wie die Soldaten durch Brechen der Beine den Tod der Übeltäter herbeiführen und bei Jesus, der schon verstorben ist, mit einem Lanzenstich ins Herz sich seines eingetretenen Todes versichern (V.32–34). Pointe der Episode ist die Schriftreflexion V.36 am Ende: „Ihm sollte kein Knochen zerbrochen werden“ (Ps  34,21). Wie der Gerechte des Psalters ist Jesus auch nach seinem Tod in Gottes Obhut. Der Evangelist hat diese kleine Geschichte mit V.31 und V.37 gerahmt und ihr damit neuen Sinn verliehen. Nicht nur die Rede von „den Juden“, auch die Spannung, in der V.31 zum Folgenden steht, erweist seine Autorschaft. Während V.31 das Gesuch „der Juden“ um Zerbrechen der Beine und Abnahme der Leiber von den Kreuzen mit dem bevorstehenden Paschafest begründet, leitet die Aktion der Soldaten V.32 f. die Absicht, den Tod der Gekreuzigten herbeizuführen bzw. den Tod Jesu zu bestätigen. Dass die Soldaten der Bitte um Abnahme der Leiber von den Kreuzen entsprechen, ist nicht gesagt. Erst V.31 erzeugt die merkwürdige Konkurrenz zur nachfolgenden Erzählung, denn jetzt sprechen sowohl V.31 als auch V.38 von einem „Bitten“ (ἐρωτάω) um „Abnahme“ (αἴρω) des Leichnams. Zuerst äußert die Bitte ein Kollektiv („die Juden“), dann eine einzelne Person (Josef)156 .

Die Entstehung des „überladen“ wirkenden V.31157 lässt sich leicht erklären: Die Zeitangabe „denn es war Rüsttag“ entnimmt der Evangelist der anschließenden Erzählung von der Bestattung Jesu, wo sie ihren angestammten Platz besitzt. Er antizipiert und präzisiert sie in seinem Sinne: Der heraufziehende Sabbat ist „groß“, er ist mit dem Paschafest identisch. Gemäß dieser Leseanweisung ist das vorgegebene Zitat V.36: „Kein Knochen soll ihm gebrochen werden“, von Ex  12 her zu lesen, aber auch das Ansinnen „der Juden“ so zu verstehen, dass sie „ihr“ Pascha begehen wollen in Verkennung des wahren Paschalammes Jesus. Wenn der Evangelist am Ende noch Sach  12,10 anfügt, gibt er zu verstehen, dass sie mit dem Bild des durchbohrten Gekreuzigten konfrontiert bleiben. Eine Frage bleibt nach dieser Bestimmung des redaktionellen Anteils des Evangelisten an der ihm vorgegebenen Kreuzigungsszene offen: Nahm Johannes über die schon beobachtete Versetzung der Frauenliste hinaus weitere Umstellungen vor? Wie sah die Sequenz in der PEjoh aus? Die Tafel eingangs von II.  10 hilft, sich im komplexen Überlieferungsmaterial zurecht zu finden. (a) Wenn die Notiz von der Kreuzigung der beiden Übeltäter bei Johannes gegen Markus unmittelbar auf die entsprechende Notiz zu Jesus folgt, hat nicht er sie nach vorne gezogen, sondern ausweislich desselben Befundes bei Lukas muss die Verknüpfung der beiden Notizen schon in der PEjoh vorgenommen worden sein (10.1 [5a]). 156 

Luz, Mt IV 377: „Joh kennt ansatzweise zwei Begräbnisse“. Schnackenburg, Joh III 334; ebd. „[D]ie erläuternde Bemerkung ‚denn groß war der Tag jenes Sabbats‘ (wirkt) wie eine Parenthese“. Die nicht gebräuchliche Ausdrucksweise erinnert an 7,37 und verrät die Hand des Evangelisten. 157 

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

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(b) Verbunden mit der Versetzung der Frauenliste nach vorne (von Nr.  35 nach 15) war die der Episode von der Verteilung der Kleider nach hinten (von Nr.  9 nach 14): Die Gegenbilder von den vier Soldaten und vier Frauen entstanden dank dieser doppelten Operation. Mit der etwas ungelenken Bemerkung ganz am Ende von V.24 („Die Soldaten nun taten dies“) verknüpft der Evangelist die beiden Episoden miteinander. Zwei Konsequenzen ergeben sich für die PEjoh: Sie bot die Episode von der Verlosung der Kleider analog zu Markus im Anschluss an die Notizen von der Kreuzigung Jesu und der beiden Übeltäter (Nr.  6 f.), die Frauenliste (wie Markus und Lukas) nach dem Tod Jesu, wo sie allein die ihr ursprünglich zugedachte Funktion der Zeugenschaft sinnvoll ausüben konnte158 . Entweder folgte die Liste unmittelbar auf die Notiz vom Sterben Jesu oder erst nach der Feststellung seines Todes durch den Lanzenstich. Zugunsten der zweiten Alternative spricht, dass sie dann (wie bei Markus und Lukas) den Hauptteil der Kreuzigungsszene beschlossen hätte, bevor deren Schlussteil mit der Erzählung von der abendlichen Bestattung Jesu durch Josef von Arimathäa einsetzt. (c) Die Episode vom Gesuch der hohen Priester bei Pilatus, den titulus crucis abändern zu lassen (Nr.  13), ist, wie oben gezeigt, das Ergebnis der johanneischen Transformation der synoptischen Verspottungsepisode (Nr.  18 + 19). In der PEjoh folgte diese auf die Kreuzigungsnotizen (Nr.  6 + 7) und die Verlosungsepisode (Nr.  9 [statt bei Joh Nr.  14]) und ging der eigentlichen Todesszene voraus. Johannes hat sie nicht umgestellt, sondern an ihrem ursprünglichen Ort belassen.

Dieser Befund erlaubt zumindest, die Abfolge der Episoden in der PEjoh zu rekonstruieren159, muss deren Wortlaut aber weithin offenlassen: PEjoh (mit joh. Verszählung)

Gg. Mk übereinstimmende Wendungen (Lk – Joh)

A.

Herausführung (Ergreifung) Jesu (V.16c) Simon von Kyrene (in Joh  19,17a ist die φέρω / βαστάζω (= tragen: Lk  23,26 par. Figur getilgt) Joh  19,17 diff. Mk  15,21: αἴρω = nehmen) B.I. Ankunft auf Golgota (V.17b.c) ἦλθον / ([ἐξ-]ῆλθεν) (Lk  23,33 par. Joh  19,17) Kreuzigung Jesu und zweier Verbrecher ἐκεῖ / ὅπου ἐσταύρωσαν αὐτόν (Lk  23,33 (V.18a–c) par. Joh  19,18) Teilung der Kleider Jesu und Verlosung seines Untergewandes (V.23 f.) Inschrift (V.19) ἐπ’ αὐτῶ / ἐπὶ τοῦ σταυροῦ B.II. Verspottung Jesu (vgl. V.20–22) προσφέροντες αὐτῷ / προσήνεγκαν αὐτοῦ B.III. Darreichung von Essig (V.29) τῷ στόματι (Lk  23,36 par. Joh  19,29) Letztes Wort Jesu (V.30c) ὁ Ἰησοῦς εἶπεν / [ὁ] Ἰησοῦς εἶπεν (Lk  23,46 = Joh  19,30) Tod Jesu (V.30d.e) Episode vom Lanzenstich Zeugen „von ferne“(Frauenliste) εἱστήκεισαν δέ / εἱστήκεισαν δέ (Lk  23,49 = Joh  19,25)

158  Vgl. oben I.  1.4.2 unter (1) zum Konstrukt der mit Tod, Begräbnis und Auferstehung Jesu verbundenen Frauenlisten. 159  Umgestellte Elemente sind in der Tabelle kursiv gesetzt.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Besonderes Merkmal der PEjoh ist ihr Umgang mit der Schrift: In der Episode von der Verteilung der Kleider Jesu und der Verlosung seines Untergewandes zitiert sie Ps  22,19, verbunden mit einer Schrifterfüllungsformel, setzt die beiden Hälften des Verses zuvor schon szenisch penibel um. Nirgendwo ist deutlicher als hier, dass eine Episode der Passionserzählung aus einem Schriftwort generiert werden konnte160 . Bei der Episode vom Lanzenstich verhält es sich ähnlich. Auch sie mündet in ein Schriftzitat ein, das mit derselben Zitationsformel eingeführt wird wie Ps  22,19 in Joh  19,24: „damit die Schrift erfüllt werde“. Dabei muss der zitierte Psalmvers (Ps  34,21) nicht erst sekundär zum Erzählten als Schriftbeweis hinzugetreten sein, er kann auch, wie Ps  22,19, dazu den Anstoß gegeben haben. Zugunsten der ersten Alternative ließe sich anführen, dass das Vokabular mit dem von Ps  34,21 nicht identisch ist161. Aber das ist auch bei Joh  19,23 und Ps  22,19 nicht der Fall. Die römische Praxis, Gekreuzigten die Beine zu brechen, erforderte ein eigenes Vokabular. Die Bildung der Episode könnte sich der Absicht verdanken, den „schon“ (V.34) eingetretenen Tod Jesu, den Joh  19,30 lediglich konstatiert, ausdrücklich zu bestätigen, wofür die Erzählung mit den Soldaten unabhängige Zeugen aufbietet. Sie rekurriert auf die Praxis des Cruri­ fragium162 und des Lanzenstichs163 und betont, dass Jesu Beine nicht zerbrochen wurden. Ps  34,21 liefert die Schriftvorlage. Beide Episoden – sowohl die narrative Umsetzung von Ps  22,19 als auch die Geschichte vom Crurifragium – müssen auf der Stufe der PEjoh entstanden sein. Weder Lukas noch Markus bzw. Matthäus kennen sie. 10.6 Über die vorkanonischen Fassungen zur PEG Wer die Sequenz der PEjoh mit der mkn. Kreuzigungsszene vergleicht, wird eine Reihe von Erzählmomenten wie das Angebot von mit Myrrhe gewürztem Wein (Nr.  5), den Drei-Stunden-Takt (Nr.  11.23) oder das Elija-Missverständnis (Nr.  26) in der PEjoh vermissen. Warum fehlen sie hier bzw. im Überlieferungszweig der PElk/joh? Haben Lukas und/oder Johannes sie getilgt oder sind sie im mkn. Überlieferungszweig hinzugewachsen? Bei jedem Erzählzug ist diese Frage neu zu stellen. Ein Vergleich mit der PElk/joh bzw. PEjoh wird helfen, die vormkn. Überlieferung und die Fassung der PEG wenigstens in Umrissen zu Gesicht zu bekommen. (1) Die Episode mit Simon von Kyrene (Nr.  2) konnte bereits durch Vergleich mit Joh  19,17 als Bestandteil der alten Überlieferung gesichert werden164. Die Sperrig160  Siehe Hinführung unter 2.2 den Abschnitt: „History remembered“ oder „prophecy historicized“? sowie I.  1.8. 161  In V.32 f. lautet das Verb: κατάγνυμι = brechen, im Schriftzitat V.36: συντρίβω = zerschlagen. 162  Koskenniemi, E./Nisula, K./Toppari, J., Wine 386–389, mit Verweis insbes. auf Cic, Philippica 13,27: „the breaking of the legs of the crucified was a common way to hasten death“ (ebd. 388); Cook, Crucifixion 429. – Jehochanan Ben Hazkul, dem Gekreuzigten von Giv’at haMivtar (siehe unten S. 714 Anm. 1081), waren die Beine gebrochen worden. 163  Pilz, Tod 30–32; ebd. 31: „Wurde die Herausgabe [des Leichnams] genehmigt, so stach der Henker mit der Lanze in das Herz des Verstorbenen, womit auch seine persönliche Haftung erlosch. Der Lanzenstoß, der gesetzlich vorgeschrieben war, gab letztendlich Sicherheit über den bereits eingetretenen Tod“; vgl. oben S. 448 Anm. 139. 164  Schleritt, Passionsbericht 128: „[D]ie Behauptung [ist] nicht (oder doch nur zur Hälfte)

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

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keit der Simon-Notiz im Kontext der mkn. Datierung des Todestags Jesu auf das Paschafest sei als zusätzliches Argument genannt: „[W]er sollte angesichts dieser Datierung auf die Idee gekommen sein, die Erwähnung Simons ausgerechnet mit der Information zu verbinden, dass er – am Passahfest – gerade vom Acker kam?“165 Die Episode stand ohne Zweifel in der PEmk und schon in der PEG166 . Bei Markus ist sie mit der vorangehenden Übergangsnotiz Mk  15,20d (= Nr.  1) und den nachfolgenden Episoden fest verbunden, wie die organische Abfolge der durchgängig im Präsens stehenden und mit καί verknüpften Verben bei identischem Subjekt belegt: „und sie [die Soldaten] führen ihn hinaus (καὶ ἐξάγουσιν)“167 – „und sie zwingen […] Simon von ­Kyrene (καὶ ἀγγαρεύουσιν), dass er sein Kreuz trage“ – „und sie bringen ihn (καὶ φέρουσιν) zur Stätte Golgota“168 – „und sie kreuzigen (σταυροῦσιν) ihn“. Markus dürfte die Sequenz der PEG integer aufbewahrt haben169.

(2) Die auf die Ankunft des Hinrichtungstrupps auf Golgota folgende Notiz: „und sie gaben (ἐδίδουν) ihm mit Myrrhe gewürzten Wein (ἐσμυρνισμένον οἶνον); er aber nahm nicht“ (Mk  15,23 = Nr.  5) ist von Matthäus übernommen worden, fehlt aber bei Lukas und Johannes. Weil Jesus den ihm angebotenen Trank zurückweist, wird der mit Myrrhe gewürzte Wein als Betäubungstrank zu verstehen sein170: Jesus will sein Sterben bei vollem Bewusstsein durchleiden171. Hintergrund könnte die Kenntnis richtig, dass die Notiz des Mk, ein gewisser Simon von Kyrene sei gezwungen worden, das Kreuz Jesu zu tragen (15,21), zum mkn. Sondergut zähle. Sie konkurriert vielmehr mit der Angabe des Joh, dass Jesus selbst das Kreuz getragen habe (19,17). Ein mkn. Sondergutstück wäre die Notiz über Simon von Kyrene nur dann, wenn bei Joh überhaupt nicht davon die Rede wäre, dass das Kreuz getragen wird“. 165  Schleritt, Passionsbericht 427; ebenso Benoit, Passion 188; Lührmann, Mk 259; ­Theißen, Lokalkolorit 177 f.; anders J. Gnilka, Mk II 315: „[U]m diese Tageszeit (kehrt) man noch nicht von der Feldarbeit heim. Wahrscheinlich wohnte Simon – wie auch Jesus – in einem Dorf vor der Stadt“, ebd. Anm.  26: „ἀπ᾽ ἀγροῦ heißt: vom Feld, vom Land, vom Hof, nicht unbedingt von der Feldarbeit“. 166  So ein breiter Konsens der Forschung; vgl. Sommer, Passionsgeschichte 182 f. („alte Tradition“) mit Anm.  660 (Lit.); anders L. Schenke, Christus 91 („Einschub der hellenistischen Gemeinde“); Reinbold, Bericht 171 f. (Joh  19,17a sei ursprünglich); Koester, Gospels 254.301. 167 Das Verb bezieht sich – über die voranstehende, innerstädtische Ortsangabe Prätorium Mk  15,16 hinaus – auf die „Herausführung“ Jesu aus der Stadt (vgl. Hebr  13,12: ἔξω τῆς πύλης ἔπαθεν); impliziert ist das kulturelle Wissen darum, dass Hinrichtungen außerhalb menschlicher Siedlungen erfolgen. – Dass „dem mk. ἐξάγω der Aspekt des Prozessionshaften anhafte“ (Lau, Triumphator 362), ist schon deshalb nicht plausibel, weil bei Mk auf dem Weg Jesu nach Golgota (V.20d–21) kein Gewicht liegt. 168  Weil auch Joh  19,17 die aramäische Bezeichnung Golgota und deren griechische Übersetzung (Schädelstätte“) überliefert, wird beides schon in der PEG gestanden haben (anders L.  Schenke, Christus 91); nicht ausweisbar ist die Vermutung, Mk habe mit τόπος κρανίου auf das Kapitol Roms (von caput/capitulum = κεφαλή, κρανίον) anspielen wollen, zumal sie bei den Lesern Detailwissen über das Zentralheiligtum Roms voraussetzen muss (Lau, Triumphator 382–386; vgl. ebd. 226 f.). 169  Anders Joh mit seinem zweifachen Subjektswechsel: παρέλαβον – ἐξῆλθεν – ἐσταύρωσαν. 170  Koskenniemi/Nisula/Toppari, Wine 384, bieten Belege dafür, dass Myrrhe in der Antike der Schmerzlinderung diente, diskutieren auch die Möglichkeit, dass die Mischung als eine „form of torture“ gedacht war (380). Nur: Wenn es um eine Verstärkung der Qualen geht, welchen Sinn hat dann V.23b? „The most common explanation […] is that the wine mixed with myrrh is an analgesic“ (ebd.). 171  Schleritt, Passionsbericht 428. Gegen diese Deutung wenden Koskenniemi/Nisula/

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

eines entsprechenden Brauches sein, zum Tode Verurteilten einen derartigen Trank zu reichen, wofür es allerdings keine pagane172 , nur vereinzelte jüdische Belege gibt: Spr  31,6 f.173 und rabbinische Zeugnisse, vor allem bSanh  43a174. Aus Ps  69,22 ist die Notiz nicht generiert, erst Mt  27,34 rückt sie ins Licht dieses Psalmverses. Warum fehlt die Notiz bei Lukas und Johannes? Zwar las Lukas sie in seiner Markus-Vorlage, übernahm sie aber nicht. Folgte er damit seiner alternativen Quelle, der PElk/joh?175 Johannes tilgte die Notiz oder sie war ihm unbekannt. Da ein Tilgungsgrund nicht ersichtlich ist – das Bild vom souverän leidenden Jesus wäre dem Evangelisten entgegengekommen –, ist die wahrscheinlichere Annahme, dass die Notiz auf vormkn. Stufe (PEmkn) hinzugewachsen ist, im lkn.-joh. Überlieferungszweig und in der PEG dagegen fehlte176 . Der Autor, der sie aus dem erwähnten Brauch heraus generierte, um das Jesus-Bild zu schärfen, verfügte über das entsprechende kulturelle Wissen. (3) An die Notiz von der Kreuzigung Jesu (Nr.  6) schloss sich ursprünglich die von der Verlosung seiner Kleider (Nr.9) an. Erst die PElk/joh zog die Notiz zu den beiden Übeltätern nach vorne und verknüpfte sie mit der von der Kreuzigung Jesu. Auch für die abweichende Stellung der Episode der Kleiderteilung und Verlosung des Untergewands Jesu bei Johannes (Nr.  20) gibt es triftige Gründe177, weshalb die mkn. Abfolge ursprünglich sein dürfte. Weil sowohl die Notiz von der Kreuzigung Jesu wie die von der Verteilung seiner Kleider in beiden Überlieferungszweigen begegnen, sind sie Urgestein der PEG. Hier folgten sie einander und waren miteinander verknüpft. (4) Markus schließt als einziger der Evangelisten an die Notiz von der Kleiderverteilung eine Stundenangabe an: „Es war aber die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten (ἦν δὲ ὥρα τρίτη καὶ ἐσταύρωσαν)“ (V.25 = Nr.  11). Um die Herkunft dieser Angabe klären zu können, ist das Stunden-Schema der Markuspassion insgesamt zu berücksichtigen, also neben V.25 auch V.33 f. (= Nr.  11.23.25). Verdankt es sich der Redaktion des MarToppari, Wine 384, ein, dass nicht Jesus Nahestehende ihm den Trank reichen, sondern Soldaten; Blinzler, Prozess 365: Gereicht wurde der Trank Jesus „vermutlich durch jüdische Frauen und nicht durch die römischen Soldaten – es handelt sich ja um eine jüdische Sitte“. 172  Kuhn, Kreuzesstrafe 757 Anm.  657. 173  Spr  31,6 f.: „Gebt berauschenden Trank dem, der zusammenbricht, und Wein denen, die im Herzen verbittert sind. Ein solcher möge trinken und seine Armut vergessen“ (rezipiert in bSan  43a: siehe nächste Anm.). 174  bSan  43a: „Rab Chisda († 309) hat gesagt: Dem, der hinausging, um hingerichtet zu werden, gab man ein Stückchen Weihrauch in einem Becher mit Wein, um ihm das Bewusstsein zu nehmen; siehe Spr  31,6: ‚Gebt Rauschtrank etc.‘. In einer Bar heißt es: Angesehene Frauen in Jerusalem pflegten ihn (den Wein) freiwillig zu spenden und zu senden. Wenn ihn aber die angesehenen Frauen nicht freiwillig spendeten, auf wessen Kosten wurde er dann beschafft? Das ist sicherlich klar, dass es auf Kosten der Gesamtheit (der Gemeinde) geschieht, da es Spr 31,6 heißt: ‚Gebet‘, nämlich auf eure Kosten“ (Str.-Bill. I 1037). 175  Darauf könnte die Übereinstimmung von Lk und Joh in der Sequenz Nr.  4+6+7 (ohne Nr.  5) hindeuten. 176  Mohr, Markus- und Johannespassion 318  f.; mit mkn. Redaktion rechnen J. Gnilka, Mk II 311 f., und J. Schreiber, Kreuzigungsbericht 90.96 f.348, auch Reinbold, Bericht 170. 177  Siehe oben 10.4 unter (2).

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10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

kus178 oder gehörte es schon zur PEG179? Denkbar ist auch die Zwischenlösung, dass die PEmk (und vielleicht schon die PEG) die eine oder andere Zeitangabe bot, aber erst Markus – veranlasst durch seine Vorlage – das Schema ausbaute180 . Zu berücksichtigen ist, dass V.25 und V.34 f. Teil der Mk  14 f. insgesamt prägenden Zeit-Struktur sind: Der Drei-Stunden-Takt des „Karfreitags“ Mk  14 f. samt Parallelen Stunden-­ Angaben

Mk 14 f.

Mt 26 f.

Lk 22 f.

Joh 18 f.

Beim Hahnenschrei (= 3 Uhr)181

Verleugnung des Verleugnung des Verleugnung des Verleugnung des Petrus (14,72) Petrus (26,74 f.) Petrus (22,60 f.) Petrus (18,27) Versammlung des Synedrions (22,66) und anschließende

„Als es Tag wurde“ (= 6 Uhr) In der Frühe (πρωΐ) (= 6 Uhr)182

Übergabe Jesu an Pilatus (15,1)

Dritte Stunde (= 9 Uhr)

Kreuzigung Jesu (15,25)

Sechste Stunde (= 12 Uhr)

Finsternis von der sechsten bis zur neunten Stunde (Am  8 ,9) (15,33)

Übergabe Jesu an Pilatus (27,1 f.)

Übergabe Jesu an Pilatus (23,1)

Finsternis von der sechsten bis zur neunten Stunde (Am  8 ,9) (27,45)

Finsternis von der sechsten bis zur neunten Stunde (Am 8,9) (23,44)

Übergabe Jesu an Pilatus (18,28)

Verurteilung Jesu zum Tod „um die sechste Stunde“ (19,14)183 178  Bultmann, Geschichte 296; Schille, Judenchristentum 198; Dormeyer, Passion 213 f.; Schmithals, Mk II 682.684. 179 So Trocmé: siehe oben I.  1.6.1; Linnemann, Studien 157 f.: „Entgegen der verbreiteten Ansicht, dass die Stundenangaben eine spätere Zutat zur Kreuzigungsperikope sind, möchte ich […] jene Verse, die sie enthalten, als den Grundbestand der Perikope ansehen“; ebenso A. Y. Collins, Mk 733. 180 L. Schenke, Christus 96: „Mit Taylor [Mk 650] bin ich der Meinung, dass nicht alle Stundenangaben des Kreuzigungsberichtes sekundär sind, sondern dass der ursprüngliche Bericht schon V.34a enthielt und damit den Ansatz für die Einfügung der sekundären Stundenangaben V.33 und V.25 bot“; vgl. auch Ernst, Mk  471; J. Gnilka, Mk II 312; Mohr, Markus- und Johannespassion 329 f.; Lührmann, Mk  261; wie Lührmann lässt Reinbold, Bericht 170, die Fragen offen, wer für das Stundenschema verantwortlich ist, Mk oder eine Überlieferungsstufe vor ihm. 181  Blinzler, Prozess 416: „[D]er morgendliche Hahnenschrei ist vermutlich um oder bald nach drei Uhr nachts anzusetzen“. 182  Jos, Vit  280: πρωΐ = περὶ πρώτην ὥραν. Vgl. Siegert (Hg. u. a.), Leben 115 Anm.  241. 183  Vgl. Joh  4,6d.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Stunden-­ Angaben

Mk 14 f.

Mt 26 f.

Lk 22 f.

Neunte Stunde (= 15 Uhr)

letztes Wort Jesu (Ps  22,2) (15,34)

letztes Wort Jesu (Ps  22,2) (27,46)

„Als es Abend wurde“ (= 18 Uhr)

Grablegung Jesu Grablegung Jesu Grablegung Jesu (15,42) (27,57) (23,54b: „der Sabbat war kurz davor anzubrechen“)184

Joh 18 f.

Der letzte Tag Jesu ist nur bei Markus durchgängig nach einem Drei-Stunden-Takt ge­ gliedert. Der Tag dämmert beim Hahnenschrei, da Petrus Jesus verleugnet, und endet mit der Grablegung Jesu am Abend. Matthäus und Lukas reduzieren die Angaben des Markus auf die Morgen- und Mittagsstunden. Johannes bietet lediglich in 19,14 bei der Verurteilung Jesu durch Pilatus eine derartige Angabe: „Es war aber Rüsttag des Pascha um die sechste Stunde“185. In der zeitlichen Terminierung der Übergabe Jesu an Pilatus „in der Frühe“ (Joh  18,28) stimmt er mit den anderen Evangelisten überein.

Die Tatsache, dass Johannes das Stundenschema nicht kennt, stimmt skeptisch gegen die Annahme seiner Ursprünglichkeit. Warum sollte er es getilgt haben, wenn er es in seiner Überlieferung vorfand? Liegt ihm nicht an der „Stunde“ der Verherrlichung des Menschensohns am Kreuz186? Markus umschreibt die Stundenangaben in der Regel: „als es Tag wurde“, „in der Frühe“ oder „als es Abend wurde“. Nur die drei fraglichen Verse zählen die Stunden: V.25: Es war aber (die) dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten (ἦν δὲ ὥρα τρίτη καὶ ἐσταύρωσαν). V.33: Und als (die) sechste Stunde kam, brach eine Finsternis herein […] (καὶ γενομένης ὥρας ἔκτης σκότος ἐγένετο …). V.34: Und in der neunten Stunde rief Jesus […] (καὶ τῇ ἐνάτῃ ὥρᾳ ἐβόησεν ὁ Ἰησοῦς […].

184 

Ein expliziter Hinweis auf den „Abend“ fehlt bei Lk und Joh. Der Widerspruch zwischen Joh  19,14 und Mk  15,25 – beide Angaben sind „schlechthin unvereinbar: Nach Mk ist Jesus schon um 9 Uhr gekreuzigt worden, während er nach Joh etwa um 12 Uhr durch Pilatus erst verurteilt wurde“ (Blinzler, Prozess 417) – führte in der Vergangenheit zu heftigen Debatten (vgl. ebd. 417 f.). Noch Blinzler sah sich genötigt, Mk  15,25 zur sekundären Glosse zu erklären. 186  Joh  12,23; 13,1.31 (vgl. auch 2,4; 7,6). – Oder sollte er eine ihm in der Kreuzigungsszene vorgegebene Stundenangabe in die von 19,14 umgewandelt haben? Aber 19,14 erklärt sich von der joh. Chronologie her, nach der „Jesus just in der Stunde des Passahrüsttags (12 Uhr) zur Kreuzigung übergeben wird, in der man im Tempel mit den Vorbereitungen zur Schlachtung der Passahlämmer beginnt. […] Dann aber wird man 19,14 zugleich als eine Anspielung darauf deuten müssen, dass Jesus (als das wahre Passahlamm) den jüdischen Kultus überwindet“ (Schleritt, Passionsbericht 417; vgl. Bultmann, Joh  514 mit Anm.  5). 185 

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

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Das ἦν δέ V.25, das vom durchgängigen parataktischen καί der Umgebung abweicht, zeigt den Nachtragscharakter der Notiz187. Das καί, mit dem das ἐσταύρωσαν V.25b an die Stundenangabe angehängt wird, ersetzt umgangssprachlich ein temporales ὅτε, was auch z. B. in Mk  2,15 zu beobachten ist188 . Die Notiz zur Finsternis auf der Höhe des Tages (V.33) verdankt sich als narrative Veranschaulichung der Deutung des Todes Jesu als eines stellvertretenden Sterbens „für viele“189 der Redaktion des Markus190 . Die drei Zeitangaben sind sprachlich und syntaktisch aufeinander abgestimmt, sie eröffnen die jeweilige Notiz oder Episode (V.25.33.34) – Indiz ihrer Herkunft aus einer Hand. Weder auszuschließen noch zu erweisen ist, dass Markus die Stundenangabe V.34 in der PEmk vorfand und durch sie zu seinem Schema veranlasst wurde. Wenn V.34 „die neunte Stunde von Vers 33 wiederholt“, dann ist das kein Argument zugunsten „alter Tradition“191. Die Wiederholung der Angabe ist für die Aussagekraft der Episode notwendig, weil sie den Schrei Jesu absichtsvoll auf das Ende der dreistündigen Finsternis legt, deren Beendigung mit ihm ursächlich zusammenhängt. Das ausgeführte Stunden-Schema geht auf Markus zurück.

Exkurs 9: Vom Sinn des Stunden-Schemas bei Markus „Es liegt auf der Hand, dass hier ein künstliches Zeitschema vorliegt; das wirkliche Leben spielt sich nicht in gleichmäßig abgezirkelten Intervallen ab“192 . Doch welchen Sinn besitzt das Schema? Vier Deutungen konkurrieren miteinander: (a) eine historisierende, (b) eine symbolisch-theologische, (c) eine kultisch-liturgische und (d) eine narratologische. (a) Weil kein symbolischer Sinn vorläge, sei Rudolf Pesch zufolge „trotz eines erkennbaren Schematismus der Zeitangaben 15,1.25.33.34.42 mit berichtender Intention zu rechnen“193. Diese Annahme scheitert schon daran, dass das mkn. Schema – abgesehen von den Zeitangaben an den „Rändern“ des letzten Tages Jesu (Mk  14,72; 15,1.41 par.) – sich nicht auf die PEG zurückzuführen lässt. (b) Joachim Gnilka beharrt auf der „theologische(n) Bedeutung“ des Schemas, das er – analog zum Wochentagsschema von Mk  11–14 – „apokalyptisch“ interpretiert. Die Bedeutung des Schemas bestehe „nicht bloß allgemein darin, dass Stunde um Stunde nach Gottes Willen verrinnt194 […]. Die dritte Stunde muss nämlich in Verbindung mit der sechsten und neunten (33) beurteilt werden. Da dort apokalyptische Geschehnisse tangiert 187 L. Schenke, Christus 92: V.25 „soll offenbar nachträglich die Stunde der längst berichteten Kreuzigung angeben“; Sommer, Passionsgeschichte 184. 188  Von Siebenthal, Grammatik §  252,29; Mk  2 ,15 (ἦσαν γὰρ πολλοὶ καὶ ἠκολούθησαν) entspricht das καί einem Relativum („denn es waren viele, die ihm nachfolgten“). 189  Siehe hierzu wie zum Folgenden oben 10.2 unter (2). 190  In der Bestimmung von V.33 als mkn. Redaktion stimmt die Forschung weithin überein. 191  Gegen J. Gnilka, Mk  II 312 (siehe oben eingangs von [4]). 192  Blinzler, Prozess 416; ebd. 416–422: „Exkurs XXI: Die Stunden des Karfreitags“; vgl. auch Linnemann, Studien 155–158. 193  Pesch, Mk II 483 f. So auch die ältere Literatur, z. B. Lagrange, Mk 428 f.; Schmid, Mk 230 f.: im Interesse einer Harmonisierung mit Joh  19,14 meint er, die Stundenangaben seien „als runde zu betrachten“; V. Taylor, Mk 650: „the reference to ‚the ninth hour‘ may be original, since the time of the cry ‚Eloi‘, so near the end, can easily have been remembered, and may have suggested the extension of the tree-hour scheme to the whole“. 194 Gegen Schweizer, siehe unten unter (d).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

sind, steht die Stundenzählung in einem apokalyptisch geprägten Verstehenshorizont. Die Apokalyptik kennt sowohl einen ‚chronologischen Determinismus’ als auch einen von Gott bestimmten ‚Stundenplan‘195. 4Esr  6 ,23 f. bietet sogar hinsichtlich des Endes eine Drei-Stunden-Angabe196 . Daraus ergibt sich, dass die Stundenangabe die Kreuzigung Jesu als ein von Gott verfügtes Geschehnis wertet, das im Zusammenhang mit den Endereignissen zu betrachten ist. In ihr offenbart sich Gottes endgültiges Gericht und Heil“197. Richtig ist, dass die Finsternis am Mittag des „Karfreitags“ von Am  8 ,9 f. her als Gerichts-­ „Zeichen“ zu deuten ist198 . Aber mit den „drei“ Stunden von 4Esr  6 ,24, die bekannten „drei Zeiten“ vor dem Ende (vgl. Dan  4,13; 12,7; Offb  12,14)199, hat Mk  15,33 nichts zu tun. Die letzte Drangsal steht Mk  13,19 f. zufolge noch aus und geht der Wiederkunft des Menschensohns voraus200 . (c) Etienne Trocmé erklärt das Zeitschema der Passionserzählung mit dem Rhythmus der jüdischen Gebetszeiten 201. Dreimal am Tag zu beten ist zwar alte jüdische Gepflogenheit 202 , aber „eine allgemein befolgte Sitte“ „in bezug auf die Stunde des Morgen­ gebetes“ scheint sich „in der vorchristlichen Zeit ebenso wenig herausgebildet zu haben, wie dies in der nachchristlichen Zeit der Fall war“203. Für das mittägliche Gebet gilt

195 

Mit Verweis auf Dan  7,12; 4Esr  4,36 f.42; 13,58 – nach Schenk, Passionsbericht 37–39. 6,23–25: „Die Posaune wird mit Schall ertönen; alle werden sie plötzlich hören und erschrecken. In jener Zeit werden Freunde ihre Freunde wie Feinde bekämpfen. Die Erde mit ihren Bewohnern wird erschrecken. Und Quelladern stehen still und laufen nicht drei Stunden lang. Aber jeder, der übrig gelassen wird von all dem, was ich dir vorhergesagt habe, wird gerettet werden und mein Heil und das Ende meiner Welt sehen“ (JSHRZ V  336 f.). 197 J. Gnilka, Mk II 317; J. Schreiber, Kreuzigungsbericht 99: „Gericht und Heil sind unaufhaltsam; denn am Tage der Kreuzigung schreitet die Zeit im ehernen Rhythmus des Drei-Stunden-Taktes vorwärts“. 198  Siehe oben 10.2 unter (2). 199  J. Schreiner, in: JSHRZ V  336 Anm.  d. 200  Nicht überzeugend auch Dormeyer, Passion 213 f.: Mk „nimmt apokalyptische Vorstellungen auf, entapokalyptisiert sie aber wieder […]. Die schematische Stundenzählung zeigt an, dass mit der Verurteilung und Hinrichtung der Höhepunkt der apokalyptischen Drangsale gekommen ist. Aber der Tod Jesu bringt nicht das Ende der Zeit“, dies steht noch aus. 201  Trocmé, Passion (siehe oben I.  1.6.1). – Zu den jüdischen Gebetszeiten: St.-Bill. II 696–702; Holtzmann, Berakot 27–31; J. Jeremias, Gebet 70–73; Schürer, History II 303 Anm.  40; ­Hruby, Heures 59–84. 202  Ps  55,18: „Am Abend, am Morgen und am Mittag seufze ich und stöhne, da hat er meine Stimme gehört“; Dan  6 ,11: „Dort [sc. im nach Jerusalem hin offenen Obergemach] kniete er [sc. Daniel] dreimal am Tag nieder und richtete sein Gebet und seinen Lobpreis an seinen Gott, ganz so, wie er es gewohnt war“; 2Hen  51,4: „Am Morgen des Tages und in der Mitte des Tages und am Abend des Tages ist es gut, in das Haus des Herrn zu gehen, um den Schöpfer von allem zu verherrlichen“ (Übers. Böttrich, Henochbuch 974 f.); Achtzehngebet  18 (bab. Rezension). Vgl. Schürer, History II 303 Anm.  40. 203  Str.-Bill. II 696. – Arist  304 f.: „[…] Jeden Tag begaben sie sich frühmorgens an den Hof, machten dem König ihre Aufwartung und zogen sich dann an ihren Versammlungsort zurück. Wie es aber bei allen Juden Brauch ist, wuschen sie sich die Hände im Meer und wandten sich, sobald sie zu Gott gebetet hatten, der Lektüre und Interpretation der einzelnen Stellen zu“; Weish  16,27 f.: „Das vom Feuer nicht Zerstörte nämlich schmolz einfach, wenn es von einem kurzen Sonnenstrahl erwärmt wurde, damit erkennbar sei, dass man der Sonne zuvorkommen muss mit dem Dank an dich und beim Aufgang des Lichtes sich an dich wenden“; mBer  4,1: „Das Morgengebet bis Mittag, Rabbi Juda sagt: bis zur vierten Stunde. Das Gebet des Speiseopfers bis zum Abend, Rabbi Juda sagt: bis zur Mitte des Speiseopfers. Das Abendgebet hat keine Regel“ (Übersetzung Gießener Mischna). 196  4Esr

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

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Gleiches204. „Durchschnittszeit“ für das Nachmittags- oder Minchagebet scheint die neun­te Stunde gewesen zu sein 205. Wie die Hinweise auf „die neunte Stunde“ in Apg  3,1 und 10,3 f. belegen, führte die frühchristliche Gemeinde die jüdische Gebetspraxis weiter. Eine Gebetszeit zur sechsten Stunde kannte sie noch nicht 206 . Christliche Gebetszeiten werden anlässlich der Weisung zum Vaterunser zum ersten Mal in Did  8 ,3 erwähnt: „Dreimal am Tag betet so!“207. Das früheste Zeugnis für die dritte, sechste und neunte Stunde als kirchliche Gebetsstunden bieten Origenes im Osten und Tertullian und Cyprian im Westen 208 . Von daher erledigt sich dann auch die Annahme von Walter Schmithals, hinter dem DreiStunden-Takt stünde eine „liturgische Begehung des Karfreitags“209. Die Annahme ist umzukehren: Der Text wirkte „liturgieproduktiv“210 . Die Tagzeitenliturgie der Kirche, die aus ihm schöpft, wäre ohne Mk  15 nicht denkbar: „Die Gebete zur dritten, sechsten und neunten Stunde sind anamnetische Gebete zum Gedächtnis der Passion Christi gemäß der mkn. Chronologie (Kreuzigung zur dritten Stunde: Mk  15,25; Finsternis zur sechsten Stunde: Mk  15,33; Tod Jesu zur neunten Stunde: Mk  15,34)“211 (vgl. Trad Apost 41). Der Evangelist 204  Str.-Bill. II 696: „Über die dritte Gebetszeit neben der Morgen- u. Minchazeit erfahren wir aus der vorrabbin. Literatur nichts. Der Versuch […], hierfür die sechste Stunde (= mittags 12  Uhr) Apg  10,9 in Anspruch zu nehmen, muss als verfehlt bezeichnet werden“. Roloff, Apg 169: „Bezeugt ist allerdings die Praxis jüdischer Gelehrter, das Frühmahl auf mittags 12 Uhr zu verlegen. In diesem Falle sollte das Nachmittagsgebet vorverlegt und vor dem Frühmahl gehalten werden (Bill  II  2014). Dürfte man diese Praxis auch für Petrus voraussetzen, so würde sein ihn während des Betens überfallener Hunger gut verständlich“. 205  Str.-Bill. II 698; vgl. Jos, Ant  14,65: „Wie sehr wir uns aber der Verehrung Gottes und der Beobachtung der Gesetze befleißigen, kann man daraus ersehen, dass sich die Priester während der Belagerung [Jerusalems durch Pompeius] durch Furcht nicht abhalten ließen, die Opfer darzubringen. Vielmehr versahen sie sowohl in der Morgenfrühe als um die neunte Stunde den Gottesdienst und unterließen denselben nicht einmal dann, wenn sich ein besonders schlimmer Zufall bei der Belagerung ereignete“; Apg  3,1: „Petrus […] und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die Stunde des Gebets, die neunte“; 10,3 f.: „Er (sc. Kornelius) sah um die neunte Stunde in einer Vision deutlich, wie ein Engel Gottes bei ihm eintrat und zu ihm sprach: […] Deine Gebete und Almosen sind vor Gott gekommen, und er hat ihrer gedacht“; dazu V.30: „Kornelius sprach: Vor vier Tagen um diese Zeit betete ich um die neunte Stunde in meinem Hause. Und siehe, da stand ein Mann vor mir in einem leuchtenden Gewand […]“. 206 J. Gnilka, Mk II 317; zu Apg 10,9 („Am nächsten Tag […] stieg Petrus auf das Dach, um zu beten; es war um die sechste Stunde“) siehe oben Anm. 204. „Die dritte Stunde“ von Apg  2,15 ist die Zeit der Geistausschüttung. 207  Die jüdische Pflicht, dreimal am Tag das Achtzehnbittengebet zu sprechen, ist hier auf das Vaterunser übertragen. 208  Orig, Orat  12,2; Tertullian, Orat  25; Cyprian, DominOrat  34. – Meßner, Einführung 247. 209  Schmithals, Mk II 682: „Vermutlich ging es dem Evangelisten um eine kultische bzw. ­liturgische Begehung des Karfreitags, dessen besondere Bedeutung für Mk sich aus 2,20 ergibt“. Auch Grundmann, Mk 313, fragt, ob Markus „durch die Gebetszeiten bestimmt ist, an denen in der Nacht auf den Karfreitag und an diesem der einzelnen Stationen der Passion gedacht worden ist. Der theologisch-liturgische Charakter des Berichtes würde dies unterstützen“; ähnlich Schille, Leiden 198: „Am Karfreitag gedachte die Gemeinde besonders des Todes Jesu. Und hielt sie schon täglich an den drei Gebetsstunden fest (Did  8 ,3), so mussten diese an diesem Tage dem Gedächtnis an die Kreuzigung Jesu dienen, wobei jede Gebetsstunde die Erinnerungen an sich gezogen haben mag, die ‚um diese Stunde herum‘ anzusetzen waren“; V. Taylor, Mk 587.650; Légasse, Procès 119. 210  Zur „liturgieproduktiven“ Seite des NT vgl. Theobald, Gottesdienst 134–137. 211  Messner, Einführung 248; ebd. 249 f.: „Über Träger und Gestalt des vornizänischen Tagzeitengebets lässt sich nur Weniges aus den Quellen erheben“. Vgl. auch Bradshaw, Prayer 23–71;

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

zielt keine buchstäbliche Strukturierung des Tages in einem gottesdienstlichen Drei-Stunden-Takt an, übernimmt auch keine schon in seinen Gemeinden gepflegte liturgische Heiligung der Zeit, sondern ermöglicht umgekehrt das Gedenken an den Tod Jesu als ein in der Zeit zu begehendes Erinnerungsgeschehen. Wenn die oben gebotene Deutung von Mk  2,20 im Licht der späteren quartodezimanischen Osterfeier zutrifft, fasteten die mkn. Christen „an jenem Tag“ im Gedenken an den Tod Jesu und feierten in der Pascha-Nacht das Mahl. Die Erzählung von den letzten Stunden im Leben Jesu begleitete sie den Tag über und heiligte das Gedenken an seinen Tod. (d) Eduard Schweizer zufolge bedeutet das Stundenschema lediglich, „dass Stunde um Stunde genau nach Gottes Willen abläuft (vgl. V.33 f.); er ist der Herr über diesen Tag und jede seiner Stunden“212 . Eta Linnemann schreibt die Stundenangaben dem ältesten Erzähler zu, der sein „Nichtwissen vom Leiden des Herrn mit dem Stundenschema überspielte und so die Kreuzigung Jesu erzählbar machte“213. Nach Dieter Lührmann besitzen „die einzelnen Stunden“ keinen „symbolischen Wert“; „es geht um die ‚Stunde‘ von 14,35“214. Angelus Häußling erklärt: „Die festen Zeitangaben zeigen Gott als den eigentlich Handelnden an; er ist es, der das Geschehen auch dieser Frist ordnet, nicht die noch so emsig agierenden Menschen“215. In der Tat liegt es nahe, das Zeit-Schema von seiner narratologischen Leistung her zu würdigen. Es dynamisiert die Erzählung auf ihren Ziel- und Höhepunkt hin, die neunte Stunde, und verlangsamt die erzählte Zeit mit dem Effekt, dass der Hörer verstärkt in das Geschehen hineingezogen wird. Zwei Parallelen gibt es im Markusevangelium zum Stunden-Schema des letzten Tages Jesu, die in ähnlicher Weise die erzählte Zeit „anhalten“ oder „dehnen“: Jesu ersten Tag in Kafarnaum (Mk  1,21–39) am Anfang des Buches216 , dem sein letzter in Jerusalem entspricht, und den Tag der Speisung der galiläischen Volksmenge am See Genezareth (Mk  6 ,30–56) in der Mitte des Buches. Die beiden Erzähleinheiten bieten zwar nicht – wie Mk  15 – ein detailliertes Stunden-Schema, aber doch einen genauen Zeitablauf: Der Tag von Kafarnaum – ein Sabbat (1,21) – beginnt in der Frühe mit einem Auftritt Jesu in der Synagoge (1,23–28), setzt sich fort im Haus des Simon und mündet – „nachdem es Abend geworden war, als die Sonne unterging“ (1,32) – in eine „Versammlung der ganzen Stadt“ (V.33: καὶ ἦν ὅλη ἡ πόλις ἐπι-συνηγμένη; vgl. V.21.23: συναγωγή) vor der Tür des Hauses. „Und in der Frühe, noch ganz in der Nacht, stand er (sc. Jesus) auf, ging hinaus und ging weg an einen einsamen Ort. Und dort betete er […]“. Das „Ergebnis“ seines nächtlichen Betens ist sein Aufbruch in die umliegenden Ortschaften, um „auch dort“ zu verkündigen, denn „dazu“ ist er „ausgegangen“(V.38). Der Tag am See Gennesaret (6,30–56) beginnt ohne Zeitsignal. Erzählt wird von der Rückkehr der „Ausgesandten“ nach ihrer ersten „Missionsreise“, von der kleinen Seefahrt Jesu mit ihnen an einen einsamen Ort, an den bereits viele Menschen von überall her hingeHäußling, Bibel 93 f.; ders., Tagzeitenliturgie 151–162. In „Büchlein“ 128–150 stellt er samt Einleitung einen wirkungsgeschichtlich bedeutsamen anonymen Traktat aus dem Umkreis des Zisterzienserordens aus der 2. Hälfte des 12.  Jh.s vor mit dem Titel: De meditatione passionis Christi per septem diei horas libellus, beginnend mit Ps  119 (118),164a: „Siebenmal am Tage habe ich dich gelobt“. 212  Schweizer, Mk 190. 213  Linnemann, Studien 157. 214  Lührmann, Mk 261. 215  Häußling, Bibel 94 Anm.  5. „[D]ie Nennung dieser Tagesstunden in den Passionsberichten der Evangelien […] als Kultätiologie einer schon bestehenden Tagzeitenliturgie (zu) verstehen“, lehnt er als „Überinterpretation“ ab; vgl. ders., „Büchlein“ 129 f. 216  Siehe oben Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten.

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strömt waren, von ihrer langer Belehrung durch Jesus und schließlich – „als es schon spät geworden war“ (V.35) – von ihrer Speisung durch Jesus. Danach nötigt dieser seine Jünger zur Seeüberquerung Richtung Betsaida, entlässt die Volksmenge und zieht sich auf einen Berg zum Beten zurück. „Als es Abend ward“, sind die Jünger bei starkem Gegenwind „mitten auf dem See und er allein an Land“ (V.47). Erst „um die vierte Nachtwache“ (V.48) – also zur Zeit der ersten Morgendämmerung – „kommt er zu ihnen“. Der Wind legt sich und sie erreichen das Ufer. Dann öffnet sich die Erzählung ein weiteres Mal: Wieder strömen die Menschen herbei und bringen ihre Kranken auf Tragen herbei. Beachtlich ist die Transparenz der beiden Texte auf geprägte Zeiten: Der Abend ist die Zeit des gemeinsamen Mahles, die Nacht die Zeit des Gebetes und der frühe Morgen die Stunde, in der Gott sich nach Erfahrung des alttestamentlichen Beters den Menschen als Retter offenbart (vgl. auch Mk  16,2)217. Der Zeit wohnt eine Dynamik inne, die sie jeweils nach vorn hin ausspannt. In Mk  15 f. ist das nicht anders als in Mk  1 und 6. Ihr perspektivischer Fluchtpunkt ist der frühe Morgen, am dem die Frauen aus dem Mund des himmlischen Boten die Kunde von der Erweckung des Gekreuzigten hören, die sie zugleich an eine neue, in Galiläa beginnende Zukunft verweist. Die Erinnerung an das Jesus-Geschehen verdichtet sich in der strukturierten Zeit.

(5) Auf die beiden Notizen zum titulus crucis 218 und zur Kreuzigung der beiden Übeltäter folgte in der PEmk (und der PEG) die Episode von der Verspottung des Gekreuzigten (Nr.  14–16.18). Weil Joh  19,20 f. (= Nr. 19) ihr Gegenbild bietet – aus der Verspottung Jesu durch die hohen Priester wurde deren Verspottung durch Pilatus –, gehört die Episode schon zur PEG219. Der Vergleich der mkn. Fassung mit Johannes erlaubt eine Aussage auch zu ihrem ursprünglichen Umfang. Anfangs war wohl nur von zwei Menschengruppen die Rede, die den Gekreuzigten lästern: von Passanten (15,29) und den hohen Priestern (15,31)220 . Die Notiz von einer weiteren Lästerung durch die „Mitgekreuzigten“ (15,32d) wird sekundär zur PEG hinzugewachsen sein. Beim vierten Evangelisten fehlt sie. Er könnte sie aber auch bei seiner Neugestaltung der Verspottungsepisode übergangen haben. Die Spottreden der Passanten und der hohen Priester überschneiden sich: Beide setzen das Rettungsmotiv ein, beide fordern Jesus zum „Herabstieg“ vom Kreuz auf221. Nur eine dieser Spottreden wird ursprünglich sein, wahrscheinlich die der hohen Priester in folgender Kurzform: „Der Messias, der König Israels – steige er [jetzt] herab vom Kreuz!“ (V.32a) 222 . Der Grund für diese Annahme ist die Ein217 

Janowski, Konfliktgespräche 67, mit Verweis auf Jes  17,14; 29,7; Ps  46,6 etc. Nur Lk weicht in der Platzierung der Notiz ab. Er integriert sie in die Episode der Verspottung Jesu durch die Soldaten, die Jesus als „König der Juden“ schmähen (V.36 f.) – entsprechend dem titulus crucis, den Lk anschließend nennt (V.38). 219  Vgl. oben 10.5 unter (2). 220 L. Schenke, Christus 84 f., nimmt an, dass die zweite Gruppe von Spöttern, die hohen Priester, hinzugewachsen ist; ebenso A.Y. Collins, Mk 749; dagegen spricht die joh. Parallele mit ihrer Dualität von vorbeikommenden „Juden“ und „hohen Priestern“ (Joh  19,20/21): siehe oben! 221  V.30b (καταβὰς ἀπὸ τοῦ σταυροῦ) und V.32b (καταβάτω νῦν ἀπὸ τοῦ σταυροῦ) sind Dubletten. L. Schenke, Christus 85; ebd. 84: „Die beiden wörtlich angeführten Spottreden […] sind formal und inhaltlich einander so ähnlich, als hätten die Spottenden sich gegenseitig zugehört“. 222 Das νῦν könnte im Zusammenhang mit dem nachfolgenden ἵνα-Satz nachgetragen sein (siehe unten). 218 

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

sicht in die mehrfache Verknüpfung der Episode mit dem Kontext des Buches. Markus hat sie mit seiner Thematik Rettung, Heil und Glaube überlagert 223. Nicht nur das Tempelwort 224 , auch die übrigen Elemente der Passanten-Rede: „Rette dich selbst, steig vom Kreuz herab“, hat Markus nachgetragen. In der sich anschließenden Spottrede der hohen Priester hat er die Rettungsthematik durch den makrokontextuellen Verweis auf Jesu Heiltätigkeit in Galiläa noch verstärkt: „Andere hat er gerettet/geheilt (ἔσωσεν), sich selbst kann er nicht retten“. Auch der an die Spottrede der Priester und Schriftgelehrten 225 mit ihrem doppelten Ausruf: ὁ χριστός ὁ βασιλεὺς Ἰσραήλ226 angehängte Finalsatz: „damit wir sehen und glauben“ (V.32c), geht auf ihn zurück 227. Beide Nachträge dienen seiner christologischen Aussageabsicht: „Rettung“ geschieht nicht durch Abwendung des Todes – im mirakulösen „Hinabsteigen“ vom Kreuz –, sondern durch den Tod hindurch. Wenn die hohen Priester „sehen“ wollen, um zu „glauben“, führt Markus den Lesern eine Einstellung angesichts des Todes vor Augen, vor der er sie bewahren möchte: ­Rettung vor dem Tod zu fordern, anstatt seine Notwendigkeit einzusehen (vgl. Mk  8,34 f.; 10,38 f.228). Damit zeichnet sich die Markus vorgegebene Episode in einer Gestalt ab, die schon für die PEG zu postulieren ist, weil sie sich, wie noch deutlich werden wird, bruchlos in deren Duktus einfügt: Und die Vorübergehenden lästerten ihn, ihre Köpfe schüttelnd […]. 31a Ebenso spotteten auch die hohen Priester untereinander […] b und sprachen:   32Messias,   König Israels!    Er steige […] herab vom Kreuz […]! 29a b

223 Gleich dreimal wird das Verb σῴζω = „retten“, „heilen“ verwendet (V.30.31), dazu das Wortpaar „Sehen“ und „Glauben“ (V.32). Siehe oben 10.2 unter (1). 224  Ein Nachtrag wie in 14,58. – L. Schenke, Christus 85, sieht zu Recht eine „erzählerische Spannung“ darin, „dass die zufällig ‚Vorübergehenden‘ (V.29a) von dem 14,55–65 Jesus vorgeworfenen Tempelwort wissen“; Schleritt, Passionsbericht 429, schreibt das Tempelwort sowohl in 14,58 als auch in 15,29 der PEmkn zu. 225  μετὰ τῶν γραμματέων in V.31a klingt nach der vorangegangenen Partizipialphrase („ebenso auch die hohen Priester, die untereinander spotteten“) wie nachgetragen. Die Wendung geht auf Mk zurück. Er knüpft mit ihr gezielt an die Synedrionsszene an. 226  Die doppelte Anrede ruft das ganze Prozessgeschehen in Erinnerung: sowohl die Verhandlung vor dem Hohen Rat wie die vor Pilatus. 227  Die Glaubensthematik durchzieht das Evangelium: 1,15; 2,5; 4,40; 5,34.36; 9,23 f.42; 10,52; 11,22–24.31; 13,21. – Anders L. Schenke, Christus 94: „das ‚damit wir sehen und glauben‘ in V.32a dürfte trotz des absolut gebrauchten πιστεύω (glauben) ursprünglich sein. In V.32a wird vom Gekreuzigten ein ‚Zeichen vom Himmel‘ (vgl. Mk  8 ,12 parr.) als messianisches Beglaubigungszeichen gefordert, um an ihn als Messias glauben zu können. Dieses Zeichen wird ‚jetzt‘ (νῦν) nicht gewährt; der Messias muss der Gekreuzigte bleiben und den Tod erleiden“. Doch genau dieser Gedanke entspricht der übergeordnete mkn. Aussageabsicht. 228  Vgl. insbesondere Mk  8 ,35: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“.

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(6) Die hohen Priester fordern den Gekreuzigten zu einem „Zeichen“ auf, „um zu sehen und zu glauben“ (vgl. Mk  8,11) – aber es wird ihnen nicht gewährt. Dafür schickt ihnen der Himmel am helllichten Tag eine Finsternis, nach Am  8,9 „Zeichen“ des Gerichts. Für den Leser gewinnt dieses „Zeichen“ eine Heilsseite: Alle Welt und mit ihr Jesus versinken in der Finsternis des Gerichts, aber nach seinem Wort, das er seinem Gott entgegenschreit, lichtet sie sich! Geht der Erzählzug auf Markus zurück, dann gilt das auch von der Positionierung des Klagerufs Jesu am Ende der Finsternis, der absichtsvoll hierhin gestellt sein muss, denn mit ihm endet die Finsternis. Ob erst Markus Ps  22,2 Jesus in den Mund gelegt hat (oder das verbum ultimum ursprünglich so gelautet hat), ist noch zu klären. Doch schon die künstliche Art, wie die anschließende Episode von der Fehl­ deutung des Psalmworts angeschlossen ist, deutet darauf hin, dass es vorgegeben war und seinerseits den Anstoß für das seltsame Elija-Missverständnis gegeben hat. Der Einwurf „einiger der Umstehenden“: „Seht, er ruft Elija!“ (V.35), wie das Wort des Mannes, der Jesus Essig zu trinken gibt (V.36b) – nach mkn. Lesart der Versuch, seinen Tod „hinauszuzögern, damit man sehen könne, ob Elija, nach dem Jesus vermeintlich gerufen hat, ihm zur Hilfe eilt“229, – verdanken sich Markus230 . Zugunsten dieser Annahme spricht sein sonstiges Interesse an der Figur des Propheten (vgl. Mk  6 ,15; 8,28 und 9,11–13) 231, vor allem aber, dass sich die Intention dieser Episode bruchlos zu seiner bisherigen Sicht der Szene fügt: Der Tod Jesu kann nicht auf mirakulöse Weise verhindert werden. Weder ist Jesus ein göttliches Wesen, das aus eigener Vollmacht „vom Kreuz herabzusteigen“ vermag, noch kommt Elija, ihn zu retten: „Der Menschensohn muss (δεῖ) vieles leiden und […] getötet werden und nach drei Tagen auferstehen“ (Mk  8,31). Damit klärt sich die Genese der Episodenfolge: Ihr Kern ist die Notiz der Darreichung eines Schwammes mit Essig (= D), die schon in der PEmk bzw. der PEG gestanden haben muss, denn auch Johannes kennt sie (19,29). Um sie herum hat Markus die Episode gebildet – mit einem inneren Rahmen, bestehend aus Elija-Missverständnis (= C) und Elija-Wort (= C‘), einem mittleren Rahmen, bestehend aus Jesu verbum ultimum (= B) und seinem wortlosen Schrei (= B‘), und einem äußeren Rahmen mit den beiden sich entsprechenden himmlischen Zeichen (= A und A‘): A Finsternis   B   Letztes Wort Jesu   C   Elija-Missverständnis    D    Darreichung von Essig   C’   Elija-Wort   B’   Lauter Schrei Jesu und Tod A’ Zerreißen des Vorhangs 229  Schleritt, Passionsbericht 441; ebenso Schmithals, Mk  II  699; Pesch, Mk  II  496. – In der PEG besaß die Darreichung des Tranks eine andere Bedeutung: siehe unten II  10.7. 230 L. Schenke, Christus 99; J. Gnilka, Mk  II  312; Reinbold, Bericht 179; Schleritt, Passionsbericht 441. 231  Dautzenberg, Elija.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Für die Annahme, dass der innere Rahmen (C – C‘) von Markus stammt, spricht die Künstlichkeit des Anschlusses von V.35 an Jesu letztes Wort V.34. Die Brücke vom Psalmwort (in seiner aramäischen Fassung) zur Reaktion der Umstehenden bietet allein der vermeintliche Gleichklang von ελωι ελωι [= Eloi, eloi] und Ἠλία [Elia], der weit hergeholt scheint232 . Hinzu kommt folgende Spannung: Bei Markus sind es jüdische Zuschauer, die meinen gehört zu haben, er rufe Elija. Doch der Nukleus der Episode – die Darreichung eines Schwammes mit Essig233 – setzt einen römischen Soldaten voraus (vgl. Joh  19,29). (7) Wie stellte die PEG das Sterben Jesu dar? Stirbt er wie in Mk  15,37a mit einem unartikulierten lauten Schrei oder wie in Lk  23,46c.d par. Joh  19,30c mit einem ver31,6 (Lk   23,46) und das johanneische „Es ist vollendet!“ bum ultimum?234 Ps   (Joh  19,30) verdanken sich Lukas bzw. Johannes und fallen für das gesuchte ursprüngliche verbum ultimum aus. Mk  15,34 (= Ps  22,2) bleibt übrig. Gegen die von Rudolf Bultmann vertretene Alternative, dass Jesus nach der ältesten Gestalt der Passionserzählung mit einem wortlosen Schrei gestorben sei 235 , spricht der synoptische Befund: Lediglich Markus und ihm folgend Matthäus bezeugen diese Version 236 . Auffällig ist die „doppelte Erwähnung“ eines Schreis in Mk  15,34 und 37237. Zwei mögliche Erklärungen gibt es: Entweder fand Markus den unartikulierten Schrei in seiner PE vor und trug Ps  22,2 nach 238 . Oder Ps  22,2 ist Urgestein und der unartikulierte Schrei geht auf den Evangelisten zurück. Zugunsten dieser Annahme sprechen die stärkeren Gründe: (a) Sowohl Lukas als auch Johannes bieten ein verbum ultimum. So stand ein derartiges Wort auch schon in der PEjoh bzw. der PElk/joh. Welches Wort die beiden gegen das von ihnen jeweils gewählte ausgetauscht haben, lässt sich nicht sagen. Die Möglichkeit, dass es Ps  22,2 war, ist nicht von der Hand zu weisen 239. 232  Die hebräische Fassung des Psalmwortes (vgl. Mt 27,46: ηλι) ließe eher als die hier gebotene aramäische einen Anklang an Elija heraushören. L. Schenke, Christus 86: „ein Anklang von ελωι an Elias (ist) eher für einen Leser als für einen Hörer erkennbar“. 233  Lau, Triumphator 425 (unter Verweis auf R. Nicklas/Kügler, Essig 28): „Ein um einen Rohrstock gelegter Schwamm ist ein Utensil aus dem Bereich der Latrine, minutalia genannt“. 234  Reinbold, Bericht 169, zufolge müssen diese Fragen „offenbleiben“. Zu Folgenden siehe Theobald, Tod 14–19. 235  Bultmann, Geschichte 295: „V.34 ist offenbar eine nach ψ 21,2 geformte sekundäre Interpretation des wortlosen Schreis Jesu V.37 (πάλιν fehlt V.37, während Mt es hinzufügt!). Damit ist zugleich V.35.36b als sekundär erwiesen“; zurückhaltender ebd. 296: „Ob der einzig neutrale V.37 einmal einen Platz in einem älteren (relativ) legendenfreien Bericht hatte, vermag man nicht zu sagen“. V.37 ist allerdings nicht „neutral“; beim „großen Schrei“ handelt es sich um einen geprägten Topos (siehe oben). 236  Mt  27,50: „Jesus aber, nachdem er wiederum (πάλιν) mit großer Stimme schrie (κράξας), gab den Geist auf (ἀφῆκεν τὸ πνεῦμα)“; Luz, Mt IV 346: „Matthäus hat […] den letzten Schrei Jesu eindeutig als zweiten, vielleicht, aber nicht unbedingt wortlosen Gebetsschrei verstanden“; ebd. Anm.  101: „Auch das letzte Gebet in Getsemani (26,44) und die letzte Verspottung (27,44) werden inhaltlich nicht ausgeführt“. 237  Lührmann, Mk  263; vgl. auch Linnemann, Passionsgeschichte 157. 238  So im Anschluss an Bultmann eine Reihe von Auslegern: P. Winter Trial 156 f.; Linnemann, Passionsgeschichte 157; Schweizer, Mk 194. 239  Zu Joh in diesem Sinne: Schnackenburg, Joh III 331 f.; Mohr, Markus- und Johannespas-

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Frank Schleritt plädiert für Joh  19,28: „Mich dürstet!“ als verbum ultimum der PEjoh bzw. der PEG. Während bei Markus das Missverständnis von Ps  22,2 die Essiggabe motiviere („Lasst, wir wollen sehen, ob Elija kommt, um ihn herabzuholen“), erfülle diese Funktion beim vierten Evangelisten das Wort Jesu: „Mich dürstet!“. Weil der Motivationskontext bei Markus „schwerlich ursprünglich“ sein könne, müsse folglich „das διψῶ älter (sein) als das ελωι κτλ.“240 . Doch ist das ein Fehlschluss. Zum einen ist nicht einzusehen, warum die Essiggabe (PEG) einer Motivation bedarf. Die Anspielung auf Ps  69,22 als Ausdruck heilsgeschicht­ licher Erfüllung ist Motivation genug 241. Zum anderen folgt aus der zutreffenden Einsicht, dass der Motivationskontext bei Markus sekundär ist, nicht zwangsläufig, dies müsse auch für V.34 (Ps  22,2) gelten 242 . Die Entstehung der mkn. Erzählung stellt sich Schleritt so vor: „In PBG wurde – in Anlehnung an Ps  69,22 – erzählt, dass Jesus sagt, er habe Durst, und daraufhin (von den oder einem der Soldaten) mit Essig getränkt wird. PBMk, der vielleicht erkannte, dass die Möglichkeit, Mk  15,36a auf Ps  69,22 zu beziehen, auch ohne ein vorangehendes διψῶ gegeben war, ersetzte διψῶ durch ελωι κτλ. und bereicherte den Bericht auf diese Weise um die theologisch bedeutsame Aussage, dass Jesus sich mit den Worten von Ps  22,2a ausgerechnet an den wendet, der ihn verlassen hat bzw. verlassen zu haben scheint“243. Diese Rekonstruktion der PEG berücksichtigt Folgendes nicht: Ursprünglich stand das verbum ultimum vor der Essigtränkung, nicht, wie Schleritt meint, danach.

(b) Lukas und der vierte Evangelist lassen den ursprünglichen Ort des verbum ultimum erkennen: unmittelbar vor der Sterbe-Notiz, wo das Wort auch hingehört (vgl. Lk  23,46; Joh  19,30). Bei Markus steht dort jetzt die Notiz vom letzten unartikulierten Schrei Jesu: Mk 15,37 Jesus aber

37a

Lk 23,46 Und Jesus

46a

stieß einen großen Schrei aus rief mit großer Stimme (ἀφεὶς φωνὴν μεγάλην) (φωνήσας φωνῇ μεγάλῃ) 46b [und] sprach: Vater, 46d in deine Hände lege ich meinem Geist (παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου).

Joh 19,30 Als Jesus nun den Essig genommen hatte,

30a

30b

sprach er:

46c

und hauchte aus (ἐξέπνευσεν).

37b

Dies aber sprach er und hauchte aus (ἐξέπνευσεν).

30c

Es ist vollendet.

Und neigte das Haupt und übergab den Geist (παρέδωκεν τὸ πνεῦμα).

46e

30d

46f

30e

sion 347 Anm.  206. – Anders Reinbold, Bericht 168: „über die Gewissheit: sofern Johannes Ps  22,2 in seiner Quelle gelesen hat, hat er ihn gestrichen, kommt man nicht hinaus“. 240  Schleritt, Passionsbericht 440 f. 241  Deshalb wird auch Mk  15,24b–d nicht motiviert; anders Joh  19,23 f. Beide Motivationen des Essigtranks Mk  15,35.36b und Joh  19,28 sind sekundär. 242  Es ist inkonsequent, wenn Schleritt einerseits in Verbindung mit V.35 auch V.34 der PEG abspricht, andererseits aber V.34 der PEMk zuschreibt und V.35 – in ausdrücklicher Unterscheidung davon – Markus. 243  Schleritt, Passionsbericht 441.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Die übereinstimmende Positionierung des letzten Wortes Jesu bei Lukas und ­Johannes vor der Sterbensnotiz verdanken beide der PElkn/joh. Dies dürfte die ursprüngliche Stellung des verbum ultimum auch in der PEG gewesen sein. Die Synopse zeigt, wo das Wort in der vormkn. Fassung gestanden haben wird: zwischen V.37a und b. (c) Wie erklärt sich die mkn. Fassung? Wie entstand die Doppelung der φωνὴ μεγάλη in Mk  15,34 und 37? Folgende Erklärung hat viel für sich: Der Evangelist zog Ps  22,2 von seinem angestammten Platz (zwischen V.37a und b) nach vorne und wandelte das so entstandene zweite Rufen in einen wortlosen, unartikulierten Schrei um 244. Ps  22,2 versah er in V.34 mit einer V.37a vergleichbaren Einleitung: Und in der neunten Stunde rief Jesus mit großer Stimme (ἐβόησεν ὁ Ἰησοῦς φωνῇ μεγάλῃ):  Eloї, Eloї, lema sabachthani, was übersetzt heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Das Psalmwort mit seiner aramäischen Fassung bot Markus die Gelegenheit, das ihm so wichtige Elija-Motiv im Text vor Jesu Tod unterzubringen, um damit zum Ausdruck zu bringen: Elija, auf den die Umstehenden warten, kommt nicht; Jesus stirbt mit einem lauten Schrei auf den Lippen. Mirakulöse Rettung vor dem Tod entspräche nicht der theologischen Notwendigkeit des Todes Jesu, wie er sie zuvor im Buch schon des Öfteren ausgesagt hat (8,31; 10,45; 14,21). (d) Nach der Versetzung von Ps  22,2 nach vorne bedurfte die Notiz vom Sterben Jesu weiterhin einer szenischen Anbindung. So beließ Markus der Notiz die Einleitung V.37a, schrieb ihr aber neuen Sinn zu: „Jesus stieß einen großen Schrei aus“. Die Beobachtung, dass das Motiv vom „großen Schrei“ nicht nur generell in Klagepsalmen 245 , sondern insbesondere in Ps  22,2 f. begegnet, stützt die Annahme, dass auf die Redeeinleitung ursprünglich die Klage folgte: Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien246 , den Worten meines Flehens.

244  Betz, Art. φωνή 287 Anm.  76: „Urspr(ünglich) bezog sich das φωνὴν μεγάλην Mk  15,37 auf das Rezitieren von Ps  22,2 in Mk  15,34, u(nd) nur durch den Einschub des Abschnitts vom Elia-Missverständnis wird der Eindruck eines unartikulierten Todesschreis erweckt“; vgl. auch Gese, Ps  22 16. – L. Schenke, Christus 97, vermutet mit anderen, dass der laute Ruf von V.37 derselbe wie der von V.34a sei, also Gleichzeitigkeit vorliege. Die Erzähllogik (die Anwesenden warten darauf, was nach dem Klageruf Jesu geschieht, ob nun Elija kommt oder nicht) schließt diese Deutung definitiv aus. 245  Vgl. Ps  2 2,25; 27,7; 31,23; 69,4. 246  So nach der gängigen Konjektur des hebräischen Textes: H.-J. Kraus, Psalmen I  321 f.; anders Hossfeld, in: ders./Zenger, Psalmen 148: „fern von meiner Hilfe […]“. 1QH  13(5),12 bestätigt obige Lesart („Denn in der Not meiner Seele hast du mich nicht verlassen und mein Geschrei gehört in meiner Seelenbitternis“), verkehrt freilich den Sinn von Ps  22,2 ins Gegenteil. MidrPs  22,2 gibt zu bedenken, dass Ester (vgl. Est  4,16) am ersten und zweiten Tag „Mein Gott“ gebetet habe, erst am dritten Tag den ganzen Vers: „Aber als sie zuletzt mit lauter Stimme betete: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘, wurde ihr Gebet sofort beantwortet“ (bei Dalman, Jesus 184).

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

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Mein Gott, ich schreie bei Tag (LXX: κεκράξομαι), doch du gibst keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe.

Der Ausfall des artikulierten Wortes im mkn. Text veränderte in V.37 den Charakter der φωνὴ μεγάλη. Der Kontext legt es jetzt nahe, den „großen (wortlosen) Schrei“ als „Epiphanie“ des Sieges zu deuten 247. (8) Mk  15,38, die Notiz vom Zerreißen des Tempelvorhangs, hat Markus als Pointe seiner kultkritischen Deutung des Todes Jesu redaktionell in seine PE ein­ gebracht 248 . Ihre Botschaft ist klar: Weil das Heil im Tod Jesu als dem „für viele vergossenen Blut des Bundes“ (Mk 14,24) beschlossen liegt, hat der Tempel als Kultort und Opferstätte ausgedient 249. (9) Schließlich verdankt der Centurio – der PEjoh ist er gleichfalls unbekannt – seinen Auftritt Markus250 . Die Einbindung der Erzählfigur in die Dynamik seiner Christologie, aber auch die Rolle, die er ihr als einem unbefangenen römischen Zeugen zuweist, lassen einen anderen Schluss nicht zu. Wahrscheinlich wurde er zur Bildung der Episode durch seine Wundererzählungen angeregt, die oft genug in Bekenntnisse von Beteiligten einmünden (1,27; 2,12; 7,37; vgl. auch 4,41). Ein der­ artiger „Chorschluss“251 könnte auch der „Nachruf“ des Centurio sein, der auf Jesu Sterben und die es begleitenden numinosen Zeichen reagiert. Zu beachten ist auch das Stichwort ἰδών V.39a („als der Centurio sah […], dass er so verschied“), das den Anschluss zur nachfolgenden Frauenliste herstellt, die Markus in seiner PE vorfand: „es schauten von ferne aber auch Frauen zu (ἦσαν … θεωροῦσαι)“252 . Dieses Stichwort könnte Markus dazu veranlasst haben, den Zeuginnen aus Jesu eigener Nachfolgerschaft einen Zeugen aus der paganen Welt zur Seite zu stellen. Wirksamer als mit diesem Auftritt so unterschiedlicher „Zuschauer“ auf Golgota hätte er die Szene nicht beschließen können. 10.7 Der Psalter (Ps  22; 38; 69; 88) als Matrix der Kreuzigungsszene in der PEG Das sich abzeichnende Bild der Szene in der PEG orientiert sich weithin an Markus. In Abschnitt B.  III. bietet die PElk/joh mit ihrer Abfolge der Erzählelemente die ältere Version:

247 

Siehe oben 10.2 unter (3). Lührmann, Mk 264.– Pesch, Mk II 499, reklamiert die Notiz noch für die alte PE, auch noch A.Y. Collins, Mk 819. 249  Siehe oben II.  3.2.2. 250  Lührmann, Mk 264. – Seneca weiß vom einem centurio supplicio praepositus, einem Centurio, der einer Hinrichtung vorstand (De ira 1,18,4). 251  Dibelius, Formgeschichte 54 f. 252  Eine Brücke ergibt sich auch über die Anspielungen auf Ps  38,12LXX: Während ἐξ ἐναντίας αὐτοῦ (V.39) auf 12a (οἱ φίλοι μου καὶ οἱ πλησίον μου ἐξ ἐναντίας μου ἤγγισαν) anspielt, assoziiert ἀπὸ μακρόθεν (V.40) 12b (καὶ οἱ ἔγγιστά μου ἀπὸ μακρόθεν ἔστησαν). Zur vorgegebenen Frauenliste vgl. oben in I.  1.4.2 unter (1). 248 

470

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Markus Lukas

Johannes

A. Und sie führen ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen. Und sie zwingen einen Vorübergehenden, Simon von Kyrene, der vom Feld kommt, den Vater des Alexander und Rufus, dass er sein Kreuz trage.

15,20d. 15,20e 15,21

(19,17b)

B.I. Und sie bringen ihn an den Ort Golgota, das heißt übersetzt: Ort des Schädels […]. Und sie kreuzigen (σταυροῦσιν) ihn und teilen seine Kleider, indem sie über sie das Los werfen, wer was nehmen solle […]. Und es war die Inschrift (ἡ ἐπι-γραφή) seiner Schuld angeschrieben (ἐπι-γεγραμμένη):   Der König der Juden. Und mit ihm kreuzigen sie (σταυροῦσιν) zwei Räuber, einen rechts und einen links von ihm.

15,22a 15,22b

(19,17a)

15,24

15,26 15,27

19,17b 19,17c 23,33b 19,18a

19,19

23,33c 19,18b

II. Und die Vorübergehenden lästerten ihn, ihre Köpfe schüttelnd […]. Ähnlich spotteten auch die hohen Priester untereinander […] und sprachen:  Der Messias, der König Israels, steige […] herab vom Kreuz […]!

15,29a 15,29b 15,31

(19,21a)

15,32

(19,21c/e)

III. […] Ein (Soldat) lief [herzu], füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf einen Rohrstock und gab ihm zu trinken […]. Jesus aber rief mit großer Stimme:  Eloї, Eloї, lema sabachthani. Das heißt übersetzt:   Mein Gott, mein Gott,   wozu hast du mich verlassen? Er sagte dies und hauchte aus (ἐξέπνευσεν).

15,36a 15,36b 15,36c 15,36d 15,34a 15,34b 15,34c

IV. […] Es waren nun Frauen von ferne zuschauend, unter ihnen Maria, die Magdalenerin, und Maria, die Mutter von […] Jakobus und Joses, und Salome.

(19,20a–c)

(23,36) (19,24h) 19,29b 19,29c 19,29d 19,30b (19,30c)

15,37b

23,46e 23,46f 19,30e

15,40a 15,40b

23,49a 19,25

(1) Die Segmente der in Exposition (A) und Hauptteil (B) gegliederten Szene heben sich deutlich voneinander ab: Die im Praesens historicum stehende Exposition wird von der inclusio „kreuzigen“ (σταυρόω)/„Kreuz“ (σταυρός) gerahmt. Simon wird zusätzlich zur Angabe seiner Herkunft über seine beiden Söhne Alexander und Rufus identifiziert, was konstitutiver Bestandteil der alten Überlieferung ist: Die

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

471

Zwei sind die Erinnerungsträger des Berichteten, was für die PEG mehr als nur ein Erinnerungssplitter zu sein scheint. Weil sich die Wendung αἴρω τὸν σταυρόν an den Spruch von der Kreuzesnachfolge Mk  8,34 anlehnt, deutet die Episode „vorbild­ liche Kreuzesnachfolge“ an 253. Auch die vier Episoden des Hauptteils kreisen um das Kreuz: Die erste (I.) erzählt (weiter im Praesens historicum) von der Kreuzigung Jesu und der beiden ­Räuber „mit ihm“ am Anfang und Ende (Stichwort: σταυρόω), dazwischen von der Verteilung der Kleider Jesu und der „Aufschrift seiner Schuld (ἡ ἐπιγραφὴ τῆς αἰτίας αὐτοῦ)“254. Die zweite (II.) (im Präteritum) erzählt von der Lästerung Jesu durch die hohen Priester, die dritte (III) (gleichfalls im Präteritum) von der Darbietung von Essig und seinem Sterben mit einem verbum ultimum auf den Lippen. Die vierte und letzte Episode (IV.) nennt als Zeuginnen des Geschehens anwesende Frauen, drei von ihnen namentlich 255. So wird die Szene von Jesus-Gläubigen der ersten Stunde gerahmt: von Alexander und Rufus zu Beginn und den beiden Ma­ rien und Salome am Ende. Einige Details bedürfen noch der Erläuterung: (a) An zwei Stellen werden mittels der Formel „das heißt übersetzt“ (ὅ ἐστιν μεθερμηνευόμενον) aramäische Worte griechisch wiedergegeben 256 . In V.22 ist es der Name der Hinrichtungsstätte, Golgota, in V.34 der in griechischer Umschrift dargebotene aramäische Wortlaut von Ps  22,2. Ein Vergleich von Mk  15,22 mit Joh  19,17 („er ging hinaus an die sogenannte Schädelstätte, was auf Hebräisch Golgota heißt“)257 legt nahe, dass bereits die PEG: den aramä­ ischen Namen und seine Übersetzung geboten hat 258 . Zu V.34 fehlt ein derartige Kontrollmöglichkeit, aber es dürfte sich hier ebenso verhalten: Die überragende Bedeutung des verbum ultimum Jesu kommt durch seine Wiedergabe in der PEG auf Aramäisch 259 und Griechisch 260 zum Ausdruck, in Entsprechung zur Zweisprachigkeit der ältesten Jerusalemer Ekklesia 261. 253 J. Gnilka, Mk II 315; siehe oben in I.  1.2.2 den Abschnitt: Simon von Zyrene – Prototyp der Kreuzesnachfolge? Es liegt deswegen nur eine Anspielung vor, weil Simon ja nicht aus freien Stücken das Kreuz trägt; aber seine beiden Söhne sind wohl in Jesu Nachfolge eingetreten: „Auch aus widrigsten Umständen heraus kann Gutes erwachsen“ (Lau, Triumphator 380). 254 A.Y. Collins, Mk 747: „The Greek word αἰτία can mean ‚charge‘ or ‚accusation‘, but here the sense is ‚the offence of which he had been found guilty‘“; vgl. P. Winter, Trial 153. 255  In der Mk vorgegebenen Liste hieß die zweite Frau möglicherweise: „die des Jakobus“; Mk hat aus kontextuellen Gründen wohl hinzugesetzt: „die des kleinen Jakobus und des Joses Mutter“; zur Begründung siehe oben I.  1.4.2 unter (1) (b). 256  Vgl. auch Mk  5,41; 7,34: verkürzte Formel. 257  Wenn Joh zuerst den griechischen Namen nennt, dann das hebräische/aramäische Original, entspricht das seiner Praxis in 1,41; 4,25; 5,2; 9,7. – Lk  23,33 bietet eine Kurzversion ohne aramäischen Namen: „und als sie zu dem Ort kamen, der Schädel genannt wird“. 258  So auch A.Y. Collins, Mk 738.819. 259  Hengel/Schwemer, Jesus 617: Die Wiedergabe in Aramäisch ist „völlig ungewöhnlich“; „denn an sich hat man in der Synagoge und im Tempel die Psalmen hebräisch gebetet. Man wird dazu wohl ein frühes volkstümliches Psalmentargum voraussetzen müssen“. 260  Die LXX-Fassung „klingt“ an, ist aber „nicht Vorbild“ (J. Gnilka, Mk II 322). 261  Der aramäische Wortlaut wurde keinesfalls auf einer späteren Überlieferungsstufe nachgetragen, ausgeschlossen ist auch, dass das Wort ohne griechische Übersetzung dargeboten wurde. Mk knüpfte mit dem auf ihn zurückgehenden Elija-Missverständnis am vorgegebenen aramä­ ischen Wortlaut an.

472

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(b) Die figura etymologica ἡ ἐπι-γραφή […] ἐπι-γεγραμμένη Mk  15,26a (= PEG) sagt nicht ausdrücklich, wo die Aufschrift „angeschrieben ist“: Wurde die Tafel am Fuß des Kreuzes deponiert 262 oder nicht doch eher am Kreuz selbst befestigt, wie Ingo Broer mit guten Gründen annimmt 263? So jedenfalls verstehen die anderen Evangelisten ihre Vorlagen, wenn sie die Tafel entweder „am Kreuz“ (Joh  19,19) oder „über“ Jesus (Lk  23,38)264 bzw. „über“ seinem „Haupt“ (Mt  27,37) angebracht sehen – wie eine Inschrift über dem Bild eines Imperators. (c) Die Aufschrift des titulus begegnet in vier Varianten 265: Mt  27,37 Dieser ist (οὗτός ἐστιν) Jesus, Mk  15,26 Lk  23,38 Joh  19,19 Jesus, der Nazoräer 266 ,

der König der Juden Der König der Juden Der König der Juden (ist) dieser (οὗτος). der König der Juden

Die schwierigste und damit wohl auch älteste Fassung (PEG)267 bietet Markus: „Der König der Juden“. (d) Bei Lukas und Johannes sind es „Soldaten“ (so Lk  23,36 ausdrücklich), die Jesus einen Essigschwamm reichen (vgl. Joh  19,29), bei Markus ausweislich des Elija-Kontextes ein jüdischer Passant. Diese Variante ist sekundär. Der PElk/joh entsprechend war es auch in der PEG ein Soldat, der Jesus Essig zu trinken gab. (e) Nicht plausibel ist die Annahme, Ps  22,2 sei im Munde Jesu sekundär und erst von Markus in die PE eingebracht worden 268 . Sowohl die jüdisch-hellenistische Märtyrerliteratur also auch profan griechische Erzählungen vom Sterben berühmter Männer bedienen sich des Gattungselements eines verbum ultimum269. Wenn Ps  22 der Kreuzigungsszene bis hierher den „Deutehorizont“270 vorgibt, dann auch dem verbum ultimum Jesu.

262  So J. Gnilka, Mk II 318; Lührmann, Mk 261; Kuhn, Kreuzesstrafe 734. Niemand, Jesus 433 Anm.  244. 263  Broer, Kreuzestitulus 277, unter Verweis auf die „sehr schöne[..] Parallele“ Plat, Phaedr  264c, wo die figura etymologica (mit ἐπί-) eine Ergänzung des entsprechenden Substantivs aus dem Kontext verlangt: καὶ εὑρήσεις τοῦ ἐπιγράμματος οὐδὲν διαφέροντα, ὃ Μίδᾳ τῷ Φρυγὶ φασίν τινες ἐπιγεγράφθαι = und du wirst sie (sc. die Rede eines Freundes) gewiss nicht verschieden finden von dem Epigramm [anschließend in 264d zitiert], das auf (dem Grab) des Phrygers Midas stehen soll (Übers. E. Heitsch). Bei Mk ist σταυρός das nach V.25 (σταυρόω) zu ergänzende Substantiv: „Insofern dürfte das zweite ἐπί- wirklich eine mit-tragende Bedeutung haben und nicht ‚nur‘ aus Gründen der figura etymologica mit-genannt worden sein. Von daher kann die Möglichkeit, dass schon Markus die Stelle so verstanden hat wie seine Seitenreferenten, kaum verneint werden“. 264  Weil Lk  23,38 (ἐπ’ αὐτῷ) und Joh  19,19 (ἐπὶ τοῦ σταυροῦ) in der Präposition ἐπί übereinstimmen, könnte bereits die PElk/joh die Ambivalenz der Vorlage beseitigt haben. 265  EvPetr  3(11) bietet eine fünfte Variante: „Dies ist der König Israels“. Sie erklärt sich durch den Wechsel der Akteure. Nicht die Römer, sondern „die Juden“ sind dem EvPetr zufolge für den titulus verantwortlich. 266  Bereits in 18,5. Schnackenburg, Joh III 253: „Herkunftsbezeichnung“ – aus dem „vorjoh. Bericht“. 267  Förster, Titulus 114 f.: Mk „stellt in gewisser Hinsicht eine lectio difficilior dar, weil J ­ esus auf der Tafel nicht namentlich genannt ist und damit die Verbindung zwischen ihrem Text und dem Gekreuzigten nicht explizit zum Ausdruck kommt“. Die anderen Evangelisten beheben die Uneindeutigkeit durch Nennung des Namens bzw. der Deixis „dieser“. 268 A.Y. Collins, Mk 753. 269  Siehe oben in I.  1.5.3 den Abschnitt: Verba ultima. 270  Lührmann, Mk  263.

10. Auf Golgota – der Tod Jesu (Mk  15,20d–41 par.)

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(f) Die Sterbenotiz lautete Mk  15,37 par. Lk  23,46 zufolge ursprünglich so: τοῦτο δὲ εἰπὼν ἐξέπνευσεν = mit diesen Worten hauchte er aus. Das einfache ἐξέπνευσεν wandeln Matthäus und Johannes um in ἀφῆκεν τὸ πνεῦμα (Mt  27,50b) bzw. παρέδωκεν τὸ πνεῦμα (Joh  19,30e), womit sie sich an stereotype Wendungen halten, wie die griechische und frühjüdische Literatur es breit belegt 271, nicht selten mit einer letzten Äußerung des Sterbenden verbunden. Die Rede vom πνεῦμα Jesu könnte christologisches Interesse verraten.

(2) Die Schrift ist für die Kreuzigungsszene zentral. Auf ihrem Fundament wurde sie generiert. Alle vier Episoden des Hauptteils spielen auf den Psalter an, der überdies die Erzählweise mit inspiriert hat. In der Mitte der ersten Episode steht die Kleiderteilung aus Ps  22,19. Die zweite Episode aktualisiert als ganze Ps  22,7–9, indem sie nicht nur ihre Motive aus dem Psalm schöpft („sie lästerten ihn, ihre Köpfe schüttelnd“; „sie spotteten“), sondern auch seinen Stil nachahmt: Sie lässt die Spötter direkt zu Wort kommen (vgl. Ps  22,9). Die vierte Episode bietet zwei Bezugnahmen, zunächst auf Ps  69,22: die Darbietung von Essig durch einen römischen Soldaten sollte nach der PEG wohl „dem Gekreuzigten neue Qualen bereiten und seine Einsamkeit bestätigen“272 , dann auf die Invocatio Ps  22,2. Wenn die Schlussepisode an Ps  38,12b („meine engsten [Angehörigen] haben sich in der Ferne hingestellt“) und 88,9 („du entferntest meine Vertrauten von mir“) erinnert, wird Gegensätzliches assoziiert: die Einsamkeit des Gekreuzigten einerseits und die Gegenwart der Frauen, Zeuginnen seines Sterbens, andererseits. Psalm  22, den die Erzählung gegenläufig einspielt273, ist konstitutiv für die Kreuzigungsszene. Steht seine tragende Rolle für das Konstrukt der Erzählung außer Zweifel, dann erübrigen sich Deutungen wie die, dass Jesu letztes Wort Ausdruck der Verzweiflung sei, oder erst recht die historisierende Überlegung, ob Jesus nur den Beginn des Psalms oder ihn ganz gebetet habe. „Die im Danklied des 271 Üblich ist die Verbindung von ψυχή mit ἀφίημι: Hdt   4,190; Plut, Dem  29,7; Aelian, Nat An  2,1; 7,29. – Gen  35,18; 1Esdr  4,21; Jos, Bell  6 ,309; Jos, Ant  1,218; 14,369 u. ö.; seltener ψυχή mit ἀποδίδωμι (Jos, Bell  6 ,66; 4Makk 12,19 [v.l.]) oder παραδίδωμι (TestAbr  B12; vgl. Apg  15,26); ApkEsr  7,14: „Und sogleich aber gab er [sc. Esra] mit großer Ehre seine kostbare Seele hin“); vgl. 4Makk 9,25 („und nachdem er dies gesagt hat, hauchte der heiligmäßige Jüngling seine Seele aus (ἀπέρρηξεν τὴν ψυχήν)“. – jBer 9,7 (14b) von R. Aqiba: „Kaum hatte er zu sprechen aufgehört, da flog sein Lebensodem davon“ (hebr. Text bei Holtz, Herrscher 191). – πνεῦμα in Verbindung mit ἀφίημι: Eur, Hec  571, oder ἀποδίδωμι: 4Makk 12,19 (v.l.); VitAd 45,3: „Und es begab sich, als er [Adam] alle seine Reden beendet hatte, gab er den Geist auf “; 50,3: „Dann breitete Eva ihre Hände betend zum Himmel aus, kniete nieder auf der Erde und betete den Herrn an und sagte Dank und gab den Geist auf “; oder mit anderen Verben: ApkMos 32,3: „Adam, dein Mann, ist herausgegangen aus seinem Leib. Steh auf und sieh seinen Geist hinauffahrend (emporgehoben werdend) zu dem, der ihn geschaffen hat, um vor ihm zu erscheinen“; 42,8: „Gott des Alls, nimm meinen Geist (δέξαι τὸ πνεῦμά μου)“ (JSHRZ II 789–864: ApkMos/VitAd); vgl. auch ParJer 9,7: „Während Jeremia dies sprach und vor dem Altar stand mit Baruch und Abimelech, wurde er wie einer von denen, die seinen Geist aufgeben“); ValMax 7,8,8 (spiritum posuit). – παραδιδόναι τὸ πνεῦμα des Öfteren in den apokryphen Apostelgeschichten: ActJoh 115; ActPetr 40 (11) u. a. (vgl. Dauer, Passionsgeschichte 215 Anm.  308). 272 J. Gnilka, Mk  II  323; vgl. ebd. 312; Lührmann, Mk  263: der Erzählzug ist „hier ganz im Sinne von Ps  69,22 verstanden als Quälerei des Gerechten durch seine Feinde“. Vgl. auch unten III.  2.6.2. 273  Siehe oben I.  1.2.1.2.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Psalms bekundete Rettung […] (V.23 ff.) bezeugt, dass die von der Gemeinde geglaubte Auferstehung die Voraussetzung ist, dass man mit Hilfe des Psalms die Passion Jesu beschrieb. Damit ist der Ruf der Gottverlassenheit des Gekreuzigten nicht abgeschwächt […]. Obwohl von Gott verlassen, richtet er die Gebetsklage an ihn und bekundet damit, dass er Gott nicht aufgibt“274.

Exkurs 10: Menschen am Kreuzweg und auf Golgota Die Überlieferungsgeschichte der PE zeigt die Tendenz, die Anzahl der Menschen, die Jesus auf seinem Kreuzweg begleiten und auf Golgota bei seinem Tod und seiner Bestattung anwesend sind, zu vermehren und ihnen Gesicht und Namen zu verleihen. Die PEG erzählt von Simon und seinen Söhnen Alexander und Rufus, nennt namentlich Frauen, die sich in der Nähe des Kreuzes aufhalten, und weiß, dass ein Josef von Arimithäa für die Bestattung Jesu gesorgt hat. Markus fügt den Centurio hinzu. Lukas berichtet zusätzlich von weinenden Frauen am Rand des Kreuzwegs, denen Jesus sich zuwendet, und verleiht den beiden Mitgekreuzigten ein Gesicht: Der eine ist bußwillig und wird des rettenden Zuspruchs Jesu gewürdigt, der andere verharrt in der Haltung des Lästerers. Neben den Frauen erwähnt er ausdrücklich die Anwesenheit „aller Bekannten“ Jesu beim Kreuz. Johannes stellt die Mutter Jesu unter das Kreuz, zusätzlich seine Tante und die Frau des Klopas, die Redaktion des vierten Evangeliums noch den „Jünger, den Jesus liebte“. Bestattet wird Jesus von Josef aus Arimathäa und Nikodemus. Mit den kanonischen Evangelien kommt diese Tendenz nicht zum Erliegen. Das Petrus­ evangelium will wissen, dass Herodes die Herausgabe des Leichnams Jesu an Josef angeordnet habe (EvPetr  2[4 f.]), und der Centurio Petronius heißt (EvPetr  8[31]) 275. Das Nikodemus­ evangelium kennt die Namen der beiden Übeltäter, des reuigen Dysmas (ActPil 9[4]; 10[2]) und des unbußfertigen Gestas (9[4])276 , die Legenda Aurea den des Lanzenträgers, der Jesus in die Seite sticht, Longinus 277. Am bekanntesten ist Veronika, die Jesus ihr Schweißtuch reicht, in das sich Jesu „wahres Bildnis“ (vera-icon) einprägt 278 . Sie wurde mit einer der Frauen am Kreuzweg Jesu (Lk  23,27) identifiziert 279. „Seine Leiden standen euch vor Augen (τὰ παθήματα αὐτοῦ ἦν πρὸ ὀφθαλμῶν ὑμῶν)“, schreibt der Autor des 1.  Clemensbriefs in Anspielung auf Gal  3,1 den Korinthern  (2,1). Dem menschlichen Bedürfnis nach Anschaulichkeit kam die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Passionserzählung entgegen. Mit ihren Figuren bietet sie den sich in das Leiden des Herrn versenkenden Menschen eine reiche Palette an Empfindungen und Emotionen, die den Kreuzweg Jesu für sie nachvollziehbarer, ja „begehbar“ werden lassen. Vor allem seit dem frühen Mittelalter wurde er so zum Ferment der Passionsfrömmigkeit 280 .

274 J.

Gnilka, Mk II 322. Zur Centurio-Legende C. Schneider, Hauptmann 5–17. 276 Die Legenda Aurea, Cap.   51,10, bietet unterschiedliche Namensformen: Gestas, Gesmas und Sesmas. 277  E. Sauser, Art. Longinus (Longinos), in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd.  20 (BBKL), Nordhausen 2002, 943. 278  Zur Genealogie der Figur: Unterburger, Art. Veronika 1046 (mit Verweis auf Eus, Hist­ Eccl 1,13; ActPil 7). 279  Aus der Frömmigkeit des Kreuzwegs ist nicht mehr wegzudenken. 280  Köpf, Art. Passionsfrömmigkeit. 275 

11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.)

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11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.) Die Episode schließt die Kreuzigungsszene ab: Der Spannungsbogen, der mit dem Weg Jesu nach Golgota einsetzt und den Geschehnissen am Hinrichtungsort und Jesu Sterben am Kreuz seine Klimax erreicht, fällt mit Kreuzesabnahme und Bestattung seines Leichnams wieder ab281. Damit ist, wie die Evangelisten je auf ihre Art andeuten, das Ende der Geschichte aber noch nicht erreicht. 11.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Die Darstellung bei Markus (15,42–46) umfasst vier Einheiten: (a) den Gang des in V.43 eingeführten Josef von Arimathäa zu Pilatus mit der Bitte um Freigabe des Leichnams Jesu (V.43–45) 282 , (b) den Kauf von Leinentuch, in das der Leichnam gewickelt wird, (c) seine Bestattung in einem aus Fels gehauenen Grab und schließlich (d) den Verschluss des Eingangs mit einem Stein 283. Die Erzählung wird von zwei Zeitangaben (V.42) eröffnet: Die erste ordnet das Geschehen dem seit 15,1 erzählten Tag zu („und als es schon Abend geworden war)“, die zweite („weil [ἐπεί] Rüsttag war, das heißt: Vorsabbat“) motiviert die zeitige Bestattung des Leichnams Jesu. Dahinter steht die Weisung Dtn  21,23a.b, die es untersagt, Gehängte bzw. Gekreuzigte über Nacht am Pfahl zu belassen, damit das Land nicht verunreinigt wird 284. Der Bezug charakterisiert Josef indirekt: Dieser ist nicht nur „ein angesehener Ratsherr“, der „das Reich Gottes erwartete“ (V.43), sondern auch ein toratreuer Jude. V.44 ist eine Einblendung in die erste Aktion des Josef: Pilatus wundert sich über Jesu zeitigen Tod und lässt sich ihn durch den Centurio bestätigen. V.45 („als er es vom Hauptmann erfahren hatte, schenkte er Josef die Leiche [τὸ πτῶμα])“ führt den Erzählfaden von V.43 weiter. V.47 schließt die Erzählung vom Begräbnis Jesu ab und leitet zur Ostergeschichte über. 16,6: „Seht den Ort, wohin (ὅπου) man ihn gelegt hat“, setzt die Feststellung: „Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Joses, sahen, wo (ποῦ) er hingelegt wurde“, voraus. (2) Bei Matthäus (27,57–61) ist aus dem Mitglied des Synedrions ein „Reicher“ geworden 285. Nicht mehr die Tora, sondern seine Anhänglichkeit an Jesus scheint Josef zu seiner Initiative zu motivieren. In Anknüpfung an Mk  15,43 hat Matthäus aus ihm einen Jesus-Jünger gemacht (27,57). 281  Siehe oben im Vorspann von II.  10 die Beschreibung der gesamten Szene. – Monographisch zur Perikope: Broer, Urgemeinde. 282  „Die eigenmächtige Entfernung der Leiche von Gekreuzigten, die mitunter bewacht wurde, bis sie von wilden Tieren zerfressen war, war strafbar“ (Pesch, Mk  II 514). 283  Die vier Aktionen (im Aorist) sind jeweils mit einem καί koordiniert: V.42.46a.46d.46 f. 284  Siehe oben in I.  1.2.1.3. Joh  19,31 (siehe unten) bestätigt die Annahme. 285  Konradt, Mt   450: Matthäus konnte unmöglich einem Mitglied des von ihm „gänzlich schwarz gezeichneten Hohen Rates“ den Frömmigkeitserweis der Bestattung des Toten zuschreiben.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Die Pilatus-Einblendung (Mk  15,44.45a) fehlt bei Matthäus, ansonsten kehren die von Markus her bekannten Handlungsmomente, gekürzt und leicht verändert, wieder: Josef kauft kein Leinentuch, sondern nimmt „reines“ Tuch (V.59). Er bestattet den Leichnam nicht in irgendeiner Grabstätte, sondern im „neuen eigenen Grab“286 . Von den beiden Marien heißt es, dass sie „dem Grab gegenübersaßen“ (V.61), nicht mehr wie bei Markus, sie hätten gesehen, „wo er hingelegt wurde“. Das Wissen um Jesu Grabstätte ist durch den Jünger Josef gesichert. Die sich anschließende Erzählung von der durch die Priester veranlassten Einsetzung von Wächtern am Grab (Mt  27,62–66) gewährleistet den Übergang zur Ostergeschichte. In V.57–61 fußt Matthäus auf Markus. Die Wächtergeschichte, die im EvPetr eine Parallele besitzt, ist mt. Sondergut: „Das im Umfeld des Evangeliums virulente Gerücht vom Leichendiebstahl (28,15; vgl. Just, Dial  108,2)“ kontert „der Evangelist, indem er die Streuung des Gerüchts auf die Hohepriester zurückführt, die dabei wider besseres Wissen und also betrügerisch gehandelt haben“287. (3) Lukas hat die Erzählung durch Aufwertung der Frauenliste zu zwei Geschichten ausgebaut: In der ersten (23,50–53) ist Josef der Protagonist, in der zweiten (23,55 f.) sind es die Frauen. Über sie heißt es unter Vorwegnahme von Mk  16,1: Als sie sahen, „wie“ Jesu Leichnam abgelegt wurde, gehen sie, um (für die noch vorzunehmende Salbung) Gewürze zu bereiten 288 . Aber sie halten sich an die Sabbatruhe. Die Ostererzählung schließt nahtlos an 289. Das Scharnier V.54 in der Mitte verbindet die beiden Geschichten miteinander: „Und es war Rüsttag, kurz bevor der Sabbat [der erste Stern] aufleuchtete (ἐπέφωσκεν)“. Die Mehrzahl der „spektakulären“290 minor agreements mit Matthäus sind stilistischer Natur 291. Beide Evangelisten berücksichtigen Mk  15,44.45(a) nicht 292 . Der ihnen gemeinsame 286  V.53: … ἐν τῷ καινῷ αὐτοῦ μνημείῳ ὃ ἐλατόμησεν ἐν τῇ πέτρᾳ. Mt gleicht seine Mk-Vorlage (μνήματι ὃ ἦν λελατομημένον ἐκ πέτρας) Jes  22,16LXX an (ἐλατόμησας σεαυτῷ ὧδε μνημεῖον … καὶ ἔγραψας σεαυτῷ ἐν πέτρᾳ σκήνην = „du hast dir hier ein Grab ausgehauen … und dir in einem Felsen eine Wohnung eingemeißelt“) mit der Folge, dass das Grab zu dem des Joseph von Arimathäa wird (Broer, Urgemeinde 171 f.). 287  Konradt, Mt  451. 288  Die Ersetzung des „wo“ (Mk) durch „wie“ deutet an, dass die Bestattung Jesu nach Meinung der Frauen noch unvollständig war: Wolter, Lk 767. 289  Bovon, Lk IV 515, zieht die beiden mit μέν und δέ verfugten Sätze zusammen: „Am Sabbat ruhten sie zwar (μέν) gemäß dem Gebot; am ersten Tag der Woche aber (δέ), im Morgengrauen, gingen sie zum Grab und brachten die Gewürze mit, die sie vorbereitet hatten“. 290  Luz, Mt  I V 377; Ennulat, Agreements 403: „Die Anzahl der mtlk Übereinstimmungen gegen den MkText ist hoch“. 291 (1) οὗτος προσελθὼν τῷ Πιλάτῳ (Mt   27,58 par. Lk  23,52) setzt den Einsatz der Handlung deutlicher von der Vorstellung des Josef ab und vermeidet die Doppelung der beiden Präpositionen εἰσ(ῆλθεν) πρὸς (τὸν Πιλάτῳ) Mk  15,43; (2) Beide streichen das „Kauf“-Motiv (Mt  27,29 par. Lk  23,53 gegen Mk  15,46); (3) ἐνετύλιξεν αὐτὸ σινδόνι („einwickeln“) (ebd.) ausgetauscht gegen ἐνείλησεν („einzwängen“, „fest einpacken“) Mk  15,46 (4) ἔθηκεν Mt  27,60 par. Lk  23,53 ausgetauscht gegen κατέθηκεν Mk  15,53 (das von Nestle26 gebotene ἔθηκεν verdankt sich Paralleleinfluss). – Die minor agreements 2–4 gehören zu einer Satzperiode, die verknappt und stilistisch geglättet wurde. 292  Vielleicht erklärt sich das mit der Deutero-Markus-Hypothese: Ennulat, Agreements 406.

11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.)

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Erzählzug vom „neuen“ Grab293 verdankt sich novellistischer Erzählfreude, die sich auch andernorts, z. B. in Mk  11,2 par. Lk  19,30, zeigt.

(4) Johannes (19,38–42) erzählt die Geschichte auf eigene Weise, auch wenn sich das Erzählgerüst mit dem der Synoptiker deckt: Josef von Arimathäa bittet Pilatus um Erlaubnis, den Leichnam Jesu vom Kreuz zu holen; Pilatus erteilt sie ihm. Josef nimmt den Leichnam ab (V.38) und bestattet ihn in einem Grab. Johanneische Eigenheiten sind: Josef ist ein Jünger Jesu im Geheimen, gehört also zu einer Gruppe von Jesus-Anhängern, die dem Leser des Evangeliums längst bekannt sind294. Gleiches gilt von Nikodemus, der Josef unterstützt und eine riesige Mischung aus Myrrhe und Aloe herbeischafft295. Die beiden sind von Hochschätzung für Jesus erfüllt und erweisen ihm die letzte Ehre: Sie umwickeln den Leichnam mit Leinenbinden (ὀθόνια)296 samt wohlriechenden Salben – im Unterschied zu Markus und Lukas, nach denen die Frauen die Salbung am ersten Wochentag nachholen wollen. Die Lage des Grabes wird präzisiert: in einem Garten in der Nähe des Hinrichtungsplatzes. Die Zeitangabe – der zur Neige gehende Rüsttag drängt zur Eile – begründet die Wahl des Ortes (V.41 f.). Von Frauen ist im Unterschied zu Markus und Matthäus nicht die Rede. Aber die Übereinstimmungen mit Lukas sind beträchtlich: (a) Beide Evangelisten bieten nicht wie Mk  15,42 die Zeitangabe zu Beginn, sondern erst am Ende (Lk  23,54 par. Joh  19,42)297. Sie erwähnen auch nicht, dass es schon Abend geworden ist. Josef scheinen sie zu seiner Initiative nicht mehr vorrangig durch Dtn  21,22 f. motiviert zu sehen, sondern durch seine Frömmigkeit (Lk) bzw. seine Anhänglichkeit an Jesus (Joh)298 . (b) Beide lassen den Erzählzug, Pilatus habe sich des schon eingetretenen Todes Jesu beim Centurio vergewissert (Mk  15,44 f.), vermissen 299. Bei Johannes erklärt sich das von selbst: Der eingetretene Tod Jesu wurde ja bereits in der Episode vom Crurifragium festgestellt. (c) Die Qualifizierung des Grabes ist zwar nicht wörtlich, aber inhaltlich gleich. Lk  23,53: „wo noch nie jemand gelegen hatte (οὗ οὐκ ἦν οὐδεὶς οὔπω κείμενος)“; Joh  19,41: „in dem noch nie jemand beigesetzt worden war“ (ἐν ᾧ οὐδέπω οὐδεὶς ἦν τεθειμένος)300 . 293  Mt benutzt das Adjektiv καινός (auch Joh  19,41), Lk umschreibt den Sachverhalt (siehe unter [4] zu Joh). 294  Vgl. 9,22 f.; 12,42 u. ö. 295  V.39: „Nikodemus, der ihn früher einmal bei Nacht aufgesucht hatte“ (vgl. 3,1 f.). 296  Im Unterschied zur Einhüllung des Leichnams in σίνδων (= Leinentuch) bei den Synoptikern; vgl. auch Joh  11,44: κειρίαι = Leinenbinden. „Im Judentum des ersten Jahrhunderts sind beide Praktiken bezeugt“ (Zumstein, Joh  737 Anm.  259). 297  Lk  23,54b: καὶ ἡμέρα ἦν παρασκευῆς, καὶ σάββατον ἐπέφωσκεν. – Joh  19,42: ἐκεῖ οὖν διὰ τὴν παρασκευὴν τῶν Ἰουδαίων […]. 298 Bemerkenswert ist, dass beide Josef explizit in einen jüdischen Kontext stellen: Dieser stammt „aus einer Stadt der Juden“ (Lk  23,51) bzw. bleibt „aus Furcht vor den Juden“ Jesusjünger im Untergrund (Joh  19,38). 299  Auch Mt bietet ihn nicht (siehe oben). – Während Mk  15,44 f. bei Lk insgesamt keine Parallele besitzen, gilt dies für Joh  19,38d (par. Mk  15,45b) nicht: καὶ ἐπέτρεψεν ὁ Πιλᾶτος. 300  Wenn Joh noch καινόν hinzufügt, „scheint“ er „Mt  27,60 und Lk  23,53 miteinander zu verbinden“. Aber „[m]it einer literarischen Abhängigkeit des Joh von Mt ist kaum zu rechnen, sondern mit verwandten mündlichen Überlieferungen“ (Luz, Mt IV 377).

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(d) Beide Evangelisten übergehen die Notiz, dass Josef das Grab mit einem (großen) Stein verschlossen habe (Mk  15,53; Mt  27,60)301. Erst in der Ostererzählung, als der Stein „weggewälzt“ bzw. „weggenommen“ ist (Lk  24,2; Joh  20,1), findet er Erwähnung. (e) Vor Sabbatanbruch bereiten die Frauen „wohlriechende Salben und Öle“ (ἀρώματα καὶ μύρα) zu (Lk  23,56)302 , Nikodemus schafft „eine Mischung aus Myrrhe und Aloe“ (σμύρνη καὶ ἀλόη) herbei (Joh  19,39), ἀρώματα, wie es in V.40 verallgemeinernd heißt. Mk  16,1 spricht nur von ἀρώματα, die dazu dienen sollen, Jesus zu „salben“ (ἀλείφω), Matthäus lässt diesen Erzählzug ganz weg.

11.2 Sympathie für den Verstorbenen – Erfüllung der Pietätspflicht – Königsbestattung. Drei unterschiedliche Sichtweisen der Evangelien Zu Matthäus, der als einziger der vier Evangelisten Josef von Arimathäa vorbehaltlos als „Jünger Jesu“ porträtiert (27,57), wurde oben schon das Nötige gesagt. Die Fassungen der drei anderen Evangelisten verlangen nach weiterer Profilierung. „… der auch selbst das Reich Gottes erwartete“. Akzente des Markus (15,42–47) Die Erzählung ist mit dem Kontext durch die Charakterisierung des Josef und die Einblendung V.44.45a verzahnt. Die Erzählung erhält dadurch eigene Akzente. (1) Josef, „ein angesehener Ratsherr“, ist nicht nur ein toratreuer Jude, er steht auch der eschatologischen Botschaft Jesu nahe, wie der parenthetisch wirkende Relativsatz V.43c erklärt: „der auch selbst auf das Reich Gottes wartete (ὃς καὶ αὐτὸς ἦν προσδεχόμενος τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ)“. Das erinnert an Jesu Wort: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk  12,34), das er an einen Schriftgelehrten richtet, der ihm zwar theologisch nahesteht, aber nicht in seine Nachfolge eintritt (vgl. Mk  10,17–22). Auch Josef ist kein „Anhänger Jesu“303, doch Markus betont seine Verwandtschaft im Denken 304. Nicht „alle“ (Mk  14,64) im Synedrion haben Jesus verurteilt. (2) Gekreuzigte starben meist einen qualvollen Tod, der sich hinziehen konnte. Mk  15,34.37 zufolge starb Jesus schon nach wenigen Stunden. Darüber verwundert, lässt Pilatus den Centurio herbeirufen, um sich den Tod bestätigen zu lassen. Erst danach gibt er die Leiche zur Bestattung frei. V.44 f. verdeutlichen diesen Geschehenszusammenhang305 , intendieren darüber hinaus aber wohl auch eine theologische Aussage: Die anstehende Verkündigung der Auferweckung (Mk  16,6) setzt 301  D, Minuskeln und ein Teil der syr. Übersetzung ergänzen die Notiz nach Lk  23,53; D fügt noch an: „[…] einen Stein, den mit Mühe 20 (Männer) wälzten“. 302 EÜ; Wolter, Lk 767: „Was Lukas sich unter ἀρώματα vorgestellt hat, wird man nicht genauer sagen können, als dass es sich um duftende Substanzen gehandelt hat, die im Unterschied zum flüssigen μύρον […] offenbar trocken waren und bei der Salbung dem Öl beigegeben wurden […]“. 303 So Pesch, Mk  II 513. 304  Broer, Urgemeinde 159: Über die Rede von der βασιλεία τοῦ θεοῦ wird Josef „mit der Botschaft Jesu in Verbindung gebracht“. 305  Der Präfekt konnte die Leiche nur nach Bestätigung des eingetretenen Todes der Gekreuzigten freigeben (siehe oben S. 448 Anm. 139 und S. 454 Anm. 163); an sich wäre es für den Erzählverlauf nicht notwendig gewesen, dieses Erzählmoment auszuführen, denn der Leser weiß ja aus

11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.)

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voraus, dass Jesus wirklich gestorben ist306 . Im Umfeld des Markus gab es vielleicht Zweifel daran, auf die V.44 apologetisch reagiert307. Oder V.44 unterstreicht (wie schon die Kreuzigungsszene): Heil und Rettung eröffnen sich allein durch den Tod hindurch – der Glaube hat dies auszuhalten! Wenn die Erzählung damit endet, dass Josef „einen Stein vor den Eingang des Grabes wälzte“ (V.46), dann taucht aus mkn. Sicht bereits die Frage auf: „Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?“ (Mk  16,3)308 . Menschen voller Pietät. Akzente des Lukas (23,50–56) Lukas führt Josef erzähltechnisch perfekt ein: „Und siehe, da war ein Mann namens Josef, ein Ratsherr, ein guter und gerechter Mann (ἀνὴρ ἀγαθὸς καὶ δίκαιος)“. Der aus Markus übernommenen Bemerkung, dass Josef das Reich Gottes erwartete309, fügt er zum Erweis von dessen „ethischer Aristie“310 hinzu: Dem „Beschluss“ (βουλή) und „Vorgehen“ (πράξις) des Hohen Rats hätte er nicht zugestimmt. Die Bestattungspflicht, antike Grundnorm 311, nimmt er ernst und kümmert sich um eine ordentliche Bestattung des Leichnams Jesu. Für Lukas ist Josef deswegen noch kein Anhänger Jesu, aber ein frommer Jude, der gemäß den Idealen der Tora lebt. Auch die Frauen, die Jesus seit Galiläa treu sind, erfüllen ihre Pietätspflicht, wenn sie anschließend wohlriechende Salben vorbereiten, um Jesus zu ehren. Die Reverenz zweier Krypto-Jünger vor dem messianischen König. Die Darstellung des Johannes (19,38–42) Die joh. Fassung ist merkwürdig gegenläufig. Sie erzählt von einer königlichen Bestattung, unterlegt das aber mit einem distanzierten, vielleicht sogar ironischen Ton. Mk  15,37, dass Jesus bereits verstorben ist. Wenn es dennoch ausgeführt wird, deutet dies auf eine tiefere theologische Absicht von V.44 f. hin. 306  Mk  8 ,31; 9,31 (ἀποκτανθεὶς μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστήσεται); 10,34; 12,25.26. 307  Lohmeyer, Mk 350: „Zweimal ist die Frage des Pilatus berichtet: ‚Ist er schon tot?‘ Schimmert hier das apologetische Interesse an der Tatsächlichkeit dieses Todes durch?“; Campenhausen, Ablauf 36: „Jesus war wirklich tot, d. h. er wurde nicht vorzeitig, etwa als Scheintoter, vom Kreuz heruntergeholt, und das spätere Verschwinden seines Leibes lässt sich von hier aus nicht erklären. Wir wissen freilich nichts davon, dass ein derartiger Gedanke sich schon in so früher Zeit jemals gemeldet hätte. Aber angesichts des schnellen Verscheidens Jesu ist es nicht ausgeschlossen, dass er trotzdem geäußert wurde“. 308  Bultmann, Geschichte 296: Dass die Erzählung „im Hinblick auf die Ostergeschichte entworfen ist, wird man schwerlich zeigen können; man könnte es noch am ersten für die Angabe V.46, dass ein Stein vor den Grabeseingang gewälzt wurde, vermuten, doch kann das auch einfach ein schildernder Zug sein“. Den Übergang zur Ostergeschichte gewährleistet auch die Notiz V.47 (siehe oben 11.1 unter [1]). 309  Wie der fromme Simeon (Lk  2 ,25) und „alle“ anderen, „die die Befreiung Jerusalems erwarten“ (Lk  2,38). 310  ἀγαθὸς καὶ δίκαιος ist „ein eingeführtes Begriffspaar“, „das seit alters gebraucht wird, um ethische Aristie in politischem Kontext zu umschreiben“ (Wolter, Lk 765, mit Belegen). 311  Vgl. die Antigone des Sophokles wie Tob  1,17 f.; 2,3–8, oder Jos, Bell  4,317: „die Juden tragen so große Fürsorge für das Begräbnis, dass sie sogar die zum Kreuzestod Verurteilten vor Sonnenuntergang herunternehmen (καθελεῖν) und begraben“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Könige werden mit wohlriechenden Kräutern und Salben begraben 312 . Nach Ps  45,9 duften schon die Gewänder des gerade gesalbten Königs nach Myrrhe und Aloe313. Die gewaltige Menge, die Nikodemus davon herbeischafft, „etwa 100 Pfund“ – nach unseren Maßen rund 65,5 Pfund314 – ist wahrlich eines Königs würdig315; ebenso das „neue Grab, in dem noch niemand gelegen hat“ (V.41)316 . Schließlich passt das Garten-Motiv zum königlichen Ambiente: Wie orientalische Königspaläste über Gartenanlagen verfügen 317, so kennt auch Jerusalem einen königlichen Garten (2Kön  25,4; Jer  39,4; 52,7; Esdr II (= Neh) 3,16 [ἕως κήπου τάφου Δαυιδ]318; 2Kön  21,18.26). Gelegentlich wird in ihm der verstorbene König begraben (2Kön  21,18.26). Distanz lässt der Erzähler gegenüber den beiden Protagonisten erkennen. Josef sei ein „Krypto-Jünger“, der sich „aus Furcht vor den Juden“ (V.38; vgl. 20,19) nicht offen zu Jesus bekennt. Zu Nikodemus erinnert er an dessen heimlichen Besuch bei Jesus in der Nacht (V.39; vgl. 3,1 f.). Dass beide Männer jetzt „mutig“ hervorträten 319, sagt er gerade nicht. Vielmehr betont er, die Art und Weise, wie sie Jesus bestatten, entspräche der Sitte „der Juden“ (V.40). Damit rückt er sie in deren Nähe, wie auch der Hinweis auf den „Rüsttag der Juden“ (παρασκευὴ τῶν Ἰουδαίων) Distanz signalisiert 320 . Zu berücksichtigen ist auch, dass die Erzählung von der königlichen Bestattung auf die symbolisch vertiefte Darstellung des Todes Jesu und der „Übergabe“ seines Geistes im Sterben (V.30) folgt. Sie stellt nicht „die schon mit seiner ‚Erhöhung‘ 312  2Chr  16,14LXX: „Sie begruben ihn (sc. König Asa) in dem Grab, das er für sich in der Stadt Davids hatte aushauen lassen. Und sie betteten ihn auf ein Lager und füllten es mit wohlriechenden Kräutern (ἔπλησαν ἀρωμάτων) und (verschiedenen) Sorten von Salben (γένη μύρων) der Salbenhersteller. Und sie bereiteten ihm ein sehr großes Begräbnis“. W. Bauer, Wörterbuch 80: Nach Ps-Callisth 3,34,4 werden ἀλόη und μύρρα (sic!) bei der Einbalsamierung der Leiche Alexanders verwendet. 313 Ps   45,9: „Von Myrrhe, Aloe und Kassia duften alle deine Gewänder“ (LXX: σμύρνα καὶ στακτὴ καὶ κασία ἀπὸ τῶν ἱματίων σου). 314  Ein römisches Pfund = 327,25 Gramm. 315  Jos, Ant  17,199, zufolge trugen beim Begräbnis Herodes des Großen 500 Diener Spezereien (vgl. Bell 1,673: ἀρωματα-φόροι). Str.-Bill. II 584 verweist auf eine rabbinische Geschichte, nach der bei der Bestattung des Rabbi Gamaliël dem Älteren mehr als 80 Minen (Spezereien) verbrannt worden seien, und dies unter Verweis auf Jer  34,5 damit begründet wurde, dass er doch viel besser sei als hundert Könige. – Brown, Joh II 960; anders Schnackenburg, Joh  III 349: lediglich „ein außergewöhnlicher Verweis der Verehrung“; „das spezielle Königsmotiv (vgl. 19,19) klingt nicht an“. 316  Schnackenburg, Joh  III 351, hält „ein kultisches Moment“ in der Betonung der „Neuheit und Unberührtheit“ des Grabes für „unverkennbar“. Aus ihm lasse sich „schließen, dass sich das Grab Jesu zeitig hoher Verehrung durch die Christen erfreute“ – ein gewagter Schluss aus einem legendarischen Motiv! 317  Keel, Hohelied 158–160; vgl. auch Koh  2 ,5 f. 318  Brown, Joh II 960: „From the LXX of Neh  III  16 we learn that the popular tomb of David (see Acts  II  29) was in a garden“. 319  Schnackenburg, Joh III 346, verkennt die Rolle der „Krypto-Christen“ im Evangelium, wenn er meint: die beiden würden „die Jesusgemeinde, die ihrem Herrn hohe Verehrung erweist“, „repräsentieren“. 320  Vgl. die Rede von den Festen „der Juden“ in 2,13; 5,1 u. ö.

11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.)

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beginnende Verherrlichung in helles Licht“321, sondern porträtiert zwei Männer, die mit ihrer Aktion „zu spät“ oder noch „zu früh“ kommen 322: Ihr „Zeichen von Ehrfurcht und Liebe“ richtet sich „auf den toten Leib Jesu“323, sozusagen auf das falsche „Objekt“, denn der Gestorbene ist allein als der zum Vater Erhöhte Quelle lebendigen Geistes (vgl. 20,17.22; vgl. 19,34)324. Die überlieferte Geschichte wird im Endtext ironisch gebrochen: Das Königtum Jesu ist kein Königtum dieser Erde. Wer ihn unter Herbeischaffung von beinahe 33 Kilo Spezereien königlich bestattet, bleibt trotz guter Absicht überholtem Denken verhaftet. Der Evangelist karikiert „Krypto-Jünger“, denen er im Buch auch sonst keine besondere Wertschätzung entgegen zu bringen vermag325. 11.3 Über die vorkanonischen Fassungen zur PEG : Ein ehrenvolles Begräbnis (1) Im Anschluss an die Beschreibung der joh. Fassung sei zunächst deren Vorform in den Blick genommen. Einzusetzen ist bei der beschriebenen inneren Gegenläufigkeit der Geschichte. Am einfachsten erklärt sich diese als Ergebnis der Überlagerung zweier Sinnschichten: Die zugrundeliegende Fassung der PEjoh erzählt von einem königlichen Begräbnis. Darüber liegen die Kommentare des Evangelisten: Josef stempelt er zum Krypto-Jünger, zu Nikodemus erinnert er an dessen nächt­ lichen Besuch bei Jesus. Art und Weise des Begräbnisses wie ihr Zeitpunkt erweisen die beiden Bestatter als dem Bereich der „Juden“ zugehörig. Auch die Relativierung der Geschichte durch die ihr vorgeordnete Episode vom Crurifragium trägt zu ihrer ironischen Brechung bei. Fraglich ist, wer die Figur des Nikodemus nachgetragen hat. „Der Obere der Juden“ (3,1: ὁ ἄρχων τῶν Ἰουδαίων) begegnet gleich drei Mal im Buch: gegen Anfang, in der Mitte und gegen Ende. Das spricht für den Evangelisten 326 . Die Angabe, dass er etwa 100 Pfund Myrrhe und Aloe herbeischafft, dürfte schon in der PEjoh gestanden haben, dort aber wohl auf Josef bezogen, der „diese Gabe mitbrachte“327. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die oben notierte Beobachtung: Nur Lukas und Johannes bieten einen Doppelausdruck, Lk  23,56 „wohlriechende Salben und Myrrhe (ἀρώματα καὶ μύρα)“ in Bezug auf die Frauen und Joh  19,39: „Myrrhe und Aloe“ (σμύρνη καὶ ἀλόη) in Bezug auf Nikodemus bzw. Josef328 . Wahr321 

Schnackenburg, Joh III 346. Weidemann, Tod 403. 323 Ebd. 324  Deshalb streicht der Evangelist auch die Frauenliste, die er in der PEjoh gelesen haben dürfte, und bietet sie nur einmal: theologisch pointiert vor dem Tod Jesu; nach seinem Tod lässt er nur Maria Magdalena agieren. 325 Vgl. Theobald, Zeugnis. 326  Bultmann, Joh 517; Schnackenburg, Joh III 347 f.; Becker, Joh II 710 f.; Dietzfel­ binger, Joh II 316; Reinbold, Bericht 175; Weidemann, Tod 420; anders Schleritt, Passionsbericht 458–462. 327  Schnackenburg, Joh III 349. Joh  19,39c dürfte in der PEjoh mit V.38 verbunden gewesen sein. 328  Der lkn./joh. Übereinstimmung ist Indiz dafür, dass sich dieser Zug schon in der PElk/joh und dann auch in der PEjoh stand, allerdings an anderem Ort (vgl. die folgende Anm.) 322 

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scheinlich hat die PEjoh das ursprünglich an der Figur der Frauen haftende Salbungsmotiv mit Josef verbunden, um es in der Szene von der Bestattung Jesu zum Anlass zu nehmen, diese königlich auszugestalten 329. Die Einsicht in die ungefähre Gestalt der PEjoh hat beträchtliche Konsequenzen. Markus spricht von irgendeinem Grab, ohne zu sagen, wo es liegt 330 . Der Zeitangabe (Mk  15,42: es wurde schon Abend am Rüsttag) lässt sich nur entnehmen, dass der Erzähler sich das Grab nicht allzu weit vom Kreuzigungsort entfernt vorstellt. Nur die PEjoh wird genauer, wenn sie erklärt, der „Garten“, in dem das Grab sich befände, sei „nahe“ am „Ort“ der Kreuzigung gelegen (Joh  19,41 f.). Dieser beschauliche Platz gehört aber zum königlichen Ambiente der Erzählung in der PEjoh. Die älteste PE weiß nicht, wo das Grab Jesu lag. Sie interessiert sich auch nicht für seine Lage331. (2) Markus bewahrt wohl die älteste Fassung der Überlieferung auf, nicht ohne sie redaktionell in den Makrokontext seiner Passionserzählung einzubinden 332: (a) „Der einleitende Satz in [V.]42 f. ist überladen“333. Auffällig ist zunächst die doppelte Zeitangabe samt Erläuterung V.42. Mit dem eröffnenden Genitivus absolutus καὶ ἤδη ὀψίας γενομένης („und als es schon Abend geworden war“)334 fügt der Evangelist die Erzählung in die Chronologie des Todestages Jesu ein, weshalb die Angabe auf ihn zurückgeht 335. Wird sie eingeklammert, tritt der indirekte Verweis auf Dtn  21,23a.b, den die zweite Angabe impliziert, als Begründung der Bestattungsinitiative des Josef deutlicher hervor336: „und weil Rüsttag war (καὶ … ἐπεὶ ἦν παρασκευή)“. Damit begann die vorgegebene Überlieferung337. 329  Möglicherweise war die Frauenliste schon in der PElk/joh um das Erzählmoment der Zubereitung der „Salben und Myrrhe“ vor Anbruch des Sabbats (Lk  23,55 f.) erweitert worden. Von hierher wäre der Doppelausdruck dann in die Bestattungsepisode der PEjoh gewandert. Die Tagesangabe stand in der PElk/joh gewiss am Ende (Lk  23,54 par. Joh  19,42), wo sie dem dritten Evangelisten als Scharnier zur zweiten von ihm stilistisch überformten Episode dient. Als alternative Erklärung bietet sich an: Das Erzählmoment der Zubereitung der „Salben und Öle“ war (analog zu Markus) ursprünglich im Eingang der Ostererzählung der PElk/joh beheimatet: Lk  24,1 (in Anknüpfung an 23,56): φέρουσαι ἃ ἡτοίμασαν ἀρώματα; damit vgl. Joh  19,39: φέρων μίγμα σμύρνης καὶ ἀλόης. 330  Daube, Disgrace 624: „According to Mark, Jesus was buried in ‚a sepulchre‘ – which may mean any grave, even a public one for criminals; it clearly does not mean the grave of Jesus’s ­family“. – Söding, Grab 70, nivelliert die Differenz zwischen Mk und Joh: „das Felsengrab gehört zur Schädelstätte Golgatha (Mk  13,46 par.; Joh  19,41 f.)“. 331  Interesse an einer Lokalisierung besteht auch nicht bei den Gräbern des Täufers (Mk  6 ,29) oder des Stephanus (Apg  8 ,2). Vgl. des weiteren unten III.  2.8. 332 Da Broer, Urgemeinde 79–137, die Erzählung als Einzelüberlieferung behandelt, muss er alle kontextbedingten Elemente, auch den Erzählzug vom Grabverschluss durch einen Stein, auf das Konto des Evangelisten buchen. 333 J. Gnilka, Mk II 331. 334  ὀψίας γενομένης auch in Mk  1,32; 4,35; 6,47; 14,17. 335 Ebd.; Broer, Urgemeinde 152; Sommer, Passionsgeschichte 218. – L. Schenke, Christus 79: „Da V.42a wohl die Stundenangaben von V.25.33.34a fortsetzt und abschließt, stammt ‚als es schon spät geworden war‘ […] von der gleichen Hand wie diese“ – nach der hier vorgelegten Analyse von Mk (siehe oben Exkurs 9: Vom Sinn des Stunden-Schemas bei Markus). Die Wendung hat auch bei Joh keine Parallele. 336  Siehe oben II.  11.1 unter (1). 337 Der Satzteil begegnet mit identischem Wortlaut auch im joh. Überlieferungszweig, und

11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.)

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Die Tagesangabe παρασκευή (= „Vorbereitung“) war Lesern, die mit jüdischer Terminologie nicht vertraut waren, fremd. Markus erläutert sie338 , indem er hinzufügt: „das heißt: Vorsabbat (ὅ ἐστιν προσάββατον)“339. Auch ohne diesen Zusatz wird παρασκευή gemäß jüdischem und sonstigem ntl. Sprachgebrauch in der vorgegebenen Überlieferung den „Rüsttag“ nicht des Paschafestes, sondern des Sabbats bezeichnet haben 340 . Παρασκευή ist bis in den späteren christlichen Sprachgebrauch hinein terminus technicus für den Vortag des Sabbats geblieben 341.

Josef wird gleich dreifach vorgestellt: „der aus Arimathäa (ὁ ἀπὸ Ἀριμαθαίας)“342 – „ein vornehmer Ratsherr (εὐσχήμων βουλευτής)“ – „der auch selbst auf das Reich Gottes wartete (ὃς καὶ αὐτὸς ἦν προσδεχόμενος τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ)“. Klimax ist die dritte Aussage, die Josephs eschatologische Erwartung derjenigen Jesu und seiner Anhänger zur Seite stellt. Da sie mit der Wendung βασιλεία τοῦ θεοῦ das Leitwort des Evangeliums aufgreift, wird sie auf Markus zurückgehen 343. (b) Verdankt sich der erste Auftritt des Centurio V.39 mkn. Redaktionsarbeit, dann notwendigerweise auch der zweite V.44.45a 344. Markus dient er dazu, den zwar kurz zuvor in der Episode vom Crurifragium (Joh  19,31). Mk bezieht die Angabe auf den Sabbat, Joh bemerkt, dieser Sabbat sei „ein großer“ (= Pascha) gewesen. 338 J. Gnilka, Mk 331 (für sein „heidenchristliches Publikum“); auch L. Schenke, Christus 79, weist die Erläuterung Mk zu. 339  Jdt  8 ,6 (προσάββατον); Ps  93,1LXX (εἰς τὴν ἡμέραν τοῦ προσαββάτου); 2Makk  8 ,26 (ἦν γὰρ ἡ πρὸ τοῦ σαββάτου); Jos, Ant  16,255 (ἡ πρὸ τοῦ σαββάτου). 340  παρασκευή als t.t. für den Tag der „Vorbereitung“ des Sabbats kommt in der LXX nicht vor, bei Josephus in Ant  16,163 („am Sabbat oder dem ihm vorhergehenden Vorbereitungstag [τῇ πρὸ αὐτῆς παρασκευῇ] von der neunten Stunde an“), im NT nur in den Passionserzählungen: Mt  27,62; Mk  15,42; Lk  23,54; Joh  19,31.42. Überall ist der Tag vor dem Sabbat gemeint (wohl äquivalent mit ‫[ ערב שבת‬Str.-Bill. I 1052], nur nicht in Joh  19,14 (παρασκευὴ τοῦ πάσχα), einer sekundären Bildung auf der Basis von 19,31. – Theissen, Lokalkolorit 178: „In [Mk]  15,42 wird […] das Begräbnis Jesu auf einen ‚Rüsttag‘ datiert. Durch einen Relativsatz ist daraus der Rüsttag zum Sabbat geworden. Ursprünglich dürfte es der Rüsttag zum Passa gewesen sein (vgl. Joh  19,42)“. Doch der Verweis auf Joh  19,42 ist fehl am Platz; παρασκευή ist wie in 19,31 auf den Sabbat bezogen, der Bezug zum Pascha-Fest ist dort erst nachträglich hergestellt worden. 341 E. Lohse, Art. σάββατον κτλ. 32 f. („Die jüdische Woche in der christlichen Kirche“): παρασκευή (Did  8 ,1; ConstAp  5,14; ClemAl, Strom  7,12,75 etc.) bleibt (wie προσάββατον: Epiph, Haer  70,12,3; 75,6,2; etc.) als Bezeichnung des Freitags geläufig. 342  Eine Reihe von Handschriften übergehen das ὁ und legen nahe, Josef sei „aus Arimathäa gekommen (ἐλθὼν ἀπὸ Ἀριμαθαίας)“; ἐλθών stößt sich mit dem späteren εἰσῆλθεν und wird im Zug der mkn. Überarbeitung von V.41 f. in den Text geraten sein (vgl. Broer, Urgemeinde 158; L. Schenke, Christus 80; J. Gnilka, Mk II 331), möglicherweise auch das Partizip τολμήσας, das Verb redaktionell auch in 12,34 (J. Gnilka). 343  Broer, Urgemeinde 159–161. 344  Mit einem Einschub von V.44 f. wird seit Bultmann, Geschichte 296, gerechnet: Broer, Urgemeinde 165–167; Schenk, Passionsbericht 256 f. (mit Verweis auf gehäufte mkn. Vorzugswörter); J. Gnilka, Mk II 331; Lührmann, Mk 267; Reinbold, Bericht 167.172 f.; A.Y. Collins, Mk 778. J. Gnilka, Mk II 331, belässt V.45b zurecht der Überlieferung; ebenso Lührmann: „Dass Pilatus die Leiche freigibt (vgl. Joh  19,38b), stand dagegen in der Mk vorgegebenen Passionsgeschichte“ (Mk 267). – Der Befund, dass Mt und Lk die Verse „wohl noch nicht bei Mk gelesen haben“ (Bultmann, Geschichte 296), bleibt ambivalent: Beide konnten unabhängig voneinander auf den Gedanken kommen, die Erzählung zu straffen (Broer, Urgemeinde 56 f.); Lk fand den Erzählzug wohl auch nicht in der PElk/joh vor. – Möglicherweise könnte gegen die These, V.44.45a seien sekundär, eingewandt werden, erst sie hätten die Bildung der Episode Joh  19,31–37

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Eintritt des Todes Jesu zu unterstreichen 345 , aber auch an das Bekenntnis des Centurio zu erinnern, das dieser „als Reaktion auf den Tod Jesu gesprochen hatte“346 . (3) Nach Abzug dieser Elemente347 zeigt sich die vormkn. Überlieferung, die mit der Fassung der Erzählung in der PEG mehr oder weniger identisch sein dürfte. Die Erzählzüge, die PEjoh und PElk/joh über diese hinaus bieten, sind allesamt sekundäre Weiterentwicklungen.

Markus

[…] Da Rüsttag war […], […] ging Josef, der aus Arimathäa, ein angesehener Ratsherr […], hinein zu Pilatus und erbat sich den Leib Jesu. Pilatus aber […] überließ Josef den Leichnam 348 . Und er kaufte Leinen, nahm ihn herab, wickelte ihn in das Leinen und legte ihn in ein Grab, das aus dem Felsen gehauen war, und wälzte einen Stein vor den Eingang des Grabes. Maria, die Magdalenerin, und Maria, die des Joses, sahen, wohin er gelegt worden war.

15,42b 23,54 15,43a 23,50d 15,43b 23,50a 15,43d 23,52a 15,43e 23,52b 15,45b 15,46a 15,46b 23,53a 15,46c 23,53b 15,46d 23,53c 15,46e 15,46f 15,47a 23,55 15,47b

Lukas

Johannes 19,31a/42a 19,38a 19,38a 19,38d 19,40a 19,40b 19,42c

Die Geschichte ist denkbar einfach 349. Sie erzählt von der amtlichen Freigabe des Leichnams Jesu, seiner Abnahme vom Kreuz und seiner Bestattung auf eine Weise, die nichts Außergewöhnliches enthält: Einhüllung des Leichnams in Leinen 350 und Ablage in einem aus Felsen gehauenen Grab, wie es typisch für Jerusalem ist351. Dessen Verschluss mit einem Rollstein scheint einen Endpunkt zu setzen, kündigt aber den Epilog der PEG an. Details zur Grabanlage zu erzählen, schien unnötig352 . (Grundbestand = PEjoh) veranlasst. Aber dass Leichname von Gekreuzigten nach Feststellung ihres Todes ausnahmsweise zur Bestattung freigegeben wurden, ist historisch belegte Praxis (siehe unten III.  2.8), so dass beide Passagen in deren Kenntnis auch unabhängig voneinander gebildet worden sein könnten. 345  Zu damit möglicherweise verbundenen apologetischen Interessen siehe oben 11.2 zum MkText unter (2). 346  Lührmann, Mk 267. 347  Der Schluss der Erzählung mit Hinweis auf den Stein wie auf die Zeugenschaft der Frauen für den Ort der Grablege gehört (gegen Broer, Urgemeinde 170 f.137, mit L. Schenke, Christus 82 f.), zur ursprünglichen Fassung der Erzählung; zur Frauenliste siehe oben I.  1.4.2 unter (1). 348 Abweichend von Mk   15,43 (τὸ σῶμα τοῦ Ἰησοῦ) heißt es in V.45b „juridisch formuliert“ (J.  Gnilka, Mk II 331) τὸ πτῶμα. 349  Schon dies spricht gegen die Annahme, hinter der Erzählung wie auch Mk  16,1–8 stünde eine Verehrung des Grabes Jesu durch die Jerusalemer Gemeinde (L. Schenke, Auferstehungsverkündigung 86–93). Anders verhält es sich bei den VitProph: Siehe oben die Einleitung von I.  1.4.2. 350  Schaller, Testament 372 Anm.  11 (zu TestHiob  52,11): „Bekleidung der Leiche gehörte zum Brauch, vgl. Mk  15,46 parr.; Joh  11,44; 19,40, weiteres bei Str.-Bill. I 1048 […]“. 351  Vgl. die von Biddle, Tomb 82, angegebene reiche archäologische Literatur. 352  In der Regel bot eine Grabanlage Platz für die Ablage mehrerer Leichname. Stellte der Er-

11. Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz und sein Begräbnis (Mk  15,42–46 par.)

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Bedeutsam ist, wie schon beobachtet, der Hinweis auf den „Rüsttag“ des Sabbats; er signalisiert, was Josef zu seinem Handeln motiviert: die Weisung Dtn  21,22 f., die grundsätzlich und erst recht vor einem Feiertag gilt. Josephus kommentiert sie folgendermaßen: Begraben soll man auch die Feinde, und niemand soll nach erlittener Strafe unbestattet (ἄμοιρος γῆς)353 liegen bleiben 354.

Josef entspricht dem, wenn er Jesus vor dem Entzug der Totenehrung bewahrt und ihm zu einem ordentlichen Begräbnis verhilft. Ein ehrloses Begräbnis am Ort für Verbrecher kam der Erzählung zufolge nicht in Frage355. Ihr geht es darum, dass Jesus der Tora gemäß bestattet wurde, ein Recht, das ihm wie anderen Märtyrern und Frommen nicht entzogen wurde. Wenn mit Josef aus Arimathäa ausgerechnet ein Mitglied des Synedrions für eine ordentliche Bestattung Jesu sorgt, könnte das eine Spitze gegen die Verwandtschaft356 oder Schülerschaft Jesu sein 357. Erst Johannes stellt mit der Mutter Jesu zähler sich vor, dass neben dem Leichnam Jesu auch andere Tote in der Anlage Aufnahme fanden? Das scheint er nicht in Betracht zu ziehen, auch wenn es erst von der PElk/joh („ein Grab, in dem noch niemand bestattet worden war“ etc.) und Mt (ein „neues“ Grab, das Josef für sich hatte aus dem Felsen hauen lassen) explizit ausgeschlossen wird. Becker, Auferstehung 246 f.: Es sei „[e] indeutig, dass die Passionserzählung und alle Evangelien einmütig annehmen, das Grab, das Josef mit Jesus belegte, […] ein Einzelgrab (Mk  15,46; 16,1 ff.)“ war. 353  Anspielung auf Soph, Ai  1326; Soph, Ant  1071. 354  Ant  4,265; vgl. auch Jos, Ant  4,202: „Wer Gott lästert (ὁ δὲ βλασφημήσας θεόν), soll gesteinigt, einen Tag lang aufgehängt und dann ehrlos und schimpflich begraben werden“. – Bell  4,317 unter Bezug auf die ermordeten „hohen Priester“ Ananos und Jesus während des ersten jüdischen Krieges: „Sie [die Mörder] trieben ihren Frevel damit auf die Spitze, dass sie die Leichen unbestattet hinauswarfen, obwohl doch die Juden für die Bestattung der Toten so sehr besorgt sind, dass sie sogar die Leichen der zum Kreuzestod Verurteilten vor Sonnenuntergang herunternehmen und bestatten“. 355  MSan  6 ,7c: „Man begrub sie [die Verurteilten] aber nicht in den Gräbern ihrer Väter, sondern zwei Begräbnisplätze waren seitens des Gerichtshofes eingerichtet, der eine für die Gesteinigten und Verbrannten, der andere für die mittels Schwert Hingerichteten und Erdrosselten“ (Gießener Mischna) (dazu Berkowitz, Execution 67 f.73 f.); Jos, Ant  4,202, spricht vom „ehrlosen und schimpflichen“ (ἀτίμως καὶ ἀφανῶς θαπτέσθω) Begräbnis des Gotteslästerers (siehe die Anm. zuvor). 356  Philo, Flacc  83: „Ich habe auch schon von solchen gehört, die gekreuzigt wurden, die man aber, weil solche Feiertage bevorstanden, vom Kreuz abnahm und den Verwandten gab, damit sie ein würdiges Begräbnis erhielten, wie es Brauch ist. Denn auch die Toten sollten vom Geburtstag des Kaisers einen Vorteil haben und zugleich die Heiligkeit des Festes gewahrt werden“; Dig  48,24,1 (Ulp 9: De officiis Proconsulis): „Die Leichname (corpora) derer, die zum Tode verurteilt worden sind, sollten den Angehörigen nicht verweigert werden; der göttliche Augustus schreibt im 10. Buch über sein Leben, dass er es so gehandhabt habe. Heute (hodie) dagegen werden die Leichname von Kapitalverbrechern nur dann begraben, wenn dies beantragt und gestattet worden ist. Manchmal wird dies nicht gestattet, insbesondere wenn es sich um Täter von Majestätsverbrechen handelt“. Dazu Paulus, Prozess 32: „Ulpian schreibt knapp 200 Jahre nach dem Prozess gegen Jesu(s), und er hebt ausdrücklich den Gegensatz zwischen damals und heute (hodie) hervor. Erst zu seiner Zeit hat man die Ausnahme bei maiestas-Verbrechen gemacht“. 357  Anders beim Martyrium des Täufers: „Als die Jünger des Johannes das hörten, kamen sie, holten seinen Leichnam und legten ihn in ein Grab“ (Mk 6,29). Wer die „frommen Männer“ sind, die Stephanus bestatten (Apg  8 ,2), wird nicht gesagt. In der vorgegebenen Martyriumserzählung

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

und seiner Tante Verwandte unter das Kreuz. Vielleicht will die Erzählung mit Josef aus Arimathäa als Bestatter die Verlassenheit Jesu bis in sein Begräbnis hinein zur Darstellung bringen 358 .

werden es „seine Anhänger gewesen sein. Der engere Kontext hingegen (vgl. V.1b.c) lässt an (noch) außenstehende Juden (vgl. 2,5) denken“ (G. Schneider, Apg I 479). 358  Eckey, Mk 232 f.; Donahue/Harrington, Mk 200.

D. Österlicher Epilog 12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer (und der abendlichen Erscheinung Jesu vor den Seinen) „am ersten Tag der Woche“ (Mk  16,1–8 par.) Bei Markus beschließt die Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer das Evangelium (Nr.  1: Mk  16,1–8 parr.), für die anderen Evangelisten ist sie lediglich der Auftakt zu den von ihnen variantenreich erzählten Osterereignissen1. Ohne Zweifel gehört sie zum Urgestein der PEG. Für die Erklärung der Genese der vorevangeliaren Stufen sind indes noch die Elemente von Bedeutung, die jeweils zwei Evangelien unabhängig voneinander bezeugen: die Notizen vom Bericht, den die Frauen den Jüngern erstatten (Nr.  2: Lk  24,10 f. par. Joh  20,2; vgl. Mt  28,8), von der Grabvisite Petri (Nr.  3: Lk  24,12 par. Joh  20,3–10) sowie die beiden miteinander konkurrierenden Erzählungen von der Ersterscheinung Jesu „am Abend des ersten Wochentags“ vor den Jüngern (Nr.  7: Lk  24,36–43 par. Joh  20,19–23) und vor der Magdalenerin bzw. den beiden Marien (Nr.  4: Joh  20,14–18 par. Mt  28,9 f.). Die ­übrigen überschüssigen Geschichten entstammen der redaktionellen Arbeit des ­je­weiligen Evangelisten und haben, unbeschadet der Möglichkeit, dass auch sie ­Traditionsgut enthalten, für die Rekonstruktion der PEG keine Bedeutung. 12.1 Die Varianten der Szene und ihre Quellen (1) Die Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer ist bei Markus mit der vorangehenden Begräbnisszene 15,42–46 durch die Übergangsnotiz Mk  16,1 (= transitio) verknüpft: „Und als der Sabbat vorüber war, kauften Maria von Magdala, Maria (die Mutter) des Jakobus und Salome wohlriechende Salben, um ihn [sc. den Leichnam: 15,45] zu salben“. Eine erneute Zeitangabe („sehr früh am ersten Tag der Woche“) leitet über zum Corpus der Geschichte, die aus Exposition (V.2–4), Hauptteil (V.5–7) und Schluss (V.8) besteht. Bewegungsverben mit den Frauen als Subjekt markieren jeweils den Einsatz der drei Teile: „sie kommen zum Grab“ (V.2b) – „sie gingen hinein in das Grab“ (V.5) – „sie kamen hinaus und flohen weg vom Grab“ (V.8a). Die Exposition lässt das Thema anklingen. Der innere Monolog der Frauen: „Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?“ kommt zwar reichlich spät, hat aber erzählstrategisch eine wichtige Funktion: Er bereitet den Leser auf das göttliche Wunder der Öffnung des Totenreichs vor, das in V.4 angedeutet und 1 

Siehe die Tabelle „(Österlicher) Epilog“ oben in I.  1.1.

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in V.5–7 durch die Botschaft des „jungen Mannes“ bestätigt wird 2 . Das Ambiente der frühmorgendlichen Stunde („sehr früh“; „als die Sonne aufging“) besitzt symbolischen Sinn: Gott rettet am Morgen, ein gängiges biblisches Motiv3. Der Hauptteil der Erzählung, die Rede des himmlischen Boten, dient der Deutung des Geschehens, näherhin des vorgestellten Raumes der Grabanlage: Der „Ort, wohin sie ihn legten“, ist leer. Der himmlische Bote weist die Frauen, die den Ort der Ablage Jesu kennen (Mk  15,47), auf die Stelle hin und identifiziert sie, was bei einer derartigen Grabhöhle mit mehreren Ablagen oder Nischen unabdingbar ist4. So wird sichergestellt, dass es zu keiner „Verwechslung mit anderen Ablagen“ kommt, „denn leere Ablagen gab es in solchen Grabanlagen natürlich immer“5. Der Schluss der Erzählung ist abrupt6 . Konfrontiert mit der Kunde von der Auferweckung Jesu verlassen die Frauen voll „Zittern und Entsetzen“ fluchtartig das Grab (V.8a.b)7. Ihre angstbesetzte Reaktion spiegelt das mysterium tremen­dum des Einbruchs des Göttlichen in das Reich des Todes wider. Sie kommen dem Auftrag des himmlischen Boten, den Jüngern und Petrus Kunde zu bringen, nicht nach: „Sie erzählten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich“. (2) Matthäus (28,1–10) rahmt die Geschichte neu: Vorweg erzählt er, wie „die hohen Priester und Pharisäer“ am Sabbat (!) bei Pilatus die Bewachung des Grabes erwirken und es versiegeln (27,62–66), schließlich wie die Wächter ihnen vom Geschehenen berichten und der Hohe Rat sie besticht, das Gerücht vom Leichendiebstahl zu verbreiten (28,11–15). Folge dieser Rahmung ist, dass in der Eröffnung der Erzählung V.1 die Frauen lediglich das Grab „sehen“, aber nicht mehr Jesu Leichnam salben wollen. Ihre seltsame Überlegung, wer ihnen den Stein wegrollen könnte, entfällt. Dafür beginnt der Hauptteil der Geschichte mit der Schilderung einer „göttlichen Intervention bei der Ankunft der Frauen am Grab“. „Und siehe (καὶ ἰδού)“8: Die Erde erbebt gewaltig (vgl. 27,51), es kommt „ein Engel des Herrn“ vom Himmel herab, wälzt den Stein zur Seite und setzt sich darauf. Aus Furcht vor seiner strahlenden Gestalt erbeben die Wächter und werden „wie Tote“ (28,2–4). Die Proklamation der Auferweckungsbotschaft durch den Engel am Eingang des Grabes schließt sich an (28,5 f.). Der Schluss der Erzählung ist zum Auftakt eines zweiten Teiles (V.8–10) geworden: Die Frauen versinken nicht mehr wie bei Markus im Schweigen, sondern eilen „voll Furcht und großer Freude“ zu den Jüngern: 2  Vollenweider, Ostern 107: „Der Salbungsabsicht nach fast zwei Tagen und dem Weggespräch liegt Erzählstrategie, nicht Reportage zugrunde“. Oberlinner, Verkündigung 159–182, betont zu Recht die eigenständige Bedeutung des Motivs des geöffneten Grabes. 3  Janowski, Konfliktgespräche 67; vgl. Gen  19,15; 32,27; Ps  5,4; 46,6, 90,14; 143,8 u. ö. 4  Wolter, Auferstehung 42 f.; vgl. Rahmani, Customs; McCane, Stone. 5  Wolter, Auferstehung 43. 6  Zu Fragen des kanonischen Markusschlusses vgl. Reinbold, Bericht 99 f.; Seifert, Markusschluss. 7  Erschrecken und Verstörung sind die typische Reaktion auf den Einbruch des Göttlichen: vgl. Dan  7,15.28; 8,27; 4Esr  12,3. 8  Das Signal hat gliedernde Funktion; auch der zweite Teil der Erzählung wird in V.9 so eingeleitet.

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

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„Und siehe (καὶ ἰδού), da begegnete ihnen Jesus“. Er begrüßt sie, sie treten hinzu, umfassen seine Füße und werfen sich vor ihm nieder. Überraschenderweise sagt Jesus den Frauen nichts Neues, sondern verstärkt nur, was schon der Engel ihnen aufgetragen hat9: „Fürchtet euch nicht! Geht, tut meinen Brüdern kund, sie sollen nach Galiläa gehen, dort werden sie mich sehen“ (V.10). Matthäus beschließt seinen Osterzyklus und damit sein Buch mit der von ihm neu geschaffenen Christophanie auf dem Berg von Galiläa (28,16–20). Der Durchgang durch den ersten Teil (V.1–7) ergibt: Der Evangelist hat seine mkn. Vorlage bearbeitet, ohne über weitere Quellen zu verfügen. Anders verhält es sich beim zweiten Teil (V.8–10): Die Ersterscheinung Jesu vor den beiden Marien stimmt in wesentlichen Punkten mit der joh. Erzählung von seiner Ersterscheinung vor Maria Magdalena (Joh  20,17 f.) überein. Beide Texte verwenden das Motiv der Berührung Jesu10 , in beiden spricht Jesus von den Jüngern als seinen „Brüdern“. Im Unterschied zu Johannes erzählt Matthäus zwar nicht, dass die beiden Marien die Botschaft Jesu den Jüngern auch ausrichten, aber er setzt es in 28,16 voraus. Der erstaunliche Befund erfordert eine überlieferungsgeschichtliche Erklärung (siehe unten 12.7). (3) Lukas betont vorweg, dass die Frauen „nach dem Gesetz am Sabbat ruhten“ (23,56), und erzählt dann die Geschichte von der Auffindung des leeren Grabes und deren Folgen in vier Episoden: „Am ersten Tag der Woche“ kommen die Frauen „im Morgengrauen“ mit ihren vorbereiteten Salben zum geöffneten Grab, betreten es, finden aber Jesu Leichnam nicht (24,1–3). Stattdessen vernehmen sie die Osterbotschaft aus dem Mund zweier himmlischer Boten (24,4–7)11. Sie verlassen das Grab und berichten „den Elfen und allen übrigen“, ohne Glauben zu finden (24,8– 11). Petrus bricht auf und inspiziert das Grab, sieht die Leinentücher daliegen und kehrt „staunend“ zurück (24,12). Den himmlischen Auftrag an die Frauen, den Jüngern eine Begegnung mit Jesus in Galiläa anzukündigen (Mk  16,7), übergeht Lukas. Die anschließend erzählten Christus-Epiphanien ereignen sich in Emmaus (24,13–35) und in Jerusalem (24,36– 49). Die lkn. Basisszene 24,1–12 weist Übereinstimmungen mit Matthäus (minor agreements) auf: (a) Matthäus und Lukas übergehen den inneren Monolog der Frauen Mk  16,3 – Lukas, weil er von der narrativen Logik her schwierig scheint, Matthäus, weil er angesichts des versiegelten und bewachten Grabes keinen Sinn mehr macht.

9 Der Rückbezug wird auch dadurch deutlich, dass Jesus wie der Engel seine Rede mit μὴ φοβεῖσθε beginnt, obwohl das eigentlich unpassend ist. Jesus hat die Frauen bereits begrüßt und sie haben seine Füße ergriffen. In V.5 ist ein ὑμεῖς hinzugesetzt („Fürchtet ihr euch nicht!“), um den Unterschied zur Reaktion der Wächter hervorzuheben. 10  Freilich auf unterschiedliche Weise: Mt   28,9: „sie (sc. die Frauen) ergriffen seine Füße (ἐκράτησαν αὐτοῦ τοὺς πόδας) und huldigten ihm“. Joh  20,17: „Halte mich nicht fest! (μή μου ἅπτου)“. 11  Das Mittelstück setzt mit καὶ ἐγένετο („und es geschah“) und καὶ ἰδού („und siehe“) betont ein; es endet mit V.7. V.8 ist – gegen Nestle-Aland – zum nächsten Absatz zu ziehen.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(b) Beide vermeiden das mkn. ἐκθαμβεῖσθαι = sich erschrecken (Mk  16,5d.6b) und reden stattdessen von der Furcht der Frauen. Mt  28,5: „Fürchtet euch nicht!“ Lk  24,5: die Frauen „gerieten in Furcht“. (c) Beide geben die Kundgabe der himmlischen Botschaft unterschiedlich wieder, stimmen gegen Markus aber in der naheliegenden Abfolge der Teilsätze überein: „Er ist nicht hier, denn (bzw. aber) er ist auferstanden“. Während Matthäus hinzufügt: „wie er gesagt hat“, heißt es bei Lukas: „Erinnert euch (μνήσθητε), wie er zu euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war“ (24,6c.d). Es folgt im Wortlaut die Ankündigung Jesu von Tod und Auferstehung des Menschensohns (24,7: vgl. 9,22.44). V.8: „Da erinnerten sie sich (ἐμνήσθησαν) seiner Worte und kehrten vom Grab zurück“ greift V.6 nochmals auf. Den Hinweis des Engels Mk  16,6: „Seht den Ort, wo sie ihn hingelegt haben“ übergeht Lukas (im Unterschied zu Matthäus). (e) Beide vermeiden den abrupten Schluss des Markusevangeliums (16,8: „sie erzählten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich“). Stattdessen teilen sie mit, die Frauen hätten den Jüngern kundgetan (jeweils ἀπαγγέλλω), was sie erlebten12 .

Die aufgeführten Übereinstimmungen lassen sich größtenteils als vergleichbare Reaktion auf den schwierigen Mk-Text erklären. Ob die Varianten des Erzählschlusses (e) ältere Überlieferung enthalten, wird eigens zu prüfen sein (siehe unten 12.8). (4) Die Darstellung der Geschehnisse um das Grab Jesu im vierten Evangelium (20,1–18) zeigt einige Besonderheiten. Drei Sequenzen zeichnen sich ab. Die erste (V.1–10) besteht aus drei Episoden: (a) dem Besuch der Magdalenerin frühmorgens am Grab samt der Entdeckung seiner Öffnung (V.1), (b) ihrem Lauf zu Simon Petrus und dem geliebten Jünger mit der Nachricht: „Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (V.2), sowie (c) dem dadurch veranlassten Wettlauf der beiden zum Grab und ihrer Heimkehr (V.3–10). Die zweite Sequenz (V.11–18), die wie bei einem Filmschnitt den Leser unvermittelt wieder an das Grab versetzt, umfasst gleichfalls drei Episoden: Die erste (V.11– 13) erzählt, wie die weinende Maria Magdalena ins Grab schaut, am Ort der Ablage des Leichnams zwei Engel in weißen Gewändern sitzen sieht, die sich nach dem Grund ihres Weinens erkundigen, und sie ihnen mit den bereits aus V.2 bekannten Worten klagt: „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (V.13). Die zweite Episode (V.14–17) erzählt von ihrer Begegnung mit Jesus vor dem Grab. Sie hält ihn zuerst für den Gärtner, spricht ihn dann aber, als er sich durch Nennung ihres Namens zu erkennen gibt, mit „Rabbuni“ = Meister an. Ihr Wortwechsel gipfelt in Jesu Auftragswort: „Geh zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“ (V.17). Die dritte Episode, V.18, erzählt, wie sie ihren Auftrag ausführt, aber nicht, wie die Jünger auf ihre Botschaft: „Ich habe den Herrn gesehen“, reagieren. Wenn die dritte Szene (V.19–23) mit der Bemerkung einsetzt, die Jünger hätten „aus Furcht vor den Juden“ die Türen verschlossen (V.18), zeigt dies, dass sie Maria 12  Mt spricht nur von den „Jüngern“ (28,8), Lk von „den Elfen und allen übrigen“ (24,9), dann von „den Aposteln“ (V.10).

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

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Magdalena keinen Glauben schenkten. Es ist der Selbsterweis Jesu, seine Epiphanie „am Abend des ersten Wochentags“, die sie zum Glauben führt. Wer von Markus her kommt, erkennt bei Johannes nur das Gerüst der mkn. Erzählung wieder, nicht deren spezifische Akzente: (a) die Zeitangabe V.1a (vgl. Mk  16,2); (b) den Gang der Magdalenerin zum Grab (jetzt ohne Salbungsabsicht); (c) die Entdeckung des geöffneten Grabes V.1b (vgl. Mk  16,1.4); (d) die Klage der Maria: „wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (V.2), als Indiz dafür, dass auch nach der joh. Überlieferung mehrere Frauen das Grab besuchten; (e) den Auftritt von himmlischen Boten im Grab (bei Johannes sind es zwei) (V.12 f.).

Lukas steht Johannes ungleich näher. Die Liste ihrer Übereinstimmungen ist lang: (a) Wenn Maria Magdalena zu den beiden Jüngern geht und ihnen von der Entdeckung des leeren Grabes berichtet (Joh  20,2), entspricht das Lk  24,9 f., wo Gleiches von der Frauengruppe erzählt wird. (b) Daraufhin eilt Petrus bei beiden Evangelisten zum Grab, um die Nachricht zu überprüfen – bei Johannes in Begleitung des geliebten Jüngers (Lk  24,12; Joh  20,3–10). (c) Nach Lk  24,12b „schaut“ Petrus in das Grab „hinein“ und sieht „nur die Leinentücher“ (παρακύψας βλέπει τὰ ὀθόνια μόνα), Joh   20,5 sagt Gleiches vom geliebten Jünger: καὶ παρακύψας βλέπει κείμενα τὰ ὀθόνια. (d) Bei beiden Evangelisten „kehrt“ Petrus bzw. Petrus und der geliebte Jünger „zu sich zurück“ (Lk  24,12c: ἀπῆλθεν πρὸς ἑαυτόν; Joh  20,10: ἀπῆλθον … πρὸς αὐτοὺς οἱ μαθηταί). (e) Im Grab begegnen zwei himmlische Boten den Frauen bzw. Maria Magdalena (Lk  24,4; Joh  20,12) – „in leuchtendem Gewand“ (Lk) bzw. „weißen Gewändern“ (Joh). (f) Bei beiden erscheint Jesus den Seinen in Jerusalem (Joh  20,19,23 par. Lk  24,36–48), zudem in zeitlichem Zusammenhang mit den Ereignissen zuvor: „am Abend des ersten Tages der Woche“ (Joh  20,19) bzw. zu nächtlicher Stunde (vgl. Lk  24,29.33.36)13. (g) Die Beschreibung der Erscheinung Jesu vor den Seinen lautet bei beiden nahezu gleich: „Er trat in ihre Mitte und spricht zu ihnen: Friede mit euch!“ (Joh  20,19 par. Lk  24,36: ἔστη εἰς τὸ μέσον [Lk: ἐν μέσῳ αὐτῶν] καὶ λέγει αὐτοῖς·εἰρήνη ὑμῖν). (h) Gleiches gilt von Joh  20,20 par. Lk  24,40: „Und nachdem er dieses gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite (bzw. die Füße)“ (καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξεν [Lk: αὐτοῖς] τὰς χείρας καὶ τὴν πλευρὰν αὐτοῖς [Lk: τὸυς πόδας]). (i) Schließlich stimmen Johannes und Lukas im Motiv der Freude überein: „da freuten sich (ἐχάρησαν) die Jünger, als sie den Herrn sahen“ (Joh  20,20) bzw.: „als sie aber vor Freude (ἀπὸ τῆς χαρᾶς) noch nicht glaubten und [bloß] staunten“ (Lk  24,41a).

Soll eine Abhängigkeit des vierten Evangelisten von einem der Synoptiker behauptet werden, dann sicher nicht von Markus, sondern höchstens von Lukas14. Aber 13  Die von Lk zwischen die Geschehnisse um das Grab am frühen Morgen (24,1–12) und die Erscheinung Jesu vor den Seinen am späten Abend eingefügte Emmausgeschichte trägt sich „am gleichen Tag“ (V.13) zu, das Mahl mit dem unbekannten Wanderer gegen Abend (Lk  24,29: „Bleibe bei uns, denn es will Abend werden [πρὸς ἑσπέραν ἐστίν] und der Tag hat sich schon geneigt“). Wenn die beiden Jünger noch „in derselben Stunde“ (V.33) aufbrechen und die 60 Stadien (V.13: „ganz offensichtlich eine runde Standardentfernung, die für zwei Wegstunden stehen“ [Wolter, Lk 777]) zurück nach Jerusalem wandern, stellt Lukas sich das Geschehen von V.36–49 am späten Abend bzw. zu früher Nachtstunde vor nach der Erscheinung vor Petrus (V.34). 14  Wolter, Lk 692: „Allem Anschein nach [!] lässt sich die Annahme nicht umgehen, dass der Autor der vorliegenden Fassung des JohEv das LkEv gekannt hat“.

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nicht nur die spezifischen Akzente, die Lukas in seinem Überlieferungsgut setzt, sondern auch der von ihm neu eingebrachte Erzählstoff (wie die Geschichte von den Emmausjüngern) haben bei Johannes keinerlei Spuren hinterlassen. Das spricht gegen Abhängigkeit. 12.2 „Sie erzählten niemandem etwas“. Der Epilog der PE aus Sicht des Markus (Mk  16,1–8) Die Proklamation der Auferweckung des Gekreuzigten durch einen himmlischen Boten im leeren Grab ist die Mitte der das Evangelium abschließenden Szene. Erzählt wird, wie die Frauen den Leichnam Jesu „suchen“, ihn aber ihn nicht finden15. Die Lösung des Rätsels bietet der himmlische Bote: Der, den sie „suchen“, ist „auferweckt“ worden (V.6). Drei Aspekte zeichnen die mkn. Lesart der Geschichte aus: (1) Die Botschaft, die der himmlische Bote den Frauen für Petrus und die Jünger aufträgt: „Er geht euch voraus nach Galiläa (προάγει ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν), dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat“ (V.7c–e), ist intratextuell mit der Prophetie Jesu von Mk  14,28 verbunden16 . Lediglich das Element: „Ihr werdet ihn sehen (αὐτὸν ὄψεσθε)“ ist neu. Wenn Mk  14,28 im Zusammenhang mit der Ansage, dass „alle“ Jünger Ärgernis an ihm nehmen und fliehen werden (14,27.50), bedeutet, „dass der Auferstandene (als der vorangehende Hirte) die Jünger (als die in der Passion zerstreuten Schafe) in Galiläa wieder sammeln“ wird17, dann heißt das für die Ankündigung des Engels Mk  16,7: Jesus wird ihnen dort erscheinen18 , um sie erneut in seine Nachfolge zu rufen19. Die Proklamation des Gekreuzigten als Auferweckten durch den himmlischen Boten ist eine Heilsbotschaft: Trotz des Scheiterns der Jünger im Angesicht des Todes ermöglicht ihnen der Auferweckte einen Neubeginn. 15  Das Schema Suchen und Nicht-finden (des Leichnams) entstammt der Gattung von Entrückungsgeschichten: siehe unten 12.8 unter (2). 16  Mk  14,27 f.: „[…] Alle werdet ihr Ärgernis nehmen, denn es ist geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen (Sach  13,7). Aber nach meiner Auferstehung werde ich euch nach Galiläa vorausgehen“ (dazu oben in II.  5.2 und 3). 17  Pesch, Mk II 534; ebd. 540: Damit wird „in gewisser Weise auf den Beginn des Evangeliums, die Sammlung der Jünger in Galiläa, zurückverwiesen“. Es wird „der aktuelle Anspruch des ganzen ‚Evangeliums‘ unterstrichen, das Jesu Leben, Tod und Auferweckung verkündigt und dessen Grundlagen im Buch des Markus zusammengestellt sind“; vgl. Seifert, Der Markusschluss. 18  Guttenberger, Mk 364, bezieht das ὄψεσθε auf 13,26 (so bereits Lohmeyer, Marxen u. a.) und deutet: Die Jünger sollen „die Ankunft des Menschensohns in Galiläa erwarten“; doch ὄψονται 13,26 meint die Parusie des Menschensohns zum Gericht; A.Y. Collins, Mk 797: „This interpretation is unlikely because language of ‚power‘ (δύναμις) and ‚glory‘ (δόξα) associated with the parousia (the coming of the Son of Man) elsewhere in Mark does not occur here […]. In addition, the parousia and Galilee are not associated anywhere else in the Gospel“. Auch die Logik des Satzes (die Begegnungen mit dem Auferweckten begründen die nachösterliche Nachfolge) legt den Bezug auf im Buch selbst nicht erzählte „Visionen“ des Auferweckten nahe. 19 Zu προάγει ὑμᾶς 16,7c vgl. 10,32: καὶ ἦν προάγων αὐτοὺς ὁ Ἰησοῦς, auch 1,17.20; 8,33.34: ὀπίσω μου/αὐτοῦ.

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(2) Die abschließende Feststellung des Erzählers: „Und sie gingen hinaus und flohen weg vom Grab, denn Zittern (τρόμος) und Entsetzen (ἔκστασις) hatten sie erfasst. Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich“ (V.8) überrascht. Gilt sie uneingeschränkt, stellt sich die Frage, woher der Erzähler von alldem weiß. Offenkundig gilt die Notiz allein dem Leser. Wenn die Frauen von ihrer Begegnung mit dem „jungen Mann“ niemandem erzählten, die Osterbotschaft sich dennoch verbreitet hat und vom Erzähler als bekannt vorausgesetzt wird, dann soll der Leser dem entnehmen: Der Auferweckte selbst ruft den Osterglauben hervor. Glaubensbegründend ist sein Selbsterweis, nicht die Auffindung des leeren Grabes. Wenn die Frauen das Totenhaus, in dem Jesus nicht mehr auffindbar ist, fluchtartig verlassen, soll auch er nicht am Grab „hängenbleiben“, sondern sich dem Kern der Erzählung zuwenden, der Botschaft, dass der Gekreuzigte „auferweckt“ wurde. (3) Welche Reaktion erwartet der Text vom intendierten Leser, der den Epilog als Abschluss des Evangeliums wahrnimmt? Das Stichwort Galiläa ruft ihm dessen Anfang ins Gedächtnis, der am See spielt, wo Jesus nach seiner Proklamation des Gottesreiches (1,14 f.) die beiden Brüderpaaren Simon und Andreas und die Zebedäussöhne in seine Nachfolge ruft (Mk  1,16–20). Wenn der Auferweckte die Nachfolge der Jünger in Galiläa neu begründet, kann der Leser dies als Einladung begreifen, selbst dorthin zu gehen, das Buch von Anfang an wieder zu lesen und sich von Jesu galiläischem Ruf: „Auf, mir nach!“ (1,17) auf seinem Weg bestärken zu lassen. Nicht außergewöhnliche „Erscheinungen“ Jesu, die Markus nicht erzählt, begründen letztlich seinen Glauben, sondern Jesu Selbsterweis im Wort des Evangeliums, das immer aufs Neue gehört werden will 20 . 12.3 Die Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer aus Sicht des Lukas (Lk  24,1–12) Lukas hat den Epilog des Markusevangeliums zur Eröffnung seines Osterzyklus umgestaltet: (1) Nach Ausweis der späteren Epiphaniegeschichte 24,36–43 liegt Lukas an der Leiblichkeit des Auferstandenen (vgl. V.39 f.41–43). Schon in 23,55; 24,3.23 trägt er die Rede vom σῶμα Jesu redaktionell in seine Vorlage ein. In V.3 heißt es jetzt: Die Frauen „fanden den Leib des Herrn Jesus nicht (οὐχ εὗρον)“21. Die Rückblende der Emmausjünger greift dies in 24,23 fast wörtlich auf. Die Rede vom „Leib des Herrn Jesus“ erinnert an 22,19 und ist Ausdruck theologischer Hochschätzung. (2) Pointe des zentralen Mittelstücks der Erzählung (V.4–7) ist der Verweis auf das Wort, das Jesus in Galiläa gesprochen hat: „Der Menschensohn muss in die Hände sündiger Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen“ (V.6 f.). Die himmlischen Boten erinnern die Frauen an das Wort Jesu, 20 Vgl.

Pesch, Schluss 435–470. Das zu „nicht finden“ passende Motiv in 24,5: „Was sucht ihr (ζητεῖτε) den Lebenden bei den Toten?“ – Der Genitiv Ἰησοῦ fehlt in einigen Handschriften, auch in den lateinischen, syrischen und koptischen Übersetzungen und könnte nachgetragen sein. 21 

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das diese in Galiläa von ihm vernommen haben (vgl. 8,1–3; 9,22), und proklamieren seine Erfüllung: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“22 Lukas zufolge ist es Jesu eigenes Wort, das den österlichen Glauben weckt. Eine „Nachprüfung“ im leeren Grab erübrigt sich 23. (3) Angestoßen durch die Botschaft der Engel „erinnern sich“ die Frauen an Jesu Worte (ἐμνήσθησαν τῶν ῥημάτων αὐτοῦ) und berichten – nach Lukas unaufgefordert  – „dies alles den Elfen und allen übrigen“ (V.8). Aber diese halten es für „Geschwätz“ (V.11). Selbst Petrus, der sich immerhin zu einer Grabinspektion aufmacht, „wundert sich (nur) über das Geschehene (θαυμάζων τὸ γεγονός)“. Lukas erzählt die Auffindung des leeren Grabes als Initialzündung eines Weges, der die Beteiligten zur Erkenntnis des Auferweckten erst noch führen wird. Seine Selbsterschließung ist es, die ihnen den Glauben ermöglicht 24. 12.4 Der Ostertag aus Sicht des vierten Evangeliums (Joh  20,1–23) Der Text ist zunächst auf seine Einheitlichkeit hin zu überprüfen. Wie andernorts im Buch stellt sich auch hier die Frage, ob er in Gänze auf den Evangelisten zurückgeht oder die joh. Redaktion ihn überarbeitet hat. Erst wenn dies geklärt ist, kann die Osterszene in den Blick kommen, wie der Evangelist sie intendiert hat. (1) Tatsächlich verdankt sich die Episode vom Wettlauf des Petrus und des geliebten Jüngers zum Grab (Joh  20,2/3–10) in der vorliegenden Form dem Redaktor des Buches25. Wie in 13,23–25; 18,15 f. und 19,26 f.35 hat er auch hier unter dem Vorzeichen des Nachtragkapitels 21 den anonymen Jünger sekundär in den Text eingeschleust. Wenn dieser zwar am Grab Simon Petrus den Vortritt lässt, im Unterschied zu ihm aber die Zeichen im Grab zu deuten weiß (V.8: „er sah und glaubte“), möchte der Redaktor wie in 13,23–25 etc. die „geistliche“ Kompetenz des Jüngers und seinen Primat vor Petrus szenisch veranschaulichen. Er stilisiert ihn zum ersten Oster-Gläubigen, zur Autoritätsfigur der joh. Gemeinden und zu ihrem Vorbild im Glauben. Das entscheidende Argument zugunsten der Annahme, dass seine Einfügung auf den Redaktor, nicht auf den Evangelisten zurückgeht 26 , ist die im Endtext irritierende Konkurrenz zwischen dem Jünger und Maria Magdalena. Der Evangelist hat die Erzählung gezielt auf die Protophanie Jesu vor Maria als deren Klimax hin ausgerichtet (siehe unten). Maria besitzt für ihn den Vorrang vor den Jüngern. Im Endtext läuft aber einer von ihnen, der geliebte Jünger, der Frau den Rang ab. Er 22  Wie „die direkte Anrede (der Boten) an die Frauen“ (V.6: „Erinnert euch!“) und der Inhalt deren Botschaft zeigen, haben die Frauen „die Erfüllung des ganzen gottgewollten, von Jesus ­vorausgesagten Schicksals des Menschensohnes zu bestätigen“ (Oberlinner, Überlieferung 92). 23  Lk streicht Mk  16,6 f.g (siehe oben 12.1 unter [3] [c]). 24  So auch im Fall der beiden Emmausjünger, denen, bevor ihnen beim Brotbrechen des Herrn „die Augen geöffnet“ werden (24,32), nur „das Herz brannte“, als Jesus „auf dem Weg“ zu ihnen sprach und ihnen „die Schriften erschloss“ (24,32). 25  Becker, Joh II 719; Theobald, Jünger 508–513; Schleritt, Passionsbericht 474–478. 26  Schnackenburg, Joh III 364 f.; Zumstein, Joh 744. – Über den Nachtrag als solchen besteht Einigkeit.

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glaubt schon vor ihr. Unterläuft der Einschub diese Pointe, dann muss er auf den Redaktor zurückgehen 27. Zwei Beobachtungsreihen deuten darauf hin, dass dieser V.3–10 nicht en bloc in den Evangelientext eingeschoben, sondern diesen nur überarbeitet hat: (a) Die Episode weist interne Spannungen auf; (b) sie besitzt mit Lk  24,12 eine fast wörtliche Parallele. (a) V.3 erweckt den Eindruck, dass die beiden Jünger gemeinsam „zum Grab gingen (ἤρχοντο)“. V.4 zufolge aber „liefen sie (ἔτρεχον)“, der eine schneller als der andere. Vom „Sehen der Leinentücher“ ist zweimal die Rede. Zuerst heißt es vom geliebten Jünger: „Er beugte sich vor und sieht die Leinentücher daliegen (βλέπει κείμενα τὰ ὀθόνια)“ (V.5a), dann von Petrus: „Er sieht die Leinentücher daliegen (θεωρεῖ τὰ ὀθόνια κείμενα)“, zusätzlich noch „das Schweißtuch“ (V.6 f.). Nach V.8: „er sah und glaubte“, irritiert die Begründung V.9: „denn (γάρ) sie verstanden noch nicht die Schrift, dass er von den Toten auferstehen muss“28 . Die aufgeführten Indizien weisen auf eine redaktionelle Überlagerung des Textes hin. (b) Ein Vergleich mit Lk  24,12 lässt die ursprüngliche Fassung erkennen: Joh 20,2.3–10

Lk  24,12 (vgl. 24,22–24)

9 Sie (sc. Maria Magdalena) läuft und kommt Und sie kehrten vom Grab zurück und zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, berichteten dieses alles den Elf und allen den Jesus liebte, und spricht zu ihnen: Übrigen. Sie haben den Herrn aus dem Grab ­genommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben. 10 Es waren aber Maria Magdalena und Johanna […]. 3a 12a Da brach Petrus auf (ἐξῆλθεν) und der Petrus aber stand auf (ἀναστάς), andere Jünger b und gingen zum Grab. 4a Es liefen (ἐτρεχον) die zwei aber zusammen, b b und der andere Jünger lief voraus lief (ἔδραμεν) ­(προ-έδραμεν) schneller als Petrus, c und kam als erster zum Grab (εἰς τὸ zum Grab ἐπὶ τὸ μνημεῖον) μνημεῖον). 5a c Und er beugte sich hinein (παρακύψας) und beugte sich hinein (καὶ παρακύψας) b d und sieht die Leinentücher daliegen und sieht nur die Leinentücher (βλέπει κείμενα τὰ ὀθόνια), (βλέπει ὀθόνια μόνα). c ging jedoch nicht hinein. 6a Da kommt nun auch Simon Petrus, b der ihm gefolgt war, c und ging hinein in das Grab d und sieht (θεωρεῖ) die Leinentücher daliegen (vgl. oben 12d) 2

27  Hinzu kommt, dass der geliebte Jünger in 20,3–10 wie aus dem Nichts auftaucht und im Folgenden wieder ebenso spurlos verschwindet. 20,18.19–23 spricht von den „Jüngern“ so, als hätte sich dieser in Luft aufgelöst. 28  Zweierlei irritiert: (a) der Wechsel vom Singular (der geliebte Jünger) in den Plural (beide Jünger); (b) inwiefern begründet oder erläutert V.9 die Feststellung, dass der geliebte Jünger „sah und glaubte“?

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Joh 20,2.3–10 und das Schweißtuch, das auf seinem Haupt gelegen war, nicht bei den Leinentüchern, b sondern gesondert zusammengefaltet an einem eigenen Ort. 8a Dann ging auch der andere Jünger hinein, b der als erster zum Grab gekommen war, c und er sah und glaubte. 9a Denn sie hatten die Schrift noch nicht verstanden, b dass er von den Toten auferstehen muss. 10 Dann gingen die Jünger wieder weg zu sich (ἀπῆλθον … πρὸς αὐτούς).

Lk  24,12 (vgl. 24,22–24)

7a

e Und er ging weg zu sich (ἀπῆλθεν πρὸς ἑαυτόν), f staunend (θαυμάζων) über das Geschehene.

Unter Berücksichtigung der lkn.-joh. Übereinstimmungen 29 und nach Einklammerung aller Aussagen, die den geliebten Jünger und seinen „Wettlauf“ mit Petrus betreffen, gehört zum Evangelientext mindestens folgende Sequenz: Petrus eilt auf die Nachricht der Maria Magdalena hin zum Grab (2.3a.b.4b.c), blickt hinein und sieht die Leinentücher daliegen (5a.b); er betritt die Grabkammer und stellt fest, dass die Leinentücher und das Schweißtuch ordentlich abgelegt sind (6c.d.7). Ratlos kehrt er heim (10). Weil dem Redaktor an der Polarität Petrus – Geliebter Jünger liegt (vgl. 13,23 f.; 18,15 f.; 21,20–22), hat er die Episode auf sie konzentriert. Der Evangelientext wird ursprünglich von „Simon Petrus und den anderen Jüngern“ (so V.2.3a) gehandelt haben. Der Redaktor wandelte den ihm vorgegebenen Plural in den Singular („der andere Jünger“) um und bezog den Plural von V.9.10 statt auf alle Jünger auf Petrus und den geliebten Jünger30 . Der sperrige V.9, der zum Grundstock der Episode gehört haben muss, belegt die Annahme, dass an der Grabinspektion durch Petrus auch die „anderen Jünger“31 beteiligt waren 32 . V.9 bleibt auch nach Einklammerung des vorangehenden Spitzensatzes zum geliebten Jünger: „er sah und glaubte“ (V.8) rätselhaft. Worauf bezog sich der Vers im ursprünglichen Evangelientext? Da er „sich vorzüglich an eine Aussage anschließen würde, wie sie sich in Lk  24,12b [= 12f] findet, nämlich dass durch die Grabes­ inspektion Verwunderung hervorgerufen wird“, könnte der Redaktor eine ihm

29 

Siehe bereits oben 12.1 unter (4) [b] – [d]. Schleritt, Passionsbericht 476; vgl. auch Becker, Joh II 716: „V.2 und V.18 sind konkurrierende Doppelungen, wobei vor allem die unterschiedlichen Adressaten der jeweiligen Botschaften der Maria stören: Wo sind ‚die Jünger‘ in V.2 und warum ist ab V.18 nie mehr der Lieblingsjünger genannt?“ 31  Vgl. auch 20,25: οἱ ἄλλοι μαθηταί (im Gegenüber zu Thomas). 32  Becker, Joh II 718 (mit Verweis auch auf Lk  24,22–24); Schleritt, Passionsbericht 475. – Bultmann, Joh 530 f., stuft V.9 als nachträgliche Glosse ein. 30 

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vorgegebene „Notiz über das Sich-Wundern“ der Jünger durch V.8 ersetzt haben 33. In Anlehnung an Frank Schleritt34 ist für den Evangelisten etwa mit folgender Textgestalt zu rechnen: Da brach Petrus auf (ἐξῆλθεν) und die anderen Jünger und sie gingen zum Grab […]. 4b Petrus lief vor c und kam zuerst zum Grab. 5a Und er beugte sich hinein b und sieht die Leinentücher daliegen […] 7a und das Schweißtuch, das auf seinem Haupt gelegen war, nicht bei den Leinentüchern, b sondern gesondert zusammengefaltet an einem eigenen Ort. 8a Dann gingen auch die anderen Jünger hinein, [und staunten (ἐθαύμασαν) (vgl. Lk  24,12f)], 9a denn sie hatten die Schrift noch nicht verstanden, b dass er von den Toten auferstehen muss. 10 Dann gingen die Jünger wieder nach Hause. 3a b

(2) Ohne die redaktionelle Zuspitzung der ersten Szene auf den außerordentlichen Glauben des geliebten Jüngers zeigen die drei Szenen ihre auf die Begegnung Jesu mit der Magdalenerin hindrängende Dynamik, die dann zur dritten und letzten Szene der Geschehnisse am Ostertag überleitet35: 1. Szene: (a) Der Gang der Magdalenerin zum Grab (b) Benachrichtigung des Simon Petrus und der „anderen Jünger“ (c) Grabinspektion durch Simon Petrus und die „anderen Jünger“ und ihre Rückkehr nach Hause 2. Szene: (a) Zweiter Grabbesuch der Magdalenerin und ihre Begegnung mit zwei Engeln (b) Begegnung der Magdalenerin mit Jesus vor dem Grab und ihre Beauftragung durch Jesus (c) Benachrichtigung der Jünger 3. Szene Die Epiphanie Jesu vor den Jüngern „am Abend“

33  Schleritt, Passionsbericht 475; ebd. 475 f.: „Dieses Ergebnis führt freilich zu der Frage, wie sich die Bearbeiter den Zusammenhang von V.8 und V.9 dachten. Die wahrscheinlichste Möglichkeit ist, dass sie, indem sie V.9 stehen ließen, zum Ausdruck bringen wollten, dass der in V.8 erwähnte Glaube ‚sehr hoch zu werten sei‘ [W. Bauer, Joh 229]: Dass der Lieblingsjünger beim Anblick des leeren Grabes zum Glauben an die Auferstehung kommt, ist deswegen eine hervorragende Auszeichnung gegenüber Petrus, weil zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, dass Jesus auferstehen muss“; Zumstein, Joh 747: „So berechtigt“ die genetische Erklärung der Passage „auch sein mag“, sie schließt „seine argumentative Kohärenz nicht aus. Der Kommentar von V.9 enthält also eine doppelte Akzentsetzung: Einerseits hebt er den vollkommenen Glauben des Lieblingsjüngers hervor, der die Botschaft des leeren Grabes auslegen konnte, ohne dass er sich dabei schon auf ein Schriftzeugnis hätte berufen können. Andererseits wird so auch das Schweigen des Petrus erklärt. Ihm stand noch kein Schriftzeugnis zur Verfügung, das es ihm ermöglicht hätte, die Bedeutung seiner Entdeckung zu entschlüsseln“. 34  Schleritt, Passionsbericht 478. 35  Im Einzelnen siehe oben 12.1 unter (4).

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Im Unterschied zu den Synoptikern spricht Johannes von zwei Grabbesuchen, nicht von mehreren Frauen, sondern nur von Maria Magdalena. Ihre beiden Besuche des Grabes münden jeweils in eine Berichterstattung an Petrus und „die anderen Jünger“ (V.2.18). Bei Lukas erfolgt die Grabinspektion durch Petrus nach der Begegnung der Frauen mit den beiden Engeln, bei Johannes steht sie voran. Sie würde bei ihm nach 20,13 auch keinen Sinn mehr machen, da auf die Begegnung der Maria mit den Engeln jetzt unmittelbar die mit Jesus folgt. Diese ist die Klimax seiner Erzählfolge.

Mit den Auftragsworten Jesu an Maria Magdalena verbindet der Evangelist eine grundsätzliche Leseanweisung36: „Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“ (V.17). Über ein äußeres Berührungsverbot hinaus kündigt die Weisung: „Halte mich nicht fest!“, den radikalen Abbruch irdisch begrenzter Beziehungen zu Jesus an, der mit seiner Erhöhung zum Vater, seiner „Anabasis“, einhergeht: „Halte mich nicht fest, denn (als aus dem Grab Erweckter) bin ich noch nicht zum Vater hinaufgegangen“. Die Gestalt, die Maria vor sich sieht, ist nicht mit dem zu Gott Erhöhten, der den Sinnen des Menschen grundsätzlich entzogen ist, identisch. Seine Wirklichkeit transzendiert alles Sichtbare, auch seine Epiphanien, die ein „Sehen des Herrn“37 gewähren. Allein der „Glaube“ entspricht der Anabasis Jesu, wie 20,29 abschließend erklärt: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“. Demnach lautet die Leseanweisung, die V.17 erteilt: Auch die Erzählungen vom Auferweckten sind nicht als solche „festzuhalten“, sondern sind erzählte „Zeichen“, die auf die österliche Wirklichkeit des Erhöhten im Geist verweisen (vgl. 20,30). (3) Die Beauftragung der Maria Magdalena durch Jesus, der sie entspricht (V.17 f.), leitet über zur Christophanie vor den Jüngern (20,19–23). Der Erzählbogen, der am frühen Morgen des ersten Wochentages einsetzte (20,1), schließt am Abend desselben Tages. Die Christophanie möchte der Evangelist im Licht der ersten Abschiedsrede gelesen wissen, deren zweite Hälfte er als Leseanweisung für sie geschaffen hat 38: Der „Friede“, den Jesus den Seinen zuspricht (V.19.21a.b; vgl. 14,27) und „der heilige Geist“, den er ihnen verleiht (V.22 f.; vgl. 14,16 f.), sind nicht Gaben, die er einmal am Abend des ersten Wochentags seinen Jüngern zuteilwerden lässt, sondern sie werden allen geschenkt, die sich nachösterlich im Glauben auf ihn einlassen: „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir, wie ich in euch“ (14.20). So wird die Szene, johanneisch gelesen, zum Bild dafür, wie der Erhöhte immer wieder verschlossene Herzen von Menschen öffnet, ihnen Frieden und den Geist Gottes schenkt und sie aussendet, durch ihr Wort Vergebung der Sünden zu erwirken. 36 

Ausführlich zum Folgenden: Theobald, Osterglaube. erste Wort der Magdalenerin an die Jünger in 20,18 lautet: ἑώρακα τὸν κύριον. 20,20 (ἰδόντες τὸν κύριον).25 (ἑωράκαμεν τὸν κύριον) greifen es auf. 20,17 gilt als hermeneutische Lese­ anweisung für die Epiphanieerzählungen insgesamt. 38  Dazu grundlegend Weidemann, Tod. 37  Das

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12.5 „Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier“. Die Erzählung in der PEmk Die aus Übergangsepisode (V.1), Exposition (V.2–4), Hauptteil (V.5 f.) und Schluss (V.8) bestehende in sich kohärente Erzählung39 stammt aus der PEmk40 . Ihre Pointe ist die Botschaft des „jungen Mannes“, die bruchlos zum narrativen Setting mit Zeit- und Ortsangaben passt: Die Frauen41 suchen Jesus am falschen Ort, in einem Grab an der Grenze zum Reich des Todes. Doch der Stein vor dem Eingang ist weggewälzt42 , das Grab geöffnet. Und sie finden den nicht, den sie suchen. Im Inneren des Grabes greift der „junge Mann“ ihr Ansinnen auf („Ihr sucht Jesus, den Nazarener“) und setzt den Kontrapunkt: „Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier“. Die von der aufgehenden Sonne erhellte Szene bietet das passende Ambiente43. Fragen ergeben sich zur Botschaft des „jungen Mannes“ und zum Schluss der Erzählung. Gehört V.6, die erste Hälfte der Botschaft, fraglos zur vorgegebenen Überlieferung, so geht V.7c.e: „er geht euch voraus nach Galiläa […], wie er euch gesagt hat“ auf Markus zurück. Dies knüpft an die redaktionelle Passage Mk  14,27 f. an und dient der Einbindung des Epilogs in das Buch44. Galiläa als Ort der öster­ lichen Wiederbegegnung mit Jesus liegt dem Evangelisten am Herzen, denn dort am See begegnete Jesus zum ersten Mal den Jüngern und rief sie in seine Nachfolge45. Die These, dass 7c.e redaktionell ist, bestätigt der lkn.-joh. Zweig der Passions­ erzählung: Von Galiläa als Ort der Christophanien weiß er nichts, nur von Jerusalem. Wenn 7c.e redaktionell ist, gilt Gleiches auch für den Rest von V.746? 39  Auch V.3 (zur narrativen Funktion des Verses siehe oben in 12.2) stört nicht die Kohärenz. Nach J. Gnilkas Einschätzung (Mk II 338) geht man „[b]ei der redaktionellen Einstufung des Verses 3 […] fast immer von der Annahme aus, dass die Perikope einmal selbständig, getrennt von der Passionsgeschichte, überliefert wurde und Vers 3 gleichzeitig mit 15,46c entstanden sei“ (z. B. L. Schenke, Auferstehungsverkündigung 37–43). – Bultmann, Geschichte 309: „Der Aufbau ist eindrucksvoll: die Überlegung der Frauen V.3, der überraschende Anblick des fortgewälzten Steines und die Erscheinung des Engels V.4 f., das meisterhaft formulierte Wort des Engels V.6 und der erschütternde Eindruck V.8“. 40  Die Annahme von Crossan, Tomb 135–152, und A.Y. Collins, Mk 781 f., Mk habe die Erzählung geschaffen, ist unbegründet. 41  Die Namen der drei Frauen hat Mk redaktionell nachgetragen, zum Nachweis siehe oben I.  1.4.2 unter (1). 42  Möglicherweise ist die in V.4d nachgeschobene Erklärung („denn er [sc. der Stein] war sehr groß“) sekundär. 43 Auch πρωΐ („frühmorgens“) gehört zur Überlieferung, vgl. die Parallele in Joh  20,1. Anders J. Gnilka, Mk II 338: „Die erste Zeitangabe in Vers 2 (λίαν πρωΐ) ist Markus zuzuschreiben, der die Tageseinteilung mit Abend und Morgen markiert“. 44  Siehe oben II.  12.2 unter (3). 45  Lührmann, Mk 270: „Galiläa, das zu Beginn des Evangeliums (1,14) als Ort der Verkündigung der Nähe des Reiches Gottes eingeführt worden war, zeigt, wer er ist“. 46  Bultmann, Geschichte 309; L. Schenke, Auferstehungsverkündigung 43–53; Lührmann, Mk 270: „War 14,28 als redaktionell zu bezeichnen, so in 7 mindestens καθὼς εἶπεν ὑμῖν, dann wohl aber auch der ganze Satz“. Anders J. Gnilka, Mk II 338: „Es steht […] zu vermuten, dass der jetzige Vers 7 einen anderen Text verdrängte“. Sein Vorschlag, der Dativ „seinen Jüngern und ­Petrus“ sei ursprünglich auf ein ὤφθη bezogen und Teil der himmlischen Botschaft V.6 gewesen (vgl. Lk  24,34), trifft insofern zu, als von dem im Hintergrund stehenden Osterbekenntnis 1Kor  15,3–5 auch das Element der „Erscheinung“ erwartbar ist. Doch näher liegt es, dass die

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Frank Schleritt zufolge ist es „nicht ratsam, den Befund, dass die Frauen laut 16,7 zu ‚seinen Jüngern und Petrus‘ gehen sollen und dass Maria Magdalena sich laut Joh  20,2 ‚zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger‘ begibt, auf einen Zufall zurückzuführen“47. Diese mkn.-joh. Übereinstimmung, der sich noch die Berichterstattungen Lk  24,9 und Joh  20,18 beigesellen lassen, führen Schleritt zur plausiblen Annahme, dass Mk  16,7 in der PEmk nach Abzug des redaktionellen Anteils des Evangelisten (προάγει ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν + ἐκεῖ) gelautet hat: „Aber geht hin, sagt seinen Jüngern und Petrus: Ihr werdet ihn sehen (ὄψεσθε)“48 . Nur so enthält die Botschaft des Engels auch einen sinnvollen Auftrag an die Frauen. Auch V.8, der überladene Schluss der Erzählung, weckt den Verdacht, von Markus überarbeitet worden zu sein. Bei V.8d.e („sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich“), mit dem der Epilog in das Gesamtkonzept des Buches eingebunden wird49, ist das offenkundig: „Das Schweigen setzt die typisch markinischen Schweigegebote fort. Die Umkehrung der bisherigen Reihung Schweigegebot-Durchbrechung des Gebotes in Redeauftrag-Schweigen spricht nicht gegen Markus, sondern hängt mit der Umkehrung der bisherigen Linie Galiläa-Jerusalem in Jerusalem-Galiläa zusammen. Demnach endete die Geschichte ehemals mit τρόμος καὶ ἔκστασις“50 .

Letzteres ist freilich schwer vorstellbar. Sicher ist nur, dass V.8a: καὶ ἐξελθούσαι („und sie gingen hinaus“) zur ursprünglichen Überlieferung gehört. Der Fortgang: „sie flohen (ἔφυγον) vom Grab weg, denn Zittern (τρόμος) und Entsetzen (ἔκστασις) hatten sie erfasst“ (V.8b.c), greift Mk  14,50 („alle [Jünger] flohen“) auf und bezieht diese Aussage – in veränderter Situation – nun auch auf die Frauen. Die Annahme drängt sich auf, dass diese Schlusspointe gleichfalls auf den Evangelisten zurückgeht, der mit ihr ein letztes Mal betont: Der österliche Neuanfang verdankt sich allein dem Auferweckten! Er ist es, der „Zittern und Entsetzen“ überwindet und neuen Glauben ermöglicht. Die Frage, welcher Erzählschluss durch Mk  16,8 verdrängt wurde, kann erst nach Erkundung des lkn.-joh. Zweigs der Überlieferung eine Antwort finden.

himmlische Botschaft eine solche „den Jüngern und Petrus“ erst noch ankündigen lässt, die Frauen nicht lediglich darüber als schon geschehen informiert. 47  Schleritt, Jüngling 37; ebd.: „Wenn Mk  16,7 getilgt wird, bleibt […] von der Geschichte nur ein sonderbarer Torso übrig, den man ohne Not nicht für den Abschluss der älteren Passionserzählung halten sollte“. ders., Passionsbericht 483. 48  Schleritt, Jüngling 88; vgl. bereits ders., Passionsbericht 483. – Der Name des Petrus erinnert an seine Verleugnung. Die Ankündigung der Christophanie bedeutet für ihn einen Neuanfang. Auch dieser kontextuelle Rückverweis in die zurückliegende PE hinein lässt den Vorschlag plausibel erscheinen. 49  Vgl. oben II.  12.2. – Lührmann, Mk 271: ein „redaktioneller Verweis in dem Gesamtkonzept des Evangeliums“. Der Leser „wird erinnert an die Schweigegebote und daran, dass sie durch 9,9 befristet waren“. 50 J. Gnilka, Mk II 339; vgl. auch L. Schenke, Auferstehungsverkündigung 47–53.

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

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12.6 Von der Grabinspektion zu den Wundmalen des Auferweckten. Die apologetische Fortschreibung der Basiserzählung durch die PElk/joh und die PEjoh (1) Markus hat die ihm vorgegebene Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer zum Buch-Epilog ausgestaltet, ohne die Erscheinung des Auferweckten, die der himmlische Bote in Mk  16,7 ankündigt, anschließend auch zu erzählen. Anders die PElk/joh, die auf diese Leerstelle reagiert51! Ausweislich der zahlreichen Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes52 hängte sie an die Basiserzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer folgende Episoden an: die Berichterstattung der Frauen bei den Jüngern (D.  2), die dadurch ausgelöste Grabvisite Petri (D.  3) und Jesu Erscheinung vor den Seinen noch am selben Tag (D.  7) 53. Jesu „Friedensgruß“ (Lk  24,36 par. Joh  20,19.21.26) und die Freude der Jünger als Reaktion darauf54 bildeten den beeindruckenden Schlusspunkt der PElkn/joh. PElkn/joh 1.a Auffindung des leeren Grabes „frühmorgens am ersten Tag der Woche“ durch die Frauen 55 und Auftritt von zwei himmlischen Boten im Grab

Lk  24

Joh  2 0

24,1–8

20,1 + 11–13 (siehe unten Nr.  4)

1.b Benachrichtigung der Jünger durch 24,9–11 die Frauen

20,2

2.

20,3–10 (Grabvisite Petri und „der übrigen Jünger“)

Grabvisite Petri

24,12

51  Angesichts des abrupt erscheinenden Schlusses Mk  16,8 wird freilich des Öfteren vermutet, dass Mk „ursprünglich über die Grabesgeschichte hinaus noch einen Bericht von einer Erscheinung des Auferstandenen gebracht hat“ (Bultmann, Geschichte 309 Anm.  1); denn „wenn dieser Schluss in starkem Widerspruch zu den späteren Osterlegenden gestanden hat“, ließe sich seine textliche Unterdrückung „leicht“ erklären (ebd.). Doch bleiben derartige Annahmen Spekulation, wie es auch nicht gelingen konnte, aus der Ergänzung des Mk durch Mt  28,16–20 eine angeblich ursprüngliche mkn. Fassung einer galiläischen Erscheinungsgeschichte zu rekonstruieren (Lk und Joh mit ihren Jerusalem-Traditionen fallen für derartige Versuche aus). 52  Siehe oben die Liste in 12.1 unter (4). – Klein, Frage 66–73; Schleritt, Passionsbericht 500–503. Auch Reinbold, Bericht 68, beobachtet die Übereinstimmungen, zieht daraus aber keine weiteren Schlüsse. Richtig Becker, Auferstehung 17: Joh und Lk weisen „über die Erzählung vom leeren Grab hinaus gemeinsame Ostertraditionen auf“, „die sie ihren verwandten Ausformungen der Ostererzählung entnahmen“. 53  Joh  20,19 („Als es Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche“) hat aufseiten des Lk keine Entsprechung; vgl. Lk  24,36. Aber dem weiteren Kontext von Lk  24 ist zu entnehmen, dass auch Lk sich die Szene im engen zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen „am ersten Tag der Woche“ (Lk  24,1) vorstellt, genauer: am späten Abend oder zu früher Nachtzeit. 54  Vgl. Joh  20,20: „da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen“ mit Lk  24,41a: „als sie aber vor Freude noch nicht glaubten und [bloß] staunten“. Lk  24,41 f. (die Episode vom gebratenen Fisch, den der Auferweckte vor den Augen der Jünger verzehrt) geht auf die lkn. Redaktion zurück. 55  Lk  24,1 zufolge gehen die Frauen in der Absicht zum Grab, den Leichnam zu salben (φέρουσαι ἃ ἡτοίμασαν ἀρώματα). In Joh  20,1 fehlt dieses Element. Auf welcher vorjoh. Stufe es ausfiel, lässt sich nicht sagen.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

PElkn/joh

Lk  24

Joh  2 0

3.

(siehe oben Nr.  1) 20,11–13 (Auftritt zweier himmlischer Boten im Grab)

4.

24,12–35 (Emmaus­ erzählung)

20,14–18 (Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena)

24,36–43

20,19–23

5.

Erscheinung Jesu vor den Elf noch am selben Tag

Lukas hat die Geschehensabfolge der PElk/joh aufbewahrt und sie lediglich um die Geschichte von den beiden Emmausjüngern (= Nr.  4) ergänzt56 . Bei Johannes steht die Episode der Grabvisite durch Petrus und „die übrigen Jünger“57 voran, was offenkundig sekundär ist: Mittels Joh  20,2, einer künstlich anmutenden Naht, ist sie in ihre neue Umgebung eingebunden 58 . Auch die Basiserzählung von der Auffindung des leeren Grabes ist bei Lukas ursprünglicher erhalten. Bei Johannes ist sie um ihre eigentliche Pointe – die Kundgabe der Auferweckung durch die beiden himmlischen Boten – gekürzt. Der Torso hat bei ihm lediglich die Funktion, die sich unmittelbar anschließende Christophanie vor Maria Magdalena vorzubereiten, welche die Klimax seiner Erzählung bildet. (2) Kennzeichen der Fassung der PElk/joh ist ihre apologetische Tendenz, die sich in allen drei Szenen abzeichnet. Wenn im Grab statt einem (wie bei Markus) nun zwei „Männer in leuchtendem Gewand“ (Lk  24,6) bzw. „zwei Engel in weißen Gewändern“ (Joh  20,12) auftreten, entspricht das „der Rechtsnorm, dass eine Sache erst auf eine Aussage von zwei oder drei Zeugen hin gültig ist (Dtn  19,15b)“59. Und wenn Petrus auf die Nachricht der Frauen hin zum Grab eilt, um den Bericht der Frauen zu überprüfen, und dabei auf die dort liegenden Leinentücher trifft, bestätigt er nicht nur, dass das Grab leer war, sondern auch kein Leichenraub naheliegt60 . Petrus als Autoritätsfigur stützt das Zeugnis der Frauen. Auch in der dritten Szene ist die apologetische Absicht mit Händen zu greifen:

56  Sie hat er mit der von ihm gebildete Szene Lk   24,33–35, den Empfang der beiden Jünger durch die Apostel in Jerusalem, in den Kontext eingebunden. Wenn die Elf von einer Christophanie vor Simon berichten, der in V.36–49 eine solche vor allen Jüngern folgt, dürfte im Hintergrund die Formel 1Kor  15,5 („er erschien dem Kephas, dann den Zwölf“) stehen. 57  Zum Nachtrag des geliebten Jüngers durch die Redaktion siehe oben II.  12.4 unter (1). 58  Becker, Joh II 716: „Maria verlässt nach V.2 das Grab, um den Jüngern die Nachricht zu bringen, das Grab sei leer, aber in V.11 steht sie, ohne dass ihre Rückkehr genannt wäre, wieder beim Grab. Ja, V.11 setzt eigentlich voraus, sie habe den Ort des Grabes gar nicht verlassen“. – Obwohl Maria Magdalena bei ihrem flüchtigen Grabbesuch lediglich die Entfernung des Steins (Joh  20,1 par. Lk  24,2) feststellt, erklärt sie, den Befund bereits deutend: „Sie haben den Herrn weggenommen“! 59  Eckey, Lk II 970; vgl. Apg  1,10: Zwei himmlische Boten tun Jesu Himmelfahrt kund. 60  Die lkn. Variante, dass Petrus allein zum Grab aufbrach (24,12), entspricht wohl der PElk/joh. In der PEjoh kamen obiger Rekonstruktion (12.4 unter [1] [b]) zufolge „die anderen Jünger“ hinzu.

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

Lk  24,36–43

Während sie aber so redeten,

503

Joh  2 0,19–23 (25.27) 19 Als nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und die Türen, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren,

36

kam Jesus und trat er selbst in ihre Mitte (αὐτὸς ἔστη ἐν trat in [ihre] Mitte (ἔστη εἰς τὸ μέσον) μέσῳ αὐτῶν) und spricht zu ihnen: und spricht zu ihnen: Friede (sei) mit euch!   Friede (sei) mit euch! 37 Aber sie erschraken und, in Furcht geraten, meinten sie, einen Geist zu sehen. 38 Und er sprach zu ihnen:   Was seid ihr bestürzt  und weshalb steigen Zweifel in eurem Herzen auf? [25Wenn ich nicht das Mal an seinen 39  Seht (ἴδετε) meine Hände und meine Händen sehe (…) [27Sieh meine Hände! Füße,   dass ich es bin!  Betastet mich (ψηλαφήσατέ με) und seht Streck deine Hand aus und leg sie in meine (ἴδετε): Seite!]   Ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen,   wie ihr seht, dass ich (sie) habe. 40 20 Und nachdem er dies gesagt hatte, Und nachdem er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und die Füße. zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. 41 Als sie aber vor Freude noch nicht glaubten Da freuten sich die Jünger, und sich (bloß) wunderten, als sie den Herrn sahen. sagte er zu ihnen:   Habt ihr etwas zu essen hier? 42 Da reichten sie ihm ein Stück gebratenen Fisch. Und er nahm und aß es vor ihnen. 21 Jesus sagte nochmals zu ihnen:   Friede euch!   Wie mich der Vater gesandt hat,   so sende ich euch. 22 Und nach diesen Worten hauchte er sie an und spricht zu ihnen:   Empfangt heiligen Geist! 23   Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen.  Welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Die Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes geben die Substanz der Szene in der PElk/joh deutlich zu erkennen: Jesus tritt in ihre Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch! Er zeigt ihnen seine Hände (und Füße) 61. Die Jünger freuen sich. Lk  24,41 f. einerseits und Joh  20,21–23 andererseits sind zur PElk/joh hinzugewachsen: Während die Episode, dass Jesus um Speise bittet und gebratenen Fisch isst, sich Lukas verdanken könnte 62 , gehen die Wiederholung des Friedensgrußes und die Sendung der Jünger Joh  20,21 auf Johannes zurück63; V.22 dürfte bereits auf der Ebene der PEjoh ergänzt worden sein. Auf den ersten Blick scheint das Intermezzo Lk  24,37–39 ein lkn. Einschub zwischen Friedensgruß und dem Zeigen der Hände und Füße (mit ihren Wundmalen) zu sein. Ein Vergleich mit dem vierten Evangelisten führt indes zu einem anderen Ergebnis. Zum einen ist „die massive Demonstration bei Joh ‚eigentlich unmotiviert‘“64. Zum anderen benutzt ­Johannes in seiner Thomasperikope Motive, die aus diesem Intermezzo stammen könnten: (a) das Sehen der Hände Jesu (mit seinen Wundmalen) und (b) die Berührung Jesu65. Die Konsequenz daraus kann nur lauten: In der PElk/joh folgte auf den Friedensgruß eine Bemerkung zum Zweifel der Jünger und die Aufforderung Jesu an sie, seine Hände und Füße (mit den Wundmalen) zu „sehen“ und ihn (?) zu betasten. Wie dies formuliert war, bleibt unbekannt. Das zweite „seht (ἴδετε)“ bei ­Lukas samt Erklärung: „Ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich (sie) habe“, scheint auf lkn. Redaktion zurückzugehen.

Die apologetische Absicht der PElk/joh liegt zu Tage. Weil der Auferweckte sich mittels seiner Wundmale selbst identifiziert, sind Zweifel an seiner Auferweckung nicht angebracht, das will sagen: Die Kunde von der Christophanie Jesu vor den Seinen ist zuverlässig. Lukas hat die Szene zum Argument gegen eine spiritualisierende Deutung der Auferstehung ausgearbeitet, Johannes greift Motive auf, die ihm bei der Gestaltung seiner Thomasszene von Nutzen sind.

Siehe oben S. 64 Anm. 61 zu Ps 22,17c. Bovon, Lk IV 576–583, bietet Informationen zur überlieferungskritischen Erforschung des gesamten lkn. Zusammenhangs. 63  Schnackenburg, Joh III 381 f. 64  Schleritt, Passionsbericht 505, unter Bezug auf Dauer, Johannes: ebd. 224: „Zur Feststellung seiner Identität weist er [sc. Jesus] sich vor seinen Jüngern demonstrativ aus. Warum tut er das? Erkennen ihn die Jünger nicht? Zweifeln sie?“ 65  Lk  24,39: „Betastet mich!“; Joh  20,27: „Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite!“ 61 

62 

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

505

(3) Die PEjoh verstärkt die apologetische Tendenz der PElk/joh. Sie weiß nicht nur vom Auftritt zweier himmlischer Boten im Grab (Joh  20,12 par. Lk  24,4), sondern auch davon, dass „einer beim Kopf“ stand und „einer bei den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen war“ (V.12). Die beiden Boten markieren den Ort der Ablage des Leichnams und schließen ihre Verwechselung aus. Bei der Episode von der Grabinspektion durch Petrus und „die anderen Jünger“ weiß die PEjoh von „Leinentüchern“ (Joh  20,5 f. par. Lk  24,12) und einem „Schweißtuch, das auf Jesu Haupt gelegen hatte“, dessen Ablage sie pedantisch beschreibt: Es lag „nicht bei den Leinentüchern, sondern gesondert zusammengefaltet an einem eigenen Ort“ (V.7). Die Botschaft ist klar: Ein Leichenraub ist ausgeschlossen! Petrus und „die anderen Jünger“ können es bezeugen. Klärungsbedürftig ist die Frage, auf welcher joh. Stufe die beiden Episoden der PElk/joh (Begegnung der Frauen mit zwei himmlischen Boten im Grab – Grabinspektion durch Petrus) umgestellt wurden: auf derjenigen der PEjoh66 oder durch den Evangelisten67? Prüfstein dieser Frage ist der sperrige V.9: Wenn er zur PEjoh gehörte, woran nicht zu zweifeln ist68 , macht die Feststellung, sie hätten „die Schrift noch nicht verstanden, dass er von den Toten auferstehen muss“, nur vor der Proklamation der Auferstehung Jesu durch die Engel Sinn, nicht aber, nachdem sie durch die Frauen in Kenntnis darüber gesetzt wurden69. Ein flankierendes Argument ergibt sich aus dem Plural V.2e.f: „Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen und wir wissen nicht (οὐκ οἴδαμεν), wohin sie ihn gelegt haben“. Die PEjoh weiß noch (wie die Vorgängerfassungen und die mkn. Überlieferung) von mehreren Frauen, die am frühen Morgen das Grab besuchen, der Evangelist spricht seit 20,1 nur von Maria Magdalena70 . Die PEjoh war es also, welche die Notiz von der Grabinspektion (Lk  24,12) nach vorne stellte, sie ausbaute und durch Einfügung von V.2 notdürftig mit dem Kontext verknüpfte. Veranlasst wurde sie dazu durch ihre verstärkte apologetische Absicht: Zuerst sollte menschliche Fremdeinwirkung beim Verschwinden der Leiche ausgeschaltet werden, dann ergeht die Kunde der Auferstehung aus dem Mund der himmlischen Boten.

66  Zugunsten dieser Annahme bietet Schleritt, Passionsbericht 479–483, überzeugende Argumente; ähnlich Becker, Joh II 718 f., allerdings mit einer anderen Gesamtsicht der Entwicklung. 67  Zeller, Ostermorgen 153. 68  Der Redaktion war V.9 vorgegeben (siehe oben 12.4 unter [1]), vom Evangelisten, dem das Sprachspiel der „Auferstehung“ für Jesu Erhöhung im Tod eher fremd ist, stammt der Vers gewiss nicht. So bleibt nur die Urheberschaft der PEjoh übrig. 69  Schleritt, Passionsbericht 481. – Es ist davon auszugehen, dass die Grabesgeschichte in der PElk/joh wie in der PEG in der Auferstehungskunde der Boten gipfelte (Mk  16,6 = PEG) und in den Auftrag mündete, den Jüngern Jesu „Erscheinen“ anzukündigen (Mk  16,7 = PEG). Die sich anschließende Grabvisite des Petrus, der die Kunde überprüfen will, bildeten die Autoren der PElk/ joh , um ihrer apologetischen Absicht Ausdruck zu verleihen. – Bei Lukas fehlt ein Satz wie Joh  20,9. Dafür ergänzt der Evangelist als Reaktion auf den Bericht der Frauen V.11: „Und diese Worte kamen ihnen wie dummes Geschwätz vor, und sie glaubten ihnen nicht“. Trotzdem folgt noch Petri Grabinspektion, die in seine „Verwunderung“ einmündet. 70  Wenn er V.2 in V.13, jetzt an die Engel gerichtet, wieder aufnimmt, wandelt er den Plural in den Singular um: „Sie haben meinen Herrn aus dem Grab genommen, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“.

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II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

Der Osterzyklus endete in der PEjoh wie in der PElk/joh: Jesus begegnet den Seinen und spricht ihnen den Frieden zu. Er überwindet alle Zweifel, indem er mit Verweis auf seine Wundmale sich eindeutig zu erkennen gibt. Der Abschluss der Szene in der PEjoh ist neu: Jesus haucht die Jünger an und befähigt sie zur Vergebung der Sünden, indem er zu ihnen spricht: „Empfangt heiligen Geist!“71 (4) Auf dem Hintergrund der bisherigen Einsichten klärt sich nun auch die Intention des Johannes: Er verarbeitete die ihm vorgegebene erste Hälfte der Oster­ erzählung seiner PEjoh, indem er sie konsequent auf die neue Episode der Begegnung der Maria Magdalena mit Jesus als ihre Klimax hin ausrichtete. Dafür nahm er an seiner Vorgabe zwei tiefgreifende Veränderungen vor: (a) Da er sich, wie schon seine Umgestaltung der Frauenliste in 19,25 zeigt, nur für Maria Magdalena interessiert, lässt er diese von Anfang an allein agieren (20,1 f.11–18). Begründet ist diese Reduktion durch seine Überlieferung von der Protophanie Jesu, die nur Maria Magdalena als Offenbarungsempfängerin kannte (siehe unten). (b) Die Botschaft der Auferweckung Jesu durch die beiden Engel im Grab, die mit dem Auftrag an die Frauen verbunden war, den Jüngern Jesu „Erscheinen“ anzukündigen, wird in der PEjoh noch auf 20,11 f. gefolgt sein. Der Evangelist brach beide Elemente weg und entkernte damit die Grabesgeschichte zugunsten der sich anschließenden Christophanie vor Maria Magdalena (V.14–18). Was die Engel den Frauen in der Grabesgeschichte ankündigten, erzählt der Evangelist auf den Spuren der PElk/joh erst in 20,19–23, die Erscheinung Jesu vor Maria schaltet er vor. Der Auftrag der Engel an die Frauen ist in denjenigen Jesu an Maria in V.17 transformiert.

Wenn die erste Hälfte des joh. Osterzyklus auf die Protophanie Jesu vor Maria Magdalena zuläuft, stellt sich die Frage, ob erst der Evangelist diese Episode selbst geschaffen hat oder ob sie auf einer Überlieferung fußt. Der Vergleich mit Mt  28,9 f. spricht für die zweite Alternative. 12.7 Die Protophanie Jesu vor Maria Magdalena (und Maria Jacobi) Die Erzählung von der Protophanie Jesu vor Maria Magdalena (Joh) bzw. vor den zwei Marien (Mt) folgt sowohl beim ersten als auch beim vierten Evangelisten unmittelbar auf die Geschichte vom leeren Grab. Die motivischen und sprachlichen Berührungen beider Fassungen in Verbindung mit einem identischen Strukturmuster Eröffnung – Hauptteil – Schluss deuten auf eine gemeinsame Überlieferung hin72:

71  Schnackenburg, Joh III 385: „Wahrscheinlich hat sie (sc. diese Darstellung) der Evangelist aus seiner Quelle übernommen; denn außer dem singulären Ausdruck ἐμφυσάω (nur hier im NT, doch öfter in LXX) ist auch πνεῦμα ἅγιον für Joh ungewöhnlich. Meistens setzt er den Artikel, und das Attribut ἅγιον kommt nur noch in 1,33 und 14,26 vor, an beiden Stellen offenbar im Anschluss an traditionelle urchristliche Sprache“. 72 Schleritt, Passionsbericht 495–497; vgl. auch Hengel, Maria Magdalena 38 f. – Becker, Auferstehung 36, bezweifelt unter Verweis auf die unterschiedlichen Gattungen das Vorliegen einer gemeinsamen Überlieferung: Mt böte eine „Beauftragungsepiphanie“, Joh eine „verborgene

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

Mt 28,9 f.(8) Eröffnung Begegnung Anrede

c

Reaktion

e

und sagte: Seid gegrüßt! d

Sie aber traten hinzu, ergriffen seine Füße gund fielen vor ihm nieder.

f

Auftrag Jesu

Joh 20,14.16–18

9a b

Hauptteil

Und siehe, Jesus begegnete ihnen

507

10a

Da sagt Jesus zu ihnen:

Jesus sagt zu ihr: bMariam!

16a

Sie dreht sich um, dsagt zu ihm […]: Rabbuni […].

c

Jesus sagt zu ihr

Halte mich nicht fest (μή)! Denn ich bin noch nicht zu Vater hinaufgegangen. c c Geht (ὑπάγετε), Geh (πορεύου) aber zu meinen d Brüdern (πρὸς τοὺς ἀδελφούς tut kund meinen Brüdern μου) (τοῖς ἀδελφοῖς μου), e sie sollen nach Galiläa gehen, dund sag ihnen: f e dort werden sie mich sehen. Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott. b

Fürchtet euch nicht (μή)!

Und sie sieht Jesus dastehen

14c

17a b

Schluss

Ausführung 8Und sie gingen schnell weg des Auftrags (vom Grab mit großer Furcht und Freude), liefen, um es seinen Jüngern kundzutun (ἀπαγγεῖλαι τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ).

Es geht Maria, die Magdale­ nerin,

18

und tut den Jüngern kund (ἀγγέλουσα τοῖς μαθηταῖς): Ich habe den Herrn gesehen! Und dies hatte er ihr gesagt.

Die Konturen der jeweils eigenständig verschriftlichten (mündlichen) Überlieferung sind deutlich: Jesus begegnet Maria Magdalena (bzw. beiden Marien) und gibt sich zu erkennen. Die Frau(en) reagiert (bzw. reagieren), woraufhin Jesus ver­ neinend abwehrt (μή: Mt  28,10b/Joh  20,17a) und sie mit einem Auftrag zu „seinen Brüdern“ (= die Jünger) schickt. Die Erfüllung des Auftrags wird konstatiert73. Das beiden Evangelisten gemeinsame „Gerüst“ erhält Farbe, wenn die Unterschiede gewichtet werden:

Epiphanie“ (anders noch ders., Joh II 723–726). Doch die Stilisierung der Szene zu einer „verborgenen Epiphanie“ durch Joh ist sekundär, V.14d–15, ein typisch joh. Missverständnis, redaktionell; das Ambiente („Gärtner“) ist aus Joh  19,41 (PEjoh) herausgesponnen (siehe auch unten unter [c]); Vollenweider, Ostern 109, rechnet „entsprechend der Tendenz, Christi Erscheinungen zu vermehren“, mit einer Erweiterung der mit den Frauen verbundenen Graberzählung durch die Epiphaniegeschichte vor Maria Magdalena durch Mt und Joh unabhängig voneinander, will aber nicht ausschließen, dass „eine solche ‚Bereicherung‘ sich einer sonst untergegangenen Überlieferung von einer Christophanie vor Maria Magdalena verdankt, die von den Überlieferungen des leeren Grabes unabhängig sein könnte“ (dort auch weitere Lit.). 73  Nur hier weicht die Sequenz bei Mt ab: Die Erfüllungsnotiz steht bei ihm bereits – fast wortgleich mit der joh. – am Ende der Grabeserzählung.

508

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(a) War die ursprüngliche Überlieferung auf Maria Magdalena als einzige Offenbarungsempfängerin fokussiert (Joh) oder war es eine Ostergeschichte mit mehreren Frauen (Mt)? Eine Antwort ergibt sich aus Joh  20,16: Wenn Johannes die Anrede Marias „Rabbuni“ mit: „auf Hebräisch“ kommentiert und sie übersetzt: „was heißt: Lehrer“, war sie ihm „mit Sicherheit“ vorgegeben. Dann aber „ist es wahrscheinlich, dass auch die dieser Anrede vorangehende und ihr korrespondierende Anrede ‚Maria‘ (V.16b) traditionell ist“74. Daraus folgt: Die Überlieferung wusste von einer Erscheinung, „die allein Maria Magdalena – und nicht etwa mehreren Frauen (vgl. Mt  28,9 f.)  – zuteilwurde“75. Matthäus hat die Erscheinung – entsprechend seiner bisherigen redaktionellen Linie – den zwei Marien zugeordnet (27,61; 28,1: die Magdalenerin + „die andere Maria“). (b) Beide Evangelisten lokalisieren die Epiphanie Jesu in der Nähe seines Grabes. Wie die Geschichte genau einsetzte, lässt sich nicht sagen. Wenn die Anrede der Frau durch Jesus mit „Mariam“ ursprünglich ist (im Unterschied zur konventionellen mt. Formel: „Sei[d] gegrüßt!“), könnte es sein, dass sie folgendermaßen begann: Jesus begegnet der Frau am Grab zunächst unbemerkt, er spricht sie an, sie „wendet sich um“ und antwortet mit „Rabbuni“, womit sie ausdrückt, dass sie ihn wiedererkannt hat76 . (c) Die Aufforderung Jesu an die Frauen Mt  28,10b: „Fürchtet euch nicht!“ knüpft an die Rede des Engels in V.5 an, bietet aber über diese hinaus nichts Neues: Rede des Engels

Rede Jesu

5c

Μὴ φοβεῖσθε ὑμεῖς καὶ ταχὺ πορευθεῖσαι εἴπατε τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ 7d.e καὶ ἰδοὺ προάγει ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν 7f ἐκεῖ αὐτὸν ὄψεσθε.

10b

7a.b

10c.d

Μὴ φοβεῖσθε ὑπάγετε ἀπαγγείλατε τοῖς ἀδελφοῖς μου 10e ἵνα ἀπέλθωσιν εἰς τὴν Γαλιλαίαν 10f κἀκεῖ με ὄψονται.

Nachdem Jesus die Frauen schon begrüßt hat und diese ihm zu Füßen gefallen waren, ist seine Aufforderung: „Fürchtet euch nicht!“ unpassend. Joh  20,17a: „Halte mich nicht fest!“ setzt eine Reaktion Marias voraus, die vorweg nicht benannt wird, sondern nur erschlossen werden kann: „Offenbar ist sie (sc. Maria) ihm bei seinem Anruf zu Füßen gefallen (vgl. 9,38 und so Mt  28,9)“77. Mt  28,9 f.g sagt es ausdrücklich: „sie ergriffen seine Füße und fielen vor ihm nieder“. Beide Beobachtungen lassen sich miteinander verschränken. Die Überlieferung erzählte: Maria, von Jesus beim Namen genannt, spricht ihn mit „Rabbuni“ an, umfasst seine Füße, wirft sich vor ihm nieder, woraufhin ihr Jesus erklärt: „Halte mich nicht fest!“ Die Begründung: „denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen“ (V.17b) wie auch die Botschaft an die Jünger, die das joh. Sprachspiel vom „Aufstieg zum Vater“ nach V.17b ein zweites Mal einsetzt (V.17e), gehen auf den Evangelisten zurück. (d) Den sprachlichen und strukturellen Übereinstimmungen zwischen Mt  28,10 und Joh  20,17 ist zu entnehmen, dass die Überlieferung in einen Auftrag Jesu an Maria Magdalena einmündete. Joh  20,17 verdankt sich dem Evangelisten. Mt  28,10c–f wird die ursprüng­ liche Gestalt des Auftrags Jesu aufbewahrt haben, nämlich „seinen Brüdern“ kundzutun, dass sie ihn „sehen“ werden. Von der Gattung her liegt eine „Beauftragungsepiphanie“ vor. (e) Die Überlieferung endete damit, dass Maria Magdalena dem Auftrag Jesu entsprach.

74 

Schleritt, Passionsbericht 490. Ebd. Anm.  72. 76  Ebd. 488 f., unter Verweis auf das seltsame zweimalige „Sich-Umdrehen“ der Maria in V.14 und 16. 77  Wilckens, Joh 309. 75 

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

509

Wie alt die Geschichte ist, lässt sich vorerst nicht sagen. Feststeht, dass sie mit der von der Ersterscheinung Jesu vor seinen männlichen Anhängern 1Kor  15,5 konkurriert 78 . Das dürfte auch der Grund sein, warum erst Matthäus und Johannes sie rezipieren. Beide gestehen ihr den zeitlichen Vorrang zu, den sie selbst ausdrücklich gegenüber der späteren kollektiven Jünger-Christophanie beansprucht, wenn sie mit dem Auftrag Jesu an Maria Magdalena endet, den Jüngern anzusagen, sie würden „ihn sehen“. 12.8 Vom Suchen und Nicht-Finden. Das Konstrukt des PEG -Epilogs (1) Die vormkn. Erzählung (siehe oben 12.5) wird in etwa der Fassung der PEG entsprochen haben. Offen blieb oben die Frage, welchen Erzählschluss der redak­ tionelle Vers Mk  16,8 verdrängt hat. Frank Schleritt zufolge dürfte sich jener hinter Lk  24,9 f. par. Joh  20,2 (= PElk/joh) verbergen. Dann endete die PEG (wie die PEmk) mit der Notiz, „dass die Frauen (keineswegs schwiegen, sondern) dem Befehl des Jünglings Folge leisteten (wenigstens also etwa: ‚Und sie gingen hin und sagten es den Jüngern‘). Mk hat die Angabe über die Benachrichtigung der Jünger […] in 16,8c verarbeitet und sie zugleich ins Gegenteil verkehrt, um zum Ausdruck zu bringen, dass zwar das leere Grab von den Frauen entdeckt wurde, dass aber die Aufer­ weckungsbotschaft erst von der Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern ihren Ausgang nahm“79. Wenn die Jünger am Ende der Grabeserzählung ausdrücklich als Empfänger der Osterbotschaft genannt werden, macht diese Annahme auch insofern Sinn, als es sich um den Abschluss der alten Passionserzählung insgesamt handelt. Seit deren Exordium begleiten sie Jesus80 . Bei dessen Gefangennahme verlassen sie die Bühne (Petrus nach seiner Verleugnung) und finden erst im Epilog wieder Erwähnung – mit gutem Grund, denn die Botschaft des „jungen Mannes“ setzt einen Neuanfang. Die Jerusalemer Gemeinde, in deren Schoß die PEG gebildet und tradiert wurde, konnte in der Erzählfigur der Jünger ihren eigenen Ursprung wiedererkennen. (2) Der Epilog greift das Bekenntnis von 1Kor  15,3–5 auf und veranschaulicht es unter Einsatz der beiden narrativen Faktoren Zeit und Ort nach Art einer Haggada mit einer symbolisch aufgeladenen Geschichte81. Das theologische Datum der Auferweckung Jesu „am dritten Tag“ (1Kor  15,4) wird in ein chronologisches Datum übersetzt: Die Frauen besuchen das Grab beim Aufgang der Sonne „am ersten Tag der Woche“, dem dritten unter Einschluss des Todestages Jesu. Der Faktor Ort 78  Hengel, Maria Magdalena 36: „Auch aus apologetischen Gründen war die Protophanie vor Maria Magdalena wenig überzeugend. Das spätere Urteil des Celsus: ‚Wer hat dies gesehen? Ein verrücktes Weib, wie ihr behauptet …‘ [Orig, Cels  2,55], konnte jeder, der nicht zur Gemeinde gehörte, vorwegnehmen“. 79  Schleritt, Passionsbericht 488. 80  Siehe unten 13.1. 81  Kremer, Osterevangelien 38; zu den symbolischen Zügen der Erzählung gehören der Aufgang der Sonne, der schwere Stein vor dem Haus der Toten sowie dessen wunderbare Öffnung. – Zum Bezug zu 1Kor  15,3–5(7) siehe oben Exkurs 2.

510

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

findet seine Veranschaulichung mittels eines Schemas, das aus der Gattung antiker Entrückungserzählungen stammt: Die Frauen „suchen“ den Leichnam Jesu (Mk  16,6: ζητεῖτε) 82 , finden ihn aber nicht83. Lukas, der auf die Gattung der Entrückung zur Bildung seiner Himmelfahrtserzählung (Apg  1,9–11; Lk  9,51a) zurückgreift, ergänzt das ihm von Markus her vorgegebene Stichwort „suchen“ nicht zufällig um das dort noch fehlende korrespondierende „Nicht-Finden“: οὐχ εὗρον τὸ σῶμα τοῦ κυρίου Ἰησοῦ (Lk  24,3). Den Leichnam Jesu nicht zu finden ist die Kehrseite der Entrückung Jesu, die der himmlische Bote als „Auferweckung“ interpretiert84. Als weiteres prägendes Moment kommt die Gattung der Angelophanie hinzu, die hier dazu dient, die „Leerstelle“ des „Nicht-Findens“ offenbarungstheologisch zu füllen. Damit gewinnt das leere Grab „innerhalb der Form den Rang eines Zeichens“85.

82  Auf der Erzähloberfläche besuchen die Frauen das Grab, um Jesus zu salben. Standhartinger, Women 564: „Visits to the tomb were […] part of ancient mourning rituals“; vgl. Ev­Petr  12(50): „was die Frauen an den von ihnen geliebten Sterbenden zu tun pflegten“; 12(54): „so wollen wir […] am Eingang niederlegen, was wir zu seinem Gedächtnis mitbringen, wollen weinen und klagen, bis wir wieder heimgehen“. Das Wissen um derartige Trauerbesuche am Grab könnte die Bildung der Erzählung mitbestimmt haben. 83  2Kön  2 ,16 f. (Elija): „suchen“ – „nicht finden“; Gen  5,24 (Henoch): „er wurde nicht gefunden“ (= LXX: καὶ οὐχ ηὑρίσκετο)“ (vgl. Hebr  11,5; 1Clem  9,3 etc.); Philo, QuaestGn  2,86: „gesucht“ – „nicht gefunden“; 2Hen  1,8 f.; 2,4: „suchen“; TestHiob  39,11–41,4: „Ihr werdet meine Kinder nicht finden, denn sie sind aufgenommen worden in den Himmel von ihrem Schöpfer, dem König“ (V.12) (Schaller, Testament 359 Anm.: „Hinter dem Motiv des Nichtfindens steht hier […] die Vorstellung von einem leeren Grab“). – DiodS   4,38,5: „suchen“ – „nicht finden“; Philostr, ­VitAp  8 ,31: „ein Grab oder eine angebliche Grabstätte des Apollonios habe ich nirgends gefunden“. – Pesch, Mk II 522–524; Becker, Auferstehung 19–27; D.A. Smith, Tomb 47–61.84; zur Korrespondenz von leerem Grab und Entrückungsvorstellung Bickermann, Grab 281–292; Cook, Tomb 597 f., übersieht die Motivparallelen, wenn er gegen Bickermann behauptet: „there is no use of verbs normally associated with translation such as ἁρπάζω or adjectives such as ἀφανής“. 84  Während die frühjüdischen Texte die Vorstellung einer Auferstehung am Ende der Zeiten auf die für ihre Toratreue zu belohnenden Gerechten beziehen und damit kollektiv interpretieren (vgl. 1Hen  22,5–13; Dan  12,2 f. u. ö.) – abgesehen von den Märtyrererzählungen des 2Makk (vgl. 7,7.11.14.23.29.36), die von der Auferstehung der sieben Brüder und ihrer Mutter unmittelbar nach ihrem Tod ausgehen (vgl. auch Mk  6 ,14) –, gelten die Entrückungserzählungen einzelnen Lebenden (z. B. Henoch, Elija oder Romulus). Im Unterschied zu ihnen erzählt Mk  16,1–8 von der als Auferweckung interpretierten Entrückung eines Gestorbenen. Die Verknüpfung der Vorstellungen hat zur Transformation beider geführt. – A.Y. Collins, Mk 794: „Since the earliest recoverable form of Mark does not depict Jesus as walking the earth in bodily form, it is likely that the author assumed that his earthly body had been transformed“ (ebd. 782–794: „Excursus: Resurrection in Ancient Cultural Contexts“); D.A. Smith, Tomb 97: Mk „combined the disappearance (assumption) tradition with the resurrection (appearance) tradition“. 85 J. Gnilka, Mk II 340; Becker, Auferstehung 23: Die Auferstehungsbotschaft ist vorrangig, das leere Grab „nachgeordnete(s) Zeichen“. „Es ist gleichsam ‚irdischer Rest der Leere‘ als Ergebnis der Tat Gottes“.

12. Von der Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“

511

(3) Mk  16,1–8 existierte nie als Einzelüberlieferung86 , sondern gehörte von Anfang an als Epilog zur Passionserzählung87. Während die Annahme, dass die Glaubensformel 1Kor  15,3–5 im Hintergrund steht, sich breiter Anerkennung erfreut, wird die Frage, wie die Geschichte von der Auffindung der leeren Grabkammer ausgerechnet durch Maria Magdalena (und die anderen Frauen) sich zur Konkurrenzüberlieferung einer Ersterscheinung Jesu vor ihr (nicht Petrus und den Jüngern) verhält, bislang kaum gestellt. Frank Schleritt hat das Verdienst, sie aufgeworfen und eine plausible Antwort vorgeschlagen zu haben: (a) Die Überlieferung von der Protophanie vor Maria Magdalena ist – im Vergleich zur Grabesgeschichte – älter: „Sie handelt nur von einer einzigen Frau (nicht von dreien), sie lässt Jesus von ‚Brüdern‘ reden (nicht von ‚Jüngern‘), und sie entspricht 1Kor  15,4 f. insofern, als sie weder einen die Erscheinung Jesu vorbereitenden Jüngling noch ein geöffnetes oder leeres Grab erwähnt“88 . (b) Wer den Epilog Mk  16,1–8 schuf, kannte nicht nur „die Nachricht, dass Jesus zuerst seinen männlichen Nachfolgern erschienen sei“ (1Kor  15,4 f.), sondern auch die „Überlieferung von der Ersterscheinung Jesu vor Maria Magdalena“. Zwischen beiden Überlieferungen schloss er einen „Kompromiss“: Maria Magdalena „erfährt“ zwar als erste von der Auferweckung Jesu (jetzt allerdings mit anderen Frauen zusammen), aber die Jünger und Petrus bleiben in Einklang mit 1Kor  15,5 „die Ersten“, die den Auferstandenen „sehen“. Damit beseitigte der Autor des Epilogs auch „die Spannung, die zwischen der Dreizahl der in Mk  15,40 namentlich genannten Frauen und dem Maria laut Joh  20,14–18/Mt  28,9 f. zukommenden Sonderstatus bestand“89. (c) Wenn Jesus in der Protophanie vor Maria Magdalena diese damit beauftragt, zu seinen „Brüdern“ zu gehen und ihnen mitzuteilen, dass sie ihn sehen würden, sind diese Worte, kaum verändert, in Mk  16,1–8 einem Himmelsboten in den Mund gelegt. Der „junge Mann“ von Mk  16,5–7 ist literarischer „Epigone des Auferweckten“90 .

Damit öffnet sich der literargeschichtliche Diskurs zur PEG, der hier an sein Ende gelangt, zur Frage, wie die älteste Erzählung entstanden ist. Es ist die komplexe Frage nach der Historizität des Erzählten selbst. Aufgrund der voranstehenden Überlegungen zeichnet sich ab: Die Urheber des Epilogs wussten von einer Protophanie Jesu vor Maria Magdalena, aber auch von namentlich bekannten Frauen, die Jesus auf seinem Kreuzweg begleitet und sein Sterben aus der Ferne mitverfolgt haben. Beide Daten hat die PEG miteinander kombiniert. Die Erzählung Mk  16,1–8 selbst ist ein Konstrukt, das dem menschlichen Bedürfnis nach Anschaulichkeit des Kerygmas entgegenkommt. Einprägsam und bildkräftig, zeugt sie von einer wunderbaren Erzählkunst. Die Annahme, sie könnte auf einem historischen Faktum beruhen, hat sich erledigt. 86  Broer, Urgemeinde 82–86 (ebd. 83 Anm.  24 weitere Vertreter dieser Annahme); Myllykoski, Body 64 f. (zur Figur des jungen Mannes: „a symbolic figure (cf. 14:51–52). This might have been a veiled reference to an earlier tradition, which told how the women saw the risen Jesus himself“) ; L. Schenke, Auferstehungsverkündigung 29 f.53–55. 87  Vgl. oben I.  1.4.2 unter (2). 88  Schleritt, Jüngling 94. 89  Ebd. 90  So der Titel des Beitrags von Schleritt.

E. Ergebnisse der Überlieferungskritik: Die älteste Passionserzählung Einblicke in die älteste Gestalt der Passionserzählung (PEG) ergaben sich im Verlauf der Überlieferungskritik der einzelnen Textsegmente bislang nur etappenweise. Das Puzzle der Resultate soll nun zusammengesetzt und die Erzählung als ganze vor Augen treten. Der Aufweis ihrer inneren Stimmigkeit stützt die Plausibilität der Analysen.

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung Wie lautete die älteste Fassung der PEG? Was lässt sich über ihre äußere und innere Form sagen? Welche Intention verfolgte sie? 13.1 Der ungefähre Wortlaut der PEG Der Wortlaut der PEG lässt sich dort abbilden, wo ihn die beiden Überlieferungszweige – der mkn. und der lkn./joh.1 – übereinstimmend bezeugen. Wo das nicht der Fall ist, sind nur hypothetische Annahmen möglich 2 . Die wesentlichen Züge der PEG sind dennoch gut erkennbar. Auf Basis der voranstehenden Analysen lässt sie sich in 10 Szenen gliedern. Größere Texteinheiten ergeben sich aus Befunden, die in 13.2 darzustellen sind.

1  2 

Dokumentiert in den drei rechten Spalten der nachfolgenden Texttabelle. Ergänzungen sind durch Kursive gekennzeichnet.

514

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(Nr.  0) Die Überschrift der Passionserzählung (ihr titulus) [Evangelium vom Messias]

3

Markus

Lukas

Johannes

[1,1]

(Nr.  1) Jesu Aufstieg nach Jerusalem und sein Einzug in Stadt und Tempel – das Exordium der PEG A. Jesus stieg [mit seinen Jüngern] hinauf (ἀνέβη) nach Jerusalem. Als sie4 sich Betfage am Ölberg näherten. fanden sie ein Fohlen und Jesus setzte sich darauf. B. I. Und die Menge [viele] breitete auf dem Weg ihre Gewänder aus, andere Laubbüschel, die sie von den Feldern abrissen […], und sie riefen:  Hosanna!   Gesegnet (sei) der da kommt im Namen des Herrn5 –   der König Israels!   (Hosanna in den Höhen!) II. Und als er in das Heiligtum (εἰς τὸ ἱερόν) hineinkam, fing er an, die Händler […] im Tempel (ἐν τῷ ἱερῷ) auszutreiben (ἐκβάλλειν), und stieß die Tische der Geldwechsler um […] und sagte zu den Verkäufern der Tauben:   Nehmt das weg von hier!  Macht das Haus meines Vaters6 nicht zu einem Handelshaus7! III. Da sagten die hohen Priester und die Schriftgelehrten zu ihm:   Welches Zeichen zeigst du uns,   dass du dieses tun darfst? Jesus antwortete und sagte zu ihnen:   Ich werde diesen Tempel (τὸν ναόν) auflösen (καταλύσω) 8   und ihn in drei Tagen (wieder) aufbauen.

3 

[10,32]

19,28

11,1 11,4 11,7c

2,13

[12,14a] 12,14b

11,8a 11,8b 11,9a 11,9b 11,9c 11,10b

19,38c

12,13c 12,13d 12,13e 12,13f

11,15b 11,15c

(2,14) (2,15b)

11,15d

(2,15c) 2,16a 2,16b 2,16c

(11,28)

2,18

14,58

2,19

Dazu siehe unten 13.2.1. Der Vorspann setzte mit Jesu Namen ein. Wahrscheinlich nannte er auch seine Begleiter, die Jünger. 5  Ps  118,25 f. 6  Das Motiv des Vaters entspricht dem des Sohnes in Nr.  6 . 7  Vgl. Sach  14,21. 8  Oder „niederreißen“; zur Doppeldeutigkeit von καταλύω siehe oben S. 248 Anm.  139. 4 

515

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung

(Nr.  2) Tödliches Komplott und Todesprophetie

Markus

A. Es war aber nahe das Pascha. (14,1a) Und die hohen Priester und die Schriftgelehrten suchten 14,1b–2 (ἐζήτουν), wie (πῶς) sie ihn (αὐτόν) mit List ergreifen (κρατήσαντες) und töten könnten (ἀποκτείνωσιν). Sie sagten nämlich (γάρ):   Nicht am Fest,   damit es im Volk keinen Aufruhr (θόρυβος τοῦ λαοῦ) gibt.

Lukas

Johannes

22,1 22,2

11,55 11,47

B. Und als er in Betanien war und im Haus Simons, des Aussätzigen, zu Tisch lag, kam eine Frau, nahm ein Alabastergefäß kostbaren Nardenöls, salbte die Füße Jesu und wischte mit ihren Haaren seine Füße ab. Einige aber sagten:  Warum wurde dieses Öl nicht für dreihundert Denare verkauft   und (der Erlös) den Armen gegeben? Jesus sagte:   Lasst sie!  Sie sollte es für den Tag der Zurüstung zu meinem Begräbnis aufbewahren!   Denn Arme habt ihr allezeit bei euch,   mich aber habt ihr nicht allezeit.

14,3

12,1

A’. Und Judas Iskariot (Ἰούδας Ἰσκαριώθ), der Eine der Zwölf (ὁ εἷς τῶν δώδεκα), ging zu den hohen Priestern, dass er ihn ihnen ausliefere (παραδοῖ). Als sie das hörten, freuten sie sich und versprachen, ihm Geld zu geben. Und er suchte (ἐζήτει), wie er ihn bei Gelegenheit (εὐκαίρως) ausliefern könnte (παραδοῖ).

14,10

22,4

14,11

22,5 f.

(Nr.  3) Das letzte Mahl

Markus

Lukas

A. [Und sie kamen in die Stadt / Jesus kommt nach Jerusalem].

14,16b

12,12

B. I. Und als sie zu Tisch lagen und aßen / während des Mahles sprach Jesus:   Amen, ich sage euch:   Einer von euch wird mich ausliefern (παραδώσει) […]. [Ratlosigkeit der Jünger, wer dies sein könne]

14,18a

13,2a

14,18b 14,18c 14,18d [14,19]

13,21a 13,21b 13,21c 13,22

12,3a 12,3b 12,3c

14,4 (14,5)

12,5

14,6a 14,6b

12,7a 12,7b 12,7c

14,7

12,8

22,23

[13,2] [6,71]

Johannes

516

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(Nr.  3) Das letzte Mahl

Markus

Lukas

Johannes

Er aber sprach zu ihnen:  […] Der (seine Hand) mit mir in die(selbe) Schüssel taucht […].

14,20a 14,20c

II. Petrus aber sagte zu ihm: [Beteuerung, selbst sein Leben für Jesus einzusetzen] Und Jesus spricht zu ihm:   Amen, ich sage dir:   Heute (noch),   ehe der Hahn […] kräht,   wirst du mich dreimal verleugnen.

14,29a 22,33a [14,29b.c 22,33b 14,30 22,34

13,37 13,37b.c] 13,38

III. Und er nahm einen Becher, sagte Dank und sprach […]:   Amen, ich sage euch:  Ich werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr   trinken bis zu jenem Tag,   wenn ich davon […] trinke im Reich Gottes.

22,17 14,25

(Nr.  4) Getsemani

Markus

Lukas

A. Und sie gingen hinaus (ἐξῆλθον) und kommen zu einem Grundstück dessen Name Getsemani (ist); und er spricht zu seinen Jüngern […]:   Meine Seele ist betrübt bis zum Tod.   Bleibt hier und wacht!

14,26b 14,32a 14,32b 14,32c 14,34b 14,34c

[22,39a 18,1b]

B. Und er ging ein wenig weiter, warf sich auf die Erde nieder […] und sprach:   Abba, Vater,   alles ist dir möglich!   Nimm diesen Becher von mir!   Aber nicht, was ich will,   sondern was du (willst).

14,35

C. Und er kommt und findet sie schlafend und spricht zu ihnen:   Ihr schlaft […]?   Es ist vorbei,   die Stunde ist gekommen […].   Steht auf,   wir wollen gehen!   Siehe, der mich Ausliefernde (ὁ παραδιδούς) ist da.

14,37a.41a 14,37b 14,41b 14,41c 22,46b 14,41e 14,41f 14,42

22,18

14,36

Johannes

12,27c [12,27d]

12,23b 14,31e 14,31f 14,30b

517

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung

(Nr.  5) Gefangennahme

Markus

I. Und […] es kommt Judas […] und mit ihm eine Schar mit Schwertern und Knüppeln vom Hohepriester (den hohen Priestern). Der ihn Ausliefernde (ὁ παραδιδοὺς αὐτόν) aber hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt:   Den ich küssen werde,   der ist es.   Ergreift ihn   und führt ihn sicher ab. Und gekommen, tritt er […] zu ihm hin (und) sagt:  Rabbi! Und er küsste ihn. Sie aber legten Hand an ihn und ergriffen ihn.

14,43

18,3

14,45

(18,5e)

14,46

18,54

II. Einer aber von den dabei Stehenden zog das Schwert und verwundete den Knecht des Hohepriesters und schlug ihm das Ohr ab.

14,37

18,10

III. Da verließen sie ihn und flohen alle.

14,50

18,8

(Nr.  6) Verhör durch den Hohepriester und Verleugnung des Petrus

Markus

14,53a A. Und sie führten Jesus9 zum Hohepriester ab […] und Petrus folgte ihm von ferne bis hinein in den Palast des 14,54 Hohepriesters (ἕως ἔσω εἰς αὐλὴν τοῦ ἀρχιερέως) und saß (dort) zusammen mit den Dienern und wärmte sich am Feuer. B. I. Die hohen Priester aber […] suchten gegen Jesus Zeugnis, um ihn zu töten, und fanden keines. Viele nämlich legten falsches Zeugnis gegen ihn ab und die Zeugenaussagen waren nicht gleich. […]

14,55

II. Da erhob sich der Hohepriester (und trat) in die Mitte und fragte Jesus mit den Worten:   Antwortest du nichts?   Was bezeugen diese gegen dich? Er aber schwieg und antwortete nichts.

14,60

Lukas

Johannes

Lukas Johannes 18,(13a.)24 18,15a 18,18c.d.25

14,56

14,61

9  Die Re-Nominalisierung („Jesus“ – statt wie zuvor das Personalpronomen) signalisiert den Beginn der neuen Einheit.

518

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(Nr.  6) Verhör durch den Hohepriester und Verleugnung des Petrus

Markus

Wieder fragte ihn der Hohepriester und spricht zu ihm:   Bist du der Messias,   der Sohn Gottes? Jesus aber sagte: 14,62   Ich bin es.  […]. Der Hohepriester aber, der seine Gewänder zerriss, spricht: 14,63   Was haben wir noch Zeugen nötig?   Ihr habt die Gotteslästerung gehört! 14,64   Was meint ihr? Und alle urteilten sie, er sei des Todes schuldig. III. Und einige begannen ihn anzuspucken und sein Gesicht zu verhüllen und ihn zu schlagen und zu ihm zu sagen:  Prophezeie! Und die Diener gaben ihm Ohrfeigen.

14,65

C. I. Und während Petrus unten im Hof (κάτω ἐν τῇ αὐλῇ) ist, kommt eine der Mägde des Hohepriesters. Und als sie Petrus sah, der sich wärmte, blickte sie ihn an und sagte:   Auch du warst mit dem Nazarener Jesus. Er aber leugnete und sagte:   Weder weiß noch verstehe ich,   was du sagst. Und er ging hinaus in den Vorhof (προ-αύλιον).

14,66

II. Und die Magd sah ihn Und begann wieder zu den Dabeistehenden zu sprechen:   Dieser gehört zu ihnen. Er aber leugnete wieder.

14,69

III. Und nach einer Weile sagten die Dabeistehenden zu Petrus:   Du gehörst tatsächlich zu ihnen.   Du bist nämlich auch ein Galiläer. Er aber begann zu fluchen und zu schwören:   Ich kenne diesen Menschen nicht,   von dem ihr redet. Und sogleich krähte der Hahn […], und Petrus […] brach in Tränen aus.

Lukas Johannes

22,67 22,70

10,24 10,36

10,33.36

18,22 18,17

14,67

14,68

18,25

14,70 18,26–27a

14,71 14,72

18,27b

519

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung

(Nr.  7) Verhandlung vor Pilatus und Verspottung Jesu durch die Soldaten

Markus

A. Und […] in der Frühe ließen die hohen Priester Jesus fesseln und abführen und lieferten (ihn) (παρέδωκεν) Pilatus aus.

15,1

18,28a.b

B. 1.1 Und Pilatus fragte ihn:   Bist du der König der Juden? Er aber antwortete ihm und sagt:   Du sagst es.

15,2

18,33

1.2 Und die hohen Priester brachten viele Anklagen gegen ihn vor. Pilatus aber fragte ihn wiederum und sprach:   Antwortest du gar nichts?  Siehe,   wie viele Anklagen sie gegen dich vorbringen! Jesus aber antwortete nichts mehr [,] [so dass Pilatus sich wunderte].

15,3

2.1 Zum Fest aber bemühte er sich, ihnen einen Gefangenen freizugeben (ἀπέλυεν) […]. Pilatus aber […] sprach zu ihnen:   Wollt ihr,   dass ich euch den König der Juden freilasse (ἀπολύσω)? Sie schrien […] und sagten:   Nimm diesen,   aber gib uns den Barabbas frei (ἀπόλυσον). [Jesus,] der sogenannte Barabbas, aber war ein Räuber.

Lukas

Johannes

18,37 (18,30)

15,4

15,5

19,9

15,6a

18,39a.b

15,9

(15,11b) (15,7)

23,18

18,39c 18,39d (18,40a.b) 18,40c

2.2 Pilatus aber […] sprach wieder zu ihnen:   Was […] soll ich dann mit dem König der Juden […] tun? Sie aber schrien wieder:   Kreuzige ihn!

15,12

2.3 Pilatus aber sprach zu ihnen:   Was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien noch mehr:   Kreuzige ihn!

15,14

C. Pilatus aber ließ ihnen den Barabbas frei und lieferte (παρέδωκεν) Jesus aus, ließ ihn geißeln (φραγελλώσας) dass er gekreuzigt würde (ἵνα σταυρωθῇ).

15,15b 15,15c 15,15d 15,15e

D.1. Die Soldaten aber führten ihn ab in das Innere des Palastes (ἔσω τῆς αὐλῆς) […] und rufen die ganze Kohorte zusammen.

15,16

19,1–3

2.1 Und sie ziehen ihm ein Purpurgewand an und setzen ihm einen Akanthuskranz auf, den sie geflochten hatten, 2.2 und begannen, ihn zu grüßen:

15,17

19,2

15,18

19,3

15,13

19,6b 19,6c (18,30b) 19,15a 19,15c 19,16a 19,16b

520

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(Nr.  7) Verhandlung vor Pilatus und Verspottung Jesu durch die Soldaten   Sei gegrüßt,   König der Juden! 2.3 Und sie schlugen seinen Kopf mit einem Rohr und bespuckten ihn und indem sie die Knie beugten, huldigten sie ihm.

Markus

Lukas

Johannes

Lukas

Johannes

15,19

3. Und als sie mit ihm ihren Mutwillen getrieben hatten, zogen sie ihm das Purpurgewand aus und zogen ihm seine Kleider an.

15,20

(Nr.  8) Kreuzweg und Tod Jesu

Markus

A. Und sie führen ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen. Und sie zwingen einen Vorübergehenden, Simon von Kyrene, der vom Feld kommt, den Vater des Alexander und Rufus, dass er sein Kreuz trage.

15,20d. 15,20e 15,21

B.I. Und sie bringen ihn an den Ort Golgota, das heißt übersetzt: Ort des Schädels […]. Und sie kreuzigen ihn und teilen seine Kleider, indem sie über sie das Los werfen (Ps  22,19), wer was nehmen solle […]. Und es war die Inschrift (ἡ ἐπι-γραφή) seiner Schuld angeschrieben (ἐπι-γεγραμμένη):   Der König der Juden. Und mit ihm kreuzigen sie zwei Räuber, einen rechts und einen links von ihm.

15,22a 15,22b

23,33a

19,17b 19,17c

15,24

23,33b

19,18a

(19,17b)

(19,17a)

15,26 15,27

19,19

23,33c

19,18b

II. Und die Vorübergehenden lästerten ihn, ihre Köpfe schüttelnd (Ps  22,8) […]. Ähnlich spotteten auch die hohen Priester untereinander […] und sprachen:  Der Messias, der König Israels, steige er […] herab vom Kreuz […]!

15,29a 15,29b 15,31

(19,20a–c) (19,21a)

15,32

(19,21c/e)

III. […] Ein (Soldat) lief [herzu], füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf einen Rohrstock und gab ihm zu trinken (vgl. Ps  69,22) […]. Jesus aber rief mit großer Stimme:  Eloї, Eloї, lema sabachthani.

15,36a 15,36b 15,36c 15,36d 15,34a 15,34b

19,29b 19,29c 19,29d 19,30b (19,30c)

521

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung

(Nr.  8) Kreuzweg und Tod Jesu

Markus

Lukas

Johannes

Das heißt übersetzt:   Mein Gott, mein Gott,   wozu hast du mich verlassen? (Ps  22,2) Er sagte dies und hauchte aus (ἐξέπνευσεν).

15,34c

15,37b

23,46e 23,46f

19,30e

IV. […] Es waren nun Frauen von ferne zuschauend, unter ihnen Maria, die Magdalenerin, und Maria, die Mutter von […] Jakobus und Joses und Salome.

15,40a 15,40b

23,49a

19,25

(Nr.  9) Kreuzabnahme und Begräbnis Jesu

Markus

Lukas

Johannes

[…] Da Rüsttag war […], […] ging Josef, der aus Arimathäa, ein angesehener Ratsherr […], hinein zu Pilatus und erbat sich den Leib Jesu. Pilatus aber […] überließ Josef den Leichnam. Und er kaufte Leinen, nahm ihn herab wickelte ihn in das Leinen und legte ihn in ein Grab, das aus dem Felsen gehauen war, und wälzte einen Stein vor den Eingang des Grabes. Maria, die Magdalenerin, und Maria, die des Joses, sahen, wohin er gelegt worden war.

15,42b 15,43a 15,43b 15,43d 15,43e 15,45b 15,46a 15,46b 15,46c 15,46d 15,46e 15,46f 15,47a 15,47b

23,54 23,50d 23,50a 23,52a 23,52b

19,31a/42a 19,38a

23,53a 23,53b 23,53c

19,40a 19,40b 19,42c

(Nr.  10) Die Kunde von Jesu Auferweckung im leeren Grab Markus A. Und als der Sabbat vorüber war, kauften sie wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben.

16,1

B. Und sehr früh am ersten Tag der Woche kommen sie zum Grab, als die Sonne aufging. Und sie sprachen zueinander:  Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Und da sie hinschauen, sehen sie, dass der Stein weggewälzt war […]

16,2

Und als sie in das Grab hineingingen, sahen sie einen jungen Mann zur Rechten sitzen, bekleidet mit einem weißen Gewand, und erschraken sehr.

16,5

19,38a 19,38d

23,55

Lukas

Johannes

20,1a

16,3 16,4

20,1b

20,12

522

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

(Nr.  10) Die Kunde von Jesu Auferweckung im leeren Grab Markus Er aber spricht zu ihnen:   Erschreckt nicht!   Ihr sucht Jesus, den Nazarener,   den Gekreuzigten.   Er ist auferweckt worden,   er ist nicht hier.   Seht den Ort,   wo sie ihn hingelegt haben.   Aber geht,   sagt seinen Jüngern und Petrus […]:   Ihr werdet ihn sehen […]. Und sie gingen hinaus [und taten es seinen Jüngern kund.]

Lukas

Johannes

16,6 (20,15d)

16,7a 16,7b 16,7d 16,8a

20,17d 20,17e 24,9 f.

20,(2.)18

13.2 Die PEG als dramatische Erzählung Die älteste Passionserzählung besitzt Züge, die sie als dramatische Inszenierung der Geschehnisse der letzten Tage Jesu in Jerusalem ausweisen. Die äußere und innere Form der Erzählung Seit alters setzt der feierliche Vortrag der Passionserzählung in der Liturgie der Karwoche mit einer Überschrift (titulus) ein, die den Inhalt und die jeweilige Version benennt: Passio domini nostri Iesu Christi secundum Matthaeum etc. Schon die älteste erreichbare Fassung der PEG, die beim Pascha-Gedenken der Urgemeinde zum Vortrag kam, wird eine Überschrift gehabt haben. Weil die PEG „nichts anderes“ ist „als die erzählende Darlegung des Evangeliums von Tod und Auferstehung des Christus“, schlägt Hans Klein vor, dass die Überschrift das Stichwort Evan­ gelium enthalten hat. „[N]och Mk  14,9 kann sich darauf beziehen, so sehr das Wort Evangelium dann auch von Mk selbst eingesetzt wird“10 . Der Vorschlag ist plausibel, lässt sich aber nicht verifizieren. „Der Singular Evangelium scheint eine christliche, vorpaulinische Bildung zu sein, da in der Umwelt nur der Plural belegt ist. Paulus verbindet mit diesem Wort immer die Botschaft von Kreuz und Auferstehung Jesu. Das Auftauchen des Wortes Evangelium in Mk  1,1 für eine Darstellung des Lebens Jesu ist neu. Es bedarf der Annahme einer Zwischenstufe, in der das Wort Evangelium vom Heilsgeschehen in Tod und Auferstehung Jesu ausgedehnt wurde, um dann für das gesamte Wirken Jesu angewendet zu werden. M.E. ist diese Zwischenstufe greifbar, wenn man annimmt, dass zunächst die Passions- und Ostergeschichte als Evan­ gelium umlief. Mk wäre dann in der Tat eine Passions- und Ostergeschichte mit langer Einleitung, wie es Martin Kähler ähnlich formuliert hatte“11.

Die Szenen und Episoden, die auf die mutmaßliche Überschrift folgen, bilden eine Handlungseinheit, die zu verdeutlichen die PEG verschiedene Techniken zum Ein10 

Klein, Lukasstudien 83.

11 Ebd.

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung

523

satz bringt: Leitmotive wie παραδιδόναι12 , Verse oder Episoden, die den Übergang von einer zur anderen Szene (transitio) herstellen und sie miteinander verzahnen13, die Verschachtelung von Episoden oder Parallelisierung von Szenen14 oder die wiederholt zur Anwendung kommende regel de tri15. Die Einheiten enthalten durchweg direkte Reden, teils sind sie dialogisch gestaltet, was ihren szenischen Charakter unterstreicht16 . Größere Abschnitte zeichnen sich ab: Überschrift (titulus) A. Eingangsteil (exordium) B. Mittelteil Eröffnung I. Hälfte II. Hälfte C. Schlussteil D. Epilog

? Aufstieg Jesu nach Jerusalem und Einzug in den Tempel Vom Komplott der hohen Priester und Schriftgelehrten gegen Jesus bis zu seiner Auslieferung durch Pilatus ans Kreuz  Tödlicher Komplott gegen Jesus und seine eigene Todesprophetie  Vom letzten Mahl Jesu bis zu seiner Gefangennahme  Jesu Befragung durch den Hohepriester, die Verleugnung Petri und die Verhandlung vor Pilatus Kreuzweg und Tod Jesu, Kreuzabnahme und Begräbnis Die Kunde von Jesu Auferweckung im leeren Grab

(Nr.  1) (Nr.  2–7) (Nr.  2) (Nr.  3 –5) (Nr.  6+7) (Nr.  8+9) (Nr.  10)

Die äußere Form der PEG zeigt sich am Wechsel der Personen: Im Eingangsteil ist Jesus der alleinige Protagonist. Im Mittelteil nehmen „die hohen Priester und Schriftgelehrten“ das Heft in die Hand17, in der II. Hälfte des Mittelteils richten sie über Jesus. Nr.  2 mit Jesu Todesprophetie von Betanien in der Mitte und den beiden Rahmenteilen, in denen seine Gegner aktiv werden, eröffnen den Mittelteil. Dessen I. Hälfte, die von den beiden Auftritten des Judas in Nr.  3 (Mk  14,10 f.) und Nr.  5 (Mk  14,43) gerahmt wird, zeigt Jesus und die Seinen unter sich: beim Mahl und in Getsemani. Die Szene der Gefangennahme (Nr.  5), an deren Ende die Jünger (außer Simon Petrus) von der Bühne abtreten, leitet zur II. Hälfte des Mittelteils über (transitio), in der Jesus nicht mehr frei agiert, sondern von den „hohen Priester und Schriftgelehrten“ einerseits und Pilatus andererseits bestimmt wird. Die Ver12  Παραδίδωμι = ausliefern: Mk  14,10.11.18.42; 15,1.15 (mit Bildung einer Kette: Judas liefert Jesus den jüdischen Autoritäten aus; diese liefern Jesus Pilatus aus; dieser liefert Jesus [den Soldaten] aus zur Kreuzigung; zur strittigen Semantik des Verbs vgl. unten III.  2.6.1.4); vgl. auch ἀποκτείνω = töten: Mk  14,1.55; ζητέω = suchen: 14,1.11.55; κρατέω = ergreifen: 14,1.46; auch βασιλεύς = König: Lk  19,38/Joh  12,13; Mk  15,2.9.12.18.26.32. 13  Übergangsverse: Notizen zur Ortsveränderung, z. B.: „es war aber nahe das Pascha“ (Nr.  2 A); „und sie führten Jesus zum Hohepriester ab“ etc. Übergangsepisoden: Verspottung Jesu durch die Soldaten (Nr.  7 II); Kauf von Ölen nach dem Sabbat (Nr.  10 A). 14  Verschachtelung: Komplott-Erzählung und Betanien-Geschichte (Nr.  2: A-B-A᾽); Jesu Bekenntnis und Petri Verleugnung (Nr.  6); Auslieferung Jesu und Freigabe des Barabbas (Nr.  7); Parallelisierung: Verhandlungen vor dem Hohepriester und Pilatus (Nr.  6/7). 15  Dreimal verleugnet Petrus Jesus; dreimal versucht Pilatus, Jesus „freizugeben“. 16  Nur die Szene der Kreuzabnahme und Bestattung des Leichnams Jesu geht wortlos vonstatten. 17  Unmittelbar davor in der Tempelszene (Nr.  1: B.III) treten sie zum ersten Mal auf.

524

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

spottung Jesu durch die Soldaten am Ende der Verhandlung vor Pilatus leitet zum Schlussteil über (transitio), der von der Auslieferung Jesu ans Kreuz erzählt. Die Szene der Grablegung Jesu und der Auftritt der Frauen (Nr.  9) bilden das Scharnier zum Epilog (transitio) (Nr.  10). Der äußeren Form der Erzählung entspricht ihre innere Form. Von fern erinnert sie an eine antike Tragödie. Der Eingangsteil mit dem Einzug Jesu in Jerusalem, seiner Begrüßung durch die Menschen als „König Israels“ und seinem Auftritt im Heiligtum, das er als „Haus seines Vaters“ beansprucht, schürzt den Knoten (δέσις)18 . Das Komplott seiner Gegner bringt die Wende (μετάβασις oder Peripetie). Der Schlussteil beinhaltet „das Leiden“ (τὸ πάθος) des Protagonisten, seinen Tod, die Katastrophe19. Doch im Vordergrund steht nicht der körperliche Schmerz, sondern die Abwesenheit Gottes. Auch geht Jesus nicht unwissend in den Tod, sondern wissend: Die Metabasis zu Beginn des Mittelteils ist mit seiner Todesprophetie im Haus von Betanien verquickt. Beim letzten Mahl wiederholt er sie. Getsemani ist ein Drama im Drama: Der Protagonist ringt mit Gott und willigt am Ende in sein Geschick ein, das er selbst prophetisch angesagt hat. Der Epilog setzt zwar äußerlich die Handlung des Schlussteils fort und beendet sie, spielt sich aber mit dem Auftritt eines himmlischen Akteurs auf einer Metaebene ab: Die himmlische Kunde bekräftigt die Hoffnung, die Jesus am Ende des Mahls geäußert hat: „Ich werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tag, wenn ich davon […] trinke im Reich Gottes“. Zeit und Ort (1) Das letzte Wort Jesu am Ende des Eingangsteils, in dem er den Aufbau des Tempels „in drei Tagen“ ankündigt, und der Epilog, der auf den „ersten Tag der Woche“ als den dritten nach Jesu Todestag datiert ist, rahmen die Handlung. Der Eingang der Erzählung verweist auf ihr Ende. Zeit-Angaben, die den narrativen Ablauf strukturieren, finden sich erst vom Mittelteil an: „Es war aber nahe das Pascha“ (Joh  11,55). Wie viele Tage zwischen dem Komplott „der hohen Priester und Schriftgelehrten“ und der Initiative des Judas bzw. zwischen der Betanien-Szene und der Rückkehr Jesu in die Stadt (Nr.  3: vgl. Mk  14,16b/ Joh  12,12) verstreichen, ist nicht gesagt. Erst von der zweiten Ankunft Jesu in der Stadt an zeichnet sich ein zusammenhängender Zeitraum von drei Tagen ab. 18  Aristot, Poët  1455b 24 ff. (Übersetzung Fuhrmann): „Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung (δέσις) und Lösung (λύσις). Die Verknüpfung umfasst gewöhnlich die Vorgeschichte (τὰ ἔξωθεν) und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Unter Verknüpfung verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins Unglück unmittelbar vorausgeht (μεταβαίνει εἰς εὐτυχίαν ἢ ἀτυχίαν), unter Lösung den Abschnitt vom Anfang der Wende bis hin zum Schluss“. Auch die PE hat eine „Vorgeschichte“: die Verkündigung der Gottesherrschaft durch Jesus in Galiläa, vgl. den Hinweis auf Galiläa in Mk  14,70. 19  Aristot, Poët  1452b 10 ff.: Neben „Peripetie“ und „Wiedererkennung“ ist ein dritter Teil der Fabel τὸ πάθος: „Das schwere Leid ist ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr“.

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung

525

Indirekte Zeitangaben herrschen vor: ἀνακειμένων αὐτῶν (Mk  14,18a = PEG) ist zu entnehmen, dass nun von einem abendlichen Mahl die Rede ist 20 . In Getsemani ist Nacht, seine Jünger „schlafen“. Im Hof des Hohepriesters wärmt sich Petrus „am Feuer“ (Mk  14,54 = PEG). Der zum zweiten Mal krähende Hahn kündet den heraufziehenden Tag an. „In der Frühe“ (Mk  15,1 = PEG) wird Jesus von den hohen Priestern Pilatus übergeben. Sein Leichnam wird noch vor dem Abend bestattet, weil die Zeit drängt: Der zu Ende gehende Tag ist der „Rüsttag“ des Sabbats, der nach der Vorstellung der PEG wohl mit dem Paschafest identisch ist. Nach dem Sabbat eilen die Frauen im Morgengrauen des „ersten Wochentags“ zum Grab.

Nicht nur der Erzähler, auch der Protagonist Jesus macht Zeitangaben: Jesus kündigt an, den Tempel „in drei Tagen“ aufzubauen. Der Drei-Tages-Zeitraum vom „Rüsttag“ über den Sabbat bis zum Morgen des „ersten“ Wochentags zuzüglich des Vortags des „Rüsttags“ (= Donnerstag) ist für das Konstrukt der PEG grundlegend. Im Hintergrund steht die theologische Rede von der Auferweckung Jesu „am dritten Tag“ (vgl. Hos  6 ,2), die in der PEG in eine geschichtliche Geschehensabfolge umgesetzt ist. Noch an zwei weiteren Stellen spricht Jesus von einem „Tag“. Seine Zeit in Betanien sieht er durch die Tat der Frau als „Tag der Zurüstung“ seines Begräbnisses geadelt, der auf den nahen Tag der Durchführung seines Begräbnisses vorausweist. Sein letztes Mahl beschließt er mit dem Ausblick auf den „Tag“, an dem er im vollendeten Reich Gottes wieder Wein trinken wird. Das Wort erinnert an die Vorgeschichte der Passionserzählung, Jesu Verkündigung des Reiches Gottes, und äußert angesichts des Todes Hoffnung auf dessen Vollendung. Hervorgehoben ist der Augenblick, da Jesus seiner Gefangennahme wissend entgegengeht: „Die Stunde ist gekommen“. Das Wort markiert den Wendepunkt der PEG: Die Ansagen der „Auslieferung“ realisieren sich, Jesus wird gefangengenommen.

(2) Der geographische Mittelpunkt der Passionserzählung ist Jerusalem. Ziel des „Aufstiegs“ Jesu, seiner Anabasis, zur Stadt ist der Tempel. Jesus erhebt als „König Israels“ Anspruch auf ihn, der so zum Brennpunkt des Geschehens wird. Nicht grundlos sind es die hohen Priester, die Jesu Hinrichtung betreiben. Während der erste Einzug Jesu nach Jerusalem als Auftakt der Erzählung in ­Szene gesetzt ist, wird sein erneutes Betreten der Stadt im Anschluss an das Be­ tanien-Intermezzo nur beiläufig notiert. Unspektakulär ist auch die Notiz zu Beginn des Schlussteils, wo es heißt: „Und sie (sc. die Soldaten) führen ihn hinaus (ἐξ-άγουσιν)“. Lediglich die Präposition ἐκ deutet an, dass Jesus den Tod „außerhalb“ der Stadt erleidet (vgl. Hebr   13,12: ἔξω τῆς πύλης ἔπαθεν). Orte21 innerhalb Jerusalems sind: „der Palast des Hohepriesters“ (ἡ αὐλὴ τοῦ ἀρχιερέως) mit „Vorhof“ (προ-αύλιον), „der Palast“ (ἡ αὐλή), in dem oder vor dem (?) Pilatus Gericht hält und in dessen „Innerem“ (ἔσω), einem Binnenhof, die Soldaten ihren Mutwillen mit Jesus treiben. Wenn die Menschen aus Anlass der Pascha-Amnestie zu Pilatus „hinaufsteigen“ (ἀναβαίνω), könnte ein konkretes topographisches Detail verarbeitet sein, was die joh. Überlieferung bestätigt: Gabbata (aramäisch: 20  „Als es Abend wurde“ (Mk  14,17a) ist Teil des mkn. Übergangsverses (siehe oben II.  5.2 unter [a]). 21  Zu den nachfolgend genannten Orten siehe oben I.  1.7 unter (d).

526

II. Teil: Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption

„der erhöhte Platz“) ist die von der PEjoh nachgetragene Bezeichnung des mit Steinplatten belegten Ortes (= Lithostrotos), an dem sich „der Richterstuhl“ (βῆμα) des Präfekten befindet (Joh  19,13) 22 . Orte außerhalb Jerusalems sind: die Dörfer Betfage und Betanien auf dem Ölberg, „das Grundstück“ oder „Landgut“ (χωρίον) mit Namen Getsemani sowie „der Ort Golgota, übersetzt ‚Ort des Schädels‘“. Auch Jesu Grab liegt irgendwo außerhalb der Stadt. Die christologische Leitmotivik der PEG und ihre Intention Leitmotiv der Erzählung ist die „Königs“-Prädikation Jesu, die insgesamt 6-mal begegnet, mit Bedacht über die ganze Komposition verteilt 23: Beim Einzug in die Stadt akklamieren die Menschen Jesus als dem „König Israels“, und als er am Ende gekreuzigt ist, verspotten ihn „die hohen Priester“ mit demselben Titel. Pilatus fragt Jesus, ob er „der König der Juden“ sei, Jesus erklärt: „Du sagst es“, und die Soldaten rufen ihm am Ende zu: „Heil dir, König der Juden!“. Auch der titulus crucis: „der König der Juden“ verrät einen paganen Blinkwinkel: „Jude“ ist Fremdbezeichnung, „Israel“ und „Israelit“ dagegen jüdische Eigenbezeichnung. Die jüdische Rede vom „König Israels“ hat ihr Pendant in der Frage des Hohepriesters: „Bist du der Messias (ὁ Χριστός), der Sohn des Hochgelobten?“ Der „Gesalbte“ ist niemand anderes als der messianische König nach dem Vorbild Davids, weshalb die hohen Priester den Gekreuzigten am Ende auch als „Messias, König Israels“ verspotten. Während der titulus crucis als Hinrichtungsgrund (αἰτία) einen politisch relevanten Tatbestand nennt, ist die Rede vom „Messias, König Israels“ schriftgesättigt24. Die Passionserzählung verwendet sie affirmativ: Jesus bekennt sich dazu, „Messias“ und „Gottessohn“ zu sein, und bejaht auch die Frage des Pilatus, ob er der „König der Juden“ ist. Wenn Pilatus kurz danach die Menge fragt, was Jesus denn „Böses getan hat“, scheint die Bejahung der von ihm gestellten Frage durch Jesus kein Verurteilungsgrund zu sein. Der titulus crucis spricht aber eine andere Sprache. Was diese Differenz bedeutet, hat die historische Rückfrage in Teil  III zu klären. In der Frage des „Hochpriesters“: „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ tritt neben den Messias-Titel der vom Sohn Gottes. Schon das Exordium der Passionserzählung lässt beide Titel programmatisch nebeneinander anklingen, wenn zunächst die Menschen bei Jesu Einzug in die Stadt „dem König Israels“ akklamieren, dann er selbst im Heiligtum unter Anspielung auf Sach  14,21 erklärt: „Macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Handelshaus!“ Gemäß der Schrift ist der Messias nicht nur „König“, sondern auch Gottes „Sohn“, sein Erwählter,

22 

Küchler, Jerusalem 501. Reinbold, Bericht 161: „König der Juden“ ist „zentraler christologischer Titel des ältesten Passionsberichtes“. 24  Siehe oben I.  1.2.1.2. 23 

13. Gestalt und Intention der ältesten Passionserzählung

527

und kann und muss als solcher nach dem Vorbild Davids auf den Tempel Anspruch erheben 25. Die Figurenzeichnung der Passionserzählung26 verdankt sich gezielter Stilisierung. Sie stellt Jesus als den verfolgten Davidssohn dar und besitzt paradigmatische Züge (Jesus als Psalmbeter; Simon von Kyrene als Vorbild der Kreuzesnachfolge etc.). Sie schöpft aus dem Psalter („die hohen Priester“ = Gegner des Gerechten etc.) und versprachlicht das Geschehen in und um Jerusalem aus dem Geist und dem Buchstaben der Schrift. Mögen die Autoritäten Jerusalems der Gemeinde Dtn  21,22 f. entgegenhalten – ein Gekreuzigter kann nicht der Messias sein! –, die Passionserzählung erweist das Gegenteil. Sie zeigt das Bild nicht eines herrschaftlich regierenden Königs, dem zugejubelt wird, sondern das eines Messias, der leidet und um Gott ringt, als er ihn im Angesicht des Todes als fern und abwesend erfährt. Die Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes gibt er nicht auf, sondern spricht diesen noch im Sterben als seinen Gott an.

25  26 

Siehe oben II.  3.7. Vgl. oben I  1.2.1.4 und 1.2.2.

III. Teil

Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion „Die Menschen können nicht sagen, wie sich eine Sache zugetragen, nur wie sie meinen, dass sie sich zugetragen hätte“. (Georg Christoph Lichtenberg)1

Die (rechts-)historischen Rahmenbedingungen des Jesus-Prozesses sind zunächst zu skizzieren (1.). Anschließend wird versucht, den Prozess mit Vorgeschichte, Verlauf und Folgen historisch-kritisch, soweit möglich, zu re-konstruieren. Die Basis dazu liefert die PEG (2.). Ein Gesamtbild der letzten Tage Jesu wird den Teil beschließen (3.).

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret Zu den Rahmenbedingungen des Verfahrens gehören Judäas politischer Status unter römischer Herrschaft; die Kompetenzen der römischen und jüdischen Instanzen und deren Zusammenspiel bei der Verwaltung der Präfektur; nicht zuletzt die Biographien der Personen, die das Sagen hatten: Kajaphas und Pilatus. 1.1 Zur Beschaffenheit der Quellen Die Quellenlage zur Statthalterjustiz der frühen Kaiserzeit ist prekär2 . Einblicke in die Jerusalemer Selbstverwaltung zur Zeit der Statthalter bietet Josephus3. Die tannaitischen Quellen zum Sanhedrin, die jenseits des tiefen Grabens 70 bzw. 135  n. Chr. liegen, tragen zur Erhellung der Zustände vor dem ersten jüdischen Krieg kaum bei. Das Prozessrecht der Mischna, greifbar im Traktat Sanhedrin, fand seine Redaktion Ende des 2.  Jh.s. 1  Lichtenberg, Sudelbücher C 375 (1772–1773). – Wenn im Folgenden von Rekonstruktion der Historie gesprochen wird, ist das Kompositum stets mit Bindestrich zu lesen: Re-Konstruk­ tion – gemäß Lichtenbergs Diktum, dem zufolge jegliche Rekonstruktion der Vergangenheit zugleich deren Konstruktion ist. 2  Kirner, Strafgewalt 47–52 („Die Heterogenität der Rechtsquellen“). 3 E. Lohse, Art. συνέδριον 859–864; vor allem Kirner, Strafgewalt 121–133.181–245.

530

III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Vergleichbar schwierig ist die Quellenlage auf römischer Seite4. Um das Strafrecht im frühen Prinzipat zu rekonstruieren, stützt sich die Forschung insbeson­ dere auf die sog. Digesten, eine Zusammenfassung des bislang geltenden Rechts, die Kaiser Justinian zu Beginn des 2. Drittels des 6.  Jh.s auf den Weg gebracht hat5. Im Kern tradiert die Sammlung das sog. Juristenrecht aus „der Zeit der Rechts­ gelehrten aus dem späten 1. und 2.  Jahrhundert, größtenteils aber aus der späteren Severerzeit (193–235  n.Chr.)“6 . Sie wirft – wie Mischna und Talmud auf ihre Weise  – die grundsätzliche Frage auf, „inwieweit welcher Rechtssatz auch in dem hier behandelten Zeitraum (sc. des frühen Prinzipats) gegolten haben könnte, zumal sich in der Begriffswahl Verschiebungen, in Autorschaft, Datierung und Geltungsanspruch eines Gesetzes Fehleinschätzungen sowie allgemein die Schwierigkeiten mehrfacher redaktioneller Überarbeitung ausgewirkt haben könnte“7. Problematisch ist auch der Geltungsbereich dieser Rechtsvorschriften. Ihnen unbesehen Gültigkeit über Rom und das Kernland Italien hinaus auch in den Provinzen zu unterstellen, ist nicht möglich. Als zuverlässiger Hinweis der Digesten gelten ­folgende Weisungen, die mit den Namen der Juristen Proculus (Mitte 1.  Jh.) und Ulpian (etwa 170  n.Chr. bis 223  n.Chr.) 8 verbunden sind9: „Aber obwohl derjenige, der eine Provinz verwaltet (provinciae praeest), stellvertretend die Aufgaben aller Magistrate Roms erfüllen muss (omnium Romae magistratuum vice et officio fungi debeat), ist gleichwohl nicht darauf zu sehen, wie man es in Rom macht (non tamen spectandum est, quid Romae factum est), sondern darauf, was zu geschehen hat (quam qui fieri debeat)“ (Dig  [ Proc]  1,18,12). „Es gehört zu einem guten und verantwortungsbewussten Provinzstatthalter (congruit bono et gravi praesidi curare), dafür zu sorgen, dass die Provinz, die er verwaltet, friedlich und ruhig ist (ut pacata atque quieta provincia sit quam regit)“ (Dig  [ Ulp]  1,18,13).

„Pragmatisch“ sollte danach der Statthalter die konkreten Probleme seiner Provinz bewältigen, „wozu ihm eine relativ unabhängige Amtsführung mit einem großen Ermessensspielraum zugestanden werden musste. Also weniger ein spezifisch vorgegebenes Recht als der an den römischen Herrschaftsinteressen ausgerichtete Erfolg in der Beaufsichtigung einer Provinz wäre dann der generelle Maßstab statthalterlicher Amtsführung und somit auch für die Ausübung der Gerichtsbarkeit und Strafgewalt“ gewesen10 . 4  Wenger, Quellen; Wieacker, Rechtsgeschichte; Kunkel/Schermaier, Rechtsgeschichte 256 f. (Lit.). 5  Mommsen, Strafrecht. Sein monumentales Werk bleibt trotz aller an ihm geübten Kritik (siehe unten) Bezugspunkt der Forschung; Wenger, Quellen 576–600; vgl. Jörs, Art. Digesta 484–543. 6  Kirner, Strafgewalt 48. 7 Ebd. 8  Liebs, Recht 61: „Erst er (sc. Ulpian) löst die römische Jurisprudenz von ihrer Zentrierung auf Rom“. Eines seiner Hauptwerke hat er der Rechtsprechung des Provinzstatthalters gewidmet: Libri X de officio proconsulis. Dazu bzw. Buch  7–9 Nogrady, Strafrecht. 9 Vgl. Kirner, Strafgewalt 51 (nach O. Behrends u. a. [Hg.], Digesten, Heidelberg 1995); Paulus, Prozess 24. 10  Kirner, Strafgewalt 51. „Letztlich ist man mit der Tatsache konfrontiert, dass es keine zeitgenössische, zusammenhängend-systematische Kodifikation einer römischen Provinzialverwal-

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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Quellen für die statthalterliche Autoritätsausübung in den Provinzen der Spätzeit der Republik und Frühzeit des Prinzipats sind für Ägypten die Apologie des Josephus Contra Apionem und Philos Legatio ad Gaium und In Flaccum, für Sizilien die Prozessreden des Cicero gegen den ehemaligen dortigen Statthalter Verres 70 v.Chr.11, für die Kyrenaika die auf dem Marktplatz von Kyrene 1925 aufgefundenen Edikte des Augustus 7/6 v.Chr.12 und für Bithynien-Pontus die Briefe des Statthalters Plinius des Jüngeren an Kaiser Trajan samt ­dessen Repliken 111 bis 113/115 n.Chr.13. Ergänzt wird dieses Material durch Notizen der Geschichtsschreiber Tacitus, Sueton und Dio Cassius und vereinzelte Inschriften. Für die Präfektur Judäa stehen neben den Evangelien und der Apostelgeschichte (Prozess gegen Paulus) der „Jüdische Krieg“ (Bellum Iudaicum), die „Jüdischen Altertümer“ (Antiquitates Iudaicae) und die Autobiographie des Josephus zur Verfügung, Werke von unschätzbarem Wert14. Sind diese aus sehr unterschiedlichen Zeiten stammenden Quellen an konkrete Situationen gebunden, erlauben sie, wenn überhaupt, nur bedingt Rückschlüsse von der einen auf die andere Provinz. Wenn z. B. die Edikte des Augustus für die Kyrenaika provinziale Geschworenengerichte (quaestiones) vorsehen15, gilt das für Judäa nicht.

1.2 Judäa unter römischer Verwaltung – „Annex“ der Provinz Syrien Seit der Eroberung Jerusalems durch Pompeius 63  v.Chr. (Jos, Ant 14,74; vgl. Bell 1,153–168) haben die Römer in Palästina das Sagen, unabhängig von der jeweiligen Regierungsform und der machtpolitischen Aufteilung des Landes16 . Mit Hyrkan II. (63–40  v.Chr.), dem letzten der im Volk verhassten Hasmonäer nach Abtretung der von den Makkabäern eroberten Gebiete verbindet sich eine erste Phase römischer Oberhoheit17. Hyrkan II. wurde zum Hohepriester von Roms Gnaden, ohne tung gab und wahrscheinlich auch gar nicht geben konnte, da dies der damaligen Organisation der Provinzialherrschaft gar nicht entsprochen hätte“ (ebd. 48 f. zu den leges provinciae, welche „die Anzahl und Typen von Fällen beschränken“ sollten, „über die er (sc. der Statthalter) urteilen sollte, folglich die Provinzialen davon abhalten, ihn allzu sehr mit ihren lokalen Querelen zu belasten“: für Judäa nicht belegt); Galsterer, Law 13–27. 11  Kirner, Strafgewalt 72–120. 12  Edicta Augusti ad Cyrenenses, in: Riccobono u. a. (Hg.), Fontes 403–414; dazu Sherwin-­ White, Society 15 f.; Premerstein, Edikte; Stroux/Wenger, Augustus-Inschrift. 13  Genauer: das 10. Buch; die Bücher 1–9 stammen aus den Jahren vor seiner dortigen Statthalterschaft. 14  Kirner, Strafgewalt 13: „Nur hier [für Judäa] findet sich ein Quellenbestand zur Herrschafts­ praxis aufeinanderfolgender Statthalter über eine längere Zeit in derselben Region – damit unter der Voraussetzung annähernd gleichbleibender sozialstruktureller und kultureller Bedingungen –, die es erlauben, die statthalterliche Strafpraxis einer Provinz eingehender zu untersuchen“. 15  Kunkel, Quaestio 107: „Beschwerden über die Kapitaljustiz gegen Griechen in der Provinz Kyrene veranlassten Augustus zur Einführung gemischter, d. h. aus römischen Bürgern und Griechen zusammengesetzter Gerichte in dieser Provinz, die auf Verlangen eines griechischen Angeklagten statt des rein römischen Konsiliums den Schuldspruch fällen sollten“ (nach dem 1. Edikt des Augustus, s. oben Anm.). 16  Noethlichs, Judentum 9  ff. („Ereignisgeschichtlicher Überblick […]“); Schäfer, Geschichte; Schürer, History I. – Kirner, Strafgewalt 134–245; Riedo-Emmenberger, Provokateure 205–244 („Die römische Provinz Iudäa unter den Prokuratoren“). 17  Aufgrund der Neuordnung Judäas durch Gabinius, Statthalter von Syrien, in fünf größere Bezirke lag die politische Verwaltung in den Händen aristokratischer Kreise (Jos, Bell  1,169 f.; vgl. Ant  14,90 f.). Schäfer, Geschichte 93: „Der Status des verbliebenen jüdischen Reststaates war ein ‚Zwischenzustand‘ zwischen Selbstverwaltung und der völligen Eingliederung in das römische

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wirkliche Macht, und, als 47  v.Chr. Cäsar die Bühne des Nahen Ostens betritt und die Verhältnisse in Judäa neu ordnet, auch „Ethnarch“ mit dem Idumäer Antipater als Epitropos = Aufseher an seiner Seite18 . Mit Antipater beginnt die Familie in der Machthierarchie aufzusteigen, der Herodes (40–4  v.Chr.) entstammt. In den turbu­ lenten Zeiten des Übergangs von der römischen Republik zur Monarchie versteht dieser es geschickt, sich jeweils auf die Seite derer zu schlagen, die gerade in Rom an der Macht sind. Über die Jahre hinweg gelingt es ihm, den ihm von den Römern verliehenen Königstitel bis zu seinem Tod zu bewahren19. Die Thronwirren danach beendet Augustus, indem er das Königreich unter dessen Söhnen aufteilt: A ­ rchelaos (4  v.Chr.–6  n.Chr.) erhält die Kerngebiete Judäa, Idumäa, Samaria und die Küste mit Cäsarea am Meer, Herodes Antipas (4  v.Chr.–39  n.Chr.) Galiläa und Peräa ohne v.Chr.–34   n.Chr.) die nichtjüdischen Gebiete die Dekapolis20 und Philippus (4   ­Gaulanitis, Trachonitis, Batanäa und Banias im Nordosten 21. Die Dynastie des Herodes half den Römern, den Osten zu stabilisieren, ohne immer selbst eingreifen zu müssen und von der einheimischen Bevölkerung für alles direkt verantwortlich gemacht zu werden. Die 63  v.Chr. errichtete Provinz Syria verschaffte ihnen permanente Präsenz in unmittelbarer Nachbarschaft Judäas und sicherte ihren Einfluss, den die Rom-Hörigkeit der lokalen Elite ohnehin garantierte22 . In Judäa ändert sich die Situation, als das Gebiet 6  n.Chr. unmittelbar unter römische Verwaltung gestellt wird, während der Herodessohn Antipas Galiläa weiterhin regieren konnte, zuerst von Sepphoris, dann ab 30  n.Chr. von Tiberias aus. Der Grund für die einschneidende Änderung in Judäa war Archelaos. Er überzog die einheimische Bevölkerung fast 10 Jahre mit „Grausamkeit und Schrecken“23, bis ihn Augustus auf Intervention einer jüdischen und samaritanischen Delegation absetzte und nach Gallien (Vienne) verbannte24. 6  n.Chr. wird Judäa „provinzialisiert“ (Werner Eck), das heißt: als „Annex“ der bestehenden senatorischen Provinz Syrien mit ihrem legatus Augusti pro praetore an der Spitze zugeschlagen 25. Im ­Bellum Iudaicum heißt es allerdings: Provinzialsystem“. Zum Reststaat gehörten Judäa, Galiläa, Ostidumäa (der Bezirk Adoraim = Adora) und das jüdische Transjordanien (Peräa). 18  Cäsars Erlasse: Jos, Ant  14,143–148.190–212. 19  Beim Einfall der Parther in Syrien und Judäa (41 v.Chr.) flieht Herodes nach Rom. Marc Antonius und Octavian präsentieren ihn 40 v. Chr. dem Senat, wo er mit dem Königstitel geehrt wird. 30  v.Chr. bestätigt Octavian Herodes als König. 20  Kaiser Caligula setzt ihn 39  n. Chr. wegen angeblicher Hortung von Waffen ab und verbannt ihn nach Gallien (Lugdunum) (Jos, Ant  17,252; Bell  2,183). Seine Tetrarchie, Galiläa und Peräa, fällt an Agrippa, Sohn des 7  v. Chr. auf Befehl des Herodes I. in Samaria/Sebaste erdrosselten Aristobul (Ant  16,394). Agrippa erhielt bereits nach Caligulas Regierungsantritt 37 n.Chr. von diesem die ehemalige Tetrarchie des Philippus samt Königstitel. 21  Philippus stirbt 34 n.Chr. ohne Erben. Sein Herrschaftsgebiet wird zunächst zur Provinz Syrien geschlagen und fällt dann an Agrippa I. 22  Instruktiv zur syrischen Provinz Bechert, Provinzen 111–117. 23  Jos, Ant  17,342. 24  Jos, Ant  17,324 f.; Bell  2 ,111–113; DioC  55,27,6. 25  Eck, Rom 1–51 („Judäa wird römisch: Der Weg zur eigenständigen Provinz“), insbes. 23–27 (vgl. ders., Provinz 167–185); ebenso Bernett, Kaiserkult 310–317 („Provinzialrechtlicher Status

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„Das Gebiet des Archelaos wurde in eine Provinz (ἐπαρχία) umgewandelt und als ἐπίτροπος (lateinisch = procurator) wurde Coponius aus römischem Ritterstand (6–9  n.Chr.) entsandt, vom Caesar mit obrigkeitlicher Gewalt (ἐξουσία) ausgestattet bis hin zum Recht, die Todesstrafe zu verhängen (μέχρι τοῦ κτείνειν)“ (Bell  2,117).

Dieser Darstellung zufolge wurde Judäa zu einer eigenständigen Provinz mit einem Prokurator (aus ritterlichem Geschlecht) an der Spitze. Seit der Entdeckung der Pilatus-Inschrift aus Cäsarea 26 ist indes klar, dass der Titel des Amtsinhabers bis zum Interregnum von Agrippa I. (41–44  n.Chr.) praefectus lautete, dem das griechische Pendant ἔπαρχος entspricht. Diesen Titel verwendet Josephus auch für Annius Rufus (12–15  n.Chr.), Valerius Gratus (15–26  n.Chr.), C. Cuspius Fadus (44–46  n. Chr.) und Porcius Festus (60–62  n.Chr.), allerdings nicht durchgängig27. Werner Eck zufolge geht es bei diesen Titeln um keine Äußerlichkeit, sondern um den jeweils angezeigten Status des vom Amtsinhaber verwalteten Gebiets28 . Danach war Judäa eine praefectura innerhalb Syriens und wurde erst später, wahrscheinlich seit dem militärischen Eingreifen des Vespasian zu Beginn des jüdischen Krieges, wie eine selbständige Provinz behandelt. Josephus wird im Bellum den Status Judäas, wie er ihn nach 70  n.Chr. wahrnahm, in die von ihm dargestellte Zeit zurückprojiziert haben, was wohl auch für Tacitus gilt29. Den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen die Antiquitates, dessen 17. Buch Josephus mit den Worten schließt: „Übrigens wurde das Gebiet des Archelaus der Provinz Syrien einverleibt 30 , und der Cäsar entsandte nun Quirinius, einen gewesenen Konsul, um eine Schätzung des Vermögens in Syrien vorzunehmen und die Güter des Archelaos zu verkaufen“ (Ant  17,355).

und Territorium Judäas seit 44 n.Chr.“); Cotton, Aspects 75–81. Andere Autoren sehen in Judäa seit 6  n.Chr. eine selbständige Provinz: Stern, Province 313 f.; Schäfer, Geschichte 119 f.: aus den Interventionen der syrischen Statthalter in Judäa (s. unten) könne „keineswegs geschlossen werden“, „dass Judäa in administrativer Hinsicht ein Teil Syriens war“; Kirner, Strafgewalt 149 (syr. Interventionen „nur im Ausnahmefall“). – Für den Forschungsdissens ist Josephus mit seinen voneinander abweichenden Darstellungen im Bellum und den Antiquitates wie seiner inkonsistenten Terminologie für die römischen Amtsträger verantwortlich (s. oben). 26  [Nauti]s Tiberieum / [-- Po]ntius Pilatus / [praef]ectus Iudae[a]e / [ref]e[cit] = „[Für die Seeleute] hat Pontius Pilatus, Präfekt von Judäa, (den Leuchtturm) Tiberieum wiederherstellen lassen“; zur Rekonstruktion der Inschrift s. Alföldy, Pontius Pilatus; ders., Nochmals. 27  Vgl. die Liste der Amtsbezeichnungen für Coponius bis Gessus Florius bei Eck, Rom 27–31; selbst für ein- und denselben Amtsinhaber konnte Josephus unterschiedliche Termini verwenden (vgl. ebd. 32; ders., Art. procurator 366 f.) 28 Kritisch Kirner, Strafgewalt 153 f.; ebd. 216–226 eine fallbezogene Darstellung zur Frage, wie sich die Bezüge zwischen syrischen und judäischen Akteuren auf die Strafgewaltspraxis des judäischen Statthalters jeweils auswirkte. 29 Tac, Ann   2,42,5: provinciae Syria atque Iudaea; Hist  5,9,3: Iudaeam provinciam. – Sherwin-White, Society 12; Eck, Rom 25. 30  Den Wunsch nach Vereinigung mit Syrien hatte schon eine jüdische Gesandtschaft in den Wirren um die Thronnachfolge des Herodes in Rom vorgetragen: „sie (sc. die Römer) sollten ihre Heimat doch mit Syrien vereinigen (συνάψαντας δἐ Συρίᾳ τὴν χώραν αὐτῶν) und durch besondere Statthalter (ἐπ ἰδίοις ἡγεμόσιν) verwalten lassen“ (Bell  2,91). Die Parallele Ant  17,314 lautet: „Mit einem Wort, ihre Forderung gehe dahin, dass sie, von solcher Herrschaft befreit, ein Teil Syriens

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Das 18. Buch knüpft daran an und führt weiter aus: „1Quirinius also, einer von den römischen Senatoren, der übrigens bereits alle öffentlichen Ämter bekleidet hatte und wegen seiner ehrenvollen Stellung großen Einfluss besaß, kam mit wenigen Begleitern nach Syrien, vom Cäsar abgesandt, um Richter des Volkes (δικαιοδότης τοῦ ἔθνους)31 und Vermögensschätzer (τιμωτὴς τῶν οὐσιῶν) zu werden, 2und zugleich mit ihm wurde Coponius, ein Mann ritterlichen Standes, abgesandt 32 , um über die Juden zu herrschen (ἡγησόμενος τῶν Ἰουδαίων) mit höchster Autorität (τῇ ἐπὶ πᾶσιν ἐξουσίᾳ). Es kam Quirinius auch nach Judäa, das ein Annex (προσθήκη) Syriens geworden war33, um hier ebenfalls das Vermögen zu schätzen und die Güter des Archelaos zu verkaufen. 3Die Juden wollten zwar anfangs von der Schätzung nichts wissen, gaben jedoch allmählich auf Zureden des Hohepriesters Joazar, des Sohnes des Boëthos, ihren Widerstand auf und ließen nach seiner Weisung die Schätzung ihres Vermögens ruhig geschehen“ (Ant  18,1–3).

Aus dieser Darstellung geht zweierlei hervor: (a) Quirinius war als Statthalter von Syrien auch für Judäa zuständig, das ein Teil Syriens geworden war; (b) Coponius, für den Josephus hier keine Funktionsbezeichnung verwendet (nur das Verb ἡγεῖσθαι = herrschen über), besaß „die volle Autorität“ (ἡ ἐπὶ πᾶσιν ἐξουσία) über Judäa, stand aber unter der Oberaufsicht des Legaten von Syrien, der, wie der Fortgang der Geschichte zeigt, in schwierigen Situationen intervenierte: Quirinius setzte den (oben bereits erwähnten) Hohepriester Joazar, als dieser mit dem Volk in Streit geriet, „von Amt und Würden ab und übertrug die Stelle Hannas, dem Sohn des Seth (6–15  n.Chr.)“ (18,26). Als die Samaritaner das selbstherrliche Regime des Pilatus nicht länger ertragen wollten, wandten sie sich an Lucius Vitellius, den Statthalter von Syrien, der Pilatus auch prompt nach Rom zum Rapport schickt (18,88 f.)34. Nach dem Interregnum von Agrippa I. erhielt Judäa 44  n.Chr. wahrscheinlich seinen Status als praefectura unter syrischer Oberaufsicht wieder, wie die Beispiele für syrische Interventionen auch aus dieser Phase zeigen – bis hin zum misslungenen militärischen Eingreifen des syrischen Statthalters Cestius Gallus 66  n.Chr., dem ersten Jahr des jüdischen Aufstands in Galiläa. Als Kaiser Nero Vespasian entsendet, verändert sich die Situation grundlegend und Judäa wird zur selbständigen Provinz.

Werner Eck zufolge betraf die rechtliche Stellung des praefectus zwar weniger das Leben der normalen Bevölkerung, wohl aber das der führenden Kreise. „Denn sie mussten sich, wenn der unmittelbare Repräsentant Roms ein praefectus war, üb­ licherweise mit diesem zunächst in Caesarea auseinandersetzen und, wenn sie mit ihm nicht kooperieren konnten, war der Weg nach Antiochia zum Legaten von Syrien zu gehen. Dieser konnte seinerseits den praefectus nicht einfach umgehen, würden, um einem von dort ausgesandtem Feldherrn unterstellt zu werden (προσθήκη δὲ Συρίας γεγονότες ὑποτάσσεσθαι τοῖς ἐκεῖσε πεμπομένοις στρατηγοῖς)“. 31  Eck, Rom 26: „womit nur das jüdische gemeint sein kann“. 32  In 18,28 bekräftigt dies Josephus: „Coponius, der, wie gesagt, zugleich mit Quirinius geschickt worden war“. 33  So übersetzt Werner Eck; Louis H. Feldman: „which had been annexed to Syria“ (LCL IX); προσθήκη benutzt Josephus auch von der Dekapolis, „Annex“ Syriens (Eck, Rom 37). 34  Weitere Beispiele bei Schürer, History I 357 ff. Hannas wurde seines Amtes von Valerius Gratus enthoben (15  n.Chr.), der in rascher Folge weitere Hohepriester aus der Familie des Hannas ein- und absetzte (18,34 f.).

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war dieser doch direkt vom Kaiser ernannt. Bei einem procurator dagegen, der eine Provinz Judäa als praeses, als Statthalter, leitete, wäre der Weg nach Rom weit schneller offen gewesen. Hinzu kommt, dass der procurator auf jeden Fall zusätzlich die Steuererhebung, also eine wesentlich umfassendere Macht, in Händen gehabt hätte; damit hätten sich sogar noch häufiger Konfliktfelder eröffnen können. Somit ist die Frage nach dem rechtlichen Status des Gebietes nicht nur eine akademische Spielerei, sie betraf das Leben der Region in entscheidendem Maße“35. 1.3 Zu den Kompetenzen des praefectus Iudaeae Wie im Imperium üblich, übernahmen die Römer auch in Judäa den Regierungssitz des bisherigen Königs – das von Herodes ausgebaute Cäsarea am Meer – und machten seinen ehemaligen Palast zu ihrem Prätorium 36 . Weilte der Statthalter zu den Festtagen in Jerusalem, dann residierte er im ehemaligen „Königspalast“ des Herodes, der βασιλικὴ αὐλή37. Dort und nicht in der Burg Antonia, wie auch angenommen wird, hielt er Gericht 38 . Aufgabe des Statthalters war es, für Ruhe und Ordnung in dem ihm zugewiesenen Gebiet zu sorgen. Er hatte die Präfektur zu verwalten (1.3.1) und die im Land stationierten Truppen zu befehligen (1.3.2), besaß die höchstrichterliche Vollmacht (1.3.3) und übte die Strafgewalt aus (1.3.4)39. 1.3.1 Die Verwaltung der Präfektur Die Verwaltung der Präfektur, kein „ausgreifende[r] bürokratische[r] Verwaltungsapparat[..]“, „etwa im Sinne einer modernen Kolonialverwaltung“40 , betraf Organisation und Leitung der römischen Beamtenschaft im zivilen und militärischen Bereich, die Überwachung der jüdischen Autoritäten in Jerusalem, „die Förderung

35 

Eck, Rom 48. heißt es auch Apg  23,35: τὸ πραιτώριον τοῦ Ἡρῴδου = das Prätorium des Herodes: „eine Kontamination der Tatsache, dass Herodes die repräsentative Anlage erbaut hat und der römische Vertreter den Palast zu seinem praetorium gemacht hatte“ (ebd. 81); zu Herodes als Architekt: Netzer, Architecture. 37  Jos, Bell  2 ,312 u. ö. (weitere Belege bei Benoit, Prätorium 160: Gemeint ist stets der Palast des Herodes); vgl. Mk  15,16: αὐλή. 38  Benoit, Prätorium 153–159, v. a. unter Bezug auf die topographischen Einzelheiten in Jos, Bell  2,301–308; Küchler, Jerusalem 501; zuletzt plädiert Vollmer, Toponymen, wieder für die Antonia, wobei seine literarischen Belege (2Chr  7,3; Jos, Bell  6 ,85.189; Jes  31,4: „Anhöhe“ des Berges Zion) aber nicht wirklich beweiskräftig sind. 39 Vgl. Eck, Leitung 327–340, ebd. 340: Abgesehen davon, dass die ritterlichen Statthalter (wie Pilatus einer war) gegenüber den senatorischen einen „niedrigere(n) sozio-politischen Stauts“ besaßen, verschwanden „spätestens im Verlauf der 1. Hälfte des 1.  Jh.s n.Chr. die rechtlichen, vor allem faktischen Unterschiede“ zwischen ihnen. 40  Kirner, Strafgewalt 25; der Autor warnt vor „der Gefahr, dem römischen Reich eine quasibürokratische Staatlichkeit zu unterstellen, die sich erst sehr viel später in der Neuzeit heraus­ gebildet hat“ (ebd. 27). Eine „durchdringende Verwaltung mit einer ausdifferenzierten rechtlich-­ bürokratischen Regelungsdichte“ stand den Statthaltern nicht zur Verfügung (ebd. 51 f.). 36  Deshalb

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der Zivilisation“41 und manches mehr42 . Den Einzug der Steuern und Abgaben dürfte der syrische Statthalter überwacht haben43. „Josephus berichtet nichts, was nur halbwegs beweisend auf eine solche Zuständigkeit (des judäischen Praefekten) schließen ließe. Weit wahrscheinlicher ist, dass der Finanzprokurator der Gesamtprovinz Syrien diese Aufgabe überall durchführte“44. Dazu bediente er sich eigener aus der jüdischen Oberschicht zusammengestellter Gremien, die für das Eintreiben der Steuern zuständig waren. Nach dem Prinzip divide et impera legten die Römer „die Macht in den Provinzen zu einem Teil in die Hände einer kleinen örtlichen Elite, die zugleich dem Reich gegenüber in Steuerfragen die Verantwortung übernehmen musste“45. Boden- (tributum soli) und Kopfsteuer (tributum capitis) waren die wichtigsten direkten römischen Einnahmequellen, dazu kamen Zölle als indirekte Abgaben. Grundlage für die Steuerveranlagung war die Volkszählung (census), die 6 oder 7 n. Chr. der syrische Statthalter Quirinius durchführte46 . Sie löste massive Unruhen aus und führte zur Entstehung der Bewegung der Zeloten. Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse verschlechtern sich überaus schnell. So heißt es in Fortsetzung der oben zitierten Passage aus dem Eingang von Buch  18 der Antiquitates: „Der Gaulaniter Judas dagegen, der aus der Stadt Gamla gebürtig war, reizte in Gemeinschaft mit dem Pharisäer Sadduk das Volk durch die Vorstellung zum Aufruhr, die Schätzung bringe nichts anderes als offenbare Knechtschaft mit sich (δουλείαν ἐπιφέρειν), und so forderten sie das gesamte Volk auf, seine Freiheit (τῆς ἐλευθερίας ἐπ ἀντιλήψει) zu schützen. Denn jetzt sei die beste Gelegenheit gegeben, sich Ruhe, Sicherheit und dazu auch noch Ruhm zu verschaffen. Gott aber werde nur dann bereit sein, ihnen zu helfen, wenn sie ihre Entschlüsse tatkräftig ins Werk setzten und das besonders, je wichtiger diese ihre Entschlüsse seien und je unverdrossener sie dieselben ausführten“ (Ant  18,4 f.).

41  Demandt, Pontius Pilatus 57; siehe unten paradigmatisch die Affäre um die Jerusalemer Wasserleitung. 42  Als Vitellius, der syrische Statthalter, zum Paschafest 36 n. Chr. in Jerusalem weilte, übertrug er das Recht der Aufbewahrung des für die Kultausübung benötigten hohepriesterlichen Gewandes über das Jahr, das früher bei Herodes und seinem Nachfolger lag, dann beim Praefekten, wieder den hohen Priestern: Jos, Ant  18,90–95. 43 Anders Schäfer, Geschichte 120: „Die Verwaltungsbefugnis des Prokurators bezog sich insbesondere auf den Einzug der Steuern“. 44  Eck, Rom 42, mit Verweis auch auf die Verwaltung der ertragreichen Palmenhaine um Jamnia, die 6  n.Chr. zunächst an Salome, die Schwester des Herodes, fielen, nach ihrem Tod 10  n.Chr. aber in den Besitz der Livia, die Gattin des Augustus, übergingen (Jos, Bell  2,167; Ant  18,31 u. a.). Ihre Verwaltung lag von Anfang an in der Hand eines eigenen „Finanzprokurators“, für deren Existenz es auch andernorts inschriftliche Belege gibt. 45  Förster, Jesus 51, insgesamt 50–52. 46  Ant  17,1 f.; vgl. Lk  2 ,2 (Lukas datiert den Census irrtümlicherweise in die Zeit Herodes des Großen). Förster, Jesus 35: Eine derartige Erstellung von Steuerunterlagen, etwa Verzeichnisse über Grundbesitz, war wohl „ein Novum in Judäa. Volkszählungen sind mosaischer Tradition fremd (so hatte David selbst einst lernen müssen, 2Sam  24); die Nachkommenschaft Abrahams galt für unzählbar wie der Sand am Meer. Zählbar war höchstens der eigene Heerbann (Num  1–2), aber nicht die Zivilbevölkerung“.

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Die frühere Darstellung im Bellum gibt die theologische Motivation des Widerstands, den Kampf für die Theokratie, deutlicher zu erkennen: „Während seiner (sc. des Coponius) Amtszeit verleitete ein Mann aus Galiläa mit Namen Judas die Einwohner der Provinz zum Abfall (εἰς ἀπόστασιν), indem er es für einen Frevel erklärte, wenn sie den Römern Steuern zu zahlen (φόρον τε Ῥωμαίοις τελεῖν) und nach Gott sterbliche Gebieter (μετὰ τὸν θεὸν … θνητὸυς δεσπότας) auf sich nähmen47. Dieser aber war ein Wanderredner (σοφιστής) einer eigenen Sekte, in nichts den anderen (Juden) gleichend“ (Bell  2,118).

Die drückende Steuerlast blieb im römischen Judäa ein Dauerproblem. Tacitus berichtet aus den Anfängen der Regierungszeit des Tiberius (14–37 n.Chr.): „Zur gleichen Zeit [sc. der Umwandlung des Herrschaftsgebiets des gestorbenen Königs von Kappadokien in eine steuerträchtige römische Provinz] entstanden nach dem Tod der Könige Antiochos von Kommagene und Philopator von Kilikien Unruhen in diesen Völkerschaften, da die Mehrzahl die römische, andere wieder eine Königsherrschaft (regium imperium) wünschten; auch baten die Provinzen Syrien und Judäa, erschöpft durch ihre Belastung, um Herabsetzung des Tributs“ (Tac, Ann  2,42).

Wenn Markus zufolge Jesus von Pharisäern und Herodianern48 in Jerusalem mit der Frage konfrontiert wird: „Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuern zu zahlen oder nicht (δοῦναι κῆνσον [= census] Καίσαρι)?“ (Mk  12,14), passt diese Frage in die angespannte Situation unter Tiberius. Lukas nimmt in die Anklageerhebung der Synedristen im Pilatusprozess den Punkt auf, Jesus hielte das Volk ab, „dem Kaiser Steuern zu zahlen (φόρους Καίσαρι διδόναι), und behaupte, gesalbter König (χριστὸν βασιλέα) zu sein“ (Lk  23,2). Die Kombination dieser Anklagepunkte erinnert an die Darstellung des Josephus49: Verweigerer von Steuerabgaben an die angemaßten Eigentümer des Landes hätten im Namen Gottes, des wahren Landbesitzers, selbst gerne Herrschaftsansprüche erhoben. 1.3.2 Der Präfekt als militärischer Befehlshaber Im Unterschied zu den senatorischen Provinzstatthaltern verfügte der Präfekt über keine Legionen, sondern lediglich Hilfstruppen (auxilia) 50 , die sich (mit Ausnahme der Offiziere) aus der einheimischen Bevölkerung ohne römisches Bürgerrecht ­rekrutierten, ausgenommen die Juden, die Cäsar vom Militärdienst befreit hatte. 47  Gehört das Land nach mosaischem Verständnis Gott selbst, der es Israel zum Lehen gab, so beansprucht nun der Cäsar mittels des tributum soli, sein Eigentümer zu sein. 48  Ἡρῳδιανοί = Parteigänger des herodianischen Herrscherhauses, konkret: des Herodes Antipas. Lk  20,20 streicht die Herodianer und Pharisäer, um Spitzel des Hohen Rats auftreten zu lassen; vielleicht irritierte ihn die Präsenz von Herodianern in Jerusalem. – Jos, Ant  14,450 (οἱ τὰ Ἡρώδου φρονοῦντες), hat Anhänger Herodes des Großen im Blick. Förster, Jesus 145–152 („Exkurs: Wer waren die Herodianer?“), vertritt die plausible These: „[D]ie Herodianer hatten mit der Steuereintreibung zu tun, gehörten zum Königshof und konnten ihre Verbindungen auch in der römischen Provinz nutzen, um Jesus dort zu diffamieren“ (149). 49  Siehe unten Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. unter (2). 50  Eck, Leitung 335.

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Stationiert waren die Hilfstruppen in Cäsarea und anderen Orten des Landes. In Jerusalem, das während der großen Feste mit Pilgern überfüllt war, sollten sie stets drohenden Unruhen vorbeugen 51. Auch die Soldaten, die mit Jesus in Jerusalem im dortigen „Palast“ ihren Mutwillen trieben, bevor sie ihn zur Kreuzigung abführten, gehörten zu diesen Einheiten. Der Centurio, den Markus unter das Kreuz stellt, ist Römer. 1.3.3 Die Rechtshoheit des Präfekten Grundsätzlich bezog sich die Rechtshoheit des Statthalters auf die gesamte Rechtsprechung, faktisch überließ er den einheimischen Autoritäten die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten 52 . Bei Konflikten wie Grenzstreitigkeiten zwischen Re­ gionen schritt er ein 53. Vor allem behielt er sich das ihm vom Cäsar verliehene ius gladii vor54. Dieses den lokalen Autoritäten zu verwehren, war übliche Praxis der Römer, die ihnen dazu diente, ihr Regiment in den Provinzen zu sichern55. ­Namentlich bekannte Fälle, in denen der Statthalter in Judäa die Kapitalgerichtsbarkeit ausübte, sind Jesus von Nazareth, Theudas (unter Cuspius Fadus [44–46 n. Chr.]) oder Simon und Jakob (unter Tiberius Alexander [46–48  n.Chr.]56). Gessus

51  Vgl. Jos, Bell  1,88; 2,10.224: „Als sich nämlich die Menge zum Fest der ungesäuerten Brote in Jerusalem versammelt und die römische Kohorte auf dem Dach der Säulenhalle um das Heiligtum Aufstellung genommen hatte – an den Festtagen bewachen sie immer in voller Bewaffnung das versammelte Volk, damit es keinen Aufstand beginne […]“; 5,244. 52  Jos, Ant  20,251 („die Aufsicht über das Volk“ oblag dem Hohepriester). – Zu den Verwaltungsdistrikten (τοπαρχίαι) Judäas: Cotton, Aspekts 82–86; ebd. 88 f.: „Josephus, Pliny and the papyri prove that the Jewish region was divided into administrative units with central villages or cities at their head. […] [T]he existence of one kind or another of local officials must be assumed. There are some hints that the top-archiai were in charge of taxation. Above all it is hard to believe that nothing beyond a merely geographical relationship is intended by the description of the dependence of a village on a central village“. 53  Kirner, Strafgewalt 200 Anm.  84. Jos, Ant  20,2–4 (Grenzkonflikt zwischen Peräa und Philadelphia); 20,118–124 (Konflikt zwischen Galiläern und Samaritanern, bei dem der Statthalter seiner Pflicht der Rechtsprechung aber nicht nachkommt). 54  Vgl. Jos, Bell  2 ,117; Ant  18,2; auch Tac, Ann  12,60 (dazu Sherwin-White, Society 6–8; ebd. 8–11 mit Differenzierungen zwischen einem juristisch engeren Gebrauch des Terminus ius gladii [nur über römische Bürger einer Provinz] und einem weiteren [auch über die peregrini: vgl. Jos, Ant  18,2], wie er in der Lit. weithin üblich ist). – Zum ius gladii: Ermann, Ius; Giovannini/ Grzybek, Prozess; Juster, Juifs II 132–142 („Juridiction religieuse“); Kirner, Strafgewalt 59 f.; Liebs, ius; ders., Umgang 208; Lietzmann, Prozess. 55  Eck, Rom 40: „Nirgendwo behielten die Amtsträger der Städte oder der ethnischen Einheiten wie etwa die Stämme der Ubier am Rhein, der Breuker in Pannonien oder der Homonadenser in Kilikien, diese Kompetenz. Es war also keine Besonderheit für den jüdischen Bereich, wenn dieses Recht zur Kapitalgerichtsbarkeit dem praefectus Iudaeae übertragen wurde“ (40). „Es ging um den inneren Frieden in allen Provinzteilen, die auf diese Weise geleitet wurden, wozu es nötig schien, im gegebenen Fall Personen hinrichten zu können“ (41); vgl. ders., Leitung 336 f.; Kirner, Strafgewalt 140–143. 56  Zu ihm, der 68–69  n.Chr. noch Statthalter in Alexandria war, Jos, Ant  20,100; Bell  2 ,220.492– 498; 4,616). Gleichnamiger Sohn des Tiberius Alexander, eines romanisierten Juden, und Neffe des Philo von Alexandria.

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Florus (64–66  n.  Chr.), der letzte Statthalter vor Ausbruch des Krieges, überzog nach Josephus seine Vollmacht maßlos und willkürlich 57. Bell  2,117 belegt in Verbindung mit Ant  18,258 (siehe oben), dass der Cäsar das Recht über Leben und Tod dem Praefekten Judäas ad personam verlieh. Dem Status der Präfektur Judäa entsprechend ist diese Art der Verleihung grundsätzlich auch für seine Nachfolger anzunehmen 59. Das erklärt, warum Josephus sie später nicht mehr erwähnt.

Einige Forscher gehen davon aus, dass das Synedrion zeitweise auch unter den römischen Statthaltern die Kapitalgerichtsbarkeit behalten hätte. Die namhaft gemachten Hinrichtungen auf Initiative jüdischer Autoritäten widerlegen die Annahme eines römischen Vorbehalts des ius gladii aber nicht60 . 1.3.4 Die Statthalterjustiz und das römische Strafrecht Im Unterschied zur stadtrömischen Justiz zu Beginn der Kaiserzeit mit ihren Geschworenengerichten (quaestiones perpetuae), den Organen der Polizeijustiz (praefectus urbi, praefectus vigilum), der Strafjustiz des Prinzeps und des Senats galt in den Provinzen das Prinzip der Statthalterjustiz. Der Statthalter war oberster Richter, verantwortlich nur dem Kaiser bzw. dem Senat. Er hielt Gericht über römische Bürger und Einheimische, wobei ein Beklagter mit römischem Bürgerrecht seit ­Augustus an die höchste römische Instanz, den Imperator, appellieren konnte (vgl. Apg  25,11 f.25; 26,32) 61. Wieweit Normen oder Regeln die richterliche Vollmacht eines Statthalters einschränkten, ist strittig. Die römischen Strafrechtsprinzipien wurden nicht einfach auf die Statthalterjustiz übertragen62 . Christoph G. Paulus zufolge war der „Vertreter der römischen Besatzungsmacht in einer Provinz (bzw. einem Teil davon) sehr viel freier […], als man dies von einer Betrachtung allein der Verhältnisse in der Stadt Rom kennt bzw. annehmen würde“63.

57  Jos, Bell  2 ,301–308; 305: „eine Grausamkeit, die für die Römer neu war“ (τὸ καινὸν τῆς Ῥωμαίων ὠμότητος); Ant  18,25. 58  Beide Texte oben im Eingang von III.  1.2. 59  Kirner, Strafgewalt 141 f.: In Judäa besaß der Statthalter „kein imperium wie der syrische Statthalter, sondern bekam als Äquivalent das ius gladii verliehen, um die volle Amtsgewalt ausüben zu können“. In Syrien wurde das Amt – im Unterschied zu Judäa – „mit einem Mann aus dem höchsten, senatorischen Rang besetzt“, einem ehemaligen Konsul; vgl. Liebs, ius 218 f. 60  Siehe unten III.  1.5.5. 61  Sherwin-White, Society 57–70; zur Apg: Omerzu, Prozess des Paulus. 62  Paulus, Prozess 23: Die Frage kann „wahrscheinlich gar nicht pragmatisch genug“ beantwortet werden. „Zur Zeit des Pilatus […] dürfte der römische Magistrat verfahren haben, wie es ihm durch seine Erziehung vertraut war. Die theoretische wie praktische Ausbildung eines Römers der Oberschicht vermittelte römische Grundgedanken, die der discipulus auf seinem späteren Gang durch den cursus honorum in die Tat umsetzte. […]. Und sollte einmal solch ein Magistrat keine juristische Ausbildung genossen haben, wird er sich in Elementarlehrbüchern des römischen Rechts (oder auch der Rhetorik) die nötigen Kenntnisse verschafft haben“.– Zur Frage der Anwendbarkeit römischer Strafrechtsprinzipien auf die Provinzen vgl. auch Nogrady, Strafrecht 24–125; bes. 24–32 u. 76–86. 63  Paulus, Prozess 24; vgl. oben III. unter 1.1.

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Grundlegend für die Beschreibung römischer Strafverfahren ist nach wie vor die klassische Typologie, die Theodor Mommsen entwickelt hat. Die ihn leitende Absicht, die vielgestaltige römische Rechtspraxis auf der Basis sehr unterschiedlicher Quellen zu systematisieren, unterliegt zwar seit geraumer Zeit der Kritik, eine Alternative gleichen Ranges scheint aber bislang nicht gelungen64. Mommsens Typologie dient der neutestamentlichen Forschung nach wie vor als Raster zur recht­ lichen Beurteilung des römischen Verfahrens gegen Jesus, auch zur Qualifizierung der lukanischen Darstellung der Strafverfahren gegen Jesus und Paulus65 , weshalb hier kurz auf sie einzugehen ist (unter 1). Weiterführend ist der Ansatz von Wolfgang Kunkel, „Prinzipien des römischen Strafverfahrens“ zu eruieren, die auch für die Statthalterjustiz gelten dürften (unter 2). (1) Grundlegend für Mommsen ist seine Unterscheidung von Zwangsrecht (coercitio) und Judikationsgewalt (iudicatio). Das Zwangsrecht sieht Mommsen in der Notwendigkeit begründet, den Magistrat mit Zwangsmitteln (Polizei etc.) auszustatten, um gegen Widersetzlichkeit administrativ vorgehen zu können, die Judikationsgewalt charakterisiert er als durch Mitwirkungsrechte der Bürgerschaft legitimierte Vollmacht, Vergehen strafrechtlich zu ahnden. „Wie das Strafverfahren die Durchführung des staatlichen Sittengesetzes ist, ist die Coercition die Durchführung der staatlichen Obergewalt, das Imperium, ohne welches es keinen bürgerlichen Gehorsam und also kein Gemeinwesen gibt“66 . Von dieser Grundunterscheidung her nimmt er die Geschichte des römischen Magistrats von den frühesten Zeiten an in den Blick67. Die Könige Roms hätten wie auch der Magistrat in den Anfängen der Republik ungebundene Coërzition geübt, obrigkeitliches Zwangs- oder Bestrafungsrecht, um Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die magistratische Coërzition sei erst durch Einführung öffentlicher Strafverfahren eingeschränkt worden. „Das Strafrecht beginnt, wo der Willkür des Trägers der Strafgewalt, des erkennenden Richters Schranken gesetzt werden durch das Staatsgesetz einschliesslich des diesem gleichwerthigen Herkommens [d. h. des Gewohnheitsrechts]“68 . Dennoch hät64  Kirner, Strafgewalt 61: „[D]ie Forschungsgeschichte zum römischen Verfassungs- und Staatsrecht (könnte) bis heute als ein Versuch gedeutet werden […], sich von Vorstellungen Mommsens zu lösen, und allgemein postuliert […], die Isolierung der Rechtsbegriffe von ihren politischen und sozialen Zusammenhängen aufzugeben“; ebd. 27–40 („Die Wirkung und Herausforderung durch Theodor Mommsen“; „Mommsen und die magistratische Strafgewalt außerhalb Roms“). Zu Mommsens „Umgang mit den Quellen“ siehe die gleichnamige Studie von Liebs. 65  Im Unterschied zu den anderen Synoptikern besaß Lukas in prozessualen Fragen offenkundig einen gewissen Kenntnisstand; vgl. Sherwin-White, Society 28–32.48–70; Omerzu, Prozess des Paulus; Heusler, Kapitalprozesse. 66  Mommsen, Strafrecht 54; vgl. Last, Coercitio 235–243. 67  Mommsen, Strafrecht 58: Die historischen Belege für seinen Versuch, „die Anfänge und die Entwickelungsrichtungen des römischen Strafrechts selbst kurz zusammenzufassen“, liefere „sein Buch selbst in seiner Gesammtheit, soweit sie überhaupt gegeben werden können; denn für Darlegungen, wie dieser Abschnitt sie versucht, muss der Historiker das Recht des Künstlers fordern, aufzufassen und nachzuschaffen“. 68  Ebd. 57. „Das römische öffentliche Strafrecht beginnt mit dem valerischen Gesetz, welches

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ten beide Formen, die nicht gebundene Coërzition und die gebundene Judikation, „zwei Hälften eines Ganzen“, weiterhin nebeneinander Bestand69. Förmliche Strafprozesse hätte es (zunächst) nur in Rom gegeben, bedingt „durch den städtischen Charakter des römischen Gemeinwesens“. „[N]icht mit dem Wesen des Rechts“ vertrage sich, dass der öffentliche Strafprozess „nur statuiert wird gegen den Bürger und den Mann, bei Nichtbürgern und Frauen (aber) ausgeschlossen ist“70 . Zum Strafrecht in den Provinzen führt Mommsen aus: „[N]icht bloss ist der öffentliche magistratisch-comitiale Strafprozess, so lange er bestanden hat, auf die Stadt Rom beschränkt geblieben, sondern auch das dafür eintretende Quästionenverfahren mit seiner Geschwornenordnung wohl auf Italien, aber nur unvollkommen auf die Provinzen übertragen worden. Daher hat der Provinzialprozess noch in der Kaiserzeit, obgleich er dem ordentlichen Strafverfahren genähert ward und die Definirung der Delicte, die Bemessung der Strafen, die wesentlichen prozessualischen Normen diesem entlehnte, doch niemals sich vollständig von der Coercition emancipiert. Als dann die Geschwornengerichte verschwanden und die Prozessformen zusammenfielen, hat weniger die Coercition der Judication als umgekehrt die Judication der Coercition das Feld geräumt“71.

Die Instanzen und Behörden, die Mommsen als im wechselnden Maße zuständig für die Strafpraxis aufführt, bedürfen einer kurzen Erläuterung: Magistratisch-comitiales Strafverfahren: In der Frühzeit der Republik tritt diese Form der Gerichtsbarkeit neben die der ungebundenen magistratischen Koërzition gemäß dem Prinzip, „dass die Gesammtheit der Bürger das Gemeinwesen darstellt und beherrscht“72 . Daraus folgte, dass Urteile des Magistrats nur nach Bestätigung der Bürgerversammlungen (= comitia) vollstreckt werden durften. Auch das Verfahren selbst unterlag „mit gesetzlich normirtem Delictbegriff, gesetzlich normirtem Strafmass und gesetzlich normirtem Prozess“ der Kontrolle73. Für alle in Rom mit Bürgerrecht bedeutete es eine neue Form der Rechtssicherheit. Quaestionengericht: Ein Plebiszit im Jahr 149 v. Chr. sowie die nachfolgende Gerichtsreform des Sulla führten zur Ablösung des magistratisch-comitialen Gerichtsbarkeit durch ein magistratisches Geschworenengericht74. Für unterschiedliche Klagegebiete, darunter politische Straftaten wie gemeine Verbrechen, richtete der Magistrat ständige Gerichtshöfe (quaestiones perpetuae) ein, die sich aus Geschworenen zusammensetzten, welche für jeden einzelnen Fall gelost wurden und unter dem Vorsitz eines Prätors oder eines Magistrats geringeren Ranges (iudex quaestionis) tagten. Jeder unbescholtene römische Bürger konnte Anklagen vorbringen. Das Besondere der vor dem Quaestionengericht durchgeführten Prodas Todesurtheil des Magistrats über den römischen Bürger der Bestätigung durch die Bürgerschaft unterwarf“ (57 f.). 69 Ebd. 63. 70  Ebd. 57. „Im Civilrecht […] hat die römische Rechtsentwickelung diese Schranke früh gesprengt; das öffentliche Strafrecht ist in seiner nothwendigen Ergänzung durch die unbeschränkte Coercition und seinem starren Festhalten an der hauptstädtischen Gerichtsstätte durchaus hinter dem Civilrecht zurückgeblieben“. 71  Ebd. 57 f. 72  Ebd. 162. 73  Ebd. 151. 74  Kunkel, Prinzipien 12: „Seit der sullanischen Zeit (d. h. seit etwa 70 v. Chr.) kennen wir nur noch ganz vereinzelte Fälle, in denen ein solches Verfahren stattgefunden hat oder auch nur angekündigt wurde, aber nicht zustande kam“.

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zesse bestand darin, dass der Magistratsvertreter wohl die Verhandlung eröffnete und am Ende das Urteil vortrug, die eigentliche Verhandlung zwischen den Parteien aber von den Geschworenen geleitet wurde. Mommsen zufolge begrenzten diese Gerichtshöfe, die bis zum Ende des 2.  Jahrhunderts Bestand hatten, die „comitiale Omnipotenz“75. Konsularisch-senatorisches Gericht 76: Nach dem Ende der Republik erteilte Augustus dem Senat über dessen bisherige administrative Kompetenzen hinaus die Gerichtsvollmacht über alle Reichsangehörige77, allerdings nur in den Fällen, die nicht, „wie die meisten Straffälle, vor ein anderes ordentliches Gericht gehörten“78 . Nicht dazu gehörten militärische Strafsachen oder Amtsvergehen kaiserlicher Beamter, die vor dem Kaisergericht verhandelt wurden. Vorsitz und Initiativrecht bei derartigen Ermittlungsverfahren (cognitio) lagen beim Konsul, das Gremium entschied (wie die Urteile des Magistrats früher an die Zustimmung der comitia gebunden waren). Der senatorische Strafprozess trug alle Merkmale eines „ordentlichen Rechtsverfahrens“79. Der gewünschte Ausschluss der Öffentlichkeit war bei der „große[n] Zahl der Betheiligten“ „factisch unmöglich“80 . Kaisergericht 81: Das konsularisch-senatorische Gericht stand hinter dem Kaisergericht zurück, auch wenn es „rechtlich ohne Zweifel ihm gleich“ war82 . Beide bildeten seit dem frühen Prinzipat eine „Dyarchie“83. „Wie der consularisch-senatorische Strafprozess nichts ist als die Wiederaufnahme des magistratisch-comitialen, so ist das Kaisergericht die Wiederaufnahme des nicht gebundenen magistratischen Strafverfahrens. […] Es ist das ursprüngliche volle Imperium, befreit von den Schranken, welche ihm in der städtischen Amtführung gesetzt sind, befreit namentlich auch von der Schranke, dass das magistratische Todesurtheil der comitialen Bestätigung bedarf“84. „Wie der richtende Senat so steht auch der richtende Kaiser über dem Gesetz. […]. Er kann nach Ermessen über das gesetzliche Strafmass hinaus oder unter demselben erkennen […]. Mit der verfassungsmässig geordneten Allmacht der Bestrafung und insbesondere der factischen Wiederherstellung der Todesstrafe zu Gunsten der neuen Monarchie [,] ist das gesammte Criminalverfahren von Rechtswegen gestellt in das jedesmalige Belieben des jedesmaligen Herrschers“85. Ob Prozesse und welche im Kaisergericht öffentlich waren oder nicht, lässt sich für die Frühzeit nicht eindeutig belegen. Im Palast des Domitian scheint ein 75 

Mommsen, Strafrecht 204; Kunkel, Prinzipien 14; ausführlich ders., Quaestio. Mommsen, Strafrecht 250–259. 77  Dem zugrunde lag die „Uebertragung der souveränen Staatsgewalt von der Bürgerschaft auf den Reichsrath“, „die Umwandlung des senatus in den senatus populusque Romanum“ (ebd. 250). Vorzugsweise richtete der Senat über eigene Mitglieder. 78  Ebd. 252 f.: Der „Gerichtshof wäre nicht im Stande gewesen […] für das ganze Reich die Strafjustiz zu beschaffen; er kann daher in jedem Fall die Annahme des Prozesses verweigern“. 79  Ebd. 254. „[W]ie schon der magistratisch-comitiale Prozess neben der Selbstvertheidigung auch der Rechtsbeistandschaft Raum giebt, so gilt dies ebenfalls von dem Senatsprozess, welcher hierin im wesentlichen sich anschliesst an die aus dem Privatprozess erwachsene Quästion und diesem Verfahren mit der Anklage auch die Vertheidigung entnimmt“; 264: Auch seine Geschäftsordnung band den Senat. 80  Ebd. 254.263 Anm.  1; Kunkel, Prinzipien 24: „Der Senat verhandelte stets in geschlossenem Raum, in der Kurie oder in einem Tempel, sicherlich meist auch hinter verschlossenen Türen. Es scheint sogar, dass die Strafjustiz des Senats unter anderem gerade darum üblich geworden ist, weil man die Untaten von Leuten der obersten Gesellschaftsschicht nicht in den Quästionen, die notwendigerweise auf dem Markt tagten, vor jedermanns Augen und Ohren ausbreiten wollte“. 81  Mommsen, Strafrecht 260–279. 82  Ebd. 252. 83  Ebd. 261. 84  Ebd. 260. 85  Ebd. 262. 76 

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auditorium – ein eigener Gerichtssaal – nachgewiesen zu sein, „und erst seit Mark Aurel war dieses Auditorium der normale Ort des Kaisergerichts“. Und: „[D]er Rückzug des Kaiser­ gerichts vom Forum in den Gerichtssaal war […] Symptom eines tiefgreifenden Wandels gegenüber den Vorstellungen und Idealen der republikanischen Justiz“86 .

Zu den beiden maßgeblichen Typen des öffentlichen Strafprozesses erklärt Mommsen: „Der öffentliche Strafprozess tritt in zwei Formen auf, der älteren und ursprünglich ausschließlichen der Ermittelung, der cognitio, und der jüngeren der Anschuldigung, der accusatio“87. Die sog. cognitio = richterliche Untersuchung entspricht der ursprünglichen ungebundenen magistratischen Koërzitionsgewalt. Erhebung des Tatbestandes und Richterspruch liegen in der Hand des Magistrats. „Ihr Wesen ist die legalisirte Formlosigkeit. Es giebt rechtlich keine feste Form weder für die Eröffnung des Prozesses [,] noch streng genommen für dessen Beendigung. Der Magistrat kann den Strafprozess jederzeit fallen lassen, aber auch jederzeit erneuern; eine schlechthin wirksame, die Wiederaufnahme derselben Untersuchung ausschliessende Freisprechung ist mit dem Wesen der Cognition unvereinbar“88 . „Der einzige Teil des sonst formlosen Verfahrens, welcher gesetzlicher Regulirung unterliegt“, ist die Kundgabe des Urteils, das den Grund der Verurteilung enthalten musste und schriftlich zu fixieren war, um nachträglicher Manipulation vorzubeugen89. Kläger von Amts wegen gibt es nicht, nur Privatkläger. Nach „Denuntiation“ = Meldung von dritter Seite 90 wird der Straftatbestand vom Magistrat festgestellt und geahndet. Das Verhör des Angeklagten steht im „Mittelpunkt des Strafprozesses“91. Entscheidend ist das Geständnis. Liegt es nicht vor, genügen für eine Ver­ urteilung Zeugenaussagen. „Die Vertheidigung reicht so weit, wie der inquirirende 86 

Kunkel, Prinzipien 24f; ebd. 30 f. Mommsen, Strafrecht 340; „Die Formen des Strafprozesses“: 339–351. Für seine umfängliche Rekonstruktion der accusatio kann er sich auf reiches Quellenmaterial stützen; bei der cognitio ist das „wegen ihrer Formlosigkeit“ schwieriger (345). 88  Ebd. 340. 89  Ebd. 447 mit Anm.  5 (Belege); 447 f.: „[V]on geringfügigen Strafsachen abgesehen, (ist) für das Urtheil Abgabe auf dem Tribunal und zwar unter der Republik mündliche Verkündigung, in der Kaiserzeit Verlesung nach dem Concept durch den Magistrat selbst vorgeschrieben und sowohl das nicht niedergeschriebene und bloss verkündigte wie das niedergeschriebene und nicht verlesene Urtheil (werden) als nichtig behandelt“. Ob diese Praxis, die den Zweck hatte, „jeder nachträglichen Aenderung des Spruches vorzubeugen“, auch in den Provinzen üblich war, bleibt offen. 90  Ebd. 340 f.: „Denuntiationen, das heisst anticipirte Zeugenaussagen entgegenzunehmen ist dem Imperienträger in jeder Weise gestattet und ebenso können ihm in dem Recht Zeugen zu laden und zu vernehmen nicht, wie späterhin dem Ankläger, Schranken gezogen gewesen sein“. Möglicher „Verleumdung“ (calumnia) wird durch die accusatio vorgebeugt (s. unten). 91  Ebd. 340; 404: „Das Verhör des Angeklagten nimmt dabei unter den Beweismitteln die erste Stelle ein und dem Angeschuldigten steht kein Rechtsweg offen[,] um auf die Ladung der Zeugen einzuwirken […]“. Ebd. Anm.  4 zu den „ältesten und am zuverlässigsten überlieferten Christenprozesse, bei denen durchgängig der Ankläger fehlt“, und die „wesentlich in einem derartigen Verhör (bestehen), da bei dem Eingeständniss der Beschuldigten von weiteren Beweisen abgesehen wird“ – dies im Unterschied zur accusatio, die zwar eine Verteidigung des Angeklagten – durch ihn selbst oder einen Patron – vorsieht, aber kein Verhör durch Kläger oder Richter (s. unten). 87 

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Magistrat sie zuzulassen für gut findet […]. Die durch Herkommen oder Gesetz der Staatsgewalt gesetzten Schranken, die Unzulässigkeit der Körperverstümmelung, die Beschränkung der Folter auf den Unfreien hat der Magistrat allerdings einzuhalten“92 . Die sog. accusatio = Verfahren aufgrund von Anklage entspricht der Einrichtung der Geschworenengerichte in Rom unter Vorsitz des Magistrats93. Dieser eröffnet das Ermittlungsverfahren und beschließt es mit der Urteilskundgabe. Das Verfahren selbst, das sich am Vorbild der Privatprozesse94 orientiert, ist „auf einen nicht magistratischen Vertreter des Gemeinwesens (zu) übertragen“95. Anklage in einer öffentlich belangreichen Angelegenheit kann jeder Bürger einreichen, was Ausdruck seiner Mitverantwortung am Gemeinwesen ist96 . Der Prätor muss die Anklage annehmen. Nur in bestimmten Fällen kann er sie ablehnen. Der Missbrauch des Klagerechts zieht für den Kläger erhebliche Strafen nach sich97. Die Ermittlungen sind ihm übertragen98 . Die Geschworenen müssen römische Bürger sein und ein bestimmtes Alter aufweisen, wirken an der Seite des Vorsitzenden als consilium, wobei jeder von ihnen die Bezeichnung iudex führt99 . „[D]ie Entscheidung sowohl in der Sache selbst wie auch bei wichtigeren Incidenzfragen (liegt) bei dem Vorsitzenden nicht mehr […] als bei jedem der Geschworenen“100 . Alle Beteiligten am Prozess haben anwesend zu sein. Stellvertretung ist ausgeschlossen: „neque accusator per alium accusare neque reus per alium defendi potest“101. Im Übrigen war der Verlauf des Prozesses102 auf hohem Rechtsniveau geregelt, was hier nicht weiter zu entfalten ist. Nur auf die Elemente Urteilsfällung und Urteilsverkündigung sei noch hingewiesen. Im Geschworenenverfahren wird die Urteilsentscheidung kollegial gefasst – unmittelbar nach der Verhandlung mit mehrheitlicher Abstimmung ohne vorausgehende „gegenseitige Berathschlagung“, aus der Besorgnis heraus, 92 

Ebd. 341. Ebd. 186–221 („Das Geschwornengericht unter magistratischem Vorsitz“). 94 Dazu Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte 263 f. 95  Mommsen, Strafrecht 343. Damit „geschieht ein weiterer Schritt in der Einschränkung der magistratischen Rechte“. 96  Zum formalen Vorgang – der Kläger bittet den Magistrat unter Darlegung der Straftat um Zulassung als Ankläger (delatio nominis) – vgl. Paulus, Prozess 30. 97  Mommsen, Strafrecht 490–503: darunter etwa „wissentlich grundlose Klageerhebung (calumnia)“ oder „ungerechtfertigter Rücktritt von der Anklage (tergiversatio)“. 98  Ebd. 344: „In prozessualischer Hinsicht musste die Klageerhebung […] dem die Gemeinde vertretenden Kläger (eingeräumt werden), wie dies namentlich bei der Zeugenladung zu Tage tritt, eine über die des Klägers im Privatprozess hinausgehende, aber der des Magistrats im öffentlichen Strafprozess nachstehende Befugnis für die Herbeischaffung der Beweise“. 99  Ebd. 213. 100  Ebd.213. Im Einzelnen Kunkel, Prinzipien 27; ders., Quaestio. 101  Paulus 5,6,11: Mommsen, Strafrecht 374 Anm.  3 mit weiteren Belegen für die zitierte Regel. 102  Feststellung der Anklage; Voruntersuchung durch den Kläger; Festlegung der Geschworenenbank, des Gerichtstermins etc.; eventuell mehrteiliger Instanzenweg; einleitender Vortrag der klagenden Partei; Verteidigung des Angeklagten; Beweisverfahren: Vernehmung der Zeugen beider Seiten; Findung, Fällung und Verkündigung des Urteils: vgl. Heusler, Kapitalprozesse 223– 234 (nach Mommsen). 93 

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„dass unberechtigter Einfluss des Einzelnen die Unabhängigkeit der Geschworneninstitution schädigen könne“103. Der Richterspruch (sententia) ist mit Angabe des Verurteilungsgrundes wie bei der cognitio schriftlich festzuhalten und öffentlich kundzutun, womit „jeder nachträglichen Aenderung des Spruches vorgebeugt werden soll“104. Auf dem Hintergrund dieses ordentlichen Verfahrens (ordo) wird klar, warum die cognitio, die „in reiner Gestalt […] in dem ursprünglichen magistratischen Strafprozess“ auftritt, bei ihrer späteren „Wiederaufnahme durch den Kaiser und dessen Delegatare“ (Statthalter)105 cognitio extra ordinem heißt. „Die neuen Formen nahmen ihren Ausgang von dem Tatbestand, dass die beherrschende politische Mitte nicht mehr eine Gruppe von Aristokraten, sondern nunmehr eine einzelne Person, der Kaiser, war. Eine der wichtigsten Konsequenzen der neuen Situation war die Ausbildung eines neuen, bereits in der Republik bekannten, aber nunmehr für immer weitere Bereiche der Rechtspflege angewandten Prozessverfahrens, in dem nicht mehr in einem zweigeteilten Verfahren Magistrat und Laien in einem ausgewogenen Verhältnis an der Rechtsfindung beteiligt waren, sondern der Magistrat das Verfahren vom Beginn bis zur Urteilsfindung lenkte, wobei er die Urteilsfällung meist an einen von ihm beauftragten Richter (iudex pedaneus, iudex datus) delegierte“106 . In den Provinzen war das der Statthalter. (2) Guido O. Kirner hält es im Blick auf die Provinzen für einen Irrweg, anhand bestimmter Kriterien „ein vorgeblich standardisiertes Strafverfahren zu konstruieren, um daraus dann bei Abweichungen einen ‚Justizirrtum‘, einen Verfahrensfehler oder allgemein die Unrechtmäßigkeit der ‚Willkürjustiz‘ etc. abzuleiten“107: „Strafen und Herrschen waren in den kaiserlichen Provinzen noch nicht in einem Maße voneinander ausdifferenziert, dass das Strafrecht sich bereits eine ‚Legitimität durch Verfahren‘ zugelegt hätte, die den Herrschaftsaspekt verschleiert; entsprechend war die Ausübung der Strafgewalt auch noch nicht in ein enges juristisches Korsett verfahrensrechtlicher Natur gefasst, was den Statthalter daran gehindert hätte, sein Provinzialregiment unabhängig von informellen und herrschaftspolitischen Erwägungen auszuüben. Vielmehr sollte umgekehrt  – wie überhaupt beim römischen Strafprozesswesen – davon ausgegangen werden, dass es gerade der Ermessensspielraum des Magristraten oder Statthalters war, der es auch Klägern und Denunzianten erlaubte, persönliche Gegner mit den Mitteln des Strafrechts anzugreifen, sich zu rächen oder auch nur sein Ansehen zu schmälern“108 . 103 

Mommsen, Strafrecht 443.

104 Ebd.448.

105 

Ebd. 340. Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte 265; 265 f.: „Dieses neue Amtsverfahren wurde zunächst noch als ein außerordentliches, also das ordentliche (Formular-)Verfahren [accusatio] nur gelegentlich ersetzendes Verfahren (cognitio) angesehen und hieß darum cognitio extra ordinem. Das Amtsverfahren (Kognitionsprozess) trat aber zunehmend an die Stelle des alten Formularverfahrens und hat es bereits im 2.  Jahrhundert dann überall verdrängt“; Sherwin-White, Society 17 f., zu den Merkmalen einer cognitio extra ordinem. 107  Kirner, Strafgewalt 288; vgl. auch Knothe, Prozess 78 f. 108  Kirner, Strafgewalt 289; ähnlich bereits Sherwin-White, Society 2: „[…] in the Julio-­ Claudian period the proconsuls were remarkably independent figures“. 106 

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Anstatt Verfahrensregeln für einen Statthalterprozess zu postulieren, empfiehlt es sich deshalb im Anschluss an Wolfgang Kunkel, auf „Prinzipien des römischen Strafverfahrens“ zu rekurrieren. Zumeist wird, bestimmt durch Mommsens Darstellung, zwischen der hohen Rechtsbindung einer accusatio und der „angeblich unumschränkte(n) Macht des Magistrats im magistratischen Strafverfahren“ ein „krasser Gegensatz“ konstruiert109. Für die späte Republik und den Prinzipat bis etwa Septimius Severus – die „Glanzzeit des römischen Rechts“110 – weist Kunkel auf, dass „beide Verfahrensarten in erheblichem Maß auf den gleichen Prinzipien beruhen“. Diese gelten ihm zufolge auch für die Statthalterjustiz. (a) Das erste Prinzip ist „[d]ie Trennung von gerichtlichem Schuldspruch und magistratischer Strafverhängung“111. Das Verfahren selbst diente allein der Feststellung, „ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hatte oder nicht“. Dementsprechend endete es mit einem Freispruch oder der Feststellung der Schuld (fecisse videtur). Die entsprechende Strafe war per Gesetz geregelt und lag „in der Regel“ fest. Sie zu vollstrecken, oblag dem Magistrat – „aber diese seine Funktion gehörte schon nicht mehr zum Gerichtsverfahren“112 . (b) Mit dem ersten Prinzip verbindet sich ein zweites: „Wo die Schuld bereits feststand, bedurfte es gar keines Strafverfahrens. Feststehen konnte die Schuld entweder, weil die Tat offenkundig war, oder weil der Täter sie eingestanden hatte“113. Während die Regel, dass ein manifester Täter (z. B. ein bei frischer Tat ergriffener Dieb) nicht erst verurteilt werden müsse, um bestraft werden zu können, zumindest bei römischen Bürgern im 1.  Jh. kaum mehr zur Anwendung kam114, gilt ausweislich der bis zur Wende vom 2. zum 3.  Jh. reichenden Belege bei Geständigen das Prinzip confessus pro iudicatus est, das heißt: „[D]as Geständnis des Beschuldigten (machte) die Durchführung eines Gerichtsverfahrens überflüssig“115. Auch ein hartnäckiges Schweigen wurde als Geständnis gewertet116 . Eigens erwähnt sei Tacitus. In seinen Berichten über Strafverhandlungen im Senat „kommt nicht selten der Fall 109  Kunkel, Prinzipien 14  f. Da beide Verfahrensweisen lange nebeneinander existierten, „könnte (man) diesen krassen Gegensatz nur als eine Art von juristischer Schizophrenie verstehen, die ausgerechnet das Volk befallen haben müsste, das die Rechtswissenschaft und die Fundamente der modernen Rechtskultur geschaffen hat“. 110  Ebd. 12. 111  Ebd. 16. Ausnahme ist der Senatsprozess. Seiner allgemeinen Geschäftsordnung entsprechend war es bei politischen Entscheidungen, die er in der Regel zu treffen hatte, „üblich, dass die Voten der zur Meinungsäußerung aufgerufenen Senatoren stets einen Vorschlag über die zu treffenden Maßnahmen enthielten“ (17). 112  Ebd. 16. 113  Ebd. 17. Sallust berichtet, dass 62 v.Chr. der jüngere Cato sein Votum für die Hinrichtung der Catilinarier damit begründet hat, dass manifeste (durch augenscheinliche Beweise überführte) oder geständige Verbrecher more maiorum ohne Prozess hingerichtet werden dürften: „censeo, … de confessis sicuti de manufestis rerum capitalium more maiorum supplicium sumundum“ (De Catilinae coniuratione 52,36). 114  Ebd. 18, mit Verweis auf die (Augusteische) Lex Julia de vi publica, die, wenn es um die Todesstrafe geht, nur den Verurteilten (iudicatus) und den Geständigen (confessus) nennt, nicht den offenkundigen, manifesten Täter: Pauli Sententiae 5,26,2. 115  Ebd. 19 mit Belegen; vgl. auch Paulus, Prozess 24–27; Kirner, Strafgewalt 279. 116  Kommentar des Asconius (Pseudo-Ascon) zu Cic, Verr  1,5, über den Angeklagten: „Si tacuisset, lis sei aestimabatur ut victo; si negasset, petebatur a magistrate dies inquirendorum eius criminum et instruebatur accusatio“ (Stangl Scholasticae II 207); Quintilian, Inst.  3,6,14: nullam esse litem, si is, cum quo agatur, nihil respondeat. – Kunkel, Prinzipien 19; Paulus, Prozess 32, verweis noch auf SenRhet (= Seneca d.Ä.), Contr  10,2,5: silentium videtur confessio); vgl. auch

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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vor, dass der Angeklagte defensionem reliquit; dieses ‚Aufgeben der Verteidigung‘ bedeutet aber nichts anderes als den Verzicht darauf, sich für unschuldig zu erklären und vom Ankläger den Nachweis der Schuld vor Gericht zu fordern“117. Und: „[E]in eigentliches, auf Schuldfeststellung gerichtetes Strafverfahren gegen den Geständigen“ war nicht mehr „erforderlich“118 . Leugnete der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat, begann das eigentliche Verfahren, das anerkannten Grundsätzen genügen musste. (c) Schon die Eröffnung des Verfahrens war öffentlich, selbstverständlich auch sein Fortgang. Belegt ist das Prinzip der Öffentlichkeit mindestens „bis zu Mitte des 2.  Jahrhunderts“119. Ausgenommen waren davon Senatsprozesse und das spätere Kaisergericht120 . „‚Öffentlichkeit‘ bedeutet im Sinn der Republik und des frühen Prinzipats etwas anderes als bei uns. Es bedeutet, dass die Verhandlung auf dem Forum oder auf anderen Plätzen oder allenfalls in einer der offenen Gerichtshallen (basilicae) stattfand“121. Das gilt auch für die Provinzen: Verhandelt wurde auf öffentlichen Plätzen. (d) Der Grundsatz, „dass dieselbe Person nicht zugleich Ankläger und Richter sein dürfe“, findet sich des Öfteren in den Quellen122 . Was für das Quaestionenverfahren galt, „das System der Privatanklage“, wird wahrscheinlich auch in der magistratischen oder kaiserlichen Strafjustiz gegolten haben, „wenn es nicht gerade durch ein besonderes dringendes öffentliches Interesse gerechtfertigt“ schien, ein Strafverfahren ohne Ankläger einzuleiten123. (e) Ein weiterer Grundsatz lautet, dass dem Angeklagten „ausreichende Gelegenheit zur Verteidigung“ zu geben sei. Die Gesetzgebung für die Quaestionenverfahren war darum „in einer für unsere Begriffe geradezu exzessiven Weise bemüht“124. War die Rolle des Vorsitzenden im magistratischen Strafverfahren wie erst recht im Kaisergericht viel dominanter – er konnte die Redezeit der Parteien weitgehend nach eigenem Ermessen bestimmen –, so dürfte aber auch hier „die Gewährung einer reichlichen Redezeit an die Prozessparteien […] entscheidendes Kriterium eines fairen und gerechten Strafprozesses“ gewesen sein125. Garnsey, Lex 173: „According to the lex Rubria (XXI, de pecunia certe credita), the confessus, the non respondens, and the indefensus, were all iudicati, or ,iure lege damnati‘“. 117  Kunkel, Prinzipien 19. 118  Ebd. 20. 119  Ebd. 23. 120  Siehe oben. 121  Kunkel, Prinzipien 23 f. (mit Belegen). „Für Strafprozesse ist das letzte [in Basiliken] aber nicht bezeugt“. 122  Ebd. 25 mit Verweis auf DionHal, AntRom  7,36,2; 7,50,2; DioC  52,31,9 f.; vgl. auch Sherwin-­ White, Society 18. 123  Ebd. 25 f. Ohne Ankläger aburteilen konnten Beamte der römischen Polizei (die republikanischen tresviri capitales und die kaiserzeitlichen praefecti urbi und vigilum), die es in erster Linie mit den kriminellen Elementen der großstädtischen Unterschicht zu tun hatten. 124  Ebd. 26. „Wenn wir in Ciceros Rede pro Flacco lesen, dass in einem Repetundenprozess einem der mehreren Ankläger nicht weniger als 6 Stunden als „gesetzliche Redezeit“ zustanden, so kann man sich ausrechnen, dass die Verteidigung mindestens 13, vielleicht aber 19 oder noch mehr Stunden beanspruchen durfte […]; vgl. auch ders., Quaestio 80–83. – Vgl. Jos, Ant  16,367; Apg  25,16 die Rede des Festus: „ich aber erwiderte ihnen [sc. den hohen Priestern und Ältesten der Juden], es sei bei den Römern nicht üblich, einen Menschen auszuliefern, bevor nicht der Angeklagte den Anklägern gegenübergestellt sei und Gelegenheit erhalten habe, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen“. 125 Ebd. 27. „Noch von Septimius Severus sagt Cassius Dio, der im Gericht dieses Kaisers selbst als Beisitzer mitgewirkt hat: ‚Er machte das (die Leitung einer Gerichtsverhandlung) ganz vorzüglich; er maß nämlich den Parteien reichlich Wasser zu (die Wasseruhr zeigte dem Redner den Ablauf seiner Redezeit an), und uns Mitrichtern gewährte er viel Freiheit der Meinungsäußerung‘ (πολλὴν παρρησίαν) [DioC  77,17,1]“.

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(f) Beim Geschworenenprozess entschied ein consilium über Schuld oder Unschuld. Nach gängiger Meinung war dies beim magistratischen Strafverfahren und im Kaisergericht anders. Schuldspruch und Strafverhängung hätten im Ermessen des Magistrats bzw. des Kaisers gelegen, dessen Beratung durch Beisitzer unverbindlich war. Kunkel modifiziert dieses Bild und zeigt, dass die magistratische Strafjustiz wie die kaiserliche Rechtspflege keineswegs „einen rein autokratischen Charakter“ besaß. Es gibt genügend Fälle, in denen der Schuldspruch aufgrund von Abstimmung erfolgte126 . Apg  25,12 zufolge stützte sich der Statthalter Festus im Prozess gegen Paulus auf einen Ratgeberkreis (συμβούλιον = consilium). Für die Provinz Kyrene bezeugt das 4. Edikt des Augustus die Einrichtung eines Geschworenengerichts. Für Judäa fehlen Belege127.

Die aufgeführten Prinzipien können bei der Erkundung dessen, was sich auf der Basis der ältesten Darstellung der PEG historisch-plausibel zum Pilatus-Verfahren gegen Jesus sagen lässt, den rechtlichen Orientierungsrahmen bieten. Entscheidend ist allerdings, wie der einzelne Präfekt den ihm vom Kaiser eingeräumten Ermessensspielraum nutzte. Im Fall von Pontius Pilatus interessiert deshalb seine Amtsführung, wie sie sich aus den Quellen jenseits des Neuen Testaments erheben lässt. 1.4 Pontius Pilatus (26–36  n .Chr.): Amtsinhaber zur Zeit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu Bei Philo und Josephus steht der Römer Pontius Pilatus in schlechtem Ruf. Bei ­Josephus wird sein Bild in den Antiquitates gegenüber dem früher geschriebenen Bellum Judaicum noch dunkler128 . Anders die christliche Seite: Sie hält Pilatus für einen Schwächling, auch für einen Bösewicht. Spätere Legenden verklären ihn regelrecht, weil er die Unschuld Jesu bezeugt, und befördern seine Frau, die zugunsten Jesu interveniert (Mt  27,19), sogar in lokale Heiligenkalender129. So wenig der Aufhellung des Pilatusbildes in den ntl. Passionserzählungen zu trauen ist, so kritisch sind die Darstellungen des Philo und Josephus zu sehen. Der Präfekt war wohl nicht der Judenhasser, als den ihn beide zeichnen. Obwohl die Quellenlage nicht schlecht ist130 , sind aus seiner 10-jährigen Amtszeit131 nur sechs Episoden bekannt, 126 

Kunkel, Prinzipien 30; ausführlich ders., Funktion. Lengle, Prozess 315; zu den Acta Alexandrinorium: Sherwin-White, Society 21 f. 128  Zum synoptischen Vergleich der Bell- und Ant-Texte siehe Krieger, Pontius Pilatus 66– 74. – Monographische Darstellungen zu Pilatus: Bond, Pontius Pilate; Carter, Pontius Pilate (mit Schwerpunkt auf der Auslegung der ntl. Pilatusszenen); Demandt, Hände; ders., Pontius Pilatus; Jaroš, Sachen; Herzer, Pontius Pilatus; Märtin, Pontius Pilatus; vgl. auch Brown, Death I 693–705; Schürer, History I 383–387. 129  Brown, Death I 696. Während Eusebius und Orosios von einem verzweifelten Pilatus wissen wollen, der durch Suizid umgekommen ist – ein für Feinde des Gottesvolks passendes Schicksal (siehe Judas: Mt  27,3–10; vgl. Apg  1,18) –, wird in anderen Quellen „der von der Unschuld Jesu überzeugte Pilatus […] zunächst heimlicher, dann offener Christ und schließlich Märtyrer“ ­( Demandt, Pontius Pilatus 93); vgl. ebd. 94–109: „Pilatus-Legenden“; ders., 213–230; Herzer, Pontius Pilatus 218–238. 130  Verglichen mit dem Wenigen, was von seinen vier Amtsvorgängern, Coponius (6–9  n.Chr.), Marcus Ambibulus (9–12  n.Chr.), Annius Rufus (12–15  n.Chr.) und Valerius Gratus (15–26  n.Chr.) (Jos, Bell  2,117; Ant  18,31–34.177), bekannt ist. 131 Jos, Ant   18,89. Diese von der Forschung mehrheitlich akzeptierte Angabe des Josephus 127 

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darunter immerhin das Verfahren gegen Jesus, mit dem er Weltgeschichte schrieb. Münzen, die er in seiner Amtszeit prägen ließ, stellen die älteste Quelle zu seiner Amtsführung dar. Wie seine Vorgänger im Amt gab auch Pilatus in Fortsetzung der Hasmonäerprägungen Bronzemünzen für den örtlichen Kleinhandel aus, auf der Vorderseite mit den Namen des Kaisers Tiberius bzw. seiner Mutter Livia Drusilla und auf der Rückseite mit bildlichen Darstellungen: eine erste Serie zeigt gebundene Getreideähren, eine zweite einen lituus, den Krummstab römischer Priester (ursprünglich Amtsinsignie der römischen Könige) und eine dritte einen simpulum, Schöpfkelle für den Opferdienst132 . Weil die Münzen seiner Vorgänger eher neutrale Abbildungen wie Kränze, Blätter oder Trauben bieten, wurden die Münzen des Pilatus als gezielter Affront gegen jüdisches Empfinden gedeutet133. Aber es sind „Medien der politischen Propaganda, […] zugleich Ausdruck der politischen Loyalität dessen, der sie prägen lässt“134. Alexander Demandt meint: „Ein psychologischer Religionskrieg mit Symbolen lag den Römern fern“135.

Philo, der älteste Zeuge, bietet nur eine Episode zu Pilatus (LegGai.  299–305), Josephus im Bellum deren zwei (Bell  2,169–177), in seinen späteren Antiquitates vier: die beiden aus dem Bellum schon bekannten in neuer Version, zusätzlich die Hinrichtung Jesu durch Pilatus (Testimonium Flavianum) und eine Episode, die mit der Absetzung des Präfekten von seinem Amt zusammenhängt (Ant  18,55–65.85–89). Weil Josephus die Episoden in beiden Geschichtswerken zusammenhängend und in chronologischer Abfolge zu bieten scheint, empfiehlt es sich, ihm zu folgen. Mit seiner ersten Episode (Nr.  1) könnte die des Philo (Nr.  4) identisch sein. Die Episode, die Lukas überliefert (Nr.  5), ist dem Präfekten nicht zweifelsfrei zuzuordnen. Ohne die beiden zuletzt genannten bleiben von den sechs aufgeführten Episoden nur drei sichere übrig, dazu die mutmaßliche Urfassung des sog. Testimonium Flavianum. (1) Die erste Episode, die Josephus berichtet (Bell  2,169–174 par. Ant  18,55–59), ereignete sich der älteren Darstellung des Bellum zufolge, „als Pilatus von Tiberius nach Judäa gesandt worden war“ (169)136 , was ihrer Bedeutung als Loyalitätsbekunwird allerdings u. a. wegen ihr entgegenstehender chronologischer Einordnung von Ereignissen nach Amtseinsetzung des Pilatus (Ant  18,35) nach vorne hin korrigiert: 19  n.Chr.; vgl. bei Herzer, Pontius Pilatus 57–61, der dies für „durchaus wahrscheinlich“ hält. – Zur langen Amtszeit des Pilatus Eck, Leitung 332: „in der Regierungszeit des Tiberius“ war „das System [regelmäßiger Auswechslung der Statthalter nach nur wenigen Jahren] noch wenig entwickelt“. 132  Stauffer, Münzprägung 495–514; Meshorer, Coinage 180 (Abbildungen: Plate 31 f.); vgl. auch Jaroš, Sachen 68–71. – Für größere Geschäfte benutzte man römische Denare mit dem Bild des Kaisers: Lk 20,24. 133  Theißen/Merz, Jesus 399: „als einziger der Präfekten bzw. Prokuratoren“ wählte er ­Symbole, „die jüdisches religiöses Empfinden verletzen konnte“; ebd. Anm.  11: „Alle erhaltenen Münzentypen des Pilatus enthalten somit ein heidnisches Symbol“. 134  Herzer, Pontius Pilatus 33; ebd. 34: Der lituus fungierte „wahrscheinlich primär als Zeichen der Herrschaft des Tiberius, die damit vom Münzpräger Pilatus anerkannt und propagiert wird“, der simpulum als Zeichen der Kaiserverehrung, wobei fraglich ist, ob „bereits jene Ausprägung des vergöttlichenden Kaiserkultes“ impliziert war. 135  Demandt, Pontius Pilatus 40. 136  Unbestimmt bleibt die spätere Darstellung in Ant  18,55: „als der jüdische Landpfleger Pilatus sein Heer aus Cäsarea nach Jerusalem in die Winterquartiere geführt hatte […]“.

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dung für den Kaiser in Judäa nach Amtsantritt entspricht137: Pilatus lässt sog. „Feldzeichen“ (σημαῖαι), Standarten mit Medaillon, in der Regel einem Kaiserbildnis138 , von seinen Soldaten nach Jerusalem bringen. Nach beiden Fassungen ließ er die „Feldzeichen“ des Nachts nach Jerusalem bringen, Bell 2,169 zufolge „verhüllt (κεκαλυμμένας)“, was Ant  18,55 f. übergeht. Dafür heißt es dort: Er habe mit der Aktion „auf eine Außerkraftsetzung der jüdischen Gesetze spekuliert (ἐπὶ καταλύσει τῶν νομίμων τῶν Ἰουδαϊκῶν ἐφρόνησε)“, die Juden also vorsätzlich provozieren wollen. Seine Amtsvorgänger hätten „die Feldzeichen […] stets ohne dergleichen Verzierungen beim Einzug in die Stadt vorantragen lassen“ im Wissen darum, dass „unser Gesetz alle Bilder verbietet“(Ex  20,4; Dtn  4,14–24; 5,8)139. Im Unterschied zum Bellum stellt Josephus den Statthalter hier als „bewussten Judenfeind“ dar140 . Der Aufruhr, den er in der Jerusalemer Bevölkerung, nach Bell  2,170 auch im Umland, auslöste, führte zum anhaltenden Protest zahlreicher Juden vor der Statthalter-Residenz in Cäsarea. Pilatus sah sich den Widerstand einige Tage an, bis er die Protestierenden im Hippodrom von Soldaten umstellen und mit „blanken Waffen“ bedrohen ließ141. Als diese ihre Wehrlosigkeit demonstrierten – sie entblößten ihren Nacken und riefen, sie wollten sich lieber enthaupten lassen als ihren Gesetzen untreu werden –, lenkte der Statthalter ein und befahl, die Feldzeichen seien sofort nach Cäsarea zurückzubringen142 .

Um eine vorsätzliche Provokation der Juden durch Pilatus143 muss es sich nach der älteren Version der Episode im Bellum nicht gehandelt haben. Pilatus wusste zwar, wie prekär die Aktion war, sonst hätte er die Feldzeichen nicht des Nachts und verhüllt nach Jerusalem bringen lassen. Aber nicht deren öffentliche Aufstellung144 als solche, sondern die an den Standarten angebrachten Kaiserbilder (es gab auch „Feldzeichen“ nur mit dekorativen Symbolen, ohne Bilder) mussten Widerstand auslösen (Bell  2,170). Pilatus verstand seine Aktion im Kontext seiner Amtseinset137  Festus, einer seiner Amtsnachfolger, zog nach seiner Ankunft in der Provinz „von Cäsarea nach Jerusalem hinauf“, um dort bei einem Empfang der Jerusalemer Elite persönlich die Präsenz Roms zu dokumentieren: Apg  25,1 f. 138  Bell  2 ,169: „Bilder (εἰκόνας) des Kaisers, die Feldzeichen genannt werden“; Ant  18,55: „Büsten des Kaisers, die sich an den Feldzeichen befanden“. Die Träger der Kaiserbilder hießen imaginiferi. Abbildungen z. B. bei Herzer, Pontius Pilatus 105. 139 Wenn Ant   18,56 zufolge Pilatus „der erste“ Statthalter war, der „verzierte Feldzeichen“ nach Jerusalem brachte, könnte es sein, dass seine Amtsvorgänger die Sitte der imaginiferi gar nicht kannten. Wann sie in der frühen Kaiserzeit eingeführt wurde, ist unbekannt: Le Bohec, Imaginiferi 948. 140  Krieger, Pontius Pilatus 71: „Pilatus’ Angriff auf die Torah wird betont, damit die Gesetzestreue der Juden umso deutlicher hervortritt“. 141  Demandt, Pontius Pilatus 53: „Derartige Einschüchterungsversuche mit der blanken Waffe gehörten zur römischen Taktik und sollten Blutvergießen vermeiden. Vespasian und Titus praktizierten dies mehrfach im Jüdischen Krieg“; ders., Hände 86 f. 142  Michel/Bauernfeind, Josephus I 441 Anm.  99: „Wahrscheinlich bezieht sich auf die hier erwähnte Zurücknahme der Feldzeichen die Notiz der Fastenrolle: ‚Am 3. Kislew wurden die Bilder aus dem Tempelvorhof entfernt‘ (Meg. Taanit 9). Der dritte Kislew liegt Ende November“. Doch erst Eusebius nennt in seiner Version der Geschichte den Tempel (siehe bei Nr.  4). 143  Schäfer, Geschichte 123; Bond, Pontius Pilate 77. 144  Wo in der Stadt, ist unbekannt, vgl. Bell  2 ,170: „Die in die Nähe der Zeichen kamen, wurden durch den Anblick zutiefst bestürzt; waren sie doch überzeugt, ihre Gesetze würden mit Füßen getreten, denn diese verbieten es, dass in der Stadt ein Bildnis aufgestellt wird“.

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zung als Loyalitätsbekundung für den Kaiser. Fraglich ist, „[o]b ihm tatsächlich bewusst war, dass dies aufgrund jüdischer Gesetze ein Problem darstellen könnte“. Er sammelt „erste Erfahrungen mit den Einheimischen […], die ihm entweder zumindest ansatzweise Respekt abnötigen oder ihn verunsichern, wie er sich dem­ gegenüber verhalten solle. Jedenfalls stellt Josephus ihn als einen Präfekten dar, der seine Position durchaus behaupten kann, aber nicht in jedem Fall bis zum Äußersten geht und letztlich deeskalierende Vernunft walten lässt“145. (2) Der zweite Vorfall, von dem Josephus in Bell  2,175–177 und Ant  18,60–62 jeweils anschließend erzählt, betrifft die Infrastruktur Jerusalems und damit die Interessen der jüdischen Verwaltung: Aus Mitteln des Tempelschatzes lässt Pilatus eine Wasserleitung nach Jerusalem bauen146 und löst damit massive Proteste der Jerusalemer Bevölkerung aus, die im Vergleich zum Vorfall in Cäsarea vielen zum tödlichen Verhängnis wurden. Wieder differieren die Darstellungen: Dem Bellum zufolge ist „die Menge“ (τὸ πλῆθος) über den Griff in die Tempelkasse „sehr erbost“147. Als Pilatus nach Jerusalem kommt, drängt sie „sich schreiend und schimpfend um seinen Richterstuhl“. Pilatus ahnt das voraus und schleust heimlich Soldaten in die Menge mit dem Befehl, „keinen Gebrauch vom Schwert zu machen, die Schreier aber mit Knüppeln zu bearbeiten“ (176). Als sie auf sein Zeichen von der „Tribüne“ (βῆμα) aus eingreifen, lösen sie eine Panik aus, in deren Verlauf „viele auf der Flucht von den eigenen Landsleuten niedergetreten wurden und umkamen“ (177). Josephus zeichnet den Vorfall als genaues Gegenstück zu dem von Cäsarea, womit er zeigt, „wie die Juden sich in einem Konflikt mit der Kolonialmacht verhalten können und sollen bzw. in der Vergangenheit immer hätten verhalten sollen: Indem die Juden bereit sind, für die Torah notfalls zu sterben, können sie die Vertreter Roms beeindrucken und für ihr Anliegen gewinnen. Greifen sie jedoch zu ungezügeltem Protest und Drohgebärden, lösen sie Reaktionen aus, mit denen sie letztlich nur ihren Glaubensbrüdern schaden“148 .

145  Herzer, Pontius Pilatus 108 f. Was für eine jüdische Gruppe in Cäsarea protestierte, sagt Josephus nicht. „Es muss sich um gesetztestreue Juden handeln, deren Verhalten geradezu an makkabäische Widerstandstraditionen erinnert, wenn sie lieber den Tod in Kauf nehmen als die Gesetze zu missachten“ (ebd. 104 f.). 146  Bell  2 ,175: 400 Stadien (= 76,8  k m) lang, Ant  18,60: 200 Stadien (= 38,4  k m) lang, was gleichfalls zu hoch gegriffen scheint: Michel/Bauernfeind, Josephus I 441 Anm.  101. Möglicherweise hat Pilatus eine Leitung erneuern lassen, die Wasser von den Teichen Salomons südwestlich von Bethlehem heranführte (vgl. auch Arist 89–91); zur Wasserversorgung Jerusalems vgl. Dalman, Jerusalem 266–285, zur Leitung des Pilatus: 277–281. Jaroš, Sachen 66, meint, allerdings ohne Grundlage im Text, Pilatus habe „das Wasser zur Versorgung seiner eigenen Badeanlagen in seiner Jerusalemer Residenz benötigt“; diese lokalisiert er mit anderen im östlichen jüdischen Viertel („Herodianisches Quartier“), in unmittelbarer Nähe der zum Tempel führenden Wasserleitung. 147 Bell   2,175 zufolge hat er für den Zweck den Tempelschatz „aufgebraucht (τὸν ἱεροὸν θησαυρόν … ἐξαναλίσκων)“, Ant  18,60 spricht unbestimmt von Tempelgeldern, die er benutzte. 148  Krieger, Pontius Pilatus 69; im Unterschied zur ersten Episode sei nicht gesagt, „welche und ob überhaupt eine Gesetzesvorschrift von Pilatus verletzt wurde. Das Stichwort νόμος und seine Äquivalente fehlen“. Die Juden sind in 2,175–177 „eher negativ gezeichnet“ (68). Der Eklat ist Vorbote späterer Gewaltausbrüche. – Die Cäsarea-Episode charakterisiere „die erste Phase der Vorkriegszeit“ – wie später Bell  2,184–203, wo gleichfalls „friedlicher Protest gegen einen Übergriff auf die jüdische Religion, Caligulas versuchte Entweihung des Tempels, zum Erfolg“ führt, diesmal mit Hilfe eines römischen Beamten (ebd. 69).

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Im Unterschied dazu rücken die Antiquitates die Protestierenden in ein besseres Licht, die Brutalität der Soldaten149 und die Hinterlist des Pilatus dagegen in ein schlechteres. Der Griff in den Tempelschatz erscheint „als weiteres Beispiel einer κατάλυσις τῶν νομίμων τῶν Ἰουδαίων“, eines Angriffs auf das jüdische Gesetz150 . Die Juden und ihre Einsatzbereitschaft lobt Josephus.

Ein Sakrileg war die Verwendung von Geld aus der Tempelkasse durch Pilatus nicht. Der Bau oder die Erneuerung einer nach Jerusalem führenden Wasserleitung gehörte zu den zivilisatorischen Aufgaben des Präfekten151. Eine funktionierende Wasserversorgung der Stadt und seines Tempels lag im Interesse aller. Wasser wurde in großen Mengen für die kultische Reinigung der vielen Menschen benötigt, die an den Pilgerfesten nach Jerusalem kamen, wie für die Durchführung des Opferkults. Pilatus wird die Maßnahme mit Kajaphas abgesprochen haben152 , zumal Überschüsse der Tempelkasse für die Bedürfnisse auch der Stadt verwendet werden konnten153. Welche Gruppe gegen die Maßnahme protestierte, sagt Josephus nicht154. Wahrscheinlich waren es radikale Fromme, die jegliche Zusammenarbeit mit Heiden verdammten. Pilatus konnte es sich offenkundig leisten, brutal gegen sie vorzugehen, um den Protest zu ersticken. Der Darstellung des Bellum zufolge wollte er Blutvergießen vermeiden. (3) Josephus beschließt seinen Pilatus-Zyklus in den Antiquitates mit einem Vorfall, der nach seiner Darstellung ursächlich für dessen Ablösung 36  n.Chr. gewesen sein soll (18,85–89). Diesmal geht es nicht um einen Konflikt mit Juden in Jerusalem, sondern mit den Samaritanern. Auslöser war der Auftritt eines messianischen Propheten, den Josephus als Scharlatan diffamiert: „Unterdessen hatten auch die Samaritaner sich empört, aufgereizt von einem Menschen, der sich aus Lügen nichts machte und dem zur Erlangung der Volksgunst jedes Mittel recht war. Er forderte das Volk auf, mit ihm den Berg Garizim zu besteigen, der bei den Samaritanern 149  Ant  18,62: „Diese fielen mit größerem Ungestüm, als Pilatus es angeordnet hatte (ἐπέταξεν), über die in Aufruhr Befindlichen und (die daran) nicht (Beteiligten) in gleicher Weise her“. 150  Krieger, Pontius Pilatus 71; Bond, Pontius Pilate 85, zu Ant   18,60 („Pilatus ließ eine ­Wasserleitung … unter Verwendung von Tempelgeldern bauen, ihnen aber [sc. der Bevölkerung] missfiel dieses das Wasser betreffende Vorgehen [οἱ δ’ οὐκ ἠγάπων τοῖς ἀμφὶ τὸ ὕδωρ δρωμένοις])“: „The ‚operations‘ here could refer either to Pilate’s use of the Temple money or to the actual construction of the aqueduct“; die erste Alternative liegt näher. 151  Demandt, Pontius Pilatus 57 f.: „Der Stolz jeder römerzeitlichen Stadt war ihre reichliche Wasserversorgung, Josephus lobt die Aquädukte, die Herodes für das Herodeion und für Laodicea Maritima bauen ließ“, Plinius sorgte sich, wie seinem Briefwechsel mit Trajan zu entnehmen ist, um den Bau und die Finanzierung einer Wasserleitung für Nicomedia in Bithynien; vgl. ­Demandt, Hände 90 f. 152  Jaroš, Pontius Pilatus 65–68; Demandt, Pontius Pilatus 58: „Einen gewaltsamen Zugriff [des Pilatus] hätte Josephus zweifellos vermerkt, während er das Einvernehmen des Statthalters mit den Hohen Priestern unterdrückt haben könnte, um diese zu schonen und den Römer allein zu belasten, dem er nicht gewogen war, oder weil er über die Rolle der Tempelpriester im unklaren blieb“. 153  Bond, Pontius Pilate 86, mit Verweis auf den Traktat Shekalim der Mischna: „Some explanation may be thrown on the proceedings by m. Shek 4.2 which allows the use of surplus money from the treasury to be used for ‚all the city’s needs‘. The dating of this ruling is uncertain but it is possible that it, or a similar earlier ruling, was in force in the first century“. 154 Im Bell sind es „viele“ bzw. eine „Menge“, in den Ant sind daraus „Tausende“ geworden.

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als heiliger Berg gilt, und versicherte, er werde dort die heiligen Gefäße vorzeigen, die von Moses dort vergraben worden seien“ (Ant  18,85).

Erhofften sich die Samaritaner vom Kommen des erwarteten Propheten „wie Mose“ (Dtn  18,15–22) die endzeitliche Befreiung, so meinten sie, dieser Mann, der ihnen zum Beweis seiner Sendung auf dem Garizim die heiligen Gefäße des Mose zeigen wollte, sei der Erwartete155. Sie sammeln sich im Dorf Tirathaba und folgen ihm in großen Scharen. Wenn sie Waffen für ihren Zug auf den heiligen Berg mitnehmen, wappnen sie sich wohl für den bevorstehenden messianischen Befreiungskampf (18,86). Doch es kommt nicht soweit. Pilatus wittert Aufruhr gegen Rom, schickt seine Reiterei, lässt ein Gemetzel veranstalten, die Menschen in die Flucht jagen und die Rädelsführer hinrichten (18,87)156 . „Der Rat (ἡ βουλή) der Samaritaner“ klagt beim syrischen Legaten Vitellius (18,88), der Pilatus nach Rom schickt, um sich vor dem Kaiser zu verantworten. Dieser ist noch unterwegs, als Tiberius auf Capri stirbt (18,89). Danach verliert sich die Spur des Präfekten im Dunkel der Geschichte. Wenn Vitellius „den mit ihm befreundeten Marcellus zur Verwaltung des Landpflegeramtes nach Judäa schickt“ (18,89)157, zeigt sich der wahre Grund für die Ablösung des Pilatus: Nicht sein konsequentes Durchgreifen gegen mögliche Aufrührer, das dem Kaiser schwerlich missfallen hätte, brachte den Präfekten zu Fall, vielmehr wurde er „Opfer politischer Intrigen“158 . Vitellius nutzte die ihm gebotene günstige Gelegenheit und ersetzte Pilatus „durch einen seiner Vertrauten“159. (4) Eine weitere mit Pilatus verbundene Episode ist aus der Legatio ad Gaium des Philo von Alexandria bekannt, einer „politischen Streitschrift“160 , die wohl bald nach Amtsantritt von Kaiser Claudius 41  n.Chr. entstand. Sie behandelt die judenfeindliche Politik des gerade ermordeten Kaisers Caligula (37–41  n.Chr.) und deren Auswirkungen insbesondere auf die Juden Alexandrias, wo sich die schon länger schwelende antijüdische Stimmung hellenistischer Kreise mit Duldung des Präfekten Aulus Avilius Flaccus 38  n.Chr. in einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung entlud. Zu den (erfolglosen) Bemühungen, beim Kaiser die Rechte der Juden einzuklagen, die in der von Philo geleiteten „Gesandtschaft“ nach Rom (39/40  n.Chr.) gipfeln, gehört auch das von ihm in seine Schrift aufgenommene Bittgesuch des 155 

Riedo-Emmenberger, Provokateure 272 (mit alternativen Deutungsmodellen). Demandt, Pontius Pilatus 63: „Ob der ‚falsche Prophet‘ selbst darunter war, wird nicht berichtet. Wenn er entkam, könnte er identisch sein mit Dositheos Samaritanus, der um 40  n.Chr. als neuer Moses aufgetreten ist und viel Anhang unter den Samaritanern fand“; Kajaphas dürfte mit dem harten Vorgehen des Pilatus gegen die Samaritaner wieder einmal mit Pilatus einig gewesen sein; vgl. ebd. 64; zum Vorfall auch ders., Hände 194 f. 157  Ant   18,237 zufolge hat Caligula Marullus in das Amt gebracht; deshalb zählt Schäfer, Geschichte 122, Marcellus als 6. Statthalter (36–37  n.Chr.) und Marullus (37–41  n.Chr.) als 7., merkt aber an, dass beide in der Forschung auch miteinander identifiziert werden (z. B. von Jaroš, Sachen 123). 158  Herzer, Pontius Pilatus 85. 159  Krieger, Pontius Pilatus 82; es wird kein Zufall sein, dass kurz darauf auch Kajaphas gehen musste (siehe unten). 160  Herzer, Pontius Pilatus 97; zu den Einleitungsfragen der LegGai.: Schürer, History III/2 859–864; außerdem Smallwood, Legatio. 156 

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gerade in Rom weilenden Herodes Agrippa  I., den Kaiser von seinem Vorsatz abzubringen, im Jerusalemer Tempel eine Kaiserstatue aufzustellen (LegGai 276–329). Herodes erinnert den Kaiser in dem rhetorisch glanzvollen Schreiben an die judenfreundliche Einstellung seiner Vorgänger, besonders des Tiberius, die er mit einem Vorfall aus der Amtszeit des Pontius Pilatus belegt (299–305). Er benutzt Pilatus als dunkle Folie, um die „Großmut“ des Tiberius (299) umso heller hervortreten zu lassen161. Diese Pragmatik wie die Stilisierung des Briefes insgesamt, die auf Philo zurückgehen dürfte162 , sind zu berücksichtigen, wenn es um den Vorgang selbst geht. Denn nach Abzug der Wertungen und Dramatisierungen entpuppt er sich als völlig unspektakulär: Zu Ehren des Kaisers ließ er im „Herodespalast (βασιλεία)“ Jerusalems vergoldete Schilde (clipei) anbringen, die „keine figürliche Darstellung oder sonst etwas Verbotenes“ trugen, wie der Briefschreiber ausdrücklich sagt, sondern „nur eine kurze Inschrift, die zweierlei nannte: den Namen des Weihenden und, wem sie geweiht waren“ (299). Beispiele von erhaltenen clipei zeigen, wie die Inschrift gelautet haben könnte163: TIBERIO CAESARI (DIVI AUGUSTI FILIO) PONTIUS PILATUS Andernorts im Text erwähnt Philo „Schilde und goldene Kränze, Steintafeln und Inschriften“, die zu Ehren des Kaisers an den beim Pogrom 38  n.Chr. zerstörten Synagogen Ale­ xandrias angebracht waren (133), was nur möglich war, weil die Juden an ihnen keinen Anstoß genommen hatten. Deshalb kann auch bei der Aktion des Pilatus von einer Provokation der Juden nicht die Rede sein, zumal er die Schilde, wie der Briefschreiber mitteilt, in seinem Jerusalemer Amtssitz, nicht im Tempelbezirk hat anbringen lassen164. Trotzdem protestiert die Menge und schickt eine offizielle Delegation zu Pilatus, die ihn ersucht, die Schilde zu entfernen. Pilatus lehnt ab, die Delegierten wenden sich brieflich an den Kaiser, der „unverzüglich und ohne bis zum nächsten Tag zu warten“ den Abtransport der Schilde nach Cäsarea befiehlt (300–305).

Der Autor des Schreibens nutzt den Vorfall geschickt, um seinem Anliegen, Caligula seine verwerfliche Politik gegenüber der heiligen Stadt auszureden, rhetorischen Nachdruck zu verleihen: Wenn Tiberius schon damals, als es nur um „Schilde“ ging, „auf denen kein lebendes Wesen dargestellt war“, derart in Zorn über ­Pilatus geriet, dass er „Drohungen“ gegen ihn aussprach, um wieviel mehr wäre es „jetzt“ angebracht, da eine „Riesenstatue“ nicht am Sitz der Prokuratoren, sondern „im Innersten des Tempels, im Allerheiligsten selbst“ aufgestellt werden soll, davon 161 

Brown, Death I 697. Nicht nur die Stilisierung des Bittgesuchs, auch dieses selbst könnte Fiktion sein. Josephus weiß nichts von ihm, nur von einer mündlichen Intervention des Herodes Agrippa (Ant  18,289– 301). – Zur Rolle der Herodianer in diesem Fall vgl. Wilker, Rom 93–101. 163  Demandt, Pontius Pilatus 51 f. Sollten die Schilde die vollere Namensform (in Klammern) enthalten haben, könnte vielleicht „die Nennung ‚Sohn des vergöttlichten Augustus‘ Anstoß“ erregt haben. „Warum aber verschweigt uns dies Philo, wenn dies so war?“ (52). Berühmtes Beispiel eines goldenen clipeus ist das Rundschild, das der Senat 27  v.Chr. Augustus in der Curia Julia weihte, vom dem eine Ausfertigung in Marmor im Archäologischen Museum von Arles zu sehen ist. 164  So Eus, DemEv  8 ,122, in seiner Wiedergabe des Vorfalls. 162 

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sofort abzulassen!165 Um den gerechten Zorn des Tiberius über Pilatus zu motivieren, unterstellt er diesem niedrige Motive (299: er habe die Schilde nur deswegen aufgestellt, „um die Volksmenge zu kränken“) und bescheinigt ihm einen schlechten Charakter: Das Bittgesuch der Delegierten habe er nur deswegen abgelehnt, weil „er von Natur aus unbeugsam, eigenwillig und unnachgiebig“ sei. Den Empfang der Delegierten hat Philo zu einer eindrücklichen Audienz-Szene gestaltet, in der diese die Gelegenheit erhalten, den Kaiser als Anwalt des Respekts vor den jüdischen Traditionen in den höchsten Tönen zu preisen. Als sie erwägen, sich direkt an ihn zu wenden, gerät Pilatus in Verlegenheit166: Sie könnten ihm in Rom „seine Bestechlichkeit, seine Gewalttätigkeiten, seine Räubereien, Misshandlungen, Beleidigungen, fortgesetzten Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren (τοὺς ἀκρίτους καὶ ἐπαλλήλους φόνους) sowie seine unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit“ vorhalten (302)167. Doch er bleibt verstockt („er wollte seinen Untertanen nichts zu Gefallen tun“ [303]168) und lehnt das Gesuch ab. Historisch glaubwürdig ist die Darstellung des Philo nicht. Vorfall und Wertung klaffen auseinander. Das Verhalten des Pilatus wird ausschließlich moralisch beurteilt, dabei hätte die sofortige Zurücknahme der Maßnahme dem Präfekten als Missachtung seiner Loyalität dem Kaiser gegenüber ausgelegt werden können. Die Reaktion des Tiberius erscheint völlig überzogen. Möglicherweise hatte Philo von dem Vorfall durch Hörensagen Kenntnis erhalten. Er benutzt die Episode, um die Judenfreundlichkeit des Tiberius gehörig in Szene zu setzen. Wie Eusebius169, so identifiziert auch heute ein Teil der Forschung den Vorfall mit der von Josephus überlieferten „Feldzeichen“-Episode (oben Nr.  1)170 , wofür beachtliche Argumente sprechen: (a) Die „Feldzeichen“-Episode, die sich nicht zufällig zu Beginn der Amtszeit des Pilatus ereignete, sollte seine Loyalität mit dem obersten Dienstherrn demonstrieren. An ihr konnten die Juden ersehen, wer im Land dessen Autorität verkörpert. Die von Philo berichtete Episode, die er der Amtszeit des Pilatus nicht zuordnet171, wird demselben Zweck gedient 165  LegGai  306, freilich, ohne dass Philo diese „conclusio a minore ad maius“ (Krieger, Pontius Pilatus 76) direkt in eine Aufforderung an Caligula einmünden lässt; dafür schließt er geschickt eine Schilderung der hohen Bedeutung des Allerheiligsten für die Juden an und erinnert an Caligulas Ahnen, die er sich zum Vorbild nehmen kann, ohne auch dies direkt zu sagen, um erst am Ende diese alle „als Kaiser zu Dir als Kaiser, als Augustus zu Dir als Augustus, als Großväter und Vorfahren zu Dir als Nachkommen […] fast sprechen zu hören meint: Reiße nicht Traditionen nieder, die nach unserem Willen bis zum heutigen Tage geachtet werden …“ (322). 166  Joh  19,12 benutzt das gleiche, für einen Untergebenen typische Verhaltensmuster. 167  Krieger, Pontius Pilatus 75 f.: Lasterkatalog, „eine ganze Litanei von Vergehen“. 168  303: … μήτε βουλόμενός τι τῶν πρὸς ἡδονὴν τοῖς ὑπηκόοις ἐργάσασθαι. Das genaue Gegenteil sagt Mk  15,15: „Pilatus aber wollte der Menge Genüge tun“. 169  Eus, DemEv  8 ,122 f.: Zuerst gibt er den Vorfall unter Berufung auf Josephus wieder, um dann hinzuzufügen: „Dasselbe (αὐτὰ δὴ ταῦτα) bezeugt zugleich (συμμαρτυρεῖ) auch Philo, wenn er davon spricht, dass Pilatus die königlichen Feldzeichen des Nachts im Heiligtum habe aufrichten lassen“ (123). 170 Außer Demandt, Hände 87–89, siehe die bei Herzer, Pontius Pilatus 118 Anm.  171 genannten Autoren. 171  Die in LegGai. 302 von Pilatus geäußerte Sorge, die Gesandten könnten gegen ihn beim Kaiser auch über „den Rest seiner Amtsführung (τῆς ἄλλης … ἐπιτροπῆς)“ Klage erheben, was auf

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haben. Vorstellbar ist sie am ehesten zu einem Zeitpunkt, da der Präfekt seine Jerusalemer Residenz zum ersten Mal aufsuchte172 . (b) Die beiden Aktionen sind nicht nur gleichartig, sie verlaufen auch ähnlich: Der Präfekt lässt militärische Symbole der Kaiserverehrung nach Jerusalem bringen, auf jüdischen Protest hin aber wieder nach Caesarea zurückführen, „nachdem er sich beide Male zunächst geweigert hatte, weil er befürchtete, den Kaiser zu verletzen. Es ist nicht glaubhaft, dass ­Pilatus sich einer solchen Demütigung kurz hintereinander zweimal ausgesetzt hat“173. (c) Die gegen ihre Ineinssetzung angeführten Unterschiede174 verdanken sich dem jeweiligen Interesse der beiden Autoren: „Der Bericht Philos über die Entrüstung des Kaisers trägt den Stempel tendenziöser Rhetorik. Plausibler ist hier Josephus“, zumal viele die Ereignisse im Hippodrom von Cäsarea hätten bezeugen können175. Wenn Philo betont, die von Pilatus aufgestellten Schilde hätten keine „figürliche Darstellung“ gezeigt, verstärkt er damit sein Argument, dass Tiberius schon bei einem so geringfügigen Anlass eingeschritten wäre, was Caligula erst recht von seinem Vorhaben hätte abbringen müssen176 . Ein Aufstellen von Standarten mit anstößigen Medaillons – nicht von harmlosen Schilden – erklärt den Protest der Jerusalemer. Im Umgang mit jüdischen Befindlichkeiten war Pilatus anfangs noch unerfahren, so musste er Lehrgeld zahlen177. das Ende seiner Amtszeit hindeuten könnte, ist wegen der rhetorischen Ausgestaltung gerade dieser Szene nicht aussagekräftig. 172  Demandt, Pontius Pilatus 52; F.W. Kohnke in Cohn u. a., Philo VII 249 Anm.  3, verweist für seine Annahme, dass sich die Episode an einem Paschafest zutrug, auf die Anwesenheit der vier zur Delegation der Bittsteller gehörenden vier Herodes-Söhne in der Stadt (300; Josephus weiß von 10 Söhnen des Herodes: Bell  1,562 f.; Ant  17,19–22). Diese Nachricht, mit der der Briefschreiber, gleichfalls Herodes-Abkömmling, das Gewicht der Delegation betonen will, ist freilich Fiktion, wie die Aufstellung der Schilder im Herodespalast. 173  Demandt, Pontius Pilatus 54. 174  (1) Feldzeichen dort, Standarten bzw. Ehrenschilder hier; (2) dort protestierende Juden, hier eine Delegation in ihrem Auftrag; (3) dort Selbstregelung des Falles nach gewaltloser Demonstration der Juden, hier Regelung durch den Kaiser nach Intervention durch eine hochrangige Delegation; diese Unterschiede führen Herzer, Pontius Pilatus 123, zur Annahme von „zwei verschiedene(n) Episoden“ (so auch Jaroš, Sachen 58; Welker, Rom 102 f.), obwohl er selbst bemerkt: Philo habe „bei seiner Darstellung natürlich seine eigene und gescheiterte Delegation an den Kaiser Caligula im Blick“; die von Philo überlieferte Episode soll sich unmittelbar nach der Hinrichtung des Prätorianerpräfekts Seianus in Rom 31  n.Chr.als Loyalitätsgeste des Pilatus dem Kaiser gegenüber zugetragen haben: „Aufgrund seiner vormaligen engen Verbindung mit Seianus bestand für Pilatus durchaus die Gefahr, ebenfalls die Gunst des Kaisers und damit zumindest sein Amt zu verlieren“ (ebd. nach Bond, Pontius Pilate 45 f.). Für diese zeitliche Ansetzung bietet der Text allerdings keinerlei Hinweis. 175  Demandt, Pontius Pilatus 55, mit Hinweis darauf, dass Tiberius sich Ende 26 n.Chr. nach Capri in seine Villa Iovis zurückgezogen hatte, wo er schwer erreichbar war: Sein Antwortschreiben, wenn es dieses tatsächlich gegeben haben sollte, hätte Monate auf sich warten lassen, was im Widerspruch zur Darstellung des Philo steht; Krieger, Pontius Pilatus 76: die kaiserliche Intervention passt zu der in der „ganzen Schrift verfolgte(n) Absicht, Tiberius als Beschützer der Juden und ihrer religiösen Sitten und damit als Gegenbild zu Caligula zu zeichnen“. 176  Siehe oben! Anders, aber nicht überzeugend Demandt, Pontius Pilatus 55: „Motive für die Umformung der Schilde [Philo] in Feldzeichen sind benennbar: Die gemäß Philo religiöse Neutralität der Schilde widerspricht seiner Tendenz, Pilatus anzuschwärzen […]. Dass bei Josephus aus den Schilden Feldzeichen geworden sind, steigert die Blasphemie des verhassten Pilatus und macht dem Leser das Verhalten der Juden leichter verständlich“. 177  Ebd. 56: „Von den Juden zum Einlenken genötigt, erlitt Pilatus durch seinen Rückzieher einen Prestigeverlust, der sein späteres Verhalten erklärlicher macht. Durch die Verurteilung Jesu suchte und erhielt er dann den Beifall der führenden Juden“.

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(d) Josephus, der Philos Schrift kannte, ignoriert die dort berichtete Affäre mit den Schilden. „Warum verschweigt er sie? Hätte er bei der Geschichte der Feldzeichen nicht auch auf den zweiten ganz ähnlichen Fall hingewiesen, wenn es denn tatsächlich zwei Ereignisse dieser Art gab?“178

(5) Lukas bringt eine weitere Affäre mit Pilatus in Verbindung, wenn er in 13,1–3 einige Leute Jesus von Galiläern berichten lässt, „deren Blut (τὸ αἷμα) Pilatus mit ihren Opfern (μετὰ τῶν θυσιῶν) vermischt“ hätte179. Seit Judas Galilaios gelten besonders Galiläer zu Aufständen bereit. Was die Galiläer von Lk  13 in Jerusalem beabsichtigten, ist unbekannt. Es irritiert, dass der Vorfall frappierende Ähnlichkeit mit einem Blutbad aufweist, das Archelaos unmittelbar nach dem Tod des Herodes am Paschafest 4  v.  Chr. im Tempelbezirk hat anrichten lassen180: Nach Beendigung der offiziellen siebentägigen Klage um den König rotteten sich viele Menschen in Jerusalem vor dem Paschafest zusammen und trauerten um die Männer, die Herodes noch vor seinem Tod (Ende März/Anfang April 4  v.  Chr.) hatte hinrichten lassen, weil sie den goldenen Adler am Tor des Tempels heruntergeschlagen hatten. Archelaos, von Herodes testamentarisch zum Nachfolger bestimmt, in Rom als König aber noch nicht bestätigt, wurde bestürmt, den Tod der Ermordeten zu rächen und den letzten noch von Herodes eingesetzten Hohepriester zu entlassen. Als Archelaos des wachsenden Protests der Menschen, „die auf Umsturz sannen (νεωτερίζειν προῃρημένων)“ (Bell  2,5), nicht Herr werden konnte und feststellte, dass der Funke der Empörung auf die Masse der Pilger „vom Land“ (2,10) überzuspringen drohte, entschied er sich zum letzten Mittel: Nach einem ersten Gewaltausbruch „wandten sich“ die Menschen, „als sei nichts Schlimmes geschehen, dem Opfer zu (ἐτρέποντο πρὸς θυσίαν)“. Archelaos aber ließ „das ganze Heer“ ausrücken: Die Soldaten „fielen plötzlich über alle Opfernden (οἱ θύουσιν) her und töteten an die 3000; die Übrigen zerstreuten sie in das nahe Bergland“ (Bell  2,12 f.)181.

Schon Josef Klausner nahm an, Lukas sei einer Verwechslung des Archelaos mit Pilatus erlegen182 . Angesichts der zweifelhaften Überlieferung kann das Massaker Pilatus nicht angelastet werden183. (6) Im sog. Testimonium Flavianum (Ant  18,63–64), dessen Kern authentisch ist184, geht Josephus nur beiläufig auf Pilatus ein, als er davon spricht, dass Jesus 178  Ebd. 54; 55: Josephus hat nicht den Text Philos umgestaltet, sondern beide Autoren geben „unterschiedliche Traditionen desselben Vorfalles“ wieder, lassen dabei weg, „was ihrer Tendenz entgegensteht, und übertreiben, was ihr nützt“. 179  Die Wendung: „das Blut von jmdn. mit seinem Opfer mischen“ (vgl. auch Philo, SpecLeg  3,91), zeigt an, dass der Vorfall „innerhalb der Tempelanlage“ stattgefunden habe (Wolter, Lk 475). 180  Jos, Bell  2 ,10–13.30.89; Ant  17,230.237.240–242. 181  In der Verhandlung vor dem Kaisergericht in Rom soll Antipater, Gegner des Archelaos, „besonders viel Wesens aus dem im Tempel angerichteten Blutbad (gemacht haben): an einem hohen Festtage seien Fremde wie Einheimische gleich Schlachtopfern niedergehauen und der Tempel mit den Leichen der Erschlagenen angefüllt worden“ (Ant   17,237); Bell   2,30: „Zum Schwerpunkt des ganzen Redestreites machte er den Mord an so vielen Menschen im Tempel­ bezirk. Jene seien […] neben ihren Opfern (παρὰ δὲ ταῖς ἰδίαις θυσίαις) niedergehauen worden“. 182  Klausner, Jesus 204 Anm.  73.218 Anm.  106; dieser wie anderen Erklärungen (Fitzmyer, Lk 1006 f.; Eckey, Lk II 618) gegenüber skeptisch: Wolter, Lk 475. 183  Herzer, Pontius Pilatus 86: „eine derartige Exekution im Tempel von Jerusalem anzunehmen, ist nach allem, was sonst von Pilatus bekannt ist, sehr unwahrscheinlich“; anders Welker, Rom 106–108. 184  Siehe oben I.3.1.

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„auf Anzeige“ der jüdischen Oberen von Pilatus „mit dem Kreuz bestraft“ worden sei. Seine Tendenz, ihn als Judenfeind hinzustellen, kommt aufgrund der besonderen Umstände des Falles hier nicht zum Tragen. Das Urteil, Pilatus sei „für die speziellen jüdischen Belange“ in besonderem Maß unsensibel gewesen185, mag am Vorfall mit den Standarten Anhalt haben, bestätigt sich insgesamt aber nicht. Erst recht war er nicht der Judenhasser186 , den manche in ihm sehen wollen. Das Bild, das Philo und Josephus von ihm zeichnen, ist interesse­ geleitet. Beide benutzen ihn als dunkle Folie. Philo kontrastiert ihn mit dem angeblich judenfreundlichen Tiberius, um nach dem Tod des feindseligen Caligula in Rom für eine neue Politik den Juden gegenüber zu werben, Josephus misst ihn am syrischen Statthalter Vitellius (Ant  18,90–95.120–126). In den Antiquitates stellt Josephus überhaupt „alle Präfekten und Prokuratoren Judäas negativ“ dar, „um sie den Legaten in Syrien gegenüberzustellen“187. Alexander Demandt urteilt: „Der Ausbau des Hafens von Caesarea und die Anlage einer Wasserleitung für Jerusalempilger zeigen einen umsichtigen, pflichtbewussten Statthalter“188 . Auf den gewaltlosen Protest der Jerusalemer in Caesarea hin lenkt er ein, bei den Protesten gegen den Bau der Wasserleitung in Jerusalem bemüht er sich, Blutvergießen zu vermeiden. „Berücksichtigen wir die Gesamtsituation, fällt das Bild von der Amtsführung des Präfekten keineswegs aus dem Rahmen römischer Verwaltungspraxis“189. John P. Meier zufolge waren Pilatus (wie Kajaphas) „skillful masters of pragmatic politics, which at least minimized major disturbances and bloodshed. […] [T]he time of Jesus’ adulthood and ministry was the most stable (though not entirely peaceful) period in the 1st century A.D.“190 . 1.5 Der Tempelstaat – ein aristokratisch verfasstes Gemeinwesen Am Ende seiner kleinen Geschichte vom Hohepriestertum seit Aaron (Ant  20,224– 251) kommt Josephus auf die Regierungsform des Tempelstaats nach Umwandlung der Monarchie in eine römische Präfektur zu sprechen: „Nach deren Ableben (sc. des Herodes und des Archelaos) wurde der Staat in eine Aristokratie verwandelt (ἀριστοκρατία μὲν ἦν ἡ πολιτεία), mit der Aufsicht über das Volk wurden die Hohepriester betraut“ (Ant  20,251).

Josephus nennt hier kein Alleinstellungsmerkmal191, aber ein Spezifikum Judäas: Jerusalem besaß als Hort des Tempels eine starke und einflussreiche Priesterschaft, deren Hauptsorge dem Tempel galt, dem Herzstück jüdischer Identität. Die „hohen 185  Schäfer, Geschichte 123; „seit Pontius Pilatus“ seien „die Auswüchse der Prokuratorenherrschaft“ gegen die jüdische Bevölkerung immer „offenkundiger“ geworden. 186  Flusser, Tage 101, zufolge sei Pilatus „so abgrundtief schlecht“ gewesen, „dass es ihm Spaß machte, einen weiteren Juden hinrichten zu lassen“. 187  Krieger, Pontius Pilatus 72. 188  Demandt, Pontius Pilatus 64. 189  Ebd.; 65: „Umgerechnet auf die zehnjährige Amtszeit des Pilatus ergeben die zwei oder drei Konflikte mit den Juden doch wahrlich keine schwarze Liste!“ 190  Meier, Jew III 296. 191  Auch „[i]n Ciceros idealem römischen System [der Aristokratie] besitzen die Priester eine

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Priester“ (ἀρχιερεῖς) mit dem amtierenden „Hohepriester“ (ὁ ἀρχιερεύς) an der Spitze192 bildeten den Kern der „Aristokratie“, wie Josephus die judäische Verfassung mit Rücksicht auf seine römischen Adressaten nennt193. Zur Elite der Stadt, den „Ersten“ (οἱ πρῶτοι)194, gehörten noch andere Gruppen. 1.5.1 Die Eliten Jerusalems: Priester – „Vornehme“/„Älteste“ – Schriftgelehrte Drei Gruppen treten hervor: „die hohen Priester“ mit dem „Hohepriester“ an der Spitze, die „Vornehmen“ (Josephus) bzw. „die Ältesten“ sowie die „Schriftgelehrten“ (Neues Testament). Reichhaltiges Material bietet Josephus (1). Auf die teils von ihm abweichenden Angaben des Neuen Testaments ist eigens einzugehen (2). (1) (a) An der Spitze der Priesterschaft stand der Hohepriester. Zu Zeiten der Präfektur Judäa übte er eine Doppelrolle aus195: Einerseits war er, was er immer schon war: kultischer Repräsentant des Gemeinwesens vor Gott. Entsprechend seiner ihm von der Schrift zugewiesenen Rolle, der „entscheidende Vermittler zwischen Gott und Volk“196 zu sein, durfte nur er das Allerheiligste des Tempels betreten, einmal im Jahr am großen Versöhnungstag. Zum anderen hatte er politische Funktionen. Ernannt vom Statthalter197, wurde von ihm erwartet, dass er zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Interessen der Römer vermittelte. Was den einen als politische Klugheit im Interesse des Erhalts des status quo erschien (vgl. Joh  11,48), verdächtigten andere als Kollaboration mit den Besatzern. Diese Zwischenstellung belastete das Amt und spiegelte die prekäre Lage wieder, in der sich der Tempelstaat in den Jahrzehnten vor dem jüdischen Krieg befand. (b) Wer zum Kreis der hohen Priester gehörte, führt Josephus nicht aus198 , wahrscheinlich der ehemalige Inhaber des hohepriesterlichen Amtes bzw. prominente fundamentale Autorität. Cicero war, wie Josephus auch, ein Priester (De legibus 2,12,31)“ (­ Mason, Josephus 111). 192  Jos, Ap  2 ,185: „Welche Verfassung [184: πολίτευμα] ist schöner und gerechter als diejenige, die Gott zum Herrscher des Alls macht (θεὸν μὲν ἡγεμόνα τῶν ὅλων πεποιημένης) und den Priestern im Gemeinwesen die wichtigsten Angelegenheit zu verwalten erlaubt, dem Hohepriester aber [die Vollmacht über] alle anderen [Priester] anvertraut (τοῖς ἱερεῦσι δὲ κοινῇ μὲν τὰ μέγιστα διοικεῖν ἐπιτρεπούσης, τῷ δὲ πάντων ἀρχιερεῖ πάλιν αὖ πεπιστευκυίας)“. 193 Josephus orientiert sich in den Ant an der seit Aristoteles üblichen Typologie der Regierungsformen; die „Aristokratie“ zieht er als ideale Verfassung sowohl der „Monarchie“ (als einer Form der Versklavung des Volkes) als auch der „Demokratie“ (als Einfallstor für den Pöbel) vor. Zur Zeit des Autokraten Domitian, der die herkömmliche „Aristokratie“ unterhöhlte, konnte er damit bei seinem Lesepublikum mit Sympathie rechnen (ebd.  109–117). – Eine Volksversammlung wie in einer griechisch-hellenistischen Polis gab es in Jerusalem nicht: Tcherikover, Jerusalem 61–78. 194  Jos, Vit  28: τῶν Ἰεροσολυμιτῶν οἱ πρῶτοι; vgl. 9: „die hohen Priester und die Ersten der Stadt“ (οἱ πρῶτοι τῆς πόλεως), oder Ant  14,165. 195 Vgl. Horsley, High Priests 30 f.; auch McLaren, Power 24 f. 196  Mason, Josephus 190. 197  Jos, Ant   18,34 f. – Ab 41  n.Chr. lag die Oberaufsicht über den Tempel einschließlich des Rechts der Ernennung des Hohepriesters bei Herodes Agrippa I., dann Herodes von Chalkis, ab 48  n.Chr. bei Herodes Agrippa II. 198  Brown, Death I 349; zur Priesterschaft insgesamt J. Jeremias, Jerusalem II B 1–87 (auf der Basis von Arist  95 kommt er, ebd.  61 f., auf eine Gesamtzahl an Priestern und Leviten von 18000).

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Mitglieder der Familien, aus denen die amtierenden Hohepriester stammten, auch Inhaber von Tempel-Ämtern wie der „Oberst“199 und der „Schatzmeister des Tempels“200 . Die Namensliste Apg  4,5 f. mit Hannas und Kajaphas an der Spitze vermittelt einen Eindruck vom erlauchten Kreis. (c) Neben und an der Seite der hohen Priester agierten Josephus zufolge „Männer mit Einfluss und Macht (οἱ δυνατοί)“201, die er in stereotypen Wendungen auch die „Prominenten (γνώριμοι)“ nennt 202 . Es sind Menschen von Rang und Herkunft, reich und gebildet 203. Sie treten mit den hohen Priestern zusammen auf, wenn es um das Gemeinwesen und seine Repräsentation insgesamt geht 204. Sie beraten und entscheiden in öffentlichen Angelegenheiten mit 205 , wirken in Konflikten auf die Bevölkerung mäßigend ein 206 , vermitteln bei den Römern 207 bzw. der Statthalter be-

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Jos, Ant  20,131 u. ö.; Apg  4,1; 5,24.26. Jos, Ant  20,194. 201  Bell  2 ,316; 2,422: οἱ δυνατοὶ σὺν τοῖς ἀρχιερεῦσιν; 2,428: τῶν δυνατῶν καὶ τῶν ἀρχιερέων; vgl. auch Bell  2,333: οἱ τῶν Ἱεροσολύμων ἄρχοντες (die mit Autorität); Vit  194: πολλοὺς … τῶν ἀρχιερέων καὶ τοῦ πλήθους προεστῶτες (Vorsteher). Vgl. auch Bell  2,627; Jos, Vit  38,194, sowie den Brief von Kaiser Claudius an die Adresse der ἄρχοντες, der βουλή, des Volks von Jerusalem und der ganzen Nation Judäas (Ant  20,11). 202  Bell  2 ,318: τούς τε ἀρχιερεῖς σὺν τοῖς γνωρίμοις; 2,410: τῶν τε ἀρχιερέων καὶ τῶν γνωρίμων; 2,411: συνελθόντες γοῦν οἱ δυνατοὶ τοῖς ἀρχιερεῦσιν εἰς ταὐτὸ καὶ τοῖς τῶν Φαρισαίων γνωρίμοις; vgl. auch 2,301: οἵ τε ἀρχιερεῖς καὶ δυνατοὶ τό τε γνωριμώτατον τῆς πόλεως. 203  Nur selten nennt Josephus Namen, die zum Kreis τῶν δυνατῶν καὶ τῶν ἀρχιερέων gehören, etwa in Bell  2,428 f. (vgl. 418); der Hinweis auf „das Geschlecht“ in Ant  20,123 („die Ersten der Juden nach Ansehen und Geschlecht [οἱ δὲ πρῶτοι κατὰ τιμὴν καὶ γένος τῶν Ἱεροσολυμιτῶν]) bestätigt die Bedeutung des „Familienadels“ (J. Jeremias, Jerusalem II B 88: „Laienadel“). 204  Zur Geschichte des Beratungsgremiums (= Synedrion) siehe E. Lohse, Art. συνέδριον 858– 869; Schürer, History II 200–226; McLaren, Power; Brown, Death I 339–372; Kirner, Strafgewalt 162–170. – Auch für die Judenschaft Cäsareas sind „Vornehme“ bezeugt, die als eigenständiges synagogales Leitungsgremium (bestehend aus 12 Männern) fungierten: οἱ δυνατοὶ τῶν Ἰουδαίων (Bell  2,287; vgl. 292). 205  Bell  2 ,411: „Nun traten die einflussreichsten Bürger mit den hohen Priestern und den bedeutendsten Pharisäern zusammen (συνελθόντες γοῦν οἱ δυνατοὶ τοῖς ἀρχιερεῦσιν εἰς ταὐτὸ καὶ τοῖς τῶν Φαρισαίων γνωρίμοις), um […] über die Lage des Staatswesens zu beraten (ἐβουλεύοντο περὶ ὅλων); sie beschossen, einen letzten Versuch mit einer Ansprache an die Aufständischen zu machen und versammelten darum das Volk vor der ehernen Pforte …“. Dass Josephus ausnahmsweise die Pharisäer nennt, könnte mit der kritischen Situation kurz vor Ausbruch des Krieges zusammenhängen, da es galt, alle Kräfte gegen die Kriegstreiber zu bündeln. 206  Bell   2,316 zufolge zerreißen „die Vornehmen mit den hohen Priestern (οἱ δυνατοὶ σὺν τοῖς ἀρχιερεῦσιν)“ in aller Öffentlichkeit ihre Gewänder und bitten das Volk, das auf dem „oberen Markt“ Jerusalems zusammengeströmt ist, inständig, Ruhe zu bewahren; dieses entspricht dem „aus Ehrfurcht vor den Bittenden“ (317). Vgl. auch Bell  2,410: „die hohen Priester und angesehenen Bürger“ bitten die rebellischen Priester eindringlich darum (πολλὰ τῶν τε ἀρχιερέων καὶ τῶν γνωρίμων παρακαλούντων), „das gewohnte Opfer für die Herrscher nicht fallenzulassen“; vgl. auch 2,422 (οἱ δυνατοὶ σὺν τοῖς ἀρχιερεῦσιν καὶ πᾶν ὅσον τοῦ πλῆθος εἰρήναν ἀγάπα …). 207 Bell   2,301: Als Florus vor dem Königspalast in Jerusalem auf dem „Richtstuhl“ Platz nimmt, erscheinen vor ihm „die hohen Priester, die Vornehmen und überhaupt die Angesehensten der Stadt (οἵ τε ἀρχιερεῖς καὶ δυνατοὶ τό τε γνωριμώτατον τῆς πόλεως)“, um dem schwelenden Aufstand in Jerusalem entgegenzuwirken und den Statthalter zur Mäßigung zu bringen. 200 

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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stellt sie bei sich ein 208 . Vor Ausbruch des Krieges konnte es zwischen den hohen Priestern und den Vornehmen zu Spannungen kommen 209. (2) Das Neue Testament, das wie Josephus den ἀρχιερεῖς die führende Rolle zuweist, spricht im Unterschied zu ihm und zur talmudischen Literatur210 nicht von „Vornehmen“ oder „Angesehenen“211, sondern von „Ältesten“ (πρεσβύτεροι)212 , bezeichnet damit aber denselben Kreis213. Die terminologische Abweichung bleibt rätselhaft. Vielleicht spiegelt πρεσβύτεροι = ‫ זקנם‬einen Jerusalemer Sprachgebrauch der Jahrzehnte vor 70  n.Chr. wider214. „Die Schriftgelehrten“, in den ntl. Passionserzählungen eine eigene Gruppe, sind zu den „Vornehmen“ und „Angesehenen“ zu rechnen. Im Nachwort zu seinen Antiquitates erwähnt Josephus das hohe An­sehen, das „die Weisen“ im Volk genießen: „Nur denen erkennt sie (sc. die Menge) Weisheit zu, die ein klares Wissen von den Satzungen besitzen und die volle Kraft der heiligen Schriften zu erschließen vermögen“ (Ant   22,264). Er erwähnt ἱερογραμματεῖς (Bell  6,291) und weiß von einem „Schriftgelehrten“ bzw. Juristen mit Namen Aristeus aus Emmaus, der zum „Rat“ Jerusalems gehört (ὁ γραμματεὺς τῆς βουλῆς) (Bell  5,532). 1.5.2 Gerousia – Synedrion – Boulē. Der terminologische Befund Um die Versammlung der Repräsentanten des Tempelstaates zu bezeichnen, stehen Josephus drei Termini zur Verfügung: Gerousia (γερουσία) – Synedrion (συνέδριον)  – Boulē (βουλή). Für die vor-römische Zeit Palästinas benutzt er γερουσία = Ältestenrat 215 , für die römische συνέδριον und βουλή216 . 208  Bell  2 ,318: Florus zitiert die Repräsentanten des Gemeinwesens (τούς τε ἀρχιερεῖς σὺν τοῖς γνωρίμοις) zu sich; kurz danach lässt er „die hohen Priester und den Rat (τούς δε ἀρχιερεῖς καὶ τὴν βουλήν)“ (2,331) zu sich kommen, bespricht sich und trifft eine Übereinkunft mit diesem. 209  Bell  2 ,320–324. 210 J. Jeremias, Jerusalem II B 91: „die Großen der Generation“, „die Großen Jerusalems“ oder „die Vornehmen“ der Stadt. 211  Womit dieser auf Sprachgewohnheiten seiner römischen Leserschaft Rücksicht nimmt, wie vergleichsweise Lk, der auch von „den Ersten des Volkes“ (Lk  19,47: οἱ πρῶτοι τοῦ λαοῦ) sprechen kann. 212 Der Terminus als Bezeichnung des Jerusalemer „Laienadels“ in 2Esd.   10,8: ἡ βουλὴ τῶν ἀρχόντων καὶ τῶν πρεσβυτέρων); 1Makk  13,36: „König Demetrios entbietet Simon, dem Hohepriester […], und den Ältesten (πρεσβυτέροις) und dem Volk der Juden seinen Gruß!“; 14,20 („Die Oberen der Spartaner und die Stadt entbieten dem großen Priester (ἱερεῖ μεγάλῳ) Simon und den Ältesten (τοῖς πρεσβυτέροις) und den Priestern (τοὶς ἱερεῦσιν) und dem übrigen Volk der Juden, ihren Brüdern, den Gruß“; 14,28; 2Makk  11,27. – Jos, Ant  13,428, erwähnt „die Ältesten der Juden“ unter Salome Alexandra. Vgl. Claußen, Versammlung 264–273. 213 J. Jeremias, Jerusalem II B 93: „die Gruppe der Ältesten des Synedriums setzt sich aus Häuptern von Jerusalemer Patrizierfamilien zusammen“. 214  Zu Qumran vgl. Wassen, Art. ‫ זקן‬zaqen 865: „Die bei weitem häufigste Bedeutung von ‫זקן‬ ist […] die offizielle Funktionsbezeichnung ‚Ältester‘“, so in einigen Regeltexten (CD  5,4; 9,4; 1QS  6 ,8 etc.) und 10mal in der Tempelrolle, z. B. 11QT  6 4,4) etc. 215  Ant  4,218 (Applikation von Dtn  17,8–13); 12,138.142 (ἡ γερουσία καὶ οἱ ἱερεῖς καὶ γραμματεῖς τοῦ ἱεροῦ καὶ ἱεροψάλται); 13,166 (ἀρχιερεὺς Ἰωνάθης τοῦ ἔθνους τῶν Ἰουδαίων καὶ ἡ γερουσία καὶ τὸ κοινὸν τῶν ἱερέων).169 (τῶν ἀπὸ τῆς γερουσίας ὄντων παρ‘ ἡμῖν ἐν τιμῇ). Ältestenschaft und Priesterschaft bilden gemeinsam mit dem Hohepriester das repräsentative Gremium Jerusalems. – Apg  5,21 benutzt die beiden Termini συνέδριον und γερουσία als Synonyme. 216  βουλή: Bell  2 ,331: τούς δε ἀρχιερεῖς καὶ τὴν βουλήν); 2,336: ἀρχιερεῖς / δυνατοί / βουλή; 5,144

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

συνέδριον bezeichnet allgemein eine „Versammlung“ oder „Zusammenkunft“217, konkret einen politischen „Rat“ wie den römischen Senat, sei es nun ausschließlich mit Beratungsoder auch Gerichtsfunktion, schließlich die Lokalität eines Gremiums218 . Bei βουλή verhält es sich ähnlich: Es kann unspezifisch „Beratung“219 bedeuten, „Beschluss“220 , aber auch das beratende Gremium selbst, die „Ratsversammlung“ einer Polis221, auch den Ort ihrer Zusammenkunft, das „Rathaus“ (siehe unten!).

(1) Συνέδριον begegnet in den Antiquitates zum ersten Mal im 14.  Buch, wo Josephus von der Verwaltungsreform Palästinas durch den Statthalter Syriens namens Gabinius (57–55 v. Chr.) berichtet. „Fünf Synedrien“ für fünf Bezirke habe dieser zu Beginn seiner Amtszeit eingerichtet: in Jerusalem, Gadara, Amathus, Jericho und Sepphoris (14,91) 222 , einheimische Räte, denen Rechtsprechung und Verwaltung des jeweiligen Distrikts oblagen 223. Zehn Jahre später nahm Cäsar diese Dezentralisierung wieder zurück und unterstellte die Distrikte wieder der Oberhoheit des Jerusalemer Synedrions. Im weiteren Verlauf des Buches berichtet Josephus von einem Konflikt des Synedrions mit dem Hohepriester und „Ethnarchen“ Hyrkan wegen des Emporkömmlings Herodes, der Aufschluss über die neu gewonnenen Kompetenzen der Instanz erteilt. Herodes war von seinem Vater Antipater – „Epitropos“ (Aufseher) Judaäs von Roms Gnaden und Gegengewicht zu Hyrkan 224 – mit 25 Jahren zum militäri(die Lage der βουλή in Jerusalem); 5,532. Ant  13,364 berichtet von 500 Mitgliedern des Rats der Stadt Gaza (τῶν δὲ βουλευτῶν ἦσαν οἱ πάντες πεντακόσιοι), die während einer Sitzung (συνεδρευόντων) beim Überfall des Alexander Jannäus auf ihre Stadt (96  v.Chr.) getötet wurden: Wörter vom Stamm βουλ- und συνεδρ- werden synonym benutzt. – Zur Geschichte des Jerusalemer Synedrions vgl. K. Müller, Art. Sanhedrin 33–35; Schürer, History II 199–226 („The ­Great Sanhedrin in Jerusalem“); Kirner, Strafgewalt 161–170 („Hohepriester und Synedrion“). 217  Ant  12,103 von den 70 Gelehrten, die die Schriften der Juden auf einer Insel bei Alexandria in Griechische übersetzten (συνέδριον ἐποιήσατο), oder 15,173 vom versammelten Hof des Herodes etc. – Stereotyp: καθίζειν συνέδριον = eine Versammlung einberufen/versammeln (Liddel-­ Scott, Lexikon, zu καθίζω unter I. 4): Jos, Ant  20,200, vom Hohepriester Ananus (siehe unten!); Vit  236: συνέδριον δὲ τῶν φίλων καθίσαντες; 368: καθίσας τῶν φίλων συνέδριον ἐβουλευόμην περὶ τῶν πρὸς Ἰωάννην πραχθησομένων). – συνέδριον ἀθροίζειν = eine Versammlung versammeln (Bell  2,25.81); διαλύειν συνέδριον = eine Versammlung auflösen (Bell  3,92; 6,243). 218  Liddel-Scott, Lexicon: „place of meeting, council-chamber“. – Vgl. Poland, Art. συνέδριον; E. Lohse, Art. συνέδριον; Goodblatt, Principle 108; ebd. 109: „[…] in almost every instance he [sc. Josephus] uses the word to denote what the Romans would call a consilium, i. e., an ad hoc assembly of friends and advisers convened by an official to assist in policy decisions or in trying a case. In the latter case, when the synedrion is involved in judicial proceedings, the word denotes what we might call a jury“ (mit weiterer Lit.); Wolfson, Synedrion 304 f.; die philologische Diskussion in der Zeitschrift JQR 36/37 (mit Zeitlin, Wolfson und Hoenig) belegt die Breite in der Verwendung des Terminus. 219  Vgl. etwa Bell  6 ,238; Ant  15,98 etc. 220  Vgl. etwa Ant  18,275. 221 Des Öfteren begegnet συνάγειν βουλήν = eine Ratsversammlung einberufen (Bell   1,284) oder λύειν βουλήν = eine Ratsversammlung auflösen (Bell  1,285). 222  In der Parallele Bell  1,170 ist statt von συνέδρια von σύνοδοι die Rede. 223  ἐπολιτεύοντο = sie regierten, was Josephus ebd. eine „Aristokratie“ nennt. In Bell  1,169 f. spricht er von „den Besten (οἱ ἄριστοι)“, denen Gabinius die πολιτεία übergeben habe; zu den Hintergründen der Verwaltungsreform siehe Günther, Herodes 43. 224  Siehe oben III. in 1.2 die Einleitung.

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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schen Befehlshaber für Galiläa ernannt worden, wo er seine Tatkraft gleich durch Liquidierung des „Bandenführers Ezechias“225 und dessen Anhängerschaft unter Beweis zu stellen wusste. Hyrkan schützte wohl unter römischem Druck den jungen Herodes vor seiner drohenden Verurteilung durch das Jerusalemer Synedrion, das als „gerichtliche Instanz“ den Angeklagten vorlädt und zur Verantwortung zieht (Ant  14,163–184) 226 . Als Hyrkan, wohl Vorsitzender des Gremiums, feststellt, dass dessen Mitglieder (οἱ ἐν τῷ συνεδρίῳ) Herodes zum Tod verurteilen wollen, „vertagt er den Prozess“ (τὴν δίκην εἰς ἄλλην ἡμέραν ἀνεβάλετο), womit er dem Angeklagten die Flucht ermöglicht. Der Hohepriester besaß also offenkundig das Recht zur Aufhebung oder Vertagung der Versammlung. Jahre später, als Herodes König wird, rächt sich dieser und „lässt alle Mitglieder des Synedrions einschließlich Hyrkan umbringen“ (14,175; vgl. 15,173). Im 15.  Buch bezeichnet συνέδριον einmal den „Beirat“ des Caesars in einer gerichtlichen Verhandlung 227: Als Augustus sich 20  v.Chr. in Antiochien/Syrien aufhält, treffen Gesandte der Stadt Gadara ein und „verklagen“ Herodes auf „Übergriffe, Raubzüge und Zerstörung ihrer Tempel“ (357). Nach der ersten Verhandlungsrunde „nehmen die Gadarener die Stimmung des Caesars und des Beirats wahr (ὁρῶντες τὴν ῥοπὴν αὐτοῦ τε Καίσαρος καὶ τοῦ συνεδρίου)“228 und befürchten ihre Auslieferung an Herodes. Sie entziehen sich ihr durch Freitod. Im 16.  Buch benutzt Josephus den Terminus für ein Tribunal, das Herodes wenige Jahre vor seinem Tod 8/7  v.Chr. nach Genehmigung durch Augustus in Berytos (= Beirut) über seine beiden Söhne aus der Ehe mit Mariamne wegen angeblichen Hochverrats inszeniert (357.360.361.367) 229. Das Gericht tagt mit 150 geladenen großenteils willfährigen „Beisitzern“ unter Vorsitz des syrischen Statthalters Sentius Saturninus, dessen Rolle im Dunkeln bleibt (362)230 . Indem Herodes als Kläger und Richter auftritt, setzt er die elementarsten Regeln des römischen Prozesswesens außer Kraft: die Trennung der Funktionen, auch das Recht der Beisitzer, die Beweismittel zu prüfen (363) und das der Angeklagten auf Anhörung (367)231. Das 17.  Buch berichtet von zwei Gerichtsverfahren unter Beteiligung des Herodes, von einer gerichtlichen Zusammenkunft der „Freunde“ des Königs zur Anklageerhebung gegen die Gattin seines Bruders Pheroras (συνέδριόν τε ποιεῖται τῶν φίλων) (46), und von einer „Zusammenkunft“ des Herodes mit dem Statthalter Quintilius Varus in Jerusalem (90: αὐτῶν συν-εδρευόντων232), die sich zum Tribunal über Antipater entwickelt und am zweiten Tag zu 225 

Zu ihm siehe Nr.  1 der Liste im Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. Betz, Prozess 89; Goodblatt, Principle 111: συνέδριον = „regularly meeting institution with nation-wide jurisdiction“. 10-mal begegnet hier συνέδριον (stets mit Artikel), seine Mitglieder heißen συνέδριοι (14,172), es sind οἱ πρῶτοι τῶν Ἰουδαίων (14,165). Zur Zusammensetzung des Gremiums äußert sich Josephus nicht. – Herodes wurde verklagt, weil das Gesetz es „verbietet, einen wenn auch noch so verbrecherischen Menschen umbringen zu lassen, ehe er vom Synedrium zum Tod verurteilt ist (εἰ μὴ πρότερον κατακριθείη … ὑπὸ τοῦ συνεδρίου). Er aber (sc. Herodes) hat dies gewagt, obwohl er von dir (sc. Hyrkanus) keine Vollmacht (ἐξουσίαν) (dazu) erlangt hat“ (14,167). 227  Vgl. auch Philo, LegGai  349 f. (siehe unten). 228  συνεδρίου ist Καίσαρος zugeordnet; συν-έδριοι = Bei-Sitzer. 229  Günther, Herodes 151–160. 230 16,362: συγκαθημένων ἀνδρῶν; in 367 heißen sie: οἱ κατὰ τὸ συνέδριον. 231  Siehe oben III.  1.3.4 unter (2). 232  Das Verb noch in 17,93: „Am folgenden Tag setzten sich Varus, der König, ihre beiderseiti226 

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dessen Todesurteil führt (90–145). Die Gerichtsszene ist dramatisch ausgestaltet: mit An­ klage­ reden (Herodes, Nikolaos), Verteidigungsrede (Antipater) und einem Auftritt des Statt­halters gegen Ende. Später berichtet Josephus noch von einem Kaisergericht nach dem Tod des Herodes im Tempel des Apollo zu Rom (301–317): Gegenstand der Verhandlung ist das Testament des Herodes samt Regelung seiner Nachfolge. Auch diese Veranstaltung nennt Josephus ein συνέδριον (301.317233).

Für die Zeit der römischen Präfektur Judäa ab 6  n.Chr. einschließlich Interregnum 41–44 bis Kriegsausbruch verwendet Josephus den Terminus συνέδριον234 für Jerusalem erstaunlicherweise nur bei zwei Gelegenheiten in den Antiquitates und einmal in seiner Vita 235. In seinem Bericht vom Vorgehen des zur Partei der Sadduzäer gehörenden Hannas II. gegen Jakobus, „den Bruder Jesu, der Christus genannt wird“, und einige andere, die der Hohepriester 62  n.Chr. eigenmächtig steinigen lässt (Ant  20,200– 203), führt Josephus aus: „In der Meinung, eine günstige Gelegenheit zu haben, weil Festus gestorben war und Albinus (sein Nachfolger) noch unterwegs war, versammelte er (sc. Hannas) einen Beirat von Richtern (καθίζει συνέδριον κριτῶν)236 , führte sie (sc. die Betreffenden) vor, klagte sie als Gesetzesübertreter an (ὡς παρανομησάντων κατηγορίαν ποιησάμενος) und übergab sie der Steinigung (παρέδωκε λευσθησομένους)“ (Ant  20,200).

Erbost darüber nahmen einige Bürger, „die am vernünftigsten und im Blick auf die Gesetze genau zu sein schienen (ὅσοι δὲ ἐδόκουν ἐπιεικέστατοι τῶν κατὰ τὴν πόλιν εἶναι καὶ περὶ τοὺς νόμους ἀκριβεῖς)“237, Kontakt zu Agrippa II. auf und baten ihn um Intervention 238 . Andere reisten dem designierten Amtsnachfolger Albinus entgen Freunde und die Verwandten des Königs zu Gericht (τῇ δ’ ἑξῆς συνήδρευεν μὲν Οὔαρός τε καὶ ὁ βασιλεύς, εἰσεκλήθησαν δὲ καὶ οἱ ἀμφοῖν φίλοι καὶ οἱ συγγενεῖς βασιλέως) […]“. Das Substantiv συνέδριον in 17,106.132. 233  17,301: „Als der Cäsar eine Versammlung seiner Freunde und der vornehmsten Römer im Tempel des Apollo einberief […] (Καίσαρός τε συνέδριον φίλων τε τῶν αὐτοῦ καὶ Ῥωμαίων τῶν πρώτων συνάγοντος ἐν ἱερῷ Ἀπόλλωνος). 317: „Als der Cäsar diese Reden angehört hatte, entließ er die Versammlung (διαλύει μὲν τὸ συνέδριον)“. 234  Abgesehen vom unspezifischen Gebrauch 20,61 (ἔν τε συνεδρίαις … = bei Zusammenkünften). 235  Brown, Death I 342–343. – Die Belege für συνέδριον im Bellum sind unspezifisch; vereinzelt für Rom: 2,25.81.93; 6,243. 236  Wörtlich: „er ließ einen Beirat von Richtern sich setzen“; die Deutung ist umstritten: Geht es um die Neueinsetzung eines Gerichts (Büchsel, Blutgerichtsbarkeit II 85) oder nur um dessen Einberufung (Clementz, Altertümer 992: „Er versammelte daher den hohen Rat zum Gericht“)? Die Wendung ist konventionell (siehe oben), ihre Deutung mit „Neueinsetzung“ scheint überzogen. 237  Sind Pharisäer in Opposition zum Sadduzäer Hannas gemeint? Kritisch zu dieser verbreiteten Annahme: Saldarini, Pharisees 105 Anm.  69; McLaren, Power 151 Anm.  3. 238  Strittig ist die Übersetzung der Wendung, mit der Josephus dies ausdrückt: „Sie baten ihn, den Ananus schriftlich aufzufordern, μηκέτι τοιαῦτα πράσσειν: μηδὲ γὰρ τὸ πρῶτον ὀρθῶς αὐτὸν πεποιηκέναι = dass er dergleichen nicht mehr tue; denn es war nicht das erste Mal, dass er nicht recht gehandelt hätte“, oder: „denn auch das Erste habe er nicht mit Recht getan“. Nach der zweiten Übersetzung, die Büchsel, Blutgerichtsbarkeit II 85, und Strobel, Stunde 31 f., vorziehen,

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gegen und informierten ihn darüber, „dass Hannas ohne seine Genehmigung ein Synedrion gar nicht hätte einberufen dürfen (ὡς οὐκ ἐξὸν ἦν Ἀνάνῳ χωρὶς τῆς ἐκείνου γνώμης καθίσαι συνέδριον)“. Albinus pflichtet dem bei und droht Hannas Strafe an. Agrippa macht ernst: „Er enthob ihn infolge dieses Vorfalls schon nach drei Monaten seines Amtes“ (202). Die Szene ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Auf eine Routinesitzung eines installierten Gremiums deutet nichts hin, eine Versammlung aus gegebenem Anlass liegt näher239. Wenn der Hohepriester „Richter“ für das von ihm geplante Tribunal beizieht, kann von einem unabhängigen Kollegium nicht die Rede sein 240 . Seine Machtstellung zeigt sich auch daran, dass die Opponenten es nicht wagen, öffentlich gegen ihn vorzugehen. Sie nehmen „insgeheim (κρύφα)“ Verbindung zu Agrippa auf und treffen den neuen Statthalter außerhalb Jerusalems. An König ­Agrippa wenden sie sich, weil er in Belangen des Tempels das Sagen hat 241, an ­Albinus, weil es um eine römische Hoheitsfrage geht. Welcher Rechtsverletzung sich der Hohepriester nach Ansicht der Beteiligten schuldig gemacht hat, ist strittig. Bestand sie lediglich darin, dass er „den Beirat“ einberufen hat, ohne die dazu erforderliche Zustimmung des Statthalters abzuwarten? Dann wäre sein mögliches Recht, Übertreter der Tora mit Steinigung zu bestrafen, nicht tangiert 242 . Oder hat der Hohepriester sich das ius gladii angemaßt, das dem Statthalter vorbehalten war? Zugunsten der ersten Deutung könnte die Formulierung: οὐκ ἐξὸν ἦν Ἀνάνῳ χωρὶς τῆς ἐκείνου γνώμης καθίσαι συνέδριον (202) sprechen 243, zugunsten der zweiten, dass die Einberufung des „Beirats“ durch werden die Opponenten Ananias zweierlei vor: erstens (πρῶτον), dass er ein Gericht eingesetzt habe, zweitens, dass er Jakobus und die anderen habe steinigen lassen. Doch τὸ πρῶτον korreliert dem voranstehenden μηκέτι, weshalb eher zu übersetzen ist: „asking him to stop Ananus from acting like this in future, as what he had already done was not right“ (Loeb). 239  Goodblatt, Principle 109. 240  McLaren, Power 150 f., hält es für möglich, „that ‚judges‘ is Josephus’s means of describing the people chosen by Ananus and that they only held the status in this case“; ebd. 154: „Josephus uses synedrion as a common noun. It describes a trial court, specifically brought together to assess a capital case at the instigation of the serving high priest. Whatever the significance of the term ‚judges‘ is, their status in this trial was dependent on the high priest“. 241  Jos, Ant  20,222: Agrippa war vom Kaiser Claudius „die Sorge für den Tempel“ (ἡ ἐπιμέλεια τοῦ ἱεροῦ) anvertraut worden (vgl. unten zu 216 f.) – wie zuvor der Kaiser bereits seinem Onkel Herodes von Chalkis (44–48  n.Chr.) „das Verfügungsrecht über den Tempel und die heiligen Gelder sowie die Vollmacht, die Hohepriester zu ernennen“, übertragen hatte (Ant  20,15 f.). 242  Lietzmann, Bemerkungen II 271; zuletzt Giovannini/Grzybek, Prozess 19. 243  McLaren, Power 152: „At no stage is any reference made to James’s execution as illegal. Significantly, the opponents of Ananus did not believe that emphasizing the execution would help them win the support of Albinus. This may imply that the Jews could execute people if permission was obtained“; ebd. 155: „we have no reason to believe that the Jews were unable to try and execute other Jews in practice, providing that the procurator had been informed of the situation“; ebenso Smallwood, Jews 280. Giovannini/Grzybek, Prozess 19 f., beziehen ἐκείνου auf Agrippa („ohne dessen Zustimmung“): „Die jüdischen Gesandten, die den ankommenden Statthalter Albinus trafen, erklärten ihm, dass Ananus nicht befugt gewesen sei, den Sanhedrin ohne die Zustimmung des Königs einzuberufen, und somit die jüdische Verfassung verletzt habe. Mit den strafrechtlichen Befugnissen des Hohen Rates unter der römischen Herrschaft hat die ganze Episode folglich nicht das Geringste zu tun“.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Hannas als solche noch keinen Widerstand hervorrief, erst die Steinigung der Beschuldigten. Auch sonst gibt es bei Josephus nirgends Hinweise auf eine römische Zustimmungspflichtigkeit schon bei Einberufung des „Beirats“. Sollte die Annahme einer Berechtigung des Hohepriesters zur Ausübung der Blutgerichtsbarkeit zutreffen, dann hätte er „nicht jenen Zeitpunkt eines prokuratorischen Interims […] abwarten müssen“244. Die abgekürzte Wendung οὐκ ἐξὸν ἦν Ἀνάνῳ χωρὶς τῆς ἐκείνου γνώμης καθίσαι συνέδριον ist deshalb am ehesten so zu interpretieren, dass der Hohepriester „nicht einmal das Recht“ gehabt hätte, „den Sanhedrin wegen einer Kapitalsache einzuberufen“245. Solche Fälle lagen in der Hand der Römer246 . Auch die zweite Episode (Ant  20,216 f.) betrifft König Agrippa II. (ca. 64 n.Chr.). Die Psalmensänger des Tempels, die zu den Leviten gehören, bitten den König um Gewährung eines bislang den Priestern vorbehaltenen Privilegs, nämlich leinene Gewänder beim Gottesdienst tragen zu dürfen, wozu er „ein Synedrion“ einberufen soll (καθίζειν συνέδριον) (216) 247. „Mit Zustimmung derer, die zur Versammlung kamen (μετὰ γνώμης τῶν εἰς τὸ συνέδριον ἐποιχομένων)“ (217), entspricht der König ihrer Bitte. Josephus beurteilt diese und eine weitere Neuerung der Gottesdienstordnung abschätzig248 , womit er allerdings nur seine priesterliche Herkunft verrät. Die Vertreter des niederen Klerus wandten sich wohl deswegen gleich an die höhere Instanz, weil sie befürchten mussten, von den hohen Priestern, die auf die Wahrung ihrer Privilegien bedacht gewesen sein dürften, eine Abfuhr zu erhalten. Die Episode zeigt, dass neben dem Hohepriester auch der König als oberster Herr über den Tempel das zuständige Gremium für eine Entscheidungsfindung einberufen konnte. Die unbestimmte Formulierung in 217 („mit Zustimmung derer, die zu der Versammlung hinzukamen“) deutet auf einen offenen Kreis von Notablen als „Beirat“ hin, dessen „Zustimmung“ einzuholen sich wohl wegen der Durchsetzung der vom König ausgehenden Anordnung empfahl. In seiner Vita bietet Josephus ein letzten Beleg für συνέδριον: Bald nach seiner Ankunft in Galiläa 66  n.Chr. bittet er als Truppenkommandant in einem Brief „an das Synedrion der Jerusalemer“ um Weisung, was er tun soll (γράφω τῷ συνεδρίῳ τῶν Ἱεροσολυμιτῶν περὶ τούτων καὶ τί με πράττειν κελεύουσιν ἐρωτῶ) (62). Das klingt, als sei das Gremium gegenüber „Gesandten“ wie Josephus249 weisungsbefugt gewe244 

Strobel, Stunde 33. Eck, Rom 10 Anm.  15; so auch Sanders, Jesus 284, u. a. 246  Kirner, Strafgewalt 206; vgl. Strobel, Stunde 31–36, gegen Büchsel, Blutgerichtsbarkeit; Lietzmann, Bemerkungen II 269–276, u. a. 247  συνέδριον wird artikellos, unbestimmt benutzt: „eine Versammlung = Synedrion einberufen“; die zweite Verwendung mit Artikel in 207, εἰς τὸ συνέδριον, bezieht sich darauf zurück. 248  Ant  20,218: „Das alles aber stand mit unseren althergebrachten Satzungen im Widerspruch (ἐναντία ταῦτα τοῖς πατρίοις νόμοις), und so konnte es nicht ausbleiben, dass der Gesetzesübertretung die verdiente Strafe folgte“. 249  In Vit  65 erklärt Josephus „den Ersten“ von Tiberias, er sei „vom Rat der Jerusalemer gesandt (ὑπὸ τοῦ κοινοῦ τῶν Ἱεροσολυμιτῶν πρεσβεύσων)“; τὸ κοινόν = Bürgerschaft/Rat etc. auch in Vit  72.190.254.393. – McLaren, Power 212: „After the outbreak of revolt, we hear of a new institution, the ‚common council‘ (κοινόν). The boule, therefore, was replaced at some point in time early in the revolt by the ‚common council‘. The deliberate change in terminology may indicate 245 

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sen 250 . Bemerkenswert ist die bestimmte Rede: „The Sanhedrin was a definite enough body for a letter to be addressed to it“251. (2) Für βουλή = „Rat“ oder „Ratsversammlung“ bietet Josephus zahllose Beispiele, vor allem in den Antiquitates. Fast durchweg geht es um „Räte“ von Städten und Inseln des Mittelmeerraums252 , einschließlich Tiberias und Samaria 253. Zu Jerusalem finden sich in seinem Werk nur wenige Beispiele: vier im Bellum 254 und einer in den Antiquitates. Alle betreffen die Jahre zwischen 6  n.Chr. und Kriegsausbruch 255. Den frühesten Beleg bietet die Adresse des Briefs von Kaiser Claudius 44/45  n. Chr. an die Gesandten aus Jerusalem, in dem er erläutert, warum er die hohepriesterlichen Gewänder nun doch nicht in der Burg Antonia in römische Verwahrung nimmt (Ant  20,11–14): „Claudius Caesar Germanicus, zum fünften Mal Tribun, zum vierten Mal Konsul, zum zehnten Mal Imperator, Vater des Vaterlandes, (entbietet) den Herrschenden, dem Rat, der Bürgerschaft der Jerusalemer (Ἱεροσολυμιτῶν ἄρχουσι βουλῇ δήμῳ), dem ganzen Volk der Juden (Ἰουδαίων παντὶ ἔθνει) (seinen) Gruß (χαίρειν)“ (11).

Das Dokument mit seiner römischen Verwaltungsterminologie klingt so, als sei es an eine griechische Polis gerichtet 256 . Die Stadt und ihr „Rat“ repräsentieren, was dessen Selbstverständnis widerspiegelt, das „ganze Volk der Juden“. Die nächste Episode (um 66  n.Chr.) bietet Bell  2,331: Der Statthalter Florus, der zur Zeit der ersten schweren Unruhen in Jerusalem weilt, „lässt die hohen Priester und den Rat zu sich kommen (μεταπεμψάμενος τούς τε ἀρχιερεῖς καὶ τὴν βουλήν)“, um eine Abmachung zur Stationierung der Soldaten zu treffen 257. that the new institution was different in character and function“. Dieser Schluss dürfte voreilig sein, siehe unten (3). 250  Siegert u. a. (Hg), Vita 165: „Es ist unwahrscheinlich, dass Josephus in 66/67 einer formellen Jerusalemer Regierung verantwortlich war“. Wahrscheinlich werden ihn „apologetische Gründe“ zu dieser Darstellung bewogen haben. 251  Brown, Death I 348; Goodblatt, Principle 110, rechnet den Beleg zu den wenigen Stellen, an denen συνέδριον „an on-going institution“ bezeichnet. 252 Antiochien (Bell   7,107); Sidon (Ant  14,190), Tyrus (Ant  14,314.319), Kyrene (Ant  16,169), Milet (Ant  14,244), Ephesus (Ant  14,225.230; 16,167.172), Sardes (Ant  14,235.259–261), Pergamon (Ant   14,251 f.), Paros (14,213), der „Senat“ von Rom (Bell   1,284 f.; 2,209. 212; 7,65.121.125; Ant  13,164 f.259; 14,384 f.388; 18,1.181.208; 19,3.125.151.158.227.229.235.239.242.245 f.248 f.266 f.). Vgl. auch Ant  11,22 (οἱ τῆς βουλῆς τῆς ἐν Συρίᾳ καὶ Φοινίκῃ κριταί). 253  Tiberias (Bell  2 ,639.641; Vit. 64.284.300.313.381); Samaria (Ant  18,88). 254  Bell  2 ,273 ist die Rede von „Behörden“ (βουλαί) in Judäa, welche die Gefangennahme von Aufrührern veranlasst haben; welche das waren, wird nicht gesagt. 255 Vgl. noch Bell   4,208–215.223, wo zwar nicht βουλή, aber die dazugehörigen Verben be­ gegnen: βουλεύεσθαι = sich beraten (209; 2-mal) und συνεδρεύεσθαι (213): Der Alt-Hohepriester Ananos berät sich unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen „mit den führenden Männern (σὺν τοῖς δυνατοῖς)“ (209) bzw. „denen an der Spitze des Volkes (τοῦ δήμου προεστῶτες)“ (211), Johannes von Gischala verrät, „was hätte geheim bleiben sollen (τὰ ἀππό)“, an die Zeloten. 256  Vgl. die Adressen anderer Briefe, etwa die des „Gaius Iulius Caesar … an Σιδωνίων ἄρχουσιν βουλῇ δήμῳ χαίρειν“ (Ant  14,190), oder Ant 14,213.225.230.235.244.314.319; 16,167.169.172. 257  Vergleichbar ist Ant   20,6–9: Der Statthalter Fadus (44–46  n.Chr.) bestellt auf Befehl des Claudius „die Priester und Vornehmen von Jerusalem“ bei sich ein, um ihnen mitzuteilen, dass die

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Kurze Zeit später finden sich Bell  2,336 zufolge „die hohen Priester mit den Mächtigen und der Rat (οἵ τε ἀρχιερεῖς ἅμα τοῖς δυνατοῖς καὶ ἡ βουλή)“ bei Jamnia ein, um Agrippa II. nach seiner Rückkehr aus Alexandrien nicht nur zu huldigen, sondern auch die Gelegenheit zu nutzen, über den Kriegstreiber Florus Klage zu führen. „This is scarcely the action of a local city council, but of a body whose authority extended over the whole of Jewish Palestine“258 . Die offizielle Begegnung der jüdischen Autoritäten mit dem König erklärt vielleicht auch die umfängliche Formulierung, welche die führenden hohen Priester (samt Angesehenen) mit dem Rat als ganzen zusammen schließt 259. Sie sollte nicht gepresst und als Indiz für die Existenz zweier Gremien gedeutet werden (siehe unten). In Bell   5,532 begegnet ein Mitglied der Jerusalemer βουλή mit Namen, in Bell  5,144 wird im Zusammenhang der Beschreibung des Verlaufs von Jerusalems erster Mauer die βουλή erwähnt, das „Rathaus“ der Stadt260 . (3) Beobachtungen zu den Termini συνέδριον und βουλή einerseits im Bellum, andererseits in den Antiquitates deuten jeweils auf Kontextabhängigkeit ihrer Verwendung hin: Im älteren Werk, dem Bellum, benutzt Josephus für Jerusalems Selbstverwaltung mehrfach den hellenistisch geläufigen Terminus βουλή (2,331.336.; 5,532; vgl. auch 4,208–215), nicht συνέδριον, wie es vom talmudischen Sanhedrin her eigentlich zu erwarten wäre261. Im jüngeren Werk, den um 93/94  n.Chr. verfassten Antiquitates, verhält es sich anders. Vor allem in den Büchern 14,16,18 und 19 bezieht Josephus sich oft auf Vorgänge, welche die weithin bekannte Institution von Stadt-„Räten“ betreffen und verwendet dann durchgehend βουλή, vor allem für den „Senat“ von Rom. Davon hebt sich seine Rede von jüdischen Institutionen ab: Sowohl die von Gabinius eingerichteten Verwaltungsbehörden im Land heißen jetzt συνέδρια (im Unterschied zu σύνοδοι im Bellum), als auch besonders das Jerusalemer Gremium zur Zeit des Herodes. In der Szene, in der dieses über Herodes zu Gericht sitzt, begegnet der Terminus fast durchweg mit bestimmtem Artikel (Ant  14,163–184). Dazu kommt noch ein Beleg aus seiner Vita (62), kurz nach den Antiquitates verfasst. Eine Ausnahme von diesem Sprachgebrauch ist lediglich der Brief des Kaisers Claudius nach Jerusalem (Ant  20,11– 14), der im zeitgenössischen Kanzleistil von der βουλή der Stadt spricht. Eine Erklärung hohepriesterlichen Gewänder wieder in der Burg Antonia verwahrt werden müssten. Auf Bitten einer jüdischen Gesandtschaft in Rom lenkt Claudius ein. 258  Brown, Death I 343. 259  Michel/Bauernfeind, Josephus I 249, geben τε … καί so wieder: „die Hohenpriester mit den Angesehenen und dazu noch der Rat“; mit τε … καί werden Begriffe eng zusammengeschlossen, „meist solche von gleicher … Art“ (W. Bauer, Wörterbuch 1611). 260 Bell   5,144: „Diese Mauer begann im Norden beim sogenannten Hippikusturm und erstreckte sich bis zum Xystos ; sie traf dann auf das Rathaus (τῇ βουλῇ συνάπτον) und endete an der westlichen Säulenhalle des Tempels“ (vgl. auch 6,354: Die Soldaten „steckten das Archiv an, die Akra, das Rathaus (τὸ βουλευτήριον) und den sogenannten Ophel“). Weil Bell  2,344 zufolge der Xystos mit dem Tempel durch eine Brücke verbunden war, muss das Rathaus mit dem westlichen Ende der Brücke „in Verbindung gestanden haben“ (Küchler, Jerusalem 160; vgl. 554 f.); vgl. Blinzler, Prozess 166–170 („Exkurs VI: Der Versammlungsort des Synedriums“); Schürer, History II 223–225; Brown, Death I 349 f. – Das NT erwähnt das „Rathaus“ nicht; das Synedrion versammelt sich im „Haus des Hohepriesters“. 261 Bell   1,571.620 bezeichnet das Wort eine von Herodes einberufene „Versammlung“ von „Freunden“ und „Verwandten“, die er mit quasi-gerichtlicher Aufgabe betraut.

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dieses von der Forschung merkwürdigerweise bislang noch nicht wahrgenommenen Befundes könnte lauten: In den gegen Ende des 1.  Jh.s abgefassten Antiquitates, in denen es Josephus speziell darum geht, Verständnis für die jüdische Geschichte zu wecken, zieht er im Vergleich zum älteren Bellum συνέδριον deshalb als Bezeichnung der jüdischen Selbstverwaltung vor, weil sich zeitgleich das aramäische Pendent Sanhedrin für die entstehende rabbinische Versammlung von Yavneh (= Jamnia) zu etablieren begann (vgl. mSan 1,6; 4,3; mMid 5,4 etc.). Josephus benutzt συνέδριον allerdings auch im Zusammenhang mit kaiserlichen Gerichtsverfahren und den Tribunalen, die Herodes inszeniert 262 . In allen diesen Fällen bezeichnet der Terminus kein fixes Gremium, sondern ein ad hoc einberufenes „Gericht“ bzw. das entsprechende „Gerichtsverfahren“. Die Belege geben einen gerichtlichen Klang von συνέδριον zu erkennen.

Trifft die Erklärung des terminologischen Wechsels von βουλή zu συνέδριον zu, besteht kein Grund, mit den beiden Termini zwei verschiedene Gremien zu verbinden 263. Die βουλή Jerusalems, von der Josephus im Bellum spricht, heißt in den Antiquitates und im Neuen Testament συνέδριον, beides ist identisch 264. Die Belege des Bellum erlauben es zudem, die in 1.5.1 besprochenen stereotypen Bezeichnungen der Jerusalemer Elite (priesterlich und nicht-priesterlich) mit βουλή bzw. συνέδριον in Beziehung zu setzen: Die Jerusalemer βουλή bestand aus Vertretern der städtischen Elite, nämlich „hohen Priestern“ und „Vornehmen“. 1.5.3 Das Synedrion: Gerichtshof oder ad hoc-Beirat des Hohepriesters? (1) Wenn die deutschen Übersetzungen von συνέδριον im Neuen Testament vom „Hohen Rat“265 sprechen, lassen sie an ein höchstes jüdisches Gremium denken, das mit legislativen, judikativen und exekutiven Kompetenzen ausgestattet war, über eine feste Mitgliederzahl und drei Fraktionen verfügte („hohe Priester, Ältestes, Schriftgelehrte“) sowie regelmäßig tagte. Joachim Jeremias redet gerne von den 262 

Siehe oben unter (1) die Belege aus Buch  15–17 der Antiquitates. allem jüdische Forscher gehen, wenn sie die tannaitischen Quellen mit Josephus und dem NT zusammenschauen, von zwei unterschiedlichen Gremien vor 70  n.Chr. in Jerusalem aus (vgl. bei Brown, Death I 343–348, und Schürer, History II 207 f.). Belegt wird dies u. a. mit einer Unterscheidung von συνέδριον und βουλή bei Josephus, die analog zu der zwischen Beth Din und Sanhedrin in der Mischna zu sehen sei (Zeitlin, Jesus; ders., Political Synedrion; Rivkin, Beth Din; ders., Jesus 5.31–36.101 f.): Synedrion bezeichne einen politischen Rat, Boulē einen religiösen; vgl. auch McLaren, Power 211–218. Dagegen Schürer, History II 208: „Neither the Greek sources (Josephus, Philo and the New Testament) nor the rabbinic, seem to be aware of a plurality of institutions. Such a plurality is attested only in the conjectures advanced by modern scholars with a view to defending the historicity of all the rabbinic data“. 264  Joh  11,53 nennt die Tätigkeit des Synedrions ein βουλεύεσθαι, Lk  23,50 f. heißt ein Mitglied des Synedrions βουλευτής. Brown, Death I 347: „the Boulē is nothing other than the Jewish ­Sanhedrin of priests, elders or nobles, and scribes“. – Wenn Josephus in seiner Vita für den „Rat“ Jerusalems des Öfteren τὸ κοινόν benutzt (siehe oben), könnte auch dieser terminologische Wechsel der Rücksicht auf die Leserschaft geschuldet sein. 265  Der Terminus verdankt sich der tannaitischen Terminologie, die zwischen einem „Großen Sanhedrin (‫ “)גדולה סנהדרין‬und einem „kleinen“ unterscheidet. New Revised Standard Version 1989: „Council“. – Oben in Teil II wird bei der Übersetzung der fraglichen Stellen (Mk  14,55; 15,1 etc.) jeweils auf die Problematik hingewiesen. 263  Vor

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Ratsherren, „die Sitz und Stimme im Synedrium haben“266 . Noch der „neue Schürer“ vermittelt den Eindruck von einem „supreme Jewish court, in particular […] of justice“ bzw. einem „senate that governed or had any essential share in government“267. Obwohl sich die Forschung der tiefen Zäsur des jüdischen Krieges bewusst ist, scheint dieses Bild vom „Hohen Rat“, das sich aus den tannaitischen Vorstellungen vom Sanhedrin speist 268 , nach wie vor prägend zu sein: (a) „Der große Sanhedrin bestand aus 71 Mitgliedern und der kleine aus dreiundzwanzig“269. Die 71 – der Hohepriester als Vorsitzender des Gremiums einbegriffen – entspricht dem Vorbild der siebzig „Ältesten“, die sich nach Num  11,16.24 f. auf Weisung Jhwhs um Mose scharten (vgl. auch Ex 24,1.9). Indizien bei Josephus270 werden gerne so gedeutet, dass die 70 als die angemessene Mitgliederzahl „for a Jewish supreme court of justice“ schon für das Synedrion vor 70  n.Chr. Gültigkeit hatte271. (b) Über Auswahl und Bestellung der Mitglieder des Synedrions ist nichts bekannt. Aus dem aristokratischen Charakter des Gremiums wird geschlossen, dass die Mitglieder nicht (wie im Rat einer griechischen Polis) jährlich vom Volk neu gewählt, sondern für eine längere Periode, möglicherweis auf Lebenszeit bestellt wurden – durch Kooptation oder Ernennung vonseiten der politischen Machthaber (Herodes, Statthalter). Wenn die Mischna für die Wählbarkeit eines Kandidaten rabbinische Schulung voraussetze, bestätige sie die Annahme eines Kooptationsverfahrens. Neue Mitglieder seien entsprechend der „Ordination“ des Josua durch Mose (Num  27,18–23; Dtn  34,9) durch „Handauflegung“ ins Gremium aufgenommen worden 272 . (c) An Festtagen und Sabbaten durfte das Gremium nicht tagen 273. Weil Kapitalurteile am ersten Sitzungstag nicht erlaubt waren, scheidet mSan  4,1 zufolge gegebenenfalls auch der 266 J.

Jeremias, Jerusalem z. B. 90. Herausgegeben von Geza Vermes, Fergus Millar und Matthew Black: Schürer, History II 211.206.201. Mit der Rede vom „Great Sanhedrin“ wird gemäß mSanh 11,2 die Vorstellung verbunden, dass es in Jerusalem auch noch „lower courts of justice“ gegeben habe (nach der Mischna drei: ebd. 198), „since the Council of Jerusalem can hardly have handled all the minutiae of the administration of justice by itself“. 268 Vgl. K. Müller, Art. Sanhedrin 39–41. 269  MSan 1,6; vgl. 1,5; 2,6; mShevu 2,2. 270  (1) Die jüdische Kolonie in Ekbatana/Batanäa hatte an ihrer Spitze 70 „Erste“ (οἱ πρώτοι) (Jos, Bell  2,482; Vit  56. – (2) Josephus scharte bei der Organisation des Aufstands in Galiläa „ungefähr 70 Vornehme (ἐν τέλει)“ um sich, auch, um sie zu „Gerichtsentscheiden“ (κρίσεις) herbeizuziehen (Vit  79); Bell  2,570 f.: „er bestimmte aus der Mitte des Volkes die 70 einsichtsreichsten Ältesten (γεραιοί) als höchste Behörde für ganz Galiläa. In jeder Stadt setzte er 7 Richter [der Tora entsprechend: Ant  4,214–218] für die kleineren Rechtssachen ein, denn Angelegenheiten von größerer Bedeutung und Mordfälle sollten nach seiner Anordnung ihm selbst und den 70 Ältesten vorgelegt werden“. Die Selbststilisierung zum weitsichtigen Organisator ist (ab 569) mit Händen zu greifen; vgl. Goodblatt, Principle 114. – (3) Die Zeloten bestellten, um den Anschein des Rechts zu wahren, so Josephus, für ihre Justiz 70 öffentlich angesehene Männer (Bell  4,336). – (4) tSuk  4,6: „71 goldene Stühle waren in ihr [sc. in der großen Synagoge Alexandrias], entsprechend den 71 Ältesten“ (Bornhäuser/Mayer, Tosefta II 3, 48 mit Anm.  60: „Es wird allgemein angenommen, dass es sich um die Mitglieder der γερουσία, des Leitungsgremiums der alexandrinischen Gemeinde, handelt“). 271  Schürer, History II 211; Blinzler, Synedrium 61, nimmt gar an, dass die Gremien des Josephus und der Zeloten jeweils „ein Gegenstück zum Jerusalemer Synedrium“ bildeten und dessen „Zusammensetzung“ widerspiegelten. Für ihn ist der Rekurs auf Num  11 ein Element seiner Annahme der strengen Orientierung des sadduzäischen Synedrions an der Tora. 272  Schürer, History II 211. Ebd. Anm.  42: „The verb ‫( סמך‬to lay on hands) means in the Mishnah ‚to install as a judge‘“. 273  Philo, MigrAbr  91: Zu den am Sabbat verbotenen Tätigkeiten gehört auch das δικάζειν; zu 267 

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Tag vor dem Sabbat als Gerichtstag aus. Lokalgerichte tagten am zweiten und fünften Wochentag (mKet  1,1). Ob dies auch für den „Großen Sanhedrin“ galt, bleibt offen 274.

(2) Die jüngere Forschung hat dieses knapp skizzierte Bild korrigiert. Schon Raymond Brown befand: Wir sollten uns das Synedrion nicht nach Art des U.S. Senats vorstellen 275. Maßgebend für eine Rekonstruktion der jüdischen Selbstverwaltung unter römischer Herrschaft seit 6  n.Chr. sind nicht die tannaitischen Zeugnisse zum jüdischen „Gerichtshof“, sondern das Geschichtswerk des Josephus, auch wenn es nur begrenzte historische Informationen liefert, die Philo nicht wesentlich ergänzt. Hinzu kommt, dass die jüdische Selbstverwaltung im Zusammenspiel mit den jeweils Herrschenden zwischen den Hasmonäern und 70  n.Chr. starken Wandlungen unterlag. Einen verlässlichen Rahmen für die hier interessierende Phase zwischen 6 und 41  n.Chr. bieten folgende Eckpunkte: (a) Josephus lässt nirgends etwas über die Mitgliederzahl des Jerusalemer Gremiums verlauten 276 . Weil die Zahl 70 aus der Tora stammt, besteht der Verdacht, dass sie ein Baustein des idealen rabbinischen Entwurfs des jüdischen „Gerichtshofs“ darstellt. Auch Josephus hat sich vielleicht von den mosaischen Ältesten inspirieren lassen, als er 70 vornehme Galiläer zu seinen „Verbündeten und Weggenossen“ erkor, um sich das Land gefügig zu machen 277. Weil aus der Annahme einer festen Mitgliederzahl eine entsprechende Organisationsstruktur folgt, eine solche Josephus aber nirgends nahelegt, wird die Angabe fiktiv sein.

(b) Die von Josephus beschriebenen Situationen, in denen die Boulē bzw. das Synedrion Jerusalems eine Rolle spielte, geben nirgends das Konzept einer „permanenten Mitgliedschaft“ (permanent membership)278 zu erkennen. In der Regel trat das Gremium auf Initiative des amtierenden Hohepriesters, der die Auswahl der Einberufenen bestimmte279, ad hoc zusammen 280 . Hinweise auf „Versammlungen“ oder Synedrien anderer Art bestätigen diese Annahme281. Neben den „hohen Priesden Essenern vgl. CD  10,18: „Nicht soll man über eine Angelegenheit von Besitz und Gewinn richten“ (aus den Sabbatbestimmungen); Augustus befreite die Juden von der Verpflichtung, am Sabbat vor Gericht zu erscheinen (Jos, Ant  16,163.168); vgl. Horat, Sat  1,9. 274  Schürer, History II 223. – Zum Tagungsort des Gremiums siehe oben S. 568 Anm.  260. 275  Brown, Death I 349. 276  Die Historizität der Zahl bestreiten etwa Brown, Death I 348 f., oder McLaren, Power 47 f. 277 Vgl. Siegert u. a. (Hg.), Josephus, Leben 53 Anm.  101; McLaren, Power 207 Anm.  1: „The seventy men appointed by Josephus do not appear to have taken any significant part in the events that he narrates. I cannot establish whether they were to supplement or replace the existing authorities in Galilee“. 278  McLaren, Power 216; vgl. Goodblatt, Principle 77–130 („The Problem of the Council Before 70“). 279  McLaren, Power 216: „The consultative synedrion consisted of whoever the leader decided was relevant“. Brown, Death I 349: „Might it not be that in order to deal with a problem the high priest convened Sanhedrin members who were available? […]. Rather than assigned members, we may have to think of the expected attendance of representatives of particular groups when a Sanhedrin was called“. 280  Vgl. die oben in III.  1.5.2 unter (2) besprochenen Beispiele Jos, Ant  20,200–203 und 216 f. 281  Vgl. etwa die Einberufung des Jerusalemer Rats durch Herodes oder des von Tiberias durch Petronius (siehe oben).

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tern“, den Hauptakteuren nach Josephus und dem Neuen Testament 282 , waren es aufgrund von Stellung, Bildung und Reichtum anerkannte Männer, aus deren Kreis der Hohepriester, wenn es Entscheidungs- und Beratungsbedarf gab, einen Beirat berief. Diesen dürfen wir uns nicht als „permanente Verwaltungsinstitution“ mit festen Regularien vorstellen 283. (c) Die Funktion des einberufenen Synedrions richtete sich nach dem Zweck, zu dem es einberufen wurde. Grundsätzlich gilt, dass ein Synedrion einem Gemisch von Interessen diente, „that we would call religious and political hopelessly inter­ twined“284. Schon von daher ist die Annahme, es habe zwei Institutionen gegeben, eine Religionsbehörde und ein politisches Komitee (siehe oben), nicht plausibel 285. Was moderne Sicht streng voneinander scheidet, legislative, judikative und exekutive Aspekte, war in der Praxis eines Gremiums, das rechtlich kaum reguliert war, miteinander verquickt. Der Amtsträger, der für seine Einberufung und Leitung verantwortlich war, dürfte die Richtung vorgegeben haben, der jeweiligen Situation pragmatisch angemessen. (d) Guido O. Kirner zieht die römische Institution des Consilium als Analogie zum Jerusalemer Synedrion heran 286: Wenn der Hohepriester der Verantwortliche war, hatte das von ihm einberufene Gremium gleichfalls die Eigenschaft eines Beratungsgremiums. Es konnte unter seinem Vorsitz unterschiedliche Funktionen ausüben, darunter auch eine richterliche287. Bestätigt wird diese Annahme durch eine aufschlussreiche Passage aus Philos Legatio ad Gaium, die zu erkennen gibt, dass Philo die Praxis eines derartigen συνέδριον/consilium kannte, die mit ihm verbundenen Grundsätze des römischen Prozessrechts teilte und wertschätzte288 . Der niederschmetternde Eindruck, den er und die mit ihm nach Rom gereisten jüdischen Gesandten Alexandrias in ihrem Kampf um das jüdische Bürgerrecht vom Empfang durch Kaiser Gaius Caligula 282  McLaren, Power 219: Diese Gruppe, die einerseits mit dem Hohepriester, andererseits mit den führenden Familien verbunden waren, war nicht monolithisch. „There was competition for prominence within their own group and occasional differences of opinion in matters of policy“. 283  Kirner, Strafgewalt 167. 284  Brown, Death I 351; McLaren, Power 218: „There was no division between religious and civil affairs. Together ‚the chief priests‘ and influential laity represented the entire community in any issue involving Jewish-Roman negotiations“. 285  Die Unterscheidung zwischen Beratungs- und Gerichtsgremium (McLaren, Power 213– 218: „two different institutions, both called a Sanhedrin“, mit dem Argument, die Belege mit βουλή gäben keine exekutive Funktion des Gremiums zu erkennen) überfordert die Texte; Brown, Death I 351 Anm.  49. 286  Kirner, Strafgewalt 168 f.: „Exkurs: Das Synedrion als Consilium, ein Gedankenexperiment“; vgl. bereits Lengle, Prozess 315: Ein jüdisches Gericht ist „am ehesten noch mit einem konsularisch-senatorischen Gerichte vergleichbar. Wie in Rom der Senat, so richtet hier im allgemeinen die oberste jüdische Verwaltungsbehörde, das Synedrium, in seiner Gesamtheit, und wie dort die Konsuln den Vorsitz führen, so präsidiert hier der Hohepriester“. 287  Kirner. Strafgewalt 168. 288  McLaren, Power 215 Anm.  1, zum Text: „Note also the possibility that the synedrion described […] might equate with the concept of consilium in Rome“; auch die Bedeutung von συνέδριον = „Beirat“/consilium wird hier deutlich.

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mitnahmen 289, veranlasst ihn, sein Ideal eines συνέδριον folgendermaßen zu beschreiben: „Denn dies wären die Pflichten eines Richters gewesen: Eine Sitzung zusammen mit Beisitzern (σύνεδροι/assessores) zu halten, die nach ihrer Lauterkeit ausgewählt waren, um eine Sache von solch entscheidender Bedeutung zu untersuchen […]; zweitens, den streitenden Parteien mit den vorgesehenen Gutachtern auf beiden Seiten Plätze anzuweisen; drittens, Anklage und Verteidigung in gleichbemessener Redezeit anzuhören, schließlich, sich zu erheben, um mit seinen Beisitzern zu beraten, welches Urteil man nach dem Grundsatz höchster Gerechtigkeit öffentlich verkünden solle. Seine Handlungsweise jedoch war die eines unversöhnlichen Tyrannen“ (LegGai 350).

Philo geht mit Gaius hart ins Gericht, wenn er erklärt, was er vom Vorsitzenden eines derartigen συνέδριον (consilium) erwartet: dem ethischen Maßstab „höchster Gerechtigkeit“ verpflichtet zu sein. (e) Der rechtliche Zuständigkeitsbereich des Hohepriesters (bzw. der Boulē Jerusalems) war bis zum Kriegsausbruch Judäa 290 . Apg  9,1 bietet keinen Beweis dafür, dass der Hohepriester de facto über Provinzgrenzen hinweg Autorität besaß291. Für das Vorgehen gegen Jesus bedeutet dies: Der Hohepriester ließ den Nazarener wegen eines Vorfalls in Jerusalem, d. h. in Judäa festnehmen, nicht wegen angeblicher Umtriebigkeit in Galiläa. 1.5.4 Wer im Synedrion das Sagen hatte. Zur Rolle der Sadduzäer und Pharisäer Von den Religionsparteien, die Josephus dreimal in seinem Werk seiner römischen Leserschaft als jüdische „Philosophenschulen“ vorstellt (Bell  2,119–166, Ant  13,171– 173 und 18,11–25) 292 , werden gewöhnlich die Sadduzäer und Pharisäer mit der Jeru289  LegGai 349: „[…] Kaum waren wir vor Gaius gelassen, erkannten wir an seinem Gesicht und seinen Gesten, dass wir nicht zu einem Richter, sondern zu einem Ankläger gekommen waren, einem gefährlicheren Feind, als unsere eigentlichen Gegner es waren“ 290  Ein Indiz liefert die Episode vom Zusammentreffen der Jerusalemer Autoritäten mit Agrippa II. bei Jamnia: Bell  2,336; dazu siehe oben III.  1.5.2 unter (2). Brown, Death I 342, verweist auf die Herkunft des in Bell  5,532 genannten „Schriftgelehrten des Rats mit Namen Aristeus aus Emmaus“; war Emmaus sein Wohnsitz, könnte das (wie im Fall des Josef von Arimathäa) für die Zusammensetzung des Synedrions aufschlussreich sein: „the presence of non-Jerusalemites would be another indication of the wide-range of the Boulē“. Schürer, History II 206: „the competence of the Sanhedrin was undoubtedly […] restricted to Judaea proper“; 198: „It would quite wrong to conclude from the fact that the rebellion in Galilee was directed from Jerusalem that this area fell within the jurisdiction of the Great Sanhedrin in peace time as well, for the circumstances were obviously exceptional“. – Die Samaritaner verfügten über eine eigene Boulē. 291  Roloff, Apg 148: „Paulus reiste nicht in offiziellem Auftrag des Synedriums, sondern aus eigener Initiative nach Damaskus. Er wollte dort den Kampf gegen die von ihm als häretisch erkannte ‚Nazoräersekte‘ weiterführen. Zu diesem Zweck ließ er sich vom Synedrium Empfehlungsschreiben geben (vgl. 2Kor  3,1), die die Synagogenvorsteher von Damaskus vor der Gefährlichkeit der Nazoräersekte warnen und sie auffordern sollten, gegen sie mit den üblichen Zuchtmitteln einzuschreiten“. Apg  9,1 mit der Annahme einer Zuständigkeit des Synedrions für die Juden überhaupt entspricht den Gegebenheiten der Abfassungszeit der Apg (ca. 100–120); vgl. Schürer, History II 189. 292  Vgl. zu den drei „Schulrichtungen“ (αἱρέσεις) auch Vit  10. Zu den Pharisäern noch Ant  13,286–­

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

salemer Selbstverwaltung in Verbindung gebracht. Während die Mehrheit der „hohen Priester“ und „Vornehmen“ oder „Älteste“ nach herkömmlicher Meinung zu den Sadduzäern gehörte, wird zumindest bei einem Teil der „Schriftgelehrten“ auch mit Vertretern der pharisäischen Richtung gerechnet 293. Die Quellen (Josephus, Neues Testament, tannaitische Literatur) erlauben allerdings keine gesicherten Aussagen darüber, welche Rolle die beiden „Parteien“ tatsächlich spielten. Hier seien lediglich die wenigen Spuren genannt, die auf die Sadduzäer (unter 1.) und Pharisäer (unter 2.) in den Jahrzehnten vor Kriegsbeginn verweisen, um Einblick in die Zusammensetzung der Jerusalemer Boulē zu erhalten. Die Frage, ob es ein eigenes sadduzäisches Strafrecht gegeben hat, an das die hohen Priester sich hielten, ist im Kontext ihrer Einstellung zur Tora mit zu bedenken (unter 1c). Seit Josef Blinzler spielt diese Frage bei der Rekonstruktion des Verfahrens gegen Jesus eine beachtliche Rolle. (1) Sadduzäische Originalquellen sind unbekannt 294. Über die Gründe, warum sowohl Josephus als auch das Neue Testament die Sadduzäer kaum erwähnen, lässt sich nur spekulieren 295. Wo sie begegnen, kommen sie schlecht weg296 . Mischna, Tosephta und die Talmudim karikieren sie gerne stereotyp als Gegner der Rabbinen, über eine wirkliche Kenntnis der historischen Sadduzäer scheinen sie nicht zu verfügen 297. Umso sorgfältiger sind die wenigen Spuren, die sie möglicherweise 298; 13,401–432 (unter Alexandra Salome); 17,41; Vit  12.191.197; zu den Sadduzäern: Ant  13,293– 298; 20,199. 293 J. Jeremias, Jerusalem 105. 294 Vgl. Weiß, Art. Sadduzäer 589–594. – Brown, Death I 351 f.; Le Moyne, Sadducées; Meier, Jew III 393–411; Stemberger, Pharisäer. 295  Einer der Gründe könnte ihr verbreitetes Negativimage sein (siehe unten), aber sie bildeten auch nur eine kleine Elite. – Abgesehen von ihrer Erwähnung in den Übersichten zu den jüdischen „Philosophenschulen“ bleiben sie bei Josephus nahezu unsichtbar. In seinen Stenogrammen verschweigt er den priesterlichen Anteil der Essener und Sadduzäer: „Could Josephus‘ silence in these instances have something to do with his being a priest of Hasmonean descent instead of being either a Sadducean or an Essene priest of Zaddokite descent?“ (Meier, Jew III 450 Anm.  21). – Im NT bietet nur Mk  12,18–27 par. eine alte Tradition, außerdem vgl. Apg  4,1; 5,17; 23,6–8 sowie Mt  3,7; 16,1.6.11 f.; vgl. H.-F. Weiß, Art. Sadduzäer 593 f.; Le Moyne, Sadducéens 121–135. 296 „Allen […] Quellen [einschließlich der späteren Referate der Kirchenväter, bes. Hipp, Ref  9,29,1–4] ist eine kritische bis polemische Darstellung des Sadduzäismus eigen“ (Weiß, Art. Sadduzäer 590). – Gelegentlich werden Äußerungen anderer Schriften auf die Sadduzäer bezogen, z. B. die Polemik von AssMos  7 gegen „verderbliche und gottlose Menschen, welche lehren, sie seien gerecht“ (V.3), bzw. sprechen: „Rühr (mich) nicht an, damit du mich nicht unrein machst an dem Ort, an dem …[hier bricht der Text leider ab]“ (9). In der Regel werden diese mit den Sadduzäern identifiziert, aber „[v]ielleicht ist die traditionelle und verbreitete Polemik in 7,3 ff. überhaupt nicht zu präzisieren“ (Brandenburger, Himmelfahrt 65; ebd. 60: „Abfassung nur wenig nach 6  n.Chr.“). 297  Brown, Death I  351; vgl. etwa tMen 13,21 par. bPes 57a die Wehe-Rufe über die wichtigsten Familien, die vor 70  n.Chr. die Hohepriester stellten, darunter der Spruch: „Wehe mir vor der Familie Hanin [= Hannas], wehe mir vor ihrem Getuschel“. Am Ende das bittere Wort: „Sie selbst waren Hohepriester, ihre Söhne waren Schatzmeister, ihre Schwiegersöhne waren Tempelherren, und ihre Diener schlugen das Volk mit Stöcken“; einen Überblick über die rabb. Lit. bei Le Moyne, Sadducées 95–119, mit dem Resultat: „tardive et hostile aux Sadducéens“ (119) mit nur wenigen Ausnahmen, darunter ARN, Rez. A, Kap.  5 (112–117).

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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auch hier hinterlassen haben, zu sichten und auszuwerten 298 . Vier Aspekte interessieren: (a) ihre sozioökonomische Stellung einschließlich ihrer daraus abzuleitenden Rolle in der Verwaltung Jerusalems; (b) ihre Einstellung zur Tora; (c) die Frage eines spezifisch sadduzäischen Strafrechts; (d) ihre religiösen Vorstellungen, die sie von anderen jüdischen Gruppierungen unterscheiden. (a) Aufschluss über die sozioökonomische Stellung der Sadduzäer erteilt Josephus zum ersten Mal anlässlich seiner Darstellung des politischen Seitenwechsels des Ethnarchen und Hohepriesters Johannes Hyrkan (135/134–104) von den Pharisäern zu den Sadduzäern. Als er den Pharisäern, die große Sympathie im Volk genießen, seine Gunst entzieht und die von ihnen erlassenen „Vorschriften (νόμιμα)“ außer Kraft setzt, um jeden zu bestrafen, der zuwider handelt, beginnt das Volk ihn zu „hassen“ (Ant  13,296). Die Erwähnung der pharisäischen „Vorschriften“ veranlasst Josephus, auf den Dissens der Pharisäer und Sadduzäer im Verständnis der Tora zu sprechen zu kommen (13,297), um anzumerken: „[…] wobei die Sadduzäer nur die Reichen überzeugten (τοὺς εὐπόρους μόνον πειθόντων), aber nicht das Volk zu ihren Anhängern hatten (τὸ δὲ δημοτικὸν οὐχ ἑπόμενον αὐτοῖς ἐχόντων), während die Pharisäer die Menge auf ihrer Seite hatten (τὸ πλῆθος σύμμαχον ἐχόντων)“ (Ant  13,298).

Widerhall fanden die Sadduzäer, aus welchen Gründen auch immer, nur unter den Reichen, der Schicht, zu der sie wohl selbst zählten: „Nur wenige Menschen erreichte diese Lehre (οὗτος ὁ λόγος), indes die Vornehmsten an Würde und Ansehen (τοὺς μέντοι πρώτους τοῖς ἀξιώμασι). Und von ihnen (sc. den Sadduzäern) wird sozusagen nichts zustande gebracht, da sie, wenn sie zu Ämtern gelangten (ὁπότε γὰρ ἐπ᾽ ἀρχὰς παρέλθοιεν), widerwillig und notgedrungen dem beipflichteten, was der Pharisäer sagt, weil sie sonst vom Volk nicht geduldet würden“ (Ant  18,17).

Warum die Sadduzäer mit ihrer „Lehre“ nur bei Angesehenen und Wohlhabenden Akzeptanz fanden, sagt Josephus nicht. Ihre Domäne war Jerusalem 299, wo sie die „Ämter“ (ἀρχαί) ausübten, von denen er spricht, das Amt des Hohepriesters und nachgeordnete Ämter300 . Warum Josephus so vage bleibt („jedes Mal, wenn sie zu Ämtern gelangten“ [ὁπότε + Opt.]), ist rätselhaft 301. Für die Zeit zwischen 6  n.Chr. und Kriegsbeginn nennt Josephus nur einen einzigen Hohepriester ausdrücklich Sadduzäer, den jüngeren Ananus (= Hannas II.), 298 Vgl. Meier, Jew III 401–406; VanderKam, Joshua 394–489, zur priesterlichen Dominanz im Synedrion. 299 Die πρῶτοι (Ant  18,17) sind nach dem Sprachgebrauch des Josephus (siehe oben 1.5.1) Jerusalems Elite. Auch das NT verbindet sie mit der Stadt (Mk  12,18–27 par.; Apg  4,1; 5,17; 23,7 f.); Le Moyne, Sadducéens 334 („pratiquement pas de Sadducéens en dehors de Jérusalem“), zu ihrem sozialen Status ebd. 349 f. („Un groupe aristocratique?“). 300  Blinzler, Prozess 225: Wegen ihres Elitestatus möchte man die Sadduzäer „zuvörderst im Synedrium suchen“. 301  Goodman, Place 143–145, hält die verbreitete Ansicht, die Mehrheit der Hohepriester in den Jahrzehnten vor dem jüdischen Krieg gehörten zur Partei der Sadduzäer, für eine aus Apg 4,1–7; 5,17 f. zu Unrecht abgeleitete Generalisierung.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

der für die Hinrichtung des Jesus-Bruders Jakobus verantwortlich war (Ant  20,199)302 . Er war Sohn des einflussreichen älteren Ananus (= Hannas I.), der nicht nur selbst lange Zeit das Amt innehatte (6–15  n.Chr.), sondern auch nach seiner Absetzung im Hintergrund mitregierte. Weil weitere Mitglieder seiner Familie, insgesamt fünf Söhne und sein Schwiegersohn Kajaphas, lange Zeit das hohepriesterliche Amt ausübten (Jos, Ant  18,198303), ist anzunehmen, dass die Familie insgesamt der sadduzäischen Richtung angehörte, auch wenn das Josephus in seiner Reserve gegen sie nicht sagt. Von den insgesamt 18 Hohepriestern zwischen 6  n.Chr. und Kriegsbeginn waren demnach 7 wahrscheinlich Sadduzäer304. Das Bild, das Apg  4,1 und 5,17 von der Jerusalemer Verwaltung in den 30er Jahren vermitteln, dürfte somit grundsätzlich zutreffen 305. Zugunsten der Annahme, dass die Sadduzäer insbesondere mit der Gruppe der hohen Priester (auch mit den alten Familien Jerusalems) verquickt waren, sprechen Entstehungsgeschichte und ihre Bezeichnung als saddȗqîn bzw. Σαδδουκαῖοι306: Die Bezeichnung ist wahrscheinlich vom Namen des Priester Zadok (‫ )צדוק‬herzuleiten (ARN [A] 5). Dieser diente unter König David in Jerusalem (vgl. 2Sam  8 ,17; 20,25), stellte sich in den Wirren um dessen Nachfolge auf die Seite Salomos (1Kön  1,8.26), salbte diesen (1Kön   1,32–40.44  f.) und stieg unter ihm zum obersten Priester auf (1Kön   2,35; vgl. 1Chr  29,22). Die Priester, die in Jerusalem den Altardienst versahen, hießen „Söhne Zadoks“ (Ez  40,45 f.; 43,19; 44,15–31; 48,11). Nach dem Exil verwalteten sie das hohepriesterliche Amt bis zur Krise, die Antiochus IV. (175–164  v.Chr.) mit seiner Hellenisierungspolitik auslöste. Die nur im hebr. Text des Sirachbuchs erhaltene Litanei Sir  51,12a–o mit dem Aufruf V.12i: „Dankt dem, der sich aus den Söhnen Zadoks je einen zum Priester auserwählt!“ stammt aus den Jahren vor dem definitiven Ende des zadokidischen Hohepriestertums (2Makk  3 f.) und dessen Übernahme durch die Hasmonäer. Nur wenige „Söhne Zadoks“ überstanden die Katastrophe und den Umbruch, der folgte, aber ihre Tradition brach nicht völlig ab, sondern lebte in neuer Form weiter. Aus dem Umfeld der Priesterschaft und der alten Familien Jerusalems entstanden die Sadduzäer. Sie sahen sich als legitime Erben der „Söhne Zadoks“ und traten zunächst in Opposition zu den Hasmonäern, bis Hyrkan I. sich mit ihnen arrangierte 302  Siehe unten unter (c). – Bell  2 ,451 erwähnt einen „Ananias, Sohn des Saduk“, den Brown, Death I 351, ohne ersichtlichen Grund mit Hannas I. identifiziert. 303  Ant  18,198: „Dieser ältere Ananus [= Hannas] soll einer der glücklichsten Menschen gewesen sein. Er hatte nämlich fünf Söhne, die alle dem Herrn als Hohepriester dienten, nachdem er auch selbst diese Würde lange Zeit hindurch bekleidet hatte, und so etwas war noch bei keinem unserer Hohepriester der Fall der gewesen.“ Die Namen der fünf Söhne lauten: Eleazar (16–17), Jonathan (37), Theophilus (37–41), Matthias (43?) und Ananus II. (62). 304  In Orientierung an der Liste der Hohepriester bei Schürer, History II  230–232; Meier, Jew III  397. – Aufschlussreich sind die Angaben des Josephus zur Gesandtschaft, die aus Jerusalem zu ihm nach Galiläa kam, als er zu Kriegsbeginn Kommandeur dort war: „Von diesen [= Männer von besonderer Herkunft und ebensolcher Bildung] waren zwei Laien, Jonatan und Ḥananja, den Pharisäern zugehörig, der dritte, Joʿazar, aus priesterlichem Geschlecht, gleichfalls Pharisäer, Šimʿon schließlich, von den Hohepriestern, der Jüngste von ihnen“ (Vit  196 f.). Während Josephus sich befleißigt sieht, Joʿazar aus priesterlichem Geschlecht ausdrücklich als Pharisäer zu kennzeichnen (wohl deshalb, weil dies nicht die Regel war), macht er bei Šimʿon, von dem Gleiches gilt, keine Angabe zu dessen Parteizugehörigkeit. Dass er ein Sadduzäer war, setzt er voraus. 305  Meier, Jew III  398. 306  Zum Folgenden Weiß, Art. Sadduzäer 590–592; Meier, Jew III 392 f.

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und ihnen zu politischem Einfluss verhalf. In Folge entwickelten sie sich zu einer religiösen und politischen Partei, die nach langem Auf und Ab in der Geschichte Judäas307 sich ihren Einfluss in Jerusalem während der ersten Jahrzehnte der Präfektur – das zeigt die Dynastie des Hannas – zu sichern wusste.

Nach der Zeitenwende waren die Sadduzäer eine Partei religiösen und politischen Zuschnitts. Sie rekrutierten sich aus den „aristokratischen“ Familien und der Priesterschaft Jerusalems und waren eng mit dem Tempel und dem hohepriesterlichen Amt verbunden 308 . Das erklärt zu Genüge, warum sie über Rückhalt in der Elite Jerusalems verfügten, aber nicht in der allgemeinen Bevölkerung und nicht auf dem Land. (b) Nach Josephus unterscheiden sich die Sadduzäer von anderen jüdischen Gruppierungen, insbesondere den Pharisäern, durch ihre Einstellung zur Tora: „Für jetzt will ich nur noch bemerken, dass die Pharisäer aus der Überlieferung der Väter (ἐκ πατέρων διαδοχῆς) dem Volk gewisse Gebote übergeben haben (νόμιμά τινα παρέδοσαν τῷ δήμῳ), welche in den Gesetzen des Mose nicht aufgeschrieben sind (ἅπερ οὐκ ἀναγέγραπται ἐν τοῖς Μωυσέως νόμοις). Deshalb verwirft (ἐκβάλλει) die Richtung der Sadduzäer diese Gebote und behauptet: Jene Gebote, die geschrieben sind, müssen gehalten werden (ἐκεῖνα δεῖν ἡγεῖσθαι νόμιμα τὰ γεγραμμένα), aber die aus der Überlieferung der Väter (stammenden müssen) nicht bewahrt werden (τὰ δ‘ ἐκ παραδόσεως τῶν πατέρων μὴ τηρεῖν) […]“ (Ant  13,297)309.

Danach halten die Sadduzäer nur die Gesetze für verbindlich, die in der Tora des Mose geschrieben sind, was über diese hinaus geht wie die sog. „Paradosis der Väter“ (die später sogenannte mündliche Tora vom Berg Sinai), dagegen nicht 310 . Das Beharren der Sadduzäer auf der schriftlichen Tora bestätigt Josephus in seiner dritten Darstellung der jüdischen „Schulen“ in Ant  18,16: „Die Lehre (ὁ λόγος) der Sadduzäer lässt die Seele mit dem Körper zugrunde gehen und sie beanspruchen die Beachtung (φυλακῇ) von nichts anderem als (die) der Gesetze (τῶν νόμων). Mit den Lehrern der Weisheit (τοὺς διδασκάλους σοφίας), die sie treffen, zu disputieren (ἀμφιλογεῖν), halten sie für eine Tugend (ἀρετὴν ἀριθμοῦσιν)“. 307 Unter der Königin Salome Alexandra büßten sie ihren Einfluss ein (Jos, Bell   1,107–114; Ant  13,410–432). Herodes berief keine Hohepriester mehr aus dem Geschlecht der Hasmonäer (Jos, Ant  20,247–249) und war auch den Sadduzäern gegenüber reserviert, was der Umstand zeigt, dass Pharisäer Zugang zu seinem Hof erhielten. Er schuf eine neue Elite hohepriesterlicher Familien, abhängig von seiner Gunst. 308  Vit  197 zufolge (siehe oben) konnten Leute „aus priesterlichem Geschlecht“ auch der pharisäischen Partei angehören. 309  Josephus bietet diese Erklärung anlässlich seines Berichtes vom politischen Seitenwechsel des Hyrkan. In den Ant geht er hier zum ersten Mal auf das Tora-Verständnis der Sadduzäer ein. In Ant  13,171–173 (par. Bell  2,119–166), seiner Vorstellung der religiösen Gruppierungen, äußert er sich diesbezüglich nur zu den Pharisäern: Sie stünden „im Ruf gewissenhafter Gesetzesauslegung (οἱ μετὰ ἀκριβείας δοκοῦντες ἐξηγεῖσθαι τὰ νόμιμα)“ (Bell  2,162), ihr Markenzeichen sei die „Genauigkeit“ (ἀκριβεία) (vgl. Bell  1,110; Ant  17,41; Vit  191; Apg  22,3). Stemberger, Pharisäer 79; Theißen, Sadduzäismus 230–232. 310  Bemerkenswert ist die Differenz zwischen der wertenden Wortwahl des Josephus (die Sadduzäer „verwerfen“ [ἐκβάλλειν] diese Gebote) und dem, was er sie (fiktiv) selbst sagen lässt: Diese Gebote müssen „nicht bewahrt werden“. – Zur Ablehnung nichtbiblischer Rechtsbestimmungen durch die Sadduzäer vgl. etwa bSan  33b; bHor  4a: Blinzler, Synedrium 58 Anm.  15a.

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Die „Lehre“ der Sadduzäer, die nur „die Gesetze (des Mose)“ als verbindlich anerkennt, wird hier zwar nicht wie in Ant  13 der pharisäischen Wertschätzung für die „Überlieferung der Väter“ grundsätzlich gegenübergestellt, doch unmittelbar zuvor spricht Josephus von pharisäischen Traditionen zu „allen möglichen gottesdienstlichen Verrichtungen, Gebeten und Opfern“ (ὁπόσα θεῖα εὐχῶν τε ἔχεται καὶ ἱερῶν ποιήσεως), denen das breite Volk folgt311, ohne zu sagen, wie sich die Sadduzäer dazu verhalten. Gerade dies würde aber interessieren, weil der Kult ihre Domäne ist. Sollten sie anders als die Pharisäer ohne Auslegungstraditionen ausgekommen sein? Waren sie mit ihrem von Josephus behaupteten rigorosen Rückzug auf das, „was geschrieben steht“, gar antike Vorreiter des „Sola-Scriptura“? Fixe Kanon-Grenzen gab es in der Zeit vom 2. bis ins 1.  Jh. hinein nicht. Die Hochschätzung der Mose-Tora durch die Sadduzäer bedeutet deshalb nicht, dass sie „die Propheten“ und „Schriften“ – die Teile des späteren Kanons – abgelehnt hätten 312 . Wohl werden sie die Mose-Tora mit besonderer Autorität versehen haben, worin sie sich von den späteren Rabbinen aber nicht grundsätzlich unterschieden. Die Tora war für sie Gottes Weisung zum Leben und als solche unbedingt verbindlich. Gegen die Annahme, sie hätten Auslegungstraditionen überhaupt abgelehnt, sprechen grundsätzliche Erwägungen: Die Tora zum priesterlichen Dienst im Zeltheiligtum nennt zwar Rahmenbedingungen, deren Umsetzung in der Liturgie des Zweiten Tempels bedurfte aber eigener Traditionsbildung313. Josephus selbst lässt in Ant  18,17 die Existenz von Regeln durchscheinen, die die Sadduzäer wegen Rücksichtnahme auf das Volk zurückstellen mussten (siehe unten)314. Auch eine kritische Analyse der Mischna weist Spuren von Streitgesprächen zwischen den Sadduzäern und Pharisäern auf, die sie in die Zeit vor der Tempelzerstörung führen und die Existenz sadduzäischer Traditionen (Halakoth) erweisen 315. Sie betreffen Reinheitsfragen, Zivil-, Ehe- und Strafrecht und zeigen, dass die Sadduzäer keineswegs, wie Josephus in seinen pauschalen Urteilen über die sadduzäische Strafpraxis behauptet (siehe unten), im Unterschied zu den Pharisäern durchweg rigorose Positionen vertraten. Sie konnten pharisäische Bestimmungen verwerfen, die über die Tora hinausgingen, aber positionierten sich auch in Fragen, welche der Tora unbe311  Ant  18,15; genauer: die Menschen folgten der „Anleitung jener (sc. der Pharisäer)“ (ἐξηγήσει τῇ ἐκείνων). 312  Meier, Jew III  400, nennt diese seit Origenes und Hieronymus übliche Sicht der Sadduzäer „simply anachronistic […]. Nor is there any indication that the Sadducees in principle rejected most of the books that eventually entered the Jewish canon as the Prophets and the Writings“. 313  Ebd.: „Thus, at least those Sadducees who were officiating priests (a fortiori, the high priest) had in effect their own ‚traditions of the fathers‘, guiding their conduct of the temple liturgy“. Gleiches gelte für den liturgischen Kalender, der in der Frühzeit des 2. Tempels noch ein 364 Tage umfassendes Sonnenjahr voraussetzte, ab der 1. Hälfte des 2.  Jh.  v.Chr. aber an einem modifizierten Mondjahr. Stemberger, Pharisäer 77–82 („Tradition und Schriftauslegung“). 314  Meier, Jew III 401: Auch die rabbinische Literatur bewahrte, wenn auch nur in legendarischen Anekdoten die Erinnerung daran, „that the Sadducees had their own liturgical traditions, which were at variance with the Pharisees’.“ 315  Ebd. 401–405, mit Verweis u. a. auf mJad  4,6–8; mEr  6 ,1.2; mMak  1,6.

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kannt waren. Auch wenn über sadduzäische Traditionen kaum etwas bekannt ist, ihre Existenz selbst ist nicht fraglich. Nur wie erklärt sich die von Josephus konstatierte Differenz zwischen beiden Richtungen? Zwei Antworten gibt es316: Das Konzept einer eigenständigen „Überlieferung der Väter“ war offenkundig ein spezifisches Markenzeichen pharisäischer Theologie, wie der älteste Evangelist kurz nach 70  n.Chr. bestätigt (Mk  7,3.5.8; vgl. Mt  15,2f.6). Die Pharisäer werden sich ausdrücklich zur Relevanz der Tradition für die Erkundung des Gotteswillens neben der Tora bekannt haben. Dazu entwickelten sie im Lauf der Zeit Auslegungsregeln und versuchten ihre Traditionen nicht nur in ihren eigenen Kreisen, sondern im ganzen Volk rechtskräftig umzusetzen. Johannes Hyrkan (135/134–104  v.Chr.) bot ihnen dazu die politische Bühne (Ant  13,296). Salome Alexandra (76–67  v.Chr.) eröffnete ihnen nach ihrer Ausbootung durch die Sadduzäer erneut Gestaltungsmöglichkeiten (Ant  13,408). Als religiöse Gruppierung werden sie in den Jahrzehnten vor der Tempelzerstörung gleichfalls für ihr Ideal der Heiligung des Volks gemäß ihren Halakoth geworben haben 317. Auf der anderen Seite beharrten die Sadduzäer wohl auf der Normativität der Tora in der Überzeugung, dass ihre eigenen Traditionen in ihr verankert oder aus ihr umstandslos abzuleiten seien. Josephus wird die Differenzen zum Schulstreit hochstilisiert haben. Dabei ging es viel eher um konkrete Traditionen, damit um Konkurrenz und Einfluss. Eine zusätzliche Erklärung hebt auf den jeweils beanspruchten Geltungsbereich ab. Die Pharisäer wollten ihre „Überlieferung der Väter“ für alle im Land verpflichtend machen. Ihr Ideal der Heiligung kann weithin als Transfer priesterlicher Reinheitsvorstellungen in das alltägliche Leben (appliziert etwa auf eine rituell reine Mahlpraxis) verstanden werden. Die Sadduzäer dürften mit ihren spezifischen (Jerusalemer) Traditionen einen solchen Anspruch nicht verbunden haben. Vielleicht widersetzten sie sich überhaupt dem Versuch, partikulare Traditionen für normativ zu erklären. „It was perhaps in this limited sense that they held to ,Scripture alone‘. But this hardly makes the Sadducees wooden literalists or fundamentalists“318 .

(c) Von einem zur Zeit Jesu in Geltung stehenden sadduzäischen Strafrecht zeigt sich Josef Blinzler überzeugt. In der Annahme, dass das älteste Evangelium vom Verfahren des Synedrions gegen Jesus historisch im Wesentlichen zutreffend berichtet, führte er die Abweichungen vom späteren rabbinisch-pharisäisch geprägten Prozessrecht der Mischna auf das postulierte sadduzäische Recht zurück. Als Rechtsquelle für das Synedrion vor 70  n.Chr. falle die Mischna aus319. Weil das Gre316 

Vgl. ebd. 405 f. Mk  7,3: Die Konvention des rituellen Händewaschens sei – wie die Bewahrung der „Überlieferung der Alten“ – Sache „der Pharisäer und aller Juden“. 318  Meier, Jew III 406. So Goodman, Place 147: „Far from being conservatives (as the Pharisees were), Sadducees were radical biblical fundamentalists“; vgl. Baumbach, Konservativismus; Schürer, History II 411; Goodman, Place 146, halt die Rede vom „Konservativismus“ für ungeeignet, „since the Sadducees took particular care to deny the validity of ancestral traditions“. 319  Blinzler, Prozess 216–229 („Exkurs IX: Zur Frage der Geltung des mischnischen Strafrechts in der Zeit Jesu“); ebenso E. Lohse., Art. συνέδριον 861 Anm.  18: „Der Mischnatraktat Sanh(edrin) zeichnet das Bild dieser Behörde in Jabne, nicht des Synedriums in Jerusalem. Es ist daher nicht möglich, die Regeln von Sanh ohne weiteres als auch in der Zeit vor 70 n. Chr. gültig anzusehen“ (vgl. ders., Geschichte 81). – Sadduzäische Überlieferungen in der Mischna identifiziert Blinzler anhand folgender Kriterien: (1) „Jene Bestimmungen der Mischna, die sich bereits im AT finden, sind von den Sadduzäern anerkannt worden, nicht dagegen jene, die keine alttestamentliche Grundlage haben“, (2) der „Grundsatz, im Strafverfahren keinerlei Milde walten zu lassen“ (Synhedrium 59): gemessen daran seien folgende Vorschriften sadduzäisch: „die Vor317  Vgl.

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mium mehrheitlich sadduzäisch gewesen sei, habe es nach deren Rechtsauffassung verfahren. Während die Mischna Gerichtsverhandlungen am Sabbat wie an Festund Rüsttagen untersagt, Kapitalprozesse nur am Tag und ein Todesurteil nicht am ersten Verhandlungstag, sondern erst in einer weiteren Sitzung am folgenden Tag gestattet 320 , entspreche das hierin vom mischnischen Recht abweichende Verfahren gegen Jesus sadduzäischem Recht. „Alles, was man bisher im Prozess Jesu im Hinblick auf die Mischna als Irregularität ansprechen wollte, stand im vollen Einklang mit dem damals geltenden Recht, das ein sadduzä­ isches Recht war und die pharisäisch-humanitären und im Alten Testament nicht begründeten Besonderheiten der Mischna nicht kannte oder nicht anerkannte“321. Blinzler benutzt die älteste christliche Darstellung des Verfahrens gegen Jesus als historische Quelle, wie er umgekehrt mit dem von ihm postulierten strengen, ja inhumanen sadduzäischen Recht deren Historizität weiter abzusichern sucht. Abgesehen vom Zirkelschluss scheitert diese Argumentation daran, dass unabhängige jüdische Belege für die postulierte sadduzäische Verschärfung des Strafrechts zur Zeit Jesu fehlen 322 . Die Historizität der mkn. Darstellung ist alles andere als gesichert.

Allerdings kann Blinzler sich mit seiner These auf Josephus stützen. In dessen Bericht vom politischen Seitenwechsel Hyrkans von den Pharisäern zu den Sadduzäern heißt es: Der Ethnarch habe in der Annahme, dass Eleazar ihn zur Aufgabe seines hohepriesterlichen Amtes im Namen aller Pharisäer aufgefordert hätte, diese auf die Probe gestellt, indem er sie fragte, welcher Strafe Eleazar zuzuführen sei. Als die Pharisäer für Milde plädierten (Eleazar „verdiene gegeißelt und gefesselt zu werden“), habe Hyrkan darin den Beweis der Richtigkeit seiner Annahme gesehen. schrift, dass der Ohrenzeuge einer Gotteslästerung die Kleider zu zerreißen hat (Sanh  V II 5b; alttestamentliche Grundlage: IV  Reg  18,37; 19,1.4), die Vorschrift, dass Schuldsprechung in Kapitalprozessen die übereinstimmende Aussage von mindestens zwei Zeugen erfordert (Sanh  I V 1d; alttestamentliche Grundlage: Dtn  17,6; 19,15; Num  35,30), die Vorschrift, dass einem zum Tod Verurteilten ein Betäubungstrank zu reichen sei [b.  Sanh.  43a (Baraita!); alttestamentliche Grundlage: Prov  31,6]“ (ebd. 60). 320 Zu den Unterschieden zwischen dem mischnischen Prozessrecht und Mk   15,55–64 vgl. Brown, Death I 358 f.; Theißen/Merz, Jesus 403 f. 321  Blinzler, Prozess 217. E. Lohse, Geschichte 82: „[O]hne jeden Zweifel ist das Feiertagsgebot in der Zeit Jesu noch strenger gehandhabt worden als später zur Zeit der Mischna“; ebd. 83: „[E]s bleibt der Widerspruch, dass die Darstellung der Evangelisten mit dem Feiertagsgebot des Gesetzes nicht zusammenstimmen kann“ (dazu noch eine Sitzung in der hochheiligen Nacht des Paschafestes). 322  Josephus bietet Belege für die Gültigkeit des Usus, drohende Todesurteile nicht am ersten Verhandlungstag zu fällen, für die Zeit vor 70  n.Chr.: (1) Ant  14,175 zufolge stimmte das Synedrion einem entsprechenden Antrag des Hyrkan zu, der die erfolgte Vertagung dazu nutzte, dem angeklagten Herodes zu ermöglichen, sich durch Flucht seiner Verurteilung zu entziehen. (2) Ant  15,358 erzählt von der Klage der Gadarener gegen Herodes, die für den zweiten Tag ihre eigene Verurteilung befürchteten und sich „aus Furcht vor Folterqualen“ selbst töteten. (3) Ant  17,89– 93 berichtet vom Tribunal über Antipater, das am zweiten Tag in seine entscheidende Phase – die Verhängung des Todesurteils über ihn – eintrat. Zu Verhandlungen des Nachts vgl. noch Apg  4,3: „und sie [sc. die Priester, der Tempelhauptmann und die Sadduzäer] legten Hand an sie [sc. die Apostel] und hielten sie bis zum nächsten Morgen in Haft. Es war nämlich schon Abend“; vgl. auch Apg  22,30.

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„Wegen einer Lästerung (λοιδορίας ἕνεκα) schien er ihnen (sc. Eleazar den Pharisäern) nämlich noch nicht den Tod verdient zu haben, wie sie ja von Natur aus mild im Bestrafen sind (ἄλλως τε καὶ φύσει πρὸς τὰς κολάσεις ἐπιεικῶς ἔχουσιν οἱ Φαρισαῖοι“ (Ant  13,294).

Josephus fügt hinzu, die Pharisäer seien (im Unterschied zu den Sadduzäern) bei „der großen Menge des Volkes“ beliebt gewesen (Ant  13, 296). Zu Ananus (= Hannas II.), der Jakobus hat steinigen lassen, führt er aus: „Der jüngere Ananus jedoch, dessen Ernennung zum Hohepriester ich soeben erwähnt habe, war von heftiger und verwegener Gemütsart (θρασὺς ἦν τὸν τρόπον καὶ τολμητὴς διαφερόντως) und gehörte zur Sekte der Sadduzäer, die, wie schon früher bemerkt 323, bei Gerichtsurteilen strenger324 sind als alle anderen Juden (οἵπερ εἰσὶ περὶ τὰς κρίσεις ὠμοὶ παρὰ πάντας τοὺς Ἰουδαίους)“ (Ant  20,199).

Josephus vergleicht die Sadduzäer hier nicht mit den Pharisäern, sondern mit „allen Juden“, womit er einen Superlativ kreiert: Sie sind die strengsten Richter im ganzen Land325. Wieweit ein solches, von der Aversion des Josephus gegen sie nicht ungetrübtes Urteil auch auf das von ihnen vertretene Recht schließen lässt, ist fraglich. Die wenigen möglicherweise aus den tannaitischen Schrifttum zu eruierenden sadduzäischen Halakōth lassen keine eindeutige Linie im Sinne einer Gesetzesverschärfung erkennen. Die These Blinzlers von einem sadduzäischen Recht scheint zwar grundsätzlich plausibel326 , doch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sadduzäische Rechtsbestimmungen so gut wie unbekannt 327. Die Fallbeispiele, die nach Blinzler sadduzäische Kapitalgerichtsbarkeit erweisen 328 , halten entweder einer Überprüfung nicht stand oder können nicht generalisiert werden 329. „[T]he 323  Die Bezugsstelle ist unklar, wahrscheinlich ist es Ant  13,293–298, wo es heißt, die Sadduzäer verträten „die entgegengesetzten Anschauungen wie die Pharisäer (τὴν ἐναντίαν τοῖς Φαρισαίοις προαίρεσιν ἔχουσιν)“ (293); das lässt sich dann auch auf das anschließend behandelte Thema Milde vs. Strenge im Gericht beziehen. 324  ὠμός = harsh, rough, cruel: Liddel-Scott, Lexicon 2033 (Soph, Ai  5 48: ὠμοῖς … ἐν νόμοις πατρός); Clementz übersetzt das Adjektiv mit einem Hendiadyoin („härter und liebloser“) und verstärkt damit die negative Wertung. – Michel/Bauernfeind, Josephus I 440 Anm.  92, zu Bell  2,166 („bei den Sadduzäern ist auch untereinander das Benehmen gröber, und die Verkehrsformen mit den Volksgenossen schroff wie mit Fremden“): „Vielleicht war für das Urteil des Josephus auch die sadduzäische Strenge im Kriminalrecht bestimmend (vgl. Ant  13,173; 20,199)“. Ant  13,173 lässt nichts über ihr Verhalten im Gerichtswesen verlauten, sondern erklärt lediglich, dass „wir“ den Sadduzäern zufolge, die jegliche Prädestinationslehre ablehnen, „Urheber [unseres] Glückes seien“, wie „wir uns auch das Unglück durch unseren eigenen Unverstand zuzögen (τῶν ἀγαθῶν αἰτίους ἡμᾶς γινομένους καὶ τὰ χείρω παρὰ τὴν ἡμετέραν ἀβουλίαν λαμβάνοντας)“ (vgl. Bell 2,164–166). Der Verweis auf die Lehre der Sadduzäer vom freien Willen soll wohl ihre mutmaßliche Strenge im Gericht erklären: Weil jeder frei zwischen Gut und Bose wählen könne, müsse ein jeder auch für seine eigenen Taten büßen. Josephus selbst sagt dies aber nicht. 325  Zuweilen wird auch auf PsSal  4,2 erwiesen: „hart in Worten, die Sünder im Gericht zu verurteilen“, aber der Bezug auf die Sadduzäer ist keineswegs sicher: Holm-Nielsen, Psalmen 69. 326 E. Lohse, Geschichte 81 f.; ebenso Burkill, Trial 3 f. 327  Brown, Death I 352: „we know little or nothing of the postbiblical Sadducee customs”. Vgl. auch Kirner, Strafgewalt 164. 328  Blinzler, Synedrium 55–57. 329  Brown, Death I 368–371.

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stereotype of the Sadducees as rigorists, at least in matters of criminal justice, is rendered questionable by a tradition in m.Mak. 1:6“330 . Die Polemik des Josephus wird einen wahren Kern enthalten: die Beharrung auf der Tora und ihrem Recht, was das Markenzeichen der Sadduzäer gewesen zu sein scheint. Für die Rekonstruktion des mutmaßlich von den hohen Priestern betriebenen Vorgehens gegen Jesus bedeutet das: Es darf nicht lediglich nach ihren politisch-pragmatischen Gründen seiner Verhaftung und Überstellung an den Präfekten gefragt werden, sondern auch, auf welche Weisung der Tora sie ihre Anklage gegen Jesus stützten. Nur unter Berücksichtigung dieser theologischen Dimension dürfte ihrem Selbstverständnis Gerechtigkeit widerfahren. (d) Josephus zufolge unterscheiden vor allem zwei Lehren die Sadduzäer von den anderen jüdischen „Schulen“: ihre Ablehnung der Vorstellung, ein „Verhängnis“ (εἱμαρμένη) walte über dem Menschen, dieser sei ohne „freien Willen“ (Bell  2,164 f.; Ant  13,173), und ihre Überzeugung, „die Seele“ ginge im Tod „mit dem Körper zugrunde“ (Ant  18,16). Was Josephus hier in hellenistischer Terminologie sagt 331, klingt in Mk  12,18 par. (vgl. Apg  23,8), so: „Sie sagen, dass es eine Auferstehung nicht gebe“. Charakteristisch für sie scheint eine Frömmigkeit der Diesseitigkeit gewesen zu sein, die ihnen in der Forschung das Etikett einer „Ideologie der totalen Immanenz“332 einbrachte. Allerdings ist Vorsicht angezeigt. Wenn sie spezifisch eschatologische Theologumena wie das der „Auferstehung der Toten“ oder eines (Weiter-)Lebens (der „Seele“) nach dem Tod ablehnten, müssen sie theologischen Zukunftsvorstellungen nicht überhaupt eine Absage erteilt haben 333. Weil bereits die Tora auf die dauernde Präsenz Gottes im Heiligtum angelegt ist und im Mittelpunkt sadduzäischer Theologie Tempel, Kult und Land stehen, dessen Entsühnung gemäß der Tora das Heiligtum gewährleistet, liegt es nahe, dass ihre Vertreter eine innerweltliche Eschatologie kannten, die ihrer Tempeltheologie entsprach 334. John P. Meier vermutet: „[S]ome, if not all, Sadducees cultivated an eschatological hope 330  Meier, Jew III 403; vgl. Le Moyne, Sadducéen 239 („Les Sadducéens, plus sévères que les Pharisiens?“). 331  Damit stempelt er die Sadduzäer zu Epikureern, zu diesen vgl. Ant  10,278. Stemberger, Pharisäer 61, betont ihre Nähe zur älteren Weisheit; vgl. Sir  15,11–14: „Sag nicht: Meine Sünde kommt von Gott. Denn was er hasst, tut er nicht. Sag nicht: Er hat mich zu Fall gebracht […]. Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen“; ebd. 63: Die Abstemplung der Sadduzäer zu Epikureern gehöre „in das Reich der Polemik“. 332 K. Müller, Sadduzäer 23. 333  Stemberger, Pharisäer 63, sieht die Alternative, dass sie entweder der traditionelleren biblischen Auffassung von der Scheol anhingen, verbunden mit der Skepsis, „was man konkret vom Leben nach dem Tod behaupten könnte“, oder die These der Unsterblichkeit der Seele vertraten. Waren sie also „konservative Anhänger des altbiblischen Glaubens“ oder „assimilierte Hellenisten“? Ersteres scheint ihm wahrscheinlicher zu sein. 334 Wenn Josephus in seinen Stenogrammen zu den jüdischen „Schulen“ zwar die Themen Schicksal und freier Wille, Lohn und Strafe und Unsterblichkeit behandelt, Tempel, Kult und Priesterschaft aber ausspart, waren diese Themen zwischen den Parteien vielleicht nicht kontrovers. Die Tempelfrömmigkeit prägte Pharisäer und Sadduzäer. Auch in seiner Darstellung der Essener erwähnt Josephus Priester nicht, deren Existenz aber die Qumran-Schriften belegen: vgl. Le Moyne, Sadducées 44.

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for the exaltation of Mt. Zion in the last days à la Isa 2:1–5 or Isa 60:1–22: all the Gentiles would come bearing gifts to the temple, as indeed some Gentiles already did in the 1st century A.D.“335. Ihre Fokussierung auf Jerusalem und den Tempel führte sie zur Ablehnung prophetischer und apokalyptisch-zelotischer Utopien, die mit einem radikalen Umsturz der gegenwärtigen Zustände rechneten. Heil erwarteten sie nicht von einem zukünftigen Äon, erst recht nicht von einem gewalttätig herbeizuführenden Gottesreich, sondern innergeschichtlich in einem gemäß der Tora hier und jetzt glückenden Leben bzw. in einer glanzvollen Zukunft des Jerusalemer Heiligtums als der Mitte einer eschatologisch befriedeten Erde. Von daher ist es nachvollziehbar, wenn ihr politisches Bestreben auf die „Erhaltung des status quo“336 des Tempelstaats gerichtet war und sie Bewegungen wie der jesuanischen, die diesen status quo zu gefährden drohten, im Keim zu ersticken suchten. (2) Umstritten ist, welche Rolle die Pharisäer zur Zeit Jesu in der Selbstverwaltung Jerusalems spielten. Als Salome Alexandra (76–67  v.Chr.) zwischen den schwer zerstrittenen sadduzäisch-priesterlichen und pharisäischen Kreisen einen Ausgleich herbeiführen konnte, gewannen letztere auf längere Zeit Einfluss auf das Jerusalemer Gremium (Bell  1,110–113; Ant  13,408 f.). Herodes und seiner Politik standen viele Pharisäer distanziert gegenüber337. Unklar ist die Situation in der Zeit der direkten Herrschaft der Römer338 . Josephus bietet nur zwei Zeugnisse, die auf Jerusalem verweisen: Im schon erwähnten Text zu den jüdischen Schulen, der den ersten Jahren unter Coponius (6–8  n.Chr.) zugeordnet ist, heißt es: Von den Sadduzäern werde „sozusagen nichts zustande gebracht, da sie, wenn sie zu Ämtern gelangten (ὁπότε γὰρ ἐπ᾽ ἀρχὰς παρέλθοιεν), widerwillig und notgedrungen dem beipflichteten, was der Pharisäer sage, weil sie sonst vom Volk nicht geduldet würden“ (Ant  18,17). Dies wird gerne als Beleg für den hohen Einfluss der Pharisäer auf Entscheidungen des Synedrions gewertet. Blinzler zufolge bezieht sich diese Bemerkung allerdings nicht auf eine „Vormachtstellung“ der Pharisäer im „synedrialen Gerichtswesen“, sondern „ganz offensichtlich nur auf Amtshandlungen kultischer Art“, von denen zuvor in 18,15 die Rede war339. Die zweite Notiz führt unmittelbar in die Zeit, als mit der Frage, ob die Opfer für den Kaiser im Tempel eingestellt werden sollten oder nicht (Bell  2,410), über Krieg oder Frieden entschieden wurde. Wenn Josephus in dieser Situation „die einflussreichsten Bürger mit den hohen Priestern und den bedeutendsten Pharisäern zusammentreten“ lässt, „um […] über die Lage des Staatswesens zu beraten“ (411), wird die ausnahmsweise Nennung auch der Pharisäer mit der kritischen Situation zusammenhängen; sie wirft Licht auch auf die Zusammensetzung des beratenden Gremiums in den Jahrzehnten zuvor. Pharisäer dürften auch in anderen Situationen mit zu Rate gezogen worden sein 340 . 335 

Meier, Jew III 407. K. Müller, Sadduzäer 21. 337  Stemberger, Pharisäer 88–97. 338  Goodblatt, Place 12–30. 339  Blinzler, Synedrium 63; zu Ant  18,15 siehe oben unter (1) (d). 340  Stemberger, Pharisäer 99: „Josephus erzählt, dass die führenden Pharisäer sich vergeblich für eine friedliche Lösung einsetzten, andererseits sind dann Pharisäer auch prominent in der Aufstandsführung vertreten. Sie hatten wohl keine einheitliche Linie“. Bell  4,159 nennt noch ei336 

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Das Neue Testament lässt kaum erkennen, welchen Einfluss die Pharisäer in den Jahrzehnten der Präfektur vor Kriegsausbruch in der Jerusalemer Selbstverwaltung tatsächlich besaßen. Unter den prominenten Pharisäern, die nach Johannes angeblich dem Synedrion angehörten, ist ein Nikodemus, dessen tatsächliche Rolle allerdings unbekannt ist341. „Ein Pharisäer namens Gamaliël, ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer“ (Apg  5,34), besitzt nach der rhetorisch stilisierten Darstellung von Apg  5,34–40 eine große Autorität im Synedrion. Seinem Rat wird widerspruchslos gefolgt342. Apg  23,6 zufolge setzt Paulus sein Wissen darum, „dass der eine Teil“ des Synedrions „zu den Sadduzäern, der andere zu den Pharisäern gehörte“, rhetorisch geschickt zu Spaltung des Gremiums ein343. Die alte Passionserzählung weiß von einer Beteiligung von Pharisäern am Vorgehen gegen Jesus nichts. 1.5.5 Der Hohepriester und das ius capitis zur Zeit der römischen Statthalter Zwei gegensätzliche Positionen bestimmen die Forschung344: (A) Die Römer hatten sich die Kapitalgerichtsbarkeit vorbehalten und dem Hohepriester entzogen. Ausgenommen war der Fall, dass ein Nicht-Jude die Tempelschranken passierte; ihn konnte der Hohepriester mit dem Tod bestrafen. Position A wird in zwei Varianten vertreten: (a) Der Hohepriester besaß zwar „das Recht, Todesurteile auszusprechen, aber nicht, sie zu vollstrecken“345. (b) Er durfte sie weder fällen noch vollstrecken 346 .

(B) Bei todeswürdigem Vergehen gegen die Tora besaß der Hohepriester die Kapitalgerichtsbarkeit347. Tatsächlich fällte das Synedrion „unter römischer Herrschaft […] nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig Todesurteile“ und vollstreckte sie selbst348 . Zugunsten der Position A, die heute die Mehrheitsmeinung ist, sprechen die Rahmenbedingungen römischer Strafpraxis in den Provinzen, von denen Judäa keine Ausnahme machte (vgl. 1.3.3). Josephus und der vierte Evangelist, die beide wenige Jahrzehnte nach dem Ende des Tempelstaats schreiben, stützen sie, Jo­ sephus mit der Notiz Bell  2,117349, Johannes, wenn er die jüdischen Autoritäten in nen Simeon, Sohn des Gamaliel, der eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben Jerusalems spielte und von Josephus erst Vit  191 als Pharisäer identifiziert wird. 341  Joh  3,1: „einer aus den Pharisäern, ein Oberer der Juden“. Vgl. Theobald, Joh I 246. 342  Gemeint ist Gamaliël I., Apg  2 2,3 zufolge Lehrer des Paulus, Schriftgelehrter der ersten Generation der Tannaiten, der im zweiten Drittel des 1.  Jh.s lebte. 343  Auch dies verdankt sich der Stilisierung des Historikers und besagt nichts über die tatsächlichen Verhältnisse im Gremium. Vgl. noch Apg  23,8.9. 344  Vgl. die Übersichten bei Blinzler, Prozess 229–244 („Exkurs X: Zur Frage der Kompetenz des Synedriums“ [mit der Literatur bis 1969]); Brown, Death II  363–372; Schürer, History II  218–223. 345  Blinzler, Prozess 229.232 f.; ebenso Büchsel, Blutgerichtsbarkeit 202; Benoit, Prozess 122. 346 E. Lohse, Art. συνέδριον 863. 347  Juster, Juifs II 132–142; Lietzmann, Prozess 258–260; P. Winter, Trial 74; Barrett, Joh 514–516. 348  Giovannini/Grzybek, Prozess 22. 349  Vgl. oben in III.  1.2 und 1.3.3.

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Joh  18,31 erklären lässt: „Uns ist es nicht erlaubt, jemanden zu töten (ἡμῖν οὐκ ἔξεστιν ἀποκτεῖναι οὐδένα)“. Gegen den gewöhnlichen Bezug dieser Aussage auf die den Juden entzogene Kapitalgerichtsbarkeit 350 machen Adalberto Giovannini und Erhard Grzybek geltend, dass οὐκ ἔξεστιν im Neuen Testament durchweg ein Verbot der Tora bezeichne und ἀποκτεῖναι töten, nicht hinrichten (= θανατόω) bedeute351. Sie beziehen deshalb V.31 auf das Tötungsverbot des Dekalogs. Auch der Wortwechsel des Präfekten mit den jüdischen Autoritäten zeige, „dass in der Vorstellung des Pilatus der Sanhedrin voll und ganz berechtigt war, Jesus zum Tode zu verurteilen und ihn auch hinzurichten“352 . Nicht grundlos erkläre Pilatus in V.31 (und wiederhole es in 19,6), die jüdischen Autoritäten sollten Jesus „nach ihrem Gesetz richten“. In der Annahme, dass „dem Verfasser des Johannesevangeliums bei der Niederschrift der Gerichtsszene vor Pilatus ein detaillierter Augenzeugenbericht vorlag“353, verkennen die beiden Autoren die Ironie des inszenierten Dialogs. Zwar gehen sie von zutreffenden Beobachtungen zur griechischen Verbsemantik aus, beachten aber nicht den individuellen Sprachgebrauch des Evangelisten. Dieser benutzt ausschließlich ἀποκτείνω354, nie θανατόω, auch nicht in 11,53, wo für die offizielle Sitzung der Ratsmitglieder dieses Verb eigentlich zu erwarten wäre. Stattdessen heißt es: ἐβουλεύσαντο ἵνα ἀποκτείνωσιν αὐτόν. Der Kommentar zu V.31 spricht eine deutliche Sprache: „damit das Wort Jesu erfüllt werde, mit dem er angedeutet hatte, auf welche Todesart er sterben werde (ποίῳ θανάτῳ ἤμελλεν ἀποθνῄσκειν)“ (V.32). Gemeint ist die römische Hinrichtungsart, die Kreuzigung355. Es geht in V.31 nicht um das Tötungsverbot der Tora, sondern konkret um den römischen Vorbehalt des ius capitis, der es der jüdischen Autorität untersagt, jemanden hinzurichten.

Nicht nur Johannes, auch Lukas scheint um diesen römischen Vorbehalt zu wissen. Während seine Quellen (Mk + PElk/joh) von einem Prozess der Jerusalemer Boulē gegen Jesus erzählen, der mit einem Todesurteil endet, wandelt er diesen in ein Vorverhör um und verlagert den Kapitalprozess auf die römische Seite. Damit vermeidet er eine aus seiner Sicht historisch nicht plausible Darstellung. Noch spätere jüdische Quellen bezeugen vereinzelt den römischen Vorbehalt356 . 350  Schnackenburg, Joh III 280 f.; Brown, John II 849 f.; Zumstein, Joh 693; vgl. u. a. auch Bammel, Blutgerichtsbarkeit 72; Theißen-Merz, Jesus 399; Sherwin-White, Society 36 f. 351  Giovannini/Grzybek, Prozess 26; οὐκ ἔξεστιν: Mk  2 ,2; 3,4; 6,18; 10,2; 12,14 etc. – θανατόω passend in Mk  14,55 und Mt  26,59; 27,1 bzw. κρίνειν θανάτου oder κατακρίνειν θανάτῳ (jmd. auf Leben und Tod anklagen bzw. zum Tod verurteilen) in Mk  10,33 und Mt  20,18; zum griechischen Sprachgebrauch, zur LXX und späteren Übersetzungen vgl. ebd. 26–31. 352  Ebd. 24. 353  Ebd. 24. 354  Joh  5,18; 7,1.19.20.25; 8,22.37.40; 11,53; 12,10; 16,2; 18,31. Abgesehen von 12,10 (Lazaraus) und 16,2 (Jesusgläubige) ist stets von der Absicht der jüdischen Autoritäten die Rede, die „Jesus zu töten suchen“. 355  In joh. Bildsprache die „Erhöhung“ ans Kreuz, von der Jesus in 12,32 sprach (vgl. 12,34). – Nicht plausibel Lietzmann, Bemerkungen II 274: „Die Juden dürfen Jesus nicht töten, weil (18,32) er seinen Tod am (römischen) Kreuz geweissagt hat. Man kann noch hinzufügen, dass ja nach 18,31 Pilatus selbst der Meinung ist, die Juden hätten eigene Kompetenz in religiösen Kapitalsachen: Und erst die Juden belehren ihn über seine eigenen Vollmachten! Das ist stilisierte Darstellung, aber nicht irgendwie wägbare historische Relation“. 356  ySan  1,1 (18a,42–44) = 7,2 (24b,48–49): „vierzig Jahre, bevor das Haus (= der Tempel) zerstört wurde, wurden (den Israeliten die Gerichtsbarkeiten über) die Lebensrechtsfälle weggenommen“ (Wewers, Sanhedrin 3.166).

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Die vor allem von Josef Blinzler vertretene Variante der Position A  (a) beruht auf einer Kombination von Mk  14,64 – „sie fällten einstimmig das Urteil: Er ist des Todes schuldig“ – und Joh  18,31, setzt also voraus, dass die mkn. Darstellung historisch ist. Hinzu kommen allgemeine Erwägungen zur jüdischen Autonomie in der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit 357. Weil unabhängige jüdische Zeugnisse fehlen, lässt sich die Frage nicht eindeutig klären. Annahme (b) liegt näher: Die Jerusalemer Boulē durfte Todesurteile weder aussprechen noch vollstrecken. Die unter A erwähnte Ausnahme betrifft die Strafhoheit der Priesteraristokratie über den Tempel, die literarisch wie archäologisch gesichert ist. So ist zur inneren Einfriedung des Tempelbezirks bei Josephus zu lesen: „Nach innen zu befand sich unweit der ersten [Einfriedung] eine zweite, zu der man auf einigen Stufen emporstieg. Sie stellte eine steinerne Mauer dar, auf der geschrieben stand 358 , dass jedem Fremden der Eintritt [in den heiligen Bezirk] bei Todesstrafe verboten sei. Diese innere Einfriedung hatte auf der Süd- und Nordseite je drei Tore, die gleich weit voneinander abstanden, und auf der Ostseite ein großes Tor, durch welches diejenigen, welche rein waren, mit ihren Frauen eintreten durften“ (Ant  15,417 f.)359.

In der Rede des Titus an die Aufrührer, die sich im Tempelinneren verschanzten, lässt Josephus den römischen Feldherrn das jüdische Ausnahmerecht ausdrücklich erläutern: „Habt nicht ihr auf dieser Schranke an verschiedenen Stellen die mit griechischen und mit unseren eigenen Buchstaben beschriebenen Warntafeln (στῆλαι) aufgestellt, um darauf hinzuweisen, dass niemand über die Brüstung steigen dürfe? Haben nicht wir euch gestattet (ἐπετρέψαμεν), diejenigen zu töten (ἀναιρεῖν), die dennoch hinüberstiegen, selbst wenn der Betreffende ein Römer wäre?“ (Bell  6 ,125 f.).

1871 wurde eine derartige Warntafel im ehemaligen Tempelbereich gefunden, 1934 eine zweite. Die erste enthielt die noch lesbare Aufschrift: „Dass kein Fremder (ἀλλογενής) eintrete in das um das Heiligtum (τὸ ἱερόν) gehende Gitter und Gehege! Wer ergriffen wird, wird sich selbst die Folge zuschreiben müssen, den Tod!“360 – ob durch „Volksjustiz“361 oder über ein behördliches Verfahren 362 , bleibt offen. Aus 357 

Blinzler, Prozess 232 f.; vgl. ebd. 245 f. zu den „außergewöhnlichen privilegia judaica“. Nach der Parallele Bell  5,194 auf Griechisch und Lateinisch, ebenso Bell  6 ,125 (siehe oben). 359  Vgl. auch Ant  18,29 f., wo Josephus von erhöhten Sicherheitsmaßnamen der Priester (Konjektur nach Feldman u. a.: Josephus IX [Loeb] 27) am Tempel berichtet, nachdem Samaritaner am Paschafest dort menschliche Gebeine verstreut und den heiligen Bezirk verunreinigt hatten; dazu McLaren, Power 81: „the incident appears to be an example of the Romans remaining separate from a dispute which involved the local inhabitants. In turn, it is evident that trouble in Judaea did not stem only from conflict between the Romans and the Jews“. – Philo, LegGai  212, führt als Beweis für die höchste Achtung der Juden vor ihrem Tempel an: „Gnadenlose Todesstrafe ist festgesetzt für Nichtjuden, die die Grenzen zum innersten Bezirk des Tempels überschreiten. Denn jedermann aus aller Welt findet im äußeren Bezirk Aufnahme“. 360 Vgl. Deißmann, Licht 63. 361  Michel/Bauernfeind, Josephus II/1, 251 Anm.  6 4: „Damit ist kein gerichtliches Verfahren, sondern die spontane Tötung durch das für die Heiligkeit des Tempels eifernde Volk angedroht. Beispiele solcher Volksjustiz finden sich in Apg  21,28 und b.Pes.  3b“ (Lit.). 362  Barrett, Joh 515; Giovannini/Grzybek, Prozess 17. 358 

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den Warntafeln und insbesondere dem ἐπετρέψαμεν der Titus-Rede lässt sich der Ausnahmecharakter der Anordnung aber folgern. „[I]f the Sanhedrin had the general right to execute offenders against the religious law, this special concession would not have been necessary“363. Ein generelles Recht des Synedrions, Gesetzesbrecher hinrichten zu können, postulieren die Vertreter der Position B. Sollten sie im Recht sein, hätte das für die Beurteilung des Falls Jesu gravierende Folgen: Weil Jesus „auf eine Art“ hingerichtet wurde, „die unter den Juden nicht üblich war, sondern nur von den Römern praktiziert wurde, nämlich durch Kreuzigung“, war der Jerusalemer Rat mit seinem Fall offiziell nicht befasst, weder in Gestalt seiner Verurteilung noch seiner Hinrichtung364. Zugunsten der Position B werden aus der Zeit der römischen Statthalterschaft zwei Vorkommnisse geltend gemacht: Apg  6 ,8–7,60 und 21,27–25,12. Für die Steinigung des Stephanus (Apg  6 f.) macht Lukas den Jerusalemer Rat verantwortlich. Unter Verweis auf die juristischen Elemente der Szene nehmen Giovannini und Grzybek an, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Verurteilung und Hinrichtung „das Ergebnis eines ordnungsgemäßen Prozesses“ gewesen seien 365. Ausschließlich am historischen Beitrag der Szene interessiert, übersehen sie geflissentlich die gezielte literarische Gestaltung, die ihrer unmittelbaren historischen Auswertung im Wege steht. Lukas hat das Verfahren gegen Stephanus mit dem gegen Jesus szenisch parallelisiert, um den Protomärtyrer in der Nachfolge Jesu zeigen zu können. Aus einer mutmaßlich außergerichtlichen Lynchjustiz wurde so eine offizielle Hinrichtung, für die der Jerusalemer Rat verantwortlich gemacht wird366 . Einen zweiten möglichen Hinweis auf jüdische Kapitalgerichtsbarkeit könnte die Paulus betreffende Szenenfolge Apg  21,27–25,12 enthalten. Bei dem Tumult, den Paulus in Jerusalem auslöst, weil er angeblich einen Griechen in den Nicht-Juden untersagten heiligen Tempelbezirk mitgenommen habe (siehe oben A  [c]), handelt es sich um den Versuch einer Lynchjustiz, vor der ihn die Schutzhaft durch römische Soldaten bewahrt (Apg  21,27–34). Aufgrund jüdischer Anklagen kommt ein Verfahren gegen den angeblichen Unruhestifter in Gang, zuerst in Jerusalem, dann am Amtssitz des Prokurators in Cäsarea. Durch Felix verschleppt und durch seinen Nachfolger Festus wiederaufgenommen, zieht es sich über zwei Jahre hin. Mit der Appellation des Paulus an den Kaiser endet die Szenenfolge zwar noch lange nicht, gelangt aber doch zu einer entscheidenden Wende: Paulus wird nach Rom gebracht. 363  Sherwin-White, Society 36; vgl. Büchsel, Blutgerichtsbarkeit 206 f., und Blinzler, Prozess 238: „die Ausnahme, die nur die Regel bestätigt“. Anders Giovannini/Grzybek, Prozess 17: Bell  6 ,126 „könnte ebenso gut bedeuten, dass die Römer den Juden erlaubten, die von alters her vorgeschriebene Bestrafung der Gesetzesübertreter auch auf römische Bürger zu erstrecken“. 364  Flusser, Tage 101; zu Lietzmann siehe Hinführung unter 2.2. 365  Giovannini/Grzybek, Prozess 14; juristische Elemente sind „die genaue Aufzählung aller Anklagepunkte, die durchweg religiöser Natur waren“ (Apg  6,11.13–15), „die Anhörung von Zeugen“ (Apg  6 ,13) und das Recht des Angeklagten „auf eine ausführliche Verteidigungsrede“ (Apg  7,2–53); ähnlich Barrett, Joh 515. 366  Roloff, Apg 111: Lukas hat „in eine Überlieferung, die von einem Akt der Lynchjustiz an Stephanus erzählte, Motive eines Gerichtsverfahrens eingebracht […]. Sein Interesse, das Synedrium ins Spiel zu bringen, wurde in Kp. [= Apg] 3–5 schon hinlänglich deutlich“.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Das Angebot des Festus an Paulus, sich in Jerusalem „vor ihm richten zu lassen“, das Paulus ausschlägt (Apg  25,9–11), scheint rechtsgeschichtlich auswertbar zu sein. Setzt Festus voraus, dass das Synedrion in religiösen Fragen autonom richten ­könne, selbst wenn es, wie bei Paulus anzunehmen, zu einem Todesurteil käme367? Gesetzt den Fall, die Episode sei historisch 368 , wäre allerdings der einzig relevante Anklagepunkt der Jerusalemer Autoritäten, den Festus nach Prüfung des Falles geltend lassen könnte (vgl. Apg  23,29; 25,18 f.), der angebliche Tatbestand der Verleitung eines Nicht-Juden durch Paulus zu unerlaubtem Überschreiten der Tem­ pelschranke (vgl. Apg  24,18 f.; 25,8). Wenn Lukas mehrfach betont, dass die Römer bei Paulus kein todeswürdiges Verbrechen erkannten, wohl aber einen religiösen Dissens zwischen ihm und den jüdischen Autoritäten, den zu schlichten sie sich als nicht zuständig erklären (Apg  23,29; 25,18 f.; vgl. bereits 18,12–15), kann daraus zwar auf eine innerjüdische Strafkompetenz bei Verstößen gegen die Tora geschlossen werden, nicht aber auf jüdische Kapitalgerichtsbarkeit369. Lukas lässt, wie auch sonst, die Jesus-Bewegung für die römische Autorität als ungefährlich erscheinen. Einen dritten Hinweis auf jüdische Kapitalgerichtsbarkeit enthält vielleicht die Verteidigungsrede des Paulus vor König Agrippa, in der er seine Verfolgertätigkeit vor seiner Bekehrung Revue passieren lässt: Ich selbst meinte, ich müsste den Namen Jesu, des Nazoräers, heftig bekämpfen. Das habe ich in Jerusalem denn auch getan. 10Ich ließ mir von den hohen Priestern Vollmacht geben und sperrte viele der Heiligen ins Gefängnis; und wenn sie getötet werden sollten, stimmte ich zu. 11Und in allen Synagogen habe ich oft versucht, sie durch Strafen zur Lästerung zu zwingen; in maßloser Wut habe ich sie sogar bis in Städte außerhalb des Landes verfolgt (Apg  26,9–11; vgl. 9,1 f.; 22,4 f.).

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Der Text spricht von der Vergangenheit des Paulus, als sei dieser der „Generalbevollmächtigte des Synedriums für die endgültige Ausrottung des Jesusglaubens“370 gewesen. Dass er für Todesurteile gegen Jesusgläubige gestimmt hat, lässt ihn als „pharisäisches Mitglied des Synedriums“ erscheinen 371. Diese Darstellung ist ten-

367  Giovannini/Grzybek, Prozess 15 f., folgern aus dem Angebot des Festus, „dass die römischen Behörden die Gerichtsbarkeit über Vergehen gegen die jüdische Religion nicht selber ausübten, sondern den jüdischen Gerichten überließen, und dies selbst dann, wenn die vom jüdischen Gesetz vorgeschriebene Strafe der Tod war, und sogar, wenn der Angeklagte römischer Bürger war“ (16). Vgl. auch Barrett, Joh 515. 368  Merkwürdig ist nicht nur der Sinneswandel, den Festus gegenüber seiner kurz zuvor in Jerusalem kundgetanen Absicht, den Fall keinesfalls in Jerusalem verhandeln zu lassen (Apg  25,2– 5), vollzieht. „[I]rreal“ ist auch die Vorstellung, dass „[u]nter dem Vorsitz des Römers […] die Juden Paulus verhören und das Urteil über ihn sprechen“ sollen; Lk scheint „an ein Verfahren nach dem Muster der von ihm dargestellten Synedriumsszene 22,30–23,11“ zu denken (Roloff, Apg 343). 369  Das Angebot des Festus von Apg  25,9 f. ist im Licht von 25,18–20 zu lesen: Er will Paulus nach Jerusalem schicken, weil seiner Meinung nach ein religiöser Streit, kein todeswürdiges Verbrechen vorliegt. 370  Roloff, Apg  352. 371  Ebd.

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denziös372 . Aus ihr eine dem Jerusalemer Rat von den Römern zugestandene Kapitalgerichtsbarkeit in religiösen Rechtsfällen schließen zu wollen 373, ist gewagt. Aus Josephus wird vor allem sein Bericht über die Steinigung des Herrenbruders Jakobus durch Hannas II. unter Zustimmung des Jerusalemer Rats 62 n.Chr. als Beleg herangezogen (Ant  20,200–203). Wie oben dargelegt 374, war das Handeln des Hohepriesters aber außergesetzlich und kostete ihm umgehend das Amt. Im Rahmen seiner Darstellung der den Essenern eigenen Gerichtsbarkeit führt Josephus die Bestimmung auf: „Wenn jemand diesen (sc. den Namen des Gesetz­ gebers = Mose) lästert, wird er mit dem Tod bestraft (κολάζεται θανάτῳ)“ (Bell  2,145). Der Codex von Strafbestimmungen 1QS  6 ,24–7,25 bestätig zwar, dass die Essener eine eigene Gerichtsbarkeit praktizierten, stützt Josephus aber nicht375. Auch wenn seine Aussage korrekt sein sollte, hilft sie nicht weiter, weil unbekannt ist, zu welcher Zeit, unter welchen Bedingungen und ob überhaupt die Todesstrafe unter den Essenern praktiziert wurde376 . Ein Sonderfall ist der Entscheid von Kaiser Claudius 51  n.Chr., vor dessen Richterstuhl sich Samaritaner und Juden nach gegenseitigem Gewaltausbruch zu verantworten hatten (Bell  2,232–246; vgl. Ant  20,118–136): Nach Anhörung beider Parteien erklärt Claudius die Samaritaner für schuldig, lässt die drei Einflussreichsten unter ihnen hinrichten, schickt Cumanus, den Präfekten Judäas, wegen mehrfachen Versagens in die Verbannung und dessen Offizier Celer „gefesselt nach Jerusalem. Zudem befahl er, ihn den Juden zur Peinigung auszuliefern, er solle durch die Stadt geschleppt und dann enthauptet werden“ (Bell  2,246). Angesichts der für die Römer gefährlich eskalierenden Gewalt war dies wohl der im Übrigen glückende Versuch, die Situation zu befrieden, eine Maßnahme des Militärstrafrechts, die für die Frage jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit unergiebig ist377. 372  Ihr historischer Kern dürfte darin bestanden haben, dass Paulus sich von den hohen Priestern „Empfehlungsschreiben“ hat geben lassen (vgl. 2Kor  3,1), welche die Synagogenvorsteher von der Gefährlichkeit der Nazoräersekte überzeugen sollten. Über Zuchtmittel (Auspeitschung etc.) konnten die Synagogen selbstverständlich verfügen; Roloff, Apg 148, bietet weitere Argumente, die gegen die lkn. Darstellung sprechen. 373 Für Giovannini/Grzybek, Prozess 16, besitzt der Text so etwas wie die Funktion eines Kronzeugen ihrer Hypothese. „Hier wird nämlich ganz klar und eindeutig gesagt, dass die Christen auf Befehl der Hohenpriester verhaftet, vom Hohen Rat in einem regelrechten Prozess gerichtet und nach einer vorschriftsmäßigen Abstimmung zum Tode verurteilt wurden. Von einer Bestätigung des Urteils oder einer besonderen Ermächtigung vonseiten des Statthalters ist hier überhaupt nicht die Rede“. 374  In III.  1.5.2 unter (1). 375  Michel/Bauernfeind, Josephus I 437, verweisen auf 1QS  6 ,27: „[d]as einzige Vergehen, das im Sektenkanon mit der Todesstrafe bedroht wird, ist, anders als bei Josephus, der Fluch ‚im Namen des Hochgeehrten‘, d. h. wohl Gottes“. Aber der Text ist am Ende der Kolumne nicht mehr leserlich: „[W]er etwas erwähnt im Namen dessen, der hochgeehrt ist, gegen jemanden, […]“ (Übersetzung E. Lohse). 376 Anders Giovannini/Grzybek, Prozess 18: Wenn „innerhalb des jüdischen Volkes die Essener über eine eigene religiöse Gerichtsbarkeit verfügten und die Todesstrafe verhängen konnten“, „[u]m wieviel mehr“ sei „dies vom Sanhedrin zu erwarten“. 377 Anders Giovannini/Grzybek, Prozess 18; das Verbrechen des römischen Offiziers sei „sicher religiöser Natur“ gewesen.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Die kritische Durchsicht der von den Vertretern der Position B aufgeführten Quellen 378 ergibt: Die Annahme, dass die Römer in Judäa, wie in anderen Provinzen auch, sich das ius capitis reseverierten, hat die größere Plausibilität. Sie entspricht der Angabe des Josephus in Bell  2,117 zu der dem Prokurator Judäas ad personam verliehenen Vollmacht. Die Möglichkeit, innerjüdische Gerichtsbarkeit in Orientierung an der Tora zu praktizieren, blieb dem Synedrion. Die Römer nutzten die Jerusalemer Elite zur eigenen Entlastung als einheimische Ordnungsmacht, die über die öffentliche Sicherheit im Tempelstaat zu wachen hatte. Ein Rechtscorpus zum prekären Zusammenspiel der Kräfte gab es nicht. Viel hing davon ab, wie der jeweilige Inhaber des hohepriesterlichen Amtes seine Aufgabe wahrnahm, zur Zeit Jesu Kajaphas. 1.6 Kajaphas (18–37  n .Chr.): Amtierender Hohepriester zur Zeit Jesu „Josef mit Beinamen Kajaphas“ (Josephus)379 wurde vom Präfekten Valerius Gratus 18  n.Chr. ins hohepriesterliche Amt eingesetzt (Ant  18,35) und 37  n.Chr. vom syrischen Legaten Vitellius seines Amtes enthoben (Ant  18,95) – fast zeitgleich mit der Absetzung des Pilatus. Mehr weiß Josephus nicht von ihm zu berichten, weder außergewöhnliche Vorkommnisse seiner Vita noch die Umstände seiner Absetzung. Dabei zeigt allein schon die Dauer seiner beinahe 19 Jahre währenden Amtszeit im Vergleich zum sonstigen raschen Wechsel im Amt seit Herodes380 die politische Bedeutung, die er gehabt haben muss. Das Schweigen des Josephus ist erstaunlich, aber beredt: Es deutet auf Zusammenarbeit mit dem römischen Präfekten hin, die mehr oder weniger reibungslos verlaufen sein wird381. Beim Skandal um die „Feldzeichen“ lässt Josephus den Hohen Rat außen vor. Beim Streit um die Jeru­ salemer Wasserleitung wird sich Pilatus mit Kajaphas verständigt haben, aber ­Josephus schweigt dazu. Als der Präfekt gegen die Samaritaner einschritt, dürfte Kajaphas das nicht ohne Zustimmung zur Kenntnis genommen haben. Dem Testimonium Flavianum zufolge wurde Jesus von Pilatus „auf Anzeige der führenden 378  Jos, Ant  14,167, ist nicht einschlägig, weil es nicht um die Zeit der römischen Präfektur geht: „[…] unser Gesetz, das es verbietet, einen wenn auch noch so verbrecherischen Menschen umbringen zu lassen (ἀναιρεῖν), ehe er vom Synedrion zum Tode verurteilt ist (εἰ μὴ πρότερον κατακριθείη τοῦτο παθεῖν ὑπὸ τοῦ συνεδρίου)“ (aus der Beschwerderede hochgestellter Juden über Herodes vor Hyrkan). 379  Ἰώσηπος ὁ καὶ Καΐάφας: „Zur Zeit des Neuen Testaments scheint der Name geschlechterspezifisch – Kaiaphas = das Geschlecht der Kaiaph – gebraucht worden zu sein. Die Tosefta spricht in diesem Sinne familientechnisch vom ‚Haus des Kaiaphas‘ (tJev 1,10)“ (Metzner, Kaiphas 37). Das 1990 südlich der Altstadt von Jerusalem in Nord-Talpioth entdeckte Felsengrab mit zwei Ossuarien (Nr.  3 und 6), auf denen die Inschrift Yehosef bar Qypʿ (‫ )יהזסף בר קיפא‬bzw. bar Qpʿ (‫ )קפא‬zu erkennen ist, wurde als Grab des Hohepriesters Kaiaphas berühmt; die Identifikation ist nicht sicher (ebd. 173–176; vgl. auch Evans, Ossuaries 104–112; Riesner, Familiengrab). – Bond, Cajaphas; Metzner, Kaiphas; Reinhartz, Caiaphas; VanderKam, Joshua 426–436. 380  Aufschlussreich ist die (vollständige) Liste der Hohepriester (nach Josephus) bei J. Jeremias, Jerusalem II B 52.260 f. mit 8 Hohepriestern in der Zeit der Hasmonäer, aber 28 zwischen 37  v. und 70  n.  Chr. (einer annähernd gleich langen Zeitspanne). 381  Brown, Death I 372: „perhaps the two of them had worked out a modus vivendi […]“.

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Männer“ gekreuzigt. Der Name des Kajaphas fällt nicht. Bei allen diesen Vorkommnissen bleibt er im Hintergrund, ein deutliches Anzeichen dafür, dass er klug und pragmatisch im Interesse des Tempelstaats agierte. Der Fall Jesus deutet auf einen weiteren Umstand hin: In dem Maße Kajaphas mit den Römern zusammenarbeitete, wuchs das Risiko innerjüdischen Widerstands. Auch Jesus gehörte zu denen, die gegen das priesterlich-aristokratische „Establishment“ Jerusalems aufbegehrten. Kajaphas war Vertreter sadduzäischer Tempeltheologie382 . Er wird sich so lange im Amt gehalten haben, weil er nicht nur auf römische Belange Rücksicht nahm, sondern auch nach innen geschickt agierte. Das Neue Testament nennt nur seinen Beinamen Kajaphas (Καΐάφας)383. Joh  18,13 notiert, dass er ein Schwiegersohn des Hannas (6–15  n.Chr.) war. Matthäus und Johannes erwähnen ihn anlässlich der beiden Sitzungen des Synedrions, auf denen über Jesus beraten bzw. gegen ihn entschieden wird (Mt  26,3.57.62–66; Joh  11,49– 51; 18,13 f.24.28). Markus lässt ihn ohne Namen auftreten, Lukas spricht vom Kollektiv der „hohen Priester und Schriftgelehrten“, dem „Ältestenrat des Volkes“ (22,66). Dafür heißt es zu Beginn seines Evangeliums: „[…] unter dem Hohepriester Hannas (ἐπὶ ἀρχιερέως Ἅννα) und Kajaphas erging das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias“ (Lk  3,2). Apg  4,6 entspricht dem: „und Hannas, der Hohepriester (Ἅννας ὁ ἀρχιερεὺς), und Kajaphas und Johannes und Alexander und welche auch immer aus dem hohepriesterlichen Geschlecht waren“384. Der Eindruck entsteht, „als sei nur Hannas eindeutig der Hohepriester gewesen, während die hohepriesterliche Würde des Kaiaphas undeutlich bleibt“385. Wer dies mit den Angaben des Josephus abgleichen will386 , kann darauf verweisen: Auch Josephus verwirrt seine Leser „häufig damit, dass er mehrere Personen gleichzeitig als ‚Hohepriester‘ betitelt, oder dass er jemanden als ‚Hohenpriester‘ bezeichnet, der gar nicht mehr im Amt ist“387. Bemerkenswert ist, dass Lukas und Johannes in ihrer Rollenzuweisung an Hannas übereinstimmen. Wenn dieser Jesus zunächst von ihm verhören lässt, gibt auch er zu erkennen, dass Hannas, die graue Eminenz im Hintergrund, weiterhin eine 382  Bond, Cajaphas 25: „Given Caiaphas’s prominent priestly connections, it is likely that Sadducean interpretations, ideas, and views would have impressed themselves on the young priest from early age“. 383  Langform wie bei Josephus: Mt  26,3.57; Lk  3,2; Joh  11,49–51; 18,13 f.24.28; Apg  4,6. „Die kürzere Lesart Kaiphas begegnet in einigen handschriftlichen Varianten zu Mt  26,3.57; Lk  3,2; Joh  11,49; 18,13 und Apg 4,6 (C, D und die meisten lateinischen Handschriften)“ (Metzner, Kaiphas 37); sie ist sekundär. Zu Kajaphas und Hannas in Joh: Hengel, Johannesevangelium 322–334. 384  Lukas „steckt [hier] Kaiaphas neben anderen in die Schublade ‚aus hohepriesterlichem Geschlecht‘“ (Wolter, Lk 155). 385  Wolter, Lk 155; ebd. 156 vermutet er, „dass Lukas beide Namen in seiner Überlieferung der Passionsgeschichte vorfand und den Hohepriestertitel der falschen Person zuordnete“. Die in Teil II durchgeführte Analyse der lkn./joh. Passionsüberlieferung bestätigt diese Annahme nicht. 386  Mt  26,3.57 und Joh  11,49–51; 18,13.24 stützen die Angabe des Josephus, dass Kajaphas der amtierende Hohepriester war. 387  Mason, Flavius Josephus 201, mit Verweis etwa auf Bell   2,441; Ant  20,205; Vit  193 (194: πολλοὺς … τῶν ἀρχιερέων καὶ τοῦ πλήθους προεστῶτας); vgl. auch J. Jeremias, Jerusalem II B 14.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

einflussreiche Rolle spielte. Dank seiner vielen Söhne, die das hohepriesterliche Amt innehatten 388 , bestimmte er die Politik des Tempelstaats lange Zeit mit. Die Umstände, die zur Absetzung des Kajaphas bzw. zur Nicht-Verlängerung seines jährlich zu bestätigenden Dienstes führten, liegen im Dunkel. Weil Pilatus von Vitellius kurz zuvor seines Amtes enthoben wurde, könnte es sein, dass er in dessen Absturz mit hineingezogen wurde389. Auch dies deutet auf enge Koopera­ tion, wenn nicht Freundschaft, hin. Jesus wurde sie zum Verhängnis. 1.7 Narrative Texte und ihre rechtshistorischen Implikationen: Jesus ben Ananias (Jos, Bell  6 ,300–309) und die Sikarier in Ägypten (Bell  7,409–421) Zur Veranschaulichung des politischen Zusammenspiels der jüdischen Elite mit den Römern eignen sich zwei Erzählungen aus dem Bellum des Josephus, die erste mit erstaunlichen Parallelen zum Fall Jesu390 , die zweite mit vergleichbaren rechtlichen Strukturen aus den Jahren unmittelbar nach dem Krieg. Das jüdisch-römische Vorgehen gegen den Unheilspropheten Jesus ben Ananias (Jos, Bell  6 ,300–309) Die Jesus ben Ananias-Erzählung ist Teil eines größeren Zusammenhangs, in dem Josephus sieben himmlische „Zeichen“ (τέρατα) (6,289–299) aufführt, welche die Menschen in den Jahren vor dem Krieg hätten davor bewahren können, den reli­ giösen „Verführern und Betrügern“ in den Untergang zu folgen (Bell  6 ,288). Der „Warnruf Gottes“ (κήρυγμα), der sieben Jahre lang aus dem Mund des Propheten Jesus ben Ananias in Jerusalem zu hören war, bildet die Klimax der Reihe391. Josephus erzählt die Geschichte nach Art eines antiken Dramas: einer vorbereitenden Handlung (I.), einer spannungserzeugenden Verwicklung (II.), einer überraschenden Kehrtwende (III.), einem Ritardando (IV.) und einem tragischem Schluss (V.)392:

Vgl. oben S. 576 Anm.  303. Demandt, Pontius Pilatus 64. – Bammel, Absetzung 58, zu den Nachfolgern des Kajaphas, Söhnen des Hannas: „Gewiss, die Absetzung des Kaiphas oder richtiger: die Nichterneuerung seiner Amtsträgerschaft war ein ins Auge springendes Ereignis. Hatte er doch 18 Jahre seines Amtes gewaltet und, wie man es ausgedrückt hat, mit dem nicht leichten Pilatus in einem accord parfait gestanden. Mag ihm diese Verbindung zum Fallstrick geworden sein, das Geschlecht, dessen Vertreter er war, hatte so festen Grund, dass es nicht zu stürzen war […]“. 390  Kaum eine Untersuchung übergeht sie: Egger, Crucifixus 136–147; Kirner, Strafgewalt 198–200; K. Müller, Möglichkeit 69–71; Merklein, Tod 177 f.; Reinbold, Prozess 99 f.; ­Theißen, Tempelweissagung 145 f.; Theißen/Merz, Jesus 403.411 f.; Strobel, Stunde 24–26; Theobald, Jesus. 391  Zur Komposition der sieben „Zeichen“ wie ihrem überlieferungsgeschichtlichen Hintergrund und ihrer theologischen Aussage: Mutschler, Geschichte 103–127; Theobald, Jesus 97–100. 392  Egger, Crucifixus 137–141. Die nachstehende Übersetzung nach Michel/Bauernfeind, Josephus II/2, 53–55 (in Orientierung an Egger). 388  389 

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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Gelenkvers

300

I. Exposition

Vier Jahre vor dem Krieg (62  n.Chr.), als die Stadt noch in hohem Maß Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Land (τῶν ἰδιωτῶν ἄγροικος), zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum (κατὰ τὸ ἱερὸν) und begann unvermittelt zu rufen:   301Eine Stimme (φωνή)393 vom Aufgang,   eine Stimme vom Niedergang,   eine Stimme über Bräutigam und Braut 394,   eine Stimme über das ganze Volk! So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht.

II. Verwicklung

302 Einige der angesehenen Bürger (τῶν δὲ ἐπισήμων τινὲς δημοτῶν), die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen den Menschen fest (συλλαμβάνουσι) und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung (ὑπὲρ αὑτοῦ φθεγξάμενος) noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sondern stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. 303 Die Oberen aber (οἱ ἄρχοντες), die den Aufruhr (τὸ κίνημα) des Mannes für übermenschlich (δαιμονιώτερον) hielten 395 – was zutraf (ὅπερ ἦν) –, führten ihn zum Statthalter (ἔπαρχος), den die Römer damals eingesetzt hatten.

III. Erster Höhepunkt und Wende (Peripetie)

304

393 

Furchtbarer aber als diese Dinge [= die Unheilszeichen] war Folgendes:

Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe (μάστιξι) zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag:   Wehe dir, Jerusalem! (Jer  13,27) 305 Als aber Albinus – denn das war der Landpfleger – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das Geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei und ihn laufen ließ.

Vgl. Jes  5,14.17; 29,1; Jer  7,34; 16,9 u. ö. Egger, Crucifixus 142 Anm.  565. Vgl. Jer  7,34: „Und in den Städten Judas und in den Gassen Jerusalems mache ich den Jubelschreien und den Freudenrufen ein Ende, der Stimme des Bräutigams und der Stimme der Braut, denn das Land wird verwüstet“; Jer  16,9–10: „Denn so spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels: Seht, vor euren Augen und in euren Tagen lasse ich an diesem Ort die Stimme des Jubels und die Stimme der Freude, die Stimme des Bräutigams und die Stimme der Braut verstummen. Und wenn du diesem Volk alle diese Worte verkündest, werden sie zu dir sagen: Warum hat der Herr dieses ganze große Unheil gegen uns angekündigt?“ 395  Michel/Bauenfeind, Josephus II/2, 53: „Da glaubten die Oberen, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe“. κίνημα bleibt in dieser Paraphrase unübersetzt (siehe unten). 394 

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

IV. Ritardando

In der Zeit bis zum Krieg aber näherte er sich keinem der Bürger, noch sah man ihn mit irgendjemandem sprechen, vielmehr rief er Tag für Tag, als ob er ein Gebet eingelernt hätte, seine Klage:   Wehe dir Jerusalem!396 307 Er fluchte auch keinem von denen, die ihn schlugen, obwohl es täglich vorkam, noch segnete er die, die ihm Nahrung gaben 397 – eine einzige Antwort nur hatte er für alle: jenes unselige Rufen. 308 Am meisten aber schrie er an den Festtagen, und das tat er sieben Jahre und fünf Monate lang ohne Unterbrechung – seine Stimme stumpfte nicht ab, noch wurde er müde, bis er zur Zeit der Belagerung zur Ruhe kam (ἀνεπαύσατο), als er seinen Ruf ins Werk gesetzt sah.

V. Tragischer Schluss

309 Denn als er auf seinem Rundgang von der Mauer herab gellend rief:   Noch einmal wehe der Stadt   und dem Volk   dem Tempel! da setzte er zum Schluss hinzu:   Wehe auch mir!“ Denn ein Stein schnellte aus der Wurfmaschine und traf ihn, so dass er auf der Stelle tot war und – jene Weherufe noch auf den Lippen – seinen Geist aufgab (τὴν ψυχὴν ἀφῆκε)398 .

306

Diese „Passionserzählung“399 des Jesus ben Ananias gleicht trotz markanter Unterschiede derjenigen des Nazareners. Der Sohn des Ananias ist zwar Einzelgänger und wird auch nicht vom Statthalter zum Tod verurteilt, sondern freigelassen, aber sein religiöses Profil und sein Weg durch die Instanzen erinnern frappant an das Geschick des Nazareners400 . Beide, Jesus ben Joseph (Joh  6 ,42; Lk  3,23; 4,22) und Jesus ben Ananias, stammen vom Land, dieser ein „ungebildeter Mann“ (Bell  6,300), jener ohne schriftgelehrte Ausbildung (vgl. Mk  6 ,2 f.; Lk  2,46 f.; 4,22). Beide reden prophetisch gegen den Tempel, der Nazarener vor einem Paschafest, Jesus ben Ananias an einem Laubhüttenfest und danach „täglich“. Beide stehen in der Tradition des Propheten Jeremia401 und proklamieren den Untergang des Tempels402 . Beide sind keine gewalttätigen Aufrührer. Auf die Misshandlungen, die Jesus ben Ananias zugefügt werden, und die Fragen, die ihm gestellt werden, reagiert er nur mit seinen

396 

Jer  13,27: „Wehe dir, Jerusalem!“ Der Verzicht auf jede Gegenwehr erinnert an den Nazarener: vgl. Lk  6 ,29. Wenn Jesus ben Ananias im Unterschied zu Lk  6,28 („Segnet, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen!“) niemanden segnet, dann dient dieser Erzählzug dazu zu betonen, dass einzig Gottes Warnrufe aus seinem Mund erschallen. 398  Vgl. Joh  19,30. 399  Zur Gattung siehe oben unter I.  1.5.2.7. 400  Reinbold, Prozess 99: „eine in mancher Hinsicht verblüffende Parallele“. 401  Josephus nennt den Ananias-Sohn zwar nicht „Prophet“, aber ihn so zu benennen, entspricht „seiner Sicht, dass der Prophet vorzüglich dazu da ist, kommende Geschichte als Gottes Willen entsprechende Veranstaltung vorweg anzusagen“ (Höffgen, Bemerkungen 93); Feldman, Prophets 388–422; vgl. auch T.J. Bauer, Flavius Josephus 123–127. 402  Jos, Ant 10,79: „Dieser Prophet (sc. Jeremia) sagte […] das Unglück, das der Stadt bevorstand, voraus (προεκήρυξεν), und hat sogar über deren Zerstörung, die in unseren Tagen sich er397 

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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Weherufen. Auch der Nazarener schweigt zu den Anklagen, die gegen ihn erhoben werden (Mk  15,5; vgl. auch 14,61).

Der Umgang mit Jesus ben Ananias spiegelt Rechtsverhältnisse wider, wie sie auch beim Verfahren gegen den Nazarener zu beobachten sind: Das Einschreiten der Lokalbehörde und des Statthalters erfolgt abgestuft. Für die öffentliche Ordnung sind die jüdischen „Oberen“ (οἱ ἄρχοντες) zuständig (303), weshalb „einige (τινές)“ von ihnen (302: ἐπίσημοι … δημόται) den Mann festnehmen und versuchen, ihn mit koerzitiven Maßnahmen zum Schweigen zu bringen403. Als dies nicht gelingt, überstellen sie ihn Albinus (62–64  n.Chr.), der zum Fest in Jerusalem weilt. In einem peinlichen Verhör versucht der Statthalter, Personalien (Personenstand – Herkunft) und Motivation festzustellen404, lässt den Mann aber, als dieser nur seine bekannten Weherufe ausstößt, als angeblich Geistesgestörten laufen. Die literarische Stilisierung der Geschichte setzt einer weiteren rechtsgeschichtlichen Auswertung Grenzen. Sicher ist, dass es sich bei den „angesehenen Bürgern“ nicht lediglich um „unduldsame Adelige“ handelt, sondern „führende Mitglieder der jüdischen Selbstverwaltung in Judäa, also offenkundig um Mitglieder des Sanhedrin, die ein offizielles Verfahren anstrengen“405. Mehr als ein Verhör, das angesichts des beharrlichen Schweigens des Mannes scheitert, ist nicht zu erkennen (302). Dessen Geißelung, die „der Exekutionsform der Vollstreckung eines Todesurteils vorausgeht“406 , lässt nicht auf „jüdische Blutsgerichtsbarkeit“ schließen. Der Mann soll durch Schläge nur zum Schweigen gebracht werden. Die Absicht, ihn zum Tod zu verurteilen, ist nicht ersichtlich. Überfordert wäre der Text auch, würde aus der Nichterwähnung des Hohepriesters abgeleitet, dass es keine „(eindeutige) Zuständigkeit des jüdischen Synedriums für frevelhafte Tempelprophetien“ gab407. Wenn Josephus von den ἄρχοντες spricht, muss er deren Spitze nicht eigens erwähnen. Beachtlich ist, wie Josephus die Auslieferung des Mannes an den Statthalter motiviert: „Die Oberen aber, die den Aufruhr (τὸ κίνημα) des Mannes für übermenschlich (δαιμονιώτερον)408 hielten – was zutraf (ὅπερ ἦν) –, führten ihn zum Statthalter“ eignete, sowie über die Eroberung von Babylon schriftliche Prophezeiungen hinterlassen“; zur Bedeutung des Propheten für Josephus vgl. Ferda, Jeremiah. 403  Strobel, Stunde 24: „[I]m religiösen Eifer“, meinten sie wohl, „einem Pseudopropheten entgegentreten zu müssen (s. Deut  18,20 ff.)“. 404  Vgl. Apg  2 2,24. 405 K. Müller, Möglichkeit 70 f. 406  Ebd. 69.71 (zur Geißelung unter Bezug auf Mommsen): „[I]n der gesamten für die Zeit der Prokuratoren einschlägigen Literatur des Frühjudentums“ würden „nur zwei Tatbestände benannt, welche eine Beteiligung der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit an der Rechtsfindung verlangten: der Fall des in das innere Tempelareal vorgedrungenen Nichtjuden [siehe oben 1.5.5] und der Fall der Prophetie gegen den Tempel und seine Stadt“. Richtig Egger, Crucifixus 178: Die jüdische Behörde erscheint hier „in der Funktion einer Ordnungs- und nicht einer Gerichtsbehörde“. 407 So Kirner, Strafgewalt 199, der es für „beachtenswert“ hält, dass der Delinquent „von den Gemeindeoberen nicht zunächst dem Hohepriester, sondern sogleich dem Statthalter übergeben wurde“. Die Annahme einer Nicht-Zuständigkeit des Synedrions für „frevelhafte Tempelprophetien“ hat nach Kirner Konsequenzen für die Beurteilung des Falls Jesu. 408  Δαιμονιώτερον ist elativischer Komparativ (BDR  §  244.1) von δαιμόνιος = einem Daimon

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

(303). ὅπερ ἦν lässt die Wertung der Geschichte durch Josephus durchscheinen: Die Weherufe des Mannes waren nichts anderes als „Warnrufe Gottes“ (Bell  6,288). Den Archonten unterstellt Josephus numinose Furcht: Sie wollten den Mann, der ihnen nicht geheuer war, loswerden409. Sollten sie sich durch das Auftreten des Mannes an „Aufrührer“ erinnert sehen, wie Peter Egger der Verwendung des Terms κίνημα entnimmt, erklärte dieser Reflex dessen Überstellung an die römische Instanz besser410 . In jedem Fall erhofften sie sich von Albinus, dass er den Mann ruhigstellte, bevor er größeres Unheil anrichten würde. Unter Anwendung von Zwangsmitteln, die gegenüber dem Vorgehen der „Archonten“ erheblich gesteigert sind, versucht der Statthalter, den Mann förmlich zu verhören411. Wenn er ihn am Ende freilässt412 , dann wohl deshalb, weil er ein Einzelgänger war, dessen „Verhalten auf keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung oder eine Anhängerschaft schließen ließ. Ohne eine Art Massenbewegung bei den Einheimischen hervorzurufen“, wie dies bei Messiasprätendenten des 1.  Jh.s der Fall war, „stellte er für die allgemeine provinziale Ordnung keine weitere Gefahr dar“413. Das unterschied ihn auch vom Nazarener414. Die Sikarier in Ägypten (Jos, Bell  7,409–421) Nach der Einnahme von Masada durch die Römer (73  n.Chr.) retten sich einige „Sikarier“ nach Ägypten, insbesondere Alexandria, wo sie die jüdische Bevölkerung zur Fortführung des Freiheitskampfs im Namen des einzigen Gottes gegen die Römer anstacheln. Als „einige der angesehensten Männer“ unter den Juden sich widersetzen, werden sie von den Gotteskämpfern umgebracht. Angesicht der drohenden Gefahr vonseiten der Römer ruft der jüdische Rat der Stadt „alle Juden“ zusammen415 und fordert sie auf, nicht mit den Aufrührern zu kollaborieren, sie zugehörig; Liddell-Scott, Lexicon 365: heaven-sent, miraculous, marvellous. Das Wort ist „zentraler Begriff der josephischen Geschichtsdeutung“ (Egger, Crucifixus 61–68). 409  Vergleichbar ist die Reaktion des Pilatus in Joh 19,8. 410  Egger, Crucifixus 144: κίνημα = Bewegung, political movement (Liddell-Scott, Lexicon 952) begegnet 14-mal im Bellum (1-mal in den Ant) und hat mit einer Ausnahme die Bedeutung „Aufstandsbewegung“; dazu Broer, Death 165 Anm.  84: „does he [Josephus] consider it as a more-than-human, godly rebellion? And is the outcry ‚a voice from the east […]‘ meant to cause revolt?“; Häfner, Tod 147 f. 411  Kirner, Strafgewalt 199: „Josephus liefert für einen etwaigen Statthalterprozess keine Hinweise auf eine formelle Anklage, Zeugenaussagen, Consilium etc. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine cognitio des Statthalters, bei der zumindest bei peregrinen Provinzialen niedrigen Status’ bis auf die Tatsache des Verhörs keine prozessualen Formalien unterstellt werden müssen“; Reinbold, Prozess 99: eine „cognitio extra ordinem“. Egger, Crucifixus 147, sieht in der Steigerung der koerzitiven Maßnahmen das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ am Werk: „Weil der ‚Prophet‘ trotz der koerzitiven Maßnahme der Lokalbehörde nicht verstummen will, greift der Römer zu massiveren Mittel“. 412  Der Entscheid des Statthalters scheint für die „Archonten“ bindend gewesen zu sein: Obwohl der Mann weiter agiert, werden sie offiziell nicht mehr gegen ihn tätig. 413  Kirner, Strafgewalt 199. 414  Reinbold, Prozess 100. 415  Das kollegiale Gremium, das die vorangehende Herrschaft des jüdischen Ethnarchen (Jos,

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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vielmehr dem Rat „auszuliefern“. Weit über 600 Aufrührer werden gefangen genommen. Sie weigern sich trotz Folter, dem Kaiser ihre Loyalität zu bekunden. Da „viele Juden“ ihr Leben ließen (409), dürfte nicht nur der jüdische Rat, sondern auch der ägyptische Statthalter (Titus Julius) Lupus eingeschritten sein. Josephus erwähnt ihn erst am Ende des Abschnitts. In Sorge um einen Flächenbrand informiert Lupus den Kaiser, der entscheidet, dass der jüdische Tempel von Leontopolis als möglicher Herd weiterer Unruhen zerstört werden soll416: I. Die Ausgangssituation (409) Sogar noch danach mussten in Alexandrien, also Ägypten, viele Juden sterben. (410) Es hatten sich nämlich einige aus dem Aufstand der Sikarier dorthin retten können. Jedoch wollten sie sich nicht mit der Rettung allein begnügen, vielmehr unternahmen sie sogleich neue Taten und überredeten viele von denen, die ihnen Unterschlupf gegeben hatten, sich für die Freiheit zu erheben, die Römer für nicht stärker als sich selbst zu erachten und nur Gott allein als Herrn anzuerkennen (θεὸν δὲ μόνον ἡγεῖσθαι δεσπότην). (411) Als ihnen daraufhin einige der nicht unbedeutenden Männern unter den Juden (τῶν οὐκ ἀφανῶν τινες Ἰουδαίων) entgegentraten, töteten sie diese, während sie die anderen weiterhin bedrängten und mit Nachdruck auf den Abfall hin bearbeiteten. II. Vollversammlung der (412) Da nun die Ersten des Rates (οἱ πρωτεύοντες τῆς γερουσίας) alexandrinischen Juden deren Wahnsinn sahen, meinten sie, ihn mit Rücksicht auf die eigene Sicherheit nicht mehr übersehen zu dürfen. Vielmehr beriefen sie alle Juden zu einer Versammlung (εἰς ἐκκλησίαν) ein, bei der sie den Wahnsinn aller Sikarier aufdeckten und jene zudem als Ursache aller Übel hinstellten. (413) Und nun, so sagten sie, verwickelten jene, da sie als Flücht­linge ohnehin keine sichere Hoffnung auf Rettung hätten  – denn sie wären verloren, sobald sie von den Römern erkannt würden – in das ihnen selbst mit Recht zukommende Unheil auch die Menschen, die keinerlei Anteil an den Verfehlungen hätten. (414) So ermahnten sie die Menge, sich vor dem Unheil zu hüten, das jene brachten, und sich durch deren Auslieferung417 vor den Römern zu rechtfertigen (περὶ αὑτῶν πρὸς Ῥωμαίους ἀπολογήσασθαι τῇ τούτων παραδόσει).

Ant  14,117) ablöste, wurde 11  n.Chr. von Augustus eingesetzt (Philo, Flacc  74). Im Unterschied zum Jerusalemer Rat, der aus Priesterschaft und Adel bestand, war die Gerousia Alexandrias eine Vertretung aller Juden der Stadt. Ihr Organ war die Vollversammlung, die ἐκκλησία (412). Zur Geschichte der Juden Alexandriens nach 66 bzw. 70  n.Chr.: Smallwood, Jews 364–368 (insbesondere zur hier behandelten Krise); Harker, Egypt 212–220 („The Status of the Alexandrian Jews“). 416  Leicht modifizierte Übersetzung: Michel/Bauernfeind, Josephus II/2, 147–151. – Zum Text Egger, Crucifixus 116–118; zur Situation in Alexandria Schimanowski, Juden 189 f. 417  „Auslieferung“ an den Rat des jüdischen Gemeinwesens; Egger, Crucifixus 117 Anm.  420.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

III. Die Reaktion der Menge

(415) Da die Menge die Größe der Gefahr erkannte, ließ sie sich von den Worten überzeugen. Mit stürmischer Gewalt ging man gegen die Sikarier vor und nahm sie fest (συνήρπαζον αὐτούς). (416) Von ihnen ergriff man 600 sogleich, während diejenigen, die nach Ägypten hinein und besonders nach dem dortigen Theben entkommen waren, nicht lange danach gefangen genommen (συλληφθέντες) und zurückgeführt wurden.

IV. Die „Standhaftigkeit“ der Gefangenen

(417) Es gab niemanden, der nicht in Erstaunen gesetzt worden wäre über die Standhaftigkeit (τὴν καρτερίαν), sei sie nun Tollkühnheit (ἀπόνοιαν) oder unverbrüchliche Entschlossenheit (τῆς γνώμης ἰσχὺν) zu nennen. (418) Denn obschon man gegen sie Folterung und Verstümmelung ersann, nur um sie dazu zu bringen, den Kaiser als ihren Herrn zu bekennen (ὅπως αὐτῶν Καίσαρα δεσπότην ὁμολογήσωσιν), gab doch niemand von ihnen nach. Sie verweigerten diese Aussage und bewahrten trotz des Zwangs standhaft ihre Gesinnung, so als ob der Körper im Erleiden der Folterung und des Feuers keinerlei Empfindung habe und die Seele sich beinahe erfreut zeige. (419) Am stärksten wurden die Zuschauer freilich von dem jugendlichen Alter der Knaben ergriffen; ließ sich doch nicht einer unter diesen dazu überwinden, den Kaiser Herrn zu nennen (Καίσαρα δεσπότην ἐξονομάσαι)418 . So sehr vermochte die Kraft des Einsatzes die Schwäche der Körper zu beherrschen.

V. Einbezug des Kaisers (420) Damals verwaltete Lupus Alexandrien. Er gab so schnell in die Angelegenheit als möglich dem Kaiser Nachricht über diese Unruhen. (421) Der Kaiser freilich hegte den Verdacht, dass die umstürzlerische Gesinnung unter den Juden niemals aufhören werde. Er fürchtete, dass sie sich erneut zu einer einheitlichen Bewegung zusammenschließen und dabei auch andere noch für sich gewinnen würden. Daher befahl er dem Lupus, den Tempel der Juden in dem sogenannten Oniasbezirk zu zerstören.

Was die Jesus-ben-Ananias-Geschichte für den Jerusalemer Rat belegt, bestätigt die Sikarier-Episode für Alexandria: Der von Augustus eingerichtete jüdische Rat der Stadt, zu dem die „nicht unbedeutenden Männer unter den Juden“ (411) gehören, hatte die Pflicht, in der Gemeinde für geordnete Zustände zu sorgen, und trug damit mit Verantwortung für die Sicherheit der Stadt. Die Römer befürworteten die jüdische Selbstverwaltung, traten aber in kritischen Situationen wie hier selbst in Aktion. „Der Text setzt bei den Ältesten und der Volksversammlung die Anerkennung des römischen Staats- und Strafrechtes voraus. Wer Gemeinschaft mit den außerhalb des römischen Staatsrechtes stehenden Aufrührern machte, geriet selbst in äußerste Gefahr (κίνδυνος) und musste mit seinem ‚Verderben‘ (ὄλεθρος) rechnen, d. h. mit dem Verlust der eigenen Rechtssicherung und schwerster Bestrafung“419. 418  Michel/Bauernfeind, Josephus II/2, 282: „Καίσαρα δεσπότην ἐξονομάζειν klingt hier formelhaft“. 419  Ebd. 281.

1. Die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens gegen Jesus von Nazaret

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Wann die Römer eingriffen, verschleiert Josephus. Die römischen Leser sollen wohl den Eindruck erhalten, dass der jüdische Rat in Wahrnehmung seiner Verantwortung für das Gemeinwesen das Heft des Handelns von Anfang bis Ende in der Hand hielt. Josephus wollte bei seinen Lesern Bewunderung für die jüdische „Standhaftigkeit“ hervorrufen, wie er sie in Abschnitt IV in Erinnerung an die Makkabäer schildert420 , nicht aber über den rechtlichen Instanzenweg informieren. So bleibt unklar, welche Behörde die Sikarier foltert, der römische Statthalter421 oder der jüdische Rat. Dass den Gefangenen das Bekenntnis zum Kaiser als Herrn abverlangt wird, könnte für die römische Behörde sprechen422 . Die vielen Todesfälle (409) resultierten jedenfalls aus der Hinrichtung der Aufrührer durch die Römer. Deren Maßnahmen reichen indes weiter. Wie in Jerusalem, zerstörten sie auch in Ägypten den Oniastempel als möglichen Brennpunkt weiterer Unruhen. An der wohl zweitgrößten Stadt im Imperium bestätigt sich, was für Jerusalem gilt: Die Römer gewährten der jüdischen Gemeinde einen Sonderstatus und Freiraum für ihre Selbstverwaltung423. Sie verfügte über polizeiliche Kräfte, um die ihr zugewiesenen Aufgabe erfüllen zu können. Wäre der Rat der Juden im beschriebenen Fall seiner Verantwortung nicht nachgekommen, hätte dies die Existenz der jüdischen Gemeinde gefährdet. Die Sorge, welche die Verantwortlichen zum raschen Handeln nötigte, war die gleiche, die auch Kajaphas Joh  11,48 zufolge äußerte: „Wenn wir ihn [Jesus] gewähren lassen […], kommen die Römer und nehmen uns sowohl den (heiligen) Ort als auch das Volk weg“. 1.8 Das Zusammenspiel der Institutionen und seine Relevanz für das Verfahren gegen Jesus Es wäre „ein Fehler, von der Prämisse auszugehen, die Kompetenzabgrenzung zwischen statthalterlicher Strafgewalt und Synedrion sei rechtlich-institutionell genau geregelt gewesen“424. „[S]chon die Behauptung, der Statthalter sei für die politischen und das Synedrion für die religiösen Streitfälle zuständig gewesen, muss Misstrauen erwecken, wenn man die Gerichtsbarkeit in einem gesellschaftlichen Umfeld untersucht, in dem beide Bereiche miteinander untrennbar verwoben

420  Ebd. 282: „Der Abschnitt §  417–419 erinnert an die hellenistische Tradition der Standhaftigkeit der sieben Brüder in der syrischen Verfolgung (2Makk  7; 4Makk  8 –12) […])“. 421  Smallwood, Jews 366. 422  Michel/Bauernfeind, Josephus II/2, 282: Die verlangte „Erklärung würde die Überzeugung der galiläischen Aufstandsbewegung widerrufen […], dagegen mit der pharisäischen Tradition nicht in Konflikt kommen“. Egger, Crucifixus 118, denkt an eine „konzertierte Aktion“ zwischen dem jüdischen Rat und den Römern: „Verhaftung und Verhör unter der Folter liegen in der Verantwortung der Lokalbehörde, etwaige weitergehende Maßnahmen [wie Hinrichtungen] fallen in die Zuständigkeit der Römer“. Allerdings sei die Sachlage „letztendlich nicht zweifelsfrei“ zu klären. 423  Vgl. das Edikt des Kaisers Claudius für Alexandrien und Syrien (Antiochien) Jos, Ant  18, 280–285. 424  Kirner, Strafgewalt 169.

600

III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

sind“425. Als gesichertes Ergebnis darf gelten, dass die Römer während ihrer unmittelbaren Herrschaft im Land dem Hohepriester und der ihn beratenden Elite die Selbstverwaltung des jüdischen Gemeinwesens überließen und zugleich von dieser erwarteten, dass sie für Ruhe und Ordnung sorgt. Sie respektierten die Souveränität der hohen Priester über den Tempel wie deren Religionsgesetz, die Tora. Nur die Kapitalgerichtsbarkeit reservierten sie sich (abgesehen von unmittelbaren Tempeldelikten wie dem Überschreiten der Tempelschranke). Bei öffentlicher Ruhestörung darf mit konzertierten Aktionen beider Seiten gerechnet werden. Der Hohepriester mit seinen Beratern war zunächst am Zug, dann, falls notwendig, der Statt­ halter. Auf diesem Hintergrund gilt es als wahrscheinlich: Der Fall Jesu wurde im Zusammenspiel beider Seiten erledigt, nicht in Orientierung an einem „rechtlich geregelte(n) Instanzenzug“426 , sondern aufgrund einer Gewohnheitspraxis mit Vorteilen für die jüdische und römische Seite: Jene war, wenn sie einen für das Gemein­ wesen gefährlichen Unruhestifter loswerden wollte, auf den Statthalter angewiesen, dieser umgekehrt auf den Hohepriester, wollte er die römischen Machtansprüche möglichst geräuschlos durchsetzen. Dazu kam im konkreten Fall der Umstand, dass die Protagonisten Kajaphas und Pilatus sich offenkundig gut verstanden. Zwei extreme Lösungsansätze, die für eine Rekonstruktion des Verfahrens gegen Jesus bis heute attraktiv sind, können ausgeschlossen werden: Der eine lastet der römischen Seite alle Verantwortung auf und entlastet die hohen Priester. Der andere sieht in Pilatus deren Erfüllungsgehilfen und lastet alle Verantwortung der jüdischen Seite auf427. Die Annahme eines abgestuften, amtlichen Vorgehens, in das beide Seiten involviert sind, liegt näher. Pilatus gab den Ausschlag, denn er war es, der Jesus kreuzigen ließ. Die Bestimmung des Anteils der jüdischen Autoritäten am Verfahren konzentriert sich auf zwei Fragen: War „das ganze Synedrion“ an der Auslieferung Jesu beteiligt, wie Markus es darstellt (Mk  14,[53].55), oder nur der Hohepriester mit einem ad hoc zusammengerufenen Rat? Und damit zusammenhängend: Wurde Jesus schon jüdischerseits der Prozess gemacht, wie es Markus und Matthäus nahelegen, oder gab es nur ein Verhör zur Vorbereitung des Verfahrens vor dem Statthalter?

425  Ebd. 169 Anm.  141; ebd. 207 schließt er aus den 11 von ihm besprochenen Einzelfällen, dass „generell mit der Unberechenbarkeit der statthalterlichen Strafgewaltspraxis“ zu rechnen sei, „die sich je nach Ermessen, Gunst, Persönlichkeit, Parteilichkeit, Bestechlichkeit etc. unterschiedlich gestalten kann“. 426  Ebd. 286. 427  Siehe Hinführung in 2.2 („Thematische Schwerpunkte“).

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt Der „unendlich imponierende Eindruck des historischen Jesus hat es bewirkt, dass das Christentum seinen historischen Charakter nicht eingebüßt hat“. (Hermann Gunkel)428

Die letzten Tage und Stunden Jesu historisch rekonstruieren zu wollen, ist heikel. Das übliche Verfahren, die vier kanonischen Passionserzählungen gleichrangig auf historisch relevante Informationen zu befragen429, läuft auf ein Auswahl-Verfahren hinaus, das den komplexen literargeschichtlichen Zusammenhängen nicht gerecht wird. Wenn die älteste Fassung der Passionserzählung, die am Ursprung der Evangelien steht (= PEG), zur Grundlage des historischen Diskurses genommen wird, besteht eine gewisse Aussicht auf Erfolg430 . Der Einwand, dass diese älteste Fassung nichts anderes sei als ein hypothetisches Konstrukt, das aus literar- und überlieferungskritischen Analysen hervorgegangen sei (Teil  II), trifft zu. Aber es gibt keinen anderen Weg als den über die PEG. Die Evangelienproduktion, die erst mehr als vierzig Jahre nach Jesu Tod einsetzt, erlaubt keinen unmittelbaren Absprung in die Geschichte. Wird der hypothetische Charakter des nur scheinbaren Umwegs über die Vorgeschichte der evangeliaren Passionserzählungen offengelegt, ist die Solidität der erzielten Ergebnisse nicht grundsätzlich zu bezweifeln, sondern nur durch bessere Einsichten zu korrigieren. Die literar- und überlieferungskritischen Analysen von Teil  II haben die Annahme bestätigt, dass schon die PEG eine theologische Erzählung, kein historischer Bericht der Ereignisse der letzten Tage Jesu ist431. Unter Rekurs vor allem auf den Psalter versucht sie, das Skandalon des Kreuzestodes Jesu christologisch zu bearbeiten. Dies erschwert zwar die historische Rückfrage, verunmöglicht sie aber nicht. 2.1 Zwei Grundsätze der historischen Rückfrage (1) Die PEG erlaubt dort einen Blick in die historische Welt, wo Differenzen zwischen „harten Fakten“ und Deutungskontexten aufscheinen. „Hartes Faktum“ ist zweifelsohne der gut bezeugte Kreuzestod Jesu selbst. Die ganze Erzählung ist Niederschlag des Ringens um seine Deutung. Im Vergleich dazu führt die Frage nach der Historizität des titulus crucis in den Bereich größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit. Der titulus bzw. mindestens die prägnant von ihm formulierte Erinnerung daran, dass der Statthalter Jesus als politisch gefährlichen Messias­-

428 

Gunkel, Wirkungen 56. Blinzler, Prozess; Benoit, Prozess; aber auch noch Hengel/Schwemer, Jesus, und viele andere, auch Rechtshistoriker wie Paulus, Prozess, oder Kirner, Strafgewalt. 430  Eine Auswertung späterer Angaben wie Joh  19,13 (Ortsname) ist damit nicht ausgeschlossen: Reinbold, Bericht 282–290 („Historische Analyse einiger sekundärer Passionstraditionen“). 431  Siehe oben I.  1.8. 429 

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

prätendenten hat hinrichten lassen, gehört zu den historisch vertrauenswürdigen Angaben der PEG. Sie steht in Spannung zu ihrer Königschristologie insgesamt (siehe unten 2.2). Vom Psalter bzw. anderen biblischen Schriften imprägnierte Erzählzüge stehen von vorn­ herein unter dem Verdacht, fiktiv zu sein, können aber nicht per se als unhistorisch deklariert werden432 . Kriterium ist, ob sie mit literarischen433 oder gesellschaftlichen434 Konventionen konform gehen oder individuelle, nicht ableitbare Züge zu erkennen geben. Nur im zweiten Fall kann Historizität erwogen werden. Grundsätzlich ist damit zu rechnen, dass der lebendige Umgang der frühen Jerusalemer Gemeinde mit den biblischen Schriften als normativer Größe zu einer narrativen Kreativität führte, die im Rahmen des frühen Judentums und seiner haggadischen Produktivität alles andere als überrascht435.

(2) Ausgehend von den mehr oder weniger sicheren historischen Fakten sind aus ihnen abgeleitete Annahmen für andere Textpassagen der PEG auf ihre historische Kontextplausibilität436 zu überprüfen. Dabei sind unterschiedliche Ebenen in Betracht zu ziehen: (a) Harmonieren die postulierten Annahmen mit dem rechtshistorischen Kontext? Ein Beispiel ist das „Zusammenspiel“ von jüdischen und römischen Autoritäten, das extreme Re-Konstruktionen des Vorgehens gegen Jesus ausschließt (siehe oben 1.7). (b) Passen die historischen Annahmen zu dem, was sich sonst einigermaßen gesichert über Jesus sagen lässt? Dabei kann seine Gestalt von seiner Umgebung nicht isoliert werden. Die Erwartungen, die er in eschatologisch gespannter Atmosphäre durch sein Tun und Reden geweckt hat, sind mit einzurechnen, wenn es um seine Wahrnehmung sowohl durch die hohen Priester als auch durch den römischen Statthalter geht. Jesus als historisches Phänomen, das notwendigerweise Ambiguität auszeichnet437, ist mehr als die Summe der ihm überlieferungskritisch zuzuschreibenden Worte und Taten. (c) Lässt sich die Rekonstruktion des Vorgehens der hohen Priester gegen Jesus mit ihrem Tora-Verständnis korrelieren? Es ist ihnen zuzubilligen, dass nicht Willkür oder Böswilligkeit ihr Handeln bestimmten, sondern die Tora. Vom Typos her war Jesus ein eschatologi432  Dibelius, Formgeschichte 188: Oft genug dürfte aus der Schrift „Geschichte produziert“ worden sein. „Die Nachricht“ etwa von den 30 Silberlinge als Preis für den Verrat Jesu (Mt  26,15; vgl. Sach  11,12 f.) ist „nicht erkundet, sondern erlesen […]. Aber es wäre verkehrt, dieses Urteil auf alle Begebenheiten anzuwenden, die als Erfüllungen des Alten Testaments dargestellt werden. Einige von ihnen sind mit großer Wahrscheinlichkeit aus allgemein historischen Gründen für geschichtlich zu halten“. – Hengel/Schwemer, Jesus 574, verharmlosen, wenn sie von „einzelne(n) Texte(n)“ des AT sprechen, die „mit der Erinnerung an Jesu Passion verbunden“ worden seien; Frenschkowski, Offenbarung 200: „Die atl. Anspielungen sind das gegenüber der Geschichte Sekundäre, oft eher Artifizielle“; „abgesehen von dem Psalmzitat [Mk  15,34)“ haben sie „etwas Zusammengesuchtes und Sekundäres“. 433  Das letzte Wort Jesu etwa, Ps  2 2,2, entspricht der gattungsgeschichtlichen Konvention der verba ultima, lässt sich deswegen historisch nicht sichern. 434 Beispiele sind das Spolienrecht des Henkers (Kleiderverteilung: Reinbold, Bericht 271 Anm.  146) oder die Gewohnheit, einem Todgeweihten einen Betäubungstrank zu reichen: siehe unten III.  2.6.2. 435 Vgl. Theobald, „Geburtsankündigungen“ 20 f. – Sehr wahrscheinlich hat Lk die Herodes-­ Episode 23,6–12, die keine historisch prägnanten, unableitbaren Züge aufweist, als ganze aus Ps  2,2 (vgl. Apg  4,25 f.) herausgesponnen: Bovon, Jours 56 f. 436  Theißen/Winter, Kriterienfrage 183–191. 437  Siehe Hinführung unter 1.1.2 („Plädoyer für ein neues Ambiguitätsparadigma“).

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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scher Prophet mit besonderem Anspruch. Deshalb werden ihn die hohen Priester auch an den Weisungen der Tora zum Umgang mit Propheten und Pseudopropheten gemessen haben.

2.2 Der titulus crucis als axiomatischer Konstruktionspunkt der Passionserzählung  – historisch und theologisch Dtn  21,23 hat als angebliches Verdikt der Tora über den am Kreuz Aufgehängten als „Fluch Gottes“ für die Entstehung der ältesten Passionserzählung eine Schlüsselstellung438 . Gleiches gilt vom titulus crucis (2.2.1), von dem Paul Winter zurecht sagt, er sei „the one solid and stable fact that should be made the starting point of any historical investigation dealing with the Gospel accounts of his trial“439. Der titulus nennt den „Grund“ (αἰτία) der Hinrichtung Jesu, seinen angeblichen Anspruch, Königsprätendent zu sein. Die PEG greift das Stichwort auf, interpretiert es im Licht der Schriften grundlegend neu und „entpolitisiert“ es damit (2.2.2)440 . 2.2.1 Zur Historizität des titulus crucis Seit langem ist strittig, ob der titulus crucis echt ist. Die Stellungnahmen reichen von Ablehnung über Skepsis bis zur Annahme großer Wahrscheinlichkeit. Die Mehrheit der Forschung plädiert für Historizität441. Die beiden jüngsten Stellungnahmen aus der Feder von Ingo Broer und Niclas Förster dokumentieren die Bandbreite: Während Broer non liquet sagt, argumentiert Förster nachdrücklich für Historizität: „Das einzige schriftliche und dazu im amtlichen Auftrag angefertigte Dokument über Jesus, von dem wir heute noch wissen, ist der Text auf der Tafel am Kreuz. Nach übereinstimmender Überlieferung aller vier Evangelien war darauf der Grund für seine Verurteilung zu lesen“442 . Drei Argumente sprechen für die Historizität des titulus.

438 

Vgl. oben I.  1.2.1.3. Winter, Trial 156. 440  Zum Folgenden vgl. Theobald, Blasphemie 235–241 („Die Konstruktionsprinzipien der Passionserzählung“). 441  Für Echtheit: Bammel, Titulus 356 („not […] too far from the truth“); Becker, Jesus 436 f.; Bovon, Lk IV 466 („Historisch ist die Kreuzesinschrift eine der sichersten Gegebenheiten der Passion Jesu“); Burkill, Trial 16; Dahl, Messias 159 f.; Demandt, Prozess 180 („glaubhaft“ – die Tafel konnte „von vielen gesehen werden, so dass die Erinnerung an sie lebendig bleiben konnte“); Dibelius, Problem 256; Dormeyer, Passion 195 Anm.  782; Egger, Crucifixus 195 f.; Förster, Titulus; F. Hahn, Hoheitstitel 178; Hengel/Schwemer, Jesus 615; Keener, Jesus 323; Kirner, Strafgewalt 263; P.L. Maier, Inscription; Meeks, Prophet-King 79 Anm.  1; Niemand, Jesus 433– 436; Theißen/Merz, Jesus 401; P. Winter, Trial 107–110. – Dezidiert gegen Echtheit: Bultmann, Geschichte 293; Conzelmann, Historie 37 f.48; Haenchen, Historie 205 f.; Linnemann, Studien 154. – Skeptisch bis ablehnend Reinbold, Prozess 94 („Es ist unsicher, ob der titulus am Kreuz ein historisches Faktum ist. Aus meiner Sicht spricht mehr dagegen als dafür“) (anders noch ders., Bericht 275). – Nicht entscheidbar: Kuhn, Kreuzesstrafe 733–735; Broer, Kreuzestitulus 283 („die Nichthistorizität des titulus“ sei „nicht erwiesen, aber die Historizität doch fraglicher […], als sie in der Regel dargestellt wird“). 442  Förster, Titulus 113. 439 P.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

(1) Das Königsmotiv in Verbindung mit den synonymen Messias- und Sohnes-Prädikationen ist Leitmotiv der PEG 443. Sie benutzt es – vom titulus crucis abgesehen – in einem von der Schrift bestimmten affirmativen Sinne durchweg positiv. Das Bekenntnis Jesu vor Pilatus, „der König der Juden“ zu sein (Mk  15,2 = PEG), ist für den Statthalter kein Grund, ihn kreuzigen zu lassen, es sei denn, das Bekenntnis ginge mit verwerflichem Tun einher, was seine rhetorisch zu verstehende Frage: „Was hat er denn Böses getan?“ (Mk  15,12 = PEG) aber ausschließt. Auch an den übrigen Stellen verleiht die PEG dem Motiv eine heilsgeschichtlich-messianische Dimension, ohne mit ihm einen politischen Anspruch zu verknüpfen. Anders der titulus crucis, der den „Grund“ (αἰτία) nennt, warum Jesus hingerichtet wurde: sein angeblich „königlicher“ Herrschaftsanspruch, der ihn aus Sicht des Statthalters als gefährlich erscheinen ließ. Ein seit Jahrzehnten in Palästina etabliertes Muster wird sichtbar, wie Josephus es in Zusammenfassung der unruhigen Jahre nach dem Tod des Herodes kennzeichnet: „So war Judäa eine wahre Räuberhöhle, und wo sich nur immer eine Schar von Aufrührern zusammentat, wählten sie gleich Könige zum Verderben des Gemeinwesens (ὃς παρατύχοι τινῶν οἳ συστασιάσοιεν αὐτῷ βασιλεὺς προιστάμενος ἐπ’ ὀλέθρῳ τοῦ κοινοῦ ἠπείγετο). Denn während sie den Römern nur unbedeutenden Schaden zufügten, wüteten sie gegen ihre eigenen Landsleute weit und breit mit Mord und Totschlag“ (Ant  17,285)444.

Für die Jahrzehnte zwischen Zeitenwende und Kriegsbeginn führt Josephus derartige Königsprätendenten namentlich auf, verdeckt allerdings ihren messianischen Anspruch und degradiert sie zu bloßen Aufrührern445. Sie alle träumten von der Theokratie, dem Anbruch der Königsherrschaft Gottes, die sie sich als Befreiung Israels von der Fremdherrschaft der Römer vorstellten. Dieses Muster dürfte die Außenwahrnehmung Jesu durch den Statthalter mitbestimmt und im titulus crucis seinen Niederschlag gefunden haben446 . Demgegenüber unternimmt die PEG alles, um vom Proömium an Jesu Königtum in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Die Spannung zwischen ihrer schriftgesättigten Königschristologie und dem sperrigen titulus ist deutliches Indiz seiner Historizität. 443 

Siehe oben in II.  13.2 den Abschnitt: Christologische Leitmotivik der PEG und ihre Intention.

444 K. Müller, Möglichkeit 82: „In der durch und durch römischen Rechnung des Josefus war

offensichtlich jede versuchte Minderung des umfassenden Imperium Romanum gleichbedeutend dem Aufbau einer konkurrierenden Macht – identisch mit der Ambition auf ein anderes ‚Königtum‘“. 445  Siehe unten Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. 446 K. Müller, Möglichkeit 82, sieht im titulus „den gerafften Niederschlag einer technischen strafrechtlichen Bezeichnung für den Tatbestand der ‚perduellio‘“ und beruft sich hierfür auf Jos, Ant  17,285, was allerdings strittig ist: Josephus benutzt der βασιλεύς-Titel hier noch nicht „‚technisch‘ als Bezeichnung aller rom- und staatsfeindlichen Bandenführer“ (Egger, Crucifixus 197); anders wiederum Förster, Titulus 122–128: Beim titulus crucis könnte konkret an die beiden Königsprätendenten Simon und Athronges gedacht sein (siehe unten Nr.  3 und 4 der Liste im Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc.); vgl. auch Cohick, Jesus 115–119; S. Schreiber, Gesalbter 439–442 und 275–317 („Potentielle realpolitische Prätentionen auf die Königsherrschaft eines Gesalbten“).

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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Wolfgang Reinbold zufolge spricht „der Inhalt des titulus klar gegen dessen Historizität. Denn im Kontext des Passionsberichtes ist […] ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων ein messianischer Titel, und der Schuldangabe geht das (m. E.) zweifellos unhistorische Bekenntnis Jesu zu dem Anspruch, der ‚König der Juden‘ zu sein, voraus (Mk 15,2 par. […])“447. In der Tat zeigt der definite Artikel „der König der Juden“ titularen Sprachgebrauch an. Überall, wo die PEG den Königstitel verwendet, setzt sie ihrer christologischen Perspektive gemäß den Artikel448 . Deshalb muss sie den titulus nicht erfunden haben449. Wahrscheinlich hat sie den Artikel zu einem ursprünglich nicht-christologischen βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων hinzugesetzt. Der titulus war schon in der PEG doppeldeutig. Einerseits nennt er den Grund der Hinrichtung Jesu, andererseits proklamiert er im Duktus der ganzen Erzählung Jesu wahres Königtum450 . Das zweite von Reinbold angeführte Argument bezieht sich auf die Relation von Mk  15,2 und 15,26. Wie Bultmann sieht er den titulus crucis im Licht von Mk  15,2 und folgert: Wenn 15,2 unhistorisch ist, dann auch 15,26. Ingo Broer dagegen schließt nicht aus, das Verhältnis der beiden Verse auch entgegengesetzt zu bestimmen, wofür aber „Argumente vor(zu)tragen“ wären451. Er selbst sieht sie nicht452: Die Sperrigkeit von 15,26 aus Sicht der Königs­ christologie der PEG gibt Antwort: Der titulus als historische Erinnerung ist primär, seine christologische Verarbeitung durch die Pilatusszene wie die PEG insgesamt sekundär453.

(2) „Eine christologische Titulatur Jesu als ‚König der Juden‘ hat das Urchristentum nirgends entwickelt. Nicht einmal der Titel ‚König Israels‘, der theologiefähi447  Reinbold, Bericht 275 (vorsichtiger ders., Prozess 94 [siehe oben]). Reinbold folgt dem Argumentationsmuster Bultmanns: „V.2 […] ist sekundäre Erweiterung; dann ist aber auch der mit V.2 zusammenhängende V.26 (Kreuzesinschrift) als sekundär erwiesen. Der Zweck dieser Zusätze ist klar: wie in dem sekundären Bericht 14,55–64 soll die Darstellung unter den Gesichtspunkt gestellt werden, dass Jesus wegen seines Messiasanspruchs hingerichtet worden ist“ (Geschichte 293); ebenso Linnemann, Studien 154. 448  Joh  12,13; Mk  15,32: ὁ βασιλεὺς τοῦ Ἰσραήλ; Mk  15,2 par. Joh  18,33: ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων. In Mk  15,18, χαῖρε βασιλεῦ τῶν Ἰουδαίων, ist der Artikel in vielen Handschriften nachgetragen. 449  Riedo-Emmenegger, Provokateure 300 f. Anm.  2 289: „[…] die christologische Formulierung ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων spricht nicht unbedingt gegen die Historizität der inhaltlichen Aussage“; ähnlich Egger, Crucifixus 196 Anm.  248. 450  Entsprechend hat die PEG die Szene arrangiert: In der Mitte thront der König, ihm zur Rechten und Linken seine beiden Adjutanten. 451  Broer, Kreuzestitulus 271: „Zugunsten des titulus spricht […] schon eher die Tatsache, dass das literarische Verhältnis zwischen 15,2 und 26 sehr häufig umgekehrt beurteilt wird, dass nämlich 15,26 auf Tradition beruht, während 15,2 auf Redaktion zurückgeht [so Niemand, Jesus 436]. Aber dafür muss man natürlich Argumente vortragen“. Ebd. 269: „Historisch könnte der titulus […] allenfalls dann sein, wenn Jesus sich in Mk  15,2 zu seinem Königtum bekannt und damit politische Ambitionen nicht von sich gewiesen hätte oder aber, wenn 15,2 von 15,26 abhängig wäre“. Auch Reinbold, Bericht 275 f., erwägt das Gefälle von 15,26 zu 15,2, hält es indes für nicht plausibel. 452  Zu einem anderen Argument meint Broer, Kreuzestitulus 276: „Auf Mk  15,29–32 sollte man sich als Stütze für die Historizität des titulus besser nicht berufen, da diese Perikope sich kaum dem ältesten Passionsbericht verdankt, vom Bericht über das Verhör vor dem Synhedrium nicht zu trennen ist und wahrscheinlich auf den Evangelisten zurückgeht“ (unter Bezug auf Dormeyer, Gnilka, Lührmann und Reinbold). Auch wenn diese Einschätzung fehl geht (siehe oben II.  10.6 unter [5]), ist mit der Zugehörigkeit dieser Episode zur PEG über ihre Historizität noch nichts gesagt (siehe unten). 453  Bovon, Lk IV 385: Die christliche Tradition „wählt [bei der Pilatus-Frage im Prozess] diesen Ausdruck [König der Juden], indem sie vom titulus ausgeht, dessen historische Erinnerung sich durch die Jahre hindurch erhalten hat“.

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gere Varianzbegriff aus jüdischer Formulierung (Mk  15,32 par. Mt  27,42), wurde nachösterlich zu einer nennenswert verbreiteten christologischen Leitkategorie“454. Daraus lässt sich mit Christoph Niemand u. a. folgern, dass es für eine nachöster­ liche Bildung des Titels durch den Verfasser der PEG keinen Grund gab. Im Gegenteil: „[D]ie nachösterliche Gemeinde“ hatte kein „Interesse daran, einen politisch missverständlichen Königsanspruch Jesu, der sie in Schwierigkeiten brachte (vgl. Apg  17,7), zu erfinden“455. „[D]er Sachverhalt“ schmaler Bezeugung des König-Titels lässt sich „nicht bestreiten“456 . Beim titulus crucis könne es sich Ingo Broer zufolge indes „lediglich um die pagane Übersetzung des Messiastitels“ handeln entsprechend dem je unterschiedlichen Einsatz des Titels für die verschiedenen Erzählfiguren bei Markus457. Den eigentlichen Punkt, die Verknüpfung des titulus „König der Juden“ mit der Angabe des Hinrichtungsgrundes, ist damit aber nicht getroffen. Während die Bejahung der Frage, ob Jesus der „König der Juden“ sei, in der Pilatus-Szene kein crimen darstellt, steht der titulus in der Kreuzigungsszene für das geahndete crimen Jesu. Der titulus ist also mehr als „lediglich die pagane Übersetzung des Messias­ titels“. Gegen seine Deutung im Kontext der Darstellung der Messiasprätendenten durch Josephus verweist Broer auf „die positive Darstellung des Messiaskönigs in PsSal“, die „nicht genügend zur Kenntnis“ genommen werde. Sie erweise, dass die Königsrede aus genuin jüdischem Kontext stammen könne, nicht paganen Ursprungs sein müsse458 . Tatsächlich ist in PsSal  17 und 18, den beiden messianischen Psalmen der Sammlung, von der „Majestät des Königs Israels, den Gott erwählte“ (17,42; vgl. 17,21.32), die Rede, vom „Gesalbten des Herrn“ (17,32; 18 incipit; 18,5.7), dem „Sohn Davids“ (17,21), der „Israel“ von seinen Sünden „reinigen“ (18,5) und mit dem „Wort seines Mundes“ (17,24.35.37) am Ende der Tage über die Völker herrschen wird. Das Bild des Königs, das mit jesajanischen Farben gemalt ist, lässt sich mit dem des Königs Jesus in der PEG vergleichen459. Aber das Syntagma „König der Juden“ begegnet nirgends in diesen Texten. Eine Erklärung für die Verwendung der christologischen Königstitulatur in der PEG bieten die Psalmen Salomos nicht.

(3) Bekanntlich kennt die antike Literatur kaum Analogien zum titulus crucis, darunter keinen einzigen Beleg für die Anbringung eines titulus am Kreuz, immerhin einen, der sich in einer Kreuzigungserzählung findet (Dio Cassius, etwa 163–235 n.Chr.)460 . Als Fannius Caepio eine Verschwörung gegen Augustus anzettelt und 454 

Niemand, Jesus 435. Ebenso Brown, Death II 968. Theißen/Merz, Jesus 401. 456  Broer, Kreuzestitulus 280; ebd. 281 f.: „Die Beschränkung des Titels ‚König der Juden‘ auf die Verhandlung vor Pilatus und die Kreuzigungsszene in den synoptischen Evangelien – mit Ausnahme von Mt  2,2 – ist ebenso auffällig wie die Beschränkung des Titels ‚König Israels‘ auf Mk  15,32 par Mt  27,42“. 457  Ebd. 282. 458  Broer, Kreuzestitulus 283. Die Darstellung der Messiasprätendenten durch Josephus sei „einseitig“. 459  Beachtlich ist PsSal  17,33: „Denn er wird nicht auf Pferd und Reiter und Bogen hoffen, noch wird er aufhäufen für sich Gold und Silber zum Kriege, und nicht auf die vielen [Völker] stützt er (seine) Hoffnung für den Tag des Krieges. Der Herr selbst ist sein König, die Hoffnung des Starken (besteht) in der Hoffnung auf Gott […]“ (Kraus/Karrer [Hg.], Septuaginta Deutsch 930). 460  Broer, Kreuzestitulus 275: Angesichts der wenigen erhaltenen Berichte über Einzelkreuzigungen (Kuhn, Kreuzesstrafe 691–704, bietet für die ersten eineinhalb Jahrhunderte n.  Chr. 11 455 

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diese aufgedeckt wird, verurteilt ihn ein römisches Gericht in Abwesenheit zum Tod461. Ein ihm ergebener Sklave aus dem väterlichen Haus verhilft ihm zur Flucht, ein anderer verrät ihn: Er wird gefasst und hingerichtet (23  v.Chr.). „Als der Vater Caepios dem einen der zwei Sklaven, die seinen Sohn auf der Flucht begleitet hatten, die Freiheit schenkte, weil er seinem jungen Herrn im Tode helfen wollte, den anderen hingegen, der den Sohn verraten hatte, durch die Mitte des Forums mit einer Aufschrift, welche den Grund seiner Verurteilung zum Tode kund tat, abführen und hierauf kreuzigen ließ, nahm der Herrscher [sc. Augustus] keinerlei Anstoß“ (DioC 54,3,7).

Was mit der Tafel geschah, verrät der Text nicht; dass sie am Kreuz deponiert oder angebracht wurde, ist „nicht auszuschließen“462 . Sueton erwähnt bei zwei Gelegenheiten einen titulus, der jeweils den Grund der Bestrafung nennt und öffentlich macht. Die erste Geschichte stammt aus seiner Caligula-Biographie: „In Rom übergab er einen Sklaven, der während eines öffentlichen Gastmahls eine silberne Platte von einem Sofa entwendet hatte, sofort dem Henker mit dem Befehl, ihm die Hände abzuhauen und sie ihm um den Hals gebunden auf die Brust herunterhängen zu lassen. So wurde er zwischen den Tischen der Speisenden herumgeführt, wobei eine Tafel vorangetragen wurde (praecedente titulo), die den Grund der Strafe angab (qui causam poenae indicaret)“ (Suet, Cal  32,2).

In der Domitian-Biographie heißt es: „Ein Familienvater, der im Zirkus gesagt hatte, ein thrakischer Kämpfer sei wohl einem Murmillo [= Gladiator] gewachsen, aber nicht dem Veranstalter der Spiele [Domitian], wurde von seinem Platz weg in die Arena geschleift und Hunden vorgeworfen, wobei man eine Tafel mit der Inschrift: ‚Ein Schildknappe der Thraker, der eine Majestätsbeleidigung ausgesprochen hat‘ (cum hoc titulo: impie locutus parmularius) anbrachte“ (Suet, Dom  10,1)463.

Auch wenn die beiden „schaurig-groteske(n) Anekdoten über die Willkürmacht einzelner Cäsaren […] nicht von einem normalen Rechtsbrauch bei Hinrichtungen“ sprechen464, das Motiv des titulus samt Schuldangabe wird nicht aus der Luft gegriffen sein. Euseb bestätigt dies, wenn er im Rahmen des Martyrium Lugdunensium von der Hinrichtung des Attalus (†177 n. Chr.) berichtet: „Er wurde im Amphitheater im Kreis umhergeführt, während eine Tafel vor ihm hergetragen wurde (πίνακος αὐτὸν προάγοντος), auf der in Latein geschrieben stand: ‚Dies ist Attalus, der Christ (οὗτός ἐστιν Ἄτταλος ὁ Χριστιανός)‘, und das Volk platzte fast vor Wut über ihn. Belege [Nr.  1–8, 11a, 11b und 12]) ist „ein Beleg für einen titulus [im Kontext eines solches Berichts] nicht gerade eine vernachlässigenswerte Größe“. 461  Vgl. Suet, Aug  19; Tib  8 . 462  Niemand, Jesus 434; Broer, Kreuzestitulus 276: „Dass wir außerhalb der Evangelien keine Belege für tituli am Kreuz haben, besagt […] nicht, dass es sie nicht gab, und die Tatsache, dass in den Evangelien diese Vorstellung begegnet, besagt zumindest, dass die Evangelisten solche tituli am Kreuz für möglich hielten“. 463  Übersetzung A. Lambert; wörtlich: Es sprach beleidigend ein Schildfreund [sc. Anhänger der mit einem kleinen Rundschild, parma, bewaffneten thrazischen Fechter]. 464  Niemand, Jesus 434.

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Als nun der Statthalter (ὁ ἡγεμών) erfuhr, dass er Römer war, befahl er, ihn wieder einzuschließen mit den übrigen, die im Gefängnis waren. Über die hatte er dem Kaiser berichtet und erwartete sein Antwortschreiben“ (Eus, HistEccl  5,1,44).

Die nur gelegentliche Bezeugung der Praxis, den Hinrichtungsgrund eines Delinquenten dadurch öffentlich bekannt zu machen, dass ihm eine Holztafel umgehängt oder auf dem Gang zur Hinrichtung vorangetragen wurde, ist nicht dazu geeignet, die Historizität des jesuanischen titulus crucis in Zweifel zu ziehen. Aus den wenigen Analogien lässt sich im Gegenteil ein Argument zugunsten seiner Historizität schmieden: „Ein fixer Bestandteil von faktischen Hinrichtungen bzw. ein Repertoiremotiv von standardisierten Hinrichtungserzählungen mag im Einzelfall leicht hinzugedichtet werden. Unüblichkeit spricht dagegen für konkrete historische Erinnerung“465. Es gibt also gute Gründe für die Annahme, dass der titulus crucis, den man sich auf einer Holztafel vorzustellen hat466 , historisch ist und gelautet hat: „König der Juden (βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων)“467. Die Frage, ob auch bei den anderen, die mit Jesus gekreuzigt wurden, der Hinrichtungsgrund mittels einer Tafel öffentlich gemacht wurde, ist unbeantwortbar468: Die PEG interessiert sich nur für Jesus. Die beiden Mitgekreuzigten, die sie absichtsvoll links und rechts gleichsam als seine Adjutanten platziert, dienen nur dazu, den „König der Juden“ in der Mitte gebührend in Szene zu setzen469. Die Frage nach der Augenzeugenschaft für den titulus beantwortet sich mit dem Hinweis auf die Öffentlichkeit des Geschehens vor den Toren der Stadt470 , konkret vielleicht durch die Rolle der in der PEG auftretenden Frauen, von denen angenommen werden darf, dass sie die Kreuzigung „von ferne“ miterlebten (siehe unten). War die Verwendung eines titulus bei Kreuzigungen keine übliche Praxis, dann lässt sich darüber spekulieren, welche Motive Pilatus mit ihm verband. Wahr465  Niemand, Jesus 435; so auch Becker, Jesus 436; Theißen/Merz, Jesus 401; Maier, Inscription 60. Förster, Titulus 117–119; ebd. 118: „In der Regel übernahm ein bestellter Ausrufer die Aufgabe, den Grund des Todesurteils öffentlich bekanntzugeben, und zwar entweder unmittelbar bevor der Delinquent zur Urteilsvollstreckung abgeführt wurde oder auf dem Weg zum Ort der Hinrichtung. Nur in wenigen Fällen ist davon die Rede, dass diese Funktion ein umhergetragenes Schild übernahm“ (unter Bezug auf Latte, Art. Todesstrafe 1618; Riepl, Nachrichtenwesen 337). 466  Zur Holztafel, die seit 1492 in Rom in Santa Croce in Gerusalemme gezeigt wird, siehe ­Jaroš, Sachen 103–108 (mit Abbildung und Erläuterungen), außerdem die Lit. bei Förster, Titulus 115 Anm.  9. 467  Zur Fassung ohne den definiten Artikel siehe oben unter (1). Die Belege von Dio Cassius und Sueton (anders Eusebius) stützen die Ursprünglichkeit der mkn. Fassung des titulus ohne Namen (Mk  15,26 par. Lk  23,38; anders Mt  27,37; Joh  19,19) (vgl. Broer, Kreuzestitulus 276); Schnackenburg, Joh III 314, zufolge dürfte der Name Jesus auf der Kreuzestafel nicht gefehlt haben. 468  Linnemann, Studien 154, bemerkt, „dass die Kreuzigungsperikope einen solchen titulus nur für Jesus, nicht aber für die beiden Räuber erwähnt“; so bereits Joh. Chrysostomus, Hom. zu Joh 85,1 (PG 59, 461); vgl. Geiger, Titulus 206 f. („APPENDIX: INVENTIO TITULI“). 469  Theobald, Magd 116 f. 470  Bammel, Titulus 356: „Executions used to be public occasions at this time […], and people […] remembered clearly what had been visible to their own eyes“.

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scheinlich galt er der öffentlichen Ächtung des Hingerichteten (proscriptio). Doch wen wollte Pilatus damit treffen? Wohl weniger Jesus471 als eher all die, welche vor den Toren der Stadt den Gekreuzigten sahen. War die Aktion des Statthalters antijüdisch?472 Wenn Pilatus nicht der Judenhasser war, den Josephus und Philo in ihm sehen473, sollte dieses Motiv ihm auch hier nicht voreilig unterstellt werden. Näher liegt die Annahme einer „öffentliche(n) Demonstration“ der Härte gegen alle messianischen Königsansprüche474. Davor wollte der Römer warnen. 2.2.2 Die theologische Sublimation des Hinrichtungsgrundes mittels des biblisch gesättigten Königsmotivs: Ein negatives Ergebnis Die PEG knüpft an den titulus crucis an und macht ihn zum Ausgangspunkt ihrer christologischen Sicht. Sie „entpolitisiert“ ihn, indem sie ihn unter dem Vorzeichen des Bekenntnisses zur Auferweckung Jesu einer „interpretatio christiana“475 unterzieht. Das Königsmotiv fächert sie rückläufig im Licht vor allem von Psalm 2 in die Trias König – Gesalbter – Sohn aus, von der sie insgesamt geprägt ist: angefangen von der Einzugserzählung („Gesegnet … der König Israels“: Joh  12,13) über die Verhandlung vor dem Synedrion („der Gesalbte“/„der Sohn“: Mk  14,61) und den Prozess vor Pilatus („der König der Juden“: Mk  15,2.12.18) bis zur Kreuzigungs­ szene („der König Israels“; „der König der Juden“: Mk  15,26.32). Für die Frage der Historizität hat das Konstrukt dieser tragenden Säulen der PEG gravierende Folgen. Das Exordium der PEG, die Doppelszene vom Einzug Jesu in Stadt und Tempel, ist mittels Sach  9,9 f., 2Kön  9,12 f. und Ps  118,25b.26 in die Gesamtkonzeption der PEG eingebunden: Analog zum titulus crucis am Ende der PEG könnte auch hier ein politisches Verständnis des Königtums durchscheinen476 , ist von der „interpretatio christiana“ der Szene aber im Licht der Schrift überlagert: Jesus „sitzt“ auf einem harmlosen Fohlen und wird von der Menge als „König Israels“ begrüßt. 471  Reinbold, Prozess 94, sieht in dem von Seneca, Dio Cassius und Eusebius überlieferten Einsatz von Tafeln mit Angabe des Strafgrunds „einen Akt spontaner Demütigung“. „[S]tets (ging es) darum, den Delinquenten vor seinem Tod auf grausame Weise zu verspotten. Er soll öffentlich für seine Tat gedemütigt werden“ (93). Lässt sich das auf die Passionserzählung übertragen: „Aus der Tatsache, dass Pilatus einen titulus anfertigen und an das Kreuz nageln ließ, müsste man folgern, dass er Jesus auf grausame Weise demütigen wollte (etwa weil er von ihm persönlich beleidigt worden war). Davon indes findet sich in der Passionsgeschichte keine Spur“ (95). 472  Dinkler, Petrusbekenntnis 148: „judenverächtlich“; Hengel/Schwemer, Jesus 615: „eine öffentliche Verhöhnung aller Juden“. 473  Siehe oben III.  1.4. 474  Förster, Titulus 133: Der titulus sollte „das Leiden selbst zu einer abschreckenden Desavouierung von Messiashoffnungen und zu einer ‚coercitio‘ der ‚Judaea gens‘ werden“ lassen; vgl. auch Cohick, Jesus 132. 475 J. Gnilka, Verhandlungen 15, vom Messiasbekenntnis Mk  14,61 f. 476  So sieht etwa S. Schreiber, Anfänge 53, in Mk  11,9 f. „eine national-politische Hoffnung auf die Restauration des davidischen Reiches und einen neuen messianischen Herrscher artikuliert“, hält es dank des Konstrukts der Szene aber zurecht für schwierig, „die historischen Verhältnisse hinter der Erzählung zu beurteilen“. Förster, Titulus 130: „Das feierliche Einreiten nach Jerusalem und die öffentliche Akklamation war ein Teil des israelitischen Königsrituals“.

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Die Szene vor dem Synedrion ist schon deswegen verdächtig, weil Augenzeugen für sie fehlen477. Die Frage des Hohepriesters: „Bist du der Messias/der Gesalbte, der Sohn des Hochgelobten?“ erweist sich insofern als sekundäre Bildung, als zwar der Genitiv „(Sohn) des Hochgelobten“ jüdische Kontur besitzt und zur Erzählfigur passt478 , nicht aber der definite Artikel, der eine titular verfestigte Messias-Vorstellung transportiert, die es im frühen Judentum mit seiner Vielfalt an Messias-­ Bildern so nicht gab479. Die Erläuterung des Titels mit dem Gottessohn-Prädikat480 assoziiert die königlich-davidische Messianologie, weshalb die Frage, sollte sie historisch sein, im zeitgenössischen Umfeld der römischen Besatzung Palästinas notwendigerweise politischen Charakter erhielte, der eine bejahende Antwort Jesu („ich bin es“) nach allem, was wir über ihn wissen, ausschließen müsste481. Auch wenn die Frage des Hohepriesters im Echoraum zeitgenössischer Messianologie steht482 , ihre konfessorische Bestimmtheit samt eindeutiger Antwort Jesu erklärt 477 

Siehe Hinführung unter 2.2 den Abschnitt zum Kriterium der „Augenzeugenschaft“. Das entspricht dem konsequenten Wechsel des Genitivs „(König) der Juden“ bzw. „Israels“ je nachdem, wer diese Wendung im Mund führt; vgl. oben II.  8.2 unter Punkt (2). 479  In den frühjüdischen Texten begegnet „Gesalbter“ (im Sg. oder Pl.) regelmäßig mit Genitiv (vgl. etwa 1Hen  48,10; 52,4: „Herrschaft seines Gesalbten“; 1QS  9,11: „Messiasse Aarons und ­Is­raels“; PsSal   17,32: βασιλεὺς αὐτῶν χριστὸς κυρίου; 2Bar  39,7;), nicht absolut wie in Mk  14,62. Zur Vielfalt der frühjüdischen Messiasbilder vgl. A.Y. Collins, Mk 53–64; J.J. Collins, Scepter; van der Woude, A.S./de Jonge, M., Art. χρίω 500–518; Evans, Jesus 83–154; S. Schreiber, Gesalbter 145–534; Talmon, Typen. 480  Dieser „ist darum Königstitulatur und bezeichnet die Erwählung des Messias durch Gott, nicht dessen Abstammung von Gott“ (J. Gnilka, Mk II 281). 481 S. Schreiber, Gesalbter 541: Das frühe Judentum kennt „keine fest umrissene, in ihren Motiven völlig einheitliche königliche Gesalbtenerwartung“, aber die „Bilder von herrscherlichen Gesalbten-Gestalten“ gruppieren sich doch „um einen gemeinsamen [. . .] Kern von Vorstellungen“. Dazu gehört auch die endzeitliche Unterwerfung der Völker: Ps  2,8–12; PsSal  17,21–25; 4Q285 Frg.  5; 4QpIsa Frg.  7–10; 1QM  19,9–13: „Once again we encounter the expectation of the appearance of a mighty figure who will rout the Romans (i. e. the Kittim) and, according to this text [sc. 4Q285 Frg.  5], possibly slay the Roman emperor himself“ (Evans, Jesus 131). M. de Jonge, Use 171: „If Jesus called himself ‚Messiah‘ he must have filled this designation with a totally different content. Therefore he was very cautious in using it: he wanted to avoid a nationalistic, zelotic misunderstanding of the term“. 482  Allerdings sind es nur wenige Texte, welche die Sohnes-Prädikation messianisch deuten: (1) 4Q174 (= 4Qflor): 3,11 f.: „Ich [werde] für ihn Vater sein und er wird für mich ein Sohn sein (2Sam  7,14). Das ist der Spross Davids, der mit dem Toraerteiler auftritt, welchen [Er auftreten lassen wird] in Zi[on am E]nde der Tage […]“ (Maier, Qumran-Essener II 104 f.); U.B. Müller, Hoheitstitel 2: „Möglich ist allein, 2Sam  7,14a zu zitieren, unmöglich anscheinend, es auslegend so zu entfalten, dass eine ausdrückliche Benennung des Sprosses Davids als ‚Sohn Gottes‘ in der deutenden Aneignung des Psalmtextes geschieht“. Es liegt „die Überlegung nahe, dass die Zitation von 2Sam 7 nur besagen soll, dass das Auftreten des Messias als Erfüllung des Schriftworts gesehen wird, nicht aber dass irgendein Interesse besteht, den zukünftigen Spross Davids mit göttlichen Prädikaten zu versehen – das Gegenteil scheint der Fall zu sein“ (ebd. zu PsSal  17,5f). – (2) 4Q246 (= 4QpsDan A): 1,9–2,1: „9[…] (For) he shall be called [son of] the [gr]eat [God], and by his name they shall be named. 1 He shall be hailed ‚Son of God‘ [‫]ברה די אל‬, and they shall call him ‚Son of (the) Most High‘ [‫“]בר עליון‬ (Rekonstruktion und Übersetzung: Evans, Jesus 107; anders Maier, Qumran Essener II 190): Evans, Jesus 108–111, zur messianischen Interpretation des Jes  10,20–11,16 rezipierenden Fragments; J.J. Collins, Son 65–82. – (3) 4Q369 Frg. 1: 2,1–11: „6[…] Und Du setztest ihn Dir zum Sohn ein, den Erstgeb[orenen] […] 10[Du gabst] ihm gerechte Vorschriften wie ein Vater für [(s]einen] 478 

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sich allein vom Bekenntnis der nachösterlichen Gemeinde und deren christologischer Lektüre von Psalm  2 her: Der Messias, von dem der Psalter spricht, ist niemand anderes als der gekreuzigte Jesus von Nazareth483! Die aus der Schrift generierte Szene ist somit der literarische Niederschlag eines kreativen Erinnerungs­ aktes, der das scandalum crucis im Licht des Psalters verarbeitet. Leiden und Erniedrigung gehören wesentlich zu diesem Messias-Bild hinzu und erklären seine Bestimmtheit und Eindeutigkeit484. In der Pilatus-Szene stellt die Bejahung der Frage: „Bist du der König der Juden?“ durch Jesus, wie oben beobachtet, keinen Verurteilungsgrund für den Präfekten dar – in Spannung zum titulus crucis, der den Hinrichtungsgrund angibt. Auch dieser Befund erklärt sich allein von der „interpretatio christiana“ des Titels durch die PEG her. Wenn der historische Jesus sich nicht selbst als „Messias“ bekannt hat485 , der Titel erst nach Ostern Eingang in die Jesus-Überlieferung fand486 , reicht dann zur S[ohn …]“ (Maier, Qumran Essener II 315): Evans, Jesus 136 f.; J.J. Collins, Son 79. – (4) 4Esr  7,29: „mein Sohn [oder: Knecht], der Messias“: dem Bezug von 4Esr  7 auf Ps  2 entsprechend wird im hebr. Original ‫ בן‬zu lesen sein: J.J. Collins, Scepter 165.  – U.B. Müller, Hoheitstitel 5 (unter Bezug auf W. Bousset und H. Greßmann): „Je länger und schmerzhafter die jüdischen Erfahrungen mit hellenistischem und römischem Herrscherkult waren, umso anstößiger musste ‚das mythologische Prädikat des Gottessohnes‘ sein und ‚eine einfache Herübernahme der Königstitel von Ps  2 in den Messiasglauben‘ unmöglich machen“; vgl. auch García Martínez, Sonship 123–131. 483  Zur frühjüdischen Rezeption von Ps  2 siehe Hartenstein/Janowski, Psalmen. Liefer.  2 , 123 f.: Während PsSal  17,21–24 eine messianische Lektüre von Ps  2 bezeugt, deutet 4Q174 (= 4Qflor): 3,18 f., den „Gesalbten“ kollektiv = „die Erwählten Israels“. 484  Im Einzelnen vgl. oben II.  8 .7. 485  Das Petrus-Bekenntnis von Cäsarea-Philippi („Du bist der Messias“) vermag die gegenteilige Behauptung nicht zu tragen. Das archaische Bekenntnis: „Du bist der Heilige Gottes (ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ)!“ (Joh 6,69) bewahrt dessen ältere Fassung auf, die in der vormkn. Überlieferung gegen ὁ Χριστός ausgetauscht wurde – entsprechend der Lokalisierung der Episode „in den Dörfern von Cäsarea Philippi“, also im Schatten der Stadt, die zur Ehre des römischen Cäsar benannt wurde: Nicht der Kaiser von Rom oder sonst ein Herrscher dieser Erde, Jesus ist der wahre und eigentliche „König“ (vgl. Theobald, Joh I 489 f.; ders., Messias 69–72; anders Stuhlmacher, Theologie 107–125). Ansonsten wird der Titel in den Evangelien „entweder vom Verfasser über Jesus gesagt oder als Aussage anderer Erzählfiguren – als Bekenntnis oder kritische Anfrage – berichtet […], der erzählte Jesus (bezieht ihn) „nur selten auf sich“ (S. Schreiber, Anfänge 52), direkt in Mt  16,20; Joh  4,25 f.;17,3, indirekt in Mk  9,41; 12,35; 13,21; Mt  23,10; Joh  10,24 f., sowie beim Verhör durch den Hohepriester (Mk  14,61 f. par.). In Q begegnet der Titel nicht; vgl. Fleddermann, Reconstruction 917–935 (Concordance). – Zwei Argumente sprechen entschieden gegen eine Aneignung des Titels bereits durch Jesus: (1) Die Erwartung eines „königlichen Messias“ passt nicht zu Jesu eigener „theozentrischer Verkündigung, in der es um die endzeitliche Königsherrschaft Gottes ging“ (F. Hahn, Theologie II 208). (2) Jerusalem und der Zion, die für die davidische Königsvorstellung zentral sind, spielen für den Galiläer Jesus keine Rolle: Jesus „sprengt die Symbiose von Gottesherrschaft und Ziontradition. Diese bleibt brach liegen; dafür wird jene allein im Schöpfungskontext ausgelegt“ (Becker, Jesus 161; vgl. auch Schlosser, Parole 414: „La thématique de Sion et de Jérusalem est absente, y compris là où on l’attendrait le plus, je veux dire dans la tradition de Lc  13.28–29 par“); Rudning, Jahwe 267–286, illustriert die nachexilische Rezeption der Zionstheologie, auch skeptische Positionierungen, ein breites Panorama, in dem auch Jesus mit seinem Zion-Schweigen einzuordnen wäre; vgl. Zenger, Art. Herrschaft 178 f.; Oeming, Krieg. 486  Bultmann, Theologie 51–53; modifiziert von F. Hahn, Hoheitstitel 179–189. S. Schreiber, Gesalbter 492 Anm.  300, listet zahlreiche Vertreter dieser Mehrheitsmeinung auf.

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Erklärung der rasanten Karriere von Χριστός zum konkurrenzlosen christologischen Vorzeichen die Annahme, der historische Ausgangspunkt dieser Entwicklung sei der titulus crucis gewesen487? Zugunsten dieser Annahme spricht zwar das Konstrukt der PEG, aber es bleibt fraglich, ob dem titulus als Proklamation des „Königtums“ Jesu wirklich die Bedeutung zukommt, die ihm zugeschrieben wird, wenn die nachösterliche Übertragung des Messias-Titels auf den irdischen Jesus einzig von ihm her erklärt werden soll. Der Psalter-Hintergrund der PEG führt weiter488 . Die Lektüre dieses „Lebens­ buches“ (Erich Zenger) in den ersten Gemeinden darf als frühestes Echo auf Jesu eigene Verkündigung von der „Königsherrschaft“ Gottes gelten. Im Psalter ist oft genug von der Königsherrschaft Jhwhs die Rede, in eins damit vom davidischen „König“, den Jhwh auf dem Zion installiert489. Psalm  22, aus dessen Klage die Kreuzigungsszene gewoben ist, gipfelt im endzeitlichen Lob Gottes, der seine ­„Königsherrschaft“ über den Völkern errichtet (V.28–32). Es lag nahe, die Aufer­ weckung des Gekreuzigten als seine himmlische Inthronisation zum messianischen König vom Zion her zu deuten, durch die er zum österlichen Repräsentanten der Königsherrschaft Gottes wurde, die er selbst zu Lebzeiten proklamiert hat490 . Das Fundament für die rasche Rezeption von Χριστός nach Ostern war also breiter als es die Fokussierung auf den titulus zunächst vermuten lässt. In Verbindung mit der Erfahrung des vollmächtigen Auftretens Jesu war es die Schrift, insbesondere der Psalter und sein lebendiger Gebrauch, welcher zur christologischen Transforma­ tion der theozentrischen βασιλεία-Verkündigung Jesu führte. 2.3 Die Vorgeschichte der Verhaftung Jesu Das Exordium der PEG (= Nr.  1; s. oben II.  13.2.1) bietet der historischen Re-Kon­ struktion der Vorgeschichte von Jesu Verhaftung die Basis. Einzugs- und Tempelgeschichte werden in der Regel getrennt auf ihre Historizität befragt. Aber das Kommen Jesu nach Jerusalem mündet dem Exordium zufolge in seinen Auftritt im Tempel, die Huldigung der Menge ist dessen Auftakt491, seine Worte an die Tauben487  Dahl, Messias, 159 f.; F. Hahn, Hoheitstitel 178 f.196; ders., Theologie I (siehe Anm.  49) 149 f., u. a. – Weil der Χριστός-Titel, wie die Credo-Formel 1Kor  15,3 zeigt, sehr zeitig zum alles bestimmenden christologischen Vorzeichen wurde, hält Hengel, Messias; ders., Sendungsbewusstsein 259–280, seine erst nachösterliche Übertragung auf Jesus, gleichsam aus heiterem Himmel und ohne Anhalt an ihm selbst, für historisch nicht plausibel. 488  Zum Folgenden Theobald, Messias 79–86. 489  In Buch  I: Ps  2.18.20.21; in Buch  II: Ps  45; in Buch  III: Ps  7 2 (der letzte Psalm im Buch); in Buch  I V: Ps  89 (der letzte Psalm im Buch); in Buch  V: Ps  101; 110; 132. – Die Verknüpfung der „Königsherrschaft Gottes“ mit der Herrschaft von irdischen Königen war 1Sam  8; 12,12.17.19 zufolge lange problematisch. Nachexilische Texte sehen dies anders: vgl. 1Chron  28,5 (Könige „auf dem Thron der Königsherrschaft JHWHs über Israel“); 2Chron  9,8; 13,8 („das Königtum JHWHs, das in der Hand der Söhne Davids liegt“) oder PsSal  17,3 f.33 f. 490  Jesus maß dem Zion keine besondere theologische Rolle bei (siehe oben Anm. 485); diese gewann er erst nach dem als heilsbegründend interpretierten Tod Jesu in Jerusalem: vgl. nur Röm  9,33; 11,26. 491  Vgl. die oben in II.  13.1 gebotene Gliederung des Exordiums in den Vorspann A und den dreigeteilten Hauptteil B.

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verkäufer bzw. die „hohen Priester und Schriftgelehrten“ bilden die Klimax der Szene. Von einem Einzug in die Stadt als gesondertem Geschehen ist nicht die Rede (2.3.1), das Verb „hineingehen“ (εἰσέρχεσθαι) bezieht sich auf das Heiligtum492 . Die historische Frage ist demnach vorrangig an die Tempelerzählung zu richten. Gibt es einen harten historischen Kern, dann enthält ihn diese Geschichte (2.3.2). Die Gerichtsworte Jesu gegen den Tempel (Mk  13,2; Lk  19,41–44; Mt   23:37–39 par. Lk  13,34 f. [= Q  13,34 f.]) sind eigens zu untersuchen (2.2.3). 2.3.1 Jesu Kommen nach Jerusalem – nur ein „harmloser Pilgereinzug“? (1) Die Geschichte vom Kommen Jesu auf einem Eselsfohlen nach Jerusalem setzt biblische Vorgaben in Szene. Assoziiert wird das atl. Ritual einer Königsinthronisation, wobei die an ihm haftenden Erwartungen prachtvoller Herrschaft durch das Bild des auf einem Eselsfohlen „sitzenden“ Friedenskönig (Sach  9,9) konterkariert werden. Schon in ihrem Exordium weist die PEG also das „zelotische Missverständnis dieser Königswürde im Kreuzestitulus“ zurück493. Anstatt mit Rudolf Pesch von einem „kerygmatisierten Bericht“ zu sprechen und zu insinuieren, die Ereignisse des Einzugs ließen sich von ihrer Deutung ablösen494, gilt mit Rudolf Bultmann: „[D]ie Voraussetzungen, die man machen müsste, um den Bericht als geschichtlich anzusehen – dass Jesus die Erfüllung von Sach  9,9 inszenieren wollte, und dass die Menge den Esel sogleich als messianisches Reittier erkannte – sind absurd“495. Claus-Peter März schließt aus seiner Analyse der Perikope: Die Geschichte „ist so stark theologisch gestaltet, dass es ziemlich aussichtslos ist, nach dem genauen Vorgang und seiner historischen Bedeutung, nach der Meinung der begleitenden Volksscharen und dem Eindruck in der Öffentlichkeit zu fragen“496 . Gegen Robert Eisler, Samuel G. Brandon und andere497, die hinter der Erzählung „ein Unternehmen im Sinne der Zeloten“ erkennen wollen, ist festzuhalten, dass es „nicht um eine apologetische Entschärfung eines ursprünglich ‚heißen‘, politisch gemeinten Einzugs“ geht, „sondern um eine schrifttheologische Aufwertung eines wahrscheinlich harmlosen Pilgereinzugs im Sinn der christ­ lichen Messiasdeutung“498 . Dieses Urteil trifft grundsätzlich zu. Es bleibt aber fraglich, ob Jesu „Pilgereinzug“ mit den Seinen in Jerusalem wirklich so „harmlos“ 492  Es wird nicht gesagt, dass Jesus in die Stadt reitet, sondern der Vorspann A zeigt das Bild vom „Sich-Setzen“ Jesu auf ein Fohlen. Das Exordium spiegelt den antiken Brauch wider, Triumphzüge von Herrschern in eine Stadt im Tempel enden zu lassen, wo den Göttern Opfer dargebracht werden; siehe oben zu Lk in II.  3.4. 493  März, König 133. 494  Pesch, Mk II 187. 495  Bultmann, Geschichte 281; anders Sanders, Figure 254: „I incline to the view that it was Jesus himself who read the prophecy [Sach  9,9] and decided to fulfil it: that here he implicitly declared himself to be ‚king‘“. 496  März, König 135 (unter Bezug auf Rudolf Schnackenburg). 497  Eisler, IHSOUS; Brandon, Jesus; ders., Trial, u. a.; vgl. den Überblick von Hengel, Revolutionär 118–223; ders., Zealots; aus jüngerer Zeit: Aslan, Zealot. 498  Schnackenburg, Joh II 470 mit Anm.  1.

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war, wie Rudolf Schnackenburg es trotz der von ihm behaupteten Aussichtslosigkeit einer historischen Rückfrage am Ende zu wissen meint. (2) Auch wenn Jesus mit seiner Erwartung des baldigen Anbruchs der Königsherrschaft Gottes den Zeloten nahesteht, sein Bestreben der gewaltlosen Befriedung Israels (vgl. Mt  5,38–42 par. Lk  6 ,29 f.; Mt  5,44 f. par. Lk  6 ,27 f.35; Mt  5,46–48 par. Lk  6 ,32.34.36 etc.) unterscheidet ihn von den Absichten dieser extremistischen Gruppen499. Hinter der theologischen Inszenierung seines Kommens nach Jerusalem eine messianisch-zelotische Initiative wittern zu wollen, die, wie die Auftritte des namenlosen Ägypters, des Menachem oder des Simon, Sohn des Giora 500 , den Auftakt zum Endkampf um Gottes Königsherrschaft bilden sollte501, führt in die Irre. Die Erzählung ist nur insofern apologetisch, als sie den ursprünglich politisch gemeinten titulus crucis des Pilatus vorweg mit der Schrift anti-zelotisch deutet. Zwischen Jesu eigenen Vorstellungen, wie sie aus seinen Worten und Taten ablesbar sind, und dem, was die Menschen mit seinem Auftreten verbunden haben könnten, ist allerdings zu unterscheiden. Es lässt sich zwar nicht sagen, was sie vom Kommen Jesu nach Jerusalem erwarteten. Aber auszuschließen ist nicht, dass viele sich erhofften, Jesus, der den Anbruch der Königsherrschaft Gottes so kraftvoll in Wort und Tat proklamierte, würde selbst in Kürze als „König Israels“ in Erscheinung treten. Ein Rückschluss aus der Proklamation der Königsherrschaft Gottes auf den, der sie in eigener Vollmacht als im Anbruch befindlich kundtat, lag angesichts frühjüdischer Traditionen, die problemlos die Erwartung der Königherrschaft Gottes mit einem zukünftigen messianischen „König“ verbinden konnten, nicht fern 502 . (3) Als historisch vertrauenswürdig gilt die Ortsangabe der Erzählung: „Betfage am Ölberg“. Das unscheinbar wirkende Stichwort „Ölberg“ assoziiert ein messianisches Erwartungspotential, das aus biblischen Texten schöpft und von zeitgenössischen Messiasprätendenten, die vom Ölberg her Jerusalem zu erobern suchten, auch genutzt wurde503: „Seine [Jhwhs] Füße werden an jenem Tag auf dem Ölberg stehen, der im Osten gegenüber von Jerusalem steht“ (Sach  14,4). „Die Via triumphalis Jerusalems kommt von N[orden] oder W[Westen], Triumphatoren vom röm[ischen] Imperator Pompeius (63a) bis Kaiser Wilhelm II. (1898) zogen auf breiten Straßen durch das Damaskustor oder das Jaffator ein. Ein Einzug vom O[sten] wird nur von politischen und religiösen Randfiguren unternommen, geschieht ohne Pomp und voller gefährlicher messianischer Anspielungen“504. 499  Hengel, Zeloten 376 f., nennt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Jesus und den Zeloten. 500  Siehe Nr.  14.17 und 18 der Liste unten im Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. 501  Aslan, Zealot 73, sieht allein schon die Einzugsgeschichte als Beweis für seine Annahme, dass Jesus Zelot gewesen sei: „So revelatory is this single moment in Jesus’s brief life that it alone can be used to clarify his mission, his theology, his politics […]”. Er verweist auch auf 2Kön  9,12 f. (Huldigung des neuen Königs) und 1Makk  13,49–53 (bei der Befreiung Jerusalems durch die Makkabäer ziehen „die Israeliten mit Lobgesang und Palmzweigen […]“ in die Burg ein). 502  Siehe die Texte oben S. 612 Anm. 489. 503  Siehe Nr.  14 der Liste unten im Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. 504  Küchler, Jerusalem 916; siehe bereits oben II.  2.4.1 am Ende.

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War die Bedeutung dieser Route nach Jerusalem vom Ölberg her so fest etabliert, dass Jesus um sie wissen konnte, als er von Betfage aus mit den Seinen nach Jerusalem kam? Wussten andere um die Route und luden sie messianisch auf, weil sie zur Erwartung passte, die sie mit Jesus verbanden? Oder kam dieser nur deshalb über die Dörfer am Ölberg in die Stadt, weil er dort, wie die Evangelien es anklingen lassen, bei Freunden vor dem Paschafest übernachtete?505 Nur die PEG gewährt sicheren Boden. Sie verband die Route Jesu über den Ölberg mit der von ihr inszenierten Symbolhandlung, dem demonstrativen „Sich-Setzen“ Jesu auf das messianische Reittier, und bezog sie damit in das schriftgesättigte messianische Bedeutungsfeld ein. Die Assoziationen, die das Stichwort Ölberg auslöst, dürften auf ihre Kompositionsarbeit zurückgehen. Am Ursprung der Erinnerung stand das Wissen um Jesu Kommen aus seinem Quartier auf dem Ölberg. Wie oben gezeigt, sieht das Exordium der PEG das Kommen Jesu nach Jerusalem als Auftakt zu seinem Auftritt im Tempel. Zwei Symbolhandlungen folgen aufeinander: das demonstrative Sich-„Setzen Jesu“ auf das messianische Reittier und seine Aktion im Tempel, die Austreibung der Händler aus dem heiligen Areal. Die erste Symbolhandlung verdankt sich der Inszenierung durch die PEG, die zweite ist, wie gleich zu zeigen sein wird, wahrscheinlich historisch. Von daher legt sich die Schlussfolgerung nahe: Jesu Weg vom Ölberg aus in den Tempel erfuhr seine eschatologische Aufladung erst in Verbindung mit seinem Auftritt im Heiligtum – in Erinnerung möglicherweise auch daran, was im Buch Maleachi zu lesen ist: „Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht, und der Bote des Bundes, den ihr herbeiwünscht. Seht, er kommt, spricht der Herr der Heerscharen“ (Mal  3,1). In der Wahrnehmung der Menschen wird Jesu „Pilgereinzug“ in den Tempel nicht ganz so „harmlos“ gewesen sein, wie zuweilen angenommen wird. 2.3.2 Jesu prophetische Symbolhandlung im Tempel (1) In der PEG ist die Erzählung zweigipflig: Auf die Aktion Jesu folgt seine Kontroverse mit Jerusalems Autoritäten (B.  II. und III.). Die Worte an die Taubenverkäufer bzw. die „hohen Priester und Schriftgelehrten“ sind Bildungen der PEG506 . Für eine historische Rückfrage fallen sie aus. Das erste Wort: „Macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Handelshaus!“ rückt die Tempelaktion Jesu mittels Anspielung auf Sach  14,21 in den Horizont einer auf den Zion fokussierten endzeitlichen Erwartung: Mit seiner Symbolhandlung reinigt Jesus den Tempel, damit er beim Anbruch von Gottes Königsherrschaft „über die ganze Erde“ (vgl. Sach  14,9) zum Ort wahrer Anbetung wird, zu dem die Völker wallfahren. Eine derartige auf den Zion konzentrierte Eschatologie war Jesus fremd507. 505 

Vgl. Mk  11,11 f.19 f.; 14,3; Mt  21,17 f.; 26,6; Lk  21,37; 22,39; Joh  11,1; 12,1 f. Siehe oben die Analyse in II.  3.7. 507  Siehe oben auf S. 611 f. Anm. 485.490. Zeller, Beseitigung 272, zufolge finden wir bei Jesus zwar keine „auf den Zion und den Tempel bezogenen Konkretionen der Basileia [wie in Mal  3,1–4], aber vielleicht deshalb, weil sie schlicht selbstverständlich sind“ – ein argumentum e silentio, das 506 

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Beim zweiten Wort handelt es sich um eine christologische Transformation des theozentrischen Tempelwortes Mk  13,2508 , weshalb die historische Rückfrage sich an dieses Wort, nicht an die Antwort Jesu auf die Zeichenforderung der „hohen Priester“ zu halten hat.

Die zweigipflige Szene gehorcht literarischen Erwartungen, wenn sie von der prophetischen Symbolhandlung Jesu im Tempel nicht ohne Deutewort und von der Zeichenforderung der Tempelwächter nicht ohne autoritative Antwort Jesu erzählt. Aus dem negativen Befund zu beiden Worten folgt: Die Verfasser der PEG wissen zwar um eine Tempelaktion Jesu, ein Deutewort, das er dabei gesprochen haben könnte, war ihnen aber unbekannt. Ein solches als Pendant zu seinem Handeln zu bilden, verlangte die Gattung. Die Gerichtsworte Jesu gegen den Tempel, die unten in 2.3.3 auf ihre Historizität zu überprüfen sind, erfüllen die Funktion von Deuteworten nicht, erhellen aber den Deutehorizont, der Jesu Aktion plausibel macht. Verdankt sich das christologische Tempelwort den Verfassern der PEG, dann geht auch die Kontroversszene auf sie zurück. Über eine unmittelbare Reaktion der Tempelwächter auf Jesu Tempelauftritt ist nichts bekannt. Wann und wie sie gegen Jesus vorgingen, wird die weitere Analyse der PEG zeigen509. (2) Weil Deuteworte, die unmittelbar zur Tempelaktion gehören, unbekannt sind, „ist man gehalten, der nicht gedeuteten Handlungsschilderung ihr Selbstverständnis zu entlocken“510 . Der Darstellung der PEG zufolge liegt eine prophetische Symbolhandlung vor, ein purer Gewaltakt gegen Tempelhändler, die Jesu Aktion in jedem Fall als Angriff auf ihre Existenzgrundlage verstehen mussten, ist auszuschließen. Nur eine Zeichenhandlung passt zum Profil Jesu511. Was spricht gegen ihre Historizität, was für sie?512 Repräsentativ ist Jürgen Becker, der sechs Gründe für das Vorliegen einer sekundären Bildung anführt513: seine Deutung der Aktion Jesu als „symbolische(r) Ausdehnung der Heiligkeitszone auf den ganzen Tempelberg“ stützen soll. 508  Vgl. oben II.  3.6. 509  Becker, Jesus 407: „[D]ie Tempelaktion ist eine Episode ohne jedes Echo, und sie selbst enthält – in welcher Erzählform auch immer – keinen eigenen Hinweis, dass sie Ursache für eine Anklage wurde und Jesu Hinrichtung als Folge nach sich zog“. Anders stellt sich die Sachlage auf der Basis der rekonstruierten PEG dar: Auf das Exordium (Nr.  2) folgt unmittelbar die Erzählung vom Komplott des Jerusalemer Rats gegen Jesus (Nr.  3), woraus ersichtlich wird: Die Verf. der PEG sahen in der Tempelaktion Jesu den unmittelbaren Anlass dafür, dass die hohen Priester gegen ihn einschritten. 510  Becker, Jesus 408; „[f]ür solches karge Brot des Exegeten steht als Bestand vor Markus nur Mk  11,15b–16 zur Verfügung“; ähnlich geht Zeller, Beseitigung 265, vor. 511  Zum Vergleich: Mk   2,15–17 par. (Zöllnergastmahl), Mk  3,14 f.; Mt  19,28 par. Lk  22,28–30 (Erwählung der Zwölf), 1Kor  11,23–25 (Brot- und Bechergestus samt Gabeworten). – Trautmann, Handlungen. 512  Zeller, Beseitigung 265–272, verteidigt die Historizität der Aktion Jesu und informiert über die Deutungen, die ihr zuteilwurden: (a) „Vorbereitung auf die Völkerwallfahrt“ (Lohmeyer, Reinigung); (b) eschatologisch begründeter „Bruch mit dem Tempelkult“ (Merklein, Tod 176–178; Sanders, Jesus 61–76; ders., Figure 258–261; Stenger, Kaiser 182–184; Theißen/ Merz, Jesus 381); (c) „Protest gegen Wucher und Geschäftemacherei der Priester“ (Evans, Jesus 319–365); (d) „Die Heiligkeit des Tempels als Motiv“; Zeller entscheidet sich für (d) unter Voraussetzung der Zugehörigkeit von Mk  11,16 zu ältesten Fassung (ebd 265). Vgl. auch die Übersicht von Petersen, Mutmaßungen 291–298. 513  Becker, Jesus 408–410 (vgl. bereits oben in II.  3.1); H. de Jonge, Cleansing 90 („Mark’s

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(a) Der in Mk  11,15b–16 greifbaren ältesten Fassung der Tempelaktion zufolge „erweitert“ Jesus mit der Vertreibung der Käufer und Verkäufer aus dem Vorhof der Heiden die vom Allerheiligsten ausgehende Heiligkeit auf den ganzen Bezirk. „Sachlich“ sei es „viel eher einer judenchristlichen Gruppe zuzutrauen, so für den Jerusalemer Kult gestritten zu haben als ausgerechnet Jesus, der in Reinheitsfragen genau umgekehrt reagierte“ (409)514. (b) „Jesu Tätlichkeit gegen Personen und Sachen passt so gar nicht zum sonstigen Bild von ihm“ (409)515. (c) Die „szenische Unvorstellbarkeit des Textes“ zwinge dazu, die Tempelaktion Jesus abzusprechen. Soll Jesus „ganz allein – von den Jüngern ist nicht die Rede – auf einem Gelände, das etwa viermal so groß wie die Akropolis von Athen war und das zur Zeit eines Passafestes ganz sicher von vielen aufgesucht wurde, Käufer und Verkäufer vertrieben haben, ohne dass er nicht sofort von der Tempelpolizei daran gehindert wurde? Auch die römische Besatzung auf der Burg Antonia (Josephus, ant  20,106 f.; bell  2,224f; Apg  21,27 ff.), die gerade beim Passafest immer in höchster Alarmbereitschaft war, rührte sich nicht“ (409). (d) Die übliche „Minimalisierung der Handlung“ zur Rettung ihrer Historizität – „Jesu Aktion soll nur eine zeichenhafte und kleine Handlung gewesen sein, die fast kein Aufsehen erregte“516 – provoziere die Frage: „Wie sollte eine kleine Aktion sofort Kopf und Kragen kosten? Wer im Frühjudentum wird jemanden, der für die Erweiterung der Heiligkeit des Tempels eintrat, überhaupt gleich für einen Kapitalverbrecher gehalten haben?“ (409). (e) Die Worte Jesu gegen den Tempel verdankten sich durchweg der Jerusalemer Gemeinde, nicht nur die Deuteworte der Tempelaktion wie das christologische Wort Mk  14,58, sondern auch das theozentrische Mk  13,2 sowie der Q-Spruch Lk  13,34 f. par. Mt  23,37–39. (f) Wirkungsgeschichtlich sei die Geschichte der Jerusalemer Gemeinde bei Nicht-Historizität der Tempelaktion besser verständlich: „Hätte Jesus eine Tempelzerstörung angekündigt oder Jerusalem unter das Gericht Gottes gestellt, hätte sich die erste nachösterliche Gemeinde wohl eher in Galiläa neu konstituiert und sich nicht in Jerusalem angesiedelt. Das geschieht aber ganz selbstverständlich. So passen Kritik am Tempel und Jerusalem sowie Gerichtsworte über beide eher zur Geschichte des Judenchristentums, das mit solchen Aussagen Jesu Jerusalemer Geschick rückblickend bedenkt und seine bis zum Aufstand gegen Rom immer schwieriger werdende Lage aufarbeitet“ (410).

Die Voraussetzung, die Becker für seine Argumentation macht, ist die Annahme, dass die älteste erreichbare Gestalt der Erzählung das Bild eines Jesus vermittelt, der für die Heiligkeit des Tempels streitet (so [a] und [d]). Die Überlieferungsgecleansing of the temple […] is indeed a working-out of the final sentence of the book of Zechariah, 14:21 end“); skeptisch auch Fiedler, Erwägungen 41 f.; Häfner, Verkündigung 91 f.; Haenchen, Weg 382–389, Oberlinner, Todeserwartung 123 f.; weitere ablehnende Voten bei Wedderburn, Jesus 6 Anm.  27; außerdem Ebner, Jesus 180 f.199–203. Positiv votieren neben den in Anm.  79 Genannten auch Légasse, Procès 52; Luz, Jesus 419–421; Paesler, Tempelwort 240–245; Schnelle, Tempelreinigung 359; Wedderburn, Jesus 6–14 u. a. 514  Becker, Jesus 408: „Der Opferkult und die diensttuenden Priester bleiben […] unbehindert. Es kann also keine Rede davon sein, dass Jesus als einer geschildert wird, der die Durchführung des Opferkultes und des Kultgesetzes verhindern wollte“; Ebner, Jesus 201: „prophetisches Zeichen“ einer „Kultreform“. 515  Haenchen, Weg 387, spricht von „nackter Gewalt“. 516  Becker, Jesus 409: Die Behauptung der Historizität des Geschehens sei angesichts dessen „szenische(r) Unvorstellbarkeit“ das Ergebnis einer unsachgemäßen Umdeutung der Überlieferung: Man „verdächtigt die Evangelien der Übertreibung“ und „reduziert die Textaussage, bis sie historisch möglich wird“. Dieses Verfahren sei „kaum weit von der rationalistischen Methode entfernt, die Wunder Jesu ‚wegzudeuten‘“.

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schichte bietet tatsächlich mit Mk  11,16 („er ließ nicht zu, dass jemand ein Gerät [σκεῦος] durch den Tempel trug“) und Joh  2,17 („Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren“ [Ps 69,10]) Spuren, die so gedeutet werden können, aber sie sind sekundär (PR mk, PEjoh) und dort, wo sie nicht getilgt wurden, von anderen Aussagen überlagert517. Aufschlussreich ist die Deutung, welche die ersten Tradenten mittels der von ihnen neu gebildeten Worte der Aktion Jesu geben: Nicht erst Markus und Johannes sehen in der Aktion Jesu gegen den Verkauf von Opfermaterie einen Angriff auf den Opferkult. Die PEG versteht sie zwar im Horizont von Sach  14 nicht als Angriff auf den Tempel überhaupt, aber doch als dessen endzeitliche Reinigung für die Königsherrschaft Gottes, die in Bälde vom Zion aus „die ganze Erde“ (Sach  14,9) erfüllen wird. Auch wenn dieses Deutungsmuster sekundär ist, darunter wird ein Verständnis der Handlung Jesu sichtbar, das diese mit der zeichenhaften Beendigung des Opferkults verbindet. Auch wenn die Deuteworte sekundär sind, bieten sie dennoch einen wichtigen Hinweis: Sie rücken durchweg Jesu Aktion in den Horizont der Schrift, wobei nicht weniger als vier biblische Passagen samt Kontexten aufgerufen werden: Sach  14,21, Ps  69,10, Jes  56,7 und Jer  7,11. Eine Geschichte aus den letzten Tagen Jesu, die den ersten Jesus-Gläubigen in Jerusalem anstößig gewesen sein muss, wird mittels der Schrift „verarbeitet“. Das eingangs genannte Kriterium der „Sperrigkeit“ harter Fakten aus der Perspektive ihrer Deutung kommt zum Zug. Die umgekehrte Annahme, das Faktum sei aus der Schrift extrapoliert worden, ist angesichts der breiten Streuung der biblischen Bezugnahmen unwahrscheinlich. Analog zur Rezeption des titulus crucis legt sich deshalb folgende Argumentation nahe: Eine politisch brisante Aktion Jesu wurde nachträglich mit ihrer Schriftkonformität gerechtfertigt. Zugleich schwächte die Überlieferung das Gewaltpotential der Aktion ab518 . Zum Argument (b) Beckers, dass eine „Tätlichkeit“ Jesu gegen Personen oder Sachen nicht zu seinem sonstigen Bild passe, ist anzumerken: Ein Programm der Gewaltlosigkeit schließt Aufbrausen „im heiligen Zorn“ nicht aus519. Die Annahme, Jerusalemer Christen hätten die anstößige Geschichte erfunden, ist nicht plausibel. Wirkungsgeschichtlich (f) ist zu bedenken, dass Stephanus an der Spitze der Hellenisten mit der Absage der Teilnahme am Opferkult in Kontinuität zu Jesus trat. Nach seiner Überzeugung macht der Opfertod Jesu den Tempelkult 517 

Sowohl Mt als auch Lk haben Mk  11,16 übergangen; Joh  2,17 steht für sich. deutlich in der joh. Fassung, der zufolge Jesus keine Gewalt gegen die Händler anwendet! Auch die älteste Fassung der PEG erzählt nur von deren „Austreibung“, einem Umstoßen der Tische der Geldwechsler und einem Wort Jesu an die Taubenverkäufer, nicht aber ihrer Schädigung. 519  Vgl. Mk  1,43, wo dasselbe Verb wie bei der „Austreibung“ der Händler benutzt wird: „Und er schnaubte ihn [sc. den vom Aussatz Gereinigten] an und trieb ihn fort (ἐξέβαλεν αὐτόν)“. ­Theißen, Dimension 118: „Die Propheten haben in ihren Symbolhandlungen getan, was sie sonst für verwerflich hielten. Wenn Jesus bei einer prophetischen Symbolhandlung Gewalt anwendet, fordert er so wenig zur Gewalt auf, wie Hosea zum Ehebruch aufruft, wenn er eine Ehebrecherin heiratet […]“; Zeller, Beseitigung 274: „Jesus kann durchaus mehrere Rollen gespielt haben: Als Weisheitslehrer ruft er zur Gewaltvermeidung auf; als Prophet agiert er einmalig auf provokante Weise“. 518  So

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überflüssig. Ein Plädoyer für die Heiligkeit des ganzen Tempelareals ist der Erzählung in der PEG nicht zu entnehmen. Die Frage bleibt, was auf dem Tempelplatz geschehen war. Die Tendenz der Überlieferung, das Geschehen zu dramatisieren, ist unübersehbar, die umgekehrte Fragestellung nach den Ursprüngen der Überlieferung gegen Becker (d) legitim520 . In der PEG heißt es lediglich: „Er begann die Händler […] auszutreiben“. Von Rindern und Schafen (so Joh  2,15) ist nicht die Rede, auch nicht von Käufern. Die generelle Rede von den Händlern wird konkretisiert durch die Notiz zu den Geldwechslern und Taubenverkäufern, deren Tische er „umstieß“ (κατέστρεψεν) 521. Am Ursprung der aufbewahrten Erinnerung wird eine begrenzte zeichenhafte Handlung gestanden haben, die sich gegen diese beiden Gruppen richtete522 . Ermöglichte erst der Umtausch des von den Pilgern mitgebrachten Geldes in die harte Währung der tyrischen Silberdrachme die Ableistung der Tempelsteuer und den Kauf von Opfertieren 523, so stehen die Tauben, die preiswerteste Opfermaterie (vgl. Lk  2,24), für die Opfer. Jesu Aktion konnte von daher nur als Angriff auf den Opferkult verstanden werden 524. Sie erfolgte dort, wo die Geldwechsler und Taubenverkäufer ihre Dienste anboten: im Vorhof der Heiden, genauer: in der Königlichen Halle (Salomos) 525. Sie musste Aufsehen erregt haben, sonst hätte sie sich der Erinnerung nicht eingeprägt. Aber sie besaß nicht die Dimension, die ein Einschreiten römischer Soldaten hätte unmittelbar erfordert (vgl. dagegen Apg  21,27–40); vielleicht hielten diese sich auch zurück, weil Jesus bei einer Mehrzahl der Pilger Sympathien genoss. Ob Jesus nach seiner Aktion aus Sorge, die Tempelwächter könnten gegen ihn vorgehen, untertauchte? Wichtiger ist die Frage, welche Bedeutung die prophetische Symbolhandlung in seinem Verständnis gehabt haben könnte. (3) Die aufgeführten biblischen Kontexte Sach  14 und Jes  56 helfen nicht weiter. Sie implizieren eine Zionstheologie, die Jesu Verkündigung der Königsherrschaft 520  In ihrem jüngsten Stadium beim vierten Evangelisten ist die Aktion Jesu zu einer Radikalkur geworden, die sie anfangs gewiss nicht war: „und er trieb alle(s) (πάντας) aus dem Heiligtum hinaus […]“ (Joh  2,15b). 521  Légasse, Procès 56: „Quant au geste lui-mȇme, le fait de ‚renverser‘ (katastrephein) les tables et les sièges (Mc  11,15, par.), surtout si l’on s’inspire du langage biblique, est apte à évoquer la destruction […]“. Vgl. oben S. 264 f. Anm. 204. 522  So etwa Pesch, Mk II 200; Ådna, Stellung 331 f.; Dautzenberg, Eigenart 327; J. Gnilka, Jesus 276–280; Hengel, Revolutionär 15 f.; Luz, Jesus 420; Söding, Tempelaktion 50 f. u. a. 523  Die tyrische Silberdrachme, das einzig zugelassene Zahlungsmittel, trug zwar das Bild des Stadtgottes von Tyros, galt aber „als die härteste und inflationssicherste Währung, also als eine Art antiker Schweizer Franken“ – für die Jerusalemer Tempelbank, „eine der größten Banken der Antike“, die ideale Währung (Riesner, Messias 303 f., unter Bezug auf Schröder, Wirtschaftskommentar 71–79; Reiser, Numismatik 473 f.). 524 W. Kraus, Bedeutung 172; Neusner, Money-Changers 287–290, stützt die kultkritische Deutung mit Hinweis darauf, dass rabbinischen Quellen zufolge das Geld gemäß Ex  30,16 der Durchführung des Sühnopferkultes diente. 525  Eine Art Markthalle: Ådna, Tempel 82–87.117  f.130–135; ebenso Zeller, Beseitigung 264 f.; ebd. 265: „Es ist […] kaum wahrscheinlich, dass in dieser dreischiffigen Halle auch Kleinvieh und gar Rinder zum Verkauf standen, wie das Johannesevangelium behauptet. Dafür gab es andernorts Märkte“.

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Gottes nicht kennt526 . Anders verhält es sich bei Jer  7 (vgl. 26,7–9). Es ist gut möglich, dass Jesus sich in der Nachfolge des Propheten begriff, der Judas Verstöße gegen das Gottesrecht gegeißelt und den Rückzug auf den Tempel als angebliche Garantie für Jhwhs Bundesgenossenschaft verurteilt hat527. Jesus stand wie Jeremia einer Priesterschaft gegenüber, die im Opferkult des Tempels eine Heilsgarantie für Israel sah und prophetischen Aufbrüchen, die auf Umkehr und Zukunft setzten, eine Abfuhr erteilten. Als Motivationsgrund seiner Tempelaktion kommt nur seine Botschaft von der nahen Königsherrschaft Gottes in Frage. Jesus proklamierte nicht deswegen das Ende des Opferkultes, weil er grundsätzlich anti-kultisch dachte528 , sondern weil er das endgültige Offenbarwerden des Gottesreiches erwartete. Überzeugt von dessen Anbruch in seinem eigenen versöhnenden und heilenden Wirken als Prophet eines bedingungslos auf die Verlorenen, Sünder und Armen zugehenden Gottes529 rief er die Menschen in Israel zur Umkehr. Wie er in Galiläa auf Gerichtsworte nicht verzichtete, so vollzog er in Jerusalem eine prophetische Symbolhandlung, die den Tempelbesuchern das Ende des Opferkultes „in zeichenhafter Handgreiflichkeit“530 kundtat. Anstatt zum Kult Zuflucht zu nehmen, sollten sie umkehren und sich dem Heilsangebot des kommenden Gottes öffnen. So lautete seine Botschaft, die er durch seine Aktion prophetisch unterstreichen wollte. Seine Worte zum Tempel helfen, deren Verständnis weiter zu profilieren. 2.3.3 Jesu Worte gegen Jerusalem und sein Heiligtum (Mt  5,23 f.; Mk  13,2 par.; Lk  19,41–44; Q  13,34 f.) Vorweg sei ein Jesus-Wort in Erinnerung gerufen, das in der Diskussion seines Tempelauftritts gern übersehen wird. Es dokumentiert die Distanz des Galiläers Jesus zum Opferkult und wirft Licht auf seine späteren Gerichtsworte.

526 

Siehe oben S. 611 f. Anm. 485 und 490. auch unten in III.  2.3.3 zu Q  13,35a die Anspielung auf Jer  12,7. – Wenige Jahre später greift Jesus ben Ananias die Tempelkritik des Jeremia auf (siehe oben 1.7.1), was die Lebendigkeit der Tradition erweist. 528  Merklein, Jesus 148: keine „prinzipielle Negierung des Kultes“. 529  Jesu Zuspruch der Sündenvergebung (siehe Hinführung S. 11) musste den Sühnekult des Tempels relativieren (wie auch die Taufe „zur Sündenvergebung“ durch Johannes zur Opposition zum Tempel führen musste). 530  Merklein, Jesus 148; ebenso Stenger, Kaiser 183: „[D]ie sogenannte Tempelreinigung Jesu wäre missverstanden, fasste man sie im Sinn einer versuchten Tempelreform auf, als welche sie schon die Evangelisten darzustellen versuchen. Dringt man hingegen durch die redaktionelle Decke hindurch, gibt sie sich als ein Geschehen zu erkennen, das im Stil einer prophetischen Zeichenhandlung auf die eschatologische Abschaffung des Opfergottesdienstes als Konsequenz der Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit von Gottes Herrschaft zielt“. Im Übrigen bestätigt dieses Verständnis die hier vertretene Auffassung, dass es sich beim letzten Mahl Jesu nicht um ein Paschamahl gehandelt hat: „Man kann sich schwer vorstellen, dass Jesus aus dem so scharf kritisierten Tempel ein paar Tage später ein Passalamm holen würde, um es mit den Jüngern zu essen“ (Theißen/Merz, Jesus 382). 527  Vgl.

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„Versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann …“ (Mt  5,23 f.) Matthäus bietet das Mahnwort im Rahmen der ersten Antithese der Bergpredigt. „Wie oft bei Jesus, so haben wir auch hier eine kategorische, hyperbolisch zugespitzte exemplarische Forderung, die auf eine neue Grundeinstellung zum Mitmenschen zielt“. Diese Eigentümlichkeit spricht Ulrich Luz zufolge für jesuanische Herkunft531. Wie provokant das Wort ist, wird deutlich, wenn der Standort seines Sprechers fern vom Tempel in Galiläa mitgehört wird532: Wenn du […] deine Opfergabe zum Opferaltar bringst und dort (ἐκεῖ) fällt dir ein, c dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24a dann lass deine Opfergabe dort (ἐκεῖ) vor dem Opferaltar b und komm, c versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, d und dann geh e und bring deine Opfergabe dar! 23a b

Eine Reise von Galiläa nach Jerusalem nahm mehrere Tage in Anspruch. Wer das bedenkt, versteht, was Jesus demjenigen zumutet, dem im Tempel einfällt, dass sein Bruder zuhause keinen schwerwiegenden Vorwurf, sondern „irgendetwas“ gegen ihn hat. Er soll die Opfergabe, die er zum Altar zu bringen im Begriff ist, „dort lassen“ (ohne Rücksicht auf die Heiligkeit des Ortes oder Proteste des Priesters gegen die Unterbrechung der Kulthandlung) 533, nach Galiläa zurückkehren und sich „zuerst mit seinem Bruder versöhnen“. Dann mag er umdrehen und im Tempel sein Opfer nachholen. Jesus hebt mit diesem Wort das Kultgesetz nicht „prinzipiell“ auf534. Aber mit seiner pointiert zugespitzten Geschichte betont er die Bedeutung mitmenschlicher Versöhnung vor der kultischen Versöhnung mit Gott. Der Hörer des Mahnwortes fragt sich möglicherweise, ob er nach der Versöhnung mit dem Bruder eine Reise nach Jerusalem überhaupt noch auf sich nehmen soll. Jesus schöpft zwar aus weisheitlicher Tradition, die für die Einheit von Kultus und Ethos wirbt535 , aber ein 531  Luz, Mt I 344. Zeller, Mahnsprüche 64, hält das Wort für „im Munde Jesu möglich“; ebd. 63 f.: „[D]ie Überordnung des Mitmenschlichen über den Kult (entspricht) einer gut bezeugten Tradition der Verkündigung Jesu“. Eine Entstehung in der „tempeltreuen Urgemeinde in Jerusalem“ möchte Zeller dennoch nicht ausschließen. 532  Der Standort fern vom Tempel spiegelt sich im ἐκεῖ V.23b.24a wie in den Aufforderungen V.24b.d, die hier gegen die üblichen deutschen Übersetzungen in anderer Reihenfolge wiedergegeben werden: zuerst mit „komm“ (statt „geh“) und dann mit „geh“ (statt: „komm“). 533  Wenn ein Laie (wie im AT) und kein Priester die Gabe zum Altar bringt (was korrekt wäre), ist das der Zuspitzung des Spruchs geschuldet, der sich nicht für rituelle Fragen interessiert. ­Zeller, Mahnsprüche 63: Die „verlangte Unterbrechung des Opfervorgangs“ liegt „hart an der Grenze des Praktizierbaren“. 534  Konradt, Mt 85: „Nach der Versöhnung soll man gehen und die Opfergabe darbringen“; anders Zeller, Mahnsprüche 62 f., mit Verweis auf den vergleichbaren Spruch Mt  7,5 (auch Spr  24,27; Sir  11,7; 35,1): „das nachgeordnete Tun (liegt) dabei dem Weisen nicht sonderlich am Herzen“. 535  Spr  15,8: „Das Opfer der Frevler ist dem Herrn ein Gräuel, am Gebet der Rechtschaffenen aber hat er Gefallen“; vgl. auch Spr  21,3.27; Sir  34,21–23 etc.

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Ausgleich von beidem ist nicht sein Ideal. Wenn die Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen dem Kult bedingungslos vorgeordnet ist, spiegelt sich darin der unbedingte Heilszuspruch Gottes, den Jesus kundtut. Es lässt leicht vorstellbar, dass seine Bevorzugung des Ethos sich unter bestimmten Umständen radikalisieren und in eine Prophetie gegen den Tempelkult umschlagen konnte. „Kein Stein auf dem anderen mehr!“ Das theozentrische Tempelwort Mk  13,2 (par. Mt  24,2; Lk  21,6) Markus überliefert das theozentrische Tempelwort im Rahmen einer kleinen Gesprächsszene (Apophthegma) als Auftakt zur eschatologischen Rede Jesu Kap  13, worin ihm Matthäus und Lukas folgen (Mt  24,2; Lk  21,6). Die bei Markus erhaltene älteste bezeugte Fassung des Gespräches lautet536: 1 a Und während er aus dem Tempel hinausgeht, b sagt einer seiner Jünger zu ihm: c   Meister (διδάσκαλος), d  siehe, e   was für Steine (λίθοι) f   und was für Bauten (οἰκοδομαί)! 2 a Und Jesus sagte zu ihm: b   Siehst du diese großen Bauten (οἰκοδομάς)? c   Nicht ein Stein soll [hier]537 auf einem Stein gelassen werden   (οὐ μὴ ἀφεθῇ ὧδε λίθος ἐπὶ λίθον), d   der nicht zerstört wird (ὃς οὐ μὴ καταλυθῇ) 538 .

Der Ausruf des Jüngers und Jesu Antwort sind durch den Chiasmus der Leitworte miteinander verklammert: Steine (1e) – Bauten (1f), Bauten (2b) – Steine (2c). Wenn der Jünger ausruft: „Was für Bauten!“ und Jesus mit der Frage reagiert: „Siehst du diese großen Bauten?“, scheint er den Jünger überhört zu haben. Bruchlos passen Ausruf und Reaktion nicht zusammen 539. Der „prophetische Spruch“ V.2c.d540 verwendet gleich zweimal die Verneinung οὐ μή: im Haupt- und im Nebensatz. Die Aussagen gleichen sich und bilden eine 536  Mt und Lk lassen beide gegen Mk  13,2 den Hinweis auf „die großen Bauten“ aus und bieten am Ende ein Futur (Mt  24,2: οὐ βλέπετε ταῦτα πάντα; […] ὃς οὐ καταλυθήσεται. – Lk 21,6: ταῦτα ἃ θεωρεῖτε […] ὃς οὐ καταλυθήσεται), was möglicherweise Indiz von Deuteromarkus ist. 537 Das ὧδε fehlt in einigen Majuskeln (A K Γ), Minuskeln und einem Teil der lat. Überlieferung; es ist möglicherweise sekundär (Paralleleinfluss von Mt  24,2). 538 Oder καταλύειν = „loslösen, (völlig) ablösen“ (W. Bauer, Wörterbuch 841); so die EÜ: „Kein Stein wird hier auf dem andern bleiben, der nicht niedergerissen wird“; die Alternative „auflösen, zerstören“ (ebd. 842) liegt der Luther-Übersetzung zugrunde: „Hier wird nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde“. Lohmeyer, Mk 268: „Nicht nur wird Stein von Stein gerissen, sondern auch jeder einzelne noch zerstört“. οὐ μὴ καταλυθῇ wiederholt nicht einfach die Aussage des Hauptsatzes, sondern setzt einen eigenen Akzent (siehe unten zum atl. Motiv Zermalmen von Steinen). 539  Pesch, Mk II 270: „Die Gesprächseinleitung kann […] im Blick auf Jesu Antwort überformt sein“. 540  Lohmeyer, Mk 268.

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Art parallelismus membrorum541. Die vollständige Verwüstung, der definitive Untergang des Tempels könnte nicht deutlicher ausgedrückt werden. Die Ansage der Schleifung des Tempels widerspricht Josephus, dem zufolge der Tempel niedergebrannt wurde (Jos, Bell  6 ,249–288) 542 . Nach Ende der Kämpfe befahl Vespasian allerdings, die Anlage dem Erdboden gleich zu machen, ließ jedoch drei Türme und die Mauer stehen, „soweit sie im Westen die Stadt umgab“ (Bell  7,1– 4) 543. Aus einem Vergleich mit Josephus lässt sich nicht zwingend auf ein vaticinium ex eventu schließen544. Fand Markus die Prophetie im Rahmen des Apophthegmas vor545 , dann bliebe auch bei der Entstehung seines Evangeliums kurz nach 70 „für die Prägung und Tradierung der Szene nur ein äußerst geringer zeitlicher Spielraum, so dass das Vorliegen eines erst nach dem Jahre 70 gebildeten vaticinium ex eventu kaum glaublich ist“546 . Stilistische und inhaltliche Beobachtungen sprechen Kurt Paesler zufolge zugunsten eines Markus vorgegebenen Apophthegmas547: „Der bewundernde Ausruf  – aus dem Munde von Fremden und Pilgern wohl verständlich, aber befremdend bei einem Jünger, der seit mindestens drei Tagen in Jerusalem weilt – dient wohl nur dazu, das prophetische Wort Jesu vorzubereiten“548 . Wenn das Apoph­ thegma ursprünglich selbständig umlief, entfällt die Spannung. Es verdankt seine Bildung der Absicht, „einem für sich allein nur schwer tradierbaren Herrenwort einen erzählerischen Rahmen hinzuzufügen, der die Überlieferbarkeit des Logions sicherstellen“ und es vor dem Vergessen bewahren sollte549. Auf jesuanischen Ursprung deuten die semitisch-alttestamentliche Sprachgestalt des „scharf

541 

Ebd.: „Beide (Zeilen) ordnen sich nicht zu einem dichterischen Parallelismus“. wird gewöhnlich als Indiz einer authentischen Prophetie gewertet: Grundmann, Mk  262; Sanders, Figure 257; Schweizer, Mk 146 f. 543  „Der Caesar befahl nunmehr, sowohl die ganze Stadt als auch den Tempel von Grund auf zu zerstören (κατασκάπτειν)“. Walter, Tempelzerstörung 41–45; 544 A.Y. Collins, Mk 601: „it is impossible to determine by comparison with Josephus whether it [sc. the prophecy] was coined before or after the destruction“; Vögtle, Verständnis 169: „die drastisch-konkrete Formulierung von 13,2“ überrascht nicht, „wenn sie von der Wirklichkeit des in Trümmern liegenden T(empel)s abgelesen wurde. Damit ist freilich nicht schon die Möglichkeit ausgeschlossen, dass bei der Bildung des vaticinium auch in diesem Fall eine ältere überlieferte T(empel)prophetie mitspielte“. 545 J. Gnilka, Mk II 184; A.Y. Collins, Mk 600 f. – Becker, Jesus 405 f.; Dormeyer, Passion 159 Anm.  575. 546  Paesler, Tempelwort 85. 547  Ebd. 81–84: Der Stil ist nicht typisch mkn., der Wechsel von einem ungenannten Jünger in V.1 zu den namentlich genannten vier in V.3 befremdlich. Abgesehen von der „Verwandlung eines anonymen εἷς in εἷς τῶν μαθητῶν αὐτοῦ“ (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ bei Mk „recht häufig“), dürfte das Stück in dieser Form aus mündlicher Überlieferung stammen; ebenso J. Gnilka, Mk II 181; Schlosser, Parole 405–407, u. a. 548  Lohmeyer, Mk 268; ebenso Paesler, Tempelwort 83. 549  Paesler, Tempelwort 88. Um das verlorene Deutewort der Tempelaktion handelt es sich nicht: „es fehlt der spezifische Bezug“ zur „durchgeführten Symbolhandlung“ (ebd. 259). 542 Dies

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geschliffenen und pointierten Wortes“550 wie der Gebrauch des passivum divi­ num551: οὐ μὴ ἀφεθῇ ὧδε λίθος ἐπὶ λίθον ὃς οὐ μὴ καταλυθῇ.

„Die Wendung λίθος ἐπὶ λίθον findet sich in keiner anderen Ankündigung der Tempelzerstörung (vgl. 1Kön  9,7 f.; Mich  3,12; Jer  7,14; 26,6.9.18; Jos, Bell  6,301), sondern nur in einer Erinnerung an den Tempelbau, bei dem man ‚Stein auf Stein legte‘ (Hag  2,15)“552. Der Spruch Hag  2,15–19 verbindet Grundsteinlegung und Bau des neuen Tempels mit der Zusage Jhwhs: „Von heute an spende ich Segen“ (Hag  2,19). Spielt die Ansage des Tempeluntergangs Mk  13,2c.d mit λίθος ἐπὶ λίθον auf Hag  2,15 an553, dann konterkariert sie das Heilswort554: Gott hat die Zusage, die er an den Tempelbau band, widerrufen. Kein Stein, der nicht abgetragen und „zermalmt“555 wird! 550  Ebd. 89 (im Anschluss an Paul Wendland) mit Rückübersetzung des Spruchs ins Aramäische; die Frage Jesu V.2b verdanke sich der Bildung des Apophthegmas (siehe oben die Beobachtungen zur Verklammerung der Prophetie mit dem Ausruf des Jüngers). 551 F. Hahn, Verständnis 29 Anm.  3. J. Jeremias, Theologie 20–24: „überaus häufig“, typisch für Jesus (ebd. 20). – Mit jesuanischer Herkunft rechnen auch Lohmeyer, Mk 268; Roloff, Kerygma 97; Petersen, Mutmaßungen 304 f. – Schubert, Kritik 330 f., verweist zusätzlich auf Jochanan ben Zakkai, der gleichfalls die Zerstörung des Tempels angesagt haben soll: „O Tempel, weshalb ängstigst du dich! Ich weiß, dass du zerstört werden wirst“ (Joma 39b). – Evans, Predictions 89: „the balance in recent years seems to be tipping in favor of its authenticity“. – Pesch, Mk II 271: Der überschießende „Schluss ὃς οὐ μὴ καταλυθῇ, durch den nur ein holpriger Parallelismus zweier Aussagen hergestellt ist“, stamme vom Evangelisten (καταλύειν weise voraus auf 14,58), „als Verdeutlichung des vaticinium Jesu ex eventu hinzugefügt“ (ebenso Söding, Tempelaktion 54); dazu Brandenburger, Markus 13, 75: „wenig (…) wahrscheinlich“, Paesler, Tempelwort 84: ohne „rechten Anhalt“ am Text. A.Y. Collins, Mk 601: „The prophecy in V.2 is probably a variant of a traditional saying attributed to Jesus, which may have some basis in the teaching of the historical Jesus (cf. Mark 14:58; 15:29; John 2:19; Acts 6:14). It is not possible to reconstruct an ‚original form‘ of the saying […] [I]its form was modified to fit his context“. 552  Pesch, Mk II 271. Hag  2 ,15–19: „15Nun aber gebt Acht von heute an und weiterhin! Bevor man am Tempel Jhwhs Stein auf Stein legte, 16wie ist es euch da ergangen? […] 18Gebt Acht von heute an und weiterhin, vom vierundzwanzigsten Tag des neunten Monats an, dem Tag, an dem der Grundstein zum Tempel Jhwhs gelegt wurde! Gebt Acht, 19ob das Saatkorn weiterhin im Speicher bleibt und ob Weinstock und Feigenbaum, Granatbaum und Ölbaum immer noch keine Frucht tragen! Von heute an spende ich Segen“. 553  Paesler, Tempelwort 89: „[D]ie aus dem Tempelbauzusammenhang Hag  2 ,5 (sic!) bekannte Wendung λίθος ἐπὶ λίθον (spricht) dafür, dass das Logion als Prophetie gegen den Tempel formuliert und auch schon vor der Abfassung des Apophthegmas als solche überliefert worden ist“; ebenso Schlosser, Parole 406 f.; Légasse, Procés 59 f. 554 A.Y. Collins, Mk 602: „it [V.2] depicts a reversal of the allusion to the building of the Second Temple in Haggai“. Vgl. auch Mi  3,12: „Darum wird euretwegen Zion als ein Acker gepflügt werden, und Jerusalem wird zu einem Trümmerhaufen und der Berg des Hauses zu einem bewaldeten Berg werden“; 2Sam 17,13. 555  Paesler, Tempelwort 86, vermutet im Hintergrund das atl. Motiv der Zermalmung von Steinen, in Bezug auf Heiligtümer in 2Kön  23,15: „Auch den Altar von Bet-El […] zerstörte er (sc. König Joschija) samt der Kulthöhe. Er steckte das Höhenheiligtum in Brand, zermalmte die Steine zu Staub und verbrannte den Kultpfahl“. „Die Wurzel [‫ ]דקק‬begegnet im AT fast ausschließlich im Zusammenhang des eschatologischen Handelns Gottes an und durch Israel (Jes  41,15; Mi  4,13) oder bei der Vernichtung widergöttlicher Heiligtümer, mit denen Israel Göt-

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So kündigt der „prophetische Spruch“ nach Ausweis des passivum divinum auch keine innergeschichtliche Katastrophe des Tempels an, sondern dessen Ende, das Gott selbst heraufführen wird, wenn er seine Königsherrschaft vollendet. Anders als die sonst bekannten Gerichtsworte Jesu begründet Mk  13,2 das angesagte Gottesgericht nicht556 , deutet mit seiner Anspielung auf die biblische Tradition vom „Zermalmen“ der Steine des Heiligtum (‫ )דקק‬den Grund aber an: „Der Kult auch am Jerusalemer Tempel wird – wie vor Josia – zum Götzendienst, wenn er sich dem Anspruch Gottes verschließt – und dieser Anspruch ist in der Predigt Jesu von der Gottesherrschaft ergangen und offenbar abgelehnt worden“557. Auch in Jerusalem schlägt Jesus Ablehnung entgegen, hier vonseiten derer, die im Tempel den unantastbaren Heilsort Israels sehen. Lehnen sie Jesus und seine Botschaft der βασιλεία τοῦ θεοῦ ab, verschließen sie sich Gott selbst. Das Gericht über den Tempel ist beschlossene Sache. Jesus weint über Jerusalem (Lk  19,41–44) – eine Parallelüberlieferung zu Mk  13,2? Die Klage Jesu über Jerusalem Lk  19,42–44 ist einer der Texte zu ihrem Geschick, die Lukas in besonderer Dichte in seinen weiteren Passionskontext eingeflochten hat558 . Ob es sich um Überlieferung oder eine lkn. Neubildung handelt, ist strittig559. Das gattungskonform gestaltete prophetisches Wort besteht aus einer Klage (V.42b.c), einer Strafankündigung (V.43a–44b) wie deren Begründung (44c): 41 42

a Als er näher kam b und die Stadt sah, c weinte er über sie a und sagte: b  (1) Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest (εἰ ἔγνως ἐν τῇ ἡμέρᾳ ταύτῃ)560 ,   was zum Frieden (führt) (τὰ πρὸς εἰρήνην) 561. zendienst trieb (Ex  32,20; Dtn  9,21; 2Kön  23,6.15; 2Chr  15,16; 34,4.7)“. Die LXX übersetzt, wie Paesler einschränkt (ebd. Anm.  85), ‫ דקק‬nirgends mit καταλύω. 556  Vgl. etwa Mt  11,21–24 par. Lk  10,13–15; Mt  12,41 f. par. Lk  11,31 f. etc. – Becker, Jesus 406: „Zwar hat auch Jesus z. B. Orten und Personen das Gericht angedroht […], aber das dann mit seiner Ablehnung aufgrund seines Wirkens begründet. Eine solche Begründung fehlt hier“. 557  Paesler, Tempelwort 260; 256: Die biblische Motiv vom „Zermalmen“ bezieht sich fast ausschließlich auf „die völlige Vernichtung götzendienerischer Heiligtümer [Ex  32,30; Dtn  9,21; 2Kön  23,6.15; 2  Chr 15,16; 34,4.7]“ oder wird „im Zusammenhang des eschatologischen Handelns Gottes an und durch Israel [Jes  41,15; Mi  4,13] gebraucht […]. Es ist dieser Tradition also ebenso eine deutliche eschatologische Konnotation zu eigen wie auch ein schroffes adversatives Moment gegen den Tempel, den der Sprecher gedanklich in die Nähe des im Alten Testament dokumentierten Götzendienstes Israels rückt“. 558  Neben 19,42–44 vgl. noch den Wehe-Ruf 13,34 f. (dazu unten), die Ankündigung der Verwüstung der Stadt 21,20–24 sowie die Klage über die Töchter Jerusalems 23,27–31. Stammen 13,34 f. aus Q und 21,20–24 aus Mk, so könnten 19,42–44 und 23,27–31 lkn. Bildungen sein. 559  Zugunsten der ersten Alternative votiert Dupont, Pierre 301–320  ; ausschließen möchten sie auch nicht Pesch, Mk  II 271; Bovon, Lk IV 42 Anm.  14: „Die Verse 42–44 können eine authentische Klage Jesu widerspiegeln“; ähnlich Kollmann, Jesus 43; anders G. Schneider, Lk II 388  : „nicht auszuschließen, dass Lk selbst dieses eindrucksvolle ‚biographische Apophthegma‘ komponiert hat“. 560  V.42b und 44c rahmen den Spruch (inclusio). 561  Mit dem Stichwort εἰρήνη knüpft Lk an den Jubel der Anhängerschaft Jesu bei seinem Er-

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

c   Jetzt aber ist es vor deinen Augen verborgen worden (ἐκρύβη). a   (2) Denn es werden Tage über dich kommen, b   dann werden deine Feinde rings um dich einen Wall aufwerfen c   und dich einschließen d   und von allen Seiten bedrängen. a   Und sie werden dich und deine Kinder zerschmettern b  und werden keinen Stein auf dem anderen in dir lassen (οὐκ ἀφήσουσιν λίθον ἐπὶ λίθον), c  (3) weil du den Augenblick deiner Heimsuchung nicht erkannt hast (οὐκ ἔγνως τὸν καιρὸν τῆς ἐπισκοπῆς σου).

Mit Mk  13,2 stimmt die Klage nur in der Wendung λίθος ἐπὶ λίθον + ἀφίημι überein. Die Unterschiede zwischen beiden Sprüchen helfen, Mk  13,2 nachträglich zu profilieren: (a) Mk  13,2 spricht vom Tempel, die Klage von der Stadt, was auch für die Ansage Lk  19,44b gilt: „Kein Stein wird auf dem anderen gelassen“. (b) Während Mk  13,2 ein Handeln Gottes thematisiert, schildert Lk  19,43 f. Belagerung und Vernichtung der Stadt und ihrer Bewohner durch die „Feinde“ (V.43b–44b). Der eschatologische Gerichtsgedanken tritt zugunsten der Ankündigung einer innergeschichtlich sich vollziehenden Strafaktion zurück. Die Klage benutzt lediglich eingangs ein passivum divinum, das sich gut zur lkn. Theologie fügt: Was der Stadt zum Frieden hätte dienen können, ist „vor ihren Augen (von Gott) verborgen worden (ἐκρύβη)“ (V.42c) 562 . (c) Die Prophetie Mk  13,2 ist futurisch formuliert. Die Klage differenziert: „Die Unterscheidung zwischen der Stadt und ‚ihren Kindern‘ soll wohl die zeitliche Distanz zwischen der Fehlentscheidung der Stadt (zur Zeit Jesu) und dem (späteren) Strafgericht überbrücken und spricht Jerusalem über die Zeit Jesu hinaus schuldig“563. (d) Im Unterschied zu Mk  13,2 ergeht die Strafandrohung begründet: „denn den Kairos Deiner (gnadenvollen) Heimsuchung hast du nicht erkannt“ (V.44c) 564

Während Jesus das eschatologische Ende des Tempels ankündigte, beschreibt die Klage Belagerung und Eroberung der Stadt durch ihre Feinde in einer Weise, die an die Darstellung der Ereignisse durch Josephus erinnert (Bell  5,258–274.502–526; 6,220– 287). Gegen ihre Deutung als vaticinium ex eventu wird ihre Unbestimmtheit genannt, die auf jede antike Stadt passe, der eine solche Katastrophe widerfährt565. Tatsächlich könnte sie im Vorfeld des Krieges von Christen gebildet worden sein, um ihre Nicht-Beteiligung am Krieg zu begründen. Entweder ist die Klage, wie ihre Übereinscheinen auf dem Ölberg an (19,38: „Im Himmel Friede und Herrlichkeit in den höchsten Höhen!“) und schlägt den Bogen zum Friedensruf der Engel in 2,14. 562 Dem „korrespondiert, dass später von ihrer (sc. der Stadt) ‚Unkenntnis‘ die Rede ist (Lk  23,34; Apg  3,17; 13,27). Nach Ostern bekommen sie (sc. die Jerusalemer) darum auch durch die Auferstehungsverkündigung der ‚Zeugen‘ die Möglichkeit zur Umkehr (Apg  2,38; 3,17–19; 5,30 f.)“ (Wolter, Lk 634). 563 G. Schneider, Lk II 389; ähnlich geht Jesu Klage über die Töchter Jerusalems (23,28) vor. 564  Mittels des Stichworts „Heimsuchung“ (das Substantiv ἐπισκοπή nur hier, sonst das Verb) ist die Klage in den Makrokontext des Evs eingebunden: Lk  1,68.78; 7,16; Apg  15,14. 565  Bovon, Lk IV 42: „Die Beschreibung des erlittenen Angriffs entspricht jeglicher Belagerung in der Antike, den in den hebräischen Schriften beschriebenen, zuallererst derjenigen von Jerusalem im Jahre 586 v.Chr. und dann der, die im Jahre 70 zum Fall von Jerusalem führte“.

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stimmung im zentralen Motiv λίθος ἐπὶ λίθον (Hag  2,15) mit Mk  13,2 an­deuten könnte, eine vorlkn. Weiterbildung des jesuanischen Gerichtsworts566 oder Lukas hat sie selbst unter Rekurs auf Mk  13,2 komponiert. Für den historischen Jesus fällt sie aus. „Euer Haus wird euch überlassen sein!“ Das Gerichtswort Lk  13,34 f. par. Mt  2 3,37–39 Im Unterschied zu Mk  13,2 und Lk  19,41–44 richtet sich das aus der Logienquelle stammende Gerichtswort Lk  13,34 f. par. Mt  23,37–39 (= Q  13,34 f.) 567 gegen den Tempel568 und Jerusalem. Da es beide Evangelisten nahezu gleich überliefern, ist sein Wortlaut in Q kaum strittig569: 34

a Jerusalem, Jerusalem, b   das die Propheten tötet c   und die zu ihm Gesandten steinigt: d Wie oft wollte ich (ποσάκις ἠθέλησα) deine Kinder sammeln (ἐπισυναγαγεῖν570), e wie eine Henne ihre Küken (τὰ νοσσία αὐτῆς) unter die Flügel sammelt (ἐπισυνάγει)571, f und ihr habt nicht gewollt (καὶ οὐκ ἠθελήσατε). 35 a Siehe, euer Haus ist dabei, euch [von Gott] verlassen zu werden (ἰδοὺ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν)572 . b Ich sage euch aber (δέ)573: c Ihr werdet mich nicht mehr sehen, d bis er [sc. der Menschensohn] (oder: es) kommen wird (ἕως ἥξει)574, 566 

Schlosser, Parole 407–409. Zum Folgenden ausführlich: Theobald, Henne. 568  οἶκος = „Haus“ Q  13,35a meint hier weder „das Haus Israel“ bzw. das Volk (O. Michel, Art. οἶκος 127: „nicht unmöglich“) noch die Stadt (Hoffmann, Studien 174, wegen des Personalpronomens „euer“), sondern den Tempel: vgl. C. Schaefer, Zukunft 140 f. 569  Rekonstruktion nach Hoffmann/Heil, Spruchquelle 92 f., von der sich Bovon, Lk II 446, und Fleddermann, Q 700–703, kaum unterscheiden. 570  Mt  23,37 (ein attischer Aorist); Lk  13,34: ἐπισυνάξαι, könnte „Angleichung an den geläufigen Sprachgebrauch“ sein (Hoffmann, Studien 171). 571  Nach Mt, der das Verb aus dem Obersatz (ἐπισυνάγει) wiederholt und es mit dem Plural τὰ νοσσία αὐτῆς verbindet. Lk verzichtet im Vergleichssatz auf das Verb und bietet den Singular τὴν ἑαυτῆς νοσσιάν. Fleddermann, Q 702: „Matthew’s τὰ νοσσία corresponds to τὰ τέκνα in the preceding clause. So Matthew preserves the original form of the ὃν τρόπον clause“. 572 Das Präsens ἀφίεται (passivum divinum) unterstreicht die Dringlichkeit des Urteilsspruchs.  – Mt fügt, beeinflusst von Jer  22,5 (LXX: εἰς ἐρήμωσιν ἔσται ὁ οἶκος οὗτος) und in der Absicht, 23,38 mit 24,15 („Gräuel der Verwüstung [τῆς ἐρημώσεως]“: Dan  9,27 etc.) zu verknüpfen, ein ἔρημος = öde hinzu. 573  Mt: „denn (γάρ) ich sage euch“. Der mt. Kontext deutet darauf hin, dass γάρ redaktionell ist; ob das von Lk bezeugte δέ auch die Logienquelle geboten hat, ist nicht entscheidbar. 574 Der elliptische Satz bleibt schwierig: Entweder ist eine Person gemeint (dann der Menschensohn, so Fleddermann, Q 706, zu Recht für den Q-Kontext) oder die Ansage bleibt unbestimmt (Bovon, Lk II 443 f.: „es wird kommen, dass …“); im zweiten Fall wäre ἡ ἡμέρα = der Tag oder ἡ ὥρα = die Stunde zu ergänzen; Wendungen wie: „es kommt die Stunde, dass …“ sind stereotyp (vgl. etwa Joh  5,25; BDR  §  382 Anm.  2). – Mt: „von jetzt an, bis ihr sagt (ἀπ’ ἄρτι ἕως ἄν εἴπητε)“ (vgl. auch Mt  26,29 diff. Mk  14,25; Mt 26,64 diff. Mk 14,62), erleichtert die schwierige Q-Vorlage. 567 

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e dass ihr sagt (ὅτε εἴπητε)575: f   Gepriesen, der kommt (ὁ ἐρχόμενος) im Namen des Herrn! (Ps  118,26)

Strittig ist die jesuanische Herkunft des Logions. Ein Teil der Forschung hält es für eine nachösterliche Bildung576 , der andere für im Kern oder ganz authentisch577. Form- und gattungskritisch betrachtet, hat das zeitlich gestufte Stück (Aorist [V.34]; Präsens [V.35a]; Futur [V.35d]) zwei Hälften: Vorweg steht ein „stilechtes Gerichtswort“ (V.34– 35a) 578 , bestehend aus einer Schelte mit Zügen einer Klage (V.34)579 und einem knappen ­Urteilsspruch (V.35a). Es folgt eine Weissagung (V.35b–f), die sich „von der literarischen Gattung des Gerichtsorakels ab(hebt), wie die einleitende Formel: ‚Ich sage euch‘ zu verstehen gibt“580 .

Die Zukunft, die der Spruch in V.35b–f ansagt, ist rätselhaft581: Schließt die Begrüßung des zum Zion wiederkommenden Jesus mit Worten aus Ps  118,26 durch die­ jenigen, die ihn jetzt ablehnen, ihre endzeitliche Umkehr und Rettung ein 582? Oder ist sie als „erzwungene Huldigung“ zu deuten, die den Widerwilligen nichts nutzen wird, weil sie zu spät kommt583? Nach der ersten Deutung geht V.35b–f über den 575  ὅτε + Konj. Aor. statt Ind. Fut. (zur Bezeichnung des „Inhalts“ der erwarteten Stunde) eher selten: BDR  §  382; W. Bauer, Wörterbuch 1191 (in griech. Lyrik und im Epos oder sehr spät belegt). – Nach BDR  §  379 („Qualitativ-konsekutive Relativsätze“) unter 1. könnte (in Verbindung mit §  382.2) auch konsekutiver Sinn vorliegen: „sodass“. Diese Deutung vertrüge sich gut mit einem personalen Verständnis des ἥξει: „bis er kommt, sodass ihr (in Folge) sagt“. 576 Seit Strauß, Weheruf 84–93, wird das Wort gerne auf die (präexistente) Weisheit bezogen, die Rückschau auf ihre irdische Erfolglosigkeit hält: Becker, Jesus 81 Anm.  47; Bornkamm, Jesus 136; Bultmann, Geschichte 120 f.; Christ, Jesus 138; Merklein, Entstehung 269–271; Sato, Q 159; Steck, Israel 48–58. 227–239; eine überzeugende Widerlegung dieser Deutung bei Hoffmann, Studien 174 f., und Zeller, Entrückung 514 f. – Ohne Rekurs auf diese Hypothese bestreiten die Authentizität des Wortes: Luz, Mt 379–381; Fleddermann, Q 707; Tiwald, Kommentar 147–151; Zeller, Zukunft 200: „Bildung eines urchristlichen Propheten“ (anders noch ders., Entrückung 156). 577 Ådna, Stellung 413–416; Catchpole, Traditions 327–329; U.B. Müller, Gerichtsankündigung; Niemand, Jesus 274–280; Paesler, Tempelwort 253–255; 136 f.; Riniker, Gerichtsverkündigung 421–425; Stuhlmacher, Stellung 145. – Fitzmyer, Lk 1033–1036, und Zeller, Kommentar 86, schließen Authentizität nicht aus. 578  Zeller, Kommentar 86; Bovon, Lk II 444: ein „Gerichtsorakel“. 579 Dem „Wollen“ des Sprechers (ἠθέλησα) tritt das „Nicht-Wollen“ der Umworbenen (ἠθελήσατε) gegenüber (vgl. den Chiasmus: ἠθέλησα – ἐπισυναγαγεῖν / ἐπισυνάγει – ἠθελήσατε). 580  Bovon, Lk II 447: sie ist „ohne Parallele in der hebräischen und jüdischen Literatur“, mit der Einschränkung (Anm.  28), dass es „allerdings Gerichtsworte mit solchen Bekräftigungen (gebe), denen eine neue Einleitung vorangesetzt wird, vgl. z. B. Ez  5,1–17“. 581  Ebd. 445: „eine rätselhafte Zukunft, von der wir nicht erfahren, ob sie dunkel oder hell sein wird“. 582  Mußner, Stellung 96 (schon Origenes im Kontext von Röm  11,26); vgl. Luz, Mt  III  383 mit Anm.  54–56, der noch einen mittleren, konditionalen Deutungstyp nennt: „Ihr werdet mich erst dann wieder sehen, wenn ihr sagt: ‚Gepriesen sei, wer im Namen des Herrn kommt‘, d. h. dann, wenn ihr euch Jesus zuwendet“ (ebd. 383 f.). 583  Für Mt: Luz, Mt III 384 (in der Alten Kirche, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit der beliebteste Deutungstyp); Konradt, Mt 367 f. – Für Lk: Wolter, Lk 499: „Texte wie ä­ thHen  48,5; 62,2–5.9–10; 63,2 (zeigen), dass die Huldigung des kommenden Richters nicht vor der eschatischen Strafe bewahrt“. Allerdings ergibt sich dies bei den genannten Stellen aus deren Kontext, was im Fall des Jerusalem-Wortes jeweils gesondert für Mt, Lk und Q zu prüfen ist.

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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Urteilsspruch V.35a hinaus, nach der zweiten wird dieser um einen weiteren ergänzt, so dass die Einheit insgesamt als Gerichtsorakel zu lesen wäre584. Auf die gestellte Frage gibt es keine einlinige Antwort. Je nachdem von welcher Kontextualisierung des Spruches ausgegangen wird, fällt sie anders aus. Bei ­Matthäus bildet der Spruch den Schlussakkord der großen Wehe-Rede gegen „die Schriftgelehrten und Pharisäer“ im Tempel (Mt  23,37–39), den Jesus anschließend definitiv verlässt (Mt  24,1). Da der Schlussteil des Spruches nach der Lesart des Matthäus den vorangehenden Urteilsspruch weiter begründet (V.39: γάρ), kann für diejenigen, die Jesu Botschaft ablehnen, die Begegnung mit ihm am Ende der Tage nur ein „schreckliches Wiedersehen“585 sein. Lukas hat den Spruch „ungefähr in der Mitte des Reiseberichts“586 platziert und zu dessen „sinnerschließende(n) Schlüsselstelle“ gemacht587. Aus seiner Sicht ist „der Weg Jesu zum Leiden in Jerusalem zentral für den ‚Heilsratschluss‘ Gottes und macht das Spezifikum der Messianität Jesu, die ihn am Prophetenschicksal in Israel teilhaben lässt, sichtbar“588 . Bereits die redaktionelle Positionierung des Spruches im Reisebericht vor dem Einzug Jesu in die Stadt ist aufschlussreich (anders Matthäus): Wenn Jesus im Anblick Jerusalems von seiner Anhängerschaft mit eben dem Willkommensgruß aus dem Wallfahrtspsalm freudig als Gesandter Gottes begrüßt wird (19,38), der in 13,35 den „Kindern“ Jerusalems bei ihrer gleichfalls in Jerusalem zu denkenden Begegnung mit dem Parusiechristus589 in den Mund gelegt ist, darf angenommen werden, dass Lukas mit 19,38 nicht nur an 13,35 zurückerinnert, sondern im Jubel der Anhängerschaft Jesu angesichts des Auftritts Jesu vom Ölberg her zugleich eine Antizipation dessen sieht, was 13,35 für Jesu eschatologisches „Kommen“ angesagt hat: Auch die sich ihm jetzt noch widersetzen, werden sich ihm öffnen. Sie werden, so könnte die Hoffnung des Evangelisten lauten, „Jesus als ihren Messias begrüßen […] – bei seiner Wiederkunft am Ende der Tage“590 . Zugunsten dieser Deutung spricht die Partikel δέ, die anzeigt, dass die Weis584  Sato, Q 157 f.; ebenso Luz, Mt III 378; Riniker, Gerichtsverkündigung 407 f.; U.B. Müller, Gerichtsankündigung 134 (anders noch ders., Überzeugung 26–29). Dieses Verständnis des Wortes bedingt die Annahme, es sei „formvollendet“ und sperre sich gegen „Dekompositionsversuche“ (Luz). 585  Zeller, Entrückung 154. 586 C. Schaefer, Zukunft 130. 587  Ebd. 131; „Schlüsselstelle“ ist Q  13,34 f. für Lk zusammen mit dem Diktum: „Ein Prophet darf nicht außerhalb Jerusalems umkommen“ (Lk  13,33), an welches er den Q-Spruch angeschlossen hat. „Nur an dieser Stelle, in der Mitte des Reiseberichts, wird deutlich, warum Jesus unaufhaltsam wandert – und warum ihn niemand, auch nicht der Tetrarch Herodes, aufhalten kann: Die Reise ist ein ‚heilsgeschichtliches Muss‘ (angedeutet durch δεῖ in 13,33) und wird Jesus […] zur Vollendung seiner Sendung nach Jerusalem bringen […]“ (ebd.). 588  Ebd. 131 f. 589  Das Segenswort Ps  118,26 riefen die Priester beim Laubhüttenfest (siehe mSuk  3,9) den in den Tempel Einziehenden zu; später wurde das Wort auch „messianisch“ gedeutet: MTeh  §  22 (244a) zu Ps 118, vgl. Brunson, Gospel 22–101 („Psalm 118 in its Jewish Setting“). 590  Mußner, Stellung 96; H. Merkel, Israel 396 f.: Lk  13,34 f. lasse „hoffen, dass die Jerusalemer, die sich der Sammlung durch Jesus verweigern, bei der Parusie ihm mit dem Lobpreis huldigen ‚Benedictus qui venit in nomine Domini‘“.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

sagung V.35b–e dem voranstehenden Gerichtswort gegenübergestellt wird: „Ich sage euch aber“591. „Die Zeit des Verlassenseins und des Nicht-Sehens – beides scheint sich in gewisser Weise zu entsprechen – ist anscheinend nicht endgültig, denn schließlich wird in Jerusalem, wo ja auch die Parusie des Messias lokalisiert wurde, die Zeit der Huldigung des wiederkommenden Messias anbrechen“592 . Freilich sagt dies der Text nur verhüllt. Doch das lkn. Doppelwerk erzählt in seinem weiteren Verlauf, wie Jerusalem mit der erneuten Verkündigung des Evangeliums durch Jesu Boten nach Ostern auch eine neue Chance erhält, sich zu seinem Messias zu bekehren. Wenn Jerusalem und mit ihm ganz Israel diese Chance ergreift, wird es am Ende der Zeiten gemeinsam mit den bekehrten Menschen aus den Völkern in die Vollendung eingehen können 593. Für die Logienquelle, deren Autor den Spruch zum ersten Mal verschriftlicht und literarisch kontextualisiert hat, ist die Frage nach dem Verständnis von V.35b–f eigens zu beantworten. Das dichte Netz, das der Spruch zu anderen Abschnitten von Q unterhält, verrät, wie stark er von deren Theologie geprägt ist594. Basierend auf der Analyse von Harry T. Fleddermann seien folgende Bezüge zum Q-Kontext genannt: (a) Die attributive Partizipialkonstruktion V.34b.c knüpft an das Weisheitswort Q  11,49– 51 (Lk  11,49–51 par. Mt  23,34–36) an, mit dem sie drei Leitworte gemeinsam hat: „senden (ἀποστέλλω)“, „Prophet (προφήτης)“ und „töten (ἀποκτείνω)“. Ein viertes, nämlich „Haus (οἶκος)“ (Q  11,51), begegnet in der Gerichtsansage V.35a 595. (b) Das Stichwort „Haus“ im Urteilsspruch V.35a steht in auffälligem Kontrast zum Gleichnis vom großen Gastmahl (Q  14,16–23 [Lk  14,15–25 par. Mt  22,1–14]) 596 , das von der Einladung in das Reich Gottes erzählt und im Auftrag des Gastgebers an seinen Sklaven gipfelt: „Gehe hinaus auf die Wege, und alle, die du findest, lade ein, damit mein Haus voll werde (ἵνα γεμισθῇ μου ὁ οἶκος)“ (Q  14,23). „The original house, the temple, lies abandoned; the replacement house, the eschatological kingdom, becomes full. Unless they repent the Jerusalemites face now only judgement“597.

591  Mußner, Stellung 96, zufolge besitzt die Partikel δέ hier „fortführenden (‚darüber hinaus‘)“ Sinn. 592  C. Schaefer, Zukunft 149; zur Lokalisierung der Parusie des Messias vom Ölberg her vgl. ebd. 198–204. 593  Ebd. 7: Lk steht „in der Tradition deuteronomistischer Geschichtserzählungen“, die „immer schon mit dem Ungehorsam Israels sowie mit Zorn und Strafe Gottes rechnen“; verbunden damit ist aber stets auch der „Ruf zur Umkehr […], welcher die heilvolle Zuwendung Gottes wieder ermöglicht“. 594  Vom Q-Kontext bei der Rückfrage nach Jesus abzusehen – so Riniker, Gerichtsverkündigung 401–425, und U.B. Müller, Gerichtsankündigung –, führt methodisch in die Irre. 595  Fleddermann, Q 704; unter Voraussetzung seiner Rekonstruktion von Q  11,51 („amen I say to you, all these things will come upon that generation“) nennt er noch ἥξει; ebenso Catchpole, Traditions 307. 596  Beide Einheiten sind nach Hoffmann/Heil, Spruchquelle 92–85, und Tiwald, Kommentar 142, in Q unmittelbar benachbart, aber auch nach Fleddermann, Q 705, der mit einigen Perikopen dazwischen rechnet (ebd. 707–718), aufeinander bezogen: „The Invitation to the Feast, the final pericope in the series of five that deal with the adversaries, contrasts with the Lament“. 597  Fleddermann, Q 705.

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(c) Auch der zweite Teil des Spruches, V.35b–f, unterhält Bezüge zum Q-Kontext, und zwar über das Stichwort ὁ ἐρχόμενος (Ps  118,26). Zunächst betrifft dies die Rede des Täufers, der in Q  3,16 seine Tauftätigkeit mit den Worten kommentiert: „Ich taufe euch mit Wasser; der nach mir Kommende (ὁ δὲ ὀπίσω μου ἐρχόμενος) ist jedoch stärker als ich […]“. Nach Q  7,19 lässt er bei Jesus, als er von dessen Wirken „hört“, anfragen: „Bist du der Kommende (ὁ ἐρχόμενος) oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Sodann sagt Jesus gegenüber anderen von sich: „Der Menschensohn kam (ἦλθεν), er aß und trank, und ihr sagt: ‚Dieser Mensch da – ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern‘“ (Q  7,34). Für das Verständnis von Q  13,34 f. folgt daraus: „Der Kommende“, von dem das Jerusalem-Wort spricht, kann kein anderer sein als der Menschensohn Jesus selbst! Er ist schon „gekommen“ und wird bei der Parusie wieder „kommen“ und mit Ps  118,26 begrüßt werden 598 . V.35b–f setzt die Menschensohn-Christologie der Logienquelle voraus.

Blickt der Sprecher im ersten Teil des Jerusalem-Wortes auf sein abgeschlossenes Wirken zurück, so sagt er im zweiten Teil seine Wiederkunft an. Wird sein Tod im ersten Teil nicht thematisiert, so setzt ihn der zweite mit der Ankündigung seines Entzogen-Seins (V.35c) voraus. „The saying juxtaposes Jesus during his earthly ministry and Jesus as the eschatological Son of Man who will come as end-time savior and judge“599. Die Ansage: „Ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis […]“, die an die frühjüdische Vorstellung der Entrückung anknüpft600 , charakterisiert die Zeit zwischen Jesu Tod und seiner Wiederkunft als Menschensohn als eine Phase, in welcher er den jetzt Unwilligen entzogen ist. Wer Q  12,10 601 zur Deutung von V.35b–f mit heranzieht, wird nicht ausschließen können, dass hier die Logienquelle die Begrüßung des kommenden Menschensohnes denen, die ihn zu seinen Lebzeiten zwar ablehnten, nach Ostern aber dem Umkehrruf der Boten Jesu folgen, als heilvoll in Aussicht stellt602 . Aus der semantischen Vernetzung der kleinen Einheit mit Q folgert Fleddermann, dass der Redaktor der Logienquelle sie geschaffen habe603. Doch der Schluss ist voreilig. 598 

Catchpole, Traditions 323; Fleddermann, Q 706; Hoffmann, Studien 142–158. Fleddermann, Q 706. 600  Zeller, Entrückung 154–156; zu den frühjüdischen Texten: Schmitt, Entrückung. – U.B. Müller, Gerichtsankündigung 137–140, zufolge rechne Jesus, dem er den Spruch in Gänze zuweist, selbst mit seiner baldigen „Entrückung“ zu Gott, der ihn in seiner eschatologischen Rolle für alle sichtbar bestätigen werde – entsprechend der Elija- und Henoch-Tradition (Entrückung + eschatologische Rolle). Doch die Deutung vom Q-Kontext her ist plausibler als die komplizierte Annahme, Jesus habe das Elija und Henoch literarisch zugeschriebene Sonderschicksal als lebendige Erwartung selbst gehegt. 601  Q  12,10: „Wer ein Wort gegen den Menschensohn sagt, dem wird vergeben werden; wer aber etwas gegen den heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben werden“ (Hoffmann/Heil, Spruchquelle 78 f.). 602  Fleddermann, Q 706: „The scripture quotation itself seems ambiguous. Does the quotation use bitter irony to force the adversaries to acknowledge Jesus’ coming to judge them by blessing him, or rather does the quotation leave open the possibility that the adversaries will repent before the Parousia? In the context of Q as a whole (Q  12,10) we cannot rule out the latter possibility“; Tiwald, Kommentar 148 f.: V.35b–f blickt auf eine „Heilswende“. Anders Hoffmann, Studien 177 f. 603  Fleddermann, Q 706; Catchpole, Tradition 319, nennt die Bezüge passend „superimposed“: darübergelegt. 599 

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(1) Richtig ist, dass die Weissagung V.35b–f „kaum vom irdischen Jesus formuliert sein“ kann604. Sie setzt nicht nur seinen Tod voraus, sondern ausweislich der Bezüge zum Q-Kontext auch seine Identifikation mit dem Menschensohn und weist eine ausgebildete Parusie-Vorstellung auf. Für einen Nachtrag spricht der Wechsel von der Theozentrik des Gerichtswortes V.35a (passivum divinum: vgl. Mk  13,2) hin zu einer Christologie, die über den Rückzug Gottes aus dem Tempel hinaus von Jesu Entzogen-Sein spricht und mit seinem „Kommen“ zur Parusie eine weiterreichende, neue Perspektive eröffnet. Überdies lokalisiert der Nachtrag ausweislich des Willkommensgrußes aus dem Wallfahrtspsalm (Ps  118,26) die Parusie des Messias auf dem Zion. Aber eine Zionstheologie ist dem Galiläer Jesus fremd605. (2) Anders verhält es sich bei der ersten Hälfte der Einheit, V.34–35a, die, gattungskritisch betrachtet, ein in sich stehendes, abgerundetes Gerichtswort darstellt. Nur die Schelte V.33b.c fällt stilistisch aus dem Rahmen606 . Sie generalisiert nicht nur im Anschluss an die Prophetenmordtradition die vom Sprecher erfahrene Ablehnung („ihr wolltet nicht“), sondern spitzt diese in Vorwegnahme seines Todes auch zu. Die enge Verzahnung mit dem Q-Kontext erweist die Partizipialkonstruktion als Zusatz der Q-Redaktion607.

Der vom Autor der Logienquelle verschriftlichte und kommentierte Spruch wird gelautet haben: Jerusalem, Jerusalem […], wie oft wollte ich (ἠθέλησα) deine Kinder sammeln (ἐπισυναγαγεῖν) 34e wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel sammelt (ἐπισυνάγει), 34f und ihr habt nicht gewollt (καὶ ἠθελήσατε). 35a Siehe, euer Haus ist dabei, [von Gott] euch verlassen zu werden (ἰδοὺ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν).

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Nach Form, Stil und Aussage spricht vieles für Authentizität des Gerichtsworts, das gattungskonform aus Anrede, (An-)Klage und Drohung besteht und sich zu den anderen Gerichtsworten Jesu fügt, die als authentisch gelten608 . Beachtlich ist auch ein Jochanan ben Zakkai zugeschriebenes Wort vom Ende des 1.  Jh.s, das dem jesuanischen Wort nach Stil und Gattung überraschend gleicht: Galiläa, Galiläa! Du hasst die Tora. Du wirst zuletzt mit (römischen) Bedrückern zu schaffen haben!609

604  J. Gnilka, Mt II 306 f.; Kollmann, Jesus 45. Auch Hoffmann, Studien 176, erwägt die Möglichkeit eines Zusatzes, ohne ausschließen zu wollen, dass der Spruch „insgesamt Gemeindebildung“ ist (ebd. 177). 605  Vgl. oben S. 611 f. Anm.  485.490. 606  Das Logion ist Anrede an die personifizierte Stadt Jerusalem bzw. ihre „Kinder“, die doppelte Partizipialkonstruktion dagegen Rede in dritter Person („die zu ihr [sc. Jerusalem] Gesandten“). Die meisten deutschen Wiedergaben (Luther, EÜ, Zürcher) glätten den Text: „die zu dir Gesandten etc.“. 607  Catchpole, Traditions 322, mit Verweis auf „the similar addition in [Q]  11,49“. 608  Lk  10,13–15 par. Mt  11,21–24; Lk  11,31 f. par. Mt  12,41 f.; Lk  14,16–24 par. Mt  2 2,2–14. Durchweg ist hier die Gerichtsandrohung Folge der Zurückweisung Jesu. Vgl. Catchpole, Traditions 327. 609  yShab 15d (16,8/3) (Übersetzung Hüttenmeister, Shabbat 405).

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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Das Leitwort des jesuanischen Spruches „sammeln“ (ἐπισυνάγω) ist zwar „ein geläufiges Element jüdischer Eschatologie“, das sich auf die Heimführung der in die Diaspora zerstreuten Kinder Israels am Ende der Tage beziehen kann610 , zielt aber in die Mitte der Botschaft Jesu: Im Zeichen der angebrochenen Königsherrschaft Gottes wollte Jesus Israel „sammeln“611, beginnend bei den schwächsten Gliedern des Volkes, den Ausgegrenzten und Armen, den Sündern und Verlorenen, denen er Gottes Vergebung zusprach. Ziel seiner Sammlungsbewegung war Jerusalem, Israels Zentrum, wo er das Wort gegen Ende seines dortigen Wirkens sprach. Unter der Voraussetzung, dass Jesus am Ende seines kurzen Wirkens nur einmal in Jerusalem war, um die Basileia auch dort zu verkündigen, macht Ulrich Luz gegen die Authentizität des Spruches das ποσάκις ἠθέλησα geltend612 . Doch weder spricht die synoptische Darstellung gegen mehrfache Jerusalem-Aufenthalte Jesu noch die johanneische dafür. Beides sind theologische Konstrukte. Grundsätzlich lassen sich mehrere Besuche nicht ausschließen613, aus ποσάκις ἠθέλησα aber auch nicht zwingend herleiten614. Jesus klagt zwar die Stadt an, in der er sich aufhält, doch alle Glieder des Volkes, die zu „sammeln“ er sich gesandt wusste, verstehen sich als „Kinder“ Jerusalems615. Kurt Paesler hält es für denkbar, dass sich „die wiederholte Ablehnung der jesuanischen Botschaft“ auch „während eines einzigen ­Jerusalem-Aufenthalts ereignet“ hat616 , der dann aber länger als nur wenige Tage vor Pascha gedauert haben muss.

Zumeist wird angenommen, Jesus knüpfe mit dem Bild von der Vogelmutter und ihren Jungen617 an die biblische Metapher der Flügel Gottes an618 . Aber das Bild 610  Wolter, Lk 498; vgl. Dtn   30,1–5; Tob  14,7; 2Makk  2,7.18; Jes  11,12 f.; 56,8; Jer 32[39],37; Ps  106,46 u. ö. 611  Vgl. Lk  11,23 par. Mt  12,30; Lk  14,23 par. Mt  2 2,10; auch die Gleichnisse vom Verlorenen Lk  15 (bereits dem Täufer ging es um Israels Sammlung – im Zeichen des Gerichts: vgl. Lk  3,17 par Mt  3,12). Die Schaffung der Zwölf (Mk  3,13–19; vgl. Lk  22,28–30 par. Mt  19,28) veranschaulicht „die jetzt durch Jesus beginnende Sammlung und Wiederherstellung Israels zum endzeitlichen Zwölfstämmevolk“ (Lohfink, Jesus 103). Auch Jesu eschatologische Vorstellung zielte auf Sammlung: „Viele“ werden von Osten und Westen kommen und sich mit Abraham und Isaak und Jakob zum Mahl im Königreich Gottes niederlegen“ (Lk  13,28 f. par. Mt  8 ,11). 612  Luz, Mt III 380. 613  Borg, Jesus 124 f. Anm.  6 4: „That Jesus had been to Jerusalem before (perhaps many times) is almost certain. He seemed to have been a ‚religious quester‘ (how else does one explain his going to the Jordan to hear John the Baptizer and then becoming part of John’s movement?), and as a Jewish male who was serious about the religious life, it seems intrinsically probable that he had gone on pilgrimage to Jerusalem“. 614  Fleddermann, Q 705 (unter Voraussetzung der redaktionellen Bildung des Spruches): „From this saying the reader learns that Jesus repeatedly visited Jerusalem, and the city repeatedly rejected him“; Stuhlmacher, Stellung 142. 615 C. Schaefer, Zukunft 139; ebd. Anm.  136 verweist auf „die Rede von der ‚Mutter Jerusalem‘ in Gal  4,25 f.“; Riniker, Gerichtsankündigung 419 (Hinweis auf Jes  49,14–21 oder Jer  50,12); U.B. Müller, Gerichtsankündigung 136. 616  Paesler, Tempelwort 254 Anm.  31. 617  Wolter, Lk 498: „Als Bildfeld fungieren hier nicht sog. Nesthocker, sondern Nestflüchter, die bald nach dem Schlüpfen das elterliche Nest verlassen und herumlaufen, eben darum jedoch immer mal wieder vom Muttertier eingesammelt werden müssen. Luther hat ὄρνις darum auch zu Recht mit ‚Henne‘ übersetzt“. 618  So eine Reihe von Kommentatoren. Vgl. Dtn  32,11 (Adler-Gleichnis); Rut  2 ,12; Ps  17,8; 36,8;

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steht für die Vorstellung der „Sammlung“, das von den Flügeln Gottes dagegen für den Schutz, den dieser den Frommen gewährt. Von einem Adler, der Gott angemessen wäre, ist nicht die Rede. Die Bildwahl Jesu ist denkbar unspektakulär619. Sie passt zu seinen sonstigen metaphorischen Vorlieben. Mit dem Urteilsspruch V.35a greift Jesus den Tempel an: Ihr habt das „Haus“ Gottes usurpiert und zu „eurem Haus“ gemacht620 . Im Hintergrund dürfte Jer  12,7 stehen: „Ich habe mein Haus verlassen, mein Erbe aufgegeben“621. Q  13,35a stimmt mit Jer  12,7 nicht nur in den beiden Stichworten „Haus“ (‫ )בית‬und „verlassen“ (‫)עזב‬ überein, auch das passivum divinum lässt sich als Umformung der Ich-Rede Jhwhs Jer  12,7 deuten. Ein Bezug auf die Septuaginta ist nicht gegeben622 , im Unterschied zu Q  13,35f, wo die Septuaginta zitiert wird – ein weiteres Indiz dafür, dass es sich bei 13,35c–f um einen redaktionellen Anhang handelt. Das Gerichtswort (ohne Anhang) passt zum Profil Jesu. Auch dessen Zeichenhandlung im Tempel steht in der Tradition des Jeremia623. Mk  13,2 betont den Zerstörungsaspekt des angesagten Tempeluntergangs, Q  13,34 benennt dessen Voraussetzung: Gott verlässt das Heiligtum. So sehr sich Jesus mit dieser Ansage – über seine Anspielung auf Jer  12,7 hinaus – in breiter biblischer und frühjüdischer Tradition bewegt624 , er wird sein Gerichtswort nicht allgemein mit dem Zustand der 91,4 („Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht“); Jes  31,5; 2Bar  41,4 u. ö. Die in diesen und weiteren Belegen implizierten Vorstellungen sind vielfältig: An die „Schwingen“ des Adlers kann gedacht sein, an die Kerubim im Jerusalemer Tempel, an die „Flügel der Sonne“; später wurde das Bild in jüdischen Texten auf die Schekinah übertragen; wenn Rowlands, Jesus 116–124, aus diesem Vergleichsmaterial für das Jesus-Wort ableiten möchte: „I suggest Matthew and Luke consciously built upon this tradition to portray Jesus as the person of Yhwh“ (127) (vgl. ebd. 132–143: „Jesus as Yhwh“), wird er der jesuanischen Metaphorik nicht gerecht. 619  Sie ist scheint wenig und kaum in religiösen Kontexten belegt zu sein, vereinzelt in WaR 25,5 (vgl. Str.-Bill. I 943), wo das Bildfeld, veranlasst durch den biblischen Prätext Hjob 38,36b („Wer gab Einsicht dem Hahn?“), auf Israel in der Wüste im Kontrast zu seiner Existenz im Land bezogen ist: „Said R. Levi, ‚In Arabia, they call a chicken a hen.‘ When a hen’s young are little, it collects them, puts them under its wings, warms them, and grubs for them. But when they are big, if one of them wants to get near her, she pecks at his head and says to him, ‚Go, grub in your own dunghill.‘ So when the Israelites were in the wilderness for forty years, the manna came down, the well spurted up […]. When they entered the Land of Israel, Moses said to them, ‚Each one of you must now take his spade and go out and plant trees“ (bei Neusner, Judaism 443 f.). Vgl. auch Eur, HercFur 71 f.: Megara, die Gattin des Herakles, über ihre Kinder, „die ich bewahre unter den Flügeln, wie eine Henne ihre Küken (οὓς ὑπὸ πτεροῖς / σῴζω νεοσσοὺς ὄρνις ὣς ὑφειμένους)“. 620  Konradt, Mt 367. 621 G. Wanke, Jer I 129: „Haus“ kann hier „nichts außer den Tempel meinen“, vgl. Jer  11,15. Nach Paesler, Tempelwort 253, „erinnert“ V.35a „an den Auszug der ‫ כבוד‬Gottes aus dem Heiligtum, wie er in Ez  11,22 f. als Folge des Götzendienstes der Stadt beschreiben wird“. 622  Die LXX übersetzt Jer  12,7a mit: Ἐγκαταλέλοιπα τὸν οἶκόν μου, den Nachsatz mit ἀφῆκα τὴν κληρονομίαν μου. Unzutreffend Fleddermann, Q 705: „‚See your house is left to you‘ (Q  13,35a) [,] adapts Jer  22,5 LXX“. 623  Vgl. oben III.  2.2.2. unter (3)! Auch Petersen, Mutmaßungen 308, verweist auf den jeremianischen Hintergrund des Q-Spruches (Jer  22,5) als Indiz seiner Nähe zur Tempelaktion Jesu; vgl. ebd. 305–309 („Das Jerusalemwort als Verbindungsstück zur Galiläa-Überlieferung“). 624  Ez  10,18 f.; 11,22 f.; 1Hen  89,56; 2Bar  8 ,2 („Der, der das Haus bewacht, hat es verlassen“); 41,4; 64,6; PsSal  17,1 („Zieh nicht von uns weg, Gott“); Jos, Bell  5,412; 6,299 („Wir gehen von hier

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Stadt begründet haben, sondern konkret mit der Ablehnung seiner Botschaft entsprechend seinen sonstigen Gerichtsworten. „Da Jerusalem die zu ihr gebrachte Kunde von der Gottesherrschaft offenbar verschmäht, wird Gott dieser Stadt auch ihr religiöses Hoheitszeichen nehmen; er selbst wird – wie in den Tagen Ezechiels  – den Tempel verlassen, so dass er verödet“625. – Wie soll Israel sich verstehen? Vom Tempelkult oder von Gottes anbrechender Königsherrschaft her? Vom Sühne und Vergebung gewährenden Opferkult oder von der bedingungslosen Heilszusage Gottes her, die Jesus Israel kundtut? Diese Alternative steht hinter den besprochenen Tempelworten. Feindesliebe (vgl. Mt  5,44 par. Lk  6 ,27) und Versöhnungswillen (vgl. Mt  18,21 f. par. Lk  17,3 f.), die für Jesus aus dem unbedingtem Heilswillen Gottes folgen, ordnet er in seinem Mahnwort Mt  5,23 f. der kultischen Versöhnung radikal vor, ohne den Jerusalemer Kult deswegen grundsätzlich in Frage zu stellen. Die beiden Gerichtsworte gegen den Tempel Mk  13,2 und Q  13,34–35a eröffnen eine neue Perspektive: Denen, die im Tempel eine Heilsgarantie zu besitzen meinen, sagt er sein Ende an: Gott wird aus dem Heiligtum ausziehen und es der Verödung preisgeben. Ob das im Sinne einer performativen Gerichtspredigt als allerletzter Versuch zu verstehen ist, die sadduzäischen Tempelwächter und alle, die im Heiligtum ihr Heil suchten, doch noch für Gottes Heilsangebot in seinem Wirken zu öffnen, ist nicht auszuschließen626 . Feststeht: Jesu letzten Auftritte in Jerusalem endeten tödlich für ihn. Mit seiner Ansage, der Tempel stünde vor seinem Aus, dachte Jesus nicht an eine kriegerische Zerstörung des Heiligtums durch die römischen Okkupatoren, sondern an „sein Verschwinden mit dieser vergehenden Welt“627. Die Ansicht, Jesus habe nicht nur den Untergang des bestehenden Tempels, sondern auch den Bau eines neuen Tempels angekündigt, ist nicht zu halten, weil das christologische Tempelwort als sekundäres „Metawort“ zu Mk 13,2 für den historischen Jesus ausfällt628 . Vor allem sah Jesus die von ihm erwartete endzeitliche Wallfahrt der Völker nicht gemäß biblischer und frühjüdischer Erwartung auf dem Zion enden, sondern in der Teilhabe am endzeitlichen Mahl629. Die Leitmetapher seiner Basileia-Botweg“). Wolter, Lk 498, verweist noch auf DiodS  17,41,7: Apollo verlässt das zum Untergang bestimmte Tyrus; Tac, Hist  5,13,1. 625  Paesler, Tempelwort 254. Das Gerichtswort Jesu ist „Konsequenz der Ablehnung seiner Verkündigung vonseiten ‚Jerusalems‘“; auch dies setzt einen längeren Aufenthalt Jesu in Jerusalem voraus, dazu anschließend III.  2.3.4. 626  Tiwald, Kommentar 148: „ein letzter dramatischer Appell“. Anders Rau, Jesus 33; vgl. ders., Perspektiven 94–97 u. ö. 627  Theißen/Merz, Jesus 381; Sanders, Figure 259; Petersen, Mutmaßungen 296–298. 628  Paesler, Tempelwort 258 f.: Das christologische Drei-Tage-Wort und Jesu Zeichenhandlung im Tempel sind nicht kongruent; diese demonstriert zeichenhaft „die Destruktion bzw. Verunmöglichung des Tempelkults“, nicht „seine Erneuerung“. – Schlosser, Parole 411 f.: die positive Hälfte des Logions ist Gemeindebildung; sein Argument: „l’absence de tout parallèle précis pour l’idée du Temple eschatologique dans la prédication de Jésus“. 629  Siehe oben S. 611 Anm. 485. – Die Frage, wie Jesus sich den Vollanbruch des Gottesreiches vorstellte – als Vollendung des Irdischen oder dessen Transzendierung –, ist schwer zu entschei-

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schaft war in Anknüpfung an prophetische Vorstellungen das (unkultische) Mahl, wie er es in seinem irdischen Wirken als Antizipation der Vollendung wohl regelmäßig praktizierte630 . 2.3.4 Warum zog Jesus nach Jerusalem? Wer die Frage so stellt631, rechnet im Anschluss an die synoptische Darstellung in der Regel mit nur einem Aufenthalt Jesu in Jerusalem nach Abschluss seiner Zeit in Galiläa. Wie lange sein dortiges Wirken gedauert hat, wissen wir nicht. Die Spanne der Vermutungen reicht von wenigen Monaten bis zu mehreren Jahren, maximal drei oder vier632 . Die Ablehnung, die Jesus nach einer ersten erfolgreichen Phase in Galiläa („galiläischer Frühling“ [Franz Mußner]) erfuhr, wird ihn zu seinem Auftritt in Jerusalem veranlasst haben, um dort den Erfolg zu suchen633. Trifft diese Sicht zu, dann liegt es nahe, von einem Jerusalem-Aufenthalt auszugehen. Unter Voraussetzung einer längeren Wirksamkeit Jesu sind indes mehrere Besuche der Stadt nicht auszuschließen634. Auch ein längerer Aufenthalt im mutmaßlichen Jahr den. Jesu Fokussierung auf die Metaphorik vom endzeitlichen Mahl deutet nach Schlosser, Vollendung 83 f.; ders., Parole 413 f., eher auf einen Verzicht konkreter Ausmalung hin; dagegen erklärt Sanders, Figure 172: „The kingdom of God is a transcendent realm now in heaven, but in the future it will come to earth. God will transform the world so that the basic structures of so­ ciety (physical, social and economic) are maintained but remoulded. All people will live as God wills, and there will be justice, peace and plenty“; ähnlich Bovon, Jours 39: „Jésus annonce l’in­ stauration, sur cette terre, du règne de Dieu“; zu erwägen ist auch, wie sich Jesus die Restituierung des Zwölf-Stämme-Volkes vorstellte: vgl. Q  22,28.30. 630  Die erwartete „Unmittelbarkeit Gottes“ in der Basileia (Schröter, Jesus 283) erübrigt einen Tempel; vgl. Offb  21,22: „und einen Tempel sah ich nicht“ in der himmlischen Stadt. Freilich kann auch der Seher von dieser nicht sprechen, „ohne an den Tempel zu denken, und so folgt der Grundriss des himmlischen Jerusalem dem des idealen Tempels: dem Quadrat, der Idealanlage seit Ezechiels Tempelplan“ (Lichtenberger, Mythos 101). 631  Bultmann, Verhältnis 453; vgl. Luz, Jesus; Kollmann, Jesus; Petersen, Mutmaßungen 309–314. – Seit der Alten Kirche treibt die Frage um: Strobel, Ursprung 100–109; zum 19. u. 20.  Jh. siehe Luz, Jesus 409–412. 632  Weil Jesu Todesjahr zumeist mit 30  n.Chr. angegeben wird, rechnen Theißen/Merz, Jesus 147–155, für sein galiläisches Wirken mit den Jahren zwischen 26 und 29, Becker, Jesus 28 f., nur mit einem Jahr, weil er „Ablehnung und Feindschaft, die Jesus zum Teil entgegenschlug und sich dann in seiner Kreuzigung entlud, mit in die Waagschale“ wirft: „Solche Gegensätze drängen in der Regel auf baldige Abklärung“. Ähnlich Schweitzer, Leidensgeheimnis 98: „Das ‚Leben Jesu‘ beschränkt sich auf die letzten Monate seines Daseins. Zur Zeit der Sommeraussaat trat er auf und starb am Kreuz zu Ostern des folgenden Jahres. Seine öffentliche Wirksamkeit zählt nach Wochen“. 633  Mußner, Krise 238–252; neuerdings wieder Rau, Jesus 159; Luz, Jesus 416 f.; Ebner, Jesus 190 („biographische Wende“ nach erstem Erfolg); U.B. Müller, Überzeugung 11 f. – Die Rede vom „galiläischen Frühling“ geht auf Theodor Keim (1815–1878) zurück: Rau, Perspektiven 49. 634  Vögtle, Todesankündigungen 78: „Ein nur einmaliges Auftreten Jesu in Jerusalem ist […] nicht ohne weiteres vorauszusetzen“. Die Darstellung des Mk könnte „ja einzig darin begründet sein, dass diese Jerusalemreise mit der Passionsüberlieferung verknüpft und verbunden war“. Kollmann, Jesus 38: „Es ist damit zu rechnen, dass Jesus auch schon vor seinem Todespassah regelmäßig die Pilgerfeste nutzte, um in Jerusalem als dem unumschränkten Zentrum der jüdischen Religion seine Botschaft und seinen Anspruch kundzutun“; Petersen, Mutmaßungen 286.308; Schröter, Jesus 269–271.

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seiner Hinrichtung in den Wochen vor dem Paschafest 30  n. Chr. ist möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich635. Über die Passionserzählung und Q  13,34.35a hinaus gibt es weitere jesuanische Überlieferungen mit Jerusalem-Kolorit, die in der Lebenswelt der Stadt ihren Haftpunkt besitzen. Aus dem Markusevangelium sind zu nennen: Jesu Disput mit den Sadduzäern (Mk  12,18– 27), die einzige Überlieferung, die mit dieser in Jerusalem beheimateten Gruppierung ausdrücklich verbunden ist, möglicherweise eine Urform des Gleichnisses von den Weinbergpächtern, die für Jerusalems Autoritäten stehen (Mk  12,1–11), sowie die Anekdote von der Witwe am Opferkasten des Tempels (Mk  12,41–44). Aus dem lkn. Sondergut ist erwähnenswert das Gleichnisse vom barmherzigen Samaritaner, der einem Leviten und Priester, die vom Tempeldienst kommen, polemisch gegenübergestellt wird (Lk  10,30–37), und das vom Pharisäer und Zöllner, die „hinaufgingen, um im Tempel zu beten“ (Lk  18,10–14). Diese Überlieferungen, in denen sich das Ambiente der Stadt spiegelt, müssen natürlich nicht in Jerusalem verortet werden, könnten indes ein Indiz dafür sein, dass Jesus am Ende seines Lebens keineswegs nur eine Woche dort gewirkt hat, wie Markus und Johannes es darstellen636 .

Die Antworten auf die Frage, warum Jesus im Anschluss an sein galiläisches Wirken die Stadt besuchte bzw. überhaupt nach Jerusalem strebte (und die Stadt möglicherweise mehr als nur einmal aufsuchte), überschneiden sich in der Forschung: (1) Wer die Intention Jesu in der „Sammlung“ Israels im Zeichen der anbrechenden Königsherrschaft Gottes sieht, für den kann der Grund des Zuges Jesu mit den Seinen nach Jerusalem nicht zweifelhaft sein: „Wenn er den Anspruch seiner Botschaft auf ganz Israel aufrechterhalten wollte, musste er diese auch in Jerusalem, dem religiösen Zentrum Israels, ausrichten“637. Das galt umso mehr, als er am Pascha­fest viele Pilger erreichen konnte638 . (2) Weiter geht die Antwort, sein letzter Jerusalemaufenthalt habe spezifisch eschatologische Gründe. Johannes Weiß und Albert Schweitzer zufolge habe Jesus in Galiläa mit dem kurz bevorstehenden Hereinbruch der Gottesherrschaft gerechnet, sei aber aufgrund von Misserfolgen seiner Verkündigung und im Wissen um die Notwendigkeit seines Leidens nach Jerusalem hinaufgezogen, „um dort durch seinen Tod die noch ausstehende Enddrangsal auf sich zu nehmen und die Basileia herbeizuzwingen“639. Sollte Jesus in Jerusalem „ganz bewusst die Entscheidung“ 635  Conzelmann, Art. Jesus Christus 647: „Nicht festzustellen ist […] die Dauer des Aufenthaltes Jesu in der Stadt. Nach Markus spielt sich alles in der einen Woche ab; das ist ein redaktionelles Schema“. 636  Vgl. oben Exkurs 5: Das Wochen- oder Tagesschema bei Markus und den anderen Evangelisten. Auch die PEG unterstützt die Annahme eines längeren Aufenthalts Jesu in Jerusalem, wenn sie die hohen Priester und Schriftgelehrten nicht zwei Tage vor Pascha (Mk  14,1), sondern in unbestimmter Zeitspanne vor dem Fest aktiv werden lässt (siehe oben in II.  13.2 den Abschnitt: Zeit und Ort). Es bleibt möglich, dass Jesu Auftritt im Tempel Wochen vor seiner Hinrichtung erfolgte. 637  Merklein, Jesus 148 (Kursive von mir); vgl. Bornkamm, Jesus 136. 638  Stuhlmacher, Theologie I 146: „Wahrscheinlich wollte er die zum Passa- und Mazzotfest aus aller Welt in Jerusalem zusammenströmenden Juden noch einmal mit seiner Botschaft konfrontieren“. 639  In der Zusammenfassung von Gräßer, Naherwartung 92; vgl. Rau, Perspektiven 186–234; Zager, Gottesherrschaft 24–27. – Schweitzer, Leidensgeheimnis 105: „In der Schrift geht ihm

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gesucht haben, dürfte es Erich Gräßer zufolge aber „eine Entscheidung in Wahrnehmung seines bisherigen Auftrages (gewesen sein), nicht in Abweichung davon“: Jesus zog nach Jerusalem, um auch dort „das Volk die Botschaft vom Reich Gottes hören zu lassen“640 . Wie sich die Dinge dort entwickeln würden, war trotz aller Gefahren, die Jesus auf sich zukommen sehen musste, letztlich offen641. Wenn Albert Schweitzer fragt: „Zog Jesus nach Jerusalem, um zu wirken oder zu sterben?“642 , kann die Antwort nur lauten: um zu wirken. (3) Martin Dibelius bringt das eschatologische Motiv zur Geltung, ohne Jesus seinen eigenen Tod als Mittel zur Herbeiführung der Basileia einkalkulieren zu lassen. „In Jerusalem stellt sich die neue Bewegung den Gewalten des Landes; in Jerusalem muss es zur Entscheidung der Sache kommen; in Jerusalem werden die Hoffnungen auf das Reich Gottes verwirklicht werden“643. Rudolf Bultmann sieht es ähnlich: „Mit einer Schar begeisterter Anhänger scheint er (sc. Jesus) in Jerusalem eingezogen zu sein; alle waren voll des Jubels und der Gewissheit: jetzt bricht die Gottesherrschaft an – ähnlich wie jene Schar, die der ägyptische Prophet nach Jerusalem führen wollte. Jenem kam der Prokurator Felix zuvor und zerstreute seine Schar durch eine entgegengesandte Truppenabteilung. Jesus zog in Jerusalem ein, er besetzte, wie es scheint, mit den Seinen den Tempel, um die heilige Stätte von allem Unrat zu reinigen für die kommende Gottesherrschaft.“ So könnte noch in Lk  22,15–18 „ein altes Wort hindurch(schimmern), in dem Jesus es als gewiss hinstellt, dass er die nächste (Pascha-?) Mahlzeit mit den Seinen in der Gottesherrschaft feiern wird. Jedenfalls ist seine Botschaft getragen von dieser Gewissheit: die Gottesherrschaft kommt, kommt jetzt!“644

Im Heidelberger Akademievortrag von 1959 formuliert Bultmann vorsichtiger, hält aber daran fest, dass Jesus in Jerusalem „schwerlich mit der Hinrichtung durch die Römer gerechnet“ habe, „eher mit dem jetzt erfolgenden Kommen der Gottesherrschaft“, um einschränkend hinzuzufügen: „Hier bleibt alles Vermutung“645. Die Annahme, „dass Jesus, nachdem er das Ende des Täufers erlebt hatte, mit seinem ebenso gewaltsamen Ende habe rechnen müssen“, hält er für „eine psychologische Konstruktion, die nicht gerade wahrscheinlich ist“646 . (sc. Jesus) das Geheimnis auf: Gott führt das Reich herauf ohne allgemeine Enddrangsal. Derjeni­ ge, den er zur Herrschaft in Herrlichkeit bestimmt hat, vollzieht sie an sich, indem er als ein Uebel­ thäter gerichtet und verurteilt wird. Dafür gehen die andern frei aus: er leistet die Sühne für sie […]. Dazu musste er hinaufziehen nach Jerusalem für die Zeit, da ganz Israel sich dort versammelte“. 640  Gräßer, Naherwartung 95. 641  Oberlinner, Todeserwartung 127–130: „Hat Jesus seinen Tod provoziert?“ 642  Schweitzer, Geschichte II 387. 643  Dibelius, Jesus 51; ähnlich Bornkamm, Jesus 136: Jesu Weg nach Jerusalem hatte den Sinn, „das Volk hier in der heiligen Stadt vor die Botschaft vom Reiche Gottes zu stellen und in letzter Stunde zur Entscheidung zu rufen […]“; Zager, Gottesherrschaft 313: „[A]n diesem Ort (sc. Jerusalem) sollte sich ja in Kürze der machtvolle Hereinbruch der Gottesherrschaft ereignen: die Verwirklichung des Gottesreichs, einhergehend mit der endgültigen Ausschaltung alles Bösen“ (Kursive von mir); vgl. auch Conzelmann, Art. Jesus Christus 647. 644  Bultmann, Jesus (1926) 24; ähnlich zuletzt Petersen, Mutmaßungen 311. 645  Bultmann, Verhältnis 453. 646  Ebd. 452.

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(4) Einen Rückschritt hinter Bultmann bedeutet die bis in die jüngere Zeit hinein vertretene Annahme, Jesus habe „sich von Beginn seiner Berufung zum öffentlichen Wirken an auf den in Jerusalem endenden Leidensweg“ eingestellt und sei „zum stellvertretenden Sühnetod für Israel und die Völker“ bereit gewesen647. Erkauft ist diese Maximalposition einerseits mit der auch von Joachim Jeremias648 vertretenen Annahme, die Leidens- und Auferstehungsankündigungen seien authentische Jesus-Worte, nicht der Niederschlag nachösterlicher Reflexion auf die Heilsnotwendigkeit des Sterbens- und Auferstehens Jesu (δεῖ) 649, andererseits mit einer Reihe von historisch kaum plausiblen Konsequenzen, die hier nicht weiter bedacht werden müssen650 . (5) Indes entwickelte sich die Diskussion über Bultmann hinaus: „[S]o berechtigte Gründe bestehen, die historische Echtheit der Leidens- und Auferstehungsweissagungen im einzelnen anzufechten“, so gibt es Günter Bornkamm zufolge doch „keinen Anlass zu bezweifeln“, dass Jesu Weg nach Jerusalem „in neue, schwere Kämpfe mit den geistlichen und weltlichen Machthabern hineinführten und Jesus mit der bestimmten Möglichkeit seines gewaltsamen Endes rechnen musste“651. Schon sein Wirken in Galiläa war ausweislich seiner auf Ablehnung reagierenden Gerichtsworte alles andere als konfliktfrei652. Das Geschick des Johannes vor Augen, den Herodes Antipas hatte umbringen lassen, wird er „um seine eigene Gefährdung gewusst haben“653, zumal sein Landesherr auch ihm nach dem Leben trachtete (Lk  13,31). Auf die Kunde davon reagiert er mit einem Wort (Lk  13,32), das authentisch sein wird654: Geht hin und sagt diesem Fuchs:   Siehe, ich treibe Dämonen aus   und vollbringe Heilungen heute und morgen   und am dritten Tag werde ich vollendet (τελειοῦμαι). 647  Stuhlmacher, Theologie I 146; ders., Jesus 47–64 (hierzu Zager, Urchristentum 165– 186). Ähnlich bereits A. Schweitzer (siehe oben), O. Cullmann, A. Feuillet, J. Coppens oder P.  Benoit. Die beiden letzten lassen Jesus „seit der Jordantaufe sich zur Realisierung der Sendung (des) Gottesknechtes berufen wissen und mit den drei thematischen Leidensansagen das stellvertretende Sühneleiden des deuterojesajanischen Gottesknechts als ihm von Gott bestimmte Aufgabe vorankünden“ (Vögtle, Todesankündigungen 65). 648 J. Jeremias, Theologie I 267 f.280 f. 649  Mk  8 ,31 (par. Mt  16,21; Lk  9,22); Mk  9,31 (par. Mt  17,22 f.; Lk  9,44); Mk  10,33 f. (par. Mt  20,18 f.; Lk  18,32–34); vgl. auch noch Mk  14,21; Lk  17,25. – Conzelmann, Art. Jesus Christus 630: „diese Worte sprechen nicht eine scharfsinnige Analyse der Lage aus, sondern eine göttliche Notwendigkeit des Leidens. D.h. sie enthalten bereits die Deutung der Passion von Ostern her“. 650 Dazu Vögtle, Todesankündigungen 67–80; ebd. 67: „ein ganzer Katarakt von Fragen“ bricht los! 651  Bornkamm, Jesus 136; ebenso Schrage, Verständnis 52. 652 U.B. Müller, Überzeugung 23. 653  Becker, Jesus 415. 654  Ebd. 416; Kollmann, Jesus 416; U.B. Müller, Entstehung 36 f. Folgende Gründe sprechen für Authentizität: (a) Nachstellungen des Herodes auch gegen Jesus sind nach dem Martyrium des Johannes plausibel; (b) die Voranstellung von Jesu Exorzistentätigkeit entspricht seinem Profil; (c) die Drei-Tages-Formel lässt sich nicht aus der Osterformel ableiten; (d) für eine nach-österliche Entstehung gibt es keinen plausiblen Grund.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Jesus bietet dem ihn bedrohenden Herodes mit erstaunlichem Selbstbewusstsein Paroli: Er, nicht der Landesfürst, bestimmt über sein Tun „heute und morgen“! Allein Gott entscheidet über Leben und Tod655. Das Wort ist weniger eine (verdeckte) Todesankündigung656 , als vielmehr eine von Gewissheit erfüllte Ansage der „Vollendung“: Sie bringt „den baldigen Triumph Jesu zum Ausdruck […], der sich in der in Kürze geschehenden Vollendung der Gottesherrschaft abzeichnet, und sei es durch den möglichen Tod hindurch“657.

(6) Weder konnte Jesus in Jerusalem von seiner Verhaftung überrascht gewesen sein noch hatte er sein Todesgeschick von Anfang an im Blick. Die Wahrheit liegt in der Mitte: Jesus musste aufgrund seiner galiläischen Erfahrungen in Jerusalem am Ende mit allem rechnen. Dass er seinen Tod bewusst gesucht hätte658 , ist nicht zu belegen und passt nicht zu seiner Rede von der „Vollendung“ „nach drei Tagen“ (Lk  13,32), mit der er seine Zukunft in Gottes Hand legt. Er war „nicht der Mann […], der seinen Tod bewusst herausfordernd betrieb“659. Wann seine Bereitschaft, notfalls auch zu sterben, sich zur Gewissheit seines bevorstehenden Todes wandelte, lässt sich nur vermuten. Auf den Durchbruch der Basileia hoffte er laut Mk  14,25 bis zuletzt (siehe unten 2.4.3). (7) Eine zugespitzte Antwort auf die Frage, warum Jesus am Ende seines Wirkens nach Jerusalem gezogen ist, bietet Gerhard Dautzenberg: „Einiges“ spreche dafür, die Tempeldemonstration „als von Jesus selber intendierten Höhepunkt seines Zuges von Galiläa nach Jerusalem und seines Wirkens in Jerusalem anzusehen“. Steht der Tempel „für die Ordnung und die Institutionen dieses Äons, welche dem nahen Gericht verfallen und einer neuen Ordnung Platz machen“, dann sei es Jesu Ziel in Jerusalem gewesen, das Ende dieser zentralen Kultinstitution mit dem Hereinbruch der nahen Gottesherrschaft kundzutun660 . Doch lässt sich Jesu Symbolhandlung im Tempel derart absolut setzen? Verschiebt diese Antwort den Fokus der Basileia-Botschaft Jesu, der auf der Ansage der anbrechenden Herrschaft Gottes im Hier und Jetzt seines Wirkens liegt, nicht hin zur Kundgabe des Untergangs dieses Äons? Jesus zog nach Jerusalem, um die Königsherrschaft Gottes zu prokla655  Über die Frist, nach deren Ablauf Gott eingreift, entscheidet er (das entspricht dem traditionellen Motiv der drei Tage als einer von Gott gesetzten, kurzen Zeit: vgl. Schrage, 1Kor IV 42: Neben Hos 6,2 „gibt es eine außerordentlich große Fülle weiterer Belege, in denen der Dreitageszeitraum im Alten Testament eine bedeutsame Rolle spielt“; Lehmann, Tag). – τελειοῦμαι ist passivum divinum! Gott obliegt die Vollendung. 656  Zu den verdeckten Todesankündigungen (zu den eindeutigen siehe oben) gehören neben dem Amen-Wort Mk  14,25, deren Authentizität weithin unbestritten ist (siehe unten 2.4.3 unter [2] [c]), Mk  10,38 f. (ein vaticinium ex eventu: Bultmann, Geschichte 23) und der Spruch Lk  12,50, der von Mk  10,39 abhängig sein dürfte (Wolter, Lk 469; Tiwald, Kommentar 138: redaktionell). U. B. Müller, Überzeugung 30–32, hält den „Doppelspruch“ Lk  12,49 f. für authentisch, was aber nur für dessen erste Hälfte 12,49 (= Q) haltbar ist; vgl. Vögtle, Todesankündigungen 80–88. 657  U. B. Müller, Entstehung 37; ebd.: Fasst hier Jesus „durch den Märtyrertod hindurch seine Vollendung ins Auge“? Vgl. auch Becker, Jesus 415 f. 658  Dahin tendiert auch Luz, Jesus 421: Jesus hat „seinen möglichen Tod bewusst in Kauf genommen oder ihn sogar gewollt“; dem folgt U.B. Müller, Überzeugung 25 f. 659  Becker, Auferstehung 217; vgl. auch Kessler, Bedeutung 233: Jesus „riskierte sein Leben. Aber er wollte kaum seinen Tod. Er wollte Israels Glauben“; Schröter, Jesus 293. 660  Dautzenberg, Eigenart 328 f.

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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mieren. Erst als er damit bei den Autoritäten auf Ablehnung stieß, sagte er Gottes Auszug aus dem Tempel an (Q  13,34.35a). Seine prophetische Symbolhandlung im Tempel begriff er angesichts der „Nähe der Gottesherrschaft“661 vielleicht als letzten Versuch, die Menschen aufzurütteln. Gewiss wollte er damit nicht das Ende herbeizwingen. Auch kam er nicht nach Jerusalem, um seinen Tod als heilskräftiges Opfer in die Waagschale zu werfen, wie das Markus mit der Darstellung seines Weges von Galiläa nach Jerusalem insinuiert (vgl. Mk  10,45), eine Sicht, die erst post resurrectionem möglich wurde. Das alles schließt nicht aus, dass er bei seinem Auftreten in Jerusalem um die Gefährdung seines Lebens sehr wohl wusste. 2.4 Die Ereignisse im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu Basis einer historischen Re-Konstruktion der Ereignisse im Zusammenhang der Verhaftung Jesu ist der Mittelteil der PEG (Nr.  2–5) 662 . Eröffnet wird dieser Teil von Angaben zur tödlichen Initiative der Gegner Jesu und zu Judas (Nr.  2), von denen die in Betanien spielende Salbungs-Geschichte gerahmt wird (A – B – A‘). Drei Szenen, die zeitlich (Abend – Nacht) und aktionsmäßig eng zusammenhängen, folgen: Letztes Mahl (Nr.  3), Getsemani (Nr.  4), Gefangennahme (N.  5). Das sie verbindende Thema ist der Jesus drohende Tod im Spiegel seiner Prophetien und seines Gebetringens in Getsemani. Neben Jesus sind noch seine Jünger auf der „Bühne“  – bis zu ihrer Flucht am Ende. Die Eröffnung des Mittelteils und dessen erste Hälfte tragen sich an unterschiedlichen Orten zu: vor und in der Stadt. Unbestimmt sind die städtischen Schauplätze: Weder die Zusammenkunft der hohen Priester und Schriftgelehrten noch das letztes Mahl ist lokalisiert. Anders die Begebenheiten außerhalb und vor der Stadt: Sie sind verbunden mit dem Haus von Simon dem Aussätzigen in Betanien bzw. einem „Grundstück, dessen Name Getsemani lautet“. Wie oben (in II.  4.4) dargestellt, handelt es sich bei der Geschichte von der Salbung Jesu um eine sekundäre Umbildung einer Begebenheit, die auch Lukas in 7,36–50 aufbewahrt hat und nach Galiläa gehört663. Für eine Rekonstruktion der letzten Tage Jesu fällt sie damit aus, freilich nicht ganz: Wie erklärt es sich, dass das Haus in Galiläa und das von Betanien einem Mann mit gleichem Namen gehört, Simon, nach Joh  12,1 f. aber den drei bekannten Geschwistern Marta, Maria und Lazarus? Auffällig ist auch, dass Lukas in der Exposition seiner Erzählung lediglich vom Haus eines Pharisäers weiß (Lk  7,36), seinen Namen Simon aber erst später in der zugewachsenen Jesus-Rede nennt: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen“ (V.40). Heinz Schürmann meint: „Der Name Simon, der erst 7,40 auftaucht, wird schon aus einer Tradition wie Mk  14,3 herangeweht sein, wenn nicht ein seltsamer Zufall sein Spiel 661  Gräßer, Naherwartung 97; ebd.: „Dass Jesus nach Jerusalem zog und hier auch das Letzte wagte, nämlich sein Leben, ist Ausdruck seines Bewusstseins von der Nähe der Gottesherrschaft: Jetzt ist wirklich letzte Stunde!“ Vielleicht ist Lk  19,11, wo die Menschen die Hoffnung äußern, mit dem Kommen Jesu nach Jerusalem würde das Reich Gottes erscheinen (vgl. auch Lk  24,21; Apg  1,6), ein Echo dieser Erwartung. 662  Siehe oben in II.  13.2 den Abschnitt: Die äußere und innere Form der Erzählung. 663  Theobald, Joh I 772; Bornkamm, Jesus 53: hier ist „der geschichtliche Jesus wiederzuerkennen“!

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

treiben soll“664. Diese Erklärung lässt sich präzisieren: Lukas, der die Betaniengeschichte (aus bekannter „Dublettenscheu“) zugunsten der von der Sünderin nach 22,2 übergeht, hat den Namen des Hausbesitzers von Betanien in seine Pharisäererzählung verpflanzt. Ursprünglich lief die Erzählung von der Sünderin ohne Namen um, was noch Joh  12,1–8 zu erkennen gibt, wo die Namen der drei Geschwister offenkundig nachgetragen sind. Anders verhält es sich beim Namen Simons des Aussätzigen, den Markus von der PEG her kennt. Wie ein Erinnerungsrelikt ragt er aus der transformierten Salbungserzählung heraus. Wenn die Autoren der PEG die Erzählung in das Ambiente von Betanien versetzten, wird ihnen das Dorf (neben Betfage, dem anderen Flecken am Ölberg (Nr.  1 [A]) als Aufenthaltsort Jesu während seiner letzten Jerusalemer Tage bekannt gewesen sein. Zudem bewahrte das Gedächtnis der ersten Jerusalemer Gemeinde auch die Erinnerung an das „Haus Simons des Aussätzigen“ in Betanien auf. Gleiches gilt vom „Grundstück, dessen Namen Getsemani lautet“. Es sind Erinnerungsorte, an denen die neu entstandenen Überlieferungen haften.

Der historischen Re-Konstruktion der Ereignisse im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu stellen sich einige Frage: Was bewog die hohen Priester, gegen Jesus einzuschreiten? Schon die Komposition der PEG lässt es als wahrscheinlich erscheinen, dass seine Aktion im Tempel mindestens den Anstoß dazu gab. Gibt es weitere Gründe? Welche Rolle spielte Judas? Was gibt die PEG vom letzten Mahl Jesu mit den Seinen zu erkennen? Was geschah in Getsemani? 2.4.1 Gründe der Verhaftung Jesu Ausgangspunkt der Überlegungen ist die erste Episode der Eröffnungsszene: Die hohen Priester und Schriftgelehrten „suchen“ nach Wegen, Jesus zu beseitigen (Nr.  2: A). Formgebend für die Episode ist der Psalter: Die Feinde des Gerechten stellen ihm nach und sinnen auf seinen Tod. Die eingeblendete Rede („nicht am Fest …“) passt zum Stil665. Von einer Sitzung verlautet nichts. Erst nach johanneischer Tradition berät Jerusalems höchstes Gremium den Fall (Joh  11,47–53). Historisch ist lediglich: Diejenigen, welche in Angelegenheiten des Tempels das Sagen hatten, waren nach Jesu Aktion im Heiligtum auf seine Beseitigung aus. Das konnten nur hohe Priester einschließlich des amtierenden Hohepriesters gewesen sein666 . Die Rahmung der Episode mittels Zeitangabe und direkter Rede („nicht am Fest …“) geben Aufschluss über das mutmaßliche Kalkül der hohen Priester: Das Fest stand vor der Tür. Bei dem zu erwartenden Pilgerandrang sollte ein „Aufruhr“ (θόρυβος) tunlichst vermieden werden und der Fall vorher erledigt sein. Weil auch Josephus von der prekären Sicherheitslage in Jerusalem an den großen Wallfahrts664 

Schürmann, Lk I 441. Siehe oben II.  4.2. 666  Wenn die PEG neben ihnen noch die Schriftgelehrten nennt, dürfte das ihrer Absicht geschuldet sein, im Anschluss von einer Art Religionsprozess zu erzählen. Damit hat sich die Hypothese von Brown, Death I 362 f., der auf der Basis von Joh  11,47–53 die mkn. Chronologie zu retten versucht, erledigt: Die Sitzung des Synedrions, auf der das Gremium den Tod Jesu offiziell beschloss, fand vor dem Paschafest statt; Mk hat sie in die Paschanacht verlegt, obwohl dort (nach Joh) nur eine Befragung des Angeklagten stattfand. „John may well be more accurate in portraying these as two separate actions, with the Sanhedrin session a good number of days before Jesus was arrested“. 665 

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festen berichtet667, werden die Angaben der PEG zuverlässig sein. Tatsächlich wurde Jesus vor dem Fest hingerichtet. Gründe für das Vorhaben der hohen Priester nennt die PEG nicht. Da sie vorweg von der Tempelaktion Jesu erzählt, war es aus ihrer Sicht diese Aktion, welche die Reaktion der hohen Priester hervorrief. Gibt es weitere Gründe?668 Wo die Historizität der Tempelaktion Jesu in Frage gestellt oder seine Prophetie gegen den Tempel relativiert wird, kommen gewöhnlich „Gesetzesbruchhypothesen“669 ins Spiel: Ihnen zufolge sei Jesu Verhaftung die unausweichliche Folge seiner zahlreichen Konflikte gewesen, die er in Galiläa mit den Pharisäern und Gesetzesfrommen durch gezielte Übertretungen der Sabbat- und Reinheitshalacha angezettelt haben soll. „Wenn er […] die Tora eigenmächtig auslegte und dabei konkret beim Sabbatgebot und bei den Reinheitsvorschriften gegen die Tora verstieß, dann praktizierte er recht eigenwillig die Kunst, sich alle frühjüdischen Gruppen zu Gegnern zu machen. […] Dabei reichte die Respektlosigkeit gegenüber der Tora und die konkreten und notorischen Übertretungen einzelner ihrer Forderungen aus, um – wenn man denn wollte – Jesus demselben Schicksal auszuliefern wie Johannes den Täufer“670 . Die vielfach anzutreffende Behauptung eines Frontalangriffs Jesu auf die Tora671 führt aber in die Irre 672 . Im Hintergrund steht das Modell Evangelium und Gesetz, das sich anbot, um zwischen Paulus und Jesus Kontinuität herzustellen673.

Wer sich in der Frage nach den Gründen der Verhaftung Jesu (und des sich anschließenden Prozesses) auf die PEG konzentriert, wird feststellen, dass diese einen unmittelbaren Zusammenhang des Vorgehens der hohen Priester mit Jesu Wirken in Galiläa nicht zu erkennen gibt. Von einer Erzählung wie der PEG, deren Absicht darin besteht, das scandalum crucis schrifttheologisch zu bearbeiten, ist allerdings auch keine Auskunft über Konflikte zu erwarten, die Jesus in Galiläa austrug und die sich nun möglicherweise in Jerusalem wiederholten674. Die vielen Zeugnisaussa667 

Siehe Anm.  51 oben auf S. 538. Dazu u. a. Becker, Jesus 400–413; F. Hahn, Theologie I 119 f.; Ebner, Jesus 178–190; Bock, Jesus 172–208. 669  Dautzenberg, Eigenart 315–326; zu der von ihm ebd. 312–315 diskutierten „Zeloten-Hypothese“ vgl. oben III.  2.3.1 (1) und (2). 670  Becker, Jesus 411; ebd.: „Gesetzesübertretung“ dürfte auch bei Stephanus und dem Herrenbruder Jakobus die „Todesursache“ gewesen sein; dagegen Dautzenberg, Eigenart 319 f. 671  F. Hahn, Überlegungen 42; ders., Theologie I 119: „Eine wichtige Rolle spielte sicher auch Jesu Stellungnahme zur Tora“; Roloff, Neues Testament 184 f.: „Jesus starb nach der Überzeugung seiner jüdischen Gegner, weil er sich durch sein ganzes Verhalten gegen den von ihnen vertretenen Willen Gottes im Gesetz aufgelehnt hätte“. 672  Sanders, Figure 205–237; vgl. auch Légasse, Procès 64–67. 673  Käsemann, Sackgassen 56: „Der Hass der jüdischen Frommen [der ihn ans Kreuz brachte] führt … auf Jesu Verhältnis zum Gesetz, sein Verständnis der Gnade und die daraus resultierende Gemeinschaft mit den Sündern zurück, so dass Wirken und Geschick historisch kaum unverbunden gelassen werden können“; Moltmann, Gott 120: „Die Geschichte Jesu, die zu seiner Kreuzigung führte“ war „eine theologische Geschichte und durch den Streit zwischen […] dem Gott, den Jesus als seinen Vater verkündigte, und dem Gott des Gesetzes, wie ihn die Gesetzeshüter verstanden […], beherrscht“; ebd. 127: „Der nachösterliche theologische Prozess um Jesus dreht sich deshalb um die Frage der Gerechtigkeit: Aut Christus – aut traditio legis? und wird im Prozess zwischen Evangelium und Gesetz […] ausgefochten“. 674  Die galiläische Vorgeschichte blitzt nur in der Identifikation des Petrus als Galiläer („du 668 

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gen im Verfahren gegen Jesus lässt sie im Unbestimmten (Nr.  6 [B. I]). Dafür rückt sie das christologische Bekenntnis, dass Jesus Messias und Gottessohn sei, ins Zentrum (Nr.  6 [B. II]). Zu Konflikten Jesu mit seinen Gegnern um die Tora schweigt sie675. Die Pharisäer, Jesu Gegner in Galiläa, spielen in der Passionserzählung bis in deren jüngste Überlieferungsstadien hinein nahezu keine Rolle. Dabei wurden sie, wie der Auftritt des Gamaliel zeigt (Apg  5,33–40), durchaus zum Rat in Jerusalem hinzugezogen. Die prophetische Symbolhandlung Jesu im Tempel konnte als Angriff auf die Tora verstanden werden, insbesondere auf deren Bestimmungen zum Opferkult. Doch nicht auf diese Vorschriften zielte Jesus ab, sondern auf die Überzeugung derer, die meinten, im Opferkult des Tempels eine Heilsgarantie für Israel zu besitzen, weshalb sie Jesu Proklamation der Basileia eine Abfuhr erteilten. Letztlich geht es im Konflikt Jesu mit der Jerusalemer Obrigkeit um die alte Konstellation Prophet gegen Priester. Die Bruchlinien zeigen sich schon beim Täufer Johannes und den Essenern. Während beide das Kulturland verließen, der Täufer am Jordan die Umkehrwilligen sozusagen zur Stunde null eines erneuten Einzugs Israels in das Gelobte Land zurückführen wollte und die Qumran-Essener in Absonderung von dem aus ihrer Sicht illegitimen Jerusalemer Kult am Wüstenrand ein Leben gemäß der Tora anstrebten, griff Jesus das Heiligtum in Jerusalem unmittelbar an. Damit machte er dem sadduzäischen Priestertum nicht nur seine Existenzgrundlage strittig, sondern forderte es durch sein Vorhaben, Jerusalems „Kinder“ im Zeichen des mit ihm anbrechenden Gottesreichs zu „sammeln“ (Q  13,34–35a), unmittelbar heraus. Die Vollmacht, die er im Reden und Tun beanspruchte676 , musste die Tempelwächter herausfordern. An die im Frühjudentum belegte Erwartung, dass der Messias das Heiligtum neu erbauen und den Zion für die Anbetung Gottes heiligen werde677, knüpfte Jesus nicht an678 . Die von ihm beanspruchte Vollmacht, Gottes Königsherrschaft wirksam zu proklamieren, definiert sich nicht von einer Zion- oder Jerusalem-Messianologie, sondern von seiner Berufung zum eschatologischen Propheten Gottes her. In der ihm geschenkten Gewissheit vom Ende der Satansherrschaft und gewährter Gottunmittelbarkeit („Abba“) führte ihn seine Berufung zur Trennung vom Gerichtspropheten Johannes und machte ihn zum Exorzisten und Heiland der Bedrängten. Die hohen Priester aber maßen Jesus an seiner Einstellung zum Jerusalemer Heiligtum und lehnten ihn als Falschpropheten ab. bist auch ein Galiläer“) auf (Nr.  6 [C.  III]), die Gottesreichbotschaft Jesu ist der Hintergrund von Mk  14,25. 675  Brown, Death I 353: „[T]he Gospels do not suggest that the legal matters which constituted the subject of dispute between Jesus and the Pharisees were specifically alluded to in the decision that found him guilty“. Vgl. Theißen/Merz, Jesus 406 f. 676 F. Hahn, Theologie I 119: „Jesus hat nicht nur prophetische Funktion wahrgenommen und die Gottesherrschaft angekündigt, sondern hat sich als Bringer der Gottesherrschaft verstanden. Er hat in diesem Sinn einen Vollmachtsanspruch erhoben, der sich in die traditionellen Vorstellungen nicht einordnen ließ“. 677  Betz, Prozess 68–70; Stuhlmacher, Stellung 144 f.; Bock, Jesus 195–199. 678  Vgl. oben II.  3.6.

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2.4.2 Die Rolle des Judas Wenn alles Legendäre beiseite bleibt – schon die Evangelisten benutzen Judas als Projektionsfläche für alle möglichen Feindbilder679 –, lässt sich nur wenig über diesen Anhänger Jesu sagen. Und was sich sagen lässt, ist strittig: sein Name, seine Zugehörigkeit zum Kreis der „Zwölf“, seine Abwendung von Jesus in Jerusalem und seine Verwicklung in dessen Gefangennahme. Über seine Hoffnungen und Enttäuschungen können wir nur spekulieren. Die PEG äußert sich vor allem in Nr.  2 (A‘) und Nr.  5 zu ihm. (1) Zweimal nennt die PEG ihn mit Namen, in der Notiz von seinem Gang zu den hohen Priestern (Nr.  2 [A‘]) mit Beinamen: „Judas Iskariot“680 , in der Szene der Gefangennahme (Nr.  5) nur mit „Judas“. In der Mahlszene bleibt er namenlos. „Wenn man seinem Namen ‚Judas‘ überhaupt eine Information entnehmen will, dann höchstens die, dass er aus einer traditionsbewussten Familie kam, die ihrem Sohn den beliebten und verbreiteten Patriarchennamen gab“681. Von den strittigen Deutungen des Beinamens „Iskariot“ scheint diejenige als Herkunftsbezeichnung die unproblematischste zu sein: „Isch-Kerioth“ = „Mann aus Kerioth“682 . Jos  15,25 nennt einen Ort mit Namen Kerioth in Juda683. Ob es diesen Ort zur Zeit Jesu noch gab, lässt sich mangels Zeugnisse nicht sagen684. Judas könnte seinen Beinamen im Kreis Jesu erhalten haben, um ihn von anderen Trägern des beliebten Namens zu unterscheiden, von denen ein weiterer bekannt ist: „Judas, Sohn des Jakobus“. Ihn führt Lukas in seiner Zwölferliste an Stelle des Thaddäus (Mk  3,18) unmittelbar vor Judas Iskariot auf (Lk  6 ,16) und erwähnt ihn auch am Ende der Liste Apg  1,13. Mit ihm identisch ist wohl „Judas, nicht der Iskariote (Ἰσκαριώτης)“ (Joh  14,22), der nach Johannes gleichfalls beim letzten Mahl dabei war685. 679  Klauck, Judas 33–109; später gerät Judas in den Sog schlimmer antijüdischer Polemik (Luz, Mt IV 251 f. [„Judas und die Juden“]), bis er schließlich bei Dante an der Seite von Brutus und Cassius als Prototyp des „Verräters“ im Inferno landet. – Neben Klauck vgl. Brown, Death II 1394–1418; Luz, Mt IV 245–263; Vogler, Judas; Meiser, Judas; Lona, Judas; auch Kirner, Strafgewalt 253–255. 680  So die wohl älteste Form, die wegen ihrer semitischen Prägung den anderen belegten Formen (Iskariotes; Skariot Mk 3,19 D) vorzuziehen ist: Klauck, Judas 40 f.; vgl. Mk  3,19; 14,10. 681  Klauck, Judas 137; die Namenswahl könnte angesichts dessen, dass ca. 40  % der jüdischen Grabinschriften in Israel griechische Namen enthalten (Meiser, Judas 27; siehe Andreas und Philippus im Zwölferkreis Jesu), zusammen mit dem Namen von Judas Vater, Simon (Joh  6 ,71; vgl. Simeon in Gen  29,33 u. ö.), auf eine traditionsbewusste jüdische Familie hindeuten; Gleiches gilt für die Familie Jesu und seiner Brüder: Jakobus, Judas, Joses, Simon (Mk  6 ,3). 682  Klauck, Judas 41–43; Luz, Mt IV 247; Meiser, Judas 30–34. Alternative Deutungen: (1) Hinweis auf die Zugehörigkeit des Judas zur antirömischen Widerstandsbewegung der „Sikarier“; (2) Hinweis auf seine Tat (von aramäisch sakar = ausliefern) oder seinen Charakter (aramäisch schaqar = lügen); Judas, „Mann der Lüge“. 683  Jer  48,24 nennt einen Ort gleichen Namens in Moab. 684  Klausner, Jesus 489 f.: „Er (sc. Judas) war offenbar der einzige unter den Aposteln, der aus Judäa stammte, nämlich aus Krijoth, nördlich von Hebron (dem heutigen ‚Karjeten‘ oder ‚Kratija‘, östlich von Gaza)“. 685  Schnackenburg, Joh III 92. Die altsyr. Überlieferung zur Stelle setzt diesen Judas mit Thomas (= aram. Zwilling) gleich (ebenso das EvThom und andere syrische Quellen; Schna-

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Die Herkunft des Judas Iskariot aus Judäa, nicht Galiläa, wo Jesus seine ersten Jünger und Jüngerinnen fand, wirft Fragen auf: Wie kam es, dass er Anhänger eines galiläischen Wanderpredigers wurde? Hatte er im Kreis der Galiläer bereits wegen seiner Herkunft eine Außenseiterrolle? Wenn er aus einer traditionsbewussten judäischen Familie kam, war ihm die Bedeutung seines Namenspatrons klar? Wusste er um die messianischen Traditionen, die sich um den sog. Jakobssegen über Juda Gen 49,10–12 rankten: „Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis Schilo kommt, dem der Gehorsam der Völker gebührt […]“686? Derartige Fragen, die immer wieder aufgeworfen werden, sind hilfreich, um sich Judas anzunähern, auch wenn sie sich letztendlich nicht beantworten lassen. (2) Judas war ein gläubiger Jude, sonst wäre er dem Galiläer, der den endzeitlichen Anbruch der Königsherrschaft Gottes proklamierte, nicht nachgefolgt. Wie die anderen Jünger wird auch er auf Gottes baldiges Kommen gehofft und in Jesus den vollmächtigen Gottesboten erkannt haben. Jesus berief ihn in den Kreis der Zwölf, den er in einer prophetischen Symbolhandlung „schuf“ (Mk  3,16), womit er ihm besondere Wertschätzung entgegenbrachte. Gab es einen Grund dafür? Möglicherweise nahm Jesus ihn als „einzige(n) Judäer“687 zu den „Zwölf“ hinzu, um seinem Anspruch auf ganz Israel Nachdruck zu verleihen. Dann galt Judas unter den Jüngern seit Anfang als „der aus Kerioth“688 . Wenn er in der PEG bei seinem ersten Auftritt nicht nur mit seinem Beinamen „Iskariot“ eingeführt wird, sondern auch als „der eine (ὁ εἷς τῶν δώδεκα) der Zwölf“, dann schwingt tiefes Unverständnis mit, wie es kommen konnte, dass einer der engsten Vertrauten Jesu sich von ihm nicht nur abgewandt, sondern ihn auch „ausgeliefert“ hat. Nichts belegt deutlicher die Historizität des auf Jesus selbst zurückgehenden Zwölferkreises689. Die überlieferten Listen des Kreises differieren zwar an verschiedenen Stellen, führen aber Judas, was verständlich ist, durchweg an letzter Stelle auf, dort mit der Angabe: „der ihn auch auslieferte (ὃς καὶ παρέδωκεν αὐτόν)“ (Mk  3,19; Mt  10,4: ὁ καὶ παραδοὺς αὐτόν) bzw. „der zum Verräter wurde (ὃς ἐγένετο προδότης)“ (Lk  6 ,16). (3) Die Tat des Judas, die ihn stigmatisiert, bezeichnet die PEG stereotyp mit παραδίδωμι = ausliefern, übergeben690 . Das Verb begegnet noch im juristischen Sin-

ckenburg: kein „besseres historisches Wissen“). Anders Luz, Mt IV 247 Anm.  8: „Die frühchristliche Überlieferung unterscheidet die drei verschiedenen Apostelgestalten mit dem Namen ‚Judas‘ konsequent durch ihre Beinamen. Sie bei der historischen Rekonstruktion miteinander zu vermischen ist nicht ratsam“. Doch der „Judas“ von Joh  14,22 („Judas, aber nicht der Iskariote“) trägt keinen Beinamen. 686  Die Essener deuteten den Text messianisch; Meiser, Judas 29: „Diese Traditionen konnten jemandem bekannt sein, der seinen Sohn Judas nannte“. 687  Blinzler, Prozess 87. 688  Zur Bedeutung von Juda für Israel: 2Kön  17,7–23; 2Chr  13,1–18. 689  Luz, Mt IV 247: „Das Eingeständnis, dass einer aus dem engsten Jüngerkreis Jesus verraten habe, muss für das Urchristentum so peinlich gewesen sein, dass man kaum mit einer Gemeindebildung rechnen kann“. Der Zwölferkreis ist eine „fast sicher vorösterliche[…] Institution“. 690  Vgl. Mk  14,10.11.18.21.41.42. Das Verb gehört zu den Leitmotiven der PEG: vgl. oben S.  523 Anm.  12.

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ne bei der „Auslieferung“ Jesu durch die hohen Priester an Pilatus691 wie seiner „Auslieferung“ durch Pilatus ans Kreuz. Die Tat des Judas steht am Anfang einer Kette von „Übergabe“-Notizen, die mit dem Tod Jesu endet. Erst Lukas deutet einen inneren Zusammenhang zwischen „Übergabe“ und dem „Hin-Gegeben-Werden“ Jesu an, das die Tradition mit dem selben Verb bezeichnet692 , wenn er Jesu Gabewort: „Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird (διδόμενον)“ (Lk  22,19) samt entsprechendem Becherwort ergänzt: „Nur siehe: Die Hand dessen, der mich über-gibt (τοῦ παρα-διδόντος με), ist mit mir am Tisch“ (Lk  22,21). Was steht, historisch besehen, hinter der Rede von der „Übergabe“? Die PEG spricht von einer „günstigen Gelegenheit“ (εὐκαίρως), die Judas – nach seinem Gang zu den hohen Priestern – „gesucht“ habe, um Jesus „auszuliefern“. „Günstig“ im Sinne der Auftraggeber meint wohl eine Verhaftung Jesu ohne Aufsehen. Die Situation in Getsemani außerhalb der Stadt in der Dunkelheit der frühen Nacht bot eine derartige „Gelegenheit“. Judas, der aus eigener Erfahrung wusste, wo Jesus sich während seines Jerusalem­ aufenthalts mit seiner Gruppe aufhielt, wenn es am Abend dunkel wurde, könnte dies der Behörde mitgeteilt haben693. Ob die Initiative von ihm ausging, wie die PEG nahelegt, oder die „List“, von der sie zuvor spricht, auch darin bestand, dass die priesterlichen Kreise sich um Insider-Wissen in Jesu Sympathisantenkreis bemühten und dabei Judas bestachen694 , lässt sich nicht aufhellen. Auf den von der PEG inszenierten Gang des Judas zu den hohen Priestern müsste ein zweiter gefolgt sein, der unmittelbar zur Verhaftung Jesu in Getsemani führte. Ob der erste (mit Bestechungsversuch) überhaupt stattfand, ist mehr als fraglich. Die Rolle, die Judas spielte, bleibt undurchsichtig. (4) Im Unterschied zur Frage, was Judas verraten hat, ist die, warum er es tat, nur spekulativ zu beantworten. „Wir wissen […] nicht, welche Motive den Verräter zu seiner Tat getrieben hat“695. Ausschließen lassen sich die ihm schon in der neutesta691 

Mk  13,9; Mt  5,25; Apg  8 ,3: „dem Gericht ausliefern“; Josephus: siehe unten eingangs von 2.5. Παραδίδωμι = dahingeben: Röm  4,25; 8,32 von der Hingabe Jesu durch Gott; Gal  2,20; Eph  5,2.25 von der Selbsthingabe Jesu für die Seinen. 693  So bereits Dibelius, Judas 276 f.; vgl. auch Klauck, Judas 54; ebd. 138: „Offenbar hat er sich von Jesus abgewandt und auf irgendeine, sei es auch noch so unscheinbare Weise dazu beigetragen, dass die nächtliche Verhaftung Jesu am vertrauten Aufenthaltsort, ohne viel Aufsehen zu erregen, gelang“; Luz, Mt IV 247: „nicht unplausibel“; anders Schweitzer, Geschichte 449: „Der Verrat des Judas kann nicht darin bestanden haben, dass er den Gegnern den zur Verhaftung geeigneten Aufenthalt Jesu angab. Das konnten sie billiger haben, indem sie ihn durch Späher beobachten ließen“. Seine Vermutung, Judas habe der Behörde das „Messianitätsgeheimnis“ verraten (ebd.: „Man versteht den Verrat und die Verhandlung nur, wenn man sich klar ist, dass die Öffentlichkeit nichts vom Messianitätsgeheimnis ahnte“), ist aus der Luft gegriffen, ebenso die von ­Vogler, Judas 35, er habe den hohen Priestern über einzelne Äußerungen Jesu Bericht erstattet. 694  Pesch, Mk II 339: Dass Judas „bestochen“ wurde, sollte „nicht leichtfertig bezweifelt werden“, „zumal dieses Motiv im Bericht der vormk. Passionsgeschichte keine Schriftanspielung enthält“; anders Klauck, Judas 55: bei Mk wird das Motiv der Bestechung „noch gar nicht recht deutlich […]. Geiz und Habgier als treibende Beweggründe gehören zur legendarischen Einschwärzung des Judasbildes“. 695  Dibelius, Judas 276; Luz, Mt IV 248: „Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Wir wis692 

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

mentlichen Überlieferung angedichteten niederen Motive wie Geldgier (Mt  26,15), Kleptomanie (Joh  12,6) oder eine Verdorbenheit hinter seiner heuchlerischen Maske, von der Jesus angeblich von Anfang an gewusst habe (Joh  6 ,64). Auch fantastischen Konstruktionen jüngerer Zeit sind auszuschließen696 . Seit den Zeiten der Aufklärung ist die Annahme beliebt, Judas sei ein von Jesus enttäuschter „Vertreter eines jüdischen Messianismus“ gewesen697, vielleicht ein „Eiferer“ oder Zelot. Josef Klausner vermutet, es sei Judas auf einmal klar geworden, „dass er hier einen falschen Messias vor sich habe, der selbst irrte und andere irreleitete und verführte, einen falschen Propheten also, den die Thora zu töten befiehlt“698 . Hans Blumenberg sieht in Judas einen „Exponent(en) der messianischen Ungeduld“699. „Am wenigsten spekulativ“ erscheint Klauck „immer noch jene Erklärung, die seine (sc. des Judas) innere Wandlung auf eine tiefe Enttäuschung vorgefasster messianischer Erwartungen zurückführt. Diese Enttäuschung musste umso akuter werden, je mehr sich die Dinge in Jerusalem zuspitzten, je unverkennbarer alles auf die Katastrophe zusteuerte und je weniger Hoffnung auf ein machtvolles Anbrechen des messianischen Reiches bestand“700 . Auch diese Erklärung lädt zu Rückfragen ein: Träumten nicht auch andere aus dem Jüngerkreis von einem irdisch-messianischen Reich (Mk  10,35–37; Lk  24,21)? Wandten sich der PEG zufolge nicht alle nach Jesu Gefangennahme von ihm ab (Mk  14,50; vgl. auch Lk  24,13)701 – mit dem Unterschied, dass sie nach seinem Tod eine Bekehrung erlebten, Judas aber nicht? Was veranlasste ihn zu seinem Schritt, der Behörde Jesu Aufenthaltsort anzuzeigen? Vielleicht kommt hier die Herkunft des Judas aus einer traditionellen judäischen Familie ins Spiel. Wurde er in seinen Hoffnungen, die er in Jesus setzte, deswegen enttäuscht, weil er es als Judäer nicht akzeptieren konnte, dass dieser dem Tempel sein unwiderrufliches Ende angesagt hat? War der Tempel für ihn der Ort, an dem sich die messianische Herrlichkeit des Kommenden zeigen sollte? Sah er Jesus wegen seiner Unheilsprophetie als Falschpropheten an? Das würde erklären, warum er nach dieser Enttäuschung nicht resigniert in sein Heimatort zurückkehrte (wie später die beiden auch aus Judäa stammenden Emmaus-Jünger), sondern sich dazu hinreißen ließ, den Tempelwächtern Anzeige zu erstatten. Judas – Vertreter eines zionistischen Messianismus? sen es nicht. Alle Antworten auf diese zentrale Frage, die in älterer und neuerer Zeit gegeben worden sind, sind theologische, psychologische oder historische Konstruktionen“. 696  Klassen, Judas, hält Joh  13,27 („Was du tust, das tue bald“) für eine authentische Äußerung Jesu: Dieser habe Judas beauftragt, ein Treffen mit den Autoritäten zur Erneuerung des Gottesvolkes zu arrangieren, aber als die Behörde Jesus an Pilatus auslieferte, habe Judas sich aus Verzweiflung und nach wie vor großer Liebe zu Jesus das Leben genommen. Eine Übersicht verschiedener Erklärungsversuche bei Meiser, Judas 45 f. 697  So die Überschrift zur Umschau von Luz, Mt IV 255 f. 698  Klausner, Jesus 447; vgl. die Vorlesung seines Enkels Amos Oz: Jesus. 699  Blumenberg, Matthäuspassion 167. 700  Klauck, Judas 55. 701  Vogler, Judas 35 f.: Judas sei nur der erste gewesen, der Jesus die Treue aufgekündigt habe, was ihm in der späteren Überlieferung seinen notorisch schlechten Ruf eingebracht habe.

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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2.4.3 Das letzte Mahl Jesu Die Szene vom letzten Mahl Jesu ist mit ihrem Kontext perfekt verwoben: Die Ansage Jesu, einer aus seinem Kreis werde ihn „ausliefern“, weist auf seine Gefangennahme voraus, die seiner Verleugnung durch Petrus auf die Episoden im Hof des Hohepriesters. Die dritte und letzte Ansage, die allein Jesus betrifft (Mk  14,25)702 , knüpft an die Mahlsituation an und lenkt den Blick über die Handlungsfolge der PEG hinaus auf das endzeitliche Mahl des kommenden Gottesreichs. Als autorita­ tive Ansagen der Zukunft sind alle drei mit der jesuanischen Formel: „Amen, ich sage euch (bzw. dir)“ versehen. Folgende Fragen stellen sich: (1) Ist ein Mahl Jesu mit den Seinen vor seiner Gefangennahme historisch gesichert? (2) Inwieweit geht die Szene auf die Gestaltung der Autoren der PEG zurück? Enthält sie historische Bausteine? (3) Wie sah die Symbolhandlung aus, die Jesus 1Kor  11,23c–25; Mk  14,22–24 par. Mt  26,26–28; Lk  22,19 f. zufolge im Rahmen dieses Mahls vollzog, und wie lauteten die Worte, die er dazu sprach? (1) 1Kor  11,23c–25, die älteste Gestalt der eucharistischen Kultätiologie703, bestätigt die Annahme eines letzten Mahls Jesu mit seinen Jüngern und Jüngerinnen704 unmittelbar vor seiner Verhaftung: Der Herr Jesus nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde (παρεδίδετο), Brot und sagte Dank, brach (es) und sprach:   Dies ist mein Leib für euch.    Dies tut zu meinem Gedächtnis. Ebenso auch den Becher nach dem Mahl mit den Worten:   Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut.    Dies tut – sooft ihr (davon) trinkt – zu meinem Gedächtnis.

Beide, die PEG und die Kultätiologie, sprechen unter Verwendung desselben Verbs παραδίδωμι übereinstimmend von einer „Auslieferung“ Jesu (im Passiv). Die Kultätiologie bezieht sich mit diesem Verb „auf ein bestimmtes geschichtliches Geschehen“705 , bei dem sie, wie die PEG, den Verrat des Judas in jener Nacht im Blick hat. 702  Anders Mt  26,29: das redaktionell eingefügte „mit euch (μεθ’ ὑμῶν)“ (vgl. Mt  1,23; 28,20) schaut auf die vollendete Gemeinschaft Jesu mit den Seinen im Gottesreich. 703 Zum Terminus siehe oben in I.   1.4.3 den Abschnitt: Die Abendmahlsüberlieferung Mk  14,22–24 (1[c]). 704  Die PEG verbindet mit der Rede von den μαθηταί (= Schüler) ein männlich bestimmtes Konzept. Angesichts ihrer historisch plausiblen Angabe, dass Frauen die Kreuzigung Jesu „von ferne“ beobachteten, ist ihre Anwesenheit schon beim letzten Mahl Jesu wahrscheinlich (vgl. auch unten III.   2.4.4 unter [3]). Die Figur der δώδεκα (Mk   14,17) ist sekundär. Auch die Kultätiologie 1Kor  11,23c–25 (siehe oben) lässt Jesus den Anamnesis-Auftrag an ein auf die Gemeinde hin transparentes „ihr“ richten, also Frauen und Männer. 705  Lindemann, 1Kor 254; Schrage, 1Kor III 31: das Verb ist eine „Kurzformel für die gesamte Passion, jedenfalls weder nur eine historische Notiz noch erst recht auf den Verrat des Judas einzuschränken“; vgl. auch Hengel, Mahl 468 f.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Ob „Paulus das παρεδίδετο des Zitats als auf Gottes Handeln bezogen denkt, muss offenbleiben“706 . PEG und Kultätiologie stimmen sodann darin überein, dass sie das Mahl, bei dem Jesus seine Prophetien (PEG) bzw. seine Gabe- oder Deute-Worte über Brot und Becher spricht, nicht näher charakterisieren, auch nicht als Paschamahl707. Während die PEG das Mahl auf den „Abend“ (ὀψία) datiert, verlegt die Kultätiologie sie in die „Nacht, in der er ausgeliefert wurde“, wahrscheinlich deshalb, weil sie auf die nächtliche Paschafeier der nachösterlichen Gemeinde, in der diese des Todes und der Auferstehung Jesu gedenkt708 , bezogen ist. Wenn die Kultätiologie ihre Formung unabhängig von der PEG erhalten hat, böte sie ein eigenständiges Zeugnis für ein Mahl Jesu mit den Seinen unmittelbar vor seiner Verhaftung. Auch für den Fall, dass sie von einer Variante der PEG abhängig ist709, bestätigt sie den engen zeitlichen Zusammenhang. Jesus wird tatsächlich mit den Seinen am Vorabend seiner Hinrichtung Mahl gehalten haben. (2) Entsprechend der oben beobachteten Einbindung der Mahlszene in ihren Kontext ist ihr vorrangiges Interesse, einen Jesus vor Augen zu führen, der als Wissender der Zukunft entgegengeht, nicht aber von ihr überrascht wird. Judasverrat und Petrusverleugnung, deren Ansage die Substanz der Szene bilden und deren Eintritt unmittelbar anschließend konstatiert wird, sollen nicht gegen Jesu Hoheit und Souveränität ins Feld geführt werden können. Die erste und dritte Ansage, die rahmende Funktion haben, sind gezielt mit der Mahlszene verschränkt: Die Tat des Judas ist deshalb so bitter, weil er Tischgenosse ist, was Jesus gleich zwei Mal betont: „er isst mit mir“ bzw. „taucht (seine Hand) mit mir in die(selbe) Schüssel“. Wenn er am Ende vom „Gewächs des Weinstocks“ (Mk  14,25)710 spricht, von dem er nicht mehr trinken wird bis zur Vollendung im Gottesreich, wird sein Abschiedsmahl zum Gleichnis des eschatologischen Mahls. Die PEG will nicht von dem berichten, was an jenem Abend vorging (vielleicht wussten es ihre Autoren gar nicht), sondern verfolgt theologische Absichten. Die Verarbeitung historischer Bausteine ist damit nicht ausgeschlossen, muss im Einzelnen aber geprüft werden. (a) Weil der Verrat Jesu durch einen seiner engsten Mitarbeiter für alle, die sich nach Ostern auf ihn beriefen, im höchsten Maße anstößig war, ist damit zu rechnen, dass die prophetische Ansage des Verrats Mk  14,18.20, die Jesus als Wissenden ausgibt, eine nachösterliche Bildung in apologetischer Absicht ist711. 706 

Lindemann, 1Kor 254; vgl. Röm  4,25; 8,32; Gal  2,20. Schrage, 1Kor III 31 Anm.  466; Hengel, Mahl 472–485, hält den ungewöhnlichen Verweis des Paulus auf ein „nächtliches Mahl“ für ein eindeutiges Indiz eines Paschamahls (478.483). 708  Dazu siehe oben I.  1.6.2 (unter [2]). 709  Hengel, Mahl, vermutet, dass 1Kor  11,23–25 auf einer Passionserzählung fußt, setzt aber ganz auf mündliche Überlieferung und verneint schriftliche Vorformen der kanonischen Passions­ erzählungen (vgl. etwa 482 Anm.  130). 710 J. Jeremias, Abendmahlsworte 176: τὸ γένημα τῆς ἀμπέλου: als Bezeichnung für „Wein“ „im Judentum der Zeit Jesu feste liturgische Formel beim Bechersegen, und zwar sowohl vor wie nach Tisch“. 711  Bultmann, Geschichte 284, argumentiert anders, aber mit demselben Ergebnis: „Aus 707 

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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War Judas beim letzten Mahl dabei? Oder hatte er sich vom Jüngerkreis schon vorher abgesetzt und den Ort der Zusammenkunft Jesu in Getsemani den hohen Priestern kundgetan? Wir wissen es nicht. Die PEG sagt nicht ausdrücklich, dass Judas anwesend war, scheint es aber vorauszusetzen, wenn ihr zufolge Jesus erklärt: „Einer von euch wird mich ausliefern“, und den ratlosen Jüngern andeutet, es sei ein Tischgenosse. Für Markus, der die Zwölf am Abendmahl teilnehmen lässt, steht die Anwesenheit des „einen aus den Zwölf“ fest. Johannes lässt ihn durch Jesus, der ihm einen Bissen reicht, nicht nur identifizieren, sondern ihn sogar zu seinem Werk auffordern: „Was du tust, tu es bald!“ (Joh  13,27). Wenn aber die Verratsansage eine nachösterliche Bildung ist, lässt sich die Anwesenheit des Judas nicht mehr zwingend behaupten. Möglicherweise hat Judas, enttäuscht von Jesus, ihm schon vorher seine Gefolgschaft aufgekündigt.

(b) Wie die PEmk die Ankündigung Jesu „alle werdet ihr Ärgernis nehmen“ (Mk  14,27) gebildet hat712 , so die PEG die Ansage Jesu seiner Verleugnung durch Petrus. Beides dient dem Zweck, der später erzählten Flucht aller Jünger bzw. der Verleugnung des Petrus durch Jesu Vorauswissen das Überraschungsmoment zu nehmen713. Im Umkehrschluss heißt das: Wie die spätere Feststellung: „alle flohen“ (Mk  14,50b) auf zuverlässiger historischer Erinnerung fußt, so gilt Gleiches auch von der Verleugnung Jesu durch Petrus im Hof des Hohepriesters. Gegen die Annahme einer sekundären Bildung beider Ankündigungen im Rahmen der Entstehung der PEG (bzw. der PEmk) ist der Einwand zu erwarten: Petrus war bei Jesu letztem Mahl dabei; er musste doch wissen, was Jesus damals gesagt hat. Die Jerusalemer Gemeinde, in deren Schoß die PEG mutmaßlich entstand, hätte keine Jesus-Worte gegen seine Erinnerung erfinden können. Gewiss gehört die Mahlszene zu den Abschnitten der PEG, für die es – im Unterschied zu den Vorgängen im Innern des hohepriesterlichen Hauses714 – Augen- und Ohrenzeugen in der frühen Jerusalemer Gemeinde gegeben haben wird715. Doch gegen den Einwand, der bei allen diesen Abschnitten erhoben werden könnte, ist grundsätzlich an die in Teil I dieser Studie entwickelte Einsicht zu erinnern, dass die PEG von ihrer Gattung her kein historischer Bericht, sondern ein vom österlichen Glauben her geformter Erinnerungstext ist, der die furchtbaren Erfahrungen der letzten Tage Jesu, zu denen auch das peinliche Abtauchen der männlichen Anhänger Jesu nach dessen Gefangennahme und die Verleugnung des Petrus gehören, schrifttheologisch und christologisch bearbeitet. Wann genau und in welchen

ψ  40,10, der Joh  13,18 ausdrücklich zitiert wird, ist von der christlichen Legende das Motiv ge-

wonnen, dass Jesus von einem Tischgenossen verraten worden sei, und dies Motiv hat seine Gestaltung in einer Szene gewonnen, in der Jesus mit den Zwölfen zu Tisch liegt und das Furchtbare weissagt“. 712  Siehe oben II.  5.5. 713 Selbst Pesch, Mk  II 362, der ansonsten (abgesehen von Mk  16,1–8) stark „historisiert“, erklärt zu Mk  14,26–31: „Das Wechselgespräch, eine auf den Zusammenhang der Passionsgeschichte zugeschnittene, nicht selbständige Erzähleinheit, scheint ex eventu im Interesse der Deutung von Geschehenem formuliert zu sein, im Interesse der Bewältigung von Fakten durch die Vorstellung des Vorherwissens und Vorhersagens Jesu“. 714  Siehe oben S. 36–38 zum Kriterium der „Augenzeugenschaft“. 715  Das gilt auch für Getsemani, ebenso für den Einzug Jesu in Stadt und Tempel und für den Kreuzweg Jesu, bei dem Frauen aus dem Umfeld Jesu anwesend gewesen sein könnten, weniger für das Verfahren gegen Jesus vor Pilatus. Dieses war zwar den römischen Gepflogenheiten gemäß öffentlich, aber die (männlichen) Jünger waren inzwischen untergetaucht (siehe unten).

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Kreisen Jerusalems die PEG entstanden ist, lässt sich nicht sagen, vielleicht im Schoß der „Hellenisten“ – nicht im petrinischen Umfeld – und vielleicht erst in den 40er Jahren716 .

(c) Im Unterschied zur Verrats- und Verleugnungsansage dürfte Jesu Wort von seiner Teilhabe am zukünftigen Mahl im vollendeten Gottesreich (Mk  14,25) in seiner Substanz authentisch sein717. Dafür sprechen verschiedene Beobachtungen: Das Wort gibt eine aramäische Grundlage zu erkennen718 . Das Bild vom eschatologischen Festmahl ist spezifisch jesuanisch719. Mit seiner Todeserwartung und -gewissheit ist das Wort an „die einmalige Situation des ‚letzten‘ Mahles“ Jesu gebunden720 . Christologische Züge fehlen721. Es scheint „die ursprüngliche, von der christlichen Messiasdogmatik noch nicht geformte Parusieerwartung hervor[..]. Kein Wort sagt Jesus von seiner Parusie, auch nicht verhüllt wie Mk  8,38!“722 Jesus blickt auf das Mahl der Vollendung, das nächste nach seinem letzten mit den Jüngern723. Das Wort bezeugt eine Naherwartung, die „keinerlei Perspektiven auf 716 

Vgl. oben I.  1.7. Oberlinner, Todeserwartung 131 (mit Anm.  71), zufolge wird „dieses Logion in selten anzutreffender Einmütigkeit von den Exegeten als in der Situation des letzten Mahles verankertes authentisches Jesuswort angenommen“; A.Y. Collins, Mk 657, hält es für nicht möglich „to determine whether V.25 is a pre-Markan tradition or whether the evangelist composed it himself“. – Aus sprachlichen (siehe nächste Anm.) und sachlichen Gründen könnte καινόν (vgl. auch Mk  2,21) mkn. sein; es lässt die erwartete endgültige Offenbarung der Basileia als Anbruch neuer Schöpfung erscheinen. M. de Jonge, Mark 14:25, 129: „The eschatological nature of our logion is underscored by the use of the word καινός (cf. the references to the ‘new covenant,’ e. g. in Luke  22:20; 1Cor  11:25; 2Cor  3:6; Hebr  8:8; Paul’s use of καινή κτίσις in Gal  6:15; 2Cor  5:17 [with ‘everything old has passed away; see, everything has become new’] and especially the saying about the new wine that has to be put into fresh wineskins, in Mark  2:21–22)“. 718 J. Jeremias, Abendmahlsworte 174–177; lediglich „das prädikative καινόν wäre sowohl im Hebräischen wie im Aramäischen ungewöhnlich“; es wird auf mkn. Redaktion zurückgehen (siehe vorige Anm.). – Zur temporal begrenzten Negation (οὐ μή – ἕως) vgl. Mk  9,1; 13,30; Meier, Jew II 307, verweist auf Mt  5,26 par. Lk  12,59; Mt  23,39 par. Lk  13,35; Joh  13,38. 719  Das Bild steht für die Vollendung der βασιλεία τοῦ θεοῦ; vgl. Lk  13,28 f. par. Mt  8 ,11 f. (= Q); Lk  14,16–24 par. Mt  22,1–14 (= Q); auch Mk  2,19 (Hochzeit schließt Fasten aus); Lk  14,15. – Jes  25,6–8; 65,13; 1Hen  62,14; 2Hen  42,5 etc.; zu Qumran: Sanders, Figure 185 f. – Bergmann, Festmahl 119, hält es für „überraschend, dass die frühjüdischen Texte vom Mahl in der Kommenden Welt keine Hinweise auf das Trinken oder Getränke am gemeinsamen Tisch enthalten“. Vgl. allerdings Jes  65,13: „Darum – so spricht Jhwh, der Herr: Siehe, meine Knechte sollen essen, aber ihr werdet hungern. Siehe, meine Knechte sollen trinken, aber ihr werdet dürsten. Siehe, meine Knechte sollen sich freuen, aber ihr werdet beschämt dastehen“; auch das jesuanische Logion spricht vom Trinken, passend zur Situation, aus der es stammt. 720  Oberlinner, Todeserwartung 133; Pesch, Mk II 362: „Im Amen-Wort spricht die Offenheit der Todesprophetie für deren Überlieferungsqualität“ (siehe unten). A.Y. Collins, Mk 657: „an indirect prophecy by Jesus of his own death“. 721  Zum Kontrast vgl. die lkn. Redaktion von Q  2 2,28.30 in Lk  2 2,30a: „damit ihr esst und trinkt an meinem Tisch in meinem Reich“; der Gedanke vollendeter Gemeinschaft Jesu mit den Seinen, der in Mt  26,29 nachgetragen ist (μεθ’ ὑμῶν), fehlt in Mk  14,25. 722  Gräßer, Naherwartung 117 Anm.  308; vgl. auch M. de Jonge, Mark 14:25, 133 f. 723  Eine innnergeschichtliche Fortsetzung des Mahles ist hier ausgeschlossen. Bornkamm, Jesus 141, bemerkt richtig, dass das Wort „in die spätere liturgische Überlieferung des Herrenmahles, wie schon Paulus 1Kor 11,23–25 zeigt, nicht eingegangen ist“, womit „seine Echtheit erwiesen“ sein dürfte. 717 

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Zeiträume jenseits seines Todes öffnete – auch und gerade nicht in dem Augenblick, in dem er seinen Tod unmittelbar vor Augen hatte“724. Auch wenn Jesus in diesem Wort nur von sich spricht, er richtet es doch an seine anwesenden Jünger: „Amen, ich sage euch“. Das zeigt: Es spricht ihnen ein „Trostwort“725 zu, mit dem er sie angesichts ihrer Bedrohungen stärken möchte. Im Unterschied zur sekundären Ansage an Petrus, die um den genauen Zeitpunkt seiner Verleugnung weiß („heute [noch], ehe der Hahn zweimal kräht“), bleibt die in Mk  14,25 durchscheinende Todesgewissheit „offen“726: Jesus wird nach seiner Aktion im Tempel mit der Entschlossenheit seiner Gegner, ihn zu beseitigen, gerechnet haben727. Aber er wusste nicht, dass sie ihn schon kurz nach dem abendlichen Mahl verhaften würden. (3) 1Kor  11,23 zufolge besitzt die von Paulus überlieferte Kultätiologie ihren Ursprung bei Jesus728 . Gewiss gründet dieser normative Text gemeindlicher Herrenmahlpraxis auf nachösterlicher Reflexion. Dass er ohne Anhalt am historischen Jesus nach Ostern gleichsam aus dem Nichts geschaffen wurde, ist aber unwahrscheinlich. Eine von Jesus vollzogene Symbolhandlung beim letzten Mahl mit den Seinen muss am Anfang gestanden haben, anders ist die Entstehung dieser einzigartigen Überlieferung nicht zu erklären. Deutlich zeichnen sich die mutmaßlichen Gesten der Symbolhandlung ab: die Handlung mit dem Brechen des Brotes zu Beginn des Mahls durch Jesus samt Verteilen der Stücke an die Anwesenden und das Kreisen seines Bechers in der Runde am Ende des Mahls. Die Worte, die er dazu gesprochen hat, sind, wie die endlosen Debatten der Forschung belegen, alles andere als klar. Der Vorschlag, der im Folgenden unterbreitet wird, setzt die Priorität der Kultätiologie 1Kor  11,23c–25 voraus und rechnet damit, dass die soteriologische Bestimmung des mkn. Becherworts Mk  14,24c ὑπὲρ πολλῶν ursprünglich beim Brotwort stand und älter ist als die von Paulus bezeugte auf die Gemeinde applizierte Spendeformel „für euch“ ([τὸ] ὑπὲρ ὑμῶν)729. Die früheste Form des

724 

Gräßer, Naherwartung 117 f. Ebd. 116; ebenso Oberlinner, Todeserwartung 134. 726  Pesch, Mk  II 360: Jesus „spricht verhüllt (und zeitlich offen, da der Wein Getränk des Festmahls ist) von seinem Tod“. Mit Vögtle, Todesankündigungen 109, lässt sich nicht sagen, „dass Jesus auch nur bei seinem letzten Jerusalemaufenthalt oder wenigstens beim ‚letzten‘ Mahl mit seinen Jüngern fest überzeugt war, eine andere Möglichkeit als seine Hinrichtung werde nicht mehr in Betracht kommen“. 727  Oberlinner, Todeserwartung 133, möchte nicht „ausschließen, dass Jesus in der ganz dem Willen Gottes unterstellten Erwartung der Volloffenbarung der Gottesherrschaft das (vordergründige) Scheitern seiner Verkündigung als gottgesetzte Bestimmung mit in Betracht zog. Ebenfalls ließe sich hier in der Auseinandersetzung mit den religiös und politisch entscheidenden Instanzen die Erwartung seines gewaltsamen Todes als eine Möglichkeit dieses Wirkens Gottes ansetzen“. 728  Zum Folgenden siehe auch oben in I.  1.4.3 den Abschnitt: Die Abendmahlsüberlieferung Mk  14,22–24. 729  Theobald, Herrenmahl 260–267. 725 

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Brot- und Becherworts im Kontext der pln. bzw. Markus bekannt gewesenen Variante der Kultätiologie730 dürfte gelautet haben731: „Dies ist mein Leib – für (die) Vielen.“ (τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου ὑπὲρ πολλῶν) „Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut.“ (τοῦτο τὸ ποτήριον ἡ καινὴ διαθήκη ἐν τῷ ἐμῷ αἵματι)732

Diese Fassung der Worte Jesu, die älteste erreichbare auf der Basis der Kultätiologie733, ist dem nachösterlichen Standpunkt verhaftet. Den Schritt zum historischen Jesus methodisch gesichert zu gehen, hilft das Postulat einer für ihn typischen Zeichenhandlung mit innerer Kongruenz von Gestus und Wort. Beim Brotgestus und dem dazugehörigen Deute- oder Gabewort ist das eindeutig der Fall. Zugrunde liegt der konventionelle frühjüdische Mahleröffnungsgestus des Brotbrechens und Teilens durch den Hausvater. Wie selbstverständlich greift Jesus diesen Gestus auf, verleiht ihm aber durch sein Gabewort überraschend neuen Sinn: „Das ist mein Leib!“ lautet das Wort im Griechischen. Da σῶμα ein aramäisches Wort mit der Bedeutung Gestalt oder Person wiedergibt – (‫( גוף)א‬guf[a]) –, besagt das Gabewort ursprünglich: Das bin ich!734 Dem an sich unspektakulären Mahl­ eröffnungsgestus verleiht es zeichenhaften Sinn: nicht dem Brot an sich, sondern der Brothandlung Jesu insgesamt: Das von ihm gesegnete, gebrochene und zum Verzehr dargereichte Brot – „das bin ich!“ Angesichts des ihm drohenden Todes spricht Jesus seinem Leben damit letzten Sinn zu. Der Gestus des Brotbrechens allein legt den Gedanken an den Tod nicht nahe, wohl aber in Verbindung mit dem Austeilen und Darreichen der Brotstücke an die Seinen zum Verzehr – ein Gleichnis des ihn selbst verzehrenden Einsatzes für das Gottesreich, der den Seinen als Teilhabe am Leben zugutekommt. Gestus und Wort passen bruchlos zusammen und bilden zusammen eine ausdruckstarke Zeichenhandlung, die für „die Darbringung der eigenen Person für andere“735 steht. Sie Jesus abzusprechen, besteht kein Grund. Strittig ist die Präpositionalwendung ὑπὲρ πολλῶν: Handelt es sich bei ihr um einen integralen Bestandteil des jesuanischen Gabewortes oder wurde sie im Zuge 730  Das von Mk redaktionell in den „eschatologischen Ausblick“ Mk  14,25 eingefügte Stichwort καινόν (vgl. oben unter [2]) ist Indiz dafür, dass er eine Variante des vorpln. Becherworts („neuer [καινή] Bund“) gekannt hat. 731 Ebenso Merklein, Erwägungen 166 f. 732 So 1Kor   11,25; die lkn. Variante lautet: ἐν τῷ αἵματί μου τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον (Lk  22,20). 733 Zur postulierten Gestalt des Brotworts nennt J. Gnilka, Jesus 288 Anm.   48, zwar die „Schwierigkeit, dass die Wendung ὑπὲρ πολλῶν in keinem Text mit dem Brotwort verbunden ist“, lässt aber die Parallele Joh  6 ,51 außer Acht, eine joh. Transformation des alten Brotworts: ὁ ἄρτος … ἡ σάρξ μού ἐστιν ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσμου ζωῆς. 734 Dazu Dalman, Jesus 129–132; ebenso Haenchen, Weg 482; F. Hahn, Stand 559; Vögtle, Todesankündigungen 89; Stuhlmacher, Theologie I 135 f.; J. Gnilka, Jesus 288. 735 F. Hahn, Stand 559; vgl. ders., Theologie I 122.

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der nachösterlichen Formung der Kultätiologie hinzugefügt?736 Der literarische und motivgeschichtliche Befund weist eher in die zweite Richtung: (a) Der Kern des Gabewortes τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου, der ohne geprägte religiöse Sprache auskommt, enthält nach der gegebenen Deutung ein implizites „soteriologisches Element“737. Die Präpositionalwendung „für viele“ expliziert dieses Element und lenkt das Verständnis des Wortes zugleich in eine bestimmte Richtung. (b) Während der Kern des Gabewortes samt Darreichung des gebrochenen Brotes die durch sie bezeichnete Teilgabe des Lebens auf die anwesende Mahlgemeinschaft fokussiert, sieht die Präpositionalwendung Jesus sein Leben für Israel hingeben. πολλοί spielt auf Jes  53,11 f. an, den Schluss des vierten Gottesknechtslieds, die ‫ רבים‬des hebräischen Textes (LXX: πολλοί)738 , die für die „Gesamtheit Israels“739 stehen. Nicht schon das Stichwort πολλοί als solches, sondern seine Verbindung mit der Präposition ὑπέρ, die dem im Lied mehrfach variierten Stellvertretungsgedanken (53,4.5.6.10.11.12) entspricht, sichert die Anspielung auf den Prätext. Deshalb bildet das Lied Jes  52,13–53,12 insgesamt den Hintergrund der Präpositionalwendung, nicht nur sein Abschluss (53,11 f.) und Eingang (52,14), wo die „Vielen“ erwähnt werden (inclusio)740 . Mit ihrem Israel-Bezug bietet die Präpositionalwendung im Vergleich zum Basiswort einen bemerkenswerten semantischen Überschuss (s. unten). (c) Die LXX-Fassung des vierten Gottesknechtsliedes kennt die Präposition ὑπέρ als Ausdruck der Stellvertretung nicht, sie benutzt andere Ausdrücke741. Derartiges ὑπέρ + Angabe der Person(en) begegnet im NT breit gestreut in christologischen Kontexten, schon in alten Überlieferungsformeln wie der Sterbensformel „Christus starb für uns“ (Röm  5,8; 14,15; 1Thess  5,10)742 . Den geistesgeschichtlichen und sprachlichen Hintergrund bietet die helle736  Kümmel, Verheißung 66 f.; Gräßer, Naherwartung 94; Vögtle, Todesankündigungen 106–108; Becker, Jesus 420, u.a, sprechen sie Jesus ab, Merklein, Erwägungen 172 f., hält sie für authentisch. 737 F. Hahn, Theologie I 122: „Es geht nicht nur um die Notwendigkeit der Annahme eines gewaltsamen Todes, es geht auch nicht nur um die Bereitschaft zur Selbsthingabe, sondern diese Selbsthingabe ist im Zusammenhang des Auftrags Jesu eine Hingabe für andere“. 738  Jes  53,11f: „Wegen der Mühsal seines Lebens wird er Licht sehen, sich sättigen. // Durch seine Erkenntnis macht gerecht mein Knecht die Vielen, / und ihre Sünden – er schleppt sie. // Darum geb’ ich ihm Anteil unter den Vielen, / und mit Zahlreichen wird er Beute teilen, // dafür, dass er sein Leben dem Tod preisgegeben hat / und zu den Frevlern gerechnet wurde. // Er aber trug die Schuld der Vielen, / und für die Frevler trat er ein“ (Übersetzung: Hermisson, Deuterojesaja 316). 739  Janowski, Stellvertretung 11 f.; ebenso Hermisson, Deuterojesaja 407; ebd. 426 f. Anders J. Jeremias, Art. πολλοί 540; Patsch, Abendmahl 153; Vögtle, Todesankündigungen 95: πολλοί: Juden und Heiden. 740 Auch das parallele Lytron-Wort Mk   10,45 (λύτρον ἀντὶ πολλῶν) fußt auf Jes  52,13–53,12 (Hermisson, Deuterojesaja 444); 1Tim  2,6 übersetzt πολλοί passend mit πάντες: ὁ δοὺς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων. Die ὑπὲρ-Formel in Verbindung mit πάντες = „für alle“ neben 1Tim  2,6 noch in 2Kor  5,15; Hebr 2,9. 741  Jes  53,4LXX: „Dieser trägt unsere Sünden und leidet um unsertwillen (περὶ ἡμῶν)“; dreimal begegnet die Präposition διά in der Wendung „um unserer (bzw. ihrer) Sünden willen“, V.5 (zwei Mal), V.12 (in Entsprechung zu V.4): „und er selbst nahm die Sünden von vielen auf sich, und um ihrer Sünden willen wurde er dahingegeben (διὰ τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν παρεδόθη)“. Auch der hebräische Text bietet kein Pendant für ein ὑπέρ. 742  Corpus Paulinum: Röm 5,6–8; 8,27.31 f.34; 1Kor 1,13; 2Kor 5,14 f.21; Gal 2,20; 3,13; 1Thess 5,10; Eph 5,2.25; 1Tim  2,6; Tit  2,14; Hebr  2,9; 5,1; 6,20; 7,25; 9,7.24. Corpus Catholicum: 1Petr  2,21; 3,18; Corpus Iohanneum: Joh  10,11.15; 11,50–52; 13,37 f.; 15,13; 17,19; 18,14; 1Joh  3,16. – ὑπὲρ in

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nistische Freundschaftsethik mit ihrem auch in frühjüdischen Schriften wie 4Makk  6 ,28 f.743 rezipierten Topos vom „Sterben für andere“: den Freund, die Familie, die Polis und das eigene Volk 744. In diesem Horizont hat der Zusatz ὑπὲρ πολλῶν zum Brotwort den Stellvertretungsgedanken des vierten Gottesknechtsliedes rezipiert745. (d) Inhaltlich besagt die Präpositionalwendung für die Bestimmung der Intention Jesu: Zwar erfährt Jesus vonseiten der Jerusalemer Autoritäten Ablehnung. Aber sein Einsatz für das Gottesreich wird seiner Überzeugung nach, gerade wenn es zum Letzten kommt, den „Vielen“, also Israel, als Frucht seines stellvertretenden Todes zum Heil gereichen. „[S]elbst die Verweigerung Israels (kann) den eschatologischen Heilsentschluss Gottes nicht rückgängig machen und […] der Tod seines Repräsentanten die Wirksamkeit des göttlichen Erwählungshandelns nicht in Frage stellen“746 .

Das Brotwort gibt zwischen seinem Kern und der ὑπὲρ πολλῶν-Formel eine Bruchlinie zu erkennen: zwischen impliziter und expliziter Heilszusage, zwischen profaner und biblischer Sprache, zwischen situationsbezogener und grundsätzlicher Israel-Aussage. Die Aussage des Kernwortes – „die Darbringung der eigenen Person für andere“747 – könnte den Anlass geboten haben, ihm die Präpositionalwendung ὑπὲρ πολλῶν kommentierend hinzuzufügen. Jedenfalls reicht die heilsmittlerische Todesdeutung, die einen prophetischen Prätext mit umfassender theologischer Botschaft aufruft, weit über die den Mahlteilnehmern in Gestus und Wort erzeigte unmittelbare Hinwendung Jesu hinaus. Daraus ergeben sich weitere Fragen: Reicht die Ablehnung, die Jesus in seinen letzten Tagen spätestens nach seinem Tempelauftritt von den priesterlichen Kreisen Jerusalems erfuhr, als Argument dafür aus, ihm die Annahme zuzuschreiben, „sein Volk“ (Jes  53,8)748 habe ihn abgelehnt? Unterscheidet er nicht im Winzergleichnis Mk  12,1–11 zwischen den Pächtern und dem Weinberg? Andererseits adressiert er sein Gerichtswort Q  13,34–35a an Jerusalem, scheint also auch jenseits der Verbindung mit „Sünden“: 1Kor  15,3 (ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν); Gal  1,4 (ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν); Hebr  2,5; 10,12. 743  „Sei gnädig deinem Volk, indem du an unserer Bestrafung (stellvertretend) für sie (ὑπὲρ αὐτῶν) Genügen findest. Zu einem Reinigungsopfer für sie (καθάρσιον αὐτῶν) mache mein Blut, und als Ersatz für ihr Leben (ἀντίψυχον αὐτῶν) nimm mein Leben“, heißt es im Schlussgebet des Eleazar. 744 Vgl. etwa Eur, Heraklid 53 („für Geschwister“); Philostr, VitAp   7,14,2 („für Verwandte oder Freunde oder Kinder“); Plut, Otho  15,4 („für die Bürger“); DioChrys, Or  31,75 („für die Stadt“); DiodS  8 ,12,8 („für das Vaterland“): Eschner, Gestorben II 9–153.163–317, hat das Material umfassend gesichtet. 745  Obwohl die „Vielen“ Gegner des Knechts sind, bleiben sie „sein Volk“ (Jes  53,8). Zu V.8 vgl. Hermisson, Deuterojesaja 326. Masora: „mein Volk“, so auch die EÜ. 746  Merklein, Künder 149; ihm zufolge erscheint „die Sühnedeutung“ des Todes Jesu im Anschluss an Jes  53, die er Jesus selbst zuschreibt, „fast wie die theologische Konsequenz seiner Botschaft“ vom unbedingten Heilswillen Gottes. Dieser Konnex gilt Vögtle, Todesankündigungen 106, zufolge auch unter Voraussetzung nachösterlicher Herkunft der sühnetheologischen Deutung des Todes: „Wenn Jesus mit seinem Tod für die von ihm gelebte und proklamierte Botschaft von dem dem Sünder zuvorkommenden, diesem vergebenden Gott eingestanden war und dieser im Tod endende Jesus von Gott definitiv als eschatologischer Heilsmittler bestätigt wurde – wie hätte dieser Tod dann anders gedeutet werden sollen und können denn als Sündenvergebung erwirkendes, die Gemeinschaft mit Gott neu und endgültig begründendes Geschehen?“ 747 F. Hahn, Stand 559. 748  Siehe oben; 1QIsa  53,5: „Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen“.

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priesterlichen Kreise auf Ablehnung gestoßen zu sein749. Doch lässt sich aus seinen Gerichtsworten, die aufrütteln wollen, ableiten, er hätte in seinem Volk nur noch ein sündiges Kollektiv gesehen? Wenn Jesus Mk  14,25 zufolge tatsächlich beim letzten Mahl mit seinem baldigen Tod gerechnet, dabei aber auf das Kommen der Basileia gebaut hat, sah er darin die Eröffnung ewigen Heiles, nicht in seinem Tod, wie es dem Duktus von Jes  53 entsprochen hätte750 .

Angesichts dessen, dass sich vor den Abendmahlsworten kein Bezug auf Jes  53 in der Jesusüberlieferung nachweisen lässt751, die Rede von dem „für die Vielen“ dargebrachten „Leib“ im Brotwort überhaupt die erste Gelegenheit gewesen wäre, bei der Jesus den Seinen ein sühnetheologisches Verständnis seines ihm drohenden Todes zu verstehen gegeben hätte, ist dieser unvermittelte Rekurs doch „überraschend neu“752 und führt zur Frage, ob sich diese Rede nicht viel besser als Spur schrifttheologischer Bearbeitung der schmählichen Hinrichtung Jesu nach Ostern begreifen lässt, die im Kontext auch anderer Rückgriffe auf soteriologische Paradigmata des Alten Testaments wie der alten Formel Röm  3,25 auf Lev  19 oder des gleichfalls auf Jes  53 zurückgreifenden Lösegeld-Wortes Mk  10,45 zu sehen ist753. Diese Applikationen kultischer und sühnetheologischer Paradigmata auf den Tod Jesu lassen sich gut im Kreis der Hellenisten verorten, die offenkundig mit dem Opferkult des Tempels deshalb brachen, weil sie den Tod Jesu als das definitive Heilsopfer verstanden, das den Tempelkult überholt. Die ὑπὲρ πολλῶν-Wendung ist als besonderer Fall der übergeordneten Formeln vom Sterben Jesu „für“ zu sehen, einer Redeform mit eigenem geistesgeschichtlichem Hintergrund (s. oben unter [c]), die sich aus der ὑπὲρ πολλῶν-Wendung nicht ableiten lässt754. Wenn das Brotwort auf Jes  53 rekurriert, verbindet es damit die spezifische Aussageintention, dass Jesu Heilstod als ein Sterben „für (die) Vielen“ Israel zugutekommt und denen, die ihn zuerst ablehnten, eine neue Heilschance eröffnet. Wie das Brotwort sich auf das eine gebrochene und zum Verzehr dargereichte Brot bezieht, so das Becherwort (in seiner ältesten Fassung) auf den einen Becher (τοῦτο τὸ ποτήριον). Analog zu dem einen Brot lässt Jesus nur einen Becher in der 749  Siehe oben in III.  2.3.3 im Anschluss an die Besprechung von Q  13,34 f. die Erwägung, ob es sich dabei nicht um eine performative Gerichtspredigt im Sinne eines letzten dramatischen Appells handelt. 750  Vgl. Jes  53,5.10–12; V.5: „Er aber war durchbohrt von unseren Freveln, / zerschlagen von unseren Sünden. // Züchtigung zu unserem Heil lag auf ihm, / und durch seine Strieme ward uns Heilung“; V.10: „Aber Jhwh, dessen Plan es war, ihn zu schlagen, / heilte den, der als Schuldausgleich sein Leben einsetzte. // Er wird Nachkommenschaft sehen, lange leben, / und Jhwhs Plan wird durch ihn gelingen. […]“ (Übersetzung Hermisson). 751  Mk  10,45 ist in der vorliegenden Gestalt nachösterlich; vgl. Zager, Urchristentum 172–175. 752  Vögtle, Todesankündigungen 92; ebd.88–108 äußert er eine Reihe von Bedenken gegen die Authentizität der expliziten atl. Bezüge in der Kultätiologie. 753  Auch die alte Formel Röm  4,25 enthält einen Rückgriff auf Jes  53, und zwar auf V.12LXX. Ansonsten spielt Jes  53 für den frühchristlichen Schriftbeweis „eine auffällig geringe Rolle“; die wenigen direkten Zitate sind „traditionsgeschichtlich spät“ (Patsch, Abendmahl 162): Röm  10,16 (Jes  53,1;); 15,21 (Jes  52,15); Apg  8 ,32 f. (Jes  53,7 f.); 1  Petr  2,22.24 f. 754  Patsch, Abendmahl 166: „Es spricht […] nichts dafür, dass Jes   53 – sieht man […] von Mk  10,45 und 14,24b ab – direkt einen Einfluss auf die ὑπέρ-Formeltradition gewonnen hat“.

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Runde kreisen, den eigenen: „Und er nahm einen Becher, sagte Dank, gab ihnen (den Becher) und alle tranken aus ihm“ (Mk  14,23; vgl. Mt 26,27). Dabei scheint Markus vorauszusetzen, dass Jesus nicht selbst aus dem Becher getrunken hat755: Beim antiken Symposium wie bei den jüdischen Mählern (einschließlich Paschamahl) tranken alle aus dem eigenen Becher, nur beim letzten Mahl Jesu ist dies anders. Heinz Schürmann führte diese Abweichung vom Gewöhnlichen auf den historischen Jesus zurück, der damit ein Zeichen habe setzen wollen756 . Doch dürfte die Abweichung durch den Inhalt des Becherwortes verursacht sein: Nach dem Vorbild des Brotwortes gestaltet757, konnte es sich von der Logik des Bildes her nur auf einen Becher beziehen: „Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut“. Pointe des Satzes ist die Blutformel. Sie steht für den Tod Jesu und deutet ihn auf den Bahnen alttestamentlicher Terminologie als Opfertod758 . Assoziiert die Rede vom neuen Bund (καινὴ διαθήκη) den Prophetentext Jer  31,31–34, dann besagt der Satz: Gottes Verheißung einer eschatologisch „neuen Heilssetzung“759 wird in Jesu Sühnetod Wirklichkeit, dieser eröffnet Israel eine neue Heilsmöglichkeit. Da die Blutformel auch in anderen frühchristlichen Kontexten begegnet, vor allem in Röm  3,25, einer zu Recht mit den Hellenisten in Zusammenhang gebrachten Formel760 , spricht vieles dafür, dass auch sie, wie die ὑπὲρ πολλῶν-Wendung, in ihrem Umfeld entstanden ist: Jesu Opfertod ist die „neue Heilssetzung“ Gottes „für viele“. Der Opferkult im Tempel ist überholt. Gott hat im Tod Jesu einen entscheidenden, neuen Schritt in der Geschichte mit seinem Volk getan. Ist die Blutformel sekundär, dann stellt sich die Frage, ob das auch für die Bundes-Aussage gilt: „Dieser Becher (über den ich den Lobpreis Gottes sprach, der uns untereinander und mit Gott verbindet) ist der neue Bund“. Folgende Annahme liegt nahe: Der Rückgriff auf den hier zum ersten Mal in der Jesusüberlieferung begegnenden Terminus καινὴ διαθήκη bedurfte einer näheren Bestimmung, um verständlich zu sein. Denn worin besteht die „neue Diathēkē“, von der Jeremia sprach? Darauf gibt die auf den Heilstod Jesu verweisende Blutformel die Antwort. Demnach dürfte sich das Becherwort insgesamt nachösterlicher Reflexion auf Jesu Tod verdanken. Es wurde bei der Formung der Kultätiologie nach dem Modell des Brotworts gebildet. Zu Beginn des Mahls brach Jesus, wie er es des Öfteren tat, als guter Gastgeber den Seinen das Brot und sprach den Segen darüber. Aber in der Vorahnung seines 755  Wenn beide Evangelisten Jesus selbst nicht aus dem Becher trinken lassen (wie sie ja auch das gesegnete Brot von ihm nur an andere austeilen lassen), dann hängt das mit der nachösterlichen „quasi-sakramentalen“ Überhöhung seiner Worte zusammen: Aus dem Becher, von dem es bei Mk heißt: „das ist mein Blut …, vergossen für viele“ (14,24), kann er selbst nicht gut trinken. Gleiches dürfte für Lk  22,19 f. gelten. Der vorpln. Kultätiologie ist dieser Erzählzug nicht zu entnehmen. 756  Zu Heinz Schürmann vgl. Theobald, Herrenmahl 264 f. (mit Anm.  33); Luz, Jesus 425 f. 757  τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά – τοῦτο τὸ ποτήριον. 758 Vgl. Röm 3,25; 5,9; 1Kor 11,25; Eph 1,7; 2,13; Kol 1,20; Hebr 9,12,14; 10,19; 13,12.20; 1Petr  1,2.19; 1Joh  1,7; Offb  1,5; 5,9; 12,11. 759  So ist ‫ ברית‬in Jer  31,31–34 (und entsprechend διαθήκη) zu übersetzen, die Rede vom „Bund“ führt in die Irre: Kutsch, Neues Testament; Schrage, 1Kor III 38 f. 760  Theobald, Herrenmahl 271 f.

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Todes gab er dem konventionellen Gestus einen besonderen Sinn: Er reicht die Brotstücke den Seinen und spricht dazu: „Das bin ich!“ – das gebrochene, verteilte und euch zur Stärkung gereichte Brot! Am Ende des Mahls beteuert er: „Amen, ich sage euch: Ich werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tag, wenn ich davon […] trinke im Reich Gottes“ (Mk  14,25). Darf diese Sicht auf Zustimmung eines Teils der Forschung rechnen761, so bedarf es allerdings noch einer Differenzierung: Becherwort und „eschatologischer Ausblick“ wurden nicht, wie weithin angenommen, zusammenhängend überliefert. Das Becherwort gehört zur Kultätiologie, der „eschatologische Ausblick“ zur PEG. Deshalb kann Mk  14,25 auch nicht mit der Kultätiologie verknüpft und als Deutewort der Becherhandlung anstelle des für sekundär erachteten Becherworts postuliert werden762 . Eine Kongruenz von „eschatologischem Ausblick“ und einer angeblichen zweiten Zeichenhandlung neben dem Brotgestus ist nicht zu erkennen. Jesus sprach sein Amen-Wort anlässlich des letzten Weinbechers, ohne damit eine weiteres, den Wein betreffendes Zeichen am Ende des Mahls zu setzen. Der Brotgestus samt Gabewort war seine einzige Zeichenhandlung – einzig auch in dem Sinne, dass Jesus nicht an ihre wie auch immer geartete Wiederholung dachte. Sein Blick richtete sich nicht auf den Fortgang der Geschichte nach seinem Tod, sondern einzig auf das nahe Gottesreich und das ewige Festmahl. 2.4.4 Getsemani Ort und Zeit der Getsemani-Szene sind historisch zuverlässig überliefert. Doch erst die Autoren der PEG werden die Szene, wie die Psalter-Matrix der Worte Jesu verrät, zur Geschichte seines Ringens um Einwilligung in das ihm drohende Todesgeschick stilisiert haben. Erinnerungen der Seinen, die auf dem Grundstück bei Nacht dabei waren und seine Verhaftung miterlebten, könnten über Umwege in die Formung der Überlieferung eingegangen sein. Der Schock saß tief, die Flucht vom Ort des Geschehens wird den Jüngern zugesetzt haben. Drei Fragen stellen sich: (1) Wie verlief die Verhaftung? (2) Was lässt sich zu Judas sagen? (3) Was bedeutet die Notiz von der Flucht der Jünger? (1) Jesus wurde im Auftrag des Hohepriesters von jüdischen, nicht römischen Ordnungskräften verhaftet763. Die von Johannes behauptete Beteiligung von römischen Soldaten an der Verhaftung ist historisch „ohne Frage fehlerhaft“764. Wären römische Soldaten involviert gewesen, hätten sie Jesus „wohl direkt dem Statthalter ausgeliefert“765. Bei Josephus finden sich genügend Belege dafür, dass die Jerusale761 F.

Hahn, Theologie 122. Annahme von Vögtle, Todesankündigungen 101 („das ursprüngliche Kelchwort“) begründen weiter: Merklein, Erwägungen 173 f.; Häfner, Tod 165 f.; F. Hahn, Theologie I 122. 763  Priester höheren Standes waren (gegen Lk  2 2,52) sicher nicht anwesend. 764  Mommsen, Strafrecht 240 Anm.  2: „Die Verhaftung bewirkt die Localbehörde […] und sie stellt das Verhör an“; zu Joh 19,2.12 siehe oben unter II.  7.2. 765  Kirner, Strafgewalt 255; Knothe, Prozess 83. 762  Diese

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mer Autoritäten bei Störungen der öffentlichen Ordnung aus eigener Initiative tätig wurden und der Statthalter solche Amtshilfe von ihnen erwartete766 . Wie stark der Trupp der Ordnungskräfte war, lässt sich nicht sagen. Er war bewaffnet. Rechnete er mit Gegenwehr? Tatsächlich scheint es zu einem Zwischenfall gekommen zu sein, als einer der Anwesenden – doch wohl ein Sympathisant Jesu  – Gebrauch von seiner Waffe machte und den „Knecht des Hohepriesters“ verletzte. Von einer Gegenreaktion hören wir erstaunlicherweise nichts, „obwohl es schwer vorstellbar ist, dass die Verletzung eines Dieners des bedeutendsten Mitglieds der provinzialen Oberschicht ungeahndet geblieben wäre“767. Aus der Episode auf den militanten Charakter wenigstens eines Teils der Jesusanhänger zu schließen, wäre gewagt768 . (2) Welche Rolle spielte Judas bei Jesu Verhaftung? Was hat es mit dem berüchtigten Judas-Kuss auf sich? Schon Martin Dibelius hat dazu das Nötige gesagt: Die Leute, die den Galiläer wahrscheinlich nicht kannten, benötigten einen „Mittelsmann“, der sie zu dem Gesuchten führte. Judas „kannte den Ort, er kannte den Mann, er konnte ihn unauffällig bezeichnen, indem er ihm – nicht einen besonders tückischen Kuss der Liebe, sondern – die übliche Begrüßung erwies […]. Er entehrte nicht das Antlitz des Meisters mit einem falschen Freundschaftszeichen, sondern er begrüßte ihn wie immer. Wenn das die ältesten Berichte nicht ausdrücklich sagen, so ist das wohl zu verstehen; sie können die Sitte des Begrüßungskusses, ebenso wie die Sitte der Mahlgemeinschaft oder den Vollzug der Kreuzigung, voraussetzen. Was sie ihren Lesern wirklich zeigen wollen, ist etwas völlig anderes. Es ist nicht die menschliche ‚Tragödie‘, sondern Gottes Heilswille, der auch in dieser dunklen Stunde erkannt werden will“769.

(3) Die Notiz von der „Flucht“ der Jünger lässt zwei Deutungen zu: Tauchten sie in Jerusalem unter oder verließen sie die Stadt? Der Kontext der PEG empfiehlt die erste, denn der Epilog setzt die Anwesenheit der Jünger in der Stadt voraus: Die Frauen werden angewiesen, ihnen Kunde zu überbringen770 . Die Historizität der Notiz kann erst am Ende des ganzen Diskurses beantwortet werden771. Bedeutsam ist noch Folgendes: Die Rede von den μαθηταί impliziert ein Konzept männlicher Schüler- und Nachfolgegemeinschaft Jesu. Wenn es heißt, dass „alle flohen“, meint die PEG die eingangs der Getsemani-Szene genannten μαθηταί. Tatsächlich werden nicht „alle“ aus dem Kreis Jesu untergetaucht sein. Petrus folgte Jesus bis ins Haus des Hohepriesters, einige Frauen bis nach Golgota. Waren sie beim letzten Mahl Jesu dabei, 766 

Siehe oben III  1.7. Kirner, Strafgewalt 255. G. Schneider, Verhaftung 291 f., schließt aus der erstaunlichen Tatsache einer fehlenden Reaktion des Verhaftungskommandos, dass Mk  14,47 nachgetragen sei. 768  Kirner, Strafgewalt 255: „auch von den Essenern (ist) überliefert […], dass sie Waffen für die Reise mit sich führen durften“; vgl. Jos, Bell  2,125. J. Gnilka, Mk II 269 f.: Galiläische Festpilger werden die Waffe zur Kleidung gerechnet und darum in ihrem Tragen keine Festtagsverletzung gesehen haben […]“. 769  Dibelius, Judas 276 f.; Blinzler, Prozess 87: Judas machte, „wie verabredet, Jesus durch den üblichen Begrüßungskuss kenntlich“. 770  Becker, Auferstehung 13 (unter Verweis auf Mk   16,7: „eine ‚geordnete‘ Rückkehr nach Galiläa“). 771  Vgl. unten III.  2.8 unter (1). 767 

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dann auch in Getsemani, wenn die Gruppe aus Galiläa es in den Tagen vor dem Fest gewohnt war, diesen Ort abends aufzusuchen, um danach in den Dörfern auf dem Ölberg zu übernachten. 2.5 Das nächtliche Verhör Jesu durch die hohen Priester „Theologische Überhöhung und heilsgeschichtliche Deutung der Evangelien-Berichte über die römischen und jüdischen Verfahren, die zum Tod Jesu geführt haben, erlauben nur bedingt eine rechtsgeschichtliche Klärung der tatsächlichen Ereignisse, zumal Augenzeugen-Berichte und Gerichtsprotokolle fehlen“772 . Dieses Urteil von Paul Mikat aus dem Jahre 1999 hat nach wie vor Bestand. Auf der Basis der in Teil  II.  8 vorgelegten literargeschichtlichen Analysen lässt es sich jetzt noch besser begründen und weiterführen. Die PEG berichtet nur scheinbar von einem regelrechten Prozess773, tatsächlich bietet sie eine biblisch gesättigte Inszenierung, die das Geschehen im Licht des Psalters zu lesen anleitet: Der „Gerechte“ wird von seinen „Feinden“, die über ihn unter Hinzuziehung falscher Zeugen zu Gericht sitzen, zum Tod verurteilt. Dieser „Gerechte“ ist nicht irgendwer, sondern – gemäß der interpretatio christiana des Kreuzestitulus – der davidische „Gesalbte“ und „Sohn Gottes“, wie ihn der messianisch gelesene Psalter verheißt. Wenn Jesus sich vor dem Hohepriester zu seiner königlichen Würde bekennt, während Petrus ihn zur gleichen Zeit verleugnet, spiegelt die Doppelszene paradigmatisch die prekäre Situation wider, in der sich die Gemeinde nach Ostern befindet. Sahen die Gegner Jesu in Jerusalem im Bekenntnis zum Gekreuzigten als „Gesalbten“ und „Sohn Gottes“ eine „Gotteslästerung“ gemäß Dtn  21,22 f., dann reflektiert die paradigmatische Urszene dieses Urteil. Jesu Bekenntnis vor dem Hohepriester ist ur- und vorbildlich gemeint. Die Erzählung enthält juristische Elemente, diese aber in ein biblisch geformtes Bild transformiert774. Sie will kein „Verhandlungsbericht“775 sein, ist „nicht juris772 

Mikat, Art. Prozess 676. Im Einzelnen vgl. oben II.  8.7 unter (1). – Zu den gängigen juridischen Termini, welche die Darstellung aufgreift, gehört auch παραδίδωμι: u. a. Jos, Bell  2,246 (Kaiser Claudius lässt einen römischen Offizier zur Strafe „den Juden ausliefern“ [παραδοθῆναι Ἰουδαίοις]), oder Ant  20,200: Der Hohepriester „liefert“ Jakobus zur Steinigung „aus“ (siehe oben III.  1.4.2 unter [1]). Die Wendung könnte auch Jes  53,6.12LXX assoziieren: vgl. zur Leitmotivik der PEG S. 523 Anm. 12 774  (1) Das Auftreten von Zeugen entspricht dem Umstand, dass jüdische Prozesse nicht auf Indizienbeweisen, sondern auf Zeugenaussagen beruhen. Die PEG benutzt aber die pauschale Rede von „vielen“ Falschzeugen lediglich, um die vorweg apostrophierte feindliche Gesinnung der „Richter“ aufzudecken. Dem Prozessrecht entspricht, dass die Zeugen übereinstimmen müssen. – (2) Die Befragung Jesu durch den Hohepriester ist ein Verhörelement, aber der Hohepriester stellt Jesus nur eine Frage, um ihm die Gelegenheit der einen entscheidenden Antwort zu geben, auf die es ankommt. – (3) Blasphemie-Vorwurf und Todesurteil, die schon biblisch zusammengehören (vgl. Lev  24,16; Num  15,30 f.), bilden den passenden Abschluss. Sie fügen sich in das Bild von den Feinden des Gerechten, die über ihn richten und ihn unmittelbar nach dem Urteil (!) noch misshandeln. Weish  2,20: „Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen; er behauptet ja, es werde ihm Hilfe gewährt“. 775  Hengel/Schwemer, Jesus 595. 773 

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tisch-historisch, sondern kerygmatisch und pragmatisch ausgerichtet“776 . Schlussfolgerungen, die aus dem scheinbar entgegengesetzten Befund gezogen werden, sind problematisch. Josef Blinzler wertet Mk  14,53–64 rechtsgeschichtlich aus: Der Text belege, dass das Synedrion zwar Todesurteile hätte fällen, aber nicht vollstrecken dürfen777. Er erschließt aus dem Widerspruch zwischen Markus und den Rechtsbestimmungen der Mischna ein sadduzäisches Recht, das angeblich Verfahren an Fest- und Rüsttagen erlaubte, zudem des Nachts, und für das Fällen von Todesurteilen keine Vertagung vorsah778 . Raymond Brown leitet aus der Diskrepanz zwischen den rabbinischen Regeln und der Darstellung bei Markus und Matthäus779 die Alternativen ab: Entweder sah das Synedrion sich bereits vor 70  n.Chr. an jene Regeln gebunden, dann ist die Darstellung der Evangelien entweder „fiktiv“ („fictional“) oder historisch zutreffend (mit der Konsequenz, dass das Synedrion „illegally and corruptily“ agierte). Oder: Diese Regeln galten vor 70  n.Chr. noch nicht, dann beschreiben die Evangelisten einen Prozess, der gemäß anderen Regeln legal war („a trial that was legal by another set of rules“). Dazu tendiert Brown, weil die Evangelisten nirgends durchblicken ließen, die jüdischen Autoritäten hätten „illegally according either to Roman law or the Law of Moses“ gehandelt780 . So sie den Prozess darstellten, verletze er das geschriebene Recht „not clearly“781. Nach der üblichen Methode selektiver Auswahl plausibler Momente aus allen vier Evangelien zieht Brown sich aus der Affäre782: Der „Information“ des vierten Evangeliums zufolge habe in der Nacht kein Prozess, sondern nur ein Verhör stattgefunden; die eigentliche Verhandlung mit Todesbeschluss habe das Synedrion Tage zuvor abgehalten (Joh  11,47–53). Markus habe beide Vorgänge ineins gesetzt. Die historisch informierte Darstellung des Johannes sei deshalb derjenigen des Markus mit ihrem „simplified character“ vorzuziehen. So kann Brown die Diskussion „about possible illegality in the timing of the Jewish trial“ letztlich für irrelevant erklären. Gerd Theißen erschließt aus dem Todesurteil Mk  14,64 eine Entstehung der PE in der Regierungszeit des Agrippa I. (41–44 n.Chr.): „[D]ie Ansicht, eine jüdische Instanz könne Todesurteile gegen religiöse Dissidenten fällen“, konnte sich „erst unter dem Eindruck“ von dessen eigenmächtigem Vorgehen gegen den Zebedaiden Jakobus und auch Petrus (Apg  12,1 ff.) bilden783.

Wenn die Erzählung der PEG der Textsorte „faktuale Erzählung“ samt fiktionalen Elementen gehorcht784, unter welchen Bedingungen ist eine historische Rückfrage möglich? Zu erinnern ist an die in III.  1 eruierten zeitgeschichtlichen Rahmenbe776  W. Stegemann, Beteiligung 13. – Die lkn. Redaktion im Sinne einer zeitgenössisch plausibel erscheinenden Prozesserzählung wirft nachträglich Licht auf seine Vorlagen, die dem nicht gehorchen. 777  Siehe oben unter III.  1.5.5; die „Eigenart der Evangelien, denen es nicht um einen protokollarischen Bericht, sondern in erster Linie um den Aufweis der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Geschehnisse“ gehe, erklärt ihm, warum nicht „alle wesentlichen juristischen Vorgänge des Prozesses genau festgehalten sein“ mussten (Blinzler, Prozess 340). 778  Siehe oben III.  1.5.4 (1) unter (c). 779  Brown, Death I  359: „Obviously the trial or interrogation of Jesus as described in the Gospels was not conducted according to the rabbinic rules“. 780  Ebd.  359 Anm.  69. 781  Ebd.  362. 782  Zum Folgenden ebd.  362 f. 783  Theißen, Lokalkolorit 205; vgl. auch oben unter I.  1.7 am Ende. 784  Siehe die Definition oben in I.  1.8.

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dingungen (1). Nur in deren Grenzen ist die Frage nach dem Vorgehen gegen Jesus (2) und den leitenden Motiven sinnvoll zu stellen (3). Mit zu bedenken ist der Konnex von jüdischem und römischem Verfahren (4). 2.5.1 Die rechtlichen Rahmenbedingungen des Verhörs Drei Faktoren bestimmen die rechtlichen Rahmenbedingungen des jüdischen Vorgehens gegen Jesus: (a) Die jüdische Autorität besaß die Kapitalgerichtsbarkeit nur ausnahmsweise, wenn die Tempelschranken, die das Heiligtum schützten, von Unbefugten, etwa Nicht-Juden, überschritten wurden. Jesu Tempelaktion fiel nicht darunter. Bestand die Absicht, Jesus aus dem Weg zu schaffen, konnten das nur die Römer bewerkstelligen. (b) In solchem Fall waren die jüdischen Autoritäten auf die Kooperation mit den Römern angewiesen. Die Quellen zeigen, dass die Amtszeit des Kajaphas von einer mehr oder weniger reibungslosen Zusammenarbeit mit dem römischen Präfekten geprägt war. Vielleicht waren Kajaphas und Pilatus miteinander befreundet (s. III.  1.5). Ihr Miteinander funktionierte auch im Fall Jesu. Das Beispiel des Jesus ben Ananias, bei dem es um öffentliche Ruhestörung ging, veranschaulicht, wie eine Kooperation ablaufen konnte: Zuerst wurde die jüdische Elite tätig, dann übergab sie den Fall zur Entscheidung den Römern. Schon dieses Zusammenspiel der Instanzen lässt einen regelrechten Religionsprozess gegen Jesus mit abschließendem Todesurteil als wenig wahrscheinlich erscheinen.

Jesus wurde spätestens mit seiner Tempelaktion zu einem Politikum. Um der Wahrung der öffentlichen Ordnung vor und während des Paschafestes willen sah sich der Hohepriester gezwungen einzuschreiten. Doch wäre es zu kurz gegriffen, den Fall Jesus auf diese öffentliche Seite zu beschränken. Dem beteiligten Priesteradel geschieht Gerechtigkeit nur dann, wenn auch seine theologische Sicht des Vorgangs gewürdigt wird. Nicht grundlos nennt die PEG in ihrem Exordium und zu Beginn des Hauptteils „Schriftgelehrte“, die gemeinsam mit den hohen Priestern auf die Tempelaktion Jesu reagierten. Maßgeblich für den sadduzäisch gesonnenen Beraterkreis des Hohepriesters in der Beurteilung Jesu wird die Tora gewesen sein. 2.5.2 Historische Fakten Historische Fakten lassen sich den Angaben der PEG zum Kreis der Beteiligten (a), zu Ort und Zeit ihrer Zusammenkunft (b) und deren Zielsetzung entnehmen (c). Die Episode von der Verspottung Jesu hält der kritischen Rückfrage nicht stand (d). Den drei Episoden von der Verleugnung Jesu durch Petrus ist ein historischer Kern nicht abzusprechen (e). (a) In Umkehrung der Tendenz der Evangelien und ihrer Quellen, die Front der Gegner Jesu auf das „ganze Synedrion“ (Mk  14,55) auszuweiten bis hin zu Johannes, der die Pharisäer miteinbezieht (Joh  11,47), ist anzunehmen, dass tatsächlich nur der Hohepriester und weitere Vertreter des Priesteradels gegen Jesus agierten. Wen der Hohepriester zu seinem ad hoc versammelten Beirat noch beizog und wie groß der Kreis war, der Jesus verhörte, entzieht sich unserer Kenntnis.

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(b) Der Annahme eines nur begrenzten Beirats entspricht die Angabe des Ortes, wo er sich versammelte: nicht im „Rathaus“ westlich des Tempels (Jos, Bell  5,144)785 , sondern in der „Residenz des Hohepriesters“ (PEG)786 . Der Beirat trat wohl deshalb nach der Verhaftung Jesu noch in der Nacht zusammen, weil der Präfekt seine Amtsgeschäfte am kommenden Morgen vor dem Paschafest abwickeln würde787. Der Hohepriester sah sich gezwungen, den Fall Jesu rasch abzuklären. Ort- und Zeitangabe der PEG dürften vertrauenswürdig sein. (c) Der Hohepriester inszenierte mit seinem Beirat gewiss keinen „religionsgesetzlichen Prozess“788 . Die PEG lässt diese Sicht nicht zu. Viel wahrscheinlicher ist gemäß den juristischen Rahmenbedingungen: Der Hohepriester und sein Beirat unterzogen Jesus einem Verhör, um die Anklage gegen ihn für das Verfahren am kommenden Morgen vor Pilatus vorzubereiten. Das Verhör lief nach der Provokation Jesu im Tempel wohl nicht ergebnisoffen ab. Unbekannt ist, ob der Beirat einhellig der Meinung war, Jesus müsse aus dem Weg geräumt werden, oder ob nur der Hohepriester mit denen, die das Sagen hatten, darauf bestanden. Das Ziel der Sitzung könnte auch gewesen sein, die Mehrheit hinter einer Anklage zu versammeln. Möglicherweise war Joseph von Arimathäa einer der „Ratsherrn“, die anderer Meinung waren. Wenn die PEG „alle“ Jesus für des Todes schuldig erklären lässt, ist dieses Erzählmoment der pauschalen Darstellung geschuldet, die das Bild von dem einen Gerechten und den vielen über ihn zu Gericht sitzenden Frevlern zeichnet (vgl. Weish  2,20). Die Darstellung ist interessegeleitet und sagt über den tatsächlichen Verlauf der nächtlichen Verhandlung nichts aus. (d) Die Episode der Entehrung Jesu folgt kompositionell passend auf das Todesurteil: Wer einer „Gotteslästerung“ überführt wurde, verdient tiefste Verachtung: „Einige“ aus dem Rat spucken Jesus an (vgl. Num  12,14; Dtn  25,9; Ijob  30,10), die Diener geben ihm Ohrfeigen789. Die Episode ist Teil der Parallelstruktur der beiden Verhandlungen vor dem Synedrion und Pilatus: Die Verspottung Jesu durch RatsSiehe oben S. 568 Anm.  260. Die Vermutung J. Gnilkas, Mk  II 287, „die Versammlung der Synhedristen“ könnte „auch im Versammlungssaal des Synhedrion stattgefunden haben“, hat keinen Anhalt am Text. Wo „die Residenz des Hohepriesters“ lag, entzieht sich unserer Kenntnis. Topographisch auswertbare Angaben finden sich weder im NT noch bei Josephus. Die am Ostabhang des Sion (St. Peter in Gallicantu) haftende christliche Lokaltradition („Haus des Kajaphas“) ist erst seit dem Bericht des Pilgers von Bordeaux (334 n.Chr.) greifbar: „Geht man nun aus Jerusalem heraus, um zum Sion hinaufzugehen, so ist links der Teich Siloah. In derselben [Gegend] steigt man zum Sion herauf, und es wird sichtbar, wo das Haus des Priesters Kajaphas war, und dort ist noch die Säule, wo sie Jesus mit Geißeln schlugen“. Küchler, Jerusalem 656; außerdem Kopp, Stätten 400–405; ­P ixner, Wege 229–241 („Wo lag das Haus des Kaiphas?“). 787  Pilatus wird die öffentliche Angelegenheiten wie die Rechtsprechung nicht am Paschafest selbst erledigt haben; er war nicht der Judenhasser, als der früher gerne angesehen wurde (siehe oben III.  1.3). Alles spricht gegen die synoptische Chronologie. 788  Kroll, Spuren 328, in Unterscheidung vom „politischen Prozess vor Pilatus“. 789 J. Gnilka, Mk II 287, verkennt die kompositionelle Abfolge von Todesurteil und Entehrung, wenn er die Episode anders einordnen will: „Was die in 14,65 geschilderte Verhöhnung Jesu betrifft, die stark theologisch gefärbt ist, so wird diese ihren Sitz im historischen Verlauf am ehesten nach der Verhaftung haben, wie Lk  22,63–65 es darstellt“. 785  786 

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mitglieder entspricht derjenigen durch römische Soldaten790 . Während die Königstravestie im Anschluss an den Pilatusprozess einen historischen Kern besitzen dürfte (siehe unten), könnte ihr Pendant eine sekundäre Bildung der PEG sein791, die ein aus der antiken Literatur auch sonst bekanntes Motiv verarbeitet hat792 . Vor allem will sie an das Bild des leidenden Gerechten Jes  50,6 erinnern: „Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel“. Die Episode bietet allerdings einen Fingerzeig, der historisch beachtlich ist: Während die römischen Soldaten Jesus dem Ausgang des Verfahrens vor Pilatus entsprechend als König verspotten, verhöhnen die hohen Priester ihn als falschen Propheten793. Zur Bejahung der ihm vom Hohepriester gestellten Frage, ob er der Messias, der Sohn des Hochgelobten sei, passt diese Pointe nicht794, wohl zu der (unten zu begründenden) Annahme, dass die hohen Priester in Jesus einen Pseudopropheten sahen. Auch wenn die Episode fingiert ist, könnte sie dieses Wissen weitertransportiert haben. (e) Die Erzählung von der Verleugnung Jesu durch Petrus enthält einen historischen Kern795 , auch wenn die Steigerung der Verleugnung des Petrus (im Drei-Takt der Episoden gemäß der volkstümlichen Regel-de-tri) und seine durch das mor790  Vgl. oben Exkurs 7: Zur Parallelität von jüdischem und römischem Verfahren in der Markuspassion. 791  So (unter Annahme der Bildung der Episode durch Mk) schon Loisy, Marc 436; ebenso Klostermann, Mk 157; A.Y. Collins, Mk 707, unter Verweis auch auf die Leidens- und Auferstehungsankündigung Mk  10,33 f., die von einer Verspottung Jesu nur durch die römischen Soldaten, nicht durch Ratsmitglieder weiß. – Das Motiv des Anspuckens begegnet in beiden Episoden, ebenso die direkte Anrede an den Verspotteten. 792  DiodS, Hist  34,35,2: Ein Sklave aus Apameia mit Namen Eunus, später Führer des Sklavenaufstands in Sizilien im 2.  v.Chr., wirkte als Wahrsager und wurde von seinem Herrn bei Gastmählern zur Unterhaltung der Gäste aufgeboten, den Propheten und zukünftigen König zu spielen; Pollux, Onom 9,113, erzählt von einer Art Blindekuhspiel und in 129 von einem weiteren Spiel, bei dem der Geschlagene erraten musste, mit welcher Hand er geschlagen wurde: Rudberg, Verhöhnung; van Unnik, Verhöhnung; Benoit, Outrages. 793  Siehe oben II.  8 .3 unter (5). 794  Lietzmann, Prozess 256 f.: „Auf die Verurteilung Jesu folgt 14,63 eine Misshandlung, die unmotiviert ist. Wenn eben erzählt wäre, Jesus sei als falscher Prophet verurteilt, so würde man es begreifen, dass die Leute ihm die Augen zuhalten und ihn auffordern zu ‚prophezeien‘, wer ihn geschlagen habe. Aber so, wie es dasteht, ist es völlig unverständlich“; ebenso J. Jeremias, Abendmahlsworte 73: „Jesus galt seinen Gegnern als falscher Prophet. Wir erfahren das am deutlichsten aus Mk  14,65 par.: mit Jesus wird nach der Verurteilung durch den Hohenrat eine Art Blindekuhspiel getrieben, bei dem er sich als Prophet betätigen soll […]. Da die Verspottung des Delinquenten das Vergehen travestiert, dessen er angeklagt ist (so Lk  23,11: das weiße Gewand ist der nationaljüdische Königsornat; ferner Mk  15,16–20 par.: die Purpurchlamys ist der hellenistische Königsornat), besitzen wir in dem völlig untendenziösen Bericht über die Verspottung Jesu vor dem Hohenrat ein historisch unanfechtbares Zeugnis dafür, dass Jesus von den Juden als falscher Prophet verurteilt worden ist“. – Anders Blinzler, Prozess 187 f.: die Verspottung Jesu nach seiner Verurteilung setze „nicht notwendig voraus, dass das Urteil auf diesem speziellen Vorwurf aufgebaut war. Denn auch und gerade den Messias dachte sich das Judentum mit der Gabe der Prophetie und Kenntnis verborgener Dinge ausgestattet“. – Mk könnte die Verspottung Jesu als Falschprophet mit dessen Wort gegen den Tempel verbunden haben (Klostermann, Mk  157; J. Gnilka, Mk  II 284; A.Y. Collins, Mk 707), was für die PEG aber nicht aussagekräftig ist. 795  Lietzmann, Prozess 253: „Die Gemeindephantasie“ hätte „ein solches Nachtgemälde von

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gendliche Krähen des Hahns veranlasste Reue auf literarische Gestaltung zurückgehen dürften796 . Deshalb ist die Geschichte aber nicht als Legende einzustufen, die „novellistisches und paränetisches Interesse“ hervorgebracht habe797. Sie verdichtet nicht das Versagen der (männlichen) Jünger in der Person ihres Sprechers Petrus, sondern besitzt mit ihren Ortsangaben konkret-geschichtliches Kolorit, das auf frühchristliche Erinnerung verweist: Einer der Erstberufenen Jesu hat versagt, als er seinen Herrn verleugnet hat. Die PEG erzählt davon nicht rückwärtsgewandt mit bedauerndem Tonfall, sondern wählte eine Form, die es erlaubte, an einer ihrer Führungsgestalten die stets gegebene Möglichkeit eines Neuanfangs zu zeigen. Die Erzählung ist nicht ohne Bezug zur Biografie des Petrus. Plausibel ist die Annahme von Martin Dibelius, „dass Petrus selbst“ von seinem Versagen „in Verbindung mit seiner Ostererfahrung“ (vgl. Mk  16,7; Lk  24,34; 1Kor  15,5) berichtet habe, die erkläre, „wie es überhaupt zur Erzählung dieses Vorgangs unter den Christen gekommen sein mag“798 . 2.5.3 Die Handhabe der Tora gegen Jesus als Falschprophet Dem Verhalten der sadduzäischen Priester wird nur gerecht, wer auch nach ihren theologischen Motiven fragt799. Die Weisungen der Tora zum Umgang mit Propheten und Pseudopropheten machen es begreiflich, warum Jesu Auftritt im Tempel mitsamt seiner Gerichtsprophetie in höchstem Maße für die Priester anstößig gewesen sein musste. Die analogen Konfliktfälle der Vergangenheit Israels, die mit Jeremia und Urija (vgl. Jer  7,1–15; 26,1–19.20–24) und anderen prophetischen Gestalten verbunden sind, provozierten stets die Frage: Hat Gott sie gesandt, wie sie behaupten, oder sind es Pseudopropheten? Jeremia und Urija wurden von den Beteiligten der Falschprophetie bezichtigt800 . Der eine kam nach seinem Auftritt im Tempel mit seinem Leben davon, der andere erlitt wie Jesus den Tod. Das Jeremiaihres Führers Schande sicher nicht erfunden“; Dibelius, Formgeschichte 215–218. So auch heute die Mehrheitsmeinung; anders noch Linnemann, Studien 77–82. 796 J. Gnilka, Mk  II 295: „Die in die Geschichte hineingenommene Reue […] ist auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen“. 797  Linnemann, Studien 85; die Geschichte sei Niederschlag der „Glaubenserfahrung des Versagens“ (ebd. 103). 798  Dibelius, Formgeschichte 217 Anm.  1. 799  Nur „politisch-taktische“ Gründe anzunehmen angesichts dessen, dass Jesus „eine Gefahr für Ruhe und Ordnung darstellte“ (Luz, Jesus 419.421), ist zu wenig; Rivkin, Jesus 83: „Neither his [sc. Jesus] religious teachings nor his beliefs could have been on trial – only their potential political consequences; for the Sanhedrin was the high priest’s council, which had no function other than to advise the high priest on political matters“ (zu den Voraussetzungen dieser Sicht siehe oben S. 569 Anm.  263); zutreffend Oberlinner, Plädoyer 45: „[N]ur unter Berücksichtigung dieser Konstellation – der theologische Anspruch Jesu auf der einen Seite und die ebenfalls theologisch begründete Ablehnung dieses Anspruches auf der anderen Seite – ergibt sich die Möglichkeit, eine auch den Gegnern Jesu gerecht werdende Beurteilung ihrer Motive zu geben“; vgl. Mußner, Glaubensüberzeugung 136. 800  Blinzler, Prozess 243: „Drohungen gegen den Tempel galten als Gotteslästerung (Jer  26,8 f.11) und somit als Kapitalverbrechen“. Vgl. 1Makk  2,6–8; Jos, Ant  12,406. – H. Merkel, Art. Gotteslästerung 1189.

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buch sieht in ihnen authentische Gottesboten, deren Gerichts-Prophetie die Zerstörung Jerusalems schon bald ins Recht gesetzt habe. Ebenso verhält es sich bei Jesus ben Ananias (Bell  6,300–309) 801: Von den Autoritäten der Stadt als politisch-religiöser Unruhestifter den Römern überstellt, deutet Josephus seine Prophetie als Warnruf Gottes an Israel. Die gegensätzlichen Sichtweisen prallen bei Jesus von Nazareth in gleicher Weise aufeinander: Die unmittelbar Beteiligten hielten ihn für einen eigenmächtigen Pseudopropheten, die Passionserzählung sieht in seinem Auftritt Gott selbst am Werk. Vor allem zwei Tora-Texte dürften maßgebend gewesen sein. Der erste, Dtn  17,12 f., gehört zu einem Abschnitt, der die Jerusalemer Autoritäten – levitische Priester und Richter – als nicht hintergehbare, sakrale Letztinstanz legitimiert (V.8–12). Wenn die Lokalgerichte in Verfahren vor allem bei Blutvergießen überfordert sind und die Priester und Richter in Jerusalem anrufen (V.8) 802 und diese nach ihren Ermittlungen einen Urteilsspruch verkünden, dann ist deren Urteilsspruch verbindlich und muss befolgt werden (V.9–11) 803. Andernfalls gilt: 12 13

Der Mann aber, der in Vermessenheit (‫ )ןודז‬handelt (LXX: ποιήσῃ ἐν ὑπερηφανίᾳ), dass er nicht auf den Priester hört, der dasteht, um dort den Dienst des Herrn, deines Gottes, zu verrichten, oder auf den Richter: dieser Mann soll sterben. Und du sollst das Böse aus Israel wegschaffen Und das ganze Volk soll es hören. Und sie sollen sich fürchten und nicht mehr vermessen handeln (LXX: οὐκ ἀσεβήσει ἔτι).

Im Licht dieses Textes mussten die Aktionen gegen den Tempel und damit gegen die für ihn verantwortlichen Priester als „Vermessenheit“ erscheinen, die mit dem Tod zu ahnden ist. Das entscheidende Stichwort „Vermessenheit“ – hebräisch ‫זדון‬, von der LXX mit ὑπερηφανία übersetzt – rahmt die beiden Verse und begegnet auch im zweiten Text, Dtn  18,9–22, der nicht nur formal die sakrale Würde der Jerusalemer Zentralinstanz festschreibt, sondern diese auch konkret in der Beurteilung von Prophet und Pseudoprophet zum Zug bringt: 801 

Siehe oben in III.  1.7. Rüterswörden, Dtn 118; V.8 lautet wörtlich übersetzt: „Wenn dir eine Gerichtssache zu schwierig ist, zwischen Blut und Blut, Rechtsanspruch und Rechtsanspruch, zwischen Körperverletzung und Körperverletzung, also von Streitsachen in deinen Ortschaften, so sollst du dich aufmachen und zu dem Ort hinaufziehen, den Jhwh, dein Gott, erwählen wird“ (Übersetzung von Rad, Dtn 83). Weil es sich bei den genannten Vergehen vor allem um „rechtmäßige Selbst­ hilfe“ bis hin zur Blutrache (vgl. Dtn  19,12) handelt, werden die Möglichkeiten des Ortsgerichts, mit einem Schiedsspruch die Auseinandersetzung zu beenden, „oft überschritten gewesen sein, da die Sippenangehörigen der Beteiligten mit in der Jury saßen“ (Rüterswörden, ebd.) 803  Warum, ist strittig: Weil es sich um ein Gottesurteil oder Rechtsfindung durch Orakel handelt? So Clements, Deuteronomy 421; anders Rüterswörden, Dtn 118: „Die Idee, dass hier eher an eine juristische Kompetenz gedacht ist, kann sich schon auf die antike Rezeption in der Tempelrolle (TeR  Kol LVI in 11Q19) berufen“; ein Gottesurteil würde „zwingend die Anwesenheit des Beschuldigten“ erfordern (vgl. zum Kontrast Dtn  19,17). Vgl. auch von Rad, Dtn 84 f. 802 

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„Das umfangreiche Prophetengesetz ist recht klar disponiert: Es handelt in V.9–14 zuerst von mantischen Praktiken, die in Israel nicht statthaft waren, dann positiv von dem Prophetenamt selbst, das im Grunde schon am Sinai gestiftet worden ist (V.15–18), und schließlich vom Ungehorsam gegenüber dem Wort des Propheten und von möglichen Entartungen des Prophetenamtes selbst (V.19–22)“804. Der Mittelteil begründet das Amt in der Nachfolge des Mose805 und erklärt, dass der Prophet die ihm von Gott in den Mund gelegten Worte Israel kundzutun habe und auf ihn zu „hören“ sei (V.15). V.20 setzt fest, was mit dem zu geschehen hat, der das prophetische Amt eigenmächtig an sich reißt: 20 a Doch der Prophet, b der sich vermessen sollte (LXX: ἀσεβήσῃ), c in meinem Namen ein Wort zu reden, d das ich ihm nicht befohlen habe zu reden, e oder der im Namen anderer Götter reden wird: f dieser Prophet muss sterben. 21 a Und wenn du in deinem Herzen sagst: b „Wie sollen wir das Wort erkennen, c das nicht Jhwh geredet hat?“ 22 a Wenn der Prophet im Namen Jhwhs redet, b und das Wort geschieht nicht c und trifft nicht ein, d so ist dies das Wort, e das Jhwh nicht geredet hat. f In Vermessenheit (LXX: ἐν ἀσεβείᾳ) hat der Prophet es geredet; g du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten.

V.20 hat zwei Fälle von „Vermessenheit“ vor Augen: Jemand redet „im Namen“ Jhwhs „ein Wort, das dieser „ihm nicht befohlen hat zu reden“ (c.d) 806 , oder jemand redet „im Namen anderer Götter“ (e.f). Im jesuanischen Kontext ist nur der erste Fall von Interesse. Er birgt das Problem, eigentlich nicht justiziabel zu sein, „denn die Beauftragung durch Jahwe lässt sich nicht nachprüfen“. Deshalb folgen V.21 f., die den ersten Fall vertiefen, „ohne […] auf der Todesstrafe zu beharren“807.

804  Von Rad, Dtn 88; zu Dtn  18,15–18 in der hebr. Bibel samt Übersetzungen, in Qumran und NT: W. Kraus, Bedeutung. 805  V.18: „Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen“; vgl. V.15.: „[D]as heißt, es ist ein Amt in Kontinuität“ (Rüterswörden, Dtn 124). Es gründet im „mosaischen Amt des Deuteronomiums“: „Mose ist Sprecher der Gebote und zugleich Prophet“ (ebd. 123). 806  Darauf bezieht sich mSan  11,4: „Ein falscher Prophet ist derjenige, der etwas prophezeit, was er nicht gehört hat und was ihm nicht gesagt worden ist“. Mit V.20 vgl. Jer  14,15. 807  Rüterswörden, Dtn 124; von Rad, Dtn 89: Das Dtn scheint den Hörern „ein untrüg­ liches Kriterium zur Unterscheidung von wahrer und falscher Prophetie an die Hand geben zu können: Die nur angemaßte Weissagung trifft nicht ein. Hinsichtlich dieses Kriteriums macht es sich der Prediger doch wohl zu leicht. Konnte man in einem Ernstfall die Frage der Legitimität des Propheten solange in der Schwebe lassen, bis es sich herausgestellt hatte, dass seine Botschaft eingetroffen war?“ Vgl. Jer  28,8 f. – Clements, Dtn 429, sieht die Überprüfbarkeit der Weisung bereits im restrikten „wie mich“ (V.15) angezeigt: „Prophets must be ‚like Moses,‘ by which it is intended to affirm that their teaching must accord with the words and spirit of Moses as Israel’s unique leader“.

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Trotzdem ist nach V.20 „Vermessenheit“ mit dem Tod zu bestrafen808 . Auch hier rahmt das Stichwort, das die LXX durchweg mit ἀσεβέω bzw. ἀσέβεια = Gottlosigkeit wiedergibt809, die Passage. Die genannten Tora-Texte standen ohne Zweifel auch zur Zeit Jesu in Geltung810 . Ihre Rezeption in den essenischen Texten aus Qumran zeigt ihre bleibende Relevanz. Die Tempelrolle greift sie nahezu unverändert auf811, ein weiterer Qumran-Text, 4Q375 Frg.  1: Kol.  1, bietet eine Adaption von Dtn  18 (vgl. auch 13,2–6; 17,13), die den erwähnten zweiten Fall aus Dtn  18,20e einer Falschprophetie „im Namen anderer Götter“ (V.20e) ausblendet und feststellt: (4) […] Doch der Prophet, der auftritt und der (5) [Abwegiges] unter dir redet, [um] dich [abzuwen]den von deinem Gott, soll getötet werden812 . Der Fortgang des Textes813 bestätigt, dass ein innerjüdischer Konflikt, nicht Abfall und Verführung zu fremden Göttern im Blick steht. Beachtlich ist die Beobachtung: „[D]er theologische Gebrauch“ von ‫ = זדון‬Vermessenheit, der in der hebräischen Bibel „nur sporadisch“ begegnet, ist in den essenischen Texten aus Qumran „vorherrschend“814.

Die Texte erlauben folgende Hypothese: Unter Rekurs vor allem auf Dtn  17,12 f. und 18,20 815 klagten die hohen Priester Jesus der „Vermessenheit“ an816 . Sie hielten 808  Rüterswörden, Dtn 124: Die Strafandrohung an einen Amtsträger (hier den Propheten) ist „innerhalb des Ämtergesetzes“ „einmalig“. 809  Septuaginta Deutsch, EuK I 573: ἀσέβεια = Gottlosigkeit ist gegenüber dem Konsonantentext „semantisch eine Verschärfung“; gleiches gilt zu Dtn  17,13 und 18,20 (siehe oben). 810  Dahmen, Deuteronomium 269: „[D]as Deuteronomium (macht) dem Psalter dessen Spitzenstellung als meistbelegtes, meistzitiertes und am stärksten rezipiertes biblisches Buch in den Texten vom Toten Meer mehr als streitig“. 811  11Q19 56,8–11; 61,2–4 (Maier, Tempelrolle 57.61 f.). Vgl. auch 2Q11 = 2QDeutb: Dtn  17,12– 15. Dahmen, Deuteronomium 303: „das Dtn stand offenbar stärker als manch anderes biblische Buch, eventuell sogar als manches Tora-Buch, in einer solch hohen Autorität und (quasi-kanonischen) Geltung, dass die Freiheit der Variation doch schon erheblich eingeschränkt war“. 812  Maier, Qumran-Essener II 324. 813  „Und wenn der Stamm sich erhebt, (6) von dem er stammt, und sagt: ‚Er wird nicht getötet, denn er ist gerecht, ein Prophet, ein (7) [ve]rlässlicher, ist er!‘, dann kommst du mit diesem Stamm und (mit) deine(n) Ältesten und (mit) deine(n) Richter(n) (8) [z]u dem Ort, den dein Gott sich erwählen wird in einem deiner Stämme, (und zwar) vor (9) [den] gesalbten Priester, auf dessen H[a] upt das Salböl gegossen worden ist […]“. – Sollamo, Art. zādȏn 828, bezieht auch 1Q29  Frg. 13 (3: „Gedanke von Anmaßung“) und 14 (1: „ein Geist von Anmaßungen“) auf einen „Propheten, der zum Abfall verführt“. Ferner 4Q169 Frg.  3 –4: 3,4 f. (4: „wegen der Anmaßung ihrer Schuld“; in 5 mit dem Stichwort „verführen“ verbunden). 814  Ebd. 829. „Die Überheblichkeit richtet sich gegen die Auserwählten Gottes, letztendlich aber auch gegen Gott selbst“. Vgl. auch Scharbert, Art. zûd 550–556. – Die LXX übersetzt den Terminus gelegentlich mit ὕβρις: Spr  11,2; 13,10; Jer  27(50),32; Ez  7,10. 815  Wenn Pseudoprophetie, die sich eigensüchtig Gottes bedient, als Lästerung verstanden wurde, könnten auch andere Toratexte von Bedeutung gewesen sein wie Lev  24,16 oder Num  15,30 f. 816  Zum Stichwort „Vermessenheit“ vgl. auch Jer  49,16 (Kennzeichen Edoms); 50,31 f. (Name Babels); Ob  3 (Edom); ferner Ez  7,10 (Kennzeichen der letzten Zeit); beachtlich auch Lev  6,19 (LXX: τὴν ὕβριν τῆς ὑπερηφανίας); Sir  48,18 (ὑπερηφανία). Die LXX-Übersetzung von Num  15,30  f deutet das hebräische „mit erhobener Hand“ als „Ausdruck der Arroganz“ (S.EuK I 469): ποιήσει

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ihn für einen Pseudopropheten 817, als den er sich durch In-Frage-Stellung des Tempels als Gottes ewiger Wohnstatt endgültig entlarvt habe. Was aus der Binnen-Perspektive der genuinen Jesus-Worte und ihrer nachösterlichen Rezeption als Auftritt mit Autorität und „Vollmacht“ erscheint („Amen, ich sage euch“), war für die hohen Priester „Vermessenheit“, die gemäß der Tora mit der Todesstrafe zu belegen sei. Mit ihrer genuin theologischen Anklage verbanden die hohen Priester ihre Sorge um den Bestand des Tempel-Gemeinwesens, den sie angesichts der prekären politischen Situation durch Unruhestifter wie Jesus, der zudem eine nicht unbeträchtliche Zahl von Sympathisanten und einen engeren Anhängerkreis hatte, gefährdet sahen (vgl. Joh  11,48). Wie Jesus auf die Anklage reagierte, ob er geschwiegen oder sich verteidigt hat, wissen wir nicht. Über dem nächtlichen Verhör durch die hohen Priester liegt ein Schleier, der sich nicht lüften lässt. Andere derzeit diskutierte Hypothesen können nur teilweise überzeugen: (a) Für die vor allem von August Strobel vertretene Annahme, Jesus sei als „Verführer“ angeklagt worden, lässt sich auf Dtn  13 rekurrieren818 . Dort werden drei Rechtsfälle behandelt: Anstiftung zum Abfall von Jhwh erstens durch einen „Propheten oder Traumseher“, der auch „Zeichen oder Wunder“ wirkt (Dtn  13,2–6), zweitens durch engste Verwandte oder Freunde (Dtn  13,7–12), drittens durch eine Gruppe „nichtsnutziger Männer“, die eine ganze Stadt zum Abfall bringen (Dtn  13,13–19). Jedes Mal geht es um „Verführung“ zu „anderen Göttern“ (Dtn  13,3.7.14). Die LXX benutzt dafür das Verb πλανάω819. Die frühjüdischen Adaptionen dieses Rechtstextes dehnen den Tatbestand Strobel zufolge auf „Verführer gleich welcher Art“820 aus. Philo etwa handle in SpecLeg  1,315 f. (zu Dtn  13,2– 6 und 7–12) von jemandem, „der sich den Namen und die Würde eines Propheten anmaßt, sich als Verzückter und Besessener gebärdet und zum Dienst der in den Städten verehrten Götter (πρὸς τὴν τῶν νενομισμένων κατὰ πόλεις θρησκείαν θεῶν) zu verführen sucht“ – „ein Schwindler und kein Prophet […], da er Sehersprüche und Orakel in lügenhafter Weise ­erdichtet hat (ψευδόμενος λόγια καὶ χρησμοὺς ἐπλάσατο)“ (315). „[D]as Thema der Verführung einzelner und des Volkes“ spiele auch in Qumran821 und im pseudepigraphen Schriftἐν χειρὶ ὑπερηφανίας; vgl. Lev  26,19.– Interessant ist der Lasterkatalog Mk  7,22: „Das Substantiv ὑπερηφανία (7,22) steht zwischen βλασφημία Lästerung (Gottes) und ἀφροσύνη, der widergöttlichen Haltung des Toren“: Bertram, Art. ὑπερήφανος 529. – Vgl. auch Dtn  21,23 (Symmachus), wo es statt ὅτι κεκατηραμένος ὑπὸ θεοῦ (LXX) heißt: ὅτι διὰ βλασφημίαν θεοῦ ἐκρεμάσθη (Field [Hg.], Origenis Hexaplorum 304). 817  So auch Weiß, Evangelium 312; J. Jeremias, Abendmahlsworte 73 (siehe oben 2.4.2 unter [d]); W. Kraus, Bedeutung 174: „Die längerfristige, innere Ursache für den Konflikt liegt […] in Jesu ‚Anmaßung‘, analog einem ‚Propheten wie Mose‘, Gottes Willen zu kennen und zu verkündigen“; Sänger, Verflucht 106; Dietzfelbinger, Sohn 163: „Man ist gegen Jesus mit Hilfe von Dtn  13 und 17 vorgegangen, da er als falscher Prophet zu gelten habe. Als solcher habe er den Tod verdient, da die Tora gebiete, dass ein falscher Prophet aus Israel auszuscheiden sei“. 818  Strobel, Stunde 55–61.81–86; Blinzler, Prozess 186 f.; außerdem Bühner, Jesus. 819  Dtn  13,5; vgl. auch Jer  23,13.32; Ez  13,10; 14,9; Mi  3,5. 820  Strobel, Stunde 84. 821  1QM  14,9 f.: „Und durch alle Geheimnisse seiner Feindschaft haben sie [uns] nicht abgebracht von deinem Bund …“; 1QH  4,6 f.: „aber sie [verführen] dein Volk; denn glatte Reden sprechen sie zu ihnen. Und Lügendeuter haben sie [verfüh]rt, und sie wurden niedergeworfen ohne Erkenntnis […]“; 4QpNah  2,8; 4QpHos  2,5: „[…] auf ihre Irreführer haben sie gehört und ehrten sie und wie (vor) Göttliche(n) fürchteten sie sich vor ihnen in ihrer Blindheit“; kurz zuvor ist von Baal die Rede, weshalb es um Abfall zu „anderen Göttern“ geht; CD  12,2 f.: „Jeder Mann, über

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tum822 eine „große Rolle“. „Unschwer“ könne „auf die frühe gesetzliche Erfassung des Sachverhalts rückgeschlossen werden“823. Auch Sanh  90a beziehe sich darauf824. Hier interessiert der erste Rechtsfall Dtn  13,2–6, weil er von einem Propheten handelt, der (wie Jesus) „Zeichen und Wunder“ wirkt. Aber im Toratext geht es (wie in den anschließend genannten Fällen) um „Verführung“ zum Abfall zu „anderen Göttern“. Dieser konnte Jesus nicht bezichtigt werden. Dass der Tatbestand der „Verführung“ später auf alle möglichen Fälle ausgedehnt wurde, trifft zu. Philo bezieht ihn auf die multireligiöse Situation der hellenistischen Städte mit ihren fremden Göttern, in den Belegen aus Qumran spielt die Opposition der Sektenglieder zu ganz Israel eine Rolle. Auch die Umwandlung des Gedankens der „Verführung“ in einen endzeitlichen Topos ist belegt825. Strobel verweist auf neutestamentliche Stellen, die tatsächlich Jesus einen πλάνος nennen und auch das Verb πλανάω u. ä. für ihn benutzen826 . Die Termini begegnen in späten Schriften, die mit dem jüdischen Vorwurf eines „Abfalls“ vom wahren Gott Israels konfrontiert waren, so im vierten Evangelium, das auf den synagogalen Angriff reagiert, das Bekenntnis zu Jesus als eingeborenem Sohn Gottes sei Abfall vom biblischen Ein-Gott-Glauben827. Mt  27,63 f. zeigt, „auf welcher Ebene die Auseinandersetzungen zwischen Matthäusgemeinde und Synagoge geführt wurden“828 . Die wenigen Belege von Termini in der Passionserzählung, die als Synonyme zu πλανάω gelten können (Lk  23,2.5.14), sind ebenfalls sekundär und haben mit Dtn  13 nichts zu tun. Der Vorwurf lautet „Volksaufwiegelung im politischen Sinn“829 (crimen laesae maiestatis), nicht Verführung zur Abgötterei im Sinne von Dtn  13 und 17.

den die Geister Belials herrschen, so dass er Abfall predigt (‫)ודבר סרה‬, soll nach der Satzung für Totenbeschwörer und Wahrsagegeister gerichtet werden“ (vgl. Dtn  13). 11QT  54,8–18 (Dtn  13,1– 5); 54,19–55,1 (Dtn  13,6–11); 55,2–14 (Dtn  13,12–18); 55,15–21 (Dtn  17,2–5); 56,?-? (Text nicht erhalten, vermutlich Dtn 17,5–7); 56,?-11 (Dtn  17,8–13). Zur Rezeption des Dtn in Qumran vgl. Dahmen, Deuteronomium 269–309. 822  1Hen   94,5: „Und behaltet meine Rede in den Gedanken eures Herzens, und (sie) soll nicht aus euren Herzen getilgt werden, denn ich weiß, dass die Sünder die Menschen verführen, die Weisheit böse zu machen (= verfälschen?), so dass kein Platz für sie gefunden wird (vgl. 42,1a), und keine Versuchung nachlassen wird“; 98,15 u. a. Hier geht es um einen apokalyptischen Topos, der auch in Mk   13,22 begegnet (ἀποπλανᾶν). Pesch, Mk   II 299, zufolge steht im Hintergrund Dtn  13,2 f.; vgl. auch 2Thess  2,8–10; Did  16,4. – AscIsa erzählt von „Lügenpropheten“, die gegen Jesaja aufstehen und Abfall von Jhwh predigen; sie werden mit König Manasse, den Baalspriestern und Samaria in Verbindung gebracht: AscIsa  2,12.15; 3,1.10–12; 5,12. 823  Strobel, Stunde 84. 824  Manche Rabbinen (siehe San  9 0a) beziehen Dtn  13 auch auf „Anstifter zu andern verbotenen Handlungen“ (Cohn, Philo II 98 Anm.  1 [I. Heinemann]). 825 Vgl. Mk   13,22; möglicherweise steht hinter den Wertungen des Jos, Bell   2,259–260 („Schwarmgeister und Betrüger“ [πλάνοι γὰρ ἄνθρωποι καὶ ἀπατεῶνες], die „Zeichen“ versprachen, „welche die Freiheit ankündigten“ [σημεία ἐλευθερίας]“) Dtn  13,2–6. 826  Dtn  13,6LXX: πλανῆσαί σε; 13,11LXX: ἀποστῆσαί σε; Mt  27,63 (ἐκεῖνος ὁ πλάνος); V.64 (καὶ ἔσται ἡ ἐσχάτη πλάνη χείρων τῆς πρώτης); Joh  7,12: „er verführt (πλανᾷ) das Volk“; V.47: „Habt etwa auch ihr euch verführen lassen (μὴ καὶ ὑμεῖς πεπλάνησθε)?“, sagen die Pharisäer. Vgl. auch Lk  23,2 (διαστρέφοντα); V.5 (ἀνασείει); V.14 (ἀποστρέφοντα). – Blinzler, Prozess 187. 827 Vgl. Theobald, Joh   I 381–383.513. Dtn  13,2 f. könnte auf Joh  11,47 f. eingewirkt haben: ­Jesus, ein „Pseudoprophet“, der „Zeichen und Wunder“ wirkt und alle zum Abfall verführt. 828  Strobel, Stunde 86: „Der Text, obschon stark legendär gefärbt, ist Ausdruck einer spezifischen juristischen Einordnung Jesu“. 829  Blinzler, Prozess 187.

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(b) Die Annahme, gegen Jesus sei der Vorwurf der Zauberei erhoben worden830 , kann sich auf Äußerungen von Gegnern Jesu in Galiläa zu seinen Exorzismen berufen (Mk  3,22; Mt  9,34; vgl. auch Joh  8 ,48; 10,20), nicht auf die Prozesserzählungen. (c) Eyal Regev meint unter Verweis vor allem auf Bestimmungen des Buches Numeri831, Jesus sei angeklagt worden, weil er dem Allerheiligsten unberechtigt „nahe“ gekommen sei832 . Auch Erzählstücke prägten diese Norm ein bzw. veranschaulichten sie, so 2Sam  6 ,6 f.833 und 1Chron  13,9 f. 834. Philo nimmt auf sie in LegGai  307 f. Bezug: „[…] So streng ist der Schutz für das Allerheiligste, das der Gesetzgeber allein von allen Teilen des Tempels unbetreten und unberührt gehalten wissen wollte“ (308). Jeder, der das Allerheiligste unbefugt betritt, habe „das Todesurteil zu erwarten, gegen das es keine Berufung gibt“ (307) 835. Weil das unbefugte „Sich-dem-Tempel-Nahen“ in der Regel die Usurpation eines priesterlichen Dienstes etc. oder das unbefugte Betreten des Allerheiligsten meint, geben diese Bestimmungen für das Vorgehen gegen Jesus nichts her.

Die sadduzäisch gesonnenen Priester hielten Jesus aufgrund seines Selbstanspruchs für einen Falschpropheten. Überzeugt vom dauerhaften, ja ewigen Bestand des Tempels als Gottes Wohnstatt in Israel war der Konflikt mit Jesus, der die nahe Vollendung des Gottesreichs proklamierte, das alle irdischen Institutionen überholen sollte, unvermeidlich. Klagten sie ihn auf „Vermessenheit“ (‫ )זדון‬an, auf Hybris gegenüber Gott und seinen Rechtsordnungen, dann ist der Vorwurf der „Blasphemie“, den die PEG namhaft macht, nicht weit weg836 . Die Überlieferungsgeschichte der Rats-Szene in den Evangelien (von der PEG über Mk  14,55–64837 hin zu Joh  10,33.36; vgl. 5,18; 19,7) zeigt eine erstaunliche Transformation des „Blasphemie“-Vorwurfs838 , die mit unterschiedlichen Faktoren zusammenhängt: Nicht nur 830 M. Smith, Jesus (dazu Bühner, Jesus 156–175); Bammel, Jesus; Sheets, Jesus 27–49; ältere Lit. samt Angaben zu den jüdischen und christlichen Quellen bei Blinzler, Prozess 188 mit Anm.  13 und 14; vgl. Schneemelcher, Apokryphen II 419 (Brief des Pilatus an Kaiser Claudius). 831  Num  1,51: „Wenn die Wohnstätte weitergetragen werden soll, sollen die Leviten sie abbauen, und wenn die Wohnstätte das Lager bezieht, sollen die Leviten sie aufstellen. Wer ihr (sc. der Wohn­ stätte) zu nahekommt, ohne dazu befugt zu sein, wird mit dem Tod bestraft“; vgl. Num  3,10.38; 4,20; 18,3.7. 832  Regev, Concerns 81 Anm.  63. 833  2Sam  6 ,6 f. „Als sie zur Tenne Nachons kamen, brachen die Rinder aus und Usa streckte seine Hand nach der Lade Gottes aus und fasste sie an. Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Usa und Gott erschlug ihn auf der Stelle wegen dieser Vermessenheit, sodass er neben der Lade Gottes starb.” 834  1Chron  13,9 f. „(9) Als sie zur Tenne Kidons kamen, brachen die Rinder aus und Usa streckte seine Hand aus, um die Lade festzuhalten [Im Unterschied zu 2Sam 6,6 fasst er die Lade nicht einmal an – und muss dennoch sterben]. (10) Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Usa und er erschlug ihn, weil er seine Hand nach der Lade ausgestreckt hatte, sodass er dort vor Gott starb“. 835  Vgl. 11QT  35,1–8 (Maier, Tempelrolle 42); 4Q266 Frg. 6: 2,6.9–10 [?]. 836  Die Rabbinen, die ihrem Verständnis von Blasphemie neben Lev  24,10–16 auch Num  15,30 f. zugrunde legen, sehen den Tatbestand der Blasphemie dann als gegeben an, wenn jemand „in frecher Weise von der Tora spricht“ (SifBem  112 zu Num  15,30). „Vermessenheit“ und „Gottes­ lästerung“ sind miteinander verwandt. Zum unterschiedlichen Verständnis von Blasphemie im frühen Judentum vgl. Bock, Jesus 76–78. 837  Die Menschensohnchristologie von Mk  14,62c verdankt sich dem ältesten Evangelisten (siehe oben II.  8.2). Deshalb führen auf ihr fußende Annahmen zur historischen Situation (z. B. von Bovon, Jours 51 f.) in die Irre. 838  Dazu oben II.  8 .1 unter (5), 8.2 unter (2) und 8.7 unter (3).

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das Verhältnis der sich zu Jesus bekennenden Gemeinden zum Judentum wandelte sich, auch ihr eigener Christusglauben. Wenn es in der Zuspitzung der Johannespassion heißt, Jesus habe „sich selbst zum Sohn Gottes gemacht“ (Joh  19,7) bzw. er, „ein Mensch“, mache sich selbst zu „Gott“ (10,33), spiegelt sich darin die johanneische Überzeugung von der Göttlichkeit des inkarnierten Logos wider (1,1.18). Die Initialzündung für den Blasphemie-Vorwurf gab – historisch betrachtet – die Anklage der hohen Priester auf „Vermessenheit“, mit der sie Jesus in der Nacht vor seinem Tod konfrontierten. 2.5.4 Der Konnex von Synedrion- und Pilatus-Szene in der PEG : Wie kam es zur Anklage auf Königsprätendentenschaft? „Der für die Geschichte der ältesten Christologie so wichtige Text Mk  14,55–64, das Verhör vor dem Hohen Rat, ist in historischer Hinsicht völlig unergiebig“839. Wer dieses Urteil teilt, hat mit dem Einwand zu rechnen, dass die unvermittelte Frage des Pilatus an Jesus: „Bist du der König der Juden?“ die entsprechende Frage des Hohepriesters: „Bist du der [g]esalbte (König), der Sohn des Hochgelobten?“ voraussetzt. Ist „die Historizität der Kreuzesinschrift“ nicht „zu bezweifeln“840 , dann sind auch seine Anklage auf Usurpation königlicher Würde und seine Bejahung der Frage des Hohepriesters an ihn historisch. Martin Hengel und Anna Maria Schwemer erklären: „Die Messiasfrage war von Anfang bis zum Ende die Grundfrage des Prozesses“ 841. Eine unvermittelte historische Auswertung des Konnexes von Synedrion- und Pilatus-Szene842 scheitert indes an verschiedenen Einsichten843. So ist die Frage, die der Hohepriester an Jesus richtet, ob er „der Messias“ (ὁ χριστός) sei, historisch nicht plausibel. Es gab im frühen Judentum nicht „den Messias“. Die Messiaserwartungen waren vielgestaltig, nicht uniform. Zum anderen hätte ein Bekenntnis, „der Messias“ zu sein, Jesus nicht den Vorwurf der „Blasphemie“ eingebracht. „[D]as Judentum hat niemals den Anspruch eines Messiasprätendenten als Lästerung betrachtet und auch gegen Bar Kochba, der als der Sternensohn auftrat und die Freiheit Israels vergeblich zu erstreiten suchte (132–135 n.Chr.), nicht diesen Vorwurf erhoben, obwohl das Scheitern seines Vorhabens erwiesen hatte, dass er nicht der Messias gewesen sein konnte“844. Deshalb kann die an Jesus gerichtete Frage des Hohepriesters so nicht gestellt worden sein. Ausgehend vom titulus crucis hat die 839 F. Hahn, Hoheitstitel 177; abgesehen von der Verspottungsepisode mit ihrem Fingerzeig auf Falschprophetie, vgl. oben III.  2.5.2 unter (d). 840  Ebd. 178; siehe oben III.  2.2.1. 841  Hengel/Schwemer, Jesus 604 (im Original kursiv). – Paulus, Prozess 11: „aus historischer Betrachtungsperspektive schwerlich haltbar“; 842  Vgl. den Scharniervers: „Und […] in der Frühe ließen die hohen Priester Jesus fesseln und abführen (ἀπήνεγκαν) und lieferten (ihn) (παρέδωκαν) Pilatus aus“ (PEG: Nr.  7 A). Dem entspricht aus der Jesus ben Ananias-Erzählung: οἱ ἄρχοντες … ἀνάγουσιν αὐτὸν ἐπὶ τὸν παρὰ Ῥωμαίους ἔπαρχον (Jos, Bell  6 ,303). 843  Siehe oben II.  8 .7 unter (3) wie vor allem die Analysen in III.  2.2.2. 844 E. Lohse, Geschichte 87.

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PEG die Königstitulatur im Licht insbesondere von Psalm  2 einer „interpretatio christiana“ unterzogen und das Ergebnis – das nachösterliche Bekenntnis zu Jesus als „dem Messias“ und „Sohn Gottes“ – in die Bekenntnissituation der Synedrion-Sitzung zurückprojiziert. Wie ist der historische Konnex zwischen der nächt­ lichen Sitzung des Hohepriesters mit seinem Beirat und dem Pilatus-Prozess am kommenden Morgen dann zu denken? Wenn die nächtliche Sitzung „rein informatorischen Charakter“ besaß und „nur die Klage vor dem Prokurator vorbereiten“ sollte845 , was enthielt diese Klage? Hartnäckig hält sich die Annahme, die hohen Priester hätten vor Pilatus eine religiöse Streitfrage absichtlich in eine politische umgemünzt, weil sie gewusst hätten, nur so die Verurteilung Jesu durch den Präfekten zu erreichen846 . Man unterstellt ihnen Verschlagenheit und Unlauterkeit847. Dagegen spricht der Anachronismus der Annahme, Religion und Politik voneinander trennen und auf unterschiedliche Institutionen verteilen zu können. „Eine religionslose Politik gab es […] in jenen Gesellschaften so wenig wie eine unpolitische Religion“848 . Das vierte Evangelium verleitet freilich zur alternativen Sicht, wenn es Jesus erklären lässt: „Meine βασιλεία ist nicht von dieser Welt“ (18,36). Die damit gegebenen Unterscheidung zweier Reiche, die auch Lukas auf seine Weise betreibt, ist apologetisch bedingt und will klarstellen: Auch wenn sich die christliche Gemeinschaft auf einen Mann beruft, der von den Römern gekreuzigt wurde, geht von dieser keinerlei Gefahr für das Imperium aus849. Die hohen Priester verklagten Jesus als falschen Propheten, der versucht habe, das Volk von seinem Gott abzubringen, eine Anklage, die religiöser und politischer Natur zugleich war. Zutreffend spricht Guido O. Kirner von „zwei Seiten derselben Medaille“850 .

845 F.

Hahn, Hoheitstitel 177; ebenso E. Lohse, Geschichte 87 f. Blinzler, Prozess 248: An die Stelle von „Gotteslästerung“ tritt „Hochverrat“; Hengel/ Schwemer, Jesus 598, sprechen von einer „Umdeutung“ in eine „jetzt plötzlich politisch interpretierte Messiasfrage“; Söding, König 120, bemühten die hohen Priester „den Arm des Staates, um eine religiöse Kontroverse zu beenden“, während Pilatus „nicht zwischen Religion und Politik“ zu unterscheiden wusste. 847  Blinzler, Prozess 448, spricht von „Voreingenommenheit der Richter“ und „böswillig(er)“ Beschuldigung Jesu vor Pilatus und „bewusste(r) Entstellung der ihrem eigenen Urteil zugrunde liegenden Anklage“; G. Lohfink, Tag 36 f.: „höchst fragwürdige und keineswegs einwandfreie Methoden“; Wenz, Studium Bd.  5, 278 f.: Bewusste Täuschung „aus Gründen politischen Kalküls“; vorsichtig Bösen, Tag 216: „‚[n]otwendige‘ Akzentuierung oder böswillige Umdeutung?“; Brown, Death I 359 Anm.  69: „The different titles are simply a way of dramatizing that the Jewish and Roman authorities were concerned with different issues (or different aspects of the same issue)“. – Ausdrücklich gegen eine Unterstellung unethischer Motive E.W. Stegemann, Angesicht 31; Häfner, Tod 148–150. 848  Moltmann, Gott 130; ebenso Horsley, Death 397; Bovon, Jours 52 f., u. a. 849  Für Lk vgl. die drei (!) Unschuldserklärungen des Pilatus (Lk  23,4.14.22) oder die Rede des Statthalters Gallio in Apg  18,14 f.! 850  Kirner, Strafgewalt 262; ebd. 261: „eine Art ‚Übersetzung‘ der Anschuldigung von jüdischen zu römischen Kriterien“ (unter Voraussetzung allerdings der Historizität von Mk  14,61 f.); „die jüdischen Ankläger“ verlagerten „den Akzent ihrer Anschuldigungen vom Religiösen auf das Politische […], indem sie bestimmte Selbstaussagen Jesu in einen politischen Herrschafts­ anspruch ummünz(t)en“ (279). 846 

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Wie konnte aus einer Anklage auf Falschprophetie bei Pilatus eine solche auf Usurpation königlicher Herrschaft werden, vorausgesetzt, der Präfekt hat Jesus unter dem Titel „König der Juden“ ans Kreuz schlagen lassen? Eine Antwort ergibt sich aus Jesu vollmächtiger Proklamation der Königsherrschaft Gottes. Im zeitgenössischen Kontext konnte ihm sein Auftreten, in dem die hohen Priester „Vermessenheit“ sahen, leicht als Anspruch auf königliche Vollmacht (βασιλεύς) ausgelegt werden, auch wenn dies seinem Selbstverständnis zutiefst widersprach851. Er wurde Opfer von Wahrnehmungsmustern, die sich herausgebildet hatten, als aufrührerische Königsprätendenten der jüdischen Freiheitsbewegung den Tempelwächtern Ängste um den Bestand ihrer Herrschaft einjagten852 . So macht es Sinn, dass sie ihre Anklage auf „Vermessenheit“ dem Präfekten mit dieser Pointe weiterreichten853: Jesus – ein gleichermaßen für sie wie die Besatzer gefährlicher Königsprätendent, den es zu beseitigen galt854! 2.6 Das Strafverfahren gegen Jesus vor Pilatus In der Nacht unterzogen der Hohepriester und sein Beirat Jesus einem Verhör, beschlossen seine Auslieferung an Pilatus und bereiteten die Anklage gegen ihn vor. Am frühen Morgen „übergaben“ sie Jesus dem Statthalter und beantragten ein Strafverfahren. Soweit scheinen die Umstände klar zu sein855. 851 E. Lohse, Geschichte 89: „die Anklage, Jesus habe sich als König der Juden ausgegeben“, könnte „auf eine absichtliche [?] Verdrehung seiner Predigt von der Königsherrschaft Gottes gegründet worden sein“; Theißen, Dimension 115–117 („Jesus und die Erwartung seiner messianischen Herrschaft“): Jesus zog mit seinem Wirken politische Erwartungen auf Übernahme einer Herrscher-Rolle auf sich, selbst im Schülerkreis, wenn sein Wort gegen Simon: ὕπαγε ὀπίσω μου, σατανᾶ (Mk  8 ,33), auf derartige Zumutungen reagiert; vgl. auch Evans, Jesus 318: „The inscrip­ tion, ‚the king of the Jews‘, provides a firm link between Jesus’ death and his proclamation of the kingdom of God“. 852  Hengel, Zeloten 290: Das „Ideal der Theokratie“ der jüdischen Freiheitsbewegung des 1.  Jh.s schloss „eine von Gott beauftragte Führergestalt“ nicht aus; siehe unten Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc. 853  Möglicherweise in kurzer, schriftlicher Form auf Griechisch; Bösen, Tag 216, reduziert den Konnex von Synedrion- und Pilatus-Szene auf die Frage der Übersetzung: Pilatus hätte die Rede vom Χριστός = dem Gesalbten nicht verstanden, weshalb die Ankläger βασιλεύς gewählt hätten – auch um die schon im Messiastitel enthaltene „politische Dimension“ zu betonen. 854  Niemand, Jesus 431 f., zufolge brachte erst die römische Behörde die Anklage auf aufrührerische Königsprätendentenschaft auf, weil eine derartige Anklage aus dem Mund der „hohen Priester“ für sie selbst „inkriminierend“ gewesen wäre; Pilatus hätte ihnen unterstellen können, dass sie „zwar einen Königsanspruch Jesu ablehnten, nicht aber die Hoffnung auf ein jüdisches National-Königtum selbst“; ähnlich Egger, Crucifixus 199: „Was lag für einen römischen Statthalter näher, als einen Mann, der behauptet, er habe in seinem Wirken die βασιλεία τοῦ θεοῦ bereits Ereignis werden lassen, als βασιλεύς ans Kreuz zu hängen?“ – Plausibler ist es, den Diskurs über einen möglichen Zusammenhang zwischen Jesu Botschaft von der Königsherrschaft Gottes und seinem eigenen Anspruch aufseiten der hohen Priester anzusiedeln, die um Jesu Profil wussten, Pilatus nicht. 855  Kirner, Strafgewalt, 264, zufolge „vermittelt unter den Synoptikern allein Lk den Eindruck einer formellen Anklage“; ebd. 279: „Offen bleibt, ob die Klagen vor dem Statthalter denunziatorischen oder akkusatorischen Charakter hatten“ (vgl. 288). Zwischen denuntiatio (Anzeige durch Dritte) und accusatio (jemand tritt als Ankläger auf und wird offiziell als solcher zu-

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Problematisch wird es, wenn das Strafverfahren rekonstruiert werden soll. Der spezifische Charakter der PEG scheint dies nahezu unmöglich zu machen. Uninteressiert an prozessualen Fragen856 und unter weitgehendem Verzicht auf spezifische Rechtsterminologie857 berichtet die PEG von keinem Verfahren, das in sich stimmig wäre. Sie nennt wohl Elemente, die zu einem Strafverfahren gehören, wie das Auftreten von Klägern und die Befragung des Beklagten zu den vorgebrachten Anklagen. Aber schon die merkwürdige Abfolge dieser beiden Elemente und ihre Gestaltung machen stutzig: Zuerst stellt der Präfekt dem ihm überstellten Gefangenen die entscheidende Frage („Bist du der König der Juden?“), dann bringen die Kläger ihre Anklagen vor. Die PElk/joh rückt beides durch Umstellung zurecht, und später wird Lukas sich genötigt sehen, dem Geschehen einen rechtlichen Anstrich zu geben858 . Zudem sind beide Elemente ihrer juristischen Funktion entkleidet und dem übergeordneten Erzählziel dienstbar gemacht. An sich pflegt der Richter mit seiner ersten Frage die Identität des Angeklagten (Herkunft und weitere Merkmale) festzustellen. Hier geht die Identitätsfrage aufs Ganze859 und ist (wie die Frage des Hohepriesters, ob er „der Messias, der Sohn des Hochgelobten“ sei) so formuliert, dass die Antwort des „Verhörten“ bekenntnishaften Charakter erhält. Die nachgeschobene Notiz: „Und die hohen Priester brachten viele Anklagen gegen ihn vor“, gelassen [= delatio nominis]) ist zu unterscheiden: siehe oben III.  1.3.4 unter (1) gegen Ende sowie Paulus, Bemerkungen 443; Kirner, 265 Anm.  72. – Einer eindeutigen Klärung dieser prozeduralen Frage steht die Textgattung im Wege: Wenn Mk und Mt im Anschluss an die PEG im Unterschied zu Lk und Joh das Verhör nicht mit der Anklage eröffnen, ist das der Prädominanz der Bekenntnisfrage: „Bist du der König der Juden“ geschuldet und kann nicht als Indiz gegen einen akkusatorischen Charakters des Verfahrens ausgewertet werden. Der Fortgang der Erzählung setzt umstandslos die Anwesenheit der „hohen Priester“ als Ankläger voraus. Siehe auch unten III.  2.6.2 unter (1) (b). – Rosen, Prozess 131, mutmaßt: „Die Anklage des Synhedrion wurde wohl mündlich vorgetragen und in einem Libellus inscriptionis überreicht“. 856  Brown, Death I 711: „practically no legal details of Pilate’s trial of Jesus are in fact reported“. 857  Pesch, Mk II 456, verweist zwar auf συμβούλιον ἑτοιμάζειν, δέω, ἀποφέρω, παραδίδωμι oder αἰτέομαι (ebd. 463: „αἰτέομαι [Mk  15,8] gehört wie das Kompositum V.6 zur Rechtssprache“), aber teils sind diese Wendungen zu unspezifisch, teils nicht strikt juristisch verwendet (zur möglichen Ausnahme παραδίδωμι siehe unten 2.6.1.4). 858  Siehe oben II.  9.4; Sherwin-White, Society 32: „Luke at first reading gives the most intelligible account of the trial as a whole, and Mark the least [!]“; die Zusätze des Lk sind alle „technically correct“. – Die späten Pilatus-Legenden sind erst recht daran interessiert, „das Verfahren gemäß der römischen Prozessordnung zu vervollständigen“ (Demandt, Pontius Pilatus 94). ­Justin, 1Apol  35 (vgl. 48), will von „unter Pontius Pilatus geführten Akten“ wissen und Tertullian, Apol  21,24, davon, dass Pilatus dem Kaiser Rapport über den Prozess erstattet habe: „omnia super Christo Pilatus, et ipse pro sua conscientia Christianus (selbst schon seiner inneren Überzeugung nach Christ), Caesari tunc Tiberio nuntiavit“. 859  Die Fragen des Pilatus an Jesus werden mit ἐπερωτάω eingeführt, was die Vg. mit interrogare übersetzt. „Im strafrechtlichen Gebrauch ist quaerere mit dem verstärkten, aber nicht technisch verwendeten inquirere […] die Frage des Strafrichters an den Angeschuldigten“. Formelhaft lautet die Frage des Richters quaeso, verbunden mit Präpositionen oder dem einfachen Objektakkusativ (de re oder rem bzw. crimen quaerere), aber nicht mit dem Akkusativ der Person, „da in dem Begriff nicht, wie in rogo, die Anfrage liegt, sondern die Ermittelung“ (Mommsen, Strafrecht 147 Anm.  3, mit Belegen aus dem Geschichtswerk des Livius).

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scheint die Ankläger nach dem Muster der Frevler und Gegner des unschuldigen Gerechten porträtieren zu wollen. Bemerkenswert ist, was bei einem Prozessbericht erwartbar wäre, hier aber fehlt860: eine Anhörung von Zeugen, eine Konfrontation der Ankläger mit dem Angeklagten zur Feststellung der Schuld861, eine Beratung des Präfekten mit einem Consilium862 , ein Schuld- und Urteilsspruch am Ende863. Von möglicher Anhängerschaft Jesu ist nicht die Rede (vgl. Joh  18,19), auch nicht von einer Bewegung, die er im Volk angezettelt hätte. Befremdlich ist der Amnestievorschlag des Statthalters, weil er die Schuld Jesu, die bislang nicht festgestellt wurde, als gegeben voraussetzt. Angesichts dieses Befundes bedarf es größter methodischer Sorgfalt, hinter den Text, der an der theologischen Botschaft, nicht an rechtlichen Fragen interessiert ist, zurückzugehen, um das Verfahren in Umrissen zu eruieren (2.6.1) und seine juristische Qualität zu bestimmen (2.6.2). Die Verspottungsepisode ist eigens auf ihre Historizität zu überprüfen (2.6.3). 2.6.1 Erkennbare Elemente des Verfahrens Ort des Geschehens war die befestigte Herodesburg im Nordwesten der Stadt auf dem heutigen Gebiet der Zitadelle, wo Pilatus zu den Festen residierte und seinen Amtsgeschäften nachging864. Strittig ist, ob er im Inneren der Burg865 Recht sprach oder auf einem Platz davor866 . Die PEG setzt einen offenen Platz voraus, wenn sie davon erzählt, dass die Soldaten im Anschluss an die Verhandlung Jesus „ins Innere (ἔσω) des Palastes“ brachten (Mk  15,16) 867. Joh  19,13 weiß von einem „gepflaster860  Der Ausfall der genannten Elemente könnte allerdings damit erklärt werden, dass es gar nicht zu einem regelrechten Verfahren gekommen ist und Pilatus mit Jesus „kurzen Prozess“ gemacht hat (siehe unten). Doch wenn die Erzählung primär theologisch interessiert ist, erlaubt sie auch nicht einen solchen Schluss e silentio. 861  Apg  25,16. 862  Apg  25,12; siehe oben III.  1.3.4 unter (2) (f). 863  Lateinische Berichte über Strafprozesse, etwa in Ciceros Verrinnen, benutzen für den Urteilsspruch das Verb condemnare (Kunkel, Prinzipien 16), dem das griech. κατακρίνειν entspricht; dieses begegnet wohl in der Verhandlung vor dem Hohen Rat (Mk  14,64; Vg: condemnaverunt eum esse reum mortis), aber nicht im Pilatus-Prozess (zu Lk  23,24; 24,20 siehe unten in 2.6.1.4). 864  So die Mehrheitsmeinung der Forschung: Küchler, Jerusalem 500–502 (Lit.); zu den alternativen Lokalisierungen Pixner, Wege 242–266, der für den Hasmonäer-Palast plädiert; gegen die Antonia-Hypothese E. Lohse, Statthalter 74 f. – Philo sieht den Statthaltersitz in der Herodesburg: LegGai  299.306. 865  Rosen, Rom 48 f.: Weil die Folterung Jesu nach Mk und Mt in cubiculo stattfand, dürfte dies auch für das Verhör gelten, denn „eine Mischung“ von coram publico und in cubiculo „kannte das römische Prozessrecht nicht. Pilatus’ Verfahren war keine öffentliche cognitio pro tribunali, sondern eine cognitio de plano, bei der er entscheiden konnte, wo sie stattfand. […] [D]ie explosive Stimmung im österlichen Jerusalem ließen es Pilatus […] geraten erscheinen, die Öffentlichkeit fernzuhalten“; ders., Prozess 127; Demandt, Prozess 176: ein Verfahren „hinter verschlossenen Türen“. 866  Pesch, Mk II 471; J. Gnilka, Mk II 307. 867  Mk verstärkt den Öffentlichkeitscharakter des Verfahrens, wenn er im Rahmen der „Pas­

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ten Hof“, dem „Lithostrȏton, auf Aramäisch Gabbata“, der sich vor dem Prätorium befindet, in dessen Innerem Pilatus Jesus verhört868 . Zugunsten der Vorstellung der PEG spricht das Zeugnis des Josephus, nach dem die Statthalter öffentlich Recht sprachen869. 2.6.1.1 Die Anklage: „König der Juden“ Die Pilatusszene der PEG weist merkwürdige Spannungen und Kehrtwendungen der Akteure auf: (a) Im ersten Verhandlungsgang äußert sich Jesus zu der ihm gestellten Frage („Du sagst es!“), schweigt aber zu den Anklagen, die anschließend gegen ihn vorgebracht werden870 . Dem sich äußernden und bekennenden Jesus steht der schweigende Jesus gegenüber. (b) Im zweiten Verhandlungsgang bezieht Pilatus Jesus „absurderweise“871 in das „Auswahlverfahren“872 des Begnadigungsaktes ein und behandelt ihn, als stünde seine Schuld nach dem ersten Verhörgang fest. Im Widerspruch dazu fragt er die hohen Priester, als sie die Freilassung des Barabbas von ihm fordern: „Was hat er (sc. Jesus) denn Böses getan?“ Die sich hier äußernde Unschuldsvermutung passt nicht zum Amnestie-Vorschlag. (c) Wenn die Soldaten Jesus nach seiner „Auslieferung“ ans Kreuz als „König der Juden“ verspotten, setzt das eigentlich seine Verurteilung auf Grund angemaßter Königsprätendentenschaft voraus. Der Anspruch, „König der Juden“ zu sein, kann politisch nicht derart irrelevant sein, wie das Verhör Jesu zu Beginn der Szene den Anschein erweckt.

Wer die Szene als historischen „Bericht“ versteht, könnte einwenden: So widersprüchlich handelt eben ein Richter, wenn er machtpolitisch denkt und einen lästigen Fall loswerden will! Könnte es nicht sein, dass der Präfekt in einen inneren Zwiespalt geriet, als er einerseits die Ungefährlichkeit Jesu erkannte, andererseits die Schwere des Vorwurfs nicht einfach auf sich beruhen lassen wollte, ohne Angriffe gegen seine Amtsführung zu riskieren? Die Annahme, Pilatus habe sich uncha-­A mnestie“ eine „Volksmenge“ zum Präfekten „heraufziehen“ sieht (Mk  15,8); Gleiches gilt von Mt und Lk. 868  Küchler, Jerusalem 382: τὸ λιθόστρωτον meint „ursprünglich und normalerweise eine mit Steinplatten (λίθοι) belegte (στρώνυμμι, ‚ausbreiten‘) Fläche […]. Für gerichtliche Verhandlungen gab es in Jerusalem vor dem Prätorium eine Stelle, wo der Richtersitz (βῆμα; bȇma) aufgestellt wurde, wie Josephus dies von den Prokuratoren Pilatus und Gessius Florus berichtet (Bell  2,175 ff. und 301–308). Die bei solchen Szenen stets anwesende Menge stand dabei auf dem plattenbelegten Vorplatz […]“. – Gibson, Tage 115–125, identifiziert den Ort mit dem Innenbereich eines monumentalen Torkomplexes mit öffentlichem Zugang, der bei Ausgrabungen der 1970er Jahre in der Mitte der westlichen Altstadtmauer nachgewiesen werden konnte. – Die Unterscheidung von „außen“ und „innen“ bei Joh verdankt sich der Konzeption des Evangelisten, der zufolge die Worte Jesu im Verhör „den Juden“ verborgen bleiben (siehe oben II.  9.1 unter [4]). Dahinter steht vielleicht auch sein Wissen um römische Praktiken im Kaisergericht, das sich gerne zu Beratungen ohne Öffentlichkeit zurückzog (siehe oben III.  1.3.4 unter [1]). 869  Vgl. die vorige Anm.; Jos, Bell  2 ,301: „Florus, der damals im Königspalast (ἐν τοῖς βασιλείοις) abgestiegen war, ließ am nächsten Tag vor dem Palast den Richterstuhl (βῆμα) aufstellen und nahm darauf Platz“. 870  Die „vielen“ Anklagen der hohen Priester gegen Jesus könnten nach Vorstellung des Erzählers zusätzliche Punkte enthalten, aber das wird nicht ausgeführt. 871  Schleritt, Passionsbericht 401. 872  Kirner, Strafgewalt 290.

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ter dem Druck der „Volksmenge“ gesehen bzw. eines hinter Barabbas stehenden Pöbels, ist zwar beliebt, scheitert aber an der hier vorgelegten Analyse873. Auch widerspricht das Bild eines durchsetzungsschwachen Statthalters, der sich mit seinem Amnestie-Angebot verkalkuliert und in den eigenen Widersprüchen verfängt, den jüdischen Quellen874, insbesondere Philo, der zu Pilatus äußert: „Er wollte seinen (jüdischen) Untertanen nichts zu Gefallen tun“ (LegGai  303) 875. Gegenüber den vielen psychologisierenden Interpretationsansätzen876 ist auf einer Deutung des Textes zu beharren, die seine theologischen Konstruktionsprinzipien ernst nimmt. Die aufgewiesenen Spannungen der Szene resultieren aus der Überlagerung historischer Umstände durch theologische Entscheide877: Die PEG hat, wie der bestimmte Artikel der Pilatus-Frage verrät, die politisch gemeinte Anschuldigung Jesu als Königsprätendent in ein vom Psalter inspiriertes Bekenntnis umgewandelt: Hier steht nicht irgendein Messiasprätendent vor Gericht, sondern „der König der Juden“, wie ihn die Schrift verheißt. Wenn Pilatus seine Frage stellt und Jesus sie bejaht („du sagst es“), überdeckt die nachösterliche interpretatio christiana die ursprünglich politisch gemeinte Anklage878 . Dies bedingt die Figurenzeichnung: Pilatus hält Jesus für unschuldig („Was hat er denn Böses getan?“) und versucht ihn „freizugeben“, scheitert aber an den hohen Priestern, die ihr Todesurteil aus der nächtlichen Verhandlung durchsetzen. Pilatus wird zu ihrem Erfüllungsgehilfen.

Trifft die Annahme zu, dass Jesus wegen Königsprätendentenschaft verklagt und verurteilt wurde, dann lautet die historische Anschlussfrage: Wie gelangte Pilatus zur Überzeugung, dass die Anklage gegen Jesus zu Recht erging? Unbekannt ist, 873 

Siehe unten 2.6.1.3 zur Barabbas-Figur und Pascha-Amnestie. Siehe oben III.  1.4. 875  Mk  15,15a erklärt das genaue Gegenteil! Bei Flaccus, Statthalter von Alexandrien, schlägt Philo andere Töne an: „So aber beeilte er sich und duldete keinen Aufschub, dem feindlichen Pöbel zu Gefallen, den er dadurch eher für seine Ziele zu gewinnen hoffte“ (Flacc  82). – Zutreffend Aus, Release 139: Pilatus „never would have allowed himself to be subject to the whims of a crowd, especially an uncontrollable one which bordered on a riot“. 876  Kirner, Strafgewalt 290, etwa erwägt im Anschluss an die Darstellung der Synoptiker, die er grundsätzlich für historisch hält, ein Szenarium, das die Spannungen nachvollziehbar machen soll: Pilatus sei „zwar trotz des Verhaltens Jesu noch nicht von dessen Schuld überzeugt, sähe sich jedoch aufgrund seines geständnisäquivalenten Verhaltens gezwungen, ihn hinzurichten, ohne dass ein förmliches Strafurteil notwendig gewesen wäre. Die einzige Möglichkeit, Jesus zu ‚retten‘, hätte dann darin bestanden, sich für ihn im Rahmen des Begnadigungsaktes einzusetzen; jedoch scheiterte er damit, da die versammelten Juden sich davon nicht beeindrucken ließen, weshalb Pilatus dann erst recht nicht von einer Hinrichtung absehen konnte“. Alle durchzuspielenden Möglichkeiten ließen „den Schluss zu, dass eine Freilassung Jesu mit ‚politischen Kosten‘ verbunden gewesen wäre, die Pilatus nicht eingehen wollte“ (Joh habe diesen Faktor noch verstärkt). 877  Siehe oben II.   9.2 die Analyse des mkn. Textes sowie III.  2.2 zur Neuinterpretation des ­titulus crucis durch die PEG! 878 Wenn Paulus, Prozess 27 mit Anm.  114, wie viele andere auch, den Königstitel in der Frage des Pilatus politisch versteht, wechselt er unvermittelt zur historischen Ebene und übersieht die doppelsinnige Konstruktion des Wortwechsels in der PEG, die Überlagerung des politischen Sinnes des Titels durch seine interpretatio christiana. 874 

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wie er mit dem Aramäisch sprechenden Jesus kommunizierte. Wenn Jesus kein oder nur wenig Griechisch verstand, half vielleicht ein Dolmetscher879. Ob Pilatus sich für Jesus, den er bei der Vorführung gewiss zum ersten Mal sah, näher interessierte, entzieht sich unserer Kenntnis. Wahrscheinlich ging es ihm nur um die Anklage, Jesus träume wie andere vor ihm von der Theokratie880 und verstehe sich als König, worin Pilatus einen Angriff auf den Kaiser sehen musste. 2.6.1.2 Das Schweigen Jesu Hat Jesus ein Geständnis abgelegt, wie der erste Wortwechsel zwischen Pilatus und ihm nach der politischen Lesart nahezulegen scheint? Dann wäre das Verfahren nach dem Prinzip confessus pro iudicato est schon zu Ende gewesen, bevor es richtig begonnen hat. Das Geständnis des Beschuldigten hätte es erübrigt881. Doch dass Jesus eine politisch gemeinte Frage des Präfekten wie die, ob er das Königtum für sich beanspruche, bejaht haben soll, ist undenkbar. Der Wortwechsel, wie die PEG ihn mit konfessorischem Ton unterlegt, kann für eine derartige Hypothese nicht herhalten. Wenn die Frage in ihrer definiten Fassung („Bist du der König der Juden?“) die politische Anklage entpolitisiert, gilt das auch für die Antwort („Du sagst es!“). Welche Möglichkeiten bleiben? (1) Jesus hat die Frage verneint. Die Zumutung, er würde das Königreich Gottes durch sein Auftreten herbeiführen und damit königliche Würde für sich anstreben, hat er zurückgewiesen. Dann wäre es zu einer Gegenüberstellung von Kläger und Beklagtem bzw. zu einer Zeugenbefragung gekommen. Nichts davon lässt der Text erkennen. 879  Paulus, Prozess 17–19; vgl. Cic, 2Verr  3,84: „A. Valentius ist Dolmetscher (interpres) in Sizilien, und Verres pflegte ihn als Mittelsmann (interpres) nicht nur für die griechische Sprache, sondern auch für seine Diebereien und Schandtaten zu verwenden“ (Übers. M. Fuhrmann); Jos, Bell  5,361: Um mit den Belagerern des Tempels verhandeln zu können, zieht Titus Josephus als Dolmetscher heran, der mit ihnen „in ihrer Muttersprache“ (τῇ πατρίῳ γλώσσῃ) reden kann. – Paulus missachtet die Textgattung, wenn er mutmaßt: „der von Markus (und Matthäus) berichtete Wortwechsel (war) vielleicht auch deshalb nur knapp […], weil sich eben der Übersetzer knapp gehalten hat“ (ebd. 19). 880  Siehe unten Exkurs 11: Rebellen und Banditen etc.; Häfner, Verkündigung 91: „Die [von Josephus] ausdrücklich bezeugten Königsprätendenten sind zwar etwa eine Generation vor Jesus aufgetreten, doch dürfte aus Sicht des Statthalterns auch der bei ihm verklagte Bote der Königsherrschaft Gottes in dieses Phänomen einzuordnen gewesen sein“. 881 So Kunkel, Prinzipien 20 f.: „Wenn Christus nach Matth. 27,11 ff. auf die Frage des Pilatus, ob er der Juden König sei, antwortete: ‚du sagst es‘ (was ‚ja‘ bedeutet), und wenn er auf die Anschuldigungen der Juden nicht antwortete, so war er ein confessus. Eines auf Schuldfeststellung gerichteten Verfahrens bedurfte es nicht mehr. Vielmehr war Pilatus, wenn die Ankläger darauf bestanden, genötigt, die Strafe zu verhängen, und zwar die Todesstrafe, die für einen Nichtbürger, der sich das Königtum anmaßte, allein in Betracht kam“. Ebenso Paulus, Prozess 33: das Ja Jesu („du sagst es“) auf die politisch zu verstehende Frage des Pilatus und sein anschließendes Schweigen sind als doppeltes Geständnis zu werten: „Jesus antwortet präzise, um anschließend zu schweigen, anstatt verzweifelt seine Rechtfertigung (deprecatio) zu versuchen. Diese Deutung, die eine gewisse Lebenswahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann, bestätigt übrigens, dass Pilatus Jesu σὺ λέγεις als ein Geständnis aufgefasst hat“, ähnlich Kirner, Strafgewalt 279.

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(2) Sollte Jesus sich verteidigt und versucht haben, Missverständnisse auszuräumen und Beweise seiner Unschuld zu liefern? Der Präfekt hätte ihm die Möglichkeit dazu zweifellos eingeräumt882 . Eine derartige Reaktion war von Jesus nicht zu erwarten. Jesus war kein Sokrates, der seinen Anklägern widerstand und das öffentliche Forum des Gerichts nutzte, um der Welt seine Lebensüberzeugungen kundzutun883. Mahnungen, die er selbst in Galiläa erteilte, deuten in eine andere Richtung: Gott steht aufseiten der Rechtlosen und Armen, es ist unnötig, seine Rechtsansprüche eigenmächtig durchzusetzen. Jesu Parole hieß Rechtsverzicht: Gott wird, wenn er seine Basileia vollendet, dem Recht zum Durchbruch verhelfen. Paradigmatisch ist Lk 6,29 f. par. Mt 5,38–42, eine Spruchsequenz aus der Logienquelle (= Q  6,29 + Mt  5,41) 884: Q  6 ,29 a b (Mt  5,41)

Dem, der dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin, und dem, der dich vor Gericht bringen und dir dein Untergewand wegnehmen will, dem lass auch das Obergewand. Und mit dem, der dich zu einer Meile Frondienst zwingt, gehe zwei.

30 a Dem, der dich bittet, gib, b und von dem, der sich leiht, fordere das Deine nicht zurück. Während die drei ersten Sprüche (Wangenschlag, Mantelraub und Frondienst) „Arme und Rechtlose“ ansprechen, richten die beiden letzten den Blick auf „die Besitzenden, die Ausleihenden und Gebenden“885. Das Prinzip, dem gängigen Verlangen nach Reziprozität886 eine Absage zu erteilen, verbindet die Sprüche miteinander. Von den fünf veranschaulicht der zweite (= Q  6 ,29b) ausdrücklich, was Rechtsverzicht angesichts eines durch die Tora verbrieften und vor Gericht einklagbaren Rechts bedeutet: Bei einem drohenden Pfändungsprozess soll der Arme dem Kläger zum verlangten Untergewand vorweg auch sein Obergewand geben, den Mantel, den der Tagelöhner benötigt, um sich des Nachts statt mit Decken, die er nicht besitzt, mit ihm wärmen zu können. Untersagt die Tora eine Pfändung des Mantels über Nacht (Ex  22,25 f.; Dtn  24,12 f.), so bekommt der von Jesus dem Armen angeratene Rechtsverzicht den Charakter einer „Zeichenhandlung“: Nackt und schutzlos vor der Kälte, soll er den Mächtigen dazu provozieren, sein „vermeintlich rechtmäßige[s] Vorgehen“ „auf seine (moralische) Legitimität hin“ zu hinterfragen887.

882 

Zum Hintergrund siehe oben III.  1.3.4 unter (2) (e). Zur Rezeption der Sokrates-Gestalt in diesem Zusammenhang: K.W. Müller, Schierlingstrank; Theobald, Schweigen 249–251. 884 Nach Hoffmann/Heil, Spruchquelle 41. 885  Tiwald, Kommentar 59. 886 Vgl. Lohfink, Jesus 280. 887  Konradt, Mt 95. 883 

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Jesus stand schutzlos vor Pilatus. Er wird sich treugeblieben sein und auf das Recht, sich zu verteidigen, das ihm zustand, verzichtet haben. Die Frage des Richters wird er weder bejaht noch verneint haben. Sie zu bejahen, hätte ihn in einen Selbstwiderspruch gebracht, sie zu verneinen, genötigt, sich zu erklären, was ihm in dieser Lage wohl unmöglich erschien. Die Situation lässt nur eine dritte Möglichkeit zu. (3) Jesus schwieg. Deshalb könnte der von der PEG erzählte Versuch des Pilatus, Jesus auf die heftigen Anklagen der „hohen Priester“ hin erfolglos zum Reden zu bringen, eine authentische Erinnerung wiedergeben. Der Text macht nicht den Eindruck, als sei das Motiv des Schweigens aus der Schrift (Jes  53,7; Ps  38,14) generiert888 . Vielmehr dürfte die Passionsüberlieferung ein originäres Erzählmoment dadurch, dass sie es auch andernorts aufgreift und verstärkt, erst nachträglich in das Licht der Schrifttexte gerückt haben889. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: Bei Prozessen spielt das Thema der Antwortverweigerung eine wichtige Rolle. Im römischen Strafrecht führte es zur Überlegung, ob ein Schweigen des Beschuldigten auf die Frage des Richters hin als Eingeständnis zu werten sei oder nicht. Die Regel war, dass sich ein Schuldspruch des Richters erübrigte, wenn der Angeklagte schwieg und auf sein Recht zur Verteidigung verzichtete (defensionem relinquere) 890 . Schwieg er, sprach er sich selbst schuldig. Alles deutet darauf hin, dass Jesus auf eine Selbstverteidigung (defensio) verzichtete und trotz – vielleicht mehrmaligen – Nachfragens schwieg. Dieses Verhalten musste ihm zusätzlich als pertinacia und obstinatio, als Verstocktheit ausgelegt werden891. Der Präfekt konnte nicht anders, als ihn für schuldig zu erklären. Was in Jesus dabei vorging, bleibt sein Geheimnis. Um die Folgen seines Schweigens musste er gewusst haben. Trotzdem verzichtete er darauf, sein Recht vor dem irdischen Richter wahrzunehmen. Er konnte dies im Glauben: Gott steht aufseiten der Rechtlosen und Armen und wird mit der baldigen Offenbarung seines Königtums auch ihn, seinen vollmächtigen Boten, rechtfertigen. Mehr zu sagen traut der Historiker sich nicht. Dies zu sagen, ist aber schon viel892 . 888  Rosen, Rom 56: „Jesu Schweigen ist die eigentliche Mitte des Prozesses. Sie wird auch durch alttestamentliche Vorbilder nicht erklärlich“; Hengel/Schwemer, Jesus 605: „Dieser realistische Zug lässt sich nicht einfach aus Jes  53,7 ableiten“; Niemand, Jesus 421, vermutet ein „‚unkooperatives‘ Verhalten Jesu während des Pilatus-Prozesses“. 889  Vgl. Mt  26,63; 27,12–14; Mk  14,61; 15,4 f.; Lk  23,9; Joh  19,9; EvPetr  4(10). Ausführlich zum Motiv des Schweigens: Theobald, Frage 238–255. 890  Siehe oben III.  1.3.4 unter (2) (b). 891 Plin, Ep   10,96,3, über die Christen, die, unter Todesandrohung vom Statthalter dreimal gefragt, ob sie Christen seien, und darauf beharrten: „… darüber bestand für mich kein Zweifel: Was es auch sein mochte, das sie zu gestehen hatten – ihr Starrsinn (pertinaciam) und ihre trotzige Verstocktheit (obstinationem) verdienten auf jeden Fall Bestrafung“; Rosen, Rom 55: „Zur con­ tumacia zählte ausdrücklich, wenn ein Angeklagter auf Fragen des Gerichtsherrn schwieg (Digesta 11,1; 4)“; ders., Prozess 140; gegen Rosen, der Mk  15,2 (σὺ λέγεις) im Sinne einer zweideutigen Antwort Jesu für historisch hält, dürfte der entscheidende Punkt sein: Jesus schwieg auf die Frage des Pilatus, was von diesem als Eingeständnis gewertet wurde, contumacia kam erschwerend dazu. 892  Haacker, Tode 36, spricht von einer „Kooperation Jesu mit seinen Anklägern im Verzicht auf jede Verteidigung“, von einer „‚Mitschuld‘ Jesu an seinem gewaltsamen Ende“. Wenn er darin

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2.6.1.3 Die Pascha-Amnestie Weil Jesus trotz Nachfragens schwieg, blieb dem Statthalter keine andere Wahl, als ihn für schuldig zu erklären. Ein Verfahren mit Zeugeneinvernahme und Gegenüberstellung von Anklägern und Beklagtem erübrigte sich. Eigentlich sollte der Fall erledigt sein. (1) Wer den Ablauf so sieht, könnte versucht sein, den zweiten Verhandlungsgang, Dreh- und Angelpunkt der Szene, für historisch zu halten893: Pilatus erkannte die Schuld Jesu, trotzdem bezog er ihn in das Amnestie-Verfahren ein894. Denn angesichts der vor ihm stehenden jämmerlichen Gestalt Jesu befielen ihn Zweifel895. Traute er ihm aufrührerisches Verhalten dann doch nicht zu? Erfasste ihn gar Mitleid? Wer derart über die Motive des Pilatus spekuliert, geht nicht nur von Mk  15,6.8 als angeblich ältester Textfassung aus, sondern setzt auch deren Historizität voraus896 . Ein jährlich zum Pascha-Fest geübter Brauch des Statthalters „unterliegt“ aber „schweren historischen Bedenken“897. Weder die jüdische noch die griechisch-­ römische Literatur bietet irgendeinen Hinweis auf ein privilegium paschale898 . „die neutestamentlichen Aussagen von Jesu eigener Hingabe seines Lebens (vgl. Mk   10,45; Joh  10,18; Gal  1,4; 2,20)“ bestätigt findet – es sei die „Absicht“ Jesu in seinem „Leidenshandeln“ gewesen, „für menschliche Schuld Sühne zu leisten“ –, geht er aber über das, was sich historisch verantwortet sagen lässt, entschieden hinaus. 893 J. Merkel, Begnadigung 293–302, bietet eine instruktive Übersicht zu den Erklärungen der Pascha-Amnestie seit Origenes. 894  Kirner, Strafgewalt 280 f.; ebd. 284: Beim Begnadigungsakt ging es „nur darum […], dem Volk vermittels Akklamation die Wahl zwischen einem eventuell ‚manifesten‘ Täter (Barabbas) und einem ‚geständigen‘ Täter (Jesus) zu lassen. Prinzipiell hatten dann beide den gleichen Verbrecherstatus inne und konnten ohne Strafurteil, sondern allein kraft Koerzitionsgewalt hingerichtet werden“. Eine nachträgliche Bildung der Barabbas-Geschichte schließt Kirner nicht aus (siehe unten). 895  Strobel, Stunde 119, spricht von „Skrupeln“, die Pilatus im Blick auf die Verurteilung Jesu erfassten; Kirner, Strafgewalt 279, unterstellt Pilatus „die Einschätzung Jesu als wahrscheinlich harmlosen, wenngleich in seiner Haltung imponierenden Wanderprediger“. 896  ἀπέλυεν wird in der Regel als ein Imperf. iterat. gedeutet (siehe unten [2]) – entsprechend Mt  27,15 (εἰώθει = er pflegte) und Joh  18,39 (συνήθεια ὑμῖν: Gewohnheit euch zugunsten); Schnackenburg, Joh III 289, zu Joh  18,39: „ὑμῖν kommt hier einem dat. commodi nahe“; die Übersetzung: „ihr habt die Gewohnheit“, liegt nicht nahe. Die Behauptung, Mk/Mt sprächen von einer Praxis des Pilatus, Joh dagegen von einer jüdischen Konvention (z. B. Maclean, Barabbas 309; Merritt, Jesus Barabbas 59 Anm.  5), führt in die Irre. Die textgeschichtlich sekundäre Angabe Lk  23,7 spricht gar von einem „Zwang“, also einer rechtlichen Verpflichtung, der Pilatus angeblich unterlag: ἀνάγκην δὲ εἶχεν κατὰ ἑορτὴν ἀπολύειν αὐτοῖς ἕνα. 897 J. Gnilka, Mk II 304. – Vgl. bereits Bultmann, Geschichte 293 („die Barabbas-Episode“: „eine legendarische Erweiterung“) mit Anm.  3; Brandon, Trial 95–103; Brown, Death I 814– 820; Cohn, Prozess 226–232; Reinbold, Bericht 263–267; Maccoby, Jesus; Maclean, Barabbas; J. Merkel, Begnadigung; Merritt, Jesus Barabbas; W. Stegemann, Ruhe 46; P. Winter, Trial 131–134, u. a. – Anders Blinzler, Prozess 317–320; Hengel/Schwemer, Jesus 606; Strobel, Stunde 120–124. Waldstein, Untersuchungen 41 f., hält zumindest „die Möglichkeit der Existenz eines solches Brauches durch die Vielgestaltigkeit der Formen, in denen Begnadigungen vor und nach der fraglichen Zeit faktisch vorgekommen sind, mehr als dargetan“, bleibt aber in der rechtsgeschichtlichen Einordnung des Brauches zurückhaltend. 898  Es unterliegt auch rechtlichen Bedenken: Die „Anmassung des [dem Kaiser vorbehaltenen]

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Wäre Josephus diese humane Geste der Besatzer bekannt gewesen, hätte der Römerfreund die Gelegenheit nicht ungenutzt gelassen, sie in seinem Geschichtswerk zu erwähnen. Auch Lukas darf gegen Historizität angeführt werden: Er übergeht Mk  15,6 und macht die Freilassung des Barabbas zu einem „Akt, den der beim Richterstuhl versammelte Volkshaufen per acclamationem durchsetzt“899. Das privilegium paschale hielt seinem kritischen Blick auf die ihm zur Verfügung stehenden Quellen nicht stand (vgl. Lk  1,3). Des ungeachtet meint August Strobel, die Pascha-Amnestie sei als „jüdischer Rechtsbrauch“ durch Pes  8 ,6 „erwiesen“900 . Die Mischna-Bestimmung stelle es frei, bei der Bereitung des Pascha-Lammes Kranke oder Greise oder jemanden, „dem man versprochen hat, ihn aus dem Gefängnis herauszulassen“, mitzuberücksichtigen, untersage es aber, das Zustandekommen der Mahlgemeinschaft – zehn Menschen sind erforderlich – von diesen Personen abhängig zu machen. Sie könnten kurzfristig ausfallen, insbesondere der Gefangene, dem eine Entlassung versprochen sei901. Der babylonische Talmud, bPes  91a, lasse den „Sachkreis […] ein gutes Stück einsichtiger“ werden: „Rabba b. Bar Chana (Anfang 3.  Jh.) sagte im Namen R. Jochanaans: Dies wurde nur von einem nichtjüdischen Gefängnis gelehrt, wenn aber (sc. einer gefangen gehalten wird) in einem jüdischen Gefängnis, so darf man es auch nur für ihn schlachten, denn da man ihm (Freilassung) zugesichert hat, lässt man ihn auch frei, denn es heißt (Zeph  3,13): ‚Der Überrest Israels wird kein Unrecht begehen noch Lüge reden‘“. Joachim Gnilka erklärt zur Mischna-Stelle: Es „ist nicht eindeutig klar, auf welche Verhältnisse sie sich bezieht, auf römische oder jüdische, darauf, dass ein Gefangener wirklich freigelassen oder dass ihm Hafturlaub gewährt werden sollte, damit er das Paschamahl mitfeiern könnte“902 . Josef Blinzler hält Pes  8 ,6 zwar für beweiskräftig, sieht in bPes  91a aber ein Begnadigungsrechts“ rechnen die Digesten zu den Kompetenzüberschreitungen des Statthalters (48,4,4: Qui confessum in iudicio reum et propter hoc in vincula coniectum emiserit) (Mommsen, Strafrecht 558 mit Anm.  8); Waldstein, Untersuchungen 42 mit Anm.  6 , verweist für eine Statthalter-Begnadigung auf einen Papyrus allerdings erst aus dem 3.  Jh. – Otte, Neues 1025, beruft sich für seine Annahme, es handle sich bei der Pascha-Amnestie „um eine dem römischen Recht durchaus bekannte Einrichtung“, auf Mommsen, Strafrecht 455, der aber nur Belege für eine abolitio publica „seit dem Ende des 1. Jahrh.“ beizubringen vermag, „wobei es sich um einen „legislatorische(n) Specialact“ handelt, „vorzugsweise durch Senatsbeschluss, aber auch mittelst kaiser­ lichen Erlasses“. 899 J. Gnilka, Jesus 303; vgl. Apg  3,14. 900  Strobel, Stunde 121; bereits Blinzler, Prozess 317–320 (mit Hinweis auf ältere Lit.) gelangte zu einem ähnlichen Ergebnis: „Ein Israelit, der sich als Gefangener in einem römischen Gefängnis Jerusalems befindet, hat begründete Aussicht, aber noch keine Gewissheit, dass er kurz vor dem Abend des Paschamahles aus dem Gefängnis entlassen wird. Dieser Fall muss, da er im Pesachim-Traktat mit ständig wiederkehrenden Fällen anderer Art zusammengestellt wird, ein regulärer, sich normalerweise alljährlich vor dem 15. Nisan wiederholender Fall gewesen sein“. – Strobel verweist noch auf Jos, Ant  20,208–210: Sikarier zwangen den Hohepriester Ananias durch Entführung seines Sohnes vor einem Fest dazu, den Statthalter Albinus zu veranlassen, 10 ihrer Genossen, die dieser gefangen hielt, freizugeben (vgl. auch Hengel, Zeloten 340). Dem Text ist aber weder zu entnehmen, dass es jenes Fest Pascha war (das erschließt Strobel aus der Zahl 10 = Mindestzahl von Teilnehmern eines Paschamahls), noch, dass der Hohepriester sich beim Statthalter auf ein Gewohnheitsrecht hätte berufen können. 901  Der so interpretierte Satz der Mischna lautet: „Für alle diese aber schlachtet man nicht um ihrer selbst willen, damit sie es (das Pessach) nicht zur Untauglichkeit bringen“. 902 J. Gnilka, Jesus 303; vgl. bereits J. Jeremias, Abendmahlsworte 67 f.

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„späteres Zeugnis“, das „[w]eniger sicher“ sei, da es die Mischna nachträglich interpretiere903. Gegen die angebliche Beweiskraft beider Passagen spricht, dass sie sich nicht direkt zu einer vom römischen Statthalter regelmäßig gewährten Pascha-Amnestie äußern, diese aus ihnen erst abgeleitet werden muss904. Bezeichnend ist, wie Strobel sich den historischen Ablauf im Ausgang des Mk-Textes zurechtlegt und dabei die Geschichte neu erzählt: „Wie die Dinge lagen, hatte man ihm (sc. Pilatus) in diesen Tagen das Versprechen der Freigabe des Barabbas wahrscheinlich abverlangt oder sogar abgetrotzt905. Pilatus, dem bei solchem jüdischen Erfolg unmöglich wohl sein konnte906 , versuchte nun über den Vorschlag des Amnestieverfahrens den gefällten Entscheid rückgängig zu machen, […] unterschätzte […] aber die Stimmung im Volk“907: „Die Stimme des Volkes ist immer auf der Seite des Erfolgsmenschen, nicht auf der Seite dessen, der den Weg der Gewaltlosigkeit proklamiert“908 . Sonst werden Pilatus gerne Sympathien für Jesus als Motiv seines Amnestie-Vorschlags nachgesagt. Strobel zufolge war „die Entscheidung des Römers am wenigsten von irgendwelchen Sympathien (!) gegenüber Jesus bestimmt“. Vielmehr „bestrebt, selber möglichst ungeschoren davonzukommen […] (wollte er) sich mit dem Volksentscheid den stichhaltigen dritten Zeugen verschaffen, […] nämlich die vox populi, die befriedigt werden musste, um Unruhen vorzubeugen“909. Die Psyche des Statthalters beschreibt Strobel so: „Bei Pilatus entdecken wir die […] charakteristische Verbindung von Schwäche und Trotz“910 . Er war „ohne Zweifel nach dem Maße seiner Möglichkeiten auch ein gewiegter Taktiker, der sein diplomatisches Spiel niemals aufgab, bevor er nicht wirklich verloren hatte“911.

(2) Anstatt über die Motive des Pilatus zu spekulieren, die ihn dazu bewegt haben könnten, auf die Pascha-Amnestie zurückzugreifen912 , empfiehlt es sich, streng auf den Wortlaut der PEG zu achten, der noch spröder als derjenige der „deceptively simple story“ des Markus913 ist. Vorweg heißt es, Pilatus habe sich bemüht, „ihnen

903 

Blinzler, Prozess 319. Merkel, Begnadigung 306 f.; P. Winter, Trial 131 f.; Cohn, Prozess 230 f. 905  Das steht nirgends im Text. 906  „[D]er Missbrauch des Begnadigungsrechtes durch einen Statthalter (konnte) möglicherweise den juristischen Rang eines Staatsverbrechens einnehmen […]. Für ihn (sc. Pilatus), den Kenner des römisch-kaiserlichen Rechts, muss die bevorstehende Freilassung des Barabbas viel tiefere Ängste oder jedenfalls Besorgnisse geweckt haben, was in keiner Weise unterschätzt werden darf. Man bedenke nur, was es bedeutet, dass ein Statthalter, der für die Ordnung und die Sicherheit einer Provinz eingesetzt war, ausgerechnet einen Mörder und Aufständischen freigeben musste!“ (Strobel, Stunde 128 f.). 907  Strobel, Stunde 128. 908  Ebd. 129. „Nach der Anklage der jüdischen Verantwortlichen musste der Statthalter mit einer beträchtlichen Anhängerschar Jesu im Lande rechnen. Der Ausgang des Lebens und Wirkens Jesu lässt jedoch erkennen, dass es diese Volksbewegung nicht gab“. 909  Ebd. 131. 910  Ebd. 128. 911  Ebd. 129. 912  Eine andere „Nacherzählung“ bieten Hengel/Schwemer, Jesus 607: Pilatus entsprach, „um die Hohenpriester zu ärgern, zunächst gerade nicht ihren Wünschen […] und – zugleich als Verspottung des Volkes und seiner Führer – (bot er) ihnen die Freilassung des ‚Königs der Juden‘, dieser armseligen, misshandelten Gestalt an […]. Schließlich ging der Präfekt in dieser für ihn undurchsichtigen Sache den Weg des geringsten Widerstandes […]“. 913  Maclean, Barabbas 309. 904 J.

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zum Fest einen Gefangenen freizugeben (ἀπέλυεν)“ (Mk  15,6) 914, dann habe er die Frage gestellt, ob er ihnen „den König der Juden freigeben“ solle, woraufhin die „hohen Priester“ Barabbas fordern. Dieser wird umgehend in scharfem Kontrast zu Jesus kurz und bündig ein λῃστής = Räuber genannt. Mehr sagt die Grunderzählung nicht. Diese spricht also nicht von einem Gewohnheitsrecht unter den römischen Statt­ haltern, sondern von einem einmaligen Gnadenakt des Pilatus, den dieser den „hohen Priestern“ zum Pascha-Fest anbietet. Dazu passt seine Frage, mit der er auf die Anklagen im ersten Verhandlungsgang reagiert: „Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe?“ Wenn er sich angesichts der Hartnäckigkeit der „hohen Priester“ am Ende gezwungen sieht, ihnen Barabbas freizugeben, um bei seinem Amnestie-Angebot zu bleiben, läuft alles auf dieses ungleiche Paar hinaus: dort ein λῃστής, hier „der König der Juden“. Dass es die „hohen Priester“ sind, die Barabbas fordern, treibt die Paradoxie auf die Spitze: Im Akt der Begnadigung wird ihnen nicht der geschenkt, der eigentlich der Ihre ist: „der König der Juden“915 , sondern ein „Räuber“, ein Aufständischer und Rebell gegen die herrschende Ordnung916 . Die Strategie, welche die PEG mit ihrer literarisch konzisen Darstellung verfolgt, passt zu ihrer Gesamtanlage: Pilatus soll wie beim ersten Verhandlungsgang so auch beim zweiten als Zeuge der Unschuld Jesu präsentiert werden. Die Verantwortung für dessen Kreuzigung wird den hohen Priestern aufgebürdet: Sie sind es, die von Pilatus die „Auslieferung“ Jesu ans Kreuz erzwingen und so ihren Todesbeschluss von der Nacht zuvor in die Tat umsetzen. Die Jerusalemer Gemeinde wusste wohl um einen Jesus Barabbas, dessen Fall wie der des Jesus von Nazareth gleichfalls vor Pilatus verhandelt worden war, vielleicht am gleichen Tag917. Barabbas erlangte die Freiheit918 , der Nazarener wurde hinge914  Zur Begründung dieser Übersetzung von Mk  15,6 in der PEG (die weder den Relativsatz ὃν παρῃτοῦντο = „den sie sich erbaten“ noch V.8 enthielt) siehe oben II.  9.9. 915 Das ὑμῖν in der Frage des Pilatus: „Soll ich euch den König der Juden freilassen?“ ist mit Bedacht gesetzt. 916 Vgl. Hengel, Zeloten 43–48, zu Josephus und dessen Verwendung der Termini λῃστής, λῃστρικός (vgl. auch στασιαστής). „Wahrscheinlich“ hat Josephus die „Anwendung des Begriffs ‚Räuber‘ auf politisch-religiöse Partisanen von Nikolaos von Damaskus übernommen“ (44); anders Brown, Death I 686–688. 917  Maccoby, Jesus 55–60, geht von Person-Identität aus (Jesus Barabbas = Jesus, Sohn des Vaters); das Volk, das sich seit Jesu Einzug treu geblieben wäre, hätte im Prozess die Freilassung Jesu gefordert, erst die Evangelisten hätten dies antijüdisch umgemodelt, indem sie aus dem titularen Jesus Barabbas eine zweite Person machten; P. Winter, Trial 142 f., erklärt die Frage des Pilatus, wen er freilassen solle, mit seiner Konfusion angesichts zweier Gefangener mit demselben Namen; ebd. 138: „It is, in fact, the few manuscripts which contains the complete name Ἰησοῦς Βαρ(ρ)αββᾶ(ν) that firnish the strongest evidence for Barabbas’s historical evidence“. 918  Über die Umstände des Barabbas-Falls lässt sich nichts sagen; unbekannt ist, ob er schon verurteilt und weshalb er angeklagt worden war. Bekannt sind andere Fälle von Freilassungen unter Albinus im Vorfeld des Krieges (siehe oben unter [1]) – allerdings nach mehrfachen Erpressungen des Statthalters, der „rasch resigniert zu haben scheint“ (Hengel, Zeloten 353; ebd. 396 f.) – oder unter G. Septimius Vegetus, Statthalter von Ägypten (89–91/92), der auf Zuruf des Volkes einen Phibion freigegeben haben soll (Blinzler, Prozess 303). Auf diese Fälle wird zur Verteidigung der Historizität der mkn. Darstellung gerne verwiesen.

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richtet. Die Namensgleichheit der beiden, die Erinnerung daran, dass Jesus Barabbas ein „Aufständischer“ war, wie ihr konträres Geschick werden die Autoren der PEG dazu veranlasst haben, ihre Fälle mittels der beliebten rhetorischen Figur der σύγκρισις919, der „vergleichenden Gegenüberstellung“, in einem Verfahren miteinander zu verknüpfen920 . Wenn sie dafür einen Gnadenerlass zum Fest konstruieren (κατὰ δὲ ἑορτήν), verband sich damit ein Hintergedanke: Pascha ist das Fest der Erlösung. Nichts scheint passender als ein Gnadenerlass aus diesem Anlass921. Die Darstellung erhält damit eine ironische Note. Das Ende ist paradox: Pilatus „ließ ihnen den Barabbas frei“ und „übergab“ den „König der Juden“ dem Kreuz: Der Ungerechte wird begnadigt, der Gerechte stirbt922 . 2.6.1.4 Die „Auslieferung“ Jesu: Exekutionsbefehl oder Todesurteil? Ob Pilatus ein förmliches Urteil (sententia) oder nur einen Hinrichtungsbefehl erließ, ist seit langem strittig und nicht endgültig zu klären923. Für einen bloßen Hinrichtungsbefehl spricht, dass nach Jesu Schweigen – für Pilatus ein Schuldeingeständnis – sich eine weitere Ermittlung erübrigte und der Präfekt auf seine Koerzitionsgewalt zurückgreifen konnte924, für einen förmlichen Schuldspruch der titulus crucis: „Bezeichnet die Schuldtafel den Anspruch auf die jüdische Königswürde als den Grund der Verurteilung […], muss ein entsprechendes Urteil vorausgegangen sein“925. 919 

Siehe oben in I.  1.2.2 den Abschnitt: Jesus und Simon Petrus: Bekennen versus Leugnen.

920 J. Gnilka, Mk II 305 (vgl. ders., Prozess 34–36): „Es ist damit zu rechnen, dass der Prozess

Jesu und der des Barabbas erzählerisch enger miteinander verknüpft wurden. Nur die Synchronie der Prozesse kann dieses Verfahren plausibel machen“; Kirner, Strafgewalt 281 Anm.  119, schließt nicht aus: „falls die Freilassung des Barabbas – aus welchen Gründen auch immer – mit der Kreuzigung Jesu zeitlich zusammenfiel, (konnte) schnell eine Erzählung entstehen […], die nachträglich einen Zusammenhang konstruiert, ohne dass es den Brauch der Begnadigung in der von den Evangelien suggerierten Form gegeben haben muss“. Wolter, Lk 748: „Der historische Kern dieses Vorgangs wird nur darin bestanden haben, dass ein Gefangener namens Jehošua bar Abba zufällig am selben Tag freigelassen wurde, an dem Jehošua bar Josef aus Nazareth hingerichtet wurde“; Rosen, Rom 58. 921  In Erinnerung an die „Erlösung“ der Väter aus Ägypten (mPes  10,5). Möglicherweise stand auch das kulturelle Wissen um Begnadigungen anlässlich religiöser Feste in der Antike Pate, dazu J. Merkel, Begnadigung 304 f.312–316; Waldstein, Untersuchungen 24 f. 922  Eisen, Literatur 111: „Die Barabbasamnestie, die […] sinnbildlich den Schuldlosen für den Schuldigen in den Tod gehen lässt, fügt sich dramaturgisch und theologisch äußerst passend der Gesamterzählung hinzu“; Ben-Chorin, Bruder 206, überzieht: Mt  27,16 f. enthält „eine soteriologische Abwandlung des Talion-Rechtes, Auge um Auge, Zahn um Zahn […]: Jesus um Jesus. Der unschuldige Jesus wird an Stelle des schuldigen Jesus geopfert. […] Barabbas ist so gesehen der Erstling der Erlösung durch den Opfertod Jesu. (Dieser Auffassung gab der schwedische Dichter Pår Lagerkvist in seinem Roman Barabbas 1950 Ausdruck)“; wohl könnte Jes  53,12d („er wurde zu den Frevlern gerechnet“) im Hintergrund stehen. 923  Zur rechtsgeschichtlichen Forschung Blinzler, Entscheid 171–184; Strobel, Stunde 132– 137; Brown, Death I 849–859. 924  Kirner, Strafgewalt 284; Fricke, Fall 420; Demandt, Prozess 181: Pilatus hat den „Friedensstörer […] ohne förmliche Verhandlung durch bloßen Machtspruch […] hinrichten lassen“. 925  Blinzler, Prozess 343; vgl. ders., Entscheid 182; Knothe, Prozess 96; Liebs, Recht 16; Paulus, Prozess 34; Reinbold, Prozess 100, u. a.; zurückhaltend Kirner, Strafgewalt 285 Anm.  132: kein „eindeutiger Hinweis auf ein förmliches Strafurteil“; Mayer-Maly, Bibelkunde

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Indizien, die als spätere Einträge in die Überlieferung nicht unmittelbar historisch auswertbar sind, zeigen immerhin, wie die Evangelisten den Sachverhalt sahen. Matthäus und Johannes erwähnen unabhängig voneinander das βῆμα, von dem aus der Präfekt seine Entscheidung getroffen habe (Mt  27,19; Joh  19,13)926 . „Todesurteile mussten vom Richterstuhl aus verkündet werden, während alle sonstigen Urteile und Verfügungen de plano erfolgen konnten“927. Die Rezeption des Motivs durch die beiden Evangelisten, das dem Verfahren einen offiziellen Anstrich geben sollte, verrät nicht nur, dass sie um jene Rechtspraxis wussten, sondern im Fall Jesu auch von einem förmlich gefällten Todesurteil ausgingen928 . Blinzler verweist noch auf Lk  24,20, wo die Emmausjünger von einer „Auslieferung“ Jesu durch die hohen Priester und Archonten „zum Todesurteil“ (παρέδωκεν … εἰς κρίμα θανάτου) sprechen, womit Lukas „ganz beiläufig“ verrate, „dass er von einer Verurteilung Jesu durch ­Pilatus weiß“929. Die Wendung κρίμα θανάτου ist allerdings nicht eindeutig; sie könnte auch nur „Todesstrafe“ bedeuten930 .

Die Evangelien überliefern zwar keinen förmlichen Schuldspruch931, beschließen aber ihre Darstellung mit einer Notiz zur Strafverhängung (Mk  15,15 par. Mt  27,26; anders Lk  23,25; Joh  19,16a). Adrian N. Sherwin-White bemerkt zu Recht, wie wenig juristische Details Markus im Unterschied zu Lukas bietet – mit Ausnahme von Mk  15,15 (par. Mt  27,26): „Matthew and Mark give the substantial equivalent of the technical duci iussit of Latin texts. The jurors of the Roman ordo gave a verdict of ‘guilty’ or ‘not guilty’, fecisse videtur, and the sentence prescribed by a statute law automatically followed. But the proconsul or procurator with imperium orders an execution“932 . 63–65; Rosen, Rom 57. – Beachtlich ist ein Papyrus aus der Zeit der Revolte in Alexandria (115– 117 n.Chr.), wo es zu den Statthaltern in Ägypten heißt: οὐδὲ γὰρ ἡγεμόσίν ἔξεστιν ἀκρίτους ἀπο[κ] τεῖναι (Tcherikover/Fuks u.a [Hg.], Corpus II 232: Papyrus Nr.  435, Kol. 3,16–18). 926  Blinzler, Prozess 346–356 („Exkurs XVII: Hat Pilatus das Bema bestiegen?“), hält im Unterschied zu Dibelius, Motive 226 f., der von einem sekundären Motiv ausgeht, Joh  19,13 par. Mt  27,19 für historisch glaubwürdig; zurückhaltend wieder Kirner, Strafgewalt 358: „Der Hinweis auf den ‚Richterstuhl‘ (bema) in Cäsarea oder Jerusalem reicht als Kriterium für ein reguläres Gerichtsverfahren nicht aus, da es sich hier m. E. um ein allgemeines Herrschaftssymbol handelt, von dem aus der Statthalter in unterschiedlichen Kontexten mit der Provinzialbevölkerung kommunizierte“; vgl. Jos, Bell  2,172: „Tags darauf setzte sich Pilatus in der großen Rennbahn auf seinen Richtstuhl (καθίσας ἐπὶ βήματος) und ließ das Volk herbeirufen (προσκαλεσάμενος τὸ πλῆθος) …“; 2,301. 927  Blinzler, Prozess 341, unter Berufung auf Mommsen, Strafrecht 447 f. (dazu siehe oben III.  1.3.4 unter [1]). 928  Bovon, Jours 55. 929  Blinzler, Prozess 428; ebd. 341. – Sollte Lk  24,20 auf Dtn  21,22 anspielen („wenn es bei jemandem eine Schuld gibt, eine Verurteilung zum Tode [κρίμα θανάτου] …“: siehe I.  1.2.1.3), ließe sich diese Annahme erhärten; zu ihren Gunsten spricht auch die Nähe von κατάκριμα θανάτου zu Πιλᾶτος ἐπέκρινεν γενέσθαι τὸ αἴτημα αὐτῶν (Lk  23,24). Vgl. oben II.  9.4 unter (2). 930 W. Bauer, Wörterbuch 915 (unter 4.b). 931  Historisch ist daraus nicht abzuleiten, Pilatus habe nur das Urteil des Synedrions bestätigt und einen Exekutionsbefehl erteilt. Es ist literarisch-theologische Strategie der PEG (und der Evangelisten, die ihr folgen), die „Auslieferung“ Jesu ans Kreuz durch Pilatus als Erfolg der „hohen Priester“ hinzustellen, ihr Todesurteil aus der Nacht zuvor bei Pilatus auch durchzusetzen (besonders deutlich Lk  23,25c; Joh  19,16a); das wäre Grund genug, einen offiziellen Richterspruch des Statthalters zu verschweigen. 932  Sherwin-White, Society 26 f.; vgl. ebd. 32.

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„Bei Verurteilung zum Kreuzestod lautete die Sentenz gewöhnlich: ‚Ibis in crucem‘ (Du wirst das Kreuz besteigen) oder: ‚Abi in crucem‘ (Fort ans Kreuz mit dir)“933, eine Formel, die hinter Mk  15,15 (= PEG) stehen könnte: „er lieferte (παρέδωκεν) Jesus aus […], dass er gekreuzigt würde“ 934. Παραδίδωμι = ausliefern begegnet auch in juristischen Texten935, ist aber im Kontext der PEG als Glied einer übergreifenden Kette zu sehen: „Judas gave Jesus over to the Jewish authorities; the Jewish authorities gave Jesus over to Pilate; now Pilate gives Jesus over to be crucified“936 . Überdies scheint dem Terminus aus der Perspektive des Markusevangeliums ein tieferer Sinn zuzuwachsen: „Der Menschensohn wird ausgeliefert in die Hände der Menschen (παραδίδοται εἰς χεῖρας ἀνθρώπων), und sie werden ihn töten“ (Mk   9,31)937. Ob G παρέδωκεν […] ἵνα σταυρωθῇ schon auf der Ebene der PE „doppelten“ Sinn besitzt, der für Markus des Öfteren vermutet wird938 , ist schwer zu sagen, lässt sich aber wegen des leitmotivischen Charakters von παραδίδωμι in der PEG nicht ausschließen939. 2.6.2 Zur Rechtsform des Verfahrens (1) Maßgebend für eine historische Beurteilung des Pilatus-Prozesses ist die Korrelation der eruierten Elemente mit den in 1.2.4 dargestellten Prinzipien römischer Strafverfahren, die mutmaßlich auch die Statthalterjustiz prägten: (a) Grundlegend für römische Prozesse ist das Erfordernis der Öffentlichkeit 940 . Wer den Ortsangaben der PEG (Mk  15,16) und dem Zeugnis des Josephus traut, wird es beim Prozess Jesu gewahrt sehen941. 933  Blinzler, Prozess 339 (mit Belegen ebd. Anm.  7); vgl. auch Hengel/Schwemer, Jesus 608: „In seinem Brief an Trajan bemerkt Plinius ganz knapp: perseverantes duci iussi, ‚die (nach zwei- oder dreimaligem Fragen und Vermahnen) hartnäckig Christen blieben, befahl ich (zur Hinrichtung) abzuführen‘ [Ep  10,96,3]“. 934 J. Gnilka, Mk II 304; Brown, Death I 854. 935  Popkes, Christus 135 f. („Prozess- und Gerichtssprache“); vgl. Jer  33,24LXX; Apg  8 ,3; 21,11; 28,17. 936  Brown, Death I 854; er fügt hinzu: „That chain scarcely delivers Pilate from participation“.  – παραδίδωμι ist Leitmotiv der PEG (vgl. oben S. 523 Anm.  12); überdies Mk  3,19; 10,33; Joh  19,11; Apg  3,13. 937 J. Gnilka, Mk II 54: Mk  9,31 gebraucht παραδίδωμι „in einem theologischen Sinn (LXX 4Kön  21,14; LXX Ps  105,41). […] Er hebt auf ein Handeln Gottes ab. Eine Anspielung auf Jes  53,6 oder 12 liegt nicht vor, weil dort das Ausliefern in jemandes Hände fehlt“; ebd. 303 zu Mk  15,15: „Jesus wird zur Kreuzigung ausgeliefert. Damit ist die letzte Station seiner Auslieferung in die Hände der Menschen (9,31) erreicht“. 938 A.Y. Collins, Mk 712.721: „the verb with an double meaning“; Brown, Death I 853: παραδίδωμι, „a theological term, not a juridical one“; Blinzler, Prozess 341; ders., Entscheid 172: „wichtiger als eine Angabe darüber, ob die Entscheidung des Statthalters ein förmliches Todesurteil war oder nicht, ist der urchristlichen Überlieferung der Hinweis, dass sich bei dieser Entscheidung die Weissagung des AT [Jes  53,6.12LXX] erfüllt hat“; E. Lohse, Märtyrer 133 Anm.  3. 939  Dann in dem Sinne, dass hinter dem „Ausliefern“ Jesu durch Menschen in die Gewalt anderer Menschen letztlich Gottes Handeln steht (siehe oben die Anm. zu Mk  9,31). Eine Anspielung speziell auf Jes  53,6.12 würde lediglich über die LXX-Übersetzung (Jes  53,6.12LXX: παρεδόθη εἰς θάνατον) funktionieren, nicht über den hebr. Text (V.12c wörtlich: „dafür, dass er sein Leben dem Tod preisgegeben/ausgeschüttet hat“ [Übersetzung Hermisson]). 940  Vgl. III.  1.3.4 unter (2) (c). 941  Siehe oben den Vorspann von III.  2.6.1; dort auch abweichende Stimmen.

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(b) Weder waren römische Soldaten an der Verhaftung Jesu beteiligt (gegen Joh  18,3.12) noch initiierte Pilatus das Verfahren. Das Prinzip der „privaten Anklage“ bzw. der Grundsatz, „dass dieselbe Person nicht zugleich Ankläger und Richter sein dürfe“942 , war gewahrt: Die Anklage gegen Jesus brachte der Hohepriester vor. Ob die Zulassung der Kläger nach römischen Regularien ablief, ist eher unwahrscheinlich943. (c) Die Anklage auf Königsprätendentenschaft zielte auf den Tatbestand des crimen laesae maiestatis: Wer immer sich anmaßte, König zu sein (indem er mit Diadem auftrat oder sich als König ausrufen ließ944), widersetzte sich der Hoheit des römischen Volkes und des Kaisers (maiestas populi Romani et principis) und machte sich des Hochverrats (perduellio) bzw. des Aufruhrs (seditio) schuldig 945. Rechtliche Grundlage war die lex Iulia maiestatis, von Augustus erlassen und von Tiberius extensiv angewandt946 . (d) Dem Angeklagten war ausreichend Gelegenheit zur Verteidigung zu geben947. Pilatus hielt sich daran, als er Jesus aufforderte, Stellung zu den „vielen“ Anklagen gegen ihn zu nehmen (vgl. Mk  15,3 f. = PEG). (e) Jesus nutzte die ihm gebotene Gelegenheit zur Verteidigung nicht (defensionem relinquere). Er schwieg. Weil Schweigen als Schuldeingeständnis galt, dürfte sich gemäß dem Prinzip: „Wo die Schuld bereits feststand, bedurfte es […] keines Strafverfahrens“948 , ein prozessuales Ermittlungsverfahren erübrigt haben. Deshalb kann strenggenommen von einem Prozess nicht mehr die Rede sein. (f) Weithin wird für das Verfahren die Rechtsform einer cognitio extra ordinem949 angenommen950 . Mit Jesu strafrechtlich relevantem Schweigen war das Verfahren allerdings schon zu Ende, bevor es richtig begann. Eine cognitio konnte „mit der bloßen Ausübung der coercitio enden“951.

942  Kirner, Strafgewalt 288. – Vgl. III.  1.3.4 unter (2) (d), außerdem die Ausführungen zur denuntiatio (Anzeige) und accusatio (Anklage) unter (1). 943  Kirner, Strafgewalt 265 Anm.  72; Paulus, Prozess 30, beschreibt das Zulassungsverfahren, weist aber zugleich unter Bezug auf Proculus (Dig  1,18,12) „auf die nahezu unbeschränkte Freiheit des römischen Präfekten“ hin, „das Verfahren nach seinem Belieben zu gestalten“. Musurillo, Acts 114: Bei peregrini war die Erhebung einer formellen Anklage nicht zwingend. 944  Vgl. die in Exkurs 11: Banditen und Rebellen etc., aufgeführten Fälle. 945  Bammel, Trial 434 f.; Hengel/Schwemer, Jesus 605; Paulus, Prozess 27: „‚König‘ durfte sich bei Todesstrafe nur derjenige nennen, der vom Princeps höchstpersönlich die Erlaubnis zur Führung dieses Titels erhalten hatte“. – Zu den strafrechtlichen Kontexten Kübler, Art. Maiestas 550–554. 946  Suet, Tib  58: „Um dieselbe Zeit stellte ein Prätor die Frage, ob Tiberius befehle, die Gerichte für die Behandlung von Majestätsbeleidigungen (iudicia maiestatis) einzuberufen. Man müsse die Gesetze anwenden, war seine Antwort – und er wandte sie aufs grausamste an“; vgl. Tac, Ann  2,50 („mächtig wuchs sich inzwischen das Majestätsgesetz aus […]“); 3,38. – Blinzler, Prozess 311 f.339; Brown, Death I 717; Reinbold, Prozess 84. – Kirner, Strafgewalt 265: Jesu Hinrichtung wegen der vorgebrachten Anklage („Königsprätention“) stehe „[a]ufgrund der Kreuzesinschrift“ fest, aber es sei fraglich, „ob ein förmlicher Straftatbestand, etwa nach der lex Iulia maiestatis, […] zur Verurteilung und Hinrichtung eines Provinzialen ohne Bürgerrecht und erkennbaren gehobenen sozialen Status überhaupt notwendig war“. 947  Vgl. III.  1.3.4 unter (2) (e). 948  Vgl. III.  1.3.4 unter (2) (b). 949  Vgl. III.  1.3.4. 950  Sherwin-White, Society 24–27 (diese Einschätzung auf der Basis einer Zusammenschau der Synoptiker); A.Y. Collins, Genre 15; Bovon, Jours 55; vgl. Brown, Death I 710–722; Knothe, Prozess 89 f. u. a. 951  Kirner, Strafgewalt 287; ähnlich Rosen, Rom 56: „[A]us dem Kriminalprozess (wurde) ein

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(g) Wollte der Statthalter „die Strafe an einem confessus nicht sogleich vollstrecken lassen“, konnte er „weiter nachhaken […], sei es durch wiederholtes Nachfragen oder durch die peinliche Befragung“952 . Wer der PEG (= Mk  15,4 f.) auch hier traut, wird von einem „wiederholten Nachfragen“ des Pilatus ausgehen. (h) Wenn dem Statthalter nachgesagt wird, er habe alles unternommen, um Jesus „freizugeben“, geschieht das in der Regel unter Verweis auf den von der PEG anschließend geschilderten Begnadigungsakt zum Pascha-Fest953. Umgekehrt gibt dieser aber auch Anlass, Pilatus die „richterliche Unparteilichkeit“ überhaupt abzusprechen954. Überlegungen dieser Art erübrigen sich: Der Vorgang dürfte, wie oben aufgezeigt, nicht historisch sein. (i) Nach Jesu scheinbarem Schuldeingeständnis konnte Pilatus umstandslos einen Vollstreckungsbefehl erlassen955. Sollte er doch ein förmliches Urteil mit Schuldspruch gefällt haben, könnte ihn dazu dieselbe Absicht wie bei der Ausfertigung des titulus crucis geleitet haben: den Vorgang zu einer „öffentlichen Demonstration“ gegen Königsprätendenten zu nutzen956 . (j) Das Strafmaß für den Tatbestand perduellio bzw. seditio stand fest: Der Schuldige – ein Provinziale – war mit dem Tod am Kreuz zu bestrafen957.

(2) Das Verfahren vor Pilatus wird unterschiedlich bewertet. Von einem „eklatante(n) Justizskandal“958 ist die Rede bzw. davon, dass Jesus „Opfer eines Justizmordes“959 geworden sei. Die Gegenposition lautet: Seine Verurteilung zum Tod am Disziplinarverfahren […], das der über Jesu Schweigen empörte Pilatus mit einem simplen ‚Abführen‘ (ducite eum) beendet haben dürfte (vgl. Plinius 10,96,3)“. 952  Kirner, Strafgewalt 284; Paulus, Prozess 31, unter Verweis auf Plin, Ep  10,96: Dieser hat „auch geständigen Christen die wiederholte Chance eingeräumt […], sich aus dem Anwendungsbereich der Regel confessus pro iudicato habetur herauszuwinden“. 953  Kirner, Strafgewalt 281, erklärt sich den Einbezug Jesu in das Amnestieverfahren damit, „dass Pilatus nach den schwerwiegenden Anklagen und Jesu Verzicht auf Verteidigung kaum mehr etwas anderes übrigblieb, wollte er keine nachhaltigen Spannungen mit den jüdischen Autoritäten heraufbeschwören. Falls Jesus auf Pilatus nicht den Eindruck gemacht hatte, einer dieser religiös-militanten Aufrührer zu sein, so bestand in der Begnadigungsalternative wenigstens eine gewisse Chance, diesen anstelle des Barabbas freilassen zu können, an dessen Verbrechen wohl weit weniger Zweifel bestanden“. Pilatus habe sich von einem „herrschaftspragmatisch orientierten Entscheidungskalkül“ lenken lassen. Ist die Barabbas-Episode legendarisch, erübrigen sich Spekulationen über die Motive des Statthalters. 954  Lohfink, Tag 46: „Er (sc. Pilatus) hatte nicht mit richterlicher Unparteilichkeit nach der Schuld oder der Unschuld des Angeklagten gefragt, um dann von da aus alles zu entscheiden, sondern er hatte Jesus zum Instrument für die Erreichung anderweitiger Interessen machen wollen. Er hatte schon von Anfang an die richterliche mit der politischen Ebene verquickt“. 955  Nicht korrekt deshalb J. Gnilka, Mk II 303 f.: „Dass ein Todesurteil ohne Spruch erging, ist zu verneinen, weil von einem Geständnis Jesu, das diese Möglichkeit eröffnet hätte, nicht gesprochen werden kann“. 956  Förster, Titulus 133; siehe oben unter III.  2.2 gegen Ende. 957  Kuhn, Kreuzesstrafe 724–727. 958  Wenz, Studium Bd.  5, 278; ebd.: „die Anklage“ war „in jeder Hinsicht unhaltbar“; Jesus wurde „nach einem Schnellverfahren um der Aufrechterhaltung von öffentlicher Ruhe und Ordnung willen hingerichtet“, wobei „das römische Verfahren im Falle Jesu auf äußerem Schein beruhte und eines inneren Rechtsgrundes entbehrte. Denn ein Rebell im herkömmlichen Sinn, ein politischer Aufrührer oder gar ein krimineller Bandit war der historische Jesus erkenntlich nicht“. 959  Mayer-Maly, Auftreten 231; ebenso Demandt, Geschichte 86; ders., Prozess 181: Pilatus hat den „Friedensstörer“ Jesus „ohne förmliche Verhandlung durch bloßen Machtspruch […] hinrichten lassen“; er hätte sich „um das Judengezänk nicht weiter gekümmert, wenn Kaiphas im Einvernehmen mit den übrigen Schriftgelehrten nicht insistiert und mit dem Jesus anhängenden

692

III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Kreuz steht „im Einklang mit dem damaligen Recht“960 . Wird unter einem „Justizmord“ die vorsätzliche falsche Anwendung des Rechts mit der Folge der Todesstrafe verstanden, dann trifft die Bewertung nicht zu. Nach der hier gebotenen historischen Analyse der Texte lässt sich nicht behaupten, Pilatus habe gegen Grundprinzipien des römischen Rechts verstoßen. Wenn Jesus „die Chance der Verteidigung“ nicht nutzte, ist das „jedenfalls nicht dem Statthalter anzulasten“961. Ist dann Jesus, der faktisch nicht der Königsprätendent war, als der er angeklagt, verurteilt und gekreuzigt wurde, Opfer eines „Justizirrtums“962 geworden? Für Jesu Anhänger (nicht unbedingt alle) mag es festgestanden haben, dass er kein Königsprätendent sein wollte, nicht per se für den Statthalter. Seine Wahrnehmung dürfte vom Eindruck zurückliegender Revolten gegen Rom bestimmt gewesen sein. Gab er dennoch Jesus die Gelegenheit, die Anklage auf Königsprätendentenschaft zurückzuweisen bzw. sich zu diesem Vorwurf zu erklären, lässt sich dieser nicht zum „Justizopfer“ stilisieren. Zwar hat es den Anschein, als hätte Pilatus „kurzen Prozess“ mit Jesus gemacht. Genau besehen kann ihm aber ein skrupelloser Umgang mit dem Angeklagten nicht nachgesagt werden. Bei alldem darf die gesellschaftlich prekäre Situation Judäas nicht vergessen werden, in der Pilatus für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatte. Der Fall Jesu sollte weder „mit rechtsstaatlichen Kategorien bewertet“, noch „mit anachronistischen Moralisierungen überfrachtet“ werden963. 2.6.3 Geißelung und Verspottung Jesu (1) Pilatus ließ Jesus unmittelbar nach dessen Übergabe an die Soldaten geißeln964. „Als Neben- oder Begleitstrafe“ zur Todesstrafe ist die Geißelung bei den Römern vielfach belegt965. „Der Vollstreckung der Todesstrafe durch Kreuzigung ging wohl kapitalen Königstitel den hinreichenden Rechtsgrund geliefert hätte. Über die quaestio iuris wurde die quaestio facti vernachlässigt“. Die Rede vom „Justizmord“ hat eine lange Tradition, zum 19.  Jh. siehe die Lit.-Hinweise bei Dörr, Prozess 4 Anm.  7. 960  Paulus, Prozess 35; Liebs, Recht 16: die „Mindesterfordernisse für einen Strafprozess in der Provinz gegen Nichtrömer waren erfüllt“; Kirner, Strafgewalt 279: „ein grundsätzlich, d. h. für damalige Verhältnisse faires Verfahren“. 961  Reinbold, Bericht 197–199 („Der Tod Jesu als Justizirrtum“); Kirner, Strafgewalt 279. 962  Die Annahme eines „Justizirrtums“ erforderte den Nachweis, dass Pilatus bindende Rechtsbestimmungen missachtet habe, der aber nicht geführt werden kann, weil solche Rechtsbestimmungen nicht zu belegen sind. Mehr als die oben aufgezeigte Respektierung rechtlicher Grundprinzipien durch Pilatus lässt sich nicht behaupten. 963  Kirner, Strafgewalt 285 Anm.  133. 964  Mk  15,15 (= PEG): φραγελλόω (von lat. flagellare); keine Ausmalung im Unterschied zu den frühjüdischen Martyrien (vgl. 4Makk 6,2–11, eine drastische Schilderung der Geißelung des Eleazar; in 9,12 ist sie Teil der Hinrichtung). 965  Waldstein, Art. Geißelung 481. „[I]m Zusammenhang mit einer einfachen Hinrichtung“ ist sie „vor allem bei Livius sehr häufig bezeugt“. Blinzler, Prozess 322, bietet eine Übersicht über die verschiedenen Zwecke, zu denen die Römer eine Geißelung verhängen konnten. Lk versteht die von Pilatus angebotene Geißelung Jesu als selbständige Strafe, die aber nicht verhängt wird, weil die „hohen Priester“ das Angebot des Statthalters zurückweisen; vgl. Sherwin-­White, Society 27 f.

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

693

immer die G[eißelung] voraus“966 . Viele Delinquenten überlebten diese grausame Strafe nicht und brachen tot zusammen967. Auch Jesus muss schwer gelitten haben. Auf dem Weg zur Richtstätte ging ihm die Kraft aus, das Querholz (patibulum) zu tragen. (2) Im Unterschied zur Geißelung ist der historische Wert der Verspottungsepisode zweifelhaft. Bereits ihre Lokalisierung „im Inneren des Palastes“ weckt Fragen968: Gab es Augenzeugen, die von dem Vorfall berichten konnten?969 Aufmerken lässt die theatralische Steigerung der Spottszene vor der „ganzen Kohorte“970 . Lässt sich dieser Erzählzug als Übertreibung von einem ursprünglich klein dimensionierten Vorfall „abziehen“ oder signalisiert er eine Inszenierung nach dem Vorbild der antiken Theaterposse?971 „Verspottung und Misshandlung eines moriturus durch römische Soldaten sind durch viele Beispiele belegbar“972 und stellen insofern „nichts Außergewöhnliches“ dar und sind „glaubhaft“973. Doch problematisch ist die konkrete Gestalt der Episode, weil sie das Leitmotiv der ganzen Szene abschließend nochmals vor Augen führt, um es zugleich zu brechen: Jesus ist „König der Juden“ gerade in seiner Schwachheit und in seinem Leiden. Die Episode wird „legendarisch“ sein974.

Exkurs 11: Rebellen und Banditen, Propheten, Gotteskrieger und Königsprätendenten Die im Folgenden aufgeführten Gestalten unterscheiden sich teils erheblich voneinander. Dennoch zeigen ihre Auftritte vergleichbare Muster (siehe unter [2]). Chronologisch gelistet, bieten sie Einblicke in die sozialen und politischen Brennpunkte Palästinas zu herodianisch-römischer Zeit (siehe unter [1]). Jesus von Nazaret ist in die Liste aufgenommen, um anzudeuten, welche Assoziationen und Befürchtungen 966  Waldstein, Art. Geißelung 482. – Geißelung vor einer Kreuzigung: Philo, Flacc  72; Jos, Bell  2,306.308; 5,449; 7,200.202; Liv  33,36,3; Sen, Ad Marciam  20,3. 967  Dig  48,19,8,3: „Plerique dum torquentur deficere solent“. Blinzler, Prozess 320 Anm.  7. 968  Während die Geißelung wohl öffentlich war (Jos, Bell  2 ,308: Florus ließ jüdische Bürger, vor aller Augen „vor seinem Richterstuhl“ geißeln und dann kreuzigen), findet die Verspottung hinter „verschlossene(n) Türen“ Mutschler, Verspottung 3) statt. Die PEG lokalisiert im Unterschied zur Verspottung die Geißelung nicht. 969  Hengel/Schwemer, Jesu 611, löst das Problem so: Das „Motiv der Judenfeindschaft erklärt auch, dass die Vorgänge der Verspottung in der Kaserne in der Stadt bekannt wurden. Dafür sorgten die Soldaten selbst, denn durch dieses Geschehen musste sich jeder nationalbewusste Jude betroffen und beleidigt fühlen“. 970  Siehe oben II.  9.2 unter (4). 971 Dazu Mutschler, Verspottung 63–72 „Mk  15,16–20a als parodierte Königsaudienz“. 972  Ebd. 146. 973  Ebd. 22. Seine weitere Argumentation, dass die Episode von hohem Alter und Teil der vormkn. Passionsgeschichte sei (21), verfängt nicht. 974  Bultmann, Geschichte 332; A.Y. Collins, Mk 723: „It is certainly credible that soldiers mocked Jesus, but the details of the scene cannot be assumed to be historically reliable, especially since they develop the literary theme of the ironic kingship of Jesus“.

694

III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

sein Wirken in der Wahrnehmung der Herrschenden auslösen musste. Pauschale Berichte über Einzelaktionen, Aufstände und militärische Aktionen samt ihren Kommandanten im Vorfeld des Jüdischen Krieges sind nicht berücksichtigt975. Ohne auf die Personen und die komplexe „Frage nach der Einheit und Vielfalt der jüdischen Befreiungsbewegung 6–74 nach Christus“976 und deren sozialgeschichtliche Hintergründe977 im Einzelnen eingehen zu müssen, seien im Folgenden lediglich Beobachtungen gesammelt, die geeignet sind, Licht auf den Prozess Jesu zu werfen (siehe unter [3]).

975  Z. B. der Kampf des Herodes um Stabilisierung seiner Herrschaft gegen galiläische „Räuberbanden“ (Bell  1,304–313), an die sog. Adler-Affäre in seinem Todesjahr (Jos, Bell  1,648–655; Ant  17,149–167) oder die Unruhen nach seinem Tod (Ant  17,269). 976  Hengel, Zeloten 378–402 (so der Titel seines „Nachtrags“ zu seinem Buch von 1961, in dem er die Kritik, wo sie ihm berechtigt erschien, gegen seine These einer relativ geschlossenen Widerstandsbewegung seit Judas Galilaios aufgriff, von der er angenommen hatte, sie sei durchgehend aktiv geblieben und habe sich erst im Krieg gegen Rom [66–70 bzw. 72 n.Chr.] in gegen­ seitig sich bekämpfende Gruppierungen aufgespaltet); vgl. ebd. 403–448 zur Wirkungsgeschichte des Buches: Deines, Freiheitsbewegung; außerdem Riedo-Emmenegger, Provokateure 232– 244.245–275; Egger, Crucifixus 209–211, u. a. Zu den wichtigsten Kritikern der These Hengels, die zwischen „Sozialbanditentum“, „Propheten“ und „Messiasprätendenten“ unterscheiden, gehört Horsley, Zealots 159–192; ders, Jesus; Horsley/Hanson, Bandits 190–143. 977  E.W. Stegemann/W. Stegemann, Sozialgeschichte 148–166.

Plünderung königlicher Schlösser (u. a. Jericho)980

bemächtigt sich der im Zeughaus von Sep­phoris aufbewahrten Waffen; Plünderungen etc.

Aktionen

Bande „aus den Gegenden jenseits des Jordan“

mit einer „Schar verkommener Menschen“

„mit großer Schar“

Gefolge/ Zielgruppe

„wagte sich das königliche Diadem aufzusetzen“; „ließ sich als König begrüßen“

strebt nach der „Königs­ herrschaft“ (Ant.  17,272)

Selbst­verständnis Ziele

Dieser Terminus noch des Öfteren bei Josephus: Bell  2,56.253.275; 4,135; 5,30; Ant  20,5; Vita  105 etc. Hengel, Zeloten 326. 980  In Ant  17,277 erzählt Josephus von ähnlichen Horden wie denen des Simon, die ein königliches Schloss bei Amatha anzündeten.

979 

978 

Tac, Hist  5,9,2

Peräa

wie Nr.  2

Simon, Knecht Bell  2,57 f. Ant  17,273– des Königs 276 Herodes

3

Galiläa / von Sepphoris, der Hauptstadt Galiläas, aus

unmittelbar nach dem Tod des Herodes (Ende März/ Anfang April 4  v.  Chr.) – noch unter Varus (7/6 v.  Chr.– 4 v.  Chr.)

Bell  2,56 Ant  17,271 f.

Judas Sohn des Ezechias

2

? / galiläisch-­ syrisches Grenzgebiet

Herkunft/ Wirksamkeit

unter Antipater / Hyrkan

Zeit

Bell  1,204 Ant  14,159

Ezechias „Banden­ führer“ (ἀρχιλῃστής)978

Quellen

1

Namen

Enthauptung durch Gratus, Befehlshaber der Soldaten des Herodes

Varus erobert Sepphoris und zerstört die Stadt (Ant.  17,289); Judas taucht vermutlich unter 979

vom jungen Herodes ca. 47 v. Chr. in Galiläa getötet

Ende des Anführers, der Bewegung etc. 2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

695

Athronges (mit 4 Brüdern)

Johannes der Täufer

Ant  18,116– 119

unter Herodes Antipas

„in den Tagen der Volkszählung“ (Apg)

viel Volk

Gefolge/ Zielgruppe

priesterliche Tauftätigkeit Israel Abstammung und Um(Lk  1,5–25) / kehrpredigt Jordan

Gamla / Galiläa

Aktionen

„er kam um“ (Apg); Zerstreuung seines Anhangs (Apg)

Kampf σοφιστής gegen den (Bell  2,118) = Zensus „Lehrmeister (Gesetzeslehrer)“

Gerichtsprophet Bereitung Enthauptung (wiedergekom- des Volks durch Herodes für das mener Elija?) Antipas nahe Gericht

Niederschlagung des Aufstands, die Rädelsführer kom­men um (die Brüder des Athronges)

Ende des Anführers, der Bewegung etc.

„er legte sich das königliche Diadem an […]; er führte den Titel König“ (Ant  17,280 f.)

Selbst­verständnis Ziele

981  Hengel, Zeloten 292.329 f.: „Wahrscheinlich ist er mit jenem Judas zu identifizieren, der zehn Jahre zuvor in Sepphoris, der Hauptstadt Galiläas, die Fackel des Aufruhrs erhoben hatte“; ebd. 330 f. zu den Nachfahren des Ezechias, die der Freiheitsbewegung angehörten (Hengel spricht von einer „Dynastie“): Judas, Sohn des Ezechias = Judas der Galiläer – dessen Söhne Simon und Jakob, unter Tiberius Alexander (45–48 n.Chr.) gekreuzigt (Ant  20,102) – Menachem, Sohn (oder Enkel) des Galiläers Judas (vgl. Nr.  17) – Eleazar, Anführer der Sikarier: „ein Nachkomme des Judas“ (Bell  7,253).

6

Apg  5,37

unter Quirinius (6/7 n.  Chr.) bzw. Coponius

zeitgleich wie Schafhirt Nr.  2, aber bis in die Regierungszeit des Archelaos (4.v.-6  n.Chr.) hinein

Bell  2,60–65 Ant  17,278– 284

Herkunft/ Wirksamkeit

Zeit

Quellen

5 Judas Bell  2,118.433; (= 2?) der Galiläer 981 Ant  18,4– 10.23–25; 20,102

4

Namen

696 III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

10

982 

Ant  20,5

Zu ihm vgl. oben III.  1.4 unter (3).

Tholomäus (ἀρχι-λῃστής)

bald nach Amtsantritt des Cuspius Fadus (44– 46 n.  Chr.)

Idumäa / Arabia

anonymer Samaria Ant  18,85–87 36  n.Chr., Samaritaner 982 unter Pontius Tirathaba / Garizim Pilatus

9

unter Pontius Pilatus

Jesus Barabbas Mk  15,7; Joh  18,40

unter Pontius Nazareth / Galiläa + Pilatus (2–36  n.  Chr.) Jerusalem

Herkunft/ Wirksamkeit

8

Tac, Ann  15,44,3

Ant  18,87–89

Zeit

Jesus von Nazaret

Quellen

7

Namen

Gefolge/ Zielgruppe

bewaffnetes Besteigung des Garizim, Volk um die dort von Mose vergrabenen heiligen Gefäße vorzuzeigen

Wunder und Jüngerschaft „Macht­ taten“

Aktionen

der endzeitliche Prophet gemäß Dtn 18,18?

„hingerichtet durch den Prokurator Pontius Pilatus“ (Tacitus)

SammHerold der Königsherrschaft lung IsraGottes els im Zeichen der Basileia Gottes

Hinrichtung

freigelassen

Ende des Anführers, der Bewegung etc.

Selbst­verständnis Ziele

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

697

Eleazar, Sohn des Dinaeus

12

Bell  2,234– 246 (neben Eleazar ein Alexander) Ant.  20,161

Apg  5,36

Ant  20,97–99

Quellen

Herkunft/ Wirksamkeit

gegen Ende Judäa der Amtszeit des Cumanus (48–52  n.Chr.) bzw. unter Felix (52/53– 59  [?] n. Chr.) 983

? / Judäa (Jos) unter Cuspius Fadus „vor diesen Tagen“ (Apg)

Zeit

Gefolge/ Zielgruppe

im Kontext eines Konflikts zwischen Galiläern und Samaritanern (Bell)

samt „Räuber-­ bande“; Irreleitung des Volkes (Ant)

Veranlasst 400 Mann eine große Gefolge Menge, unter (Apg) Mitnahme ihrer Habe ihm zum Jordan zu folgen (Jos)

Aktionen

„er behauptet, Prophet zu sein“; in Aussicht gestellte Beglaubigung durch Mose-­ Wunder (Jos); „er behauptete, jemand zu sein“ (Apg)

Selbst­verständnis Ziele

Hinrichtung der Aufständischen (Bell) bzw. Abtransport nach Rom

„er wurde getötet“ (Apg); Enthauptung/ Zurschaustellung seines Kopfes in Jerusalem (Jos); Zerstreuung seiner Bewegung (Apg)

Ende des Anführers, der Bewegung etc.

983  Der in Bell  2 ,234–46 berichtete Aufstand fand noch vor Amtsantritt des Felix statt (vgl. 247), der summarische Bericht von Ant  20,161 datiert ihn danach (160).

Theudas

11

Namen

698 III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

anonymer Ägypter

14

Jerusalem

unter Felix

Apg  21,38

Bell  2,261– 263; Ant  20,169;

Jerusalem

unter Felix

Bell  2,258– 260 984; Ant  20,167 f.

Herkunft/ Wirksamkeit

Zeit

Quellen

„sie beredeten eine Men­ge“; „viele glaubten ihnen“ „Anhänger“ (171); „das gemeine Volk“

Plan: Ölberg-­ Besteigung; Einsturz der Stadtmauern auf sein Geheiß hin; Eingang in die Stadt

Gefolge/ Zielgruppe

Auszug in die Wüste985 mit dem Versprechen von „Zeichen der Freiheit“

Aktionen

„Falschprophet (ψευδοπροφήτης) aus Ägypten“ (Bell  2,261) (Wunder auf sein Geheiß; bahnt den Weg in die Stadt)

Nieder­ schlagung

Ende des Anführers, der Bewegung etc.

Nieder­ Einzug schlagung 986 in die Stadt vom Ölberg aus

„Zeichen der Freiheit“ (Bell)

Selbst­verständnis Ziele

984  Bell  2 ,258 f.: „Außerdem bildete sich eine weitere Bande von nichtswürdigen Menschen, deren Hände zwar reiner, deren Gesinnung aber umso gottloser waren (ἀσεβέστερον; vgl. Dtn  17,13), die nicht weniger als die Meuchelmörder [die Sikarier!] zur Zerstörung des Glücks der Stadt beitrugen. Sie waren nämlich Schwarmgeister und Betrüger, die unter dem Vorwand göttlicher Eingebung (προσχήματι θειασμοῦ) Unruhe und Aufruhr hervorriefen und die Menge durch ihr Wort in dämonische Begeisterung versetzten (δαιμονᾶν)“. 985  Zum Auftritt in der Wüste vgl. Mt  24,26 (unmittelbar nach der Ankündigung von Falschpropheten): „wenn sie euch also sagen: Siehe, in der Würste ist er! Geht nicht hinaus!“ 986  Ant  20,172: „der Ägypter selbst aber entkam aus dem Treffen und wurde unsichtbar“.

„Schwarmgeister und Betrüger“

13

Namen

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

699

Bell   6 ,300– 309

Ant  20,187 f.

Quellen

unbekannt; Anführer („wenn sie [sc. die Menge] ihm in die Wüste folgt“)

Ende des Anführers, der Bewegung etc.

Unheils­ prophet gegen den Tempel (auf den Spuren des Jeremia)

Verspre- Nieder­ chung von schlagung Glück­ seligkeit und Befreiung von allem Elend

Selbst­verständnis Ziele

Einzelgänger „ein ungebildeter Mann“ (Bell  6 ,300)

Verspre„Anhang“ chung eines (188); heilvollen Volksmenge Auszugs in die Wüste987

Judäa

Gefolge/ Zielgruppe

Aktionen

Herkunft/ Wirksamkeit

unter Albinus vom Land (62–64 n. Chr.) und Florus (64–66 n. Chr.) 7 Jahre und 5 Monate lang (62–69 n. Chr.)

unter Festus (60–62 n. Chr.)

Zeit

Im Unterschied zu den „Betrügern“ von Bell  2,258–260 hat dieser hier der Menge den Auszug erst noch versprochen.

Jesus ben Ananias

16

987 

anonymer „Betrüger“

15

Namen

700 III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

69  n.Chr. bekommt er Jerusalem in seine Hand

66  n.Chr. (Beginn des jüdischen Krieges)

Bell  2,433– 448

Bell  4,503– 544.556–584; 6,433 f.; 7,26– 36.153–155

Zeit

Quellen

Angriff auf und Ein­nahme von Jerusalem

organisierte „Truppe“

„sein Heer bestand nicht nur aus Sklaven oder Räubern, sondern umfasste auch eine stattliche Zahl von Bürgern, die ihm wie einem König gehorchten“ (Bell  4,510)

am Ende des Triumph­ zuges für Vespasian und Titus in Rom (beim Forum) hingerichtet

Tötung Menachems und Vertreibung seines Anhangs aus Jerusalem durch die Priesterschaft um Eleazar, Sohn des Ananias

σοφιστὴς δεινότατος = „sehr bedeutender Lehrmeister (Gesetzeslehrer)“ (Bell  2,445) (vgl. oben Nr.  5)

„Führer des Aufstands“ mit bewaffneter Gefolgschaft

„zog (von Masada aus) wie ein König nach Jerusalem hinauf, wurde Führer des Aufstandes“ bei der Belagerung der Königsburg (434)

„Mann aus dem Volk“ (443)

Gerasa / judäisches Grenzgebiet, Jerusalem

Ende des Anführers, der Bewegung etc.

Selbst­verständnis Ziele

Gefolge/ Zielgruppe

Aktionen

Herkunft/ Wirksamkeit

Bar Giora = Sohn eines Proselyten/Fremden (aram.: ‫ ; גיורא‬hebr.: ‫ ;)גר‬vgl. Hengel, Zeloten 373 Anm.  306; O. Michel, Studien 403.

Simon Sohn des Giora988

18

988 

Menachem, „Sohn (oder Enkel) des Galiläers Judas“ (vgl. oben Nr.  5)

17

Namen

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

701

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

(1) Tacitus bemerkt in seinem Exkurs über Judaea: sub Tiberio quies – unter Tiberius (14– 37 n. Chr. Cäsar) herrscht Ruhe 989. Ein Blick auf die Tabelle scheint dies zu bestätigen. Aufstände gab es in Umbruchzeiten: gegen Ende der hasmonäischen Herrschaft (Nr.  1) 990 , unmittelbar nach dem Tod des Herodes im Kampf um seine Nachfolge (Nr.  2–4)991, bei der Umgestaltung Judäas in einen Annex der Provinz Syrien infolge des Zensus (Nr.  5)992 . Aus der Amtszeit des Pilatus sind nur einzelne Affären bekannt (Nr.  9)993. Erst wieder aus der Zeit nach dem Tod von Agrippa I. (44  n.Chr.) und verstärkt aus den beiden Jahrzehnten vor Kriegsausbruch erzählt dann Josephus, wie sich die Gewaltspirale immer schneller dreht (Nr.  10–18)994. (2) Die aufgeführten Figuren – abgesehen von Johannes dem Täufer, Jesus von Nazaret und Jesus ben Ananias – diffamiert Josephus durchweg als „Aufrührer“ (στασιασταί), „Banditenführer“ (ἀρχιλῃσταί), „Räuber“ (λησταί). „Verführer und Gaukler“ (ἀπατεῶνες, γόητες). Dem Volk hätten sie nur Schaden zugefügt. Hinter seinen Wertungen das Selbstverständnis der „charismatischen“ Führungsgestalten wiederzugewinnen, ist schwierig. Die jüngere Forschung, welche die Pluralität der meist in den Unterschichten entstandenen, teils gegeneinander agierenden Gruppierungen herausarbeitet, folgt Josephus insoweit, als sie diese vom soziologischen Konzept eines „Sozialbanditentums“ her begreift, dessen Ursachen in den sozialen Verwerfungen der palästinischen Gesellschaft der herodianisch-römischen Zeit zu suchen sind995. Das schließt nicht aus, dass einzelne „Karrieren“ sich in Anknüpfung an 989  Tac, Hist  5,9. „Es ist ein Kirchhofsfriede. Aber unter der Decke arbeitet die zelotische Untergrundbewegung“ (E. Stauffer, Jerusalem 16, zitiert bei Hengel, Zeloten 336 Anm.  129, im Sinne seiner Kontinuitäts-These). 990  Ob es sich bei Ezechias (zum Kontext siehe III.  1.5.2 unter [1]) lediglich um Sozialbanditentum handelt (E.W./W. Stegemann, Sozialgeschichte 158) oder wegen der Befassung des Synedrions mit dem Fall mehr dahinter steckt (ebd. Anm.  169), ist strittig; vermutet wird Widerstand gegen den Edomiter Antipater und seine Söhne (Hengel, Zeloten 312–314) bzw. auch gegen die römische Fremdherrschaft (Michel/Bauernfeind, Josephus I 412 Anm.  106, zu BJ 1,204). 991  Jos, Ant   17,206–298; dazu Hengel, Zeloten 324–328 („Die Unruhen nach dem Tod des Herodes“). – Josephus beschließt seinen Bericht zu Nr.  2–4 mit dem Resümee: „So war Judäa eine wahre Räuberhöhle, und wo sich nur immer eine Schar von Aufrührern zusammentat, wählten sie gleich Könige, die dem Staate sehr verderblich wurden […]“ (Ant  17,285) (dazu Egger, Crucifixus 196 f.). 992  Im Kontext des Zensus spricht Josephus von der Entstehung einer (neben den Pharisäern, Sadduzäern und Essenern) „vierten Sekte“ (Ant 18,9), die von Judas Galilaios und dem Pharisäer Saddok ins Leben gerufen worden sei; er erweckt den Eindruck, als sei die gesamte zum Krieg hinführende Freiheitsbewegung Folge dieser Gründung; in seinem Bericht zur Situation Jerusalems im Krieg (Bell  7,253–274) differenziert er zwischen fünf verschiedenen Gruppierungen: den Sikariern unter Eleazar, den Anhängerschaften des Johannes von Gischala und des Simon ben Giora, den Idumaäern und den Zeloten. 993  Siehe oben III.  1.4. – Hengel, Zeloten 337, verweist auf „Spuren“ der Wirksamkeit von antirömischen Widerstandsgruppen in den Evangelien wie die Zinsgroschenfrage oder Barabbas (siehe oben 2.6.1.3) und meint, „Simon ‚der Eiferer‘, einer der zwölf Jünger Jesu, (sei) der erste Zeuge für den Parteinamen der Zeloten“. 994  Nach der Hinrichtung des Tholomäus durch Fadus (Nr.  11) heißt es: „und bald war durch seine (sc. des Fadus) Energie ganz Judäa von den Räuberhorden befreit“ (Ant  20,5). Zur Amtszeit des Felix: „Die Verhältnisse Judäas wurden inzwischen von Tag zu Tag zerrütteter. Denn das Land war abermals voll von Räubern und von Betrügern, die das Volk irreleiteten. Felix nun ließ von diesen wie von jenen tagtäglich eine große Anzahl ergreifen und hinrichten“ (Ant  20,160 f.); es folgen die Berichte Nr.  13–15. 995  E.W./W. Stegemann, Sozialgeschichte 157: „Der Begriff kennzeichnet bäuerliche outlaws, die in agrarisch strukturierten Gesellschafen als Reaktion auf traditionale und soziale Destabili-

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biblische Vorgaben auch prophetisch-messianisch aufluden996 . Von Josephus, der sich über die messianischen Hoffnungen seines Volkes als Grund des Widerstands gegen Rom fast völlig ausschweigt, um die Vorbehalte gegen das Judentum bei seinen Lesern nicht noch zu verstärken, sind unmittelbare Aufschlüsse darüber weniger zu erwarten997. Dennoch liefert er Indizien und – wie im Fall des Judas Galilaios – auch direkte theologische Hinweise, die es verbieten, zumindest dessen Freiheitsbewegung auf pures „Sozialbanditentum“ zu reduzieren. In Bell  2,118 erklärt Josephus: Judas habe seine Landsleute zum Abfall verführt, „indem er es für einen Frevel erklärte, wenn sie es ertrügen, den Römern Steuern zu zahlen, und außer Gott Sterbliche als Herrscher (μετὰ τὸν θεὸν […] θνητοὺς δεσπότας) anerkennen würden“ (vgl. auch Bell  2,433). In den Antiquitates wird er noch deutlicher: Die Sekte des Judas stimme in allem mit den Pharisäern überein, nur darin nicht, dass seine Anhänger „mit großer Zähigkeit an der Freiheit hingen (τοῦ ἐλευθέρου ἔρως) und Gott allein als ihren Führer und Herrn (μόνον ἡγεμόνα καὶ δεσπότην τὸν θεόν) anerkennen würden“ (Ant  18,23). Was ­Josephus hier in hellenistischer Terminologie sagt, ist, biblisch-frühjüdisch formuliert, die Überzeugung von der alleinigen „Königsherrschaft“ Gottes, die der jüdische Historiker allerdings ihrer eschatologischen Färbung entkleidet. „Sicherlich hat Judas, wie die jüdischen Frommen seiner Zeit, die Verwirklichung der Herrschaft Gottes und Israels als eine endzeitliche, wunderbare Tat Gottes erwartet; jedoch verwarf er eine rein passiv-quietistische Hoffnung: Gott werde sein Reich und damit das Weltreich seines Volkes nur dann heraufführen, wenn Israel seinen absoluten Herrschaftsanspruch schon jetzt ohne Einschränkung anerkenne“998 . Unter diesem Vorzeichen lohnt es sich, die Weise, wie Josephus einzelne Figuren charakterisiert bzw. wie diese von ihren Zeitgenossen aufgenommen wurden, auf messianische Untertöne abzuhorchen. (a) Einige der Führer scheinen sich als „Propheten“ ausgegeben zu haben bzw. wurden dafür von anderen gehalten. Die Römer erstickten ihre Aktionen durchweg mit Gewalt. Von Theudas (Nr.  11) heißt es bei Josephus, er habe „erklärt, Prophet zu sein (προφήτης γὰρ ἔλεγεν εἶναι)“, was Apg  5,36 bestätigt und zugleich verschleiert: Er „behauptete, etwas (besonderes) zu sein“ (λέγων εἶναί τινα ἑαυτόν). Weil er seiner großen Anhängerschaft verheißen hatte, sie trockenen Fußes durch den Jordan zu führen (wie einst Mose Israel durch das Schilfmeer und Josua durch den Jordan), wird er den Anspruch erhoben haben, der endzeitliche Prophet von Dtn  18,15 zu sein999. Ähnlich heißt es vom anonymen „Pseudopropheten aus Ägypten“ (Nr.  14): „Er gab sich als Prophet aus (προφήτου πίστιν ἐπιθείς)“ und führte seine große Anhängerschaft aus der Wüste zum Ölberg, um von dort aus Jerusalem zu ersierung, Bedrückung und Ausbeutung durch hohe Abgabenlasten sowie Hungersnöte u. ä. Krisen zu finden sind“; vgl. Horsley/Hanson, Bandits 48–87. 996  Ebd. 160; vgl. Hengel, Zeloten 328, zu den Unruhen nach Herodes: Sie „trugen deutlich eine soziale Note […]. Zugleich entlud sich die übersteigerte Spannung der messianischen Naherwartung. […] [N]ach dem Tode des Tyrannen (sc. Herodes) sprossen die Anwärter auf den messianischen Thron wie Pilze aus dem Boden“; Evans, Jesus 56–58, verweist zu Recht auf den messianischen „Gottesspruch“ der „heiligen Schriften“ (wahrscheinlich Gen  49,10 oder Num  24,17), der Bell  6 ,312 f. zufolge „viele zum Krieg aufgestachelt“ hätte, von Josephus selbst aber auf Vespasian bezogen wird; auch messianische Texte aus Qumran besitzen einen anti-römischen Affekt (vgl. oben S. 610 Anm. 481). 997  Hengel, Zeloten 16; Förster, Titulus 126; dies gilt in jedem Fall für Bell; zu den Ant vgl. Höffgen, Rolle 47–53. 998  Hengel, Zeloten 97, unter Verweis auf Ant  18,5. 999  Ebd. 230 f. (mit Hinweise auf die weitere frühjüdische Belege dieser Vorstellung); Evans, Jesus 74 f. (ebd. 62–77 ein Überblick auch über die anderen Figuren); Riedo-Emmenberger, Provokateure 247–249.

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obern und sich „zum Herrscher über das Volk (τοῦ δήμου τυραννεῖν)“ zu erheben1000 . Den Anspruch, eschatologischer Prophet „wie Mose“ zu sein, dürfte auch der anonyme Samaritaner (Nr.  9) erhoben haben1001. Die Belebung der Mose-Exodus-Tradition, verbunden mit beglaubigenden Wunderzeichen und dem Versprechen eschatologischer Freiheit, ist schließlich noch bei den anonymen „Betrügern“ (Nr.  13) und dem anonymen „Gaukler“ (Nr.  15) zu greifen. Ein messianisches Muster zeichnet sich ab, mit oder ohne den Anspruch des Anführers, „der (eschatologische) Prophet“ zu sein. In den Jahrzehnten vor Kriegsbeginn begegnet es in erstaunlicher Häufung (Nr.  9.11.13–15)1002 . (b) Ein anderes Muster zeigt sich, wo im Rückgriff auf Gideon und David die Vorstellung des „starken Helden“ im Heiligen Krieg – des Gibbor – in messianischer Aufladung wiederbelebt wird1003, verschlüsselt im Motiv der Körperstärke: So erzählt Josephus in Bell  2,57 von Simon, dem Knecht des Herodes (Nr.  3), dieser habe „im Vertrauen auf seine Wohlgestalt und Leibesgröße (εὐμορφίᾳ σώματος καὶ μεγέθει πεποιθώς) sich selbst das königliche Diadem angelegt“1004. Ähnliche Worte findet der Geschichtsschreiber für Athronges (Nr.  4), jetzt stärker hellenistisch gefärbt: Seine „Körperstärke (σώματος ἴσχυς) und der todesverachtenden Eifer seiner Seele (ψυχὴ θανάτου καταφρονοῦσα)“ hätten ihn zu seinen Herrschafts-Ambitionen motiviert (Bell  2,60)1005. Dasselbe Motiv begegnet Jahrzehnte später bei der Charakterisierung des Simon bar Giora (Nr.  18): „Er übertraf ihn (Johannes von Gischala) an Körperkraft und Wagemut“ (Bell  4,503). (c) Mit dem Motiv des „starken Helden“ verquickt ist das des (messianischen) Königs, das über Nr.  3 f. und 18 hinaus auch bei weiteren Gestalten anzutreffen ist1006 .

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Riedo-Emmenberger, Provokateure 252–255. Vgl. oben III.  1.4 unter (3). 1002  Die Forschung spricht gerne von „Zeichen-Propheten“ (Riedo-Emmenberger, Provokateure 246 f. Das Muster scheint auch durch in der von Jesus abgelehnten „Zeichen“-Forderung Mk  8 ,11 f.; Q  11,29 f.). – Von den unter (a) Genannten zu unterscheiden sind die von Josephus erwähnten Heilspropheten Bell  6,285 f., „Falschpropheten (ψευδοπροφήται)“, die in höchster Not der Belagerung des Tempels „verkündeten, Gott befehle, zu dem Heiligtum hinaufzusteigen und die Zeichen der Rettung (τὰ σημεῖα τῆς σωτηρίας) zu erwarten“ (285: bezogen auf einen einzelnen anonymen Propheten), bzw. „dass man auf die Hilfe von Gott (τὴν ἀπὸ τοῦ θεοῦ βοήθειαν) warten solle“ (286: verallgemeinert im Blick auf weitere Heilspropheten). Deren Ziel war es, die Widerstandskraft der Verteidiger zu stärken. 1003 O. Michel, Studien 403: „Das messianische Grundelement des ‚Gibbor‘, des ‚starken Helden‘, geht bis auf Gideon und David zurück, hat also eine uralte biblische Tradition (Ri  6,12; 1Sam  16,18; Jes  9,5) und ursprünglich akklamatorische Bedeutung: so wird man vom Engel angeredet, bzw. so spricht man von jemandem als mit besonderer Auszeichnung“; Hengel, Zeloten 291  A nm.  342, nennt verschiedene Belege, u. a. Ps  89,20: „Ich setzte das Diadem (lies ‫ )נזר‬einem Starken auf [bezogen auf David], erhöhte einen Erwählten aus dem Volk“; vgl. auch PsSal  17,22: „Umgürte ihn (sc. den Messias) mit Stärke, zu zermalmen ungerechte Fürsten“; dazu Reinbold, Prozess 87: „Der königliche Messias ist nach den üblichen zeitgenössischen Vorstellungen ein Mann, der vor allem eins tut: Er streitet mit Macht und Gewalt gegen die Feinde Israels“. 1004 Ant   17,273: er sei „ein schöner Mann von großer und starker Gestalt“ gewesen (ἀνὴρ εὐπρεπὴς καὶ μεγέθει καὶ ῥώμῃ σώματος)“; in 1Sam  16,12 wird bekanntlich David als auffallend schön beschrieben. 1005  Ant  17,278: ein Mann ohne vornehme Herkunft, ohne Bildung und Geld, ein einfacher Schafhirte, „der sich durch nichts anderes auszeichnete als durch Leibesgröße und Kraft seiner Hände (μεγέθει σώματος καὶ τῇ κατὰ χεῖρας ἀλκῇ)“. 1006  Horsley, Spiral 52–54; ebd. 53 zu der auf das hellenistisch-römische Publikum abgestimmten Rede des Josephus von „Königen“: „the equivalent would be a popularly acclaimed or ‚anointed‘ (messiah, in Hebrew) king“. 1001 

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In den Wirren unmittelbar nach dem Tod des Herodes (Ende März/Anfang April 4  v.  Chr.) traten zwei messianische Königsprätendenten auf: Simon, Knecht des Herodes (Nr.  2)1007, und Athronges (Nr.  3)1008 . Niclas Förster1009 macht darauf aufmerksam, dass Josephus zufolge beider Auftreten nach gleichem Schema ablief: Sie sammelten Anhänger um sich, die bereit waren, ihren Königsanspruch zu unterstützen, der Anführer trat in einer Krönungszeremonie mit Anlegen des Diadems und Akklamation durch die Anhänger an die Öffentlichkeit1010 , danach begann der bewaffnete Aufstand sowohl gegen die Nachfahren des Herodes als auch gegen die Römer. Wurde der Aufstand des Simon rasch niedergeschlagen, wahrscheinlich schon nach dem Wochenfest 4  v.  Chr., so dauerte der Kampf des Athronges, den er mit Hilfe seiner vier Brüder taktisch klug organisierte, „lange Zeit“ (Ant  17,281.283) – bis in die Regierungszeit des Archelaos hinein, so dass in Judäa anfangs zwei Könige miteinander wetteiferten: einer, der von Rom als solcher anerkannt war und einer, der das Königtum eigenmächtig usurpierte. Wahrscheinlich wurde dieser dafür niemals bestraft, sondern starb möglicherweise „eines natürlichen Todes. Der vierte überlebende Bruder gab am Ende – dies teilt Josephus immerhin mit – auf, nachdem ihm von Archelaos eidlich Straffreiheit zugesichert wurde“1011. Sehr wahrscheinlich verstanden Simon und Athronges ihr Königtum auf der davidischen Linie messianisch. Darauf deutet nicht nur das Motiv des „starken Helden“ hin (siehe oben unter [b]), sondern im Fall des Athronges auch seine Herkunft als „Hirt“ (David!) und die Unterstützung durch seine „Brüder“. „Gerade diese Kampfesgemeinschaft von Brüdern (bzw. nahen Verwandten) hat auffallende Parallelen. Wir finden sie bei David (1Sam  22,1; 1Chr  2,16 f.), den Makkabäern und später bei den Söhnen des Galiläers Judas“1012 . Beide Königsprätendenten dürften Eindruck hinterlassen haben, sonst wäre es nicht erklärlich, dass zumindest Simon eine „vergleichsweise große Resonanz“ in den Historien des Tacitus zuteilwurde. Dem Königtum des Herodes widmet der römische Historiker „beispielsweise gerade einmal einen Satz und der Herrschaft seiner Söhne lediglich einen Halbsatz“1013, zu Simon führt er aus: „Nach dem Tod des Herodes maßte sich gleich ein gewisser Simon den Königstitel an (regium nomen invaserat), ohne erst lange auf die Verleihung durch Caesar zu warten. Simon wurde von Quintilius Varus, dem Statthalter Syriens, seiner Strafe zugeführt, und die Herrschaft über das in seine Schranken gewiesene Volk übernahmen die Söhne des Herodes, jeder über ein Drittel des Landes“ (Hist  5,9,1)1014.

1007  Förster, Titulus 127: Bei Josephus klingt „Knecht des Herodes“ abschätzig, doch „δοῦλος könnte Titel des Gouverneurs von Peräa gewesen sein, wo Simons Anhänger herkamen“. 1008  Hengel, Zeloten 291 f. mit Anm.  343: „Bei Athronges ist vielleicht der Name messianisch zu deuten“ (sonst nirgends belegt, wohl ein Verweis auf die für das Laubhüttenfest bedeutsame Zitrusfrucht). 1009  Zum Folgenden Förster, Titulus 122–126. 1010 Zu Simon: „im Vertrauen auf seine Wohlgestalt und Leibesgröße legte er sich selbst das königliche Stirnband an (περιτίθησιν … ἑαυτῷ διάδημα)“ (Bell  2,57); zu Athronges: „damals wagte es auch ein Hirt, nach der Königsherrschaft zu streben“ (Bell  2,60: ἀντιποιηθῆναι βασιλείας ἐτόλμησεν) bzw. „auf die Königsherrschaft zu sinnen“ (Ant   17,278: ἐτόλμησεν ἐπὶ βασιλείᾳ φρονῆσαι); „er legte sich selbst das königliche Stirnband an (ἑαυτῷ περιτίθησιν διάδημα)“ (Bell  2,62; vgl. Ant  17,280: ὁ δὲ διάδημα περιθέμενος); „lange verblieb diesem Mann die Macht, ihm, der König genannt wurde (βασιλεῖ τε κεκλημένῳ)“ (Ant  17,280). 1011  Förster, Titulus 125 Anm.  60, unter Bezug auf Bell  2 ,65 und Ant  17,284. 1012  Hengel, Zeloten 327; aufschlussreich ist der Vergleich des Athronges mit Judas Makka­ bäus (1Makk  3,1–8) durch Farmer, Judas 153 f. 1013  Förster, Titulus 123. 1014 Übersetzung Borst, Tacitus 525.

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Unmittelbar nach dem Tod des Herodes trat im Kontext der Thronwirren noch jemand mit möglichem messianischem Anspruch auf: Judas, der Sohn des Ezechias (Nr.  2), der wahrscheinlich mit dem später genannten Judas Galilaios identisch ist1015. Dann wurde der Ezechias-Sohn zum ersten Mal von Sepphoris aus mit seinen bewaffneten Anhängern aktiv, tauchte bei der Zerstörung der Stadt durch Varus unter, um Jahre später bei der Einführung des Zensus 6  n.  Chr. seinen wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Auftritt zu haben. Bemerkenswert ist, dass Josephus in Bell  2,56 vom Ezechias-Sohn sagt, er habe mit seiner Anhängerschaft die angegriffen, „die nach der Herrschaft strebten“, in Ant  17,272 dagegen, „der Eifer um königliche Ehre (ζηλώσει βασιλείου τιμῆς)“ habe ihn erfasst. Letzteres klingt so, als habe er sich jetzt selbst als Messiasprätendent aufgeführt1016 . Vom Beginn des Krieges und aus seiner letzten Phase sind zwei Gestalten bekannt, die als königliche Messiasprätendenten wahrgenommen wurden, Menachem, „Sohn (oder Enkel) des Judas“ (Nr.  16), und Simon bar Giora (Nr.  17). Jener wie sein Vater bzw. Großvater „ein sehr bedeutender Gelehrte (σοφιστὴς δεινότατος)“ (Bell  2,433), zog von Masada aus mit seinem bewaffneten Gefolge „wie ein König“ in Jerusalem ein (434) und suchte im Kampf mit den rivalisierenden Widerstandskräften die Oberhoheit zu erlangen. Kurz nachdem er „stolz und im Schmuck königlicher Kleidung (ἐσθῆτί τε βασιλικῇ) zum Gebet (im Tempel) hinaufschritt“ (444), brachte man ihn um. So wurde er Opfer seiner eigenen „Tyrannei“ (442). Simon bar Giora (Nr.  17)1017, Befehlshaber eines bunten Heeres aus Sklaven wie zahlreichen Bürgern, „die ihm wie einem König gehorchten (ὡς πρὸς βασιλέα πειθαρχεῖν)“ (Bell  4,510), erzielte von Masada aus Erfolge in ganz Judäa bis hin zu seinem Einzug in Jerusalem1018 , was dazu führte, „dass er sich selbst messianische Würde zuschrieb“1019. Auch die Art und Weise, wie er sich mit „weißen Unterkleidern und purpurnem Obergewand“ (7,29) am Ende den Römern ergab, zeigen ihn als „messianischen Prätendenten“1020 . Beachtlich ist seine soziale Aktivität: „er strebte nach Alleinherrschaft und trachtete nach hohen Dingen; […] er ver1015 

Hengel, Zeloten 329 f. Theißen, Dimension 119: Dieser Judas war „ein radikaltheokratischer Lehrer, der die Gottesherrschaft durchsetzen wollte. […] Er strebte Gottes Herrschaft an, nicht seine eigene. Deshalb bekämpfte er (nach dem Bellum) alle anderen, die nach eigener Herrschaft strebten. In den Antiquitates wird er unter mehrere Königsprätendenten eingeordnet, die nach eigener königlicher Macht strebten, weil das Volk keinen eigenen König hatte (Ant  17,277). Wir hätten also eine Verschiebung vom Kämpfer für die Gottesherrschaft zum Aufrührer, der nach seiner eigenen Herrschaft griff. Könnte Analoges nicht auch für Jesus gelten? […]“. Hengel, Zeloten 292, zufolge lege die Gamalielrede Apg  5,36 f., „in der die unverkennbar messianische urchristliche Gemeinde mit den von Theudas und Judas ausgehenden Bewegungen gleichgesellt wird, den Rückschluss (nahe), dass auch die beiden letztgenannten Gruppenbildungen messianische Züge trugen. Allerdings ist gerade hier die Grenze zwischen profetisch-enthusiastischer Verkündigung und messianischen Ansprüchen nicht scharf zu ziehen“; Evans, Jesus 63 f. 1017  Zu seiner Person ausführlich O. Michel, Studien 402–408; Hengel, Zeloten 296 f.373 f. 1018  Gerufen von den Gegnern des Johannes von Gischala, um sie von dessen Tyrannei zu befreien, „vom Volk als Retter und Beschützer begrüßt“ (Bell  4,575: σωτὴρ ὑπὸ τοῦ δήμου καὶ κηδμὼν εὐφημουμένος). 1019  Hengel, Zeloten 373; E.W./W. Stegemann, Sozialgeschichte 164, sehen gleichfalls (im Anschluss an O Michel, Studien 403) genügend „Indizien dafür, dass Simon sein (messianisches) Gegenkönigtum bewusst am Vorbild von David orientierte“; nicht grundlos wendet Josephus auch auf ihn das Motiv des „starken Helden“ an (siehe oben). 1020  Hengel, Zeloten 297. „Dass die Römer ihn und nicht etwa Johannes von Gischala, der doch viel längere Zeit die Macht in Jerusalem innegehabt hatte, als den in der Würde Höherstehenden betrachteten, zeigt sich auch daran, dass er im Anschluss an den Triumph des Vespasian und Titus im Carcer beim Forum getötet wurde, während Johannes nur mit lebenslanger Gefangenschaft bestraft wurde“. 1016 

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kündigte den Sklaven die Freiheit (προκηρύξας ἐλευθερίαν) und den Freien Ehrengeschenke (γέρας)“ (Bell  4,508)1021. (3) Johannes der Täufer, Jesus von Nazaret und Jesus ben Ananias fallen zwar deutlich aus der Reihe der Aufgelisteten heraus, sind grundsätzlich aber mit ihnen vergleichbar: Von ihrem Typus her handelt es sich bei den dreien gleichfalls um „Charismatiker“, die andere Menschen in ihren Bann zu ziehen wussten (nur Jesus ben Ananias ist Einzelgänger), bzw. um „Propheten“ oder Gesandte Gottes. Hinzu kommt (wie vor allem bei den messianischen Königsprätendenten) die eschatologische Komponente: Alle drei lebten aus der Überzeugung vom baldigen Kommen Gottes, sei es zum Gericht (Johannes der Täufer; Jesus ben Ananias) oder zur Rettung (Jesus von Nazaret). Beim Nazarener sticht die Theozentrik seiner Rede von der „Königsherrschaft“ Gottes ins Auge, die ihn mit Judas Galilaios und anderen verbindet. Drei Aspekte seines Auftretens sind auf dem Hintergrund der prophetisch-messianischen Bewegungen seiner Zeit beachtlich: (a) Angesichts des großen Echos, das insbesondere Simon, „der Knecht des Herodes“, aber auch Athronges ausgelöst haben dürften, vertritt Niclas Förster die These, dass Pilatus im Wissen um die Gefährlichkeit von derart „charismatischen“ Figuren gerade am Paschafest die beiden „Präzedenzfälle“ selbst ernannter messianischer „Könige“ vor Augen gehabt hätte, als er Jesus als „König der Juden“ zum Tod verurteilte1022 . Das ist gut möglich. Auch ist mit Erwartungen in der Bevölkerung zu rechnen, Jesus würde die „Herrschaft“ Gottes, die er proklamiert, als „König“ verwirklichen. Jesus ist auch Opfer der aus dem Freiheitskampf Israels unter römischer Herrschaft erwachsenen Hoffnungen und Träume geworden, die den Präfekten angesichts der erhobenen Anklage von vornherein gegen ihn einnehmen mussten. (b) Johannes der Täufer, Jesus von Nazaret und Jesus ben Ananias unterscheiden sich von den anderen Figuren durch ihre grundsätzliche Absage an Gewalt, die in ihrem Gottesbild begründet liegt: Gott allein wird über die Menschen Gericht halten bzw. seine „Königsherrschaft“ heraufführen. Seine Boten haben dies nur zu bezeugen, nicht aber selbst in die Hand zu nehmen1023. (c) Der Unterschied zwischen Jesus von Nazaret und Jesus ben Ananias auf der einen Seite und den übrigen Figuren auf der anderen wird darin manifest, dass bei den messianischen Aufständen die Römer unmittelbar eingriffen, bei Jesus von Nazaret und Jesus ben Ananias hingegen nicht1024. Dies wirft Licht auf deren gewaltloses Auftreten, stützt aber auch die Annahme der Kompetenzverteilung: Weil ihr Auftreten genuin jüdische Belange wie den Tempel betraf, waren zunächst die Autoritäten Jerusalems gefragt, dann erst die Römer.

2.7 Der Gang zur Richtstätte und Jesu Tod am Kreuz Lediglich die Exposition der PEG-Erzählung ist dem Gang zur Richtstätte gewidmet (Mk  15,20d.21), dagegen beschreiben drei Sequenzen ihres Hauptteils die Umstände des Todes Jesu1025. Die konkreten Details der Erzählung sind aus dem Psalter generiert. 1021  Horsley/Hanson, Bandits 116: „The principal goal of these movements was to overthrow Herodian and Roman domination and to restore the traditional ideals of a free and egalitarian society“. 1022  Förster, Titulus 122. 1023  Vgl. die Studien von Cullmann, Jesus, und Hengel, Zealots; ders., Revolutionär. 1024  Broer, Death 161; zur Reaktion der Römer auf die prophetisch-messianischen Aufstände im Einzelnen Kirner, Strafgewalt 182–189. 1025  Vgl. oben II.  10.7.

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2.7.1 Erinnerte Fakten Die strittige Frage des titulus crucis wurde bereits behandelt1026 . Als Grundsatz darf gelten: Erzählzüge der PEG erweisen sich dann als erinnerte Fakten, wenn sie sperrig oder unerfindlich und deshalb historisch unverdächtig sind. (1) Jesus wurde außerhalb der Stadt gekreuzigt1027. Schon der erste Satz der Erzählung sagt es: „und sie führen ihn hinaus (ἐξάγουσιν), um ihn zu kreuzigen“1028 . Von der Residenz des Pilatus, dem ehemaligen Herodespalast auf dem Gebiet der heutigen Zitadelle, bzw. von der Kaserne, die mit dem Palast verbunden war, wurde Jesus auf nicht allzu langem Weg durch die Straßen der Oberstadt und das Gennath- d. h. Gartentor (Jos, Bell  5,146) zur Hinrichtungsstätte außerhalb der Stadtmauer geführt1029. Das Neue Testament ist die einzige Quelle, die auf der Basis der PEG den Namen des Platzes überliefert: Golgota, die griechische Transkription des aramäischen Namens samt seiner Übersetzung: „Ort des Schädels“1030 . Der topographische Name passt zum heute archäologisch im Bereich der Grabeskirche vermuteten Gelände, einem alten Steinbruch, unmittelbar nördlich der herodianischen Stadtmauer. Dabei muss „man nur eine entfernte Ähnlichkeit der Form der Anhöhe mit einem Schädel oder überhaupt nur die Eigenart des Herausragens, des Zuoberstseins annehmen“1031. Das Gebiet wurde unter Herodes Agrippa I. zu Beginn der 40er Jahre durch die sog. dritte Mauer in das Stadtgebiet einbezogen1032 . (2) Gewöhnlich trugen die Verurteilten das Querholz des Kreuzes (patibulum) selbst zur Richtstätte1033. Weil Jesus infolge seiner Geißelung geschwächt war, zwangen die Soldaten einen Juden namens Simon von Kyrene, ihm die Last abzunehmen. Alexander und Rufus, dessen Söhne, die wohl zur frühen Jerusalemer Ge-

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Vgl. oben III.  2.2.1. Vgl. Hebr  13,12: „er litt außerhalb des Tores (ἔξω τῆς πύλης ἔπαθεν)“; Mt  21,39: „sie warfen ihn hinaus aus dem Weinberg und töteten ihn“ (diff. Mk 12,8); Stephanus: Apg  7,58 (ἐκβαλόντες ἔξω τῆς πόλεως). – Lev  24,14 („lass den, der den Fluch ausgesprochen hat, aus dem Lager hinausführen!“); Num  15,35 f. („vor dem Lager“); Jos, Bell  4,360 (Hinrichtung „außerhalb der Tore [ἔξω τῶν πυλῶν]“ Jerusalems); 5,450 (Kreuzigungen „der Mauer [Jerusalems] gegenüber [τοῦ τείχους ἀντικρύ]“; bSan 42b. – Plautus, Miles gloriosus 2,4 (359); Tac, Ann  2,32,3 (extra portam Esquilinam […] more prisco). 1028  Küchler, Jerusalem 416: Das Verb beschreibt „ohne topographisch-theologisches Interesse den im Orient selbstverständlichen Vorgang des Hinausführens eines Verurteilten durch die Gassen und Straßen bis vor die Stadtmauern hinaus“. 1029  Hengel/Schwemer, Jesus 613; Gibson, Tage 124. 1030 Lukas, der auch sonst Fremdworte vermeidet, bietet in 23,33 nur die Übersetzung des Namens, nicht seinen aramäischen Wortlaut. Im EvPetr und den ActPil fehlt er. 1031  Küchler, Jerusalem 422; ebd. 420–422 zur Etymologie und zur Deutung der Namen Golgota und Kranion; vgl. auch J. Taylor, Golgotha 182 f. – Die Legende, Golgota sei Begräbnisplatz des Schädels Adams gewesen, ist christlich und sehr spät: J. Jeremias, Golgotha. 1032  Küchler, Jerusalem 97 f. 1033  Plut, SerNumVind  9: ἕκαστος κακούργων ἐκφέρει τὸν αὑτοῦ σταυρόν (Mor   554A–B); Artemid, Oneirocr  2,56: ἔοικε γὰρ καὶ ὁ σταυρὸς θανάτῳ, καὶ ὁ μέλλων αὐτῷ προσηλοῦσθαι πρότερον αὐτὸν βαστάζει. Vgl. Kuhn, Art. σταυρός 640 f.; Brown, Death II 913; Reinbold, Bericht 144; Schleritt, Passionsbericht 426 Anm.  27. 1027 

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meinde gehörten, bewahrten die Erinnerung auf1034. Per Zufall kam dieser Simon Jesus in der Einsamkeit seinen unsäglichen Leides körperlich so nahe wie sonst niemand. Dem christlichen Gedächtnis hat sich diese einzigartige Begegnung unauslöschlich eingeprägt. Sie wurde zum Bild des Mit-Tragens der Lasten anderer (Gal  6 ,2) und der Nachfolge Jesu. (3) Auf Golgota angekommen, wurden die Verurteilten gekreuzigt. Wie viele es waren, lässt sich nicht sagen. Die PEG spricht von dreien, wobei sie Jesus in der Mitte und die beiden λῄσται, „vielleicht zelotische Aufrüher, jüdische Guerillakämpfer“1035 , „rechts“ und „links“ von ihm platziert: „Der König der Juden“ wird „von seinen Großen, seinen Wesiren“ flankiert. Dass es sich dabei um „eine bewusste Spottaktion der Soldaten“ handelt, die „zur Verhöhnung Jesu angeordnet war“1036 , liegt nicht nahe. Vielmehr handelt es sich um ein literarisches Arrangement1037, das auf die PEG zurückgeht. Vielleicht angeregt durch Jes  53,121038 , möchte sie mit dem wirkmächtigen Bild die tiefere Wahrheit Jesu als Messiaskönig aufzeigen1039. Wie Mk  14,65 und 15,16–20c und jetzt auch die Kreuzigungsszene mit der anschließenden expliziten Verspottung Jesu durch die Passanten und hohen Priester belegen, ist der Spott „eine Art Leitmotiv des Gerichts- und Leidensteils“ der Passionserzählung1040 . (4) Da Pilatus die Kreuzigung Jesu vor dem Fest zur allgemeinen Abschreckung nutzte, wird jemand aus dem Hinrichtungstrupp die Tafel mit dem Verurteilungsgrund auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte durch die Gassen der Oberstadt vorangetragen haben1041. Auf Golgota wurde sie sichtbar für alle am Kreuz angebracht1042 . Gewöhnlich wurden die Verurteilten zuerst mit beiden Händen am Querholz nackt festgebunden oder angenagelt, dann am Pfahl hochgezogen. „Die Annagelung war wohl das Übliche. Sie führte zusammen mit der Geißelung durch den 1034 

Zu ihnen siehe oben I.  1.7 unter (a). Hengel/Schwemer, Jesus 615. 1036  Pesch, Mk II 485; vgl. ebd. 489; Mutschler, Verspottung 120 f., spricht gar von einer „Symbolhandlung“ der Soldaten. – Das Motiv der beiden Adjutanten zur Rechten und Linken des Königs bereits in Mk  10,37; dazu Lau, Triumphator 410–412. 1037  Légasse, Procès 144, zufolge bewahrt der Text die Erinnerung an eine „exécution collective“ auf; die Zahl „drei“ ist verräterisch „en raison de son schématisme“. 1038 A.Y. Collins, Mk 748; Jes  53,12: „… dafür, dass er sein Leben dem Tod preisgegeben hat und zu den Frevlern gerechnet wurde“ (Übersetzung Hermisson). Lk  22,37 zitiert den Vers in seiner Mahlszene; Mk  15,28 ist textkritisch sekundär. 1039  Lau, Triumphator 407 f., sieht im „Kreuzigungstrio“ eine Anspielung des Mk auf römische Triumphzüge, an deren Ende sich „in der Regel der Triumphator mit den Konsulen oder zwei wichtigen Generälen oder zwei Anverwandten“ präsentiert; Ebner, Markusevangelium 181, denkt an das „Trio der Macht“ beim Triumphzug des Vespasian in Begleitung seiner beiden Söhne. Aber die Episode geht schon auf die alte PE zurück. 1040  Mutschler, Verspottung 158; in der mkn. Kreuzigungsszene zählt er fünf Verspottungen (15,27.29 f.31–32a.32c.34–36), die „Anstoß zur christologischen Reflexion und zum Bekenntnis der Glaubenswahrheit vom Gekreuzigten“ gegeben haben. Teils gehen sie auf das Wachstum der Überlieferung zurück und belegen damit die Wirksamkeit des Motivs. 1041  Hengel/Schwemer, Jesus 614. 1042  Die Frage ist strittig; vgl. oben II.  10.7 unter (2) (b). 1035 

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Blutverlust schneller zum Tode“1043. Die PEG äußert sich nicht zu derartigen Fragen. Erst später gibt die PElk/joh zu erkennen, wenn sie von den Wundmalen als Erkennungszeichen des Auferweckten spricht1044, wie sie sich die Kreuzigung Jesu vorstellt1045. „In der Regel hatte das Kreuz eine kleine Sitzstütze, das sog. sedile. In dieser schrecklichen Lage konnten die Gekreuzigten bei kräftiger Statur tagelang am Leben bleiben, bis sie durch die Hitze, den Blutverlust, vor allem aber durch Kreislaufkollaps infolge völliger Unbeweglichkeit starben“1046 . Jesus starb bald. Denn bereits gegen Abend erbat Josef von Arimathäa von Pilatus den Leichnam (s. unten 2.8)1047. (5) Korrespondierend zur Eröffnung der Szene (Alexander und Rufus) nennt die PEG auch am Ende Namen von Menschen, die zur ersten Jerusalemer Gemeinde in enger Beziehung standen bzw. zu ihr gehörten und den ersten Rezipienten der PEG bekannt gewesen sein dürften: Maria Magdalena, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome. Werden sie am Ende der Szene nach Jesu Sterben genannt, dürfte der Erzähler ihnen eine Zeuginnen-Rolle für das Geschehen zugedacht haben1048 , entsprechend der Regel Dtn  19,15, nach der die übereinstimmende Aussage von zwei oder drei Zeugen Rechtsgültigkeit besitzt. Die frühjüdische Auslegung von Dtn  19,15 erkennt nur Männer als rechtsgültige Zeugen an1049. Der Erzählzug ist sperrig und wird auf authentischer Erinnerung fußen, welche die Namen der drei Frauen einschließt1050 . Die PEG setzt diese Erinnerung voraus und spinnt sie mit ihrem Konstrukt der drei Frauenlisten, das dem urchristlichen Bekenntnis („gestorben“ – „begraben“ – „auferweckt“) entspricht, weiter1051.

1043 

Hengel/Schwemer, Jesus 612. Lk  24,39 („seht meine Hände und Füße“) par. Joh  20,20 („er zeigte ihnen die Hände und die Seite“) (vgl. oben II.  12,6 unter [1]). Der vierte Evangelist greift das Motiv zusätzlich in seiner Thomas-Episode auf: Joh  20,25.27. 1045  Vgl. auch EvPetr  6(21); Ign., Sm  1,2. 1046  Hengel/Schwemer, Jesus 612, mit Verweis auf Jos, Vita 420; Pilz, Tod 27: „Der Fall eines schnellen Todeseintritts kam verhältnismäßig selten vor“. 1047  Der joh. Episode vom Crurifragium zufolge war Jesus schneller als erwartet gestorben. 1048 J. Gnilka, Mk II 327: „Wenn ihnen (sc. den beiden Marien und Salome) als Frauen die Zeugenrolle zugeschreiben wird, erhöht das die Glaubwürdigkeit“. Anders Bultmann, Geschichte 296: „Wie bei der Auferstehung werden hier Frauen als Zeugen aufgeboten. Sie sind hier so wenig geschichtlich wie dort; man brauchte sie, weil man die geflohenen Jünger nicht auftreten lassen konnte“. 1049  Jos, Ant  4,219; Philo, SpecLeg  3,169 f.; mSchevu  4,1. 1050  Die Anspielung auf Ps  38,12b; 88,9 („es schauten aber auch Frauen von ferne zu“) mindert das Argument nicht, denn der Erzählzug entspricht den Gegebenheiten: „Die Kreuzigungsstätten dürften – wenn auch die Belege hierfür spärlich sind – streng bewacht worden sein“ (Reinbold, Bericht 272 Anm.  151, mit Verweis auf Petronius, Sat.  111; auch Tac, Ann  6 ,19; Eus, Hist­ Eccl  5,1,59–61). Selbst Crossan plädiert für Historizität der Liste Mk  15,41 (vgl. bei Goodacre, Scripturalization 40 f.). 1051  Vgl. oben II.  12.8; Grass, Ostergeschehen 182: „Die Frauen vollständig aus der Passions­ tradition zu beseitigen, wie Bultmann das will, halte ich für unmöglich. […] [S]o unerklärlich ist es nicht, dass gerade die Frauen zu Entdeckern des leeren Grabes gemacht wurden, sobald man daran festhält, was Mk  15,40 f. berichtet, dass sie von ferne der Kreuzigung zusahen“. 1044  Vgl.

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2.7.2 Vom Psalter und von Jesu ultimum verbum überlagert: die dunkle Stunde seines Todes Der Hauptteil der Erzählung (B.  I–III), der von den Notizen zu den Zeugen ­(Alexander und Rufus bzw. Simon sowie die beiden Marien und Salome) gerahmt wird, bezieht die Farben seiner Darstellung – über die erinnerten Fakten hinaus – hauptsächlich aus dem Psalter (Ps  22 und Ps  69,22). Aus ihm wurden auch einzelne Erzählzüge generiert. Zunächst bot sich Ps  22,19 an, in Erzählung umgesetzt zu werden, weil es Praxis war, Verurteilte nackt zu kreuzigen1052 und ihr Hab und Gut den Henkern zu überlassen1053. Die Soldaten werden sich die Kleider Jesu angeeignet haben, aber dass sie das Los über sie warfen, ist dem Psalmvers entnommen. Die joh. Überliefe­rung nennt eigens Jesu Untergewand, das aus einem Stück gewebt und ohne Naht war1054. Sodann inspirierte Ps  22,7–9 den Erzähler der PEG. Er schöpfte aus dem Psalm nicht lediglich einzelne Wendungen („sie lästerten ihn, ihre Köpfe schüttelnd“), auch seinen Stil ahmt er nach. Wie Ps  22,9 lässt er die Spötter mit ihrer Spottrede direkt zu Wort kommen: „Messias, König Israels, er steige herab vom Kreuz!“ Er nutzt die Gelegenheit, die Episode mit der Szene vom Synedrion-Prozess zu verzahnen. Der Erzählzug der Darreichung von Essig durch einen römischen Soldaten ist aus Ps  69,22 generiert1055. Der Trank ist als Mittel gedacht, dem Gerechten weitere Qualen zuzufügen1056 . Blinzler hält den Zug für authentisch und denkt an „durch Wasser verdünnte(n) Weinessig, das übliche Erfrischungsgetränk der Feldarbeiter und Soldaten“, das den „Zweck“ gehabt hätte, „den Delinquenten möglichst lange bei Bewusstsein zu erhalten“1057. Einen „Beleg dafür, dass die Römer den Verurteilten einen Betäubungstrank gaben, gibt es nicht“1058 . Klimax der narrativen Umsetzung von Ps  22 ist das verbum ultimum Jesu, das der theatralischen Hervorhebung des Eintritts seines Todes dient. Der Sterberuf hat zu unzähligen Erklärungen und historischen Mutmaßungen geführt. Rudolf Pesch zufolge hat das historisch angeblich gut beglaubigte „aramäische Sterbegebet Jesu“ Mk  15,34, wie es uns „die vormk. Passionsgeschichte überliefert“, „Anlass zur Verarbeitung von Ps  22 (und anderer Texte der passio iusti-Traditionen) in der Passionsge1052 

Artemid, Onirocr  2,52; DionHal, AntRom  7,69,2 etc. Mommsen, Strafrecht 240 Anm.  2: „nach römischem Soldatenrecht Dig  48,20,6“; Dibelius, Formgeschichte 188; Blinzler, Prozess 369 Anm.  47 (mit weiteren Belegen). 1054  Blinzler, Prozess 369. Rührend ist seine Annahme, es könnte sich um „eine Arbeit der Mutter Jesu“ gehandelt haben. Zur symbolischen Bedeutung des Untergewands Jesu vgl. oben II.  10.4 unter (2). 1055  Reinbold, Bericht 272; ebd. Anm.  151: „von qualverstärkenden ‚Getränken‘ wird [in römischen Quellen] nichts überliefert“. 1056  Siehe oben II.  10.7 unter (3). 1057  Blinzler, Prozess 369 f. mit Anm.  50; ebd.: „Schon das AT kennt den Essig, d. h. den Weinessig, als Erfrischungsgetränk (Num  6 ,3, Ruth  2,14)“. 1058  Reinbold, Bericht 272 Anm.  151, unter Bezug auf Kuhn, Kreuzesstrafe 757 Anm.  657. 1053 

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schichte“ gegeben1059. Das Konstrukt der Erzählung legt die genau umgekehrte Argumentation nahe: Die Besinnung der frühen Jerusalemer Gemeinde auf Ps  22 führte dazu, Jesus V.2 als sein letztes Wort in den Mund zu legen. Es war gute literarische Konvention, vom Sterben bedeutender Männer nicht ohne ein verbum ultimum zu erzählen1060 . Angesichts des Todes sollte ein derartiges Wort die Summe aus dem Leben des moriturus ziehen1061. Der Autor der PEG bildete hierfür kein neues Wort, sondern griff passend zum Leitmotiv der Erzählung von Jesus, dem davidischen „König“, auf einen „Psalm Davids“ zurück (vgl. Ps  22,1)1062. Er wählte dessen Eröffnung, die invocatio, und legte sie Jesus in den Mund: „Eloї, Eloї, lema sabachthani“ / „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (V.2). Sie darf weder vom nachfolgenden Psalm noch vom Kontext der PEG isoliert werden. Sie ist Ausdruck der abgrundtiefen Verlorenheit des Gekreuzigten1063, aber auch Schrei um Hilfe, der dem österlichen Epilog der PEG zufolge von Gott erhört wird  – gemäß Ps  22, nach dem am Ende „Jhwh die Königsherrschaft gehört, er über die Völker herrscht“ (V.29)1064. Von der Markuspassion, der ältesten vorliegenden Passionserzählung, wird gewöhnlich angenommen, sie käme den historischen Umständen des Sterbens Jesu am nächsten. Jürgen Moltmann schreibt: „Nach Mark.  15,37 starb er (sc. Jesus) mit einem lauten, unartikulierten Schrei. Weil die christliche Traditionsgeschichte diesen schrecklichen Schrei des sterbenden Jesus in ihren Passionsgeschichten zunehmend abgeschwächt und durch tröstliche und triumphale Worte ersetzt hat, können wir hier wohl auf einen historischen Kern zurückschließen. Jesus ist offenbar mit allen Ausdrücken tiefsten Erschreckens gestorben“1065. Dazu ist zweierlei kritisch anzumerken: (a) Der „laute, unartikulierte Schrei“ Jesu im mkn. Kontext ist viel eher als Siegesschrei zu deuten1066; (b) die Annahme „zunehmender“ Abschwächung des Schreis durch die anderen Evangelisten wird diesen nicht gerecht: Wenn Lukas und Johannes dem sterbenden Jesus jeweils ein eigenes verbum ultimum in den Mund legen, leitet sie nicht die Absicht, die Härte der mkn. Darstellung zu mildern, sondern das Sterben Jesu im Sinne einer exemplum-Christologie mit der Pointe einer ars moriendi (Lukas) bzw. als „Vollendung“ des Heilswerks (Johannes) zu deuten.

Weil erst die PEG dem sterbenden Jesus Ps  22,2 als verbum ultimum in den Mund gelegt hat, bleibt seine Todesstunde im vollkommenen Dunkel der Geschichte. 1059  Pesch, Mk II 495; Jesu Gebet sei „durch VV.35–36 als historisch beglaubigt“; Schwemer, Worte 14–18. 1060  Siehe oben in I  1.5.3 zu den verba ultima. 1061  Huttner, Sterben 315, verweist auf „die nicht auf die Antike beschränkte, aber in der Antike besonders ausgeprägte Sichtweise vom Sterben als essentiellem Akt, der die Summe des Lebens zieht“ (315). 1062  Vgl. oben I.  1.2.1.4. 1063  Pesch, Mk II 495: „Jesu Gebet ist kein Verzweiflungsschrei, sondern Vertrauensäußerung, seiner äußersten Not angemessener Ausdruck seines unerschütterlichen Glaubens! Im Dunkel der ‚Gottverlassenheit‘ wendet er sich im Gebet an Gott!“ 1064  Vgl. oben I.  1.2.1.2 zu Ps  2 2. 1065  Moltmann, Gott 139; ebd. 141 im Blick auf Jesu Botschaft: „es ist die Erfahrung der Gottverlassenheit im Wissen darum, dass Gott nicht ferne, sondern nahe, nicht richtend, sondern gnädig ist. Und dieses: im vollen Bewusstsein der gnädigen Nähe Gottes von Gott verlassen und an den Tod eines Verworfenen ausgeliefert zu sein, ist die Qual der Hölle“. 1066  Siehe oben II.  10.2 unter (3).

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Mk  14,25 zufolge ist zwar anzunehmen, dass Jesus mit Zuversicht und Hoffnung seinem Tod entgegenging1067. Aber wie er tatsächlich gestorben ist, lässt sich nicht sagen. Die Frauen fallen als Zeuginnen aus, weil sie die Szene nur „von ferne“ beobachteten. Der berühmte Satz Rudolf Bultmanns: „[d]ie Möglichkeit, dass er (sc. Jesus) zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern“1068 , behält seine Gültigkeit1069. Jegliches menschliche Sterben ist ein Sterben in die Einsamkeit hinein. Das gilt auch für das Sterben Jesu1070 . Die älteste Passionserzählung ist wie ein Vorhang, den zur Seite zu ziehen nicht gelingen will. Dies gilt auch für die Frage des Zeitpunkts, wann Jesus genau gestorben ist1071. Die Auskunft des Markus, gegen drei Uhr mittags, ist redaktionell und fällt als Antwort auf die gestellte Frage aus. Der PEG zufolge wurde Jesus noch vor Sabbatbeginn bestattet, der Eintritt seines Todes lag irgendwann davor. Mehr zu sagen, ist nicht möglich. Pilatus gab die Leichen der Gekreuzigten wohl erst nach eingeholter Bestätigung ihres eingetretenen Todes frei1072 Damit könnten die beiden voneinander unabhängigen sekundären Überlieferungen Joh  19,33 f. und Mk  15,44.45a1073 historisch richtig liegen. 2.8 Die Bestattung Jesu Wie schon Rudolf Bultmann bemerkte, lässt sich die Erzählung von der Bestattung Jesu durch Josef aus Arimathäa nicht einfach als Legende abtun1074, aber auch nicht auf Augenzeugenschaft zurückführen. Die Notiz am Ende, die Frauen hätten gese1067 

Vgl. oben III.  2.4.3 unter (2) (c) zu Mk  14,25 und unter (3) zum Brotwort Jesu. Bultmann, Verhältnis 453. 1069 Vgl. Schrage, Verständnis 55 Anm.  17; U.B. Müller, Entstehung 35 Anm.  101. 1070  Huttner, Sterben, zeigt in seiner mentalitätsgeschichtlichen Studie, wie Sokrates u. a. ihren Tod inszenierten. „Sokrates stirbt nicht allein; freilich ist das Publikum begrenzt. Es beschränkt sich auf den Freundes- und Schülerkreis, der im Meister die maßgebliche Autorität erkennt“ (301); vgl. oben in I.  1.5.2.2 zu Seneca u. a. – Jesus stirbt einsam und entehrt in der Öffentlichkeit, nur wenige Anhängerinnen in Sichtweite. 1071  Zur medizinische Frage, wodurch verursacht Gekreuzigte genau sterben, vgl. Blinzler, Prozess 381–384 („Exkurs XIX: Der Kreuzestod in medizinischer Sicht“); Pilz, Tod 49–146; zu Fried, Jesus, dem zufolge Jesus gar nicht gestorben sein soll, siehe oben S. 448 Anm.  140. 1072  Zur ausnahmsweisen Praxis der Freigabe eines Leichnams siehe den folgenden Punkt 2.8, zur Praxis des Lanzenstichs zur Feststellung des eingetretenen Todes oben S. 448 Anm.  139. 1073 Zum Nachtragscharakter von Joh   19,33 f.: II.  10.5 unter (6), zu dem von Mk  15,44.45a: II.  11.3 (2) unter (b). 1074  Bultmann, Geschichte 296 (unter Abzug von V.44 f.47); anders Grass, Ostergeschehen 180: „Jesus wurde nach Art der Hingerichteten in ein gemeinsames Grab gelegt. Das ertrug man alsbald nicht mehr, wusste aber, dass keiner der Seinen ihm den letzten Liebesdienst getan hatte und erweisen konnte. Ein Fremder hat es getan und seinen Leichnam vor der letzten Schande bewahrt. Es konnte nun freilich kein unbedeutender Fremder sein, sondern einer, der einen Schritt bei der Gerichtsbehörde wagen konnte, es musste ein Ratsherr sein. Der Name wurde wie so mancher andere Name in der evangelischen Tradition hinzuerfunden […]“; Crossan, Jesus 199– 205: Die Geschichte biete „tröstende Apologetik“ (205), die Unerträgliches verschleiere: Jesu Leichnam sei verscharrt oder zum Fraß der Vögel und Hunde geworden. – Zur zeitgenössischen jüdischen Bestattungskultur Evans, Ossuaries 17–30. – Aus Jes  53,9 wurde die Episode wohl nicht generiert; die masoretische Fassung – „Und man gab (ihm) … bei Reichen seine Grabstätte“ (ihr 1068 

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hen, wo Jesus bestattet wurde, bereitet die Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer vor und bildet eine literarische Brücke, die dann nicht trägt, wenn der Epilog der PEG fiktiv ist1075. Die Erzählung teilt „das Schicksal mit vielen anderen Daten der evangelischen und profanen Geschichte, die sich in ihrem genauen Ablauf nicht mehr rekonstruieren lassen“1076 . Dennoch dürfte sie einen historischen Kern besitzen. Der Name des Mannes aus Arimathäa ist nicht erfunden1077, auch nicht die Freigabe des Leichnams durch Pilatus. Weil der Entzug des Grabrechts Teil der Todessstrafe war, hingen Gekreuzigte, von den Henkern bewacht, zur Abschreckung oft tagelang am Kreuz, verwesten oder wurden von wilden Tieren gefressen1078 . Doch wenn Verwandte darum baten, konnte der Präfekt ausnahmsweise in einem administrativen Gnadenakt1079 einen Leichnam freigeben1080 . Bei Jesus waren keine Verwandten zur Stelle, wohl jemand aus dem Umfeld des Hohepriesters. Pilatus scheint auf jüdische Empfindlichkeiten Rücksicht genommen zu haben1081.

folgt die EÜ) – dürfte verderbt sein (Hermisson, Deuterojesaja 327 f.392, konjiziert mit anderen: „bei Übeltätern“ (so auch die rev. Luther-Übersetzung). 1075  Wenn eine der drei Frauenlisten historische Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen kann, dann die erste (s. oben!). Ausgehend von ihr, hat der Autor der PEG mit den Listen insgesamt die Aussagen des alten Glaubensbekenntnisses (1Kor  15,3 f.) authentisiert: gestorben – begraben – auferweckt. 1076  Broer, Urgemeinde 294. 1077  Campenhausen, Ablauf 22 f.; Becker, Auferstehung 245–248; Broer, Urgemeinde 292 (es gibt „kein Motiv für die Erfindung des Namens“); Légasse, Procès 156. – Apg  13,29, eine auf Lk zurückgehende Darstellung (Becker, Auferstehung 104.245 f.), bietet keine alternative Tradition, sondern eine „verallgemeinernde Bemerkung […], die nichts über den Hergang der Bestattung im einzelnen aussagen will“ (Grass, Ostergeschehen 180); 1078  Mommsen, Strafrecht 987–990 („Entziehung des Grabrechts und des ehrenhaften Gedächtnisses“); zur Bewachung der Hinrichtungsstätte ebd. 989 Anm.  1; Blinzler, Prozess 385– 387. – Horat, Ep.  1,16,46–48; Petronius, Sat  111 f.; Artemid, Onirocr  2,53; Eus, HistEccl  5,1,61 f. Auch aus jüdischer Perspektive (vgl. Evans, Dead 147–149) gilt Nichtbestattung als Strafe und Entehrung über den Tod hinaus: Jer  8 ,1 f.; Ps  79,3; 1Makk  7,17; 2Makk  5,10; 9,15; Jub  23,23; TestHiob  39,8; 1Hen  98,13; Jos, Bell  4,314–317; Offb  11,8 f. 1079  Vgl. Mk  15,45b (= PEG): „er schenkte (ἐδωρήσατο) den Leichnam dem Josef“ (vgl. Joh  19,38d). 1080  Mommsen, Strafrecht 989: „Von jenem barbarischen Verfahren (sc. der Nicht-Freigabe der Leiche) ist, wenn auch die Regel in Geltung blieb, […] allgemein mehr und mehr abgesehen worden“, mit Verweis (ebd. Anm.  6) auf Augustus, der Bitten von Verwandten nicht abgeschlagen haben soll (Ulpian, Dig  48,24 [De cadaveris punitorum]: Corpora eorum qui capite damnantur cognati ipsorum neganda non sunt: et id se observare etiam divus Augustus); Josephus erzählt in seiner Vita (420 f.), wie er, unterwegs im Land, „viele Kriegsgefangene am Kreuz hängen sah, unter ihnen drei Verwandte“, und von Titus den Befehl erwirkte, „sie herunterzunehmen und ihnen die sorgfältigste Pflege zuteilwerden zu lassen. Zwei starben während der Behandlung, der dritte jedoch überlebte“; vgl. Chapman/Schnabel, Trial 680 f.; Mayer-Maly, Bibelkunde 68–70. 1081  Evans, Dead 149, sieht im Fund der Gebeine eines Gekreuzigten 1968 in einem Privatgrab in Givʿat ha-Mivtar im nördlichen Bezirk des heutigen Jerusalem (Ossuar Nr.  4: Chapman/ Schnabel, Trial 653–657; S. Gibson, Tage 130–135), dessen Hinrichtung in die 1. Hälfte des 1.  Jh.s fällt, ein Indiz, „that Pilate permitted crucified Jewish criminals proper burial“; vgl. auch Luz, Mt IV 378 Anm.  13. – Mommsen, Strafrecht 989, zufolge verrät „das charakteristische τολμήσας“ (Mk  15,43) ein Wissen um den Gnadencharakter der Freigabe eines Leichnams.

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Welche Rolle spielte Josef von Arimathäa? Die Pflicht zum Begräbnis galt den Juden so viel, „dass sie sogar die Leichen der zum Kreuzestod Verurteilten vor Sonnenuntergang herunternehmen und bestatten“ (Jos, Bell  4,317)1082 , vor allem vor einem Sabbat oder Festtag (Philo, Flacc  831083). So scheint es plausibel, dass jemand vor dem Fest aus dem Beirat des Hohepriesters („ein Ratsherr“) der Pietätspflicht der Tora nachkam (Dtn  21,22 f.; vgl. Tob  1,17 f.; 2,3–8; 4,3 f.) und von Pilatus den Leichnam zur Bestattung erbat – ganz unabhängig davon, wie er über Jesus dachte. Vielleicht hatte er Hochachtung vor ihm. Diese Lesart der Geschichte ist allerdings, wie Karl Martin Fischer zu bedenken gibt, keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Da der Mann sich „durch die Berührung mit den Toten verunreinigte und so auch kultunfähig für das Passafest wurde, wird man kaum damit rechnen dürfen, dass es sich um einen reichen Ratsherrn gehandelt hat“1084. Nachdem Pilatus mit Rücksicht auf das jüdische Recht den Leichnam freigegeben hat, könnte mit Josef von Arimathäa (nur sein Name ist erhalten) ein „jüdischer Totengräber“ aus dem Umfeld des Hohepriesters beauftragt worden sein, Jesus zu bestatten. Aber er bestattete „nicht nur Jesus, sondern auch die mit ihm Gehenkten […], und das an einer Stätte, wo möglicherweise schon andere beerdigt waren“1085. Aufgrund der Zeitangabe der PEG („als es schon Abend wurde“) lässt sich zum Todeszeitpunkt Jesu nur so viel sagen, dass er womöglich am frühen Nachmittag gestorben ist. Wo sein Leichnam bestattet wurde, sagt die PEG nicht1086 . Sie spricht von irgendeinem aus Felsen gehauenen Grab (wie es für die Umgebung von Jerusalem typisch ist), ohne sich für seine Gestalt1087 oder seine Lage zu interessieren. Die Angabe der PEjoh, es habe sich in einem „Garten“ „nahe“ der Kreuzigungsstätte befunden (Joh  19,41 f.), ist sekundär. Dies festzustellen ist deswegen nicht unwichtig, weil 1082  Im Gegensatz zu den unmittelbar zuvor erwähnten Idumäern, welche die von ihnen Ermordeten „unbeerdigt hinauswarfen“, oder den Zeloten, die jemandem, als er „um ein Begräbnis bittet“, sogar „die Erde, die er so sehnlich begehrte, nicht zubilligen“ (Bell  4,359 f.). 1083  Vgl. auch Philo, Jos  2 2 f.25; Jos, Ap  2 ,211. 1084 K.M. Fischer, Ostergeschehen 67; J. Schreiber, Bestattung 147, verweist noch auf den verunreinigenden Gang des Josef zum Heiden Pilatus. 1085 K.M. Fischer, Ostergeschehen 68; Myllykoski, Body 81 f.: „I find it likely that the Jewish high priests […] followed this maxim [Dtn  21,22] and buried Jesus, like many others who had been crucified routinely in a graveyard of crucified criminals close to the place where he was crucified. […] It is reasonable to assume that Joseph of Arimathea had something to do with the burial of those crucified so that later Christians could imagine that he took care of the body of Jesus“; Légasse, Procès155 f., verweist auf Joh  19,31, wo die jüdischen Autoritäten um die Freigabe der „Leichname“ im Plural bitten. Wenn sie Pilatus vor dem Fest freigab, wird der wachhabende Centurio entweder deren Tod herbeigeführt oder sich des bereits erfolgten Eintritts (wie im Fall Jesu) vergewissert haben. 1086  Siehe oben in II.  11.3 die Rekonstruktion der Fassung. 1087  Auch wenn Becker, Auferstehung 247, fälschlicherweise meint, die Evangelien würden durchweg ein Einzelgrab für Jesus voraussetzen, hält er es historisch doch für möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Josef mit seinen Helfern nicht nur Jesus, sondern auch die beiden anderen Gekreuzigten in einem Mehrpersonengrab beigesetzt hat. „Nur so konnte ja für Juden die kultische Reinheit des Passafestes gewährleistet werden“.

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

die traditionelle Lokalisierung des Grabes Jesu in unmittelbarer Nähe des Golgota-Felsens in der sog. „Grabeskirche“ auf der joh. Lesart fußt1088 . Die älteste Pas­ sionserzählung stützt diese Tradition nicht. Sie besagt nicht mehr, als dass Jesus irgendwo außerhalb der Stadtmauer bestattet wurde. Der ersten Gemeinde, die sich bald in Jerusalem bildete, war die Lage seines Grabes unbekannt; sie interessierte sich nicht dafür1089. Sie glaubte an den aus dem Totenreich entrückten und auferweckten Jesus und suchte ihn nicht unter den Toten (Lk  24,5)1090 . Sie wusste ihn bei Gott und hoffte auf seine baldige Wiederkunft: „Unser Herr, komm!“ – marana tha1091. 2.9 „Als die Sonne aufging …“. Der österliche Neuaufbruch Nicht nur die Notiz zu den beiden Frauen, die „sahen“, wohin Josef den Leichnam Jesu „legte“, bereitet den sich unmittelbar anschließenden Epilog der PEG vor, auch der Hinweis auf den Stein, den Josef aus Arimathäa vor das Grab wälzte, erfüllt diese Funktion. Die bange Frage der Frauen auf ihrem Weg zum Grab zwei Tage danach: „Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wälzen?“ erübrigt sich: Als sie beim Sonnenaufgang am Grab ankommen, stellen sie fest, dass die Tür zum Totenreich offensteht. Der himmlische Bote im Grab deutet die entstandene Leerstelle: Jesus, der Nazarener, der Gekreuzigte, ist auferweckt worden! Der Epilog der PEG erzählt vom rettenden Handeln Gottes am Gekreuzigten in einer Weise symbolisch, die im Vergleich zur bisherigen Erzählweise neu ist und die Frage zuspitzt, welche historischen Erinnerungen sich dahinter verbergen. 1088  Von der Entdeckungsgeschichte her wird wohl umgekehrt zu formulieren sein: „Presumably because of John 19:41 […] the discovery of the tomb also occasioned the discoveries of Calvary and the true cross“ (D.A. Smith, Tomb 171). Die Entfernung zwischen dem angeblichen Grab Jesu und dem Golgota-Felsen bemisst sich (nach den Karten bei Küchler, Jerusalem 435) auf rund 40  Meter; J. Taylor, Golgotha 184, setzt in ihrem historisch-archäologischen Beitrag die Historizität der joh. Angabe unbesehen voraus, ebenso Biddle, Tomb 94. 1089  Grass, Ostergeschehen 182: „[A]ls die Jünger nach Wochen (frühestens wohl am Pfingstfest) nach Jerusalem zurückkehrten und mit der Verkündigung vom auferstandenen Herrn begannen, (war wohl auch) keine sichere Auskunft über den Verbleib des Leichnams mehr zu erhalten“; Vollenweider, Ostern 108: Wer hätte „Interesse haben sollen an einer Inspektion, an einer Exhumierung (sofern sie überhaupt möglich gewesen wäre)? Die maßgeblichen Juden haben die ersten Christen am Anfang doch kaum ernst genommen“. Zur These, „Sitz im Leben“ von Mk  16,1–8 sei „eine Jerusalemer Kultfeier am leeren Grab zum Gedächtnis und zur Feier der Auferstehung des gekreuzigten Herrn“ (L. Schenke, Auferstehungsverkündigung 89) siehe D.A. Smith, Tomb 172: „absolutely no supporting evidence prior to the fourth century“; H.-D. Betz, Problem 246: „Die Tatsache, dass das Grab Jesu unbekannt war und dass man zunächst nicht über Reliquien verfügte, scheint […] über 300 Jahre hinweg niemanden gestört zu haben. […]. Das Grab wurde erst ‚wiederentdeckt‘, als man es brauchte“. 1090  Eisele, David 204–206, zu Apg  2 ,29 („sein [sc. des Davids] Grab ist bei uns (erhalten) bis zu diesem Tag“): Es fehlt der hier erwartbare Hinweis auf das Grab Jesu: „Während Davids Grab bis heute verschlossen ist, wurde das Grab Jesu schon am dritten Tag geöffnet vorgefunden – und leer!“ (204). „Überhaupt findet sich bei Lukas keine explizite Spur von einer Verehrung des Grabes Jesu, wie sie für Heiligengräber im Frühjudentum sonst breit bezeugt ist“ (206). 1091  Vollenweider, Ostern 108: „Die früheste Verkündigung des Auferstandenen in Jerusalem setzt nicht notwendig ein leeres Grab voraus“; ebenso Becker, Auferstehung 208.242 f.; Kessler, Auferstehung 83–88.

2. Was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt

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Ihrer diachrone Analyse zufolge (II.  12.8) bewahrt die Erzählung die Erinnerung auf sowohl an die „Ersterscheinung“ des Auferweckten vor Maria Magdalena (Mt  28,9f. par. Joh  20,14–18) als auch an eine „Erscheinung“ vor Petrus und den Zwölf (1Kor  15,5 par. Mk  16,7)1092 . Die vor Petrus konkurriert mit jener vor Maria Magdalena darin, dass auch sie beansprucht, „Ersterscheinung“ (Protophanie) zu sein. Der Kompromiss, den der Epilog der PEG zwischen beiden Erinnerungen schließt, lautet: Maria Magdalena ist zwar nicht die Erstzeugin des Auferweckten, aber doch diejenige, die die Botschaft von seiner Auferweckung von einem himmlischen Boten im leeren Grab zuerst vernahm und beauftragt wurde, Petrus und die Jünger darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie den Auferweckten „sehen“ werden. Weil der Autor des Epilogs zugleich der Autor der PEG ist, wird er der Magdalenerin am Grab im Anschluss an Mk  15,40 die beiden anderen Frauen zugesellt haben: die andere Maria und Salome. Die Einsichten in Entstehung und Zielsetzung des Epilogs der PEG erlauben eine erste Antwort auf die Frage, was nach der Kreuzigung Jesu auf Golgota und der Beisetzung seines Leichnams in einem Felsengrab vor der Stadt geschah. Nicht in Zweifel gezogen werden sollte die Einsicht, dass die symbolgesättigte Erzählung von der Auffindung der leeren Grabkammer sich strikt gegen ihre Lesart als Bericht von tatsächlich Geschehenem am frühen Morgen des übernächsten Tages verwahrt. „Am ersten Tag der Woche“ geschah nichts, jedenfalls nichts, was die Krise, in die Jesu Jüngerinnen und Jünger nach seiner ehrlosen Hinrichtung am Kreuz gestürzt wurden, in eine andere Richtung hätte lenken können. Die Überlieferung von Mt  28,9f. par. Joh  20,14–18 wie indirekt die des Epilogs bezeugt aber, dass nach der Katastrophe auf Golgota Maria Magdalena nach eigenem Bekunden einer „Erscheinung“ des Auferweckten teilhaftig wurde – wann, wie viele Tage (oder gar Wochen) nach jenem furchtbaren Tag von Golgota und auch wo, in Jerusalem, ­Judäa oder Galiläa, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Wie kam es zur „christlichen“ Gruppen- und Gemeindebildung (unter 1.), was führte zur Bildung der PEG (unter 2.)?1093 (1) Die männlichen Anhänger Jesu, seine „Jünger“, die ihn nach Jerusalem begleitet hatten, tauchten nach seiner Verhaftung unter, verließen nach den schrecklichen Ereignissen die Stadt und kehrten dorthin zurück, wo sie mehrheitlich herkamen, nach Galiläa1094. Auch die Frauen, welche die PEG namentlich nennt, dürften den „Jüngern“ gefolgt sein. Die Rückkehr in die Heimat spiegelt die tiefe Krise, in die 1092 1Kor   15,5 unterscheidet: „er erschien dem Kephas, dann den Zwölf“, anders Mk  16,7: „Geht sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen“. Lk  24,34/36–49 bestätigt 1Kor  15,5. 1093  Zur Frage der Entstehung des Osterglaubens und seinem theologischen Gehalt: Becker, Auferstehung; Grass, Ostergeschehen; Hoffmann, Auferstehung (NT); Kessler, Auferstehung 109–124; Lüdemann, Auferstehung; Vögtle/Pesch, Osterglauben; Vollenweider, Ostern; Zeller, Entstehung 58–63. 1094  Mk  16,7, weil mkn. Redaktion, scheidet als Beleg für die Rückkehr der Jünger nach Galiläa aus; es bleibt das Argument ihrer galiläischen Abstammung. Vollenweider, Ostern 112: „Die Jüngerrückkehr heim nach Galiläa dürfte historisch sein, zumal sie später in Lk  23/24 und Joh  20

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Jesu Hinrichtung seine Anhängerschaft gestürzt hat. Weil er seine Botschaft vom nahen Reich Gottes mit seiner eigenen Person verbunden hatte, schienen ihre „großen Hoffnungen […] auf ein jetzt Ereignis werdendes göttliches Reich, wo Gerechtigkeit und Liebe herrschen würden, […] vorderhand zerstoben. So zerschlagen wie die Hoffnungen all der anderen Volksmassen, die von ‚messianischen Propheten‘ erregt und durch das Eingreifen der Römer genau so gründlich erstickt worden waren“1095. Wenn aus den „verstörten, krisengeschüttelten, trauernden Jesusanhängern“ nach einiger Zeit doch Menschen wurden, die sich zur Auferweckung und Erhöhung ihres Herrn bekannten und das baldige Offenbarwerden des Reiches Gottes mit ihm erwarteten, so muss diese Wende „erstaunen“1096 . Spätestens seit den Zeiten der Aufklärung treibt die Wissenschaft die Frage um, welche Faktoren für diesen Umschwung verantwortlichen waren1097. Das Neue Testament, insbesondere Paulus (1Kor  9,1; 15,1–11), lassen erkennen: Die Wende wurde von sogenannten „Erscheinungen“ herbeigeführt – Jesus „erscheint“ vor Einzelnen (Maria Magdalena, Petrus, Jakobus, Paulus) und vor Gruppen (den Elf, den 500 Brüdern und Schwestern, „allen Aposteln“) –, religionsgeschichtlich gesprochen: durch Visionen, „verstanden im Sinn eines veränderten Wachbewusstseinszustands mit hervorstechenden visuellen Perzeptionen, die eine Videokamera nicht festhalten kann“1098 . Dabei zu berücksichtigen ist, „dass gerade auch die Entstehungszeit von Religionen signifikant häufig durch visionäre Ursprungserfahrungen gekennzeichnet ist“1099. Wie kam es zu derartigen Visionen? Gibt es Erklärungen, die sie wenigstens ansatzweise begreiflich machen? Auszugehen ist von der Einsicht, dass diese Visionen ausgeblendet wird. Sie ist doch wohl als Zeichen einer Krise zu werten“; ebenso Grass, Ostergeschehen 113–127. – Für Jerusalem plädiert Becker, Auferstehung 255–260. 1095  Vollenweider, Ostern 112. 1096  Ebd. „Freilich deutet dieser Umschlag noch längst nicht auf eine Art „Wunder“ hin, sondern könnte auch als offenbar gelungene ‚Kontingenzbewältigungsstrategie‘ betrachtet werden, die psychologisch fast auf der Hand liegt“. 1097  Siehe den Überblick von Theißen/Merz, Jesus 416–422 („Sechs Phasen in der Diskussion um den Osterglauben“); Hoffmann, Graben 80–106. 1098  Vollenweider, Ostern 110 Anm.  16; Becker, Auferstehung 159, begründet die Anwendung der Kategorie der „Vision“ zurecht mit den autobiographischen Texten des Paulus; ebenso Zeller, Entstehung 59 (mit weiteren Lit.-Angaben): Die „Erscheinungen“ von 1Kor  15 sind „in Analogie zur Bekehrungsvision des Paulus als psychische Erfahrungen im Wachzustand“ aufzufassen; ders., Erscheinungen 29–43. 1099  Becker, Auferstehung 277; unangebracht sind die vielen Versuche, „das Christentum bei der Ostererfahrung in eine Sonderstellung innerhalb der Religionsgeschichte zu bringen. Das mag für manche aus dogmatischen Gründen als ein erstrebenswertes Ziel angesehen werden, ist aber mit dem, was wir von den Ostervisionen noch historisch erkennen können, nicht zu begründen. Man wird gegenüber solchen Versuchen […] herausstellen, dass das urchristliche Zeugnis von Ostern allen Wert darauf legt, das inhaltlich Besondere der Erfahrung herauszuarbeiten, jedoch kein Interesse zeigt, eine spezifisch urchristliche Erfahrungsart zu beschreiben, die das Christentum von der religiösen Erfahrungswelt unterscheidet. Im Gegenteil: Das Urchristentum greift auf vorhandene Anschauungen und Darstellungsweisen aus dem Bereich der Epiphanie und Vision zurück, um darin sein eigenes inhaltliches Profil zur Geltung zu bringen“.

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nicht als unvermittelte „Widerfahrnisse“ zu denken sind, die ihre unumstößliche Deutung gleichsam selbst mitliefern1100 . Sie sind Teil der Trauerarbeit, welche die Anhängerinnen und Anhänger Jesu nach der Katastrophe zu leisten hatten. Wesentlicher Faktor war die Erinnerung an Jesus. Mit ihm waren sie nach Jerusalem heraufgezogen. Dort hatten sie ihn erlebt und wussten, dass er nach seiner gewagten Aktion im Tempelbezirk auf alles gefasst sein musste. So konnten auch sie von seiner Verhaftung nicht völlig überrascht worden sein. Auch hatte Jesus – trotz seiner prekären Lage – die Hoffnung auf den Vollanbruch des Gottesreiches nicht aufgegeben, sie im Gegenteil bis zuletzt festgehalten. Mk  14,25, sein Wort vom letzten Mahl, hatte sich ihnen eingeprägt1101. Wie Jesus sich die Überwindung des ihm vor Augen stehenden Todes vorstellte, um beim Festmahl der Gottesherrschaft dabei sein zu können, sagt das Wort nicht. Die eschatologische Auferstehung war nie sein „Thema“1102 . Analog zu seiner früher geäußerten Gewissheit, dass die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob am endzeitlichen Festmahl dabei sein würden (Mt  8,11 par. Lk  13,28 f.)1103, dürfte er auch bei seinem Wort Mk  14,25 an Auferweckung gedacht haben. Erinnerten sich seine Anhängerinnen und Anhänger nach der Katastrophe von Golgota daran, ist nicht auszuschließen, dass sie „mit der Möglichkeit seiner Auferstehung“ rechneten, „wenn sie denn Jesu Ankündigung Mk  14,25 und die Erwartung seiner dort vorausgesetzten göttlichen Rehabilitierung nicht aufgeben wollten“1104. Eine diffuse Gemengelage zwischen Enttäuschung und Trauer einerseits und unabgegoltenen Hoffnungen andererseits zeichnet sich ab. Der Boden war bereitet für die umstürzenden Bewusstseinszustände, welche die Erscheinungsformeln bei einzelnen und sogar Gruppen der Anhängerschaft Jesu voraussetzen. 1100  In diese Richtung (einer früher sog. objektiven Visionshypothese) scheint Kessler, Auferstehung 121, zu denken, wenn er von den Visionen als „dem (überraschenden) Ereignis oder Wunder einer (von Gott gewirkten) inneren, den ganzen Menschen erfassenden Erfahrung und evidenten Erkenntnis (Offenbarung)“ spricht; vgl. ebd. 105. 1101  Siehe oben 2.4.3 unter (2) (c). 1102  Zeller, Entstehung 62. 1103  Vgl. TestJud  25,1: „Und danach werden Abraham, Isaak und Jakob zum Leben auferstehen, und ich und meine Brüder werden Herrscher der Stämme in Israel sein“; TestBen  10,6 f.: „Dann werdet ihr sehen Henoch, Noah und Sem und Abraham und Isaak und Jakob auferstehen zur Rechten mit Jubel. Dann werden auch wir auferstehen, jeder zu seinem Stamm […]“. Vgl. auch 4Makk  13,17: „wenn wir so aus dem Leben scheiden, werden uns Abraham, Isaak und Jakob aufnehmen, und alle unsere Vorväter werden uns Beifall spenden“; 16,25: „zudem wussten sie ja auch dies, dass die, die um Gottes willen sterben, bei Gott leben wie Abraham, Isaak, Jakob und die Patriarchen“. 1104 U.B. Müller, Auferweckt 13; die Annahme, der Tod Jesu habe alle Hoffnungen der Seinen zum Einsturz gebracht, wird in jüngerer Zeit verschiedentlich in Zweifel gezogen; vgl. auch Vinzent, Auferstehung 13: „Für diejenigen, die dem Mann aus Nazaret nachfolgten, war der Tod ihres Vorbildes offenkundig nicht das grässliche Ereignis, das ihnen alle Hoffnung raubte, für das das Kreuz oftmals gehalten wurde und wird […]. Sie betrachteten den grausam am Kreuz Gemarterten und Ermordeten als Märtyrer für eine gerechte Sache. Pharisäisch-rabbinische Lehre stützte diesen Glauben gar noch mit der Hoffnung auf die unmittelbare Himmelfahrt des Märtyrers bei seinem Tod, da Märtyrer nicht bis zum jüngsten Gericht in der Hölle auszuharren hatten“.

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Vom atl. Sprachgebrauch inspiriert1105 , deuten diese Formeln in Verbindung mit der Auferweckungsformel die Erfahrungen der Zeugen als Epiphanie oder Offenbarung Jesu vom Himmel her, was den Gedanken seiner „Erhöhung“ voraussetzt. Zu den Bewusstseinszuständen der Osterzeugen, in denen die Erkenntnis, dass der Gekreuzigte lebt, sich ihnen visionär erschloss, sagen die Formeln von ihrem Wirklichkeitsverständnis her nichts. Es geht ihnen allein um die theologische Dimen­ sion. Samuel Vollenweider verweist unter Beachtung der Differenz zwischen antiker und moderner Kultur zur Erklärung der Visionen auf neuere humanwissenschaftliche Untersuchungen zum Trauerprozess: „Übertragen auf die Trauerarbeit der Jünger folgt der starken Bindung an Jesus, erkennbar am Nachfolgeverhältnis und an der Gemeinschaft des Wanderns, der Trennungsschock. Die Rückkehr nach Galiläa lässt sich als Phase der Kontrolle verstehen. Hier, an den Orten und Plätzen, wo sich die innigsten Erfahrungen mit dem Meister zugetragen haben, kommt es zu Erscheinungen des Verstorbenen – eine Begebenheit, von der nicht wenige Pfarrer auch heute aus ihrer Praxis zu berichten wissen: von all den Versuchen, die Gegenwart des Toten festzuhalten“1106 . Haben die „Erscheinungen“ des Auferweckten also die Trauerarbeit misslingen lassen? Ist der Rekurs auf sie Ausdruck einer Realitätsverweigerung? Die theologischen Kontexte (vgl. 1Kor  15,3–5) lassen diese Frage eher verneinen: Jesu „Tod wird ausdrücklich thematisiert und gerade nicht ausgeblendet. Es kommt nicht zu einer ‚Wiederherstellung‘ der früheren Zeit. Die Krisenerfahrung der Jünger wird demzufolge nicht regressiv entspannt, sondern schlägt in eine ganz außerordentliche Erfahrung um, eine Bewusstseinserweiterung, worin es zur Wahrnehmung einer sonst verborgenen Dimension der Wirklichkeit kommt“1107. Diese auf dem Hintergrund des Hoffnungspotential der Botschaft Jesu zu entfalten, wäre Aufgabe einer theologischen Explikation des Auferstehungsbekenntnisses, die hier nicht geleistet werden muss.

Die Visionen religionspsychologisch zu erklären, scheint grundsätzlich möglich1108 . Allerdings setzen die Quellen einem solchen Unterfangen empfindliche Grenzen. Zu Simon Petrus wenigstens lässt sich die ihn niederdrückende Erfahrung, in der 1105 Die ὤφθη-Formel schließt an Stellen wie Gen 12,7; 17,1; 18,1; 35,9; Ex 3,2; Ri 6,12; 13,3 etc. (LXX) an und besagt, dass wie bei den „Erscheinungen“ Jhwhs bzw. seines Boten vor Abraham, Isaak, Jakob, Mose oder anderen Gestalten der Geschichte Israels auch bei den Christus-„Erscheinungen“ ein offenbarungsmäßiges Sich-Zeigen aus der Welt Gottes gemeint ist. 1106  Vollenweider, Ostern 113; ebd. 111, verweist er auf aufklärerische Stimmen in der Antike, die von Bildern zu berichten wussten, „die in Krankheit und Traum aufsteigen, ‚dass wir meinen, diejenigen persönlich zu schauen und zu hören, deren todbetroffenen Gebeine die Erde bedeckt‘“ (mit Verweis auf Lukrez 1,132–135). Zeller, Erscheinungen 29–43, bietet einen in­ struktiven Überblick zum Phänomen „Erscheinungen Verstorbener“, das in heidnischen Quellen wesentlich häufiger als in der biblisch-frühjüdischen Tradition begegnet. 1107  Vollenweider, Ostern 114; 113: „Wenn Trauerarbeit den Sinn hat, die Trauernden wieder in Einklang mit der sie bestimmenden Lebenswirklichkeit zu bringen, so ist dies offenbar unter den frühen Christen geschehen – freilich im Zeichen einer im damaligen Klima keineswegs ungewöhnlichen eschatologischen Erwartung. Die Bewegung wächst relativ schnell an und bewährt sich gerade auch unter schweren Pressionen. Sie ergreift Kreise, die nicht in intimer Nähe zu Jesus gelebt haben und die doch in den Bann seiner Ausstrahlung gezogen werden“. Zeitgleich mit Vollenweider greift auch Lüdemann, Auferstehung, auf humanwissenschaftliche Modelle zur Trauerarbeit zurück. 1108  Die theologische Deutung der „Erscheinungen“, die sie selbst nahelegen, wird durch ihre

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Stunde der Entscheidung versagt zu haben, als treibender Faktor seiner Ostervision als einem „Stück Trauerarbeit“ geltend machen: „[U]nter dem Eindruck von Jesu Verkündigung und Tod bezog Petrus durch eine Erscheinung des ‚Auferstandenen‘ das im Wirken Jesu präsente Vergebungswort Gottes noch einmal und diesmal in seiner tiefgründigen Klarheit auf sich. […] Zu Ostern ist dem erschütterten, trauernden Petrus trotz seiner Verleugnung Jesu und trotz dessen Tod das Wort Jesu, nämlich das Vergebungswort Jesu, noch einmal begegnet, er hat ihn ‚gesehen‘“1109.

Erlaubt diese Rekonstruktion eine Verallgemeinerung? War „die Beziehung der Jünger gegenüber Jesus“ nach den Erfahrungen von Flucht und Versagen überhaupt „von Ambivalenz und Schuldgefühlen bestimmt“, die im Bedenken der Vergebungsbotschaft Jesu schließlich in enthusiastische, visionär verdichtete Gnaden­ erfahrungen umschlugen?1110 Die Visionen der Maria Magdalena und des Simon Petrus machten wohl den Anfang und boten den Gruppenvisionen die Initialzündung. Wenn Jesus „den Elf erschien“, dann mussten diese erst zusammengekommen sein, sie konnten das aber nur, wenn einer von ihnen dazu den Anlass gegeben hat, z. B. Petrus, der alle anderen an seinen Erfahrungen teilnehmen ließ1111. Diese Überlegungen legen es nahe, nicht nur zwischen Einzel- und Gruppenvisionen, sondern auch zwischen Erst- und Zweit-Visionen zu unterscheiden. Bei Gruppen-Erscheinungen könnten weitere Faktoren für das Entstehen visionärer Er­ fahrungen gespielt haben, vor allem Gemeinschaftsmähler in Erinnerung an das Zusammensein mit dem irdischen Jesus1112 . Wie der Funken auf die galiläische Verwandtschaft Jesu, die ihm zeit seines Lebens distanziert gegenüberstand, über­ gesprungen ist, lässt sich nicht sagen. Paulus bezeugt für Jakobus, den Bruder Jesu, eine Einzelvision (1Kor  15,7), die dann eine Art Bekehrung zu Jesus und seiner Verkündigung gewesen sein müsste. Die mehrfach und für Menschen unterschiedlicher Biografie bezeugten Visionen sind in ihrer Genese letztlich nicht mehr zu erhellen. (2) Bald kehrte eine größere Gruppe von Jesusgläubigen nach Jerusalem zurück, darunter Petrus und Jakobus, wie viele Wochen nach Jesu Hinrichtung, ist unbekannt. Sie nahmen seine Botschaft an Israel wieder auf, zutiefst davon überzeugt: Gott hat ihn als seinen Repräsentanten zu sich „erhöht“ und zum Messias und Gottessohn „eingesetzt“ (Röm  1,4); beim baldigen Vollanbruch des Gottesreiches werde er als Menschensohn zum Gericht erscheinen. In die Phase der Formierung der Gemeinde in Jerusalem gehört die Prägung der „Erscheinungsformeln“, welche religionspsychologische Erklärung nicht entkräftet. Beides bewegt sich auf unterschiedlicher Ebene. 1109  Lüdemann, Auferstehung 112 f. (unter Bezug auf Lk  5,1–11; Joh  21,1–14; Mt  16,17–19); eine vergleichbare Diagnose bietet Lüdemann zu Paulus, der unbewusst schon vor seiner Bekehrung Christ gewesen sei und sich dieses „Christuskomplexes“ durch externe Bekämpfung habe entledigen wollen (ebd. 63–99). 1110  Lüdemann, Auferstehung 115. 1111  Lk  24,33 f. gibt zu erkennen, wie sich eine Gruppe von der Vision eines Einzelnen, hier „die Elf und die mit ihnen“ durch Simon Petrus hat „anstecken“ lassen. 1112  Lk  24,30 f.36–43; Apg  10,41; Joh  21,9–13.

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diejenigen, die hinter dem Neuaufbruch standen (wie Simon Petrus, die Zwölf oder Jakobus), legitimieren sollten, wie der ersten Bekenntnisformeln, die den Gott kundtun, der am Ende der Zeiten Jesus „von den Toten auferweckte“ (wie er vor Zeiten Israel aus Ägypten „herausgeführt“ hat). Die sich „hausweise“ in Jerusalem organisierenden Jesusgruppen missionierten, trafen sich im Tempelbezirk, nahmen an den offiziellen Gebetszeiten teil und pflegten in ihren Häusern bei ihren Zusammenkünften und gemeinsamen Mählern eine Schrift- und Psalterfrömmigkeit, die es ihnen erlaubte, die Ereignisse um Jesus besser zu verstehen1113. Zeitgleich meldete sich unter den Jerusalemer Autoritäten erneut Widerstand gegen die Jesus-Mis­ sion. Die priesterlichen Kreise werden Dtn  21,22 f. herangezogen haben, um die Verkündigung des erhöhten Gekreuzigten als mit der Tora nicht im Einklang befindlich zurückzuweisen. „Die Hellenisten“ schließlich lehnten den Opferkult des Tempels mit der Begründung ab, Jesu Tod sei das endgültige Opfer zur Rettung der Menschen, und erinnerten an seine Aktion im Tempel. Damit bereiteten sie der Formierung der PEG den Weg, die mit der Erzählung von dieser Aktion als Proömium einsetzt1114. Als literarisch-ästhetisch gekonnte wie theologisch hoch reflektierte Erzählung gehört die PEG nicht in die früheste Phase der Jerusalemer Gemeinde. Sie setzt schon die angedeuteten nachösterlichen Antagonismen zwischen der Jesusbewegung und den Autoritäten Jerusalems voraus. Um die hohen Priester mit den Farben des Psalters als Feinde des Messiaskönigs porträtieren zu können, bedurfte es bereits des Abstandes zu den anhaltenden Angriffen. Vor allem ist die PEG kein polemischer Erinnerungstext, sondern verdankt sich der Intention, an die Vergangenheit im Kontext der jährlichen Paschafeier gleichsam kultisch zu erinnern, in der Erinnerung die Geschehnisse zu vergegenwärtigen und so die Identität der Gemeinde in der Hoffnung auf den endgültigen Anbruch der Königsherrschaft zu stärken. Die Erzählung ist aus der „hausweise“ gepflegten Psalterfrömmigkeit der Gemeinde erwachsen, bezeugt aber auch die Arbeit von Theologen, die der Erinnerung ihre prägende Form gaben. In unterschiedlichen Überlieferungszweigen wurde diese Grunderzählung weitergeschrieben bis dahin, dass Evangelien entstanden: verlängerte und ausgeführte Passionserzählungen.

Exkurs 12: Von der erinnerten zur realen Zeit Die PEG ist, traditionell gesprochen, am Triduum Paschale orientiert, welches den Zeitraum vom Gründonnerstagabend über den Karfreitag („Rüsttag“) und den Karsamstag („Samstag“) bis zum Ostersonntag („erster Tag der Woche“) umfasst. Die PEG hat die Ereignisse zeitlich strukturiert, um in der Erinnerung anschaulich „begehen“ zu können. Höhepunkt des Triduums ist die Auffindung der leeren Grabkammer „am ersten Tag der Woche“. Die drei Tage vom Todestag Jesu bis zum „dritten Tag“ der Verkündigung seiner Auferweckung lassen sich verstehen als Vergeschichtlichung der theologischen Drei-Tage-Spanne der Auf1113  Siehe oben in I.  1.5.3 den Abschnitt: Die Psalter-Matrix der neutestamentlichen Passionserzählungen etc. 1114  Zur möglichen Entstehungszeit der PEG siehe oben I.   unter 1.7.

3. Prophet gegen Priester. Die Ereignisse der letzten Tage Jesu im Überblick

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erweckungsformel, die bedeutet: Nach kurzer „Zeit“ griff Gott ein und rettete (vgl. Hos  6 ,2 oder Jona  2,1). Der historische Kern dieses Zeit-Konstrukts umfasst lediglich den Donnerstagabend, den Freitag (= „Rüsttag“) und den Samstag („Sabbat“). Im knapp bemessenen Zeitraum der beiden ersten Tage geschieht konsequent eins nach dem anderen, was der tatsächlichen Ereignisfolge entsprechen wird. Die Zeit davor und danach bleibt unbestimmt. Abgesehen davon, dass sich das Erzählte im Vorfeld eines Pascha-Festes abspielte (Joh  11,55: „Es war aber nahe das Pascha“)1115 , lässt sich nicht sagen, wann Jesus mit den Seinen nach Jerusalem kam, wann er im Tempel auftrat1116 und wie lange er schon in der Stadt weilte, als er verhaftet wurde. Der Zeitverlauf nach Jesu Hinrichtung ist unbekannt. Die Trauerarbeit der Anhängerinnen und Anhänger Jesu in Galiläa kann sich mehrere Wochen oder einige Monate hingezogen haben, bis die von Mk  16,7 angekündigten „Erscheinungen“ die Wende heraufführten und die ersten Jesusgläubigen nach Jerusalem zurückkehrten, um dort zu missionieren1117. Wenn Ostern nicht der „Urknall“ war, als welcher „der erste Tag der Woche“ zumeist angesehen wird, vollzog sich der Aufbruch der verstörten und trauernden Jesusanhänger viel menschlicher, als der enge Zeittakt der PEG es im Interesse liturgisch und theologisch zu begehender Erinnerung vorgibt.

3. Prophet gegen Priester. Die Ereignisse der letzten Tage Jesu im Überblick Jesu Zusammenstoß mit der Tempelaristokratie Jerusalems, der für ihn letztendlich tödlich verlief, war ein „Konflikt zwischen Prophet und Priester“1118 , wie er von jeher typisch für Israel ist. Einige Zeit vor dem Pascha-Fest Anfang der 30er-Jahre kam Jesus mit einer kleinen Gefolgschaft von Galiläa nach Jerusalem. Er besuchte die Stadt vom Ölberg aus, wo er während seines Aufenthalts in einem der Dörfer bei Freunden übernachtete (vgl. Mk  14,3–9; Joh  12,1–8). In der Stadt war Jesus kein Unbekannter. Entweder hatte er sie früher schon besucht oder die Menschen kannten ihn vom Hörensagen. Was sie mit dem Exorzisten und Wunder wirkenden Propheten der Königsherrschaft Gottes verbanden, wissen wir nicht. Vielleicht erhofften sie sich von ihm in eschatologischer Hochspannung, dass er mit seinem Kommen in die Heilige Stadt das Reich Gottes heraufführen oder selbst als messianischer „König“ in Erscheinung treten werde. Jesus lag eine derartige Inszenierung fern. Im Tempel1119 proklamierte er nicht nur die nahe Königsherrschaft Gottes, wie er es in Galiläa zu tun pflegte, sondern drohte überdies denen das Gericht an, die meinten, dank der Gegenwart Gottes im Heiligtum und des Opferkults des Heils 1115 

Das nahende Paschafest setzte wohl Jesu Gegner unter Handlungsdruck. Bovon, Jours 41: „Historiquement, l’épisode a pu se dérouler plus tȏt“. 1117  Grass, Ostergeschehen 184: „nach Wochen (frühestens wohl am Pfingstfest)“. 1118  Dautzenberg, Eigenart 331. 1119  Die PEG erweckt den Eindruck, dass der Einzug in die Stadt samt Tempelbesuch am Anfang des Jerusalem-Besuches Jesu stand. Denkbar wäre, dass Jesus schon einige Zeit in Jerusalem wirkte, bevor er im Tempel auftrat und dann untertauchte. 1116 

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

gewiss zu sein (vgl. Jer  7; 26,1–19.20–24)1120: Wenn Gott in Bälde seine Königsherrschaft vollendet, wird der Tempel am Ende sein. Gott verlässt ihn und gibt ihn der Verödung preis (Q  13,34–35a). Kein Stein mehr wird auf dem andern bleiben (Mk  13,2). Nach Art der Propheten gab Jesus seinen Worten Nachdruck mit einer provokanten Symbolhandlung: In der Königlichen Halle, einer „Markthalle“ am Rand des Vorhofs der Heiden, stieß er Tische von Geldwechslern und Stände von Taubenhändlern um, die der Durchführung des Opferkults dienten, und demon­ strierte dessen Ende. Er stiftete Aufruhr, aber keinen wie den von Apg  21,27–40, der römische Soldaten unmittelbar zum Einschreiten nötigte. Nach seiner Aktion entzog er sich der Tempelpolizei und tauchte unter. Der Vorfall hatte gravierende Folgen: Die hohen Priester nahmen ihn zum Anlass, gegen Jesus vorzugehen. In ihren Augen gefährdete Jesus mit seiner Prophetie der Königsherrschaft Gottes den status quo des Tempelstaates. Sie planten, ihn vor dem Fest möglichst unauffällig zu beseitigen, womit sie Erfolg haben sollten. Ein Judäer namens Judas Iskariot aus seinem engerem Kreis haderte mit Jesus wegen dessen Gerichtsprophetie gegen den Tempel. Alle seine Hoffnungen ruhten auf dem Zion. Von Jesus zutiefst enttäuscht, kehrte er ihm den Rücken und gab den Autoritäten einen Wink, wo sich der Galiläer am Abend mit den Seinen gewöhnlich aufhielt, auf einem Grundstück namens Getsemani am Fuß des Ölbergs. Nach seiner Tempelaktion mied Jesus die Öffentlichkeit1121. Am Abend vor seiner Festnahme hielt er mit den Seinen (wie gewöhnlich) Mahl. Nach Ostern wurde klar: Es war sein letztes Mahl, sein Abschiedsmahl. Gesagt hatte er es ja: Er würde „von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu dem Tag, an dem er davon im Reich Gottes trinken werde“ (Mk  14,25). Die Mahleröffnung hatte er zu einer Symbolhandlung genutzt, wie er auch früher gerne Zeichen setzte: Er sprach den Lobpreis des Schöpfers über dem Brotfladen, zerteilte ihn, gab ihnen allen ein Stück und erklärte, genauso ließe er selbst sich ihnen zugute verzehren, wenn er für Gott das Äußerste wagt. Sie konnten es nicht ahnen: Schon kurz danach wurde er verhaftet und hingerichtet. In Getsemani waren sie noch zusammen, zum Gespräch und zum Gebet, abrupt unterbrochen durch Ordnungskräfte der hohen Priester, die in der Dunkelheit auftauchten, um Jesus festzunehmen. Judas identifizierte ihn. Einer der Anwesenden, ein Anhänger Jesu, machte wohl Gebrauch von seiner Waffe und verletzte den „Knecht des Hohepriesters“. Jesus wurde verhaftet, die Seinen flohen bzw. tauchten unter. Petrus folgte Jesus bis ins „Haus des Hohepriesters“. Wegen seines galilä­ ischen Dialekts auf seine Herkunft angesprochen, stritt er ab, zum Gefolge Jesu gehört zu haben. Einige Frauen begleiteten Jesus auf seinem Weg bis nach Golgota.

1120  Rudning, Jahwe 280 f., zu Jer  7; Lichtenberger spricht vom „Mythos von der Unzerstörbarkeit des Tempels“ (Mythos 92–107). 1121  Die PEG weiß nichts von öffentlichen Auftritten Jesu nach seiner Tempelaktion. Erst Mk erzählt von Streitgesprächen Jesu, die er nach seiner Tempelaktion mit unterschiedlichen Gruppierungen geführt haben soll.

3. Prophet gegen Priester. Die Ereignisse der letzten Tage Jesu im Überblick

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Der Hohepriester verhörte Jesus in Anwesenheit einiger aus seinem Beirat noch in der Nacht und konfrontierte ihn mit der Anklage: Durch sein Auftreten im Tempel und seine Prophetie gegen Gottes Heiligtum habe er sich endgültig als Pseudoprophet entlarvt. Das Selbstbewusstsein, mit dem er die Nähe der Königsherrschaft Gottes proklamierte, sei „Vermessenheit“, Auflehnung gegen Gott und seine Priester (Dtn 17,12 f.; 18,9–22). „Vermessenheit“ war nach der Tora mit dem Tod zu bestrafen. Der Hohepriester, der nach geltendem Besatzungsrecht kein Recht zur Durchführung der Todesstrafe besaß, überstellte Jesus am frühen Morgen dem Präfekten. Dort klagten die hohen Priester Jesus auf das Vergehen der Königsprätendentenschaft an. Das erhellt ihre nächtliche Anklage nachträglich und stellt sie in den Zusammenhang bekannter Muster: Wer derart „vermessen“ die Theokratie proklamiert wie Jesus, redet nicht nur den Umsturz der bestehenden Ordnung herbei, sondern will selbst Gottes Statthalter sein. Möglicherweise fürchteten die hohen Priester auch die hochgespannten Erwartungen, die Teile der Jerusalemer Bevölkerung mit Jesus verbanden. Pilatus musste wissen: Theokratische Bewegungen gehen gerne mit der Anmaßung der Königswürde durch ihre Führer einher. Vom Volk ausgerufene Könige sind Feinde des Imperiums (crimen laesae maiestatis), allein der Kaiser verleiht Vasallen den Königstitel. Pilatus verhörte am frühen Morgen Jesus in einem öffentlichen Verfahren im Prätorium und gab ihm Gelegenheit zur Verteidigung. Bei der entscheidenden Frage, ob er sich als „König der Juden“ verstehe, schwieg Jesus beharrlich. Pilatus musste das als Eingeständnis (confessio) werten. Als confessus, der als gerichtet galt (pro iudicato habetur), fiel Jesus der gesetzlichen Strafe anheim. Ein eigentlicher Prozess mit Zeugenvernehmung, Beweisaufnahme und Urteilsspruch erübrigte sich. Auch wenn es nach einem Schnellverfahren aussieht, Pilatus handelte im Einklang mit den Rechtsgepflogenheiten des Imperiums. Wenn er ein Urteil fällte und dieses auf einer Tafel dokumentieren ließ, die dem Delinquenten auf dem Weg zum Hinrichtungsplatz vorangetragen wurde, sollte diese Maßnahme Aufstandswilligen, die von der Theokratie träumten, zeigen, wohin ein solches Unterfangen führt. Pilatus erledigte am Morgen offenkundig noch andere Rechtsfälle, wie die Hinrichtung mindestens zwei weiterer Delinquenten belegt. Auch einen Freispruch könnte es gegeben haben (Barabbas). Nach ihrer Aburteilung wurden die Delinquenten gegeißelt und vom Prätorium zur Hinrichtungsstätte namens Golgota vor der Stadtmauer geführt und dort vor den Augen von Neugierigen gekreuzigt. Wie Jesus starb und wann genau, ist unbekannt. Am Nachmittag muss er schon tot gewesen sein. Denn nachdem Pilatus den Leichnam im Respekt vor dem jüdischen Recht (Dtn  21,22 f.; vgl. Tob  1,17 f.; 2,3–8; 4,3 f.) zur Bestattung freigegeben hatte, konnte Josef aus Arimathäa ihn noch vor Sabbatbeginn außerhalb der Stadt beisetzen. Das Pascha-Fest stand vor der Tür, ob dieses nun auf den Sabbat oder erst auf den darauffolgenden Tag fiel. Wer die letzten Tage Jesu überschaut, wird zugeben, dass sein Fall „politischer“ war, als ihn die Evangelien darstellen. Grundsätzlich gilt, dass Religionen in der

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III. Teil: Die letzten Tage Jesu. Versuch ihrer historischen Re-Konstruktion

Antike nicht wie in modernen Gesellschaften eine eigenständige, eingrenzbare Größe bildeten, sondern in ethnisch-politische Identitäten eingebettet waren1122 , so auch im Judäa des ersten vor- und nachchr. Jh.s. Der Hohepriester mit seinem Beirat sah sich von der römischen Besatzungsmacht in die Pflicht genommen, über die öffentliche Ordnung im Tempelstaat zu wachen, und zugleich in der Verantwortung vor der Tora. Religion und Politik waren zwei Seiten ein- und derselben Medaille1123. Die Evangelisten, besonders Lukas und Johannes, verfolgen aus apologetischen Gründen die Tendenz einer wachsenden „Entpolitisierung“ des Jesus-Prozesses. „[M]it zunehmender Entfernung von den Anfängen des Christentums (tritt) das aktiv-politische Moment immer mehr in den Hintergrund“, weshalb „bei der Beurteilung der historischen Ereignisse die Entwicklung im Neuen Testament mit zu berücksichtigen“ ist1124. Die Eliten mussten Jesu Botschaft von der Königsherrschaft Gottes, besonders seine Aktion im Tempel, als Angriff auf den Status quo verstehen. Für Gottes Vision einer radikal-neuen Welt zu streiten brachte Jesus den Tod1125.

1122 

Oakman, Verhältnis. Zum Begriff „Religion“ vgl. Hock, Religionswissenschaft 10–21. Theißen/Merz, Jesus 408; Kirner, Strafgewalt 18 f., der einen „in der Forschung immer noch virulente(n) Gegensatz zwischen Religion und Politik“ konstatiert, macht die religiösen Motive für „Kooperationsbereitschaft“ jüdischer Kreise bzw. „Kooperationsverweigerung“ geltend. Wenn den jüdischen Eliten, insbesondere den Mitgliedern der herodianischen Dynastie und den Hohepriestern „aus der Sicht von bestimmten jüdischen Bevölkerungsgruppen die religiöse Legitimation zur Herrschaft fehlte“, dann deswegen, „weil sie einen hellenisierten Lebensstil pflegten bzw. bloße Marionetten der Römer waren“; vgl. auch McLaren, Power 19–27, mit Verweis auf Zeitlin und Rivkin, die für den Tod Jesu den politischen Beirat des Hohepriesters, nicht aber ein daneben angebliches zweites für religiöse Belange zuständiges Gremium für den Tod Jesu verantwortlich machen (Zeitlin, Political Synedrion 130–135; siehe oben S. 569 Anm. 263). 1124  Schäfer, Geschichte 118. Analog verhält es sich bei den Täufer-Darstellungen: Während Josephus für die Hinrichtung des Johannes durch Herodes Antipas ein politisches Motiv nennt (Ant  18,118: Er habe gefürchtet, dass „sein übergroßer Einfluss auf die Menschen zu einer Art Aufstand führen könnte“), war den Evangelien zufolge die Kritik des Johannes an der ungesetzlichen Ehe des Herodes die Ursache seiner Beseitigung; die politische Seite seines Wirkens wird verschwiegen bzw. nicht thematisiert (Theißen, Dimension 118 f.). 1125  Zur Definition und Anwendung der Kategorie „politisch“ auf Jesu Wirken siehe des Weiteren unter IV.  2.3. 1123 

IV. Teil

Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie „Das historische Denken“ ist kein „Angriff auf den Glauben“, sondern der „Königsweg“ zu seiner „Revitalisierung“. (Hans Joas)1

Eine Theologie der Passion Jesu ohne Bezug auf eine historische Erkundung seiner letzten Tage ist nicht möglich. Der christliche Glaube gründet im Bekenntnis zur Auferweckung des Gekreuzigten und kann nicht vom geschichtlichen Fundament seines Lebens und Sterbens absehen. Schon der älteste Evangelist wusste das, als er das Kerygma von „Jesus dem Messias und Gottessohn“ (Mk  1,1; vgl. 14,61) an die Erzählung seines Wirkens und Leidens zurückband und damit einer Auflösung des Glaubens an den erhöhten Herrn in einen geschichtslosen Mythos einen Riegel vorschob2 . Alle vier Evangelien sind von diesem Grundimpuls bestimmt und laden je auf ihre Weise dazu ein, die Vita Jesu zu bedenken. Diese Frage aufzugreifen, ist unter den Voraussetzungen des in der Neuzeit entstandenen historischen Bewusstseins nicht in das Belieben gestellt. Sie lässt sich nicht „abdrosseln“. Die profane Geschichtswissenschaft konfrontiert uns „stets neu“ mit ihr, „und jeder Neutestamentler hat sie auf seine besondere Weise tatsächlich behandelt“3. Wer das Abenteuer der historischen Forschung scheut, um sich stattdessen auf vermeintlich sicheres theologisches Terrain zurückzuziehen, ist auf dem Holzweg. Er beraubt sich der Einsicht in theologische Sinnräume, die gerade die Ambiguität historischer Forschung eröffnet (1.1). Er verkennt überdies, dass auch die theologische Botschaft des Neuen Testaments alles andere als eindeutig ist. Nicht zufällig bietet der Kanon vom Leiden und Sterben Jesu nicht eine, sondern gleich vier Darstellungen (1.2). Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu lassen sich nur im Gespräch mit der historischen Forschung skizzieren, wobei zwei Erkenntnis­weisen aufeinandertreffen, die unterschiedlicher nicht sein können, sich aber gegenseitig zu respektieren haben: die historische Wahrnehmung, die mit Zufälligkeiten und unvorhersehbaren, freien Entscheidungen der Protagonisten rechnet, und die Wahrnehmung des Glaubens, die in alldem theologische „Notwendigkeiten“ bzw. tieferen Heilssinn erkennt (2.). Zu schließen ist mit einem Ausblick: Memoria passionis heute (3). 1 

Joas, Sakralität 188. Käsemann, Problem 195 f. 3  Ebd. – Vgl. Hinführung unter 1.1.1. 2 

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

1. Historische Ambiguität und theologische Pluralität Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Nicht allein Worte und Taten formen das Bild eines Menschen, sondern auch die Wirkungen, die er auslöst4. Andere bilden sich ein Urteil über ihn, richten Erwartungen auf ihn und werden enttäuscht von ihm. Wer er ist, wie er denkt und was er intendiert, wird unterschiedlich gesehen – je nach Pespektive der Betrachter. Mehrdeutigkeit oder Ambiguität5 im Erscheinungsbild eines Menschen gehört zur historischen Wahrnehmung, zumal dann, wenn es um eine derart markante Gestalt wie Jesus von Nazareth geht. 1.1 Die Ambiguität der Jesus-Geschichte und der theologische Spielraum, der sich darin eröffnet Mehrdeutigkeit, Verwechselbarkeit und Missverständnisse gehören von Anfang an zur Geschichte Jesu. Am Jordan reiht er sich in die Schar der Bußwilligen ein und empfängt als einer unter vielen von Johannes „die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk  1,4). Angesichts menschlicher Schuldverfallenheit baut er darauf, als Getaufter dem Gerichtszorn Gottes (Lk  3,7–9; vgl. Mt  3,7–10) zu entkommen. Nach seiner Vision vom Sturz des Satans aus dem Himmel (Lk  10,18.20) weiß er, dass nicht das Gericht das letzte Wort Gottes ist, sondern Barmherzigkeit und Gnade6 . Er löst sich von Johannes und geht eigene Wege. Sein Wirken als Exorzist und Heiler begreift er als Anbruch der Königsherrschaft Gottes (Lk  11,20). Darüber erfasst ihn Freude: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, aber den Unmündigen offenbart hast; ja, Vater, so hat es dir gefallen“ (Lk  10,21). Er selbst rechnet sich zu den Unmündigen, die es mit den Klugen, den gebildeten Toraauslegern, nicht aufnehmen können, und jubelt über die „Offenbarung“ der anbrechenden Königsherrschaft Gottes. Jetzt ist „Hochzeit“, gefastet wird nicht (Mk  2,19; vgl. Q  7,33). „Er isst mit Sündern und Zöllnern“ (Mk 2,16) und lässt sie teilhaben an der Freude der Versöhnung, aus der er selbst lebt. Damit riskiert er Verwechselbarkeit. „Dieser Mensch da  – ein Fresser und Weinsäufer (φάγος καὶ οἰνοπότης), ein Freund von Zöllnern und Sündern“ (Q  7,34), urteilen Zeitgenossen, was Dtn  21,20 zufolge einem Todesurteil gleich kommt7. Die Verwandtschaft hält ihn für „verrückt“ (ἐξέστη) (Mk  3,21; vgl. 3,31 f.), ein Urteil, das bei Markus auf einer Stufe mit dem Vorwurf Jerusalemer 4  Moltmann, Gott 131: „Wirken […] schließt Wirkungen, Gegenwirken und Gegenwirkungen in sich ein. Wirken geschieht immer im Netz von Interaktionen. Von Jesu ‚Wirken‘ ohne von diesen konkreten Interaktionen zu sprechen, ist eine […] Abstraktion“. 5  Vgl. Hinführung 1.1.2 (bei Anm.  6 4). 6  Theobald, Satan 174–190. 7  Dtn 21,18–21: „Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört […], sollen sie ihn packen und vor die Ältesten der Stadt und die Torversammlung des Ortes führen und zu den Ältesten der Stadt sagen: Unser Sohn hier ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, er ist ein Verschwender und Weinsäufer. Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen, und er soll sterben“. Vgl. Ebner, Jesus 153–156.

1. Historische Ambiguität und theologische Pluralität

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Schriftgelehrten steht, als Exorzist paktiere er mit „Beel-zebul“, dem „Obersten der Dämonen“ (Mk  3,22; vgl. Q  11,15.19). Als er einem Gelähmten die Sündenvergebung zuspricht, erklären anwesende Schriftgelehrte: „Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer Einem, Gott (εἷς ὁ θεός)?“ (Mk  2,7 parr.) 8 . Weil er keine Bedenken trägt, mit Menschen aus Samaria zu verkehren, werfen ihm Judäer vor: „Du bist ein Samariter und hast einen bösen Geist!“ (Joh  8,48). Die Frage, die diese Episoden aufwerfen, ist schon die des Markus: „Wer ist also dieser?“ (Mk  4,41). 1.1.1 „[…] erfunden wie ein Mensch“ (Phil  2 ,7). Die Inkarnation des Logos und die Abgründigkeit der Geschichte Auf die Frage, wer er war, kursierten laut Mk  8,28 unter dem ihm wohlgesonnenen Teil der Bevölkerung unterschiedliche Antworten: „Einige“ hielten ihn „für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für (sonst) einen der Propheten“. Seine Gegner stießen sich an seinem Selbstbewusstsein, mit dem er auftrat und meinte, definitiv Gottes Königsherrschaft proklamieren zu können. Am Ende legten sie es ihm als „Vermessenheit“ aus (Dtn  18,20–22), überzeugt davon, ihn als „Pseudopropheten“ entlarvt zu haben. Was für den Hohepriester und seinen Beirat „Vermessenheit“ war, nennen später Christen mit dem ältesten Evangelisten seine „Vollmacht“ (ἐξουσία), worunter sie göttliche Autorität verstehen9. Beides – „Vermessenheit“ und „Vollmacht“ – liegt dicht beieinander. Die Ambiguität, die Jesu Auftreten durchzieht, ist offensichtlich. Die Passionserzählung bringt diese Ambiguität in ein beeindruckendes Bild, wenn sie Jesus zwischen zwei „Räubern“ zeigt. Ins Zwielicht messianisch-politischer Umtriebe geraten und wegen angeblicher Königsprätendentschaft zum Kreuz verurteilt, war Jesus verwechselbar. Das geht soweit, dass Vertreter der Tempelaristokratie die von seinen Jüngerinnen und Jüngern bald nach seiner Kreuzigung in Jerusalem wiederaufgenommene Verkündigung mit Dtn  21,23 zu widerlegen suchten und behaupteten, als Gekreuzigter sei er „ein Gottverfluchter“. Dies werden die ersten Christen zurückgewiesen haben, aber ihre Antwort konnte auch in der Wahrnehmung der Ambiguität und deren theologischer Deutung bestehen, wie bereits die Applikation von Jes  53,12 auf Jesus zeigt: „er wurde unter die Gottlosen/ die Frevler gerechnet“10 . Paulus, der zunächst auf der anderen Seite stand und noch im Galaterbrief die Verwendung von Dtn  21,23 gegen die Christen zu erkennen gibt, knüpft später daran an und wendet die Schriftstelle in eine Heilsaussage um. „Er wurde für uns zum Fluch, denn es ist geschrieben: Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (Gal  3,13). In 2Kor  5,21 erklärt er in unüberbietbarer Schärfe: Gott „hat den, der die Sünde nicht kannte, für uns (ὑπὲρ ἡμῶν) zur Sünde gemacht“. Be8  Die christologische Fassung Mk  2 ,10 ist gegenüber dem offenen passivum divinum Mk  2 ,5 sekundär; vgl. Hinführung Anm.  54. 9  Vgl. Mk  1,22.27; 2,10; 11,28d.33. – Mk zufolge lässt Jesus die Seinen an seiner ἐξουσία teilhaben: 3,15; 6,7; 13,34. 10  Vgl. Lk  2 2,37; Mk  15,28 (varia lectio). Möglicherweise ist bereits das Bild der PEG von Jesus und den beiden „Räubern“ zu seiner Rechten und Linken von Jes  53,12 inspiriert.

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

vor diese Glaubenssätze auf ihren theologischen Sinn hin befragt werden11, ist mit der historischen Kritik ein Schritt zurückzugehen, um eines Jesus ansichtig zu werden, der immer schon angreifbar war und sich Erwartungen, Missverständnissen, Vorurteilen und Verurteilungen ausgesetzt sah, die ihn am Ende sein Leben kosteten12 . Gott hat ihn in die Zwiespältigkeit der „Sündenmacht“ geraten lassen! Zu oft wird in dogmatischen Kontexten abstrakt von „Menschwerdung“ gesprochen. Wenn Jesus „wie ein Mensch erfunden wurde“ (Phil  2,7) und das ewige Wort „Fleisch“ in ihm „geworden ist“ (Joh  1,14), dann gehört zu diesem Bekenntnis auch, dass der Jude Jesus von Nazaret in die Zweideutigkeiten seiner Zeit eintauchte und in ihnen unterging. 1.1.2 Historische Gerechtigkeit gegenüber den am Verfahren gegen Jesus beteiligten jüdischen Autoritäten Die Einsicht in die Ambiguität des Jesus-Geschehens hat noch eine weitere Konsequenz. Sie erlaubt es, den am Verfahren gegen Jesus beteiligten jüdischen Autoritäten nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dabei ist deren Rehabilitierung mehr als nur eine akademische Forderung. Sie weitet den Blick auf das Feld jüdischer Jesusbilder, deren Berechtigung gerade angesichts historischer Ambiguitäten theologisch gut begründet ist. Für den christlich-jüdischen Dialog, wie ihn das 2. Vatikanum mitangestoßen hat, ist dies von großer Bedeutung. Kehrseite der Medaille ist der christliche Verzicht auf ein triumphalistisches Wahrheitsverständnis, Voraussetzung dafür eine neue Sicht der Passionserzählungen. Eine tragische Geschichte: Die Evangelien – Einfallstor des christlichen Antijudaismus Das Porträt der hohen Priester als „Feinde“ des „Gerechten“, das aus dem Psalter geschöpft ist, hat in der alten Passionserzählung dienende Funktion: Jesus soll auf seinem Weg in den Tod als verfolgter „Gerechter“, ja als leidender davidischer Messiaskönig apologetisch ins rechte Licht gesetzt werden. Die Autoren der Erzählung waren überzeugt davon, mit dem messianisch gelesenen Psalter zeigen zu können, dass Jesu Verfolgung und Leiden sich mit seinem Königtum vertragen, ja wesentlich zu ihm gehören. Es waren Juden, die aus ihrem österlichen Glauben an den Messias Jesus heraus das Porträt seiner Gegner entwarfen. In der zu den Evangelien hinführenden Überlieferungsgeschichte der Passionserzählung verblasste die dienende Funktion des dunklen Porträts des Synedrions13. Es löste sich von seiner christologischen Hinweisfunktion, begann sich zu verselbständigen und ging eine neue Verbindung zum sich gleichfalls wandelnden Bild des 11 

Siehe unter IV.  2.2.2.2. Im Unterschied zu Hofius, Frage 111, der die Mehrdeutigkeit der Überlieferung als Argument gegen die Validität der Frage nach dem historischen Jesus einsetzt (siehe Hinführung unter 1.1.1), sei sie hier umgekehrt als Chance für eine theologische Deutung der Gestalt Jesu genutzt. 13  Vgl. des Näheren oben unter I.  1.2.3. 12 

1. Historische Ambiguität und theologische Pluralität

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Statthalters ein: Während sich dieses schrittweise aufhellte, dunkelte jenes nach. Der Hintergrund dieser Entwicklung ist klar: Um ihrer Kriminalisierung wegen Berufung auf einen gekreuzigten, antirömischen Rebellen zu wehren, verdeutlichten die Christen anhand der Pilatusszene, dass selbst der römische Statthalter nichts Aufrührerisches an Jesus fand und ihn nur deswegen kreuzigte, weil er dem Druck der Volksmenge nachgeben musste. In dem Maße sie Pilatus ent-lasteten, be-lasteten sie umgekehrt den Hohepriester und seinen Beirat. Das geschah in den Evangelien auf unterschiedliche Weise. Lukas14 verschärfte das Problem, weil er als Historiker von Jesu Passion „berichtete“. Ihm ging es nach den Maßstäben zeitgenös­ sischer Geschichtsschreibung um die Plausibilität, die innere Stimmigkeit (vgl. Lk  1,3) des von ihm Erzählten. Die „Historisierung“, die er vornahm, forderte ihren Preis: Das Porträt der „hohen Priester“ als „Feinde“ des Gerechten büßte seine alttestamentlich geprägte Typik ein und läuft Gefahr, von der Leserschaft für historisch bare Münze genommen zu werden. Diese Darstellung ist nicht isoliert zu sehen, sondern in der Fluchtlinie des übrigen Geschichtswerks des Autors. Unter dem Vorzeichen des pfingstlichen Aufbruchs setzt die Apostelgeschichte neue Akzente, die für das Gesamtbild entscheidend sind. Als etwa Petrus sich im Tempel in der Halle Salomos an das „Volk“ wendet, dehnt er zwar die Verantwortung für Jesu Hinrichtung auch auf dieses aus (vgl. Lk    23,13–25)15 , bettet die generalisierte Schuldzuweisung aber in den Heilsplan Gottes ein: Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt. […] Nun, Brüder, ich weiß, ihr habt aus Unwissenheit (κατὰ ἄγνοιαν) gehandelt ebenso wie eure Führer. Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im Voraus verkündigt hat: dass sein Gesalbter leiden werde […]“ (Apg  3,15.17f)16 .

Einerseits konzidiert der Petrus der Apostelgeschichte sowohl den Führern als auch dem Volk „Unwissenheit“, andererseits sieht er Gott im Passionsgeschehen am Werk. Erst jetzt, seit dem pfingstlichen Neuaufbruch, löst sich die „Unwissenheit“ des Volkes dank der Verkündigung auf. Jesu Umkehr-Ruf kann erneut an Israel ergehen. Wer nur die Passionserzählung des Lukas wahrnimmt, nicht auch ihre 14 

Zu den anderen Evangelien siehe unten IV.  1.2. siehe oben II.  9.4 unter (1); Lk  23,48, die Aussage zur Umkehrwilligkeit des „Volkes“ angesichts des Todes Jesu, leitet die Wende im Porträt dieser Erzählfigur ein. 16  Vgl. Lk  6 ,11: „Sie [sc. die Schriftgelehrten und Pharisaäer] aber in ihrem Unverstand (ἄ-νοια) berieten sich untereinander, was sie gegen Jesus unternehmen könnten“ (EÜ 2016). Die alte Fassung der EÜ lautete noch: „Da wurden sie von sinnloser Wut erfüllt und berieten, was sie gegen Jesus unternehmen könnten“. Zur ἄ-νοια heißt es in Plat, Tim  86b: „Zwei Gattungen des Unverstands (ἄ-νοια) gibt es, Wahnsinn (μανία) und Unwissenheit (ἀ-μαθία)“ (Übersetzung Schleiermacher). Nur diese zweite Bedeutung, „Unwissenheit“, kommt in Lk  6 ,11 in Frage. Der Evangelist sieht Jesu Gegner von „Unwissenheit“ erfüllt, weshalb er ihn am Kreuz auch beten lässt: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk  23,34). Vgl. Apg  13,27: „die Einwohner von Jerusalem und ihre Führer haben diesen nicht erkannt […]“. 15  Dazu

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

„Fortsetzung“ in der Apostelgeschichte, läuft Gefahr, die lkn. Darstellung zu verkürzen. Die Einbeziehung des „Volkes“ in die Verantwortung für den Tod Jesu ist so oder so problematisch. Nach heutiger Einschätzung dürften die Autoren aller vier Evangelien Juden bzw. dem Judentum innerlich verbundene Personen gewesen sein. Lukas war vielleicht ein sog. „Gottesfürchtiger“, ein Sympathisant des Judentums, wie die von ihm porträtierten Hauptleute von Kafarnaum und Cäsarea, letzterer mit Namen Kornelius. Von daher kann die polemische Karikatur der jüdischen Autoritäten wie die pauschale Zeichnung des am Prozess Jesu beteiligten „Volkes“ durch die Evangelisten als „innerjüdische“ Kontroverse gelesen werden. Nehmen indes Christen aus der „Völkerwelt“ die kanonischen Passionserzählungen wahr, dann provozieren diese unweigerlich antijudaistische Vorurteile. Diese Diagnose hat Konsequenzen und wirft schwerwiegende Fragen auf: Unter welchen Bedingungen lassen sich die Passionserzählungen rezipieren, ohne dass ihre Hörer und Leser in die Falle des Antijudaismus tappen? Insbesondere für die Gestalt des liturgischen Gedenkens ist diese Frage von großer Bedeutung17. Comprendre c’est pardonner (Madame de Staël) Die Befürchtungen, die Kajaphas umtrieb, als er von Jesu Auftritt im Tempel hörte, sind ernst zu nehmen (vgl. Joh  11,48). Die Bedeutung des Tempels als eines heiligen und unantastbaren Ortes der Gegenwart Gottes ist für Israel höchstes Gut. Die Grunddaten, welche die historische Analyse ermitteln konnte, sprechen für sich: Wenn der Hohepriester sich mit seinem Beirat auf die Tora, das Buch Deuteronomium, berief, um Jesus aus Anlass seines Auftritts im Tempel als Pseudopropheten hinzustellen, hatte er nicht nur pragmatische oder ordnungspolitische Gründe für sein Vorgehen, sondern auch theologische. Den Anspruch, den Jesus erhob, verurteilte er als „Vermessenheit“ (Dtn  18,20–22). Lag er damit völlig daneben? Waren Jesu vollmächtige Rede: „Amen, ich sage euch …!“ und seine Beanspruchung Gottes, dieser würde jetzt schon mit seiner Hilfe in Israel seine Königsherrschaft errichten, nicht gewagt, ja vermessen? Die bis heute vertretene Meinung, der Hohepriester hätte seine religiöse Anklage böswillig in eine politische umgewandelt, um Pilaus zum Handeln zu zwingen, lässt sich nicht halten. Jesus war ein „Politikum“ – und seine Proklamation der Königsherrschaft Gottes musste dem Jerusalemer „Establishment“ als Gefährdung der bestehenden Ordnung erscheinen. Oblag dem Hohepriester die Verantwortung für das Gemeinwesen, dann ist ihm zuzugestehen, dass er in gutem Glauben gehandelt hat. Das Jerusalemer „Volk“ sollte bei alldem außen vorbleiben. Die Verhandlung am frühen Morgen vor Pilatus war öffentlich. Auch Neugierige und andere dürften anwesend gewesen sein, um zu verfolgen, wie der Statthalter in den verschiedenen Rechtsfällen entschied. Aber nicht beglaubigt ist die Auskunft des Markus und der anderen Evangelisten, „die Menge“ hätte auf Zuruf der „hohen Priester“ lauthals die Kreuzigung Jesu gefor17 

Siehe unten IV.  3.2.

1. Historische Ambiguität und theologische Pluralität

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dert. Die für das spätere Judentum so unheilvolle Erzählfigur dieses „Haufens“ ist eine frühchristliche Erfindung. Betroffen ist auch die Aussage der Konzilserklärung Nostra Aetate Nr.  4, „die Autoritäten der Juden“ hätten „mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen“18 , wenn unter den Anhängern die Volksmenge verstanden wird19. Was die Darstellung der Evangelien selbst betrifft, so ist „Sachkritik“ an ihnen zu üben bzw. die theologische Intention der Texte zu erheben, verbunden mit der Warnung vor ihrer Historisierung. Die Einsicht in die Ambiguität der Ereignisse, wie sie sich aus der historisch-kritischen Re-Konstruktion der letzten Tage Jesu ergibt, vermag schließlich den Respekt vor anderen Deutungen seiner Person neu zu begründen – den Respekt gerade vor jüdischen Deutungen, die in Jesus den Bruder oder einen großen Propheten der Geschichte Israels erkennen. Wenn Martin Buber 1945 erklärte: „Ich glaube fest daran, dass die jüdische Gemeinschaft im Zuge ihrer Wiedergeburt Jesus rezipieren wird. […] Aber ich glaube ebenso fest daran, dass wir Jesus nie als gekommenen Messias anerkennen werden“20 , dann ist eine solche Aussage aufgrund der Offenheit des Auftretens Jesu nicht nur zu begrüßen, sondern als legitime Stellungnahme zum Juden Jesus aus jüdischer Perspektive anzuerkennen. Es ist ein unschätzbar hohes Gut, dass seit geraumer Zeit Christen und Juden um ein Verständnis Jesu ringen 21. Eine historisch-kritische Re-Konstruktion des Auftretens Jesu führt nicht zwingend zur christologischen Deutung seiner Person. „Ambiguitätstoleranz“ ist gefragt. Das Wagnis des Glaubens An den Gekreuzigten als Messias Israels und „Herrn“ der Völker zu glauben, bleibt ein Wagnis. Wer es eingeht, weiß, dass Jesu Leben und Sterben auch andere Deutungen zulassen. Er lernt es von der historischen Kritik, die ihn die Ambivalenz der Jesus-Geschichte zu sehen lehrt. So wird er Respekt aufbringen vor denen, die in Jesus lediglich einen bedeutenden Propheten Israels mit weitherzigem Ethos erkennen, und wird zugleich den Wagnischarakter der eigenen Entscheidung eingestehen. Alle vier Evangelien erzählen erstaunlich einmütig von Zweifeln, Angst und Mutlosigkeit der ersten Jüngerinnen und Jünger 22 . Sie ermutigen ihre Leserinnen und Leser, das „Halbdunkel der Offenbarungsgewissheit“ (Peter Wust) nicht zu verdrängen, sich dessen vielmehr bewusst zu bleiben. Nimmt die Exegese neben allen Unterschieden zwischen dem nachösterlichen Glauben und dem Selbstverständnis Jesu auch Entsprechungen wahr, dann mag der Glaubende daraus erken18 

Siehe oben die Hinführung unter 1.2.1. der Anm. zum Text wird allerdings auf Joh  19,6 verwiesen, was offenlässt, ob mit den Anhängern „die Diener“ der hohen Priester gemeint sind oder die Volksmenge. 20  Buber, Werkausgabe, Bd.  9, Gütersloh 2011, 190; vgl. auch Ben-Chorin, Bruder. 21  Mit Reza Aslan, der 2013 ein in den USA viel beachtetes Jesus-Buch verfasst hat (Zealot), auch ein Muslim. 22  Vgl. Mt 28,17; Lk 24,37 f.; Joh 20,25; dann Mk 16,8; Joh 20,19, sowie Lk 24,13 ff.; Joh 21,4 f. – Theobald, Osterglaube 5–11 („Sie aber zweifelten“ [Mt 28,17]. Angefochtener Osterglaube nach dem Zeugnis der Evangelien“); Striet, Schweigen 130–134. 19  In

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nen, dass er kein blindes Wagnis eingeht. Dadurch gewinnt er keine „Sicherheit“ (securitas), die ihm die historische Forschung auch nicht bieten kann, wohl aber „Gewissheit“ (certitudo) im Glauben. 1.2 Die Evangelien: Vier Bilder vom Leiden und Sterben Jesu Bereits die älteste Passionserzählung (PEG) wandelt unter dem österlichen Vorzeichen die Ambiguität der Geschichte der letzten Tage Jesu in die Eindeutigkeit des Bekenntnisses um: Jesus ist der Botschaft des titulus crucis entsprechend der wahre „König der Juden“, der „Gesalbte“ und Gottes „Sohn“ – nicht der „Königsprätendent“, als den Pilatus ihn kreuzigen ließ, sondern der von der Schrift seit alters verheißene Messias. So eindeutig dieses Bekenntnis der PEG ist, es fächert sich im Laufe der ersten Jahrzehnte nicht zufällig in unterschiedliche Darstellungen auf. So bietet der Kanon nicht eine Passions- und Ostererzählung, sondern gleich deren vier. Die damit verbundene Pluralität der theologischen Sichtweisen ist der Wirkmächtigkeit des Geschehenen selbst geschuldet, aber auch den sich wandelnden geschichtlichen Standorten derer, welche die Erzählung von den letzten Tagen Jesu jeweils aus ihrer Perspektive neu geschrieben haben. Diese Pluralität im Folgenden vor Augen zu führen, bietet die Gelegenheit, in gedrängter Form zusammenzuführen, was Teil  III der Studie zu den Endtexten der vier Evangelien bereits ausgeführt hat, dort allerdings verteilt auf die Analyse der einzelnen Perikopen. 1.2.1 Markus Der Stil der Markuspassion (Kap.  11–16) ist denkbar einfach und beinahe archaisch. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie narrative Theologie auf hohem Niveau betreibt. Dem Charakter des Evangeliums als „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ (Martin Kähler) entspricht es, wenn sein Jerusalemteil von Anfang an vor Augen steht23. Die auf die Schrift anspielenden Worte, die Jesus nach seiner Taufe „vom Himmel her“ vernimmt: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden“ (1,11), weisen dem Leser den Weg. Sie offenbaren Jesus als „Gottesknecht“, auf den Gott seinen Geist legt (Jes  42,1), bzw. als seinen „geliebten Sohn“ (vgl. Gen  22,2.12.16), den er nach Golgota führen wird, wie einst Abraham seinen Sohn Isaak zum Berg im Land Morija. Vor dem Jerusalemer Synedrion wird Jesus sich zum ersten und einzigen Mal zur Würde des „Sohnes Gottes“ bekennen, bevor mit dem Centurio dann ausgerechnet ein römischer Beamter unter dem Eindruck seines Sterbens ihn öffentlich proklamieren wird: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (15,39). Verfasst sehr bald nach dem jüdischen Krieg, vielleicht in Syrien24, lässt das Evangelium, insbesondere seine Passionserzählung, die Katastrophe der Tempelzerstörung 23 

Siehe I.  1.1 zum „Eingangsteil“ der Passionserzählung unter (1). Broer, Einleitung 93 f.; Theißen, Entstehung 79, plädieren für Syrien als Entstehungsort des Mk vor allem mit dem Argument, dass die zahlreichen von Mk rezipierten mündlichen Jesusüberlieferungen eher in der Nähe Palästinas als im fernen Rom kursierten; zugunsten Roms: Ebner, 24 

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samt Vorgeschichte mehrfach anklingen 25. Eines ihrer Leitmotive ist der Tempel, seine von Jesus angekündigte, baldige Zerstörung, aber auch seine wunderbare Ersetzung durch die nach Ostern neu von ihm gesammelte Gemeinschaft, fortan Ort von Gottes Anwesenheit in dieser Welt (14,58). Wenn der markinische Jesus auf dem Ölberg den Blick seiner Vertrauten (und damit den der Leserschaft des Buches) über das Schicksal des zerstörten Tempels hinaus auf das noch ausstehende definitive Ende der Geschichte lenkt (Kap.  13), ist die Überzeugung leitend: Nicht Kriege und selbst nicht die Brandschatzung des Tempels kündigen das unmittelbare Ende der Geschichte an, allein „der Menschensohn“ führt den Vollanbruch des Gottesreiches herauf, wenn er unübersehbar für alle unter kosmischen Zeichen kommt, um die Erwählten „aus allen vier Windrichtungen“ zusammenzuführen (13,27). Markus hebt Jesus scharf von allen Pseudo-Messiassen, „Königsprätendenten“, und Pseudo-Propheten ab, wie sie im Vorfeld des Jüdischen Krieges auftraten (13,21–23), warnt vor christlichen Falsch­ propheten (13,5 f.) und lässt Jesus am Ende der eschatologische Rede erklären: „Was ich aber euch [meinen Vertrauten] sage, das sage ich allen: Seid wachsam (γρηγορεῖτε)!“ (13,37). In der Szene vor dem Synedrion lässt Markus Jesus gezielt an seine Rede Kap.  13 anknüpfen: „Ich bin es [sc. der Gesalbte, der Sohn des Hochgelobten] und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen“ (14,62; vgl. 13,26). Was Jesus seinen Richtern, die über sein Leben befinden, prophetisch ansagt, ist die dunkle Kehrseite der Heilsansage des Kommens des „Menschensohns“, der die Erwählten laut Kap.  13 ins Heil führen wird. Wie Jesu eschatologische Rede, so verfolgt auch die Passionserzählung das Ziel, den Blick der Leser nach vorne auszurichten, auf den Vollanbruch des Gottesreichs: „Wachet (γρηγορεῖτε)“ bzw. seid wachsam „und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet!“ (14,38). Insgesamt ist das Anliegen der Markuspassion nicht rückwärts gewandte Trauer, sondern Stiftung neuer Hoffnung in aller Anfechtung, einer Hoffnung, die aus der erinnernden Vergegenwärtigung des Leidens und Sterbens Jesu erwächst. Ein Blick auf die zentralen Themen und Motive der Passion vermag dies zu erhärten: (1) Markus (nicht erst Johannes) zeigt Jesus als Wissenden26: In Galiläa erkennt Jesus die Notwendigkeit seines Weges nach Jerusalem in den Tod, weiß auch um dessen Ziel, seine Auferstehung „nach drei Tagen“ (8,31; 9,31; 10,33 f.). In Betanien Markusevangelium 174 f.; Lau, Triumphator 115–131, unter Verweis insbesondere auf Mk  12,42 (Erklärung der Kleinstmünze Lepton [119: „ein relativer Begriff der griechischen Sprache, der das jeweils kleinste Nominal eines Münzsystems bezeichnet“] durch den römischen Quadrans); anders Theißen: „Da der Quadrans auch in Syrien als kleinste Münze bekannt war (Mt  5,26), könnte er sehr wohl die herodäische Währung für eine syrische Leserschaft erläutern“ (ebd.). BDR  §  5,4: „Spärlich und meistens im Zusammenhang mit römischen Behörden u[nd] d[er]gl[eichen] sind die phraseologischen Latinismen“; wenn sie insbesondere in den Passionserzählungen begegnen (Mk  14,65; 15,15.19), verwundert das nicht und ist kein Indiz für Rom als Abfassungsort. 25  Seinen Häschern erklärt Jesus, sie seien bewaffnet „wie gegen einen Banditen“ ausgezogen, um ihn zu verhaften (14,48). Im Kontext des Pilatus-Prozesses ist von einem „Aufstand“ gegen die Römer die Rede (15,7). Am Ende wird Jesus zwischen zwei „Banditen“ gekreuzigt (15,27). – J. Marcus, War 441–462, Bedenbender, Botschaft, und Lücking, Zerstörung 140–165 (141: Mk, ein „Dokument der Krise des Jahres 70  n.Chr.“), u. a. lesen Mk auf dem Hintergrund des jüdischen Krieges. 26  Entsprechend mkn. Theozentrik ist Jesu Wissen allerdings durch Gottes Allwissenheit be-

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deutet er seine Salbung durch eine Frau vorweg als Salbung zu seinem Begräbnis (14,8). Beim Abschiedsmahl und auf dem Weg nach Getsemani sagt er den Seinen Verrat, Verleugnung und Versagen voraus, lenkt ihren Blick auf ihre erneute Sammlung nach Ostern (14,28) und ist sich des ewigen Mahls in der vollendeten Gottesherrschaft gewiss (14,25). Im Haus des Hohepriesters konfrontiert er seine Richter mit dem nahen Gericht Gottes. Aber sein Wissen um die Zukunft, die nahe und die ferne, mindert sein Leiden nicht: „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (14,34). Und: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ (15,34). Markus zeichnet Jesus auch als Beter. Als in Getsemani in der Stunde „der propassio (Hieronymus) oder des praeludium mortis (Bengel)“27 Jesus von Todesangst ergriffen wird, fleht er seinen Vater – „wenn es möglich ist“ – um Verschonung an (14,35). Er bäumt sich in seinem Mensch-Sein gegen das ihm vom „Geist“ gegebene Wissen (vgl. 1,10; 2,8; 8,12) auf und ringt um Einverständnis mit dem Willen seines Vaters. Was er in Galiläa andere lehrte: „Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (3,35), hat er in Getsemani selbst zu erlernen. Auf Golgata betet er mit dem Psalmisten, weil „alles Zittern und Zagen der alttestamentlichen Frommen sich in dem seinen erfüllt“28 . Jesus muss „erleiden, dass Gott sich ihm entzieht und verbirgt und um ihn sich die dunkle Leere des Niemand und Nichts auftut“. Er wendet sich „ohne Gott an Gott! Er legt alle Angst, und nun auch diese schreckliche Angst des Sterbens ohne Gott, Gott zu Füßen“29. Jesu Wissen um Gottes Heilswillen verschärft sein Leiden und hebt es nicht auf. Im Gegenteil: Jesus hat den ihm gereichten „Becher“ (14,36) bis zur Neige zu leeren. Vom Kreuz „herabzusteigen“, damit die Menschen „sehen und glauben“ (15,30.32), wie ihm die Gegner zumuten, erhellt ex contrario seinen Weg: „Im Verbleiben am Kreuz und in der Übernahme der Gottverlassenheit liegt die neue Offenbarung Gottes“30 . Jesus erweist sich als „Sohn“ seines Vaters nicht, wie Zeitgenossen sich „Göttersöhne“ dachten, in Macht und Herrlichkeit, sondern im Gehorsam gegen den Vater. Gleiches gilt für alle, die ihm „nachfolgen“: Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten (8,34 f.)31.

(2) Die Jünger vernehmen zwar in Galiläa Jesu Wort vom Kreuztragen, als es aber in Jerusalem darauf ankommt, versagen sie „alle“ (14,27.29.31). Ihr Unverständnis grenzt: „Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater“ (13,32). 27  Schlier, Markuspassion 42. 28 Ebd. 29  Ebd. 81. 30 G. Schneider, Passion 158. 31  Jesu Rede auf dem Ölberg 13,9–13 öffnet ein Fenster in die Welt der zeitgenössischen Hörerschaft und lässt ihre Nöte erahnen, in die hinein dann die Markuspassion spricht.

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(8,32 f.; 9,32 u. ö.) steigert sich zur Absage an Jesus: Verrat, Flucht und Verleugnung. Markus profiliert die Erzählfigur der Jünger im Kontext seiner Theologie des Todes Jesu: Auch wenn „alle“ versagen, es gibt einen Neuanfang. Weil Jesus sein Blut „für viele“, das heißt: für alle, vergossen hat (14,24), ist sein Tod Grund der Hoffnung für alle. Nicht menschliches Versagen hat das letzte Wort, sondern Gottes Gnade: Wenn Jesus nach seiner Auferweckung die zerstreuten Schafe sammelt, ermöglicht er ihnen erneut seine Nachfolge, die Leben verheißt (14,27 f.; 16,7). (3) Markus ist als Erzähler der Passion in seinen Figuren zwar allgegenwärtig, meldet sich aber auch selbst zu Wort, wenn er die Ereignisse beschreibt und damit indirekt dem Leser deren Sinn erschließt. Nicht erst der vierte Evangelist bedient sich erzählter „Zeichen“, um die tiefere Bedeutung des Geschehens anzudeuten, auch Markus setzt dieses Mittel ein. Schon seine Vorlage tut es, wenn sie im Epilog etwa von der Sonne, die am frühen Morgen aufgeht, erzählt oder vom Stein, der den Eingang ins Totenreich verschlossen hat, jetzt aber weggewälzt ist. Markus greift diese literarische Technik auf, wenn er die Szene am Kreuz unter Rückgriff auf Am  8,9 f. redaktionell zum eindrucksvollen Höhepunkt seiner Passionserzählung gestaltet: Für drei Stunden, von der sechsten bis zur neunten, ist die Szene in „Finsternis“ getaucht, bevor auf den Ruf Jesu hin: „Mein Gott, mein Gott, wozu (oder woraufhin) hast du mich verlassen?“ das Sonnenlicht zurückkehrt. Jesus stößt einen „großen Schrei“ aus und „haucht aus“. Die Szene spricht für sich: Auf der Höhe des Tages versinkt Jesus in totaler Finsternis, „die ganze Erde“ mit ihm. Es ist Stunde des Gerichts (Am  8,9), dem Jesus nicht entzogen ist. Wenn er „mit großer Stimme“ seinen Gott anschreit, wohin das führen soll, trägt er die angstvolle Pein aller Menschen vor Gott. Er erhält keine Antwort. Aber die Finsternis weicht dem Sonnenlicht, Zeichen eines neuen Morgens (Mk  16,2). Der „große Schrei“, mit dem er stirbt, lässt erschaudern. Dass Markus ihn als Verzweiflungs-, nicht als Siegesschrei aufgefasst wissen will, liegt angesichts der nachfolgenden himmlischen „Zeichen“, die gleichfalls auf seine redaktionelle Gestaltung zurückgehen, nicht nahe: Der Vorhang vor dem Allerheiligsten zerreißt von oben bis unten (15,38). Das Heiligtum auf dem Tempelberg ist mit Jesu Tod, in dem das Heil der Welt beschlossen ist, am Ende. Ein römischer Centurio, einer der „vielen“, für die Jesus sein Blut vergoss, ahnt seine Würde: „Wahrlich, dieser Mensch war (ein) Gottessohn“ (15,39). Die Markuspassion gelangt damit zu ihrem Höhepunkt. (4) Wahrscheinlich besitzt die Szene mit dem römischen Centurio einen politischen Subtext, was für das Markusevangelium auch insgesamt, wenn es als „Anti-­ Evangelium“ zur Propaganda des flavischen Kaiserhauses gelesen wird, vermutet wird32 . Jesu Weg vom Prätorium nach Golgota, wo sein Tod am Kreuz angesichts himmlischer Zeichen als Sieg des wahren Gottessohns erscheint, wird in „antiim32  Theißen, Entstehung 87 f. u. ö., unter Verweis v. a. auf Jos, Bell  4,618.656 f., wonach „die frohen Nachrichten (εὐαγγέλια)“ vom Aufstieg des Vespasian zum Kaiser 69, mit dem sich das durch Kriege erschütterte Reich wieder stabilisieren konnte, in Ost und West verbreiteten, „also genau in jener Zeit, in der das MkEv (um 70 n.Chr.) entstand“ (88); dessen Botschaft lautete dann:

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periale(r), herrschafts- und romkritische(r) Lektüre“ als Parodie römischer Triumphzüge dechiffriert33. Einzelne messianisch-königliche Züge der Passionserzählung wie der Einzug Jesu in die Stadt, die Königstravestie der Verspottungsepisode oder die Inszenierung der drei Kreuze mit Jesus „in der Mitte“ besitzen parodistische Züge34. Ob aber der „Kreuzweg“ aus der Stadt heraus nach Golgota von Zeitgenossen insgesamt auf der Folie römischer Triumphzüge wahrgenommen wurde bzw. Markus selbst den Text darauf angelegt hat, bleibt eine nicht verifizierbare Vermutung35. Anders steht es mit dem „Nachruf“ des Centurio (Klaus Berger), der auf mkn. Redaktion zurückgeht. Mit dieser Brückenfigur deutet der Evangelist Konkurrenz zum römischen Herrscherkult an, für pagan inkulturierte Leser aber auch einen Anknüpfungspunkt für ihren Glauben an Jesus als„Messias und Sohn Gottes“ (1,1; 14,61)36 . 1.2.2 Matthäus Der Stil des ersten Evangeliums einschließlich seiner Passionsgeschichte ist „differenzierter, geschliffener und gehobener als das volkstümlich-semitisierende Griechisch von Markus“, seine Sprache „durchweg bibelgriechisch geprägt“. „Abgesehen von den Verbesserungen des Griechischen verraten alle anderen Stileigentümlichkeiten, dass Matthäus in eine Gemeinschaft hineingehörte, ja sich bewusst in sie einordnen wollte“37, wohl in eine messiasgläubige Gemeinde einer syrischen Stadt. Er verstand sich als „Schriftgelehrter“ des Gottesreiches (vgl. 13,52; 23,34) und war tief in der Schrift und der jüdischen Tradition verwurzelt38 . Er gestaltete sein Evangelium auf der Basis des Markus und der sog. Logienquelle in den 80er Jahren. Seine Schrift besitzt ihr Ziel im Missionsauftrag des auferweckten Gekreuzigten, das Evangelium über Israel hinaus in die Völkerwelt zu tragen (28,16–20)39. Wie Markus vor ihm, so bereitet auch Matthäus den Jerusalem-Teil seines Evangeliums (Kap.  21–28) bzw. die Passionserzählung im engeren Sinne (Kap.  26–28) von Anfang an vor40 . Als im Eingang des Buches die Magier vom Osten in Jerusalem die Kunde von der Geburt des „Königs der Juden“ verbreiten, erschrickt König „Jesus, nicht Vespasian, hat die Welt gerettet“ (ebd. 185 f.); Ebner, Markusevangelium 177–183; Lau, Triumphator 29–31 (Lit.-Bericht). 33  Ebner, Markusevangelium 180 f.; Lau, Triumphator 601.603; dazu kritisch oben S.  424 Anm.  5. 34  Allerdings sind diese schon in die älteste PE eingeschrieben und dienen im jüdischen Kontext unter dem Vorzeichen der Schrift dem Nachweis, dass der Gekreuzigte gegen alle Erwartung der Messias Israels ist. 35  Lau, Triumphator 314, sieht zwar die diachrone Problematik einer vormkn. PE, klammert sie aber als möglichen Kontrollweg aus; das Problem schwer verifizierbarer Anspielungen benennt und reflektiert er selbst (609: „Warum so dezent und chiffriert?“). 36  Siehe oben II.  10.2 unter (5). 37  Luz, Mt I 52 f. (mit Belegen). 38  Mt hat die Anzahl der Schriftzitate über Markus hinaus deutlich erhöht, siehe erste Tabelle oben in I.  1.2.1.1. 39  Zu den Einleitungsfragen siehe Konradt, Mt 1–24. 40  Siehe I.  1.1 zum „Eingangsteil“ unter (2). Zur Theologie der Passionserzählung im engeren

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Herodes und „ganz Jerusalem mit ihm“ (2,3). Als Jesus am Ende in Jerusalem einzieht, „erbebt die ganze Stadt“ (21,10). Die Situation „wiederholt sich“41. Aber während der Neugeborene dem Mordanschlag des Herodes in Betlehem entgeht, endet der Jerusalem-Besuch des Erwachenen mit seinem Tod. Schon der Anfang des Buches weist auf das Ende hin. Den Jerusalem-Teil hat Matthäus über Markus hinaus zu einer umfassenden „Abrechnung“ Jesu „mit seinen Gegnern“42 im Tempel ausgestaltet, „den hohen Priestern und Ältesten des Volkes“ (21,23; vgl. 21,15) wie den Pharisäern (22,15– 22.34–45) und Sadduzäern (22,23–33). Seine Wehe-Rede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer richtet Jesus an das Volk und seine Jünger (23,1–39). Vorweg erzählt Matthäus, wie Jesus in die Stadt einzieht und im Tempel prophetisch handelt, am Ende, wie er ihn endgültig verlässt (21,1–24,2). Den Schlusspunkt setzt Jesu große Gerichtsrede (24,3–25,46) auf dem Ölberg: Sie richtet den Blick der Jünger auf ­Parusie und Gericht des „Menschensohns“ und entwirft unter diesem Vorzeichen in reicher Bild- und Gleichnisrede eine Ethik der „Wachsamkeit“ (24,42.44; 25,13), der Verantwortung füreinander (24,45–51) und der tätigen Nächstenliebe in Gestalt der „Werke der Barmherzigkeit“ (25,31–46). Auch die sich anschließende Passionsund Osterzählung (Kap.  26–28) ist in diesem Horizont zu sehen: In der Getsemani-Szene greift sie die Mahnung zur „Wachsamkeit“ auf (26,38.40 f.), in der Synedrion-Szene die Erwartung der Parusie des „Menschensohns“ zum Gericht (26,64). Schließlich gipfelt die Erzählung in der Zusage des Auferweckten auf dem Berg von Galiläa, „mit“ den Jüngern zu sein „alle Tage bis zur Vollendung der Weltzeit“ (28,20), womit sie an den endzeitlichen Horizont der Gerichtsrede anknüpft. Einige Leitlinien dieser Neufassung der Passions- und Ostererzählung durch Matthäus seien im Folgenden kurz genannt: (1) Wie bei Markus ist Jesus auch bei Matthäus der Wissende, was im Anschluss an seine Gerichtsrede, in der er den Seinen das Ende der Geschichte offenbart, nicht erstaunt. Matthäus macht daraus ein Leitmotiv, wie 26,1 f., der kleine „Prolog“ seiner Erzählung, zeigt: Und es geschah: Als Jesus alle diese Worte vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern: Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Paschafest ist, und der Menschensohn wird ausgeliefert, um gekreuzigt zu werden“43. Sinn vgl. auch Dahl, Passionsgeschichte 213–218; Gerhardsson, Jesus 262–291; W. Kraus Passion 409–427. 41  Konradt, Mt 324; er verweist auch darauf, dass „in 21,15 f. erstmals seit 2,4–6 auf der Ebene der Erzählung die Hohepriester und Schriftgelehrten wieder gemeinsam auf den Plan“ treten – „in 16,21; 20,18 begegnen die Gruppen in Ankündigungen Jesu, in 16,21 noch um die Ältesten erweitert“. 42  Luz, Mt III 172. 43 Zur darauf folgenden Episode des Todesbeschlusses des Synedrions beobachtet Gielen,

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„[D]as Bestreben des Evangelisten […], Jesus auch in der Passion als den eigentlichen Handlungssouverän darzustellen“44, ist offenkundig. Bei der Vorbereitung des Paschamahles lässt Jesus seine Jünger gebieterisch ausrichten: „Der Lehrer sagt: Meine Zeit ist nahe45; bei dir will ich mit meinen Jüngern das Pascha feiern“ (26,18). In Getsemani weiß er: „Siehe, nahe herbeigekommen ist die Stunde, und der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, nahe herbeigekommen ist der, der mich ausliefert“ (26,45 f. par. Mk  14,41 f.).

Bei Markus würdigt allein der Centurio unter dem Kreuz Jesus als „Sohn Gottes“ (Mk  15,39; vgl. Mt  27,54), bei Matthäus bekennen schon die Jünger in Galiläa: „Wahrlich, du bist Gottes Sohn!“ (Mt  14,33)46 . Mit diesen Worten reagieren sie auf die Erfahrung des in göttlicher Vollmacht dem tobenden Meer Einhalt gebietenden Jesus, der auch noch Petrus aus den Fluten rettet. Wenn Petrus später, gefragt von Jesus, für wen ihn die Jünger halten, bekennt: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (16,16), und Jesus darauf ihm und den anderen Jüngern sein kommendes Leidensgeschick ansagt, protestiert Petrus und „fährt“ Jesus „an“: „(Gott) sei dir gnädig, Herr!“ (16,22). Göttliche Vollmacht und Leiden gehen für ihn nicht zusammen. Matthäus verstärkt in seiner Passionserzählung über Markus hinaus redaktionell das Motiv der Gottessohnschaft und bringt Göttlichkeit und Leiden gezielt zusammen47. Auch für ihn ist Getsemani die Schlüsselszene. Jesus willigt im Sinne des von ihm gelehrten Vaterunser gehorsam in den Heilsplan seines Vaters ein: „Dein Wille geschehe!“ (26,42). Die anschließende Szene der Verhaftung offenbart Jesu Weg in das Leiden als Verzicht auf Privilegien seiner Sohnschaft. Als „einer von denen, die mit Jesus waren“, dem Knecht des Hohepriesters mit dem Schwert ein Ohr abschlägt, erklärt Jesus: […] Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten kann, und er wird mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel zur Verfügung stellen? Wie sollten dann (aber) die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss? (26,53 f.).

Es ist die einzige Stelle im Evangelium, an der Jesus die von Matthäus so oft benutzte Schrifterfüllungsformel selbst benutzt: Auf die ihm möglich gewesene Bitte an den Vater um effektvolle Rettung zu verzichten, entspricht zutiefst den Schriften Israels. Passionserzählung 37: „Durch den temporalen Anschluss mit da/dann (griechisch: tote) in V.3 entsteht geradezu der Eindruck, dass erst Jesu Worte die Oberpreister und Ältesten des Volkes initiativ werden lassen und damit die Passionsereignisse ins Rollen bringen“. 44  Konradt, Mt 396. 45  ὁ καιρός μου ἐγγύς ἐστιν: redaktionell in Mk  14,14 eingefügt. 46  „Im Vergleich zu Markus bedeutet dies eine völlige Neuorientierung: Dem Kreuz wird seine Offenbarungsqualität hinsichtlich Jesu Gottessohnschaft entzogen“ (W. Kraus, Passion 410). 47  Vgl. 21,37–39 (Gleichnis von den bösen Winzern); 22,2; 24,36; 26,53.63 f.; 27,40.43.54; 28,16– 20; Konradt, Mt 8 f.; W. Kraus, Passion 418–425 („Jesu Sterben als Infragestellung und göttliche Bestätigung der Gottessohnschaft Jesu“).

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Zuletzt vermögen es die Passanten und „die hohen Priester, die Schriftgelehrten und die Ältesten“ in der Kreuzigungsszene nicht, Jesu Anspruch, „Sohn Gottes“ zu sein, und seine absolute Hilflosigkeit zusammenzubringen. Es bleiben ihnen nur Spott und Hohn: „Wenn du Gottes Sohn bist, rette dich selbst und steig herab vom Kreuz!“ (27,40). Und: „Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat; er hat doch gesagt: Ich bin Gottes Sohn“ (27,43). (2) Auch bei Matthäus sind wie bei Markus Jesu Gegner „die hohen Priester und die Ältesten des Volkes“ (21,23; 26,3.47; 27,1; 28,11 f.), aber er schwärzt ihr Bild weiter ein. Sie sind es, die gemeinsam „den Beschluss fassten, Jesus hinrichten zu lassen“ (27,1)48; Pilatus bleibt nur noch die Rolle des „Statisten“49. Die Schuldzuweisung an die jüdische Seite gewinnt bei ihm dadurch an Schärfe, dass er über Markus hinaus mit Judas (27,4: „Ich habe gesündigt, ich habe unschuldiges Blut ausgeliefert“) und der Frau des Pilatus (27,19: „Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten“) weitere Zeugen für Jesu Unschuld aufbietet und Pilatus schließlich erklären lässt: „Ich bin unschuldig am Blut von diesem. Seht ihr zu!“ Über die schon von Markus gebotene Notiz hinaus, das ganze Synedrion hätte nach einem „Falschzeugnis“ gegen Jesus gesucht (26,59), lässt er auch andernorts durchblicken, dass das Gremium gegen bessere Einsicht gehandelt hat, unterstellt den Beteiligten also pure Böswilligkeit. Auf die Erklärung des Judas, er habe ihnen einen Unschuldigen ausgeliefert, reagieren „die hohen Priester und die Ältesten“ abweisend: „Was geht das uns an? Sieh du zu!“ (27,4). Die Soldaten, die ihnen von seltsamen Vorgängen an Jesu Grab berichten, bestechen sie, ihre eigene Version des leeren Grabes in Umlauf zu bringen, wobei Matthäus sie lächerlich macht, wenn er sie die Lügengeschichte auftischen lässt: „Erzählt den Leuten: Seine Jünger sind bei Nacht gekommen und haben ihn gestohlen, während wir schliefen“. Wenn Matthäus in seiner Passionserzählung desöfteren von „den hohen Priestern und den Ältesten des Volkes“ spricht (21,23 u. ö.), hebt er mit dem Genitiv τοῦ λαοῦ die „Repräsentanzfunktion“ des Gremiums hervor50 , wirft durch die Art und Weise seiner Erzählung aber zugleich die Frage auf, wie es sich tatsächlich damit verhält. Im Jerusalem-Teil des Buches begegnen „die Volksmengen“ (οἱ ὄχλοι) Jesus seit seinem Einzug in die Stadt noch mit der Erwartung, er sei ein Prophet (21,10 f.), weswegen die Autoritäten aus Furcht vor ihnen davor zurückschrecken, ihn festznehmen (21,46). Auch Jesu Wehe-Rede gegen die Pharisäer und die Schriftgelehrten hören sich „die Volksmengen“ an (23,1). Während des Pilatus-Prozesses aber verkehrt sich ihre Einstellung zu Jesus Matthäus zufolge in das Gegenteil: „Überredet“ von den Autoritäten, die das Volk zuerst fürchteten (27,20), verlangt es jetzt vom Statthalter, Barabbas freizulassen und Jesus zu kreuzigen. In 48  Danach tritt das Gremium noch zweimal zusammen, um „einen Beschluss zu fassen“: in der Angelegenheit des „Blutgelds“ des Judas (27,7) und zur Frage, wie auf den Bericht der Wächter über die Vorgänge am Grab Jesu zu reagieren sei (27,12). Dem Evangelisten liegt daran, die verantwortliche Rolle des Gremiums bei alldem herauszustreichen. – Gielen, Konflikt. 49  Luz, Jesusgeschichte 151. 50  Gielen, Passionserzählung 37; der Genitiv τοῦ λαοῦ in Ergänzung der mkn. Vorlage auch in 21,23, 26,47 und 27,1.

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einer Inszenierung von beinahe biblischer Archaik wäscht Pilatus seine Hände in Unschuld, während „das ganze Volk“ mit feierlicher Formel die Verantwortung für Jesu Tod übernimmt (27,25)51. Doch die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Matthäus zieht sie bis in seine Ostererzählung, sogar bis in seine Gegenwart hinein aus, wenn er erklärt, „das Gerücht“ vom Leichenraub halte sich „bis zum heutigen Tag unter Juden“ (28,15). Damit erlaubt er einen Blick in seine Nachbarschaft der Synagogen, ohne zu behaupten, dass jenes „Gerücht“ unter allen Juden umlaufe52 . In die jüngere Vergangenheit weist seine Deutung der Zerstörung des Tempels (22,7; 23,35 f.; 23,39): Die Erklärung des „ganzen Volkes“ vor Pilatus, für Jesu Verurteilung zum Tod mit dem eigenen und dem Leben der Kinder haften zu wollen, hat sich mit der Katastrophe des Untergangs des Tempels im Jahr 70  n.Chr. bewahrheitet, die Schuld des Volkes ist abgegolten, die Haftung erloschen.

Diese Begrenzung auf die erste Generation nimmt Matthäus auf den Bahnen biblischer Deutung der Zerstörung des ersten Tempels vor, wie auch die kollektive Redeweise in 27,25 und die Polemik gegen die jüdischen Autoritäten nicht aus ihrem jüdischen Denkhorizont gelöst werden dürfen. Wenn Matthäus den von den jüdischen Autoritäten erhobenen Führungsanspruch durch ihre Ablehnung des Messias Jesus verwirkt sieht, bedeutet das nicht, dass nun die Ekklesia seiner Meinung nach Israel ersetzt. Wohl aber sieht er „in dem Glauben, Nachfolger des Messias zu sein“, den „Anspruch der Kirche impliziert, die einzig legitime Sachwalterin der theologischen Tradition Israels zu sein“53. (3) Über der Polemik des Matthäus darf die Heilsbotschaft seiner Passions- und Ostererzählung nicht in den Hintergrund treten. Sie ist der cantus firmus, der die Erzählung von Anfang bis Ende bestimmt. (a) Schon der Eingang des Jerusalem-Teils zeigt Jesus als Heiland, wie die Leser ihn von Galiläa her kennen. Im Tempel vertreibt er „alle Händler und Käufer“ (21,12), heilt dann aber die Lahmen und Blinden, die zu ihm kommen (21,14). Darauf spielen die Autoritäten Jerusalems später an, wenn sie den Gekreuzigten mit den Worten verhöhnen: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten“ (27,42). (b) Beim letzten Mahl mit den „Zwölf“ deutet Jesus vorweg seinen Tod, wenn er ihnen den Becher reicht und dazu das Gabewort spricht: „Trinkt alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (26,27 f.). Nach Darstellung des Matthäus ist Jesu Abschiedsmahl ein Paschamahl, bei dem der Befreiung Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten gedacht wird. „[M]it dem Tod Jesu ‚zur Vergebung der Sünden‘ (V.28)“ tritt dem „ein neues soteriologisches Grunddatum zur Seite“54. Den Anspielungen des Becherworts auf Jes  53,11 f. zufolge ist Jesus der Gottesknecht, der sein Leben „für viele“ dahingibt. Er macht wahr, was der Engel Joseph im Traum verheißen hatte, er solle den Neugeborenen 51 

Siehe des Näheren oben II.  9.3 unter (3). EÜ 2016 und die revidierte Zürcher Übersetzung fügen zu Unrecht gegen den griech. Text den bestimmten Artikel ein: „unter den Juden bis heute“. 53  Konradt, Mt 13. 54  Ebd. 405. 52  Die

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Jesus nennen, weil er „sein Volk von ihren Sünden retten wird (αὐτὸς γὰρ σώσει τὸν λαὸν αὐτοῦ ἀπὸ τῶν ἁμαρτιῶν)“ (Mt  1,21). Die Vergebung der Sünden als Frucht seines Bundesopfers (vgl. Ex  24, 8; Jer  31,31– 34) wird aber auch den Völkern zuteil, wenn sie nach Weisung des Auferweckten in seine Nachfolge eintreten (28,16–20). Was bei Jesaja über die weltweite Rolle des Gottesknechts gesagt wird, erfüllt sich in Jesus: „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht der Nationen, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht“ (Jes  49,6). Das Blut-Motiv begegnet, wie ausgeführt, im weiteren Verlauf der Passion noch drei Mal, in der Rede des Judas, er habe „unschuldiges Blut ausgeliefert“ (27,4), und zwei Mal in der Pilatus-Szene: Auf die Beteuerung des Statthalters hin, er sei „unschuldig am Blut von diesem“, erklärt „das ganze Volk“: „Sein Blut – über uns und unsere Kinder!“ (27,24 f.). Bereits am Ende seiner Wehe-Rede spricht Jesus vom „unschuldigen Blut, das auf Erden vergossen worden ist, vom Blut Abels, des Gerechten, bis zum Blut des Zacharias, Barachias’ Sohn, den ihr zwischen dem Tempelgebäude und dem Altar ermordet habt […]“: Es wird „über euch“ bzw. „diese Generation kommen“ (23,35 f.). Dieser Text klingt in 27,25 mit, weniger wahrscheinlich auch 26,28, wie zuweilen angenommen wird55. Wenn Franz Mußner das spannungsvolle Gegenüber von „Erlöserblut“ (26,28) und „Rächerblut“ (27,25) mit der Aussage überwölbt: „Auch Israel steht bleibend unter dem Kreuz und Jesu Blut sühnt auch seine Schuld, so groß sie auch sein mag“56 , so übersteigt sie zwar den mt. Literalsinn, ist aber eine theologisch legitime, ja von der ntl. Soteriologie her geradezu geforderte Aussage und entspricht zutiefst der Intention des Becherworts von dem „für viele (= alle)“ vergossenen „Bundesblut“ Jesu57.

(c) In der Getsemani-Szene fordert Jesus die Seinen auf: „Bleibt hier und wacht mit mir (μετ’ ἐμοῦ)!“ (26,38; vgl. V.40) 58 . Sie aber schlafen und kündigen kurz danach bei seiner Gefangennahme das „Mit-ihm-Sein“ (Mk  3,14) auf und fliehen. An Ostern sammelt sie der Auferweckte wieder (26,31 f.), gewährt ihnen einen Neuanfang und verheißt ihnen darüber hinaus: „Seht: Ich bin mit euch (μεθ’ ὑμῶν) 59 alle Tage bis zur Vollendung der Zeit“ (28,20). Dieses sein Mit-Sein unter seinen Jüngerinnen und Jüngern hier und jetzt ist Vorschein des eschatologischen Mahls, wenn Jesus, wie er erklärt, „mit euch (μεθ’ ὑμῶν) neu“ von der Frucht des Weinstocks „trinken wird im Reich meines Vaters“ (26,29). Auch wenn die Seinen nicht „mit ihm zu wachen“ vermochten (26,40), er bleibt ihnen treu60 . Die Verheißung des Jesaja bewahrheitet sich: „Sie werden“ den Messias „Immanuel nennen: das heißt übersetzt: Gott mit euch (μεθ’ ὑμῶν ὁ θεός)“ (1,23). 55 

Vgl. bei Luz, Mt IV 289 f. Mußner, Traktat 309; ähnlich deutet Repschinski, Kollektivschuld 204 f., den Blutruf unter dem Vorzeichen von Mt  1,21. 57  Mußner verweist ebd. auf Hebr  12,24: „Das Blut Christi redet wirksamer als das Blut Abels. Es verlangt nicht Strafe, sondern Vergebung“. 58 Das μετ’ ἐμοῦ hat Mt redaktionell ergänzt. 59  Von Mt redaktionell eingefügt. 60  2Tim  2 ,13: „Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen“. 56 

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(d) Vom Sterben Jesu und seinem Tod erzählt Matthäus im engen Anschluss an Markus (vgl. 27,45–54 mit Mk  15,33–39), ergänzt seine Vorlage in V.51b–53 aber durch weitere Zeichen des Himmels61: Die Erde bebt, die Felsen spalten sich, die „entschlafenen Heiligen“ verlassen die geöffneten Gräber und lassen sich nach der Auferweckung Jesu in der „heiligen Stadt“ sehen. Handelt es sich bei den „Heiligen“ um die Gerechten und Propheten von 23,29–36, dann ist ihr Auftritt in der Stadt (wie das Zerreißen des Tempelvorhangs) Gerichtszeichen gegen die Mörder, auf die ihr „Blut“ zurückfällt. Der Centurio wird des „Bebens“ und der anderen Geschehnisse als Zeichen des Himmels62 gewahr und bekennt: „Wahrlich, dieser war Gottes Sohn“. Jesu Schrei nach Gott bleibt „nicht ungehört. Die in V.51–53 geschilderten Ereignisse sind Gottes Antwort auf das Geschehen“63. Die Episode64 darf als Inszenierung der weit gespannten mt. Soteriologie verstanden werden: Mit Jesus, dessen Tod sie in österliches Licht taucht (V.53), werden auch die vielen anderen Opfer der Geschichte Israels rehabilitiert. Die Öffnung ihrer Gräber präludiert die Öffnung des Grabes Jesu, die gleichfalls mit einem Erdbeben einhergeht (28,2) und ist Vorschein der endzeitlichen Auferweckung der Gerechten (13,43.49; 24,31; 25,31–46). 1.2.3 Lukas Auch Lukas bereitet seine Passions- und Ostererzählung von Anfang an vor. Der greise Simeon verheißt aus Anlass der „Darstellung“ des Kindes im Tempel dessen Mutter, es werde zum „Zeichen, dem widersprochen wird“ (2,34). Der Erwachsene wird unmittelbar nach seiner Taufe im Jordan vom Teufel versucht, seine Sendung in eigene Regie zu nehmen, wobei die dritte und letzte Versuchung auf der Zinne des Tempels (4,9–12) seine Bewährungsprobe als Gottessohn am Kreuz vorwegnimmt65. In Nazaret löst Jesus mit seiner „Antrittspredigt“ Tumulte aus (4,16–30). Weil er mit der Schrift an Gottes Heilshandeln auch außerhalb Israels erinnert (1Kön  17,8–24; 2Kön  5), suchen ihn die Synagogenbesucher umzubringen. Sein Ende zeichnet sich ab66 , auch alle späteren Konflikte um die Öffnung des Evangeliums zur Völkerwelt, von denen Lukas in der Apostelgeschichte erzählen wird. Ab 9,5167 nimmt Jesus 61 

Herzer, Auferstehung 115–144.

62 W. Kraus, Passion 426: „Gott selbst bekennt sich in einem Epiphaniegeschehen zu Jesus und

bestätigt ihn damit als Gottessohn, das heißt: als authentischen Verkündiger seines Willens. Der Auferstandene beauftragt die Jünger, eben diese Verkündigung des Irdischen unter alle Völker zu verbreiten“. 63  Konradt, Mt 446. 64  Johann Sebastian Bach war vom dramatischen Gestus der Episode derart angetan, dass er sie in seine Johannespassion übernahm. 65  Die Aufforderung des „Teufels“ 4,9 f., Jesus solle seine Vollmacht als „Sohn Gottes“ vor aller Welt demonstrieren, nimmt das verführerische Wort 23,35 vorweg: „Andere hat er gerettet, nun soll er sich selbst retten“. 4,13: „Nach diesen Versuchungen ließ der Teufel bis zu gegebener Zeit (ἄχρι καιροῦ) von ihm ab“, weist direkt auf die Passion voraus. 66  Vor allem seine wunderbare Errettung aus dem Tod, wenn es im Anschluss an den Tötungsversuch der Synagogenbesucher heißt: „Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg“. 67  9,51 („die Tage seiner Hinaufnahme“) lässt an Tod und Himmelfahrt Jesu denken.

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Jerusalem als Ziel seiner Wanderung in den Blick. Angekommen in der Stadt, „lehrt er im Tempel das Volk und verkündet das Evangelium“ (20,1). Die Konflikte um seine Botschaft, die er zuvor schon in Galiläa und auf seiner Reise nach Jerusalem hat austragen müssen, eskalieren. Programmatisch heißt es in 19,47 im Anschluss an seine Aktion im Tempel und zum Auftakt des Jerusalem-Teils des Buches (20,1– 21,38): Er lehrte täglich im Tempel. Die hohen Priester und die Schriftgelehrten suchten ihn umzubringen, auch die Ersten des Volkes (οἱ πρῶτοι τοῦ λαοῦ). Aber sie fanden nichts, was sie hätten tun können, denn das ganze Volk (ὁ λαὸς … ἅπας) hing hörend an ihm.

Lukas, Autor eines Doppelwerks, versteht sich als Historiker, der sich an der Geschichtsschreibung seiner Zeit misst (vgl. 1,1–4). Er erzählt in gepflegtem Griechisch, wie sich das Evangelium seit Jesu Wirken in Galiläa bis zu seiner Ankunft in Rom, der Mitte des Imperiums, verbreitet hat. Er schreibt für Jesusgläubige hauptsächlich aus der Völkerwelt, denen er verdeutlichen möchte: Das Evangelium ist keine neue Erfindung, es ist tief in der Geschichte Gottes mit Israel verwurzelt68 . Die Ekklesia ist als Gemeinschaft des seit alten Zeiten verheißenen Messias nur in der Fluchtlinie der Geschichte des Gottesvolkes zu verstehen. Auch die Passionserzählung des Lukas ist unter diesem Vorzeichen zu lesen. Das zeigt sich schon daran, dass der Evangelist zwischen dem „Volk“ (ὁ λαός) und seinen Autoritäten unterscheidet. Nach Pfingsten ergeht die Verkündigung erneut an das „Volk“. Greifbar wird das Ethos des Lukas als Historiker vor allem in seiner Passionserzählung. Seine Quellen – das Markusevangelium und die PElk/joh – interessierten sich vorrangig für eine theologische Darstellung des Prozesses, nicht für Fragen des Rechts. Als Historiker ging Lukas davon aus, dass die Vorgänge, gemessen an bekannten zeitgenössischen Standards, plausibel erscheinen sollten. So verändert er sie mehrfach: Eine Gerichtssitzung des Jerusalemer „Ältestenrats“ in der Nacht, und dazu noch der hochheiligen des Pessachfestes, war unglaubwürdig, so verlegt er sie auf den Morgen. Er lässt das Gremium (gegen Markus) kein Todesurteil fällen in der zutreffenden Annahme, dass nur der Statthalter über das ius capitis verfügte. Bei Kapitalverbrechen durfte ein Todesurteil – wenigstens in Rom war das so – nicht in der ersten Verhandlungsrunde gefällt werden69. So erzählt Lukas von deren zwei. Der Korrektheit geschuldet ist auch die zwischenzeitliche Überstellung des Angeklagten an den zum Fest in Jerusalem weilenden Herodes Antipas, aus dessen Herrschaftsgebiet Jesus stammt, um den Fall aus galiläischer Sicht überprüfen zu lassen. Die Rahmenbedingungen des Erzählten erscheinen also stimmig, und der augenscheinliche Versuch, Pilatus zu entlasten, kann eher Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen. Der Statthalter hat sich grundsätzlich korrekt verhalten, wurde gegen seine bessere Einsicht aber Opfer des massiven Drucks, den die Kläger auf ihn ausübten. 68  Der „Altersbeweis“ spielt auch in der jüdischen Literatur der Diaspora eine große Rolle, vgl. Pilhofer, Presbyteron Kreiton. 69  Über möglicherweise davon abweichende Praktiken in den Provinzen macht er sich keine Gedanken.

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Unter diesen Vorzeichen seien im Folgenden Grundzüge der lkn. Passions- und Ostererzählung zusammenfassend dargestellt: (1) Wenn von den Akteuren der Passionserzählung die Rede ist, kann einer nicht übersehen werden: „Satan“, der hinter der Bühne des „Schauspiels“ (23,48: θεωρία) agiert. Die Rede von einem derartigen transhumanen Akteur widerspricht nicht den Grundsätzen lkn. Geschichtsschreibung, weil die Geschichte, gerade in ihren rätselhaften Abgründigkeiten, auch von solchen Akteuren vorangetrieben wird70 . Eingangs heißt es, der „Satan“ sei „in Judas eingegangen“ (22,3). Später erklärt ­Jesus, „Satan“ habe „verlangt, euch – die Jünger – wie Weizen zu sieben“ (22,31). Verdankt Lukas die Notiz 22,3 seiner Passionserzählung (PElk/joh), so gibt er mit 22,31.53 zu erkennen, dass er den Gedanken selbständig weiterführt. Satan hatte von Jesus nach seinen „Versuchungen“ in Galiläa abgelassen (4,13). Jetzt tritt er erneut auf den Plan, „geht in Judas ein (εἰσ-ῆλθεν)“ (22,3), der sogleich „weggeht“ (ἀπ-ελθών) zu den Autoritäten (22,4), die „sich freuen“, mit seiner Hilfe Jesus beseitigen zu können (22,5)71. „Satan“ löst eine Ereigniskette aus, die zum Tod Jesu führt: Nicht nur Judas, auch Jesu Gegner, vor allem die „hohen Priester“, stehen unter seinem Bann, ohne dass sie Lukas deswegen zu entschuldigen sucht. Auch die Verleugnung Jesu durch Petrus führt Lukas auf das Wirken Satans zurück, dessen Macht dank Jesu Fürbitte beim Vater, dass Petri Glaube „nicht erlöschen“ möge (22,32), aber begrenzt ist. Petrus wird seinen Herrn verleugnen, doch schon unmittelbar danach sich ihm erneut „zuwenden“ (22,32: ἐπιστρέψας), wenn „der Herr sich umwendet (στραφείς), ihn anblickt“ und Petrus bittere Tränen der Reue vergießt (22,61 f.). Aber nicht nur Petrus wird von Satan „versucht“, dieser möchte, dass Gott ihm alle Apostel (V.31) „überlässt, um – auf welche Weise auch immer – auszuprobieren, ob ihre Treue oder ihr Glauben auch wirklich belastbar sind“72 . Nicht grundlos greift Lukas das Stichwort „Versuchung“ (πειρασμός) ein letztes Mal in der Getsemani-Szene auf, die er mit Jesu Weisung rahmt: „Betet, dass ihr nicht in Versuchung geratet!“ (22,40.46).

In dieser Szene endet der satanologische Erzählfaden, wenn Jesus „den hohen Priester, den Hauptleuten der Tempelwache und den Ältesten“ erklärt: „Das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“73. Das Stichwort „Stunde“ (ὥρα) erinnert an den „Zeitpunkt“ (καιρός), bis zu dem Satan von Jesus ablassen sollte (4,13). Mit seiner Verhaftung ist er gekommen. (2) Bei der Erzählfigur der Gegner Jesu, dem „Ältestenrat des Volkes (τὸ πρεσβυτέριον τοῦ λαοῦ)“ (22,6), kann vom λαός, den der Rat repräsentiert, nicht abgesehen werden74. Im Jerusalem-Teil ist das „Volk“, wie die Klammer 19,47 f./­ 70 

Vgl. Lk  4,1–13 oder Apg  5,3; 10,38. „berät“ mit der Behörde „auf gleicher Augenhöhe“ (Gielen, Passionserzählung 56), diese „vereinbart“ „mit ihm“ Lohn. 72  Wolter, Lk 716. 73  Gielen, Passionserzählung 116: Wenn die Autoritäten „Jesus im Schutz der Dunkelheit in ihre Gewalt […] bringen […], geben sie sich in einem tieferen Verständnis als Handlanger der Macht der Finsternis zu erkennen“. 74  Der Erzähler spricht in der Regel vom „Volk“ (λαός: 19,47 f.; 20,1.6.9.19.26 u. ö.), einmal von „der Menge“ (22,6: ἄτερ ὄχλου = ohne Menge); die Ankläger vor Pilatus von „unserem Volk“ (23,2: τὸ ἔθνος ἡμῶν). 71  Judas

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21,37 f. zeigt, allgegenwärtig. Heißt es eingangs: Im Tempel „hängen“ die Menschen „an“ Jesus, „um ihn zu hören“ (19,48), da er „dem Volk das Evangelium verkündet und es lehrt“ (20,1), summiert der Rückblick: Alle Tage „schon früh am Morgen kommt das ganze Volk in den Tempel zu ihm, um ihn zu hören“ (21,37)75. Weil die Autoritäten „das Volk fürchten“ (20,19; 22,2), begrüßen sie das Angebot des Judas, nach einer günstigen Gelegenheit zu suchen, Jesus auszuliefern, „ohne dass es das Volk merkt“ (22,6). Die Diskussion um Jesu „Vollmacht“, im Tempel lehren zu können, und vor allem Jesu Gleichnislehre über Gottes Weinberg nutzt Lukas, das angespannte Verhältnis der Autoritäten zum Volk redaktionell zu schärfen: Im Streitgespräch über Jesu „Vollmacht“ verweigern die Autoritäten Jesus zuletzt eine eindeutige Antwort, weil sie fürchten, „das ganze Volk wird uns steinigen“ (20,6). Auf die Ankündigung Jesu: „Er (sc. der Herr des Weinbergs) wird kommen und diese Winzer vernichten und den Weinberg anderen geben“, ruft das Volk erschrocken aus: „Das darf nicht geschehen!“ (20,16). Am Ende bestätigt Lukas die Wahrheit der Gleichnisrede Jesu ausdrücklich: „Die Schriftgelehrten und die hohen Priester hätten gern noch in derselben Stunde Hand an ihn gelegt; aber sie fürchteten das Volk. Denn sie hatten gemerkt, dass er sie mit diesem Gleichnis meinte“ (20,19).

Während das Volk bei dem Gedanken, dass seine Führer vernichtet und durch andere ausgetauscht würden, erschrickt, bleiben die Autoritäten verblendet. Bis in die Apostelgeschichte hinein verändert sich ihr Bild nicht (a), im Unterschied zu dem des „Volkes“ (b). (a) Im Jerusalem-Teil sind „den hohen Priestern und Schriftgelehrten“, wie Lukas Jesu Gegner meist nennt76 , die Hände noch gebunden. Erst die Initiative des Judas bietet ihnen die Gelegenheit, Jesus am Ölberg im Schutz der Dunkelheit zu ergreifen. Mit dabei sind (nur bei Lukas) „die hohen Priester, die Hauptleute der Tempelwache und die Ältesten“ (22,52 f.). Nach seiner Ergreifung verhören sie Jesus, überstellen und verklagen ihn bei Pilatus, setzen seine Hinrichtung durch und verspotten ihn am Ende auf Golgota. In der Apostelgeschichte bleiben sie bei ihrer Feindschaft, als das Evangelium im Tempel durch die Apostel erneut kundgetan wird, jetzt „im Namen“ des Gekreuzigten. „Zeichen und Wunder“ geschehen, das Volk preist Gott wegen der Heilung eines seit seiner Geburt Gelähmten. Petrus und Johannes werden vom Hohen Rat77 verhaftet, aber unter der Auf­ lage, nicht mehr „im Namen Jesu“ aufzutreten, freigelassen (Apg  4,1–3.5–22), schließlich „die Apostel“ insgesamt, als die Sympathien für die Gemeinde im Volk weiterwachsen (Apg  5,17 f.). Auf die wunderbare Befreiung der Apostel durch einen Engel hin rät Gamaliel dem Gremium, sie ziehen zu lassen, um nicht „als Kämpfer gegen Gott“ dazustehen (Apg  5,39). Als Stephanus „im Namen“ Jesu den Tempel angreift, lässt der Hohe Rat ihn 75  Auch zwischendrin erinnert der Erzähler an die Anwesenheit des „Volkes“: „Und er begann zum Volk (πρὸς τὸν λαόν) dieses Gleichnis zu sprechen: …“ (20,9); „Jesus sagte vor dem ganzen Volk (παντὸς τοῦ λαοῦ) zu seinen Jüngern: …“ (20,45). 76  Vgl. 19,47; 20,1.19; 22,1.52.66; 23,10.13. 77  Goodblatt, Principle 125 f., unter Verweis auf Apg  4,15; 5,21.27 f.; 6,12: Die Apg verbindet mit συνέδριον die Vorstellung einer „on-going institution“, „not an ad hoc assembly of leaders“. Der Verf. dürfte bereits die rabbinische Institution des Sanhedrin vor Augen haben.

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steinigen. Wie zuvor schon alle Versuche, die Jesus-Bewegung mundtot zu machen, das Gegenteil bewirken, so beschleunigt die durch das Martyrium des Stephanus ausgelöste Verfolgung der Gemeinde in Jerusalem ihre Ausbreitung in Judäa und Samaria (Apg  8 ,1). Lukas erzählt eine Erfolgsgeschichte, in der „die hohen Priester und Schriftgelehrten“ nach wie vor eine unrühmliche Rolle spielen.

(b) Die Erzählfigur „des Volkes“ nimmt in der Passionerzählung merkwürdige Kehren. Während es im Jerusalem-Teil Jesus gegenüber offen und empfänglich ist, verleugnet es ihn im Pilatus-Prozess. Die Autoritäten ziehen „das Volk“ in den Prozess hinein, wenn sie die Anklage erheben, Jesus verführe „unser Volk“ und halte es davon ab, „dem Kaiser Steuern zu zahlen“ (23,2). Ohne dass „die hohen Priester“ sich eigens um die Stimme des „Volkes“ für Barabbas mühen müssten, agiert dieses von Prozessbeginn an auf ihrer Linie (23,4 f.). So unmotiviert ihr Verhalten erscheint, so überraschend kommt angesichts der Kreuzigung Jesu ihre erneute Wende: „als sie sahen (θεωρήσαντες), was geschah, schlugen sie sich an die Brust und kehrten heim“ (23,48). Unter narrativen Gesichtspunkten ist diese doppelte Richtungsänderung des „Volkes“ wenig plausibel, theologisch ist sie gewollt: Lukas liegt an der Kontinuität des Gottesvolkes, wie die Fortsetzung der Geschichte belegt, die er in der Apostelgeschichte erzählt. Rückblickend lässt er Petrus an Pfingsten „allen Juden und Bewohnern Jerusalems“ erklären, Jesus sei „nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben“ worden (Apg  2,23), lädt die letzte Verantwortung für Jesu „Hingabe“ also nicht ihnen, sondern Gott auf. Zwar haben sie Jesus „durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht“ (ebd.), aber Gott wendet sich von ihnen deswegen nicht ab. Er bleibt ihnen treu. Erneut geht die Botschaft an sie: „Mit Gewissheit erkenne also das Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg  2,36; vgl. 3,13–15; 4,27). Viele von denen, die den Aufruf des Petrus vernehmen: „Kehrt um und jeder lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung eurer Sünden [..]“ (Apg  2,38), werden gläubig. Die Gemeinde wächst von Tag zu Tag. Es verbreitet sich das Evangelium von Jerusalem und Judäa über Samaria und Antiochien „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg  1,8; 13,47). In der Romszene am Ende des Buches öffnet sich ein Fenster in die Gegenwart des Autors: Die Judenschaft Roms ist in Gestalt ihrer führenden Männer über die von Paulus ausgerichtete Botschaft Jesu „uneins“ (ἀ-σύμφωνοι): „Die einen ließen sich durch seine Worte überzeugen, die anderen blieben ungläubig“ (Apg  28,24). Um des heilsgeschichtlichen Vorrangs der Juden willen verkündet Paulus auch in Rom das Evangelium zuerst den Juden. Die Einladung, an Jesus, den Messias Israels, zu glauben, bleibt bestehen und wird nicht zurückgenommen.

(3) Im Spannungsfeld von Gegnern und „Volk“ gewinnt die Erzählfigur des Protagonisten ihre Schärfe: Jesus zieht mit seiner Evangeliumsverkündigung in Jerusalem zwar die Feindschaft der Autoritäten auf sich, die ihn ans Kreuz bringen, er­ widert diese aber nicht mit Verzweiflung oder Hass, sondern entsprechend seiner galiläischen Weisung: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen!“ (Lk  6,27). Die Schlüsselszene ist Jesu Weg zum Kreuz. Sie zeigt Jesus als Vorbild in der Annahme des Todes im Vertrauen auf seinen Gott (a). Die Vorbildlichkeit bedingt die Öffentlichkeit seines Sterbens, die Lukas mit den Erzählfiguren des anwesenden „Volkes“

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(siehe oben), des Centurio (b) und „aller Bekannten“ Jesu, Männer und Frauen (c), noch verstärkt. Im Hintergrund steht das wirkungsgeschichtlich einflussreiche Bild vom sterbenden Sokrates, das von Jesus übertroffen, aber auch korrigiert wird, weil er die Menschen die wahre „Kunst des Sterbens“ (ars moriendi) lehrt78 . (a) Jesu Vorbildlichkeit in seinem Umgang mit dem ihm drohenden Tod zeigt sich in Getsemani79, vor allem an seinen „letzten Worten“80 . Über Markus hinaus bietet Lukas deren drei, die kompositionell zusammengehören: Jesu Gebete an den Vater am Anfang und Ende der Kreuzigungsszene (23,34.46) und sein Amen-Wort an den reuigen Verbrecher im Zentrum (23,43). Mit den beiden Verbrechern kommen gegensätzliche Einstellungen angesichts des Todes in den Blick, die trotz der Extremsituation paradigmatisch sind: Gottesfurcht auf der einen Seite, Sarkasmus und Verzweiflung auf der anderen. Die Worte, die der Einsichtige an den Lästerer richtet, verdeutlichen die Kluft zwischen dem einen Gerechten und allen anderen Menschen: „Und du fürchtest auch nicht Gott? Dich hat doch das gleiche Urteil getroffen. Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan“ (23,40 f.). Aus dem Abstand wird Nähe, ja Gemeinschaft, wenn sich der Einsichtige an Jesus wendet: Da sagte er:  Jesus, gedenke meiner,   wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete ihm:   Amen, ich sage dir:   Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein (23,42 f.) 81. Einsicht in die eigene Schuld, wenn sie zur Bitte um „Gedenken“ wird, wendet Verzweiflung ab und führt zu einem letzten Vertrauen auf Jesu Wort. Lukas deutet diskret an, was „versöhntes Sterben“ bedeutet. Von den beiden Gebeten Jesu gilt das erste seinen Feinden, die ihn ans Kreuz gebracht haben: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (23,34) 82 . Auch dies meint Lukas paradigmatisch, denn später lässt er Stephanus ganz ähnlich beten: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apg  7,60) 83. Zu einem „versöhnten Sterben“ gehört auch der Frieden mit denen, die dem Sterbenden zugesetzt haben. Mit dem zweiten Gebet zeichnet Lukas Jesus als Psalmbeter, der er war und bis zuletzt bleibt: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist!“ (23,46 = Ps  31,6). Das Gebet drückt 78  Siehe oben I.  1.5.3.3. Sterling, Mors 399 f.: Jesu Tod ist wie der des Sokrates bei Lk „a paradigm“. Sokrates ermahnt seine Schüler in der berühmten Sterbeszene des Phaidon, mit dem Weinen aufzuhören (117d), die Frauen habe er schließlich deswegen schon lange zuvor weggeschickt (siehe oben I.  1.5.2.2), der lkn. Jesus wendet sich den um ihn weinenden Frauen zu, mahnt sie aber, die Trauer um ihn umzuwandeln in eine Bußtrauer um sich selbst (23,27 f.). Matthews, Jesus; Weidemann, Klagen. 79  Sterling, Mors 395 f., zur „calmness of Jesus“ als einem sokratischen Motiv. 80  Siehe oben I.  1.5.3.2. Theobald, Tod 137–141 (Lit.); ders., Sterben 499–503 („Ars moriendi in der Nachfolge Jesu bei Lukas“). 81  Hierzu siehe etwa S. Schreiber, ‚Ars moriendi‘ 277–297. 82  Lk denkt wohl zuerst an die jüdischen Autoritäten, nicht vorrangig an die römischen Soldaten, die Jesus gerade kreuzigen, vgl. Theobald, Tod 24 f.; anders Blum, Rezeption. 83  Auch das erste Gebet des Stephanus: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ (Apg 7,59) entspricht Jesu Beten am Kreuz; Roloff, Apg 128: „Lukas will durch diese Entsprechung andeuten, dass durch Weg und Geschick Jesu ein konkretes Strukturmodell gegeben ist, das auf den Weg und das Geschick der Zeugen und damit auf die Geschichte der ganzen Kirche prägend wirkt“.

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Jesu Verbundenheit mit dem Vater aus84, aber auch seine Freiheit und Souveränität angesichts seines Todes. Er besitzt die „Macht, dem Tod jetzt entgegenzutreten, bevor er ihn besiegen wird“85. (b) Es entspricht der Vorbildlichkeit des von Lukas Dargestellten, wenn er nach Jesu Sterben unter göttlichen Zeichen den römischen Centurio nicht (wie bei Markus) ein Bekenntnis zu Jesu Gottessohnschaft ablegen, sondern ihn einen „Gerechten“ nennen lässt. Aus dem ehrenvollen Sterben Jesu schließt der Centurio auf sein Wesen86 . Als „Gerechter“ ist Jesus Vorbild für andere. (c) Wenn bei Lukas die Jünger in Getsemani nicht aus Uneinsichtigkeit (vgl. Mk  14,40) einschlafen, sondern „aus lauter Kummer“ (22,45) und sie bei Jesu Gefangennahme nicht fliehen (vgl. Mk  14,50), sondern auf Golgota, wenn „auch von ferne“, alles „sehen“, was sich dort zuträgt (23,49), dann hat der Evangelist seine Vorlage nicht deshalb abgeändert, weil er die Jünger schonen, sondern weil er sie zu Zeugen Jesu stilisieren wollte87. Die Erzählfigur gewinnt paränetische Züge: Mit ihnen sollen auch die Leser- und Leserinnen des Buches des vorbildlichen Jesus ansichtig werden88 . Zudem bürgen sie als „Augenzeugen“ für alles, was in Jerusalem geschieht, angefangen vom Einzug Jesu in die Stadt (19,37) bis hin zu den Geschehnissen am „ersten Tag der Woche“. Als am späten Abend dieses Tages die beiden Emmausjünger von ihrer Begegnung mit dem Auferweckten berichten, sind alle beieinander (24,33) und begegnen ihm „in ihrer Mitte“ (24,36). Die Apostelgeschichte knüpft an das so grundgelegte Konzept der „Augenzeugenschaft“ an, wenn sie diese zu einer Bedingung für die Nachwahl in den Zwölferkreis erhebt (Apg  1,21 f.).

(4) Für das Verständnis der Heilsbotschaft von Tod und Auferweckung Jesu bei Lukas ist die große Klammer aufschlussreich, die er mit 19,38 und 24,36 um seine Passions- und Ostererzählung gelegt hat: Bei seinem Einzug jubeln die Jünger Jesus laut zu: „Im Himmel Friede, und Herrlichkeit in den höchsten Höhen!“ (19,38) 89. Am Ende tritt der Auferweckte „in ihre Mitte“ und spricht zu ihnen: „Friede sei mit euch!“ (24,36). Der Frieden, der in der österlichen Inauguration Jesu zum Mes84  Die dem Psalmwort von Lk vorangestellte Vater-Anrede legt den christologischen Grund des Geschehens frei: „Jesus wird als Träger des Gottesgeistes hingerichtet und gibt im Tode Gott, dem Vater, gleichsam den Geist Gottes zurück, den er vom Vater verliehen bekommen hatte“ (M. Müller, Hinrichtung 56 f.); Lk  3,22; 4,1.14; 10,21; Apg  10,38. 85  Bovon, Lk IV 491; Wolter, Lk  23,48: „[M]it dem Sagen geschieht das Gesagte: Jesus stirbt, indem er seinen Geist in die Hände des Vaters legt“. Nicht grundlos ist dieses Gebet zu einem christlichen Gebet geworden – am Abend eines jeden Tages wie am Abend des Lebens überhaupt: Theobald, Tod 141 Anm.  116. 86  Schmal, Seneca 108: „Schon bei Herodot ist zu lesen, dass über den Wert eines gelebten Lebens erst dann positiv entschieden werden könne, wenn der Mann auch einen ehrenvollen Tod gestorben ist“; zu Herodot siehe I.  1.5.1.2. 87  Schweizer, Lk 226: „Jesu Passion ist […] so geschildert, dass sie den gesamten Dienst Jesu umfasst, in dem eine neue Möglichkeit menschlichen Lebens und Sterbens geschaffen wird. Wenn Glaube nicht nur Übernahme einer Formel oder eines Schemas ist, muss es gewisse Erfahrungsanalogien zwischen Jesus und Jüngerschar geben“. 88  Jung, Passio 21–93 („Der Lk Passionsbericht und eine darin mitenthaltene Geschichte der Jünger“). 89  Wolter, Lk 631: „Der Ausruf ‚Im Himmel Friede!‘ meint nicht das Heilsgut, das im Himmel für die Menschen bereitliegt […], sondern er soll zusammen mit der Wiederholung der Doxologie von 2,14a den Blick der Leser dorthin lenken, wo Jesus als König inthronisiert wird: in den Himmel“.

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sias und Herrn aller Welt „im Himmel“ grundgelegt wurde, wird nun auf Erden den Menschen zuteil. Was bedeutet das konkret? (a) Im Unterschied zu Markus und Paulus spielt für Lukas die Vorstellung vom sünden­ tilgenden Tod Jesu keine Rolle. Mit der Rede vom „vergossenen Blut“ (22,20), die er nicht für Jesus reserviert, bezeichnet er metonymisch einen gewaltsam herbeigeführten Tod, ohne einen Opferkontext zu assozieren90 . Im Hintergrund steht der jüdische Motivkomplex des Martyriums, der die Erwartung himmlischen Lohnes einschließt 91 – bezogen auf Jesus: „Musste der Messias nicht solches leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?“ (24,26). Nicht „das Todesleiden“ (παθεῖν) an sich begründet Hoffnung auf Heil, sondern Jesu österlicher Weg in die „Herrlichkeit“ Gottes. (b) Wenn der Evangelist von „Heil“, „heilen“, „retten“ und vom „Retter“ spricht92 , lenkt er den Blick nie auf das Todes-„Leiden“ Jesu, sondern stets auf seinen Lebensdienst insgesamt: „Der Menschensohn ist nämlich gekommen, das Verlorene zu suchen und zu retten (σῶσαι)“ (19,10). Als Heiland wirkt Jesus auch in seiner Passion: In Getsemani heilt er das Ohr des hohepriesterlichen Knechts (22,50), auf dem Kreuzweg wendet er sich den klagenden Frauen (23,27–31) und dem reuigen Sünder zu (23,42 f.) und betet für die, die ihn hassen (23,34). Mit Jes  53,12 sieht sich Jesus „unter die Gottlosen“ gestellt, was unter den Evangelisten allein Lukas betont (22,37) 93. (c) Was für Jesus gilt – durch „Leiden“ zur „Herrlichkeit“ –, gilt analog auch für die Apostel, denen er nach dem Mahl erklärt: „Ihr aber seid es, die in meinen Prüfungen bei mir geblieben sind (δια-μεμενηκότες). Und ich vermache euch, wie mir mein Vater vermacht hat: Königsherrschaft (βασιλεία), dass ihr esst und trinkt an meinem Tisch in meinem Reich und auf Thronen sitzt, um die zwölf Stämme Israels zu richten“ (22,28–30). Paulus und Barnabas ermahnen die Jünger auf ihrer ersten Missionsreise, „am Glauben festzuhalten (ἐμ-μένειν) und: Durch viele Drangsale hindurch (διὰ πολλῶν θλίψεων) müssen (δεῖ) wir in das Reich Gottes eingehen“ (Apg  14,22) 94. Allen, die jetzt vielfältigen Drangsalen ausgesetzt sind, steht dank Jesu Auferstehung der Weg ins Heil offen (23,43; vgl. 4,2.33). (d) Die von Lukas behauptete Analogie zwischen dem Weg Jesu und dem der Apostel95 und aller, die ihm nachfolgen, darf nicht dazu verführen, gering über seine Christologie zu denken, als sei Jesus für sie lediglich Beispiel eines allgemeingültigen Prinzips. „Jesu Passion“ bleibt „unverwechselbare Grundlage aller Nach-Erfahrung […]. Nur er kann vollmächtig das Reich (22,29 f.) und das Paradies (23,43), also das Heil zusprechen“96 . Der Grund dafür ist der, dass in Jesus „Solidarität Gottes mit Menschen […], Gottes Zuwendung zum Menschen sichtbar wird“97.

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Von Jesus auch in Apg  20,28, von den Propheten in Lk  11,50 f., von Stephanus in Apg  22,20. Siehe oben I.  1.5.2.4: Jüdische Martyrien im 2. und 4. Makkabäerbuch. 92  σωτηρία: 19,9 („Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“); Apg 4,12; 7,25; 13,26.47; 16,17; 27,34. – σῴζειν: 6,9; 7,50; 8,36.48.50; 9,24; 19,10 u. ö. – σωτήρ: 2,11 („Heute wurde euch der Retter geboren“). 93  Zur lkn. „Soteriologie“ vgl. Untergaßmaier, Kreuzestheologie 46–50; Söding, Soteriologie 381–403. 94  Vgl. 1Thess  3,2 f. 95  Die Apg gestaltet nicht nur das Geschick des Stephanus, sondern vor allem auch die Reise des Paulus über Jerusalem ins Martyrium in Angleichung an den Weg Jesu. 96  Schweizer, Lk 226; vgl. insgesamt seinen Exkurs „Zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu“ ebd. 225 f. 97  Ebd. 241. 91 

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

Nicht übersehen werden darf schließlich: Der von Gott in seiner Auferstehung rehabilitierte und zum Messias und Herrn eingesetzte Jesus erbittet für die Menschen von Gott „die Gabe heiligen Geistes“, die er an Pfingsten auch gewährt (24,49; Apg  2,33.38): „Kraft aus der Höhe“ (24,49), die zur Nachfolge befähigt. 1.2.4 Johannes Das vierte Evangelium läuft nicht nur auf seine Passionserzählung am Ende zu, es ist selbst eine Passions- oder Prozesserzählung, in der ab Kap.  1 Gericht gehalten wird: Zuerst lassen „die Juden“ – nach joh. Sprachgebrauch der Hohe Rat98 – den Jesus-Zeugen Johannes99 durch Abgesandte verhören (1,19–28)100 , dann befragen sie Jesus, mit welchem Recht er in Jerusalem die Opfertiere und Händler aus dem Tempel vertreibt (2,18–22). Der Rechtsstreit, den sie mit ihm führen, entwickelt sich in Folge immer mehr zu einem Rechtsstreit, den er mit ihnen führt101. Dieser steigert sich vom ersten Aufenthalt Jesu in Jerusalem (2,13–22) über seinen zweiten (5,1–47) und dritten (7,2–10,39) bis hin zum letzten (ab 12,12). Am Ende setzen die Autoritäten Jerusalems das Todesurteil, das für sie seit langem feststeht (5,18), mit Hilfe des Pilatus um. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Anspruch Jesu, „Sohn Gottes“ zu sein, für „die Juden“ eine Blasphemie (10,36), die nach der Tora den Tod verdient: „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zum Sohn Gottes gemacht“ (19,7). Hintergrund des literarischen Rechtsstreits ist die Auseinandersetzung der joh. Christusgläubigen mit dem Vorwurf ihrer Heimatsynagogen, die Verkündigung Jesu als präexistenter „Gottessohn“ und „Menschensohn“ verletze das biblische Gottesbekenntnis: „Höre, Israel, Jhwh ist unser Gott, Jhwh ist einer“ (Dtn  6 ,4). Wegen angeblichen Di-Theismus (vgl. 5,18) wurden die johanneischen Christen „exkommuniziert“ (vgl. 9,22.34; 16,1 f.). Aber nicht nur Juden, die den Glauben an Jesus überhaupt verwarfen, sondern auch jüdische Anhänger Jesu, die in ihm den eschatologischen Propheten sahen, ohne ihm Göttlichkeit und Präexistenz zuzusprechen, stehen im Blickfeld des im letzten Viertel des 1.  Jh.s entstandenen Buches. Der Evangelist argumentiert in zweifacher Richtung: Einerseits ist Jesus für ihn mehr als nur Mensch, weshalb er von seinem Wirken so erzählt, dass seine Göttlichkeit epiphan wird. Andererseites lässt er Jesus von seiner Gottessohnschaft in einer Weise sprechen, die deutlich macht: Sie gefährdet nicht den Glauben an den „einen Gott“ (5,44; 17,3), sondern fügt sich ihm ein. Jesus weiß sich vom Vater gesandt und als Sohn ihm unterstellt. Nur so ist er befähigt, in der Spendung ewigen Lebens und im Vollzug des Gerichts göttliche Vollmacht auszuüben (5,19–30). Ziel des Evangelisten ist es, mit seiner Erzählung von Jesus als „Messias und Sohn Gottes“ die Identität derer, die an ihn glauben, im Gegenüber zu den Synagogen theologisch zu stärken (20,30 f.). Von daher erschließt sich auch die Gestaltung seiner Passionserzählung. 98 

Theobald, Joh I 152–154. Schon im Prolog tritt Johannes als „Zeuge“ im Rechtsstreit um die Wahrheit auf: 1,6–8.15. 100  Bultmann, Joh 59: „Ein Vorspiel des Streites, der das ganze Leben Jesu durchzieht, begibt sich hier also, eines Streites zwischen dem christlichen Glauben und der durch das Judentum repräsentierten Welt, der ständig unter dem Bilde eines Prozesses erscheint, und zwar so, dass die ‚Juden‘ in dem Wahne sind, sie seien die Richter, während sie in Wahrheit die Angeklagten vor dem Forum Gottes sind“. 101  Zur literarischen Gattung des Rechtsstreits bei Joh vgl. Becker, Joh I 298–230. 99 

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Die Johannespassion macht zwar den Eindruck, als erzähle sie von einem gött­ lichen Wesen, das, unberührt vom Leiden, dem Tod entgegengeht102 . Aber die Perspektive des Evangelisten ist eine andere: In Auseinandersetzung mit „judenchristlichen“ Vorstellungen, denen zufolge der Messias lediglich ein „Mensch aus Menschen“ sei (vgl. Just, Dial  48,1.3.4; 49,1), lässt er in seiner Erzählung Jesu göttliche Hoheit aufscheinen, tut dies aber unter der selbstverständlichen Voraussetzung seines Mensch-Seins. Er will dieses nicht „ent-wirklichen“, sondern im Gegenteil seine Leser dazu anleiten, es in seiner Tiefe wahrzunehmen. Zugleich verdeutlicht er an der Passion die radikale Unterordnung des Sohnes unter den Willen des Vaters, zu der Jesus sich nicht erst im Gebet durchringen muss, sondern die ihm von Anfang an Grund seiner Existenz ist: „Meine Speise ist es, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und ich sein Werk vollende (τελειώσω)“ (4,34). Sein letztes Wort: „Es ist vollbracht (τετέλεσται)!“ (19,30), das sich auf 4,34 zurückbezieht, besiegelt sein Lebens-„Werk“, das im Dienst des Vaters steht. Soll die johanneische Passions- und Ostererzählung nicht missverstanden werden, ist sie unter den genannten Voraussetzungen zu lesen. (1) Wie bei den Synoptikern ist auch beim vierten Evangelisten Jesus derjenige, „der um alles weiß, was auf ihn zukommt“ (18,4)103. Aber dieser hat den Erzählzug noch um einiges gesteigert. Bei ihm büßt Jesus, auch wenn andere über ihn bestimmen, seine Souveränität zu keiner Zeit ein. Bei seiner Verhaftung beherrscht er die Szene (18,1–11)104, das Kreuz trägt er selbst (19,17) und am Ende stirbt er selbstbestimmt: Vom Kreuz herab erklärt er sein Heilswerk für „vollendet“, „neigt sein Haupt und übergibt den Geist“ (19,30). Im Verhör durch den Hohepriester und im Prozess vor Pilatus ist er nicht der leidende Gerechte, der alle Vorwürfe schweigend erträgt, sondern der Weise par excellence: Er spricht „freimütig“ (18,20), antwortet schlagfertig (18,23.34 etc.), argumentiert und erweist seine Vollmacht im Wort. Als „Zeuge“ der Wahrheit (18,37) ist er unbesorgt um das eigene Leben, das er ganz in den Dienst seines Vaters gestellt weiß, und redet unerschrocken die „Wahrheit“. Weil er diese in Person ist (14,6), überbietet er, wie die Stilisierung des Pilatus-Prozesses suggeriert, das Vorbild weiser Philosophen vor den Gerichten der Mächtigen dieser Erde bei weitem. (2) Das Porträt der „Jünger“ Jesu ist nicht von der Absicht bestimmt, sie zu schonen, sondern stilisiert sie zum Modell für die Leser. Wenn der Evangelist ihre Flucht nicht erwähnt, dafür aber erklärt, dass Jesus vor seiner Verhaftung ihren freien Abzug befohlen habe (18,8), sollen die Leser sich an ein Wort Jesu erinnern, das nun 102 Damit scheint sie doketischen Christologien den Boden zu bereiten; die Streichung der Getsemani-Szene bzw. deren radikale Umgestaltung (12,27–33) könnte so gedeutet werden. 103  Der Evangelist hat diesem Zug auch dadurch großes Gewicht verliehen, dass er Jesus in seiner Abschiedsrede (13,31–14,31) vorweg den Jüngern Sinn und Notwendigkeit seines Todes und seiner Wiederkunft an Ostern erklären lässt. Diese Rede ist nichts anderes als ein vorweg­ genommener Kommentar zur Passions- und Ostererzählung, wie Weidemann, Tod („Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions- und Osterbericht“), aufgewiesen hat. 104  Jesus wird von den Häschern nicht überwältigt, sondern gibt sich ihnen aus eigener Vollmacht in die Hand. Wenn er sein göttliches ἐγώ εἰμι spricht, fallen sie zu Boden (18,6).

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in Erfüllung geht: „Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast“ (18,9). Die Freigabe der Jünger ist Bild ihrer Befreiung. Ähnlich verhält es sich beim Versagen des Petrus. Als dieser beim letzten Mahl seinem Herrn verspricht, ihm nachzufolgen, selbst wenn der Einsatz seines Lebens gefordert wäre (13,36; vgl. 18,10 f.), kündigt Jesus ihm nicht nur seine Verleugnung an (13,38), sondern lenkt seinen Blick auf jenen Tag, da wahre Nachfolge möglich sein wird: „Wohin ich gehe, kannst du mir jetzt nicht folgen (ἀκολουθῆσαι), du wirst mir aber später folgen (ἀκολουθήσεις)“ (13,36). Nachfolge ist „keine menschliche Möglichkeit, mag auch der Einsatz des Lebens gefordert sein, sie zu ergreifen“105. „[Z]ur Möglichkeit“ ist sie erst geworden „auf Grund des Sieges Jesu über die Welt“ in Gestalt nachösterlichen Glaubens106 . Nicht das Versagen des Petrus, sondern das Wesen der Nachfolge ist das Thema des Zwiegesprächs 13,36–38.

Wie Glaube erst aufgrund des heilsbegründenden Weg-Gangs Jesu im Tod möglich wird, so erst recht verstehender Glauben: „Was ich tue, verstehst du jetzt nicht, du wirst es aber danach verstehen“, erklärt Jesus dem Petrus, als dieser sich weigert, den Liebesdienst seines Herrn in der Fußwaschung anzunehmen (13,6). Was Jesus dem Petrus sagt, gilt allen, damit auch dem Leser: Erst „danach“, im Bedenken dessen, was Jesu Tod an Heilsperspektive eröffnet, ist es möglich, den Niedrigkeitsdienst Jesu, der für die Liebestat seines Sterbens steht, zu „verstehen“. (3) Veranlasst durch die Bemerkung der PElk/joh vom „Eingang des Satans“ in Judas, entwickelt Johannes eine satanalogische Deutung des Todes Jesu. Im Unterschied zu Lukas, der den „Satan“ auch in der Versuchung der Jünger (Lk  22,31) bis in die Gegenwart hinein sein Unwesen treiben sieht (Lk  10,17–20)107, erklärt Johannes ihn seiner Christozentrik entsprechend zum entscheidenden Widersacher Jesu. Er steigert seine mythische Potenz, wenn er ihn „Herrscher der Welt“ nennt (12,31; 14,30 und 16,11), und macht sein Unwesen daran fest, dass er „Menschenmörder von Anfang an“ (vgl. Gen  3) und sein Wesen „die Lüge“ ist (8,44)108: Der Teufel „begehrt“ zu morden, um die Wahrheit mundtot zu machen. Beim Kommen des Offenbarers der „Wahrheit“ ergreift er die Gelegenheit und sucht den zu besiegen, der nicht nur „die Wahrheit sagt“ (8,45), sondern sie in Person ist (ἀλήθεια) (14,6). Um Jesus zu beseitigen, bedient er sich des Judas, der seinen Herrn „ausliefert“. Scheint der Satan im Tod Jesu über „die Wahrheit“ zu triumphieren, so ist dieser Sieg doch seine Entmachtung: „Jetzt ist Gericht über diese Welt, jetzt wird der Herrscher dieser Welt herausgeworfen werden (ἐκβληθήσεται ἔξω)109. Ich aber, wenn ich erhöht bin von der Erde, werde alle zu mir ziehen“ (12,31 f.). Unmittelbar vor seiner Verhaftung im Garten erklärt Jesus den Seinen: „Ich werde nicht mehr 105 

Bultmann, Joh 460. Ebd. 461. 107  Ist Satan „aus dem Himmel“ gestürzt, so setzt er seine Unwesen auf Erden fort, wiewohl die Jünger von Jesus die Vollmacht „über jegliche Macht des Feindes“ erhalten haben; vgl. Theobald, Satan 174–190; zu Joh ders., Widersacher 175–199. 108  Die „Wahrheit“ Gottes ist für Joh die eigentliche Wirklichkeit, „die Lüge“ keine dualistische Gegenwirklichkeit, sondern Verdunklung der Wahrheit: „Finsternis“ (1,5; 8,12; 12,35; 13,30). 109  ἐκβάλλω: ein exorzistischer terminus technicus, vgl. Mk 1,34.39; 3,15.22 f.; 6,13 etc. 106 

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viel mit euch reden, denn es kommt der Herrscher der Welt, aber an mir hat er nichts“ (14,30). Der Satan als vermeintlicher Weltenherrscher kommt in der Person des Judas (18,2 f.), aber Jesus kann er nichts anhaben. Seine Kreuzigung ist der „endgültige Exorzismus“ des Bösen110 . (4) Die Gegner Jesu auf der Bühne des Passionsdramas sind die hohen Priester, Jerusalems Autoritäten, in johanneischer Diktion „die Juden“ (οἱ Ἰουδαῖοι). Auch bei ihnen lenkt der Evangelist wie schon bei Judas den Blick hinter die Kulissen und lässt durchblicken, dass sie eigentlich fremdbestimmt sind: (a) Im Vorfeld der Passionserzählung erklärt Jesus in 8,44 „den Juden“: „Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und wollt die Begierden eures Vaters tun“, denn ihr trachtet den zu töten, der euch die Wahrheit sagt (8,37.40). Den Offenbarer der „Wahrheit“ zu töten ist diabolisch111. (b) Am Anfang der Passionerzählung heißt es: „Judas also nahm die Kohorte und von den hohen Priestern und von den Pharisäern die Diener“ (18,3). Hier erscheint er als Repräsentant des „Herrschers der Welt“ (vgl. 14,30), der ein Heer befehligt, das, bestehend aus einer römischen Kohorte und den Dienern der jüdischen Autoritäten, den Ansturm der Welt (κόσμος) gegen den Offenbarer abbildet, entsprechend der kosmischen Macht des ἄρχων τοῦ κόσμου. Die hohen Priester, die der „Welt“ zugerechnet werden, stehen damit gleichfalls unter Satans Einfluss.

Wenn der Evangelist allerdings in 12,39–43 seine Erzählung vom Wirken Jesu unter „den Juden“ mit Jes  6 ,10 beschließt: „deshalb konnten sie nicht glauben, denn wiederum sagte Jesaja: Er hat ihre Augen geblendet und ihr Herz verhärtet […]“, lastet er die Verantwortung für deren Nein in letzter Instanz Gott auf. Er ist der Herr der Geschichte, der auch noch das Wirken Satans umgreift und für die Geschicke der Menschen verantwortlich ist. Dem widerspricht nicht, dass Jesus in 19,11 dem Statt­halter antwortet: „[…] der mich dir ausgeliefert hat (ὁ παραδούς), hat größere Schuld“112 . „Unter der Formulierung ‚größere Schuld‘ ist keine juristische oder moralische Verantwortung zu verstehen, sondern die Blindheit gegenüber der Offenbarung. Weil sie in Jesus die ganze und letztgültige Gegenwart Gottes nicht er-

110  Berger, Anfang 171. Deshalb übergeht Joh auch die Exorzismen des irdischen Jesus. – Die satanologische Deutung des Todes Jesu steht im Zusammenhang mit dessen Pascha-Kolorit: Schlund, Deutungen 407 f.: [S]o wie der Mastema des Jubiläenbuches, (verliert auch ‚der Herrscher der Welt‘ an Pascha) seine Macht […]. Schutz vor dem Bösen ist zentraler Inhalt des Pesach, und Schutz der johanneischen Jüngergruppe scheint auch insgesamt im Johannesevangelium ein zentrales Moment zu sein“; vgl. zuvor Weidemann, Tod 423–450. 111  8,44 darf keinesfalls aus dem Bezug zum Tod Jesu gelöst und zur generellen Aussage einer Teufelskindschaft der Juden abstrahiert werden, wie in der Vergangenheit oft genug geschehen; auch in der hier vorgelegten Deutung unterliegt der Satz und damit die von ihm angezeigte joh. Konzeption theologischer Sachkritik. 112  Der Singular ὁ παραδούς με σοί hat „generellen Charakter“ (Schnackenburg, Joh III 302) und meint die jüdischen Autoritäten, aber παραδίδωμι assoziiert auch den „Auslieferer“ Judas (vgl. Joh  6 ,64.71; 13,2); mit Klauck, Judas 91, ist zu fragen, „ob sich auch hier die Bestrebung anbahnt, Judasgestalt und Judentum gleichzusetzen“. Lona, Judas 39: Judas übernimmt „die Rolle, die ihn dem Teufel, dem ‚Menschenmörder‘, der von Anfang an sündigt, gleichstellt. Logischerweise betrifft diese Gleichsetzung auch die Juden, die wie er Jesus ablehnen und verurteilen“.

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kannt haben, haben sie – zuerst Judas und dann die jüdischen Eliten – Jesus ‚ausgeliefert‘“113. Der Terminus οἱ Ἰουδαῖοι ist zwar auf die Eliten Jerusalems und Judäas fokussiert, erhält aber im Gegenüber zu Pilatus als erklärtem Nicht-Juden (18,35)114 einen erheblichen Bedeutungszuwachs: Die hohen Priester treten in der Passionserzählung, wie im Evangelium insgesamt, nicht nur als Verantwortliche Jerusalems und Judäas auf, sondern auch als Repräsentanten des jüdischen Volkes. Dieser Bedeutungszuwachs ist durch die Erzählweise des Evangelisten bedingt, da er den eigenen Horizont mit dem des Erzählten verschmilzt bzw. – umgekehrt – in der Jesus-­ Geschichte die Geschicke der eigenen Gemeinden vorgebildet sieht. Seine generalisierende Rede von „den Juden“ ist, so gesehen, Ausdruck der Entfremdung vom Synagogenverband, in dem die joh. Christen ursprünglich beheimatet waren. Die Trennung der Wege, die sie erfahren und erleiden mussten, hat auf die Jesus-Erzählung des Evangelisten abgefärbt. (5) Drei Züge zeichnen das Pilatus-Bild des vierten Evangeliums im Vergleich zu dem der Synoptiker aus: (a) eine Art „Theologisierung“ der Figur, (b) die sich an sie heftende Unterscheidung von Religion und Politik und – im gewissen Sinne dazu gegenläufig – (c) die am Agieren des Pilatus veranschaulichte Unmöglichkeit, angesichts des absoluten Wahrheitsanspruchs des Offenbarers neutral bleiben zu können. (a) Wenn Pilatus Jesus erklärt: „[…] Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht habe, dich kreuzigen zu lassen?“ (19,10), pocht er auf seine politische Rechtsstellung. Die Antwort Jesu: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre […]“ (19,11), sollte ihn aber eines Besseren belehren. Wie immer er entscheidet, er ist „nur der verlängerte Arm Gottes“115. Der Evangelist zeigt dies auch daran, wie Pilatus durch sein Agieren unwissentlich zur Epiphanie Jesu beiträgt. Wenn er Jesus „den Juden“ als Spottkönig vorführt, um die Harmlosigkeit und Unschuld des Angeklagten vor Augen zu führen, trägt das Schauspiel in der Mitte der Episodenfolge in Wahrheit dazu bei, dass der Leser, der hinter die Oberfläche zu blicken vermag, die Göttlichkeit Jesu als des wahren „Königs“ und „Menschen“ wahrnehmen kann. Im Angesicht der entehrten Gestalt Jesu soll er sich „an die Paradoxie“ erinnern, „dass der am Kreuz scheinbar Erniedrigte in Wirklichkeit der Erhöhte und Verherrlichte ist“116 . Am Ende bekräftigt Pilatus „gleichsam urkundlich“ (Theodor Zahn) mit dem in drei Sprachen verfassten titulus crucis den Anspruch Jesu und bleibt bei dem, was er „geschrieben hat“ – gegen den Protest der „hohen Priester der Juden“ (19,21), die befürchten, der Titel könnte „den Anschein erwecken, als erkenne der Vertreter des Imperiums Jesus als den βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων tatsächlich an“117. So wird Pilatus „ein unfreiwilliger und unbewusster, aber trotzdem wirksamer öffentlicher, ja offizieller Verkündiger des Evangeliums für Juden und Heiden, für die Ökumene der drei Sprachen“118 . 113 

Zumstein, Joh 709. Zu 18,35 vgl. oben II.  9.5 unter (1). 115  Ebd. 709. 116  Schnackenburg, Joh III 296. 117  Schlier, Jesus 74 (dort auch der Verweis auf Theodor Zahn). 118 Ebd.; Anm. 35: „Nur für offizielle Urkunden, Inschriften und dergl. wurde schon seit ­ äsars Zeit auch das Lateinische angewandt“ (Emil Schürer). C 114 

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Die joh. Inszenierung des Prozesses weist der Pilatus-Figur einen Platz im göttlichen Heilsplan zu, womit sie weit über die synoptische Darstellung hinausgeht. Liefert der Statthalter Jesus zur Kreuzigung aus, geschieht das nicht ohne Gottes Einwilligung, ja es entspricht, so paradox es klingt, seiner Absicht, Jesus aller Welt als Zeichen des Heils zu präsentieren. (b) Dreimal lässt Johannes Pilatus Jesus für unschuldig erklären (18,38; 19,4.6; vgl. Lk  23,4.14.22), worin er sich mit Lukas, gestützt auf die gemeinsame Passionsüberlieferung (PElk/joh), trifft. Darüber hinaus vertieft er die Erklärungen des Pilatus als politisches Urteil, das er vom religiösen „Gesetz“ der Ankläger ausdrücklich unterscheidet. Wenn „die Juden“ Jesus wegen seines Anspruchs, Gottes Sohn zu sein, der Blasphemie bezichtigen (vgl. 19,7), können sie das nur auf der Basis „ihres Gesetzes“ (18,31), das für die politische Sicht des Statthalters bedeutungslos ist. Die Unterscheidung zwischen Politik und Religion demonstriert der Evangelist vor allem an der Antwort Jesu auf die Frage des Pilatus, ob er „der König der Juden“ sei. Jesus bejaht zwar, aber nicht in dem vom Statthalter insinuierten Sinn: Er beansprucht keine „politische Würde, die ihm der Vertreter der staatlichen Macht nicht zuerkennen könnte“119, denn „sein Reich ist nicht von dieser Welt“. Zum Beweis führt er an, nicht über Truppen zu verfügen, die seine Gefangennahme hätten verhindern können (18,36), wie er auch dem Petrus befahl, „sein Schwert in die Scheide zu stecken“ (18,11). Der vom Evangelisten sorgfältig gestaltete Dialog mit seiner Differenzierung des βασιλεία-Begriffs verrät apologetisches Interesse: Die sich auf Jesus berufen, sollen von den Vertretern des Imperiums nicht politischer Unzuverlässigkeit beschuldigt werden, weil sie sich auf den Namen eines von den Römern Gekreuzigten berufen. (c) Die Feststellung, Jesu „Reich (sei) nicht von dieser Welt“, so zu deuten, als sei es „in“ dieser Welt120 nicht von Relevanz, wäre ein Missverständnis. Wie die Christen „nicht aus der Welt“ (17,14.16), aber „in der Welt sind“ (17,11), so ist auch das „Reich“ Jesu der Welt überlegen, weil es aus der jenseitigen Welt Gottes stammt, tritt aber hier und jetzt „in“ der Welt in Erscheinung. Die Weise seines In-Erscheinung-Tretens ist die Offenbarung oder Kundgabe der „Wahrheit“ Gottes: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren worden und dazu in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme“ (18,37). Weil das Zeugnis für die „Wahrheit“ jeden Menschen angeht, muss sich auch jeder zu ihr verhalten. Neutralität gibt es nicht. Mit seiner Frage: „Was ist Wahrheit?“ meint Pilatus zwar, dem Anspruch Jesu ausweichen zu 119 

Bultmann, Joh 505. die ActPil  3(2) (Version B: Tischendorf): ἡ βασιλεία ἡ ἐμὴ οὐκ ἔστιν ἐν τῷ κόσμῳ τούτῳ. Euseb, HistEccl  3,20,4, über die Enkel des Judas, des Bruders Jesu, vor Kaiser Domitian: „Als man sie über Christus und sein Reich befragte, von welcher Art es sei, wo und wann es erscheine, antworteten sie, es sei nicht von dieser Welt und Erde (οὐ κομσμικὴ μὲν οὐδ’ ἐπιγείος), vielmehr himmlisch und von der Art der Engel (ἐπουράνιος δὲ καὶ ἀγγελικὴ), und komme erst am Ende der Welt, wenn Christus in Herrlichkeit erscheint, um die Lebenden und die Toten zu richten […]“. Schlier, Jesus 61 f. 120  So

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können, negiert ihn aber faktisch121. Er verkehrt die Wahrheit in die Lüge, indem er Jesus aus Opportunitätsgründen gegen seine bessere Einsicht dem Tod ausliefert. Heinrich Schlier (1940) und Rudolf Bultmann (1941) legten den Text unter dem Eindruck des Nationalsozialismus in Sensibiltiät für sein politisches Sinnpotential aus, worin andere ihnen später folgten122 . Schlier sieht die „politisch relevante Art des Reiches Jesu“123 darin, dass „der Sachverhalt, ‚Zeuge für die Wahrheit sein‘, johanneisch ein umfassender ist […]. König ist also Jesus so, dass er in seinem sich hingebenden Wirken die alle angehende gött­ liche Wirklichkeit der Gnade aufdeckt und in Wort und Werk und Person die Welt zur Entscheidung für oder gegen diese Herrschaft der Wahrheit aufruft“124. Das Wesen der Welt macht es unvermeidlich: „Der Zeuge der Wahrheit wird zum Märtyrer der Wahrheit“125. Bultmann kommentiert: „[W]enn Jesu Anspruch auch den Staat als solchen nicht trifft, wenn seine βασιλεία auch nicht in Konkurrenz mit weltlichen politischen Bildungen tritt, so lässt sein Anspruch doch, da er jeden Menschen trifft, die Welt nicht zur Ruhe kommen und erregt so die Sphäre, innerhalb deren der Staat seine Ordnung aufrichtet. Denn die βασιλεία ist nicht eine gegen die Welt isolierte Sphäre reiner Innerlichkeit, nicht ein privater Bezirk der Pflege religiöser Bedürfnisse, der mit der Welt nicht in Konflikt kommen könnte. Jesu Wort entlarvt die Welt als eine Welt der Sünde und fordert sie heraus […]“126 .

Schlier bemerkt zu Recht, dass die Frage, was die Begründung des „Reiches“ Jesu in seiner Zeugenschaft für die Wahrheit (18,37) und Bereitschaft zum Opfer (18,36c–e) „für die Glieder dieses Reiches und ihr Handeln bedeutet“, eine „von Johannes hier nicht berücksichtigte Frage“ ist127. Gleiches gilt für die Rede von Jesus als absolutem „Zeugen der Wahrheit“, insofern sie eine Relativierung staatlicher Gewalt impliziert, zumal dann, wenn diese sich totalitär gebärdet und zur höchsten Instanz erklärt, an der Menschen zu messen sind. Eine solche „politische Theologie“ liegt im Text bereit, um zu gegebener Stunde entfaltet zu werden. Das Bemühen des Evangelisten zielte im Interesse christlicher Identitätsbildung dahin, ein unmittelbar politisches Missverständnis der Person Jesu abzuwehren. Wenn er die Gewaltlosigkeit als Wesensmerkmal der βασιλεία Jesu (18,36c–e) hervorhebt, entspricht das der Botschaft des historischen Jesus: „Jesu Gewaltverzicht, das hat Johannes richtig gesehen, hängt mit dem Wesen seiner Verkündigung zusammen. Die ‚Gottesherrschaft‘, wie Jesus sie verkündet hat, ist die ‚befreiende Heilsherrschaft der Liebe‘, der jede Anwendung von Gewalt, zumal im physischen Sinn, zutiefst widerspricht“128 . 121 

Siehe oben II.  9.5 unter (3) (c). In jüngerer Zeit vor allem J. Blank, Joh IV/3, 75–87; ebd. 83: „Man hätte […] die johanne­ ische Aussage falsch verstanden, wollte man das ‚mein Reich ist nicht von dieser Welt‘ so verstehen, als wolle Jesus damit eine ‚schlechthin unpolitische‘ Größe bezeichnen. Es ist gerade der nichtwelthafte Charakter dieses Reiches, durch den es auch die gesamte politische Sphäre an ihrer Wurzel tangiert und in Frage stellt. Vor dieser Warte stellt die politische Macht mit allen ihren Möglichkeiten keine letzte Instanz und keinen letzten Sinngrund dar […]“. 123  Schlier, Jesus 63. 124  Ebd. 64 (Kursive von mir). 125  Ebd. 69; näherhin zu seiner Auffassung zum Staat, die er auch in anderen Essays niedergelegt hat, vgl. Von Bendemann, Heinrich Schlier 338–341. 126  Bultmann, Joh 508. 127  Schlier, Jesus 63. 128 J. Blank, Joh IV/3, 82 f. 122 

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(6) Mit der Kreuzigungsszene findet die Johannespassion zu einer besonderen symbolischen Dichte. Worte wie „Mich dürstet!“ und Zeichen wie „Blut und Wasser“ besitzen tiefere Bedeutung129. Diese wohnt einzelnen Zügen, aber auch der Erzählung insgesamt inne: Das Sterben Jesu wird mittels unaufdringlicher Symbolik so erzählt, dass die göttliche Seite des Geschehens transparent wird. Die sich dabei abzeichnende Theologie des Todes Jesu lässt sich in dreifacher Hinsicht (Gott  – Jesus – Pneuma) skizzieren. (a) Im Unterschied zur Markuspassion (Mk  15,34.39) ist von Gott in der ganzen Szene kein einziges Mal die Rede. Dennoch ist er anwesend. Wenn Jesus ruft: „Mich dürstet!“, erfasst ihn nicht leiblicher Durst, sondern der Durst nach Gott, der unbedingte Wunsch, dass Gottes Wille sich auf Golgota erfüllt. Das metaphorische Gegenstück bietet 4,34: „Meine Speise ist es, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und ich sein Werk vollende (τελειώσω)“. Lebt der Mensch von Speise und Trank, so Jesus vom Tun des Willens seines Vaters. Im Augenblick, da er ihn gänzlich erfüllt, ist sein Lebenssinn „erfüllt“ – im Tod! Auch die narrative Einbettung des Durst-Rufs durch den Evangelisten verweist auf Gott: „Damit die Schrift vollendet würde (τελειωθῇ), spricht er: Mich dürstet“. Nicht nur eine bestimmte Schriftstelle (Ps  69,22) soll sich erfüllen, sondern der in der Schrift dokumentierte Gotteswille überhaupt „vollendet“ (τελειόω) sich im Sterben Jesu. Im Vorfeld der Passionserzählung unterstreicht vor allem die Rede von der „Verherrlichung“ und „Erhöhung“ des Menschensohnes durch Gott (3,14; 7,39; 12,23; 13,31 f.130) die Theozentrik der joh. Deutung des Todes Jesu131: Gott ist es, der Jesus in seinem Tod in die Herrlichkeit des ewigen Lebens zu sich erhöht. Hinter den beiden Sprachmodellen132 steht die Absicht des Evangelisten, den Vorwurf des Di-Theismus, den die Synagogen gegen die hohe joh. Christologie erhoben, zu entkräften (siehe oben).

(b) Redet der Evangelist vom Tod Jesu aus der korrespondierenden Perspektive des Sohnes, greift er auf Weg-Metaphern zurück: Jesus „geht“ im Tod „zum Vater“ (14,12.28; vgl. 8,21; 13,33) oder „steigt hinauf“ zu ihm (3,13; 6,62; vgl. 20,17). Beide Metaphern schauen ineins, was die Synoptiker nacheinander erzählen: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen ausgeliefert, und sie werden ihn töten, und, getötet, wird er nach drei Tagen auferstehen“ (Mk  8,31). Anders der vierte Evangelist: Die Rettung Jesu aus dem Tod „geschieht“ nicht nach Ablauf einer messbaren Zeitspanne („nach drei Tagen“), sondern ist aus Sicht des Glaubens die andere Seite seines Sterbens selbst. Die Metaphern vom „Gehen“ und „Hinaufsteigen“ geben noch einen weiteren Aspekt zu denken auf, den der Selbstbestimmtheit Jesu. Christologisch gründet er in der Vorstellung, dass Jesus seit seiner Taufe Geistträger ist, „der Geist bleibend 129 

Das Folgende fußt auf II.  10.4, siehe dort die Details. Es sind duchweg passiva divina. 131  Maßgebend für beide Sprachmodelle ist Jes  52,13LXX: „Siehe, mein Knecht wird zur Einsicht kommen und wird erhöht und überaus geehrt werden (ὑψωθήσεται καὶ δοξασθήσεται σφρόδρα)“. 132  Vgl. auch die Rede von Gott bzw. dem Vater, der Jesus „gesandt hat“, welche das ganze Evangelium durchzieht. 130 

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auf ihm ruht“ (μένον ἐπ’ αὐτόν: 1,32 f.) bzw. der Vater ihm von Anfang an „gegeben hat, Leben in sich zu haben“ (5,26)133. Stammt Jesus „aus dem Himmel“ (bzw. gründet seine Existenz dort), so „geht“ er im Tod auch dorthin wieder zurück (3,13). Die Sicht des Todes Jesu scheint paradox: Einerseits liegt alle rettende Aktivität beim Vater, der seinen Sohn „erhöht“ – entsprechend dem Umstand, dass der Sterbende in absoluter Passivität zu versinken scheint. Andererseits bleibt Jesus, obwohl sterbend, doch frei und selbstbestimmt. Die metaphorische Rede von seinem „Gehen“ zum Vater besitzt auch anthropologische Implikationen, die zu erkennen hilft, die paradoxe Rede vom Sterben als „Hingang“ zum Vater besser zu verstehen: Die erste betrifft die jüdisch adaptierte „hellenistische“ Anthropologie des Evangelisten, nach der die Geistseele des Frommen (πνεῦμα oder ψυχή) sich im Tod vom σῶμα trennt und zu Gott heimkehrt134. Koh  12,5.7 zufolge „geht der Mensch in das Haus seiner Ewigkeit […]; der Staub (ὁ χοῦς) kehrt zur Erde zurück, wie er war, und der Lebensodem kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat (τὸ πνεῦμα ἐπιστρέψῃ πρὸς τὸν θεόν, ὃς ἔδωκεν αὐτό)“. So „übergibt“ Jesus im Augenblick seines Todes seinen Lebensodem dem Vater. Seine Geistseele kehrt zu Gott zurück. Auch Lukas setzt jene vulgärplatonische Anthropologie voraus, wenn er Jesus dem bußwilligen Schächer sagen lässt: „Amen, ich sage Dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk  23,42). Die zweite Implikation der joh. Weg-Christologie hat größere Reichweite. Sie betrifft die Grundfrage des Menschen, die jede Zeit neu und anders stellt. Die Gnosis fragt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich (zurück)? Nach Meinung des Johannes richtet sich die Grundfrage des Menschen auf „Leben“ und „Tod“: „Wie bekommt man als ‚Fleisch’ (3,6; 6,63) und darum Toter (5,25) ewiges Leben?“135 Von Anfang bis Ende kreist das Evangelium um den „Transitus vom Tod ins Leben“ (Joh  5,24; vgl. 1Joh  3,14). Die Auferweckung des Lazarus, Grundsymbol der Überwindung des Todes, ist nicht zufällig das siebte und letzte „Zeichen“. Jesu Tod, als „Hingang“ zum Vater gedeutet, bietet die Basis. Die joh. Theologie des Todes Jesu ist erst dann sachgemäß erfasst, wenn ihre soteriologische Ausrichtung klar ist. Das letzte Wort Jesu: „Es ist vollbracht!“ bezieht sich nicht allein auf ihn, sondern auf Gottes Heils-„Werk“ insgesamt: Der Tod Jesu ist Ermöglichungsgrund wahren Lebens für alle. Erschlossen und vergegenwärtigt wird dieses Heilswerk durch den Geist Gottes.

(c) Pneuma ist die dritte Dimension des Todesgeschehens, das Johannes zur Darstellung bringt, wenn er auf den Spuren seiner Vorlage (PEjoh) davon erzählt, dass aus der durchstochenen Seite des Leichnams Jesu „Blut und Wasser“ hervortreten (19,34). Was 7,38 ankündigt, erfüllt sich durch sein Sterben: „Ströme von lebendigem Wasser werden aus seinem Inneren fließen“. Dem Kommentarsatz 7,39 zufolge bezieht sich dies auf „den Geist“, „den diejenigen empfangen sollten, die zum Glauben an ihn gekommen waren; denn noch war kein Geist, denn Jesus war noch nicht verherrlicht“. Die Ostererzählung stellt dem ein weiteres Bild zur Seite: Jesus zeigt 133  5,26 verbindet Theozentrik und hohe Christologie: „Wie nämlich der Vater Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben (δέδωκεν), Leben in sich zu haben“. Die Lebensfülle des Sohnes ist gegeben, abgeleitet – im Unterschied zum Vater, der das „Leben“ selbst ist. 134 Ausführlich Theobald, Eschatologie; vgl. auch Weidemann, Tod 388–390. 135  Becker, Christentum 121. Ausgearbeitet ist diese Grundfrage als hermeneutischer Schlüssel zur joh. Christologie in: Theobald, Joh I 48–59.

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den Jüngern „seine Hände und seine Seite“, womit an 19,34 erinnert wird, er „haucht“ sie „an“ und spricht: „Empfangt heiligen Geist!“ Wie die Anspielung auf Gen  2,7 zeigt, steht das Bild vom „Anhauchen“ bzw. „Einblasen“ (ἐμφυσάω) des Geistes für die Neuschöpfung des Menschen. Der im Tod zum Vater Gegangene gibt Anteil am Leben, er führt aus dem „Kerker unserer Endlichkeit“136 in die Freiheit des „Hauses des Vaters“ (14,2 f.), nimmt seine Jüngerinnen und Jünger in sein Sohnesverhältnis auf und schenkt ihnen Gottes Kindschaft (20,17; vgl. 1,12). Deren Wesen ist „Friede“ (εἰρήνη), „nicht wie die Welt (ihn) gibt“ (14,27; vgl. 20,19.21.26), den „Friede(n) des Todes“137, sondern „sein Friede, in dem sie sich entdecken müssen, um so die ‚volle innere Ruhe‘ zu gewinnen“138 – „im Vollzug der gläubigen Existenz, die eben darin eschatologische Existenz ist, dass sie ständig die Welt überwindet und sich aus der schon gewonnenen Zukunft versteht“139. Was schon zur Szene der Kreuzigung Jesu ausgeführt wurde, gilt auch hier: Nach Johannes geschieht „Ostern“ nicht „nach drei Tagen“, sondern ist die Kehrseite des Todes Jesu. „Ostern“ ist auch kein vergangenes Ereignis, sondern ereignet sich überall dort, wo Jesus im Geist zu den Menschen „kommt“, wie die Erzählung von seinem „Kommen“ am Abend des ersten Ostertages veranschaulicht und die erste Abschiedsrede Jesu vorweg theologisch klarstellt (14,18–26). 1.2.5 Theologische Pluralität Wer die vier Passionserzählungen Revue passieren lässt, dem begegnen vier verschiedene Bilder ein- und desselben Geschehens, jedes mit eigenem Profil und eigener Botschaft. Sie lassen sich nicht miteinander harmonisieren, sondern stehen jeweils für sich. Abgesehen vom unterschiedlichen Erzählstil differieren sie vor allem im Verständnis des Todes Jesu. Markus und Matthäus greifen als Leitkategorie die kultische Vorstellung vom Sühne-„Blut“ auf, das Jesus zur Vergebung der Sünden der Vielen vergossen hat (Mk  14,24; Mt  26,28). Lukas und Johannes entwickeln eine Weg-Christologie, beide auf je eigene Weise. Lukas porträtiert Jesus als Messias und vorbildlichen Märtyrer, der „leiden musste“, um „in seine Herrlichkeit einzugehen“ (Lk  24,26), wobei er Jesu Weg vom Kreuz zur Auferstehung „am dritten Tag“ (Lk  24,7.46) bis zu seiner „Aufnahme“ in den Himmel (Lk  9,51; 24,50 f.; Apg  1,3.9–11) auszieht. Dem Sterben weist er keine eigenständige Heilsbedeutung zu, sondern sieht es als „Durchgangsstation“ auf dem Weg in die „Herrlichkeit“ Gottes, die im Licht der Schrift freilich „notwendig“ ist. Johannes fokussiert die Heilsfrage auf den Tod Jesu. Er bietet eine radikalisierte Weg-Christologie, erklärt Jesus selbst zum „Weg“ (Joh  14,6: ἐγώ εἰμι ἡ ὁδός), insofern Jesus in seinem Sterben die Bresche aus dem Totenhaus der Welt ins „Haus des Vaters“ geschlagen und damit allen, die an ihn glauben, hier und jetzt „ewiges Leben“ erschlossen hat. 136 

Rahner, Erfahrungen 50. Bultmann, Joh 486. 138  Ebd. 486. 139  Ebd. 458. 137 

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Auch in der Porträtierung derer, die den Tod Jesu zu verantworten haben, differieren die vier Bilder. Das jeweilige Verhältnis der Autoren und ihrer Gemeinden zu den Synagogen bzw. Israel wird transparent. Matthäus und Johannes zeigen sich von der Frage unmittelbar betroffen. Matthäus, der für die Völkermission eintritt, ringt um den Platz seiner Ekklesien in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Synagogen, bei Johannes klingt der Syngagogenausschluss seiner Gemeinden nach. Markus und Lukas sehen ihre Gemeinden, die wohl hauptsächlich aus Völkerchristen bestehen, an Israels Seite, wobei der Historiker Lukas sich darum müht, die Wurzeln der Kirche in Israel aufzuzeigen, indem er in seinem Doppelwerk erzählt, wie alles geworden ist. Die Fragen der Menschen, auf welche die Evangelisten mit ihren Passionserzählungen antworten, auch die Milieus, in denen sie beheimatet sind, differieren. Schriftgelehrsamkeit und an der Septuaginta geschulte Sprache des Matthäus verweisen auf einen Schulkontext, das literarisch anspruchsvolle Geschichtswerk des Lukas lässt einen intellektuellen Anspruch durchscheinen und auch Johannes hat mit seiner Dramatisierung der Passion ein geschultes Publikum vor Augen. Die theologische Pluralität der vier Passionserzählungen hängt wesentlich mit ihrem Zeit- und Situationsindex zusammen. Die Bilder, die sie entwerfen, sind kontextuell bedingt, es sind Botschaften zur gegebenen Stunde. Das Evangelium gibt es nur in solcher zeitgeschichtlich sensiblen Ausformung, seine plurale Bezeugung ist die notwendige Folge. Dies darf nicht negativ gesehen werden, sondern im Gegenteil als Ermunterung, es in die jeweils gegebene Zeit zu übersetzen.

Exkurs 13: Das Grauenvolle der Kreuzigung und die Ästhetik von KreuzesDarstellungen in der Kunst Es gibt „[n]ur ganz wenige Schilderungen von Kreuzigungen aus der Antike […]. Sie waren antiken Autoren in der Regel zu unappetitlich“140 . Deshalb stellen die Passionserzählungen das Grauenvolle der Kreuzigung auch nicht dar141. Sie wollen nicht abstoßen, sondern Bilder der Erinnerung formen, die einladen, im Glauben betrachtet zu werden. Dass sich „die Christenheit lange gegen eine anschauliche Darstellung des Gekreuzigten gewehrt hat“142 , verwundert nicht. Das Kreuz war „für die Völker eine Torheit“ (1Kor  1,23)143. 140  Hengel, Messias 52 f.; ders., Crucifixion. Cic, Verr  2 ,5,165, nennt die Kreuzigung „crudelissimum taeterrimumque supplicium“ (die grausamsate und abscheulichste Hinrichtungsart), oft auch servile supplicium genannt, vgl. H.-W. Kuhn, Gekreuzigter 8 f. 141  Im Unterschied etwa zu den Schilderungen von Folterungen der Märtyrer in den Makka­ bäerbüchern. 142  Köpf, Passion 24. 143  Mit ihrer Verkündigung des Gekreuzigten provozierten die Christen „den ältesten Fall antichristlicher Blasphemie“ (Wallraff, Spottkruzifix 162, über das berühmte Spottkruzifix vom Palatin); ebd. 158: Das Graffitio (frühes [?] 3.  Jh.) „ist das erste archäologische Zeugnis des Christentums im monumentalen Zentrum der Stadt Rom“, „die mit großem Abstand erste bildliche Darstellung des christlichen Kreuzes“ und „eine der ganz wenigen Darstellungen von Kreuzigung in der Antike“. Ebd. 161: „Nach meiner Kenntnis ist nur eine einzige bildliche Darstellung

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Es löste Abscheu aus und brandmarkte Jesus als Verbrecher und Rebell. Die frühesten bekannten Darstellungen des Gekreuzigten stammen aus dem 5.  Jh.144. Noch Ende des 6.  Jh.s berichtet Gregor von Tours, dass in Narbonne eine Kreuzigungsdarstellung öffentliches Ärgernis erregte145. Jahrhundertelang wird der Gekreuzigte zumeist als Sieger über den Tod dargestellt, was sich erst mit der zu Beginn des Mittelalters aufkommenden Passionsfrömmigkeit ändert146 . Der Gekreuzigte zeigt dann nicht nur die eigenen Wundmale, sondern spiegelt auch das Elend und die Schrecken der jeweiligen Zeit wider. Zu erinnern ist etwa an die sog. Pestkreuze, die Jesus mit Pestbeulen zeigen. Dieses Grundanliegen von Kreuzes-Darstellungen, Spiegel menschlichen Elends zu sein, könnte unter dem Gesichtspunkt sich wandelnder Ästhetik leicht bis in die Moderne und das 20.  Jh. hinein verfolgt werden147. Hier kommt es indes nur auf einen bestimmten Aspekt der ntl. Kreuzesdarstellungen an, den spätere Darstellungen aus der bildenden Kunst rückblickend erhellen können. Die ntl. Kreuzigungsdarstellungen verfolgen die Intention, den Gekreuzigten dem Gedächtnis der Leser und Hörer einzuprägen. Dazu wandeln sie das Grauenvolle und Abscheuerregende des Vorgangs in eine „Ästhetik“ um, die vom Willen zur Form und zum Ebenmaß, dem „harmonische(n) Verhältnis der Teile zum Ganzen“148 , bestimmt ist. Dies lässt sich an allen vier Kreuzigungsdarstellungen beobachten, besonders an der johanneischen: Sie rückt Jesu Kreuz ausdrücklich „in die Mitte“ des Bildes, die beiden anderen stellt sie ihm zur Seite (Joh  19,18). Der titulus oben am Kreuz, geschrieben in drei Sprachen, erscheint als Bildüberschrift. Den vier Soldaten, die den Ort der Kreuzigung bewachen, stehen vier Frauen gegenüber. Einprägsam ist das Bild vom ungeteilten Untergewand, wie die symbolische Kraft der Szene bei Johannes insgesamt ihren Bildcharakter unterstreicht. Erhaben sind die Worte, die Jesus spricht, knapp und einprägsam. Der Augenblick seines Sterbens ist von großer Würde. Dem Text ist eine „Ästhetik“ eingeschrieben, welche die Künstler in späteren Zeiten zu ihren Darstellungen direkt einladen musste, seien es nun Skulpturen oder Gemälde. Seine „Ästhetik“ (auch die der anderen Evangelien) ist offen für ihre kunstgeschichtliche Rezeption.

eines Gekreuzigten ohne christliche Hintergründe aus der Antike erhalten. Es ist eine Ritzung, die in Puteoli gefunden wurde und mehrere Jahrzehnte vor unserem Graffito entstanden ist“ (unter Bezug auf Cook, Spectacle). 144  Als älteste bekannte Darstellungen gelten ein Relief auf den Holztüren von Santa Sabina in Rom (um 432) sowie ein Elfenbeinrelief aus Oberitalien um 420–430 (Abbildungen bei Luz, Mt IV 39 f.). Der Triumphsarkophag aus Rom (um 340: ebd. 38 f.) zeigt lediglich „das Kreuz, auf das ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen den Siegeskranz mit Christusmonogramm senkt“. 145 Siehe Luz, Mt IV 39 Anm.  151: Gregor v. Tours, Liber miraculorum 1,23 (PL 71, 724 f.). Buchowiecki, Handbuch 3, 788, zufolge war das Verbot der Darstellung Christi am Kreuz zur Zeit der Anfertigung der Holztüren von Santa Sabina „noch in Kraft, es wurde sogar im 6.  Jahrhundert erneut eingeschärft“. 146  Siehe unten IV.  3.3. Als für das 20.  Jh. repräsentativ sei das Triptychon von Otto Dix „Der Krieg“ von 1932 (Galerie Neue Meister, Dresden) genannt: Der Maler greift eine seit Jahrhunderten geadelte sakrale Altarform auf, entleert sie zwar von ihren sakralen Inhalten (in der traditionellerweise die Kreuzigung zeigenden mittleren Bildtafel erscheint als einzige in der Schlacht noch lebende Figur ein Soldat mit Gasmaske), aber rückt mit Anspielungen vor allem auf den Isenheimer Altar von Mathias Grünewald und Christus im Grab von Hans Holbein d.J. (Basel) in der Predella seines Gemäldes die Schrecken des ersten Weltkriegs in den Horizont der Passionsbilder. 147  Ausgewählte Literatur ist unten in IV.  3.1 verzeichnet. 148  So die Definition des Duden von „Ebenmaß“.

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2. Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu „Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten“. (Paulus an die Korinther, 1Kor  2,2)

Verbleibt die Darstellung der pluralen Bilder der Evangelien noch auf einer theologiegeschichtlichen Ebene, so geht der Versuch, eine Theologie der Passion Jesu in Grundzügen zu skizzieren, einen wesentlichen Schritt darüber hinaus. Nicht was einst über die Passion Jesu gedacht wurde, sondern wie heute von ihr gesprochen werden könnte, ist Gegenstand der Besinnung. Auf der Basis des maßgeblichen Schriftzeugnisses, auf dem Hintergrund der historischen Re-Konstruktion der Ereignisse der letzten Tage Jesu sowie in Wahrnehmung heutiger Verstehensbedingungen und Fragestellungen angesichts der „Zeichen der Zeit“ sind Umrisse einer Theologie der Passion Jesu zu bestimmen. Die nachfolgende Skizze versteht sich als Gesprächsbeitrag, der das normative Schriftzeugnis in seiner synchronen und diachronen Tiefe zu erschließen sucht. Von einer Theologie der Passion Jesu ist die Rede, weil neben dem Zeugnis des Paulus die Passionserzählungen der Evangelien Bezugspunkt bleiben. 2.1 Jesu Freiheit und Gottes Heilsplan Wie ist das Verhältnis von beidem – Jesu Freiheit auf der einen und Gottes Heilsplan auf der anderen Seite – zu bestimmen? Wie lassen sich Einsichten zum historischen Jesus und nachösterliche Glaubensreflexion über einen in der Passion Jesu waltenden „Sinn“ ins rechte Verhältnis zueinander setzen? Auf dem Spiel steht die Frage, wie heute vom Gott Jesu verantwortlich gesprochen werden kann. 2.1.1 „[…] er aber schwieg“ (Mk  14,61; vgl. 15,5). Die Verantwortlichkeit Jesu für seinen Tod Historisch besehen gilt: „Es gibt keinen notwendigen Weg Jesu ans Kreuz, die Jesusgeschichte hätte auch ganz anders ausgehen können“149. Jesus entschied sich aus freien Stücken, nach Jerusalem zu ziehen, um Gottes Königtum ganz Israel kundzutun, provozierte dort im Wissen um die möglichen Folgen seiner Tat die Autoritäten mit einer prophetischen Symbolhandlung im Tempel und schwieg, als es vor Pilatus um Leben oder Tod ging. In der Abgründigkeit dieses Schweigens verdichtet sich das Geheimnis seiner Freiheit. Es war wohl der entscheidende Moment und die größte Herausforderung seines Lebens. Er hätte reden und sich rechtfertigen können. Aber er verzichtete und blieb seinen in Galiläa gesprochenen Worten vom 149 

Striet, Schweigen 125.

2. Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu

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Rechtsverzicht treu – im Vertrauen auf den Gott, der aufseiten der Armen und Rechtlosen steht150 . So wahrte er auf Kosten des eigenen Lebens seine Glaubwürdigkeit. Friedrich Nietzsche setzte Jesu Sterben in diesem Sinne ein Denkmal: „Dieser ‚frohe Botschafter‘ starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um ‚die Menschen zu erlösen‘, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterließ: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er verteidigt nicht sein Recht, er tut keinen Schritt, der das Äußerste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus … Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun. Die Worte zum Schächer am Kreuz enthalten das ganze Evangelium. ‚Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes!‘ – sagt der Schächer. ‚Wenn du dies fühlst‘ – antwortet der Erlöser – ‚so bist du im Paradies, so bist du ein Kind Gottes.‘ Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen …. Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen – ihn lieben …“151.

Pilatus ließ Jesus kreuzigen, er hätte auf sein Schweigen auch anders reagieren können. Als wenige Jahrzehnte später der Statthalter Albinus dem Unheilspropheten Jesus ben Ananias die üblichen Verhörfragen stellte, wer er sei, woher er komme und warum er gegen den Tempel Unruhe schüre, erhielt er keine Antwort, erklärte den von seinem Unheilsgeschrei nicht Ablassenden für „wahnsinnig“ und ließ ihn laufen. Zu fragen, was wäre geschehen, wenn Jesus geredet hätte, findet keine Antwort, aber schon so zu fragen, ist nützlich. Es führt die Freiheit der Beteiligten vor Augen und bewahrt vor theologisierenden Kurzschlüssen. In den Passionserzählungen kommt Jesu Freiheit aus nachösterlicher Perspektive von zwei sehr unterschiedlichen Standorten in den Blick. Markus läst uns in der Getsemaniszene der menschlichen Seite der Freiheit Jesu ansichtig werden: Jesus muss sich seine Einwilligung in Gottes Vorsehung im Gebet erst erkämpfen, womit er zum Vorbild aller Frommen wird, die mit Gott hadern und vielleicht erst am Ende einwilligen: „Nicht was ich will, sondern was du willst“ (Mk  14,36). Ein entgegengesetzes Bild bietet Johannes. Nach ihm ringt Jesus sich nicht erst im Gebet zum Gehorsam gegenüber dem Vater durch, vielmehr bestimmt dieser Gehorsam seine Existenz von Anfang an (Joh  5,19). Er ist sozusagen die Form seines Lebens (vgl. auch Phil  2,8). „Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Joh  5,30). Anders gesagt: Seine Freiheit richtet sich schon immer unbeirrt und unangefochten auf Gott, sie ist göttlich bestimmt. Deshalb „weiß“ Jesus auch, dass sein Vater ihn „allezeit“ hört (Joh  11,42). Sein Gebet ist Zwiesprache und Vollzug der ursprungs­ haften Einheit des Sohnes mit dem Vater (Joh  10,30). Dieses Bild von der göttlich bestimmten Freiheit Jesu hat die dogmengeschichtliche Entwicklung der späteren Christologie im Kontext der Zwei-Naturen-Lehre entscheidend beeinflusst152 . Aber es ist nur ein Bild und ein abstraktes zumal. Johannes wollte die menschliche Wirklichkeit des Fleisch gewordenen Gotteswortes nicht entleeren. Ihm ging es darum, die Einheit Jesu mit dem Vater narrativ zu veranschaulichen.

150 

Siehe oben III.  2.6.1.2. Nietzsche, Antichrist 1197. 152  G.L. Müller, Art. Freiheit 107 f. 151 

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

2.1.2 „Wie über ihn geschrieben ist …“ (Mk  14,21) Die Einsicht in die geschichtliche Kontingenz der letzten Tage Jesu einschließlich seines Todes am Kreuz hat das theologische Sprechen darüber mitzubestimmen. Wenn aus nachösterlicher Perspektive über Jesus und Gott gesprochen wird, kann und darf die Kontingenz nicht negiert werden. Das geschähe aber, wenn die auf der Basis des österlichen Auferweckungsbekenntnisses einsetzende Glaubensreflexion als „Wissen“ um Gottes ursprünglichen Heilsplan Jesus selbst zugeschrieben würde mit der fatalen Folge, dass sein „Selbstbewusstsein“ göttliche Züge annähme und jegliche menschliche Glaubwürdigkeit verlöre153. Bei der Rede von Gott würde die Einsicht in die Kontingenz der Geschichte dann negiert, wenn christologische Spitzensätze des Paulus mit θεός als Subjekt des Handelns wie Röm 8,32: „der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat (παρέδωκεν)“154, dahingehend interpretiert würden, dass Gott das Lebensopfer seines Sohnes zur Versöhnung der Menschen von Anfang gewollt habe, was doppelt fatal wäre: Jesus und diejenigen, die seinen gewaltsamen Tod herbeiführten, hätten nicht wirklich in Freiheit handeln können. Und von Gott entstünde das Bild eines Despoten, der Menschenopfer nicht nur in Kauf nimmt, sondern sogar gezielt herbeiführt. Der Sinn der christologischen Spitzensätze wäre mit solcher Interpretation verkannt. Sie sind der Niederschlag nachösterlicher Reflexion angesichts des Skandals des Kreuzes wie der Überzeugung, dass Gott Jesus aus dem Tod erweckt hat. Als Ergebnis menschlichen Nachdenkens sprechen sie dem Tod Jesu von Gott her Bedeutung zu. Im Ausgang vom Glaubenssatz, dass Gott Jesus „auferweckt“ und ins Recht gesetzt hat, besagen sie: Gott stand immer schon auf Jesu Seite. Er identifizierte sich mit ihm und tat es erst recht in seinen letzten Tagen. Wenn Jesu Sterben nicht einfach sinnlos gewesen sein soll, dann wird es Gott „uns zugute“ (ὑπὲρ ἡμῶν) in ein „Zeichen des Heils“ verwandelt haben155. Wie er dies tat und wie die ersten Zeugen dieses „Zeichen des Heils“ verstanden, bedarf eigener Reflexion156 . Die christologischen Sätze spiegeln frühe Denkversuche, dem Grauenvollen der Kreuzigung Jesu post factum Sinn abzugewinnen157. Schon die älteste Passionserzählung (PEG) geht diesen Weg, wenn sie das Geschick Jesu auf den Bahnen vor allem des Psalters nachzeichnet und damit kundtut: Was der leidende Davidssohn erfahren hat, entspricht dem Geschick der Frommen, das in Gottes Hand liegt. „Der Menschensohn geht hin, wie über ihn geschrieben ist“ (Mk  14,21). Wenn Gott ihn am Ende ins Recht setzt, erweist er sich als der treue Gott, wie ihn die Leser von der Schrift und insbesondere vom Psalter her kennen und glauben. 153 

Dazu grundlegend Rahner, Erwägungen 335–352. Vgl. auch Röm  3,25; 4,24 f.; 8,3; 2Kor  5,21 u. ö. 155  Theobald, Röm I 115. 156  Siehe unten IV.  2.2.2.2. 157  Prägnant S. Schreiber, Verkündigung 93: „Theologisch ist entscheidend, dass diese Deutungen nicht auf ein anthropologisches Defizit antworten (die Menschheit muss erlöst werden, daher musste Jesus sterben), sondern auf die Frage, wie sich Jesu Tod als Ereignis des Heilswillens Gottes verstehen lässt“. 154 

2. Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu

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2.2 Das Triduum Paschale als Offenbarung des „trinitarischen“ Gottes Die Kontingenz der Geschichte und deren Deutung im Glauben in ein sachgemäßes Verhältnis zu setzen, kommt einem intellektuellen Balanceakt gleich. Zwei Extreme sind zu vermeiden: Weder kann die Einsicht in die Kontingenz der letzten Tage Jesu eine Deutung im Glauben ausschließen, noch darf die Rede von Gottes Heilsplan die Freiheit der Menschen beschränken. Wenn Alexander Demandt meint, „[f]ür den Historiker“ sei „der bewusste, freiwillige Opfertod Jesu“ eine „nachträgliche Fehldeutung“158 , ist einzuwenden, dass die historisch-juristische und die theologisch-christologische Sicht auf unterschiedlicher Ebene angesiedelt sind. Zwischen Deutungen, die sich in der erinnernden Rückschau post factum ergeben (vgl. Joh  14,26), und dem Weg des Menschen Jesus, der nach vorne hin ausgerichtet und zukunftsoffen war, muss unterschieden werden. Die nachösterliche Deutung des Todes Jesu etwa als Sühnopfer kann nicht Jesus selbst als Movens seines Ganges nach Jerusalem zugeschrieben werden159. Die nachösterlichen Deutungen besitzen grundsätzlich einen Sinnüberschuss, der allerdings im Rückbezug auf die Geschichte Jesu der Kontrolle bedarf160 . 2.2.1 Golgota und „Ostern“ – Gottes Verborgenheit Auszugehen ist von der Theozentrik der in 2.1.2 erwähnten christologischen Sätze: Wenn ὁ θεός in ihnen Subjekt der „Hingabe“ Jesu in den Tod ist, betten sie dessen Sterben in Gottes Vorsehung ein: Gott ging, als er Jesus „sandte“ (Röm  8,3), kein blindes Abenteuer ein, sondern ein Wagnis des Äußersten. Damit verwickeln die Sätze Gott von Anfang an in das Christusgeschehen, insbesondere in das Sterben Jesu. Sie geben eine Weise des Sich-Identifizierens Gottes mit ihm zu denken auf, die ihn zutiefst von dessen Leiden behaftet zeigt. Sätze wie Röm  8,32, die Gottes Identifikation mit Jesus mittels der Metapher vom Gottessohn beschreiben161, be­ sagen: Gott steht nicht „apathisch“ abseits, als Jesus leidet. Wozu Abraham im Gehorsam Gott gegenüber entschlossen war, ihm den leiblichen Sohn und Verheißungsträger und mit diesem sich selbst nicht vorzuenthalten (Gen  22,16), das tat Gott, als er „den eigenen Sohn“ und damit sich selbst „nicht schonte“: Der Gott Jesu 158 

Demandt, Geschichte 86. Siehe oben III.  2.3.4. 160  Striet, Theologie 73, nennt als „negativ abgrenzendes Kriterium“: „[K]eine christolo­ gische und auch theologische Aussage“ darf „in Gegensatz geraten […] zum historisch Erreich­ baren“; vgl. auch oben die Hinführung unter 1.1.2. 161  Die Rede von der Menschwerdung Gottes in Jesus ist problematisch. Kann Jhwh sich inkarnieren? Den zutiefst jüdisch geprägten Schriften des Neuen Testaments ist solche Rede fremd; Paulus und Johannes sprechen von der „Menschwerdung“ des Präexistenten (Phil  2) bzw. der „Herabkunft“ des Menschensohnes (Joh  3,13), wobei jeweils an ein engelgleiches Wesen gedacht ist, bzw. in theologischer Verdichtung von der „Fleischwerdung“ des Logos oder des Wortes Gottes (Joh  1,14). Von einer „Identifikation“ Gottes mit Jesus von Anfang an, wie sie die metaphorische Rede von seinem „Sohn“ zu denken aufgibt, führt weiter: Theobald, Sohn 185–207; ders., Joh I 138–143. 159 

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

ist ein teilnehmender und mitleidender Gott, ein deus compassibilis162 . Diese den Zeugen nach Ostern möglich gewordene Aussage ist die eine Seite, die andere beruht auf Einsichten des historisch-kritischen Diskurses, die helfen, die Glaubenssätze zu erden: (1) Gott griff auf Golgota nicht ein. Elija kam nicht aus dem Himmel, um Jesus vom Kreuz herabzunehmen. Jesus starb, ohne dass Wunder geschahen. Gott schwieg. Er schwieg angesichts des unermesslichen Leids des am Kreuz sterbenden Jesus. Auch „am ersten Tag der Woche“ geschah nichts. Es dauerte, bis es den Seinen dämmerte: „Gott hat Jesus aus den Toten erweckt“. Der österliche Aufbruch ließ auf sich warten und setzte möglicherweise erst nach Wochen ein. Und auch dann waren die Gewissheiten, die sich einstellten, von Zweifeln begleitet. Bis in die Ostererzählungen der Evangelien klingen sie nach163. Auf die Gegenfrage, ob Gott nicht doch „nach“ Jesu Tod physisch in die Geschichte eingriff – „nach drei Tagen“ (Mk  8,31 etc.) bzw. „am dritten Tag“ (1Kor  15,4) –, bietet die theologisch reflektierteste Antwort der vierte Evangelist, wenn er von den Ostererzählungen als „Zeichen“ spricht (Joh  20,30), die den Tod Jesu narrativ deuten164. Sie geben Jesu Errettung aus dem Tod als Kehrseite seines Sterbens zu erkennen, als sein „Hingehen“ oder „Aufsteigen“ (ὑπάγειν, πορέυεσθαι, ἀναβαίνειν) zum Vater im Tod selbst (vgl. Joh  20,17). Gottes rettendes, im Sterben Jesu verborgenes Eingreifen, ob es nun als „Erweckung“, „Erhöhung“ oder „Aufstieg“ zum Vater versprachlicht wird, meint kein neues geschichtliches Ereignis „danach“, sondern ist nur den Augen des Glaubens im Angesicht des Gekreuzigten wahrnehmbar. So macht „Ostern“ weder die negative Golgota-Erfahrung vom Nicht-Eingreifen Gottes, sein Schweigen angesichts des unermesslichen Leids des am Kreuz sterbenden Jesus vergessen, noch revidiert es dieses Leid durch sein scheinbar „nach drei Tagen“ erfolgendes Eingreifen in die Geschichte. Jesus ist nicht in dieses Leben zurückgekehrt, der Gekreuzigte wird bei Gott geglaubt. Dann stellt sich die bedrängende Frage, wie es möglich ist, dass trotz seines Schweigens auf Golgota von 162  Über die Sohneschristologie lässt sich ein „Patripassianismus“, wie er in der Alten Kirche, aber auch heute wieder begegnet, vielleicht vermeiden; Tück, Passion 3–28, stellt Varianten trinitätstheologischer Rede von einem Leiden Gottes (Jürgen Moltmann) wie deren Bestreitung (Johann Baptist Metz) vor und diskutiert sie; zu Jürgen Moltmann hält er fest: Dieser hat „sehr wohl mit Blick auf Golgotha von einem Leiden Gottes gesprochen, dabei aber zwischen der Passion des Sohnes und dem Schmerz des Vaters am Leiden des Sohnes unterschieden. Um den Gottesbegriff nicht in die Leidensgeschichte der Welt zu verstricken, hat er geltend gemacht, dass es sich um ein freiwilliges Leiden aus Liebe handelt“ (6). „Statt von einem Patripassianismus, der den Vater direkt in das Drama der Leidensgeschichte verstrickt, spricht er (sc. Moltmann) von einem Patricompassianismus. Der Vater ist mitbetroffen, er stirbt allerdings nicht“ (12 f.). Tück selbst greift den Terminus Patricompassianismus auf (ders., Celan 324), mit dem Moltmann an Origenes anschließt (Selecta in Ezechielem c. 16 [PG 13,812 A]: „In seiner Barmherzigkeit leidet Gott mit [συμπάσχει], er ist nämlich nicht herzlos [ἄσπλαγχνος]“; vgl. auch Orig, Hom in Ez 6,6) und fügt unter Hinweis auf Henri de Lubac ein Wort von Bernhard von Clervaux hinzu: impassibilis est Deus, sed non incompassibilis (In Cant 26,5 [PL 183,906]) (ders., Passion 20 f. mit Anm.  58). 163  Theobald, Osterglaube 5–12; Striet, Schweigen 129–137 („Nicht doch zu schön, um wahr zu sein? Oder: Auferstehungsskepsis und Auferstehungsglaube im Neuen Testament“). 164  Theobald, Grenzen 443–471.

2. Grundzüge einer Theologie der Passion Jesu

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Gottes Gegenwart im Sterben und im Tod Jesu gesprochen werden kann und muss. Die Frage nach dem „Wie“ eines solchen Sprechens hat sich an die Passions- und Ostererzählungen zu richten; sie sind es, die das Wagnis eingehen, von Gottes Gegenwart in Jesu Tod zu sprechen. Eine dreifache Antwort zeichnet sich ab: (a) Wenn sie von Gott reden, bedienen sie sich der Bilder, sie sprechen metaphorisch und lassen durchscheinen, was allenthalben gilt: Da Rede von Gott grundsätzlich analoges Reden ist, ginge sie in die Irre, wollte sie angesichts der Unbegreiflichkeit Gottes die „unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein“ aller Aussagen über ihn vergessen machen165. Das beeindruckendste Bild der Passionserzählung stammt von Markus; er hat es im Anschluss an Am  8,9 geschaffen166: Auf der Höhe des Todestages Jesu lastet eine Finsternis drei Stunden lang nicht nur auf Golgota, sondern auf dem ganzen Land, ja auf der Erde und weicht dem Sonnenlicht erst wieder mit dem Eintritt seines Todes. Das Ende der Finsternis lässt aufatmen und kündet vom Licht. In alldem ist die Rede von einem Gott, „der sein Angesicht abwendet“, aber es den Menschen, so ist sich der Beter des Psalters und mit ihm der Leser der Passionserzählung gewiss, auch wieder zuwendet167. Die Wirkungsgeschichte des Motivs der Finsternis muss noch geschrieben werden168 . Bekannt ist das Responsorium Tenebrae factae sunt, das Jahrhunderte lang neben den Klageliedern des Jeremia in den Karfreitags- oder Finstermetten der katholischen Liturgie gesungen wurde, während die Kerzen des Teneberleuchters, eine nach der anderen, ausgelöscht wurden. Der Text ist antijudaistisch imprägniert: „Tenebrae factae sunt, dum crucifixissent Jesum Judaei […]“ (Breviarium Romanum). Die Liturgiereform im Anschluss an das Zweite Vatikanum hat das Responsorium aus der Tagzeitenliturgie vom Gründonnerstag bis zum Karsamstag getilgt169. Paul Celan, der dem Ritus der Finstermetten wohl einmal in der Bretagne beiwohnte, spielt im Gedicht Benedicta (1961) darauf an: „Gesegnet: Du, die ihn grüßte, / den Teneberleuchter“. Auch Tenebrae (1957) lenkt den Blick auf den Gekreuzigten170 . Schon der Titel signalisiert die Ausweitung des Bildes: Unter dem „Zeit-Zeichen ‚Auschwitz‘“ (Johann Baptist Metz)171 ist die Finsternis zur Chiffre der Verfinsterung Gottes überhaupt geworden. „Von der rettenden und erlösenden Kraft der Passion schweigt das Gedicht, sie scheint angesichts des Grauens erloschen, das Tenebrae in Erinnerung ruft, wenn es die Praktiken der SS-Schergen (‚gegriffen schon‘) und die Bilder von Leichenhaufen (‚ineinander verkrallt‘) 165 

Rahner, Erfahrungen 47. Das Motiv der Finsternis verbindet sich insbesondere mit der Rede vom „Tag des Herrn“ als Gerichtsgeschehen: Joel 2,2; 3,15; Am 5,18; Zef 1,15; Jes 13,10 f.; Jer 15,9. 167  Vgl. Ps  104,29 f.: „ 29Verbirgst du dein Angesicht, sind sie verstört, / nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub. 30Du sendest deinen Geist aus: Sie werden erschaffen und du erneuerst das Angesicht der Erde“. Vgl. Groß, Gesicht 185–197. 168  Luz, Mt IV 332–342, geht in seiner wirkungsgeschichtlichen Darstellung zu Jesu letztem Wort Mt  27,46 auf das Motiv als solches nicht ein. 169  Liturgia Horarum iuxta ritum romanum, Editio typica 1974 (deutsch: Feier des Stunden­ gebetes. Stundenbuch 1978); zu den Ausgaben siehe Fischer, Tagzeitenliturgie 293, zum Responsorium Tenebrae ebd. 226 f., zu den Responsorien des erneuerten Stundenbuches ebd. 311 f. – Das Benediktinische Antiphonale (1996) hat das Responsorium beibehalten, vgl. ebd. 338. 170  Tück, Celan 170–193 („Benedicta. Eine jüdisch-christliche Begegnung im Zeichen des Teneberleuchters“) bietet eine Interpretation von Benedicta samt Hinweisen zu Tenebrae. 171  Metz, Memoria 36. 166 

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

heraufbeschwört. Das Kollektiv der ermordeten Opfer wendet sich an den Gekreuzigten: ‚Bete, Herr, wir sind nah‘“172 . Das Motiv der Finsternis hat sich aus der Passionserzählung gelöst, weist aber noch auf Golgota zurück.

Metaphorische Sprache prägt durchgehend auch die Ostererzählungen. Schon die Kernaussagen, die Jesu Errettung aus dem Tod versprachlichen, sind Bildworte. Sie bedienen sich anthropologischer Muster (wie der „Auferweckung“ aus dem Schlaf des Todes: vgl. 1Thess  4,13 f.) oder Raumvorstellungen („Aufstieg“, „Erhöhung“, „Weggang“). Sie bezeichnen kein physisches Eingreifen Gottes in diese Welt oder Geschichte, sondern bringen Unvorstellbares und Unausdenkbares zur Sprache: Gott hat den Gekreuzigten im Tod zu sich geholt, als seinen Repräsentanten bestätigt und ihn zum κύριος eingesetzt. Inspiriert sind derartige Aussagen vom Glauben an den „Gott, der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein ruft“ (Röm  4,17). (b) Die beiden anderen, gleichfalls indirekten Weisen der Passions- und Ostererzählungen, Gottes Gegenwart im Sterben und Tod Jesu ansichtig werden zu lassen, betreffen die Erzählfiguren, insbesondere den Protagonisten Jesus und dessen Gottesrede. Sie ist keine Rede über Gott, sondern ausnahmslos Sprechen zu ihm, Gebet als Klage, Anklage und Vertrauensäußerung, vom Psalter inspiriert. Unter den Jesus in den Mund gelegten verba ultima ragt Ps  22,2 (= Mk  15,34) hervor, weil dieses Wort die in der Sterbestunde waltende Paradoxie des Schweigens und der Gegenwart Gottes ins Wort bringt. „In der Finsternis des Kreuzes ereignet sich im Schrei des gottverlassenen Sohnes, der seinen Vater nie verlassen hatte, die Nähe Gottes, ‚der im unzugänglichen Lichte wohnt‘ (1Tim  6 ,16). Der Schrei des Sohnes am Kreuz verbürgt die Nähe des Vaters im Himmel. Und wer diesen Schrei des Gekreuzigten im Osterjubel unhörbar oder vergessen machen wollte, der würde nicht das Ereignis einer Gottesgeschichte feiern, sondern allenfalls einen antiken Siegermythos“173.

Die Nähe des Vaters trotz und in seinem Schweigen äußert sich in ganz anderer Weise auch in dem Wort, das Lukas dem Sterbenden mit Ps  31,6 in den Mund gelegt hat: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk  23,46 [Ps  31,6]). Jesus willigt in sein Geschick ein und vertraut sich vorbehaltlos seinem Vater an. Damit führt Lukas seinen Lesern angesichts des Unvermeidlichen eine Einstellung vor Augen, in der Gottes Nähe gleichfalls erfahrbar werden kann. (c) Auch an den Nächsten gewandte Worte bringen Gott nahe wie das Wort Jesu an den umkehrwilligen Mitgekreuzigten: „Amen, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk  23,43). Im Zuspruch des Heils ereignet sich Nähe. In den Ostererzählungen sind es die Worte derer, die Zeugnis ablegen von dem, was ihnen im Glauben zur Gewissheit wurde (vgl. Mt  28,8; Lk  24,9.34 f.; Joh  20,18.25). Die Apostelgeschichte bringt es auf den Punkt, wenn sie Petrus und Johannes vor dem 172 

Tück, Celan 288 f. Metz, Memoria 101 f.; Tilliette, Kreuzesschrei 3–25, 7: „[D]er Tod Christi wirft nur dann ein so grelles Licht auf den menschlichen Tod und seine Zweideutigkeit (der Sünde Sold – Zugang zum Leben), wenn er ein Geschehen ist, das auf irgendeine Weise das Sein Gottes berührt, ein kenotisches Geschehen“; Novello, Cry 38–60. 173 

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Synedrion erklären lässt: „Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg  4,20). (2) Ist Gott angesichts seines Schweigens zum Tod Jesu ohnmächtig und schwach? Wendet der Blick sich über Golgota hinaus den ungezählten Opfern der Geschichte zu, dann wird die Frage noch viel drängender und führt mitten in die Theodizee-Problematik hinein: Wie kann es sein, dass ein gütiger Gott beim unermess­ lichen Leiden unschuldiger Menschen zuschaut und geschehen lässt, was geschieht, ohne einzugreifen und alldem ein Ende zu setzen? Seit Auschwitz steht diese verstörende Frage unüberhörbar im Raum und lässt alle Antworten, welche die Theologie zu geben versucht, zu einem Gestammel werden. Das Schweigen Gottes über Golgota hat sich potenziert und ist undurchdringlich geworden. Hans Jonas erklärt: „[…] kein rettendes Wunder geschah; durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott. Die Wunder, die geschahen, kamen von Menschen allein: die Taten jener einzelnen, oft unbekannten Gerechten unter den Völkern, die selbst das letzte Opfer nicht scheuten, um zu retten, zu lindern, ja, wenn es nicht anders ging, hierbei das Los Israels zu teilen. […] Aber Gott schwieg“. Dem fügt er hinzu, nachdem er zuvor schon die Rede von der „Allmacht“ Gottes destruiert hat: „Und das sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein. Aus Gründen, die entscheidend von der zeitgenössischen Erfahrung eingegeben sind, proponiere ich die Idee eines Gottes, der für eine Zeit – die Zeit des fortgehenden Weltprozesses – sich jeder Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben hat; der dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein antwortet nicht ‚mit starker Hand und ausgestrecktem Arm‘, wie wir Juden alljährlich im Gedenken an den Auszug aus Ägypten rezitieren, sondern mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Ziels“174. Gott willigte mit der Schöpfung der Welt „um des Daseins selbstbestimmender Endlichkeit willen“ darin ein, „nicht länger absolut zu sein – ein Akt also der göttlichen Selbstentäußerung“175. Die Tragweite dieser Annahme wird deutlich, wenn es weiter heißt: „Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben“176 . So läuft am Ende alles auf eine Ethik gemäß dem „Prinzip der Verantwortung“ (Hans Jonas) hinaus177.

Die Souveränität Gottes über Geschichte und Mensch ist allerdings ein zutiefst biblisch-jüdischer Gedanke, an einem physischen Eingreifen Gottes in die Geschichte aber nicht ausweisbar, sondern nur im Glauben zu ergreifen bzw. als ausstehender Erweis von der Zukunft zu erhoffen. In der Gegenwart ist sein Schweigen Grund genug, mit Hiob Klage gegen ihn zu führen und ihn zu bedrängen: „Wozu“ (Mk  15,34 = Ps  22,2) und „wie lange noch?“ (Offb  6,10; vgl. Ps  79,5). Hoffnung weckt die Erinnerung daran, wie Jesus lebte und dem Tod entgegenging, vor allem das Bekenntnis zu seiner Errettung aus dem Tod – beides Weisen geistgewirkter Erinnerung, die als Zusage des Heils aus Gottes Schweigen heraus gedeutet werden dürfen. Wenn Paulus in Jesu Errettung aus dem Tod ein Unterpfand der eschatologischen Totenerwe174 

Jonas, Gottesbegriff 41 f. Ebd. 45. 176  Ebd. 46 (Kursive von mir). 177  Ist Albert Schweitzer weit davon entfernt, wenn er erklärt: „Jede sittlich-religiöse Bethätigung ist […] Arbeit am Kommen des Reiches Gottes“ (Schweitzer, Leidensgeheimnis 32)? 175 

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

ckung und damit den Grund der Hoffnung für alle erkennt (1Kor  15,20–28), dann gilt: „Die Auferweckung des Gekreuzigten, in der Gottes Macht über den Tod und seine Empathie mit der Welt bleibend verschränkt sind, ist [..] Vorschein der kommenden Welt“178 . Eine Antwort auf die bohrenden Fragen der Theodizee ist das nicht179. Aber die Hoffnung, dass Gott selbst sie geben und als derjenige, „der das Nicht-Seiende ins Sein ruft“ (Röm  4,17), Frieden und Gerechtigkeit schaffen wird, bleibt bestehen. Solche „Erwartung, welche den unausgeschöpften Möglichkeiten Gottes das Unerwartete zutraut“180 , verbindet Juden und Christen miteinander. 2.2.2 Theozentrische Christologie Wird unter dem Vorzeichen von Gottes Präsenz in der Passion nach möglichen Deutungen des Todes Jesu gefragt, ergeben sich vom Neuen Testament her ein paradigmatischer und ein soteriologischer Aspekt. 2.2.2.1 Jesus unter den „Erniedrigten und Beleidigten“ (Dostojewski) Wenn die Passionserzählungen mit ihrer Psalter-Matrix Jesu Sterben und Tod in das Muster nicht nur des leidenden Messias, sondern damit auch in das des leidenden Gerechten einzeichnen, weiten sie den Blick auf alle, die in Israel um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden und zu ihrem Gott schreien: Wie lange noch, Herr, vergisst du mich ganz? Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor mir? Wie lange noch muss ich Sorgen tragen in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Wie lange noch darf mein Feind sich über mich erheben? (Ps  13,2 f.).

Erst in jüngerer Zeit tritt ins christliche Bewusstsein: Jesu Leiden war das Leiden eines Juden. Christen, die mit ihren Ansprüchen Jahrhunderte lang das jüdische Volk „enterbten“, vereinnahmten Jesus für sich und lösten ihn als „Sohn Gottes“ aus dem Judentum heraus, um ihn gegen sein Volk als Zeugen aufzubieten. Gerade am Karfreitag hatten in Europa unzählige Jüdinnen und Juden unter der Schmach zu leiden, die Christen ihnen antaten, wenn diese mit dem Finger auf sie zeigten. Die Botschaft dieses Tages ist aber eine andere: Jesus litt und starb wie viele seiner jüdischen Schwestern und Brüder. Er war und ist einer von ihnen. Ein beeindruckendes Beispiel für die Vorbildhaftigkeit des Leidens Christi liefert die Märtyrerliteratur der frühen Kirche, die unter dem Vorzeichen der imitatio 178 

Tück, Celan 324. Kasper, Gott 244: „Der sympathische Gott, wie er in Jesus Christus offenbart wird, ist die endgültige Antwort auf die Theodizeefrage […]. Wenn Gott selbst leidet, ist das Leiden kein Einwand mehr gegen Gott“ (zitiert von Tück, Passion 7, der mit dieser Feststellung den von Johann Baptist Metz geäußerten Verdacht einer gegenüber der Leidensgeschichte der Welt unsensiblen Ruhigstellung der Theodizeefrage „pointiert zum Ausdruck“ gebracht sieht). 180  Tück, Celan 326. Striet, Theologie 132 f.: „Das messianische Zeitalter als rein diesseitiges zu verstehen und damit auf jede eschatologische Zukunftserwartung zu verzichten“, geht nicht, „da dann die Hoffnung auf Gerechtigkeit für die Gedemütigten und Gemordeten der Geschichte aufgegeben, die Toten für tot erklärt werden müssten“. 179 Anders

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Christi des Öfteren auf die Motivik der Passionserzählungen zurückgreift181. Die Weite des den Passionserzählungen eingestifteten Musters verlangt indes, auch den spezifisch christlichen martyrologischen Kontext noch zu überschreiten. Der Leidensweg Jesu gemahnt an das Leiden der Vielen, die zu allen Zeiten für ihre Überzeugung in den Tod gehen mussten und immer wieder gehen müssen. „Nichts soll vergessen sein, kein inzwischen namenlos Gekreuzigter der Geschichte“182 . Schon die Psalter-Matrix der Passionserzählungen enthält den Aspekt des Heils. Die in Erinnerung gerufenen Psalmen auf Klage und Anklage zu reduzieren, würde ihre Botschaft verkürzen. Die Beter schreien nicht nur nach ihrem Gott, sie äußern auch ihr Vertrauen auf ihn und, wenn sie in ihrer Erwartung bestätigt werden, lobpreisen sie ihn. Gleiches gilt von den Passionserzählungen: Da sie in die öster­ liche Rechtfertigung des Gekreuzigten durch Gott einmünden, eröffnen sie eine Perspektive auf Errettung und Heil für alle ungerecht Leidenden183. 2.2.2.2 Jesu Tod als Gottes eschatologisches Heilszeichen seiner Agape Den im eigentlichen Sinne soteriologischen Aspekt bibeltheologisch wenigstens zu skizzieren, hilft ein Blick auf Paulus und Johannes184. Auszugehen ist von der strukturellen Übereinstimmung in Aussagen zur Agape als Wesensmerkmal des Passionsgeschehens: Corpus Paulinum Jesus „Denn die Liebe des Messias (ἡ ἀγάπη τοῦ Χριστοῦ) drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben“ (2Kor  5,14).

Corpus Iohanneum „Da er die Seinen, die in der Welt (sind), liebte (ἀγαπήσας), liebte er (ἠγάπησεν) sie bis zum Ende/bis zur Vollendung (εἰς τέλος)“ (Joh  13,1).

„[…] im Glauben an den Sohn Gottes, „Niemand hat eine größere Liebe als die, der mich geliebt (ἡγαπήσαντος) und sich für dass er sein Leben für seine Freunde mich hingegeben hat“ (Gal  2,20; vgl. 1,4) einsetzt“ (Joh  15,13). „Wer wird uns trennen von der Liebe des Messias (τῆς ἀγάπης τοῦ Χριστοῦ)?“ (Röm  8 ,35; vgl. V.37: „durch den, der uns geliebt hat“) „Wie auch der Messias uns geliebt (ἠγάπησεν) und sich für uns hingegeben hat […]“ (Eph  5,2; vgl. 4,25)

„Daran erkennen wir die Liebe, dass jener für uns sein Leben eingesetzt hat, und auch wir müssen für die Brüder das Leben einsetzen“ (1Joh  3,14).

181  Seeliger/Wischmeyer (Hg.), Märtyrerliteratur 26, sprechen von einer „Passionsspiritualität“ der Texte. 182  Striet, Theologie 74. 183  Das Modell der imitatio sollte nicht abgewertet werden, wie bei Gräßer, Christus 271, zu lesen: Es sei zwar „nicht wenig“, aber doch (mit Martin Luther: WA 10/1,10 ff.) „das Geringste am Evangelium, wovon es auch noch nicht Evangelium heißen kann; denn damit ist dir Christus nicht mehr nütze als ein anderer Heiliger“ (ebd.). 184  Striet/Tück (Hg.), Erlösung, bieten Beiträge aus dogmatischer und dogmengeschicht­ licher Perspektive; vgl. auch Menke, Stellvertretung.

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IV. Teil: Theologische Perspektiven. Geschichte und Theologie

Corpus Paulinum Gott „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass der Messias für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm  5,8).

„denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben … noch irgendeine andere Schöpfung uns wird trennen können von der Liebe Gottes (τῆς ἀγάπης τοῦ θεοῦ), der im Messias Jesus, unserem Herrn“ (Röm  8 ,38 f.).

Corpus Iohanneum „So nämlich hat Gott die Welt geliebt, dass er den einziggeborenen Sohn gegeben hat, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern ewiges Leben hat“ (Joh  3,16). „Darin ist die Liebe Gottes unter uns offenbar geworden, dass Gott seinen Sohn, den einzig­ geborenen, in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühne für unsere Sünde“ (1Joh 4,9 f.).

Beide knüpfen mit ihrer Rede von der sich in der Hingabe in den Tod zeigenden Liebe Jesu an die hellenistische Freundschaftsethik an, die „Liebe“ und „Sterben für jemanden“ miteinander verbindet: „Für den am meisten Geliebten (ὑπὲρ τοῦ μάλιστ’ ἀγαπωμένου) der Verwandten oder der Freunde ist man am ehesten bereit, den Hals hinzulegen“ (Epict, Diss  2,7,3). Und: „Füreinander sterben wollen nur die Liebenden“ (Plat, Symp  179b–c)185. Im Hintergrund steht die Vorstellung vom noble death: Sich freiwillig für andere zu opfern – für das Vaterland, für Freunde, für einen Geliebten –, ist ehrenvoll186 . Paulus verfremdet den Topos: Jesus starb am Kreuz keinen ehrenvollen, sondern einen schändlichen Tod187. Der Topos dient ihm zudem als Kontrast für seine Überzeugung, dass Jesus für „Gottlose“ und „Feinde“ starb (Röm  5,6.10). Gemessen an der zeitgenössischen Freundschaftsethik, lässt Jesu Sterben für die Menschen selbst die höchsten ethischen Ideale hinter sich (Röm  5,7 f.). Seine im Sterben sich zeigende Liebe ist Feindesliebe in letzter Zuspitzung, wie sie der Botschaft des irdischen Jesus entspricht: „Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen; segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen!“ (Lk  6 ,27 f.). Jesus starb, wie er lehrte188 . Anders das vierte Evangelium, das den Topos steigernd einsetzt: Im Tod vollendet sich die Liebe zu den „Seinen“ (Joh  13,1). Er „setzt sein Leben für seine Freunde ein“ (Joh  15,13; vgl. 1Joh  3,16). Wenn Johannes und Paulus in genauer Entsprechung zum Lebenseinsatz Jesu auch von Gottes „Liebe“ sprechen (siehe oben), dann erden sie diese Gottesrede durch Erinnerung an Jesu Tod. Für sie ist Jesus keine Marionette in der Hand Got185 

Belege bei Wolter, Röm I 546. Vgl. oben in I.  1.5.3 den Absatz: Vom ehrlosen zum ehrenhaften Tod (Noble Death). 187  Vgl. Gal  5,11; 6,12.14; 1Kor  1,17 f.; Phil  2 ,8; 3,18. 188  Paulus selbst stellt diesen Bezug zwischen Jesu Sterben und seiner Botschaft nicht her. Die Weisungen Röm  12,14.17–21 erinnern zwar an Lk  6 ,27 f. par., vermerken ihren Zusammenhang mit Jesus aber nicht. 186 

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tes. Indem sie Gottes und Jesu Liebe zusammendenken, bringen beide zum Ausdruck: Versöhnung und Heil, wie sie sich in und durch Jesu Tod erschließen, sind Gabe Gottes. Sie unterscheiden sich nur in der Weise, wie sie diese Gabe den Menschen durch Jesu Sterben zukommen sehen. Stellvertretung – Schlüssel zur paulinischen Deutung des Todes Jesu So unterschiedlich die Bilder und Motive sind, mit deren Hilfe Paulus den Heilssinn des Todes Jesu ausdrückt189, cantus firmus ist das pro nobis der traditionellen Sterbeformel „der für uns gestorben ist“190 . Auch in den Abendmahlsworten (1Kor  11,24) begegnet es, in der Hingabeformel (Röm  8,32; Gal  2,20) und der Rede vom erhöhten Jesus, der „für uns“ bei Gott „eintritt“ (Röm  8,27.34). Integral der paulinischen Deutung des Todes Jesu, verbindet das pro nobis die unterschiedlichen Sprachspiele und bezieht auch die Gottesrede mit ein: „Wenn Gott für uns ist (ὑπὲρ ἡμῶν), wer ist gegen uns?“ (Röm  8,31)191. Paulus expliziert nicht, inwiefern Jesu Tod ein Sterben uns zugute gewesen sein soll, sondern scheint ein Wissen darum vorauszusetzen, wenn er die formelhafte Rede vom Heilstod Jesu für weiterreichende theologische Erörterungen als selbstverständliches Argument einsetzt192 . Einige Texte verraten indes, wie er die Logik des pro nobis verstanden haben könnte. Aufschlussreich ist der Vergleichspunkt, den die Kult-Metaphorik zu denken aufgibt: Die Heilseffizienz des Todes Jesu kann Paulus deshalb mit Bildern aus der Welt des biblisch-jüdischen Opferkults umschreiben, weil diesem sündentilgende Kraft zugesprochen wird193. Paulus radikalisiert den Gedanken unter eschatologischem Vorzeichen: Durch Jesu Tod wird den Menschen nicht nur die Vergebung der Sünden, sondern ein Status vor Gott zuteil, der einem Neu-Geschaffen-Sein gleichkommt: „Wenn jemand in Christus (ist), (dann ist da) neue Schöpfung (καινὴ κτίσις)! Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden!“ (2Kor  5,17). In wenigen Sterbeformeln ist das pro nobis „hamartiologisch“, auf den Sünden-Konnex zugespitzt: „Christus ist für unsere Sünden (ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν) gemäß den Schriften gestor189  Kultische Metaphern: 1Kor   5,7; Röm   3,25; 8,3. – Soziale Metaphern: Sklavenerwerb: 1Kor  6 ,20; 7,22 f.; Loskauf/Lösung: 1Kor  1,30; Gal  3,13; 4,5; Röm  3,24; Versöhnung: 2Kor  5,17.19; Röm  5,10 f.; 11,11. 190  Vgl. 1Thess 5,10; 2Kor  5,14 f.; Röm  5,8 (vgl. 5,6 f.); 14,15. Vgl. auch 1Kor  1,13: „Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt worden?“ 191  Bild des „für uns“ seienden Gottes ist Jesus als der von ihm gesandte „Sohn“ von Anfang an; vgl. oben S. 767 Anm. 161. 192 Vgl. Wolter, Paulus 110–116 („Der Heilstod Jesu als theologisches Argument“); die hinter dem Argument stehende Logik entfaltet er nicht. 193  Vgl. Röm  3,25: „(Christus Jesus,) den Gott (öffentlich) in seinem Blut als Sühnort/Gnadenort (ἱλαστήριον) durch den Glauben hingestellt hat zum Erweis seiner Gerechtigkeit kraft der Vergebung der zuvor geschehenen Sünden“; von den dargebotenen Deutungsvorschlägen zu Röm  3,25 wird der von S. Schreiber, Verkündigung 95 f., ἱλαστήριον mit „Weihegeschenk“ zu übersetzen, von Wolter, Röm I  258, zurecht der „am unwahrscheinlichsten“ genannt; der Terminus, der die Sühnplatte der Bundeslade bezeichnet, spielt auf den Blutritus Lev  16,15–17 an. Zum Thema Kult und Kreuz vgl. Backhaus, Kult 512–533.

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ben“ (1Kor  15,3)194; Jesus Christus, „der sich (hin-)gab für unsere Sünden (ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν), damit er uns herausreiße aus dem gegenwärtigen bösen Äon, gemäß dem Willen Gottes und unseres Vaters“ (Gal  1,4); „[… ] der hingegeben wurde (παρεδόθη) um unserer Verfehlungen willen (διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν) und auferweckt wurde um unserer Rechtfertigung willen (διὰ τὴν δικαίωσιν)“ (Röm  4,25). Eine Variante mit der Präposition περί bietet Röm  8 ,39, eine geprägte Wendung, die für den biblischen Terminus „Sündopfer“ steht: Gott hat seinen eigenen Sohn gesandt […] um der Sünde willen (περὶ ἁμαρτίας) (d. h. als Sündopfer)“.

„In allen [diesen] Texten gibt die Präposition immer den Grund für den Tod oder das Verderben an: ‚für die Sünde‘, ‚wegen der Sünde‘ und ‚um der Sünde willen‘ meint also immer ‚infolge der Sünde‘“195. Das gilt auch aus historischer Perspektive: Jesus fiel Menschen zum Opfer – nicht Gott196 . Doch wie die generalisierenden und auf die Leser abhebenden Formulierungen zeigen („für unsere Sünden“ etc.), zielt Paulus nicht auf die Frage historischer Verantwortung für den Tod Jesu197, sondern darauf, daß in der Ablehnung Jesu durch diejenigen, die ihn ans Kreuz gebracht haben, das „sündhafte“ Wesen des Menschen überhaupt aufgedeckt wird198 . Jesus ist „für unsere Sünden“ und die aller Menschen gestorben199. Wenn so generell „die Sünde“ der Menschen für den Tod Jesu verantwortlich gemacht wird, setzt das den sog. Tun-Ergehen-Zusammenhang voraus200: „Sünde“ ist nicht folgenlos, sondern zeichnet sich in das Leben der Menschen ein, in das des „Sünders“ wie der ihm zugehörigen menschlichen Gemeinschaft, ja des Gemeinwesens überhaupt. Deshalb ist für Paulus „die Sünde“, metaphorisiert, eine geschichtswirksame Macht, die stets neues Unheil gebiert (entsprechend heutiger Rede von der „strukturellen Sünde“). „Sünde“ als Absage gegen Gott zieht den „Tod“ als Gottesferne in seinen unterschiedlichen Formen nach sich, zuletzt das Sterben in die absolute Verlorenheit hinein (vgl. Röm  5,12–21; 7,7–24)201. 194  „[…] was im Sinne der stellvertretenden Sühne und/oder Beseitigung der Sünden zu interpretieren sein wird“, wie Schrage, 1Kor IV  33, die Logik dieses Bekenntnissatzes zutreffend umschreibt; ähnlich Lindemann, 1Kor 330: Paulus versteht Jesu Tod „als stellvertretendes Sterben […]; vorausgesetzt ist die Vorstellung, dass es die Sündhaftigkeit des Menschen ist, die diesen in den Tod führt (vgl. Röm  6 ,23), und dass Jesus den Tod als die Folge ‚unserer‘ Sünden stellvertretend auf sich genommen hat“. 195  Wolter, Paulus 105: Der Heilsaspekt kann sich kontextuell hinzugesellen: „Wer auf Grund der Sünden von anderen stirbt, sorgt dafür, dass diese von der Sünde und deren Unheilsfolgen befreit werden“ (ebd.). 196  Siehe oben unter 2.1.2 die Zurückweisung der fatalen Aussage, Gott habe das Lebensopfer seines Sohnes zur Erlösung der Menschen von Anfang an gewollt. 197  Abgesehen von 1Thess  2 ,15 schreibt Paulus nirgends den Tod Jesu jüdischer (oder römischer) Verantwortung zu (vgl. auch 1Kor  2,8). Für ihn ist Röm 9–11 zufolge nicht die Beteiligung jüdischer Autoritäten am Tod Jesu das Problem, sondern die nachösterliche Ablehnung des Evangeliums durch eine Mehrheit des jüdischen Volkes (vgl. 10,3.16–21). 198  Charakteristisch ist die Applikation des „Passionspsalms“ 69 auf die Auslieferung Jesu ans Kreuz in Röm  15,3, die Paulus in den Horizont der Feindschaft gegen Gott überhaupt rückt: „Christus hat nicht sich selbst zu Gefallen gelebt, sondern, wie geschrieben steht: ‚Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen‘ (Ps  69,10)“. 199  Vgl. 2Kor  5,14: „einer ist für alle gestorben“; vgl. auch V.15; außerdem Röm  5,18: „wie es durch eines (Menschen) Verfehlung für alle Menschen zur Verurteilung (kam), so (kam es) auch durch eines (Menschen) Rechtstat für alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens“. 200  Rösel, Art. Tun-Ergehen-Zusammenhang 931–934. 201  Theobald, Röm I 161–164.

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Unter Voraussetzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs gewinnt Jesu Tod für Paulus seine Relevanz als „Heilsgeschehen“: Jesus hat durchlitten, was Folge der „Sünde“ ist, das Sterben in die Gottverlassenheit hinein. Er durchlitt, was die „Sünder“ zu erleiden haben. Starb er als Gerechter, ohne schuldig geworden zu sein, dann starb er an deren statt. Um die Logik des pro nobis aufzuschließen, bietet sich die Kategorie der Stellvertretung202 an, die Paulus aus Jes  53,12LXX geschöpft haben könnte203: (a) 2Kor  5,14 f. (siehe oben die Tabelle): Die Sterbeformel wird hier zweifach ausgelegt, im Sinne der Überwindung hoffnungsloser Vergangenheit (V.14), dann der Eröffnung neuer Zukunft (V.15). Wenn es heißt: „Einer starb für alle (= anstelle aller), folglich sind alle gestorben“, dann ist im Tod Jesu der „Tod“ aller inkludiert – „Tod“ hier als Folge der Sünde (vgl. Röm  5,12). Weil aber der „Tod“ aller in Jesu Tod besiegt ist, kann V.15 nach vorne blicken: „Und für alle (= ihnen zu gute) ist er gestorben, damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und auferweckt wurde“. (b) 2Kor  5,21: „Den, der die Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gerechtigkeit Gottes würden in ihm“. Gott hat Jesus, der ohne Sünde ist, weil er als „Sohn Gottes“ mit ihm im Einklang lebt, an unserer statt mit der in der Gottesferne des Todes sich auswirkenden Sünde behaftet, damit wir in ihm „Gerechtigkeit Gottes“ würden. Der Stellvertretungsgedanke verbindet sich mit dem Gedanken des Tauschs: Was von Jesus gilt – Einklang mit Gott –, geht dank seines Todes auf die Glaubenden über: Sie werden in Christus „Gottes Gerechtigkeit“204. (c) Gal  3,13: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch wurde, denn es ist geschrieben: ‚Verflucht ist jeder, der am Holz aufgehängt ist‘ (Dtn 21,23)“. Paulus, der das Schriftwort vielleicht selbst einmal gegen die von ihm verfolgten Jesus-Anhänger ins Feld geführt hat, entdeckt jetzt in ihm tiefere Wahrheit, ja den Schlüssel, um den Sinn des furchtbaren Geschehens zu erahnen: Der „Fluch“, den die Tora gegen die Sünder ausspricht und der eigentlich uns als Sünder treffen müsste, hat ihn getroffen: Er erlitt ihn an unserer statt und hat uns von ihm „losgekauft“ (vgl. auch Gal  4,5)205. (d) Röm  4,25 verbindet wie die voranstehenden Texte in deutlichem Anklang an Jes  53,12LXX beide Aspekte miteinander: Jesu Tod „wegen“ bzw. „infolge“ der Verfehlungen der Menschen (V.25a) einerseits, deren Rechtfertigung, wie sie aus Jesu stellvertretender Dahingabe in den Tod folgt andererseits (V.25b). Das Besondere der Aussage ist die Bindung der δικαίωσις an Jesu Auferweckung (anders Röm  3,25 f.), die als Siegel Gottes auf Jesu Sterben als „Heilsgeschehen“ erscheint.

202  Wie „Sühne“ eine „interpretationssprachliche Kategorie“ (aus dem germanischen Rechtswesen) ist, so auch die Idee der „Stellvertretung“ (in der Mitte des 18.  Jh.s aufgekommen: Wolter, Paulus 102, mit Verweis auf Menke, Stellvertretung; vgl. Schaede, Stellvertretung). Wolter verzichtet auf sie, wie er sich einer Deutung der Logik des pro nobis überhaupt enthält. Zur biblischen Grundlegung der Stellvertretungsidee: Janowski, Stellvertretung; Hampel/Weth (Hg.), Sühne. 203  Deutlich ist dies bei Röm  4,25 (siehe unten), umstritten bei 1Kor  15,3b, wobei die Sterbeformel in der Tat erst in 1Petr  2,22–25 mit Jes  53 verknüpft wird; vgl. Lindemann, 1Kor 330 f. Aber es geht hier nicht um das Formelgut an sich, sondern um den pln. Rezeptionshorizont. 204  Schmeller, 2Kor I 338 f.: „Es scheint derselbe Gedanke der Schicksalsgemeinschaft im Hintergrund zu stehen wie in den VV.14f: Gott schließt Christus mit uns in der Sünde zusammen, damit wir in ihm Gerechtigkeit werden“. 205  Ausführlich zu Gal  3,13 bzw. Dtn  21,23 siehe oben in I.  1.2.1.3; außerdem Theobald, Holz 158–165.

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Grund des Heils ist Paulus zufolge die Liebe Gottes, sein „Für-uns-Sein“206 . Mit Jesus stellt sich Gott auf die Seite der Menschen. Jesu Tod war nicht in dem Sinne die Ursache des Heils, daß sein Lebensopfer notwendig gewesen wäre, um eine durch den Menschen verletzte Ordnung der Schöpfung wieder ins Lot zu bringen. Vielmehr hat Gott die Hinrichtung Jesu durch Menschen nicht mit seinem „Zorn“ beantwortet, sondern in ein Zeichen seiner befreienden Liebe verwandelt. Das „Bezeichnete“ (le signifé) ist Gottes Liebe, das „Bezeichnende“ (le signifiant) Jesus selbst: Er schlug nicht zurück, als er geschlagen wurde; er litt anstelle vieler und trug ihr Todeslos; mit dem Guten besiegte er das Böse (Röm  12,21). Darin besteht die Zeichenkraft seines auf Gottes Liebe verweisenden Sterbens, dessen Heilswirksamkeit der Mensch im Glauben ergreift (vgl. Röm  3,25: διὰ τῆς πίστεως). Vollkommene Liebe – der johanneische Ansatz Im Vergleich zu Paulus ist die Theologie der Liebe im joh. Schriftenkorpus in erstaunlicher Weise weiterentwickelt 207. Ihre Basis ist die Überzeugung: Gott hat den „Transitus vom Tod ins Leben“ (Joh  5,24; vgl. 1Joh  3,14) in der Erhöhung Jesu in ein wirkmächiges Zeichen seiner Liebe verwandelt 208 . Der Tod Jesu besitzt als „Ur­ sakrament“ der Liebe Gottes 209 in Jesu eigener Liebe, wie sie das Zeichen der Fußwaschung symbolisiert, sein geschichtliches Fundament. Diese Grundbotschaft des Evangelisten antwortet weniger auf die Frage, wie der Mensch aus seiner Schuldverfangenheit befreit wird (so Paulus), sondern vielmehr auf die weitergehende Frage, wie wir aus „dem Kerker unserer Endlichkeit“210 , in dem wir begraben sind, herauskommen können. Es geht nicht zuerst um „Hamartiologie“ (auch sie bedenkt der vierte Evangelist211), sondern viel grundsätzlicher um die Frage nach einem Leben „in Fülle“ im Angesicht des Todes212 . Dabei duldet diese Frage Johannes zufolge keinen Aufschub an das Lebensende, wie auch die 206 Gottes Liebe ist Quellgrund seines „Mit-Leidens“, seiner compassibilitas (vgl. oben Anm.  162). Origenes, Hom 6,6 in Ez: „Und der Vater selbst, der Gott des Alls, ‚langmütig und von großer Erbarumung‘ (vgl. Ps  102,8), leidet er nicht auch in gewisser Weise? Oder weißt du nicht, dass er, wenn er sich zu den Menschen herablässt, menschliches Leiden leidet? ‚Es ertrug der Herr, dein Gott, deine Sitten, wie wenn ein Mensch seinen Sohn erträgt‘ (Dtn  1,31). So erträgt Gott unsere Sitten, wie der Sohn Gottes unser Leiden trägt. Selbst der Vater ist nicht leidensunfähig (Ipse pater non est impassibilis). Wenn er angerufen wird, erbarmt er sich und fühlt den Schmerz mit. Er erleidet ein Leiden der Liebe (passio caritatis) und wird etwas, was er wegen der Größe seiner Natur nicht sein kann, und hält unsertwegen menschliche Leiden aus“ (zu dieser Passage Tück, Passion 21 f.). 207  E.E. Popkes, Theologie. 208  Siehe oben IV.  1.2.4 unter (6). 209  Dieses auf das 2. Vatikanum zurückgehende Prädikat gehört nach dem NT in die Christologie, nur abgeleitet in die Ekklesiogie. LG  1: Die Kirche sei „in Christus gleichsam das Sakrament, d. h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“. 210  Rahner, Erfahrungen 50. 211  Vgl. Joh  1,29; 8,21.24.34; 9,41; 19,11; 20,23; Metzner, Sünde. 212 Joh   10,10: „Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Fülle haben (περισσὸν ἔχωσιν)“. – Auch Paulus übersteigt auf seine Weise die Vorstellung von Heil als Vergebung der

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Antwort, die er in seinem Evangelium gibt, nicht auf eine ars moriendi hinausläuft, wiewohl auch diese impliziert ist. Sondern er blickt auf die Möglichkeit des Menschen, angesichts des Heilszeichens von Tod und Erhöhung Jesu hier und jetzt schon, media in morte, im Setzen auf Jesu Wort wahren „Lebens“ teilhaftig zu werden. Auf die Frage, wie er sich das vorstellt, antwortet die erste Abschiedsrede: „Wenn jemand mich liebt (ἀγαπᾷ με), wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben (ἀγαπήσει) und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen“ (14,23; vgl. bereits V.21). Nichts anderes ist „Ostern“: das „Kommen“ Jesu und seines Vaters „an jenem Tag“ (14,20; vgl. 20,19) zu denen, die ihn „lieben“ und sein Wort bewahren! Das aber bedeutet: Die im Sterben Jesu erwiesene Liebe Gottes vollendet sich in der von ihm erwirkten liebenden Antwort derer, die das Wort Jesu festhalten. Dieses Wort, das vom Parakleten „erinnert“ und erschlossen wird (14,26), spricht denen, die Jesus „lieben“ (14,23), das „Leben“ zu und lässt es im Zuspruch erfahren. Sich bedingungslos von Gott „geliebt“ zu wissen (14,23), ist dank Jesu Wort erfüllte Gegenwart, ja dieses Geliebt-Sein ist Leben „in Fülle“. Das ist der Kern der präsentischen Eschatologie des vierten Evangeliums. Der erste Johannesbrief, der älteste Kommentar dazu, hebt die in der angedeuteten Theologie der Liebe liegende ethische Verpflichtung als Kriterium christlicher Wahrhaftigkeit hervor: „Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in/unter uns, und seine Liebe ist in/unter uns vollendet (τετελειωμένη)“ (1Joh  4,12)213. Über diese vollendete Liebe sagt er: „Angst ist nicht in der Liebe, vielmehr treibt die vollkommene Liebe (ἡ τελεία ἀγάπη) die Angst aus“ (1Joh  4,18). Mit Jesu „österlichem“ Wort, das zu gegenseitiger Liebe verpflichtet, können die Glaubenden getrost der Zukunft entgegengehen. 2.2.3 „… er hauchte sie an“ (Joh  20,22). Der Geist Gottes – Frucht des Todes Jesu Es ist bemerkenswert, dass über den ältesten Evangelisten hinaus Matthäus, Lukas und Johannes in das Passions- und Ostergeschehen eine pneumatologische Dimension einbeziehen, freilich auf sehr unterschiedliche Weise. Matthäus greift sie in der Abschlussszene seiner Ostererzählung auf, wenn er den Auferweckten auf dem Berg die elf Jünger unterweisen lässt: „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht also hin und macht alle Völker zu Jüngern, indem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und sie lehrt, alles zu halten, was ich euch gesagt habe! Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis an das Ende der Welt“ (Mt  28,17–20). Bei Lukas öffnet der Auferweckte, als er „den Elf und denen mit ihnen“ (Lk  24,33) begegnet, „den Sinn, um die Schriften zu verstehen“ (Lk  24,45), und erklärt ihnen, dass die Schriften nicht nur seinen Tod und seine Auferstehung vorhersagen, sondern auch die Verkündigung der Umkehr zur Vergebung der Sünden „unter allen Völkern“ (Lk  24,46 f.). Um diese Sünden, wenn er den Status des Glaubenden als ein „Neu-Geschaffen-Sein“ beschreibt; 2Kor  5,17: εἴ τις ἐν Χριστῷ, καινὴ κτίσις·τὰ ἀρχαῖα παρῆλθεν, ἰδοὺ γέγονεν καινά. 213  Vgl. auch 3,16–18; 4,20 etc. – Joh  13,34 und Joh  15 f. (mit 15,9–17) sind redaktioneller Nachtrag aus dem Geist von 1Joh.

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weltweite Verkündigung auszurichten, würden sie „mit Kraft aus der Höhe bekleidet werden“, der „Verheißungsgabe“ des Geistes, die er ihnen in Bälde vom Vater zukommen lasse (Lk  24,49).

Im Anliegen, die pneumatologische Dimension in das Kreuzes- und Ostergeschehen einzubinden, ist Johannes wieder am konsequentesten vorgegangen. Der Auferweckte zeigt den Jüngern seine Wundmale und seine Seite, aus der Blut und Wasser hervortraten (Joh  20,20), und „haucht“ sie „an“: „Empfangt heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden nachlasst, denen sind sie nachgelassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten“ (20,22). Der „Geist“ Gottes vergegenwärtigt das Heilswerk in der Zeit. Er erschließt es (Joh  14,26) und löst es aus den Grenzen von Ort und Zeit (Joh  4,21–24). Paulus kämpfte gegen eine Verwechslung des „Geistes“ mit pneumatischem Überschwang und religiösem Enthusiasmus und band das „Pneuma“ an den gekreuzigten „Herrn“: ὁ δὲ κύριος τὸ πνεῦμά ἐστιν (2Kor  3,17). Johannes schaut „Pfingsten“ und „Ostern“ wie auch „Ostern“ und „Karfreitag“ ineins und erkennt im Tod Jesu die Quelle des lebensverändernden Gottesgeistes. Vom Blick auf den Gekreuzigten dürfen Glaube und Theologie nicht ablassen. 2.3 Der Tod Jesu – Impulsgeber einer „politischen Theologie“? „Das Kreuz ist ein Galgen zur Liquidierung der Subversiven und Unbequemen“. (Kurt Marti)214

Jesus endete am Kreuz, verklagt und verurteilt als „König der Juden“. Weil er angeblich nach politischer Macht gegriffen habe, erlitt er von der Hand der Römer „den Tod eines politischen Verbrechers“. So „sicher“ dieses Faktum ist 215 , so unterschiedlich wurde und wird geurteilt, ob es als solches auch theologische Relevanz besitzt. Zwei exemplarische Kontroversen der Vergangenheit sollen im Folgenden nachgezeichnet (2.3.1), Vorschläge zum Verständnis der politischen Dimension des Wirkens Jesu aus jüngerer Zeit vorgestellt (2.3.2) und ein hermeneutischer Ausblick geboten werden (2.3.3). Am Ende kommen drei Rechtshistoriker zu Wort, die, veranlasst durch den Fall Jesu, Nachdenkliches zur Justiz zu sagen wissen (2.3.4). 2.3.1 Was heißt „politisch“? Forschungsgeschichtliche Schlaglichter (1) Rudolf Bultmann kommentiert seine lapidare Feststellung aus dem Jahr 1960 mit den Worten: „Schwerlich kann diese Hinrichtung als innerlich notwendige Konsequenz seines Wirkens verstanden werden; sie geschah vielmehr aufgrund eines Missverständnisses seines Wirkens als eines politischen. Sie wäre dann – historisch gesprochen – ein sinnloses Schicksal“216 . Die in diesen oft zitierten Sätzen 214 

Marti, Notizen 574. Bultmann, Verständnis 453. 216  Ebd. 453 (Kursive v. mir); 215 

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vorgenommene Unterscheidung Bultmanns zwischen Todesgeschick und Wirken Jesu 217 stößt 1964 auf die Kritik seines Schülers Ernst Käsemann: „Ich würde […] nicht das Kreuz bloß als Folge eines politischen Missverständnisses der Römer charakterisieren und in Frage ziehen, dass es als innerlich notwendige Konsequenz des Wirkens Jesu verstanden werden müsse. Das römische Missverständnis und der Hass der jüdischen Frommen lassen sich, so dunkel das einzelne bleibt, doch von den Quellen her kaum voneinander trennen“218 . (2) Wenige Jahre später – nach 1968 dominiert die Frage der gesellschaftlich-­ politischen Relevanz des Evangeliums – greift Jürgen Moltmann in seinem Werk „Der gekreuzigte Gott“ (1972) das Stichwort vom „politischen Missverständnis“ auf, tadelt, wie er meint, die darin zum Ausdruck kommende „einfache Trennung von Religion und Politik, die Bultman einführt“, als anachronistische „Rückprojektion“ bürgerlicher Trennung („Religion ist Privatsache“) in die Zeit Jesu und stellt fest: „Man kann nicht davon ausgehen, dass Jesu Wirken, wie immer es motiviert gewesen ist, ‚unpolitisch‘ gewesen sei. […] Wie sollte ein öffentliches Wirken in einer politisch so gespannten Situation zwischen römischer Besatzungsmacht und Volksaufständen, wie im damaligen Palästina, ohne politische Wirkungen geblieben sein? […] Nur wenn man ein ‚Wirken‘ auf unwirksame innere Gesinnung reduziert, könnte man das sagen“219.

Was oben (in IV.  1.1) „Ambiguität der Jesus-Geschichte“ genannt wurde, stellt Moltmann auch bei Pilatus in Rechnung, für den „der Fall Jesus von Nazareth offenbar auf der gleichen Ebene (lag) wie der Fall Barabbas, der wohl ein Zelot war und von dem es heißt, er sei ‚mit den Aufständischen‘ im ‚Aufstand‘ festgenommen worden (Mk  15,7). Es wäre jener sog. ‚Justizirrtum‘ bei den Römern wohl auch nicht möglich gewesen, wenn sich durch Jesu ‚Wirken‘ nicht die Gefahr wenigstens eines neuen Volksaufstandes ergeben hätte“220 . Moltmann geht noch einen Schritt weiter, wenn er bei Pilatus „in seiner Verurteilung Jesu als ‚Aufrührer‘ gegen die imperialistische Pax Romana der Sache nach“ mehr als „nur dieses situationsgebundene ‚Missverständnis‘ Jesu“ sieht: „Jesu Freiheit und seine Verkündigung des Gnadenrechtes Gottes traf nicht nur Pharisäer und Zeloten, sondern auch und nicht weniger die religös-kultischen und religiös-politischen Grundlagen der Pax Romana und die archaischen Gerechtigkeitsvorstellungen aller Men217  Daraus sollte nicht gefolgert werden, Jesus sei für Bultmann schlechthin „unpolitisch“; seine Auslegung von Joh  18,33–38 (siehe die Zitate oben IV.  1.2.4 [5] in [c]) belegt, dass er Jesu Wirken zwar nicht „in Konkurrenz mit weltlichen politischen Bildungen“, aber doch für „die Sphäre, innerhalb deren der Staat seine Ordnung aufrichtet“, als störend und herausfordernd, also indirekt „politisch“ begreift. – Forschungsgeschichtliches zur ntl. Wissenschaft in Deutschland: Bormann, Politikbegriff 28–49. 218  Käsemann, Sackgassen 55 f. „Der Hass der jüdischen Frommen führt […] auf Jesu Verhältnis zum Gesetz, sein Verständnis der Gnade und die daraus resultierende Gemeinschaft mit den Sündern zurück, so dass Wirken und Geschick historisch kaum unverbunden gelassen werden können“. 219  Moltmann, Gott 131 (zu Bultmann vgl. aber oben Anm.  214). 220  Ebd. 131 f.

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schen. Im unmittelbaren Sinne eines zelotischen Aufrührers hat Pilatus Jesus sicher missverstanden und musste ihn aus Furcht vor Volksaufruhr auch so missverstehen. In jenem tieferen Sinne der Infragestellung der Pax Romana und ihrer Götter und Gesetze aber muss man nachträglich sagen, dass Pilatus ihn richtig verstanden hat“221.

Die Annahme, Pilatus habe Jesus letztlich „richtig verstanden“, verbindet Moltmann mit einer politischen Interpretation des Kreuzes aus der Perspektive des Lebens Jesu insgesamt. „Sicher war Jesus kein jüdischer Freiheitskämpfer wie die beiden Zeloten gewesen, die mit ihm gekreuzigt wurden. Aber daß er in einem tieferen und gründlicheren Sinne als sie Aufruhr in die politische Religion Roms gebracht hat, ist nicht zu leugnen“222 . Er habe „mit dem status quo und seinen Herrschern“ gebrochen und „politisch feststellbare Unruhe (stasis)“ verursacht: Er „brach mit der Gesetzlichkeit – sofern sie sich auf das jus talionis konzentrierte – selbst, um das Reich der Freiheit aus der Freude an Gottes Gnadenrecht zu verkündigen und demonstrativ zu antizipieren“223. „Gegen die etablierte politisch-soziale Herrschaft formulierte er für sich selbst und seine Jünger die fundamentale Alternative: ‚Die Könige der Völker herrschen über sie, und die im Besitz der Macht sind, werden ‚Wohltäter‘ genannt. Ihr aber verhaltet euch nicht so, sondern der Größte unter euch werde wie der Jüngste und der Führer wie der Diener‘ (Lk  22,25–27; Mk  10,42– 45)“224. Mit anderen Worten: „Jesu Evangelium und sein öffentliches Verhalten waren hochpolitisch“225. 1971 machte Erich Gräßer unter der Überschrift „Der politisch gekreuzigte Christus“ „kritische Anmerkungen zu einer politischen Hermeneutik des Evangeliums“, konkret zum Konzept Moltmanns226 . Jesu Intention beschreibt er folgendermaßen: „Jesus legte mit seinem Evangelium kein Programm zu politischen Veränderungen in dieser Welt vor, sondern die authentische Auslegung der Barmherzigkeit Gottes, die den Verlorenen sucht, damit er nicht in Schuld und Irrtum umkomme“227. Er habe keine „sozial-revolutionäre Änderung von Zuständen“ gewollt, „sondern eine – nun allerdings radikale – Änderung des einzelnen Menschen: ‚Werdet anderen Sinnes! Denkt um!‘ (Mk  1,15). Gottes Herrschaft kommt, eine Herrschaft, die sich weder mit einem bereits vorhandenen Plan der Weltgestaltung verrechnen noch in ein Programm fassen läßt, mit dessen Hilfe die Gesell221  Ebd.

137. Moltmann, „Politische Theologie“, Vortrag von 1969 (zitiert von Gräßer, Christus 268). 223  Moltmann, Gott 136. 224  Ebd. 132. 225  Ebd. 137. 226  Gräßer, Christus (unter Bezug auf den oben in Anm.  208 genannten Vortrag); grundsätzlich relativiert er die Frage nach dem historischen Jesus (269–275), weil dieser „nur der halbe Christus“ sei (ebd. 279: vgl. die „Hinfühurung“ unter 1.1.1), ohne sie indes zu sistieren; zur damaligen Debatte vgl. auch H.-W. Kuhn, Gekreuzigter 3–7. 227  Gräßer, Christus 277; ebd. 281 Anm.  46 merkt er an: „Es ist heute üblich geworden, aus dieser Hinwendung Jesu zu den religiös Deklassierten die Initiierung einer sozialrevolutionären Bewegung herauszulesen. Man muß jedoch beachten, worauf bei dieser Solidarisierung Jesu mit den Sündern der Akzent ruht: die tiefste Not des Menschen angesichts der kommenden Gottesherrschaft ist für Jesus des Menschen Schuld, nicht sein soziales Elend“. 222 

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schaft der paradiesischen Zeit heraufgeführt werden könnte. Kehrt um, weil Gottes Herrschaft nahe ist!“228 . Wegen seiner eschatologischen Ausrichtung, die eine „Verwechslung des vorletzten mit dem letzten“ ausschließe, sei Jesus aber keineswegs weniger „Praktiker der Erde“. Ihm war es „offenbar gewiß, daß alles Streben nach Weltverbesserung Utopie und Illusion bleiben müsse, wenn es nicht gelänge, den Menschen von innen heraus, und das heißt: aus seiner Verantwortung vor Gott zu ändern. Aber weil er wusste, daß das allein eine Sache der Gnade ist und nicht eine Sache der Ideologie, darum war er der unpolitische Revolutionär. In keinem Augenblick hat er ‚ein politischer Messias sein wollen, sondern er hat die Herrschaft Gottes verkündigt, die aller irdischen Macht und Herrschaft entgegensteht‘“229.

Die Intention Jesu wird hier mittels Entgegensetzungen zugespitzt: Jesus intendiere die Umkehr der Herzen, nicht die Veränderung der Sozialverhältnisse; er habe den Einzelnen im Blick, nicht die Gesellschaft; für ihn sei des Menschen Schuld die tiefste Not, nicht sein soziales Elend; er wolle die Gesinnung ändern, nicht die Verhältnisse usw. Der am Ende des Zitats formulierte Fundamentalgegensatz – Jesus habe „die Herrschaft Gottes verkündigt, die aller irdischen Macht und Herrschaft entgegensteht“ – lässt allerdings aufhorchen: Enthält dieser Gegensatz nicht doch, wenn auch nur indirekt, einen Anspruch, der weit über die Umkehr des Einzelnen hinausreicht, zumal wenn Jesus davon überzeugt war, dass Gottes Herrschaft hier und jetzt schon in seinem Wirken anbricht?230 (3) Der nordamerikanische Neutestamentler Marcus J. Borg, der in forschungsgeschichtlich grundlegend gewandelter Situation 1994 den Problemkreis „Jesus und die Politik“231 erneut aufgreift, pocht auf Klärung der benutzten Begrifflichkeit. Wie der Terminus „Eschatologie“ werde auch „Politik“ in einem engeren und in einem breiteren Sinn verwendet. Davon hänge ab, ob Jesu Wirken als „politisch“ bezeichnet werden könne oder nicht: „The narrow definition associates politics with ‚government‘: to be political is to seek to affect governmental policy, or to gain a position of governmental power, or to attempt to overthrow the government. The broader definition of politics builds on the semantic associations of its Greek root polis. Polis means ‚city‘ and politics concerns the shape and shaping of the city, and by extension the shape and shaping of a society’s life“232 . 228 

Ebd. 278 (Kursive von mir). Ebd. 278 f. (Zitat am Ende stammt von Eduard Lohse). 230  Zum Lebensende Jesu am Kreuz erklärt Gräßer, Christus 280 f.: Dieses sei „nicht ohne“ sein Leben „zu verstehen“, weil sein Verhalten ihn „unausweichlich in Konflikt mit den Frommen und dem Gesetz“ gebracht hätte, „so dass es nicht von ungefähr“ kam, „dass er ‚außerhalb des Lagers‘ (Hebr  13,12 f.), also des frommen Bezirks, starb und ‚unter die Gottlosen gerechnet wurde‘ (Lk  22,37)“ (nach Schrage, Verständnis 56 f.; Kursive von mir), wobei er mit dieser Wortwahl zugleich ein angeblich unpolitisches Auftreten Jesu suggeriert. War dessen Aktion im Tempel, die Prophetie gegen das Heiligtum Israels, die Gräßer in seinem Beitrag ausspart, kein „Politikum“? 231  Borg, Jesus 97–126 („Chapter Five: Jesus and Politics in Contemporary Scholarship“); ebd. 97: „One of the most notable features of contemporary Jesus scholarship is a reopening of the question of Jesus and politics […] [T]here was a sociopolitical dimension to the message and activity of Jesus“. Vgl. auch Horsley, Death 405–408.416; ders., Politics 99–145. 232  Ebd. 98; dieselbe Unterscheidung treffen auch Theißen, Dimension 112: „Wie politisch war Jesus? Diese Frage wird verschieden beantwortet, je nachdem, ob man einen weiteren oder 229 

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Wird der Begriff im engeren Sinn gebraucht, dann sei Jesus „basically non-political“233: Er strebte nicht nach Macht, zielte weder (wie die Zeloten) im Namen der Herrschaft des einzigen Gottes einen Umsturz der bestehenden Verhältnisse an, noch wollte er diese reformieren. Wird der Begriff im weiteren Sinn gebraucht, dann besitzt Jesu Wirken eine „sociopolitical dimension“: „Jesus both challenged the existing social order and advocated an alternative. That challenge involved social criticism, an alternative social vision, and the embodiment of that vision in the life of a community“234. Ausschlaggebend für den Perspektivwechsel ist die sozialgeschichtliche Neuausrichtung der Jesus-Forschung im letzten Viertel des 20.  Jh.s, Jesu Worte und Taten nicht losgelöst von ihrem Resonanzraum der sozialen Welt Palästinas im 1.  Jh. zu betrachten, vielmehr ihre gesellschaftliche Relevanz mitzubedenken. Drei Studien (einschließlich der von Borg), die das Stichwort „politisch“/ „Politik“ im Titel tragen, seien im Blick auf Jesu Ende in Jerusalem im Folgenden kurz vorgestellt. 2.3.2 Inwiefern „politisch“? Drei Antworten aus jüngerer Zeit (1) Marcus J. Borg (1994) nimmt in der Gesellschaft Palästinas zur Zeit Jesu ein dreifaches Konfliktpotential wahr: die Spannungen zwischen Stadt und Land, den Patriarchalismus („hierarchical and male-dominated“) und die Zwänge, die eine „purity society“ mit sich gebracht hätte235. Jesus habe mit seiner Botschaft die Menschen auf allen drei Ebenen angesprochen, Stellung bezogen, herausgefordert und, ohne zur Revolte anzustacheln, Optionen für seine Nachfolgegemeinschaft formuliert. Sein Auftritt in Jerusalem habe zur Konfrontation geführt, weil dort die Konfliktlinien zusammenliefen: Die Elite der Stadt stand im Land sozial ganz oben, war patriarchal strukturiert und bestimmte in Gestalt der „Schriftgelehrten“ die „Reinheits-Gesellschaft“, die im Tempel ihre Mitte besaß. Am unteren Ende der Skala bewegte sich die Landbevölkerung236 , unter ihr der Galiläer Jesus. Erfuhr er in Jerusalem Ablehnung, dann vonseiten der hohen Priester, Repräsentanten der Elite, die von der Majorität im Land als „Unterdrücker“ erfahren wurden, nicht des Judentums überhaupt237. engeren Politikbegriff zugrunde legt. Die Antike kennt nur den weiteren Begriff. Politik ist bei Aristoteles die Aufgabe, das gute Leben in einem Gemeinwesen zu verwirklichen. In der Gegenwart begegnet oft ein engerer Politikbegriff ohne diese normative Ausrichtung: Politik ist die Kunst des Machterwerbs und der Machterhaltung“. Vgl. auch Häfner, Verkündigung 83. 233  Borg, Jesus 98. 234  Ebd. 98. 235  Ebd. 108: „In such societies, purity is the core value or paradigm structuring the social world. It becomes embedded in social structures and generates a purity system. Within a purity society, purity issues are neither trivial nor a matter of individual piety. Instead, purity is political“. 236  Ebd. 110: „The upper level of the peasant class (farmers who still owned small plots of land) were probably, with respect to purity, marginalized; some may habe abided by the purity laws, whereas others did not or could not. Those at the bottom of peasant society – degraded classes and expendables – were generally not only impoverished but also impure“. 237  Ebd. 105: „The perspective provided by peasant society awareness also enables us to see

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In diesem Kontext sei Jesu Aktion im Tempel zu sehen. Weder zeige sie ihn als Propheten der nahen Gottesherrschaft, die den bestehenden Tempel durch einen neuen ersetzt („restoration eschatology“)238 , noch als „Advokaten der Reinheit“ („advocate of purity“) (Stichwort „Tempelreinigung“), sondern: „It was anti-purity rather than pro-purity: a protest against the temple as the center of a purity system that was also a system of economic and political oppression“239.

Borg zufolge übte Jesus „radikale Sozialkritik“ („radical social criticism“) nach dem Motto: „Gottes Wille für menschliches Leben ist eher compassion als ­purity“240 . Jesus habe eine alternative soziale Vision propagiert und gehofft, dass diese sich „embryonal“ in einer „alternativen Gemeinschaft“ in Israel zu verwirklichen begönne, ohne selbst Revolutionär oder Reformer zu sein 241. (2) Gerd Theißen (2002), der im Unterschied zu Borg Politik als Kunst des Umgangs mit der Macht versteht, erklärt, bei Jesus trete uns „ein ganz besonderer Typ von Machtausübung entgegen“. Seine Machtausübung legitimiere sich durch sein „Charisma“242 , das in der „Herrschaft Gottes“ gründet, „im Glauben an den einen und einzigen Gott, der sich bald durchsetzen wird“243. „Bei der Ankündigung und Durchsetzung dieser Herrschaft“ setze Jesus „auch symbolische Handlungen ein. An die Stelle der Gewaltpolitik tritt ‚Symbol­ politik‘“244. Jesu Zeit sei „voll von symbolpolitischen Auseinandersetzungen“ gewesen. Bekanntes Beispiel ist Pilatus, der Schilder mit Kaiseremblemen in Jerusalem einzuführen versuchte und Münzen mit heidnischen Kultsymbolen prägte245. Die für Jesus folgenreichste Symbolhandlung war sein Auftritt im Tempel. „Wenn Jesus in der Tempelreinigung mit einer prophetischen symbolischen Handlung das Ende des Tempels weissagt, so ist das ein Protest gegen die Herrschaft der damaligen Priesteraristokratie – und wird auch als Protest verstanden. Jesus entzieht damit dem Tempel remore clearly where the responsibility for Jesus’ death belongs […]. Thus it was not ‚the Jews‘ or ‚the Jewish people‘ who rejected Jesus. Rather, it was a narrow circle of the Jewish ruling elite who, rather than representing ‘the Jews’, are more accurately seen as oppressors of the vast majority of the Jewish population of Palestine at the time of Jesus“. 238  Ebd. 116: „it is difficult to imagine Jesus’ message and activity as primarily concerned about the coming end of all things (the eschatology version of Jesus)“. 239  Ebd. Diese These hängt an seiner Annahme, die Deutung der Aktion durch den ältesten Evangelisten in Mk  11,17 (= Jes  52,7; vgl. Jer  7,11) sei mit der des historischen Jesus identisch. 240  Ebd.: „To say that God’s will for human life was compassion rather than purity challenged the domination system of his time“. 241  Ebd.: „I see him as having an alternative social vision that, even in his lifetime, may have been embryonically embodied in an alternative community“; ebd. 126 merkt er an: „non-reformist movements“ sind nicht unbedingt „politically passive“ (Anm.  75). – Die Rede von einer „alternative community“ widerspricht allerdings dem Befund, dass Jesus ganz Israel erreichen und keine Exklave in Israel gründen wollte. 242  Theißen, Dimension 113, in Orientierung an Max Weber, der „Charisma“ als „Legitimationsform“ von Macht und Herrschaft begreift, die ohne die Stütze von Tradition und Institution auskommt, auch ohne Anwendung von Zwangsmitteln. Weber bindet Machtausübung an Verantwortungsethik, was Teil seines weiten am bonum commune orientierten Politikbegriffs ist. 243  Ebd. 113. 244  Ebd. 113. 245  Siehe oben III.  1.4.

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ligiöse Legitimität. […] Auch wenn Jesus keinen gewaltsamen Umsturz plante, ist es kein Missverständnis, wenn ihm seine Anhänger und Gegner politische Intentionen unterstellen. Er lehnte Gewaltpolitik ab – war aber ein Meister der Symbolpolitik“246 .

Theißen zufolge entfaltet sich Jesu Wirken im Schnittfeld einerseits von auf ihn gerichteten messianisch-politischen Hoffnungen, er würde in Gottes Namen eine Herrscherrolle einnehmen, andererseits seiner unbedingten Absage an Zwangs­ politik und Gewalt. Im Vertrauen auf die Macht des Wortes und die Kraft seiner „Symbolpolitik“, zu der auch seine Exorzismen oder die Auswahl der Zwölf gehören, beschreitet Jesus einen Weg, der Theißen die provokante Frage stellen lässt, ob er „also doch ein Herrscher“ war? „Ein Herrscher, der paradoxerweise auf Gewalt verzichten wollte? Aber war eine solche Herrschergestalt in der Antike überhaupt vorstellbar?“247 Dazu verweist er auf drei Jesusüberlieferungen, die „ein humanes antikes Herrschaftsideal“ zum Leitbild für seine Anhänger erhöben 248: (a) Im Feindesliebegebot (Mt  5,43–48; vgl. V.38–42 par.) überträgt Jesus das „Ideal des humanen Herrschers, der großzügig mit seinen Gegnern umgeht“, auf einfache Menschen: „Einfache Menschen ohne politische Macht sollen sich so verhalten wie Herrscher, die durch Großzügigkeit mehr gewinnen als verlieren. Auch sie sollen Feindesliebe üben: die clementia Caesaris. Und auch sie werden dadurch ‚Söhne Gottes‘ – werden also wie antike Herrscher genannt“249. (b) Im Zebedaidengespräch (Mk  10,42–44) „kontrastiert Jesus expressis verbis ein hartes machtpolitisches Herrscherideal der Antike mit jener Herrschaft, die unter seinen Anhängern gelten soll: einer Herrschaft, welche die Form des Dienens annimmt“. Dabei orientiert er sich an einer antiken „Tradition von einem humanen Herrscher, der seine Herrschaft sogar als ‚Dienst‘ oder Sklaverei auffassen kann“ – entsprechend Platons Wort, dass „die Herrscher Sklaven des Gesetzes (δοῦλοι τοῦ νόμου)“ sein sollten 250 . (c) Auch die Seligpreisung der Friedensstifter Mt  5,9 appliziere ein Herrscherideal auf einfache Menschen, wenn es diese – wie Könige und Herrscher – „Söhne Gottes“ nennt. „Dio Cassius nennt Caesar einen ‚Friedensstifter‘ (εἰρηνοποιός; vgl. 44,49,2). Augustus gilt in der Inschrift von Priene als der, ‚der den Kriegen ein Ende macht und den Frieden ordnet‘“.

Selbst unter Zugrundelegung eines engeren Begriffs von Politik besitzt Theißen zufolge Jesu Wirken demnach eine politische Dimension: Mit seiner „charismatischen“ Vollmacht arbeitet Jesus mit den Seinen hier und jetzt schon an der „Verwirklichung des Reiches Gottes“ – „durch demonstrativen Gewaltverzicht, durch symbolpolitische Handlungen und durch ihre Beteiligung an einer humanen Herrschaft: Sie selbst sind in ihrem Leben kleine ‚Herrscher‘“. Der eschatologische Vorbehalt aber bleibt: Angesichts des aporetischen Umgangs der Menschen mit Macht und Gewalt hoffen „Jesus und seine Bewegung“ letztlich auf Gott: Nur er kann den Traum einer humanen Herrschaft verwirklichen. Er wird „seine Herrschaft so gewaltlos wie das Wachsen der Planzen“ am Ende durchsetzen. 246 

Ebd. 120. Ebd. 120 f. 248  Ebd. 121; dort auch die folgenden Zitate. 249  Jesus propagiere damit „eine Politik der demonstrativen Gewaltlosigkeit. Es ist eine Art Antipolitik“ (ebd. 121). 250  Plat, Leg  4,715d. 247 

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(3) Gerd Häfner (2009) beantwortet die Frage: „Inwiefern ist Jesu Verkündigung politisch?“ mit Verweis auf das spezifische Verständnis Jesu von der βασιλεία τοῦ θεοῦ: „Jesus verkündet eine grundlegende Veränderung, einen von Gott bewirkten Wandel dieser Welt“, überzeugt davon, dass Gott „mit dieser Veränderung bereits begonnen hat […]. Jesus verkündet, dass die bestehenden Verhältnisse schon dem Untergang geweiht sind; die Welt, wie sie jetzt ist und erfahren wird, hat nur noch kurze Zeit Bestand. Dass aus Sicht der Herrschenden eine solche Botschaft politisch nicht neutral ist, dürfte auf der Hand liegen – vor allem angesichts der für viele prekären wirtschaftlichen Lage im Palästina des 1.  Jh. n.Chr.“251. Hinzu kommt: Mit seinem Umkehr-Ruf will Jesus „nicht nur Individuen“ erreichen, „die er von einem bestimmten Gottesverständnis und einer damit verbundenen Lebensführung überzeugen wollte. Er wendet sich programmatisch an ganz Israel; das Gottesvolk soll gewonnen werden für die Annahme des göttlichen Heilswillens, der sich jetzt anfanghaft durchsetzt“252 . Eine derartige Sammlungsbewegung musste der Obrigkeit als gefährlich erscheinen. Auch wenn Jesus auf Anzeige der jüdischen Obrigkeit, die wegen seiner Tempelkritik gegen ihn eingeschritten war253, von Pilatus als politischer Rebell hingerichtet wurde, der Auslöser war kein „antirömisch ausgerichtete[r] politische[r] Anspruch“254. Mit seiner Forderung eines grundlegenden Wandels der Lebensverhältnisse hatte Jesus „kein Programm zur Gestaltung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse“255 verbunden. Seine „Warnung vor dem Reichtum gewinnt keine Perspektive, in der gesellschaftliche Missstände angeprangert würden“256 , und „[d]er Machtmissbrauch der Herrschenden wird angeprangert, doch nur um dazu die Anforderungen an die eigene Gruppe zu kontrastieren“257. „Soll man Politik nennen, was zugleich wegen der ‚demonstrativen Gewaltlosigkeit … eine Art Antipolitik‘ genannt werden muss? Aus der Negation entsteht noch keine inhaltlich bestimmte Position. Man mag zwar auch den ‚Widerspruch zum Politischen‘ indirekt ‚politisch‘ nennen, doch gilt das eben nur indirekt. Die Ablehnung des Politischen ist, jedenfalls aus Sicht der Machthaber, politisch relevant; aber eine wirklich politische

251 

Häfner, Verkündigung 87.

252 Ebd. 253 

Ebd. 95. 97; ein solcher lasse sich weder daraus ableiten, dass mit Simon Kananaios (Mk  3,18; Mt  10,4) bzw. dem Eiferer (Lk  6 ,15) einer der Zwölf aus den Kreisen der Widerstandsgruppen stammte (eine derartige Kennzeichnung eines Einzelnen ist „gerade ein Argument gegen die grundsätzliche zelotische Ausrichtung des Kreises“ [95]) noch aus dem Gespräch über die Erlaubtheit der Kaisersteuer, insofern Jesus mit Mk  12,14 „eine unmittelbar antizelotische Position“ vertritt. 255  Ebd. 99. 256  Ebd. 97. 257  Ebd. 99; ebd. 103 gegen Theißen: „Mk  10,42–44 ist nur als Kontrast zu Herrschaftsstrukturen gestaltet: die Jünger sollen nicht nach den Maximen der Herrschenden handeln“; ebenso Strotmann, Jesus 114: „Direkte Kritik am römischen Imperium und seinen Stellvertretern ist hier und auch anderswo in der Jesusüberlieferung […] nicht zu erkennen“. 254  Ebd.

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Dimension ist dadurch noch nicht gegeben“258 . Weil Jesus die Durchsetzung der erträumten „humanen Herrschaft“ von Gott erwartet, ist „die Dimension des Politischen prinzipiell durchbrochen“259. 2.3.3 Gottes Königreich – „Gegenentwurf zu allen menschlichen Reichen“ (1) Wolfgang Stegemann (2010) spricht vom „Reich Gottes“ im Verständnis Jesu als einem „heterotope(n) Gesellschaftsentwurf“260 und hält es deshalb grundsätzlich für sachgemäß, Jesu Basileia-Konzept „politisch“ zu nennen 261. Aber er nimmt mit dem von Hanna Arendt übernommenen Begriff „präpolitsch“ eine bemerkenswerte Differenzierung vor: „Der Begriff präpolitisch macht […] darauf aufmerksam, dass es in der Proklamation der Königsherrschaft Gottes durch die Jesusbewegung nicht um Aushandlungsprozesse über ein bestimmtes Gesellschaftsmodell geht, auch nicht um dessen Durchsetzung im Wege eines Konsenses oder der Abstimmung, sondern um die souveräne Implementierung (im wörtlichen Sinne ‚von oben‘) eines heterotopen Gesellschaftsmodells. Der Begriff präpolitisch bietet sich auch an, weil die Jesusbewegung als Bewegung von und für die Subalternen der Gesellschaft selbst keinen Zugang zu deren politischen Entscheidungsprozessen hatte“262 .

Jesu Wirken lässt sich nicht rein „religiös“ definieren, was schon die Adressaten seines Zuspruchs des von ihm erwarteten und jetzt schon erfahrbaren Heils der βασιλεία Gottes zeigen: Es sind vor allem „deklassierte und unterprivilegierte Gruppen Israels, Menschen mit sozioökonomischen, physischen und moralischen Defiziten“263. Ihnen gilt seine Sorge, ihnen spricht er die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu, „Metapher für eine umfassende Wirklichkeit, die im Gegensatz steht zu jeder menschlichen Herrschaft und zur erfahrenen empirischen Wirklichkeit, die von Unterdrückung und Ungerechtigtkeit, Krankheit und Tod geprägt“ ist264. Schon jetzt macht Jesus etwas von Gottes Sozialordnung erfahrbar, die mit dem von ihm erwarteten baldigen Durchburch seines Reiches umfassend Wirklichkeit werden soll. Dieses Reich wollte er nicht aktiv herbeizwingen, sondern durch ein Leben gemäß dem Doppelgebot der Liebe, auf das er die Tora zuspitzte (Mk  12,28–34 par. Mt  22,34– 258  Ebd. 103, gegen Theißens Rede von einer „Symbolpolitik“ Jesu; ebd.: „Dass mit den Weisungen zur Feindesliebe, zum Dienen und Friedensstiften Herrschertugenden aufgegriffen würden, erscheint an keiner Stelle ausdrücklich“. 259  Ebd.; ebenso Broer, Death 163 f. 260  W. Stegemann, Jesus 325; Strotmann, Jesus 103 gibt dies passend mit „Gegenentwurf zu allen menschlichen Reichen“ wieder. 261  W. Stegemann, Jesus 322: „Unter einer politischen Interpretation verstehe ich hier solche Deutungen der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu in den Evangelien, die damit rechnen, dass es in diesem Konzept inhaltlich um die Ausübung von Macht oder Autorität und um die (soziale) Transformation von Gesellschaft geht, d. h. um die Erwartung und Erfahrung der verändernden Einwirkung göttlicher Herrschaftsmacht auf die persönliche und gesellschaftliche Situation“. 262 Ebd. 263  Strotmann, Jesus 110. 264 Ebd.; W. Stegemann, Jesus 315, nimmt mit guten Gründen an, dass sich Jesu Rede von der βασιλεία aus der biblischen Tradition der Jhwh-Königspsalmen speist wie etwa Ps  146, der Gottes menschenfreundliche Königsherrschaft aus sozialer Perspektive preist.

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40), vorbereiten. Jeglicher Gewalt und Vergeltung erteilte er mit der Weisung der Feindesliebe eine Absage. Wie der Landmann, der das Saatgut aussät und gelassen auf die heranwachsende Ernte wartet (Mk  4,26–29), so setzte auch er alles auf den Durchbruch des Gottesreiches, um das seine Anhängerinnen und Anhänger inständig beten sollten (Lk  11,2 par. Mt  6 ,10). (2) Jesu Sterben steht in innerem Zusammenhang mit seinem Wirken. Für Gottes radikale Vision einer neuen Welt zu streiten, brachte Jesus in Konflikt mit der Obrigkeit. Die hohen Priester verknüpften das Königtum Gottes alten biblischen Traditionen gemäß mit dem Jerusalemer Tempel und sahen im Allerheiligsten den Thron des ewigen Gottes in dieser Welt. Wer wie Jesus an dieser priesterlichen Grundüberzeugung rüttelte, bekam die Konsequenzen spüren. Jesu Proklamation der jetzt schon im Anbruch befindlichen und sich bald vollendenden Königsherrschaft Gottes wurde als Angriff auf den Status quo und den von der Obrigkeit reklamierten Gott des Heiligtums verstanden. Der Konflikt zwischen dem Propheten und den Priestern musste tödlich enden. (3) Für Gerd Häfner ist die „Erwartung, dass allein Gott seine Herrschaft durchsetzen wird“, kein „situativ bedingter, sondern ein theologischer Grundzug der Botschaft Jesu“265. Auch wenn ihre spezifische Form als „Naherwartung“ von der Geschichte definitiv überholt wurde, bleibt der „theologische Grundzug“ gültig. Einerseits sind Jesu Nachfolgerinnnen und Nachfolger durch seine ethischen Weisungen gefordert, „dem Anbruch des Reiches Gottes entsprechend zu leben und zu handeln“; andererseits wissen sie, dass sie dadurch nicht „dessen Vollendung“ herbeiführen können (vgl. Mk  4,26–29). Es ist „[d]ieser eschatologische Vorbehalt“, der „an Jesu orientiertes Handeln auch dort bestimmen“ muss, „wo politische Mitwirkung möglich ist“. Daraus ergibt sich ein bleibendes „Dilemma“ zwischen Verantwortungsethik und den bedingungslosen ethischen Optionen Jesu: „Wie sollen diejenigen handeln, die politisch gestalten und sich zugleich in der Nachfolge Jesu verstehen? Die Weisungen Jesu sind einerseits nicht in diesem Horizont ergangen und berücksichtigen deshalb die besonderen Fragen nicht, die sich im Rahmen konkreten politischen Handelns ergeben. Andererseits sind Weisungen wie die zur Feindesliebe oder zum Verzicht auf Gegengewalt nicht indifferent gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen […]. Kann ein politischer Entscheidungsträger auf den Einsatz von Mitteln der Macht und Gewalt einfach verzichten? Kann er sich auf der anderen Seite als Person spalten und bei seinen Entscheidungen davon absehen, wem er eigentlich nachfolgen will?“

Auf diese schwierigen Fragen gibt es nicht die eine Antwort, die eine Handlungsmaxime, die auf alle Situationen gleichermaßen passt. Grundsätzlich gilt: „Aufgabe des Christen ist nicht zuvörderst, den nach den Maßstäben der Welt funktionierenden Staat zu tragen, sondern diesen Maßstäben den provokanten Kontrast des Evangeliums gegenüberzustellen“. Beispiele radikaler Jesusnachfolge in Vergangenheit und Gegenwart zeigen zu Genüge, dass sie in prekären politischen Konstel265  Häfner, Verkündigung 105 (Kursive von mir); ebd. 105 f. auch die folgenden Überlegungen und Zitate.

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lationen in Abgründe, seelische Not, Verfolgung und Martyrium stürzen kann. Hier lebt die Erinnerung an Jesu Passion in besonderer Weise fort. 2.3.4 Summum ius summa iniuria Die politische Dimension des Todes Jesu gibt noch einen letzten Gesichtspunkt zu bedenken. Nach der oben gebotenen historischen Rekonstruktion der Verhandlung Jesu vor Pilatus kann weder von einem „Justizmord“ noch einem „Justizirrtum“ die Rede sein. Ein Verstoß gegen Grundprinzipien des römischen Rechts kann dem Statthalter nicht nachgesagt werden. Dem Angeklagten gab er immerhin die Gelegenheit, sich zu erklären und zu verteidigen, die dieser aber nicht nutzte266 . Christoph G. Paulus bemerkt zum Abschluss seiner Studie zum „Prozess Jesu aus römisch-rechtlicher Sicht“: Die Verhandlung vor Pilatus stellt sich „unter religiösem Aspekt […] als sinnbildliche Verwirklichung des Satzes dar: Summum Ius, Summa Iniuria“267. Andere Rechtshistoriker urteilen ähnlich: „Im Pilatusurteil spiegelt sich die menschliche Unzulänglichkeit allen Richtertums, das Missverständnis und die Missdeutung des faktischen Geschehens, die Überforderung des Richters in schwierigen, ihm nicht geläufigen Fällen, vielleicht auch die unbewusste Abhängigkeit des Richters von der öffentlichen Meinung und ihrem Druck auf sein Urteil“268 . Jesu Prozess kann als „beispielhaft gelten: für die zwar nicht alltägliche, aber immer wieder begegnende, ratlos machende Erfahrung des rechtlich Engagierten, dass die staatliche Justiz, durchaus auf gesetzlicher Grundlage und rechtlich vertretbar, wenn nicht gar unanfechtbar, dennoch höchst ungerecht sein, den Inbegriff eines ungerechten Urteils hervorbringen kann“269. Was Jesus vonseiten der Justiz widerfuhr, widerfuhr vielen anderen Menschen auch. Sie erlangten ihre Rehabilitierung, wie er, erst im Nachhinein, oft genug zu spät. Die theologische Sicht der österlichen Rehabilitierung oder Rechtfertigung Jesu sollte den institutionskritischen Blick auf die Justiz nicht in Vergessenheit geraten lassen.

266 

Siehe oben III.  2.5.2 unter (2). Paulus, Prozess 35. Das Diktum, nach dem die buchstabengetreue Auslegung eines Gesetzes im Einzelfall zu größter Ungerechtigkeit führen kann, geht auf Cic, Off  1,10,33, zurück, der es ein „schon abgedroschenes Sprichwort (iam tritum sermone proverbium)“ nennt. 268  F. Bauer, Prozess [1965] 425. Mit dem Namen Fritz Bauer (1903–1968), Generalstaatsanwalt in Hessen, verbinden sich v. a. die Frankfurter Auschwitz-Prozesse. 269  Liebs, Prozesse 103. 267 

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3. Memoria passionis – ein Ausblick „Tried by the world, condemned by authority, buried by the churches that profess his name, he is rising again, today and tomorrow, in the hearts of the men who love him and feel he is near“. (Paul Winter)270

Die Passion Jesu ist Teil des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit (3.1). In der Liturgie der Kirche wird sie vor allem an den Kartagen erinnert (3.2). Sie lädt ein zur „Compassion“ mit allen, die ungerecht leiden und verfolgt werden (3.3). 3.1 Die Passion Jesu – Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ Das Kreuz, obwohl vielerorts auf dem Rückzug aus dem öffentlichen Raum, ist nicht wegzudenken aus der christlich imprägnierten Kultur des Abendlandes. Literatur271, Theater272 , Film 273 und bildende Kunst 274 thematisieren die Passion Jesu bzw. greifen Motive aus ihr auf. Die Tradition der Passionsmusik, die in der Barockzeit durch Johann Sebastian Bach zu ihrem Höhepunkt geführt wurde275 , lebt bis heute. Nach der „Wiederentdeckung“ der zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy (1829) 276 eroberten die Passionen des Thomaskantors über ihren genuin kirchlichen „Sitz im Leben“ hinaus auch die Konzertsäle, die musisch-ästhetischen Tempel der Moderne. Ihrem Ursprung entfremdet 277, dienen sie dort nicht mehr dem liturgischen Vollzug der 270 P.

Winter, Trial 208. Vor allem die Judasgestalt und sein „Verrat“ entzünden die Fantasie der Schriftsteller: Jens, Fall; ders., Teufel (darin: „Ich ein Jud. Verteidigungsrede des Judas Ischariot“); Oz, Judas; ders., Jesus. 272  Genannt seien die Passionsspiele: Oberst, Exercitium 235–247 (Passio Christi im Ordenstheater der Barockzeit); Liechti-Genge, Passions- und Osterspiele 31–38. – Das heute bekannteste Passionsspiel ist das von Oberammergau; es wurde grundlegend revidiert und von Antijudaismen gereinigt: Mußner (Hg.), Passion; Reinbold, Text 131–160; O. Huber, Bruder 9–43. 273  Pier Paolo Pasolini: Il Vangelo secondo Matteo (1964); Franco Zeffirelli: Gesù di Nazareth (1977); Mel Gibson: The Passion of the Christ (2004). – Corley/Webb, Jesus; Zwick/ Lentes (Hg.), Passion. 274  Hofstätter, Gekreuzigte; Morrow, Iconography; Weber, Und kreuzigten ihn. 275  K. von Fischer, Passion; Massenkeil, Oratorium I 11–72.173–223; vgl. auch Charru/ C.Theobald, Bach 20–31, Luz, Mt IV 24–30. 276 Mendelssohn mit bitterer Selbstironie nach der „Uraufführung“ der Matthäuspassion: „Was ist das für ein wunderlicher Zufall, dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen“ (bei Devrient, Erinnerungen 62). 277  Blumenberg, Matthäuspassion, bietet eine vertiefte Reflexion auf die Passion aus säkular-philosophischer Sicht. 271 

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Vergegenwärtigung des Erinnerten durch die feiernde Gemeinde, sondern dem ästhetischen Genuss der Hörerschaft. Die Choräle, ursprünglich dazu bestimmt, die Gemeinde in Bitte und Klage, Lobpreis und Dank in das Passionsgeschehen einzubeziehen 278 , haben ihr Subjekt verloren. Der Auszug der Passionsmusik aus dem liturgischen Raum birgt aber auch Chancen, denn die Sprache der Musik kennt keine Grenzen. Auch ist die Gattung der Passionsmusik nicht museal erstarrt, sondern lebt in Werken wie der Lukaspassion von Krzysztof Penderecki (1966), der Johannespassion von Arvo Pärt (1989) oder Deus Passus von Wolfgang Rihm (2000) weiter279. Was Ulrich Luz zur „Diesseitigkeit“ als Merkmal von Bildlichkeit in der Moderne bemerkt, trifft insbesondere auf die Darstellung von Passionsmotiven zu: „Während in vielen Bildern bis ins 19.  Jahrhundert die göttliche Wirklichkeit im Bild selbst einer – meist indirekten – Weise sichtbar blieb, ist dies im 20.  Jahrhundert oft nicht mehr der Fall: Der Gottesverlust, der in diesem Jahrhundert eine Grunderfahrung war, welche vor allem sehr viele Menschen in Europa gemacht haben, zeigt sich auch in vielen Bildern. Gott bleibt auf ihnen unerkennbar. Christus trägt keinen Heiligenschein, sondern wird als ein Mensch unserer Zeit dargestellt. Nicht zufällig wird die Kreuzigung diejenige biblische Szene, mit der sich Künstler am häufigsten auseinandersetzen“280 .

Das Bild des Gekreuzigten – Ecce homo (Joh  19,5) – ist das Leitmotiv der Rezeption der Passionserzählungen in der bildenden Kunst bis heute. Bemerkenswert ist die Annäherung an den Juden Jesus in der jüdischen Malerei des 19. und 20.  Jahrhunderts. „Jesus ist hier schon längst der jüdische Bruder geworden“281. Kreuzes-Darstellungen geben „eine solidarische Linie vom Leiden Jesu zum Leid des jüdischen Volkes“ zu erkennen 282 . Sie zeigen auf beeindruckende Weise: „Jesu Schicksal ist zutiefst mit dem seines Volkes verbunden. Diese Beziehung ist letztlich inniger als die der Christen zu ihrem vermeintlichen Religionsgründer“283. 278  Dibelius, Individualismus 368: „[…] die Choräle wollen in erster Linie nicht Kunstleistungen sein, sondern Stimme der idealen Gemeinde, von der anwesenden Gemeinde als ihr Besitz anerkannt und gewissermaßen im geheimen mitgesungen“. – Im Libretto von Christian Friedrich Henrici alias Picander applizieren die Choräle und Arien den Bibeltext und damit Jesu Geschick auf die Gemeinde wie das einzelne Ich. Der Antijudaismus-Vorwurf gegen die Bachschen Passionen geht deswegen fehl; vgl. J.M. Schmidt, Matthäus-Passion; ders., Mensch 102–117. Anti­ judaismus heftet sich viel eher an die Weise des Vortrags. Zur kantillierenden Rezitation der Passionsgeschichte in der Gregorianik erteilt etwa Guillaume Durand, Bischof von Auxerre im 13.  Jh., die Anweisung: „La Passion entière n’est pas lue sur le ton de l’Évangile, mais le chant du Christ est plus doucement modérè [dulcius moderatur], les paroles de l’évangéliste sont dites sur le ton de l’Évangile, les paroles des Juifs sont criées avec force et dureté [clamose et cum aspiratete vocantur]“ (franz. Übersetzung bei Charru/Theobald, Bach 22 mit Anm.  11). Die romantisierende Aufführungspraxis der Bachschen Passionen mit Massenchören lassen die Rufe „der Juden“ wuchtiger erscheinen als von Bach intendiert. 279  M. Walter, Bach 23 f., nennt weitere Beispiele. 280  Luz, Hermeneutik 346. 281  Homolka, Jude 17. 282  Ebd. 13 f.; Homolka bietet eindrückliche Beispiele mit Verweis auf Mendelsohn, Man, sowie eine Ausstellung des Israel-Museum Jerusalem 2018. 283  Ebd. 15.

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3.2 Liturgische Memoria Am Ursprung der kanonischen Passionserzählungen steht mit der Paschafeier der ersten Christen ein liturgischer Ort. An ihm erhielt die Passionsmemoria ihre Formung und es entstand die auf kultische Wiederholung angelegte älteste Passionserzählung. Aus dieser Keimzelle erwuchsen die vier kanonischen Evangelien, die mit ihrer viergestaltigen Passionserzählung der späteren Osterfeier und dem aus ihr entwickelten Triduum Paschale284 die maßgebliche Kulterzählung lieferten 285. Damit schließt sich der Kreis: Die liturgische Verlesung dieser vier Erzählungen am Palmsonntag und in der Karwoche entspricht deren ureigener Intention. Von ihrem Jerusalemer Archetyp an wollten sie nicht historisch-distanziert berichten, sondern Vergangenes vergegenwärtigen in der Überzeugung, dass die Hörerinnen und Hörer immer schon in das österliche Heilsgeschehen einbezogen sind. Ab dem 10.  Jh. werden die vier Passionserzählungen mit verteilten Rollen vorgetragen 286 , am Karfreitag die nach Johannes, deren dramatische Gestalt am ehesten zu einer derartigen Darbietung einlädt. Der Wurzelboden der vorkanonischen und kanonischen Passionserzählungen ist die Schrift, insbesondere der Psalter und die Propheten. Wenn die Liturgie des Karfreitags die Passionserzählung in den Kontext vor allem von Psalm  22 und Jesaja  53 stellt, legt sie den Boden frei, auf dem sie entstanden ist. Erst die „Stereophonie“ von Passionsevangelium und alttestamentlichen Lesungen ergeben das Ganze der Verkündigung von Tod und Auferstehung Jesu. Auch dies entspricht dem Geist der ältesten Passionserzählung. 284  Klöckener, Feier 211–229, informiert instruktiv über die Entwicklung der Karfreitagsliturgie seit der Spätantike bis heute. Wichtig: Römer, Liturgie 39–93. 285  Frühe Belege sind spärlich. Aus der Paschahomilie des Melito (Nr.  1), der Homilie des Ps.-Hippolyt und der ägyptischen Paschahomilie des Origenes schließt Auf der Maur, Feiern I 68, für das 2.  Jh „dass Ex  12 und 14 sowie der Passions- und Erhöhungsbericht die zentralen Perikopen der kleinasiatischen und ägyptischen Paschafeier“ waren. Über die Lesungen aus den Passionserzählungen in den Stationsgottesdiensten am Karfreitag in Jerusalem gegen Ende des 4.  Jh.s, aus denen sich das Triduum Paschale entwickelte, informiert bestens die Heilig-Land-Pilgerin Egeria in ihrem Itinerarum, cap.  35–39.42 f. (vgl. die Tabelle bei Klöckener, Feier 216 f.). Augustinus, Sermo 232,1, berichtet, dass in Hippo die Ostererzählungen der vier Evangelien gelesen werden, wozu die Osteroktav genügend Gelegenheit böte, die Leidensgeschichte aber stets nach Matthäus, weil das Passionsgedenken nur an einem Tag, dem Karfreitag, begangen werde. „Früher hatte ich einmal beschlossen, auch die Leidensgeschichte in jährlicher Reihenfolge nach allen Evangelien verlesen zu lassen. Das wurde auch gemacht. Die Menschen aber hörten nicht, was sie [von Matthäus her] gewohnt waren, und gerieten in Verwirrung“. Drobner, Predigten 51, zu Sermo 218 (Tractatus sancti Augustini de passione domini), einer Auslegung von Joh 19,16–42: „Sollte dies etwa die Predigt aus dem Jahr des missglückten Experimentes sein?“ Die Predigt beginnt mit den Worten: „Das Leiden unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, durch dessen Blut unsere Vergehen getilgt sind, wird feierlich verlesen (sollemniter legitur), wird festlich gefeiert (sollemniter celebratur), damit durch die Jahresfeier unser Gedächtnis noch froher erneuert […] werde“ (ebd. 114 f.). Vom 5.  Jh. an (Leo der Große; vgl. seine Predigten über das Leiden des Herrn: Serm  LII–LXX) entwickelt sich der Brauch, die Matthäuspassion am Palmsonntag, die Johannespassion am Karfreitag zu lesen, vom 7.  Jh. zusätzlich die Markus­ passion am Dienstag und die Lukaspassion am Mittwoch der Karwoche. – Speziell zur Verlesung der Evangelien an Ostern Buchinger, Auferstehungsbotschaft 481; ders., Ostersonntag 13–23. 286  Römer, Liturgie 56 f.64; Klöckener, Feier 227.

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Aus den bibeltheologischen Perspektiven dieser Studie ergeben sich Anfragen an die Feiergestalt des Karfreitags nach der römischen Liturgie, von denen drei genannt seien 287: (1) Die Feier wird schweigend eröffnet. Der Vorsteher und die übrigen liturgischen Dienste werfen sich an den Altarstufen nieder, während die Gemeinde kniet. „[D]ie Nüchternheit des Ritus, der Gesangsverzicht und das stille Gebet in einer ungewöhnlichen Haltung der Selbsterniedrigung“ drücken „die Betroffenheit der Gläubigen und ihre Trauer über den Tod Jesu sowie das Bewusstsein um die eigene Schuld und Erlösungsbedürftigkeit“ aus288 . Böte solche aussagekräftige Eröffnung der Liturgie mit dem sich unmittelbar anschließenden Gebet des Vorstehers, das die stillen Gebete der Gemeinde sammelt289, nicht die Gelegenheit, auch der Schuldgeschichte der Christen gegenüber den Juden eingedenk zu sein – gerade am Karfreitag – und um Vergebung zu bitten? (2) Der Wortgottesdienst, der in der Verlesung der Johannespassion gipfelt, mündet in die Großen Fürbitten ein, die am Karfreitag in einer alten, in den letzten Jahrzehnten aber mehrfach überarbeiteten Form vorgetragen werden. Drei der zehn Intentionen gelten Menschen anderer Religion, darunter eine den Juden. Der seit 1976 gebräuchlichen bundestheologischen Form der Fürbitte für die Juden stellte Benedikt XVI. 2008 eine christologische für den sog. außerordentlichen Ritus zur Seite, deren Ekklesiozentrik aber weithin auf Ablehnung stieß290 . „Das Kernproblem sehen die meisten Kritiker in der impliziten Bekehrungsbitte zu Beginn“291. Die Fassung von 1976 zeichnet demgegenüber eine Weite des Denkens aus, die biblisch-theologisch einzig angemessen und wohlbegründet ist: „Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will“.

(3) Zwischen Wortgottesdienst und Kommunionfeier steht die Kreuzverehrung292 , begleitet von unterschiedlichen Gesängen, darunter den sog. „Improperien“. Diese sind wie kaum ein anderer Gesang zur Kreuzverehrung „umstritten“293: 287  Klöckener, Feier 229–249, nennt „Desiderate“ der gegenwärtig praktizierten Karfreitagsliturgie; vgl. auch die Beiträge in Leven/Stuflesser (Hg.), Ostern, mit weiterführender Lit. 288  Klöckener, Feier 236; ebd.: „[D]er unvermittelte, offene Beginn der Feier (entspricht) der inneren Einheit der einzelnen Gottesdienste des Triduum Paschale; diese sind nicht in sich abgeschlossen, sondern gehören mit dem Vorausgegangenen und dem Folgenden zusammen. In diesem Fall wird an die Messe vom Letzten Abendmahl angeknüpft, die entsprechend ein relativ offenes Ende hatte und damit auf die Karfreitagsliturgie vorausverwies“. 289  Ein direktes Schuldbekenntnis der Gemeinde, wie es an Sonn- und Feiertagen üblich ist, fehlt am Karfreitag. 290  Vgl. die Analyse des Textes bei Theobald, Paulus-Rezeption; S. Winter, Christus 90–96, dokumentiert die Diskussion. 291  S. Winter, Christus 93; die Gebetseinführung lautet: „Oremus et pro Iudaeis. Ut Deus et Dominus noster illuminet corda eorum, ut agnoscant Iesum Christum salvatorem omnium hominum“. 292  Zur Geschichte des Ritus: Klöckener, Feier 215.219 f.222.242–244; Plum, Adoratio. 293  Plum, Adoratio 238; zur Problematik der „Improperien“ vgl. Hinführung 1.2.1; zu ihrer

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„Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt? Antworte mir. – Aus der Knechtschaft Ägyptens habe ich dich herausgeführt. Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser […]“.

Auf die Frage, wer die von Gott Angeklagten sind, antwortet die Liturgiewissenschaft zwar einhellig: „Es sind nicht die Juden (von damals), sondern es ist die Sünde der Heutigen, die Sünde der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde, die Christus in den Tod geführt hat“294. Aber es kann nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, dass sich bei den Gottesdienstbesuchern von heute beim Hören des Textes der Gedanke unmittelbar einstellt, sie seien es, die Jesus ans Kreuz gebracht hätten. Die Gefahr seiner antijüdischen Lesart besteht nach wie vor. Ein anderes Verständnis theologisch-homiletisch zu vermitteln, könnte für den Vollzug des Ritus eine zu hohe Hürde sein 295. 3.3 Individuelle Passionsfrömmigkeit und „Compassion“ (Johann Baptist Metz) 296 Mit Simon von Kyrene bietet schon die älteste Passionserzählung ein eindrück­ liches Bild von der Nachfolge des Gekreuzigten. Die seit dem frühen Mittelalter blühende Passionsfrömmigkeit 297 lebt von der Erwartung, Leid- und Kontingenz­ antijudaistischen Wirkungsgeschichte in spätmittelalterlichen Passionsspielen siehe Wahle, „O liebes folgk, sage mir an …“. 294  Meßner, Einführung 355. 295  Plum, Adoratio 236: „Will man die Improperien, mit ihren nachgewiesenen alttestament­ lichen und frühchristlichen Wurzeln, nicht aus der Liturgie überhaupt streichen, dann – so einhelliger Konsens der Befürworter – sei man verpflichet, sie den Kirchgängern durch entsprechende Katechese zu erläutern, wobei der polemische Missbrauch nicht geleugnet oder verschwiegen werden dürfe“. 296  Metz, Memoria 166: „‚Mitleid‘ ist kaum mehr unschuldig zu gebrauchen. Es klingt jedenfalls zu gefühlsbetont, zu praxisfern, zu unpolitisch […]. So verwende ich versuchsweise das Fremdwort ‚Compassion‘ als Schlüsselwort für das Weltprogramm des Christentums im Zeitalter der Globalisierung und ihres konstitutionellen Pluralismus der Religions- und Kulturwelten. Und ich verstehe dabei diese Compassion nicht als vages ‚Mitgefühl‘ von oben oder von außen, sondern als Mitleidenschaft, als teilnehmende, als verpflichtende Wahrnehmung fremden Leids, als tätiges Eingedenken des Leids der Anderen. Diese Compassion verlangt vorweg die Bereitschaft zu einem Blickwechsel, zu jenem Blickwechsel, zu dem die biblischen Traditionen (insbesondere auch die Jesusgeschichten) immer wieder einladen“. – Luz, Mt IV 18 f., sieht in der compassio als „mitleidende(m) Nacherleben des Leidens Jesu“, allerdings auf das Verhältnis des gläubigen Subjekts zu Christus bezogen, neben der imitatio und conformitas einen grundlegenden Aspekt spätmittelalterlicher Passionsfrömmigkeit; ebd. 21 f.: „Entgegen verbreiteten Missverständnissen möchte ich compassio nicht einfach als Frömmigkeitsübung auffassen, sondern als vertiefte Aneignung der erfahrenen göttlichen Gnade. Imitation ist keine Werkgerechtigkeit eines eigenständigen religiösen Subjekts, sondern gelebtes Nachvollziehen des Leidens Jesu in Verbundenheit mit ihm“. 297  Köpf, Passion, analysiert die Faktoren, die ihre Entstehung bedingten (25–30), stellt die Passionsfrömmigkeit und -theologie von Franziskus und Bonaventura dar (30–34) und führt in die lateinische Passionsliteratur vom 13. bis zum frühen 16.  Jh. ein (34–41): „All diese spätmittelalterlichen Darstellungen und Anwendungen der Leidensgeschichte […] beruhen auf der Wende im Verhältnis zur Passion Christi, die Bernhard von Clairvaux wenn nicht herbeigeführt, so doch unumkehrbar vollzogen und theologisch begründet hat: auf der konsequenten Einbeziehung des religiösen Subjekts in das Passionsgeschehen. Damit weist die spätmittelalterliche Passionslitera-

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erfahrungen der Glaubenden im Sich-Versenken in den Kreuzweg Jesu erträg­licher zu machen. Wie Simon von Kyrene einst Jesus die Last des Kreuzesbalkens abnahm, so setzen die Beter nun darauf, dass Jesus ihnen ihre Last leichter macht. Das Geschick Jesu wird in Zeiten der Krise, der Pest, Hungersnöte und Verarmung zum trostvollen Modell eines Weges, der im Leid Hoffnung zu stiften vermag298 . Die Passionsmystik radikalisiert den Gedanken des Mitleidens noch: „Durch das Mitleiden kehrt sich die liebende Seele ab vom Irdischen, Äußeren und wird dem Geliebten ähnlich bis hin zur unio, wo Schauende und Geschauter eins werden“299. Demgegenüber betont Passionsfrömmigkeit im Gefolge der lutherischen Rezeption der paulinischen Soteriologie stärker die Einzigkeit des Heilstodes Jesu und setzt anthropologisch weniger bei den Leid- und Kontingenzerfahrungen des Menschen an als vielmehr an dessen Verstrickung in die Macht der Sünde300 . Diese Sicht wird durch Liedgut, das durch Bachs Passionsmusik weiten Kreisen bekannt geworden ist, nach wie vor rhetorisch und musikalisch eindrucksvoll bis heute im Gottesdienst vermittelt: „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen, dass man ein solch scharf Urteil hat gesprochen? Was ist die Schuld, in was für Missetaten bist du geraten?“ „Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen; Ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet“301.

Ohne die hinter diesen Liedern stehende Soteriologie grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, bleibt – wie bei den „Improperien“ – für heutiges Bewusstsein geschicht­ licher Distanz zum Christusgeschehen die Frage, ob die Artikulation von dessen Heilssinn tatsächlich einen derart unvermittelt erscheinenden Einbezug der Glaubenden in dieses Geschehen erfordert und plausibel machen kann: Soll wirklich ich tur zugleich auf die religiöse Neuorientierung in der Neuzeit voraus“ (41); vgl. ders., Art. Pas­ sionsfrömmigkeit; Luz, Mt IV 13–22. 298  So wird etwa in unzähligen bildlichen und figürlichen Darstellungen des Gekreuzigten aus dem „Akanthuskranz“ die „Dornenkrone“ (Mk  15,17), die „mehr die hoch- und spätmittelalter­ liche Vorstellung vom ‚Schmerzensmann‘ wieder(spiegelt), als dass sie am Evangelientext anknüpft“ (Mutschler, Verspottung 100). 299  Luz, Mt IV 21, zu Mechthild von Magdeburg; ebd. auch zu Johannes Tauler und Heinrich Seuse. 300 Ebd. 22–24 („Reformatorische Passionsfrömmigkeit“), stellt den „usus“ der Passion bei Luther unter drei Aspekten vor: „1. Die Passion Jesu führt den Menschen zum Erschrecken über sich selbst […]. 2. Der wichtigste usus der Passion Jesu ist derjenige der Erlösung […]. 3. Schließlich hat auch in der reformatorischen Deutungstradition die Passion Jesu eine exemplarische Bedeutung. Sie ist Urbild des allen Christinnen und Christen auferlegten Leidens und Mahnung zur Geduld und zur Standhaftigkeit“ (22 f.). 301  Johann Heermann 1630, EG 81, 1. und 3. Strophe; Johann Sebastian Bach, Johannes­ passion, BWV 245, Nr.  7 (Str. 7); Matthäuspassion, BWV 224, Nr.  3 (Str. 1), 25 (Str. 3), 55 (Str. 4).  – Zum Passions-Liedgut insgesamt Falkenroth, Passion.

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es gewesen sein, der Jesu Tod verschuldet hat, der verantwortlich ist für seine Kreuzigung? Die theologische Reflexion hat hier nochmals tiefer anzusetzen, um den Tod Jesu als „Zeichen“ und „Offenbarung“ eines Gottes verstehbar zu machen, der sich in Jesus in die Tiefen menschlicher Existenz hinabbegeben, sich auf die Seite der Verlorenen gestellt und damit im Tod selbst Hoffnung auf Heil gestiftet hat302 . Mittels ihrer biblischen Matrix zeigt bereits die älteste Passionserzählung: Der Messias Jesus nahm Teil am Geschick aller, die ungerecht leiden. Damit rückt Jesu Weg in die Weite der Geschichte Israels. Analog dazu müsste ein Passionsverständnis für heute entwickelt werden. Bei Johann Baptist Metz ist zu lesen: „Für das Christentum […] gibt es unverzichtbare Gründungsgeschichten, die in keinem Fall ihres historischen Charakters beraubt werden dürfen und die sich einer Ästhetisierung, einer Mythisierung und Literarisierung in der Theologie strikt widersetzen […]. Die Passionsgeschichte Jesu Christi – ‚gelitten unter Pontius Pilatus …‘ – gehört in das Zentrum dieser biblischen Erzählung und muss immer wieder in ihrem Zusammenhang mit der Leidensgeschichte der Menschen erläutert werden, weil es die Geschichte im Sinne einer Großerzählung nur als Passionsgeschichte gibt. Die memoria passionis bricht sowohl jeden abstrakten Vereinheitlichungszwang zur ‚einen Geschichte‘ unter dem Diktat totalitärer Universalismen wie auch den postmodernen Zerfall der realen Geschichte der Menschen in eine beziehungslose Pluralität von Geschichten“303.

Jesus ist einzig, mit einzigartiger Wirkungsgeschichte, darin vergleichbar mit den Großen der Religionsgeschichte. Er ging dem Tod entgegen wie er lebte: in Treue zu seiner Sendung. Er predigte nicht nur Feindesliebe (Mt  5,43–48), sondern betete Lukas zufolge sterbend für seine Peiniger (Lk  23,34). Er heilte Menschen, indem er Gottes befreiende Nähe kundtat, und gab selbst angesichts des Todes die Hoffnung auf die Vollendung der Gottesherrschaft nicht preis (Mk  14,25). Bis heute ist die Botschaft seines Lebens und Sterbens nicht abgegolten. Weil Jesus „Compassion“ verkörpert, bleibt er eine Mahnung, leise und eindringlich. Sind diejenigen, die sie hören und weitertragen, unverbesserliche Idealisten? Schon deswegen nicht, weil mit dem Scheitern des Boten nicht auch das Scheitern seiner Botschaft einhergeht, die Weisung der Liebe zum Nächsten, ja zum Feind mit dem Verstummen dessen, der diese Weisung verkörpert hat, nicht als utopisch entlarvt ist. Vor allem sind sie es aus dem Grund nicht, weil der Glaube – dem Sendungsbewusstsein Jesu entsprechend – in seinem Sterben mehr zu erahnen vermag als nur menschliches Scheitern: die Gegenwart des Deus compassibilis, Grund und Anker einer Hoffnung, die über den Tod, auch das unermessliche Leid der vielen anderen Opfer in Geschichte und Gegenwart, hinaus zu blicken vermag und sich nicht damit abfindet, dass mit ihrem Untergang das letzte Wort gesprochen sein soll.

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Siehe oben IV.  2.2.2.2. Metz, Memoria 250 f.

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Zitiert wird in der Regel nach dem ersten Substantiv des Titels (bei möglichen Verwechslungen Kursivsetzung); Abkürzungen nach S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 32014.

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Register Stellen1 I. Biblische Bücher und außerkanonische Schriften 1. Bücher der hebräischen Bibel Genesis 2,7 761 3 754 12,7 720 A1105 19,15 488 A3 22,2 734 22,5 328 A166 22,12 734 22,16 734, 767 29,33 645 A681 32,27 488 A3 35,18 473 A271 42,32 280 A270 49,10–12 239, 646 49,10 703 A996 49,11 228 Exodus 10,22 (LXX) 433 A45 12 21, 113, 178 12,6 283 12,8 114 12,10 446, 57 12,12 180 A690 12,22 446 12,46 446, 57 20,4 550 24,8 116 f., 743 29,7 290 30,16 619 A524

Leviticus 6,19 669 A816 15,30 f. 349 A259 19 657 23,5–8 278 24,14 708 A1027 24,16 349 A259, 368, 669 A815 Numeri 6,3 711 A1057 9,12 446, 57 11,16.24 f. 570 12,14 664 15,30 f. 368, 669 A815 24,17 703 A996 27,18–23 570 35,30 579 A319 Deuteronomium 4,14–24 550 5,8 550 6,4 f. 160 6,4 752 6,5 158, 160, 162 9,15 109 A303 13 670 13,2–6 669 f., 671, 671 A825 13,2 f. 671 A822 13,3 211

1  Abkürzungen in der Regel nach RGG 4, Bd. 1, XX–XXVI, ThWNT Bd. 10/1, 53–85, und dem Lexikon der antiken christlichen Literatur (LACL).

864

Stellen

13,6 211, 671 A826 13,7–12 173 A649, 670 13,7 211 13,11 211, 671 A826 13,13–19 670 13,14 211 16,1–8 178 A673 16,3 114 A326 17,2–7 211 17,6 579 A319 17,8–12 667 17,12 f. 173 A649, 667, 669, 725 17,13 669 18 669 18,9–22 667 f. 18,10 f. 211 18,15–22 553, 725 18,15 13, 703, 703 18,18 13 18,20–22 668, 729, 732 18,20 211, 669 19,12 667 A802 19,15 118 A350, 502, 579 A319, 710 19,17 667 A803 21,1–9 391 A474 21,22 f. 71–76, 112, 369, 485, 661, 715, 722, 725 21,22 688 A929, 715 A1085 21,23 86, 482, 602 A435, 729, 777 25,9 664 28,29 433 A45 32,39 140 A464, 351 34,9 570 Josua 15,25 645 Richter 6,12

704 A1003, 720 A1105

1. Samuel 8 612 A489 10,1 290 12,12.17.19 612 A489 16,12 704 A1004 16,18 704 A1003 22,1 705

2. Samuel 1,16 391 A475 5,6–12 240, 254 5,6 240 5,8 255 6,6 f. 672 7,14 610 A482 8,17 576 15,23 314 20,25 1. Könige 1,8.26 576 1,33–40 239 f., 576 2,33 391 A475 2,35 576 2,37 391 A475 11,29–32 258 15,13 314 17,8–24 744 2. Könige 2,16 f. 510 A83 5 744 9,1–13 237 9,3.6 290 9,12 f. 609, 614 A501 18,37 (LXX) 579 A319 19,1.4 (LXX) 579 A319 21,18 480 21,26 480 23,15 624 A555 25,4 480 Jesaja 1,15 f. 391 A474 2,1–5 583 3,9 f. (LXX) 383 3,10 (LXX) 58 5,14.17 593 A393 5,23 419 A600 6,10 755 9,5 704 A1003 13,10 f. 433 A45, 769 A166 20,2–4 258 25,6–8 652 A719 29,1 593 A393 40,9 56 42,1 734 50,6 (LXX) 58

865

Stellen

52,13–53,12 70, 78 A130, 655 53,5 58, 657 A750 53,12 58 52,13 (LXX) 759 A131, 777 53,6 383 A425, 661 A773 53,7 60, 190, 357, 682 A888 53,8 656, 656 A745 53,9 713 A1074 53,10–12 247, 657 A750 53,11 f. 117 A344, 655, 742 53,12 56, 383 A425, 661 A773, 709 A1038, 729 56,1–8 246, 619 56,7 56, 242, 244, 246, 618 58,2 (LXX) 190, 417 59,9 f. (LXX) 191 60,1–22 583 62,11 56, 219, 222 65,13 652 A719 Jeremia 7 620, 666, 724 7,11 57, 242, 244, 255, 618 7,34 593 A393, 593 A394 8,1 f. 714 A1078 12,7 634 13,27 594 A396 14,15 668 A806 15,9 433 A45, 769 A166 16,9 f. 593 A394 19,1 f.10 f. 258 26,1–24 666, 724 26,7–9 620 26,8 f.11 666 A800 27,2 258 27(50),32 669 A814 28,8 f. 668 A807 28,10 f. 258 31,31–34 658, 743 32,8 f. 58 38,14 f. 360 39,4 480 48,24 645 A683 49,16 669 A816 50,31 f. 669 A815 51,35 391 A475 Ezechiel 1,24 436 7,13 669 A814/816

10,18 f. 634 A624 11,22 f. 634 A624 18,13 391 A475 37,7.12 f. (LXX) 428 A18 40,45 f. 576 43,2 436 43,19 576 44,15–31 576 48,11 576 Zwölfpropheten Hosea 6,2 262 A190, 640 A655 6,6 255 9,15 246 Joel 2,2 2,10 3,4 (LXX)

433 A45, 769 A166 433 A45 433 A45

Amos 1,2 436 2,6 289 2,16 339 f. 5,18 769 A166 8,9 f. 433 f., 460 8,9 59, 191, 340, 737, 769 Obadja 7 60 Zefanja 1,15 433 A45, 769 A166 3,14–17 238 A83 3,17 56 Haggai 2,15–19 624 2,15 627 Sacharja – 56 A28 6,12f, 266 9,9 f. 118, 238 f., 609 9,9 56, 219, 221, 222 f., 228, 232 11,12 f. 57, 602 A432 11,12 275 11,13 56

866

Stellen

12,10 57, 192, 447, 452 13,7 56, 300 A33, 492 A16 14 253, 619 14,4 f. 428 A18 14,4 236 A76, 614 14,9 618 14,21 242, 252, 265, 615, 618 Psalmen 1 60 2 60–62, 70, 79, 359, 361, 389, 610 A482, 611 A483 2,1 f. 373 A374 2,2 602 A435 2,6–8 12 2,8–12 610 A481 5,4 488 A3 6,4 f. 57, 315 8,3 56 10,7 f. 60 13,2 f. 772 22 62–68, 70, 79, 87, 111, 122, 472–474, 711 22,2–22 65 22,2 f. 468 f. 22,2 47 f., 57, 465–468, 602 A433, 712, 770 f. 22,7–9 473 22,8b 59 22,9 56, 59, 428 22,19 56, 450 A153, 454, 473 22,23 68 22,26 f. 68 22,28–32 612 22,29 68, 712 25,6a (LXX) 58 A38 26,6 391 A474 27,10 328 27,12 60, 383 31,6 (LXX) 57, 80, 439, 466, 749, 770 31,10 57 31,12 60, 328 34,21 446, 454, 57 35,11 60 35,20 60 36,4 60 37,32 60

38,12 (LXX)

59, 431 A35, 440, 469 A252, 473 38,14–18 357 38,14 f. 60 38,37 60 39,10 357 41,8–10 280 41,10 56, 57, 60, 298 A20, 307 42,4 170 A628 42,6 57, 315 42,12 57, 315 43,2 57 A31 43,5 57, 315 45,9 480 46,6 488 A3 47,1 170 A628 51,14 58 52,2 60 54,5 60 55,2–6 57 55,12 60 55,13–15 60 55,18 460 A202 55,23 59 55,24 60 58,2 399 A515 69,9 328 69,10 56, 252, 254, 258, 618 69,22 58 f., 428, 445, 451, 467, 711, 759 71,10 f. 60, 275, 279 73,13 391 A474 73,19 (LXX) 383 A425 79,3 714 A1078 79,5 771 86,14 60 88,9 (LXX) 59, 440 A92, 473 89,20 704 A1003 90,14 488 A3 93,1 (LXX) 483 A339 104,29 f. 769 A167 109,25 59 110,1 58, 350, 361 113–118 114 118,21 (LXX) 383 A425 118,25 f. 56, 219, 237, 609 118,25 228 118,26 222, 628, 631 126,2 170 A628

867

Stellen

143,8 488 A3 148,1c 56, Ijob 30,10 664

30,1–27 35,177

178 A673 278 A257

2. Septuaginta und weitere frühjüdische Schriften

Sprichwörter 11,2 13,10 17,15 18,5 31,6 f.

669 A814 669 A814 417, 419 A600 419 A600 58, 456, 579 A319

Apokalypse des Esra 7,14 473 A271

Rut 2,14

711 A1057

Aristeasbrief 89–91 95 304 f. 305 f.

551 A146 559 A198 460 A203 391 A474

Ascensio Isaiae 1–5 2,12.15 3,1.10–12 5,12

153 f. 671 A822 671 A822 671 A822

Assumptio Mosis 7

574 A296

2. Baruch (= syrBar) 4,1–5,6 8,2 39,7 41,4 64,6

266 A213 634 A624 610 A479 634 A624 634 A624

Kohelet 2,5 f. 480 A317 12,5 760 12,7 445 A126, 760 Daniel 4,13 460 6,11 460 A202 7,13 58, 350 7,15.28 488 A7 8,27 488 A7 12,2 f. 510 A84 12,7 460 Esra 1,17 4,21 (LXX) 6,19–22

278 A257 473 A271 178 A673

Nehemia 3,16 (LXX) 10,8 (LXX)

480 561 A212

1. Chronik 2,16 f. 705 13,9 f. 672 28,5 612 A489 29,22 576 2. Chronik 9,8 13,8 16,14 (LXX) 24,20–22

612 A489 612 A489 480 A312 135–137, 163

Apokalypse des Mose 32,3 473 A271 42,8 473 A271

4. Esra 6,23–25 460 7,29 610 A482 10,46–55 266 A213 12,3 488 A7 1. Henoch (= äthHen) 22,5–13 510 A84 48,10 610 A479 52,4 610 A479 61,8 266 A213 62,14 652 A719 89,56 634 A624 90,28–29 266 A213

868 91,13 94,5 98,13

Stellen

266 A213 671 A822 714 A1078

2. Henoch (= slawHen) 1,8 f. 510 A83 2,4 510 A83 42,5 652 A719 51,4 460 A202 Jesus Sirach 15,11–14 582 A331 20,16 60 51,12 576 Jubiläen 1,27–29 266 A213 23,23 714 A1078 25,21 266 A213 49,1–23 178 A673 49,1 283 49,2 177 A669, 180 A690 49,22 177 A669, 283 Judit 8,6

483 A339

1. Makkabäer 2,6–8 666 A800 3,1–8 705 A1012 7,17 714 A1078 12,37 314 13,16 561 A212 13,49–53 614 A501 13,51 232 A68 14,20.28 561 A212 2. Makkabäer 5,10 6,18–31 7 7,7 7,11 7,12 7,14 7,18 7,23 7,29 7,32 7,36

714 A1078 138 f. 139 f., 164, 599 A420 510 A84 510 A84 165 A604 510 A84 165 A604 510 A84 510 A84 165 A604 510 A84

8,5 140 8,26 483 A339 9,15 714 A1078 11,27 561 A212 14,4 232 A68 4. Makkabäer (4Makk) 5,1–7,23 141 5,4 141 5,16–21 388 A457 5,22 141 6,2–11 692 A964 6,11 165 A604 6,13 165 A604 6,28 f. 141, 656 8,1–14,10 141 8–12 599 A420 8,4 165 A604 8,15 141 9,25 473 A271 9,26 165 A604 10,10 165 A604 12,19 (v.l.) 473 A271 13,17 719 A1103 14,11–17,6 141 16,19 140 A464 16,25 719 A1103 17,20–22 141 Liber Antiquitatum Biblicarum 53,6 331 A189 Paralipomena Jeremiae 9,7 473 A271 Psalmen Salomos 8,16 f. 221 A5 4,2 581 A325 17 606 17,1 634 A624 17,3 f. 612 A489 17,21–25 610 A481, 611 A483 17,21 606 17,22 704 A1003 17,24 606 17,30 f. 265 A209 17,32 606, 610 A479 17,33 f. 612 A489 17,35.37 606 17,42 606

869

Stellen

18 606 18,5.7 606 Testament des Abraham (Rez. B) 12 445 A126, 473 A271 Testament des Hiob 39,8 714 A1078 39,11–41,4 510 A83 52,11–53,8 105 52,11 484 A350 Testamente der zwölf Patriarchen Levi 5,1 f. 266 A213 Juda 25,1 719 A1103 Dan 5,9 266 A213 Benjamin 9,2 266 A213 10,6 f. 719 A1103 Tobit 1,17 f. 2,3–8 4,3 f. 14,4–7

479 A311, 715, 725 479 A311, 715, 725 715, 725 266 A213

Tragiker Ezechiel 156–174

178 A673

Vita Adae et Evae 45,3 50,3

473 A271 473 A271

Vitae Prophetarum – 484 A349 23,1 f. 137 A448 Weisheit 2,12–21 69 2,16–18 428 2,17 f. 59 2,20 664 4,12–5,7 69 f. 16,27 f. 460 A203 18,2 180 A690 18,6–9 178 A673 18,9 114 A332

3. Qumran CD (Damaskusschrift) 10,18 570 A273 12,2 f. 670 A821 15–17 254 A161 0QNJ –

266 A213

1QH (Hodajot/Loblieder) 4,6 f. 670 A821 13 (= 5), 12 65 A65, 468 A246 13 (= 5), 23 f. 307 A59 1QM (Kriegsrolle) 7,4 14,9 f. 19,9–13

254 A161 670 A821 610 A481

1QS (Gemeinderegel) 6,24–7,25 589 6,27 589 A375 9,11 610 A479 1QSa (Gemeinschaftsregel) 2,5–7 254 A161 1Q29 Frg. 13,3 + 14,1

669 A813

2Q11 (= 2QDeut b) – 669 A811 4Q161 (= 4QpIsa) Frg. 7–10

610 A481

4Q166 (= 4QpHos) 2,5 670 A821 4Q169 (= 4QpNah) Frg. 3–4 2,8 670 A821 3,4 f. 669 A813 Frag. 4 1,7 72 A97 4Q174 (= 4Qflor) 1,2–13 3,11 f. 3,18 f.

266 A213 610 A482 611 A483

870

Stellen

4Q246 (= 4QpsDan A) 1,9–2,1 610 A482 4Q252 (= 4QPatr) 1–7

239 A96

4Q266 Frg. 6 2,6.9–10

672 A835

4Q285 Frg. 5

78 A130, 610 A481

4Q369 Frg. 1 2,1–11

610 A482

4Q375 Frg. 1 1,4 f. 1,6–9

669 669 A813

4Q394 Frg. 8 4,2–4

254 A161

11Q19 (= 11QT/Tempelrolle) 17,6–16 178 A673 29,7–10 266 A213 35,1–8 672 A835 54,8–18 670 A821 54,19–55,1 670 A821 55,2–14 670 A821 55,15–21 670 A821 56 667 A803, 670 A821 56,8–11 669 A811 61,2–4 669 A811 64,12 72 5/6ḤevPs 10–12 5/6ḤevPs 11,12

68 A76 64 A61

4. Neues Testament Matthäus 1,21 743 1,23 743 2,3 739 2,16–18 48

5,9 786 5,23 f. 621 f., 635 5,38–42 614, 786 5,43–48 786, 797 5,44 f. 11, 614, 635 5,46–48 614 6,10 786 10,4 646 12,14 48 13,16 f. 10 13,43.49 744 13,52 738 14,33 740 15,2 f.6 579 16,16 740 16,20 611 A485 16,21 48 16,22 740 17,22 48 18,21 f. 635 20,18 f. 48 21–28 738 21,1–24,2 739 21,1–9 219 f. 21,9 222 f. 21,10–17 220, 254 21,10 f. 741 21,10 739 21,14 240 21,15 739 21,17 f. 615 A505 21,18 284 21,23 242, 739, 741 21,39 708 A1027 21,46 741 22,7 742 22,15–22 739 22,23–33 739 22,34–40 786 f. 22,23 284 22,34 f. 739 23,1–39 739 23,1 741 23,10 611 A485 23,29–36 744 23,34 738 23,35 f. 742 f. 23,39 742 24,3–25,46 739 24,31 744

Stellen

24,42.44 739 24,45–51 739 25,13 739 25,31–46 739, 744 26–28 738 f. 26,1–5 270–274 26,1 f. 739 26,3 f. 274 26,3 591, 741 26,6 615 A505 26,8 290 26,15 602 A432, 648 26,17–46 291 f. 26,17 174 26,18 740 26,19c 174 26,26 113 26,27 f. 742 26,28 743, 761 26,29 113, 743 26,30 113 f. 26,31 f. 743 26,31 56 26,34 174, 180 A690 26,36–46 309 26,38.40 f. 739, 743 26,40 743 26,42 740 26,45 f. 740 26,47–56 329–331 26,47 741 26,53 f. 740 26,57 342, 591 26,59 741 26,61 260 26,62–66 591 26,63 682 A889 26,64 739 27,1–26 390–393 27,1–31b 370 f. 27,1 741 27,4 741 27,3–10 369 27,4 743 27,12–14 682 A889 27,14 165 A604 27,15 175, 280 27,19 369, 548, 688, 741 27,24 f. 369, 743 27,25 17 A93, 391 f., 742 f.

27,26 370 27,32–56 427 f., 27,32 85 27,37 472 27,40 260 27,43 56, 741 27,45–54 744 27,46 167 27,49b 17 A93 27,50b 473 27,53 744 27,54 197, 740 27,56 110 f. 27,57–61 423, 475 f. 27,61 508 27,57 175 27,62 176 27,63 f. 671, 671 A826 28,1–10 488 f. 28,1 110 f., 176, 508 28,2 744 28,16–20 738, 743, 779 28,8–10 489, 507 f. 28,8 770 28,9 f. 717 28,11 f. 741 28,15 742 28,20 743 Markus 1,1 349, 438, 727, 738 1,4 728 1,10 736 1,11 734 1,15 782 1,21–38 283, 462 1,35 317 2,5 11 2,7 351, 729 2,8 736 2,10 11 A54 2,15–17 11 2,16 728 2,19 652 A719, 728 2,20 180 3,16 646 3,18 645 3,21 728 3,22 672 3,28 352

871

872 3,6 48 3,14 296, 743 3,19 49, 646 3,20 f. 109 3,21 728 3,22 729 3,31–35 109 3,31 f. 728 3,35 736 4,26–29 789 4,41 729 5,34 109 5,36 433 A42 6,2 f. 594 6,3 109 6,13 11 6,17–29 105, 154–156, 164 6,15 465 6,29 106, 156, 482 A331, 485 A357 6,30–56 462 f. 6,46 317 7,3.5.8 579 7,22 669 A816 8,11 f. 265 8,12 736 8,15 279, 704 A1002 8,21 297 8,28 465, 729 8,29–38 349 8,31 48, 235, 435, 465, 638 A649, 689, 735, 759, 768 8,32 f. 737 8,34 f. 736 8,34 85 8,35 435 8,38 838, 350 9,11–13 465 9,23 f. 433 A42 9,31 48, 235, 638 A649, 735 9,41 611 A485 10,17 f. 8.12 A63 10,32 f. 233–235 10,32a 105 10,33 f. 48, 235, 638 A649, 665 A791, 735 10,35–37 648 10,38 f. 640 A656 10,41–45 306, 782

Stellen

10,45 641, 657 A751 10,42–44 11, 786 10,44 f. 247 10,45 117, 434 11,1–10 219 f., 224–227 11,1–6 118 11,1 233–235 11,2 239 11,8 f. 386 11,9 f. 222 11,10 62 11,11 f. 615 A505 11,11 101–103, 220 11,12–14 246 11,15–18 243–246, 256, 618–620 11,16 48, 245, 245, 618 11,17 56, 244 f., 257 11,18 245, 387 11,19 f. 615 A505 11,22 f. 12 11,24 f. 246 f. 11,27–33 250 11,28 242 12,1–11 637, 656 12,12 48, 387 12,14 537 12,18–27 574 A295, 637 12,28–34 11, 788 12,34 478 12,35 611 A485 12,41–44 637 13 735 13,1 f. 259, 622–625 13,2 436, 616, 626, 635 13,9–11 83 f. 13,10 247 13,21 611 A485 13,22 671 A822 13,24–27 350 13,33 80 13,37 80, 324, 735 14,1 f. 270–274.277–281, 288 14,1 99 f., 173, 177, 283 14,2 173, 617, 632 14,3–9 289 A313, 723 14,3 615 A505 14,4 290 14,8 736 14,9 522 14,10 f. 270–274.277 f.280 f., 288

Stellen

14,12–42 291 f. 14,12–16 46, 100, 104, 118 f. 14,12 174, 177, 283 14,16 104, 174 14,17–25 293.296–298 14,18–20 121, 298, 302 f. 14,18 120, 525, 650 14,19 f. 303 14,20 f. 303 14,20 114, 303, 650 14,21 299, 638 A649, 766 14,22–24 97.115–118 14,22 113 14,23 116, 297, 658 14,24 318, 434, 436, 653 f., 737, 761 14,25 113, 115, 121, 301, 640, 650, 652 f., 657, 659, 713, 719, 724, 736, 797 14,26–31 294 f., 297 14,26 113 f. 14,27 f. 736 f. 14,27 297, 300, 651 14,28 298, 300, 492 14,29 300, 736 14,30 f. 121, 300 14,30 174, 180 A690 14,31 736 14,32–43 121, 309, 317–327 13,34–36 315 14,34 80, 602 A432, 736 14,35 f. 317 14,36 80, 319, 736, 765 14,38 80, 735 14,40 750 14,41 f. 315 f., 325f 14,43–52 121, 329 f., 335–340 14,47 338 14,48 34 14,50 297, 500, 648, 651, 750 14,51 f. 338 14,53–72 81 f., 84 f., 341 f., 348–359, 388–390 14,53–64 33–35, 662, 672 f. 14,54 525 14,55 f. 356 14,55 289, 663 14,58 259–264, 348, 617, 735 14,60–62 165 A605 14,61 f. 85, 348 f., 611 A485

14,61

873

62, 165 A600, 438, 609, 682 A889, 727, 738, 764 14,62 357, 610 A479, 735 14,64 478, 586, 662 14,65 358, 665 A794, 709 14,66–72 358 f. 15,1–20c 370, 378–390, 401–405 15,1 34, 401, 525 15,2–5 37, 383–385, 412 f. 15,2 62, 165 A600, 375 f., 605, 609 15,3 f. 690 15,4 f. 682 A889, 691 15,5 165 A604, 764 15,6–8 403 f. 15,6 175, 683 f., 686 15,7 381 f., 781 15,8 184 A717, 416, 683 15,9–14 386 f. 15,9 62 15,10 f. 404, 416 15,12 62, 604, 609 15,15 370, 405, 679 A875, 688 f. 15,16–20c 387 f., 417, 665 A794, 709 15,16 677, 689 15,17 796 A298 15,18 62, 609 15,20d-41 427, 432–438 15,21 85 f., 175, 182, 454 f. 15,23 455 f. 15,24 56, 65, 451 15,25 456 f. 15,26 34, 472, 605, 609 15,29–32 432 f., 463 f. 15,29 f. 260 15,29a 450 15,29 65 15,30–32 65, 736 15,31a 450 15,32 62, 450, 463, 606, 609 15,33–39 744 15,34 57 A31, 65, 167, 317, 711, 736, 759, 770 f. 15,37 436, 473, 712 15,38 124, 469, 737 15,39 62, 70 f., 124, 437, 469, 734, 737, 759

874 15,40 107–111, 182 15,41 183 15,42–46 106, 423, 475, 478 f., 482–484 15,42 175, 177 A666, 477 15,43 183 15,44 f. 713 15,45 714 A1079 15,46 106, 111, 184 15,47 106–111, 182 16,1–8 106, 487 f., 492 f., 499 f., 511, 716 A1089 16,1 107–111, 176, 182, 478 16,2 176, 737 16,4 f. 110 16,6 f. 186 16,6 75 f., 499, 510 16,7 492, 499 f., 660 A770, 666, 717, 723, 737 16,8 493, 500 Lukas 1,1–4 745 1,3 49, 731 2,2 536 A46 2,24 619 2,34 744 2,41–52 255 2,46 f. 594 3,2 591 3,23 594 4,2 751 4,9–12 744 4,16–30 744 4,22 594 4,33 751 6,11 48 6,16 645 f. 6,27 f. 614, 635, 774 6,27 748 6,28 f. 594 A397 6,29 f. 614, 681 6,32.34–36 614 7,36–50 270, 289 7,36 641 7,47 f. 11 9,6 11 9,22 49 9,44 49 9,51 744, 761

Stellen

9,60.62 11 10,17 11 10,18–20 10 A53, 728, 754 10,23 f. 10 10,30–37 637 11,2 789 11,20 10, 728 12,4 142 A476 12,8 f. 11 12,38 180 12,50 640 A656 13,1–3 557 13,31–33 48 13,32 639 f. 14,15 652 A719 17,1 f. 299 f. 17,3 f. 635 18,10–14 637 19,10 751 19,28–40 219 f. 19,28 f. 233–235 19,28 105 19,37 750 19,38 222 f., 750 19,39 f. 49, 223, 230, 232 19,40 229 19,41–44 220, 625–627 19,45–48 255 f. 19,47 f. 284, 746 19,47 561 A211, 745 19,48 747 20,1–21,38 745 20,1 745, 747 20,6.16.19 747 21,37 f. 284, 615 A505, 747 22,1–6 270–274 22,1 177, 276 22,2 173, 747 22,3 275 f., 746 22,4.5 746 22,6 746 f. 22,7–46 291 f. 22,7 174 22,13d 174 22,14 115 22,15–18 638 22,15 f. 174 22,17 121, 301 22,18 121 22,19 647

Stellen

22,20 751 22,21–23 293, 302–304 22,21 303, 647 22,23 304 22,24–38 293 22,24–30 305 22,25–27 782 22,27 305 f. 22,29 f. 751 22,29 284 22,31–34 294 f., 305 22,31 f. 746 f. 22,31 754 22,37 709 A1038, 751 22,39–46 309, 311–313 22,39 f. 313 f. 22,39 615 A505 22,40 746 22,43 f. 310 f., 315 22,45 750 22,46 746 22,47–53 329 22,47 331 22,50 751 22,52 f. 747 22,53 284, 746 22,54–71 359–361 22,54 331 22,55–62 361 22,61 f. 746 22,63–71 344–347 22,66–71 165 A606 22,66 f. 346 22,66 591 22,67 f. 360 22,69 f. 360 f. 22,71 359 23,1–25 393–396 23,1–5 370, 372 23,2 f. 412 f. 23,2 537, 671, 748 23,4 757 23,5 671 23,6–12 370 f., 372, 602 A435 23,9 682 A889 23,11 665 A794 23,13–25 370, 372, 731 23,14 671, 757 23,18 377 23,22 757

875

23,25 370, 688 23,26–49 428 f., 438–440 23,26 85 23,27–31 751 23,34 167, 169, 429, 749, 751, 797 23,38 472 23,40–43 439 23,40 f. 749 23,42 f. 749, 751 23,42 760 23,43 167, 749, 751, 770 23,46 80, 135 A439, 167 f., 429, 473, 749, 770 23,47 168, 439 f. 23,48 439, 746, 748 23,49 440, 750 23,50–56 423, 476 f., 479 23,50 f. 569 A264 23,53 477 23,54 175 A657, 193, 477, 482 A329 23,56 477, 481 24 501 f. 24,1–12 489 f., 493 f. 24,1 176, 482 A329 24,2 478 24,3 510 24,4 491, 505 24,6 502 24,7 761 24,9 f. 491, 509 24,9 500, 770 24,10 110 f. 24,12 491, 495 f., 505 24,20 688 24,21 648 24,26 751, 761 24,33 750 24,34 f. 770 24,34 666, 779 24,36–43 67, 503 f. 24,36 491, 750 24,37–39 504 24,40 491 24,41 f. 504 24,41 491 24,45 779 24,39 66 f., 710 A1044 24,46 f. 779

876 24,46 761 24,49 752, 780 24,50 f. 761 24,53 255 Logienquelle (= Q) 3,7–9 728 6,29 f. 681 7,33 f. 728 11,15.19 729 11,29 f. 265, 704 A1002 11,49–51 137, 630 12,8 f. 82 12,10 631 12,11 f. 83 f. 13,28 f. 12, 652 A719, 719 13,34 f. 617, 627–635, 635, 637, 644, 656, 724 14,16–23 630, 652 A719 17,6 12 Johannes 1,1 673 1,12 761 1,14 9, 730 1,18 673 1,19–28 752 1,29 176 1,32 f. 760 1,49 222 2,1–11 49 2,13–22 251–254, 256, 752 2,13 105, 181, 233 f. 2,15 619 2,16 257 2,17 618 2,18–22 259–261, 752 2,19 259–262 3,1 481, 584 A341 3,6 760 3,13 759 f. 3,14 759 3,16 774 4,21–24 780 4,34 753, 759 5,1–47 752 5,18 672, 752 5,19–30 752 5,19 765 5,24 760, 778

Stellen

5,25.26 760 5,30 765 5,44 752 6,4 181 6,14 f. 222 6,15 102 6,42 594 6,62 759 6,63 760 6,64 648 6,69 611 A485 6,71 645 A681 7,2–10,39 752 7,12 671 A826 7,33 440 7,38 f. 760 7,39 759 7,45–52 49 7,47 671 A826 8,21 440, 759 8,37.40 755 8,44 f. 754 f. 8,48 729 9,22.34 752 10,24 f. 52, 363 f. 344–347, 611 A485 10,30 765 10,33 362, 672 f. 10,36 52, 363 f. 344–347, 672, 752 11,1–46 49 11,1 615 A505 11,42 765 11,47–53 49, 270–273, 285–287, 662 11,47 f. 102 11,47 663 11,48 34, 670 11,49–51 591 11,53 274, 569 A264, 585 11,55 173, 177, 181, 276, 524 11,57 49 12,1–8 270, 642, 723 12,1 f. 615 A505, 641 12,1 285 12,2 285 12,3 290 12,4 290 12,6 648 12,7 290

Stellen

12,9 285 12,12–19 219–221, 229–232 12,12–15 102 12,12 104, 752 12,13 222 f., 609 12,15 239 12,16 224 12,19 223 12,20–36 103 12,20 f. 220 12,23 121, 315 f., 323, 759 12,27–29 315 f. 12,27 f. 52, 121 12,27 323 12,31 f. 754 12,31 754 12,39–43 755 13–17 291–293 13,1–20 302 13,1–30 97 13,1–11 52 13,1 174, 773 f. 13,2 94 13,2a 120 13,6–10 305 f. 13,6 754 13,12–17 52, 305 f. 13,18 57 13,21–30 302–304 13,21 f. 121, 302 13,22 304 13,23–25 362, 440, 494, 496 13,23 361, 496 13,27 94, 275–277 13,24 121 13,26 121 13,31–38 304 13,31 f. 759 13,33 440, 759 13,36–38 294 f., 754 13,37 f. 121 14,2–4 52 14,2 f. 440, 761 14,4 440 14,6 166; 753 f., 761 14,12 759 14,18–26 761 14,20 779 14,22 645 14,23 779

877

14,27 761 14,28 759 14,30 f. 121, 316 14,30 754 f. 14,31 122 A374 15,13 773 f. 16,1 f. 752 16,11 754 17,3 752 17,11.14.16 757 18,1–11 121, 122 A374, 329, 332 f., 753 18,1 f. 313 f. 18,1 121, 184 18,2 f. 755 18,2 121 18,3 331, 690, 755 18,4.8 753 18,9 754 18,10 f. 754 18,10 95 18,11 121, 315 f. 18,12–17 341, 343 f., 361–364 18,12 34, 331, 690 18,13 f. 591 18,13 591 18,15 f. 361 f., 440, 494, 496 18,19–23 165 A602 18,20 362 18,23 363, 753 18,24 591 18,28–19,16b 370, 373–378, 396–401, 406–412 18,28 175, 591 18,31 585 f. 18,32 585 18,33–38 164, 375 f. 18,33 165 A600 18,34 753 18,35 756 18,36 f. 222 18,36 674, 758 18,37 165 A600; 753, 757 f. 18,38 757 18,39 f. 377 18,39 175 18,2 f. 417 19,4 757 19,6 26, 757 19,7 672 f., 752, 757

878 19,8–11 19,8

164, 165 A602 152, 165 A604, 682 A889 19,9–11 165 A606 19,10 f. 756 19,11 755 19,12 148 A525, 152 19,13 184, 526, 601 A430, 677, 688 19,14 172 f., 175 f., 177 A665 19,16a.b 152, 688 19,16c-37 430 f., 440–449 19,16c-22 441 f. 19,17 454 19,19 472 19,20 f. 463 19,20 450, 710 A1044, 753 19,21 450, 756 19,23 f. 451 19,24 442 f. 19,25 442, 443 f., 506 19,26 f. 167, 441, 444, 494 19,28–30 444 f., 451 f. 19,28 167 19,30 167, 473, 594A398, 753 19,31–37 446–449, 452 19,31 72, 175 19,33 f. 713 19,34 448, 481, 760 f. 19,35 441, 449, 494 19,37 447 f. 19,38–42 423, 477 f., 479–481 19,38 106 19,39 478, 481, 482 A329 19,40 106 19,41 477, 482, 715 19,42 106, 482 A329 20 501 f. 20,1–23 494–498 20,1–18 95, 490–492 20,1 110 f., 176, 478 20,(2)3–10 362, 491, 494–496 20,2 491, 500, 502 20,5 491 20,8 494, 496 f. 20,9 496 f. 20,10 491 20,12 491, 502, 505 20,14–18 506–509, 717 20,14 507

Stellen

20,16–18 507 20,17 f. 489 20,17 67, 481,498, 507 f., 759, 761, 768 20,18 500, 770 20,19–23 67, 95, 498, 503 20,19 491, 761 20,20 491, 780 20,21–23 504 20,21 761 20,22 481, 780 20,23 11 20,25 503, 770 20,26 761 20,27 95, 503 20,30 f. 752 20,30 768 21 362 21,20–22 496 Apostelgeschichte 1,3 761 1,8 748 1,9–11 510, 761 1,10 502 A59 1,13 645 1,21 f. 750 2,23 748 2,29 716 A1090 2,33 752 2,36 748 2,38 748, 752 2,46 170 A628, 255, 266 3,1 266, 461 3,13–15 748 3,14 370, 419 A600 3,15.17 f. 731 4,1–3 747 4,1 576 4,3 580 A322 4,5–22 747 4,5 f. 560 4,6 591 4,20 771 4,24–30 170 A628 4,25 f. 602 A435 4,27 f. 394 4,27 748 5,12 266 5,17 f. 747

Stellen

5,17 576 5,30 73 5,34–40 584 5,36 f. 703, 706 A1016 5,39 747 6,8–7,60 587 6,13 f. 359 6,14 260 7,58 708 A1027 7,59 135 A439 7,60 137, 749 8,1 748 8,2 106, 482 A331, 485 A357 10,3 f. 461 10,9 461 A204/206 10,39 f. 73 12,3–19 180 13,29 f. 73 13,47 748 14,22 751 15,26 445 A126, 473 A271 16,25 170 A628 18,6 391 A475 21,22–25,12 372, 587 f. 21,27–40 619 21,38 165 A600 22,3 577 A309 22,24 595 A404 22,27 165 A600 22,30 580 A322 23,1–5 165 A602 23,6 584 23,8 582 24,25 165 A604 25,2–5 588 A368 25,11 f. 539 25,12 548 25,25 539 26,1 164 A598 26,9–11 588 26,17 165 A604 26,24 165 A604 26,32 539 28,24 748 Römer 1,3 f. 12 1,4 721 1,18 434

879

3,22 12 3,23 298 3,24 266 3,25 657 4,24 657 A753 3,26 12 4,17 770, 772 4,24 12 4,25 777 5,6–8 774 5,8 655 5,10 774 5,12–21 776 7,7–24 776 8,27 775 8,31 775 8,32 766 f., 775 8,34 775 8,35.37 773 8,38 f. 774 10,9–13 12 11,25–32 17 A96 11,32 298 12,21 778 13,1 399 14,15 655 1. Korinther 1,23 75, 762 2,2 764 5,8 179 f. 9,1 718 11,23c–25 649 f., 653 f. 11,24 775 15,1–11 718 15,3–5 55, 106, 186 f., 509, 511, 714 A1075, 720 15,3 776 15,4 768 15,5 509, 666, 717 15,20–28 772 16,13 324 A142 2. Korinther 3,17 780 5,14 f. 777 5,14 773 5,17 775 5,21 729, 777

880

Stellen

Galater 1,4 773, 776 2,10 68 2,16 12 2,20 773, 775 3,1 75, 474 3,13 72 f., 729, 777 4,5 777 5,11 75 6,2 709

10,3 436 11,8 f. 714 A1078 12,14 460 14,2 436 17,24 43 19,6 436 21,22 636 A630

Epheser 4,25 773 5,2 773

Acta Johannis 115

473 A271

Acta Petri –

473 A271

Philipper 2,7 730 2,8 765 1. Thessalonicher 1,10 12 2,15 f. 17 A96/98, 26 4,13 f. 770 4,14 12 5,6 324 A142 5,10 655 Hebräer 2,11 f. 68 11,5 510 A83 11,37 153 13,7 163 13,12 455 A167, 525, 708 A1027 1. Petrus 5,8

324 A142

1. Johannes 3,14 760, 773, 778 3,16 774 4,9 f. 774 4,12.18 779 Offenbarung des Johannes 1,7 447 1,10 436 1,15 436 5,12 436 6,10 771 7,9 232 A68

5. Antike christliche Apokryphen

Acta Pilati (siehe auch EvNik) 3(2) 757 A120 9(4) 474 10(2) 474 Ebionäerevangelium Fr. 7 188 A743 Hebräerevangelium Fr. 6 188 A743 Nikodemusevangelium – 199–201 Papyrus Berolinensis 22220 – 188 A743 Protevangelium des Jakobus 23 f. 137 A450 Petrusevangelium 1(1)–14(60) 189–199 2(4 f.) 474 3(7) 399 A515 4(10) 682 A889 5(15) 433 A46 5(19) 167 A615 6(21) 710 A1045 8(31) 474 12(50) 510 A82 12(50–54) 110 A310 Thomasevangelium 71 259 f.

Stellen

881

II. Philo und Josephus Philo De Josepho 22 f.25

715 A1083

De migratione Abrahami 91 570 A273 De providentia 2,50

435 A52

De specialibus legibus 1,315 f. 670 2,145–149 179 2,145 176 A658 2,148 114 A332 3,91 557 A179 3,169 f. 109 A303, 710 A1049 De vita Mosis 2,94 2,206

245 A121 349 A259

De vita contemplativa 80.83–89 170 A628 In Flaccum 36–40 72 82 83

387 A452 693 A966 679 A875 485 A356, 715

Legatio ad Gaium – 553 f. 133 554 298 248 A139 299–305 549, 554–557 299 677 303 679 306 555 A165, 677 307 f. 672 349 f. 563 A227 350 573 Quaestiones in Genesin 2,86 510 A83 Josephus Bellum Iudaicum 1,110–113 583

1,110 577 A309 1,304–313 694 A975 1,169 f. 562 A223 1,170 562 A222 1,284 f. 562 A221 1,571 568 A261 1,620 568 A261 1,648–655 161 A582, 694 A975 2,5 557 2,10 273 A228, 278 A257, 557 2,12 f. 557 2,25 562 A217 2,30 557 A183 2,56 706 2,57.60 704, 705 A1010 2,81 562 A217 2,91 533 A30 2,117 533, 539, 584, 590 2,118 537, 538 A54, 703 2,119–166 573 2,145 589 2,161 577 A309 2,164–166 581 A324 2,164 f. 582 2,169–177 549 2,169–174 549–551, 555–557 2,175–177 551 f. 2,224 f. 617 2,224 538 A51 2,232–246 589 2,246 589, 661 A773 2,258 f. 699 A984 2,259 f. 671 A825 2,262 236 A76 2,301 560 A202/207, 678 A869 2,305 539 A57 2,306.308 693 A966 2,315 184 A717 2,316 560 A206 2,318 560 A202, 561 A208 2,331 561 A216, 567 f. 2,333 560 A201 2,336 561 A216, 568 2,410 f. 560 A202, 583 2,411 560 A205 2,422 560 A201/206 2,428 f. 560 A203

882 2,428 560 A201 2,429 184 A717 2,433 f.442 706 3,92 562 A217 4,208–15 568 4,314–317 714 A1078 4,317 479 A311, 485 A354, 715 4,360 708 A1027 4,503 704 4,508 707 4,575 221 A5, 706 A1018 4,618.656 f. 737 A32 5,144 561 A216, 568 5,146 708 5,532 561, 568 5,258–274 626 5,361 680 A879 5,412 634 A624 5,449 693 A966 5,450 708 A1027 5,502–526 626 5,146 708 6,66 473 A271 6,125 f. 586 6,126 587 A363 6,220–287 626 6,243 562 A217 6,285 f. 704 A1002 6,299 634 A624 6,300–309 156 f., 592–596, 667 6,300 594 6,309 473 A271 6,344 568 A260 6,354 568 A260 6,389 245 A121 6,423 176 A658 7,1–4 623 7,29 706 7,200.202 693 A966 7,409–421 596–599 Antiquitates Iudaicae 1,218 473 A271 3,161 443 A109 4,202 485 A354/355 4,219 109 A303, 710 A1049 4,265 485 8,17 314 9,168 f. 137 A448 10,79 594 A402

Stellen

10,278 582 A331 12,103 562 A217 12,142 561 A215 12,406 666 A800 13,166.169 561 A215 13,171–173 573 13,173 581 A324, 582 13,286–298 573 A292 13,293–298 573 A292, 581 13,294 581 13,296 f. 575 13,296 579 13,297 577 13,364 561 A216 13,401–432 573 A292 13,408 f. 583 13,408 579 13,428 561 A212 14,65 461 A205 14,91 562 14,163–184 563, 568 14,309 435 A52 14,369 473 A271 15,357 563 15,358 580 A322 15,417 f. 586 16,163 483 A340 16,255 483 A339 16,357 563 16,360 f. 563 16,367 547 A124, 563 17,1 f. 536 A46 17,167 435 A52 17,41 573 A292, 577 A309 17,46 563 17,89–93 580 A322 17,90–145 564 17,90 563 17,93 563 A232 17,149–167 694 A975 17,199 480 A315 17,237 557 A183 17,269 694 A975 17,272 706 17,273.278 704 A1003/4, 705 A1010 17,285 604, 702 A991 17,301–317 564 17,314 533 A30 17,355 533 18,1–3 534

883

Stellen

18,2 538 A54, 539 18,4 f. 536 18,11–25 573 18,15 578 A311 18,16 577, 582 18,17 575, 583 18,23 703 18,26 534 18,29 f. 586 A369 19,34 f. 559 A197 18,35 548 A131, 590 18,55–65 549 18,55–59 549–551, 555–557 18,55 549 A136 18,60–62 551 f. 18,63 f. 202–207, 557 f. 18,85–89 549, 552 f., 18,88 f. 534 18,89 548 A131 18,90–95 536 A42 18,95 590 18,198 576, 576 A393 20,2–4 538 A53 20,11–14 567, 568 f. 20,11 560 A201 20,106 f. 617 20,118–136 589 20,118–124 538 A53 20,123 560 A203 20,169 236 A76

20,172 20,199 20,200–203 20,200

699 A986 573 A292, 576, 581 564–566, 589 203, 562 A217, 661 A773 20,208–210 684 20,216 f. 566 20,224–251 558 20,251 538 A52, 558 22,264 561 Contra Apionem 2,106 2,185 2,211

245 A122 559 A192 715 A1083

Vita 10 573 A292 12 573 A292 28 559 A194 62 566–568 65 566 A249 91 577 A309 191 573 A292 193 591 A387 194 560 A201, 591 A387 197 573 A292, 577 236 562 A217 280 457 A280 420 f. 710 A1046, 714 A1080

III. Rabbinisches Schrifttum Keritot 1,7

1. Gebete Achtzehngebet 18

460 A202

Ketubbot 1,1 571 Makkot 1,6

2. Mischna

255 A163

578 A315, 582

Berakhot 4,1 9,5

460 A203 245 A122

Middot 5,4 569

Eruvin 6,1.2

578 A315

Jadajim 4,6–8

Pesachim 4,4 179 8,6 684

578 A315

884

Stellen

Sanhedrin – 529 1,5 570 A269 1,6 569 2,6 570 A269 4,1 570 f. 4,3 569 6,5 71 A93 6,6 71 f. 6,7 485A355 7,5 349 A259, 79 A319 11,4 668 A806 Sheqalim 4,2

552 A153

Shevuʿot 2,2 4,1

570 A269 109 A303, 710 A1049

3. Talmudim Babylonischer Talmud Avoda Sara 8b 17b-18a 18a

157 A563 157 A563, 165 A605 162 A583/584/586

57a 574 A297 91a 684 Sanhedrin 13b 33b 42b 43a

157 A563 577 A310 708 A1027 209–212, 456, 579 A319 90a 671 Sota 47b

211 A857

Jerusalemer Talmud Berakhot 9,7 (14b)

157 A563, 161, 165 A600/604–606, 166 A607, 473 A271

Chagiga 2,2 (74d)

211 A857

Sanhedrin 1,1 (18a,42–44) 7,2 (24b,48–49)

585 A356 585 A356

Shabbat 15d (16,8/13)

632

Berakhot 56b–57a 61b

239 A97 156 f.

Eruvin 21b

157 A563, 161 A578

Chullin 2,24

165 A605

Gittin 57b

165 A605

Jevamot 1,10

590 A379

Horajot 4a

577 A310

Menachot 13,21

574 A297

Joma 39b

624 A551

Sukka 4,6

570 A270

Nedarim 50a

435 A56

5. Außerkanonische Traktate

Pesachim 3b

586 A361

Abot Rabbi Natan 4(A) 164 A598, 165 A600 5(A) 574 A297, 576

4. Tosephta

885

Stellen

Midrash Mishle 9,2

6. Midraschim Bereshit Rabba 65,22 75,6 98,9 99,8 Ekha Rabbati 1,5 1,16 Kalla –

157 A563 239 A97 239 A97 239 A97 165 A606 161 A582, 166 157 A563

157 A563, 160 A573, 161 A578/580

Semachot (Ebel Rabbati) 8 157 A563 Sifre Bemidbar 112 (zu Num  15,30) 672 A836 Sifre Devarim 32,4 (§307)

157 A563, 165 A605

Wajjiqra Rabba 25,5

634 A619

IV. Weitere (früh-)christliche Schriften Acta Apollonii 41 42

143 A483 133 A431

Augustinus De consensu evangelistarum 3,10 449 A147 Sermones 218 232,1

793 A285 793 A285

Barnabas 7,9 447 16,6 266 A213 Bernhard von Clervaux In Canticum 26,5 768 A162 1. Clemensbrief 2,1 474 9,3 510 A83 Clemens von Alexandrien Paedagogus 1,15 239 A97 Stromata 5,14 7,12,75

133 A431 483 A341

Didache 8,1 483 A341 8,3 461 Constitutiones Apostolorum 5,14 483 A341 Cyprian De dominica oratione 34 461 A208 De unitate ecclesiae 7 443 A111 Didaskalia 21

177 A 667

Epiphanius Ancoratus 31

311 A71

Haereses 70,12,3 75,6,2

483 A341 483 A341

Epistula apostolorum 9–10 110 A310 12 177 f. 15(26) 180 f.

886

Stellen

Eusebius Demonstratio evangelica 8,122 f. 555 A169 8,122 554 A164 Historia ecclesiastica 1,11,7–8 202 A801 5,1,44 607 f. 5,1,59–61 710 A1050 5,1,61 f. 714 A1078 5,23–25 177 f. 9,5,1 200 A793 9,7,1 200 A793 Praeparatio evangelica 8,14,50 435 A52 13,14,3 f. 135 A440 Gregor von Tour Liber miraculorum 1,23 763 Hippolyt Refutatio omnium haeresium 9,29,1–4 574 A296 Ignatius An die Smyrnäer 1,2

710 A1045

Irenaeus Adversus haereses 3,22,2

311 A70

Iustinus 1. Apologie 35,5–7 35,6 35,9 38 48,3

65 A67 399 A515 200 A796 65 A67 200 A796

Dialog mit dem Juden Tryphon 14,8 447 32,1 74 48,1 753 48,3 13, 753 49,1 753 53,1–4 239 A97

89,1 f. 74 89,3 74 93,4 f. 74 f. 97,3 66 98,1–106,4 65–67 101,2 87 104,1 87 Lactantius Epitome divinarum institutionum 3,20 135 A440 Martyrium Pionii 17,1–4 143 17,2 135 A439 21,9 135 A439 Melito De Pascha 1 79 80

793 A285 191 A761 114 A332, 178 A669/673, 191 A761 93 191 A761 94–99 19–21 96 190 A756 Minucius Felix Octavius 26,8 f. 38,5

135 A440 135 A440

Origenes Contra Celsum 2,55 6,4

509 A78 135 A440

Commentarii in Mt 126 449 A148 140 448 A139 De oratione 12,2

461 A208

Homiliae in Ez 6,6

768 A162, 778

Selecta in Ez 16

768 A162

887

Stellen

Prudentius Apotheosis 203–206

135 A440

Tertullian Adversus Marcionem 3,18,1 74 A107 3,19,5 f. 65 A67 3,42,4 f. 65 A67

Apologeticum 46,5

135 A440

De anima 1,4

135 A440

De oratione 25

461 A208

V. Griechische und lateinische Autoren und Schriften Acta Alexandrinorum Acta Isidori 147–149 Aelianus De natura animalium 2,1 473 A271 7,29 473 A271 Aristoteles Poëtica 1452b 1455b Artemidorus Onirocriticus 2,52 2,53 2,56

524 A19 524 A18

711 A1052 714 A1078 708 A1033

Asconius (Pseudo-) Zu Cicero: In Verrem 1,5 546 A116 Callisthenes (Pseudo-) 3,34,4 480 A312 Cicero De officiis 1,10,33

790 A267

De divinatione 2,22 143 De natura deorum 3,82 143

In Verrem – 531 2,3,84 680 A879 2,5,165 762 A140 Tusculanae disputationes 2,52 142 Curtius Historiae Alexandri Magni 10,1,37 132 A427 Digesten 1,18,12 f. 1,18,12 48,4,4 48,19,8 48,20,6 48,24 48,24,1

530 690 A943 683 A898 693 A967 711 A1053 714 A1080 485 A356

Dio Cassius 44,49,2 786 52,31,9 f. 547 A122 54,3,7 607 62,25 134 A433 77,17,1 547 A125 Dio Chrysostomus Orationes 31,75

656 A744

Diodorus Siculus 4,38,5 8,12,8

510 A83 656 A744

888 17,41,7 34,35,2

Stellen

634 A624 665 A792

Diogenes Laertius 4,33 435 A52 5,5 142 7,184 143 9,26–28 142 9,59 142 Dion Halicarnassensis Antiquitates Romanae 7,36,2 547 A122 7,50,2 547 A122 7,69,2 711 A1052 Epictet Dissertationes 1,2,19–24 149 A529 1,4,24 168 A623 2,7,3 774 Euripides Hecuba 571

473 A271

Heraclidae 53

656 A744

Herculens furens 71 f.

634 A619

Herodot Historiae 1,30,2–9 129 f. 1,214,5 127 1,107–130,3 127 A406 1,177–188 127 A406 1,201–214,5 127 A406 1,209 f. 127 A407 3,1–66 127 A406 3,65 f. 128 3,65,3 127 A407 4,190 473 A271 5,39–41 129 6,34–38 128 6,73–84 129 6,132–136 128 6,135,3 128

Horatius Epistulae 1,16,46–48 1,16,73–79

714 A1078 143 A481

Satirae 1,9

570 A273

Jamblichus De vita pythagorica 217 150 A532 Livius 33,36,3

693 A966

Lukretius 1,132–135

720 A1106

Petronius Satirica 111 f.

710 A1050, 714 A1078

Philostratus Vita Apollonii 1,21 4,44 7,14,2 8,1–8 8,31

152 A536 150–152, 165 A604 656 A744 150 A532 106, 510 A83

Plato Apologia 36b–38b 138 38c 138 40d 132 A428 Crito 43d 168 A623 54b–d 138 Leges 4,715d

786 A250

Phaedo 117a–118a 130–133 118a 168 f. Phaedrus 264c

472 A263

889

Stellen

Protagoras 312c

445 A126

Res publica 361d–e 473c–d

133 A431 400 A518

Symposion 179b–c 774

Pollux Onomasticum 9,113.129

665 A792

Quintilian Declamationes maiores 6,9 448 A139 Institutio oratoria 3,6,14

546 A116

Timaeus 86b

731 A16

Plautus Miles gloriosus 2,4 (359)

Sallust De Catilinae coniuratione 52,36 546 A113

708 A1027

Seneca Rhetor Controversiae 10,2,5

546 A116

Seneca Epistulae morales 66,48 77,20

134 A433 134 A433

De ira 1,18,4

469 A250

Ad Marciam 20,3

693 A966

Sophokles Aiax 1326

485 A353

Antigone 1071

485 A353

607 A461

Plinius (der Jüngere) Epistulae 5,5 144 8,12,4 f. 144 10,96,3 682 A891, 689 A933, 691 A952 Plutarch Alexander 14 142 64 149 A529 Cato minor 68–70

133 A432

Demetrius 29,7

473 A271

Kleomenes 39

437 A74

Otho 15,4

656 A744

Suetonius Augustus 19

Pelopidas 295a

435 A52, 438 A82

Caligula 32,2 607

De sera numinis vindicta 9 708 A1033

Domitian 10,1 607

Polybius Historiae 16,25,5–7

Nero 25,2 49,1

255 A166

255 A166 132 A427

890 Tiberius 8 58

Stellen

607 A461 690 A946

Tacitus Annalen 2,32,3 708 A1027 2,42 537 2,50 690 A946 3,38 690 A946 6,7,5 144 A489 6,19 710 A1050 12,60 538 A54 15,44,3 207–209 15,60–64 134 A433 15,62,1 134 A435 15,64,3 f. 134.145 A493 15,68 f. 145 A492 16,14 f. 145 A492 16,21–35 135.145 A494 16,25 135 16,34 f. 135.145 A493

Historiae 5,9

702, 705

Thucydides 1,138,3

129 A417

Valerius maximus 7,8,8

473 A271

Vergil Georgica 1,463–468 1,469–471

435 A52 433 A43

Xenophon Apologia Socratis 28

169 A624

Cyropaedia 8,7,6

132 A427

Memorabilia Socratis 4,8,8 f. 133 A431

Moderne Autoren Ådna, J.  245 A121, 266 A213, 619 A522/525, 628 A577 Aitken, Ellen Bradshaw  3 A18, 29 A161, 55 A22, 170 f. Aletti, J.-N.  15 A83, 57 A33, 65 A63, 77 A125 Allison, D.  38, 110 A309, 182 A705 Aslan, R.  613 f., 733 A21 Assmann, J.  87–89 Auf der Maur, H. J.  793 A285 Augustin, P.  198 f. Aus, R. D.  385 A445, 679 A875 Backhaus, K.  79 A139, 775 A193 Bammel, E.  148 A525, 205 A816, 384 A437, 585 A350, 592 A389, 603 A441, 608 A470, 672 A830, 690 A945 Barrett, C. K.  232 A66, 242 A107, 281 A278, 285 A291, 443 A111, 584 A347, 586 A362, 587 f. Barth, K.  2 Bauer, F.  790 Bauks, Michaela  68 A77 Becker, J.  10 A52, 12 f., 15 A84, 76 A118, 89 A198, 108 A295, 111 f., 182 A702, 184 f., 244 A120, 248 A138, 259 A177, 484 A352, 494 A25, 496 A30, 501 A52, 502 A58, 506 A72, 510 A85, 611 A485, 616–619, 625 A556, 636 A632, 639 f., 643, 715 A1087, 716 A1091, 718 A1098 f., 760 Bedenbender, A.  38 A226, 735 A25 Ben-Chorin, Sch.  3 A12, 13,687 A922, 733 A20 Benedikt XVI./Josef Ratzinger  5 A20, 794 Benoit, P.  3 A18, 184 A718/720, 455 A165, 535 A37 f., 584 A345, 602 A429, 639 A647, 665 A792 Benz, E.  133 A431 Berger, K.  85 A151/153, 85, 130 A423, 142 A472, 144 A484, 146 f., 153 A543, 163,

228 A44, 237 A82, 276 A248, 426 A6, 437 f., 755 A110 Berges, U.  244 Bertram, G.   1 A3, 16,171, 339 A230, 349 A260 Betz, H. D.  73 A101, 716 A1089 Betz, O.  436, 468 A244, 563 A226, 644 A677 Bickermann, E.  510 A83 Blank, J.   19 A106/109, 89 A196, 171,181, 398 A506, 399 A507, 758 A122 Blinzler, J.  1 A3, 24 A132, 31 A179, 33, 120 A363, 174 A653, 459, 574, 579–581, 583, 586, 662, 684 f., 688, 711 Blum, M.  17 A94, 429 A21, 749 A82 Blumenberg, H.  648 Borg, M. J.  633 A613, 783–785 Boring, M. E.  3, 31 Bornkamm, G.  2, 628 A576, 637–639, 641 A663, 652 A723 Bovon, F.  3 A18, 38 A226, 171 A637, 277 A251, 312 A82, 476 A289, 504 A62, 602 f., 605 A453, 625–628, 635 A629, 672 A837, 688 A928, 723 A1116, 750 Brandon, S. G.  613 Breytenbach, C.  14–16, 17 A130 Broer, I.  107, 472, 603, 605 f. Brown, R. E.  30, 33 f., 198 f., 208 A836, 285 A291, 312, 314 A91, 333 A197, 352 A281, 373 A374, 395 A491, 397, 445 A126, 480 A318, 567–569, 571 f., 576 A302, 581 A327, 642 A666, 644 A675, 662, 674 A847, 676 A856, 689 A936/939 Buber, M.  13, 733 Buchinger, H.  18 A103, 19, 21 A114, 114 A325, 793 A285 Bultmann, R.  2, 16, 46, 92, 98, 186, 306, 613, 638, 693, 713, 757 f., 761, 780 f. Burchard, C.  433 f.

892

Moderne Autoren

Celan, P.  769 Cohn, Chaim  3 A12, 35, 683 A897, 685 A904 Coles, R. A.  145 f. Collins, Adela Yarbro  29 A155, 78 A130 f., 89 A198, 109 A307, 117–119, 123–126, 130 A420, 133 A430, 136 f., 171 A635/637, 175 A655, 296 A8, 311 A74, 336 A343, 339 A229, 381 f., 384 A431, 387 A453, 401, 403, 437 f., 471 f., 492 A18, 499 A40, 510 A84, 610 A479, 623 f., 652 A717/720, 689 A938, 693 A974, 709, Collins, J. J.  610 A479/482 Crossan, J. D.  3 A18, 32 A183, 35 A206, 38, 109 A307, 170 A629, 188 A742, 198 f., 499 A40, 710 A1050, 713 A1074 Dalman, G.  225 A30, 435 A56, 468 A246, 551 A146, 654 A734 Daube, D.  371 A361, 482 A330 Dauer, A.  94, 177 A665, 313 f., 316 A101, 333 A199, 343 f., 346 A253, 360 A318, 376 A388 Dautzenberg, G.  465 A231, 619 A522, 640, 643 A669 f., 723 A118 Deissler, A.  254 Demandt, A.  399 A513, 421 A606, 536 A41, 548–558, 592 A389, 603 A441, 676 f., 687 A924, 691 A959, 767 Dibelius, M.  1 A3, 16, 37, 41 A236/238, 46, 48 A10, 67 A75, 92 A213, 116 A338, 154, 168 A622, 191 A757, 198 A781, 227 A42, 317–319, 322 A129, 324 A142, 340 A236, 469, 602 A432, 638, 647, 660, 666, 688 A926, 792 A278 Dietzfelbinger, C.  38 A226, 73 A101/103, 92 A212, 96 A224, 173 A649, 223 A14, 231 A63, 300 A33, 373 A377, 481 A326, 670 A817 Dormeyer, D.  14 A75, 29 A155/160, 50 A18, 100 A249, 119, 123 A380, 125, 146 f., 161 A581, 164, 170, 281, 284, 288, 340 A241, 460 A200 Ebeling, G.  2 Ebner, M.  65 A64, 278 f., 424 A5, 437 A70, 617, 636 A633, 643 A668, 709 A1039, 728 A7, 734 A24, 737 Eck, W.  532–538, 548 A131, 566

Eckey, W.  29 A156, 180 A686 f., 284 A285, 312 A77, 351 A270, 355, 486 A358, 502 Egger, P.  592 f., 595–597, 599 A422, 604 A446, 675 A854 Eisele, W.  716 A1090 Eisen, Ute  15, 187 f., 369 A353, 687 A922 Eisler, R.  613 Evans, C. A.  35 A208, 78 A130, 245 A125, 265 A211, 351 A273 f., 590 A379, 610 A479/482, 616 A512, 624 A551, 675 A851, 703 A993/999, 713 f. Feldmeier, R.  313 A85, 317 A104 f., 320 A122, 329 A169, 437 A67 Fleddermann, H. T.  82 f., 611 A485, 627 f., 630 f., 633 f. Förster, N.  536 f., 603 f., 608 f., 691 A956, 703 A957, 705, 707 Frey, J.  1 A5, 3 A15/17, 10 A51, 13 A68, 29 A158, 96 A226, 188 A743, 317 A103 f. Fried, J.  448 A140 Fritzen, W.  436 A66, 438 A79 Fuchs, E.  2 Gadamer, H.-G.  45 Gardner-Smith, P.  92 Genette, G.  187 A741, 213 Gerhards, A.  21 f. Gese, H.  65, 68 A77 Gielen, M.  739 f. A43, 741 A50, 746 A73 Giovannini, A./Grzybek, E.  538, 565 A242 f., 584–589 Gnilka, C.  130 A423, 133 f. Gnilka, J.  11 A56, 29 A155, 91, 98, 106–109, 155 f., 242 A112, 257 A170, 297 A15, 299–301, 318–322, 326, 337–340, 358, 402, 419, 437, 459–461, 471, 473 f., 482–484, 500, 510, 609 A475, 632, 683 f. Goldberg, A.  153 A538, 157–161 Goodblatt, D.  271 A227, 378 A398 f., 562 A218, 565 A239, 567 A251, 570 f., 583 A338, 747 A77 Gräßer, E.  5, 637 A639, 638, 641, 652 f., 773 A183, 782 f. Grass, H.  710 A1051, 713 f., 716–718, 723 A1117 Green, J. B.  3 A18, 95 A222, 100 A241, 105 A267, 170 f., 215 A9, 295 A3 Gross, W.  447 A130, 769 A167

Moderne Autoren

893

Gunkel, H.  601 Guttenberger, Gudrun  15 f., 89 A198, 98 A237, 185 A730, 224 A23, 228 A46, 248, 318 A107/111, 329, 351 f., 492 A18

Hossfeld, F.-L.  63 A59, 468 A246 Hübenthal, Sandra  88 A195 Huttner, U.  133–135, 144 A484/491, 163, 712 f.

Haacker, K.  682 f. A892 Häfner, G.  5 A21, 12 A6, 32 A184, 596 A410, 616 A513, 659 A762, 674 A847, 787–789 Haenchen, E.  315 A94, 373 A376, 398 f., 654 A734 Hahn, F.  40 A50 f., 243 A115, 611 f., 624 A551, 643 f., 654–656, 673 Häußling, A.  462 Harker, A.  130 A422, 142 A472, 144, 146 f., 149 A529, 596 A415 Hartenstein, F./Janowski, B.  60 A52, 389 A461, 611 A483 Hartmann, A.  142 f., 145–149, 155 A549 f. Heil, C.  15 A78/80, 89 A199 Hengel, M.  31 A175/177, 37 f., 70 A85, 75 A112, 77 A129, 125, 138 A455, 139 A462, 180 A685, 185 A726 f., 235 A73, 284, 385 A443, 400 A517, 506 A72, 509 A78, 591 A383, 612 A487, 613 A497, 614 A499, 650 A707/709, 673, 675 A852, 684 A900, 686 A916/918, 694 A976, 695 A979, 696 A981, 701–707, 762 Hengel, M./Schwemer, A. M.  7 A36, 15 A84, 38, 182 A706, 188 A742, 471 A259, 602 A432, 661 A775, 673, 674 A846, 682 A888, 685 A912, 689 A933, 693 A969, 709 f. Herrmann, F.  38 A226, 135 A441, 144 A485, 147 f., 157 A563, 161 A580, 163 Heusler, Erika  371 A366, 372 A371, 396, 540 A65, 544 A102 Herzer, J.  173 A648, 176 A660, 428 A17, 548–551, 553 A158/160, 555–557, 744 A61 Hoffmann, P./Heil, C.  82 f., 137 A450, 627 A569, 631 A601, 681 A884 Hofius, O.  5–8, 11 A58, 12 A61, 113 f., 730 A12 Holtz, Gudrun  81 A150, 157 A563 f., 161 f., 164–166, 356 A298, 388 A457, 389 Homolka, W.  3 A12, 28 A152, 792 Horn, F. W.  202 A801, 203 A805, 205 f. Horsley, R. A.  32 A183, 559 A195, 674 A848, 694 A976, 704 A1006, 783 A231

Isaac, J.  3, 24 A132 Janowski, B.  77, 434 A50, 463 A217, 488 A3, 655, 777 A202 Jaroš, K.  548 f., 551–553, 556 A174, 608 A466 Jeremias, G.  73 A101, 79 A135 Jeremias, J.  68 A77, 96 A227, 98, 103, 114, 122, 179–181, 186 A736, 569 f., 639, 665 A794 Jeremias, Jörg  68 A78 Joas, H.  727 Jonas, H.  771 Jüngel, E.  2 A7, 7 A37, 9 A46 Juster, J.  32, 584 Kähler, M.  5, 50, 90 Käsemann, E.  1 f., 50, 643 A673 Kästle, P.  441, 444, 449 A146 Kampling, R.  17 A93, 27 A124, 392 A477, 437 f. Karmann, T.  19 A107, 21 A118 Kasper, W.  10 A49, 28 A153, 772 A179 Keith, C.  2 A10, 5 A21 Keith, C/Thatcher, T.  29 A159, 71 A89, 88 A192 Kelber, W. H.  15 A80, 29 A159, 315 A94, 317 A105 Kirner, G. O.  529–531, 533, 535, 538–540, 545 f., 566, 572, 595 f., 599 f., 659 f., 674, 675 A855, 678 f., 683 A894/895, 687 f., 690–692, 726 A1123 Klauck, H.-J.   138 A457, 141 A468 f., 179, 199 f., 645 A679, 647 f., 755 A112 Klausner, J.  2, 205 A816, 210 f., 557, 645 A684, 648 Klein, H.  29 A157, 94, 276 A244, 306 f., 396 A495, 522 Kleinknecht, K. T.  112 A318, 171 A636 Klostermann, E.  381, 385 A444, 665 A791/794 Klumbies, P. G.  433 A44, 434 A50 Köpf, U.  762 Koester, H.   29 A161, 77 A123, 171, 199 A786

894

Moderne Autoren

Konradt, M.  8–12, 71 A87, 274 f., 330 A179, 390, 392, 428, 475 f., 621 A534, 634, 681, 739 f., 742, 744 Kramp, Igna Marion  332 Kraus, W.  18 A98, 79 A140, 252 A148, 428 A15/18, 619 A524, 668 A804, 670 A817, 740 A46 f., 744 A62 Kreinecker, Christina  372 A370, 394 A487 Kreplin, M.  10–13 Krieger, K.-S.  548 A128, 550–553, 555 f., 558 Küchler, M.  19 A110, 137 A448, 183 A713, 184, 225, 235 A71, 314 A89, 526 A22, 568 A260, 614, 678 A868, 708, 716 A1088 Kuhn, K. G.  320 A119, 325 f. Kuhn, H.-W.  66 A70, 73 f., 76, 86 A180, 238 A84, 456 A172, 472 A262, 606 A460, 691 A957, 711 A1058, 762 A140, 782 A226 Kunkel, W.  531 A15, 540–544, 546–548, 677 A863, 680 A881 Kurth, C.  2 A11, 3 A12, 42 A141 Lang, M.  29 A158, 96 A228, 314 A90, 332 A194, 334 Lapide, P.  3 A12, 28 A154, 32 A183 Lau, M.  424 A5, 437 f. A75 f., 471 A253 Légasse, S.  3, A18, 30 A161, 264 A204, 349 A265, 379 A403, 619 A521, 709 A1037, 715 A1085 Lehmann, K.  186 A737 Leonhard, C.  19 A107, 21 A118, 113–115, 177–179, 181 A700 Lichtenberg, G. C.  529 Lichtenberger, H.  140 f., 636 A630, 724 A1120 Liebs, D.  45, 208, 530 A8, 538 A54, 539 A59, 540 A64, 687 A925, 692 A960, 790 Lietzmann, H.  31–37, 85 A175, 366 A343, 378 A400, 382 A420, 585 A355, 665 A794 f. Lieu, J. M.  18 A101, 66, 68 A76, 73 f., 87 A184 f. Lindemann, A.  55 A23, 75, 116 A338, 649 f., 776 f. Linnemann, Eta  42 A240, 263 A198, 355 A209, 457 A179, 462, 608 A468, 666 A797 Löhr, H.  115 A333, 179 A679 Löning, K.  55 A24, 77 f.

Lohfink, G.  633 A611, 674 A847, 681 A886, 691 A954 Lohmeyer, E.  262 A194, 319 A117, 369 A356, 385 A445, 401 A525, 404 A540, 479 A307, 616 A512, 622 A538/540, 623 f. Lohse, B.  120 A363, 177 A667, 178–181 Lohse, E.  3 A18, 35, 269 A224, 369 A354, 483 A341, 529 A3, 579–581, 584, 673, 675 A851, 783 Lona, H. E.  645 A679, 755 A112 Lüdemann, G.  717 A1093, 720 A1107, 721 Lührmann, D.  16 A87/89, 47, 62 A58, 68, 69 A80, 78, 84, 86, 98 A235, 108 f., 114 A332, 117 f., 122, 154 f., 183 A715 f., 187 A739, 224 A22, 227 A41, 230 A56, 244 f., 247 f., 264 A201 f., 283 f., 288 A309, 299 f., 309 A62, 329 A170, 339 A228, 341, 356 f., 383–387, 462, 466, 469 A248/250, 472 f., 483 f., 499 f. Luz, U.  111 A315, 137, 214 A7, 330 A182, 381, 391 A473, 392, 452 A156, 466 A236, 476 f., 621, 633, 640 A658, 645–648, 666 A799, 738 f., 741, 743 A55, 763 A144 f., 792, 795 A296, 796 Maccoby, H. Z.  415 A579, 683 A897, 686 A917 Maier, J.  17 A98, 23 A130, 268 f., 421 März, C. P.  118 A348, 224–229, 235 A72, 237 f., 240 A104, 613 Marti, K.  780 Matera, F. J.  29 A159, 431 A36 Mayer-Maly, T.  45 A2, 419 A599, 687 A925, 691, 714 A1080 McLaren, J. S.  559 f., 564–566, 569 A263, 571 f., 586 A359, 726 A1123 Meier, John P.  2 A10, 203–211, 558, 574–576, 578–583, 652 A718 Meiser, M.  645 f., 648 A696 Menken, M. J. J.  222, 237 A80, 239 f., 447 A132 Merkel, H.  629 A590, 666 A800 Merkel, J.  683 A893/897, 685 A904, 687 A921 Merklein, H.  14 A70, 116 A341, 592 A390, 616 A512, 620, 628 A576, 637, 654–656, 659 Metz, J. B.  768 A162, 769 f., 772 A179, 795, 797

Moderne Autoren

Michel, O.  701 A988, 704 A1003, 706 A1017/1019 Michel, O./Bauernfeind, O.  550 f., 568 A259, 581 A324, 586 A361, 589 A375, 592 f., 597–599, 702 A990 Mikat, P  38 A222, 661, Mohr, T.  29, A157, 93, 100 A247, 115 A334, 417 A533, 456 A176 Moltmann, J.  34 A199, 643 A673, 674, 712, 728, 768 A162, 781 f. Mommsen, T.  351 A273, 530, 540–546, 595 A406, 659 A764, 676 A859, 683 A898, 711 A1053, 714 Montefiore, C. G.  2 A11, 13 Müller, K.  373 A373, 561 A216, 570 A268, 582 f., 592 A390, 595, 604 A444/446 Müller, K. W.  135 A438, 681 A883 Müller, U. B.  10 A50/53, 76 A118, 610 f., 628–631, 633 A615, 636 A635, 639 f., 713 A1069, 719 A1104 Mumprecht, Vroni  152 Mußner, F.  2–4, 24 A132/135, 28 A154, 73, 392 A476, 628–630, 636, 666 A799, 743 Musurillo, H. A.  143, 145–148, 690 A843 Mutschler, B.  387, 389 A464, 592 A391, 693 A968/971, 709 A1036/1049 Myllykoski, M.  29 A157, 93 A215, 103 A259, 105 f., 115 f., 164 A595, 288 f., 339 A233, 378 A400, 382 A420, 441 A96, 511 A86, 715 A1085 Negel, J.  16, 28 A153 Neirynck, F.  96, 214 A4 Neusner, J.  619 A524, 634 A619 Neyrey, J.  38 A226, 310 f. Nickelsburg, G. W. E.  29 A161, 123–126 Nicklas, T.  191 A758, 197 f., 317 f. Niemand, C.  3 A18, 11 A58, 32 A184, 202–207, 209, 472 A262, 603 A441, 605–608, 628 A577, 675 A854, 682 A888 Nietzsche, F.  765 Oberlinner, L.  10–12, 106 A282, 108–110, 488 A2, 494 A22, 616 A513, 638 A641, 652 f., 666 A799 Öhler, M.  301 A36, 435 A55 Omerzu, Heike  55 A26, 64 f., 68 A76, 70 A84, 189 A751, 196 A776, 198 A778, 539 f. Oz, Amos  648 A698, 791 A271

895

Paesler, K.  242 A108/112, 257 f., 260, 262–264, 266 A213, 356, 436 A66, 616 A513, 623–625, 628 A577, 633–635 Paulus, C. G.  384 A438, 485 A356, 539, 544 A96, 546 A115 f., 601 A429, 673 A841, 679 A878, 680 A879/881, 690 A943/945, 691 A952, 692, 960, 790 Pesch, R.  1 A4, 29 A155, 83 f., 89 A198, 91 A202 f., 97 f., 107 A284, 111 A315, 117 A346, 119, 155 f., 175 f., 180 A686, 182 f., 185 A729, 225 A28, 238 f., 245 A122, 273, 278, 280 f., 284 A284, 289 A311, 296 A6, 300 A31, 319, 322, 329 f., 352 A276, 379 f., 385–387, 403 A534, 433 A44, 435 f., 459, 475 A282, 478, 492 f., 613, 624, 647 A694, 651 A713, 653 A726, 709, 711 f. Petersen, S.  242 A108, 248 A138, 266 A213, 616 A512, 624 A551, 634–636, 638 A644 Rahner, K.  9, 136, 766 A153, 778 A210 Rau, E.  3 A16, 635–637 Regev, E.  672 Reimarus, H. S.  2, 31 A175 Reinbold, W.  3 A18, 15 A82, 29 f., 42 A240, 89 A198, 93–95, 97 A230, 99–101, 105108, 112 A320, 116 A340, 170, 189 A745, 199, 208, 213 A2, 215 A10 f., 228 A43, 275, 288 A305 f., 309 A62, 314, 316, 355 A288 f., 383 f., 441 A96, 450 A152, 488 A6, 526 A23, 596 A411/414, 601 A430, 605, 609 A471, 692 A961, 704 A1003, 710 f. Reinhartz, Adele  397 A501, 590 A379 Repschinski, B.  734 A56 Riedo-Emmenberger, C  531 A16, 553 A155, 605 A449, 694 A976, 703 f. Riesner, R.  15 A84, 488 A140, 590 A379, 619 A523 Rivkin, E.  13 A69, 569 A263, 666 A799, 726 A1123 Roloff, J.  73, 84 A173, 180 A688, 242 A112, 262 A191, 461 A204, 573 A291, 587–589, 624 A551, 643 A671, 749 A83 Ronconi, A.  130 A421, 132 A427, 134, 142–144,146 f., 149 Rosen, K.  15 A84, 488 A140, 590 A379, 619 A523 Rouwhorst, G.  18 f., 177 A667, 179 A682 Ruppert, L.  62 A56, 69 f., 77 A125, 124 f.

896

Moderne Autoren

Sabbe, M.  29 A158, 94 A217, 96 A223, 252 A148, 313 f., 331 A187, 378 A395 Sänger, D.  32 A183, 72 f., 670 A817 Sanders, E. P.  3 A18, 566 A245, 613 A495, 616 A512, 623 A542, 635 f., 643 A672, 652 A719 Schaefer, C.  627 A568, 629 f., 633 A615 Schäfer, P.  209–212, 726 Schelkle, K. H.  3 A18, 123 A377 Schenk, W.  91 A203 f., 97 A230, 103 A259, 297 A13, 314 A90, 340 A236, 358 A309, 401 A525, 460 A195, 483 A344 Schenke, L.  29 A155, 89 A198, 91 A203, 98 A236, 107 A286, 182 A704, 299 f., 320–327, 330 A174, 337–341, 343 A251, 352 A280 f., 355–357, 385 A449, 390 A466, 401, 403, 405 A542, 434 A48, 455 A166/168, 457 A180, 459 A187, 463–466, 468, 482–484, 499 f., 511, 726 Schille, G.   171 f., 457 A178, 461 A209 Schleritt, F.  29 A157, 40 A230, 89 A198, 95–102, 104, 108, 122, 174 A652, 215 f., 226 A39, 229–233, 259 A177, 261 f., 283, 285 A295, 287–289, 306 A49/51, 344 A252, 356 f., 368 f., 383–385, 399 A507, 401 A525 f., 403–405, 408–410, 412 f., 415 A580/583, 449–451, 454 f., 458 A186, 464 f., 467, 496 f., 500 f., 504–506, 508 f., 511, 678 A871 Schlier, H.  736, 756–758 Schlosser, J.  264 A201, 611 A485, 623 f., 627 A566, 635 f. Schlund, C.  176 A658, 178–181, 445 A123, 447 A129, 755 A110 Schmidt, K. L.   15 f., 46, 171, 123 Schmithals, W.  180 A686, 457 A178, 461, 465 A229 Schnackenburg, R.  94 A218, 148 A525, 281 A278, 287 A301, 316 A102, 333 A196, 397 A503, 399, 412 A571, 417, 436 A24, 441 A96, 443, 445–449, 451 f., 466 A239, 472 A266, 480 f., 494 A26, 506 A71, 585 A350, 608 A467, 613 f., 683 A896, 755 f. Schneider, G.  29 A159, 311 A71 f., 337, 339–341, 357, 366 A343, 382, 395 f., 408 A553, 485 A357, 625 f., 660 A767, 736 Schnelle, U.  39 A228, 96 A226/228, 175 A656, 177 A665, 251 f., 617 A513 Schnider, F./Stenger, W.  242 A108, 246 f., 252 A148, 257 A170, 259 A177

Schreiber, J.  29 A158, 434 A50, 460 A197, 715 A1084 Schreiber, S.  604 A446, 609–611, 749 A81, 766 A157, 775 A193 Schröter, J.  3 A18, 15 A80, 32 A184, 636 A630/634, 640 A659 Schürer, E.  385 A445, 460 A201 f., 531 A16, 534 A34, 548 A128, 553 A160, 560–562, 568–571, 573, 576 A304, 579 A318, 584 A344, 756 Schürmann, H.  120 A363, 179–181, 641 f., 658 Schweitzer, A.  1 f., 638 Schweizer, E.  462 Schwemer, Anna-Maria  57 A31, 105 A273, 137 A448, 140 A464, 153, 167 A617, 171 A635, 673, 712 A1059 Seeliger, H.-R.  123, 143, 773 Sherwin-White, A. N.  378 A400, 394 A488 f., 531 A12, 533 A29, 538–540, 545 A106/108, 547 A122, 548 A127, 585 A350, 587, 676 A858, 688, 690 A950, 692 A965 Smallwood, E.  553 A160, 565 A243, 596 A415, 599 A421 Smith, D. A.  434 A48, 437 A75, 510 A83 f., 716 A1058 f. Smith, D. E.  278 f. Smith, D. M.  39 f. Smith, M.  672 A830 Soards, M. L.  14 A75, 29 A155, 91 f. Söding, T.  186 A734, 247 A134, 257 A170, 322–327, 439 A91, 482 A330, 619 A522, 624 A551, 674 A846, 751 A93 Sommer, U.  91 A203, 98 A236, 105 A269, 330 A176, 455 A166, 459 A187, 482 A335 Stegemann, E. W.  26 f., 32 A183 f., 87 A183, 251 A144, 674 A874 Stegemann, W.  3 A18, 30–32, 35 A204, 45, 86 f., 207 f., 369 A355, 661 f., 683 A857, 788 f. Stegemann, E. W./W.  694 A977, 702 A990/995, 706 A1019 Stemberger, G.  114 A325/332, 179 A679, 574 A294, 577 f., 582 f. Stenger, W.  244 f., 616 A512, 620 A530 Sterling, Gregory E.   135 A439, 168 f., 310–312, 749 A78 f. Stowasser, M.  242 A108 Striet, M.  733 A22, 764, 767 A160, 768 A163, 772 A180, 773 A182/184

Moderne Autoren

Strobel, A.  118 A349, 173 A648, 348, 415 A582, 421 A605, 564 A238, 566, 592 A390, 595 A403, 636 A631, 670 f., 683–685 Strotmann, Angelika  8 A40, 787 f. Stuhlmacher, P.  611 A485. 637 A638, 639 Taylor, V.  92 A208, 105 A268, 107 A287, 369 A356, 459 A193, 461 A209 Theißen, G.  17 A96, 39 A227, 175 A655, 182 f., 185 A729, 329 f., 338 f., 381, 385 A445, 577 A309, 592 A390, 618 A519, 662, 675 A851, 706 A1016, 726 A1124, 734 A24, 737 A32, 783 A232, 785–787 Theißen, G./Merz, Annette  3 A18, 10 A51, 12 A63, 14 A72, 203 A805, 205 A816, 549 A133, 580 A320, 585 A350, 606 A455, 620 A530, 635 f., 718 A1097, 726 A1123 Theißen, G./Winter, Dagmar  2 f., 602 A436, 606 Tiwald, M.  628 A576, 630 f., 635 A626, 640 A656, 681 Trautmann, M.  242 A112, 258 A174, 616 A511 Trocmé, E.   112 A318, 170–173, 186, 262 A191, 457 A179, 460 Tück, J.-H.  24 A134, 768 A162, 769 A170, 770, 772 f., 778 A206 van Henten, J. W.  105 A271 f., 125 A392, 138 A452, 140 f., 168 A620/622, 310–312 van Unnik, W. C.  74 A1067, 323 A137, 358 A307, 665 A792 Vermes, G.  3 A12, 34 A195, 206 A824 Vögtle, A.  20 A62, 348 A258, 356 A292, 436 A66, 623 A544, 636 A634, 639 f., 653–657, 659, 717 A1093 Vogels, H.  17 A93, 391 A473, 421 A608 Vollenweider, S.  488 A2, 506 A72, 716–718, 720 Waldstein, W.  683 A897 f., 687 A921, 692 f. Wallraff, M.  762 A143

897

Wedderburn, A. J. M.  241 A106, 616 A513 Weidemann, H.-U.  29 A157, 38 A226, 89 A198, 175 A656, 177 A665; 213 A23, 363 A330, 442 A103/107, 444 A115/118/120, 445 A123, 449 A146, 481 A322/326, 498 A38, 749 A78, 753 A103, 755 A110, 760 A134 Welzer, H.  88 Wengst, K.  5 A21, 274 A235, 397 A500, 74 A107 Wenz, G.  691 Wilckens, U.  108 f., 171 A637/639, 182 A702, 186, 508 Winter, P.  3, 30, 34 f., 81 A150, 92 A208, 204 f., 389 A464, 404 A538, 466 A238, 471 A254, 584 A347, 603, 683 A897, 685 f., 791 Winter, S.  794 A290 f. Wolter, M.  11 A54, 95 A220, 142 A476, 222 f., 235, 255 A166, 310–312, 331 A184/189, 342 f., 360 A320, 373 A372, 406 A545, 429, 438 f., 476 A288, 478 f., 488 A4 f., 491 A13 f., 557 A179/182, 591 A384 f., 626 A562, 628 A583, 633 f., 687 A920, 746 A72, 750 A85/89, 775–777 Wust, P.  733 Zager, W.  357 A305, 637–639, 657 A751 Zeitlin, S.  3 A12, 562 A218, 569 A263, 726 A1123 Zeller, D.  15 A83, 78 A133, 96 f., 166 A611, 257 A169, 399 A510, 505 A67, 615 f., 618 f., 621, 628 f., 631 A600, 717–720 Zenger, E.  13 A66, 60 A52, 78 A132, 170, 611 f. Zenger, E/Hossfeld, F.-L.  77 A126, 170 A628 Zimmermann, H.  112 A320, 187 A739 Zimmermann, R.  15 A78, 187 A741 Zumstein, J.  38 A226, 285, 362, 373 A377, 397 f., 415 A581, 430 A24, 440 A93, 442 f., 447 f., 477 A296, 497 A33, 756

Griechische Termini ἄγω  84, 364, 376, 408 A551, 429 αἰτέομαι  379, 676 A857 αἰτία  471 A254, 526, 603 f. ἀναβαίνω  184 A717, 234, 525 ἀποκτείνω  523 A12 ἀπολύω  377 A392, 395 A491, 416 A588, 419 A596 ἀποφέρω  676 A857 ἀρχιλῃστής  695, 697, 702 βασιλεύς  61 A54, 222 f., 227, 229, 230 A57, 238,240, 375, 383, 384 A430/437, 389 A460, 393, 395, 400, 420, 432, 464, 523 A12, 604 f., 608, 610 A479, 675, 756 βῆμα  374, 376, 391, 526, 551, 678 A868 f., 688, βλασφημία  71 A92, 365, 368, 669 A816 βουλευτήριον  568 A260 βουλή  479, 553, 561 f., 567–569, 572 A285

ἱερόν  102, 248 A139, 259 A177, 264, 514, 586, 593 Ἱεροσόλυμα  102, 104, 185 A726, 225 A28, 234 f. Ἰερουσαλήμ  234 f., 265 A209 κατακρίνω  351 A272, 395 A491, 585 A351, 677 A863 καταλύω  248 A139, 265, 348 A257, 514 A8, 624 A556 κρατέω  523 A12 λαός  80, 192 f., 268, 269 A225, 280 A276, 287, 377 A391, 391–394, 421 A608, 447 A135, 745 f. λῃστής  34, 338, 416, 686 λιθόστρωτον  678 A868

γερουσία  561, 570 A270

ναός  436 A64, 248 A139, 259 A177, 348 A257 νόμος  72, 248 A139, 397, 786

δέω  676 A857 διακονέω  306 A52/55

ὄχλος  80, 193, 222 A11, 236 A78, 267 f., 280 A276, 377 A391, 421 A608, 746 A74

ἔθνος  287, 377, 396 f., 746 A74 εἰρήνη  625 A561, 761 ἐκβάλλω  234 A115, 246 A131, 264, 514, 577 A310, 754 A109 ἐκπνέω  436 A60, 445 A125 ἐπερωτάω  676 A859 ἐπιβάλλω  352 A276 ἐπικατάρατος  72, 74, 75 A109 ἐπικρίνω  395 A491 f.

παραδίδωμι  84, 302 A38, 326 A158, 380 A410, 383 A425, 473 A271, 523 A12, 646, 647 A692, 649, 661 A773, 676 A857, 689, 755 A112 πλανάω 671 πλῆθος  221, 230, 394 A484, 551, 560 A206, 575, 688 πνεῦμα  431 A28, 445, 448, 466 A236, 467, 473, 506 A71, 760, 780

ζητέω  48 A12, 49 A16, 273, 279 A263, 280, 281 A275, 523 A12

σπεῖρα  267, 333 A197 σταυρόω  74 f., 470 f., 472 A263 συμβούλιον  48, 548, 676 A857, 274 A236, 371 A360, 378, 383, 401

θρησκεία  348, 248 A139, 670

900

Griechische Termini

συνέδριον  84 A169, 271, 342 A247, 353 A285, 355, 378, 560 A204, 561–569, 572 f., 579 A319, 747 A77 σῴζω  59 A44, 427 A12, 432 A38, 464 A223 σωτήρ  221 A5, 706 A1018, 751 A92 σωτηρία  70, 704 A1002, 751 A92 τελευτή  126, 129, 132 A426, 162–164, 168

ὕβρις  669 A814/816 ὕπερηφανία  667, 669 A816 φραγελλόω  692 A964 χιλίαρχος  333 A197

Sachen und Namen Älteste  258 f., 267–269, 390 f., 397, 561, 569–571, 574, 598, 669 A813 – Ältestenrat  267, 269, 561, 591, 745 f. Ambiguität  7–14, 602, 727–730, 733 f., 737, 781 Antigone  479 A311 Antijudaismus  17–28, 645 AA679 – Israelvergessenheit 18 – Judengesetzgebung 23 – Gottesmordvorwurf  18, 23 f. – Kollektivschuld  17, 22, 24–28, 392 – Substitutionstheorie  18, 27 Apollonius von Thyana  149–152 Aqiva, Rabbi  158–161 ars moriendi  167 f., 439, 712, 749, 779 Athronges  604 A446, 696, 704 f., 707 Augustinus  22 f. Augustus, Kaiser  437 A75, 485 A356, 531 f., 539, 542, 548, 563, 570 A273, 598, 606 f., 690, 786 Bach, Johann Sebastian  420 f., 744 A64, 791 Barabbas, Jesus  379 A403, 381 f., 385–387, 389–393, 403–405, 409–412, 416 f., 419, 421, 678, 683–687, 691 A953, 725 Blasphemie (Gotteslästerung)  52, 349 A259, 351, 359 f., 368, 661 A774, 672 f., 752, 757, 762 A143 Christologie – Agape 773–779 – Auferweckung Jesu  111 f., 473 f., 492 f., 504 f., 505 A68, 510 – Blut  116 f., 194, 246, 297, 300, 318, 371, 390–392, 436, 441, 446–449, 469, 649, 654, 658, 741–744, 751, 759–761, 775 A193, 780 – Descensus ad inferos  200 – Exemplum-Christologie (imitatio)  439, 712, 772 f., 795 A296 – Göttlichkeit und Leiden  318, 740 f.

– Inkarnation/Menschwerdung  8, 729 f., 767 A161 – Osterglauben – Entstehung 716–722 – Visionen („Erscheinungen“) 718–721 – Trauerarbeit 720 f. – Titel  10 A50, 13, 61 f., 389 – Gottesknecht  3 A16, 70, 247, 357 A300, 358, 734, 742 – Heiland  191, 254 f., 644, 742, 751 – Herr (der Völker)/Kyrios  12, 68, 349, 716, 733 – Menschensohn (siehe auch unter Jesus)  3 A16, 33, 247 f., 299–301, 303, 325 f., 348–351, 435, 460, 465, 631 f., 672 A837, 689, 721, 735, 739 f., 751 f., 759, 766 – Sohn Davids 606 – Sohn Gottes  13, 61 f., 70 f., 190, 346 f., 359–361, 365, 369, 399, 420, 438, 526, 610 A482, 661, 671, 673 f., 738, 740 f., 752, 767 A161, 772 f., 777 f. – Messias/Christus  13, 33, 60–62, 77 f., 85–87, 344, 346 f., 349, 360 f., 365, 368 f., 393 f., 395, 526 f., 604, 610–612, 630, 644, 648, 673 f.   – leidender Messias  41, 74 f., 78 A130, 527 – scandalum crucis (Ärgernis)  75, 369, 611, 643 – Tod Jesu, Deutungen  27, 761 f., 772–779 – kultische D.  250, 761, 775 A185 – Stellvertretung  655, 773 A184, 775–778 – Sühne  121, 439 f., 639, 656 A746, 658, 767, 774, 776 f. – Weg-Christologie 440, 760 f. Cicero  142 f., 416 A584, 558 A191, 531 Claudius, Kaiser  38 A222, 146 A506, 148, 421 A606, 553, 560 A201, 565 A241, 567 f., 589 f., 661 A773, 672, A830 Compassion 795–797

902

Sachen und Namen

Digesten 530 Dio Cassius  531 Diogenes Laertius  142 f. Ekklesia  89 f., 247 f., 266, 742, 745 Elija  117, 318, 427, 430 f., 433, 435, 454, 465–468, 471 f., 510 A83 f., 631 A600, 696, 729, 768 Epikur 332 – Epikureer  582 A331 Erinnerung – kulturelles Gedächtnis  791 f. – liturgische Memoria  793–795 – Memoria passionis  791–797 Eschatologie  14, 121, 140, 307, 326 A154, 445 A126, 447, 582, 615, 633, 707, 760 A134, 779 – Utopien  253, 583, 783 Freiheitsbewegung, jüdische  675, 693–707 Gattungen – Akklamation (identifikatorisch)  85, 219 f., 222, 237, 379 A407, 609 A476, 683 A894, 705 – Chorschluss 469 – Exitus-Erzählungen 143–145 – Martyriumserzählungen  123, 137–141, 153–162, 164, 167 f., 311 f., 472, 485 A357, 607 f., 692 A964, 751, 761 – Protokolle/commentarii  145 f., 148 – Gespräche Herrscher/Weise  141, 374, 383, 385, 402 – teleutē  125, 162–164 Gebet  80, 132 f., 167, 178, 244, 246 f., 750 A85, 770, 794 – Gebetszeiten  266, 460 f., 722 – Klage  23 A130, 65, 77, 192 A765, 447, 468, 612, 625 f., 628, 632, 770 f., 773, 792 Glaube(n)  7, 9, 12, 14, 432 f., 464, 479, 498, 727, 750 A87, 754 – Glaube und Vernunft  7 – Glaube als Wagnis  14, 733 f. Gott – Agape 773–779 – deus absconditus  432 f. – deus compassibilis  768, 778 A206, 797 – Geist (Gottes)  349 A262, 445 A126, 448, 498, 506, 631 A601, 734, 736, 759–761, 779 f.

– Gotteslästerung  351 A273 – Heilsplan Gottes  764–766 – Herr der Geschichte  755 – Theozentrik 772–779 – Vater  9, 80, 167 f., 247, 318 f., 329 A170, 333 f., 498, 728, 736, 740, 749 f., 759–761, 765, 768, 770, 778 A206 – Verborgenheit/Abwesenheit  64, 626, 728, 767–772, 777 Gregor der Große, Papst  23 Gutenberg, Johannes  15 Hallel 114 Hannas I. (= Ananus, der ältere)  52, 275, 343 f., 364, 534, 560, 574 A297, 576 f., 591 Hannas II. (= Ananus, der jüngere)  564–566, 575 f., 581, 589 Hellenisten  171, 182, 185, 266, 356 A294, 618, 652, 657 f., 722 Herodes – Agrippa I.  147, 185 A729, 533 f., 554, 662, 702, 708 – Agrippa II.  559 A197, 564–566, 568, 573 A290 – Antipas  48, 154, 189 A751, 370, 372 f., 378, 532, 639, 726 A1124, 745 – der Große  532 – Herodianer  537 A48 Historische Kritik  5–14 – Grundsätze  214–217, 601–603 – Rahmenbedingungen, historische  529–600 Hoher Rat (siehe auch Synedrion) 569 Improperien  21 A119, 22, 794–796 Jakobus – Herrenbruder  109, 203, 206, 564 f., 576, 581, 589, 643 A670, 645 A681, 661 A773, 718, 721 f. – der Kleine  107–109 – Sohn des Zebedäus  79, 109, 169 A626, 185 A729, 309, 318, 320, 322, 324, 662 Jeremia  56 A30, 137 A447, 156 f., 244, 258, 360, 595 A402, 620, 658, 666, 700, 769 Jerusalem  19 A110, 21 A115, 179, 182–185, 225, 253 f., 480, 484, 531, 535, 538, 550–552, 556–558, 559 A193, 576 f., 583, 587 f., 590 A379, 626 A565, 630, 715

Sachen und Namen

Jesaja  153 f., 157, 244, 255, 258, 671 A822, 753, 755 Jesus – Auferstehung 719 – Bergpredigt  330 A182, 621 – als Beter  80, 167, 309–329, 712, 749 f., 765 – Falschprophet  211, 644, 648, 665 A794, 672, 674 – Feindesliebe  11, 635, 774, 786, 789, 797 – Freiheit 764–766 – Gewaltlosigkeit  330 A182, 614 – historischer J.  1–3, 5–14 – Jude  3 A14, 8, 730 – König  382, 387 f., 400 f., 420 – Königsherrschaft Gottes   788–790 – Letzte Tage  723–726 – Letztes Mahl  649–659 – Mahlmetaphorik (eschatologisch)  635 f., 652 f. – Menschensohnerwartung  10 A50 – Grab  715 f. – Prophet  13 A67, 161 A581, 164, 361, 602 f., 618 A519, 620, 644, 707, 718, 723–726, 733, 752, 789 – Reich Gottes (siehe Königsherrschaft Gottes) – Rechtsverzicht  765, 681 – Schweigen Jesu  680–682 – Tempelkritik 615–636 – Titel (siehe unter Christologie) – titulus crucis  240, 427, 430 f., 441, 449 f., 453, 463, 472, 526, 601, 603–609, 611–614, 618, 661, 673, 687, 691, 703, 734, 756, 763 – Vollmacht  11, 242, 254, 259, 351, 386, 644, 670, 675, 729, 740, 747, 752 f., 779, 786 – Zeichenhandlungen  104, 265, 284, 615–620, 640 f., 644, 646, 649, 653, 724, 764, 785 Jesus ben Ananias  126 A399/404, 156 f., 204 A813, 286, 592–596, 663, 667, 673 A842, 700, 702, 707, 765 Johannes – Evangelist 752–761 – geliebter Jünger  53. 167 A614. 304 A41, 430 f., 490 f., 494–497 – Täufer  9 A46, 11 A54, 156 A557, 157, 435, 633 A611, 643 f., 696, 702, 707, 726 A1124, 729 Joseph von Arimathäa  478, 483, 485

903

Josephus, Flavius  531, 548 – Testimonium Flavianum  202–207, 557 f., 590 f. Judäa, Präfektur  531–535 Judas – Sohn des Ezechias (der Galiläer)  537, 557, 694 A976, 695, 702 A992, 703, 706 f. – Jünger Jesu  645–648 Judäa 531–535 Juden/Judäer  17 A98, 269, 396, 398, 755 f. Jüngerflucht  305, 308, 334, 339 f., 341, 724 Julian, Kaiser  200 ius capitis/gladii (siehe unter Recht, römisches) Justin  65–68.74 f.87 Justinian, Kaiser  530 Kapitalgerichtsbarkeit (siehe unter ius gladii: Recht, römisches) Kajaphas  49, 52, 185 A729, 274 f., 285–287, 342–344, 552, 553 A156/159, 558, 560, 576, 590–592, 599 f., 663, 664 A786 Königsprätendenten  78, 388, 604, 675, 680 A880, 691, 705–707, 732, 735 Kreuz – Ärgernis  366,369, 601 – Darstellungen in der Kunst  762 f. – Kreuzigung  708–720, 762 – Geißelung  692 f. – Theologie des Kreuzes  52, 764 Latinismen  274 A236, 354 A286, 371 A360, 378 A400, 380 A409, 735 A24 Legenda Aurea  474 Lukas 744–752 – Historiker  342 f. Madame de Staël  732 Malchus 334 Maria – Magdalena  107 f., 110, 194, 332, 442–444, 475, 489 f., 491, 494–496, 498, 500, 502, 506–509, 511, 710, 717 f., 721 – Mutter des kleinen Jakobus /Joses  107–111, 470, 471 A255, 487, 710 – Mutter Jesu  53, 109, 167, 425, 441–444, 451, 474, 485 f., 711 A1054, 744 Markus 734–738 Matthäus 738–744 Maximinus Daia, Kaiser  200

904

Sachen und Namen

Melito von Sardes  18–22 Menachem  614, 696 A981, 701, 706 Mendelssohn Bartholdy, Felix  791 Mischna  32 f., 71, 179, 209, 211 A856, 349 A259, 359, 529 f., 570, 574, 578–580, 662, 684 f. Mose  117, 260, 318, 400 A518, 553, 570, 577 f., 589, 668 A805, 697 f., 703 – Prophet wie Mose  13, 553, 670 A817, 704 f. Nero, Kaiser  150–152, 201 Nikodemus  480 f. – Nikodemusevangelium 474 Opfer der Geschichte  744 Origenes  206, 207 Orte (Jerusalem) – Betanien  183, 225 f., 524–526, 641 f. – Betfage  183, 219 f., 225 f., 234–236, 514, 526, 614 f., 642 – Gennath- (bzw. Gartentor)  708 – Getsemani  183, 659–661 – Golgota  183, 431 A31, 455 A168, 471, 708–709, 716 f. – Grabeskirche 716 – Herodesburg (siehe Pilatus, Residenz) – Kidron, Winterbach  183, 314 – Lithostrotos (Gabbata)  184, 412 – Ölberg  219–222, 225 f., 236 A76, 284, 428 A18, 314 A89, 526, 614 f., 629 f. – Prätorium  183 A716, 184, 535 A36, – Rathaus  568 A260 – via triumphalis  614 – Wasserleitung  551 f. – Xystos 568 Ostern (s. Christologie) Pärt, Arvo  792 Paschafest – jüdisch  178 f. – frühchristlich 177–182 Passionsfrömmigkeit  474, 795–797 Paulus  17 A98, 55, 72 f., 75, 97, 113 A321, 115–117, 170 A628, 179 f., 348 A258, 434, 522, 589 A372, 643, 650, 652 A723, 653 f., 718, 721, 729, 748, 751, 766, 767 A161, 771–778, 780 – Prozess gegen Paulus  359, 372 f., 394 A488, 531, 539 f., 548, 584, 587 f.

Penderecki, Krzysztof  792 Petrus (Simon, Kephas)  35–38, 79, 81 f., 85 f., 106, 121, 172, 180, 295 f., 300 f., 304 f., 316, 318, 322, 324 f., 327, 330, 332–334, 342 f., 352 f., 358 f., 461–363, 365 f., 381, 389, 394, 420, 462, 488–500, 502, 505, 511, 611A485, 649, 651, 653, 660 f., 663, 665 f., 717 f., 720–722, 724, 731, 740, 746–748, 754, 757 – Petrusevangelium  45, 189–199, 474 Pharisäer  48 f., 198, 220 f., 223, 230, 233, 267–269, 274 f., 279, 286, 401, 488, 536 f., 560 A205, 564 A237, 573–584, 644, 663, 702 A992 Philo von Alexandrien  147, 548 – Legatio ad Gaium  553 f. Pilatus 26.548–558 – Cäsarea-Inschrift  533 A26 – Legenden 548 – praefectus  533 f. – Pilatusakten 199–201 – Residenz  183 A714, 379 A407, 551 A146, 554, 556 A172, 183 A714, 677, 708 Plinius, der Jüngere  144,531 Pluralität, theologische  761 f. Plutarch 142 Politische Theologie  758, 780–790 – Religion und Politik  674, 726, 756 f., 780–790 Priester  559 A198, 576 – Hohepriester, der  32, 183, 267 f., 559, 584–590 – hohe Priester  267–269, 559 f. Proculus 530 procurator  533, 535 Propheten  17 A98, 99, 135–137, 153–157, 239, 258, 360, 392, 428, 552, 578, 592, 594, 666, 668–671, 703 f., 744, 793 Psalter  38, 41, 60,62, 77–79, 86 f., 121 f., 124, 167, 169 f., 181, 369, 384, 469–473, 527, 601 f., 611 f., 642, 659, 661, 669 A810, 679, 707, 711, 730, 770, 772 f., 793 Recht, jüdisches – Gotteslästerung (siehe Blasphemie und unter griech. Termini: βλασφημία) – Halakhot  578 f. – Falschprophetie 666–673 – Strafrecht (Sadduzäer)  579–582

Sachen und Namen

– Vermessenheit  76, 667–670, 672 f., 675, 725, 729, 732 Recht, römisches – accusatio  543 f., 545 A106, 546, 675, 690 A942 – Amnestie  174, 394 f., 404, 409, 412, 417, 419, 525, 679, 683–687 (siehe auch privilegium paschale) – coercitio  540, 609 A474, 690 – cognitio  542 f., 545, 596 A411, 690 – extra ordinem  545, 596 A411, 690 – de plano  677 A865 – consilium, siehe auch Hoher Rat  544, 548, 562 A218, 572 f., 677, 596 A411 – contumacia  682 A891 – crimen laesae maiestatis  606, 690, 671, 725 – Begnadigung (siehe auch Amnestie) 419, 683 A894, 683 A898, 686, 691 – Grabrecht  714 mit A1078 – ius gladii  360, 538 f., 565, 584–590, 745 – Justizirrtum  545, 692 A961 f., 781, 790 – Justizmord  691 A959, 692, 790 – obstinatio  682 mit A891 – ordo  545, 688 – pertinacia  682 mit A891 – Prinzipien 372 – privilegium paschale  683 f. – Richterstuhl  376, 391 (siehe auch griech. Termini: βῆμα) – sententia  545, 687 – Statthalterjustiz  529, 539 f., 545 f., 689 – Strafverfahren 539–548 Rhetorik – regel de tri  409 – synkrisis  81 A150, 389 A462, 419 f. Rihm, Wolfgang  792 Sadduzäer  564, 573–583 Salome – Alexandra  561 A212, 573 A292, 577 A303, 579, 583 – Jüngerin Jesu  107 f., 111, 470 f., 487, 521, 710 f., 717 – Schwester des Herodes  536 A44 Samaritaner  552 f. Santa Croce in Gerusalemme, Rom  608 A466 Satan  83 A163, 272, 275–277, 294, 296, 304 A44, 310, 746, 754 f.

905

Schleiermacher, Friedrich  131 f. Schriften (heilige)  13 A66, 17 A94, 55–79, 213, 578, 602, 740, 775, 779 Schriftgelehrte  89, 267–269, 559, 561, 663, 784 Schriftlichkeit  89 f. Seneca  133 f. Sikarier 596–599 Simon – von Betanien (der Aussätzige)  104, 641 – Kananaios (der Eiferer)  787 A254 – Knecht des Herodes  695, 704 f., 707 – Kephas (siehe Petrus) – von Kyrene  80, 85 f., 175, 182, 185, 427 f., 430, 441, 449, 454 f., 470 f., 474, 527, 708 f., 711, 795 f. – ein Pharisäer  48 A10, 641 – Sohn des Giora  221 A5, 701, 702 A992, 704, 706 – Vater des Judas, einem der Zwölf  645 A681 Sokrates  45, 78 A130, 130–135, 142 f., 168 f., 311, 439, 681, 713 A1070, 749 Soteriologie  439 A91, 743 f., 751 A93, 796 Sozialbanditentum  694 A976, 702 A980, 705 Statthalter – Annius Rufus  161 A580, 533, 548 A130 – Avilius Flaccus  147, 553, 679 A875 – Coponius  548 A130 – Cuspius Fadus  533, 538, 567 A257, 697 f., 702 A994 – Gessus Florus  183 A714, 538 f., 560 A207, 561 A208, 567 f., 678 A868 f., 693 A968, 700 – Lucius Vitellius  534, 536 A42, 553, 558, 590, 592 – Marcus Ambibulus  548 A130 – Porcius Festus  372, 533, 547 A124, 548, 550 A137, 564, 587 f., 700 – Quirinius, Publius Sulpicius  533 f., 536, 696 – Tiberius Alexander  538, 696 A981 – Valerius Gratus  533, 534 A34, 548 A130, 590 – Pontius Pilatus (siehe unter Pilatus) Stephanus  137, 185, 255, 259 f., 357 A304, 359, 365, 482 A331, 485 A357, 587, 618, 747–749, 751 Steuern  395, 535–537, 703, 748

906

Sachen und Namen

– Tempelsteuer  244 A119, 619 – Zensus  696, 702, 706 Sueton 531 Symbolhandlungen (siehe Zeichen­ handlungen) Synedrion (Ältestenrat, Beirat)  378 A399, 561–584 Syria, Provinz  532–534 Tacitus, P. Cornelius  144 f., 207–209, 531 Talmud  45, 157, 209–212, 530, 684 Tempel  241–266, 554, 615–636 – Tempelkult  436 f., 458 A186, 469, 618, 620, 635 – Tempelstaat  269, 286, 355, 363, 558 f., 561, 590, 726 – Tempelzerstörung  113, 178, 180 f., 184, 261 A188, 263, 266 A213, 269, 578 f., 617, 624, 734 – Tempeltheologie  266, 348, 582 f. Theokratie  537, 604, 675 A852, 680, 725 Theudas  538, 698, 703, 706 A1016 Thomas von Aquin  23 f. Tiberius, Kaiser  207 f., 248 A139, 421 A606, 537, 549, 553–556, 558, 690, 702 Tora (siehe auch Recht, jüdisches)  11, 42, 71, 76, 117, 138, 157–163, 169, 248, 348, 368 f., 397, 565, 575, 577–579, 582–585,

588, 590, 600, 602 f., 643 f., 666–673, 681, 715, 722, 725 f., 732, 752, 772, 788 Triduum paschale  722, 767–780 Ulpian  485 A356, 530 Ungesäuerte Brote, Fest  278 Vatikanisches Konzil, Zweites  24–28.733, 778 A209 verba ultima  130, 132 A427, 138, 140, 142 A477, 162 f., 167 f., 602 A433, 712, 770 Veronika 474 Visionen (siehe unter Christologie/ Osterglauben) Volkszählung 536 Zeichenhandlungen   258 (siehe auch unter Jesus) Zeit  722 f. – Rüsttag 483 – Tages- und Wochenschema  281–285 – Stundentakt  457 f.459–463 Zeloten  536, 613 f., 643 A669, 782, 784 Zion  238, 253, 389 A460, 582 f., 611 A485, 612, 615, 618 f., 628, 632, 635, 644, 724 Zwölf, die  79, 296, 298 f., 330, 645, 646 A689, 651, 717, 727, 742