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German Pages 272 Year 2018
Peter Brown
Der Preis des ewigen Lebens Das Christentum auf dem Weg ins Mittelalter
Aus dem Englischen von Tobias Gabel
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Ransom oft the Soul. Afterlife and Wealth in Early Western Christianity bei Harvard University Press 2015. Copyright © 2015 by the President and Fellows of Harvard College
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt © 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Redaktion: Cornelius Hartz, Hamburg Satz: TypoGraphik Anette Klinge, Gelnhausen Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-5150-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-51669 eBook (epub): 978-3-8053-51676
Inhalt Vorwort Chronologie Karte Einleitung
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins III. Almosen, Sühne und das Jenseits: Augustinus und Pelagius, 410–430 n. Chr. IV. Buße und Jenseits in Gal l ien V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
7 14 17 19 42 72
97 128 159
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits 189 Danksagung Anmerkungen Register
218 220 256
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Vorwort
I
ch möchte mich in diesem Buch einer Facette aus der tiefen Vergangenheit des Christentums annähern. Damit meine ich die Vorstellung – die unter Juden wie Christen verbreitet war –, Himmel und Erde ließen sich durch Geld verbinden. Ich werde mich insbesondere mit der Art und Weise beschäftigen, auf die jene gedachte Verbindung von Himmel und Erde – wie man glaubte – das Schicksal der Seele im Jenseits beeinflussen sollte. Dabei geht es mir um die westliche, lateinische Christenheit in der Zeit von etwa 250 bis etwa 650 n. Chr. und damit um die Übergangsphase zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn des Mittelalters in Westeuropa. Ich werde zu zeigen versuchen, wie der gesellschaftliche und wirtschaftliche Kontext der christlichen Kirche in Westeuropa sich im Verlauf der besagten Zeitspanne wandelte – und wie diese Wandlungen sich auf der religiösen Ebene in veränderten Jenseitsvorstellungen, in neuen Trauer- und Begräbnispraktiken der Gläubigen widerspiegelten. Nun soll es in diesem Buch aber nicht nur um den Tod und das Weiterleben der Seele im Jenseits gehen. Vielmehr sollen auch die Einflüsse ans Licht kommen, die nach der Überzeugung der Gläubigen von jener anderen Welt auf ihre hiesige Lebenswelt ausstrahlten. Es geht also auch um die Frage, wie das Jenseits ins Diesseits hineingeholt wurde: durch das Erzählen und Weitergeben von Träumen und Visionen, durch beständiges Predigen und andächtiges Nachsinnen über das Jüngste Gericht, durch Wunder, die an den Grabstätten längst verstorbener Heiliger geschahen, sowie durch die zunehmende Verbreitung von Kirchen und Klöstern, deren hauptsächlicher Zweck das Gebet für die Verstorbenen war. 7
Vorwort
Vielleicht hilft es meinen Leserinnen und Lesern, wenn sie gleich zu Beginn erfahren, was dieses Buch ihnen bietet und wo es von den zahlreichen Forschungstraditionen abweicht, deren Wege ich ganz bewusst verlassen habe. Zunächst einmal betrachte ich im Folgenden die Herausbildung christlicher Jenseitsvorstellungen als etwas, was sich in einer beständigen Debatte der Christen untereinander ereignet hat. Diese Betonung eines andauernden innerchristlichen Streitgesprächs unterscheidet meine Darstellung also von jenen, die sich darin genügen, kurz und bündig das Entstehen ›der‹ christlichen Jenseitslehre zu schildern, ganz so, als wäre es dabei lediglich um die Entfaltung einer einzigen großen Meistererzählung gegangen. In traditionell angelegten Geschichten der katholischen Kirche wird in einer solchen Meistererzählung gern hervorgehoben, wie bestimmte Vorstellungen, die bereits in den Anfängen des Christentums bestanden hätten, über die Jahrhunderte hinweg ganz allmählich zur Blüte gelangt seien. Im protestantischen Umfeld dagegen trägt die Meistererzählung andere Züge; dort wird viel eher nachgezeichnet, wie über die Jahrhunderte eine ursprüngliche – vermeintlich ›christlichere‹ – Vorstellung von Tod und Jenseits verloren gegangen sei. In beiden Fällen erfährt der Leser meist nur, was passiert ist – nicht aber, wie und warum. Viele solche Erzählungen, in denen es um den Wandel der christlichen Jenseitsvorstellungen geht, erinnern ein wenig an ›Malen nach Zahlen‹, wo einzelne Bereiche der Landschaft hübsch nacheinander mit den jeweils passenden, eindeutig nummerierten Farben ausgepinselt werden. Auf dieselbe Weise werden die einander ablösenden christlichen Jenseitsvorstellungen nacherzählt, Jahrhundert für Jahrhundert und immer schön der Reihe nach. Das Ergebnis ist eine zutiefst verlässliche Darstellung dessen, was Christen zu unterschiedlichen Zeiten über diese Dinge gedacht und geglaubt haben. So gelangen wir schließlich von den gewaltigen eschatologischen Hoffnungsmomenten eines neuen Himmels und einer neuen Erde, wie sie für die frühe Kirche charakteristisch waren, zu jener Vorstellung einer langwierigen und schmerzhaften Reise der Einzelseele durch das Jenseits, der die im mittelalterlichen Katholizismus entstandene Lehre vom Fegefeuer verpflichtet ist. Doch am Ende hinterlässt diese spannungsarme Art der Darstellung doch einen etwas schalen Nachge8
Vorwort
schmack und wir erfahren so gut wie nichts von den Verwerfungen und den Kämpfen innerhalb der Christengemeinden, durch die bestimmte Jenseitsvorstellungen zu bestimmten Zeiten mit höchster Dringlichkeit zutage traten, und zwar aus Gründen, die in keinem Fall rein theologische waren. So gesehen, verfolgt das vorliegende Buch den Ansatz, der mich auch bei der Arbeit an meiner umfassenden Studie Der Schatz im Himmel: Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs (orig. 2012, dt. 2017) geleitet hat; auch das war nämlich ein Buch, in dem es um die beständige Auseinandersetzung der Christen untereinander ging. Ich habe mich darin mit der umstrittenen Verwendung von Reichtümern in den christlichen Kirchen auseinandergesetzt und wollte zeigen, dass die damaligen Debatten über Reichtum und Armut im Christentum keineswegs in einem historischen Vakuum geführt wurden. Vielmehr entstanden sie aus den spezifischen, ganz konkreten Lebensumständen der diversen Christengemeinden des lateinischen Westens, die je nach Gegend und Zeit natürlich unterschiedlich ausfallen mochten. Ich habe in jenem anderen Buch auch darauf hingewiesen, dass, wer die Dringlichkeit verstehen will, mit der viele der damaligen Jenseitsdebatten geführt wurden, nicht umhinkommt, auch die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte derselben Zeit in den Blick zu nehmen. Dieses Bemühen um eine größtmögliche Präzisierung des Kontexts brachte mich auch dazu, auf einen Schwachpunkt der vorhandenen Literatur hinzuwiesen: Viele Gemeinplätze zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur der spätrömischen und frühmittelalterlichen Gesellschaften entsprechen – obgleich sie in den gängigen Darstellungen oft wiederholt werden – nicht mehr dem neuesten Stand der Forschung. Dabei beträfe die Korrektur der entsprechenden Auffassungen auch unsere Bewertung der christlichen Debatten über Reichtum und Armut sowie darüber, wie die christlichen Kirchen jener Zeit Reichtümer anhäuften und gebrauchten. In mancherlei Hinsicht folgt dieses neue Buch also demselben Ansatz, nur dass dieses Mal eben die Debatten über das Jenseits in den Blick genommen werden sollen; aber damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Den Lesern muss nämlich bewusst sein, dass es sich bei Der Preis des ewigen Lebens keineswegs um ein ›Nebenprodukt‹ oder gar 9
Vorwort
eine ›Fortsetzung‹ von Der Schatz im Himmel handelt. Schließlich betrifft der Zusammenhang zwischen Reichtum und Jenseits auch Aspekte der religiösen Vorstellungswelt, die ich beim Verfassen von Der Schatz im Himmel ganz bewusst außer Acht gelassen habe. Damals ging es mir um Reichtum, Armut und die Debatten über diese beiden Themen in ihren diesseitigen Bezügen. Nun aber geht es mir um die jenseitige Dimension der Problematik und so steht im Zentrum der folgenden Kapitel das Verhältnis von Gesellschaft und religiöser Vorstellungswelt, wie es in der Beschäftigung mit dem Thema Jenseits zum Ausdruck kam. Indem ich mich nun diesen Fragen zuwende, kehre ich zu einer Thematik zurück, mit der ich mich Ende der 1990er-Jahre intensiv befasst habe. In einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen, die zwischen 1997 und 2000 veröffentlicht wurden, ging ich damals der Frage nach, auf welche Weise der Wandel christlicher Jenseitsvorstellungen (einschließlich des Aufkommens der Idee vom »Fegefeuer«) die kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse widergespiegelt hatte, die den Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter markierten. Diese Wandlungsprozesse führten zum Aufkommen von Vorstellungen über das Jenseits (und schließlich auch über den Einzelmenschen), durch die sich die Christen des Westens bald deutlich von ihren östlichen Nachbarn – in Byzanz und im Nahen Osten – sowie von den Anhängern des Islam unterschieden. Mir ist bewusst, dass ich mich durch die Wahl meiner Herangehensweise – indem ich die Geschichte der christlichen Jenseitsvorstellungen als Geschichte der von ihnen hervorgerufenen Debatten sowie der gesellschaftlichen und religiösen Spannungen auffasse, die ihnen jeweils zum Durchbruch verhalfen – wieder einmal auf schwieriges Gelände begeben habe. Ich habe erst einmal lernen müssen, wie das geht: wie man in die herkömmliche Art der Ideengeschichte über christliche Jenseitsvorstellungen einen roten Faden einflicht, der den gesellschaftlichen Kontext und die sozialen Implikationen jener Vorstellungen erkennbar werden lässt. Und obwohl es schwierig genug war, die Ursachen und das Wesen des Wandels in den Jenseitsvorstellungen der damaligen Christen zu bestimmen, erschien es mir doch notwendig, zudem auch die Geschwindigkeit und gleichsam die Taktung dieser 10
Vorwort
Wandlungsprozesse zu erfassen: Wann setzten sie ein? Wie schnell griffen sie um sich? Inwiefern stellten sie Brüche in der Kontinuität eines festgefügten religiösen Systems dar? Und inwiefern standen sie selbst in Kontinuität zu älteren Vorstellungen und Vorstellungsgemengen, ob nun christlichen oder nichtchristlichen? Alles in allem musste ich in meiner ständigen Auseinandersetzung mit den Hauptwerken der Geschichtsschreibung über das frühe Christentum die mitunter schmerzliche Erfahrung machen, dass mit der Frage nach der Geschwindigkeit bestimmter Wandlungsprozesse innerhalb einer religiösen Gemeinschaft – und insbesondere einer Gemeinschaft, die noch so formbar war wie das aufstrebende Christentum der Spätantike – die bei Weitem größte Herausforderung einhergeht, die für einen Historiker des frühen Christentums denkbar ist. Und doch ist es gerade dieser Aspekt, der gerade von heutigen Forschern allzu oft als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Dabei ist diese Frage nach der Geschwindigkeit des Wandels der religiösen Vorstellungswelt von entscheidender Bedeutung. Es ist schwierig genug, die Geschwindigkeit bestimmter säkularer Wandlungsprozesse in den gut erforschten Institutionen und Gesellschaftsstrukturen der römischen und nachrömischen Welt zu ermessen. Nach der Ansicht mancher Kolleginnen und Kollegen scheint die Geschwindigkeit des Wandels im späten Kaiserreich eine geradezu schwindelerregende Rasanz erreicht zu haben. Andere widersprechen dem. Noch immer herrscht in der Geschichtswissenschaft Uneinigkeit darüber, ob der Fall Roms nun einen drastischen Bruch im Lauf der abendländischen Geschichte dargestellt habe oder nicht doch nur eine Transformation unter vielen – und dabei vielleicht noch nicht einmal die verheerendste. Diese Meinungsverschiedenheiten lassen erkennen, wie schwer es ist, für die Geschwindigkeit von Wandlungsprozessen in einer komplexen Gesellschaft das richtige Maß zu finden. Um es kurz zu machen: Soll man diese Geschwindigkeit mit Blick auf die spätrömischen Jahrhunderte nur anhand einer straff gefassten Reihe von Daten erheben – anhand der Regierungszeiten von Kaisern, der Daten großer Schlachten oder des Verlaufs gut erforschter Barbareneinfälle? Oder stellen all diese Daten und Fakten letztlich nicht doch nur flüchtige Schaumkronen dar auf dem großen Ozean der Geschichte, dessen tiefe Strömungen 11
Vorwort
sich womöglich mit einer ganz anderen Geschwindigkeit dahinwälzen – noch schneller manchmal, manchmal aber auch behäbiger –, als es die von der Wucht der politischen und militärischen Ereignisse aufgepeitschte Oberfläche vermuten lässt? Mit Blick auf die Vorstellungsstrukturen religiöser Gemeinschaften wie der christlichen Kirche hat es sich – im Vergleich mit der Säkulargeschichtsschreibung – als sogar noch schwieriger erwiesen, eine ›Wandlungsgeschwindigkeit‹ festzustellen sowie eindeutige Bruch- und Transformationspunkte auszumachen. Ich selbst habe bei der Arbeit an diesem Buch Folgendes gelernt: Einige der gravierendsten Veränderungen der christlichen Vorstellungswelt lassen sich auf keine vernünftige Weise in einen direkten Zusammenhang mit jenem strammen Schritt der Geschichte bringen, der in den gängigen Lehr- und Übersichtswerken zum Niedergang des Römischen Reiches und Beginn des Mittelalters gepflegt wird. Vermeintlich weltbewegende Ereignisse – etwa die Bekehrung Kaiser Konstantins des Großen – wirkten sich nicht zwangsläufig auch auf die Jenseitsvorstellungen von Christen aus, wie sie uns in Kapitel 1 an den Gräbern ihrer Lieben begegnen werden. Und ganz egal, wie stark das Römische Reich des späten 4. und frühen 5. Jahrhunderts von einem wachsenden Gefühl der Unsicherheit erschüttert wurde: Allein damit wird man die komplizierten Ergüsse Augustins über das hartnäckige Anhaften der Sünde nicht erklären können. Und kein Barbareneinfall – so traumatisch er für die Betroffenen auch gewesen sein mag – kann dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Gläubigen nun Hölle, Tod und Teufel zu fürchten begannen – und ihre Seelen in der Stunde des Todes auf einmal der Nachstellung dämonischer Mächte preisgegeben sahen. Derlei düstere Vorstellungen lassen sich nicht einfach mit dem Verweis auf politische und gesellschaftliche Krisen erklären. Vielmehr gerieten sie schon Generationen vor dem Fall des Römischen Reiches im Westen in Umlauf und gewannen immer größere Dynamik, selbst in einigen der sichersten und wohlhabendsten Gegenden der römischen Welt. Analog kann kein noch so brutaler Bruch zwischen der römischen Ordnung und einem neuen, ›barbarischen‹ Zeitalter – wie wir es uns mitunter auszumalen versucht sind – die Unterschiede zwischen einem Augustinus und einem Gregor von Tours erklären. 12
Vorwort
Und doch gibt es ihn ja, den Wandel, und es ist die Aufgabe des Historikers, tiefer zu graben, um nach dessen Wurzeln zu suchen. Diese wird er womöglich in Phänomenen finden, die in den konventionellen Erzählungen über die betreffende Epoche wenig oder keine Beachtung finden. Genau dies – die Wurzeln des Wandels in der großen Menge des oft Übersehenen aufzuspüren – habe ich mir in diesem Buch vorgenommen. Ob ein solcher Ansatz sich als fruchtbar erweist, was unser Verständnis vom Wandel frühchristlicher Jenseitsvorstellung an der Schwelle von der Antike zum Mittelalter angeht, mögen die Leserinnen und Leser entscheiden. Aber eines nach dem anderen. Zur Einstimmung auf den Hauptteil der Darstellung möchte ich am Ende meiner Geschichte beginnen: mit einer Skizze des Lebens nach dem Tod, wie es sich ein prominenter Christ des späten 7. Jahrhunderts ausgemalt hat. Die Rede ist von Bischof Julian von Toledo, dessen Aufzeichnungen aus dem Jahr 688 stammen. Wie sehr sich Julians Vorstellungen vom Jenseits von den Vorstellungen der Christen noch früherer Zeiten unterschieden, lässt sich an der Reaktion ermessen, als er – in den Schriften seiner Bibliothek – mit dem so ganz anderen Glauben eines führenden christlichen Denkers konfrontiert wird, der mehr als vier Jahrhunderte vor ihm gelebt hatte: Cyprian, der in den Jahren 248 bis 258 Bischof von Karthago gewesen war. Mit diesem Kontrast zwischen zwei Epochen – zwischen dem 3. und dem 7. Jahrhundert n. Chr. – wollen wir nun beginnen.
13
Chronologie um 140 Der Hirt des Hermas um 160 bis um 240 Tertullian 161–180 Marc Aurel 165 Suizid des Peregrinus 203 Märtyrertod der Perpetua 248–258 Cyprian amtiert als Bischof von Karthago 205–270 Plotin 216–277 Mani um 250 bis um 300 christliche Graffiti in den Sebastians Katakomben (Rom) 312 Bekehrung Konstantins 335–397 Martin von Tours 353–431 Paulinus von Nola 354–430 Augustinus 395 Bischof von Hippo 397 Confessiones (»Bekenntnisse«) 403 predigt in Karthago gegen Spiele und Theatervorstellungen 412–430 Pelagianischer Streit 413–427 De civitate Dei (»Über den Gottesstaat«) um 420 Träume in Uzalis 420/424 De cura pro mortuis gerenda (»Über die Sorge für die Toten«), an Paulinus von Nola gerichtet 422 Enchiridion (»Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe«) um 400 Die Visio Pauli (»Offenbarung des Paulus«) kursiert in Italien und Nordafrika 400 Prudentius, Liber Cathemerinon (»Tageszeitenbuch«) 14
Chronologie
405 Pinianus und Melania entsagen ihrem Reichtum um 405 pelagianische Schrift Diatribe de divitiis (»Über den Reichtum«) 406 Barbaren überqueren den Rhein 410 Plünderung Roms durch die Westgoten 400/410 Gründung des Klosters von Lérins 426–428 Honoratus amtiert als Erzbischof von Arles 430–449 Hilarius amtiert als Erzbischof von Arles 360–435 Johannes Cassianus schreibt in Südgallien um 400 bis um 480 Salvian von Marseille 435 Ad Ecclesiam (»Offener Brief an die Kirche«) um 445 De gubernatione Dei (»Von der Weltregierung Gottes«) um 405 bis um 490 Faustus von Riez 434 bis um 460 Mönch und Abt von Lérins um 460 Bischof von Riez 474 De gratia Dei (»Über die Gnade Gottes«) 431–489 Sidonius Apollinaris um 450 Wirken des heiligen Patrick in Irland 467 Der Eremit Lupicinus aus dem Jura kritisiert den lokalen Adel 469/470 Claudianus Mamertus, De statu anumae (»Über die Beschaffenheit der Seele«) 476 Ende des Römischen Reiches im Westen 486–511 Chlodwig I. herrscht als König der Franken um 500 Die Visio Pauli (»Offenbarung des Paulus«) kursiert nun auch in Gallien 502 Julianus Pomerius, De vita contemplativa (»Über das Leben in der Kontemplation«) 502–524 Caesarius amtiert als Erzbischof von Arles 529 Synode von Orange 511–558 Childebert erlässt sein Praeceptum (»Vorschrift«) 585 Guntram von Burgund erlässt sein Edikt 538–594 Gregor von Tours 573 Wahl zum Bischof von Tours 15
Chronologie
575–591 Libri historiarum (»Historien«) und Libri septem miraculorum (»Sieben Bücher über Wunder«) 576 Kriegsverheerungen in der Touraine 590 Disput über die Auferstehung 590–604 Papst Gregor I. (»der Große«) 594 Dialogi (»Dialoge«) 543–615 Columban von Luxeuil 590–610 gründet die und wirkt in der Abtei Luxeuil 612 gründet das Kloster Bobbio 616 Testament des Bischofs Bertram von Le Mans um 620 Gründung der Abtei Faremoutiers 629–634 Dagobert I. herrscht als alleiniger König der Franken um 630 Visio Fursei (»Vision des Fursa«) entsteht in Irland 639–643 Jonas von Susa, Vita Columbani (»Leben des Columban«) um 650 Fursa stirbt in der Abtei Lagny 675/676 Testament des Bischofs Leodegar von Autun 679 Visio Baronti (»Vision des Barontius«) entsteht 688 Julian von Toledo, Prognosticon futuri saeculi (»Medizinische Vorhersage der künftigen Welt«)
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Nordsee Ostsee
York
London
Atlantischer Ozean
Nivelles Amiens Köln Soissons einParis Trier e Lagny Le Mans Chartres Do na Loire u Tours Langres Luxeuil Poitiers Bourges Autun Bregenz Artonne Lyon Bordeaux Mailand Clermont Vienne Susa Aquileia Pavia Vicenza Orange Turin Bobbio Toulouse Arles Riez Genua Ravenna Marseille Rouen S
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Toledo
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Karthago
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200
400
600 km
17
Einleitung
W
ie auch in meiner Danksagung angemerkt, hat dieses Buch sich aus einer Reihe von drei öffentlichen Vorträgen entwickelt, die ich im Herbst 2012 in Wien gehalten habe. Da das Vortragsformat gewisse inhaltliche Beschränkungen mit sich bringt, ergänze ich meine damaligen Überlegungen im Folgenden um eine kurze Einleitung in das »große Ganze«, nämlich die entwicklungsgeschichtlichen Grundzüge christlicher Jenseitsvorstellungen im lateinischen Westen zwischen 200 und 700 n. Chr. Um die Sache auf den Punkt zu bringen, werde ich zwei Epochen miteinander vergleichen: die Welt der frühen Kirche gegen Ende des 2. Jahrhunderts und im 3. Jahrhundert n. Chr. auf der einen Seite und die frühmittelalterliche Welt des 7. Jahrhunderts auf der anderen. Diese sind zugleich der Anfangs- und der Endpunkt der im Anschluss zu erzählenden Geschichte. Erst wenn wir diese beiden Punkte der Entwicklung verglichen haben – wenn wir sicher sein können, was diese beiden Welten (die immerhin beinah ein halbes Jahrtausend trennt) gemein haben und was nicht –, können wir die Implikationen der Veränderungen, die von dem einen zu dem anderen Punkt geführt haben, ganz ermessen. Zu dieser Herangehensweise hat mich die Lektüre eines wenig beachteten Textes aus dem 7. Jahrhundert angeregt, den ich erstmals Mitte der 1990er-Jahre studiert habe. Ich meine das Prognosticon des Erzbischofs Julian von Toledo. Dieser Text hat, seitdem ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, nicht aufgehört, mich zu faszinieren. Ich halte ihn für das ergreifende Zeugnis einer ganzen Epoche.
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Einleitung
Julian von Toledo, 688 n. Chr. Im Jahr 688 saßen der Erzbischof Julian von Toledo, der Hauptstadt des Westgotischen Reiches, und der Bischof Idalius von Barcelona still in einer Bibliothek und lasen. Idalius war ein kranker Mann; die Gicht plagte ihn sehr. Da Toledo in diesen Tagen weitgehend menschenleer war und Ruhe über der Stadt lag – der König und sein Heer waren zu ihrer Frühjahrskampagne aufgebrochen –, hatte Julian sich daran begeben, aus der Fülle seiner Bibliothek eine Anthologie großer Autoren der lateinischen Kirche zusammenzustellen, mit der er seinem todkranken Freund ein wenig Trost spenden wollte. Julian nannte seine Textsammlung ein Prognosticon futuri saeculi – also eine »medizinische Vorhersage der künftigen Welt«.1 Durch seine Wortwahl macht er deutlich, dass er dabei an eine medizinische Prognose denkt: Seine Sammlung soll die Gewissheit einer ärztlichen Diagnose bieten. Die darin versammelten Texte präsentieren das zukünftige Schicksal der menschlichen Seele, Schritt für Schritt, vom Zeitpunkt des Todes über ein körperloses Nachleben bis schließlich zur glorreichen Erneuerung der gesamten Schöpfung am Tag der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts. Im Mittelalter entwickelte sich Julians Anthologie zu einem wahren Bestseller.2 Das überrascht nicht, denn das Prognosticon bot seinen Lesern etwas, was Claude Carozzi, Julians bester Interpret, als ein ganzes »Universum von Gewissheiten« über den Tod und das Schicksal der Seele nach dem Tod bezeichnet hat.3 Das Prognosticon nahm für sich das Gewicht von über vier Jahrhunderten christlicher Jenseitsreflexion in Anspruch. Der Erzbischof hatte sich durch die Bestände seiner umfangreichen Bibliothek gearbeitet und Textauszüge zu den Themen Tod und Jenseits angefertigt, wo immer er bei einem christlichen Autor auf diese Themen traf: vom großen Bischof Cyprian von Karthago um die Mitte des 3. Jahrhunderts angefangen bis hin zu Papst Gregor dem Großen am Ende des 6. Jahrhunderts. Schon Julians Anthologie umspannt also beinahe die vier Jahrhunderte, die auch wir in den Blick nehmen wollen. Das Prognosticon ist deshalb so wertvoll, weil es nicht weniger bietet als ein Panorama christlicher Jenseitsvorstellungen, wie sie am äußers20
Julian von Toledo, 688 n. Chr.
ten Ende der christlichen Antike – bereits an der Schwelle zum Mittelalter – verbreitet waren. Natürlich ahnte Julian nicht, dass er am Ende einer Epoche lebte. Nur eine Generation später sollte das Westgotenreich von arabischen Invasoren aus dem Osten hinweggefegt werden und Toledo über viele Jahrhunderte eine muslimische Stadt werden. Doch es ist nicht allein der schmerzliche Eindruck einer »Endzeit«, der Julians Prognosticon auszeichnet. Was ich nämlich bei meiner ersten Lektüre nicht erkannt hatte, war, dass das Prognosticon noch weit mehr zu bieten hat als eine unschätzbare Sammlung christlicher Jenseitsvorstellungen zur Zeit Julians. Es bietet dem Leser eine Möglichkeit, die uns Historikern nur selten vergönnt ist: gleichsam über die Schulter eines antiken Autors mitlesen zu können, während dieser Schriften liest, die wir selbst auch schon studiert haben. Wie dachte Julian über die frühchristlichen Werke, aus denen er exzerpierte? Inwiefern unterschied sich das, was er in diesen Texten erblickte, von deren heutigem Verständnis in der historischen Erforschung der frühen Kirche? Freilich spiegelt dieser geschichtswissenschaftliche Zugang eine moderne Methodik. Julian war sich seines großen zeitlichen Abstands zu den früheren der von ihm kopierten Texte kaum bewusst. Vielmehr war er überzeugt, dass die Anthologie, die er für seinen Freund Idalius zusammengestellt hatte, den Ausdruck einer zeitlosen und ungebrochenen Tradition darstellte. Jedem Aspekt des Jenseits, den er betrachtete, ordnete er Textauszüge aus den verschiedensten Epochen zu. Es kam ihm offenbar überhaupt nicht in den Sinn, dass jene Auszüge die diversen »Christentümer« ganz unterschiedlicher Zeitalter repräsentieren mochten. Und warum hätte er das auch denken sollen? Er war kein moderner Kirchenhistoriker oder Religionswissenschaftler. Er hatte ein dringendes Anliegen. Er war ein christlicher Bischof, der ein Handbuch zusammenstellte – fast schon ein wissenschaftliches Lehrbuch –, durch dessen ewige Wahrheiten er einem Freund das Sterben leichter machen wollte. Doch sobald heutige Historiker die von Julian herausgeschriebenen Stellen in die chronologische Folge ihrer Entstehung bringen, wird klar, dass wir es jeweils mit ganz verschiedenen christlichen Epochen zu tun haben. Jede dieser Epochen war von einem anderen Weltbild geprägt. 21
Einleitung
Als Historiker hätten wir Julian mitteilen können, dass ihm, wenn er etliche der frühchristlichen Autoren, die er in seiner Anthologie zitiert, persönlich getroffen hätte, diese wohl – trotz aller christlichen Gemeinsamkeit – wie fremdartige, geradezu vorsintflutliche Kreaturen vorgekommen wären, deren Lebenswelt sich von seiner eigenen scharf unterschied; und jene frühchristlichen Autoren hätten über Julian wohl ganz ähnlich gedacht. Wir sollten uns deshalb zunächst solche Auszüge aus dem Prognosticon ansehen, in denen Julian die frühesten christlichen Autoren zitiert, die ihm bekannt waren. Wir werden sehen, was er in ihnen sah. Wir werden auch sehen, was er über sie nicht wusste, obgleich es uns heute geläufig ist: der präzise historische Kontext der zitierten Schriften und die verschiedenen Weltbilder, die sich in ihnen jeweils ausdrücken.
Martyrium in Karthago, 250 n. Chr. Zunächst haben wir es mit einer Einstellung gegenüber dem Tod und dem Jenseits zu tun, die sich von jener Julians fundamental unterscheidet. Der früheste Autor, den er zitiert, ist Cyprian, der von 248 bis 258 n. Chr. Bischof von Karthago war. Cyprian war eine führende Persönlichkeit bei der Formulierung des christlichen Jenseitsbildes gewesen. Zusätzliche Autorität sollten seine Ansichten dadurch gewinnen, dass er sein Leben als Märtyrer beschloss. Gleich seitenweise schrieb Julian aus Cyprians Abhandlung De mortalitate (»Über die Sterblichkeit«) ab, auch aus seiner an einen gewissen Fortunatus gerichteten »Ermahnung zum Martyrium«.4 In diesen Schriften blickt Cyprian dem Tod ganz unverwandt ins Auge – ja, er starrt durch ihn hindurch: Der Tod scheint ihm nicht mehr als ein Moment, der »überstanden« sein will – expuncta.5 Der Tod als Märtyrer sei der glücklichste, weil dem Märtyrer noch im Augenblick seines Todes der Eintritt in den Himmel gewährt werde: »Welch große Ehre ist es, welch ein Gefühl der Sicherheit, diese Welt mit Freuden zu verlassen und dahinzugehen in Herrlichkeit [...] in dem einen Moment die Augen zu schließen, mit denen man die Menschen und die Welt erblickt hat – und sie im nächsten Moment wieder zu 22
Martyrium in Karthago, 250 n. Chr.
öffnen, um Gott und Christus selbst zu erblicken.« Für einen Märtyrer gab es also gar kein »Nachleben« im Jenseits, sondern nur die augenblickliche Gegenwart Gottes. Julian mögen diese Ansichten Cyprians ein wenig seltsam vorgekommen sein; jedenfalls beeilte er sich, als nächsten Textauszug ein Augustinus-Zitat anzufügen, demzufolge nicht nur Märtyrer, sondern alle Heiligen auf dieselbe unverzügliche Weise in den Himmel gelangen würden.6 Doch Cyprian war nicht wie Julian, ja er war noch nicht einmal wie Augustinus. Den Märtyrern seiner eigenen Zeit galt seine ganze Aufmerksamkeit. Nur die Märtyrer konnten sicher sein, geradewegs in die göttliche Gegenwart zu gelangen. Der Schwerpunkt seines ganzen Jenseitsbildes lag ganz klar auf den Märtyrern.7 Tatsächlich gehörten die leidenschaftlichen Seiten, die Julian zum Trost seines Freundes aus den Werken Cyprians kopiert hatte, einer schon sehr fernen Form des Christentums an, in der die Idee des Martyriums über allem gestanden hatte. Diese fremde Welt sollten wir nun für einen Moment in den Blick nehmen. Anders als Julian war Cyprian nicht ein Erzbischof im Spanien des 7. Jahrhunderts gewesen – ganz im Gegenteil. Er war der Kopf einer winzigen Gemeinde im nordafrikanischen Karthago, deren wahrscheinlich nicht mehr als 2500 Mitglieder im besten Fall etwa ein Dreißigstel der Einwohnerschaft ausmachten. Und tatsächlich drohte vielen seiner Gemeindemitglieder die Hinrichtung als Märtyrer – vom griechischen mártyres, »Zeugen« – des christlichen Glaubens. Außerdem wütete in Karthago zu jener Zeit die Pest. Das war die Situation, in der Cyprian seine ermutigenden Worte niederschrieb. Und Ermutigung konnten seine Brüder und Schwestern gut gebrauchen. Wir sollten uns die Christengemeinde von Karthago nicht als Bollwerk kampfbereiter Heiliger vorstellen, die angesichts einer gnadenlos feindlichen Umwelt jederzeit für ihren Glauben zu sterben bereit waren. Wie Éric Rebillard vor Kurzem in einem brillanten Buch dargelegt hat, verbrachten die frühen Christen in Karthago und anderswo nur einen Bruchteil ihrer Zeit damit, frühe Christen zu sein. Sie besaßen viele verschiedene Identitäten und unterhielten eine Vielzahl von Beziehungen zu einer heidnischen Gesellschaft, die sie zumeist überhaupt nicht als Christen wahrnahm. Viele von ihnen waren auch 23
Einleitung
gar nicht der Ansicht, dass ihr Christsein eine unwiderrufliche Vollzeitidentität bedeutete. Der Kircheneintritt fiel ihnen nicht schwer. Aber sobald ihnen klar wurde, dass ihre Bindung an das Christentum sie in Widerstreit zu älteren, stärkeren Loyalitäten geraten ließ, traten sie auch genauso schnell wieder aus. Und deshalb ist Cyprians Beschwörung der toten Märtyrer eben nicht Ausdruck einer gleichsam monolithischen Christengemeinde. Vielmehr wurden das Ideal des Märtyrertodes und die Vorstellung eines augenblicklichen Eingangs der Märtyrer in den Himmel von Cyprian herangezogen, um eine potenziell gleichgültige Gemeinde herauszufordern. Cyprians Behauptungen waren umso dramatischer, als er überhaupt nicht sicher sein konnte, dass sie überhaupt gehört werden würden.8 Die Notwendigkeit, die durchschnittlichen Christen zur Befolgung ihres Glaubens anzuhalten, sorgte im Karthago Cyprians wie auch anderswo in der spätantiken Welt dafür, dass die Märtyrertodthematik die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen – Heiden wie Christen – in Beschlag hielt. Und das geschah mit einer solchen Eindringlichkeit, dass alle anderen christlichen Grübeleien über das Jenseits davon in den Schatten gestellt wurden. Ein normaler Tod interessierte kaum, aber das Martyrium – das war etwas Besonderes. Der Märtyrertod war »ein Tod für Gott, neu und außergewöhnlich«.9 Er stand für ein Christentum, wie man es sich extremer – aber auch authentischer – nicht vorstellen konnte. Aus der Sicht der Nichtchristen hingegen stand er für ein Christentum, wie man es sich überspannter und aufdringlicher nicht vorstellen konnte. Wir dürfen eines nicht vergessen: Den Märtyrertod zu sterben, bedeutete ja nicht, dass man mit christlicher Geduld und Standhaftigkeit einem Justizverfahren zum Opfer fiel, das im (einigermaßen) Verborgenen verlaufen wäre. Diese moderne Vorstellung ist viel zu zahm; sie entspringt der Vorstellung von unserem heutigen Rechtssystem. Vielmehr waren öffentliche Gerichtsverhandlungen und öffentliche Hinrichtungen ein ganz selbstverständlicher Bestandteil des Lebens in einer römischen Stadt. Entsprechend erinnerten sich die Christen an die Martyrien ihrer Glaubensbrüder und -schwestern als extreme und schreckliche Ereignisse, die sich in aller Öffentlichkeit abgespielt hatten, vor den Gerichtshöfen und in den Amphitheatern, vor aller Augen.10 24
Martyrium in Karthago, 250 n. Chr.
Und doch war das, was Christen wie Cyprian ein »außergewöhnlicher« Tod schien, für den durchschnittlichen Heiden eher abnorm, ja krankhaft. In den Augen ihrer heidnischen Mitbürger waren die Christen ein Haufen selbstmörderischer Exhibitionisten. Wie der Kaiser Marc Aurel (161–180) in seinen Selbstbetrachtungen geschrieben hatte: Ein weiser Mann dürfe sich sehr wohl entschließen, seinem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Aber den Tod allein aus Trotz herauszufordern »wie [...] bei den Christen«, war ein »theatralisches Gebaren«, das den Kaiser abstieß. Mag sein, dass der Zusatz »wie [...] bei den Christen« von einem späteren Kopisten eingefügt worden ist.11 Aber auch der Kopist hätte die Sache dann auf den Punkt gebracht: Manche Tode (und nicht nur die von Christen) waren öffentliche Spektakel der aufdringlichsten und unerfreulichsten Art. Wir dürfen nicht vergessen, dass aus der Sicht eines durchschnittlichen Nichtchristen jener Zeit die christlichen Märtyrer so besonders überhaupt nicht waren. Vielmehr passten sie nur zu gut in eine lange Reihe blutverschmierter und irrer Gestalten: Gladiatoren spielten in der Arena mit ihrem Leben. Ihre blutigen, verstümmelten Leichname assoziierte man mit übermenschlichen Kräften.12 Auch rebellische Philosophen setzten ihr Leben aufs Spiel, indem sie alles daransetzten, die Mächtigen zu beleidigen. Der Verrückteste unter ihnen, der Philosoph Peregrinus, hatte sogar eine Zeit lang mit dem Christentum geliebäugelt. Unter den Christen hatte er großes Ansehen als potenzieller Märtyrer erlangt. Im Jahr 165 n. Chr. nahm er sich das Leben, indem er sich unweit der Zuschauermassen, die sich in Olympia zu den Olympischen Spielen versammelt hatten, anzündete und verbrannte.13 Die Tode der christlichen Märtyrer machten auf Außenstehende nicht zwangsläufig Eindruck. Viel eher wirkten sie auf diese grotesk und verstörend. Dennoch hatten Christen und Nichtchristen eines gemein: Ob sie ihnen nun heldenhaft oder krankhaft erschienen, die grausigen, ganz und gar öffentlichen Tode der christlichen Märtyrer hielten ihre Aufmerksamkeit in Bann – und andere, gewöhnlichere Tode hatten das Nachsehen.
25
Einleitung
Seelen im Wartestand Hinter der christlichen Überhöhung der Märtyrer stand eine Vorstellung vom Jenseits, die auch Julian im Toledo des 7. Jahrhunderts – wenn er sie in allen ihren Konsequenzen nachvollzogen hätte, wie es ein heutiger Religionswissenschaftler tun muss – als Botschaft aus einer ganz und gar fremdartigen Welt erschienen wären. Stattdessen schienen Cyprians klangvolle Wendungen Julian Ausdruck einer ungebrochenen christlichen Tradition. Aber in Wahrheit gehörte Cyprian einer ganz anderen Welt an, einer Welt mit ganz anderen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Seele und dem Jenseits. Das wird deutlich, wenn wir uns noch einmal fünfzig Jahre zurückbewegen, ganz an den Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. Dort treffen wir auf den unermüdlichen Verfasser christlicher Schriften Tertullian von Karthago (um 160 bis um 240). Cyprian bildete in Julians Wahrnehmung der frühen Kirche den äußersten Horizont. Und während Julian sich aus den Schriften Cyprians reichlich bediente, kommt Tertullian in seinem Prognosticon überhaupt nicht vor. Im 7. Jahrhundert konnte man Tertullian höchstens im dunklen Hintergrund dessen finden, was Julian als orthodoxen Katholizismus kannte, denn er war als Häretiker verdammt worden. Zur Zeit Cyprians war das jedoch noch nicht der Fall gewesen, ja die umfangreichen und mit gründlichen Argumentationen versehenen Werke Tertullians beeinflussten die lateinische Christenheit noch für einige Generationen über die Zeit Cyprians hinaus. Cyprian selbst bezeichnet Tertullian als »den Meister«. Für Tertullian handelte es sich bei der durchschnittlichen Seele um ein überraschend zahmes Ding. Auf die schwachen Seelen der großen Masse kam es ihm – wie auch Cyprian – kaum an; interessanter waren die der Märtyrer. Aber das war nicht alles. Der weitere Weg der Einzelseele nach dem Tod war für Tertullian völlig unerheblich, wurde doch – nach seiner Ansicht – ein solches Nachleben ganz und gar in den Schatten gestellt von der umfassenden Verwandlung aller Dinge, die mit der christlichen Auferstehungslehre in Aussicht gestellt war. Man glaubte damals, jene mächtige Verwandlung stehe unmittelbar bevor. Tertullian stellte sie sich so majestätisch, so radikal, so umfassend vor, 26
Seelen im Wartestand
dass der Zeitraum zwischen dem Tod und der Auferstehung der Toten dagegen kurz und bedeutungslos erschien. Diese Sichtweise Tertullians sollte indes nicht mit der Tradition eines christlichen »Mortalismus« verwechselt werden, der sich in manchen Kreisen bis heute gehalten hat. Glaubt man dieser Lehre vom »Seelenschlaf«, so ist die Seele des Verstorbenen gewissermaßen bewusstlos – so gut wie tot –, bis sie bei der Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts erweckt wird. Nach Tertullians Auffassung jedoch wurden die Seelen der Verstorbenen nie ganz bewusstlos, sondern erlebten vielmehr eine zeitweilige »Aussetzung« ihrer bisherigen Existenz, während sie darauf warteten, dass der nächste große Akt des göttlichen Heilsdramas anbräche und nach dem Jüngsten Gericht, bei der Erweckung der Toten, ihnen Gottes Herrlichkeit zuteilwürde.14 Kurz gesagt, ließ für Tertullian (und für viele seiner Zeitgenossen) der Gedanke an die »große Zukunft« des allgemeinen Heilsgeschehens – mit dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung der Toten – keinen Raum für den Gedanken an die »kleine Zukunft« der Einzelseele nach dem Tod. Diese Einstellung war unter den Christen des späten 2. und frühen 3. Jahrhunderts weit verbreitet. Sie versperrte gewissermaßen die Sicht auf bestimmte Vorstellungsoptionen, wenn diese Christen über den Tod nachdachten. Die offensichtlichste und hartnäckigste dieser Imaginationsblockaden äußert sich in der christlichen Leugnung einer aus sich heraus unsterblichen Seele. Viele christliche Denker waren der Ansicht, wer die Seele als grundsätzlich unsterblich bezeichne, gestehe ihr eine zu große Autonomie zu. Keine Seele gelange allein deshalb direkt in den Himmel, weil sie eine Seele sei, wie es – so die herrschende Auffassung – die heidnischen Philosophen behauptet hatten. Stattdessen bestanden die christlichen Apologeten entgegen den Ansichten ihrer nichtchristlichen Kontrahenten darauf, dass die bloße Existenz der Seele ganz allein von Gottes Willen abhänge. Ihre Belohnung werde sie dereinst aus Gottes machtvoller Hand erhalten – und zwar genau dann, wenn Gott es gefiel. Christen, hieß das auch, starben für die Auferstehung der Toten, nicht für die Unsterblichkeit ihrer Seelen. Hier sind wir auf einem völlig fremdartigen Territorium angelangt, das Julian von Toledo nur mit Mühe als christlich würde erkannt haben. 27
Einleitung
Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass die lateinischen Christen zur Zeit Tertullians gerade nicht zu dem Glauben ermutigt wurden, ihre körperlosen Seelen würden nach dem Tod unverzüglich in den Himmel gelangen (wie es die meisten Christen heute glauben), ganz im Gegenteil: Die führenden heidnischen Autoritäten der Zeit setzten den Aufstieg der Seele in den Himmel als selbstverständlich voraus. Sie glaubten, dass die Seelen großer Männer (sowie jene ihrer Nächsten wie Eltern, Frauen und Kinder) sogleich nach dem Tod zu den Sternen aufsteigen würden. Wie züngelnde Flammen würden sie an ihren ursprünglichen Wohnsitz zwischen den funkelnden Sternen und Sternhaufen der Milchstraße zurückkehren. Wer sich im Leben durch eine hohe Seele ausgezeichnet hatte, so glaubte man, würde nach seinem Tod ohne Umschweife auf solche Höhen gelangen.15 Was die Frage der Unsterblichkeit der Seele betraf, waren Tertullians Zeitgenossen wahre Außenseiter unter den christlichen Theologen. Tertullian (und viele andere führende Christen seiner Zeit) hielten den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele nicht nur für überheblich, sondern für belanglos. Die allgemeine Auferweckung der Toten bildete das Gravitationszentrum ihres Denkens. In aller Schärfe wiesen sie darauf hin, dass es für die Seele keineswegs ausreichend sei, ihrem Körper zu entfliehen. Anstatt direkt in den Himmel aufzusteigen, nähmen die christlichen Seele gewissermaßen eine Auszeit: Sie warteten auf etwas Besseres – auf die große Zukunft ihrer Auferstehung. Gott werde nicht weniger tun als das gesamte Universum neu schaffen und das allein zu ihren Gunsten. In einer Geste höchster Macht werde Gott – was sowohl den menschlichen Verstand als auch die besten Erkenntnisse der antiken Naturwissenschaft herausforderte – jeden einzelnen menschlichen Körper neu erschaffen, indem er Leib und Seele eine unvorstellbar herrliche »Verwebung« (texturam) geben wolle.16 Erst dann werde die große Zukunft eingetreten sein. Die Wiederherstellung der ganzen Schöpfung, aller gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge und jedes einzelnen menschlichen Körpers galt diesen Christen für weitaus großartiger als jeder noch so himmlische Flug einer einzelnen Seele zu den Sternen. Gegenüber ihren heidnischen Kontrahenten bestanden christliche Wortführer wie Tertullian wie besessen auf einer größeren – viel größeren – Sache, als es die bloße Unsterblichkeit der Seele war. 28
Seelen im Wartestand
Bei Tertullian gibt es im Jenseits also so etwas wie ein Zeitgefühl – und das ist eine Vorstellung, die Julian und seinen Zeitgenossen völlig fremd gewesen wäre: das Jenseits als eine Welt voller Seelen, die warten. Denn jene mächtige Verwandlung, in der die Leiber und Seelen der Verstorbenen wieder vereint werden sollten und bei der die müde Erde selbst zum Paradies werden würde, sie war es doch wert, dass man auf sie wartete! In der Tradition, die Tertullian vertrat und die nach ihm noch über viele Generationen Bestand hatte, setzte man ganz selbstverständlich voraus, dass Christenseelen erst einmal warten mussten, bevor sie mit ihrem Körper wiedervereinigt werden konnten. Erst dann würden sie, wie man glaubte, an Gottes neuer Schöpfung vollen Gefallen finden. Allein die Seelen der Märtyrer entgingen der Wartezeit im Zwielicht. Sie gelangten ohne Umwege ins Paradies, denn sie waren ja bereits »Freunde Gottes« (amici Dei) geworden. Sie durften in das gleißende Innerste von Gottes Palast eintreten. Sie wurden in seine Gegenwart »aufgenommen«. Sie wurden von Christus selbst, ihrem Kaiser, umarmt und geküsst, genau wie privilegierte Personen auf Erden vom Kaiser umarmt und geküsst wurden.17 Allerdings stellten die Märtyrer eine absolute Elite dar. Andere Seelen (selbst die Seelen der Gerechten) mussten sich mit einer kleinen Zukunft zufriedengeben, zu der eben auch eine gewisse Zeit des Wartens gehörte. Diese Wartezeit war jedoch keineswegs trostlos. Man stellte sie sich als eine Art Rast vor, bei der die Seelen sich an einem schattigen und geborgenen Plätzchen ausruhen konnten. Der Gedanke an Ruhe und Erfrischung (refrigerium) bildete das Zentrum, um das sich in dieser Sicht des Jenseits alles drehte. In christlichen Glaubenszeugnissen und auch in der Kunst wurde der Vorstellung von einer Erfrischung der Seelen durch Bilder Ausdruck verliehen, die den Menschen des antiken Mittelmeer- und Nahostraums schon immer viel bedeutet hatten. Gute Seelen wurden durch etwas erquickt, das Tertullian ein refrigerium interim nennt, eine erfrischende Zeit der Einkehr, eine »Verschnaufpause« in der anderen Welt, so wohltuend, wie wenn man mit guten Freunden unter schattigen Bäumen rastet, um kühles Wasser und köstliche Speisen miteinander zu teilen. Vergessen wir nicht, dass in einer Gesellschaft, in der Freizeit und Muße (otium) als Privileg der Elite ein hoher Stellenwert zukam, solch 29
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ein Warten überhaupt nichts Anrüchiges oder Widriges war. Die Seelen der Gerechten freuten sich an dieser Muße – einer schier nicht enden wollenden Muße, wie sie den Denkern der Antike als die Conditio sine qua non alles kreativen Schaffens gegolten hatte. Während dieser Zeit konnten sie sich daranmachen, die ganze Ungeheuerlichkeit jener Veränderung zu begreifen, die ihnen noch bevorstand – in der großen Zukunft der Auferstehung. Selbst die größten Seelen brauchten eine Weile, um sich »in Gottes Gegenwart zu akklimatisieren«.18 Mehr verlangten sie auch gar nicht. Uns modernen Menschen kommt diese Vorstellung des Jenseits merkwürdig unvollständig vor – und Julian von Toledo sah das ganz ähnlich. Tatsächlich war Julian, vergleicht man ihn mit noch früheren Christen, fast selbst schon ein moderner Mensch. Aber das liegt daran, dass die Ansichten, die Tertullian im 3. Jahrhundert mit solchem Eifer vertreten hatte, schon manchen seiner Zeitgenossen reichlich altmodisch erschienen waren. Schon damals hatte sich in christlichen Kreisen eine hochgespannte, platonische Vorstellung von der Seele als einer rein geistigen Wesenheit auszubreiten begonnen – einer Seele, die geradezu ein Anrecht darauf besitze, ohne Aufschub zu der beseligenden Schau Gottes zu gelangen. Und das ging natürlich zulasten der älteren Vorstellung, der zufolge die Seelen eine gewisse Wartezeit zu absolvieren hatten. Nach dem neueren Verständnis war der Himmel das wahre »Vaterland« der Seele. Der Gedanke, dass die Seelen guter Christenmenschen nach deren Tod nicht unverzüglich in den Himmel gelangen sollten, grenzte in den Augen späterer Christen an eine Negierung des Christentums überhaupt.19 Wie wir heute wissen, hat sich in der lateinischen Christenheit die Auffassung durchgesetzt, die Seele gelange unmittelbar nach dem Tod in den Himmel. Dieser Triumph der einen Vorstellung über die anderen hat eine Art gläserne Wand errichtet, die zwischen uns und jenen inbrünstigen Erwartungen steht, wie sie die Christen noch früherer Zeiten gehegt haben: Wir mögen diese Wand zwar auf den ersten Blick nicht bemerken; aber wenn wir genau hinsehen, ist sie doch da. Der Gedanke, dass allen, restlos allen Seelen nach dem Tod erst einmal eine »Auszeit« bevorstehe – dass sie abzuwarten hätten, bis Gott seine gewaltige Verwandlung des gesamten Universums vollbracht haben würde –, ist in den westlichen Kirchen verloren gegangen. Schon einem 30
Das Jenseits des Julian von Toledo
Christen des 7. Jahrhunderts, wie Julian von Toledo einer war, wäre er wie der Ausdruck einer fremden Welt erschienen.
Das Jenseits des Julian von Toledo Nachdem wir uns in den Jenseitswelten Cyprians und Tertullians umgesehen haben, können wir diese nun mit den Vorstellungen Julians von Toledo vergleichen. Dazu wollen wir uns vorstellen, wie ein Tertullian oder ein Cyprian womöglich auf das Jenseitsbild reagiert hätten, das Julian in seinen Schriften entwirft. Welche Aspekte dieses Bildes wären ihnen wohl seltsam vorgekommen? Um es ganz kurz zu machen: In den Werken Cyprians (und mehr noch bei Tertullian) verbindet sich die epochale Wucht, die dem Gedanken an die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde innewohnt, mit einer starken Akzentuierung der Einmaligkeit eines jeden Märtyrertodes. Daneben konnte eine durchschnittliche Seele nur blass aussehen. Die Vorstellungswelt jener frühen Christen bot nur wenig Raum, in dem sich ein Interesse an postmortalen Einzelschicksalen oder an individualisierten »Jenseitsprofilen« einzelner Verstorbener hätte ausbilden können. Dazu war die Zeitspanne, die zwischen dem Tod und der Herrlichkeit der Auferstehung lag, schlichtweg zu kurz. Für Julian von Toledo hatte sich, im Gegensatz dazu, der Abstand zwischen Tod und Auferstehung vergrößert. So war genügend Zeit, den individuellen Weg der Einzelseele im Jenseits mit einer je eigenen Dramatik und Bedeutung aufzuladen. Eine ganze Entwicklungsgeschichte der einzelnen Seele im Jenseits wurde nun entfaltet und in allen ihren Details ausgemalt. Das Leben nach dem Tod bedeutete nun auch für Durchschnittschristen mehr als nur den flüchtigen Moment zwischen ihrem Sterben und jener gewaltigen Umwälzung, der Auferstehung. Natürlich gibt es auch in Julians Prognosticon vieles, was an die älteren christlichen Glaubensvorstellungen eines Cyprian oder Tertullian unmittelbar anknüpft. Jene gewaltigen Veränderungen durch das Jüngste Gericht und die Auferstehung der Toten ragten auch an Julians eschatologischem Horizont. Dort standen sie, unveränderlich – so ungeheuer und erhaben wie der Himalaja. Doch bis in Julians Zeit waren 31
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auch die niederen Ausläufer dieser gewaltigen Bergkette aus dem Dunst hervorgetreten: Die »kleine Zukunft« in der Welt zwischen Tod und Auferstehung wurde nun genauso gründlich in den Blick genommen wie die »große Zukunft« am Ende der Zeiten. Julian und Idalius wollten ganz genau wissen, wie es ihren Seelen in jener Zwischenzeit ergehen würde.20 Tatsächlich könnte man das Prognosticon als eine Art »Futurologie der christlichen Seele« beschreiben. Und die beiden Bischöfe suchten jedes noch so kleine Detail zu erfahren, das ihnen bei dieser Zukunftsschilderung von Nutzen sein konnte. Im Gegensatz zu früheren Jenseitsvorstellungen war diese Zukunft nun keine reine Wartezeit mehr. Vielmehr wurde sie Raum und erstreckte sich vor Julians und Idalius’ Vorstellungskraft als ein Abenteuerland, in dem die Seele auf unzählige Gefahren treffen mochte, die in keiner Karte verzeichnet waren. Der Tod war nichts weiter als der Beginn einer großen Reise. Beim Aufbruch der Seele in jene andere Welt – im Augenblick des Todes – war fortan mit einem Beiklang von gespannter Erregung zu rechnen, der als »Reisefieber« wohl nur unzureichend beschrieben wäre. Um das Sterben großer Heiliger – oder großer Sünder – hatten sich schon früher drastische Geschichten von entsprechenden Nahtoderfahrungen gerankt, von Begegnungen mit Engeln und Teufeln auf der Schwelle des Todes. Julian kannte diese Geschichten und er nahm sie durchaus ernst.21 Doch vor allem ging es ihm – anders als etwa Cyprian – um den Tod und das jenseitige Schicksal ganz normaler Christen und nicht um die je einzigartigen Tode der Märtyrer. Wir sollten uns also einen Moment Zeit nehmen, um Julians Sicht auf das Schicksal der christlichen Durchschnittsseele nach dem Tod genauer zu betrachten. Drei Punkte stechen besonders hervor. Zunächst einmal, und das ist bereits angeklungen, mussten die Seelen nach Julians Vorstellung nicht einfach (statisch) abwarten, sondern blieben in Bewegung; und zwar bewegte sich jede Seele in ihrer eigenen Geschwindigkeit auf den Himmel zu – vorausgesetzt natürlich, dass sie nicht in die Hölle gekommen war. Manche Seelen waren wesentlich langsamer unterwegs als andere. Das christliche Jenseits ähnelte also nicht mehr einem riesigen Wartezimmer (wie Tertullian es sich vorgestellte hatte), sondern viel eher einem heutigen Stadtmarathon: 32
Das Jenseits des Julian von Toledo
Vorn hatte sich eine kleine Spitzengruppe abgesetzt, dahinter folgte – mit einigem Abstand – das große Feld der Nachzügler in diesem Seelenmarathon. Zweitens war für jeden der Nachzügler – gemeint sind die Nichtheiligen – die Jenseitsreise mit einer grundsätzlichen Unsicherheit verbunden: In welche Richtung würde die Seele sich bei ihrem Eintritt in jenes unentdeckte Land wenden – dem Himmel zu? Oder in Richtung Hölle? Welche überirdischen Wesen – Engel oder Teufel – würden ihr dabei begegnen?22 Zu guter Letzt war Julian davon überzeugt, dass manche Seelen ein reinigendes Feuer erwarte, das sie – wiederum jede in ihrem eigenen Tempo – zu durchqueren hätten.23 (Dies war jener purgatorius ignis, der sich erst später zu dem voll entwickelten Purgatorium oder »Fegefeuer« entwickeln sollte, wie es die katholische Kirche des Mittelalters und der Neuzeit postuliert hat.) Als frommer Bischof durfte Idalius zwar noch immer darauf hoffen, nach seinem Tod statim – sofort – zu erwachen und in Christi Angesicht zu schauen, wie es Cyprian für die Märtyrer vorhergesagt hatte. Aber das Prognosticon seines Freundes Julian hielt noch ein ganzes Spektrum anderer Optionen für weniger perfekte Seelen bereit. Denn jede Seele barg fortan ihr eigenes Schicksal. Das lag daran, dass – wie man glaubte – die Seelen der Verstorbenen ihr ganzes irdisches Leben als »Gepäck« mit sich ins Jenseits trugen. Jede einzelne von ihnen war gezeichnet – ob zum Guten oder zum Schlechten – von ihrer je eigenen, unauslöschlichen Individualität, über die sie bis ins kleinste Detail Rechenschaft abzulegen hatte (nicht selten vor furchterregenden Teufeln oder gestrengen Engeln). Die Leichtigkeit (oder eben Schwierigkeit), mit der die einzelne Seele den Himmel erreichen konnte, hing maßgeblich von dieser Individualität ab – von einem komplexen Gemisch aus Tugenden und Lastern, Sünden und Verdiensten, die sich im Laufe eines ganzen Lebens um sie angelagert hatten. Dieses zunehmende Augenmerk auf das Schicksal der Einzelseele war es – verstanden als Funktion des spezifischen Mischungsverhältnisses ihrer Sünden und Verdienste –, das das Jenseits Julians von Toledo so völlig anders erscheinen ließ als jenes Cyprians von Karthago. Aus der Welt eines früheren Christentums, in dem die unglaubliche Erschütterung von Weltgericht und allgemeiner Auferstehung im Zentrum des Interesses gestanden hatte, sind wir in eine Welt gelangt, in 33
Einleitung
der (um es salopp zu formulieren) jede Seele ihr eigenes Süppchen kochte.
In der Grauzone oder das Lösegeld der Seele Diese große Gesamtentwicklung ist in zahlreichen hervorragenden Darstellungen zur christlichen Eschatologie nachgezeichnet worden, auf die ich bei der Arbeit an diesem Buch immer wieder dankbar zurückgegriffen habe.24 Meine Absicht ist es nun, die Entwicklungen, die in jenen Büchern beschrieben werden, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel zu skizzieren. Wie ich in meinem Vorwort bereits ausgeführt habe, wird es in diesem Buch um das »Warum« (und nicht um das »Was«) der betreffenden Entwicklungen gehen. Ich kann mich nicht damit begnügen, den inhaltlichen Wandel christlicher Jenseitsvorstellungen nachzuerzählen, sondern werde stattdessen festzustellen suchen, warum bestimmte Ansichten und Praktiken aufkamen und warum manche rasch weite Verbreitung fanden, während andere – je nach Ort und Situation verschieden – heftige Debatten, ja sogar Widerstand auslösten. Einem solchen jahrhundertelangen Wandlungsprozess können wir letztlich nur gerecht werden, indem wir die beiden unzertrennlichen Seiten des Christentums – die religiöse und die soziale – zusammen betrachten. Im Zuge dieses Prozesses ging die genuin frühchristliche Vorstellung vom Jenseits (mit ihrer monumentalen Gleichförmigkeit) in eine fein ausdifferenzierte Erzählung von der je individuellen Reise unzähliger Einzelseelen auf. Die Details dieser Erzählung hat Julian von Toledo für seinen kranken Freund zusammengestellt, indem er im Jahr 688 seine Bibliothek durchforstete. Wir wollen diese Einleitung nun abschließen, indem wir einem Grundmotiv nachgehen, das in den diversen Kirchen im Laufe der Zeit verschiedene Ausprägungen gefunden und damit einen besonders gut »sichtbaren« Wandel angestoßen hat. Dabei geht es um einen einzigen Punkt: Was konnten die Lebenden für die Toten tun und welche sozialen Auswirkungen hatten ihre Bemühungen? Diese Frage ist so grundlegend, dass wir sie häufig zu stellen vergessen. Meine These dazu wäre, dass es im Wesen christlicher Jenseitsdar34
In der Grauzone oder das Lösegeld der Seele
stellungen stets irgendetwas gegeben hat, was die Lebenden und die Toten zueinander zog. Genauer gesagt, war da die untergründige Ahnung, dass sowohl die Lebenden als auch die Toten – in einem gewissen Sinne – unbestimmte, unvollständige Wesen bleiben mussten. Von beiden Seiten – den Lebenden wie den Toten – nahm man an, dass sie ihr jeweiliges Gegenstück auf irgendeine Weise brauchten. Und insbesondere brauchten die Toten die Lebenden. Das lässt sich auf die eine oder andere Art von beinah jeder Religion des antiken Mittelmeerraumes behaupten. Im Fall des Christentums fasste man diese Abhängigkeitsbeziehung zwischen den Lebenden und den Toten schließlich – und mit großem Nachdruck – als Zusammenhang von Sünde und Fürbitte auf. Viele Verstorbene (Heilige natürlich ausgenommen) galten als unvollkommene Wesen, denn sie hatten gesündigt. Die Lebenden konnten, wie man glaubte, den Toten gerade deshalb behilflich sein, weil sie deren fundamentale Unvollkommenheit teilten. Im Laufe der Zeit aber führte man diese Unvollkommenheit zunehmend auf die Sünde zurück. Es war diese Auffassung von einer geteilten Unvollkommenheit, die dem Fürbittgedanken in den Christengemeinden jener Zeit seine große imaginative Kraft verlieh. Dasselbe gilt mutatis mutandis von jeder Entwicklungsstufe des christlichen Glaubens zwischen den Tagen Cyprians und der Zeit Julians von Toledo. Tatsächlich muss uns, wenn wir die verschiedenen christlichen Jenseitsvorstellungen der jeweiligen Epochen vergleichen, eine große Gemeinsamkeit auffallen: Im großen Gesamtkonzept des Jenseits gab es immer eine »Grauzone«. Das gilt selbst in der schwarz-weißen Vorstellungswelt Tertullians. Irgendwo zwischen dem strahlenden Weiß der Märtyrer und dem finsteren Schwarz der »gottlosen«, nichtchristlichen Mehrheit – Unpersonen eigentlich, denen sowieso die Hölle drohte und über deren Schicksal christliche Autoren im Zeitalter der Märtyrer nur wenig Tinte und noch weniger Tränen vergossen –, irgendwo zwischen diesen beiden Polen lag die große, stille Zahl der christlichen Seelen im interim: Wartende, die das refrigerium der anderen Welt genossen. Diese wartenden Seelen im tertullianischen Jenseitsmodell kann man, streng genommen, kaum als »Sünder« bezeichnen; aber sie waren doch unvollkommen. Sie litten nicht. Sie hofften auch nicht auf eine »Beförderung« in 35
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einen höheren, besseren Zustand (wie etwa die katholischen Seelen späterer Zeit darauf hoffen konnten, früher oder später aus dem Fegefeuer entlassen zu werden). Nein, für sie würde diese Beförderung schon zur rechten Zeit geschehen: bei der Auferweckung aller Toten. Dennoch zeichnete diese Seelen eine gewisse Unfertigkeit aus, ein strebendes Bemühen, das sie den Lebenden stärker annäherte als den glorreichen Märtyrern, die bereits sicher im Paradies weilten. Tertullian, der durchaus kein Schwärmer war, fand überhaupt nichts Seltsames daran, wenn ein Witwer einmal im Jahr bei der Eucharistie Opfergaben für die Seele seiner verstorbenen Frau darbrachte. Sie mochte zwar keine arge Sünderin gewesen sein. Aber sie befand sich doch immer noch in jenem »Wartezimmer« des Jenseits und in diesem Sinne war sie ihrem früheren Ehemann (der ja noch lebte) näher als jenen so überwältigend vollkommenen, unbeugsamen Märtyrern (die ja ebenfalls schon tot waren). In späteren Jahrhunderten dehnte sich die dämmrige Grauzone zwischen dem Gleißen der Heiligen und der undurchdringlichen Finsternis der Gottlosen immer weiter aus. Schon bald glich sie einer ganzen Welt im Kleinen, einer »anderen Welt«, die von den Seelen der Durchschnittschristen bewohnt wurde – von den Nachzüglern des großen Seelenmarathons (um dieses Bild noch einmal aufzugreifen), die weder große Heilige noch schwere Sünder waren. Die Seelen in dieser mittleren Kategorie machten den größten Teil der Kirche aus. Sie waren die Seelen unheroischer »Alltagschristen« in einer Reichskirche, die zwar keine strahlend einmaligen Märtyrer mehr hervorbrachte, dafür aber reichlich Raum für Sünder bot. Lateinische Schriftsteller, die Julian von Toledo zeitlich näherstanden als Tertullian und Cyprian, widmeten sich der dämmrigen Zwischenwelt, in der durchschnittliche Christenseelen das Jenseits bevölkerten, mit immer größerer Aufmerksamkeit. Unter ihnen ragt Papst Gregor der Große (590–604) heraus, in dessen Werken Julian von Toledo viele brauchbare Textpassagen finden sollte. Gregor war überzeugt davon, dass Christen das düstere Land jenseits des Grabes durch Träume und Visionen zumindest in groben Zügen kennenlernen konnten. Ihm war, als ob das Jenseits bereits in einem weichen Dämmerlicht dalag, dass das Morgengrauen des Jüngsten Tages vorauswarf. Gregor 36
In der Grauzone oder das Lösegeld der Seele
nahm viele solcher Jenseitsvisionen in seine berühmten Dialoge auf, die 594 in Umlauf kamen. Er tat dies, weil er durchschnittliche Gläubige davor warnen wollte, was ihnen nach dem Tod bevorstand. Und er tat es auch, weil er jene christlichen Glaubenspraktiken wärmstens empfehlen wollte, die für die Seelen der Verstorbenen womöglich den Ausschlag für Himmel und Hölle geben konnten: das Fürbittgebet, vor allem aber die Feier der Eucharistie.25 In der Grauzone des Jenseits, diese Vorstellung lag nah, konnten die Toten und die Lebenden zusammenkommen. Und die blanke Wand zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten konnte durchstoßen, ja beinahe durchlöchert werden durch bestimmte Handlungen, die die Lebenden vollzogen. Die Vorstellung, die Lebenden könnten etwas für die Toten bewirken, gab den einzelnen Durchschnittsgläubigen ein dringend ersehntes Gefühl von Handlungsmacht im Angesicht des Todes. Zugleich ist es aber dieser Punkt – der alles entscheidende Kontaktpunkt von Lebenswelt und Jenseits –, an dem sich der stille Druck einer ganzen Gesellschaft erfahren lässt. In den folgenden Kapiteln werde ich die Wirkungsweise dieses Drucks noch genauer beleuchten. Mit der Zeit spielte in der Verbindung der Lebenden zu den Toten der Reichtum eine immer größere Rolle. Wir werden unsere Erzählung mit dem Blick in eine Zeit abschließen (beinahe schon zu Lebzeiten Julians von Toledo), in der es ein regelrechtes Wettrüsten unter den Frommen gab, die sich einander in ihrer Frömmigkeit geradezu überbieten wollten. Insbesondere die Reichen – und natürlich die Mitglieder jener stets sehr viel größeren Gruppe, die es den Reichen in allem gleichtun will – waren sehr darauf bedacht, ihre eigene Seele (und die ihrer lieben Verstorbenen) zu beschützen, zu umsorgen und schließlich heim in den Himmel zu geleiten. Diese Entwicklung lässt sich bereits im späten 4. und im frühen 5. Jahrhundert beobachten. Sie wird etwa an der Sorge ersichtlich, mit der Reiche ihren verstorbenen Angehörigen ein privilegiertes Begräbnis in der Nähe eines Märtyrerschreins zu sichern suchten (und auf die in Kapitel 2 noch eingegangen wird). Im Verlauf des 5. und 6. Jahrhunderts wurden die Kirchen dann immer deutlicher zu Institutionen, in denen die reichsten Mitglieder der westlichen Christengemeinden ihre gesellschaftlichen Muskeln spielen lassen konnten. Das taten sie vor allem durch Spenden und fromme Stiftungen, die ihrer eigenen Seele 37
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und den Seelen ihrer Angehörigen zum Schutz dienen sollten. Doch auch aus der Hierarchie der Kirche heraus mühte sich eine beachtliche Reihe von Bischöfen und anderen christlichen Autoren, die Reichen zur Verantwortung zu ziehen, indem sie das Panorama eines Jenseits entwarfen, das mit der Zeit in immer grelleren und unheilvolleren Farben ausgemalt wurde (wie wir in den Kapiteln 4 und 5 noch sehen werden). Im Epilog schließlich gelangen wir bis in die Zeit Julians von Toledo zurück und die Landschaft Westeuropas ist übersät mit Begräbniskirchen und Klöstern, die ganz dem Gebet für die Seelen der Verstorbenen verpflichtet sind. In den großen Klosterstiftungen des 7. Jahrhunderts erreichte das alte Bekenntnis zu der Bindung zwischen Lebenden und Toten ein Crescendo. Das Gedenken auch an weniger vollkommene Tote (Könige und Königinnen, Adlige und ihre Frauen, politische Bischöfe) wurde in Einrichtungen gepflegt, deren finanzielle Ausstattung mehr als üppig war. Solche Klöster – Mönchs- wie Nonnenklöster – sah man als »Gebetskraftwerke« für die Seelen der Verstorbenen. In Abteien, Konventen und großen Stiftskirchen lagen die privilegierten Toten – das heißt im Grunde: die sehr Reichen oder die sehr Heiligen – in Kapellen beigesetzt; über ihren Gräbern spielte das ewige Licht parfümierter Kerzen. Diese Lichter, die an den Grabstätten ohne Unterlass brannten, sollten bereits hier auf dieser dunklen Erde ein klein wenig von jenem endlosen Ruhmesglanz widerspiegeln, den die verstorbene Person (wie man hoffte) im Paradies genoss oder doch bald genießen sollte.26 So war es gekommen, dass Geld – oftmals das sprichwörtlich »große Geld« – in den Kirchen Westeuropas Einzug gehalten und seine Stimme erhoben hatte. Diese Entwicklung ließ sich in einer Formulierung aus dem Buch der Sprichwörter (13,8) zusammenfassen: Redemptio animae viri divitiae eius. Das Lösegeld für die Seele eines Mannes ist sein Reichtum. Dieser Satz, den man der großen Weisheit König Salomos zurechnete, war unter den Vermögenden des 7. Jahrhunderts n. Chr. überaus populär.27 Wie bei so vielen Sinnsprüchen aus dem Alten Testament hatte sich jedoch die Auslegung des Verses mit der Zeit verändert. Für den 38
In der Grauzone oder das Lösegeld der Seele
blasierten Verfasser des Buches der Sprichwörter, der wohl im 3. Jahrhundert v. Chr. gelebt hatte, bedeutete jener Satz lediglich, dass ein Reicher sein Vermögen einsetzen konnte, um seine Haut zu retten – ein Armer aber nicht. Bis zum Anbruch des Mittelalters hatte sich allerdings das Verständnis von anima – »Seele« – grundlegend gewandelt. Darunter stellte man sich nun nichts grundlegend Körperliches, Diesseitiges mehr vor, sondern vielmehr die einsame Christenseele, die zitternd und bebend zwischen Himmel und Hölle baumelte und zu ihrem Trost dringend darauf angewiesen war, dass die Lebenden ihr Gebete und Gaben darbrachten. Das war jedenfalls die Vorstellung des Bischofs Leodegar von Autun, die in seinem 675/676 aufgesetzten Testament zum Ausdruck kommt – nur vier Jahre später, im Jahr 679, sollte Leodegar brutal ermordet werden. In diesem Testament heißt es, Leodegar handele »eingedenk jener Warnung der Weisheit [Salomos]: Das Lösegeld für die Seele eines Mannes ist sein Reichtum.« Und weiter: »Aus Liebe zu Gott und zur Vergebung der Sünden« stifte Leodegar der Kirche Sankt Nazarius (der Kathedrale von Autun) ein ansehnliches Stück Land – immerhin vier Gutshöfe samt Ausstattung –, damit aus den Erträgen ein Armenhaus für vierzig Bewohner unterhalten werden könne, das am Tor zum Kathedralbezirk eingerichtet werden solle.28 Diese teure Stiftung stellte ein angemessen üppiges »Lösegeld« für die Seele eines mächtigen politischen Bischofs dar. Vom Testament des Leodegar und ein paar anderen Beispielen einmal abgesehen, taucht die dramatische Formulierung vom »Lösegeld der Seele« in den Stiftungsurkunden jener Zeit überraschend selten auf. Fest etablieren sollte sie sich erst im Jahrhundert darauf.29 Der Grund dafür, dass ich sie hier dennoch in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen gestellt habe, liegt in der unglaublichen Bildmacht der Pro-redemptione-Formel, der allerlei Konnotationen anhaften – vom Lösegeld für Gefangene bis hin zu jener ultimativen Auslösung der ganzen Menschheit durch das Opfer Christi. Die Formulierung von der redemptio animae unterstrich, dass es mit dem bloßen »Leben jenseits des Grabes« nicht getan war: Lösegelder mussten gezahlt werden. Kontakte wollten geknüpft und gepflegt sein, lebendige Kontakte zwischen den Lebenden und den Toten. Diese Kontakte ermöglichten es den Le39
Einleitung
benden, auf die eine oder andere Weise für die Seelen der Verstorbenen einzutreten, um ihnen auch nach dem Tod noch nahe zu sein. Und der Glaube an das Bestehen solcher Kontakte ermöglichte es den Reichen, sich mit wachsender Prachtentfaltung für die Belange »ihrer« Toten einzusetzen. Alles in allem war es das Vorhandensein immer größerer Reichtümer in den christlichen Kirchen, das dafür sorgte, dass die christlichen Jenseitsvorstellungen nicht luftige Spekulation blieben. Die ganze christliche Gesellschaft der Zeit fand sich unversehens in eine unermüdliche Debatte über das Verhältnis zwischen Geld und Grabesruhe verwickelt. Von Zeit zu Zeit bewirkte der großzügige Einsatz von Reichtümern als »Lösegeld der Seele« wahre Großtaten etwa in der Armensorge. Auch in Kunst und Architektur führte die Praxis zu spektakulären Ergebnissen: Man denke nur an die mächtigen Sarkophage aus milchweißem Marmor, die dicht an dicht die frühchristlichen Schreine umdrängten, damit die Toten so nah wie möglich an den dort bestatteten Heiligen zur Ruhe kommen mochten; oder an die schimmernden Goldmosaiken, die leuchtenden Grüntöne, die blutroten Mohnblüten und sternenübersäten Himmelsgewölbe, die einen Hauch des Paradieses selbst durch Grüfte wehen ließen, zumindest in den Begräbniskapellen und Mausoleen der Prominenz. Die Welt der Spätantike wäre um einiges an Schönheit ärmer gewesen, wenn die Menschen sich weniger Gedanken darüber gemacht hätten, wie sie an den Gräbern ihrer Verstorbenen eine Verbindung zwischen dieser Welt und der nächsten stiften konnten. Zuweilen kam es natürlich vor, dass die Zurschaustellung von Reichtum in diesem Zusammenhang die Zeitgenossen verärgerte (wenn sie nämlich exzessiv oder in anderer Hinsicht unangebracht erschien). Solche neuen Formen der Prachtentfaltung sorgten dann für heftige Diskussionen darüber, wie mit Reichtum in der Gesellschaft überhaupt umzugehen sei – und insbesondere natürlich bei der Totensorge. Durch die Jahrhunderte blieb in diesen Diskussionen eine so grundlegende wie schwierige Frage lebendig: Wie – wenn überhaupt – konnten Himmel und Erde, die Lebenden und die Toten durch menschliches Handeln – und damit unweigerlich auch durch Geld – zusammengebracht werden? 40
In der Grauzone oder das Lösegeld der Seele
Wir sollten die langfristigen Auswirkungen jener endlosen Debatten nicht unterschätzen. Ohne die beschriebenen »Grauzonen«, in denen zumindest die Möglichkeit aufschien, die Lebenden könnten das Schicksal der Seelen im Jenseits auf irgendeine Weise beeinflussen – und ohne den Reichtum, der die Begünstigteren unter den Lebenden in die Lage versetzte, die zarten Bande zwischen Lebenden und Toten konkret, sichtbar, ja bisweilen atemberaubend schön werden zu lassen –, hätte es schlicht weniger Anreize für die Christen des Westens gegeben, sich mit solch kühner Vorstellungskraft ganze Welten jenseits des Grabes auszumalen. Es hätte sich im lateinischen Westen durchaus auch eine ganz andere Konstellation von Jenseitsvorstellungen und -erwartungen durchsetzen können. Vielleicht hätte sie stärker der Ideenwelt des rabbinischen Judentums, des Islams oder vieler Gegenden des christlichen Orients geähnelt; in all diesen Fällen nämlich waren Spekulationen über den Aufenthalt der Seele im Jenseits – die »kleine Zukunft« der Seele – wesentlich weniger üblich als im lateinischen Westen, wodurch dort bestehende Vorstellungen vom Jüngsten Gericht und der allgemeinen Auferweckung ihre traditionelle Wucht und Dringlichkeit behielten.30 Tatsächlich jedoch waren bis in die Zeit Julians von Toledo die Jenseitsvorstellungen der Westkirche gegenüber den analogen Vorstellungen ihrer ostkirchlichen, jüdischen und muslimischen Nachbarn grundverschieden geworden. Wie hatte es dazu kommen können? Um das zu verstehen, müssen wir an den Anfang zurückkehren. Wenden wir uns also nun der Frage religiöser Stiftungen in den christlichen Kirchen und ihrem Verhältnis zum Totengedenken im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. zu.
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I. Tod und Gedenken im frühen Christentum Der »Schatz im Himmel«
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enn lateinische Christen der Spätantike an Spenden oder Stiftungen zu religiösen Zwecken dachten, dann kamen ihnen dabei – als erste Grundlage ihres Weltbildes – die Worte Jesu in den Sinn. Insbesondere seine an einen »reichen Jüngling« gerichteten Worte enthielten bereits die ganze Idee einer Übertragung irdischer »Schätze« in den Himmel: »Jesus sprach zu ihm: ›Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin, verkaufe deine Habe und gib den Erlös den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.‹«1 Und auch seine Jünger forderte Jesus auf: »Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Geldbeutel, die nicht altern, einen Schatz, der niemals abnimmt, im Himmel, wo sich kein Dieb naht, und den keine Motten fressen.«2 Dieselbe Vorstellung war auch im Judentum verbreitet. Im Jerusalemer Talmud aus dem späten 4. Jahrhundert findet sich eine Geschichte über Monobazos, den jüdischen König von Adiabene am Euphrates. Von ihm hieß es, er habe sein ganzes Vermögen ausgegeben, um Brot für die Armen von Jerusalem zu kaufen. Seine Verwandten waren außer sich vor Wut und warfen Monobazos vor, er mache seinem Namen – der von dem Wort bazaz, »plündern, rauben«, abgeleitet war – zweifelhafte Ehre: Monobazos plündere den gesamten irdischen Besitz seiner Familie! Der König antwortete ausführlich: »Meine Väter haben Schätze für die untere Welt gesammelt, ich aber für die 42
Der »Schatz im Himmel«
obere. Sie haben Schätze angehäuft an einem Ort, wo Menschenhände sich daran vergreifen können; ich jedoch dort, wo keines Menschen Hand darüber Macht gewinnen kann. [...] Meine Väter haben Schätze für andere gesammelt, ich aber für mich selbst. [Denn] meine Väter haben Schätze zum Gebrauch in dieser Welt gehortet, ich aber für die Welt, die kommt.«3 Das wiederholte Gebot Jesu sowie die Geschichte vom König Monobazos ermahnten zu (beziehungsweise berichteten von) geradezu heldenhafter Entsagung und Großzügigkeit. Bis in das 3. Jahrhundert n. Chr. war die Geste des Gebens allerdings »miniaturisiert« worden, sowohl im Judentum als auch im Christentum. Man musste nun keine heroische Selbstaufopferung oder radikale Nächstenliebe mehr demonstrieren, um sich einen Schatz im Himmel zu erwerben: Kleine Gaben reichten auch. Aber die Vorstellung einer »Überweisung« irdischer Schätze in den Himmel durch barmherzige Taten behielt doch ihren jenseitigen Glanz. Cyprian beispielsweise behandelte den beständigen Zufluss kleiner Almosen an die Armen als eine Art von »Thesaurierung« himmlischen Kapitals, die es durchaus mit einem Verzicht auf jeglichen Reichtum aufnehmen konnte, wie Jesus ihn dem reichen Jüngling nahegelegt hatte.4 In christlichen Kreisen beeinflusste die Vorstellung von einem durch Almosengeben erworbenen »Schatz im Himmel« auch die Wahrnehmung anderer Jesusworte. Beispielsweise hatte er ja auch das Gleichnis vom ungerechten Verwalter erzählt. Dieser Verwalter hatte sich durch sein nicht ganz lupenreines Finanzgebaren Freunde verschafft, sodass diejenigen, die ihm Dank schuldeten, ihn in ihre Häuser aufnähmen, sobald ihn sein jetziger Herr entlassen haben würde. Jesus beschließt seine Erzählung mit den Worten: »Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.«5 Die Christen jener Zeit fassten das so auf, dass diejenigen, denen die Gläubigen Geld spendeten (egal, ob es sich bei den Empfängern nun um Heilige, Kleriker oder Arme handelte), die edlen Spender dereinst in ihre eigenen »Hütten« im Himmel aufnehmen würden. Ja, die Gläubigen würden sich von den Mitteln, die sie durch irdische Wohltaten in den Himmel transferiert hatten, sogar ihre eigenen himmlischen Wohnungen errichten können – und zwar 43
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum
nicht nur Hütten, sondern Paläste! Offenbar stand der Himmel nicht nur voller Schatzhäuser, sondern bot auch Bauplätze in bester Lage, auf denen stets emsiger Betrieb herrschte. Und finanziert wurde das alles durch gute Taten hier auf Erden, für die wiederum ganz profanes, ordinäres Geld vonnöten war. Diese ganze Vorstellung wird in einer köstlichen kleinen Geschichte aus den Dialogen Gregors des Großen auf den Punkt gebracht, die im Jahr 594 entstanden sind: Es war einmal ein frommer Schuhmacher, Deusdedit mit Namen, der lebte in Rom (wie Gregor uns erzählt). Jeden Samstag ging er mit einem Teil seiner Wocheneinnahmen auf den Platz vor dem Schrein des heiligen Petrus und gab den Armen, die sich dort versammelten, Almosen. Das Resultat dieser Mildtätigkeit des Schusters wurde einem anderen Frommen in einer Vision offenbart. In dieser Vision erschien ein Haus, das im Himmel gebaut wurde. Doch gearbeitet wurde nur am Samstag, denn Samstag war ja der Tag, an dem Deusdedit zur Kirche des heiligen Petrus ging, um Almosen zu geben. Das Haus aus der Vision war die komfortable himmlische Wohnung des Schusters, erworben durch den »Schatz«, den er Samstag für Samstag durch seine Spenden in den Himmel transferiert hatte.6 Eine ähnliche Vision enthüllte dann noch, dass diese Himmelswohnungen selbst Schatzhäuser waren: Ihre Ziegelsteine waren massive Goldbarren.7 Gregor stand am Ende einer jahrhundertelangen Tradition christlichen Almosengebens, die ganz maßgeblich von dem Gedanken inspiriert gewesen war, auf diese Weise einen Schatz im Himmel zu erwerben. Die in Gregors Dialogen überlieferten Geschichten zirkulierten – weitgehend unverändert und unhinterfragt – für noch weitere tausend Jahre. Doch wendet man sich der neueren Forschung über dieses Thema zu, merkt man bald, das rund um die Vorstellung vom »Schatz im Himmel« dröhnendes Schweigen herrscht. Weder im (katholischen) Dictionnaire de la Spiritualité noch in der (protestantischen) Theologischen Realenzyklopädie gibt es einen Eintrag zu trésor beziehungsweise »Schatz«. Auch im Oxford Dictionary of the Jewish Religion etwa sucht man einen solchen Artikel vergebens. Tatsächlich ist es wohl erst die vor Kurzem – 2013 – erschienene und bei aller Hellsicht angenehm unpolemische Studie Charity: The Place of the Poor in the Bibli44
Der »Schatz im Himmel«
cal Tradition von Gary Anderson gewesen, die eine überzeugende Analyse des Verhältnisses zwischen dem Almosengeben und der Anhäufung eines »Schatzes im Himmel« im Alten Testament, im späteren Judentum und frühen Christentum erbracht hat.8 Selbst die wenigen Aufsätze, die auf die Formulierung vom »Schatz im Himmel« eingegangen sind, können ihre Pikiertheit nur schlecht verbergen und greifen die Formel gleichsam mit spitzen Fingern auf. In einem solchen Fall hat etwa Klaus Koch darauf beharrt, dass Jesus, wenn er von einem »Schatz im Himmel« spricht, etwas ganz anderes gemeint haben müsse, als uns die Bedeutungsanlagerungen späterer Jahrhunderte glauben machten. Von einem Glauben an die direkte Anhäufung eines himmlischen Schatzes durch das Almosengeben auf Erden (wie er ja aus den Erzählungen Gregors des Großen so lebhaft spricht) will Koch nichts wissen: Das sei »für den Protestanten eine abscheuliche Vorstellung«.9 Heutige katholische Autoren tun sich mit dem Gedanken nicht weniger schwer. So verkündet zwar eine große Inschrift, die über dem Grab des berühmten Bischofs Hilarius von Arles (430–449) angebracht wurde, der Bischof habe in seiner Entsagung allen Reichtums »durch irdische Gaben den Himmel aufgekauft«.10 Auch spricht aus dieser stolzen Feststellung nicht die geringste Verlegenheit. Aber die modernen Interpreten schämen sich stellvertretend in Grund und Boden: Die Herausgeber eines 2001 erschienenen Verzeichnisses der frühchristlichen Denkmäler von Arles beispielsweise äußerten recht umständlich, dass jene Inschrift einem heutigen Menschen als »eine Formulierung [vorkommen mag], die manche von uns [...] fraglos ein wenig unvermittelt, ja sogar ketzerisch finden werden!«11 Ähnlich sieht es im heutigen Judentum aus. So verursachte die Geschichte von König Monobazos selbst dem großen Talmudgelehrten Ephraim Urbach ein gewisses Unwohlsein. Wie er bekannte, fiel es ihm schwer, in Monobazos’ »langatmiger und eintöniger Erklärung [...] die Züge einer verfeinerten Lehre« zu erkennen oder auch nur die geringste »Sublimation jener materialistischen Gleichsetzung von Schatzgewinn im Himmel und Verschwendung auf Erden«.12 Alles in allem haben wir es also mit einer Vorstellung zu tun, die unsere Zeitgenossen in die höchste Verlegenheit bringt – und da wird 45
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der Religionshistoriker natürlich hellhörig. Wie kann es sein, dass eine Art der Rede über das Verhältnis zwischen Himmel und Erde für die Christen der Spätantike und des Mittelalters vollkommen selbstverständlich war, uns Heutigen aber so derart fremd vorkommt? Vielleicht sind ja auch wir die Sonderbaren. Warum haben wir solche Hemmungen, über eine Verbindung von Gott und Geld auch nur nachzudenken? Wenn die Notwendigkeit ins Spiel kommt, moderne Hemmungen zu erklären, tut ein Religionshistoriker gut daran, die moderne Ethnologie zu befragen. Deren Arbeiten erinnern uns nämlich immer wieder daran, dass wir – als moderne Menschen – im Verhältnis zu früheren Epochen unserer Entwicklungsgeschichte gleichsam aus dem Takt gekommen sind. So haben Ethnologen darauf hingewiesen, dass unser heutiger Tauschbegriff sich erst mit der kommerziellen Revolution der Neuzeit herausgebildet hat. So schreibt der britische Ethnologe Jonathan Parry: »Indem ökonomische Transaktionen immer deutlicher von anderen Formen sozialer Beziehungen unterschieden werden, kommt es zu einer immer stärkeren symbolisch-ideologischen Polarisierung der Transaktionsarten, die für jede dieser Beziehungsformen als angemessen betrachtet werden. [...] Im westlichen Denken hat man sich so auf die Unterscheidung der beiden Tauschzyklen versteift [gemeint sind die religiösen Beziehungen zum Himmel auf der einen und irdische Geschäftsbeziehungen auf der anderen Seite], dass es ganz und gar unmöglich geworden ist, sich die Mechanismen, durch die sie verbunden werden, auch nur vorzustellen.«13 Tatsächlich kommt uns der Gedanke an eine solche Verbindung von Religion und Kommerz heutzutage nicht mehr wie ein harmloses Gedankenexperiment vor – sondern viel eher wie ein geschmackloser Scherz. Die moderne Ethnologie hat sich in dem Bemühen, unsere Hemmungen gegenüber der bildsatten Sprache frühchristlicher und mittelalterlicher Gabepraktiken zumindest in Teilen zu erklären, große Verdienste erworben. Doch sind diese Hemmungen kein ausschließlich modernes Phänomen. Wie Marcel Hénaff in seiner ausladenden und brillanten Reflexion unter dem Titel – Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie –, zeigen konnte, haben die Philosophen der Antike – bei Sokrates angefangen – stets klar unterschieden zwischen 46
Der »Schatz im Himmel«
gewöhnlichen Gütern, die ebenso gewöhnlichen Tauschbeziehungen zugrunde lagen, und außergewöhnlichen Gütern, die – wie etwa ihre eigenen Lehren – so kostbar und so wohltuend für Geist und Seele waren, das jede wie auch immer geartete Verbindung mit dem schnöden Mammon sie besudeln und ihren Wert mindern musste.14 Die frühen Christen waren sich dieser Tradition wohl bewusst. Sie beriefen sich ständig darauf, wenn sie die Rituale ihrer Rivalen anprangerten – pagane oder jüdische Opferzeremonien etwa, für die ein großer materieller Aufwand betrieben wurde.15 Aber die so eindrücklichen Bilder vom »Schatztransfer« zwischen Erde und Himmel und einer Errichtung himmlischer Wohnungen durch das »karitative Bausparen« regelmäßigen Almosengebens behielten sie doch bei. Für die Christen jener Zeit waren diese Bilder weit mehr als bloße Metaphern, vielmehr waren sie, um den Titel einer modernen Studie über die Bedeutung von Metaphern für die soziale Kognition aufzugreifen, Bestandteile eines ganzen »Lebens in Metaphern«.16 Die ständige Verwendung der Metapher vom »Schatz im Himmel« verlieh dem Geldkreislauf – und zwar auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie – einen Hauch des himmlischen Glanzes. Das Konzept eines Schatzes, der im Himmel angespart wurde, indem man auf Erden Almosen gab, blieb für Juden wie für Christen eine »Lebensmetapher«, weil der Akt des Almosengebens »es dem Individuum erlaubte, das Wunder der göttlichen Gnade [schon hier auf Erden] nachzuvollziehen«, wie es Gary Anderson in seinem Buch Charity formuliert hat. Schon die kleinste Gabe an wirklich Bedürftige führte die Gnade Gottes einer Menschheit vor Augen, die zu ihrem Fortbestehen ebenso abhängig von ihm war wie die Armen von den Almosen der Reichen. Das Almosengeben beschwor die ultimative Hoffnung auf eine Welt herauf, deren Schöpfer und Herrscher Gnade mit Gnade vergelten würde.17 Außerdem fesselte die Rede vom »Schatz im Himmel« die christliche Vorstellungskraft noch auf eine andere, subtilere Art, weil sie vermeintlich Unvereinbares zusammenbrachte. Geld in den Himmel zu transferieren, hieß ja nicht einfach, es dort zu hinterlegen. Es bedeutete vielmehr, zwei Vorstellungsbereiche zusammenzufügen, die der Alltagsverstand strikt trennte. Durch eine beinah magisch zu nennende 47
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Implosion der Vorstellungskraft wurden der makellose und ewige Himmel und die Erde verbunden – ausgerechnet durch den »ungerechten Mammon«, ausgerechnet durch jenen Reichtum, der traditionell nicht nur mit den vergänglichsten Aspekten der menschlichen Existenz assoziiert wurde, sondern auch mit allem, was auf Erden unheilvoll war: Von Gewalt bis Betrug reichten die Assoziationen und jedem Reichtum haftete – selbst wenn er ehrlich erworben war – ein wenig vom Geruch des Grabes an. Dennoch: Wenn es möglich war, den brutalen Gegensatz von Himmel und Erde, von reinem Geist und träger Materie auf diese Weise zu überwinden, dann würde man auch alle anderen Spaltungen heilen können. Die Kluft zwischen Arm und Reich war unter diesen Spaltungen nicht die geringste. In der christlichen Vorstellungswelt wurde die erhoffte Verbindung von Himmel und Erde wie in einem Zerrspiegel sichtbar – gewissermaßen en miniature –, wenn bereits jetzt zwei Personen (oder Gruppen von Personen), deren soziale Stellung unvereinbar schien – also Reiche und Arme –, durch das Almosengeben zusammengeführt wurden. Wir sollten also nicht davon ausgehen, dass die Beziehungen zwischen Arm und Reich in den christlichen Kreisen der Zeit allein von Mitgefühl und der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit bestimmt waren. Christen konnten mitfühlend sein. Ihre Lektüre der hebräischen Bibel (des Alten Testaments) führte ihnen immer wieder die Leidenschaft vor Augen, mit der die Propheten des alten Israel sich für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hatten. Doch beim jüdischen wie auch beim christlichen Almosengeben ging es doch immer um mehr als das. Das Almosengeben war nicht nur eine Frage der »horizontalen« Beziehungen zwischen Reichen und Armen innerhalb der Gesellschaft, sondern es rief auch eine symbolisch aufgeladene »vertikale« Beziehung in Erinnerung und barg den besonderen Reiz, einen Abgrund zu überbrücken, der jenem zwischen Erde und Himmel glich oder der Kluft zwischen den Menschen und ihrem Gott. Schließlich waren die Armen – wie auch Gott – sehr weit entfernt. Wie Gott waren sie stumm. Und den hochmütigen Reichen konnte es nur allzu leicht geschehen, dass sie die Armen vergaßen – und Gott dazu. Für seine frühchristlichen Leser besaß die auf den ersten Blick so nüchterne Erinnerung im Brief des Paulus an die Galater – »dass wir 48
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der Armen gedächten« – daher ein erhebliches imaginatives Gewicht. Denn, wenn sie »der Armen gedachten«, übernahmen fromme Gläubige (ob nun Juden oder Christen) einen kleinen Anteil am unermesslichen – und unermesslich liebevollen – Gedächtnis Gottes. Gott vergaß die Armen niemals, während die schwachen Menschen – entweder, weil sie hochmütig, oder auch nur, weil sie zu beschäftigt waren – die Armen leider nur allzu oft aus dem Sinn verloren.18 Vor diesem Hintergrund bedeutete »der Armen zu gedenken« ein Aufeinandertreffen von Gegensätzen, das innerhalb der Gesellschaft die paradoxe Verbindung von Himmel und Erde, von schnödem Mammon und ewiger Seligkeit, von Gott und Menschheit nachvollzog. Ohne derart kühne und ungewöhnliche Brückenschläge (die in jeder ihrer Ausprägungen den Alltagsverstand auf eine schwere Probe stellten) würde das Universum selbst in Stücke gehen. Die Reichen würden die Armen vergessen, die Lebenden die Toten – und zuletzt Gott sie alle.
Reich und Arm in der Kirche – Rom, 140 n. Chr. Der almosenbasierte Schatztransfer zwischen Erde und Himmel war jedoch nicht das einzige schlagende Bild, mit dem Juden wie Christen die vielen Abgründe überbrücken wollten, die sich in ihren jeweiligen Vorstellungswelten auftaten. Andere Bilder dienten demselben Zweck: das scheinbar Unvereinbare zu vereinen. Um die ganze Tragweite dieser Denkfigur zu ermessen, wollen wir uns für einen Moment der Parabel des Hermas zuwenden, eines christlichen Propheten, der um das Jahr 140 in Rom wirkte. Hermas war auf dem Gelände seines Bauernguts vor den Toren Roms unterwegs, als ihm eine Weinrebe ins Auge fiel, die an einer Ulme emporwuchs. Die Rebe trug Frucht. Die Ulme war tot. Hermas schrieb: »Ich denke [über die Ulme und den Weinstock], daß sie vortrefflich zueinander passen. [...] Dieser Weinstock [...] bringt Frucht, die Ulme aber ist unfruchtbares Holz. Aber wenn dieser Weinstock nicht an der Ulme emporwächst, kann er nicht viel Frucht bringen, am Boden liegend, und die Frucht, die er trägt, trägt er als faule, wenn sie nicht an der Ulme hängt. [...] Dies Gleichnis nun geht auf 49
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die Sklaven Gottes, auf den Armen und den Reichen. [...] Der Reiche hat Vermögen, aber leidet in dem, was den Herrn angeht, Armut, völlig in Anspruch genommen von seinem Reichtum, und hat sehr wenig Bitte und Lobpreis gegen den Herrn, und die, die er hat, ist klein und schwach und unwirksam, ohne Kraft. Wenn sich nun der Reiche auf den Armen stützt und ihm das Lebensnotwendige gewährt, glaubt er, wenn er [Gutes] gegen den Armen getan hat, er könne Lohn finden bei Gott. Denn der Arme ist reich in seiner Bitte und im Lobpreis, und seine Bitte hat große Kraft bei Gott. [...] Der Arme nun, der von dem Reichen unterstützt wird, bittet Gott, indem er ihm dankt, für seinen Geber.«19 Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sahen sich die Rabbinen mit einer ganz ähnlichen Konfrontation potenziell inkompatibler Gruppen konfrontiert. Doch bildeten diesen Gegensatz nicht einfach Arm und Reich, sondern man stellte auch die Talmudgelehrten gegen das unwissende einfache Volk (ammei ha-aretz). Es gibt eine plastische rabbinische Spruchweisheit, die an jene Parabel des Hermas erinnert. Darin geht es um die fruchtbaren und die unfruchtbaren Teile des Rebstocks und es soll gezeigt werden, dass die kontrastierenden Teilgruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft (obgleich in mancher Hinsicht um Welten getrennt) doch aufeinander angewiesen waren: »Dieses Volk ist wie ein Weinstock; seine Reben sind die Reichen, seine Trauben die Gelehrten und die einfachen Leute sein Laub [...] Betet für das Laub, Ihr Trauben, denn ohne Weinlaub keine Trauben!«20 In beiden Fällen diente das Bild des Rebstocks dazu, das Ideal einer organischen, beinahe vollkommenen symbiotischen Einheit heraufzubeschwören. Materie und Geist, fruchtbare Rebe und unfruchtbares Holz, irdische Schätze und das Himmelreich – die ja im Normalfall als einander ausschließende Gegensatzpaare galten – schienen plötzlich ineinanderzufließen. Den Christengemeinden von Rom ging es dabei – ganz wie ihren jüdischen Nachbarn – nicht nur darum, die Armen zu versorgen; sondern man musste ja die Solidarität in einer Gemeinschaft aufrechterhalten, in der die Armen nur eine Säule (wenn auch eine besonders belastete) von mehreren in einer kulturell und sozial ausdifferenzierten Gruppe bildeten. Diese enge Fokussierung auf das Thema Solidarität und auf die Überwindung potenzieller Spaltungen fügt sich sehr gut zu dem weni50
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gen, was wir über die Sozialstruktur der frühen römischen Christengemeinden wissen, an die Hermas sich ja richtete. Im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. war die Mehrzahl der Christen gerade nicht reich. Die meisten dachten von sich als mediocres – als ehrbare Leute aus der Mittelschicht, wenn man so will, wie sie in großen Städten wie Rom oder Karthago zu allen Zeiten ihre Nische gefunden hatten. Ihre Wohltätigkeit nahm keine spektakulären Formen an, sondern geschah im Verborgenen und beschränkte sich im Wesentlichen auf ihre christlichen Brüder und Schwestern. Auf die heidnischen Armen ging man so gut wie überhaupt nicht zu. Vielmehr war die »arme Durchschnittsperson« in den frühen Christengemeinden ein Glaubensbruder oder eine Glaubensschwester, die das Glück verlassen hatte. Aus diesem Grund sollten wir den hohen Ton, den viele christliche Autoren und Prediger damals und auch später noch angeschlagen haben, mit Vorsicht genießen. Ihnen war daran gelegen, die christliche Großzügigkeit als eine Zusammenführung gewaltiger Gegensätze darzustellen. Ihre Sprache erst erzeugte jenen fiktiven Riss zwischen Arm und Reich, den es doch in einer gesellschaftlich wenig exponierten und vergleichsweise »klassenlosen« Gemeinschaft wie den frühen Christengemeinden letztlich gar nicht gab. Diesen Autoren ging es überhaupt nicht darum, die hungernden Massen zu füttern, sondern sie wollten imaginäre Antithesen innerhalb der christlichen Gemeinschaft heraufbeschwören, die dann nur durch christliche Nächstenliebe und christliches Gebet überwunden werden könnten.21 Man muss sich dabei jedoch klarmachen, dass zur Aufrechterhaltung des Zusammengehörigkeitsgefühls in den Christengemeinden weitaus mehr nötig war als ein solider Geldkreislauf. Rituelle Praktiken, die das Almosengeben mit intensivem Gebet für die Mitchristen (tote wie lebende) verbanden, spielten für die Solidarität der Christen untereinander eine noch wichtigere Rolle als die Armensorge allein. Den springenden Punkt bildete dabei die Frage, wie man seiner Solidarität mit den Toten am besten Ausdruck verleihen sollte. Und dazu war das Fürbittgebet das Mittel der Wahl. Gebete konnten, wie man glaubte, die einschneidendste aller Spaltungen überbrücken – jenen tiefsten, eisigen Abgrund, der sich zwischen den Lebenden und den Toten auftat. Was nun die Praxis in jüdischen und christlichen 51
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Kreisen auszeichnete, war die Art und Weise, in der die Beziehung zwischen Lebenden und Toten in Analogie zu dem Metaphernkreis rund um einen durch Almosengeben erworbenen »Schatz im Himmel« verstanden wurde. Die Gabe von Almosen an die Armen wurde zum unverzichtbaren Bestandteil christlicher Begräbnisse und Gedenkmähler. Und das kam nicht zuletzt so, weil der Status eines physisch Toten auf erschreckende Weise dem eines gesellschaftlich Toten glich: Die Toten wie die Armen waren in die tiefste Hilflosigkeit geworfen. Beide waren sie auf die Großzügigkeit anderer angewiesen. Beide schrien sie geradezu danach, nicht vergessen zu werden – in einer Welt, in der genau das nur allzu leicht passieren konnte. Aber die Toten oder die Armen zu vergessen, erschien gläubigen Christen oder Juden gleich doppelt grausam, war ihre tiefste eigene Angst es doch, von ihrem Gott vergessen zu werden.22 Schauen wir doch einmal, wie diese starken Spannungen innerhalb der christlichen Vorstellungswelt sich in der Glaubenspraxis des späten 3. Jahrhunderts auswirkten.
Zu Tisch an der triclia von San Sebastiano in Rom, 250–300 n. Chr. In der Zeit um 250 bis 300 n. Chr. hätten Christen, die auf der Via Appia aus Rom hinausgingen, um die heutzutage berühmten Katakomben der Kirche San Sebastiano fuori le Mura aufzusuchen, eine gemauerte Einfriedung inmitten antiker Grabmale vorgefunden. Die Ummauerung war ringsum von Bänken gesäumt, schützte als Loggia vor Wind und Wetter. Auch eine Quelle und eine kleine Küche waren vorhanden. Es handelte sich um eine von vielen tricliae, die von Hinterbliebenen genutzt werden konnten, um Totenmähler für ihre Verstorbenen in der Nähe von deren Gräbern zu veranstalten. In einem gewissen Sinne war diese triclia aus dem 3. Jahrhundert – die 1915/16 unter der im 4. Jahrhundert auf dem Areal der heutigen Kirche San Sebastiano errichteten Basilika entdeckt wurde – also »auch nicht anders als irgendein Wirtshaus im Grünen« (wie Richard Krautheimer es in seiner trockenen Art formuliert hat).23 In diesem unscheinbaren Gebäude trafen sich Chris52
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ten, um – wie in anderen tricliae auch – ein Festmahl in der Nähe ihrer Verstorbenen zu halten. Dieses Mahl bezeichnete man als refrigerium, ein labender, geselliger und freudiger Festschmaus sollte es also sein. Damit spiegelte es, wie man glaubte, die erholsame Rast, die die Seele der oder des Verstorbenen inzwischen genoss.24 Schon das Wort refrigerium führt uns auf eine sehr, sehr alte Entwicklungsstufe des christlichen Glaubens zurück – bis in die Zeit Cyprians und mehr noch Tertullians, mit deren Schriften wir ja bereits Bekanntschaft gemacht haben. Für viele Gläubige jener Zeit war das Christentum noch immer ein Christentum der wartenden Seelen. Dabei bestand für sie kein Zweifel: Die Seelen, für deren refrigerium man zum Mahl lud, warteten ohne Verzweiflung, ja noch nicht einmal in Ungeduld. Vielmehr entspannten sie sich und das mit dem denkbar größten Gefühl der Erleichterung: Endlich, endlich waren sie von den Leiden dieser Welt erlöst worden. Was das konkret bedeuten mochte, können wir aus dem bemerkenswerten Gefängnistagebuch der nordafrikanischen Märtyrerin Perpetua erfahren. In der Zeit, als sie 203 n. Chr. im Gefängnis von Karthago auf den Tod wartete, träumte Perpetua zweimal von ihrem Bruder Dinocrates. Dinocrates war jung gestorben, ein schrecklicher Gesichtstumor hatte ihn befallen. Ihre erste Vision von ihm war grauenvoll: In Lumpen gekleidet und von einer großen Narbe im Gesicht entstellt, mühte sich ihr Bruder vergeblich, den Rand eines Beckens mit kühlem Wasser zu erreichen. In dem zweiten Traum sah Perpetua dann, dass er endlich seinen Frieden gefunden hatte: »Und Dinocrates kam an das Wasser und begann, davon zu trinken. Als er aber zu seiner Genüge getrunken hatte, da ging er weiter in das Wasser hinein und begann darin zu spielen, wie ein kleiner Junge es eben täte, und er jauchzte und war froh.«25 Ob man sich dieses refrigerium nun als eine Zeit des Abwartens oder der endgültigen himmlischen Ruhe vorstellte – eine schönere Vorstellung, als seine lieben Verstorbenen im Jenseits erquickt zu wissen, konnte es kaum geben. Viele von denen, die ein refrigeriums-Mahl von dieser Art feierten, hielten die Einzelheiten der Veranstaltung sowie die Gebete, die bei dieser Gelegenheit gesprochen worden waren, in Form von Graffiti fest, die auf den bemalten Mauern der triclia angebracht wurden. Etwa 330 dieser Graffiti haben die Zeiten überdauert.26 Für einen Kirchenhistori53
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ker ist es ein bewegendes Erlebnis, auf diese gekritzelten Botschaften zu stoßen. Inmitten eines Christentums, das wir ja zum größten Teil aus den Schriften seiner selbstbewussten Apologeten (Cyprians etwa) oder aus dramatischen, oftmals grausamen Berichten vom Leiden und Sterben der Märtyrer kennen, bietet sich hier – endlich – eine Oase des Friedens. Der große Lauf der Welt scheint endlos weit entfernt und wir bekommen die leisen Stimmen einfacher Christinnen und Christen zu hören, die – eine Generation vor Konstantin – ihr Christentum an den Gräbern ihrer Heroen und Angehörigen lebten.
Der Toten gedenken – und von ihnen bedacht werden Was hören wir, wenn wir diesen leisen Stimmen lauschen? Vor allem anderen die Äußerungen einer beharrlichen Erinnerungsarbeit. Nicht nur gedachten die Lebenden der Toten – das war eine übliche Praxis, die Christen und Nichtchristen miteinander gemein hatten –, sondern (und diese Besonderheit halten die christlichen Graffiti fest) die Lebenden beteten inständig darum, dass die Toten ihrer gedachten.27 Die ersten Hinweise auf eine Verehrung der Heiligen Petrus und Paulus (von denen man annahm, dass sie eine Zeit lang neben jenem bescheidenen Speisesaal begraben gewesen waren) finden sich in Gebeten um ein Gedenken an uns, die Lebenden: Petre et Paule, in mente habetote. Spiritus sancte, in mente habetote. Petrus und Paulus, habt [uns] im Sinn. Heilige Geister, behaltet [uns] im Sinn.28 Doch solche Gebete wurden nicht nur an die großen Märtyrer gerichtet. Man wandte sich auch an ganz gewöhnliche Tote, die ihr refrigerium genossen. Freilich konzentrierten sich die meisten Graffiti an den Wänden der triclia von San Sebastiano auf den Bereich, der Petrus und Paulus gewidmet war. Aber selbst dort forderten die Schreiber tote Angehörige und Glaubensgeschwister auf, für die Lebenden zu bitten. 54
Der Toten gedenken – und von ihnen bedacht werden
Anderswo fand der Wunsch nach Fürbitte durch die Toten seinen Ausdruck in anrührender Nähe zu deren Grab, indem er etwa in den noch weichen Putz rund um das Marmortäfelchen mit dem Namen der verstorbenen Person geritzt wurde.29 Die an die Toten gerichtete Bitte um deren Fürsprache zieht sich wie ein Refrain durch die christlichen Inschriften: Ianuaria, bene refrigera et roga pro nos.30 Januaria, ruhe wohl und bitte für uns! Aber was bedeutete es in diesem Zusammenhang eigentlich, zu »bitten«? Und was hieß »im Sinn behalten«? Ich glaube, dass wir es hier mit Vorstellungen von der Funktionsweise des Gedächtnisses zu tun haben, die sich von unseren heutigen Vorstellungen unterscheiden. Für die frühen Christen war – wie auch für viele andere Menschen der Antike – das Gedächtnis weit mehr als nur ein passiver »Lagerraum«. Gedächtnis – memoria – bedeutete zugleich (aktives) Gedenken und das implizierte einen Willensakt. In der Antike war die memoria ein Werkzeug sozialen Zusammenhalts par excellence. Patrone banden ihre Klienten an sich, indem sie sich an deren Dienste erinnerten und diese belohnten. Im Gegenzug legten die Klienten großen Wert darauf, ihrer Patrone zu gedenken; das ging so weit, dass sie deren Geburtstage feierlich begingen.31 Insgesamt zeichnet den spätantiken Umgang mit dem Komplex von Erinnerung und Gedenken ein Moment von eifriger Strebsamkeit aus. Sich zu »erinnern« oder »im Sinn zu behalten«, bedeutete nicht etwa, eine Tatsache irgendwo einzulagern: Es bedeutete, eine Bindung zu bestätigen; es bedeutete, jemanden zu beachten und sich ihm oder ihr gegenüber loyal zu erweisen. Die Erinnerung war eine Gabe an die vom Vergessen bedrohten Toten im Jenseits, wie ein Almosen eine Gabe an die nur allzu leicht vergessenen Armen im Diesseits war. Umgekehrt war ein Vergessen oder mangelndes Gedenken keineswegs die harmlose Gedächtnisschwäche, die wir heute mit diesen Begriffen verbinden mögen. Jemanden zu vergessen, war ein aggressiver Akt, ein Akt der sozialen Auslöschung, durch den Verbindungen, die ein ähnlich absichtsvoller Erinnerungsakt zuvor geknüpft hatte, brutal gekappt wurden. 55
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In der Praxis bedeutete das: Erinnern hieß Fürsprache einlegen, hieß eingreifen. Petrus und Paulus würden, wie man glaubte, die Gebetsanliegen der menschlichen Bittsteller fördern, indem sie deren Gebete Gott gleichsam »ins Gedächtnis riefen«. Die in den Graffiti von San Sebastiano aufgezeichneten Gebete enthalten oft diese doppelte Bezugnahme auf Gedenken und Gedächtnis: Sie baten die heiligen Toten darum, sich des Beters oder der Beterin zu erinnern, damit – auf ihre mächtige Fürsprache hin – auch Gott der Betenden gedenken möge: »Petrus und Paulus, apetite pro Dativu in perpetuum, bittet auf ewig für Dativus!«32 Man kann die Intensität, mit der für die christlichen Verfasser dieser Graffiti Gedenken und Fürsprache verknüpft waren, kaum überschätzen. Wie Claudia Rapp gezeigt hat, war der Glaube an die Kraft des Fürbittgebets das tragende Element, auf dem die gesamte Spätantike hindurch die Autorität christlicher Bischöfe und christlicher Heiliger beruhte. Rapp hat völlig zu Recht darauf gedrängt, das dichte Beziehungsnetzwerk der Gläubigen untereinander in den Blick zu nehmen, das durch den Glauben an die Kraft des Gebets geknüpft wurde.33 Wie Augustinus in seinem Gottesstaat beiläufig anmerkt, war die Wendung »Memor mei esto« – »gedenke mein!« oder »vergiss mein nicht!« – beinahe so etwas wie ein Ausdruck der christlichen Umgangssprache geworden: Es war der übliche Abschiedsgruß, den fromme Christen untereinander gebrauchten.34 In der christlichen Vorstellungswelt umspielte der stille Strom der Fürbittgebete noch die bescheidenste Christengemeinde und umgab sie beständig mit dem Abglanz der göttlichen Macht. Tertullian hatte in seinem Apologeticum, einer »Verteidigung des Christentums«, stolz über die Kraft des christlichen Gebets geschrieben: »Zusammen kommen wir zu gemeinsamem Beisammensein, um Gott gleichsam in geschlossenem Trupp im Gebet mit Bitten zu bestürmen. Solch eine Gewaltsamkeit [vis] ist Gott willkommen.«35 Um die vis orationis – die »Macht des Gebets« – drehte sich auch die Vorstellungswelt all jener, die ihre Graffiti an den Mauern von San Sebastiano hinterlassen haben. Doch was bewirkte diese Macht des Gebets? Nicht alle Gebete waren Gebete für die Seelen der Verstorbenen. Viele zielten ganz unverhohlen auf irdischen Vorteil und auf Schutz im 56
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Diesseits ab. Eine Gruppe von Gläubigen bat um eine sichere Seereise – »dass ihnen durch die Macht des Gebets eine gute Überfahrt zuteilwerde«.36 Doch was immer die Absicht einzelner Gebete gewesen sein mag: Das grundsätzliche Ziel solcher auf himmlische Intervention gerichteten Bitten war es, Wesen und Instanzen zusammenzubringen, die dem Alltagsverstand für unvereinbar galten. Völlig gegensätzliche Welten wurden durch die Macht des Gebets um Fürsprache vereinigt. Wer die Muskeln des Gedenkens spielen lassen konnte, der mochte die Toten mit den Lebenden und Gott mit den Menschen in eine innige Verbundenheit bringen. Für die Menschen, die solche Inschriften verfassten, war das Jenseits etwas sehr Reales. Aber keineswegs schwebte es, räumlich gesprochen, weit über ihren Köpfen. Es war gleich nebenan. Und im Gebet konnte man dafür sorgen, dass das auch so blieb.
Reich und Arm: Himmel und Erde, 250–650 n. Chr. Man kann eigentlich nur davon ausgehen, dass in den christlichen Gemeinden der Zeit die Beziehungen der Lebenden untereinander in Analogie aufgefasst wurden zu der beinahe schon symbiotischen Verbundenheit zwischen Lebenden und Toten. Die Toten waren, wie man glaubte, den Lebenden genauso nahe, wie die Lebenden einander auch sein sollten. Die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten, mit denen wir es hier zu tun haben, spiegelten eine Auffassung von christlicher Gemeinschaft wider, in deren Rahmen soziale Grenzen aufgeweicht werden sollten, in dieser Welt wie in der nächsten. Das Jenseits galt – ganz wie der soziale Raum der Christengemeinde – als ein Ort der Ungezwungenheit und Leichte. In der Begräbnissymbolik heidnischer Religionen dominierten ländliche Idyllen und friedvolle Gärten – eine Bilderwelt, die von den Christen mit Begeisterung übernommen wurde, denn sie harmonierte vollkommen mit ihren eigenen Vorstellungen von der entspannten und freudigen Stimmung der Seelen im Jenseits. Derselben bukolischen Bildlichkeit entsprach ein ganz ähnlicher Begriff von Gelöstheit unter den Lebenden. Darin war eine gewissermaßen »gegenkulturelle« Sehnsucht nach einer religiösen Gemeinschaft 57
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ausgesprochen, die – so gut als möglich – jene steilen Hierarchien und schroffen Unterschiede in Vermögen und Status vermeiden sollte, von denen die düstere »Welt« jenseits der frühen Kirche geprägt war.37 Die Tatsache, dass um 300 n. Chr. bereits viele Christen reich und kultiviert waren, ja sogar politischen Einfluss besaßen, stand dieser Selbstdarstellung keineswegs entgegen. Viel eher brachte sie wohlhabende Christen dazu, noch härter an der imaginativen Überwindung von Spaltungen zu arbeiten, deren Existenz ihnen nur zu bewusst war. Eine idyllisch-pastorale Bildlichkeit war der kongeniale Ausdruck für jenen zutiefst menschlichen Traum, der die wohlhabenden Christen des späten 3. Jahrhunderts umtrieb – der Traum von der Lockerung der sozialen Hierarchie in einem vertraulichen, abgesonderten Rahmen.38 Wir haben es also mit einem Paradox zu tun, das den Historiker nur neugierig machen kann – denn immerhin läuft das alles auf zwei deutlich verschiedene Sichtweisen des kleinen Speisesaals inmitten der Gräber von San Sebastiano hinaus: Auf der einen Seite ist das, was wir da sehen (und mit gutem Recht schätzen), der Versammlungsort einer vertrauten und ausgelassenen Gemeinschaft, vorläufiger Endpunkt einer langen Tradition römischer Geselligkeit. Wie bei den ganz ähnlichen Zusammenkünften der collegia (freier Zusammenschlüsse – »Vereine«–, deren Zahl im Rom des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. in die Höhe schoss) gibt es hier eine angenehm »hausgemachte« Note. Ich denke an die Worte Eberhard Brucks, der über die collegia geschrieben hat: »Sie haben das Parfüm von Chianti und Salami.«39 Jedoch ist diese Ausgelassenheit keineswegs selbstverständlich. Wenn wir die fröhlich Feiernden nämlich aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten, erkennen wir, dass ihre Vorstellungswelt von zwar fiktiven, aber doch tiefen Rissen durchzogen war. Die auf den ersten Blick so anheimelnden Christengemeinden sahen sich selbst als in einem ständigen Ringen begriffen, damit letztlich – durch harte Fürbitt- und Gebetsarbeit – die Vereinigung mächtiger, eigentlich unvereinbarer Elemente gelingen konnte: von Gott und Mensch, Himmel und Erde, Reich und Arm, Lebenden und Toten. Wie diese Risse in der Vorstellungswelt der frühen Christen zunehmend breiter wurden, nicht zuletzt unter dem Druck der sich wandelnden Verhältnisse, wird ein zentrales Thema der folgenden Kapitel sein. 58
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Die Kluft zwischen Reich und Arm tat sich weiter auf, sie wurde markanter und immer schärfer umkämpft. Nach der Bekehrung Konstantins – und vor allem im späteren 4. Jahrhundert – schlossen sich wahrhaft reiche Mitglieder der römischen Oberschicht einer Kirche an, die zuvor ein extremes gesellschaftliches Schattendasein geführt hatte – als eine Kirche der mediocres im wahrsten (römischen) Sinne des Wortes. Die triclia und ihre Inschriften wurden mit einem monumentalen Apostelschrein überbaut. Dieser Schrein wurde rasch zu einer gefragten Begräbnisstätte. Schon Ende des 4. Jahrhunderts war die Außenwand seiner Apsis gesäumt von den großen Familienmausoleen senatorischer Hinterbänkler (parvi senatores) und niederer Beamter.40 Die Märtyrer selbst rückten in immer weitere Ferne. Von Petrus und Paulus hieß es nun, sie seien in die »höchsten Höhen der himmlischen Heimat eingegangen«. Solche Formulierungen erschienen wie das Echo jener paganen Apotheoserhetorik eines Aufstiegs in die Milchstraße, die den christlichen Theologen früherer Zeit ein solcher Gräuel gewesen war.41 Auch verlor die Sprache des Gebets ein wenig von ihrer Intimität und verhärtete sich – ganz unmerklich – durch eine Art von begrifflicher Osmose aus den Beziehungen zwischen Herrscher und Untertanen beziehungsweise Patronen und Klienten, die in der streng hierarchischen Gesellschaft des 4. Jahrhunderts n. Chr. dominierten. Die Heiligen galten nun nicht mehr als Partner im Gebet. Sie wurden zu patroni – »Schutzpatronen« – im spätrömischen Sinne. Sie standen als Fürsprecher zwischen der breiten Masse der Gläubigen und Gott – ganz so, wie hochrangige Adlige ihre demütigen Klienten am Kaiserhof vertraten.42 Auch der Umstand, dass zur selben Zeit die Armen stärker in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses rückten, verstärkte die Wirkung, die vom Eintritt reicher Römer in die Kirche ausging. Nachdem nämlich die Armen in der römischen Gesellschaft lange Zeit nahezu unsichtbar gewesen waren, nahmen sie nun in der sozialen Vorstellungswelt ihrer Zeitgenossen einen prominenten Platz ein. Insbesondere nach der Bekehrung Konstantins des Großen zum Christentum im Jahr 312 schlossen sich unzählige Arme den christlichen Gemeinden an. Ihr Bedarf an Almosen und anderen Wohltaten überstieg alles bisher Bekannte. Diese Neuankömmlinge waren zu einem großen Teil anonym, 59
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man kannte sie in den Gemeinden nicht. Das unterschied sie deutlich von jenen hilfsbedürftigen Brüdern und Schwestern, deren Betreuung der christlichen Armensorge des 3. Jahrhunderts ihre hohe Effizienz ermöglicht hatte, war sie doch wesentlich vertrauter und überschaubarer gewesen. Im Ergebnis wurde die »vertikale Dimension« des Almosengebens – die den großen Abstand zwischen Gott und den Menschen beziehungsweise zwischen Arm und Reich betonte – immer stärker betont. Die anonymen Massen von Bedürftigen, die sich inzwischen vor den Kirchen scharten, waren nicht mehr Brüder und Freunde, sondern Bettler und Fremde und so wurde es immer schwieriger, im Almosengeben eine reine Geste der Solidarität zu sehen – wie es ganz normal gewesen war, als es sich bei den hilfsbedürftigen Armen noch um persönlich bekannte Glaubensbrüder gehandelt hatte. Stattdessen fiel es nun leichter, im Almosengeben eine reine Bußhandlung zu sehen, zu der es – wenn überhaupt – nur einer flüchtigen Verbundenheit und Solidarisierung mit den betreffenden Armen bedurfte. Akte der Gnade gegenüber den »Armen ohne Namen« spiegelten lediglich – und veranlassten damit nach einer gängigen Auffassung – jenen Gnadenakt, in dem ein ferner Gott die Sünden des Almosengebers verzieh. Auch die Toten und die Lebenden entfernten sich immer weiter voneinander. Bis Ende des 4. Jahrhunderts standen Bischöfe wie Augustinus immer argwöhnischer bestimmten Ansichten gegenüber, denen zufolge etwa die Toten allzu ungezwungen zwischen den Lebenden umherschweben sollten. Wer auf den überlieferten Vorstellungen vom mühelosen Austausch zwischen Toten und Lebenden bestand – in Träumen oder Visionen beispielsweise –, der machte sich verdächtig. Zur selben Zeit stellten die Bischöfe auch die bestehenden Grabbräuche infrage (etwa das Abhalten von Festmählern am Grab – und insbesondere an den Gräbern der Märtyrer), die aus ihrer Sicht eine allzu »gemütliche« Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten nahelegten. Es schien ihnen nämlich, dass diese Bräuche das Schicksal der Seele nach dem Tod vorhersagbarer erscheinen ließen, als es in Wirklichkeit war. Auch wurde damit den Initiativen der Lebenden eine Wirksamkeit über das Grab hinaus zugesprochen, die ihnen – den Bischöfen – in diesem Ausmaß theologisch nicht haltbar erschien. Nur bestimmte For60
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men des Totengedenkens – namentlich das Almosengeben, das Gebet und die Eucharistiefeier – wurden auch weiterhin als probate Mittel erachtet, den Seelen der Verstorbenen im Jenseits beizustehen. Ein ausgelassenes Gelage an ihrem Grab würde zu ihrer Versorgung nicht ausreichen. Und selbst ein noch so opulentes Grabmal war (wie wir noch sehen werden) nicht genug, um sie zu schützen. Schließlich spielte noch die graduelle Durchdringung der lateinischen Theologie mit platonischem Gedankengut eine Rolle. In der platonischen Tradition ging man ja von einem unverzüglichen Aufstieg der körperlosen Seele in den Himmel aus, was im Folgenden der Ansicht Vorschub leistete, manche christlichen Seelen kämen mit größerer Wahrscheinlichkeit in den Himmel als andere, durchschnittlichere. Bis in die 380er-Jahre, wenn nicht früher, verkündeten christliche Grabinschriften überall im römischen Italien, dass die Seelen der dort Bestatteten bereits jenen gestirnten Himmel erreicht hatten, den man mit heidnischen Apotheosevorstellungen in Verbindung brachte. Die da auf solch extravagante Weise gefeiert wurden, waren jedoch keineswegs Märtyrer. Sie waren lediglich Christen, bei denen schon ihre vornehme Abstammung die Weiterlebenden davon ausgehen ließ, dass es mit ihnen nach dem Tod ähnlich erhaben weitergehen werde. »Niemand soll glauben, dass edle Seelen ins Reich der Schatten hinabsteigen«, heißt es etwa von einem christlichen Wunderkind aus der Stadt Bolsena.43 Tertullian hingegen hätte gar nichts dabei gefunden, dem jungen Mann einen Aufenthalt im »Schattenreich« nahezulegen, solange Gott seinen großen Plan für das Universum noch nicht zu Ende geführt hatte. Aber die Angehörigen der christlichen Oberschicht Roms im 4. Jahrhundert sahen überhaupt nicht ein, auf diese Art ihre Zeit zu vergeuden. Proiecta zum Beispiel war die Tochter eines hohen Würdenträgers. Ihre prachtvolle Hochzeitsschatulle kann man noch heute im Britischen Museum in London bewundern. Als Proiecta – leider sehr jung – starb, erklärte kein Geringerer als Papst Damasus I., die junge Frau sei »hinweggegangen, um sogleich in das ewige Himmelslicht emporzusteigen«.44 Es schien, als ob solche Leute ihre weniger begüterten Mitchristen weit unter sich ließen – selbst im Jenseits. Uns ist die beschriebene Entwicklung aus den Inschriften eleganter Marmortafeln bekannt, langen Epitaphen in klassischem Versmaß und 61
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gespickt mit Anklängen an Vergil. Dabei ist es nicht unwesentlich, dass das Anfertigen solcher Inschriften rund 15 Goldstücke für neun Zeilen Text kostete. Und das zu einer Zeit, in der die durchschnittliche christliche Grabinschrift kaum mehr als ein paar Wörter in einem merklich unbeholfenen »Gossenlatein« umfasste.45 Im Verlauf des 5. und des 6. Jahrhunderts sollte sich dann, wie wir noch sehen werden, der Abstand zwischen Himmel und Erde immer weiter vergrößern. Von der Zeit des Augustinus an ermahnte man die Gläubigen, sich ihrer Sünden deutlicher bewusst zu sein. Von unverbüßten Sünden glaubte man zunehmend, dass sie die Seele im Jenseits schlimmen Gefahren aussetzen würden. Alles in allem fühlten sich durchschnittliche Christen in jener Zeit dem Himmel ferner als je zuvor. Von ihren Seelen glaubten sie, dass diese langsam und auf zunehmend gefährlicheren Wegen – an Dämonen vorbei und durch lodernde Flammen – einem immer ferner erscheinenden Himmel zustreben würden.
Manichäische Fragen Doch im Jahr 300 n. Chr. lag all das noch in ferner Zukunft. Wir wollen dieses Kapitel beschließen, indem wir die kleinen tricliae von San Sebastiano verlassen, die mittlerweile tief unter der Erde liegt und 3000 Kilometer weit an die östlichen Grenzen des Römischen Reiches reisen – nach Syrien, Ägypten und Mesopotamien –, wo wir die Anhänger des Mani, die Manichäer, kennenlernen wollen. Es mag wie eine unnötige Abschweifung erscheinen, sich nun ausgerechnet einer christlichen Sekte zuzuwenden, die im entlegenen persischen Mesopotamien entstanden ist; doch, den Manichäismus zu betrachten, heißt, sich an die nahöstlichen Wurzeln des Christentums selbst zu erinnern. Der Mann Mani war Kind eines Christentums der »dritten Welt« – der Welt östlich von Antiochia – und diese spezifische Spielart der christlichen Religion hatte sich weit über die kulturellen und sprachlichen Grenzen des griechisch-römischen Mittelmeerraums hinaus ausgebreitet. Er lebte am Ostrand einer Sprachlandschaft, in der das Syrische dominierte, die letzte und die kreativste Entwicklungs62
Manichäische Fragen
stufe des alten Aramäischen, das einst die Lingua franca des persischen Achämenidenreiches sowie die Muttersprache Jesu von Nazareth gewesen war. Von den Wüsten Mesopotamien bis an das Mittelmeer richteten Mani und seine Jünger sich an eine Bevölkerung, die dieselbe Sprache sprach wie sie selbst. Mani verfasste alle seine Werke – außer einem – in diesem Syrisch-Aramäisch.46 Weil sie die religiöse Lingua franca der syrischen Christenheit sprachen – das »Latein des Ostens« –, konnten sich die manichäischen Missionare und Gemeindevorsteher (die als »die Erwählten« bekannt waren) mühelos unter die Grüppchen christlicher Wander- und Bettelasketen mischen, die bereits auf den Landstraßen des Nahen Ostens umherzogen. Alles in allem waren Mani und seine Anhänger also beileibe keine exotischen Eindringlinge. Mani sah sich selbst als den Paulus seiner Zeit. Die Manichäer wollten Reformer des Christentums sein, nicht seine Feinde. In vielen Gegenden hatten sich Manichäer an den Rändern der christlichen Mainstreamkirchen etabliert. Sie nahmen für sich in Anspruch, eine überlegene, vergeistigtere Form des Christentums zu repräsentieren.47 Nur durch eine Laune der Überlieferung hat es sich ergeben, dass der größte Teil der im Gebiet des Römischen Reiches erhaltenen manichäischen Texte in koptischer Sprache verfasst ist. Das Koptische ist die letzte Entwicklungsstufe der Sprache der alten Ägypter. Was nämlich heute überhaupt an manichäischen Schriften bekannt ist, hat die Zeitläufte in Gestalt großer Papyruskodizes im staubtrockenen Wüstensand Ägyptens überdauert. Aber diese kostbaren Bände sind nur die spärlichen – und aus dem syrischen Original ins Koptische übertragenen – Überreste einer der großen religiösen Literaturen der syrisch-aramäischen Welt. Im Gefolge des rasanten Vormarsches, mit dem die Missionare aus der »Heiligen Kirche« des Mani ihre Lehren in der gesamten Osthälfte des Römischen Reiches verbreiteten, wurden die Schriften der Manichäer in das Koptische und ins Griechische übersetzt.48 Mani selbst starb im Jahr 277. Viele der manichäischen Urkunden in koptischer Sprache sind weniger als hundert Jahre nach seinem Tod entstanden. Dieser auf den ersten Blick exotische Religionsführer aus dem fernen Babylon und seine Jünger waren also beinah exakte Zeit63
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genossen jener römischen Christen von San Sebastiano, deren refrigeria und Gebete an und für die Toten wir eben noch beschrieben haben. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass – wie die neuesten manichäischen Funde aus Ägypten belegen – die Manichäer sich im Zuge ihres beständigen Dialogs mit den ortsansässigen Christen auch mit exakt denselben Fragen auseinandergesetzt haben, die unsere römischen Christen bewegten. Auch den Manichäern war das Totengedenken ein inniges Anliegen. Auf diese Weise mit den Manichäern in einen Topf gesteckt zu werden, würde die guten Christen von San Sebastiano wohl einigermaßen irritiert haben: Nicht nur war Mani ein Fremder aus einem weit entfernten Land, sondern die von ihm begründete Gemeinschaft war auch eine radikale Sekte. Wie so viele Extremisten werden sie ihre Neumitglieder wohl nicht aus den Reihen der Mainstreamchristen gewonnen haben. Vielleicht sind sogar die meisten der Konvertiten zum Manichäismus aus ohnehin unzufriedenen christlichen Splittergruppen hervorgegangen, aus sowieso schon radikalisierten Umfeldern. In ihrer Vorstellung vom Aufstieg der Seele und den dabei drohenden Gefahren beispielsweise waren die Manichäer gnostischer als die Gnostiker.49 Der gemächliche Takt einer Welt der wartenden Seelen war nichts für sie. Was die Manichäer stattdessen ansprach, war die Vorstellung von Seelen, die kein Risiko scheuten, während sie bei ihrem möglichst raschen Aufstieg in das »Reich des Lichts« ganze Heerscharen dunkler Mächte passierten. Dabei jedoch waren auch diese Seelen auf die Hilfe der Lebenden angewiesen – und was diese Hilfe betraf, war das, was die manichäischen Schriften teils nur beschreiben, teils im Einklang mit ihrem eigenen Weltbild uminterpretieren, die allgemein gängige Praxis der christlichen Totensorge. Ein jeder der frommen Tischgenossen in der triclia von San Sebastiano würde die entsprechenden Gebräuche wiedererkannt haben: das Almosengeben, die Akte des Gedenkens, das Fürbittgebet – und deshalb sind diese manichäischen Praktiken von unmittelbarem Interesse für unsere Untersuchung. Wir wollen uns also dem manichäischen Text zuwenden, der unter dem Titel Die Kephalaia des Lehrers bekannt ist. Ursprünglich war dies ein mächtiger Band von mehr als eintausend Seiten, dessen Be64
Manichäische Fragen
zeichnung daher rührt, dass es sich um eine Zusammenstellung vieler einzelner Kapitel (griechisch kephálaia) handelte. Jedes kephálaion hatte seine eigene Überschrift und befasste sich mit einem bestimmten Thema. Alles in allem haben wir es also mit einer Art Enzyklopädie der manichäischen Glaubenslehre zu tun. Die als Papyri erhaltenen Teile der Kephalaia stammen aus der Zeit um 400 n. Chr.50 Im Werk selbst wird die Sammlung als ein Frage-und-Antwort-Spiel Manis mit seinen Anhängern dargestellt. Tatsächlich wurden die Texte wohl erst nach seinem Tod im Jahr 277 verfasst, aber es ist durchaus möglich, dass dies schon bald geschah. Wir besitzen in den Kephalaia somit die »Innenansicht« einer radikalen christlichen Sekte in ihrer Auseinandersetzung mit den religiösen Praktiken ihrer – ebenfalls christlichen – Umgebung. Die Diskussion betrifft dabei zentrale Aspekte christlicher Totenbräuche, wie sie in den Jahrzehnten unmittelbar vor und nach der Bekehrung Konstantins allgemein verbreitet waren. Als Einblick in eine vergangene Welt sind diese Texte genauso überraschend und eindrücklich wie die bescheidenen Graffiti an der triclia von San Sebastiano. Genauer gesagt, enthalten die Kephalaia eine hitzige Debatte über genau dieselben Rituale, die auch in den besagten Graffiti oder in anderen Nachweisen über die Totensorge in den damaligen Christengemeinden von Rom und anderswo erwähnt werden. Wir finden dieselben Rituale, wenn auch unter leicht verschiedener Bezeichnung: das Almosengeben (koptisch mñtnae), das eucharistische Messopfer (prosphora), die Feier eines »Liebesmahls« (agapê, das griechische und koptische Äquivalent zum lateinischen refrigerium) sowie das »Stiften von Erin– nerung« (rmeue) an »den, der aus dem Körper hervortritt«.51 Doch am aufschlussreichsten sind die Art und der Tonfall der gestellten Fragen. Die Fragen, die ganz gewöhnliche manichäische Gemeindemitglieder – die Katechumenen – ihrem »Lehrer« stellten, waren haargenau die gleichen, die man von x-beliebigen Christen, die etwas über die Rituale ihrer eigenen Kirche erfahren wollten, auch erwartet hätte – und alle liefen sie, ehrlich gesagt, auf die eine große Frage hinaus: »Funktionieren diese Rituale überhaupt?« Dies war auch das zentrale Thema von Kephalaion 115, das bereits in der Überschrift zusammengefasst wird: 65
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Der Katechumene fragt den Apostel: Wird einer, der aus dem Körper hervorgetreten ist, Ruhe [matnes] erlangen, wenn die Heiligen [die »Erwählten«] über ihm/für ihn beten und ein Almosenopfer – [roumñtnae] darbringen?52 Diese Frage berührte den zentralen Punkt in der Beziehung zwischen den Lebenden und den Seelen der Verstorbenen: »So bitte ich dich denn, Meister, und flehe, dass du mich in dieser Sache belehrst, [darüber] ob sie wahr ist. Denn dies [gemeint ist das Almosengeben für die Toten] ist [ein Brauch, der] sehr groß [ist] und geachtet unter dem Volk.«53 Worauf der Lehrer – sinngemäß – antwortet: »Danke für diese sehr gute Frage!« Er beruhigt den Fragesteller, indem er ihm versichert, dass solche Handlungen sehr wohl wirksam seien – wenn sie innerhalb der Heiligen Kirche des Mani vollzogen würden. Große Mächte würden sich dann vereinigen zum Schutz der Seele: »Und durch dein heiliges Gebet, in dem du Gott darum bittest, dass jenen, in deren Namen die Tafel [des Totenmahls oder vielleicht auch der Eucharistie] bereitet wurde, eine [himmlische] Macht beistehen möge. Und so wird vom Gott der Wahrheit eine Macht ausgesandt werden; und sie kommt und hilft dem, für den die Opfergaben – die prosphora [das manichäische Äquivalent der konsekrierten Hostie] – dargebracht wurden.«54 Auf diese Weise verband Mani das Dahinscheiden der Seele mit einem großartigen Mythos vom Aufstieg der Seele durch einen Kosmos voller bewahrender und bedrohlicher Mächte. Dennoch waren die Rituale, die Mani da so ambitioniert deutete, eigentlich ganz simpel. Viele von ihnen fanden bei den Manichäern und in der Mainstreamkirche gleichermaßen Verwendung. Wir befinden uns in einer Welt, in der Almosen, andere Opfergaben und das »Stiften von Erinnerung« an die Toten ganz alltägliche Praktiken waren. Sie waren »sehr groß und geachtet unter dem [ganzen] Volk«. Angesichts der völlig unproblematischen, tagtäglichen Allgegenwart christlicher Begräbnis- und Gedenkbräuche – Almosen, Erinnerungen, das Liebesmahl, die Eucharistie – war die brennende Frage 66
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für den Durchschnittsmanichäer (wie auch für jede Durchschnittschristin) nicht so sehr, wie jene Rituale funktionierten, sondern vielmehr, ob sie funktionierten. In diesem Punkt konnte Manis kosmischer Erklärungsansatz den Katechumenen nur beruhigen. Dieser könne absolut sicher sein, dass Almosen zu seinen Gunsten und ein Gedenken zu seinen Gunsten [d. h. jeweils zugunsten der verstorbenen Person], für seinen Bruder, für seinen Vater oder seine Mutter oder seinen Sohn, oder auch für seine Tochter oder irgendein anderes Familienmitglied, das aus dem Körper hervortreten wird, [...] [wenn] er diese Almosen [gegeben] hat [...], dann hat er Hoffnung genug.55 Tatsächlich bekräftigte Mani den Katechumenen darin, diese Praktiken auch selbst weiter auszuüben: Was du da tust ist ein großes Gut [...] du erlöst sie [die dahinscheidende Seele] von tausenderlei Leiden.56 Was Mani jedoch auszeichnete war seine Überzeugung, dass die Rituale der Totensorge einzig und allein in seiner »Heiligen Kirche« funktionieren konnten. Im Kephalaion 87, »Über das Almosengeben«, stellte er klar, dass die Anhänger »sämtlicher Sekten« (womit er alle früheren Christen meinte – und vielleicht auch Juden und sogar Zoroastrier) im Namen Gottes Almosen gaben. Doch nur in der Heiligen Kirche des Mani würden diese Almosen einen himmlischen »Ruheort« finden: »Es ist die Heilige Kirche [des Mani], die der Ruheort für all jene wird, die darin ihre Ruhe finden werden; und sie wird zu einem Tor und zu einem Fahrzeug werden, das in das Land der Ruhe führt.«57 Manichäische Textzeugnisse aus Kellis, einer Stadt, die ab den 1980er-Jahren in der südägyptischen Oase Dachla in der Libyschen Wüste ausgegraben wurde, belegen, wie wichtig jene Rituale im täglichen Leben der Manichäer waren. Die Briefe und sogar die Wirtschaftsbücher, die man in Kellis gefunden hat, sind gespickt mit Verweisen auf die agapê, die man den Seelen der Toten erweisen müsse.58 Eine überaus traurige Angelegenheit war es für die Manichäer von Kellis, als eine 67
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum
alte Dame starb, ohne durch die angemessenen Riten getröstet worden zu sein: »Wir gedenken ihrer gar oft, und es betrübt mich sehr, dass sie sterben musste, als wir nicht bei ihr waren, und dass sie gestorben ist, ohne ihre Brüder um sich versammelt zu sehen.«59
Von Mani zu Augustinus Damit könnten wir Mani und seine Lehren hinter uns lassen – wäre da nicht die Tatsache, dass die Probleme, zu deren Lösung Mani aufgerufen war, auch ein Jahrhundert später, als Augustinus bereits ein alter Mann war, noch nicht gelöst worden waren. Im Jahr 422 verfasste Augustinus sein Enchiridion (ein Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe). Wie auch der Verfasser der Kephalaia schrieb er sein Enchiridion auf die Fragen eines Laien hin, in diesem Fall eines gewissen Laurentius, der womöglich ein gebildeter stadtrömischer Bürger war. Laurentius war der Bruder eines kaiserlichen Beamten, der in Nordafrika Dienst getan hatte.60 Die von Laurentius geäußerten Unsicherheiten sind genau dieselben, die auch Mani ausräumen wollte: Waren Rituale für die Seelen der Verstorbenen tatsächlich wirksam? Und wenn ja, wie genau wirkten sie? Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, gelangte Augustinus – der sich immerhin als Bischof und Gelehrter dreißig Jahre lang intensiv mit diesen Fragen beschäftigt hatte – zu einer Antwort, die derjenigen Manis genau entgegengesetzt war. Während Mani weitschweifig von den kosmischen Vorgängen erzählt hatte, denen die manichäische Totensorge ihre Wirksamkeit verdanke, gab Augustinus sich erstaunlich zurückhaltend, was die genaue Funktionsweise der entsprechenden katholischen Rituale anging. So lautete seine Antwort im Grunde: »Das weiß nur Gott – und er will es uns nicht verraten.« Darüber hinaus beschränkte Augustinus sich auf die Feststellung, dass die Darbringung von Opfergaben für die Seelen der Toten von den Aposteln selbst eingeführt worden sei – und aus diesem Grund sollten katholische Christen diesen Brauch auch beibehalten. So viel hatte Mani auch gesagt.61 Doch, wenn wir nun nach der genauen Funktionsweise dieser Opferrituale fragen oder danach, für welche Personengruppen diese geeignet 68
Von Mani zu Augustinus
seien, verweist Augustinus uns nur auf das unergründliche Schweigen Gottes. Die Antworten Manis und Augustins mögen verschieden gewesen sein; aber wir sollten doch eine gewisse »Interessenkonvergenz« zur Kenntnis nehmen, die beide wieder vereint. Beide waren sich einer Lücke in ihren jeweiligen Systemen bewusst. Zwar hatten sie beide klare Ansichten zu den Schicksalen, die große Heilige und große Sünder im Jenseits erwarteten; doch zu einer immer drängenderen Frage – dem Schicksal des »Durchschnittssünders« – hatten sie beide nichts Sinnvolles beizutragen. Beide waren im Grunde zu einer Erklärung darüber aufgefordert, wie die Rituale der Lebenden sich auf die große Mehrheit all derjenigen auswirkten, die in der »Grauzone« der christlichen Eschatologie existierten – in dem quälenden Dämmerlicht zwischen dem Glanz der Heiligen und der Finsternis der Verdammten. Im Falle Manis war die Lücke im System besonders augenfällig. Aus Kephalaion 92 erfahren wir, dass Mani schon ein Gesamtmodell des Universums ausgearbeitet hatte. Doch seine Jünger ließen ihm keine Ruhe, sie wollten unbedingt wissen, warum er in diesem kosmischen Plan keinen Platz für all jene vorgesehen hatte, die auf dem »mittleren Weg« unterwegs waren: »Warum hat er den mittleren Weg der Katechumenen nicht dargestellt? Warum hat er nicht gezeigt, wie ein Katechumene [im Gegensatz zu einem heiligmäßigen Erwählten] aus seinem Körper hervortritt und vor seinen Richter geführt wird?«62 Augustinus sah sich mit genau denselben Fragen konfrontiert. Um Laurentius zu beruhigen, griff er auf eine prägnante Formel zurück und lieferte seinem Schüler gewissermaßen ein Venn-Diagramm des Jenseits: Nur in der Schnittmenge zwischen den beiden großen Kreisen der Guten und der Bösen konnten die Rituale der Lebenden überhaupt einen Einfluss auf das Schicksal der Verstorbenen entwickeln. Die Gebete und Opfergaben der Gläubigen hatten keine Bedeutung für die valde boni – die »vollkommen Guten« –, denn bei diesen konnte man ohnehin davon ausgehen, dass sie den Himmel ohne Probleme erreicht hatten. Auch auf das Schicksal der valde mali – der »gänzlich Bösen« – konnten die Lebenden nicht einwirken, denn diese waren entweder bereits in der Hölle oder doch auf dem sicheren Weg dorthin. Knackpunkt der ganzen christlichen Eschatologie (und auch der christlichen 69
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum
Seelsorge) war jedoch das Schicksal der non-valdes – der non valde mali und der non valde boni : der »nicht besonders Schlechten« und der »nicht besonders Guten«. Solchen Personen konnten die Lebenden durch ihre Gebete und Gaben beistehen, vorausgesetzt, jene hatten sich zu Lebzeiten für eine solche Unterstützung »qualifiziert«, indem sie ein einigermaßen gutes Leben geführt hatten: »Es gibt nämlich Menschen, deren Lebensführung nicht gut genug ist, so daß sie diese [Fürbitten] nach ihrem Tode nicht nötig hätten, und auch wieder nicht schlecht genug, so daß sie ihnen nichts nützen könnten.«63 Die lapidaren Formulierungen des Enchiridion, in denen diese Einteilung der Gläubigen in drei Gruppen ausgeführt wird, erlangten in späteren Jahrhunderten – wohl auch wegen ihrer hohen Prägnanz – eine beinah gesetzmäßige Autorität. Wie gut abgewetzte Spielsteine glitten sie in allen weiteren Debatten über das Schicksal der Seele und über die Bemühungen der Gläubigen ihretwegen ganz sanft an ihren Platz, immer und immer wieder. Man hat sie als einen »ersten Schritt auf dem Weg zu einer Hierarchisierung der Sünden« bezeichnet, der schließlich auch zu jener bekannten Dreiteilung des Jenseits in Himmel, Hölle und dem Fegefeuer in der Mitte geführt habe, die das katholische Christentum des Westens auszeichnet.64 Doch damit sind wir schon zu schnell zu weit gelangt. Im Hinblick auf Augustinus selbst erahnt man jedenfalls, schaut man sich die felsenfeste Undurchdringlichkeit seiner Antwort an Laurentius einmal genauer an, dass da lediglich ein Damm gebaut werden sollte. Dieser Damm sollte den stummen Druck zurückhalten (nicht etwa aufheben), den die non-valdes – die »Nichtbesonderen« – in den christlichen Gemeinden auszuüben begannen. Wie jene Katechumenen, die Mani in den Kephalaia ausgefragt hatten, verlangten auch durchschnittliche Christen in Nordafrika und anderswo inzwischen wesentlich ausführlichere – und, wenn möglich, auch beruhigendere – Antworten, als Augustinus zu geben bereit war. Sie wollten einen festen Ort für ihre Lieben in der Geografie des Jenseits. Sie wollten sicher sein, dass die Rituale, die sie auf Erden für ihre Verstorbenen ausführten, einen direkten und förderlichen Einfluss auf deren Schicksal im Jenseits hatten. Diese Sicherheit verweigerte Augustinus ihnen. Dennoch ließ sich das Thema nicht länger vermeiden. Die Kirche war auf dem besten Weg, 70
Von Mani zu Augustinus
sich die römische Gesellschaft als Ganze einzuverleiben. Das bedeutete – mit zwingender Notwendigkeit –, dass sie auch eine Kirche der non valdes werden würde. Aus diesem Grund steigen wir mit Augustins Zurückhaltung auch in das nächste Kapitel ein. Insbesondere werden wir seine Bedenken hinsichtlich folgender Punkte genauer betrachten: des Kontakts von Lebenden und Toten in Träumen und Visionen, des Schicksals der Seele nach dem Tod und des Einflusses der von den Lebenden zugunsten der Toten ausgeführten Rituale auf das Schicksal der Seelen im Jenseits. Diese Bedenken waren eine Reaktion auf die beständigen Nachfragen sowohl von anderen Klerikern als auch von Laien. Die Fragen, die Augustinus beantworten sollte, spiegelten mehr als nur theologische Dilemmata wider: Sie waren Ausdruck einer Zeitenwende. Augustinus selbst war an der Erzeugung dieser Zeitenwende keineswegs unbeteiligt. Indem er seinen Streit mit Pelagius gewonnen hatte, hinterließ er tiefe Spuren in der Frömmigkeitspraxis der lateinischen Christenheit, und zwar insbesondere, was die Einstellung der Gläubigen zum Tod sowie die Notwendigkeit von Buße und Sühne in diesem wie im nächsten Leben betraf. Zur gleichen Zeit bewiesen die vielen Fragen, auf die Augustinus trotzdem noch antworten musste, wie wenig selbst er zu einer endgültigen Lösung der Probleme mit dem Jenseits beigetragen hatte – ja, ganz im Gegenteil: Er hatte sie durch seine Ausführungen nur noch dringender werden lassen. Wie so viele alte Männer im Augenblick ihres Triumphs beschloss Augustinus sein Leben, indem er einer Zukunft die Stirn bot, zu deren Anbrechen er selbst stark beigetragen hatte.
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II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins Viele Fragen an Augustinus
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u Beginn von Kapitel 1 haben wir die Implikationen des frühchristlichen Leitgedankens vom »Schatz im Himmel« analysiert. Danach sind wir in eine Welt der Stille gelangt. Wir haben die Art und Weise betrachtet, in der christliche Gemeinden im Rom des späten 3. Jahrhunderts ihrer Toten gedachten. Schließlich haben wir uns an den östlichen Rand der römischen Welt begeben, um dort in die Debatten hineinzulauschen, die Manichäer und Christen zur selben Zeit führten und in denen es um das Wesen und die Wirkung jener Totenriten ging (Gabenopfer, Almosengeben, Fürbittgebete), die in beiden Gemeinschaften gebräuchlich waren. Wie die an Mani gerichteten Fragen gezeigt haben, stimmten die meisten Gläubigen darin überein, dass die genannten Riten auf irgendeine Weise dazu beitrugen, die Seele bei ihrer Reise von dieser Welt in die nächste zu beschützen. Doch wie beschwerlich würde diese Reise sein? Würden die von der Kirche entwickelten Zeremonien sich als wirksam erweisen? Bei wem würden sie glücken? Und warum? Der Hauch von Angst, der diese von seinen Anhängern an Mani gerichteten Fragen begleitete, durchwehte auch das Christentum als Ganzes. Auch hundert Jahre später, zur Zeit des Augustinus, war diese Angst noch nicht abgeklungen. Für die meisten christlichen Gläubigen blieb das Jenseits ein Ort der Rätsel. Die traditionellen Rituale – Begräb-
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Viele Fragen an Augustinus
nis, Totenmahl, Fürbitte – lieferten nicht mehr als Andeutungen darauf, was mit der Seele nach dem Tod geschieht. Fragen gab es also weiterhin viele – nur waren die Fragesteller andere. Es handelte sich nicht mehr um kleine Gruppen von Jüngern, die sich ratsuchend an ihren Meister wandten, wie es innerhalb der radikalen Manichäersekte der Fall gewesen war; sondern zu den Fragenden zählten nun, da sich das Christentum langsam zur Mehrheitsreligion des Römischen Reiches entwickelte, auch Angehörige der römischen Oberschicht. Tatsächlich kamen die Fragen nun vornehmlich von den Reichen – oder betrafen doch zumindest diese. Immerhin besaßen die Reichen größere Schätze auf Erden als irgendwer sonst. Sie wollten wissen, welche Vorteile sie im Jenseits gewinnen mochten, wenn sie diese Schätze – oder doch zumindest einen guten Teil davon – in den Himmel »überwiesen«. Einschlägige Fragen kamen jedoch auch von den Kritikern der Reichen. Viele bemängelten, dass die Reichen nicht genug gäben – dass namentlich die meisten von ihnen keineswegs »verkauften, was sie hatten, und es den Armen gaben«, wie Jesus es ihnen im Evangelium nahegelegt hatte. Andere kritisierten, dass die Reichen ihren Reichtum nur einsetzten, um sich im Begräbnis und beim Totengedenken besondere Privilegien zu erwerben. Eine solche Bevorzugung erregte Argwohn, schien sie doch darauf hinauszulaufen, dass auch die Seelen der Reichen nach deren Ableben bevorzugt behandelt werden würden. In diesem Kapitel wollen wir beleuchten, wie eine außergewöhnliche Persönlichkeit – Augustinus, der von 395 bis 430 Bischof von Hippo, dem heutigen Annaba in Algerien, war – mit den Fragen umging, die jene neuartige Situation aufwarf. Wir werden die Zurückhaltung betrachten, mit der Augustinus solchen Jenseitsvorstellungen begegnete, die ihm zu »bequem« erschienen – und das hieß entweder: zu leicht erfassbar für die menschliche Vorstellungskraft (in Träumen oder Visionen) oder fälschlich als kontrollier- und steuerbar angesehen (durch privilegierte Formen von Begräbnis und Gedenken). Wir werden sehen, wie Augustinus die Effektivität einschätzte, mit der die traditionellen christlichen Formen des Totengedenkens – das Almosengeben, Fürbittgebete und die Erwähnung bei der Eucharistiefeier – das Schicksal der Seele beeinflussen sollten. 73
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
In Kapitel 3 werden wir auch sehen, wie die Ansichten seines theologischen Gegenspielers Pelagius (die nach der Plünderung Roms im Jahr 410 auch in Nordafrika Verbreitung fanden) Augustinus dazu brachten, eine ganz eigene Vorstellung von einem religiös fundierten Almosengeben zu entwickeln. Der Nachdruck, mit dem Augustinus darauf bestand, das Almosengeben hänge eng mit der Vergebung der Sünden zusammen, sollte diese Auffassung in späteren Jahrhunderten zur vorherrschenden Meinung werden lassen. Ebenfalls wird deutlich werden, wie der starke Akzent, mit dem Augustinus die Allgegenwart der Sünde sowie die damit verbundene Notwendigkeit zur ständigen Buße hervorhob, dazu führte, dass auch er sich daran versuchte, Antworten – wenn auch betont zurückhaltende Antworten – auf einige der Fragen zu geben, die Laien von den Tagen Manis bis zum völligen Untergang des Römischen Reiches im Westen – und darüber hinaus – gestellt hatten: Welche Rituale, die den Lebenden zur Verfügung standen, welche Gebete und frommen Praktiken und letztlich welche Aussichten auf Gottes Gnade konnten einer mit Sünden überhäuften Seele in jener befremdlichen Welt jenseits des Grabes Erleichterung verschaffen? Indem wir Augustinus’ Überlegungen zu diesen Fragen nachvollziehen, werden wir uns einer großen Persönlichkeit aus einer ungewohnten Perspektive nähern. Nicht dem Verfasser berühmter Werke werden wir begegnen – der Bekenntnisse, der Schriften Über die Dreieinigkeit und Über den Gottesstaat sowie unzähliger Bände gegen einzelne Häresien –, sondern uns wird ein Mann gegenüberstehen, der ohne Unterlass die Fragen seiner Umwelt beantwortete. Die diese Fragen stellten, waren in der Regel ebenfalls Katholiken. Ihre Absicht war es nicht, grundlegende Glaubenssätze infrage zu stellen. Vielmehr verlangten sie Sicherheit darüber, dass das, was sie sich unter dem Leben im Jenseits vorstellten, auch wirklich den Tatsachen entsprach. Vor allem aber wollten sie wissen, ob ihre eigenen Vorstellungen von dem Einfluss menschlicher Rituale und Frömmigkeitspraktiken auf das Schicksal der Seelen im Jenseits zutrafen: War das wirklich, was in jenem unentdeckten Land geschah? Von Augustinus erwarteten sie, dass er ihnen Klarheit verschaffe. Die Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen nahm einen großen Teil von Augustinus’ Arbeitszeit in Anspruch. Unter den zuvor unbe74
Viele Fragen an Augustinus
kannten Briefen des Augustinus, die in den 1970er-Jahren Johannes Divjak entdeckt hat, gibt es eine besonders anrührende Mitteilung an seinen Freund Possidius, der Bischof in Calama (dem heutigen Guelma in Algerien) war. Den Brief schrieb Augustinus im Alter von 65 Jahren im Dezember 619. Er teilte Possidius mit, dass er sich nun langsam wieder an die Arbeit an seiner Schrift Über den Gottesstaat machen wolle. Aber er habe sich gezwungen gesehen, dieses Projekt zu unterbrechen: »Ich bin verärgert über diese unangekündigten Anfragen von hier und dort und überallher, die mich zu schreiben zwingen. Sie stören und halten all die anderen Dinge auf, die wir so sorgsam in eine Ordnung gebracht haben. Das hört wohl nie auf [...]« Innerhalb von drei Monaten, klagte Augustinus, habe er Korrespondenz im Umfang von 6000 Zeilen Text (ungefähr 60 000 Wörter) diktieren müssen. Das meiste davon sei auf die direkte Beantwortung kritischer Anfragen entfallen, die ihn aus ganz Nordafrika erreicht hätten: den Traktat eines störrischen donatistischen Bischofs, Gaudentius, aus Timgad im tiefen Süden, wo das Reich beinahe schon an die Sahara grenzte; Fragen zum Ursprung der Seele, wobei ein Bischof aus Spanien und die Abhandlung eines jungen Mannes aus dem äußersten Westen (aus Mauretanien, nahe dem heutigen Marokko) eine Rolle spielten; Predigten, die er in den Nächten vom Samstag auf den Sonntag redigiert hatte und die nach Karthago gesandt werden sollten.1 Nicht alle Fragen, die Augustinus zu beantworten hatte, betrafen das Schicksal der Seele. Aber viele eben doch. Sein Enchiridion – ein Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe – schrieb Augustinus im Jahr 422, also nur wenige Jahre nach seinem Brief an Possidius, zur Beantwortung der Fragen jenes Laurentius, den wir gegen Ende von Kapitel 1 bereits erwähnt haben. Die Schrift an Laurentius war eines von vielen Antwortschreiben Augustins an wohlsituierte Fragesteller. Laurentius’ Bruder, Dulcitius, hatte als römischer Beamter in Nordafrika gedient; seine Maßnahmen gegen Häretiker hatten den Protest Gaudentius’ von Timgad erregt. Auch Dulcitius wandte sich mit Fragen an Augustinus, die sich zum großen Teil mit denen seines Bruders deckten, insofern sie die Probleme der Seele im Jenseits sowie die jeweiligen Schicksale unterschiedlicher Kategorien von Sündern beim Jüngsten Gericht ergründen wollten. Augustinus beantwortete sie alle – und 75
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zwar sofort. Wie wir bereits gesehen haben, war das für Laurentius geschriebene Enchiridion die Quelle, aus der alle nachgeborenen Gläubigen der lateinischen Christenheit die dreifache Einteilung der Seelen in die valde boni (»vollkommen Guten«), die valde mali (»gänzlich Bösen«) und die non valde boni (»nicht besonders Guten«) übernahmen. Die letztere Gruppe war die entscheidende, denn nur bei den Seelen der non valde boni konnten die Rituale der Totensorge, wie man glaubte, ihre günstige Wirkung entfalten. Mit derart ausführlichen Antworten auf die eingehenden Fragen zu reagieren, war die Mühe durchaus wert. Denn gerade in seiner Rolle als Problemlöser für ein breites Spektrum einflussreicher Laien und Klerikerkollegen konnte Augustinus die höchsten Gesellschaftskreise an die nordafrikanische Kirche binden. Wenn wir seine Heimat mit anderen Provinzen des Römischen Reiches vergleichen – wo so gut wie jeder Bischof auch als Autor in Erscheinung trat –, so besaß Augustinus ein ungewöhnlich hohes Maß an theologischer »Richtlinienkompetenz« für die Kirchen Nordafrikas. Das heißt, dass wir bei der Lektüre von Augustinus’ Schriften zum Thema Jenseits zweierlei bedenken müssen: einerseits die Beschränkungen, andererseits aber die Möglichkeiten, die mit seiner einmaligen Situation verbunden waren. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit einem hochgebildeten Mann zu tun haben, umgeben von einem Kreis gut situierter Fragesteller. Verglichen mit der immensen Anzahl von Gläubigen im römischen Afrika überhaupt, bildeten Augustinus und seine Briefpartner einen kleinen, erlesenen Zirkel. Nicht jeder hatte das Privileg, sich mit seinem Bischof ausführlich über den Tod und die Seele auszutauschen! Diese Situation müssen wir immer im Hinterkopf behalten. In Nordafrika (wie in allen anderen Gegenden der spätrömischen Welt) waren die Toten überall, aber nur wenige von ihnen sind für uns heute noch sichtbar. Nichts wirft ein solch grelles Schlaglicht auf die starke Schichtung der römischen Gesellschaft wie das völlige Schweigen der übergroßen Mehrzahl ihrer Toten. Erinnerung und Gedenken bedeuteten den Römern viel; auch die Äußerung von Trauer besaß bei ihnen einen hohen Stellenwert. Brent Shaw hat ausgerechnet, dass von den rund 300 000 Inschriften, die aus dem Westteil des Römischen Reiches 76
Viele Fragen an Augustinus
überliefert sind, über 75 Prozent an Mausoleen oder auf Grabsteinen angebracht waren.2 Aber diese Grabsteine umringten ein riesiges schwarzes Loch: Von den 875 000 Gräbern in den römischen Katakomben trugen gerade einmal 27 688 eine Gedenktafel mit Namensnennung.3 In einer Katakombe (der Priscilla-Katakombe) waren nur 40 von 40 000 Gräbern mit Fresken ausgemalt!4 Wenn wir uns nun den jüngsten Ausgrabungen von Gräberfeldern aus dem Karthago des 5. Jahrhunderts zuwenden, verstehen wir erst, was das bedeutet. Auf dem »vornehmen« Begräbnisareal von Bir elKnissia blieben die Toten ein Teil der Gesellschaft: Ihre Gräber waren ordentlich angelegt und mit den Lebenden kommunizierten sie durch Inschriften sowie durch Fußbodenmosaiken in einer großen Basilika. Vor den Mauern der Stadt hingegen drängten sich die Toten in endlosen Reihen unter achtlos aufgestapelten Ziegeln: »Es gab keine erkennbaren Wege zwischen den Gräbern, nur wenige Grabmäler und -steine, keine Hinweise auf rituelle Aktivität [...] das Aufbrechen älterer Gräber durch überlappende Neubelegung war an der Tagesordnung.«5 Der einzige Fund, der in diesen ansonsten vollkommen anonymen Gräbern mit einiger Regelmäßigkeit auftritt, ist der antike »Charonspfennig«, eine kleine Münze, die den Verstorbenen unter die Zunge gelegt wurde, damit sie damit die Überfahrt ins Jenseits bezahlen konnten. Abgesehen davon, haben wir kaum eine Vorstellung darüber, welche Rituale oder Jenseitsvorstellungen mit der Bestattung auf solch einem riesigen Armenfriedhof einhergingen. Die da hinauspilgerten zu den Gräbern der Armen, mögen auch in den Basiliken dabei gewesen sein, in denen Augustinus predigte. Aber selbst das können wir nicht sicher wissen.6 Gewiss suchten sie ihren Bischof nicht in dessen Studierstube auf, um ihm ihre Fragen zu stellen, die er dann in ausschweifenden Traktaten beantwortete. Letztlich sprechen die Toten nur dann zu uns, wie jede Archäologin und jeder Archäologe weiß, wenn die Lebenden dafür genügend Geld ausgegeben haben. Als »Plaudertaschen« begegnen sie uns nur, wenn sie zu Lebzeiten der Oberschicht angehörten – über Jahrhunderte haben die Reichen (oder zumindest nicht ganz Unvermögenden) in den Städten rund ums Mittelmeer ihre plastisch-lebendigen und berührenden Grabmäler hinterlassen. 77
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
Das sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, Augustins Vorhaben zu unterschätzen. Seine Beantwortung von Fragen, die theologische Kollegen und wohlhabende Laien ihm gestellt hatten, war so etwas wie ein Ausleseverfahren zur ständigen Prüfung der gängigen Jenseitsvorstellungen. Manche davon verwarf er völlig, bei anderen mahnte er zumindest zur Vorsicht. Vor allem aber wollte er einen sicheren Kernbestand von Vorstellungen ermitteln, die nach seinem Dafürhalten im Einklang sowohl mit der kirchlichen Tradition als auch mit der korrekten Auslegung des biblischen Textes standen. Wenn es um Aspekte des Jenseitsglaubens ging, waren Augustinus’ Bibelauslegung und seine kritische Prüfung der kirchlichen Überlieferung so streng wie minimalistisch. Den Fragestellern ließ er nur wenig Spielraum. Oft wies er sie warnend darauf hin, dass es schlicht keinen bequemen Weg gebe, auf dem ein unbelehrbarer und gleichgültiger Sünder in den Himmel gelangen könnte. Solche Leute, betonte Augustinus, dürften ja nicht auf eine »Wunderwaffe« hoffen – auf irgendeine rituelle Vorkehrung, vielleicht auch den Schutz der Heiligen oder irgendeinen göttlichen Gnadenakt in letzter Minute. Nach Meinung des Augustinus konnte nur ein kleiner Kernbestand hinreichend – das heißt durch die Autorität der Bibel und der kirchlichen Überlieferung – legitimierte Jenseitsvorstellungen leisten, was von ihnen verlangt war: das immense Gewicht all jener Hoffnungen und Ängste zu tragen, die den Menschen in der Konfrontation mit dem großen Unbekannten kamen. Andernfalls, so Augustinus, würde die schwache menschliche Vorstellungskraft sich alle möglichen tröstenden Illusionen ausdenken, um die Kälte des Grabes abzuhalten. Noch gegen Ende seines Lebens, in dem um 427 entstandenen vorletzten Buch seiner Schrift Über den Gottesstaat können wir Augustinus dabei beobachten, wie er genau so vorgeht. Mit diesem bemerkenswerten Buch liefert Augustinus nicht weniger als ein Handbuch landläufiger Illusionen über das Jenseits. So merkt er etwa an, um nur ein Beispiel zu nennen, dass viele Gläubige, mit denen er gesprochen habe, davon überzeugt gewesen seien, dass die Seelen von Sündern (und möglicherweise sogar die von schweren Sündern) noch am Tag des Jüngsten Gerichts – gewissermaßen in letzter Sekunde – durch die Fürsprache der Heiligen gerettet werden könnten. Augustins Ge78
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sprächspartner wollten ganz einfach daran glauben, dass Gott auf das Gebet der Heiligen hin selbst hartgesottenen Sündern vergeben werde, ganz so, wie der Kaiser Verbrechern gegenüber Milde walten ließ, wenn für diese ein überzeugendes Gnadengesuch eingegangen war. Aber, dass sie sich da so sicher glaubten, war Augustinus überhaupt nicht recht. Für die Gläubigen sei es besser, wenn die Funktionsweise des Jenseits nicht allzu durchschaubar würde: »Doch welcher Art die Lebensführung sein muß, und um welche Sünden es sich handelt, die zwar den Eingang ins Reich Gottes hindern, aber durch die Verdienste heiliger Freunde Verzeihung erlangen, das ist sehr schwer ausfindig zu machen, und sehr gefährlich, es näher zu bestimmen. Ich wenigstens habe es bislang, wenn ich darüber nachsann, nicht ergründen können. Vielleicht soll es darum verborgen bleiben, damit nicht der Eifer, fortzuschreiten und alle Sünden zu meiden, erschlaffe. Denn wüßte man, welche und was für Sünden es sind, für welche man die Fürsprache der Heiligen suchen und erhoffen darf, auch wenn sie bestehen bleiben und nicht durch Fortschritt zu besserem Leben getilgt werden, so würde die menschliche Bequemlichkeit sich im Gefühl der Sicherheit von ihnen umstricken lassen und keinerlei Kraftanstrengung machen, sich aus diesen Banden zu lösen [...]«7 Die Äußerungen Augustins über das Jenseits fallen immer wieder betont vorsichtig aus. Wenn uns das oft kurzsichtig erscheint, so liegt das daran, dass die Fragen, um deren Beantwortung es ging, auf den ersten Blick ebenso abergläubisch wie kleinlich erscheinen. Wenn wir bei dieser Betrachtungsweise stehen bleiben, entgeht uns allerdings das Entscheidende. Was Augustinus nämlich tat, wenn er sich ohne Unterlass einem Fragesteller nach dem anderen widmete und jede noch so abstruse Einzelfrage beantwortete, die ihm eine Schar von Fragenden zukommen ließ, dann tat er nicht weniger, als die religiöse Vorstellungskraft engagierter und einflussreicher Christen in ganz Nordafrika (und später auch an anderen Orten) nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Gerade, weil so viele seiner Aussagen durch die Fragen seiner Briefpartner veranlasst waren, wird im Übrigen deutlich, dass wir es nicht etwa mit einer Reihe von gleichsam ex cathedra verkündeten, von Augustinus allein formulierten Ansichten zu tun haben. Vielmehr belau79
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
schen wir eine lebhafte Diskussion mit mehreren Gesprächspartnern. Die Stimmen von der Fragenden hören wir fast genauso deutlich wie die Antworten des Kirchenvaters. Wir können, modern gesprochen, die Standpunkte von Augustins Gegenübern nachvollziehen. Dadurch eröffnet sich uns ein viel weiteres Blickfeld, als wir zunächst vielleicht glauben würden. Denn viele der Anliegen, mit denen Augustinus sich in seinen Antworten auseinandersetzt, waren weit über den privilegierten Kreis seiner vornehmen Korrespondenten und Leser seiner Traktate hinaus von Belang: Sie betrafen die nordafrikanische »Intelligenzija« als Ganze. Sie spiegelten sogar – wenn auch nur von fern – die Hoffnungen und Ängste all jener, die – in den anrührenden Worten George Eliots aus Middlemarch – »gläubig ein verborgnes Leben führten und nun in unbesuchten Gräbern ruhen«.8
Tod, Träume und die Gegenwart Gottes in Uzalis Beginnen wir damit, wie Augustinus sich der Frage näherte, was wir Menschen überhaupt vom Jenseits wissen können. Hierüber grübelte er nicht etwa in der stillen Einsamkeit seiner Studierstube nach, sondern bewegte sich in einer Atmosphäre, die vor Fragen geradezu knisterte. Irgendwann um das Jahr 420 herum, Augustinus hatte gerade seinen klagenden Brief an Possidius geschrieben, kam es in der kleinen, 40 Meilen nördlich von Karthago gelegenen Stadt Uzalis (dem heutigen El Alia in Tunesien) zu einer Folge zwar nicht weltbewegender, aber doch schmerzlicher Ereignisse.9 Ein junger Mann, der dem Bischof Evodius von Uzalis als notarius (Stenograf) diente, starb ganz unerwartet. Evodius war zutiefst betrübt. Der Bursche hatte dem alten Bischof, dessen Augen womöglich nicht mehr die besten waren, »des Abends schon seit einiger Zeit vorgelesen, wenn alles rings umher schon still geworden war. Und wenn er eine Stelle nicht verstand, so wollte er nicht eher weiterlesen, als ich sie ihm nicht erklärt hatte. [...] Mit der Zeit sah ich ihn nicht mehr bloß als meinen Schreibburschen, sondern als einen engen und teuren Freund.« Jetzt, da er tot war, scheine es, als sei er »in meine Seele eingegangen und spendet mir seine Gegenwart dort zumindest ein wenig tröstendes Licht«.10 80
Tod, Träume und die Gegenwart Gottes in Uzalis
Evodius war nicht der Einzige, dem der Tod des Notars zu Herzen ging. Eine fromme Witwe träumte vom Bau eines Palasts, der glänzte wie von Silber. Das war die prachtvolle »himmlische Wohnung« des jungen Mannes, wie die Frau weiter berichtet: »Und in demselben Palast erschien ein alter Mann, der war ganz in Weiß gekleidet und hieß zwei andere Männern in Weiß, den Leichnam [des Jünglings] aus seinem Grab zu holen und empor zum Himmel zu tragen, [und ich sah] Triebe von ›jungfräulichen‹ Rosen – denn so nennt man die geschlossenen Knospen ja gemeinhin – aus seinem Grab hervorwachsen.«11 Das Bild von Rosen, die aus einem Grab wachsen, sollte wenig später in der Legende vom Tod und der Himmelfahrt der Jungfrau Maria weite Verbreitung finden, die zur Zeit Augustins bereits in der griechischen Welt im Umlauf war. Dies mag uns daran erinnern, dass die Denk- und Vorstellungsmuster, die uns in dem Brief des Evodius begegnen, von einem Ende des Mittelmeerraums bis an das andere geläufig waren.12 Auch einem Mönch erschien der tote Knabe. Der fromme Mann war geistesgegenwärtig genug, die alles entscheidende Frage zu stellen: »utrum fuisset a Deo receptus« (»ob er denn von Gott aufgenommen worden sei«). »Und siehe, voller Freude antwortete [der junge Mann], dass dies geschehen sei.«13 Das sollte uns zu denken geben. Die lateinischen Christen des 3. und 4. Jahrhunderts redeten viel vom Paradies – oder besser: vom Himmel. Aber wenn diejenigen, von denen man meinte, dass sie den Himmel verdient hatten, starben, wünschten diese zunächst eine Person zu sehen, nicht einen Ort. Dasselbe können wir im Fall der Märtyrerin Perpetua beobachten. Als Perpetua davon träumte, wie sie in Begleitung ihres Gefährten, des Priesters Saturus, ins Paradies gelangte, träumte sie auch von der Begegnung mit einer geheimnisvollen Erscheinung, die ebenso vertraut wie ehrfurchtgebietend war. Andere Märtyrer, die bereits vor ihnen eigetroffen waren, sagten Perpetua und Saturus, was sie zu tun hatten: »Kommt herein und grüßt zuerst den Herrn [...] Und wir kamen an einen Ort, dessen Wände schienen ganz aus Licht gemacht. [...] Und an demselben Ort sahen wir einen alten Mann mit weißen Haaren, der aber das Gesicht eines Jünglings hatte [...] Voll Staunen traten wir ein und standen vor dem Thron: Vier Engel trugen uns, und wir küssten Ihn und Er berührte unsere Gesichter mit Seiner Hand.«14 81
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Erst anschließend wurde ihnen gesagt: »Ite et ludite« (»Geht und spielt!«). Nun konnten sie das Paradies genauso genießen, wie die heidnischen Römer es genossen, wenn sie ihre Spiele – die ludi – zu Ehren des Kaisers feierten. Das »Spiel«, das Perpetua und Saturus spielen durften, war also mehr als ein sorgloses Herumtollen: Es war eine Siegesfeier. Die Assoziation von Siegen und Spielen war in der römischen Welt weit verbreitet. Selbst ein Spieltisch, den man in einer römischen Katakombe gefunden hat, trägt die euphorische Botschaft: Parthi occisi Britto victus. Ludite Romani! Parther getötet, der Brite unterworfen. Spielt, Römer!15 Jedoch ging aus der oben zitierten Passage deutlich hervor, dass Perpetua und Saturus, bevor sie die Freuden des Paradieses genießen konnten, erst einmal Christus, ihren Kaiser, von Angesicht zu Angesicht begegnen mussten. Der Christus Perpetuas war eine gewollt uneindeutige Figur. Seine mysteriöse Verkörperung von hohem Alter und blühender Jugend zugleich ließ ein Wesen erkennen, das über dem Strom der Zeit und menschlichen Alternsvorgängen stand. Dieses Bild war der Beschreibung des »Alten der Tage« aus dem biblischen Buch Daniel (7,9) sowie aus der Offenbarung des Johannes (1,14) entlehnt. Bis in die Zeit Augustins hatte sich das Christusbild jedoch zu einer eindeutigeren und vor allem auch zeitgemäßeren Form der Darstellung verfestigt. Rein optisch ähnelte Christus nun einem spätrömischen Kaiser. Trotz einiger entscheidender ikonografischer Unterschiede zwischen Darstellungen Christi und Darstellungen des Kaisers in der Kunst des 4. und 5. Jahrhunderts (auf die Thomas F. Mathews in seiner anregenden Studie The Clash of Gods hingewiesen hat) sollten wir die Anziehungskraft nicht unterschätzen, die das Bild des Kaisers in der religiösen Vorstellungswelt jener Zeit besaß. Von Christus erwartete man ganz einfach, dass er wie ein Kaiser aussah und sich auch so verhielt.16 Aber Kaiser – selbst spätrömische Kaiser – waren ihrerseits keineswegs eindeutige Figuren. Auch sie besaßen viele Gesichter. Das Aufkommen des Bildes von Christus als Kaiser ging dabei nicht ausschließlich auf eine neue, strengere Auffassung von Christi Majestät zurück, 82
Tod, Träume und die Gegenwart Gottes in Uzalis
sondern basierte auch auf der demonstrativen Ambiguität, zu der sich im spätrömischen Kaiserbild große Distanz zu den vielen sowie der Kitzel persönlicher Nähe für einige wenige verbanden. Beim Hofzeremoniell ging es ja nicht nur um die Hierarchie, sondern auch um Gesten, die diese Hierarchie überbrückten. So galten zum Beispiel diejenigen, die den Kaiser »verehren« durften, indem sie den Saum seines Herrschermantels küssten, nicht einfach als demütige Untertanen – weit gefehlt: Sie hatten ihrem Kaiser gegenüber eine Art von persönlicher Beziehung hergestellt, die durchaus jener Mischung aus Liebe und Ehrfurcht ähnelte, die Perpetua empfand, als sie sich Christus in der Gestalt des Alten der Tage näherte.17 In der langen Inschrift auf dem Grabmal des Petronius Probus, eines der führenden römischen Senatoren seiner Zeit, können wir dieses fantasievolle Spiel in Aktion beobachten. Probus war ein mächtiger Mann; sein Reichtum war so legendär wie seine Bestechlichkeit. Von den späten 360er- bis in die späten 380er-Jahren hatte er die politische Bühne des westlichen Römischen Reiches dominiert. Die fragliche Inschrift hat man in dem prominent platzierten Mausoleum gefunden, das Probus sich außerhalb der Apsis der Petersbasilika auf dem Vatikanshügel errichten ließ und das so dicht am Grab des Apostels lag wie nur möglich. Angesichts des übertrieben beifälligen Tones der Inschrift überrascht es nicht, wenn die heutige Forschung zu der Ansicht gelangt, der prominente Probus – der größte Politiker seiner Zeit – habe bei seiner Himmelfahrt lediglich den irdischen gegen einen himmlischen Kaiserhof eingetauscht. So würde ihm dann also Christus eine Audienz gewähren und mit ihm würde er speisen, wie er einst mit dem furchterregenden Kaiser Valentinian I. gespeist hatte. Der Aufstieg in den Himmel wäre nach dieser Sichtweise Probus’ ultimative Beförderung gewesen. Jedoch war das nicht alles. Nach seiner Taufe hatte Probus in Christus einen engen Freund gewonnen. In der Grabinschrift heißt es: »Möge er [Probus] auf ewig Christi Gesicht, friedvoll ihm zugewandt, erblicken und – von Christus geliebt – immerdar an Seinem Munde hängen.«18 Diese Formulierung – »an Seinem Munde hängen« – war mit voller Absicht Vergils Aeneis entlehnt. Dort beschreibt sie die Art und Weise, mit der Dido, die Königin von Karthago, gebannt die Erzählung des Aeneas 83
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
verfolgt, während sie sich immer heftiger in ihren Helden verliebt.19 Das war es, was für einen Christen – ganz gleich, ob er nun ein berühmter römischer Senator oder ein kleiner Stenograf im fernen Uzalis war – das magische Wort receptus bedeutete: von Christus »angenommen« zu sein an einem Ort, an dem sich Majestät und Liebe verbanden. Unter den frommen Christen von Uzalis bestand kaum ein Zweifel, dass Evodius’ Schreiber genau das widerfahren war. Schließlich hatte um die Zeit, als der junge Mann gestorben war, ein alter Mann von einer Gestalt geträumt, die ein Schriftstück und einen Lorbeerkranz trug. Was der alte Mann gesehen hatte, war eine der berühmten laureatae. Die laureatae waren Standbilder des Kaisers, die, wie der Name besagte, »mit Lorbeer bekränzt« wurden. Sie machten den Kaiser auch in entlegenen Provinzen »gegenwärtig«. Oft begleiteten sie auch die von ihm erlassenen Edikte.20 Der junge Schreiber war also – gleichsam hochoffiziell – in die Gegenwart Christi geladen worden.
Probleme der Seele Über das Geschehen von Uzalis berichtet uns ein außergewöhnliches Dokument. Evodius war nämlich durch die plötzliche Welle von Visionen, die der Tod eines einzigen, aber überaus beliebten Menschen hervorgerufen hatte, dazu gebracht worden, seinem langjährigen Freund Augustinus davon zu berichten. Die Visionen stellten Evodius vor gleich mehrere Probleme: Wie konnte es sein, dass so viele Personen den jungen Mann »gesehen« hatten? Wie war es möglich, dass sie die Vorbereitungen »gesehen« hatten, die im Jenseits für seine Ankunft nach dem Tod getroffen wurden? Die Träume, von denen Evodius berichtete, schienen mehr zu sein als bloße Träume; sie waren »Besuche« von jenseits des Grabes. Wenn es sich bei ihnen tatsächlich um direkte Visionen des Jenseits handelte, so warfen sie unweigerlich die Frage auf, was man denn nun aus ihnen erfahren könne. Lieferten sie beispielsweise den endgültigen Beweis dafür, dass alle guten Christenseelen unverzüglich von Gott »angenommen« wurden?21 Doch was, wenn man den Visionen nicht trauen konnte? Musste man dann schlussfolgern, dass der weitere Weg der Seele nach dem Tod 84
Probleme der Seele
für immer ein Rätsel bleiben würde? Evodius brachte die Frage auf den Punkt: »Exeuntes de corpore qui sumus?« – »Wer sind wir, wenn wir aus dem Körper hinaustreten?«22 Trat die Seele in eine Welt ein, in der alles so klar war wie nach einem heftigen Regen, wenn die dunklen Wolken alles Körperlichen vom Himmel gefegt worden waren, wie Evodius selbst glauben wollte? Oder sollte er sich in Ermangelung positiver Beweise zwangsläufig ein bedrückenderes Szenario ausmalen? Fiel die Seele wie der Körper lediglich in einen tiefen Schlaf und verlor darüber jegliches Bewusstsein, »indem sie bloß noch [auf die Auferstehung] hoffte, nichts mehr tat, nichts mehr wusste und, insbesondere, nicht einmal mehr träumend sich umtat?« Für einen betagten Bischof, der gerade einen lieben jungen Freund verloren hatte, war die Aussicht auf einen bloßen »Seelenschlaf« nach dem Tod »wahrlich grauenerregend«. Es war, als ob die Seele selbst ausgelöscht worden wäre. Wenn Evodius so etwas schrieb, hatte das eine besonders ergreifende Qualität. Mehr als dreißig Jahre zuvor, kurz nach Augustinus’ eigener Konversion zum Christentum, hatte er mit diesem ein Gespräch geführt, das in der Schrift De quantitate animae (»Über die Größe der Seele«) festgehalten wurde. In diesem Dialog hatten beide Männer darin übereingestimmt, dass der Himmel die rechtmäßige Heimat der Seele sei. Doch wie schnell würde die Seele in dieser Heimat ankommen? Evodius fand sich gefangen zwischen zwei Vorstellungsgebäuden, ja beinahe zwischen zwei Epochen des Christentums: zwischen Tertullians trister Vorstellung vom Wartestand der Seele auf der einen und der strahlenden Aussicht auf einen sofortigen Eingang in den Himmel, wie sie erst kürzlich durch die Verbreitung platonischen Gedankenguts ins Christentum gelangt war, auf der anderen Seite. Mit seiner Anfrage an Augustinus wollte Evodius nun auf Nummer sicher gehen. Er wollte glauben, dass die Träume von dem toten Schreibburschen dessen sofortige Aufnahme durch Gott beweisen.23 Augustins Antwort auf den Brief seines Freundes war so scharf formuliert wie niederschmetternd. Er ging über Evodius’ Fragen einfach hinweg. Träume waren Träume. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass manche Träume wahrer seien als andere. Zwar mochte es sein, dass Gott in seiner Vorsehung den Inhalt einiger weniger Träume so formte, dass er darin eine Botschaft übermitteln konnte. Das war etwa 85
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
bei den Träumen und Visionen der Propheten der Fall gewesen.24 Aber was in der Heiligen Schrift geschah, würde deshalb nicht gleich in der Kleinstadt Uzalis geschehen. Augustinus jedenfalls war der Ansicht, dass es unmöglich sei, zu erkennen, »was die Visionen jener, die von Irrtum oder Gottlosigkeit geblendet werden, von [wahren Visionen] unterscheidet, da ja viele Ereignisse die [aus den ersteren] berichtet werden, denen gleichen, die auch Fromme und Heilige [in ihren Visionen] sehen«.25 Er mahnte Evodius zur Vorsicht. Das Problem der Entstehung jener Traumbilder allein – ganz zu schweigen von der Frage, ob Menschen die Hand Gottes in manchen, aber nicht in allen Träumen erkennen könnten – führe in einen »finsteren, wilden Wald«.26 Augustinus hatte nicht die Absicht, diesen Wald zu betreten. Den Briefwechsel zwischen Augustinus und seinem Freund Evodius über die Visionen von Uzalis nachzulesen, ist, als ob man ein unfertiges und nur selten betretenes Zimmer in der entlegensten Ecke eines riesigen Palastes betreten würde. Diese Briefe dokumentieren eines der vielen gelehrten Projekte, die Augustinus – ein Mann, dessen Schweigen immer wieder Bände spricht – wohl bewusst nicht weiterverfolgte. Wegen der Bestimmtheit von Augustinus’ Erwiderung hat man Evodius’ Fragen meist als abergläubisch oder schlicht verschroben abgetan. Jedoch hieße das, sich in dieser Sache allzu schnell auf die Seite des Augustinus zu schlagen. Tatsächlich hatte Evodius eine durchaus bestehende metaphysische Streitfrage angesprochen: Wie konnte ein ganz und gar spiritualistisches Verständnis der Seele (wie es etwa Augustinus nach seiner Lektüre des 270 n. Chr. verstorbenen Neuplatonikers Plotin mit Begeisterung übernommen hatte) mit den gängigen Vorstellungen vom Leben der Seele im Jenseits in Einklang gebracht werden? Wie konnte die Seele in ihrem reinen, vom Körper getrennten Zustand auch nur irgendwelche erkennbaren Merkmale behalten oder irgendeinen nachvollziehbaren Kurs verfolgen? Selbst die vertrautesten und theologisch akzeptabelsten Vorstellungen (wie etwa jene von der »Aufnahme« der Seele in die göttliche Gegenwart) konnten sich als bloße Vorstellungen entpuppen – Bilder, die der menschliche Geist hervorbrachte, die aber nur wenig oder gar keinen Bezug zur Realität hatten. Von der äußeren Hülle eines Jenseits, das dem menschlichen Denken so 86
Probleme der Seele
fernlag – so abstrakt, so orts- und gesichtslos war –, mussten solche Vorstellungen letztlich abprallen; auch mit ihrer ganzen Vorstellungskraft bekamen die Lebenden das Jenseits nicht in den Griff. In seinem Brief an Augustinus ließ Evodius erkennen, dass er selbst eine gemäßigtere Spielart des Platonismus bevorzugte. Er schlug vor, man müsse sich die Seele auch außerhalb des Körpers als von einem »Vehikel« aus unendlich feiner Materie umgeben vorstellen.27 Vielleicht war es ja das, was die Träumer von Uzalis gesehen hatten: Der ätherische, aber reale Leib ihres geliebten Freundes war ihnen im Traum erschienen. Diesen Vorschlag verwarf Augustinus ohne große Umschweife: Die Seele hatte vollkommen immateriell zu sein. Von irgendeiner Art von Überzug aus »geistiger Materie« zu reden, bedeute, einen »Kategorienfehler« zu begehen. Die moderne Forschung neigt dazu, Augustinus zuzustimmen und Evodius’ Idee von einem Seelenvehikel als »bizarr« abzulehnen.28 Nach den Maßstäben seiner Zeit war dieser mit seinem Vorschlag jedoch auf dem aktuellsten Stand der neuplatonischen Diskussion.29 Tatsächlich war Evodius in mehr als einer Hinsicht aktueller als Augustinus. Der nüchterne »Immaterialismus« Plotins nämlich hatte in den neuplatonischen Philosophenkreisen der nachfolgenden Generationen mehr Probleme geschaffen als gelöst. Denn wie konnte die Seele – eine Entität, die auf so kategorische Weise als vollkommen immateriell bestimmt worden war – auch nur die geringste Beziehung zur Materie eingehen? Man musste sich die Seele also als auf irgendeine Weise mit dem Gewebe der materiellen Welt verbunden vorstellen.30 Angesichts dieses Problems neigten die progressiveren unter den Neuplatonikern dazu, Plotins Modell zu verbessern, indem sie eine Art von Vermittlungsinstanz einschalteten – die gröbste Form von Geist und die feinste Form von Materie –, durch die die Seele in einer kontinuierlichen Seinskette mit der materiellen Welt verknüpft wurde. Und diese ätherische Verknüpfung konnte auch den Tod überdauern. Ähnlich dem zarten Körper eines Engels bewahrte dieses »Vehikel« die äußeren Züge einer bestimmten Person sogar noch im Geisterreich. Dieses Modell war es, das Evodius seinem Freund Augustinus vorschlug, aber sein Vorschlag stieß auf frostigen Empfang. Augustinus teilte ihm mit, die Vorstellung vom Seelenvehikel sei »ein überaus 87
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
zeitraubendes Problem«, zu dessen Behandlung manche wohl die nötige Muße haben mochten. Ihm selbst jedoch, beschied er Evodius in ziemlich knappen Worten, fehle für derlei Spekulationen schlicht die Zeit.31 Nicht alle christlichen Theologen reagierten auf Evodius’ Ansichten mit der gleichen Ungeduld. Der radikale Immaterialismus Augustins erscheint uns heute vollkommen natürlich; vielen bedeutenden Denkern seiner Zeit fiel es jedoch schwer, sich damit abzufinden. Schließlich war eine der verstörenderen Implikationen jener Position, dass es einem absolut spirituellen Jenseits an »Profil« fehlen musste: Wenn alles in der anderen Welt rein geistig war, dann konnte es keinen klar abgegrenzten Himmel und keine klar abgegrenzte Hölle mehr geben. Von einem durch und durch spiritualisierten Jenseits müsste man sagen, was Gertrude Stein über ihre Heimatstadt Oakland geschrieben hat: »Da ist kein Da.« Aus diesem Grund stießen die extremen Ansichten Augustins oft auf Vorbehalte oder wurden von nachfolgenden Generationen von Predigern und Geistlichen stillschweigend wieder aufgegeben, wie wir am Beispiel Galliens im 5. Jahrhundert noch sehen werden.
Visionen und religiöse Konflikte im Nordafrika Augustins Doch es steckte noch mehr hinter Evodius’ Traumberichten und Augustins brüsker Zurückweisung als eine bloß metaphysische Meinungsverschiedenheit, denn Träume waren im römischen Afrika allgegenwärtig. Und Tertullian hatte zweihundert Jahre zuvor sogar erklärt: »Den Träumen verdanken die meisten Menschen ihr Wissen von Gott.«32 Die Vorstellung, dass durch Träume und Visionen Gott oder die Götter religiöses Handeln veranlassten, war unter Christen wie Nichtchristen verbreitet.33 Vor allem aber hatten Träume eine wichtige Rolle gespielt, was das Verhältnis zwischen den beiden nordafrikanischen Kirchen betraf, die sich in erbitterter Gegnerschaft gegenüberstanden. Nur der Einfachheit halber will ich diese beiden Lager im Folgenden als »Donatisten« und 88
Visionen und religiöse Konflikte im Nordafrika Augustins
»Katholiken« bezeichnen. Beide hatten ungefähr die gleiche Anzahl von Anhängern und auch, was ihr soziales und kulturelles Profil betraf, ähnelten sie sich weitgehend. Noch nicht einmal nennenswerte theologische oder liturgische Differenzen gab es. Aber aufgrund eines schmerzlichen Schismas, das sich im frühen 4. Jahrhundert ereignet hatte, betrachteten die Gläubigen einer jeden der beiden Kirchen einzig und allein diese als die wahre katholische Kirche und betrachteten die Kirche der jeweils anderen Seite als ein dämonisches Zerrbild, als die leere Hülle einer Kirche, die vom Teufel selbst in die Welt gesetzt worden war.34 Mehr noch: In jeder der beiden Kirchen war man davon überzeugt, im alleinigen Besitz des Heiligen Geistes zu sein – und mit der Gabe des Heiligen Geistes ging auch die Gabe authentischer Träume einher.35 In den Augen vieler Donatisten war ihre Kirche die einzig wahre, weil es ihnen so erschienen war: »Denn dieser unser Bruder und diese unsere Schwester haben eine entsprechende Vision gehabt, ob nun während des Wachens oder in einem Traum, als sie schliefen.«36 Dieser Glaube an die Stichhaltigkeit von Visionen war keine bloß »volkstümliche« Kuriosität und er war auch nicht auf die Donatisten beschränkt. Im Jahr 401 untersagten die katholischen Bischöfe die weitere Verbreitung von Altären bislang unbekannter Märtyrer, die von katholischen Gläubigen als Reaktion auf entsprechende Träume errichtet worden waren. Die Bischöfe schrieben: »Und so beliebt es uns, dass die Altäre, die allenthalben errichtet worden sind, auf freiem Feld und entlang der Straßen, und in denen sich weder der Leib noch die Knochen eines Märtyrers befinden [...] wieder abgebrochen werden sollen [...] Denn Altäre, die auf Träume oder eitle, falsche Offenbarungen hin errichtet wurden, sind ganz und gar abzulehnen.« Und doch sprach die öffentliche Meinung sich in manchen Gegenden so deutlich für derartige Schreine aus, dass die Bischöfe sich – auf Beschluss des Konzils – im Zweifelsfall damit zufriedengeben mussten, gegen die »Traumschreine« bloß zu predigen. Alles andere hätte wohl zu Ausschreitungen geführt.37 Alles in allem brachten die wenig spektakulären Ereignisse von Uzalis größere Problemkomplexe zum Vorschein, deren Implikationen weit über den engen Kreis eines Bischofs und seiner Freunde hinausgingen. Augustins Zurückhaltung muss wohl in diesem größeren Zu89
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
sammenhang einer gespenstischen Konfrontation mit Wahrträumen und Visionen betrachtet werden – die von manchen als übernatürliche Effekte ihres Glaubens ernst genommen wurden, während andere sie als dämonische Täuschungen ablehnten – und es mag sein, dass die Intensität dieser Konfrontation in den verzweifelten Jahren nach 411 (als der Donatismus offiziell verboten worden war) eher noch zunahm.38 Im Verlauf seines Nachdenkens über das Thema Visionen hatte Augustinus eine stolze Anzahl von visionären Erlebnisberichten ausgewertet, die in den Dörfern und kleinen Städten Nordafrikas die Runde machten. Viele schilderten üppige Visionen von Himmel oder Hölle. Einige von Letzteren beinhalteten sogar eine Vorschau auf die künftige Bestrafung noch lebender Sünder (nach Art von Dantes Inferno).39 Diese Erzählungen scheinen schon einen ersten Blick ins Mittelalter zu werfen; viele könnten genau so auch bei Gregor von Tours stehen. Aber Augustinus wollte sich diese Perspektive nicht zu eigen machen: Solche Visionen waren epistemologisch fragwürdig, ja vielleicht waren sie sogar dämonischen Ursprungs. In jedem Fall war es besser, sich mit ihnen nicht weiter zu beschäftigen. Seine Überzeugung von einer problematischen Kluft zwischen Repräsentation und Realität – zwischen der menschlichen Wahrnehmung und der Welt, wie sie wirklich war – hatte Augustinus aus den jahrhundertelangen Traditionen der griechischen und römischen Philosophie übernommen und stets daran festgehalten. Er gehörte noch ganz entschieden einer Welt an, in der »die Unschuld direkter Repräsentation verloren war«.40 Selbst die Frommen konnten nicht sicher sein, dass das, was sie in Träumen und Visionen zu Gesicht bekamen, auch das war, was sie in der Welt jenseits des Grabes tatsächlich bekommen würden.
Augustinus, Paulinus von Nola und die Gräber der Heiligen Der Frage nach dem Verhältnis von Lebenden und Toten konnte Augustinus sich dennoch nicht entziehen. Nur wenige Jahre nach seinem Briefwechsel mit Evodius kam ein anderer Aspekt derselben Problematik zur Diskussion, dieses Mal jedoch in deutlich vornehmeren Kreisen. 90
Augustinus, Paulinus von Nola und die Gräber der Heiligen
Um 420/424 schrieb Augustinus an seinen guten Freund Paulinus von Nola. Es ging um ein heikles Thema: Welchen Nutzen zogen die Toten aus dem Handeln der Lebenden? War es in irgendeiner Weise förderlich, die Toten neben den Gräbern von Heiligen zu bestatten, um jenen beim Jüngsten Gericht deren Schutz zu sichern? Paulinus hatte sich mit einem konkreten Anliegen an Augustinus gewandt. Ein gewisser Cynegius war der Sohn von Flora gewesen, einer »überaus frommen« Frau aus der Oberschicht, die offenkundig in Nordafrika lebte. Bei einem Aufenthalt in Italien war er gestorben.41 Auf Floras Drängen hin hatte Paulinus Cynegius neben dem Grab des berühmten Wunderheiligen Felix von Nola bestatten lassen. Sogar die Grabinschrift für den jungen Mann hatte Paulinus verfasst. In Teilen ist sie bis heute erhalten; ihre eleganten Verse feiern den toten Cynegius voller Enthusiasmus. Cynegius sei als »ein Gast im Hause des Felix« willkommen geheißen worden. Durch seine Bestattung in unmittelbarer Nähe von Felix’ Grab könne der Verstorbene sich selbst dann noch sicher fühlen, wenn »der schreckliche Klang der Posaune [des Jüngsten Gerichts] die ganze Welt erschüttern wird«.42 Man muss vielleicht auch wissen, dass Paulinus, seitdem er um 394 der Welt entsagt und begonnen hatte, als Asket zu leben, eine beträchtliche Geldmenge in den Wiederaufbau des Felix-Schreins von Nola investiert hatte. Auf diese Weise hoffte er, seinen großen irdischen Reichtum in einen »Schatz im Himmel« zu verwandeln. Jedoch hätte wohl keiner, der das prachtvolle neue Bauwerk zum ersten Mal betrat, auch nur für einen Moment daran gezweifelt, dass ein wenig von jenem himmlischen Schatz gleichsam wieder auf die Erde zurückgetropft war: Mit ihrem glänzenden, vielfarbigen Marmor, ihren funkelnden Kandelabern und einer vergoldeten Decke, die im flackernden Schein unzähliger Lampen – die noch dazu einen süßen Duft verströmten – zu wogen schien wie der Ozean, glich diese Kirche tatsächlich einer »himmlischen Wohnung«, die in Kampanien, inmitten der Landhäuser der römischen Aristokratie, gelandet war.43 Alles in allem überzeugte der neue Schrein, den Paulinus dem heiligen Felix errichtet hatte, als Werbung für die Macht des religiösen Gebens, die inzwischen von einer wohlhabenden christlichen Oberschicht geleistet wurde. Das privilegierte Begräbnis des Cynegius in der Nähe 91
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
eines solchen Schreins lässt erkennen, wie der diskrete Einfluss größerer Vermögen auch auf die Entwicklung christlicher Jenseitsvorstellungen einwirken konnte, denn Paulinus’ Grabinschrift schien schon jetzt die Sicherheit von Cynegius’ Seele am Tag des Jüngsten Gerichts zu garantieren.44 Das sah Augustinus anders. Die Schrift De cura pro mortuis gerenda – »Über die Sorge für die Toten« –, die er an Paulinus richtete, war besonnen, aber entschieden und (wie schon seine Antwort an Evodius) zutiefst entmutigend. Wenn Paulinus sich von Augustinus erhofft hatte, dessen Plazet zu seiner eigenen Genehmigung von Cynegius’ Begräbnis am Schrein des heiligen Felix zu erhalten, und wenn Flora, die Mutter des Verstorbenen, auf Tröstung gehofft hatte, indem Augustinus den Schutz, den diese Nähe des Heiligen für den Jüngsten Tag verhieß, bestätigte, so sahen sie sich beide enttäuscht: Der Bischof von Hippo konnte ihnen diese Zusicherungen nicht geben. Paula Rose hat in ihrer vorzüglichen Studie Augustine and the Relations between the Living and the Dead deutlich gemacht, mit welcher Geschicklichkeit jedes einzelne Wort in Augustinus’ Antwort an Paulinus auf ein negatives Urteil hin gewichtet war.45 Obgleich er sich Mühe gab, weder die trauernde Flora noch seinen langjährigen Freund Paulinus zu verletzen, wählte Augustinus doch deutliche Worte. Die Bestattung in der Nähe eines Heiligengrabes trug nichts, aber auch gar nichts zum Heil der Seele im Jenseits bei. Alles, was ein solch prominentes Begräbnis zu leisten vermochte, war, dem Gedächtnis der Hinterbliebenen einen Anstoß zu versetzen, damit diese umso eifriger zu den traditionellen Mitteln der Totensorge griffen: Gebete an Gott und die Heiligen, Almosengeben und die Erwähnung in der Eucharistiefeier. Obwohl seitdem schon anderthalb Jahrhunderte vergangen sind, befinden wir uns doch noch recht nahe bei den kleinen Gruppen, die sich in der triclia von San Sebastiano versammelten. Was im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten tatsächlich zählte, war die memoria – die harte, getreuliche Arbeit an der Erinnerung.46 Summa summarum forderte Augustinus, indem er Paulinus in diesem Punkt widersprach, eine beinah schon barocke Frömmigkeitspraxis heraus, die sich ganz auf den gerade erst entstandenen Heiligen92
Die Macht der memoria
kult konzentrierte, von einem beachtlichen Teil der zum Christentum konvertierten Oberschicht in Italien, Gallien und Spanien getragen wurde und sich vielerorts im westlichen Mittelmeerraum bereits etabliert hatte. Etwa von der Mitte des 4. Jahrhunderts an (wenn nicht sogar früher) können wir die Entstehung besonderer Gräberballungen im direkten Umfeld von Heiligengräbern beobachten.47 Die stille Gegenwart eines Heiligen garantierte nicht nur Sicherheit am Jüngsten Tag, sondern brachte, glaubte man, auch Licht in die Dunkelheit des Grabes. Die Gegenwart des Heiligen hielt die uralte Angst vor dem Tartarus – dem personifizierten Tod – in Schach.48 Die räumliche Nähe von Grab und Reliquienschrein beschwor die Möglichkeit einer vergleichbaren Nähe auch in der anderen Welt herauf. Aber allein die Kosten eines solchen Begräbnisses sorgten dafür, dass dies ein ganz besonderes Privileg blieb und der Raum des Heiligen ganz offenkundig eine Domäne der Reichen.49
Die Macht der memoria Das alles wollte Augustinus nicht akzeptieren. Er wies Paulinus darauf hin, welch schwerwiegende Irrtürmer sich ergeben konnten, sobald jemand aus der Entscheidung, Cynegius neben dem heiligen Felix zu bestatten, die falschen Schlüsse zöge. Insbesondere berief sich Augustinus auf jene Formen des Totengedenkens, die unter den nordafrikanischen Christen traditionell üblich waren. Memoria, »Gedächtnis« – damit durften die christlichen Verstorbenen Nordafrikas rechnen.50 Und bekommen konnten sie es auch, ohne dass heilige Gebeine in der Nähe waren. Wie Ann Marie Yasin angemerkt hat, waren die Begräbnisbasiliken des römischen Afrika voll von Gräbern, die die Namen der dort beerdigten Toten trugen. Meist fanden sich diese in buntfarbigen Mosaiken, die in den Boden der Basilika eingelassen waren. Aber selbst die Elite unter den Laien erfreute sich nicht zwangsläufig einer besonderen Nähe zu den dort ebenfalls bestatteten Heiligen. Auch bargen längst nicht alle individuell bezeichneten Gräber in den großen Basiliken Nordafrikas die Toten der reichen Oberschicht. Viele waren auch die letzte Ruhestätte gewöhnlicher Durchschnittsbürger – kleinerer Stadt93
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
beamter und wohlhabender Handwerker.51 Sich ein solches Grab zu sichern, brachte fraglos einen gewissen finanziellen Aufwand mit sich, aber doch keinen, der es mit den Kosten für die Bestattung des Cynegius hätte aufnehmen können, der neben dem Schrein des heiligen Felix in einem Sarkophag mit sorgfältig gemeißelter Inschrift ruhte (von dem Kandelaber, der neben seiner Grabstätte vermutlich brannte, ganz zu schweigen). Gebete, Almosen und Messfeiern waren nicht teuer: Selbst vergleichsweise weniger Begüterte konnten ihren Verstorbenen damit dienen. Und schließlich vermochten allein jene Mittel – nicht etwa prunkvolle Grabmäler – das Schicksal der Toten im Jenseits zu beeinflussen. Wir vergessen oft, wie fest Augustinus selbst in dieser traditionellen Ritualstruktur verwurzelt war. Und dann überrascht es uns, wenn wir bemerken, dass es in der lebhaften Schilderung vom Tod seiner Mutter Monika in Ostia, die am Ende des 9. Buches seiner Bekenntnisse steht, in Wahrheit überhaupt nicht um deren Tod geht: Es geht einzig und allein um den korrekten Vollzug der Rituale zu ihrem Gedenken.52 Augustinus beschreibt nicht etwa einen dramatischen Abschied der Seele mit überirdischem Licht und süßen Düften, wie es etwa in späteren Jahrhunderten üblich wurde. Stattdessen bittet er seine Leser am Ende des 9. Buches der Bekenntnisse darum – nachdem zuvor die Lebensgeschichte Monikas und ihres Mannes Patricius geschildert worden war –, der beiden Toten im Gebet zu gedenken, so, wie auch in der Messfeier an sie erinnert werde. Und weil Augustinus das Andenken seiner Mutter so sehr am Herzen liegt, nennt er sie – zum ersten und einzigen Mal in seinen Schriften – beim Namen: Monnica, in der alten nordafrikanischen Schreibung mit Doppel-n.53 Ohne diese hartnäckige Gedenkpraxis, die dafür sorgte, dass alle, die Augustinus’ Text lasen, seine Mutter namentlich in ihre Gebete aufnehmen konnten, wäre Monica für uns genauso namen- und gesichtslos geblieben wie die frühere Geliebte des Augustinus, deren Namen wir nicht kennen. Das Gedenken im Gebet war alles, was Monicas Seele zu ihrem Heil benötigte. In einer ergreifenden Szene – Schauplatz war bereits der Hafen von Ostia – hatte sie ihren Wunsch aufgegeben, neben ihrem Mann im Grab der Familie in Afrika bestattet zu werden. Die memoria allein – das Gedenken im Gebet und am Altar – war alles, was sie wirklich brauchte.54 94
Die Macht der memoria
Das Gedenken am Altar spielte also noch immer eine wichtige Rolle. Augustinus stellte seine Mutter keineswegs als »die heilige Monika« dar, die sie später werden sollte. Vielmehr war sie eine »Jedefrau«, ein klassisches Beispiel aus der großen Schar der non valde boni, der »nicht besonders Guten«: »[Ich wage] nicht zu sagen, daß seit dem Tage, an dem, da Du [Gott] in der Taufe ihr die Wiedergeburt schenktest, kein Wort aus ihrem Munde gegen Dein Gebot verstoßen hätte [...] und bete jetzt für die Sünden meiner Mutter um Vergebung zu Dir. [...] Ich weiß, daß sie Barmherzigkeit geübt und von Herzen ›ihren Schuldigern die Schuld vergeben‹ hat: vergib ihr auch Du ihre Schulden, die sie vielleicht in so vielen Jahren seit dem Bade des Heils sich zugezogen hat.«55 Auch zehn Jahre nach ihrem Tod lebte Monica, auf welche Weise auch immer, im Jenseits weiter und kam damit jenem schrecklichen Schatten allzu nahe, den die Gebete der Lebenden von ihr fernhalten mussten: »Niemand reiße sie von Dir und Deinem Schutze. Nicht sollen ›Löwe und Drache‹ sich ins Mittel schlagen, nicht mit Gewalt und nicht mit List [...]«56 Dies ist eine der wenigen Stellen, an denen der Teufel selbst in Augustinus’ Bekenntnissen auftritt.57 Dass jene böse Macht durch Symbole lediglich angedeutet wird, macht ihre Nennung umso verstörender. Augustinus schrieb um 397 über seine Mutter Monica. Zu jener Zeit war die Wolke seines Unbehagens gerade einmal ein Wölkchen, vielleicht faustgroß. Aber in den 420er-Jahren, als er an Evodius und Paulinus schrieb und selbst schon über sechzig Jahre alt war, hatte sich über Augustinus der ganze Himmel zugezogen. Wie hatte das passieren können? Die knappste Antwort auf diese Frage lautet natürlich: Pelagius. Schließlich war der Pelagianische Streit (der nach 410 ausbrechen sollte) weit mehr als nur ein Ideenkonflikt. Er bedeutete das Aufeinanderprallen zweier christlicher Landschaften: der Landschaften des christlichen Rom (wo Pelagius gelehrt hatte und sich seine wichtigsten Unterstützer befanden) und der Landschaft des christlichen Afrika. Dabei standen nicht allein Fragen von Gnade und (Willens-)Freiheit zur Debatte, sondern auch die Frage nach dem Wesen und Wert frommer Spenden. In seiner eigenen intensiven Beschäftigung mit dem Thema Sünde betonte nämlich Augustinus überlieferte (und bis dahin kaum je 95
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
wirklich zu Ende gedachte) Vorstellungen von Sühne – in dieser Welt wie in der nächsten – durch Almosengeben.58 Doch wie war diese Verknüpfung von Almosengeben und Sünde überhaupt in die Welt gekommen? Warum war das Thema Almosengeben derart heikel und warum konnte es mit solcher Heftigkeit im Strudel von Augustins Sündenlehre mitgerissen werden? Und was sollten die Konsequenzen dieses neuen, gesteigerten Sündenverständnisses für das erwartete Schicksal der Seele im Jenseits sein? Das sind die Fragen, mit denen wir uns nun beschäftigen müssen.
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III. Almosen, Sühne und das Jenseits: Augustinus und Pelagius, 410–430 n. Chr. Kirche – Circus – Armensorge
I
n Kapitel 2 haben wir beleuchtet, wie Augustinus mit gewissen Anliegen umgegangen ist, die er sowohl mit den Christen von San Sebastiano aus dem 3. Jahrhundert als auch mit den ägyptischen Manichäern teilte: einem Wunsch nach »Zugang« zum Jenseits durch Träume und Visionen, einem Interesse an Fragen der Bestattungspraxis sowie einer Betonung von Gebet und Gedenken als den einzig sicheren Verbindungen zwischen Lebenden und Toten. Abschließend haben wir uns dem Porträt von Augustins Mutter Monica zugewandt, das ihr Sohn in das 9. Buch seiner Bekenntnisse aufgenommen hat. Wir besäßen dieses fein gezeichnete Bild einer frühen Christin nicht, hätte Augustinus nicht so fest an der traditionellen christlichen Gedenkkultur – und insbesondere am Gedenken bei der Eucharistiefeier – festgehalten. Das verband ihn mit Christen, die ansonsten ganz verschieden von ihm (und voneinander) waren, mit der fröhlichen Tischgesellschaft von San Sebastiano wie mit den nüchternen Manichäern aus der Oase Dachla. Mit dem Pelagianischen Streit, der ab 410 in Nordafrika und andernorts eskalierte, begeben wir uns in dunklere Gewässer. Aus Augustinus’ Sicht ging es in diesem Streit nicht allein um Gnade und Willensfreiheit, sondern um Sünde – aber nicht nur um die Frage, wie sehr der Mensch von der 97
III. Almosen, Sühne und das Jenseits: Augustinus und Pelagius, 410–430 n. Chr.
Sünde gezeichnet war, sondern darum, was man gegen diesen Stand der Dinge unternehmen könne. Es ging also nach Augustinus’ Auffassung um ein grundlegendes Element des christlichen Heilsstrebens: um ganz konkrete Möglichkeiten der »Entschuldung« von den kleinen Sünden des Alltags. Und eine der wichtigsten unter diesen Sühnemöglichkeiten war eben das Almosengeben an die Armen. Für Juden wie für Christen hatte das Almosengeben zur Vergebung der Sünden einen beständigen Umlauf des innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft vorhandenen Reichtums erfordert – zum Wohl und Vorteil der Armen. Augustinus argumentierte nun, dass die Auffassung des Pelagius von der möglichen Vervollkommnung – der Perfektibilität – des Menschen zu einer Leugnung von dessen grundsätzlicher Sühnebedürftigkeit führen müsse. Denn warum sollte man noch Almosen geben, um sich von der Sünde reinzuwaschen, wenn Christen doch gleich von vornherein ohne Sünde leben konnten? Ob Augustinus die pelagianische Position korrekt wiedergegeben hat, ist alles andere als sicher. Stattdessen hat er die Ansichten des Pelagius wohl mit Absicht so formuliert, dass es im Pelagianischen Streit nicht allein um die Sünde ging, sondern auch um den Einsatz finanzieller Mittel zur Sühnung der Sünde. Wie wir später in diesem Kapitel noch sehen werden, hatte Augustins Entscheidung, den Pelagianern auf diese Art entgegenzutreten, zwei unmittelbare Folgen: zunächst sein eigenes freimütiges Eingeständnis, dass die Kirche eine Kirche der non valde boni war – der »nicht besonders Guten« und damit gewissermaßen von »Schattenmenschen«, die von der Sünde um ihre Vollkommenheit gebracht waren. In dem großen Venn-Diagramm zur Verteilung der christlichen Seelen, das Augustinus mit seiner Antwort an Laurentius im Enchiridion entwarf, nahmen die gewöhnlichen Christen – als Sünder – jene beständig wachsende Mittelzone ein, die sich zwischen den Heiligen und den Verdammten auftat. Der Sieg Augustins über Pelagius war letztlich ihr Sieg. Zweitens jedoch werden wir ganz am Ende dieses Kapitels sehen, dass dieser Sieg für Augustinus und für all jene, die den alten Mann um Rat und Zuspruch baten, genauso viele Probleme schuf wie löste. Wie konnte eine Seele, die Tag für Tag mit kleinen, beinahe unmerklichen, aber eben stetig sich vermehrenden Sünden beladen wurde, vor dem 98
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Tod überhaupt jemals geläutert werden? Oder würde die Seele nach dem Tod irgendeine Form von Läuterung – purgatio – über sich ergehen lassen müssen, bevor sie in den Himmel gelangen konnte? Diese Probleme (und insbesondere die Frage nach einer Läuterung im Jenseits) waren das größtenteils unerwartete Resultat einer Kontroverse, die in den Jahren nach 410 als Debatte über Sünde, Sühne und Reichtum begonnen hatte. Doch warum sollte eine starke Gewichtung des Almosengebens im Afrika des Augustinus überhaupt ein solch strittiger Punkt sein? Um das zu verstehen, müssen wir noch ein Jahrzehnt zurücktreten und uns für einen Moment vor Augen führen, was Schenken (und Geben überhaupt) in einer säkularen Gesellschaft bedeutet. Das römische Nordafrika war eine der letzten Provinzen des westlichen Reiches, die sich einen hohen Standard des öffentlichen Lebens hatten bewahren können. Das galt insbesondere von der Gegend, mit der Augustinus selbst am besten vertraut war: Karthago und die Städte entlang des Flusses Medjerda, durch die er regelmäßig reiste, wenn er von Hippo aus zu den beinahe jährlich stattfindenden Konzilien der afrikanischen Kirche nach Karthago aufbrach. Das ganze 4. Jahrhundert hindurch wurden in Karthago und an anderen Orten Nordafrikas Gebäude saniert, Theater instandgesetzt und Cirkusspiele abgehalten.1 Hinter diesem letzten Nachsommer der afrikanischen Städte stand die aus der Antike überkommene Weltanschauung jener, die weiterhin als Geldgeber des öffentlichen Lebens in Erscheinung getreten waren. Die von ihnen vertretene Geisteshaltung hat man in der modernen Forschung als »Euergetismus« bezeichnet, also als ein Herrschaftssystem, das auf Wohltätigkeit beruht. Der Euergetismus umfasste eine potente Mischung von Vorstellungen und Praktiken, die das Denken und Handeln der antik-mediterranen Oberschicht über mehr als ein Jahrtausend hinweg bestimmt hatten. Erst in der Spätantike begann ihre Verbindlichkeit nachzulassen. Normativer Geltungsbereich der euergetischen Ideologie war das Spendenverhalten der reichen Oberschicht, die ihr Geld im Grunde nach freier Entscheidung ausgeben konnte – und auch reich genug war, es für eine große Anzahl verschiedener Zwecke auszugeben. Was den öffentlichen Einsatz von Reichtümern anging, war den Angehörigen der Oberschicht der Euergetismus – und fast nur dieser – gleichsam einprogrammiert. 99
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Gegen Ende der 1970er-Jahre haben Paul Veyne und Evelyne Patlagean in zwei brillanten Büchern darauf hingewiesen, wie hartnäckig sich der Euergetismus, dessen Profil sie klar und deutlich herausarbeiteten, in der Spätantike gehalten hat.2 Was Veyne und Patlagean in ihren Studien auch zeigten, war, dass der Gedanke vom Euergetismus stets einen strikt bürgerschaftlichen (fast ist man versucht zu sagen: stadtbürgerlich-politischen) Gesellschaftsbegriff voraussetzte. Von den Reichen erwartete man, dass sie in ihre Heimatstadt investierten, dass sie Geld ausgaben für das Wohlergehen und die Kurzweil ihrer Mitbürger in dieser Stadt – und auch nur für diese. Im Allgemeinen tendierte dieses Modell dazu, die ökonomische Gliederung der Gesellschaft nicht weiter zu beachten. Armut an sich begründete noch keinen Anspruch auf besondere Wohltaten. Diejenigen, die von der Großzügigkeit der Reichen profitierten, erhielten diese Leistungen nicht, weil sie arm, sondern, weil sie Bürger waren. Wenn also nun christliche Bischöfe wie Augustinus in ihren Predigten für das Almosengeben an die Armen eintraten, so taten sie damit weit mehr, als bloß die Reichen zu gelegentlichen Akten der Mildtätigkeit und des Mitgefühls aufzurufen: Vielmehr untergruben sie das gesamte traditionelle Gesellschaftsmodell, das deren Spendenverhalten bis dahin gelenkt hatte. Städtische Würdenträger wurden dazu aufgefordert, die Vorstellung von einem rein bürgerschaftlich gefassten Anrecht auf Unterstützung fallen zu lassen. Stattdessen sollten sie den Blick über ihre Mitbürger hinaus weiten und ihre Spenden lieber der großen, grauen Masse der Armen zukommen lassen, sowohl innerhalb ihrer Stadt als auch in der näheren Umgebung. Insgesamt bedeutete, die Botschaft der christlichen Predigten anzunehmen, also, für sein eigenes Gesellschaftsbild eine radikale Verschiebung zu akzeptieren. Mit Blick auf die soziale Vorstellungskraft bedeutete das nicht weniger als den Schritt von einem geschlossenen in ein offenes Universum. Zu Beginn der Antike hatten wir es noch mit einer politischen Landschaft zu tun, in der viele kleine Städte wie Bienenstöcke in der Landschaft verteilt waren. Die reichen Bürger dieser Städte waren einzig und allein darauf bedacht, ihre Mitbürger zu versorgen, ganz egal, ob diese nun arm waren oder nicht. Am Ende der (nunmehr christlichen) Antike sehen wir ein offenes Universum vor uns, in dem 100
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die Gesellschaft als Ganze – in den Städten wie auf dem Land – von einer einzigen tristen Unterscheidung regiert schien, die beinah naturgesetzliche Geltung beanspruchte: die Unterscheidung zwischen Arm und Reich. Es war die Pflicht eines christlichen Predigers, die Reichen vom finanziellen Eintreten für ihre geliebte, wohlbekannte Heimatstadt abzubringen, damit sie ihren Reichtum stattdessen – und auf fast schon leichtsinnig zu nennende Art – an die gesichtslose Masse der Armen verlieren konnten. Allein diese vollkommen weltfremde Geste war es – eine Geste, bei der die Ansprüche der Heimatstadt oder der eigenen Mitbürger keinerlei Rolle mehr spielten –, die den Reichen einen »Schatz im Himmel« einbringen sollte. Das war nun, vorsichtig gesagt, eine Auffassung, von der man die Tausenden von wohlhabenden Bürgern in den Kleinstädten des Römischen Reiches erst einmal überzeugen musste. Wir können die enorme Masse an christlichen Predigten, mit denen im ganzen Reich zum Almosengeben an die Armen aufgerufen wurde, überhaupt nicht verstehen, wenn wir nicht zugleich bedenken, dass wir es mit einer Kirche und mit einer Gesellschaft zu tun haben, deren jahrhundertealte Vorstellungshorizonte – was war möglich, was war angemessen, was war notwendig? – mit relativer Plötzlichkeit aufgesprengt worden waren.3 Diese Horizonterweiterung betraf die Kirche ganz genauso, wie sie die Eliten des Römischen Reiches betraf. Die Bekehrung Konstantins des Großen machte die christliche Kirche zu einer privilegierten Institution. Aber die Gegenleistung für diese Privilegierung hatte darin bestanden, dass die Kirchen ihre Tore zur Versorgung der Massen öffneten. Die Christen beschränkten ihre Aktivitäten nicht mehr auf die eigentlich ziemlich bequeme Unterstützung ärmerer Mitchristen, sondern die neue Verpflichtung, auf die Armen überhaupt zuzugehen, erlegte den Bischöfen und Priestern eine völlig neuartige und große Last auf, eine Last, auf die viele Kirchen nur unzureichend vorbereitet waren.4 Die Laieneliten wiederum mussten davon überzeugt werden, den vertrautesten und am tiefsten verwurzelten Teil ihres bürgerschaftlichen Verhaltenskodex aufzugeben oder doch zumindest abzuschwächen: die Bürgerpflicht des Euergetismus, die für sie eine genauso große Ehrensache war wie die ritterlichen Tugenden von triuwe und êre für den Adel 101
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des Mittelalters. So, wie sie es empfanden, sollten sie gezwungen werden, zumindest einen Teil ihres Reichtums in eine ganz andere Richtung fließen zu lassen, als sie es bisher gewohnt gewesen waren, und zwar in Richtung der gesichtslosen und wenig glanzvollen Armen. Anders, als es in den gängigen Darstellungen vom Niedergang des Römischen Reiches oft behauptet wird, gibt es kaum Anzeichen dafür, dass das Reich im Verlauf des 4. Jahrhunderts eine regelrechte Armutskrise durchgemacht hat.5 Und leider gibt es auch keine Hinweise darauf, dass die Christen der Zeit plötzlich von einer Welle der spontanen Hilfsbereitschaft für die Armen erfasst worden wären. Womit wir es stattdessen zu tun haben, ist eine wesentlich angespanntere und damit auch interessantere Situation: Eine ganze Gesellschaft rang plötzlich mit ihrem Selbstbild. Als Folge wurde die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich – und zugleich der nachdrückliche Hinweis auf die Pflichten der Reichen den Armen gegenüber – ideologisch aufgeladen, wie sie es noch nie zuvor in der antiken Welt gewesen war. Das war also die Situation, die Augustinus in Nordafrika vorfand, als er im Jahr 395 Bischof von Hippo wurde. Die Aufgabe, zum Verhältnis von Arm und Reich zu predigen, nahm er sehr ernst. Unter seinen Zuhörern waren wohl meist eher wenige Arme, aber seine Predigten konnten bei denen, die sie hörten, keinen Zweifel darüber hinterlassen, was ihre Pflichten den Armen gegenüber waren. Erst vor wenigen Jahren ist dieses Bild von Augustins Einsatz für die tätige Nächstenliebe in der Armensorge bestätigt worden, und zwar durch mehrere Predigten aus seiner Feder, die in der Erfurter Dombibliothek entdeckt und von Isabella Schiller, Dorothea Weber und Clemens Weidmann in den Wiener Studien auf geradezu vorbildliche Weise ediert und kommentiert wurden.6 Diese Texte belegen, dass Augustinus eine ganze Predigtkampagne über das Almosengeben geplant hatte. Die Predigttexte, die in der Erfurter Handschrift überliefert sind, besitzen für uns insofern einen besonderen Wert, als sie keineswegs rhetorische Kabinettstückchen sind, wie sie Augustinus in den Jahren nach 400 nur zu gern in Karthago hielt. Stattdessen handelt es sich wohl um Modellpredigten, geschrieben für den Klerus seiner eigenen Diözese, der die Texte regelmäßig selbst vortragen sollte. In diesen Texten wollte Augustinus die Priester jedoch nicht dazu bringen, allein an 102
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das christliche Mitgefühl ihres Publikums zu appellieren, ganz im Gegenteil: Er ermutigte sie, der Gegenseite direkt an die Kehle zu gehen und das rivalisierende »Gabensystem« – den Euergetismus – gnadenlos anzugreifen. Dieser Euergetismus war es, der entzaubert und schließlich abgelöst werden musste – zusammen mit dem Gesellschaftsmodell, für das er stand. Wie Augustinus durchblicken ließ, gab es in seinen Augen nur eine einzige Möglichkeit, wenn die Reichen jemals wieder Notiz von den Armen nehmen sollten: Die Kirche musste sich auf einen weltanschaulichen Kollisionskurs mit dem Circus begeben. Aus diesem Grund sollten die Geistlichen direkt gegen die Cirkusspiele predigen. Solche Spiele waren die spektakulärsten – und verständlicherweise auch die populärsten – Beweise, die ein Angehöriger der städtischen Oberschicht für seine Liebe zu den Bürgern seiner Heimatstadt erbringen konnte. Aber der Circus bot nicht nur einen Anlass für Ausschweifungen und Krawall, sondern er hatte einen ernsten Zweck: Er versicherte der Bürgerschaft – dem populus – der jeweiligen Stadt, dass die Reichen ihn immer noch liebten, und zwar nur ihn! Wenn Circus war, wenigstens dann, war das Volk König.7 Augustinus erwartete von den Mitgliedern seines Klerus, dass sie reiche Gemeindemitglieder zur Rede stellten, die solche Spiele unterstützten, als ihre Schirmherren auftraten oder Wagenrennen und Raubtiernummern finanzierten. Solche Leute müsse man »verurteilen, zurechtweisen und bessern«. Der einzige Nutzen solch perverser Zurschaustellungen von Großzügigkeit sei es, die Christen dazu anzustacheln, mit gleichem Enthusiasmus für die Armen zu spenden: »Die faulen Mitglieder unserer Kirche müssen zum Handeln aufgefordert werden, die ja keinen einzigen Laib Brot brechen, um [in den Armen] den hungernden Christus zu verpflegen, während jene, die Unsummen für das Theater ausgeben [mit ihrem Geld derart verschwenderisch umgehen, dass sie] kaum einen Brotlaib ihren Söhnen hinterlassen.«8 Schon lange hatte Augustinus in diesem Ton gegen den Circus und für das Almosengeben gepredigt. Gegen Ende des Jahres 403 beispielsweise hatte er einen Besuch in Karthago mit einer Predigtreihe so kombiniert, dass sie mit einem Großereignis im gesellschaftlichen Leben der Stadt zusammenfiel: der Versammlung der Priester des heidnisch-kaiserlichen Staatskultes, die zu einer ausladenden Demonstra103
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tion ihrer untertänigen Loyalität zum Kaiser gleichfalls in Karthago zusammenkamen. Dieser Anlass sollte gefeiert werden, wie er traditionell immer gefeiert worden war: mit öffentlichen Banketten, Wagenrennen und dem Kampf menschlicher »Jäger« (venatores, dem Äquivalent heutiger Matadore) gegen wilde, gefährliche Tiere (wendige Leoparden oder grimmige, tapsende Bären).9 Augustins Predigten aus dieser Zeit bedeuteten eine direkte Herausforderung an jene Ideologie, durch die die Armen für die heidnischen (und sogar für die christlichen) Reichen unsichtbar geworden waren: »Durch all das wahnsinnig geworden und vom Stolz aufgebläht [...] wollen sie sogar noch ihr Vermögen verlieren, indem sie geben – sie geben ›Schauspielerinnen‹ und Gauklern, sie geben Großwildjägern und Wagenlenkern. Sie vergeuden nicht nur ihr ererbtes Vermögen, sondern sogar ihre Seelen. Und doch schrecken sie mit Abscheu vor den Armen zurück, weil das Volk [populus – gemeint sind die Bürger, die sich an den Rennbahnen und im Circus eingefunden haben] nicht danach schreit, man möge den Armen gegenüber großzügig sein. Sondern es schreit das Volk danach, der venator [Matador] möge seinen Preis bekommen.«10
Augustinus als Almosenprediger Man darf allerdings nicht vergessen, dass viele der Predigten, die Augustinus gegen den Circus gerichtet hat, gewissermaßen »Vorzeigepredigten« waren, die in Karthago zu besonderen Anlässen gehalten wurden. Auch reichte es nicht aus, das christliche Almosengeben auf diese Weise von seinem mächtigen Rivalen, dem Euergetismus, abzugrenzen: Das Almosengeben musste vielmehr zu einer alltäglichen Gewohnheit werden. Es ist faszinierend, zu sehen, wie Augustinus diese Aufgabe anging. Und derselben Aufgabe sahen sich auch die anderen Bischöfe der christlichen Welt gegenüber. Um Jaclyn Maxwell zu zitieren, die sich auf die Predigten des Johannes Chrysostomos in Antiochia bezieht: Die Zeit war reif, dass die Gemeinde »Gewohnheiten annahm [...], das christliche Ethos musste [eine Art von] Alltagsdenken werden«.11 104
Augustinus als Almosenprediger
Wir können Augustins Vorgehensweise an der Wahl seiner Metaphern ablesen. Um der Vorstellung eines Almosenschatztransfers von der Erde in den Himmel einen Reiz zu verleihen, den sie in den Köpfen vieler wohl nicht besaß, appellierte er an jenes Risikobewusstsein, das für die wohlhabenden Grundbesitzer, Handwerker und Kaufleute von Küstenstädten wie Karthago und Hippo zumindest einen Teil des Nervenkitzels im Umgang mit ihrem Geld ausmachte. »Gott wünscht, dass ihr investiert, was ihr habt [indem ihr es in den Himmel schickt], nicht, dass ihr es wegwerft«, heißt es in seinen Predigten immer wieder.12 Augustinus predigte vor Menschen, die jene angespannte »Auszeit« gewohnt waren, die das trügerische Meer Jahr für Jahr zwischen ihren Naturalreichtum – an Getreide, Olivenöl oder Töpferwaren – und dessen profitablem, aber keineswegs sicherem Verkauf auf der anderen Seite des Mittelmeeres, in Italien oder anderswo, setzte.13 Sein Publikum kannte sich mit den komplexen Kreditkonstruktionen aus, die das Risiko der Seefahrt auffangen sollten. Den Armen zu spenden, erklärte Augustinus seinen Zuhörern, war im Grunde auch nichts anderes: Sie schickten ihren Reichtum in ein fernes Land. Das Almosengeben sollten sie sich als eine Art traiecticium vorstellen, einen Barkauf im Voraus, der an einem anderen Ort zu einem riesigen Gewinn führen konnte: »Gott unser Herr wünscht, dass wir so etwas wie Kaufleute werden. Er schlägt uns eine Art Fernhandel vor, so wie zum Beispiel ein Kaufmann zu seinem Freund sagt: ›Nimm hier Gold von mir und gib mir Öl in Afrika.‹ Er reist, ohne zu reisen, und hat bereits bekommen, was er begehrt.«14 Solche Bilder waren mehr als nur ein geistreiches Spiel. Sie waren Teil einer Bewusstseinsformung, wie sie die antike Philosophie immer empfohlen hatte. Die Philosophen hatten ihre Anhänger ermuntert, die Realität einmal mit anderen Augen zu betrachten. Zu diesem Zweck sollten sie sich selbst Geschichten über das Wesen der Dinge erzählen – über das Leben, den Tod, Ehre, Reichtum und Armut –, die von den üblichen Geschichten abwichen. Diese alternativen, gegenkulturellen Geschichten sollten den »normalen« Alltagsverstand unterlaufen, indem sie die konventionellen Werte auf den Kopf stellten.15 Augustinus ging ganz ähnlich vor, nur dass es in seinen neuartigen Geschichten um die paradoxe Verknüpfung von Reichtum, Himmelreich und Armensorge ging. Diese Geschichten fingen eine Stimmung ein – die Stimmung 105
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des römischen Afrika in dessen letzten Tagen als prachtvolles Wirtschaftszentrum des westlichen Mittelmeerraums. Augustinus ermutigte seine Zuhörer, in unverblümt kommerziellen Begriffen zu denken. Das Anlegen eines »Schatzes im Himmel« sollten sie als eine Art Kauf auf Vorkasse betrachten. Die Armen waren in diesem Bild wie Hafenarbeiter, die das kostbare Gut an Bord brachten, bevor es in einen fernen Hafen verschifft wurde.16 Eine Gabe an die Kirche, so Augustinus, war wie jener Teil des Familienerbes, der eigentlich an einen verstorbenen Sohn gegangen wäre. Wenn Augustinus eine Gemeinde einlud, das Almosengeben auf diese Weise neu zu betrachten, gehörte dazu auch eine Reihe von »kleinen und leicht verständlichen« Gedankenexperimenten, auf die sein Publikum mit stürmischem Beifall reagierte.17 Aber vor allem musste Augustinus das Almosengeben als einen regelmäßigen und verlässlichen Akt darstellen. Seine Zuhörerinnen und Zuhörer sollten es sich wie ein machinamentum vorstellen, eine Vorrichtung zur Wasserförderung, die in Afrika jedes Kind kannte. Es handelte sich dabei um ein großes Rad, durch dessen Drehung eine Kette von Eimern in Bewegung gehalten wurde, vergleichbar etwa dem spanischen Wasserschöpfrad noria oder dem ägyptischen schaduf. Die beständige horizontale Bewegung des Rades (das von einem Tier oder einem Menschen angetrieben wurde) wandelte man mittels eines komplexen Getriebes in jene vertikale Bewegung um, bei der die Eimerkette emporgezogen und Wasser aus einem tiefer gelegenen Fluss oder Kanal auf die höher gelegenen Felder befördert wurde.18 Indem sie unermüdlich daran arbeiteten, Wasser dahin zu bringen, wo es kein Wasser gab, waren Almosen die machinamenta occulta – die »verborgenen Maschinen« –, durch die Reichtum in den Himmel gehievt wurde.19
Die Pelagianer und der Reichtum Das also ist die Situation, in der wir Augustinus im Jahr 410 wiederfinden, als Pelagius und viele seiner Mäzene aus der römischen Oberschicht auf der Flucht vor den plündernden Goten von Rom nach Karthago kamen. Ihre Ankunft brachte nicht nur Vorstellungen von Sünde und Willensfreiheit mit sich, die in Augustins Augen gefährliche 106
Die Pelagianer und der Reichtum
Neuerungen darstellten, sondern drohte zudem, die halbwegs etablierten Strukturen des religiösen Almosengebens in Nordafrika zu erschüttern. Warum das so war, haben wir gerade gesehen: Schon seit mehr als einem Jahrzehnt hatte Augustinus darum gekämpft, unter den nordafrikanischen Eliten – aber auch unter den weniger Wohlhabenden – das regelmäßige Almosengeben zu einer selbstverständlichen Angewohnheit zu machen, was für viele der so Angesprochenen eine ganz neuartige Erfahrung war. Wie Augustinus seinem Klerus in den Erfurter Predigten darlegte (und auch in seiner sonstigen Predigttätigkeit beständig wiederholte), umfasste der Begriff des Almosengebens drei Arten von frommen Werken: die Armenpflege, die materielle Unterstützung des Klerus sowie den Bau und Unterhalt von Kirchen.20 Keines dieser Anliegen – außer vielleicht der Kirchenbau – erforderte spektakuläre Ausgaben. Die Baukosten für eine Kirche konnten bis zu 2500 solidi betragen; der solidus war (wie der Name schon sagt) eine solide Goldmünze. Zum Vergleich: Die Kosten für das Ausrichten von ludi publici – »öffentlichen Spielen« – in Rom (wenn auch vermutlich nicht in Afrika) konnten bis zu 144 000 solidi betragen.21 Im Gegensatz zu solchen großen Gesten aber ging es Augustinus um einen kontinuierlichen Zufluss kleinerer Spenden, der den Armen und der Kirche zugutekommen sollte. Um dies zu erreichen, sollten alle Gemeindemitglieder – sowohl die Reichen als auch die weniger Reichen – im richtigen christlichen Umgang mit ihrem Vermögen geschult werden. Und die aus dieser Schulung erwachsenden Verhaltensmuster sollten Angewohnheiten sowohl des Herzens als auch der Hände sein. Im Vergleich damit brachten die Flüchtlinge aus Rom eine ganz andere Welt mit nach Karthago – die Welt der stadtrömischen christlichen Oberschicht, in der man den Reichtum an sich zum Problem erklärt hatte. Pelagius hatte sich an ein Publikum von Männern und Frauen gewandt, deren brennendes Problem es war, dass sie – salopp gesagt – zu viel Geld hatten. Pelagius stand nicht nur Paulinus von Nola nahe, sondern auch der Senatorenerbin Melania (der Jüngeren) und ihrem Mann Pinianus.22 Gerade einmal fünf Jahre zuvor, im Jahr 405, hatte dieses junge Ehepaar die römische High Society schockiert, indem es seinen gesamten Besitz verkaufte, aus dem es zuvor ein Jahres107
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einkommen von rund 120 000 solidi bezogen hatte. Eines Nachts war ihnen ein tröstlicher Traum erschienen: »Überaus aufgewühlt gingen wir zu Bett und sahen uns selbst, beide, wie wir durch einen winzig schmalen Spalt in der Wand entschlüpften. Uns erfasste Panik angesichts des beengten Raumes, so dass wir schon glaubten, wir müssten sterben. Doch als wir den Schmerz und die Angst jenes Ortes hinter uns gelassen hatten, da überkamen uns eine große Erleichterung und eine unaussprechliche Freude.«23 Das waren nun also zwei junge Menschen, die – wie in einem Albtraum – den Schmerz des »Durch-ein-Nadelöhr-Gehens« durchlitten hatten, um in das »Reich Gottes« zu gelangen.24 Dennoch kamen sie, die vor den Goten nach Afrika geflüchtet waren, nicht als arme Leute. Vielmehr entwickelten sie sich (wie Paulinus ein Jahrzehnt zuvor in Nola) zu Mäzenen großen Stils, die Kirchen stifteten und große Klöster gründeten.25 Die örtlichen Bischöfe waren darüber jedoch keineswegs erfreut, sondern zeigten sich im Gegenteil beunruhigt. Tatsächlich wandten sich Augustinus und seine Kollegen mit der Bitte an Melania, sie möge doch, sinngemäß, einen Gang zurückschalten: »Das Geld, das ihr jetzt den Klöstern spendet, [sagten sie ihr,] ist bald aufgezehrt; wollt ihr euch aber ein unauslöschliches Andenken sichern im Himmel und auf Erden, so kaufet jedem Kloster ein Haus und wendet ihm Einkünfte zu!«26 Man kann die Befürchtungen der Bischöfe nur zu gut verstehen. In seinem Drang danach, allen irdischen Reichtum loszuwerden, belastete das fromme Paar die Kirche mit Stiftungen, für die kein ausreichendes Stiftungskapital vorhanden war. Und das ist bis zum heutigen Tag der Albtraum vieler wohltätiger oder gelehrter Stiftungen. Zur selben Zeit hatten radikale pelagianische Schriften wie etwa die mit unerbittlicher Stringenz argumentierende Diatribe de divitiis (»Streitschrift über den Reichtum«) dazu aufgerufen, die Reichen sollten ihren gesamten Besitz aufgeben.27 Der Verfasser der Diatribe erweiterte sein Plädoyer für den totalen Verzicht noch, sodass es schließlich zu einer – letztlich nur folgerichtigen – Anklage gegen das Vorkommen von Reichtum überhaupt kam: Tolle divitem et pauperem non invenies – »Beiseitige den Reichen und du wirst keinen Armen mehr finden!« – das war einer seiner vielen provokanten Slogans.28 Insgesamt ließ die Schrift keinen Zweifel daran: Der einzige Weg, auf dem reiche 108
Almosengeben und Sühne in Judentum und Christentum
Christen in den Himmel gelangen konnten, war der Weg der Entsagung und des Verzichts auf ihren gesamten Reichtum – Pinianus und Melania hatten es vorgemacht. Im Jahr 414 erreichte Augustinus aus Sizilien eine Art Resümee der in der Diatribe vertretenen Ideen: »Ein Reicher, der seinen Reichtum behält, wird nicht in das Reich Gottes eingehen, ehe er nicht alles verkauft, was er hat. Und der Reichtum wird ihm auch nichts nutzen, [um zum Heil zu gelangen,] selbst wenn er ihn einsetzt, um die Gebote zu erfüllen [d. h., indem er Almosen gibt].«29 Augustinus verstand sofort, welch große Gefahr ein solcher Radikalismus für das traditionelle religiöse Almosenwesen darstellte. Hier ging es nun nicht mehr darum, den Reichen ihre Existenzberechtigung abzusprechen, sondern »nur noch« um den Zugang zum Heil. Solange sie nicht alles verschenkten, würde ihnen selbst regelmäßiges Almosengeben nichts nutzen.
Almosengeben und Sühne in Judentum und Christentum Gerade, weil sie so radikal daherkamen, war Augustinus fest entschlossen, gegen die pelagianischen Ideen über Reichtum und Armut Stellung zu beziehen. Schließlich war das Almosengeben mehr als nur ein Mittel, die Armen zu unterstützen und die Finanzkraft der Kirche sichtbar werden zu lassen – gerade in deren Konkurrenz mit den städtischen Eliten und deren euergetischen Idealen –, denn wie wir ja bereits gesehen haben, kam dem Almosengeben auch eine übernatürliche Dimension zu. Augustinus betonte diese übernatürliche Dimension nun immer und immer stärker. Das Almosengeben sei als Frömmigkeitspraxis verpflichtend, darauf bestand er, weil es eine entsühnende Funktion hatte: Almosen sühnten Sünden. Das Gebot, das der Prophet Daniel an den König Nebukadnezar gerichtet hatte, war ein Gebot, das jeder Christ zu befolgen hatte, so, wie es seither auch jeder Jude zu befolgen gehabt hatte: »[...] mache dich los und ledig von deinen Sünden durch Gerechtigkeit und von deiner Missetat durch Wohltat an den Armen, so wird es dir lange wohlergehen.«30 Wie schon das großartige Bild Jesu vom Transfer eines Schatzes in den Himmel war die Idee einer Süh109
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nung der Sünden durch das Almosengeben darauf angelegt, die Durchschnittsgläubigen aufzurütteln. In den Worten der späteren Rabbinen: »Kommt und seht, wie barmherzig Gott sich Fleisch und Blut gegenüber erweist. Denn ein Mann kann sich von dem himmlischen Richtspruch loskaufen, indem er Geld zahlt, wie gesagt ist: O König [...] mache dich los von deiner Missetat durch Wohltat an den Armen!«31 Dieses Zitat aus dem Buch Daniel fand unter christlichen Autoren und Predigern der Zeit weite Verbreitung. Um seine vollen Implikationen begreifen zu können, müssen wir – für einen kleinen Moment – ein ganzes Jahrtausend in der Geschichte zurückgehen, bis in die Zeit des persischen Achämenidenreiches und der hellenistischen Königreiche, die es beerbten. Dies war die Kulisse, vor der die Geschichte von Daniel spielte (als eine Art dramatischer Historienroman, der etliche Jahrhunderte nach den Geschehnissen niedergeschrieben wurde). In den Jahrhunderten nach dem Ende des Achämenidenreiches (etwa im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr.) waren Almosen und Sühne zwei zentrale Themen in den Schriften jüdischer Autoren. Betrachten wir diese Schriften genauer, so stellen wir fest, dass wir zwischenzeitlich eine der bedeutsamsten Vorstellungsgrenzen in der Geschichte des antiken Judentums überschritten haben: Von der Sünde spricht man auf einmal in der Sprache des Geldes. Sünde war nicht länger eine Last, die allein durch die strengen Opferrituale einer archaischen, agrarischen Gesellschaft aufgehoben werden konnte. Sünde war Schuld; Sünden waren Schulden.32 In der Folge dieses Vorstellungswandels nahm die Sünde selbst eine quecksilbrige, kaum festzulegende Qualität an. Sie konnte – wie Geld auch – berechnet und bewertet werden: Kleine Sünden und Lässlichkeiten konnten als solche benannt und prompt »behandelt« werden, ohne dass dazu ein gemeinschaftlicher Sühneakt großen Stils, mit Blutvergießen und schwerem Opferrauch, nötig gewesen wäre. Aber vor allem war die Sünde nun reversibel. Auch Jesus Sirach, der Verfasser des apokryphen Buches Ecclesiasticus, beharrte darauf: Wie man mit Wasser ein Feuer löschen konnte, so löschten Almosen die Sünde aus, und zwar mit derselben Gewissheit und Schnelligkeit – quasi als ein Naturvorgang.33 Auch das Gottesbild veränderte sich. Gott wurde gewissermaßen zum »Schuldenmanager« des einzelnen Gläubigen bestellt. Er allein 110
Almosengeben und Sühne in Judentum und Christentum
legte die Konditionen fest, zu denen die Sündenschuld beglichen werden konnte – ja, besser noch: Er konnte die Schuld erlassen, in einem herrlichen Augenblick der Vergebung die Rückstände eines ganzen Lebens ausstreichen. Gute Taten konnte er im Gegenzug vergelten – wie jeder gute Geschäftspartner, der ein Darlehen erhalten hatte. Allerdings tat er dies alles zu einem Zinssatz, der weit über dem des irdischen Geschäftsverkehrs lag. Die Auffassung »Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn, und der wird ihm vergelten, was er Gutes getan hat« bedeutete die Gewissheit einer Rückzahlung, deren Großzügigkeit alle Regeln einer Nullsummenökonomie brach.34 Wir sprechen oft missbilligend von der »Buchhaltermentalität«, die sich in solchen Metaphern und den damit verbundenen Vorstellungen von Sünde und Sühne zu äußern scheint.35 Die Zeitgenossen sahen die Dinge jedoch ganz anders. In ihren Augen eröffneten Vorstellungsmuster, die Sünden in einem durchaus handfesten, quasimonetären Sinne als Schulden auffassten, frommen Juden und Christen eine Möglichkeit, über Gottes grenzenlose Güte zu sprechen. Es war Satan, der in diesem Bild den geizigen Buchhalter abgab. Tatsächlich hatte der Teufel in spätantiken Jenseitsvisionen nicht selten ein großes, unheildrohendes Kassenbuch bei sich.36 In die Vorstellung von Gottes Verhältnis zur menschlichen Sünde brachten die kommerziellen Metaphern demgegenüber einen Hauch von Flexibilität. Sie vermittelten ein Gefühl von unbeschränkter Möglichkeit. Im Ergebnis wurde, was auf den ersten Blick aus moderner Sicht wie eine krasse Kommerzialisierung der religiösen Vorstellungskraft erscheinen mag, zu einer der großen »Lebensmetaphern« des jüdischen wie des christlichen Weltbildes. Sie brachte in die Gottesbeziehung einen neuen Sinn fürs Unendliche – unendliche Belohnung, unendliches Veränderungspotenzial, unendliche Möglichkeiten der Rechnungsbegleichung –, der auch in den kommenden Jahrhunderten noch jene atemberaubende Expansion des Möglichkeitshorizontes nachvollziehen sollte, die seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. die Expansion der ersten Geldwirtschaften begleitet hatte. Das also war die von Augustinus vertretene Auffassung vom Verhältnis zwischen Sünde und Almosengeben. Er vertrat sie zu einer Zeit, in der »das langsame, aber sichere Vordringen der Metapher von Sünde als Geldschuld in jeden gedanklichen Winkel der griechisch-lateini111
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schen Christenheit« schon mehrere hundert Jahre lang vorangeschritten war.37
Augustinus und die Sünden des Alltags Schauen wir einmal, wie Augustinus diese bunt zusammengesetzte Sündenlehre gegen die Herausforderung durch den Pelagianismus in Stellung brachte. Für eine kurze Zeit vollbrachte er das beachtliche Kunststück einer gedanklichen »Aufpfropfung«: Fest etablierte Frömmigkeitspraktiken wurden, wie man auch sagen könnte, vor den Karren eines gänzlich neuen Gedankens gespannt. Augustinus übertrug seine eigene, ganz persönliche Vorstellung von Sünde auf die allgemein akzeptierte Vorstellung von der entsühnenden Kraft des Almosengebens und vergleichbarer guter Werke. Der augustinische Sündenbegriff ist schnell umrissen. Augustinus war schon seit Langem überzeugt, dass das Leben eines Christen ein Leben in ständiger Buße sei.38 Ein frommer Christ war wie ein Igel und von Kopf bis Fuß mit den kleinen, aber nadelspitzen Stacheln tagtäglicher, kaum je zur Kenntnis genommener Sünden übersät: mit peccata minutissima – »winzig kleinen Sünden«.39 Um diese winzigen Sünden zu tilgen, sollten die Christen jeden Tag beten: dimitte debita nostra, »[...] und vergib uns unsere Schuld.«40 Es ist bezeichnend, dass in der lateinischen Fassung des Vaterunsers diese »Schuld« zumeist pluralisch als »debita« bezeichnet wurde – als »Schulden«. Die Schuld der Sünde bestand in Schulden, die getilgt werden konnten. Nach 412 sollte Augustinus die Auffassung vertreten, dass jene Worte des Vaterunsers – »vergib uns unsere Schuld« – die einzig nötige Antwort auf die pelagianische Lehre von der Willensfreiheit lieferten. Pelagius hatte erklärt, der Mensch sei zur Vollkommenheit befreit. Augustinus konterte diese perfektionistische Botschaft mit dem Argument, dass das Vaterunsers selbst – das wichtigste Gebet der Christenheit – es ausschließe, in diesem Leben vollkommen zu werden. Niemand konnte schließlich von sich behaupten, vollkommen zu sein, denn das hieße ja: ohne Sünde zu leben. Und noch viel weniger konnte man behaupten, man habe eine solche Perfektion allein durch Willens112
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anstrengung erreicht. Tag für Tag erinnerte das Vaterunser daran, dass der oder die Betende der Sünde verfallen war. Tag für Tag war es ein Hilferuf nach der göttlichen Vergebung. Wer dieses leugnete, der legte die Axt an die Wurzel des augustinischen Glaubens.41 Bis in die 420er-Jahre hinein war Augustins Vorstellung von der Zukunft des Christentums die denkbar schlichteste: Immer weitere Kirchen würden gebaut werden, erfüllt vom Donnerhall schuldbewussten Sich-andie-Brust-Schlagens und der Rezitation des Vaterunsers durch die reumütigen Gemeinden.42 Allerdings ergab sich aus dem augustinischen Beharren auf täglicher Buße für tägliche Sünden auch eine ganz konkrete finanzielle Konsequenz. Wie auch die anderen christlichen Prediger seiner Generation hat Augustinus nie infrage gestellt, dass ein Gebet um Vergebung der Sünden durch Almosengeben ergänzt werden sollte. Das Almosengeben stellte die »Flügel« bereit, mit denen das Dimitte nobis des Vaterunsers zum Himmel aufstieg. Ohne solche Flügel blieb das Gebet fruchtlos am Boden.43 Das bedeutete faktisch, dass allein ein beständiges Almosengeben das Gegengewicht zu den beständigen Sünden des Alltags herstellen konnte. Durch den Perfektionismus der Pelagianer herausgefordert, erweiterte Augustinus die traditionelle Vorstellung vom Almosengeben als einer Art »Bußgeld« für begangene Sünden, indem er sie mit der schon gewagteren Auffassung verknüpfte, täglich begangene Sünden müssten auch täglich gesühnt werden. Aus augustinischer Sicht war das ganz einfach ein Gebot der conditio humana. Die Seele war wie ein leckgeschlagenes Schiff auf hoher See. Tag und für Tag sickerten kleine Sünden durch die gerissenen Planken und füllten die Bilge wie mit einem Wasser, von dem das Schifflein sehr wohl sinken mochte, wenn man es nicht hinauspumpte. Doch an der Lenzpumpe brauchte es zwei kräftige Helfer: Gebet und Almosen: »Denn wir sollten nicht nur beten, sondern auch Almosen geben [...] Die an der Lenzpumpe stehen, damit das Schiff nicht untergeht [...] tun dies mit ihren Stimmen [Seemannslieder singend] und mit ihrer Hände Arbeit. [...] Lasst eure Hände nicht stillstehen [...] lasst sie geben, lasst sie gute Werke tun.«44 Das fromme Schenken war Bestandteil des Alltags, weil der Alltag selbst von der Sünde definiert war. Der Alltag stand vor dem Hinter113
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grund einer Geräuschkulisse, der klar dominiert wurde von dem unaufhörlichen Quietschen jener »Lenzpumpe« aus Gebet, Fasten und Almosengeben. Außerdem waren Alltagssünden, Reichtum und Almosengeben durch eine halb verborgene Parallele verbunden: Augustinus betonte stets, dass die alltägliche Sünde sich an und um einen Menschen ansammle, größtenteils unbemerkt, wie Sand, Wassertropfen oder Flöhe.45 Jedoch galt dasselbe auch von dem überschüssigen Reichtum, der sich rund um die guten Christen ansammelte. Dieser schien sich ebenfalls wie unbemerkt aufzuhäufen – in Form kleiner Summen, deren Fehlen man problemlos verschmerzen konnte, wenn man sie als Almosen an die Armen oder als Kirchenspende an seine Gemeinde gab. Ein guter Christ konnte lernen, sich von diesen kleinen Summen auf eine Weise zu trennen, die so schmerzlos und selbstverständlich geworden war wie der regelmäßige Haarschnitt.46 Außerdem waren auch die alltäglichen Sünden, um die es Augustinus ging, zum größten Teil auf einen Überschuss negativer Triebe zurückzuführen, der sich im normalen Verlauf des sozialen Zusammenlebens nun einmal unmerklich anstaute. Die »täglichen Sünden«, die durch Almosen allein gesühnt werden konnten, waren nicht die großen, kaltblütigen Verbrechen von Gewalt, Betrug, Geiz und Ehebruch. Sie waren die wenig spektakulären Sünden des Alltags. Und auch sie wuchsen wie Haar – oder wie die Stacheln des demütigen Igels. Auch wenn sie klein waren, waren diese Sünden für Augustinus ganz besonders wichtig – erinnerten sie die Gläubigen doch daran, dass durch die Taufe zwar die Last der Erbsünde von ihnen genommen war, sich alle Mitglieder der Kirche aber noch immer – und ohne Ausnahme – in einer Art spiritueller »Genesungsphase« befanden. Die Nachwirkungen jener ersten, schrecklichen, von Adam und Eva begangenen Sünde waren in ihnen noch immer nicht ganz abgeklungen. Der Mensch an sich – und jeder einzelne Mensch – war dadurch unheilbar geschwächt worden. Es brauchte Zeit, um die tiefe Wunde von Adams Fall vernarben, geschweige denn heilen zu lassen.47 Das wurde nirgends deutlicher als an jener überschüssigen, beinahe unbewussten Energie, die noch immer zu kleinen Ausbrüchen von Zorn und Stolz führte, zu einer unangemessenen Trauer über materiellen Verlust sowie (für Verheiratete) zu Momenten der Zügellosigkeit im Ehebett.48 114
Sünden und fromme Spenden im Afrika des Augustinus
Augustinus hielt sich mit diesen kleinen Sünden der Maßlosigkeit nicht etwa auf, weil er übertrieben penibel gewesen wäre. Er tat es, weil er Optimist war. In seinen Augen handelte es sich in allen diesen Fällen genau um jene Art von Sünde, die durch Almosen gesühnt werden konnte. Die alltäglichen Sünden und ihr »Gegenmittel« – das alltägliche Almosengeben – gehörten nach seiner Vorstellung einfach zueinander. Reichtum – im Sinne der beinah unmerklichen Akkumulierung eines Überschusses – konnte Tag für Tag dazu eingesetzt werden, um Sünden entgegenzuwirken, die ihrerseits das Resultat eines tagtäglich hochkochenden Energieüberschusses waren – eines Überschusses an weithin verborgenen sündhaften Tendenzen, die alle Menschen seit dem Fall Adams gleichsam im Blut hatten. Verfolgen wir die Spur, die dieser Metaphernkreis in Augustins Predigten hinterlassen hat – und zwar sowohl vor als auch nach seiner Konfrontation mit Pelagius –, so wird uns auffallen, dass er vor allem den Wert alltäglichen, fast noch unbewussten und gewohnheitsmäßigen Handelns zur Sühnung gleichermaßen gewohnheitsmäßiger Sünden betont. Derartige Metaphern werden bei seinen Zuhörern also nur dann Eindruck gemacht haben, wenn die Geldbeträge, um die es beim Almosengeben ging, vergleichsweise bescheiden waren. Augustinus erwartete keineswegs den heroischen Verzicht auf »alles, was man hatte«. Stattdessen ging es um Pfennigbeträge, die den Armen gespendet werden sollten, um damit die »Pfennigsünden« des Alltags zu sühnen.
Sünden und fromme Spenden im Afrika des Augustinus Die Christengemeinden in Nordafrika – reiche wie arme – hörten Augustins Botschaft mit einer gewissen Erleichterung. Seine Predigten passten hervorragend zu den Gegebenheiten ihrer sozialen Lebenswelt, denn selbst, wenn manche ihrer Mitglieder gute Christen und reich waren, »litt« doch keiner von ihnen an jenem chronischen Zuviel an Geld, das die superreichen christlichen Familien der Stadt Rom kennzeichnete. Sie hatten nicht die Absicht, sich von irgendjemandem die Aufgabe ihres gesamten Vermögens einreden zu lassen, wie es die Pelagianer in 115
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der Diatribe de divitiis nachdrücklich versuchten. Stattdessen wurden Arm und Reich gleichermaßen aufgerufen, ihre Seele zu retten, indem sie regelmäßig Geld spendeten – und zwar am besten Tag für Tag, ähnlich der täglichen Wiederholung des Dimitte nobis im Vaterunser. Diese Einstellung hatte gesellschaftliche Konsequenzen. Augustinus sprach sich nie gegen große Spenden reicher Einzelpersonen aus aber sein Beharren auf der sühnenden Funktion aller Gaben sorgte doch dafür, dass die Reichen sich hierin nicht für etwas Besonderes hielten. Auch ihr Spenden, bedeutete man ihnen, gehörte zu jenen Bußpraktiken, die alle Christen teilten, weil sie ja alle Sünder waren; und das galt für Arme wie für Reiche gleichermaßen. Es bestand also ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Formen des Schenkens: Der Bürger, der als euergetischer Mäzen seiner Heimatstadt auftrat, tat dies, offen gestanden, um seinen eigenen Ruhm und den seiner Familie zu mehren. Der Kirche gegenüber war ein solches Verhalten jedoch nicht angemessen; sie beschenkte man »zur Vergebung der Sünden«. Augustinus selbst nahm in seiner Eigenschaft als Bischof einige beträchtliche Erbschaften entgegen, mit denen die Kirche von Hippo bedacht worden war. Aber er bestand doch immer darauf, dass solch ein Erblasser »auf diese Weise an sein ewiges Heil dächte«. Durch solche Formulierungen wurden sogar noch die Geldgeschenke der Reichen mit der Gebrechlichkeit alles Menschlichen in Verbindung gebracht, wurden verknüpft mit einem Bewusstsein von den Risiken, die der menschlichen Seele drohten, und von ihrem Schutzbedürfnis – und das waren nun Gedanken, in denen sich alle Christen, ob nun arm oder reich, wiederfinden konnten.49 Eine solche Sichtweise ließ Raum selbst für eher bescheidene Gaben. Jeder war Sünder, also konnte auch jeder Spender werden. Ein solcher Spender war Umbrius Felix, ein Lehrer aus der kleinen Stadt Mina (dem heutigen Ighil-Izane in Algerien), weit westlich von Hippo an der Überlandstraße gelegen, die quer durch die Provinz Mauretania Caesariensis verlief. Auf einer Inschrift zwischen zwei Rosetten ließ er im Jahr 408 festhalten: »Aus den Gaben Gottes und Christi hat Umbrius Felix, der magister, dies machen lassen. Er hat sein Gelübde an Gott zurückgezahlt. Möget ihr für ihn beten und möge er von seinen Sünden erlöst werden.«50 116
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Auf diese Weise gab Augustinus seinen Zeitgenossen eine Lehre an die Hand, die gewissermaßen für die Langstrecke konzipiert war: Das religiöse Geben blieb immer in Gang, weil es ja von dem Perpetuum mobile der menschlichen Sündhaftigkeit und Sühnebedürftigkeit angetrieben wurde. Die Sünde war von Dauer, also mussten auch die frommen Spenden auf Dauer angelegt sein, mussten regelmäßig und – dies vor allem – zur Sühnung der Sünde erfolgen.
Sünde und Reinigung im Jenseits Doch wie lässt sich der Elan, mit dem Augustinus sein Ideal des religiösen Gebens propagierte, mit seiner deutlichen Zurückhaltung übereinbringen, sich auf ein klares Jenseitsbild festzulegen? An diesem Punkt kommen wir Augustin am nächsten, wenn wir uns seine Reaktionen auf die Herausforderung durch den pelagianischen Rigorismus ansehen. In ihren mahnenden Schriften hatten Pelagius und seine radikalen Anhänger sich als kompromisslose Gegner der Sünde positioniert. Sie meinten, dass Willensfreiheit immer die Freiheit beinhalte, der Sünde zu entsagen – und zwar genauso plötzlich, wie man nach ihrer Auffassung auch dem Reichtum entsagen sollte. Die das nicht taten, waren in ihren Augen nicht einfach schwach, sondern Gesetz- und Gottlose (impii). Der Gnade Gottes standen sie genauso fern wie ausgemachte Heiden. Als im Jahr 416 der greise Hieronymus den etwa gleichaltrigen Pelagius im Heiligen Land kennenlernte, wohin dieser nach seiner eiligen Durchquerung Nordafrikas gereist war, zeigte er sich von den Lehren des Neuankömmlings entsetzt. Nach Hieronymus’ Auffassung konnten nur ungetaufte Nichtchristen impii genannt werden. Einem getauften Christen kam dagegen das besondere Privileg zu, als peccator (»Sünder«) bezeichnet zu werden.51 Als ein bloßer »Sünder« (oder als »Sünderin«) durfte er oder sie auf die Gnade Gottes hoffen, und zwar bis zum Jüngsten Gericht – oder vielleicht sogar noch darüber hinaus.52 Anders als die gottlosen impii, darauf beharrte Hieronymus, war christlichen Sündern ein »durch Erbarmen gemildertes Urteil« gewiss. In den warmen Worten Brian Daleys: »So großzügig hat man Hieronymus selten gesehen.«53 117
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Wie Hieronymus bestand Augustinus darauf, dass Durchschnittschristen keineswegs impii genannt werden konnten. Sie waren schlicht peccatores, zu deren Bestem er bereits einen ganzen Lebensplan voller Buße, Gebet und Almosengeben entworfen hatte. In der Tat waren genau sie jene non valde boni, die im Jenseits auf die Unterstützung der Gläubigen durch Gebet und Almosen hoffen durften. Es ist so gut wie sicher, dass Augustinus und Hieronymus in ihrer Darstellung der pelagianischen Sündenlehre ein Zerrbild von dem zeichnen, was Pelagius tatsächlich gesagt hat. Jedoch taten sie das beide, um damit ein Argument vorzubringen: Sie wollten zeigen, dass innerhalb der Kirche reichlich Platz für all jene war, die mit ihrer Lebensführung den »Mittelweg« eingeschlagen hatten. Wie schon zu Zeiten von Mani und seinen Jüngern, so wurde auch im frühen 5. Jahrhundert dem Schicksal der durchschnittlichen Gläubigen – die in ihrer Grauzone zwischen sicherem Himmel und sicherer Hölle eingeschlossen waren – wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Tinte zuteil als dem Schicksal offenkundig Heiliger oder Verdammter. Bis in die 420er-Jahre hatte jene Grauzone sich so weit vergrößert, dass sie nun die Bevölkerungsmehrheit in einem offiziell christlichen Römischen Reich umfasste. Somit war die christliche Kirche endgültig eine Kirche der non-valdes geworden – der »nicht besonders guten«, aber eben auch »nicht besonders schlechten« Gläubigen. In seiner 421 entstandenen Schrift gegen Julianus von Eclanum – den letzten und wohl auch hartnäckigsten unter seinen pelagianischen Opponenten – entwarf Augustinus das idealtypische Porträt eines Christen, der vielleicht doch noch in den Himmel kommen würde. Zugleich lieferte er damit einen »Schnappschuss« von den durchschnittlichen Gläubigen sowohl seiner Zeit als auch der kommenden Jahrhunderte: [...] die ihren geschlechtlichen Gelüsten frönen, wenn auch in dem schicklichen Bezirk des Ehestandes, aber nicht nur um der Fortpflanzung willen, sondern weil es sie erfreut; die auf Beleidigungen mit weniger als vollkommener Duldsamkeit reagieren [...], ja bisweilen vielleicht sogar auf Rache brennen; die an ihrem Besitz festhalten; die zwar Almosen geben, aber nicht sehr reichlich; die 118
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den Besitz ihres Nächsten zwar nicht antasten, aber doch ihren eigenen verteidigen (und zwar nicht vor einem weltlichen Gericht, sondern vor dem Richterstuhl des Bischofs); die aber bei alldem einsehen, dass sie selbst klein sind, Gott aber groß und erhaben.«54 Doch wie weit würde Gottes Erbarmen diesen Sündern entgegenkommen? Konnten denn Christenseelen, die so schwer mit kleinen, fast unmerklichen Sünden beladen waren, wie Augustinus es in seinen Predigten gegen die Pelagianer dargestellt hatte, jemals darauf hoffen, ihre Sünden noch in diesem Leben abzubüßen? Oder müsste der Bußprozess sich nach dem Tod noch fortsetzen, um irgendeine Art von Läuterung im Jenseits zu ermöglichen? Immer stärker sah Augustinus sich durch Pelagius gedrängt, auch diesem Problem ins Auge zu sehen – und dazu musste er wieder einmal einen verstohlenen Blick ins Jenseits werfen. Unter den von Johannes Divjak entdeckten Augustinusbriefen findet sich auch ein 417 entstandenes Schreiben an keinen Geringeren als den Patriarchen Kyrill von Alexandria. In diesem Text sehen wir Augustinus aus einer ungewohnten Perspektive. Der Bischof von Hippo hat bis heute ja kaum den Ruf, beim Thema Sünde ein Auge zuzudrücken. Und doch präsentiert sich Augustinus in seinem Brief an Kyrill als einer, den die Anhänger des Pelagius zum Weichling gestempelt hätten. Die Pelagianer hätten ihm die Ansicht unterstellt, so Augustinus, »nicht alle Sünder würden mit dem ewigen Feuer bestraft«.55 Diesen Vorwurf nahm Augustinus nur zu gern an. Kyrill gegenüber bestand er darauf, dass all jene, die nur leicht gesündigt hätten, keineswegs direkt zur Hölle führen. Stattdessen ließ er durchblicken, dass er ihnen im Jenseits sogar die Chance zu einer Besserung einräumte, die zu irgendeiner Zeit in dem unerforschten Stadium erfolgen mochte, das sich zwischen der Todesstunde und dem Jüngsten Tag erstreckte. Um dies zu belegen, zitierte er aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther (1 Kor 3,12–15): »Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird’s klarmachen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er [auf 119
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dem festen Grund Jesu Christi] gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch.« Allerdings fügte er rasch hinzu: »Diese Worte des Apostels sollte man nicht auf die Feuer des Jüngsten Gerichts beziehen, [die nämlich ewig wären,] sondern vielmehr auf irgendein Feuer, das dem Gericht vorausgeht, ob nun in diesem Leben oder nach dem Tod. Aber wie dem auch sei [d. h. egal, ob die Läuterung nun vor oder nach dem Tod stattfindet]: Wir dürfen um keinen Preis dem Irrglauben verfallen, alle Sünder – jeder Mensch, der nicht auf Erden ein vollkommen sündloses Leben geführt hat – seien für das ewige Feuer bestimmt.«56 Dieser Brief, der an einen zwar fernen, aber bedeutenden Würdenträger der Kirche gerichtet war, zeigt, dass Augustinus sich irgendeine Form der Läuterung nach dem Tod durchaus vorstellen konnte – wenn auch nur, um auf diese Weise die Seelen der Durchschnittschristen vor der unbeugsamen Strenge der Pelagianer zu bewahren. Ob er nun mit dem Patriarchen Kyrill oder mit anderen korrespondierte: Augustinus achtete stets sorgfältig darauf, seine Vorstellung von einem ignis purgatorius – einem »reinigenden Feuer« – unter Verweis auf seine gründliche Paulus-Lektüre zu rechtfertigen. Er gestand nicht ein (oder erkannte vielleicht auch überhaupt nicht), dass er damit ein Problem aufgeworfen hatte, das noch die Menschen sehr viel späterer Zeiten beschäftigen sollte: Wie lange würden die Seelen brauchen, um dieses Läuterungsfeuer zu durchlaufen? Mit Claude Carozzi gesprochen, veränderte die Vorstellung vom ignis purgatorius auch das Verständnis davon, was »Zeit« im Jenseits bedeuten mochte. Genauer gesagt, schuf der Gedanke eine Art Zeitblase mitten in der Ewigkeit, eine Enklave der dennoch »aufgehobenen Zeit«.57 Denn Augustinus ging es bei dem Läuterungsvorgang nicht so sehr um den Schmerz, der durch die Flammen erzeugt werden mochte; was für ihn zählte, war die Zeit. Er betonte den Aspekt der »Verzögerung«, die ein solcher Reinigungsprozess Seelen auferlegte, die andernfalls vielleicht direkt in Gottes Gegenwart gelangt wären – wie man es von dem jungen Schreiber aus Uzalis annahm. In dieser Grauzone zwischen Zeit und Ewigkeit, vermutete Augustinus, würden die Gebete und die Opfergaben der Gläubigen ihre größte Wirkung entfalten. 120
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Mit dieser Vorstellung von einer Art »Zwischenexistenz« der Seele begab sich Augustinus auf weithin unerforschtes Terrain. Als Paulus geschrieben hatte (in 1 Kor 3,12), dass das Feuer alles »Holz, Heu [und] Stroh« verbrennen werde, mit dem sich mancher auf dem Grundstein Christi etwas aufgebaut hatte – nämlich sein Leben –, hatte er sich nicht dazu geäußert, ob solche Gebäude aus Holz und Stroh ihre Erbauer in die Stille des Jenseits begleiten würden. Aber genau das sollte Augustinus nun voraussetzen. Tatsächlich konnte er sich vorstellen, dass die non valde boni mitsamt ihrem ganzen Leben ins Jenseits einziehen würden – mit Holz, Stroh, Sack und Pack. Freilich würden das Stroh und all diese Dinge erst verbrannt werden, bevor die Seele es wert war, in die Gegenwart Gottes vorgelassen zu werden. In seinem Gottesstaat schrieb Augustinus über die Vorstellung von einem Läuterungsfeuer im Jenseits mit demonstrativer Vorurteilslosigkeit: »Ich habe nichts dagegen, denn vielleicht ist es wahr.«58 Aber seine Bereitschaft, eine solche Möglichkeit zumindest in Erwägung zu ziehen, sollte weite Kreise ziehen. Jede Seele hatte ihr persönliches Schicksal – fast könnte man sagen: eine Biografie – im Jenseits, ein Schicksal, das in direkter Beziehung zu den Bemühungen und Unzulänglichkeiten ihres früheren Selbst stand. Für jede einzelne Seele unter den vielen non-valdes konnte man beten – und mit jedem Gebet einen weiteren Strohhalm wegbrennen. Augustinus hatte die Umrisse einer solchen Figur im Jenseits schon einmal gezeichnet – mit großem Feingefühl, aber beinahe chirurgischer Bestimmtheit –, als er im 9. Buch der Bekenntnisse seine Mutter Monika porträtiert hatte. Die Frage, was denn nun mit denjenigen Seelen, die einen Teil ihres Lebens mit in den Himmel brachten, dort geschehe, wurde nur im Kreis der neuplatonischen Philosophen diskutiert – deren Debatten über die Seele Augustinus übrigens genau verfolgte, wenn auch nur, um die dort vertretenen Positionen zu widerlegen. Die neuplatonische Antwort jedenfalls lautete, dass Seelen, die noch immer von ihren vergangenen Sünden beschwert und belastet waren, aus dem Himmel wieder herabsteigen mussten, um diese Sünden nach einer Seelenwanderung in einen neuen Körper durch ein weiteres Leben abzubüßen. Augustinus scheute keine Mühen, um diese Ansicht zu entkräften.59 121
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Doch das Problem blieb bestehen. Ein spätheidnischer Platoniker meinte, die Seelen der wahrhaft Großen – etwa von großen Philosophen wie Plotin – kämen ein für alle Mal in den Himmel. Ihre irdische Vergangenheit streiften sie ab, in seligem Vergessen. Man glaubte nämlich, dass solche »großen Seelen« sich an die wogende Materie, der sie entschlüpft waren, später noch nicht einmal würden erinnern können – geschweige denn, dass ihr altes Leben sie erneut in die Tiefe zöge. Im Fall einer durchschnittlichen Seele musste man allerdings schon fragen, welche unbewältigten »Rückstände« einer früheren Existenz sie wohl zurück in den Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt gezogen hatten.60 Derartige Spekulationen kamen nicht von ungefähr. Schon als Junge hatte Augustinus im 6. Buch von Vergils Aeneis von einer dira cupido gelesen, einer »unseligen Lust«, die bereits aufgestiegene Seelen dazu brachte, die elysischen Gefilde zu verlassen und noch einmal in einen Körper zurückzufallen. Wenn dieses »heillose Verlangen«, in ein niederes Leben umzukehren, nicht blanker kosmischer Notwendigkeit entsprang, dann implizierte die Rückkehr unvollkommener Seelen in einen Körper, dass sie irgendeinen Teil ihrer unbereinigten Vergangenheit mit sich in die Ewigkeit gebracht hatten. Und dieses hartnäckige Überbleibsel ihres früheren Lebens war es, das sie zur reinigenden Rückkehr in einen Körper verdammte.61 Während langer Stunden in seinem Studierzimmer wird Augustinus mit diesem Lösungsansatz gerungen haben. Egal, wie strikt er sie ablehnte, egal, wie sehr er sich in seinen eigenen Spekulationen über die Läuterung der Seele auf andere Quellen bezog: Die philosophische Debatte über die Seelenwanderung (Metempsychose) blieb ihm doch immer gegenwärtig, ging ihm beständig im Hinterkopf herum.62 Das würde jedenfalls erklären, wie es bei jenen »schwächeren« Seelen, die sich zum Zeitpunkt ihres Todes noch nicht ganz von der Welt gelöst hatten, zu diesem – eigentlich ja paradoxen – Fortbestehen irdischer Identitätsreste selbst in der Ewigkeit kommen sollte. Solche Seelen brauchten irgendeine Art von Reinigung. Die neuplatonischen Philosophen glaubten, dass selbst kleine Unvollkommenheiten zum Wiederabstieg der Seele auf die Erde führen würden. Für diese Vorstellung hatte Augustinus nur Verachtung übrig. Dennoch neigte er zu der Ansicht, dass Seelen, die noch zu viel »Stroh« mit 122
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sich herumschleppten, vielleicht auf irgendeine Weise gereinigt werden müssten. Bei den heidnischen Platonisten diente dazu eben ein Wiederabstieg der Seele in einen neuen Körper. Augustinus hingegen entschied sich für ein intensives Läuterungsfeuer, das die Seelen auf ihrem Weg durchqueren mussten. Mit ihren unterschiedlichen Antworten wollten beide Seiten dasselbe Rätsel lösen: Wie sollte man damit umgehen, dass durch die Ankunft menschlicher Seelen im Jenseits zugleich die Unvollkommenheit allen menschlichen Lebens dort gleichsam »hineingetragen« wurde – als ob die Seelen sich ihre Stiefel nicht ordentlich abgetreten hätten –, wo doch jener Ort eigentlich für die absolute Vollkommenheit stand? Man sollte Augustins Lehre vom ignis purgatorius allerdings keine zu große Bedeutung aufbürden. Wir neigen dazu wegen der späteren Entwicklung der Purgatoriums-Idee in der lateinischen Kirche. Zu diesem Thema gibt es zahlreiche brillante Studien.63 In jener frühen Zeit handelte es sich dabei jedoch um eine Vorstellung, mit der Augustinus selbst sich nicht allzu lange aufhalten wollte. Wann immer er davon sprach, tat er dies mit der Zurückhaltung eines Wissenschaftlers, dem klar geworden ist, dass er eine bedeutende Entdeckung gemacht hat, den aber zugleich die Befürchtung umtreibt, es könnte daraus eine furchtbare Waffe erschaffen werden. Deutlich wird dies etwa in einer langen Predigt, die Augustinus bereits im Jahr 403 in Karthago gehalten hat. Darin gibt er seinen Zuhörern eine detaillierte Auslegung der einschlägigen Passage aus dem ersten Korintherbrief. Der ganze Text atmet Besorgnis, ja sogar Furcht. Es handelt sich um eine Predigt aus der Reihe, in der Augustinus sich offen gegen die altehrwürdige Tradition des Euergetismus gestellt hatte und stattdessen für das Almosengeben an die Armen eingetreten war. Aber, was er seiner Gemeinde nun ans Herz legte, war, dass sie auf keinen Fall lockerlassen durften. Nie und nimmer sollten sie den Kampf gegen ihre eigenen Sünden aufgeben. Er wollte ihnen klar darlegen, dass man Paulus falsch verstand, wenn man seine Bemühungen gegen die Sünde in diesem Leben schleifen ließ, weil man hoffte, sie in dem fernen Traumland des Jenseits auf weniger anstrengende Weise einfach »ausschwitzen« zu können. Er pochte darauf, dass jenseits des nicht auszuschließenden, vergleichsweise unerheblichen Szenarios einer – 123
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wie auch immer gearteten – jenseitigen Läuterung noch immer das unentrinnbare, unbezweifelbare Feuer des Jüngsten Gerichts loderte. Und dieses Feuer würde nie vergehen: »Brüder, ich will mit größerer Besorgnis sprechen als sonst. [...] Es ist besser, euch nicht in falscher Sicherheit zu wiegen, denn ich will euch nicht geben, was ich selbst nicht habe. Da ich selbst zittere, muss ich auch euch Furcht einflößen. Wie gern würde ich euch Geborgenheit vermitteln, wenn ich selbst mich geborgen fühlte. Das ewige Feuer ist noch immer dort. Das ist es, was ich ständig fürchte.«64
Die göttliche Amnestie Es gab eine ganz einfache Lösung, mit der die Sünden der non valdes gesühnt werden konnten; allerdings zog Augustinus sie gar nicht erst in Betracht. Sie erforderte es, Christus als eine Art von Kaiser zu betrachten. Wie wir bereits gesehen haben, hatte sich dieses Bild im Verlauf des 4. Jahrhunderts fest in der christlichen Vorstellungswelt etabliert. Es war allgemein anerkannt, besonders unter den Angehörigen der Oberschicht, denn die Darstellung Christi als Kaiser schien das hartnäckige Sündenproblem der Durchschnittschristen mit einem Schlag zu lösen: Ein Kaiser demonstrierte seine Macht am eindrucksvollsten, indem er Gnade walten ließ, wie es sein besonderes Vorrecht war. Clementia (»Milde«) war stets als eine Grundtugend der römischen Kaiser dargestellt worden. Einem Kaiser stand es jederzeit frei, auf Gnadengesuche mit einer Geste der Amnestie zu antworten – indem er Steuerschulden erließ oder Strafurteile aufhob oder sie entweder dauerhaft oder zeitweilig reduzierte.65 In vielen Kreisen bestimmte die grundlegende Metapher von der kaiserlichen Milde die gesamte Darstellung von Christi Barmherzigkeit den Sündern gegenüber. Um 400 n. Chr. schrieb Prudentius, ein Dichter, der zuvor Provinzstatthalter gewesen war, seinen Liber Cathemerinon – ein poetisches »Tageszeitenbuch« mit Gebeten für fromme Christen. In einem dieser Gebetgedichte behauptete Prudentius, den Seelen der Verdammten in der Hölle werde an jedem Osterfest (ja, vielleicht sogar an jedem Sonntag) eine Pause von ihren Qualen geschenkt: 124
Die göttliche Amnestie
»Die Höllenmacht flaut ab, die Strafen werden mild, das Volk der Toten jauchzt, befreit von Feuerqual und seiner Ketten bar; die Schwefelflüsse ruh’n, die vormals heiß gewallt [...]«66 Gut möglich, dass Prudentius in diesen Versen eine zeitgenössische Apokalypse zum Vorbild genommen hat, die wohl bereits von Kleinasien bis an den Kaiserhof von Konstantinopel Verbreitung gefunden hatte: Die Rede ist von der berühmten Visio Pauli (»Offenbarung des Paulus«). In dieser Vision hatte Paulus, wie es hieß, Christus im vollen Ornat eines Kaisers in die Hölle hinabsteigen sehen – mit Diadem und allem, was dazugehört. Dort unten habe er allen Seelen, die in dem schrecklichen Verließ schmachten mussten, hochfeierlich eine Unterbrechung ihrer Strafen gewährt, die von da an jeden Sonntag eintreten sollte.67 Augustinus waren alle diese imaginativen Möglichkeiten bekannt, einschließlich der Visio Pauli. Er stemmte sich ihnen entgegen. Dies tat er jedoch nicht (wie man glauben könnte), weil solche Vorstellungen auf allzu krasse Weise die Sozialstrukturen des Diesseits reproduzierten. Vielmehr war er ein pflichtbewusster Bischof: Er wusste, dass Vorstellungen von Gottes Gnade, die auf der reichlich launenhaften Ausübung der kaiserlichen Gnadenprärogative beruhten, die Christen nur dazu ermuntern würden, sich allzu sehr auf jene göttliche Gnade zu verlassen. Solche Amnestievorstellungen hatten Einfluss vor allem auf Christen aus der Oberschicht (wie Prudentius einer war), die womöglich aus nächster Nähe erlebt hatten, wie der Kaiser von Bittstellern um Erbarmen angerufen wurde, oft durch Vermittlung einflussreicher Patrone. Wie wir bereits gesehen haben, stellte man sich die Heiligen als Pendants solcher Patrone im Jenseits vor.68 Allerdings mochte ein solches Bild von Christus als einem allzeit großzügigen, guten Kaiser und von den Heiligen als hilfsmächtigen Patronen zögernde Sünder darin bestärken, erst einmal ruhig abzuwarten, bis Christus beim Jüngsten Gericht eine Generalamnestie verkündet haben würde.69 Das war jedoch nicht alles. Augustinus war Platoniker geblieben. Er sehnte sich nach der unendlichen Gegenwart Gottes in der Ewigkeit.70 Und der ärgste Feind der Ewigkeit war noch immer die Zeit – selbst eine »aufgehobene Zeit«, wie sie die augustinische Konzeption des reinigenden Feuers voraussetzte. Stattdessen konnte Augustinus es kaum 125
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erwarten, dass die Zeit an sich aufgehoben und er selbst im Angesicht seines Gottes ewig leben werde. So schrieb er im Jahr 422 an Laurentius: Die Meinung, daß die Strafe der Verdammten in bestimmten Zeitabständen etwas gemildert werde, mögen sie beibehalten, wenn sie ihnen zusagt. Der Zorn allein [d. h. jene körperlichen Strafen, von denen Christus, wie es etwa bei Prudentius und in der Visio Pauli hieß, einen Aufschub gewährt hatte], und, soweit wir uns vorstellen können, schon sein geringster Grad bedeutet: dem Reiche Gottes verlorengehen, verbannt sein aus der Stadt Gottes, dem Leben Gottes entfremdet werden, die große Fülle der Süßigkeit Gottes entbehren, die er für die verborgen hält, welche ihn fürchten, mit denen er aber die vollendet, welche auf ihn hoffen. Das alles ist, wenn es ewig währt, eine so furchtbare Strafe, daß man mit ihr keine uns bekannten Qualen vergleichen kann, mögen diese auch beliebig viele Jahrhunderte anhalten.71 Acht Jahre darauf, wir schreiben das Jahr 430, sah Augustinus dem Tod ins Auge. Nur zu gern wäre er auf direktem Weg in die süße Gegenwart Gottes eingetreten, wie vor ihm der junge Schreiber aus Uzalis. Aber Augustinus war keiner, der es sich leicht machte. Possidius von Calama, sein Schüler, Freund und Biograf, schrieb über Augustins letzte Tage: Der heilige Mann hat sechsundsiebzig Jahre, als Priester und Bischof immerhin fast vierzig Jahre, gelebt. Er hat uns in seinem, von Gott geschenkten und zum Nutzen und Glück der heiligen Kirche geführten, langen Leben in vertrauten Gesprächen immer wieder gesagt, auch bewährte Christen, Bischöfe nicht ausgenommen, dürften nach der Taufe nicht ohne eine angemessene und zutreffende Buße aus diesem Leben scheiden. Er selbst handelte so in seiner letzten, zum Tode führenden Krankheit. Er ließ die kürzesten Bußpsalmen Davids abschreiben und die Blätter an die Wand seinem Bett gegenüber heften. In den Tagen seiner Krank126
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heit schaute er immer wieder darauf und las sie unter überreichlichen Tränen.72 In Kapitel 4 begeben wir uns nach Gallien und verfolgen dort (bei einem ganz anderen Menschenschlag, unter grundverschiedenen Umständen und in einer Umgebung, die der Landschaft Nordafrikas gar nicht unähnlicher sein könnte) die weitere Entwicklung jener Problemstellungen, mit denen sich Augustinus – unter dem steten Druck seiner vielen frommen Frager – wohl oder übel hatte beschäftigen müssen.
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IV. Buße und Jenseits in Gallien Salvian von Marseille
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ie wir in Kapitel 3 gesehen haben, aktivierte Augustins Intervention im Pelagianischen Streit ein ganzes Konglomerat von Ideen – manche schon sehr alt, manche denkbar neu –, die der christlichen Gabepraxis einen anderen, düsteren Anstrich gaben: Geben, Stiften, Spenden hatten nun mit Sünde zu tun. Wie das unentwegte Knarren einer Pumpe diente regelmäßiges Almosengeben – wie übrigens auch regelmäßiges Gebet – als Erinnerung daran, dass der Mensch seit dem Sündenfall in permanenter Sühnebedürftigkeit lebte. Weder würde es je einen Moment geben, in dem ein guter Christ nicht hätte sagen sollen: Dimitte nobis debita nostra – »Vergib uns unsere Schuld« –, noch würde auch in Zukunft der stetige Strom von Almosen an die Armen und an die Kirche wieder versiegen, der solche Gebete überhaupt erst wirksam werden ließ. Wir haben auch gesehen, dass Augustinus durch seine Betonung der permanenten Sühnebedürftigkeit in diesem irdischen Leben zugleich Fragen aufwarf, die das Nachleben der Seele im Jenseits betrafen. Dennoch bewahrte der Bischof von Hippo in den entscheidenden Fragen – wie genau die Seelen denn nun ins Jenseits gelangten, in welchem Maß sie weiterer Sühne und Läuterung bedurften sowie insbesondere auf welche Weise die Gebete und anderen Riten der Kirche das Schicksal der Seele nach dem Tod beeinflussten – ein äußerst bedenkliches Schweigen. Erst in den folgenden Jahrhunderten – und vor allem im Gallien des 5. und frühen 6. Jahrhunderts – treffen wir auf solche Gestalten wie Salvian von Marseille, Faustus von Riez und Caesarius von Arles, in
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Salvian von Marseille
deren Denken die »andere Welt« eindeutigere und greifbarere Züge annimmt. Auf eine je eigene Art trieben jeden der Genannten dieselben großen Anliegen um: Buße, Sühne und Reform. Ihre Beschäftigung mit diesen Punkten brachte sie dazu, das Jenseits ins Diesseits zu holen, um so einerseits die Sünden ihrer Gegenwart zu rügen und ihre Ungerechtigkeit zu überwinden, zugleich aber die Seelen der Gläubigen in der kommenden Welt in Schutz zu nehmen. Wie und warum sie das taten, soll in diesem Kapitel untersucht werden. Doch zunächst müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass das Weströmische Reich im letzten Jahrhundert seines Bestehens noch immer ein gewaltiges Territorium umfasste. In jeder seiner vielen Regionen schien die Geschichte in einem anderen Tempo voranzuschreiten. Aus gallischer Perspektive war das römische Nordafrika ein alter orbis: »eine andere Welt«.1 Tatsächlich schien Afrika bis in die Zeit von Augustinus’ Tod in einer Art von Zeitblase gefangen, in der die römische Herrschaft und ein großer Teil ihres alten Wohlstands unangetastet überdauerten. Zur selben Zeit hatten die gallischen und hispanischen Provinzen bereits einen halsbrecherischen Wandel über sich ergehen lassen, ausgelöst durch das unheilvolle Zusammenspiel von Bürgerkrieg und Barbareneinfällen. Es begann mit der Zerrüttung der gallischen Rheingrenze in den Jahren nach 406. Die Bürgerkriege, die mit jenen Überfällen einhergingen, sowie die hastigen Versuche rivalisierender Kaiser und Stammeshäuptlinge, sich regionale Machtzentren zu sichern, beschädigten die römischen Machtstrukturen in Gallien irreparabel; dasselbe gilt für Hispanien und – sogar noch endgültiger – von Britannien. Bis in die 450er-Jahre hatte sich die römische Herrschaft in Gallien faktisch auf den Stand von vor Julius Caesars Gallischem Krieg reduziert. Von einer tief und nachhaltig romanisierten Mittelmeerküste gingen bange Blicke in die weiten und unsicheren Gegenden im Norden und Westen, wo das Wort des Kaisers schon nichts mehr galt. Obwohl Marseille und Hippo sich an den entgegengesetzten Küsten des Mittelmeeres fast genau gegenüberlagen, befanden sie sich doch gewissermaßen in unterschiedlichen Zeitzonen der Geschichte.2 Es gibt eine historische Persönlichkeit, deren Karriere und Werke das ganze Ausmaß der Erschütterungen erkennen lassen, denen Gallien ausgesetzt war und die das Christentum der Region so ganz anders 129
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prägten als im Nordafrika des Augustinus; die Rede ist von Salvianus, besser bekannt als Salvian von Marseille. Salvian wurde im römischen Rheinland geboren. Als junger Mann hatte er nach der Auflösung der römischen Verteidigungslinien im Rheinland den Zusammenbruch seiner ganzen Lebenswelt miterleben müssen. Mit eigenen Augen hatte er die vielen Leichen gesehen, die vor den Toren der niedergebrannten Stadt Trier aufgereiht lagen.3 Während seine Tante in Köln blieb und sich damit faktisch zur Geisel der neuen barbarischen Herren machte, brach Salvian in Richtung Süden auf.4 In der Provence angekommen, begeisterte ihn das Kloster von Lérins, das erst kurz zuvor auf einer Insel vor der Côte d’Azur gegründet worden war. Salvian ließ sich in der Provence nieder und wirkte als Priester in Marseille. Das Ende des Weströmischen Reiches erlebte er noch mit und starb in den 470er-Jahren. Seine Schriften kennzeichnet ein neuartiges Gefühl von Dringlichkeit, angetrieben von der Furcht vor Gottes Urteil in dieser Welt und der nächsten. Sein wohl berühmtestes Werk verfasste Salvian zu Beginn der 440er-Jahre. Es trägt den Titel De gubernatione Dei (»Von der Weltregierung Gottes«) und es ist bezeichnend, dass dieser bissige Traktat von Salvians zeitgenössischen Bewunderern noch einen anderen Titel verpasst bekam: De praesenti iudicio – »Über das Urteil [Gottes] im Hier und Jetzt«.5 Aus Salvians Sicht bestand überhaupt kein Zweifel: Der Untergang des Römischen Reiches war ein Gottesurteil gewesen, durch das die Christen seiner Zeit ihre gerechte Strafe erhalten hatten. Die Angehörigen der gallischen Oberschicht hatten sich geweigert, Buße für ihre Sünden zu tun. Sie hatten nicht gelernt, »durch Geldspenden sich von ihren Sünden [zu erlösen]«, wie Salvian in einem Brief schreibt.6 Sie hatten also ihren gerechten Lohn empfangen: Horden von Barbaren waren in die römischen Provinzen eingefallen und hatten über jede Region, in die sie gelangten, der Reihe nach den Stab gebrochen, als ob sie im Auftrag eines zornigen Gottes unterwegs gewesen wären.7 Mit seinem 435 entstandenen ersten Traktat Ad Ecclesiam (einem »offenen Brief an die Kirche«) wollte Salvian die Reichen ermahnen, Gottes Strafe in diesem Leben und im nächsten zu meiden. Es ist kaum zu glauben, dass diese Schrift nur fünf Jahre nach dem Tod des Augus130
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tinus verfasst wurde, denn sie scheint in einer gänzlich anderen Welt entstanden zu sein. Salvians »offener Brief« belegt, dass es im Gallien des 5. Jahrhunderts nicht nur im politischen und militärischen Bereich einen plötzlichen Ruck in Richtung Mittelalter gab: Auch das gallische Christentum hatte eine neuartige Färbung angenommen. Die gallischen Gemeinden fanden sich in einer Situation wieder, die sich von der Lage im Afrika Augustins deutlich unterschied. Insbesondere stammte der Reichtum der gallischen Kirche aus anderen Quellen. Wie wir gesehen haben, schrieb und predigte Augustinus mit dem Ziel, die großen und vergleichsweise wohlhabenden Gemeinden der Region zur regelmäßigen Gabe kleinerer Geldbeträge anzuhalten. Er wandte sich dabei sowohl an reiche wie auch an weniger reiche Christinnen und Christen – an die Angehörigen der ehrbaren plebes noch immer blühender Städte und Dörfer. Augustinus hatte sich an den altehrwürdigen Traditionen einer Kirche orientiert, in der das religiöse Spendenwesen – quer durch alle Bevölkerungsschichten – durch den allgemeinen Wohlstand des römischen Mittelmeerraums in Gang gehalten wurde. Er konnte noch immer ganz selbstverständlich aus einer frühchristlichen Schrift zitieren, die auch von einfachen Christen erwartete, ihre wenigen Münzen »in der Hand schwitzen zu lassen«, solange sie noch überlegten, welchem guten Zweck sie sie zuführen sollten.8 Im südlichen Gallien dagegen hatte sich eine ganz andere christliche Landschaft entwickelt. Die kirchliche Führungsebene wurde nach und nach mit Angehörigen des lokalen Adels besetzt. Von diesen wohlhabenden Persönlichkeiten erwartete man, dass sie einen großen Teil ihres Reichtums in den Schoß der Kirche mitbringen würden. Worum es Salvian also ging, wenn er über das religiöse Geben schrieb, war nicht etwa die Festigung der alltäglichen Spendenbereitschaft unter dem christlichen »Fußvolk«, sondern vielmehr die Verschiebung ganzer Vermögen. Salvian schrieb, um die wirklich Reichen – und insbesondere all jene Reichen, die dem Klerus angehörten oder in ein Kloster eingetreten waren – davon zu überzeugen, dass sie zur Sühnung ihrer Sünden einen gehörigen Teil ihres Reichtums der Kirche vermachen mussten.9 Zu diesem Zweck beschwor Salvian eine packende Jenseitsszenerie herauf. Er drängte die potenziellen Stifter, doch nur einmal an die eng geschlossenen Reihen von Engeln und Dämonen zu denken, die im Jen131
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seits auf sie warteten: »Sieh, bald wirst du aus diesem Leben wandern, und schon wartet auf dich das Urteil des göttlichen Richterstuhls; es warten auf dich die Teufel mit ihren Foltern, die schrecklichen Henkersknechte der ewigen Qualen [...]«10 Einzig und allein durch großzügige Spenden an die Kirche konnten die Reichen zumindest einen kleinen Funken ihrer »Ewigkeitshoffnung« bewahren, dass ihnen jenes unerbittliche Gericht erspart bleiben würde.11 Es ist, als wären wir ganz plötzlich über ein halbes Jahrtausend hinweg vor die romanischen Kirchenportale des französischen Mittelalters versetzt worden, deren drastische Darstellungen von Verdammnis und Seligkeit Salvian vorwegzunehmen scheint. Noch nie zuvor waren Reichtum und Jenseitsvorstellungen auf derart bedrohliche Weise kombiniert worden. Wie ist dieser Vorstellungswandel zu erklären? Seine Gründe waren teils lokaler, teils allgemeinerer Natur. Auf lokaler Ebene war es das Inselkloster Lérins, das exotische und beängstigende Vorstellungen vom Jenseits unter die Leute brachte. Sowohl Salvian als auch viele seiner Briefpartner und Leser hatten dort in den 420er- und 430er-Jahren einige Zeit gelebt. Mit der Gründung des Klosters um 400 oder 410 schien ein Hauch von ägyptischer Wüstenluft – aus der Heimat der ersten christlichen Einsiedlermönche – bis kurz vor die gallische Küste geweht. Die Mönche von Lérins waren »nach den Wertvorstellungen des Ostens erzogen, mit östlichen Schwerpunktsetzungen und anhand von Metaphern, die aus dem Osten kamen«;12 und mit diesem »Hauch des Ostens« kamen auch die dramatischen Vorstellungen von Himmel und Hölle, die schon unter den frühen Mönchen Ägyptens verbreitet gewesen waren. Die Autoren der ägyptischen Mönchsliteratur waren davon ausgegangen, dass grausame Dämonen schon auf die menschliche Seele lauerten, sobald diese den Körper verließ. Sie würden die schutzlose Seele umzingeln wie unerbittliche Gläubiger oder Steuerbeamte, mit großen, peinlich genau geführten Kassenbüchern bewaffnet. Sie verlangten die »Begleichung« einer jeden Sünde, die in diesen Büchern aufgeführt war. Wenn die Sündenschuld zu hoch geworden war, dann würden die zum Schutz der Seele aus dem Himmel gesandten Engelsscharen beiseitetreten – und die Seele ihrem Schicksal überlassen. Die Dämonen würden nun den Sünder in ein typisch römisches Verließ werfen: in 132
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einen stickigen Wartepferch, in dem normalerweise Verbrecher schmachteten, deren endgültiges Urteil der Statthalter noch nicht gefällt hatte. In unserem Fall würde die Seele hier ausharren müssen, bis Christus sie am Tag des Jüngsten Gerichts zum Sturz in die Hölle verurteilte.13 Das Klosterleben als Ganzes sollte im drohenden Schatten des Jüngsten Gerichts geführt werden: Ein Bruder bat Apa Ammonas: »Gib mir ein Wort.« Der alte Mann sprach: »Geh, denk einmal wie ein Übeltäter, der im Gefängnis sitzt. Andauert fragt er die um ihn herum, wo denn der Statthalter bleibe und wann er endlich eintreffe [um das endgültige Urteil zu sprechen]. Und er heult und weint vor gespannter Erwartung. So sollte auch ein Mönch stets aufmerksam sein und seine Seele prüfen, indem er spricht: ›Weh mir! Wie soll ich vor dem Richterstuhle Christi bestehen?‹ [...] Wenn du darüber andauernd nachsinnst, dann kannst du gerettet werden.«14 Solche Bilder waren es, auf die sich 435 Salvian in seiner Schrift Ad Ecclesiam berufen konnte.
Der Tod und der Schutz der Seele In der Forschung führt man die neuartige, dramatische Vorstellung von den Gefahren des Jenseits meist auf das klösterliche Umfeld von Lérins zurück. Es erscheint uns nur folgerichtig, dass derart finstere Bilder »den engen, gruftartigen Mauern einer Klosterzelle« entsprungen sein sollten – woraus sonst?15 Ich habe allerdings den Verdacht, dass eine solche Sichtweise sowohl die Ursprünge als auch das ganze Ausmaß derartiger Ängste verkennt. Außerdem überschätzt sie die Bedeutung des Mönchtums in der christlichen Vorstellungswelt jener Zeit. Mönche waren damals eher Katalysatoren als Innovatoren: Sie boten den Leuten nicht eine völlig neue Form von Frömmigkeit an, sondern man bewunderte sie, weil sie bestimmte Vorstellungen, die sie im Grunde mit den durchschnittlichen Christen teilten, sehr ernst nahmen und auf dramatische Weise wirksam werden ließen. 133
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Mariachiara Giorda hat in ihren neuesten Forschungsbeiträgen gezeigt, dass selbst in Ägypten die Klöster nie eine »Welt ganz für sich« waren. Stattdessen existierten sie in ständiger Symbiose mit den Glaubensvorstellungen und Erwartungen jener Laienchristen, von denen sie unterstützt und versorgt wurden und die sie dafür beständig um geistlichen Rat baten.16 Und es war keineswegs so, dass Mönche und Nonnen (ob nun in Gallien oder in Ägypten) eine besondere Art von »Klosterfrömmigkeit« verströmt hätten, die bei den Laien als giftige Furcht vor dem Jenseits wirksam geworden wäre; sondern beide Seiten teilten sich ein überliefertes Konglomerat von christlichen Jenseitsvorstellungen. Aus diesem Grund sollten wir den Wandel dieser Jenseitsvorstellungen vor einem umfassenderen Hintergrund betrachten als nur dem der Klöster. Im ganzen Mittelmeerraum – in Italien und dem Osten ganz genauso wie in Südgallien – hegten Christen gewisse Erwartungen hinsichtlich des Schicksals der Seele im Jenseits. Nicht alle diese Erwartungen waren angenehm. Wir dürfen uns von der demonstrativen Gelassenheit frühchristlicher Totenliturgien nicht täuschen lassen: Es stimmt schon, dass in diesen Liturgien un climat festif et pacifié – »eine festliche und friedvolle Stimmung« – vorzuherrschen scheint; aber letztlich ließen die Gebete vieles ungesagt.17 Das freundlich-gelöste Gesicht, das uns aus den Gebeten und von den Grabinschriften der frühen Christen entgegenblickt, bedeutete schließlich nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hatte »Tartarus« – antike Personifizierung der Unterwelt und Quelle namenloser Angst – auch in der christlichen Vorstellungswelt nur wenig von seiner Wirkmacht verloren. Um diesen Unterstrom der Angst zu verstehen, müssen wir auch die Welt jenseits der Klostermauern in den Blick nehmen. Auch die Zunahme von Begräbnissen in der Nähe von Heiligenschreinen, die ja überall im christlichen Westeuropa entstanden waren, sollte berücksichtigt werden, denn das Erstarken solcher Begräbnisbräuche lässt auch auf eine zunehmende Angst vor den Gefahren des Jenseits schließen. Ja, die Bräuche selbst machten diese Gefahren erst explizit, indem sie versprachen, vor ihnen zu schützen. Die Heiligen, in deren Nähe die Gläubigen bestattet wurden, würden diesen, wie man glaubte, am Tag des Jüngsten Gerichts beistehen – so etwa im Fall des Cynegius, Sohn der Flora, der nahe dem Grab des heiligen Felix in Nola beigesetzt wurde, wie wir in 134
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Kapitel 2 gesehen haben. Das Begräbnis neben einem oder einer Heiligen bot jedoch auch einen unmittelbaren Schutz: Die Heiligen würden der Seele gegen jene bösartigen Mächte beistehen, die sie im Augenblick des Todes umschwebten. In einer um das Jahr 400 herum entstandenen Predigt verkündete der Bischof Maximus von Turin, die Heiligen beschirmten alle, die in ihrer Nähe bestattet würden, vor dem Tartarus furens – dem »rasenden Tartarus«.18 Ein Echo dieser Formulierung findet sich zweihundert Jahre später auf einem Grabstein aus Trier, das Echo einer Predigt, die ein italienischer Bischof im 4. Jahrhundert gehalten hat, auf einem Grabstein aus dem 6. Jahrhundert, der weit im Norden, in Trier, angefertigt wurde – das zeigt uns, dass bestimmte Angstvorstellungen in der Zeit um 400 zwar schon vorhanden waren, in den folgenden Jahrhunderten jedoch an Reichweite und Intensität gewannen.19 Alles in allem haben wir es mit einem weitverbreiteten Phänomen zu tun, das weder mit einer spezifischen »Klosterfrömmigkeit« zusammenhing noch ganz neu entstanden war. Wie wir am Ende von Kapitel 1 gesehen haben, knüpften schon die um das Jahr 300 von Mani in seinen Kephalaia formulierten Ängste hinsichtlich der Wirksamkeit von Totenriten, wie sie in seiner »Heiligen Kirche« üblich waren, an die langlebige Auffassung an, die Seele könne, sobald sie »aus dem Körper hervorgetreten« war, jede nur erdenkliche Hilfe gut gebrauchen. Den Tod (und all die dämonischen Kräfte, die in der Unterwelt lauerten) durfte man keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. Selbst in der Erzählung von dem jungen Schreiber aus Uzalis (mit der wir in Kapitel 2 eingestiegen sind) verschaffte sich – bei aller sanften Volkstümlichkeit – auch ein gewisses Angstgefühl Ausdruck: Die Seele des jungen Mannes hatte immerhin ein freies Geleit nötig gehabt – mit kaiserlichem Schutzbrief, Lorbeerkranz und allem, was dazugehörte –, um unversehrt in den Himmel zu gelangen. Die Grabinschrift einer im 5. Jahrhundert verstorbenen Nonne aus Vicenza hält mit merklicher Erleichterung fest, dass die Tote nun eine gefährliche Reise hinter sich gebracht habe: »Jetzt ruhest du in Abrahams, Jakobs und Isaaks Schoß. Kein Ort der Strafen hält dich mehr zurück, keine Hölle voller Schrecken.«20 All diese Ängste kamen in einer Geschichte zusammen, die vielleicht irgendwann um die Mitte des 4. Jahrhunderts in Palästina ent135
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standen ist und später in ganz Westeuropa große Bekanntheit erlangte. Die Rede ist von der Legende vom Transitus Mariae (»Heimgang Mariens«). In dieser Legende heißt es, selbst die Gottesmutter Maria habe sich im Angesicht des Todes voller Angst gefragt, was sie wohl in der anderen Welt erwarten möge.21 Sie habe darum gebetet, »dass keine Macht des Satans oder der Hölle mir entgegentreten und keine dunklen Geister mir den Weg versperren mögen«. Ihr Gebet wurde nicht erhört: »Auch du wirst ihn [den Teufel] sehen, wie es das allgemeine Gesetz für die Menschheit ist, nach dem du zum Tode bestimmt bist. Aber er wird außerstande sein, dir ein Leid zuzufügen.«22 Die Ängste vor dem Übertritt ins Jenseits, die von Salvian aufgerufen wurden, waren im Gallien des frühen 5. Jahrhunderts also nichts vollkommen Neues. Und sie waren auch nicht rein klösterlicher Herkunft. Wie der brechende Kamm einer gewaltigen Flutwelle hatte Salvians dramatisches Szenario von den finsteren Mächten, die der Seele im Augenblick des Todes auflauerten, seine Vorläufer: ein mächtiges Anschwellen des christlichen Angstpegels, das in den 430er-Jahren schon seit über einem Jahrhundert andauerte – und somit bereits Generationen vor der Gründung des Klosters Lérins und dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft in Gallien nachgewiesen werden kann. Alles in allem waren weder die Ängste, an die Salvian appellierte, noch das Gefühl der Sühnebedürftigkeit, das diese Ängste hervorbrachten, das Produkt eines einzigen Klosters, von den dortigen Mönchen gleichsam im Treibhaus herangezogen. Letztlich gab die Idee von der Sühne durch Spenden (wie Salvian sie in seinem Offenen Brief für die Reichen vorschlug) nur den Ängsten, die unzählige Christinnen und Christen überall in der christlichen Welt beim Gedanken an ihren Tod umtrieben, ein christliches Gesicht.
Buße und Bekehrung in Gallien Was wir uns nun fragen sollten, ist nicht so sehr, wie jene düsteren Vorstellungen von Tod und Jenseits entstanden sind, sondern vielmehr, wie sie im gallischen Christentum etwa von der Zeit Salvians an eine derart prominente öffentliche Rolle spielen konnten. 136
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Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal zurückgehen bis ins zweite und dritte Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts – das heißt fast eine ganze Generation, bevor Salvian seinen Offenen Brief schrieb. Und wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf einen Brauch richten, der unter den Christen jener Zeit so weitverbreitet wie traditionsreich war: die öffentliche Buße. Wir werden sehen, wie sich im Südgallien des 5. Jahrhunderts, ausgehend von diesem Brauch, mit der Zeit ein ganzer Diskurs von Bekehrung und Reform entwickelte. In der Forschung galt das Institut der öffentlichen Buße, wie es in den christlichen Kirchen des 5. Jahrhunderts (in Gallien und anderswo) ausgeübt wurde, noch bis vor Kurzem als ein geistlicher Dinosaurier. Man stellte es als ein Überbleibsel aus den Heldentagen der Urkirche dar und glaubte, dass in jener Frühzeit tatsächlich eine Art »Nulltoleranzprinzip« für die Sünde gegolten habe. Größere Sünden, die nach der Taufe begangen worden waren, habe man nur – und nur ein einziges Mal! – durch die vollkommen öffentliche Demütigung des Sünders oder der Sünderin sühnen können, woraufhin diese, wenn auch erst nach einer längeren Zeit der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft, durch den Ortsbischof feierlich wieder in die Kirche aufgenommen worden seien. Diesem »heroischen« Modell zufolge lief Buße letztlich immer auf den fast völligen Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben hinaus. Dazu habe die sexuelle Abstinenz auch für Verheiratete gehört sowie – bei Männern aus der Oberschicht – das Auslöschen ihrer öffentlichen Person durch den Ausschluss von allen Ämtern und die Verpflichtung zu einem betont schlichten Kleidungsstil. Büßer seien zu Unpersonen geworden, für eine Zeit lang dazu verdammt, am äußersten Rand der christlichen Gemeinschaft zu leben.23 Stellt man es derart drastisch dar, so schien das christliche Bußsystem geradezu mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Gewiss – schwere Sünden, die die Gemeinschaft als ganze betrafen, mag man einem öffentlichen Bußprozess unterzogen haben. Aber es gab ja so viele andere Sünden, die von so vielen anderen, unbedeutenden Sündern begangen wurden. Mussten sie alle auf dieselbe drastische Weise behandelt werden? Man ist meist davon ausgegangen, dass das urchristliche Bußsystem sich als untauglich erwies, nachdem das Christentum erst einmal zur Religion der Mehrheit geworden war und die Kirchen sich mit ei137
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ner großen Menge ziemlich durchschnittlicher und keineswegs »verstockter« Sünder gefüllt hatten (mit genau jenen »nicht besonders Guten«, denen Augustinus so große Aufmerksamkeit geschenkt hat). Es überlebte einzig und allein als ein pompöses und zunehmend unangenehmes Erbteil aus den Heldentagen der Urkirche, dem in der Gegenwart jede Verbindung zur Realität fehlte. So erzählt man sich jedenfalls. Uns bleibt der scharfe Kontrast zwischen zwei Zeiten – der Eindruck von einem »heroischen«, aber zunehmend realitätsfernen ur- und frühchristlichen System der öffentlichen Buße, das schließlich im frühen Mittelalter von einem flexibleren System der »Privatbuße« abgelöst wurde, in dem die (private) Beichtbuße die entscheidende Rolle spielt und das für den Katholizismus des Mittelalters und der Moderne kennzeichnend ist. Der Kontrast zwischen diesen beiden Systemen hat sich tief in die Geschichtsschreibung der westlichen Kirche eingegraben. Die Wurzeln des beschriebenen Kontrasts reichen bis zu den Gelehrten und Polemikern der frühen Neuzeit zurück – bis zu den Debatten zwischen Jansenisten und humanistischen dévots im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Bereits 1655 verteidigte der Franziskaner François Bonal den gemäßigten Konfessionalismus der dévots seiner eigenen Zeit gegen die – wie er meinte – ungerechtfertigte Überhöhung der frühkirchlichen Bußpraxis durch die Jansenisten, denen er vorwarf, den geschichtlichen Befund zu verfälschen und zu idealisieren. Die Jansenisten, so Bonal, zeichneten mit Absicht ein »trübsinniges, tränenreiches und jämmerliches« Bild frühchristlicher Bußpraktiken, um deren wohltuender Strenge die allzu »schwächlichen«, anspruchslosen Gebräuche der neueren Zeit gegenüberzustellen – die sie selbstverständlich ablehnten.24 Aktuelle Studien von Éric Rebillard, Mayke De Jong und Kevin Uhalde haben deutlich gezeigt, dass eine solche Darstellung des frühchristlichen Bußinstituts nur wenig mit der historischen Realität zu tun hat.25 Das alte Bußsystem ist nicht zusammengebrochen. Es hat nur in der dramatischen Form, in der wir es uns ausgemalt hatten, niemals existiert. Dennoch bleibt zu erklären, wie im Gallien des 5. Jahrhunderts ein machtvoller »Bußdiskurs« aufkommen konnte. In diesem Diskurs diente eine drastische Vorstellung von öffentlicher Buße als Vorla138
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ge für eine ebenso drastische Vorstellung von der Bekehrung zum christlichen Glauben. Bei der Buße ging es um Veränderung – um das Abwerfen früherer Sünden und die Bekehrung zu einem anderen Leben. Es wurde klar, dass es nicht nur möglich, sondern sogar sehr wünschenswert war, wenn bestimmte Männer und Frauen nicht nur ihr Leben auf drastische Weise veränderten, sondern diese Veränderung auch öffentlich vorzeigten – gewissermaßen als Garantie für ihr gebessertes Verhalten in der Zukunft. Diese neue Vorstellung von Buße verschaffte den Zeitgenossen eine Sprache, mit der sie über das Aufkommen einer neuen kirchlichen Führungsschicht sprechen konnten, über Persönlichkeiten, die eine Sittenreform in den Kirchengemeinden Galliens predigten. Denn wie bei den reuigen Sündern handelte es sich hierbei um Personen, die radikal mit ihrer Vergangenheit gebrochen hatten. So konnte man sich etwa von dem Bischof Eutropius von Orange, einem Zeitgenossen Salvians, glaubhaft erzählen, er habe als junger Diakon drastische Buße getan. Zur Bestätigung der Wirksamkeit seiner Bußübungen erschien ihm eine furchtbare Vision: Er träumte, er liege auf dem Rücken und ein Schwarm schwarzer Vögel komme – hoch wie eine Säule – aus seinem Penis hervorgeflogen. Ein Feuer vom Himmel verbrannte sie alle. Ein wenig später träumte er, ein Fliegenschwarm – dunkel wie eine Wolke – bräche aus seiner Brust hervor. Auch die Fliegen wurden verbrannt. Da er nun eine solche Buße hinter sich gebracht hatte, konnte Eutropius Bischof werden. Er bezog seinen Bischofsstuhl in vollkommener Reinheit von früheren Sünden, sexuellen Begierden und bösen Gedanken.26 Dieser Bußdiskurs mit seiner Betonung eines deutlich markierten Übergangs von einer Lebenslage in die andere unterschied sich sehr von dem Lebensideal alltäglicher Buße, das Augustinus vertreten hatte. Jene Welt war grau gewesen, es hatte in ihr keine klaren Brüche gegeben, sondern nur den langsamen, beharrlich knarrenden Wechsel von Gebet und Almosengeben. Mit einem Konzept von Buße als Drama konnten die Gemeinden Südgalliens jedoch mehr anfangen. Warum das so war, wollen wir nun ergründen.
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Honoratus und die Mönche von Lérins In den 420er- und 430er-Jahren kam es in der Provence zu tiefgreifenden Veränderungen, was die Organisationsstruktur und das Personal der Kirchen betraf. Viele Bischofsstühle wurden mit Mönchen aus Lérins besetzt und von diesen wiederum entstammten viele dem lokalen Adel. Allerdings war es nicht jene Adelsidentität, der sie sich nun verpflichtet fühlten, sondern sie wollten als Menschen anerkannt werden, die ihr altes Ich hinter sich gelassen hatten. Im Gegenzug unterstützte der Laienadel diese Mönche gerade, weil sie die drastische Bußdisziplin des Klosterlebens über sich hatten ergehen lassen und auf diese Weise so radikal anders geworden waren als ihre weltlichen Standesgenossen. Sie hatten ihre frühere Identität als Angehörige der Oberschicht ausgelöscht. Stattdessen traten sie nun als Mitglieder einer neuen »Klasse von Außenseitern« auf, indem sie sich in der Öffentlichkeit ganz anders zeigten, als man sie zuvor gekannt hatte – und das war genau das, was man von einem reuigen Sünder erwartete.27 Nach seiner Ankunft in der Provence lernte der junge Salvian mehrere solche Persönlichkeiten kennen und schätzen. Ihnen widmete er seine Traktate. Für Salvian und viele andere war klar: Diesen selbsternannten »Außenseitern« gehörte die Zukunft. Wenn solche jungen Männer aus provenzalischem Adel ihr Leben ganz der Religion widmen wollten, dann bestanden ihre ersten Schritte auf dem langen Weg der Bekehrung in der Regel darin, dass sie – in aller Öffentlichkeit – ein Leben zu führen begannen, wie man es von Büßern traditionell erwartete. Schon Honoratus, der spätere Gründer des Klosters Lérins, hatte als junger Mann um das Jahr 400 genau das getan. Er hatte sein volles, lockiges Haar abgeschnitten – Kennzeichen des jungen Edelmanns – und seine Gewänder aus glänzender, farbiger Seide gegen einen grauen, kratzigen Wollumhang eingetauscht: »ita repente totus ex alio alius ostenditur«: »[...] und so erschien er plötzlich vollkommen verändert und von einer Person in eine ganz andere verwandelt.«28 Irgendwann zwischen 400 und 410 gründete Honoratus dann das Inselkloster von Lérins (auf der heute nach ihm benannten Île SaintHonorat vor der Küste von Cannes). Man sprach von Lérins als einer 140
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wahren »Insel der Circe«,29 denn die Klosterinsel war ein Ort, an dem die Söhne des lokalen Adels – wie durch die Hand jener sagenhaften Zauberin – in Angehörige einer neuen klösterlichen »Elite« verwandelt wurden. Nachdem man ihnen ihre Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes abgeschoren hatte wie einen alten Zopf, setzten sie von der Insel wieder auf das Festland über, bereit, in den Bistümern Südgalliens das Ruder in die Hand zu nehmen. Im Jahr 426 wurde Honoratus selbst Bischof der turbulenten Provinzhauptstadt Arles – nicht lange, nachdem einer seiner Amtsvorgänger von einer militärischen Splittergruppe ermordet worden war! Solche selbsternannten Außenseiter waren in den Städten nur zu willkommen. In seiner Grabrede auf Honoratus betonte 429 Honoratus’ Neffe, Biograf und Nachfolger als Bischof von Arles, Hilarius, wie sich Honoratus als Mönchsbischof die Unterstützung der Laienschaft gesichert hatte. Es ist bezeichnend, dass Hilarius nicht nur die Predigt und das öffentliche Wirken des Verstorbenen würdigt, sondern auch lobend hervorhebt, welch große Rolle Honoratus bei der Verbesserung der Totensorge gespielt habe. Honoratus tat dies durch die sorgfältige Verwaltung des gestifteten Vermögens, das wohlhabende Laien aus Sorge um ihre eigenen Seelen der Kirche überlassen hatten. Die kirchliche Finanzverwaltung handhabte er mit geradezu klösterlicher Sparsamkeit, um sicherzustellen, dass der Kirchenschatz vor allem den Armen zugutekam – oder zugunsten der Seelen der Verstorbenen eingesetzt wurde. Indem er so handelte, »ließ Honoratus [wie Hilarius nachdrücklich hervorhebt] die kürzlich Verstorbenen am Reichtum [der Kirche] teilhaben. Die Spender aber verspürten wieder die refrigeria [d. h. die »Erholungspausen« für leidende Seelen], auf die ihre Spenden ja abgezielt hatten.«30 Von jener Zeit an entwickelten sich die Finanzen des Bistums Arles mehr als prächtig, denn der Bischof erfreute sich der gratia – des »Wohlwollens« – einer wohlhabenden Laienschaft. Auf diese sehr direkte Weise etablierte sich der Bischof von Arles – in eigener Person, aber im Interesse seiner gutbetuchten »Schäfchen« – als Wächter über die Verbindung von Reichtum und Jenseits. Mit diesem Aspekt von Honoratus’ Biografie sollten wir uns noch einen Augenblick länger beschäftigen. Die Kirche von Arles wurde in 141
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der Tat sehr reich. Der Grund hierfür war, dass nach Ansicht der Bischöfe von Arles der Reichtum der Kirche etwas grundsätzlich anderes war als jede andere Form von irdischem Reichtum. Der Reichtum der Kirche existierte einzig und allein, um den beiden hochbrisanten und paradoxen Polen der christlichen Vorstellungswelt zu dienen: den gesellschaftlich Toten und den physisch Toten – den Armen und den Seelen der Verstorbenen. Vor allem aber unterstützte der Reichtum der Kirche nicht nur die Armen, sondern war imstande, die Vergebung der Sünden zu bewirken. Diese Auffassung findet sich etwa bei einem späteren Autor, der der Kirche von Arles verbunden war: Julianus Pomerius, der als Flüchtling aus der ehemaligen römischen Provinz Mauretania nach Gallien gekommen war. In der Rückschau aus der Zeit um 500 weist Pomerius darauf hin, dass der Reichtum der Kirche (in Arles wie auch andernorts) auf einzigartige Weise zustande gekommen war: Er bestand aus den »Erbteilen der Armen«, das heißt aus Geldsummen, die reiche Bürger in ihren Testamenten zur Unterstützung der Armen verfügt hatten. Jedoch waren diese Vermächtnisse aus »Gelübden der Gläubigen als Preis für die Sünde« erfolgt. Aus diesem Grund waren sie unantastbar. Paradoxerweise verschafften also ausgerechnet die Beinahe-Unsichtbarkeit der Armen und die völlige Unsichtbarkeit des Jenseits dem immer sichtbareren Reichtum der Kirche einen Schutzschild, über den keine andere Form von Vermögen verfügte.31 Julianus Pomerius war ein Bewunderer Augustins. Einen deutlicheren Nachweis dafür, wie jene Verknüpfung von Almosengeben und Vergebung der Sünden (auf die Augustinus ja seine gesamte Argumentation gegen Pelagius gestützt hatte) sich im Lauf der Zeit zu einer regelrechten Ideologie des Kirchenbesitzes verfestigt hat, wird man kaum finden. Und diese Ideologie funktionierte. In seiner 502 entstandenen Schrift De vita contemplativa (»Über das Leben in der Kontemplation«) merkte Pomerius rückblickend an, dass Honoratus’ Neffe und Nachfolger Hilarius den Reichtum der Kirche von Arles durch Geldgeschenke der Gläubigen enorm vergrößert habe.32 Ihrer Vergangenheit und ihres eigenen früheren Reichtums ledig, erwiesen sich die gallischen Mönchsbischöfe unter den Angehörigen ihres gesellschaftlichen Milieus als charismatische und erfolgreiche Spendensammler. 142
Faustus von Riez
Im Fall des Hilarius von Arles sieht man schnell, warum das so war. Hilarius war Mönch der Abtei Lérins gewesen. Von 430 bis 449 amtierte er als Bischof von Arles. Er machte eine rasante, aber von ständigen Konflikten gezeichnete Karriere, in deren Verlauf er eine Art von kleinem »Kirchenstaat« mit Arles als Hauptstadt errichtete. Doch was sein Biograf später hervorhob, war die Art und Weise, in der Hilarius – ganz ähnlich seinem jüngeren Zeitgenossen Salvian – das Jenseits ins Diesseits gebracht hatte: als Bußprediger. Hilarius war berühmt für seine Drohpredigten: »Wer hätte die schreckliche Qual des Jüngsten Gerichts lebendiger gezeichnet? Wer sonst konnte seinem Publikum einen solchen Schrecken einflößen, indem er das düstere Lodern der Hölle heraufbeschwor? Wer konnte den sengenden Schmerz besser vermitteln, mit dem die Sünder im Feuerfluss hinweggespült wurden?« Und wenn seine Gemeinde sich schon aufzulösen begann, bevor er überhaupt zu seiner Predigt gekommen war, so rief er den sich Davonschleichenden hinterher: »Geht nur, geht nur! Aber dort drüben [im Jenseits] werdet ihr euch nicht aus Gehenna [der Hölle] davonstehlen können!« Als darauf eine große Feuersbrunst die Stadt Arles verwüstete, gab das Hilarius’ Worten noch größeres Gewicht, hatte man es doch nun mit Gottes Strafe für eine gleichgültige Bevölkerung zu tun, die sich geweigert hatte, einem Bußprediger zuzuhören.33 Das alles also gehörte zur Buße, wie man sie im Gallien des frühen 5. Jahrhunderts verstand. Dabei ging es jedoch nicht in erster Linie um ein »Bußsystem«, sondern vielmehr um einen allgemeinen Aufruf zu Buße und Umkehr, wie er in den Predigten einer bemerkenswerten Gruppe charismatischer Bischöfe erging.
Faustus von Riez Bis zum Anfang des 6. Jahrhunderts zog der Impuls dieser gallischen Bußkampagne immer weitere Kreise. Seine knappste Verkörperung begegnet uns in der Gestalt eines der letzten Zöglinge von Lérins. Faustus war als Persönlichkeit kaum weniger eigen als sein älterer Zeitgenosse Salvian. Wie dieser war vermutlich auch er als ein Flüchtling nach Lérins gekommen. Allerdings stammte Faustus nicht von der Rhein143
IV. Buße und Jenseits in Gallien
grenze, sondern aus einer zerfallenden Enklave »römischer« Werte tief im Westen – entweder aus dem römischen Britannien (oder dem, was davon noch übrig war) oder aus den römisch-britischen Siedlungsgebieten in der Bretagne. Von etwa 434 an wirkte er rund dreißig Jahre lang in Lérins, zuerst als einfacher Mönch, dann als Abt. Um das Jahr 460 herum wurde er Bischof von Riez, einer kleinen Stadt, die heute inmitten von Lavendelfeldern liegt. Zwar trennt der scharfe Kamm der Provenzalischen Alpen das Umland von Riez vom Saum der Riviera, doch dank einer römischen Straße war der Weg von Lérins nicht allzu weit. Bis in die 490er-Jahre amtierte Faustus als Bischof; wie Salvian erlebte er also das Ende des Weströmischen Reiches – und überlebte es noch um mehrere Jahrzehnte.34 Als Bischof schrieb Faustus vor allem über Themen, die unter den Theologen der Zeit heiß diskutiert wurden. Im Jahr 474 legte er mit der Schrift De gratia Dei (»Über die Gnade Gottes«) seine entschiedene Zurückweisung einiger radikalaugustinischer Positionen vor.35 Auch über das Wesen der Seele schrieb Faustus und äußerte dabei Kritik an dem übertriebenen »Immaterialismus« von Augustins neuplatonischem Seelenbegriff.36 An führende Laien richtete er Lehrbriefe über das Wesen der Buße.37 Wir wollen einen Moment bei diesen Werken verweilen, denn sie geben uns Einblick in die »geistige Innenausstattung« eines Bischofs aus der Schule von Lérins. Zuallererst bestand Faustus darauf, dass ein Bischof verpflichtet sei, seine Umwelt zurechtzuweisen und möglichst auch zu verändern. Er musste es also mit dem gallischen Adel aufnehmen. Dazu spielte er seinen Status als »Außenseiter« gegen den Stolz und die Rücksichtslosigkeit der unbußfertigen Mitglieder seiner eigenen Herkunftsschicht (der Oberschicht) aus. Einer seiner glühendsten Bewunderer war Sidonius Apollinaris. Als Angehöriger der obersten gallischen Adelsschicht (als der er sich offenbar auch fühlte) wusste Sidonius genau, wie ein stolzer Edelmann aussah. Sein größtes Lob für Faustus war, dass der Mönchsbischof es gelernt habe, »das selbstherrliche Verhalten der Hochgeborenen gering zu achten« (tumidos maiorum temnere mores).38 Die in Faustus’ Schriften vertretenen Ansichten spiegelten sein Pflichtgefühl als aktiver Bischof. Seiner Ansicht nach war es die Aufgabe eines Bischofs, die politischen Entscheidungsträger seiner Zeit zu 144
Faustus von Riez
beeinflussen. Faustus war ein Kämpfer, sowohl in seinem alltäglichen Amtsgeschäft als auch in seiner Theologie. Seine Schrift De gratia Dei enthielt die kompromisslose Formulierung einer Lehre, die man als den »gallischen Konsens« in Sachen Gnade und Willensfreiheit bezeichnet hat.39 Und dieser Konsens sprach sich für direktes Handeln in der Welt aus. Wir müssen uns hier nicht mit den Details von Faustus’ Theologie befassen. Worauf es ankommt, ist, dass seine Sichtweise der Beziehung zwischen Gott und den Menschen auf einer gesellschaftlichen Metapher aufbaute, die unter den Angehörigen des provenzalischen Kleinadels große Bedeutung hatte: Faustus bestand darauf, dass die Christen sich nicht als bloße Sklaven Gottes betrachten sollten, die ihren freien Willen ganz und gar an eine höhere Instanz abgetreten hatten – wie es, so argwöhnte man zumindest, einige extreme Anhänger Augustins lehrten. Stattdessen waren die Gläubigen Gottes freie Klienten und er war ihr Patron. Das hieß nun nicht, dass sie nicht auf Gott angewiesen waren, im Gegenteil: Sie brauchten ihn sogar sehr. Dennoch wandten sie sich an Gott in erster Linie als freie, selbstbestimmte Individuen. Dieses winzige Körnchen Freiheit war für Faustus und seine Anhänger unendlich wichtig. In einer Welt, in der tatsächliche Sklaverei noch immer weitverbreitet war, kam dem Unterschied zwischen einer Existenz als Sklave und einem Leben als Klient natürlich ein besonderes Gewicht zu. Wenn Klienten in einer Abhängigkeitsbeziehung zu einer hochgestellten Persönlichkeit standen, dann hatten sie sich freiwillig für diese Abhängigkeitsbeziehung entschieden. Was sie im Gegenzug zu bieten hatten, war der bereitwillige, ungezwungene Dienst freier Männer. Genauso war es im Verhältnis der Menschen zu ihrem Gott. Man diente Gott nicht einfach wie ein Sklave oder wie ein Besessener, dessen ganze Identität unter göttlicher Kontrolle stand. Die Gläubigen waren nicht Gottes Roboter, sondern Gottes tatkräftige Mitarbeiter.40 Diese robuste Meinung lag Faustus’ überraschend aktivistischem Kirchenverständnis zugrunde. Er machte sehr deutlich, dass Gott keineswegs »nur durch sich allein [handelt] wie ein Einzelkämpfer [solitaria procuratione] [...] Das am wenigsten! Sondern [er handelt] mit dem ganzen Körper [der Kirche], mit all ihren Gliedern, die sich um ihre Bischöfe und Seelsorger scharen, mit allen, die [wie Paulus] sagen kön145
IV. Buße und Jenseits in Gallien
nen: Denn wir sind Gottes Mitarbeiter [1 Kor 3,9] [...] Ganz gewiss wird die Kirche auf keine andere Weise errichtet als allein durch die Mühen und guten Dienste [officia] der Bischöfe und durch die Tätigkeit und das gute Vorbild der Heiligen.«41 Doch wie sollte dieser tätige Geist auf Dauer erhalten werden? Faustus’ Antwort war eindeutig: durch Buße sowie durch Formen der Meditation, die der Buße zuträglich waren. Sein strenges Bußverständnis diente ihm als ein Druckmittel, mit dem er die Herzen einflussreicher Männer bewegen konnte. So wandte er sich etwa an Magnus Felix, einen früheren Statthalter von Gallien und Freund des Sidonius Apollinaris, mit einer »brieflichen Ermahnung zur Gottesfurcht, wie sie einer Person wohl ansteht, die mit vollem Einsatz [pleno animo] Buße tun will«.42 Nach Faustus’ Auffassung konnte dieser »volle Einsatz« durch drastische Gedankenexperimente herbeigeführt werden. Der Stolz eines bekehrten Adligen konnte einzig und allein dadurch überwunden werden, dass man ihm »das gesamte Panorama [die historia] eines schamwürdigen Vorlebens vor Augen stellt und seinen bebenden Sinnen alle Schuldgefühle gegenwärtig macht«.43 Auch das Jüngste Gericht sollte in der Vorstellung des so Bewegten lebendig werden: »in den verborgenen Tiefen des Bewusstseins [soll es] schon im Voraus abgebildet sein, [so dass] du deine Augen stets zum Stuhl des Richters emporhebst.«44 »Ein Eingeständnis der Sünde, Furcht vor dem Gericht und Schrecken vor dem ewigen Feuer« – das war Faustus’ Rezept für die spirituelle Bildung jener einflussreichen Männer, denen die großen Vermögen Galliens gehörten.45 Aus Faustus’ Sicht gab es schlicht keine andere Möglichkeit. Einem gewissen Paulinus von Bordeaux (der aus derselben adligen Familie stammte wie der große Paulinus von Nola) teilte Faustus unmissverständlich mit, dass ein bloßer Augenblick des Bedauerns auf dem Sterbebett nicht ausreichen würde.46 Weil die »Imaginationsarbeit« des reuigen Sünders für Faustus eine solch große Rolle spielte, lehnte er auch die augustinische Lehre von der Immaterialität der Seele ab. Unter den Denkern seiner Zeit war er damit nicht allein. Johannes Cassian, dessen Werke über das ägyptische Mönchtum (die er freilich in den 420er-Jahren in der Provence verfasst hatte) eine große Inspiration für die Mönche von Lérins gewesen wa146
Faustus von Riez
ren, teilte Faustus’ Position. Gott allein war vollkommen unkörperlich, vollkommen »geistig« und damit auch unendlich.47 Im Gegensatz dazu waren alle seine Geschöpfe durch irgendeine Art von Körper eingeschränkt, selbst wenn dieser Körper so zart und leicht war wie der feurige Ätherleib der Engel.48 Den Gegenstand der »Imaginationsarbeit«, die Faustus vorschwebte, machte Cassians Vorstellung vom »Körper der Seele« auf packende Weise greifbar. Die Hölle war nun keine flüchtige Abstraktion oder bloße Redensart mehr. Es gab sie. Auch den schwindelerregenden Abgrund, der sich zwischen Himmel und Hölle auftat, gab es wirklich. Wer das bezweifelte, würde seine Lektion schon noch lernen: »Inmitten des glutheißen Dunstes wird die Seele sehen und fühlen – nur allzu spät –, dass sie wahrhaftig ein leibhaftes Ding ist.«49 Faustus’ Seelenlehre brachte ihm die Replik eines anderen Freundes von Sidonius ein, des neuplatonischen Philosophen und Klerikers Claudianus Mamertus aus Vienne, der seine eigene Sicht der Dinge in dem ungewöhnlich aggressiv gehaltenen Traktat De statu animae (»Über den [hohen] Stand der Seele«) darlegte.50 Für Claudianus war es ein geistiger Rückschritt, die völlige Immaterialität der Seele zu leugnen – bedeutete es doch, einem der edelsten Gedanken der Antike den Rücken zu kehren. Folgte man Claudianus, so hatte die Geschichte des antiken Denkens in Platon – dem »Fürsten der Philosophen« – einen ersten Höhepunkt erreicht, einen zweiten dann in christlicher Zeit, als Augustinus die platonische Auffassung von der vollkommenen Immaterialität der Seele auf kühne Weise neu formuliert hatte. Für Claudianus war Augustinus ein spiritalis sophista – ein genialer Verteidiger des geistigen Wesens der Seele.51 Im weiteren Verlauf der Geschichte haben wir dazu geneigt, Claudianus zuzustimmen. Faustus’ Vorstellung von der Seele ist – im Vergleich mit der »spirituelleren« Vision des Augustinus – immer wieder als primitiv dargestellt worden. Zur damaligen Zeit war die Frage jedoch alles andere als entschieden. Faustus hatte nicht nur Cassian auf seiner Seite, sondern auch eine ehrwürdige Tradition innerhalb des stoischen Denkens.52 Die »unkörperliche« Seele des Augustinus schien ihm auf gefährliche Weise gesichtslos: Ihre Identität, die ja an einen konkreten Körper geknüpft war, war ihr entglitten. Und an der Identität 147
IV. Buße und Jenseits in Gallien
hing immerhin die Verantwortlichkeit für die Sünde. Darauf hatte Tertullian schon im Jahr 200 n. Chr. hingewiesen: »Das Unkörperliche ist frei von jeder Art der Beschränkung oder Hemmnis, und ist auch frei von Strafen.«53 Die augustinische Seelenlehre machte die Seele gewissermaßen »unverortbar« und das war bedenklich, denn so wurde sie zugleich unvorstellbar, sie konnte die menschliche Vorstellungskraft nicht mehr beschäftigen. Wie sollte es gelingen, mit einem derart abstrakten, derart ätherischen Ding, wie die vollkommen immaterielle Seele eines war, die atemberaubende Wirklichkeit von Himmel und Hölle ins Bewusstsein zu rufen?54 Faustus’ Ansichten verdienen eine genauere Betrachtung, als ihnen die Theologiegeschichte des Frühmittelalters bisher geschenkt hat. Es wird heute beinahe vorausgesetzt, dass die christliche Frömmigkeit im Gallien des 5. und 6. Jahrhunderts mit der Zeit immer primitiver, grobschlächtiger und »materialistischer« geworden sei. Die Jenseitsvorstellungen, die im merowingischen Gallien aufkamen, erscheinen uns unglaublich konkret – tatsächlich so konkret, dass wir es kaum glauben können. Instinktiv nehmen wir deshalb an, dass die Verfechter eines unkörperlichen, »spirituelleren« Seelenbegriffs auch die klügeren Köpfe gewesen sein müssen, weil sie uns stärker an die Menschen der Neuzeit – und damit an uns selbst – erinnern. Wer Faustus’ Schriften damals las, wird die Sache allerdings ganz anders gesehen haben. Dass Faustus sich – gegen Augustinus – auf Cassian berief, war ein Appell an das christliche Verantwortungsgefühl, ausgelöst durch das dringende Verlangen eines Autors, den Großen seiner Zeit die tatsächliche Existenz des Himmels, der Hölle und ihrer ewigen Strafen tief in ihre Seelen zu schreiben. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, blieb diese Tradition bestehen. Die Werke etwa Gregors von Tours sind voll von historiae – packenden, konkreten Geschichten, in denen die Realitäten von Himmel, Hölle und dem Jüngsten Gericht auf die lebhafteste Weise ins Hier und Jetzt gebracht werden. Salvian von Marseille und Faustus von Riez wären sehr zufrieden gewesen.
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Caesarius von Arles
Caesarius von Arles Die nun wirklich letzte große Persönlichkeit aus dem Kloster Lérins, die in der Provence predigte, war Caesarius, der von 502 bis 542 als Bischof von Arles amtierte.55 Caesarius ist bis heute als ein getreuer – wenn auch nachgeborener – Anhänger des Augustinus bekannt. Oft griff er in seinen eigenen Predigten auf die Predigttexte seines Meisters zurück. Bei der Synode von Orange sorgte er 529 dafür, dass einige jener Ansichten, die Faustus so eifrig vertreten hatte, verworfen und verurteilt wurden.56 Und doch waren sich Caesarius und Faustus ähnlicher, als man gemeinhin denkt; was sie verband, war das ausgeprägte Bewusstsein von der Dringlichkeit ihres Anliegens, das beide teilten. Beide sahen sich zudem als Bußprediger. Beide wollten ihre Schäfchen aufrütteln, um sie von der Wirklichkeit der anderen Welt und dem Bevorstehen des Jüngsten Gerichts zu überzeugen. Der Prediger Caesarius war für seine »unermüdliche Stimme« bekannt. Oft schüchterte er sein Publikum durch seine scharfen Tiraden geradezu ein.57 Anders als Hilarius, der ein Jahrhundert zuvor in Arles gepredigt hatte, ließ Caesarius es nicht dabei bewenden, potenzielle oder tatsächliche »Predigtschwänzer« vor den Konsequenzen ihres Verhaltens in der Hölle zu warnen; sondern er ließ tatsächlich die Pforten seiner Kathedrale versperren, damit niemand vor der Predigt den Raum verlassen konnte!58 Seine Botschaft sollte bei all jenen, die ihn hörten, impectoratum werden – »tief in der Brust verankert«.59 Es ist keineswegs sicher, dass Caesarius all diese Dinge aus einer Position der Stärke heraus tat. Seine Autorität als Bischof von Arles wurde regelmäßig angefeindet und sogar ignoriert. Wenn er auch eine »unermüdliche Stimme« gehabt haben mag, so war es doch wohl oft die Stimme eines einsamen Rufers in der Wüste.60 Erst vor Kurzem hat Lisa Bailey in ihrer sorgfältigen und einfühlsamen Studie des sogenannten Eusebius Gallicanus (einer Predigtsammlung aus Lérins und der Provence) nachweisen können, dass durchaus nicht alle Prediger aus Caesarius’ Umfeld gegenüber ihren Gemeinden derart aggressiv und zudringlich auftraten.61 149
IV. Buße und Jenseits in Gallien
Zwar hatten Caesarius’ Predigten wohl keine sehr große Reichweite, aber von dem, was er predigte, war er zweifellos überzeugt. In der Vita Caesarii, einer Lebensbeschreibung aus der Feder einiger ihm nahestehender Priester, wird deutlich, dass der scharfe Gegensatz von Himmel und Hölle den Bischof sogar bis in seine Träume verfolgte: »Dann rief er im Schlaf mit träger Stimme: Duo sunt, nihil est medium. Zwei Orte gibt es, und nichts dazwischen. Entweder man steigt auf zum Himmel – oder fährt hinab in die Hölle.«62
Buße und Endzeit in einer nachrömischen Welt Wer sich mit der Religionsgeschichte Galliens beschäftigt, läuft unweigerlich Gefahr, seine ganze Aufmerksamkeit auf den glanzvollen Kreis von Persönlichkeiten zu konzentrieren, die mit dem Kloster Lérins und der Provence überhaupt verbunden sind. Dabei war die charakteristische Dringlichkeit, mit der jene Autoren und Prediger auftraten, weit über die Grenzen Südgalliens hinaus verbreitet. Etwa um dieselbe Zeit erfasste ein Gefühl von Hast und Eile die gesamte westliche Christenheit. Belege hierfür finden sich mitunter dort, wo man sie als letztes erwartet hätte – sogar im fernen Irland. Als um die Mitte des 5. Jahrhunderts ein gewisser Patricius – uns besser bekannt als der heilige Patrick – eine Confessio niederschrieb, in der er seine Missionierung der heidnischen Iren rechtfertigte, bekräftigte er die Richtigkeit seines Vorgehens, indem er zunächst das Glaubensbekenntnis in seiner traditionellen Form anführte. Doch als er an die Stelle gelangte, wo es von Christus heißt: »[...] von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten«, fügte er mit Bedacht ein kleines, aber überaus bedeutsames Wörtchen ein: mox. Für Patrick war klar, dass Christus »bald« kommen würde. Und dies war nun eine Stimme vom Rand der bekannten Welt. Obwohl er nicht zwangsläufig mit dem Kloster Lérins in Kontakt gestanden hat (was spätere Legenden ihm gleichwohl andichten wollten), teilte Patrick jene gespannte Erwartung des kommenden Gerichts, die sich schon auf dem gesamten europäischen Kontinent herangebildet hatte. Diese Endzeiterwartung warf ihre bedrohlichen Schatten voraus – auf einzelne Personen, aber auch auf ganze Gemeinschaften.63 150
Buße und Endzeit in einer nachrömischen Welt
Wie schon bei unserer Betrachtung des »bedrohlichen Jenseits« und seiner Entstehung in gewissen provenzalischen Kreisen sollten wir unser Sichtfeld jetzt nicht auf Gallien allein beschränken, wenn wir die Überzeugung vom Kommen der »Endzeit« in den Blick nehmen. Immerhin haben wir es mit der gallischen Rezeption und Adaption von Ideen zu tun, die auch andernorts in Umlauf waren. Ehemalige Mönche von Lérins, wie Faustus von Riez und Caesarius von Arles welche waren, hatten sich in der Regel auf die Bekehrung von Individuen konzentriert. Patrick und anderen war hingegen vollkommen klar, dass, wer Buße predigt immer auch größere Problemzusammenhänge bedenken muss. Ihnen galt das christliche Gottesvolk in seiner Gesamtheit als ein einziger großer Sünder, der zur Umkehr gebracht werden muss. Das wird vielleicht am deutlichsten in einem Visionstext, der unter dem Titel Apokalypse oder Vision des heiligen Paulus (kurz Visio Pauli) kursierte. Die Visio Pauli kam noch zu Lebzeiten Augustins in Italien und Nordafrika in Umlauf (wie wir am Ende von Kapitel 3 bereits gesehen haben).64 Bis in das 6. Jahrhundert war sie – zumindest in Auszügen – bis nach Gallien gelangt und wurde von Caesarius zitiert.65 Die Visio Pauli hatte ihren Ursprung im Osten, womöglich im südlichen Kleinasien. Sie ist ein vieldeutiger, schwer greifbarer Text. Die Reichweite ihrer Verbreitung sollten man nicht überschätzen, aber eine gewisse, weitverbreitete Stimmung lässt sich an ihr ganz bestimmt ablesen. Wir sollten sie uns deshalb ein wenig genauer ansehen. Ihrer Form nach handelt es sich bei der Visio Pauli um einen packenden Reisebericht von einem Besuch des Apostels Paulus ins Jenseits, bei dem dieser schon einmal die Qualen zu sehen bekommt, die sündige Seelen in der anderen Welt erwarteten. Der Schrecken dieser Folterszenen hat in der Vergangenheit oft dazu geführt, dass die Gesamtintention der Paulus-Vision in den Hintergrund getreten ist. Die Kernaussage der Visio Pauli ist gerade nicht, dass Gott grausam, sondern, dass er in bemerkenswertem Maß geduldig ist. Er hatte, wie es in dem Text heißt, Anschuldigungen gegen die Menschen, die von den Elementen selbst vorgebracht worden waren, zurückgewiesen. Sonne und Mond hatten sich bei ihm beschwert, die menschliche Sünde verpeste die gesamte Atmosphäre. Land und Meer hatten ihn gebeten, die Menschheit ver151
IV. Buße und Jenseits in Gallien
schlingen zu dürfen. Aber Gott hatte abgelehnt und sich an die Seite seiner Geschöpfe gestellt: patientia mea sustinet eos – »meine Geduld erträgt sie«. Gott bestand darauf, dass der Mensch noch einmal verschont werden müsse.66 Und so sollte auch Paulus aus seiner Vision zurückkehren, um noch ein allerletztes Mal die Buße zu predigen. Die Bischöfe Galliens aber sahen sich als die »Paulusse« ihrer Zeit. In ihren Augen war nicht nur das Individuum, sondern die christliche Gesellschaft als Ganze dazu aufgerufen, zu Gott zurückzukehren, bevor es ein für alle Mal zu spät war. Es scheint verlockend, die Ausbreitung der Visio Pauli als eine apokalyptische Reaktion auf den Zerfall des Römischen Reiches zu deuten; aber das hieße vielleicht, die Wirkung zu überschätzen, die das endgültige Verschwinden des Reiches im Westen im Jahr 476 auf die gallischen Christen hatte. Stattdessen sollte man die Popularität der Visio Pauli wohl eher als ein »postimperiales«, ein nachrömisches Phänomen betrachten. Sie war nur eines unter vielen Anzeichen dafür, dass die gallische Gesellschaft sich nach den heftigen Verwerfungen, die sie in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts durchlitten hatte, langsam wieder sammelte. Was die Bischöfe und Prediger betraf, mochte das Römische Reich von der Bühne verschwinden – aber der Mensch, der sündige Mensch, blieb doch bestehen. Und er war noch genauso erlösungsbedürftig wie zuvor. Gott dachte gar nicht daran, den Menschen vom Angesicht der Erde zu tilgen, im Gegenteil: Er hatte den Bewohnern von Gallien und allen anderen noch eine letzte Schonfrist gesetzt, damit sie ihre Sünden bereuen und aufrichtig Buße tun konnten. In der Praxis hieß das, dass die führenden Köpfe einer nachrömischen Gesellschaft, die schon seit Generationen durch Bußpredigten, Jenseitsvisionen und Endzeitwarnungen sensibilisiert worden war, sich in aller Ruhe ihrem Alltagsgeschäft widmen konnten – mit Buße, Almosengeben und der Eliminierung der Sünde. Alles in allem war die Stimmung des späten 5. und frühen 6. Jahrhunderts nicht von apokalyptischer Angst erfüllt, sondern von der Bereitschaft zur – wenn auch mühseligen – Reform. Die gallische Gesellschaft hatte überlebt und nun sollte sie so auf Vordermann gebracht werden, dass sie dem göttlichen Richterspruch hoffnungsvoller als zuvor entgegenblicken konnte. 152
Buße und Endzeit in einer nachrömischen Welt
Eine lebhafte Begebenheit mag diesen Stimmungswechsel veranschaulichen. Im Jahr 467 stieg der Eremit Lupicinus aus seiner Höhle im Jura hinab, um einen einflussreichen Römer anzuklagen, der die Armen unterdrückt und ausgebeutet hatte. Dieser Römer war inzwischen zu einer einflussreichen Persönlichkeit am burgundischen Königshof geworden; der König der Burgunder hatte in dieser Gegend die Herrschaft an sich gerissen. Der mächtige Römer verspottete den Einsiedler: »Bist du nicht dieser Scharlatan von damals, der vor zehn Jahren schon [also um 457 – unmittelbar nach dem großen Hunneneinfall unter Attila] die Würde der römischen Ordnung in den Schmutz gezogen hat mit seinen arroganten und hochmütigen Reden? Der behauptet hat, dem Land unserer Väter drohe ein nahendes Unheil? Warum denn [...] sind solche schrecklichen Vorhersagen nicht eingetroffen?67 In den 450er-Jahren war Lupicinus offenkundig als der Salvian seiner Gegend aufgetreten und hatte das baldige Ende des Römischen Reiches angedroht: als ein Element des göttlichen Gerichts, durch das die Sünden der ortsansässigen römischen Bevölkerung »im Hier und Jetzt« bestraft werden würden. Etwa um dieselbe Zeit hatte der »echte« Salvian von Marseille aus ganz Ähnliches gepredigt. Zehn Jahre später schien es nun, dass die angedrohte Gottesstrafe ausgeblieben war. Natürlich erinnerte Lupicinus den spöttischen Höfling daran, dass seine Prophezeiung ja nicht gänzlich falsch gewesen sei. Das Römische Reich war in der Tat verschwunden und der stolze Römer fand sich als Untertan eines Barbarenkönigs wieder. Auf einer grundsätzlicheren Ebene hatte jedoch der Spötter recht: Die Empfindung einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe, die für die »Generation Salvian« so charakteristisch gewesen war, hatte sich in Luft aufgelöst. Und selbst die Gründung von Barbarenreichen hatte der römischen Gesellschaftsstruktur nicht ernstlich etwas anhaben können. Ganz im Gegenteil hatten diese Königreiche Recht und Ordnung in Regionen gebracht, die schon seit Jahrzehnten unter einem verhängnisvollen Autoritätsvakuum gelitten hatten. Und noch aus einem weiteren Grund führt die Bezeichnung »Barbarenreiche« in die Irre: Indem die römischen Provinzeliten nicht nur den Machtanspruch ihrer Herren stützten, sondern auch einen großen Teil der zu vergebenden Posten besetzten, wurden die vermeintlich »barbarischen« Königreiche in 153
IV. Buße und Jenseits in Gallien
Wahrheit zu Miniaturversionen des alten Römischen Reiches.68 Nun war es für ihre Herrscher und deren größtenteils römische Amtsträger an der Zeit, sich in einer Welt ohne Weltreich zu bewähren. Mit dem Fall Roms kam es zu einer erheblichen Verschiebung der geografischen Perspektive. Was die königlichen Macht- und Muskelspiele der neuen Herren angeht, erregen auch andere Königreiche jenseits der »hyperrömischen Enklave« der Provence unsere Aufmerksamkeit. Das Kerngebiet des Frankenreiches – das schon bald als Francia bezeichnet werden sollte – lag weiter im Norden. Nach der Regierungszeit des Merowingers Chlodwig I. (486–511) herrschten die fränkischen reges, die die Verluste der vorangegangenen Generation durch eine Neuordnung ihres Machtapparats von oben nach unten wettmachen wollten, über ganz Gallien. Diese Wiederherstellung der herrscherlichen Kontrolle betraf auch die gallische Kirche als Ganze, wodurch dem Frankenreich weitere mediterrane wie nichtmediterrane Horizonte eröffnet wurden. Für die Bischöfe ging die Wiederherstellung der Ordnung Hand in Hand mit einer andauernden Predigtaktivität, bei der die Bußbedürftigkeit des Menschen herausgestrichen und die – gleichzeitig zur Buße animierende – Furcht vor der Hölle und dem Jüngsten Gericht wachgehalten wurde. Gleich den Bögen einer weitgespannten Brücke verband die Bußfrömmigkeit, die schon in den Tagen Augustins an Bedeutung gewonnen und die späteren Mönche und Bischöfe der Provence geprägt hatte, die letzten Tage des Römischen Reiches mit den ersten Jahrhunderten der nachrömischen Königreiche Westeuropas. Außerdem übernahmen die fränkischen Könige aus dem Römischen Reich das Idealbild eines christlichen Herrschers, das sich seit der Zeit Kaiser Konstantins entwickelt hatte. So konnten sie gleichsam als Partner der Bischöfe an deren Aufrufen zur Umkehr teilhaben und das Ihre dazu beitragen, die Sünde zu bestrafen. In den gängigen Darstellungen vom Ende des Römischen Reiches im Westen kommt dieses Wiedererstarken der alten Machtstrukturen kaum vor. Nach dem landläufigen Klischee handelte es sich beim »Fall Roms« um eine einzige unwiderrufliche Katastrophe. Dasselbe Klischee folgert dann weiter, dass es nach dem ursprünglichen Sturz der alten Ordnung nur noch bergab gehen konnte. So hält sich noch immer 154
Buße auf Befehl des Königs
die Auffassung, die Barbarenreiche Westeuropas (und insbesondere die merowingischen Königreiche im fränkischen Gallien) seien failed states gewesen, zerrüttete und zum Scheitern verurteilte Staatswesen, die das ganze 6. und 7. Jahrhundert hindurch in einer steten Abwärtsspirale sinnloser Gewalt gefangen gewesen seien.69 Dabei stimmt das alles überhaupt nicht. Erst kürzlich haben Christopher Wickham und Jairus Banaji in umfassenden Studien über das Wirtschaftssystem des merowingischen Gallien nachgewiesen, dass es nach den Verwerfungen des 5. Jahrhunderts zu einer Wiederherstellung herrschaftlicher Kontrolle kam.70 Die widersetzlichen Bauern im nördlichen Gallien wurden gefügig gemacht – mit dem Ergebnis einer (allerdings auf landwirtschaftlicher Zwangsarbeit beruhenden) Steigerung der Erträge. Auch die Studie von Stefan Esders zum Wesen der fränkischen Herrschaft belegt, dass in den Händen der Frankenkönige und ihrer römischen Untergebenen die Herrschaftsgewalt keineswegs geschwächt, sondern vielmehr bekräftigt wurde.71 Bis zum Jahr 600 war aus Herrscherfamilien, Adel und Kirchenoberen eine einzige herrschende Schicht entstanden, innerhalb derer sich Franken, Romanen, Burgunder und andere leicht und frei mischten. Durch ihre Zusammenarbeit schufen sie eines der wohlhabendsten Gemeinwesen der damaligen Christenheit – wovon freilich nur sie selbst, nicht jedoch ihre Leibeigenen etwas hatten. Mit den Eliten Nordgalliens traten (in den Worten Jairus Banajis) »die ersten wahrhaft mittelalterlichen Adelsstrukturen Europas« in das Licht der Geschichte.72
Buße auf Befehl des Königs Vor diesem Hintergrund – einer Wiederherstellung der herrschaftlichen Ordnung sowie des Auftretens neuer Eliten (vor allem in Nordgallien), beides im Verlauf des 6. Jahrhunderts – entwickelte sich etwas, was man als eine bestimmte religiöse »Herrschaftsstimmung« bezeichnen könnte. Diese Stimmung wird etwa in den öffentlichen Verlautbarungen der merowingischen Herrscher deutlich. Auf den Druck ihrer Bischöfe hin legten die fränkischen Könige sich rasch auf die Doktrin von der kollektiven Buße fest. Sie erklärten, dass es ihre herrscherliche 155
IV. Buße und Jenseits in Gallien
Pflicht sei, öffentliche Sünden abzustellen, die ja ansonsten den Zorn Gottes auf die gesamte Gemeinschaft herabrufen würden. Wenn alles Predigen der Bischöfe nicht ausreichte, um die Menschen zur Buße und zur Abkehr von ihrem sündhaften Verhalten zu bewegen, dann mussten eben gekrönte Häupter die Arbeit zu Ende bringen, reiche Sünder mit Geldstrafen belegen und Sklaven oder Bauern, die gegen den christlichen Verhaltenskodex verstoßen hatten, auspeitschen lassen.73 Das Praeceptum Childeberts I., der von 511 bis 558 regierte, machte diese Auffassung explizit: Es sei Aufgabe des Königs, »darauf bedacht zu sein, wie die Vergeltung Gottes über Frevler gebracht werden könne« – selbst über jene, die lediglich »am Sonntag von Hof zu Hof getanzt« waren.74 Im Jahr 585 verschaffte Guntram von Burgund seinem Machtanspruch in einem Edikt Geltung, das sogar noch deutlichere Worte fand: »Während wir daher über die Stabilität unseres Königreichs sowie die Erlösung unserer ganzen Gegend und ihrer Bevölkerung nachsinnen, wissen wir doch, dass innerhalb unserer Grenzen jedes denkbare Verbrechen [gegen die christliche Moral] begangen wird [...] und dass deshalb ohne Zweifel Mensch und Tier durch den Zorn des Himmels zugrunde gehen und sterben, durch Unglücksfälle oder Krankheiten oder durch das Schwert [...] und [diese Menschen] verlieren nicht nur ihr jetziges Leben früher [als es vielleicht nötig gewesen wäre], sondern sie ziehen sich zudem die Qualen der Hölle zu.«75 Die tatsächliche Wirkung derartiger Erlasse sollten wir nicht überschätzen. Sie verwandelten Gallien keineswegs in einen Moralpolizeistaat. Mit einem Terminus aus der Rechtstheorie der Gegenwart könnte man sie vielleicht als »ambitionierte« Gesetze bezeichnen.76 Sie hatten durchaus etwas von »Bilanzverschönerung« an sich, lieferten sie doch den Entwurf für ein ordentliches christliches Gemeinwesen, ohne die dazu notwendigen Einzelbestimmungen mit allzu großer Strenge durchzusetzen. Zudem war die Liste der Verbrechen, um die es ging, überschaubar: Zauberei, Entheiligung christlicher Festtage durch volkstümliche Vergnügungen, Sonntagsarbeit, heidnische Praktiken und Inzest.77 Dennoch waren diese Gesetze Symptome einer bedeutsamen geschichtlichen Wende: Gallien vollzog den Übergang von der antik-römischen zur nachrömischen Gesellschaft und dieser Prozess bezog sowohl Bischöfe als auch Könige mit ein. 156
Buße auf Befehl des Königs
Kurz gesagt, demonstrierten die fränkischen Könige, wenn sie sich mit Fragen von Sünde und Buße beschäftigten, dass sie wie die christlich-weströmischen Kaiser des 5. Jahrhunderts oder die mächtigen oströmischen Kaiser des 6. Jahrhunderts agieren konnten. Sie nahmen verschiedene Aufgaben wahr, die zuvor in der Zuständigkeit des Kaisers gelegen hatten, unterdrückten das Heidentum, zwangen die Juden aus dem öffentlichen Raum und verhalfen zugleich christlichen Moralvorstellungen zu öffentlicher Dominanz. Dabei ging es jedoch um mehr, als nach außen hin das schöne Bild eines christlich-römischen Reiches zu bewahren. Vielmehr vermittelten solche Gesetze der jeweiligen Bevölkerung, dass ihr König sich durch seinen Kampf gegen die Sünde als rechtmäßiges Haupt eines geeinten christlichen Gemeinwesens qualifizierte. Alle Christen konnten sündigen. Jeder Christ konnte zur Hölle fahren. Die gesamte Gemeinschaft konnte durch Sünden betroffen werden, die Gottes Zorn auf ein ganzes Volk zogen. Folglich konnte der König (als oberster Sündenbekämpfer) gerade so viele Untertanen für sich beanspruchen, wie es potenzielle Sünder in seinem Königreich gab – und das hieß de facto, dass jedermann sein Untertan war. Eine derart scharf umrissene Sicht zwang einem im Grunde durchaus komplexen politischen Gefüge – in dem Franken mit Romanen rangelten, Kleriker mit Laien und in dem viele aus der Antike übernommene Statusmarker (wie etwa das römische Bürgerrecht) erodiert waren – eine große Einfachheit auf. In einer »unordentlichen« Gesellschaft, die sich aus den verschiedensten widerstreitenden Gruppierungen zusammensetzte, konnten zumindest alle Untertanen eines »ordentlichen« christlichen Königreichs als potenzielle Sünder angesprochen werden, deren Verhalten kontrolliert werden musste. Und folglich konnten sie alle als Angehörige eines einzigen »christlichen Volkes« behandelt werden, das der mahnenden Aufsicht eines einzigen christlichen Königs unterworfen war. Auf diese paradoxe Weise schlug die dramatische Vorstellung von den Gefahren des Jenseits – dem Feuer der Hölle und dem drohenden Gericht –, die Salvian und andere im Südgallien des frühen 5. Jahrhunderts gepredigt hatten, im 6. Jahrhundert ganz neue Wurzeln, indem sie – im großen Reich der Franken und anderswo – zur Grundlage herr157
IV. Buße und Jenseits in Gallien
scherlicher Ermahnungen im Diesseits wurde. Diesseits und Jenseits waren nun endgültig miteinander verflochten. Mit dem Aufkommen der Vorstellung von einem christlichen Königreich, dem das baldige Gottesgericht droht, brach in der Geschichte der gallischen Kirche ein neues Zeitalter an. Um zu verstehen, wie dieser Bruch sich auf die herrschenden Jenseitsvorstellungen auswirkte, sollten wir uns nun den so umfangreichen wie ausdrucksvollen Werken einer Figur aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts zuwenden. Die Rede ist von Gregor, der von 573 bis 594 als Bischof von Tours amtierte.
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V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
B
isher haben wir gesehen, wie sich im Gallien des 5. und frühen 6. Jahrhunderts eine beklommene Erwartung des Jüngsten Gerichts herausbildete. Als die Bußpredigten in den Klöstern und Städten Südgalliens immer häufiger und eindringlicher wurden, geschah dies ausdrücklich zur Vorbereitung auf das Jüngste Gericht. Unter den Bischöfen und Klosterführern der Provence entspann sich ein moralreformerischer Diskurs, der sprachlich ganz auf dem bestehenden Bußsystem beruhte. Unter Verwendung dieses Diskurses bemühte sich eine redegewandte Gruppe von »Außenseitern« – tatsächlich zum Christentum konvertierte Aristokraten –, sich von jenen unbußfertigen, gottlosen und selbstherrlichen Angehörigen ihrer eigenen Schicht abzusetzen, die im römischen Gallien (oder vielmehr dem, was davon übrig war) noch immer das Sagen hatten. Ab der Zeit Salvians von Marseille produzierten diese »Außenseiter« eine Fülle von Mahn- und Tadelschriften, die sich vorrangig an ihre adligen Standesgenossen richteten. Im Fall von Salvians »Offenem Brief an die Kirche« und seinem Traktat De gubernatione Dei (»Von der Weltregierung Gottes«) brachte diese Tradition wahre Meisterwerke der Gesellschaftskritik hervor. Die eine Schrift hatte die Reichen vor den Heeren strafender Engel gewarnt, die sich an ihren Sterbebetten einfinden würden, wenn sie sich nicht durch Geschenke an die Kirche von ihren Sünden reingewaschen hatten. Die andere Schrift hatte sie vor dem »Urteil [Gottes] im Hier und Jetzt« gewarnt, von dem der 159
V. Das Jenseits im Diesseits
Zusammenbruch Galliens einen für alle erkennbaren Vorgeschmack geliefert hatte. Allerdings war Salvians ausgeprägter Sinn für das »Urteil im Hier und Jetzt« ein Produkt seiner Zeit und ihrer Krisen. Die meisten Mönchsbischöfe der Provence konzentrierten sich in ihren Schriften und Predigten eher auf das »Urteil am Ende der Zeiten«, mithin auf das Jüngste Gericht. Dieses wollten sie ihren Lesern und Zuhörern vor Augen und Ohren stellen, indem sie mit fesselnden Bildern den Himmel und – insbesondere – die Hölle ausmalten. Das Jüngste Gericht lag weiterhin in der Zukunft. Sein drohendes Kommen zog sich über Gallien hin wie ein düster bedeckter Himmel, überall gegenwärtig, aber doch fern. Das Einzige, was sein Eintreten noch aufschob, war (wie die Visio Pauli uns gezeigt hat) Gottes große Gnade. Die Pflicht der Bischöfe und Könige war es, zu jenem drohenden Himmel aufzublicken und ihre Gläubigen und Untertanen zu ermahnen, die göttliche Geduld nicht noch weiter auf die Probe zu stellen. Wie wir am Ende von Kapitel 4 gesehen haben, hat die unermüdliche Zusammenarbeit von Königen und Bischöfen bei der politischen Stabilisierung Galliens nach dem Ende des Römischen Reichs das Aufkommen einer »Herrschaftsstimmung« begünstigt. Dazu gehörte auch die moralische Disziplinierung der christlichen Untertanen in den jeweiligen Herrschaftsgebieten, denn man wollte ja nicht den Zorn Gottes auf die gesamte Gemeinschaft herabrufen. Dies also war die Welt, in die 538 Gregor von Tours hineingeboren wurde. Er wuchs im Burgund und in der Auvergne auf, in einer Region des Übergangs zwischen dem Midi und dem französischen Norden. Seine Jugend und sein frühes Erwachsenenalter verbrachte Gregor somit in einem ganz und gar »altertümlichen« Winkel Europas, in dem die Namen und das Andenken großer Senatoren wie Sidonius Apollinaris noch lebendig waren und wo die Kirchen mit Krypten, Portalen und angrenzenden Mausoleen versehen waren, deren große Marmorsarkophage noch aus römischer Zeit stammten. Später zog es ihn weiter nach Norden, wo er 573 Bischof von Tours wurde. Er starb im Jahr 594.1 Gregor von Tours ist unser wichtigster Gewährsmann für die gallische Vorstellungswelt des späten 6. Jahrhunderts. Seine Historien (Libri 160
Gregor von Tours
historiarum, wörtlich »Geschichts-« bzw. »Geschichtenbücher«) verfasste er in mehreren Fortsetzungen zwischen 575 und 594. Ziemlich genau zur selben Zeit arbeitete er auch an seinen Acht Büchern über Wunder (Libri octo miraculorum).2 Als beide Werke fertig waren, bestand ihr Autor darauf, dass man sie zusammen lese – schließlich stand hinter beiden großen Sammlungen ein und dieselbe Absicht: Gregor wollte die Mächtigen (Romanen wie Franken gleichermaßen) mahnend daran erinnern, dass Christus in Gestalt seiner Heiligen noch immer in ihrer Welt zugegen war – und dass am Ende der Zeiten er selbst zurückkehren werde, um sie zu richten.3 Nach Gregors Auffassung lag das Jüngste Gericht nicht ausschließlich in der Zukunft. Wie vor ihm Salvian glaubte er mit der Zeit immer fester an das »Urteil im Hier und Jetzt«. Das Jenseits lag nicht irgendwo am Rand der Zeit, wo beim Jüngsten Gericht seine ganze schreckliche Größe offenbar werden würde – jedenfalls lag es nicht nur dort: Es hatte Gallien bereits erreicht, hatte es gleichsam durchdrungen in Gestalt von Wunderheilungen und Gottesurteilen, die sich an den Gräbern der Heiligen ereignet hatten. Das ist es, was Gregors Werke so unverwechselbar machte: Er wollte, dass seine Leser das vielfache Einbrechen des Jenseits ins Diesseits in ihrer eigenen Welt und Lebenszeit nachvollziehen konnten durch die Wunder der gallischen Heiligen und durch dramatische Wendungen des Schicksals, denen die gallischen Herrscher unterworfen waren. Aus diesem Grund bestand er darauf, dass sein Publikum die Acht Bücher über Wunder zusammen mit den Historien lesen solle, denn in beiden Sammlungen wurde das Jenseits mit einer Sorgfalt und Detailverliebtheit in die Textur des Diesseits eingewoben, die in der älteren Literatur des lateinisch-christlichen Westens kein Beispiel hatten. Von all den Buß- und Endzeitpredigern Galliens war Gregor der eindringlichste und sein Medium der Wahl war das eigenwilligste: Er predigte durch die Geschichte und durch Geschichten von den Heiligen. Schon früh in seiner Laufbahn wandte Gregor sich der Geschichte zu und das aus gutem Grund, sah er sich doch einer Welt gegenüber, in der es an Zeichen für das Wirken von Gottes Gerechtigkeit im Hier und Jetzt schmerzlich mangelte. Nachdem er 573 Bischof von Tours geworden war, musste er einsehen, dass er den richtigen Posten zur völlig 161
V. Das Jenseits im Diesseits
falschen Zeit angetreten hatte. Er selbst war in Tours zwar ein Fremder, konnte sich aber auf eine lange Verbundenheit seiner Familie mit der Stadt berufen. Was er nun nicht vorhergesehen hatte, war, dass Tours und sein Umland schon bald zum stürmischen Zentrum der »schlimmsten Bürgerkriegsphase in der Francia des 6. Jahrhunderts« werden würde, wie Ian Wood es formuliert hat.4 Diese Bürgerkriegszeit war keineswegs für alle Königreiche der Merowinger gleich destabilisierend und ihre Auswirkungen reichten auch nicht so weit, wie man früher oft vermutet hat (was nicht selten einer naiven Lektüre von Gregors Historien geschuldet war). Aber die Tatsache, dass Tours im Tal der Loire und damit an einem wichtigen Kontaktpunkt von Nord- und Südwestgallien gelegen war, brachte den Krieg bis an Gregors Schwelle. Dazu kam noch, dass diese Auseinandersetzungen, wenn sie auch lokal begrenzt waren, mit großer Gemeinheit geführt wurden. Im Grunde ging es darum, dass die rivalisierenden Brüder aus der Dynastie der Merowinger versuchten, ihr jeweiliges Königreich zu vergrößern. Dazu setzten sie auf Überredungskunst und Einschüchterung, um ihren Rivalen einzelne Städte oder ganze Regionen abspenstig zu machen und sie unter ihre eigene Autorität zu zwingen. Diese Art von Auseinandersetzung war in der Regel nicht weiter tragisch. Nur vereinzelt wurden größere Schlachten geschlagen. Keine einzige Stadt wurde geplündert. Aber es war doch eine ganz besonders boshafte Art der Kriegführung, die bereits eher an die Fehden des Mittelalters erinnerte als an die – freilich blutigen – Bürgerkriege der römischen Antike. Wie in den chevauchées des Hundertjährigen Krieges fielen vergleichsweise kleine Heere in eine bestimmte Region ein. Ihr Ziel war es, hinreichenden Schaden anzurichten, um die Einheimischen zu einem Gefolgschaftswechsel von einem Bruder zum anderen zu bewegen. Die brutalen Verbände, die zu diesem Zweck eingesetzt wurden, bezogen ihren »Sold« meistenteils aus Plünderungen. So kehrten sie reich beladen nach Hause zurück: mit Gefangenen (für die sie ein Lösegeld verlangen konnten), mit Säcken voller Getreide und kostbarem Silberzeug, das sie aus ungeschützten Kirchen und Klöstern auf dem Land geraubt hatten. Auf diese Weise konnte aus vielen kleinen Beutezügen ein stattliches Vermögen zusammenkommen, ganz abgesehen davon, dass ein erfolgreicher König sich seinen adligen Vertrauten ge162
Gregor von Tours
genüber erkenntlich zeigen würde – und dasselbe gilt natürlich für jene lokalen Anführer, deren Loyalität er sich erkauft hatte. Es war ein Klima, in dem die potentes – die »Mächtigen«, ganz egal, ob sie nun Franken oder Romanen waren – Hochkonjunktur hatten. Doch auch für den »kleinen Mann von nebenan« konnte durchaus etwas abfallen. So überfiel, um nur ein Beispiel zu nennen, im Jahr 576 eine Bande von Plünderern ein Kirchenlandgut, das gegenüber der Stadt Tours am anderen Loire-Ufer lag. Es waren die »Männer von Le Mans«, das heißt die Mitglieder der Stadtmiliz von Le Mans, die die Gelegenheit nutzten, ihren Nachbarn in Tours eins auszuwischen. Sie zerlegten das hölzerne Gutshaus (und sehr wahrscheinlich auch die große Scheune, die dazugehörte) so gründlich, dass auf dem Heimweg nach Le Mans ihre Beutel vollgestopft waren mit den Nägeln, die sie aus Brettern und Balken gezogen hatten!5 Das ungestüme Vorgehen der »Männer von Le Mans« in dieser stürmischen Zeit sollte daran erinnern, dass wir uns den Merowingischen Bruderkrieg jener Jahre keineswegs als eine Auseinandersetzung allein unter »den Franken« vorstellen dürfen. Die romanische Bevölkerung Galliens, Adlige wie Nichtadlige, war gleichermaßen daran beteiligt. Es waren schwere Zeiten für Gregor von Tours, in denen das Umland seiner Bischofsstadt systematisch in Angst und Schrecken versetzt wurde. Wenn wir Guy Halsalls scharfsinniger Rekonstruktion vertrauen können, ergibt sich ein ganz neues Verständnis von der Osterpredigt, die Gregor 576 zum Thema Bürgerkrieg hielt.6 Nach Halsalls Auffassung bildete diese Predigt die Grundlage für die Vorrede zum fünften Buch von Gregors Historien. Das mag nun stimmen oder nicht, aber die Botschaft von Buch 5 war klar und deutlich: Die Kriege zwischen den Brüdern aus der Merowingerdynastie waren nicht einfach »barbarische« Familienfehden, sondern hatten ihre volle Heftigkeit erst durch die Habgier der Aristokraten in den jeweiligen Königreichen erlangt – ganz gleich, ob diese nun romanisch oder fränkisch waren. Gregor gewährt uns einen unerwarteten Einblick in das Gallien seiner Zeit. Er klagt nicht um ein unwiderruflich ruiniertes Land. Vielmehr enthüllt er eine Gesellschaft, in der die Reichen einen geradezu obszönen Wohlstand angehäuft hatten:
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V. Das Jenseits im Diesseits
Was macht ihr? Was sucht ihr? Was habt ihr nicht im Überfluss? Eure Häuser laufen über vor Luxus: Eure Vorratskammern sind voll mit Wein, Korn und Öl; in euren Schatzkammern türmen sich Gold und Silber. Euch fehlt nur eines, denn weil ihr keinen Frieden habt, bleibt euch auch Gottes Gunst versagt [...] Noch schlimmer aber ist dieses: Wir sehen nun den Anbruch jener Sorgenzeit, die der Herr vorhergesagt hat: Es wird aber ein Bruder den andern dem Tod preisgeben und der Vater den Sohn, und die Kinder werden sich empören gegen ihre Eltern und werden sie töten helfen. (Mt 10,21)7 Nachdem Habgier sie in den Krieg getrieben hatte, waren die Könige (und mit ihnen die Adligen) Galliens, Franken wie Romanen, in den frostigen Schatten jener »Sorgenzeit« hineingetaumelt, die das Ende der Welt ankündigte. Gregor war nicht der einzige Bischof, der so etwas predigte. Just zur selben Zeit schrieb sein Amtsbruder Germanus, seines Zeichens Bischof von Paris, in demselben apokalyptischen Tonfall an die Königin Brunichild, die ihren Ehemann König Sigibert I. dazu bringen sollte, eine geplante chevauchée gegen die Île de France zu verwerfen: »Siehe, die Tage unseres Kummers und Schadens sind nahe. Weh uns, denn wir haben gesündigt.«8 Doch Gregor ließ es nicht beim Predigen bewenden. Er griff zur Feder. Damit verhalf er einem ehrwürdigen Handwerk zu neuem Glanz und wurde der erste namhafte Geschichtsschreiber lateinischer Sprache seit über einem Jahrhundert.9 Zu Beginn dieses ungewöhnlichen Vorhabens orientierte sich Gregor an den großen christlichen Chronisten der spätrömischen Zeit: an der lateinischen Fassung der Chronik des Eusebius von Caesarea und ihrer Fortsetzung, die Hieronymus verfasst hatte. Er tat dies, um sein Gallien in den größeren Kontext der Weltgeschichte zu stellen. In Gregors Augen war Gallien nur ein Element einer größeren christlichen Welt. Es war ihm sehr wichtig, dass die Geschichte seiner Zeit als Teil einer großen Welt- und Heilsgeschichte wahrgenommen wurde, die von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht reichte. Und darauf bestand er nicht zuletzt deshalb, weil die 164
Gregor von Tours
Zeit der gesamten Menschheit, wie er befürchtete, schon bald abgelaufen sein würde.10 Aus diesem Grund eröffnete Gregor seine Historien mit einer chronologischen Übersichtsdarstellung, nur um seine Leser dann abrupt daran zu erinnern, dass das Ende nahte. Spekulationen über den genauen Zeitpunkt, zu dem der Antichrist auftreten und die Endzeit anbrechen würde, überließ er hingegen ganz bewusst anderen. Gregor zählte lediglich eins und eins zusammen: Von der Erschaffung Adams bis zum Tod des Königs Sigibert im Jahr 574 hatte das Menschengeschlecht, wie eine sorgfältige Berechnung ergab, bereits 5574 Jahre überdauert.11 Der Aufschub der göttlichen Strafe dauerte also schon lang genug an, um einen vorsichtigen Menschen nervös werden zu lassen. Es ist gut möglich, dass Gregor die Visio Pauli kannte.12 Wie lange noch würde Gottes Geduld anhalten? In der Vorrede zum ersten Buch seiner Historien legte Gregor dar, warum er derartige Berechnungen überhaupt angestellt hatte: »propter eos, qui adpropinquantem finem mundi disperant«.13 Doch was genau sollte das heißen? Die gängigen Übersetzungen legen nahe, dass Gregor das Ziel seines Schreibens darin sah, all jene zu ermutigen, die sich von der Aussicht auf das nahende Ende der Welt zur Verzweiflung getrieben sahen. In der maßgeblichen deutschen Übersetzung Rudolf Buchners heißt es also: »um derentwillen, die da banget vor dem herannahenden Weltende«, und in der englischen Fassung von Lewis Thorpe ganz ähnlich: »for the sake of those who are losing hope as they see the end of the world coming nearer and nearer«.14 Aufgrund unserer historischen Vorurteile über das merowingische Gallien erwarten wir, dass Gregor genau das sagen wollte. Wenn wir seine Formulierung so interpretieren, sehen wir in ihm den Zeugen einer politisch und gesellschaftlich zerrütteten Zeit, die sang- und klanglos geradewegs in das finstere Mittelalter hineinstolperte und die dessen Zeitgenossinnen und -genossen aufgrund der Furcht vor dem Weltuntergang schier zur Verzweiflung trieb. Dabei meinte Gregor etwas ganz anderes. Im Spätlateinischen fehlt dem Verb disperare nicht selten jener subjektive Beigeschmack von Angst und Verzweiflung, der sich in unserem heutigen Wort »desperat« ausdrückt. Stattdessen hieß disperare damals oft wörtlich »de-sperare« – »ent-hoffen« oder »die 165
V. Das Jenseits im Diesseits
Hoffnung verlieren«. Und wenn man die Hoffnung auf etwas verloren hat, dann rechnet man nicht mehr damit, ja man verschwendet vielleicht sogar – um es ganz platt zu sagen – keinen einzigen Gedanken mehr daran. Salvian von Marseille hatte das Wort in genau dieser Bedeutung verwendet, als er über die Römer seiner eigenen Zeit schrieb: »Sogar die Räuber und Mörder versagen sich gegenseitig nicht den Glauben und vertrauen einander, dass sie bei ihrem Wort bleiben werden. Kurz und gut: überall im menschlichen Dasein ist die Hoffnung am Werk; nur Gott allein ist’s, auf den man keine Hoffnung hat! – solus Deus est de quo desperatur.«15 Die Römer, denen Salvian da in seiner Schrift Ad ecclesiam – salopp gesagt – die Leviten liest, führen sich auf, als ob Gott gar nicht existierte. Sie rechnen überhaupt nicht damit, dass er sich in ihre Belange einmischt. Genau so verhielt es sich auch mit jenen Mächtigen, an die Gregor sich in seinen Historien wandte. Sie waren keine panischen Angsthasen, die in einer Welt des aufziehenden Unheils umhersprangen – weit gefehlt. Sie hatten lediglich das Jüngste Gericht aus den Augen (und aus dem Sinn) verloren. Aus Gregors Perspektive machte sie das zu genau der Art von Leuten, die für einen Bußprediger notorisch schwer zu erreichen waren. Franken und Romanen, Laien und Kleriker, ja sogar (leider Gottes!) Mönche und Nonnen – allzu viele der Figuren, die in Gregors Historien und seinen Acht Büchern über Wunder auftreten – waren zuversichtliche Menschen und mit der Welt, wie sie war, durchaus zufrieden. An das kommende Weltgericht Christi verschwendeten sie keinen Gedanken. Wenn Gregor schrieb, wollte er ihnen in Erinnerung rufen, dass Gottes Geduld ihr Ende hat. Früher oder später würde der Richter erscheinen. Diesen Aspekt von Gregors Schaffen sollten wir genauer betrachten. Wer sich erstmals mit seinen Werken beschäftigt, tut dies häufig unter der Vorannahme, dass Gregor uns etwas grundlegend Neues zu bieten habe – einen Blick in eine ganz neue Welt an der Schwelle zum Mittelalter. In der Folge tut sich zwischen Gregor und der Welt der Antike ein tiefer Abgrund auf – zumindest in unserer Vorstellung. Denn für den tatsächlichen Bischof Gregor von Tours gab es einen solchen Abgrund nicht. Für ihn war das, was er tat, »business as usual« und auf seine ganz eigene, unverwechselbare Art war er tatsächlich der Vertreter ei166
Ein Disput über die Auferstehung und das Leben im Jenseits
ner christlichen Bußfrömmigkeit, die sich – ohne Unterbrechung – bis in die letzten Tage des Augustinus und zu den provenzalischen Predigern des 5. Jahrhunderts zurückverfolgen ließ. Und die Botschaft dieser Tradition lautete: Christen müssen sich ganz einfach auf das Jüngste Gericht vorbereiten. In Gallien war Gregor nicht der Einzige, der dieser alten Botschaft seine Stimme lieh. Ein späteres juristisches Werk aus Nordgallien, die Formulae Marculfi (»Formelsammlung des Markulf«), enthält einen Mustertext, der zeigt, wie fromme Männer und Frauen ihr Testament aufsetzen sollten: »Deutliche Zeichen zeigen und offenkundige Beweise dafür sind bekannt, dass das Ende der Welt nahe ist, denn die Katastrophen werden häufiger und die vor einiger Zeit im Evangelium [getroffenen] Vorhersagen des Herrn [...] werden, wie bekannt ist, bald eintreten.« Da der potenzielle Erblasser also gehörig vorgewarnt war, wusste er, was er zu tun hatte – seinen Besitz der Kirche geben: »Doch gebt Almosen von dem, was da ist; siehe, dann ist euch alles rein« (Lk 11,41).16 Dieser juristische Formulartext bringt ohne große Umschweife einen großen christlichen Frömmigkeitstrend auf den Punkt, der sich über fast zweihundert Jahre angebahnt hatte. Wir sollten uns im Detail ansehen, welche Alltagserwartung des Jüngsten Gerichts auch Gregor seinen Lesern vermitteln wollte.
Ein Disput über die Auferstehung und das Leben im Jenseits Wenn Gregor seinen Lesern den Glauben an die Auferstehung und das Jüngste Gericht einschärfte, dann tat er dies gewissermaßen aus aktuellem Anlass. Die Wunder an den Gräbern der Heiligen bezeugten – und zwar im Hier und Jetzt –, dass deren Seelen uneingeschränkt weiterlebten. Und damit bewiesen diese besonders »aufgeladenen« Grabstätten nicht nur, dass es ein Leben nach dem Tod gab, sondern die schiere Kraft der heiligen Seelen (die in jenen Wundern offenbar wurde) bürgte dafür, dass mit der Auferstehung der Toten eine große Verwandlung bevorstand, und zwar – wie Gregor hoffte – nicht nur für die Seelen der Heiligen, sondern für alle guten Christen. Tatsächlich konnte, wer am 167
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
Schrein eines oder einer Heiligen ein Heilungswunder miterlebte, schon heute einen Vorgeschmack der »großen Zukunft« erhaschen, jener großen Verwandlung, die am Ende der Zeiten eintreten würde. In einer Welt, der die düstere Aussicht auf das göttliche Strafgericht drohte, gewährleistete der Auferstehungsgedanke die leidenschaftliche Hoffnung darauf, dass jenseits dieses Strafgerichts eine bessere Welt wartete. Die Auferstehung war das Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels. Was die Auferstehung betraf, sah Gregor sich lediglich als einen Verfechter altüberlieferter Gewissheiten: Gott würde alles, aber auch alles ins Reine bringen. Doch selbst diese alte Gewissheit wollte verteidigt sein. Wie oft erliegen wir der Versuchung, uns das Gallien Gregors als eine Art von intellektueller Sargassosee vorzustellen, als ein Flautengebiet, in der eine barbarische Zivilisation vor sich hindümpelte und stets denselben alten, unreflektierten Traditionalismen verhaftet blieb. Dabei war das keineswegs der Fall. Frager und Hinterfrager, wie sie sich schon an Augustinus gewandt hatten, gab es noch immer viele. Und das hatte auch einen guten Grund: Je stärker die gallische Gesellschaft des 6. Jahrhunderts »klerikalisiert« wurde – das heißt, je mehr junge Männer ohne militärische Ambitionen sich für eine Karriere in der Kirche entschieden –, desto heterogener (und potenziell zerstrittener) wurde auch der Klerus. Leute, die in früheren Zeiten vielleicht Rhetorik- oder Grammatiklehrer, Arzt oder Kleinstadtjurist geworden wären, fanden ihren Platz nun in der Kirche. Als Gruppe waren sie so kunterbunt und ruhelos, wie sie es auch sonst gewesen wären – doch nun war es der Bischof, bei dem sie in Lohn und Brot standen. Es war der Bischof, der sich mit diesen so grundverschiedenen Leuten auseinandersetzen musste, zumal, wenn sie zu seinem engsten geistlichen Gefolge zählten. Und der Bischof war es auch, der es mit ihren Zweifeln und ihrer Kritik zu tun bekam. In den Worten Bruno Dumézils: »Das Christentum war hinreichend universell geworden, um in seinem Schoß auch all jenen eine Bleibe zu bieten, die es in einzelnen Aspekten infrage stellten.«17 Es überrascht deshalb keineswegs, dass ein Angehöriger von Gregors eigenem Klerus im Jahr 590 – also gegen Ende von Gregors Leben, als dieser schon für beinahe zwei Jahrzehnte Bischof gewesen war – erklären konnte, er glaube nicht an die Auferstehung der Toten. Im letz168
Ein Disput über die Auferstehung und das Leben im Jenseits
ten Buch seiner Historien berichtet Gregor von seinem Streitgespräch mit dem betreffenden Priester.18 Als theologischer Disput war dieses Gespräch überraschend modern; seinen Ausgang nahm es von einem Dilemma, das für die Theologie der Spätantike spezifisch war: Wie sehr durften durchschnittliche Christen darauf hoffen, am Ruhm ihrer Glaubensheldinnen und -helden teilzuhaben? Oder waren sie durch ihr dumpfes, der Sünde verfallenes Wesen von einer Herrlichkeit ausgeschlossen, derer sich allein Christus und die Heiligen erfreuen konnten? Diese Debatte sollten wir uns kurz genauer anschauen. Der fragliche Priester wollte durchaus zugeben, dass Christus – als Mensch gewordener Gott – von den Toten auferstanden war. Vielleicht dachte er sogar bei sich (denn hierüber schweigt Gregors Bericht), dass auch die großen Heiligen der Kirche dereinst, am Ende der Zeiten, von den Toten erweckt werden würden. Auf dem Rest der Menschheit jedoch, davon war er überzeugt, lastete der Zorn Gottes schlicht zu schwer. Zu Adam hatte Gott gesprochen: »Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück« (Gen 3,19). Dass dieser Staub sich noch einmal zu Höherem erheben würde, schien dem Zweifler ausgeschlossen. Der gleißende Ruhmesglanz, mit dem die Frömmigkeit des 6. Jahrhunderts Christus und die Heiligen umgeben hatte, warf einen dunklen Schatten über die Gräber der Normalsterblichen. Sie mochten dort in Frieden ruhen, doch dort würden sie auch bleiben: »Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr« (Ps 103,15 f.).19 Ganz ähnliche Fragen waren auf dem Höhepunkt jener christologischen Kontroversen diskutiert worden, die ein Jahrhundert zuvor das Oströmische Reich erschüttert hatten. Auch damals war strittig gewesen, in welchem Ausmaß normale Menschen an der Auferstehung Christi würden teilhaben können. Und das wiederum hing davon ab, wie hoch man die Außergewöhnlichkeit der Person Jesus Christus ansetzte. Die Verfechter eines gemäßigten »Mischungsverhältnisses« von Gott und Mensch in der Person Christi bezichtigten ihre Gegner (die heute gemeinhin als »Monophysiten« bekannt sind, obwohl sie sich selbst nicht so bezeichneten), ein zu starkes Aufgehen des Gottessohnes 169
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
in Gott dem Vater als Person vorauszusetzen. Eine solche Auffassung implizierte (wie die Gemäßigten meinten), dass Christus dem Menschsein so weit entrückt gewesen sei – dass ihn seine Gottheit gleichsam so stark erfüllt habe –, dass er dem gefallenen Menschengeschlecht die heilende Kraft seines göttlichen Wesens schlechthin nicht zugutekommen lassen konnte.20 Menschheit und Gottheit waren miteinander nicht vereinbar. Die Gottheit konnte das gefallene Fleisch nicht anrühren und also konnte Christus seinen eigenen Sieg über das Grab nicht auf die Millionen von Christen übertragen, die als Opfer von Adams Fluch kalt und stumm in der Erde lagen. Wir wissen mittlerweile, dass der Disput, den Gregor und sein Priester in Tours führten, keineswegs eine isolierte Kleinstadtkontroverse war. Wie Matthew Dal Santo in seinem unlängst erschienenen Buch Debating the Saints’ Cults in the Age of Gregory the Great nachgewiesen hat, gab es ähnliche Debatten zur selben Zeit auch in Konstantinopel. Gregors jüngerer Zeitgenosse und Namensvetter, Papst Gregor der Große, schaltete sich mit Nachdruck in sie ein; seine Sammlung von Dialogi (»Dialogen«) über die Heiligen Italiens erschien im Jahr 594 und damit nur kurz, nachdem der Bischof Gregor in Tours über das Thema diskutiert hatte.21 Beide Männer wollten beweisen, dass die kräftigen Seelen der Heiligen durchaus noch lebendig waren und auch die Seelen durchschnittlicher Gläubiger ein blühendes Leben im Jenseits erwartete, selbst wenn die Richtigkeit dieser Erwartung in ihrem Fall weniger offenkundig war als im Fall der Heiligen. Nicht nur blieben Heilige wie »Durchschnittschristen« auch nach ihrem Tod lebendig: Von den Gräbern der Heiligen gingen feine Energieströme aus, die sich wie Wellen auf einer Wasseroberfläche ausbreiteten. Das sichtbare Zeichen dieser heiligen Energien waren die Heilungswunder, die sich an den Schreinen ereigneten. Diese Wunder waren handfest gewordene Hoffnung. Die dramatischen Wandlungsereignisse, die mit den Wundern einhergingen, waren sichtbare Manifestationen – und das schon im Hier und Jetzt – jener erhofften Verwandlung aller Dinge, die sich bei der Auferstehung der Toten ereignen würde. Indem er das, was er da verteidigte, als das althergebrachte, stückweise erlangte Überlieferungswissen von der Auferstehung der Toten präsentierte, brachte Gregor die ferne Vergangenheit in seine eigene 170
Der Heimgang der Seele
Zeit. Die Seelen all derer, die am Ende der Zeiten von den Toten erweckt werden würden, waren bereits jetzt vollkommen aktiv, und zwar im Jenseits und im Diesseits. Und das bedeutete im Grunde, dass die Vergangenheit niemals ganz vergangen war. Heilige, die schon lange tot waren, waren in ihren Schreinen noch immer gegenwärtig und auch tätig; ständig griffen sie in die Gegenwart ein, um ihre unverminderten Kräfte unter Beweis zu stellen. Infolgedessen wurde die Zeit selbst wie eine Ziehharmonika zusammengestaucht: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fielen in eins. Die Macht Christi, die zuerst in den Wundern der Evangelien offenbar geworden war, reichte durch die Heiligen, in denen er »wohnte«, geradewegs bis in die Gegenwart hinein.22 Dies ließ sich insbesondere von Gregors Helden, dem heiligen Martin, sagen. Martin, ein charismatischer Bischof von Tours, war im Jahr 397 gestorben. Aber für Gregor war Martin alles andere als tot. Bis ins Hier und Heute hinein steckte hinter der Hand des heiligen Martin, der aus seinem Grab in Tours heraus die Kranken heilte, die starke, mächtige Hand Christi.23 Und die Hand Martins wiederum konnte in einem durchaus greifbaren, physischen Sinne etwa auf der Hand des Aredius zu spüren sein (eines frommen Freundes von Gregor aus Limoges), als jener das Kreuzzeichen schlug, um einen Kranken zu heilen.24 Auf ganz ähnliche Weise konnte die zukünftige Herrlichkeit der Auferstehung ihren Glanz für einen Moment schon in die Gegenwart fallen lassen. Der Vorschein kommenden Heils brach in das Heute ein. Kranke, Entstellte, Verkrüppelte blühten auf, wie sie erst am Ende der Zeiten wieder aufblühen würden.25 Die Wangen von Gregors eigenem Großonkel Gregor von Langres schimmerten noch rosig, als er schon auf der Totenbahre lag – dies war ein Fleisch, auf das bereits die Morgenröte der Auferstehung gefallen war.26
Der Heimgang der Seele Ungeachtet aller Beteuerungen Gregors, er gebe doch lediglich eine beständige Tradition weiter, lassen viele seiner Aussagen über das Jenseits eine beträchtliche Deutungsverschiebung gegenüber der Zeit Augustins erkennen. Besonders sticht hervor, dass Gregor und seine Zeitge171
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
nossen sich das Schicksal der Seele nach dem Tod offenbar immer gefahrvoller vorstellten. Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, war diese Entwicklung für die Westkirche durchaus nichts Neues. Die Dringlichkeit, die aus solchen Gefahrenvorstellungen sprach, war bereits in den noch zuversichtlichen Tagen des 4. Jahrhunderts aufgekommen, in der »guten alten Zeit« des Römischen Reiches; mitnichten war sie ein Zeichen für das Anbrechen des »finsteren Mittelalters«. Doch Gregor gab dem Gedanken eine gleichsam herbstliche Strenge. Er griff Berichte und Geschichten auf, die vom Heimgang der Seele als einer langen und gefährlichen Reise sprachen. Diese Reise wurde in immer kürzeren Abständen von Dämonen-»Checkpoints« unterbrochen, Kontrollpunkten, an denen die Seelen aufgefordert wurden, von ihren Sünden Rechenschaft zu geben. Solche Geschichten zeigen deutlich, wie sehr sich die bestehenden Ängste über das Dahinscheiden der Seele nach dem Tod mit den Jahren verschlimmert hatten. Als, um nur ein Beispiel zu nennen, im Jahr 397 Sulpicius Severus (der etwa um dieselbe Zeit die klassische Vita des heiligen Martin verfasste) von Martins Tod träumte, hatte er seinen Helden mit hoher Geschwindigkeit zum Himmel aufsteigen sehen – ganz wie in einer antiken Apotheose –, um dann jenseits der Sterne zu entschwinden. Sulpicius hatte auch geschildert, wie sich der Heilige auf dem Sterbebett – wenn auch nur einen Moment lang – an den Teufel gerichtet hatte, der seinen Schatten auf ihn warf: »Hinweg mit dir, du blutdürstiges Biest! In mir wirst du nichts von dem Deinigen finden!«27 Gregor kannte das Werk des Sulpicius Severus gut. Aber er hatte auch noch eine etwas andere Geschichte gehört. An dem Tag, an dem der heilige Martin starb, habe der Bischof Severinus von Köln die Messe gehalten. Er hörte einen Engelschor singen, doch plötzlich sei der Gesang verstummt. (Das muss wie der beunruhigende Ruck gewesen sein, wenn ein Zug einen unangekündigten Halt einlegt.) Erst später habe der himmlische Chor wieder eingesetzt, zu singen. Während der Zeit der Stille, erzählte man Gregor, sei Martin auf seinem Weg ins Jenseits angehalten worden, um dem Teufel und seinen Engeln Rede und Antwort zu stehen. Dem fügte Gregor hinzu: »Was wird erst mit uns Sündern geschehen, wenn die bösen Mächte selbst einem Mann wie ihm ein Übel antragen können?«28 172
Der Heimgang der Seele
In Artonne in der Auvergne hörte Gregor eine ganz ähnliche Geschichte, die ihm eine Gruppe von »alten Männern« erzählte. Wie ihm die Greise berichteten, habe Martin auf dem Weg nach Clermont das Grab einer geweihten Jungfrau namens Vitalina passiert: »Heilige Jungfrau, [habe Martin gefragt,] hast du es schon verdient, im Angesicht des Herrn zu stehen?« Wie wir bereits gesehen haben, war das eine recht altmodische, zutiefst frühchristliche Frage, wie sie etwa in dem Traum vom Tod des jungen Schreibers aus Uzalis zur Zeit Augustins vorgekommen war. Doch Vitalinas Antwort war alles andere als ermutigend: »Eine Sache [una causa: hier ist das Vulgärlateinische schon nah am heutigen Französisch – une chose], die in der Welt ganz trivial [facilis] erscheint, gereicht mir nun zum Hindernis: Am Karfreitag, als der Welt Erlöser litt, wusch ich mir mein Gesicht mit Wasser.« Als Martin die Grabstätte der Jungfrau verließ, sprach er zu seinen Gefährten: »Weh uns, dass wir in dieser Welt leben! Wenn diese Jungfrau, die Gott ganz geweiht war, sich ein solches Hindernis zugezogen hat [...] was sollen dann wir tun, die eine trügerische Welt tagtäglich erfolgreich zur Sünde verlockt?« Auf dem Rückweg aus Clermont, wo er für Vitalinas Seele gebetet hatte, kehrte Martin an ihr Grab zurück und sagte: »Freue dich, Vitalina [...] denn nach drei Tagen wirst du zur Herrlichkeit des Herrn vorgelassen werden.« Von dem versprochenen Tag an, erzählten die alten Männer, sei Vitalina in Artonne aktiv und gegenwärtig gewesen. Sie erschien den Menschen im Traum. An ihrem Grab geschahen Wunder. Sie gab sogar den Termin bekannt, an dem ihr Festtag begangen werden sollte. »Dies muss man so und nicht anders verstehen, [fügte Gregor hinzu,] dass sie es verdient hatte, in der Gegenwart von Gottes Herrlichkeit [zu sein], und alles wegen der Fürsprache des seligen Martin.«29
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V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
Fürsprache und Schulderlass beim Jüngsten Gericht Die Moral dieser Geschichte war simpel: Mit Ausnahme einiger weniger Heiliger durfte niemand auf einen leichten Weg in den Himmel hoffen. Die Seele brauchte nach dem Tod jedes Gebet, jede Fürbitte, die sie bekommen konnte – und insbesondere die Fürsprache heiliger oder heiligmäßiger Personen, egal, ob diese noch lebten oder selbst schon tot waren –, um schließlich in die Gegenwart Christi zu gelangen. Wenn die Seele Christus dann beim Jüngsten Gericht gegenüberstand, waren die Fürbittgebete der Heiligen sogar noch dringender vonnöten. Es gab also einen entscheidenden Wandel, was die Vorstellung vom Letzten Gericht selbst betrifft. Wir wissen nicht, ob Gregor mit dem Gottesstaat des Augustinus gut vertraut war. Wenn dem so war, dann hatte er das 21. Buch der Abhandlung mit Sicherheit überblättert. In dieser Passage hatte Augustinus sich, wie wir ja bereits gesehen haben, von Positionen distanziert, die seiner Meinung nach das Vermögen der Heiligen, bei Christus einen Straferlass zu erwirken, allzu optimistisch darstellten. Auch hatte Augustinus den Gedanken bereits verworfen, dass die Seelen der Sünder auf die Fürsprache der Heiligen hin womöglich nur eine kurze Zeit in den Flammen der Hölle zubringen mussten, sozusagen als ein kurzes, reinigendes Bad im feurigen Pfuhl.30 Wie wir gesehen haben, waren die Ansichten, gegen die Augustinus sich da aussprach, alles andere als unkonventionell. Sie zirkulierten unter gebildeten und hochstehenden Persönlichkeiten wie etwa Prudentius. Sie beruhten auf dem geläufigen Bild von Christus als Kaiser, der auf die drängenden Bitten der Heiligen hin das höchste Recht des Kaisers ausübte und Gnade walten ließ. Genau diese Möglichkeit war es, die Augustinus zwar in seinem Gottesstaat verworfen hatte, Gregor sich jedoch ausmalte, wenn er über das Jüngste Gericht nachsann. Für Gregor war das Jüngste Gericht die Gelegenheit für einen letzten großen Gnadenerlass nach kaiserlicher Art. Das allein lässt schon eine deutliche Akzentverschiebung erkennen. In seiner Schilderung des Weltgerichts aus dem Matthäusevangelium (Mt 25,31–46) spricht Jesus davon, dass dann die »Schafe« von 174
Fürsprache und Schulderlass beim Jüngsten Gericht
den »Böcken« (gemeint sind wohl Ziegenböcke) geschieden würden. Die Erstgenannten würden gesegnet; zu Letzteren aber werde der »Menschensohn« sagen: »Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!« Dieser Richterspruch sollte dann endgültig sein. Aber für Gregor und seine Zeitgenossen war der Tag des Jüngsten Gerichts keineswegs der »Tag der Schafe«. Es war der »Tag der Böcke«! Schließlich waren es ja die Sünder, die an jenem Tag eine allerletzte Chance erhielten, um Gnade zu flehen und so das scheinbar unumstößliche Urteil Christi umzukehren, wie man es vielleicht auch vor einem römischen Kaiser oder einem fränkischen König ihrer Gegenwart getan hätte. Und bei diesem Flehen um Gnade hofften sie auf die helfende Fürsprache der Heiligen: »Und wenn ich dann, am Tag des Weltgerichts, zur Linken [zu den Böcken] gestellt werde, wird Martin so gnädig sein, mich mit seiner heiligen rechten Hand aus der Mitte der Ziegenherde herauszuholen. Hinter seinem Rücken wird er mir Zuflucht gewähren, indem die Engel zu dem König sagen werden: ›Dies ist der Mann, für den Sankt Martin bittet.‹«31 Diejenigen, die auf die Fürsprache der Heiligen angewiesen waren, erwarteten gar keinen sofortigen Eintritt in Gottes Herrlichkeit, weder beim Verlassen des Körpers durch die Seele noch am Tag des Jüngsten Gerichts. Gregor selbst erhoffte sich, wie er ganz klar sagte, kaum mehr als die Vergebung seiner Sünden: »Im Augenblick des Richterspruchs, wenn ewige Herrlichkeit die Märtyrer umgibt, wird uns durch ihre Vermittlung Vergebung [venia] zuteilwerden, oder auch nur eine leichte Strafe über uns kommen.«32 Diese hochgestimmte, vergleichsweise optimistische Sicht auf das Jüngste Gericht war es, die der Kirche ihr beständig wachsendes Vermögen einbrachte. Das zeigen die zeitgenössischen Aufzeichnungen über den Zufluss von Spenden und Stiftungsmitteln an die Kirche mit immer größerer Deutlichkeit. Diejenigen, die den Armen Almosen, den Kirchen und Klöstern jedoch Schenkungen und Stiftungen zukommen ließen, taten dies, um es ganz offen zu sagen, pro remedio animae – »zum Schutz und zur Heilung ihrer Seelen« im Jenseits sowie erst recht beim Jüngsten Gericht. Jenes remedium war dabei mehr als nur ein bisschen Seelentherapie. In der Gedanken- und Lebenswelt 175
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
Gregors beschützten remedia genauso sehr, wie sie heilten. Der Begriff bezeichnete sowohl Heilmittel als auch Amulette, die den Ansturm böser Mächte abhalten sollten.33 Die »oberen Zehntausend« der gallischen Gesellschaft – und zu ihnen gehörte Gregor als Bischof von Tours – suchten ihre Seelen zu schützen, indem sie der Kirche Geld spendeten. Und wenn sie dies taten, dann hatten sie im Hinterkopf stets den Gedanken an jenes dramatische Tableau von Gnade und Fürsprache, das Jüngste Gericht. Wenn also der große politische Bischof Bertram von Le Mans im Jahr 616 sein Testament machte, dann erhoffte er sich dabei nur das, worauf Gregor auch gehofft hatte. Bertram wagte es nicht, für sich selbst auf die »Ehre der Altäre« zu spekulieren – auf jene große Herrlichkeit, die allein den Heiligen gebührte. Alles, was er sich wünschte, war vel venia – »zumindest Vergebung« – und diese wollte er durch die Gebete der Heiligen erreichen. Um die Gunst der Heiligen zu erlangen, die am Jüngsten Tag zu seinen Gunsten – zur Vergebung seiner Sünden – für ihn ein gutes Wort einlegen sollten, setzte Bertram eine ganze Liste von Vermächtnissen und frommen Stiftungen auf, darunter 74 Landgüter, und schöpfte aus einem Vermögen, das sich aus 300 000 Hektar Grundbesitz speiste – einer Fläche größer als das Saarland. Damit besaß Bertram 0,5 % der Gesamtfläche des fränkischen Königreichs zum damaligen Zeitpunkt. Seine Besitzungen und die testamentarischen Bestimmungen, die sich auf jene bezogen, wurden ursprünglich auf einer Papyrusrolle festgehalten, die sieben Meter lang war!34 Venia – »nichts als Vergebung« – kam die Großen also teuer zu stehen. Doch dürfen wir darüber nicht vergessen, dass es für einen hohen Würdenträger wie Bertram von Le Mans zwar viele Arten gab, Macht und Reichtum zu demonstrieren – sich öffentlich zum Sünder zu erklären und aufwendige Vorbereitungen für den eigenen Tod zu treffen, war weiß Gott nicht die einzige. Aber es war doch eine Demonstration, die den Handelnden in einem ausnehmend guten Licht dastehen ließ: als einen reuigen, bußfertigen Mitchristen.
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Die Macht der Bischöfe: Gallien im späten 6. Jahrhundert
Die Macht der Bischöfe: Gallien im späten 6. Jahrhundert Was Gregor auszeichnete, waren nicht seine Vorstellungen vom Jüngsten Gericht und den aufwendigen Vorkehrungen, die notwendig waren, um sich an jenem großen Tag die Fürsprache der Heiligen zu erwirken; es war der Nachdruck, mit dem er darauf bestand, dass das Jenseits durchaus schon zu unserer Zeit über die Menschheit hineinbreche. Auch war er davon überzeugt, dass das Gottesgericht häufig – und für alle ersichtlich – bereits im Hier und Jetzt erfolge, und zwar durch den Einfluss der Heiligen. Sein fester Glaube an die Macht der Heiligen als den Trägern, gleichsam den »Gerichtsdienern« von Gottes Gerechtigkeit kam einem ernsthaften Reform- und Konsolidierungsprogramm der gallischen Kirche zunutze. Doch wie waren Gregor und sein Umfeld zu diesen Ansichten gelangt? Steffen Diefenbach hat kürzlich in einem höchst erhellenden Aufsatz auf einen signifikanten Strukturwandel hingewiesen, den die gallische Kirche seit den Tagen des Faustus von Riez und des Caesarius von Arles durchlaufen hatte.35 Bis in die Mitte des 6. Jahrhunderts hinein entstammten die redegewandten Bußprediger und Kirchenführer Galliens in der Regel dem lokalen Adel – und insbesondere den Adelsfamilien aus dem hochgradig romanisierten gallischen Süden. Ihre Autorität hatten sie auf antike Vorstellungen von einer aristokratischen Rollenumkehr gegründet. Wie schon bei den Philosophen der heidnischen Antike und den Heiligen der christlichen Spätantike lag die Faszination, die solche Persönlichkeiten auf ihre Zeitgenossen ausübten, zu einem großen Teil darin, dass sie – ganz bewusst – mit den Werten und Gepflogenheiten ihrer aristokratischen Herkunftsschicht gebrochen hatten, während sie doch zugleich das Prestige, die selbstsichere Haltung und den respekteinflößenden Tonfall derselben Schicht beibehielten. Auf diese Weise hatten sie sich, wie in Kapitel 4 dargelegt, zu einer Klasse von »Außenseitern« stilisiert. Doch wie bei allen Arten von Charisma, die auf einer dramatischen Rollenumkehr beruhen, musste es zunächst einmal eine Rolle geben, die man umkehren konnte. Der Aristokrat als Mönch trug – fast wie 177
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
einen zweiten Heiligenschein – stets die Erinnerung an den Reichtum und Status seines weltlichen Vorlebens mit sich herum. Der Mönchsbischof dagegen verweigerte, wie man gemeinhin annahm, die Erfüllung eines Bündels sozialer Erwartungen, die jedermann mit der alten gallorömischen Oberschicht in Verbindung brachte: selbstbewusstes Auftreten, wallendes Haar, feine Gewänder, regelmäßige Bäder und ein tadelloses, klassisches Latein.36 Bis in die Zeit Gregors jedoch hatte sich dieses Zeichensystem ganz und gar verflüchtigt. Mit einer demonstrativen Umkehrung jener Lebensform der alten römischen Oberschicht war nun nichts mehr zu gewinnen – denn es gab ja keine solche Oberschicht mehr, durch die allein jene Umkehrung ihren Sinn erhielt. Stattdessen hatte sich um die fränkischen Königshöfe ein sogenannter Gesamtadel gebildet. Diese mit der Zeit immer homogenere neue Herrschaftsschicht setzte sich sowohl aus fränkischen als auch aus römischen und burgundischen Familien zusammen, deren männliche Angehörige auch begonnen hatten, die Schaltstellen der gallischen Kirche zu besetzen. Ganz oben, an der Spitze der Gesellschaft, im Umfeld des Hofes, hatten sich »Barbaren-« und »Römerfamilien« bald unentwirrbar miteinander verwoben. Selbst Gregor von Tours, der eigentlich auf den überaus romanischen Namen Georgius Florentius Gregorius hörte, hatte einen Großonkel mütterlicherseits (ein dux, ein Militär und »alter Haudegen«), der Gundulf hieß.37 Infolge dieser Entwicklungen setzten die gallischen Bischöfe zur Festigung ihrer Autorität in immer stärkerem Maß auf die Autorität der Heiligen. Die Erinnerung an eine edle römische Abstammung reichte einfach nicht mehr aus. Als Bischof von Tours amtierte Gregor stets im Schatten des heiligen Martin. Seine bischöfliche Autorität speiste sich aus dem Anspruch, als Repräsentant eines Heiligen zu wirken, der in seinem Sarkophag fast lebendiger schien, als er es zu Lebzeiten je gewesen war. Auf seine ohnehin recht durchwachsene Abstammung aus der Senatorenschicht berief sich Gregor dagegen so gut wie nie. Zuerst und vor allem war er ein Mann der Kirche und ein Verehrer des heiligen Martin; dass er von römischen Senatoren abstammte, war dagegen zweitrangig. Das waren ganz neue Töne. Wie Diefenbach angemerkt hat, ist in der Forschung oft die Rede von der »Bischofsherrschaft« im Gallien des 178
Die Macht der Bischöfe: Gallien im späten 6. Jahrhundert
6. Jahrhunderts. Dabei wird von den Erforschern dieser »Herrschaft« in der Regel hervorgehoben, dass zwischen der vormaligen römischen Senatorenschicht und den mächtigen Bischöfen aus der Zeit des Gregor von Tours eine ungebrochene Kontinuität bestanden habe.38 Jedoch war eine familiäre Kontinuität (die noch im 5. Jahrhundert einiges gegolten haben mag) bis zum Ende des 6. Jahrhunderts in der gallischen Kirche sehr viel seltener gegeben (und besaß auch wesentlich geringere Bedeutung) als zuvor. Die Personalstruktur der Kirche in den Merowingerreichen kennzeichnete eine heikle Mischung, in der die Nachfahren verblühter römischer Senatorengeschlechter mit tatkräftigen und aufstiegsorientierten Höflingen romanischer wie fränkischer Abstammung zusammentrafen, die ihr Glück im Gefolge der fränkischen Könige gemacht hatten.39 Insgesamt also gaben die gallischen Bischöfe zur Zeit Gregors von Tours eine zwar zusammengewürfelte, aber dennoch recht farblose Truppe ab. Erst jene höheren Autoritäten, auf die sie sich zur Bestätigung ihrer eigenen Autorität beriefen, die Heiligen, machten wett, was ihr Mangel an gesellschaftlichem Status zu wünschen übrig ließ. Sich selbst stellten sie als die lebendigen Vertreter einer »Herrschaft der Heiligen« hin. Und jene Herrschaft war nicht von dieser Welt – jene Herrschaft kam aus dem Jenseits. Sie erstreckte sich über alle ethnischen und gesellschaftlichen Grenzen. Gregor und seine bischöflichen Amtsbrüder, Romanen wie Franken, waren keine »Außenseiter« mehr, die sich ex negativo darüber definierten, was sie mit ihren Standesgenossen in einem klar umrissenen (und hochgradig romanisierten) Segment der gallischen Aristokratie gerade nicht gemein hatten; sondern sie etablierten sich in den diversen merowingischen Königreichen als Angehörige einer immer homogeneren Führungsschicht. In dieser Situation wusste Gregor sehr genau, woher er seine Autorität zu nehmen hatte. Sie entsprang nicht seiner senatorischen Abstammung – und erst recht nicht aus der demonstrativen Zurschaustellung mönchischer Askese. Vielmehr war es »sein« Herr und Gebieter, Sankt Martin, der Gregor auf allen Wegen still begleitete und ihn an seiner Autorität teilhaben ließ, wie er einst seinen Mantel mit einem Bettler geteilt hatte. Ein Vorfall zeigt dies klar und deutlich. Im Jahr 585 kam Gregor an den Hof des Königs Guntram, um Fürsprache für 179
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
einige Aufständische einzulegen, die am Martinsschrein zu Tours (Kirchen-)Asyl gesucht hatten. Guntram war nicht geneigt, Männer zu begnadigen, die er selbst als »hinterlistige Füchse« bezeichnete. Aber Gregor ließ nicht locker: »›So höre doch, mächtiger König‹, sprach ich zu ihm. ›Mein Herr hat mich gesandt, um eine Botschaft zu überbringen. Welche Antwort soll ich ihm erstatten [...]?‹ Da verwunderte sich Guntram [der vielleicht auch argwöhnte, irgendeine adlige Interessengruppe könnte Gregor zu seiner Bitte angestiftet haben] und sprach: ›Wer soll denn dieser Herr schon sein, der dich geschickt hat?‹ Und ich antwortete ihm mit einem Lächeln: ›Sankt Martin ist’s, der mich geschickt hat.‹«40 Als Nächstes wollen wir die Hauptziele jenes Programms, das Gregor unter dem Schlagwort von der »Herrschaft der Heiligen« verfolgte, ein wenig genauer betrachten. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern die Notwendigkeit, die Gegenwart jener »Herren« im Diesseits zu behaupten, auch Gregors Sicht auf das Jenseits beeinflusst hat.
Die Armen, der Zorn Gottes und der Reichtum der Kirche Zunächst und vor allem stellte Gregor die Gerechtigkeit Gottes als wesentlich immanent dar. Wer die Heiligen beleidigte oder ihre Schreine beschädigte, der bekam die Folgen sofort zu spüren, unmittelbar im Hier und Jetzt. Und die Art und Weise, auf die diese Leute starben, ließ keinen Zweifel daran, wohin sie nach ihrem Tod gelangen würden. Ein Steuereintreiber, der die Exemtion – die Steuerbefreiung – der Viehherden des heiligen Julian in Brioude nicht anerkannte, starb wenig später an einem Fieber; ganz schwarz war er vor Hitze geworden und stöhnte und lechzte nach Wasser: »Über ihn besteht kein Zweifel; man weiß schon, wohin er drüben [huc: »dorthin«, d. h. im Jenseits] gelangt ist, der diese Welt [hic] mit einem solchen Urteil verlassen hat.«41 Zweitens war, wie Gregor meinte, Gottes Gerechtigkeit immer dann besonders kraftvoll, wenn sie die Armen verteidigte. Um die besondere Wirkmacht zu ermessen, die der Armuts- und Armenbegriff im Gallien 180
Die Armen, der Zorn Gottes und der Reichtum der Kirche
Gregors besaß, müssen wir noch einmal einen Schritt zurück in das 4. Jahrhundert tun. In Kapitel 3 haben wir gesehen, wie nach dem Verschwinden des althergebrachten Gesellschaftsmodells der Antike – dessen zentrale Unterscheidung die zwischen Bürgern und Nichtbürgern gewesen war – sich plötzlich Arm und Reich als die gleichsam konträr geladenen, unvereinbaren Pole einer christlichen Gesellschaft gegenüberstanden. Bis zum 6. Jahrhundert hatten die Armen durch diese brutale Polarisierung eine ganz besondere Aura erlangt, die ihnen gewissermaßen geheime Kräfte verlieh. Einerseits verkörperten die Armen den absoluten Tiefpunkt der menschlichen Existenz. Sie waren Opfer par excellence. Aber Christus hatte sich mit diesen Opfern identifiziert. Und die Bischöfe waren angehalten, diese Identifikation ernst zu nehmen. Über den Bischof Quintianus von Rodez schrieb Gregor mit besonderer Herzlichkeit: »Im Almosengeben war dieser heilige Bischof unübertroffen. Ja, wenn er einen Armen schreien hörte, pflegte er zu sagen: ›Lauft rasch, ich bitt’ euch, eilt zu jenem armen Mann dort [...] Was seid ihr so gleichgültig? Wie könnt ihr wissen, dass es nicht genau dieser ist, von dem [Christus] im Evangelium gesagt hat, man solle Ihn selbst in der Gestalt eines Armen speisen und kleiden?‹«42 Wer die Armen leiden ließ, der trat Christus mit Füßen. Dieser ergreifenden Art von Frömmigkeit lag jedoch noch mehr zugrunde als bloßes Mitgefühl. Wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, betrachtete man den Reichtum der Kirche als einen Schatz, der für die Armen gleichsam nur verwahrt wurde. Das hatte zur Folge, dass spätestens im 6. Jahrhundert die Vorstellung von den Armen als den ewigen Opfern, die noch dazu mit Christus identifiziert wurden, zur Sakralisierung des kirchlichen Besitzes diente. Um den wachsenden Wohlstand der Kirche zog sich sozusagen ein Frühwarnsystem, eine Alarmanlage, die bei der kleinsten Berührung losging: Jeder Angriff auf den Landbesitz der Kirche war ein Angriff auf die Armen. Und ein Angriff auf die Armen war ein Angriff auf Christus selbst. Denn von den Ländereien der Kirche sollten die Armen ja versorgt werden. Wer versuchte, Kirchenland an sich zu reißen, oder wer eine Erbschaft unterschlagen hatte, die eigentlich der Kirche zugedacht war, der musste damit rechnen, als ein necator pauperum gebrandmarkt zu werden – als »Armenmörder«.43 181
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
Bei dieser markanten Formulierung sollten wir einen Moment verweilen. In den Schriften Gregors und der Konzilien taucht sie immer wieder auf und zeigt damit, dass sich der wachsende Reichtum der Kirche nicht nur aus Spenden speiste, die ausdrücklich zum Schutz der Seelen im Jenseits gemacht wurden. Durch die frühchristliche Vorstellung von den Armen als den privilegierten Nutznießern der christlichen Spendenbereitschaft wurde eine ungeheure kinetische Energie freigesetzt, die dafür sorgte, dass Spenden für die Seelen auch noch im Gallien des 6. Jahrhunderts in der Regel als Almosen an die Armen erfolgten. Von Schenkungen an die Kirche erwartete man also, dass sie in der weiteren Gesellschaft wirksam wurden und Bedürftigen zu Nahrung, Kleidung und Obdach verhelfen würden. Damit waren sie mehr als nur Geldgeschenke an spezialisierte Ritualexperten – Priester, Mönche oder Nonnen –, deren Wirkung sich nur im Jenseits bemerkbar gemacht hätte. Obwohl sie von der Kirche verwaltet wurden (und ja in der Tat beträchtlich zu deren finanzieller Ausstattung beitrugen), erfolgten Gaben für die Seele ausnahmslos als Gaben an die Armen. Wenn jemand die Kirche um ihr Geld brachte oder religiöse Spenden unterschlug, hieß es nie, diese Person habe die Seelen der Verstorbenen in Gefahr gebracht. Stattdessen beschuldigte man sie, »die Armen beraubt« zu haben, oder bezeichnete sie, wie gesagt, gar als »Armenmörder« – denn die Armen waren es ja, die von den Erträgen jener Landgüter lebten, die Laien als remedia für ihre Seelen der Kirche gestiftet hatten.44 Man ist versucht, auf solche Erklärungen mit Zynismus zu reagieren. Schließlich fand, als etwa Bertram von Le Mans sein großes Vermögen verteilte, kaum ein Zehntel der gesamten Erbmasse ihren direkten Weg zu den Armen – und selbst das nur in Form von einigermaßen exklusiven »Luxusarmenhäusern«, die in der Regel für nicht mehr als zwölf Bewohner ausgelegt waren, in keinem Fall für mehr als vierzig.45 Der Gesamtwert des Vermögens, das im merowingischen Gallien durch kirchliche Vermittlung an die Armen gegeben wurde, lässt sich nur schwer ermessen. Was wir hingegen gut erfassen können, ist die symbolische Rolle, die den Armen in der Vorstellungswelt Gregors von Tours zukam. Das Schicksal der Armen rührte an Gregors ausgeprägtem Sinn für die Immanenz Gottes in der Welt. In seinen Augen blieben 182
Der Wunderbegriff Gregors von Tours
die Armen und Geschundenen eine ahnungsvolle, beinahe übernatürliche Größe am tiefsten Tiefpunkt der Gesellschaft. Die Armen waren wie die Erde selbst. Die stumme Wut, mit der die Erde die Sünden der Menschheit anklagte (wie es in der Visio Pauli hieß), äußerte sich immer wieder in Missernten, durch das Auftreten von seltsamen Vorzeichen und Seuchen, die grassierten. Beunruhigende Vorkommnisse dieser Art vermerkte Gregor mit besonderer Sorgfalt.46 Die Armen spielten in seiner Vorstellung eine ganz ähnliche Rolle. In seinem Kopf kamen jene Störungen der Natur mit dem Wehklagen der Armen zusammen: Beide waren das unmutige Murren eines Gottes, dessen Geduld langsam zu Ende ging. Als im Jahr 580 eine Pest den Königshof heimsuchte und der Königin Fredegunde ihre Kinder nahm, habe diese, wie Gregor berichtet, ausgerufen: »Gott hat in seinem Erbarmen unserem schlimmen Treiben lang genug zugesehen. Immer und immer wieder hat er uns Warnungen gesandt [...] Jetzt werden wir unsere Kinder verlieren. Die Tränen der Armen sind’s, die ihnen den Tod bringen, die Seufzer der Waisen und die Klagen der Witwen.«47 Auf diese Weise – durch die entschieden diesseitige Ausrichtung von Gregors Schilderungen der Rache, die den Schindern und Unterdrückern der Armen vonseiten der Heiligen drohte – wurde das Jüngste Gericht gleichsam »geerdet«, – es wurde auf die Erde herabgezogen. In ganz ähnlicher Absicht sollten vierhundert Jahre später, um das Jahr 1000, an dem großen romanischen Eingangsportal der Klosterkirche Sainte-Foy im südfranzösischen Conques die Figuren böser Ritter zur Hölle hinabstürzen, was die aufgeladene Atmosphäre zur Zeit der Gottesfriedensbewegung um die erste Jahrtausendwende versinnbildlicht.48
Der Wunderbegriff Gregors von Tours Gregor erwartete, dass die gallische Gesellschaft durch Wunder, in denen sich die tätige Gegenwart der Heiligen auf Erden offenbarte, wieder zur Ordnung gerufen würde. Für ihn waren Wunder nicht einfach private Glücksfälle, mit denen die Heiligen einzelne Menschen 183
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
bedachten, sondern öffentliche Vorzeichen für die Rückkehr von Frieden und Eintracht in die gesamte Gesellschaft. Um diesen Aspekt von Gregors Weltbild zu verstehen, müssen wir in die ganze Komplexität seines Wunderbegriffs eintauchen. Wunder, glaubte er, waren unglaublich vielschichtig. Da war zunächst der unmittelbare, überwältigende Machtbeweis, den ein Wunder eben auch bedeutete – so plötzlich und dynamisch wie der Funkenschlag an einer Hochspannungsleitung. Wer die Wunder der Heiligen jedoch ausschließlich so betrachtete, meinte Gregor, betrachtete sie rein oberflächlich. Wunder waren so viel mehr! Wie Giselle de Nie mithilfe der modernen Medizinethnologie gezeigt hat, sah Gregor Wunder als Metaphern dafür an, dass Ordnung und Erlösung Wirklichkeit geworden waren. Ihre Wirkung lag darin, dass sie – durch eine gleichsam unbewusste Assoziation – Auferstehungs- und vor allem Befreiungsszenarien aufriefen. Und diese Befreiung (aus der Knechtschaft) hatte neben ihrer individuellen auch noch eine gesellschaftliche Bedeutung.49 Außerdem bezogen die von Gregor beschriebenen Heilungsszenarien einen großen Teil ihrer Überzeugungskraft daraus, dass sie fest in bestimmten Körperfantasien wurzelten, die auch in der weltlichen Medizin verbreitet waren. Für die Ärzte des 6. Jahrhunderts war klar, dass »Heilung« in erster Linie die Entfernung schädlicher Blockaden im Körper bedeutete, die Befreiung der Kranken von einer akuten Beengtheit. Von Gelähmten glaubte man, dass sie durch ihr verkrampftes Temperament (d. h. Mischungsverhältnis der Körpersäfte) gleichsam »gefesselt« waren, während Fieberkranke eine Abfolge von Hitze- und Kältezuständen gefangen hielt, die so unentrinnbar waren wie eiserne Ketten.50 Dies hatte zur Folge, dass die Berichte von Wunderheilungen sich in denselben imaginativen Bahnen bewegten wie jene von den Erfolgen der weltlichen Medizin. Wir haben es hier mit einer Vorstellungswelt zu tun, die zu einem ganz beträchtlichen Maß (und zwar in der zeitgenössischen Medizin ganz genauso wie in der hagiografischen Literatur) durch die Antithese von Starre/Verstocktheit und (Er-)Lösung geprägt war. Jedes Wunder brachte Lösung. Manchmal war das Ergebnis eine innere Gelöstheit. Die Buße beispielsweise konnte man im Sinne einer inneren Lösung von der schrecklichen, »verstockten« Starre der reuelosen Sturen verstehen. In seiner Betrachtung des Martinsschreins fand 184
Der Wunderbegriff Gregors von Tours
Gregor überhaupt nichts daran, die physischen Heilungen, die in der Nähe des Schreins geschahen, als Spiegelbilder jener inneren Veränderungen zu betrachten, die er für sich selbst und das ganze Volk Gottes so sehnlich erhoffte. Worum es ihm sowohl bei der physischen Heilung als auch bei der Bekehrung von Sündern ging, war der Moment einer seligen Erlösung von den Beklemmungen des Vorzustandes, der sich in einem Ausbruch von Tränen äußerte. Tränen nämlich zeigten an, dass der verstockte, hart gewordene Wille der betreffenden Person sozusagen »aufgetaut« und ins Fließen gekommen war. Dies war das größte Wunder von allen – das innere Wunder von Buße und Umkehr: »endlich fließen die Tränen frei, und bald folgt auch die aufrichtige Reue [...] aus tiefstem Herzen steigen Seufzer auf, man schlägt sich an die schuldige Brust.«51 Auf diese Weise wurden bei den Wundern, die rund um den Schrein geschahen, innen und außen zusammengeführt. Was man hier und jetzt geschehen sah, war eine direkte Spiegelung jener Heilung, die der Seele »dort und dann« zukommen würde – im Jenseits: »Denn wir glauben, dass genau so, wie diese Heiligen alle Art von Krankheit hier [hic] abwehren, sie auch die gnadenlosen Strafen und Qualen dort [illic] von uns abhalten; dass sie so, wie sie hier dem Fieber des Körpers Einhalt gebieten, auch dort die Flammen des ewigen Feuers löschen; dass sie in der gleichen Weise, wie sie hier die schrecklichen Geschwüre der Aussätzigen rein machen, uns dort durch ihre Fürsprache von dem Makel unserer Sünden befreien.«52 Es ist bezeichnend, dass Gregor an keiner Stelle dieser eindringlichen Passage von einer Dichotomie zwischen der »immateriellen« – geistigen – und der »materiellen« – körperlichen – Sphäre spricht. Stattdessen spricht er nur von »hier« und »dort«. In seiner Vorstellung waren die Grenzen zwischen dieser physischen und jener metaphysischen Welt fließend.53 Man fragt sich, wie viel er dem robusten Materialismus eines Faustus von Riez verdankte (mit dem wir uns ja in Kapitel 4 beschäftigt haben). Ganz bestimmt aber zeichnet sich seine Sicht auf das Verhältnis zwischen dem physischen Wunder und seinen unsichtbaren Entsprechungen, zwischen dieser Welt und der nächsten, durch ganz dieselbe packende Konkretion aus, durch dasselbe Bedürfnis, jene andere Welt in lebendigen, physischen – gleichsam »lebenden« – Bildern heraufzubeschwören, die auch Faustus gebrauchte. 185
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
Das Wunder des Friedens Gregors Sinn für die Vielschichtigkeit von Wundern bedeutete, dass für ihn das grundlegende Szenario der Befreiung aus einer »Gebundenheit« und Unfreiheit nicht auf einzelne Heilungswunder beschränkt blieb. Wunder hatten eine öffentliche Dimension. Man konnte sie als lebendige Metaphern für die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung verstehen. Das wird am deutlichsten in Gregors wiederholten Schilderung sogenannter Kettenwunder – von Wundern also, in denen Ketten gesprengt und Gefangene befreit worden waren. Hier hatte die Antithese von Starre und Lösung ihre höchste Spannung erreicht. So berichtet er etwa, dass der Schrein des heiligen Medardus in Soissons von zerbrochenen Ketten umgeben war, die befreite Gefangene und ehemalige Sklaven dort aus Dankbarkeit hinterlassen hatten. An einem solchen Schrein, der mit konkreten Zeugnissen der wunderbarsten Befreiungen versehen war, mochte eine Pilgerin wohl glauben, dass ihre gelähmte Hand, die eine Schwellung »in Fesseln hielt«, endlich befreit würde – »durch die Macht des Medardus, der die Ketten der Unglücklichen gesprengt hat«.54 Erzählungen von wunderbaren Befreiungen aus Ketten und Kerkerhaft waren Teil einer spezifischen »Befreiungssymbolik«, wie Steffen Diefenbach es so treffend nennt: Sie bildeten die symbolische Kulisse auch für Gregors alltägliche Amtsgeschäfte als Bischof. Sein Geschäft war die Befreiung. Ohne Unterlass bemühte er sich um die Freilassung von Menschen, die am Schrein des heiligen Martin Zuflucht gesucht hatten. Auch für andere Opfer von Kerker, Haft und Unterdrückung setzte er sich immer wieder ein.55 Aber noch einmal: Wir müssen bedenken, dass Gregors Vorstellung vom Wunderbaren vielschichtig war. Durch den Glauben, dass der Befreiung von den Ketten dieser Welt eine so viel größere Freiheit von den Ketten der Sünde im Jenseits entsprach, erlangten öffentliche Wunder eine weitere Dimension. Gregors Reaktion auf die wundersame Befreiung des Priesters Wiliachar, dessen Ketten einfach abfielen, als er zu Unrecht des Verrats bezichtigt wurde, ist ausgesprochen typisch. Für sich selbst erhoffte er eine ganz ähnliche Befreiung: »Wenn nur der heilige Martin mir einen solchen Machterweis gewährte und 186
Das Wunder des Friedens
mich von den Fesseln meiner Sünden befreien würde, gerade so, wie er auch die schweren Ketten zerbrochen hat, die auf Wiliachar lasteten.«56 Aber Gregor dachte nicht nur an sich selbst. Er hoffte stets auf noch größere, noch allgemeinere und öffentlichere Wunder. Solche Wunder konnte man als mächtige Vorzeichen einer besseren Zukunft auffassen. Das ungeheuerste Wunder überhaupt war inmitten jener Bürgerkriegszeit geschehen, die Gregors erste Jahre als Bischof überschattet hatte. Es war ein Friedenswunder gewesen, das jedoch durch das Wunder einer unerklärlichen Befreiung offenbar geworden war. Im Jahr 574 trafen bei Paris die Heere zweier rivalisierender Merowingerkönige friedlich aufeinander. Sie trennten sich ohne Kampf. An demselben Tag wurden am Martinsschrein zu Tours drei Gelähmte geheilt. Gregor hat dieses Ereignis sowohl in seinen Historien als auch in seiner Erzählung von den Wundern des heiligen Martin festgehalten: »Ein weiterer Gelähmter namens Leuboveus [...] war [nach Tours] gekommen, der hatte sich den ganzen Weg über den Boden geschleppt. [...] Eines Tages, er weinte und klagte gerade bitterlich vor der Martinskirche, wurden seine Knie und Füße plötzlich gerade, und unter den Augen derer, die dabei waren, erhielt er seine Gesundheit zurück. Es ist allgemein bekannt, dass diese drei Wunder [das des Leuboveus und noch zwei weitere] geschahen, als der glorreichste König Sigibert gerade die Seine überschritt und mit seinen Brüdern Frieden schloss. [...] Selbst das war ein Triumph für Sankt Martin.«57 Und warum? Für Gregor bedeutete, wie wir gesehen haben, die Heilung von einer Lähmung dasselbe, als wenn schwere Ketten vom Körper abgefallen wären »wie zersprungene Ziegel, die herunterregnen«.58 Im Jahr 574 schien es nun, zumindest einen wunderbaren Moment lang, als wäre selbst jene sündhaft schwere Kette von Verfehlungen, an der die fränkische Oberschicht mit Haut und Haaren in den Krieg gezerrt worden war, wie von Wunderhand zerrissen. Was Gregor in einem gesunden, von der Krankheit befreiten Körper sah, wollte er sehnlich auch um sich herum sehen: eine ganze Gesellschaft, deren Innerstes geheilt war, weil streitende Könige und ihre Gefolge nicht länger in den »Fesseln« von Habgier und Gewalt lagen.59 Jedoch waren es gerade solche handfesten diesseitigen Hoffnungen, durch die Gregor sich bereits als ein wenig altmodisch verriet. Bis Ende 187
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
des 6. Jahrhunderts hatte der Merowingische Bruderkrieg, den er so vehement angeprangert hatte, jenes Ergebnis gebracht, das Bürgerkriege so oft erbringen (man denke nur an die Ereignisse am Ende der Römischen Republik sowie im Römischen Reich des 3. und 4. Jahrhunderts): Er hatte einer neuen Herrschaftsschicht zum Durchbruch verholfen. Deren Angehörige waren reich, selbstbewusst und sorgten sich (wie Gregor durch seine tagtägliche Betrachtung ihres Verhaltens nur zu gut wusste) nur in den seltensten Fällen über das Jüngste Gericht. Angesichts dieses neuen »Gesamtadels« – jener romanisch-fränkischen Aristokratie, die sich an den Höfen der Merowinger herausgebildet hatte – musste Gregor von Tours, bei allem Engagement auf der politischen Bühne seiner Gegenwart, wie ein mahnender Rufer aus längst vergangenen Zeiten wirken. Im Epilog wird sich zeigen, warum dies so war.
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Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits Columban in Gallien, 590–615 n. Chr.
A
ls Bischof von Tours sah Gregor sich einer großen Öffentlichkeit gegenüber. Jenes Einbrechen des Jenseits in das Hier und Jetzt, um das es ihm in seinen Aufzeichnungen hauptsächlich ging, fand an den Gräbern der Heiligen statt, in überfüllten, für jedermann zugänglichen Kirchen, oder aus Anlass des öffentlichen Aufeinandertreffens von Bischöfen, Königen und gewalttätigen Sündern. Ein breites Spektrum von Wundern – plötzliche Konfliktlösungen, die unerwartete Befreiung von Gefangenen, Gefängnisse, die ihre Tore öffneten – wurde in den Städten von Menschenmengen gefeiert, die noch immer der ungezügelte Gerechtigkeitshunger eines echt römischen populus beseelte. Die genannten Ereignisse fanden zum größten Teil in einem urbanen, städtischen Umfeld statt. Die Gräber der Heiligen lagen oft auf alten Friedhöfen nicht weit vor den Mauern einer Stadt. Ihre Verteilung im Land spiegelte die Verteilung der alten römischen Städte Galliens wider. Regelmäßig hatte Gregor das nördliche Gallien bereist; viele der dort amtierenden Bischöfe und führenden Politiker kannte er persönlich. Jedoch waren dies Reisen in ein Land mit ungewisser Zukunft gewesen. Dort im Norden, im eigentlichen »Franzien«, dem Kernland des Frankenreiches, hielten die Merowingerkönige am häufigsten Hof, um189
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
geben von einer neuen, ihrerseits immer stärker im Norden konzentrierten Herrschaftsschicht, die sie selbst geschaffen hatten. Im Gegensatz dazu war Gregor noch immer im Süden verwurzelt. Seine Erinnerungen an die Heiligen erstreckten sich weit über die antike Landschaft des Mittelmeerraums. Die Geschichten, die man ihm erzählte, kursierten zumeist in den Städten des Südens. In diesem Epilog wenden wir uns nun nach Norden, um jene monastische Bewegung auf ihrem Weg zu begleiten, die ein »Star-Asket« vom äußersten Westrand des christlichen Europa angestoßen hatte: der Ire Columban. Unterwegs werden wir uns auf den waldigen Höhen und in den Hochtälern der Vogesen wiederfinden, auf den saftigen, grünen Weiden Nordfrankreichs und in den Mündungsgebieten der großen Flüsse, die die Kanal- und Nordseeküste des gallischen Nordens prägten. Aber vor allem ist dies eine Welt, in der sich die großen Menschenmengen zerstreut haben. Wir folgen nun nicht mehr Gregors aufmerksamem Blick, mit dem er das überwältigende Hereinbrechen der »anderen Welt« an Pilgerstätten beobachten konnte, in denen es von Gläubigen wimmelte wie in einem Bienenstock. Stattdessen spüren wir den Auswirkungen nach, die das leidenschaftliche Streben nach einer Heiligung für wenige in der tiefen, spekulativen Stille neuer, großer Mönchs- und Nonnenklöster hatte. In der Literatur, die von den klösterlichen Anhängern Columbans und anderer im Gallien des 7. Jahrhunderts verfasst wurde, erscheint das Jenseits an dem stillsten aller denkbaren Orte: beim Abschied der einsamen Seele im Augenblick des Todes. In diesem Augenblick trat, wie man glaubte, die jenseitige Welt für einen flüchtigen Moment in das Diesseits hinein und stand an den Sterbebetten der Heiligen – und nicht etwa an ihren prunkvollen Gräbern in aller Öffentlichkeit. Selbst für die Heiligen, glaubte man nun, stellte der Tod nur den Anfang einer langen Reise in das Jenseits dar. In diesem Epilog werden wir die ersten vollständigen Visionsberichte von dieser Reise kennenlernen. All diese Entwicklungen lassen sich ohne Weiteres in einer knappen Erzählung zusammenfassen, die deutlich macht, was genau an ihnen so neu war. Aber in der Realität waren die Veränderungen, die jene Umbruchszeit brachte, langsam und komplex. In Gallien war das Christentum schon eine etablierte, »alte« Religion. Das heißt, es bildete ein 190
Columban in Gallien, 590–615 n. Chr.
reichhaltiges, vielfältig sedimentiertes Konglomerat, das in seinen konkreten Ausprägungen von Region zu Region und von Person zu Person stark variierte. Die Glaubenswelt Gregors von Tours war also nicht die einzige, die es in Gallien gab. Er würde wohl nicht so viel Zeit und Mühe investiert haben, seine Leser mit einem beinah undurchdringlichen Kokon packender Geschichten zu umgarnen, wenn er nicht gespürt hätte, dass es auch noch andere Geschichten gab, die andere Personen in anderen Regionen erzählen mochten, in anderen Lebenslagen oder gesellschaftlichen Nischen – und die sich von den seinen deutlich unterschieden. Es war allerdings auch nicht so, dass Columban und seine Anhänger einen völligen Bruch und Neuanfang bewirkt hätten – eine Art von unwiderruflichem »Systemwechsel« von einem spätantiken zu einem frühmittelalterlichen Christentum. Viel eher sorgte die Ausbreitung eines Mönchtums columbanischer Prägung dafür, dass aus dem fruchtbaren Boden des christlichen Galliens noch eine weitere Humusschicht zum Vorschein kam, die lange schon bestellten Feldern einen neuen und lebendigen Farbstrich gab, wie er beim Pflügen auf durchmischtem Grund wohl vorkommen mag. Mit dem Auftreten dieses »Farbstrichs« schließt sich unser Kreis. In der Einleitung habe ich zeigen wollen, wie eine ganz bestimmte Jenseitsvorstellung – die unter den lateinischen Christen des Mittelalters noch allgemeine Verbreitung finden sollte – von dem Bischof Julian von Toledo in seinem 688 entstandenen Prognosticon, einer »Vorhersage der künftigen Welt«, auf den Punkt gebracht wurde. Bis zum Ende dieses Epilogs möchte ich nun die letzten Stufen jenes Prozesses nachzeichnen, durch den die imaginativen Bausteine von Julians »Futurologie« der Seele nach dem Tod in der Zeit von 250 bis 650 n. Chr. zusammengefügt wurden. Alles, was nun noch zu sagen bleibt, ist ein knappes Lebewohl an die Adresse jenes aus der Antike überlieferten Weltbilds, das von der neuen Sicht auf das Jenseits langsam, aber sicher aus den Köpfen der westlichen Christenheit verdrängt worden war. Doch zunächst wollen wir zu Columban zurückkehren. Gregor von Tours starb im Jahr 594. Nur sechzehn Jahre später, 610, kam eine seltsame Gruppe von Mönchen aus einer Gegend, die Gregor nie erwähnt hatte, nach Tours und verbrachte eine Nacht am Grab des 191
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
heiligen Martin. Die meisten von ihnen stammten aus Irland und auch ihr Anführer, ein ganz bemerkenswerter Mann von etwa siebzig Jahren, war Ire: eben Columban. Die Mönche waren von einem fränkischen König des Landes verwiesen worden und wollten nun von der Bretagne aus mit einem Schiff über die Keltische See in ihre irische Heimat zurückkehren. Auf dem Kontinent ließen sie ein Kloster zurück – in Luxeuil in den Vogesen, am Ostrand des fränkischen Einflussbereichs –, das sich nun in den sicheren Händen ihrer nichtirischen Zöglinge befand. Damit schien die kometenhafte Karriere eines Gottesmannes aus einem fremden Land beendet. Columban und seine Gefährten entstammten ursprünglich der Abtei von Bangor, die im Norden der Grünen Insel an der heutigen Bucht von Belfast gelegen war. Im Jahr 590 waren sie nach Gallien gekommen, just zu der Zeit, als Gregor gerade seine Historien abschloss. Anfangs richtete sich die gebannte Aufmerksamkeit der fränkischen Könige und lokalen Eliten, die mit ihnen zusammentrafen, auf den extremen Asketismus der Neuankömmlinge sowie auf die stolze Gleichgültigkeit, mit der diese allen Gepflogenheiten ihres Gastlandes begegneten. Schon bald jedoch kühlte, wie es nach dem Auftreten von Wanderpredigern immer wieder zu beobachten ist, der anfängliche Enthusiasmus spürbar ab. Die Ortsbischöfe begannen, das clanmäßige Festhalten der Fremden an ihren irischen Klosterbräuchen mit Misstrauen zu betrachten (und hätte Gregor von Tours noch gelebt, er hätte bestimmt ganz ähnlich reagiert, bedenkt man die großen Probleme, die er selbst immer wieder mit charismatischen Wanderpredigern gehabt hat). Der Frankenkönig Theuderich II. von Burgund fühlte sich besonders vor den Kopf gestoßen. Er betrachtete Columban und seine Mitbrüder als Gäste in seinem Reich. Und nun waren diese Gäste länger geblieben, als sie dem Gastgeber willkommen waren. Sie sollten sich nach Hausen scheren, wo sie hingehörten. Aber das war dann doch nicht das Ende der Geschichte. Ein anderer fränkischer König, ein Rivale Theuderichs, ließ Columban und seine Gefährten aus der Bretagne zurückrufen. Theuderich II. erlitt kurz darauf eine überwältigende Niederlage. Der greise irische Abt kehrte nach Luxeuil zurück, zum Zeichen dafür, dass der Frieden nach Burgund und in den ganzen fränkischen Osten zurückgekehrt war. Doch sowohl 192
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Columban als auch seine mächtigen Beschützer waren darauf bedacht, ihre Energien vom Kernbereich der fränkischen Herrschaft weg nach außen zu lenken, in Richtung der Grenzen und darüber hinaus. Columban reiste nach Bregenz an der östlichen Spitze des Bodensees und ließ sich schließlich im oberitalienischen Bobbio nieder, das am Rande des langobardischen Königreiches Neustrien gelegen war. Er starb im Jahr 615. Ein Mann, der im südirischen Leinster geboren war, beschloss sein Leben in einem Kloster, das er selbst gegründet hatte – und nicht irgendwo, sondern auf der anderen Seite jener Alpenpässe, über die Hannibal mit seinen Elefanten gegen Rom gezogen war.1 Wie man sich leicht denken kann, hat diese bewegte Geschichte die Historiker zu allen Zeiten in ihren Bann geschlagen. Doch, was mit Blick auf die Karriere und Columbans bleibenden Einfluss wirklich bemerkenswert ist, entzieht sich oberflächlicher Betrachtung, ist schwerer zu greifen, aber umso folgenreicher für die weitere Entwicklung des Christentums in Europa. Wie ein neuartiger Impfstoff zeigte die radikalasketische Option des columbanischen Mönchtums rasch Wirkung und kam bald flächendeckend zum Einsatz. Binnen eines Jahrhunderts war das nördliche Gallien mit einhundert Mönchs- und Nonnenklöstern übersät, deren Regularien auf jenen Reformbestrebungen beruhten, die von den ersten fränkischen Anhängern des großen Iren angestoßen worden waren.2 Diese neuen Klöster waren prominente Einrichtungen. Sie verbargen sich nicht etwa an den Peripherien des Alltags – etwa auf Friedhöfen vor der Stadt, in Wäldern und Höhlen oder auf Inseln vor der Küste –, wie es die Klöster früherer Zeiten getan hatten. Stattdessen thronten sie inmitten von fettem Ackerland oder an viel befahrenen Flussmündungen. Viele waren von tiefen Gräben, dicken Hecken und Palisaden umgeben, die sie als abgetrennte heilige Orte kenntlich machten. Sie erinnerten an die großen »Klosterstädte« Irlands, die wiederum in der Nachfolge heidnischer Stammesheiligtümer standen. Etliche dieser Abteien blieben bis in die Neuzeit bestehen. Zum ersten Mal in der Geschichte Westeuropas lässt sich von einer »Klosterlandschaft« sprechen, die in einer ungebrochenen Kontinuität mit der Klosterlandschaft aller späteren Jahrhunderte steht.3 Allerdings war es nicht Columban selbst, der in diesem Zusammenhang die tatsächliche Wende von der Spätantike zum Mittelalter be193
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
wirkte, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Gläubigen im nördlichen und östlichen Gallien in Scharen jener Art von Frömmigkeit zuströmten, die die Anhänger und Nachfolger Columbans verkörperten. So endet nun also unsere kurze Geschichte der spätantiken Jenseitsvorstellungen mit Columban, mit seinen fränkischen und burgundischen Schülern sowie mit jenen Laien, die durch ihren Reichtum und Einfluss die »columbanischen« Mönchs- und Nonnenklöster förderten und beschützten. Doch was genau hatte Columban nach Gallien gebracht? Sonderbarerweise hat er nicht etwas Neues gebracht, sondern etwas Altes – ein älteres Gallien – zurückgebracht. Wie so viele charismatische Führer repräsentierte er in der Gesellschaft, in die er kam, nicht etwas völlig Exotisches, sondern erweckte alte Träume zu neuem Leben. Auf den ersten Blick erscheint das kaum glaubhaft. Columban war ein Außenseiter. Als er nach Gallien kam, umgab er sich mit einer Truppe von Iren und Bretonen. Den Klosterbräuchen seiner Heimat hielt er zeitlebens beharrlich die Treue und wusste sich die Tatsache, dass er vom äußersten Rand der bekannten Welt stammte, geschickt zunutze zu machen. Aber das war nur die halbe Geschichte. Wie es sich für einen gebildeten Mann aus der Welt der irischen Klöster gehörte, war Columban ein Mann der Bücher. Und diese Bücher waren in lateinischer Sprache geschrieben. Sie stammten aus Gallien, von wo sie entweder direkt nach Irland gelangt waren oder den Umweg über die letzten »römischen« Regionen im Westen Britanniens genommen hatten. Diese Bücher brachten in die kleinen Klosterenklaven Irlands – die am Rande der christlichen Welt kauerten, wo sie von allen Seiten dem Druck einer noch immer überwiegend heidnischen Umwelt standhalten mussten – ein Idealbild, eine leuchtende Vision davon, was christliche Klöster sein sollten. Gleich einem Mammut, das im Permafrostboden Sibiriens konserviert wurde, hatte in den Klosterbibliotheken der fernen Insel Irland das Weltbild der großen Autoren und Prediger aus dem gallischen Süden des 5. Jahrhunderts überdauert, mit dem wir uns zu Beginn von Kapitel 4 beschäftigt haben. Im Laufe der vielen Jahre, die er auf dem europäischen Festland verbrachte, fügte Columban diesem radikalen gallischen Kern zwar neue Schichten hinzu, aber er blieb doch der Wesenskern seiner Botschaft. 194
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Columban hatte die monastischen Ideale Cassians verinnerlicht. Er berief sich auf die Werke Faustus’ von Riez (ausgerechnet!), die er als »die klarste und glänzendste Lehre« bezeichnete, die er kenne.4 Bei dem, worauf es wirklich ankam – dem mühseligen Jäten von Sünde und Laster im Garten der menschlichen Seele –, bedeuteten Columban sowohl die Jahrhunderte, die seitdem verstrichen waren, als auch die große Distanz, die zwischen Irland und Südgallien lag, herzlich wenig. Durch die Bücher hindurch, die er studierte, konnte er in einer direkten Sichtachse bis in das 5. Jahrhundert blicken, bis zu Faustus von Riez und den Verteidigern des »gallischen Konsenses«. Sowohl den Stil seiner lateinischen Prosa als auch seine Haltung gegenüber der Welt verdankte Columban der großen Tradition der gallischen Bußprediger. Wie wir gesehen haben, zog sich diese Tradition in direkter Linie von Lérins über Faustus von Riez bis zu Caesarius von Arles. Und auch die (in anderer Hinsicht so verschiedenen) Werke Gregors von Tours erfüllte dieselbe Tradition mit einem Gefühl von Dringlichkeit und einem Verlangen, das Gottesgericht im Hier und Jetzt zu erleben.5 In diesem letzten Punkt immerhin würde Gregor von Tours in Columban wohl einen Mitstreiter erblickt haben. Denn wie Columban selbst im Jahr 603 an die Bischöfe Galliens schrieb: »Und da der Tag des Gerichts nun näher ist, als er damals war, liegt es an Euch, eine strengere Auslegung jener Regeln zu betreiben, welche die Religion des Evangeliums uns auferlegt.«6 Mit einer derart provokanten Aufforderung machte Columban sich bei den gallischen Bischöfen nicht gerade beliebt, waren diese doch der Ansicht, das Monopol zur Warnung ihrer »Schäfchen« vor dem Nahen des Jüngsten Gerichts liege ganz allein bei ihnen selbst. Doch mit der Unerschrockenheit seines Auftretens und der Unnachgiebigkeit seiner Botschaft entfachte Columban die Herzen von Dutzenden, später von Hunderten junger Männer und Frauen aus der Blüte der neuen nordgallischen Aristokratie. Wir wollen sehen, wie dies geschah.
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Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
Columban und das Klosterleben Wir kommen Columban am nächsten, wenn wir seine Instructiones lesen – die Predigten, die er für seine Mönche schrieb. Die Authentizität dieser Texte ist nachgewiesen und ihr unverwechselbarer Ton hat in Clare Stancliffe eine brillante Analystin gefunden.7 Wer sie liest, steht am Bodennullpunkt einer gewaltigen spirituellen Detonation. Columban hatte Cassian gelesen, aber so, wie er noch nie zuvor gelesen worden war. Anders jedoch als Cassian ging Columban nicht vom einzelnen Mönch aus, der in der Stille seiner Zelle die Tiefen seiner Seele erforscht. Stattdessen nahm er Gott zum Ausgangspunkt – oder etwa, noch genauer: die Unermesslichkeit Gottes. Columbans Gott konnte man sich nicht mit Leichtigkeit nähern, durch reine Introspektion oder indem man die Sonnenseiten der Schöpfung auf sich wirken ließ. Für Columban war Gott von einem tiefen Schweigen umgeben.8 Er war so verborgen wie die großen Tiefen, die unter der Oberfläche eines kalten, ungerührten Ozeans lagen.9 Und doch konnte dieser verborgene Gott zumindest in Teilen und flüchtig erfasst werden: von denen, die reinen Herzens waren. Ego sum Deus proximans et non Deus de longe (Jer 23,23): »Ich bin ein Gott, der nahe ist, und nicht ein Gott, der ferne ist.«10 Bei all seiner Entferntheit, darauf wies Columban wiederholt hin, war Gott noch immer unser Gott: »Und doch muss er von uns angefleht sein, oft angefleht; stets müssen wir an unserem Gott hängen, dem tiefen, unermesslichen, verborgenen, allerhöchsten und allmächtigen Gott.«11 Fern mochte Gott sein, aber es war dennoch möglich – und noch in diesem Leben –, das Feuer seiner Liebe von jenseits der Sterne herabzuholen und in dem eigenen Herzen zu bewahren: »Hätte ich doch nur den Zunder, jenes Feuer ohne Unterlass zu hegen, zu nähren und am Brennen zu halten, jene Flamme zu füttern, die kein Verlöschen kennt, dafür aber alles Lodern!«12 Und was war schließlich der Zunder, von dem Columban spricht? Es war ein Klosterregime, an dem sich das moderne Empfinden lange Zeit wundgestoßen hat und von dem sich die nichtirischen Gefolgsleute Columbans später lossagen sollten.13 Zunächst einmal müssen wir verstehen, warum Columban eine derart rigorose Therapie überhaupt für 196
Columban und das Klosterleben
notwendig hielt. Und dies lag daran, dass er – durch seine Lektüre der Werke Faustus’ von Riez und Cassians – zu einem strammen Verfechter des »gallischen Konsenses« geworden war.14 Der Mensch war schwach und das war tragisch, aber er hatte, immerhin, noch einen Rest gesunden Willens, der es ihm erlaubte, mit jenem schrecklichen, sündigen, anderen Willen zu ringen, der sich an ihn geheftet hatte wie »ein unersättlicher und rasender Blutegel«.15 Es stand den Menschen also frei, sich zu wehren. Dies taten nun die Anhänger Columbans, indem sie sich für einen gemeinsamen Weg des Leidens entschieden, der die einzelnen Weggefährten bis an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Dies war die einzige Möglichkeit, die Macht des bösen Willens zu brechen. Das Leben eines Mönchs war, wie es einer von Columbans Getreuen formuliert hat, ein Leben der völligen Selbstaufgabe: »Er soll nicht tun, was er möchte; er soll essen, was ihm befohlen ist; er soll nur haben, was man ihm gibt; mit der Fülle der ihm zugeteilten Arbeit soll er zahlen, einem unterstellt sein, dem er nicht dienen will. Erschöpft soll er zu Bett gehen und im Gehen schlafen, und früh am Morgen, wenn sein Schlaf noch nicht vollbracht ist, soll er schon wieder herausgerissen werden. [...] Dem Oberen seiner Gemeinschaft soll er gehorchen, wie er einem Lehnsherrn gehorchen würde.«16 Das beschriebene Leben ähnelte dem von Sklaven und Leibeigenen, deren Verwendung zur Feldarbeit auf den expandierenden Landgütern der nördlichen Francia just um dieselbe Zeit merklich zugenommen hatte. Ein Tagesregime wie dieses, das offenbar – und um nur ein Beispiel zu nennen – gerade einmal zweieinhalb Stunden Schlaf pro Nacht vorsah, woran sich auch im Winter stundenlanges Beten und Singen noch vor Tagesanbruch in einer ungeheizten Kirche anschlossen – hat die modernen Kommentatoren völlig zu Recht entsetzt. Ein solches Regime »legte Zeugnis ab sowohl von [Columbans] eigenem Charakter als auch von der Zähigkeit jener, die sich ihm anschlossen«.17 Tatsächlich ist es nicht etwa Columban selbst, sondern vielmehr die »Zähigkeit jener, die sich ihm anschlossen«, die dem Historiker das größte Rätsel aufgibt. Was erhielten diese Konvertiten schließlich als Gegenleistung? Ganz kurz gesagt: Sie erhielten das göttliche Feuer, das ihre Herzen erhellte, indem sie zunächst in sich selbst das »Feuer des Gehorsams« entfachten.18 Columban und seine Nachfolger ermahnten 197
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ihre Mönche und Nonnen zu dem Glauben, dass die eine Flamme zu der anderen führe. Das innere Feuer der göttlichen Liebe konnte erst dann zu brennen beginnen, wenn die völlige De- und Rekonstruktion der persona der adligen Novizinnen und Novizen erfolgt waren. Die Aufgabe persönlicher Freiheit und ein unbedingter Gehorsam gegenüber den Ordensoberen bildeten den Kern des Klosterlebens, denn sie boten die einzige Möglichkeit, dass innere Feuer der Gottesliebe zu entzünden. Dieser Gehorsam war jedoch kein Selbstzweck: Er war der harte Weg zur Errichtung eines Himmels auf Erden. Gehorsam sollte zu völligem Verständnis und Liebe führen. Columban und viele seiner Nachfolger stellten sich ihre Klöster als umschlossene Oasen von Gnade und Offenherzigkeit vor. In ihnen sollten sich Mönche und Nonnen auf klar und sorgfältig gesteckten Bahnen bewegen. Sie sollten Orte sein, die vom Klang konzentrierten Gesanges erfüllt waren. Ihr Alltagsleben sollte in Gestalt eines sanften, reibungsfreien Austausches erfolgen. Klöster sollten Institutionen sein, deren Zusammenhalt durch unzählige kleine Akte gegenseitigen Dienstes und bedenkenlosen Gehorsams gewährleistet wurde. Columban und seine Anhänger waren überzeugt davon, dass diese Schönheit zu erreichen war. Aber sie konnte nur erreicht werden, indem man den verhärteten, von Standesdenken geprägten Willen der Mönche und Nonnen brach, ihn pulverisierte. Den stolzen Willen abzustreifen – das war die schwerste Arbeit überhaupt: »Freilich mag diese Übung selbst harten Männern hart erscheinen, nämlich dass der eine stets vom Mund des anderen abhängig sein solle.«19 Hinzu kam, dass kurz zuvor ein neues Mittel erfunden worden war, mit dessen Hilfe man der monastischen Perfektion noch einmal näher kommen sollte. Columban hatte nach Gallien die Gepflogenheit der irischen und britischen Mönche mitgebracht, nicht nur regelmäßig zu beichten, sondern auf die Beichte eine »tarifierte«, das heißt genau bemessene Buße für jede einzelne Sünde folgen zu lassen. Auf lange Sicht führte dies in Gallien zu der »bahnbrechenden Annahme« einer neuen religiösen Praxis, die sich in einer bis dato eher randständigen Region des christlichen Europa entwickelt hatte.20 Wir sollten die unmittelbare Wirkung nicht überschätzen, die solche neuen Beicht- und Bußformen außerhalb der Klöster Columbans 198
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und seiner Bewunderer entfalteten. In Irland wie anderswo stellte die regelmäßige Beichte eine Art von »Wahlfrömmigkeit« dar.21 Der Kirche als Ganzer wurde sie damals noch nicht auferlegt, wie es im Hochmittelalter und im neuzeitlichen Katholizismus der Fall sein sollte. Im frühen Mittelalter war die Beichte eine Elitepraxis, deren Ausübung sich größtenteils auf Menschen beschränkte, die eine religiöse Berufung verspürten: Mönche und Nonnen sowie zukünftige Mönche und Nonnen. In den columbanischen Klöstern jedoch spielte die häufige Beichte eine zentrale Rolle bei der Zermürbung des Willens stolzer Männer und Frauen. In vielen Frauenklöstern musste jede Nonne dreimal am Tag ihre Sünden in Wort und Tat bekennen. Sie erhielt dann aus dem Mund einer ihrer Gefährtinnen die Absolution und eine genau bemessene Buße für ihre Verfehlungen.22 Das lange und angstvolle Hadern der Wüstenväter mit ihren so vielfältigen wie hartnäckigen Anfechtungen (von dem Columban in den Werken Cassians gelesen haben wird) wurde durch die Praxis der Beichte handhabbar gemacht. Die Versuchungen wurden dadurch sozusagen »miniaturisiert«, wurden in eine Reihe von klar umrissenen Szenarios zerteilt, die je einzeln verbalisiert und einem Mitbruder oder einer Mitschwester mitgeteilt werden konnten, woran sich ihre »Entsorgung« mittels einer tarifierten Buße anschloss. Durch dieses System wurde in einer Umwelt, in der Mönche und Nonnen in jeder anderen Hinsicht bis an das Äußerste ihrer Kräfte angespannt waren, ein ersehnter emotionaler Schlussstrich gezogen, der das Herz leicht und »rein« machte. Es überrascht nicht, dass in den columbanischen Mönchs- und Nonnenklöstern auch Rebellionen und Ausbrüche vorkamen.23 Aber zugleich boten diese Orte auch den Raum für einzigartige Momente der Gelassenheit, die man durch ein Streben nach scheinbar nebensächlichen Dingen erlangen konnte, das den Unterschied zwischen der Stille des Klosters und der lautstarken Welt jenseits des klösterlichen Schutzraums markierte, in der eine allzu selbstsichere Laienelite den Ton angab. Die Klosterregeln Columbans und seiner Nachfolger waren kleine Meisterwerke dessen, was in der heutigen Soziologie als »Emotionsmanagement« bezeichnet wird.24 Aber sie taten noch viel mehr, als nur das Verhalten von Mönchen und Nonnen zu lenken: Sie stellten – ganz bewusst – die Verhaltenscodes ebenjener Elite infrage, der sie selbst ent199
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stammten. Sie propagierten Stille und Selbstaufgabe. Sie bestraften Klatsch und »Großsprecherei«.25 Das war keine kleine Sache, denn hochmütige Rhetorik und die Verächtlichmachung von Rivalen mittels übler Nachrede war ein Charakteristikum mancher »großer« Bischöfe gewesen – und der prahlerischen Höflinge, Kriegsherren und Großgrundbesitzer des Frankenreiches ohnehin.26 Auf eine Weise, die dem Verhalten der neuen Mönche aus der provenzalischen Oberschicht des 5. Jahrhunderts nicht unähnlich war, wurden also den Werten und Verhaltensmustern einer stolzen, gerade erst neu gebildeten Aristokratie ihre pointierte asketische Umkehrung entgegengestellt. Aus »der Welt« in ein Mönchs- oder Nonnenkloster der columbanischen Tradition einzutreten, bedeutete, aus einer Kakofonie hochmütigen Geredes in ein stilles Reservoir der gemessenen Rede und ebenso maßvoller, rhythmischer Bewegungen einzutauchen. Die Klosterregeln garantierten, dass höfliche Bitten tagein, tagaus auf friedfertige Antworten hoffen durften. Dies galt sogar dann, wenn es um ein so schwieriges Thema wie die Essenszuteilung an halb verhungerte Mitbrüder und -schwestern ging. So sollte die Cellerarin (die Nonne, die für die Lebensmittelvorräte verantwortlich war) entsprechende Anfragen stets wie folgt beantworten: »mit sanften Worten und ohne jede Grobheit in ihrer Antwort, auf dass die Lieblichkeit ihres Herzens in der Antwort ihrer Stimme offenbar werde«.27 Diese pointierten Umkehrungen der Verhaltenscodes der neuen Aristokratie strahlten weit über die Klöster hinweg aus. Schon lange, bevor er Mönch wurde, fand der fromme Wandregisel nichts dabei, sein goldbrokatenes Gewand zu ruinieren, als er einem Bauern dabei half, seinen Wagen freizuschieben, der im tiefen Morast vor dem Königspalast stecken geblieben war – die anderen Höflinge amüsierten sich köstlich. (Man sollte allerdings hinzufügen, dass eine Schar von Engeln Wandregisels schlammverkrustetes Gewand einer wundersamen Trockenreinigung unterzog, bevor er dem König unter die Augen trat.) Im Nonnenkloster von Nivelles wurde Gertrude (immerhin die Tante eines Ahnen Karls des Großen) mit einer kargen Schlichtheit bestattet, die angesichts der prunkvollen Grabbeigaben, die in den weltlichen Teilen ihres Standes üblich waren, wie ein herber Vorwurf gewirkt haben muss. Solche dramatischen Akte der Rollenumkehr mögen unter 200
Mönche, Nonnen, Stifter: die Francia im 7. Jahrhundert
den neu gebildeten Aristokratien der östlichen Francia eine ganz besondere Bedeutung besessen haben, weil die soziale Schichtung innerhalb des Adels (die sich durch die Kleidung und prunkvolle Begräbnisse mit vielen Grabbeigaben ausdrückte) dort besonders ausgeprägt war.28
Mönche, Nonnen, Stifter: die Francia im 7. Jahrhundert Wenn man der Wirkung von Columbans Botschaft auf die fränkische Gesellschaft als Ganze nachgeht, muss man stets bedenken, mit welcher Generation man es gerade zu tun hat. Immerhin war seit Columbans Tod schon eine ganze Generation verstrichen, als Jonas von Susa (ein burgundischer Mönch aus Bobbio, der also auf beiden Seiten der Alpen gleichermaßen zu Hause war) zwischen 639 und 643 seine klassische Vita Columbani verfasste. Und bis in jene Zeit hatte sich in Gallien so manches grundlegend verändert, wozu insbesondere zwei entscheidende Entwicklungen beigetragen haben. Die eine vollzog sich innerhalb einer kleinen, aber einflussreichen Gruppe an der obersten Spitze der fränkischen Gesellschaft. In den 630er-Jahren waren die klösterlichen Werte von Offenheit, gegenseitigem Respekt und der Ablehnung von Stolz und Prahlerei, wie sie die zermürbenden Routinen des columbanischen Klosterlebens hervorgebracht hatten, gleichsam über die Klostermauern »geschwappt« und hatten sich in der Welt der Laien verbreitet. Ein im Kern monastisches Ethos beförderte die Formulierung eines Verhaltenskodex für die höfische Oberschicht, der neben dem Hofstaat im engeren Sinne auch die Amtleute und Bischöfe des nördlichen Frankenreiches angehörten. Und dies galt besonders von der Jeunesse dorée am Hofe Dagoberts I. (629–634) – den Merowingern der nächsten Generation. Diese jungen Männer waren aus vielen verschiedenen Regionen am Hof zusammengekommen, auch waren ihre Familien durch ganz unterschiedliche Traditionen geprägt. Manche kamen aus dem noch immer »römischen« Südwesten, andere aus dem »urfränkischen« Norden. Indem sie für sich einen gemeinschaftlichen Verhaltenskodex annahmen, trugen sie zur Homogenisierung des Merowingerreiches bei.29 201
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Diesen Verhaltenskodex könnte man wegen seiner erkennbar klösterlichen Prägung als »paramonastisch« bezeichnen. Zum ersten Mal haben wir es mit einer Art von Oberschichtsetikette zu tun, die sich nicht ausschließlich auf die »weltliche« Weisheit der Antike berief, wie sie in der klassischen Rhetorik und im römischen Recht verkörpert war. Denn, obgleich jene Elemente am Hof der Merowinger noch immer eine Rolle spielten, wurden sie nun mit frommen Gepflogenheiten vermischt, deren Ursprünge in den christlichen Klöstern lagen. In diesen erlesenen Kreisen gedieh nun so etwas wie eine echte courtoisie – eine »Höflichkeit«, wie sie einem Königshof geziemte. Dieser halb asketische höfische Lebensstil hatte einen großen Vorteil: Er erlaubte es den Dienstleuten des Königs, mit größerer Leichtigkeit als zuvor eine neue Laufbahn einzuschlagen. Beamte konnten Bischöfe oder Äbte werden, ohne dass man darin – wie zuvor – den unwiderruflichen Übertritt von einer Welt in eine radikal andere sah. Die solcherart von monastischen Idealen geprägten Höflinge waren – mit Verlaub – ein ernsthafter Haufen. In ihrer förmlichen, akribischen Art sprachen sie einander stets als peccator an – als »lieber Mitsünder«. Sie halfen dabei, eine Ideologie konsensualer (d. h. einvernehmlicher) Herrschaft in einem friedlichen, geordneten und verantwortungsbewussten Gemeinwesen zu entwickeln – ganz so, als ob das Frankenreich selbst nichts anderes als ein großes Kloster gewesen wäre. Die Ernsthaftigkeit dieses Unterfangens hat man erst durch die innovative Forschungsarbeit von Anne-Marie Helvétius und Jamie Kreiner so richtig gewürdigt.30 Für die meisten Experten kam diese neue Sicht auf die Herrschaftsschicht des Frankenreichs im 7. Jahrhundert durchaus überraschend, hatten sie doch dazu geneigt, die späteren Merowinger als wenig mehr denn unverbesserliche Grobiane zu betrachten. Die zweite Entwicklung, die ich ansprechen möchte, ruhte auf einer breiteren Basis. Sie betraf die fränkische Oberschicht als Ganze. In jenen Kreisen fing man an, Mönchs- und Nonnenklöster als per se heilige Institutionen anzusehen. Hier haben wir es mit einem signifikanten Umdenken zu tun. Columban war noch ein typischer Heiliger der Spätantike gewesen – ein charismatischer Außenseiter, der die Gesellschaft um ihn herum auf dramatische Weise in seinen Bann zog. Doch als Jonas seine Vita Columbani schrieb, war dieses charismatische Bild 202
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Columbans längst von dem deutlichen Eindruck einer »Gruppenheiligkeit« überlagert worden. Nicht auf den einzelnen »heiligmäßigen« Mönch, nicht auf die einzelne Nonne kam es an; sondern es war das erstaunliche, wie ein Uhrwerk getaktete und von langen Gebetsphasen geprägte Leben der Mönche und Nonnen im Kloster überhaupt, dass einen immer größeren Kreis von Mäzenen aus der Laienschaft faszinierte.31 Wir wollen diese Klostergemeinschaften nun einmal durch die Augen ihrer Förderer betrachten. Diese wollten – als Laien – selbst nicht den harten Lebensstil der Mönche und Nonnen auf sich nehmen. Stattdessen wollten sie die Kluft zwischen dem Heiligen und dem Profanen durch Geschenke überwinden. Wie in so vielen Gesellschaften, in denen eine Elite asketischer Virtuosen mit großen Gruppen wohlhabender Laien zusammenlebt, herrschte die Auffassung, dass sich diese beiden unvereinbaren Welten durch fromme Gaben würden verbinden lassen.32 Man sollte nicht den Fehler begehen und derartige Schenkungen als bloße kühle Transaktionen auffassen. Vielmehr etablierten sie eine symbiotische Beziehung zwischen den heiligen Mönchs- und Nonnenklöstern und ihren Unterstützern aus der Laienschaft. Diese enge Verbindung stellte einen Hochpunkt in jenem mystischen Austauschverhältnis von Geld und Gebet dar, das uns zuerst in der Parabel von der Ulme und dem Weinstock begegnet ist, die der Prophet Hermas um das Jahr 140 niedergeschrieben hat. Eine Gruppe allerdings war nunmehr aus der Gleichung herausgefallen: Mönche und Nonnen hatten die Armen als Fürsprecher par excellence verdrängt. Geschenke zogen Grenzen. Sie schufen eine Art von »Pufferzone« zwischen dem Lebenswandel einer reichen Laienschaft, die auch weiterhin einer Weltlichkeit ohne Reue frönte (und zu der inzwischen Kriegsleute mit Blut an den Händen gehörten, die als eine militärische Oberschicht die bürgerschaftlichen Eliten der Römerzeit ersetzt hatten), und den Klöstern der Mönche und Nonnen, die eine raue Sakralität ausstrahlten.33 Und dieser Empfindung einer uneinholbaren Andersartigkeit und eines absoluten Wertes bestimmter Klöster konnte man am besten durch Geschenke Ausdruck verleihen, deren Wert ebenfalls jede Skala sprengte. 203
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Solche Geschenke umfassten viel mehr als nur finanzielle Unterstützung. Für zahlreiche Adelsfamilien bildete ein Mönchs- oder Nonnenkloster, das sie gestiftet hatten, das »Herz ihrer symbolischen Macht«. Entsprechend erfolgten viele dieser Klostergründungen auf Familienbesitz. Insbesondere das Vorhandensein eines Frauenklosters voller adliger Nonnen ließ die große Ehre herausragender Familienclans greifbar werden. Die Oberhäupter jener Clans demonstrierten durch ihre Klostergründungen, dass sie über große Ländereien nicht nur verfügten, sondern diese teils sogar entbehren konnten. Ebenfalls für sie sprach die Tatsache, dass sie als Adlige und Gefolgsleute des Königs ihre eigenen Töchter irgendwo auf dem sprichwörtlichen »platten Land« unterbringen konnten, wo nichts sie vor Gewalt und Übergriffen schützte als eine heilige Klostermauer und die Reputation ihrer Angehörigen.34 Bis zum Ende des 7. Jahrhunderts verfügten viele Nonnenklöster über einen Grundbesitz von bis zu 20 000 Hektar, darunter einige der fruchtbarsten und am intensivsten bewirtschafteten Landstriche Europas.35 Mönchs- wie Nonnenklöster galten als regelrechte »Gebetskraftwerke«. Diszipliniert und ohne Unterlass beteten ihre Bewohner für den Frieden im Königreich. Aber noch wichtiger war: Sie beteten für die Seelen ihrer Stifter und aller weiteren Spender.36 In diesem Sinne bedeutete die Errichtung so vieler Mönchs- und Nonnenklöster in Gallien – auch angesichts der immensen Stiftungsvermögen, die in sie eingingen – ein großes Finale nach jahrhundertelangem Fürbittgebet. Es war auch eine Zeit, deren Vorstellungskraft sich an der mystischen Vorstellung eines Vermögenstransfers von der Erde in den Himmel schier nicht sattdenken konnte. Ein großes Kloster zu stiften, hieß, den Alltagsverstand in Sachen Vermögensverwaltung auf den Kopf zu stellen. Die Resultate, zumindest die ausgemalten, waren enorm. Oder wie es ein begüterter Höfling formulierte: »Ich gebe [...] kleine Dinge für große, irdische für himmlische, was auf Erden bleibt für das, was ewig ist.«37 Wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, zielte jede Spende zunächst und vor allem auf das remedium – den Schutz und die Heilung – der Seele im Jenseits. Es überrascht deshalb nicht, dass Klöster, die ja als »Gebetsmühlen« für die Seelen ihrer Stifter gestiftet wurden, lebhafte Geschichten über jenes Jenseits hervorbrachten. Diese Geschichten 204
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richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Weise, in der die Seele im Moment des Todes in die andere Welt gelangte. So widmete etwa Jonas von Susa, als er im zweiten Buch seiner Vita Columbani angelangt war, einen umfangreichen Abschnitt seiner Darstellung den Nonnen der nahe Meaux am Rande des Marnetals gelegenen Abtei Faremoutiers, die immer wieder flüchtige Blicke ins Jenseits erhascht hatten. Neu an diesen bildhaften Erzählungen war, dass die Einblicke in das Jenseits, die sie festhielten, nicht in Gestalt von Visionen oder überwältigenden Träumen erfolgt waren, sondern ausnahmslos an den Sterbebetten ganz gewöhnlicher Nonnen. Es war ganz, als wäre im Augenblick des Todes ein dünner Vorhang beiseite gezogen worden und die Heerscharen von Engeln und Dämonen, die sich zweihundert Jahre zuvor bereits Salvian an den Sterbebetten der Reichen ausgemalt hatte, stünden plötzlich vor aller Augen da. Jedoch war Jonas’ Botschaft – im Gegensatz zu Salvians – eine optimistische: Gute Nonnen konnten der bedrohlichen Welt jenseits des Grabes ganz ohne Risiko ins Auge sehen. Selbst gute Laienpatrone durften darauf hoffen, ähnlich unbeschadet in das Jenseits zu gelangen, wenn sie entsprechend vorbereitet waren und ganze Klöster voller Mönche und Nonnen um ihren Schutz beteten. Worauf es ankam, war, einen guten Tod zu sterben. Jamie Kreiner hat für diese Sichtweise eine sehr treffende Formulierung gefunden, die für Jonas wie für andere gilt: »Der Tod [war] der Zeitpunkt eines ganz bewussten Abschlusses.«38 Und hinsichtlich der Weise, in der man zu diesem Abschluss gelangte, konnte man vor dem Übertritt in die andere Welt gar nicht vorsichtig genug sein. Was Jonas mit Blick auf den Tod der Nonnen von Faremoutiers betonte, war, dass der Tod an sich nur eine weitere Stufe im Bußleben der Abtei darstellte. Er brachte eine letzte Bilanz, ein letztes Aufrechnen des Individuums. Die erste Nonne, die in Faremoutiers starb, hieß Sisetrudis. Auf ihren Tod war sie bereits gut vorbereitet. Ihr war offenbart worden, dass sie vierzig Tage habe, um sich »auf die Reise« vorzubereiten, aber am siebenunddreißigsten Tag fiel sie kurzzeitig in eine tiefe Ohnmacht. Sie schien schon gestorben zu sein, doch, als sie wieder zu sich kam, erzählte sie den versammelten Nonnen, was passiert war: Zwei junge Männer hatten sie hoch durch die Lüfte getragen. Dann 205
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wurde sie »vielen Nachfragen« – multis discussionibus – unterzogen. Diese Formulierung sollten wir nicht leichtfertig übergehen: discussio hatte zu jener Zeit noch immer einen klar (steuerrechtlich) gefärbten Klang, als wenn es sich bei der Seelenprüfung der armen Sisetrudis um eine Steuerprüfung gehandelt hätte.39 Aber gerade war sie dann endlich unter die Engel aufgenommen, da wurde Sisetrudis auch schon wieder zurück ins Leben kommandiert. Sie hatte sich noch nicht für die »Gegenwart« Christi qualifiziert, da sie die vierzigtätige Buße, die ihr zur Vorbereitung auferlegt gewesen war, noch nicht vollendet hatte. Am vierzigsten Tag aber versammelten sich alle Nonnen der Abtei um ihr Bett, um der Sterbenden im Gebet beizustehen, und die Engel kehrten zurück. Inzwischen war Sisetrudis bereit, zu gehen: »So geh’ ich nun von hier – meine Herren, ich komme.«40 Dieser beispielhafte Tod, schrieb Jonas, war »die erste Ermahnung an das Kloster, die der Herr zu bekunden wünschte«.41 Aufschlussreich ist, dass keiner der Tode, von denen Jonas in der Folge berichtet, als ein einfacher, triumphaler Einzug in den Himmel dargestellt wird. Die Seele jeder einzelnen Nonne wurde irgendeiner Art von Prüfung unterzogen, die gewisse Versäumnisse ihres Lebens im Kloster wettmachen konnte. So wurde auch eine gewisse Gibitrudis in den Himmel emporgehoben und wieder zurückgeschickt: »Kehre zurück, denn du hast die Welt [noch] nicht verlassen.«42 Gibitrudis hatte »die Welt noch nicht verlassen«, weil eine Sünde noch immer auf ihr lastete: Sie hatte es unterlassen, drei anderen Nonnen zu vergeben, dabei hatte sie doch jeden Tag gebetet »[...] und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern«.43 Was für Augustinus die so beharrliche wie ausweglose (und noch dazu recht vage formulierte) Klage des Sünders überhaupt war, hatte sich in Faremoutiers zu nichts als einer weiteren Gelegenheit entwickelt, auf schonungslos konkrete Weise eine bestimmte Sünde zu bekennen, worauf auch hier die barmherzige Befreiung der Absolution folgte – aber erst, nachdem eine spezifische Buße geleistet worden war. Nachdem sie ihren Mitschwestern vergeben und so die nötige Buße getan hatte, öffneten sich die Himmelstore auch für Gibitrudis. Derartige Geschichten legten nahe, dass einzig und allein Seelen, die im Sinne sämtlicher Sünden bereits tot waren, im Zuge eines natür206
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lichen Todes sicher zu ihrem himmlischen Leben übergehen konnten. Auf eine Weise, die an das Totenbuch des alten Ägypten erinnert, musste eine jede Seele bei ihrem »Dahingang« streng überprüft werden. Im Fall der Nonnen von Faremoutiers etwa wurde die Seele jeder einzelnen Verstorbenen von den Wächtern der anderen Welt genauestens untersucht, um sicherzustellen, dass kein Bröckchen sündiger Unreinheit mehr an ihnen haftete, wenn sie das makellose Land des Lebens betraten. Jan Assmann hat mit Blick auf das altägyptische Totenbuch und den Sinn einer solchen »Grenzkontrolle« bemerkt: »Daher [weil es um die Reinigung der Seele geht] kann diese Schwelle gar nicht hoch, die Grenze gar nicht befestigt und der Charakter der Wächter gar nicht schrecklich genug sein.«44 Nicht allen Nonnen blieb jener Schrecken erspart. Aufsässige Nonnen starben einen schrecklichen Tod. Die Türen ihrer Schlafkammern wurden aufgerissen und finstere Schatten versammelten sich an ihren Betten. Es war, als riefen Stimmen sie beim Namen, um sie ins Jenseits zu zitieren.45 Manche Nonnen konnten sich gerade so noch ins Ziel retten. Die »weltliche« Mutter eines heiligen Kindes erreichte nicht mehr als »Vergebung« – venia –, und auch das erst, nachdem sie »vom Anblick schrecklicher Dämonen furchtbar geängstigt« worden war.46 Das Sterben dieser doch eher weltlichen Dame konnte Durchschnittslaien nur beruhigen: »Denn[,] was sie aus eigenem Verdienst nicht erlangen konnte, das erhielt sie durch die Fürsprache ihrer Tochter.«47 Dasselbe durften sich die Laienspender und -bewunderer der Abtei von Faremoutiers erhoffen. Diese Geschichten aus einem edlen Nonnenkloster im grünen Tal der Marne deuten auf einen allgemeineren Veränderungsprozess hin. Für die Gläubigen früherer Generationen konnte venia (»Vergebung«) allein zu Füßen großer (männlicher) Heiliger erlangt werden, die in prächtigen Sarkophagen am Rand der alten gallischen Römerstädte bestattet waren. Inzwischen jedoch hatte dieses kostbarste aller Geschenke – das Geschenk der göttlichen Vergebung – sich in andere Regionen bewegt und lag in den Händen anderer Personen. Vergebung konnte man nunmehr nicht allein durch die Fürsprache von toten Männern aus der Antike erlangen, sondern durch die Gebete lebender Heiliger – 207
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von adligen Damen, deren geballte Präsenz in ihren Nonnenklöstern eine kollektive Heiligkeit weit in die Umgebung strahlen ließ. Hinzu kam, dass jene Klöster von der geschäftigen Betriebsamkeit der Städte gedanklich in etwa so weit entfernt waren wie eine Raumstation. Sie waren dezidiert ländliche Einrichtungen, die inmitten der Felder und Wälder Nord- und Ostgalliens angesiedelt waren. Kein Einziges von ihnen hatte bereits existiert, als Gregor von Tours im Jahr 591 zur Feder griff.
Seelenreisen: Fursa und Barontus Aus der Sicht adliger Laien, aber auch für die Mönche und Nonnen, dienten die Klöster in der Francia des 7. Jahrhunderts gewissermaßen als Vorzimmer zum Jenseits. Nach und nach kamen Berichte von »Seelenreisen« in Umlauf, die sich bei Nahtoderfahrungen zugetragen haben sollten. Diese Berichte schilderten bis in die kleinsten Details die Gefahren, mit denen die Seele im Jenseits konfrontiert wurde. Den ersten solchen Reisebericht aus dem Jenseits, der öffentlich wurde und weite Verbreitung fand, verfasste ein Mann namens Fursa (oder Fursey), ein Ire, der sich – nachdem er zunächst durch das östliche England gezogen war – schließlich in Gallien niedergelassen hatte. Er starb 650 in Lagny nahe Noyon. Der zweite Bericht erschien im Jahr 679 und erzählte von einer Reise bis zu den Pforten des Paradieses und zurück, die ein gewisser Barontus, seines Zeichens Mönch des Klosters Saint-Pierre in Longoretum (dem heutigen Saint-Cyran westlich von Bourges) unternommen haben wollte.48 So etwas wie diese beiden Berichte hatte es noch nicht gegeben. Sowohl die Protagonisten als auch die äußere Form der beiden Texte hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die Visio Fursei (»Vision des Fursa«) war im fernen Irland angesiedelt und lieferte eine Legitimation für Fursas spätere Karriere als Bußprediger. Dabei hatte er Dinge gesehen, die noch keine menschliches Auge je erblickt hatte – und es war wahrhaft furchteinflößend gewesen. Wenn er in späteren Jahren von seiner Vision erzählte, sollte er selbst in der Eiseskälte eines Winters »im Land der Ostangeln« Schweißausbrüche bekommen vor lauter 208
Seelenreisen: Fursa und Barontus
Angst.49 Im Gegensatz dazu war Barontus ein beinahe komischer Charakter. Er, der erst spät zum Klosterleben gefunden hatte, war ein typischer fränkischer Adliger seiner Zeit – nicht ein stumpfsinnig-brutaler Schlagetot (wie wir es uns oft vorstellen), sondern ein früherer Amtsträger, der oft verheiratet gewesen war und noch mehr Mätressen gehabt hatte.50 Zu Beginn seines Berichts begegnet er uns zwischen Himmel und Erde, genauer gesagt mitten in der Luft, unter ihm ein Feld, das er mit einer – übrigens genau angegebenen – Geschwindigkeit von zwölf Meilen pro Stunde überfliegt, und auf eine Landschaft herabblickend, die übersät ist mit ihm wohlbekannten Klöstern. Sogar die Mönche eines dieser Klöster konnte er erkennen, die sich tief unter ihm zum Gebet versammelten, herbeigerufen vom Geläut ihrer Klosterglocke. Und die ganze Zeit über verpassten lästige Dämonen dem armen Barontus Tritte in den Hintern. Er war wirklich einer von den non valde boni, den »nicht besonders Guten« seiner Zeit. Er konnte jedes Gebet gut gebrauchen.51 Trotz ihrer großen Unterschiede fassten beide Nahtodvisionen die Hoffnungen und Ängste ihrer Zeit – auf je eigene Art – zusammen. Sie bildeten ein ganz neues Genre. Anders als in den großen Visionstexten der Spätantike wurden in ihnen keine »kosmischen« Reisen beschrieben: Sie handelten nicht vom Aufstieg in das Reich der Sterne. Auch führten sie ihre Protagonisten nicht direkt vor Gottes Thron. Vielmehr war Gott in diesen neuen Visionen sonderbar abwesend. Er blieb in undurchdringlichen Glanz gehüllt. Worauf es ankam, war das Schicksal einer einzelnen Seele in den Händen furchterregender »Zwischenmächte« – Engel und Dämonen –, die an der Schwelle zum Himmel Wache hielten, um Sünder von jenem Ort reinster Vollkommenheit fernzuhalten. Das Schicksal der Seele wurde durch ganz konkrete persönliche Sünden entschieden, die in der Welt der Lebenden noch nicht abgebüßt worden waren. Außerdem waren es in beiden Visionen die Dämonen, die mit der Stimme eines monastischen Bußapparates allerstrengster Observanz sprachen. Sie standen für das Prinzip einer entsetzlichen Transparenz. Der arme Barontus war vollkommen überwältigt davon, wie viel die Dämonen über ihn zu wissen schienen: »Und sie zählten all die Sünden auf, die ich von Kindesbeinen an begangen hatte, einschließlich derer, die ich selbst schon völlig vergessen hatte.«52 209
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Barontus war kein Heiliger. Fursa dagegen stand, als er seine Vision hatte, am Anfang einer Karriere als Missionar.53 Er musste zeigen, dass er von der Sünde völlig »reingewaschen« war, bevor er seine öffentliche Rolle als Bußprediger antreten konnte. Erbarmungslos hatten die Dämonen ihn auf die Probe gestellt. Vergleichbar den geistlichen Begleitern der strengen irischen Tradition gingen sie Fursas Verfehlungen gewissermaßen von der Wurzel her an. Sie wiesen darauf hin, dass er es versäumt hatte, seinen Feinden aus tiefstem Herzen zu verzeihen.54 Er war nicht »wie ein kleines Kind« geworden.55 Er hatte Beihilfe zur Sünde geleistet, indem er Sünder nicht zurechtgewiesen hatte.56 Angesichts dieses Trommelfeuers von Anschuldigen legten die Engel, die Fursa begleiteten, Widerspruch ein und erklärten, die Dämonen könnten ihn nur haben, wenn er principalia crimina begangen hätte – »Sünden ersten Ranges«. Für bloße Alltagssünden würden sie seine Seele nicht hergeben.57 Die Dämonen freilich sahen die Sache anders: »Jede Sünde, von der die Seele nicht auf der Erde schon reingewaschen wurde, muss im Himmel gerächt werden. Hier ist nicht der Ort für Reue.«58 Noch konnte Fursa darauf hoffen, von irgendeiner Geheimreserve göttlicher Barmherzigkeit zu profitieren. Diese Dämonen lebten in einer unerträglich hell ausgeleuchteten Welt: »Quid enim hic occultum?« (»Was bliebe hier schon verborgen?«)59 Was waren die Sünden, für die sowohl Barontus als auch Fursa belangt werden sollten? Anders, als es in so vielen spätantiken Visionen von der Höllenqual der Seelen der Fall ist, ging es bei ihren Sünden keineswegs um Sex. Es ging um Geld. Barontus hatte unerlaubterweise zwölf Goldstücke behalten, als er ins Kloster eingetreten war. Nun befahl ihm kein Geringerer als Petrus selbst, ein Goldstück pro Monat einem Armen zu geben; ein Priester sollte die Spende besiegeln und segnen. In diesem feierlichen Ritual wurde die christliche Urgeste des Almosengebens glasklar umrissen.60 Um Fursa stand es wesentlich schlimmer. Er wurde beschuldigt, Geschenke von Sündern angenommen zu haben, deren Buße er nicht genau geprüft hatte, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich bereuten.61 Bestechungsversuche findiger Sünder waren damals ein ständiges Thema. Sie waren gefährlich: Jonas berichtet, dass ein Glas mit Wein, das 210
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der sündige König Theuderich Columbanus gereicht habe, in dessen Hand zerplatzt sei.62 Die Visio Fursei wurde in einem Kloster niedergeschrieben, dessen Stifter nicht den besten Ruf hatte: Erchinoald, der mit wachsender Unbeliebtheit zu kämpfen hatte, war der Hausmeier des Königs – Inhaber also des wichtigsten Hofamtes – und der mächtigste politische »Strippenzieher« des Merowingerreiches. In einem solchen Umfeld war die Frage nach der Integrität von Geschenken an Mönche keine Nebensächlichkeit.63 Für Fursa hatte sie sogar eine – im wahrsten Wortsinn – brennende Dringlichkeit. Auf seinem Weg zurück zur Erde kam er an einem Flammenmeer vorbei. Plötzlich tauchte ein Dämon aus den Flammen auf, der einen brennenden Mann gepackt hielt, den er nach Fursa schleuderte. Der versengte Leib streifte Fursas Gesicht und Schulter: Es war ein Mann, dem Fursa eine zu leichte Buße auferlegt und von dem er dafür einen Mantel erhalten hatte. Da schrien die Dämonen: »Stoß nun nicht fort, was du einst annahmst!«64 Von diesem Vorfall an zog sich über Fursas Gesicht eine auffällige dunkle Narbe. Die schreckliche, das Fleisch versengende Umarmung des Mönchs mit seinem unedlen Spender fasste die tiefsten Befürchtungen in sich, die die Menschen in jener Blütezeit des frommen Schenkens umtrieben.
Seelen, Sünden und das Universum Und damit kommen wir zum Ende. Nach allgemeiner Auffassung stellt das 7. Jahrhundert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Christentums im Westen dar. Allerdings sind Wendepunkte oft ziemlich öde und gesichtslose Orte – und das ist in der Religionsgeschichte vielleicht sogar noch richtiger als in der Mathematik. Die leisen, unterschwelligen Kontinuitäten, die zwischen dem christlichen Denken und Handeln des 3. und des 7. Jahrhunderts bestehen – die also die Welt der Antike mit der des Mittelalters verbunden –, sind genauso bedeutsam wie die allseits bekannten Wende- und Umbruchspunkte aus derselben Zeit (darunter das Aufblühen einer neuen Klosterkultur und die Entstehung jener neuen Textgattung der »Seelenreise«). 211
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Was auf den ersten Blick aufregend neu und exotisch erscheint, entpuppt sich nicht selten als die sprichwörtlich x-te Mutation einer schon längst bekannten Spezies. In den dramatischen Debatten von Engeln und Dämonen, wie sie die Visionen von Fursa und Barontus schilderten, gab es nur wenig, was Augustinus in seinen umfangreichen Schriften nicht auch schon erwogen hatte (wenn auch freilich mit viel größerer Zurückhaltung). Was wir als irreversiblen Umbruch empfinden mögen, ist oft nicht mehr als eine Brechung unserer individuellen Perspektive, die immer dann eintritt, wenn der »Suchscheinwerfer« der erforschten Fakten sich auf andere Aspekte desselben Wissenskontinuums richtet.65 Und doch lässt sich, wenn die Frage »Umbruch oder Perspektivbrechung?« lautet, zumindest eine leichte Veränderung des Brechungswinkels wahrnehmen – der Anbruch einer neuen Zeit. Bis zum Jahr 650 hatten Religion und Gesellschaft Galliens einen Umbruchkurs zumindest eingeschlagen, der in seinem weiteren Verlauf zu der Etablierung großer Klöster, einer regelmäßigen Beichtpraxis, der Lehre vom Fegefeuer und der großartigen Divina Commedia eines Dante Alighieri führen sollte. Allerdings müssen wir achtgeben, dass uns im Zuge unseres Perspektivwechsels nicht das historische Augenmaß abhandenkommt. Wir haben die Geschichte der christlichen Seele von der Antike – von den römischen Friedhöfen des 3. Jahrhunderts – bis zur Schwelle des Mittelalters verfolgt: Um das Jahr 650 waren die ersten großen Klöster bereits auf der Bildfläche erschienen; Sinn und Zweck ihrer Gründung war es, den Seelen ihrer Stifter ein beständiges Fürbittgebet zu sichern. Auch war die spätere Purgatoriumslehre in ihren Grundrissen bereits deutlich sichtbar. Das Konzept einer Buße durch Beichte war nun ebenfalls schon in Gebrauch. Auf unserem bedeutsamen Weg durch die Geschichte ist uns aber vielleicht gar nicht aufgefallen, was wir unterdessen alles aus den Augen verloren haben. Eine zu starke Betonung der weiteren Geschichte der westlichen Christenheit etwa könnte uns dazu verleiten, das Vergangene allzu schnell beiseitezuschieben. Wir sollten nicht vorschnell in die (mittelalterliche) Zukunft springen, ohne uns zuvor gebührend von der (antiken) Vergangenheit verabschiedet zu haben. Unsere abschließende Frage muss deshalb lauten: Was hat das westliche Christentum in den besagten Jahrhunderten eigentlich hinter sich 212
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gelassen? Ich würde meinen, dass dieses Zurückgelassene beinah zu groß ist, um es überhaupt in den Blick zu nehmen. Immerhin geht es hier um die Erosion und die schließliche Verdrängung des alten, geheimnisvollen Kosmos der Antike durch das christliche Modell eines Universums, in dem ein Konzept von Sünde, Strafe und Belohnung dominierte. Um diesen Prozess zu verstehen, ist es vielleicht am besten, wenn wir in die Spätantike zurückkehren und uns einem Meisterwerk der wissenschaftlichen Synthese zuwenden: der Studie Afterlife in Roman Paganism des belgischen Archäologen, Philologen und Religionshistorikers Franz Cumont. Mit einer seltenen Klarheit beschwört Cumont den besonderen Kitzel herauf, der dem antiken Bild des Universums eigen war. Dies war eine Welt, in der man das, was man sah, schließlich vielleicht sogar bekam. Es war eine vollkommen überschaubare Welt: »Wenn die Menschen ihre Augen zu den gestirnten Bildern am Firmament aufhoben, so glaubten sie, bis an seine Grenzen zu sehen. Die Tiefen des Nachthimmels – für sie waren sie keineswegs unergründlich.«66 Das materielle Universum war nicht nur klar umgrenzt; es bildete einen in sich schlüssigen und klar abgestuften Gesamtzusammenhang. Wo in dieser Hierarchie oben und wo unten war, stand eindeutig fest. Wenn erstklassige Seelen es an die Spitze schafften, dann wie durch ein moralisch-physikalisches Naturgesetz: Die Seelen der Seligen kamen in die Milchstraße, so einfach war das. Auf diese Weise stimmte die moralische Struktur jener »anderen Welt« nach dem Tod haargenau mit der physischen Struktur der Lebenswelt überein. Die Seelen der Guten gelangten nach ganz oben, inmitten der unvergänglichen Sterne. Schlechtere Seelen hingegen mussten in der kühlen Sphäre unterhalb des Mondes ausharren. Diese Sichtweise war keineswegs auf Heiden beschränkt. Um dies einzusehen, müssen wir nur die Grabinschriften der christlichen Aristokratie Roms sowie ihrer Nachfahren, der vornehmen Bischöfe Galliens, lesen. Auch ihre Seelen wohnten, wie es dort hieß, inmitten – oder sogar jenseits – der Sterne, und zwar mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die Seelen ihrer heidnischen Standesgenossen oder Vorfahren dort wohnten.67 Für Sulpicius Severus war, wie wir gesehen 213
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haben, die Vorstellung ganz normal, dass die Seele des heiligen Martin nach ihrer Himmelfahrt zwischen den Sternen verschwunden sei. In christlichen Kreisen war das beschriebene Bild des Kosmos bereits im 3. Jahrhundert ins Wanken geraten. Ganz egal, wie viel Mühe sich die Dichter von Grabinschriften für hochrangige Christen auch gaben: Das Paradies – Urbild eines nahöstlichen Gartens und von Gottes Segen erfüllt – würde mit der Milchstraße niemals ganz mithalten können. Das wusste Tertullian schon um 200 n. Chr.: »Soll sich gar unsere Ruhestätte im Äther bei den Knabenschändern Platons befinden [...]?«68 Tertullian hatte verstanden, worum es ging. Die Milchstraße war kein anonymes Gräberfeld. Die Milchstraße gehörte den Helden. Ihre dicht gepackten Sternhaufen bestätigten den Ruhm, den sich gefeierte Anführer und »Macher« der Gesellschaft in ihrem Erdenleben erworben hatten. Wie Cumont uns in Erinnerung ruft, kam den Toten in einem solchen Weltbild nur so viel Unsterblichkeit zu, wie sie als Lebende erstrebt hatten – oder hatten erlangen können: »Die Untersterblichkeit, wie wir [Heutige] sie uns vorstellen, folgt aus dem Wesen der Seele selbst [...] Diese betrachtet man für gewöhnlich als absolut, ewig, universell. Für die Alten hingegen stand die Unsterblichkeit unter einem Vorbehalt: Vielleicht währte sie nicht ewig und vielleicht stand sie auch nicht allen zu.«69 Nur die Großen blieben ewig groß. Angesichts eines verbreiteten Glaubens an die Seelenwanderung konnte es sogar sein, dass die Großen dereinst zurückkommen würden – vielleicht auch erst nach vielen Jahrhunderten –, um erneut ihre Herrscherrolle auf Erden einzunehmen. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, wurde diese Sichtweise von der berühmten Szene im sechsten Buch von Vergils Aeneis gestützt, in der Aeneas den Seelen großer Römer begegnet, die kurz davorstehen, in ihre Körper zurückzufallen.70 Augustinus hat in einer Predigt darauf hingewiesen, dass diese Episode – nicht zuletzt durch ihre Darstellung im Theater – allgemein bekannt war. Sie war Teil einer Art von volkstümlichem Klassizismus geworden, dessen Einfluss weit über die Kreise der Gebildeten hinausreichte.71 Große Männer kehrten aus dem Himmel zurück, um auf Erden erneut Großes zu leisten. Nach dieser Auffassung fielen die Struktur des Kosmos und die soziale Schichtung auf Erden gewissermaßen in eins. 214
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Genau dieses hochgradig hierarchische Bild des Kosmos ist es, dass in den Hinterköpfen der Christen langsam, aber sicher verblasste. Bei Augustinus, der so viele schriftliche Anfragen zum Tod und zum Jenseits beantwortet hat, können wir nachlesen, wie groß die – bewusste oder unbewusste – Kluft geworden war, die sich in der Vorstellungswelt des Autors zwischen ihm selbst und der antiken Majestät des Kosmos aufgetan hatte. Augustinus kehrte einem kosmischen Ordnungsmodell den Rücken zu, das sogar die Qualität einzelner Seelen fein säuberlich gewertet hatte. In seinen Augen waren alle Seelen gleich, denn alle Seelen waren unsterblich. Und alle Seelen waren die Seelen potenzieller Heiliger oder Sünder, die sich auf dem Weg in den Himmel oder in die Hölle befanden. Die Vorstellung von einer ewigen Strafe, wie sie Augustinus und anderen vorschwebte, mag uns heute grausam erscheinen. Aber zumindest setzte sie irgendetwas Unzerstörbares im Menschen voraus, das auf ewig bestraft werden konnte. Diese Art der Unsterblichkeit war keineswegs »auf Widerruf und unter Vorbehalt«.72 Keine einzige Seele löste sich einfach in Luft auf und schloss sich damit dem Schicksal jener übergroßen Mehrheit ruhmloser Geister an, für die in der Milchstraße kein Platz war. Bis hin zu seiner Verteidigung traditioneller Gedenkpraktiken gegen den »Oberschichtstrend« der Bestattung in der Nähe von Heiligengräbern vertrat Augustinus ein gleichsam »demokratisches« Seelenbild. Die bescheidene Ausführung zahlreicher Gräber, die sich unter den Fußböden der frühen Basiliken von Nordafrika und Italien finden, lassen erkennen, dass noch viele andere so dachten wie er. Wer sich fidelis hatte nennen können, also ein getaufter Christ oder eine getaufte Christin gewesen war, die das Privileg der Eucharistie sowohl in diesem Leben genossen hatten als auch (durch die Vermittlung lieber Angehöriger) im nächsten genießen durften, der konnte sich mehr nicht wünschen. Es war genug. Auf diese Weise ebneten christliche Debatten über die Totensorge den antiken Kosmos mit seinen Hierarchien unmerklich ein. Es gab nun keine privilegierten Sonderzonen mehr, die als eine spirituelle Topografie über das unermesslich große Universum gelegt waren. Die Seelen verteilten sich auch nicht mehr entlang einer vertikalen Achse durch den Kosmos – nach oben oder nach unten – wie durch ein »moralisches 215
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
Gravitationsgesetz«, sondern entsprechend ihrer Unterordnung unter den Willen Gottes. Die einzige Hierarchie, die nun noch zählte, war nicht mehr jene große Treppe, die sich majestätisch von der schnöden Erde zu den ruhmreichen Sternen emporschwang, sondern vielmehr eine dreigeteilte Hierarchie, für die einzig und allein der menschliche Wille verantwortlich war. Dies war die Hierarchie der valde boni, der valde mali sowie – dazwischen und auf ihrem Mittelweg vielleicht am interessantesten – der non valdes, also jener »nicht besonders Schlechten«, aber auch »nicht besonders Guten«, auf die in christlichen Kreisen so unglaublich viel intellektuelle und rituelle Energie verwendet wurde. Es war eine stille Revolution. Kein einzelner Denker hat sie losgetreten. Aber der veränderte Status des Universums in der menschlichen Vorstellung stellte gegenüber dem antiken Weltbild doch eine tiefgreifende, gleichsam tektonische Verschiebung dar. Bis zum 7. Jahrhundert waren die Implikationen dieser Revolution der Vorstellungswelt deutlich hervorgetreten. Die Visionen von Fursa und Barontus ereigneten sich in einer Welt, die kein Mensch der Antike – zumindest keiner, der das gängige Weltbild der Gebildeten seiner Zeit teilte – wiedererkannt hätte. Unter den Toten gab es nun keine »Stars« mehr. Stattdessen wurde die Reise einer jeden Seele ganz allein durch deren Sünden und Verdienste bestimmt. Und zu diesen Sünden und Verdiensten zählten nun (anders, als es in der Antike oft der Fall gewesen war) keineswegs nur schreckliche Verbrechen und ruhmreiche Großtaten: Sie waren das bescheidene Konglomerat eines ganzen Lebens, gleich einem Korallenriff nach und nach aufgeschichtet aus Gedanken und Werken, die derart komplex und so tief in den Gegebenheiten eines bestimmten Lebens verwurzelt waren, dass sie mitunter (wie es dem armen Barontus passiert war) noch nicht einmal denen, die sie gedacht und vollbracht hatten, ganz zu Bewusstsein kamen. Das jedoch lässt eine bemerkenswert »runde« und vielschichtige Sicht des Menschen erkennen. Es war eine Sicht, die durch die Genauigkeit und regelrechte Detailversessenheit der neuen Beichtpraktiken befördert worden war. Um mit Claude Carozzi zu sprechen, war die Visio Baronti »eine erste Skizze von der Selbsterfahrung eines menschlichen Individuums in Westeuropa«.73 Zu jener Zeit betrafen Visionen von einer Seelenreise meist Individuen, die in Mönchs- oder Nonnenklöstern ein behütetes Leben führ216
Seelen, Sünden und das Universum
ten. Um nun das Schwinden des alten Bildes vom Kosmos in einem weniger spezialisierten (wenn auch noch immer privilegierten) Umfeld verstehen zu können, sollten wir uns noch einmal den christlichen Grabinschriften zuwenden. Bis in die Mitte des 6. Jahrhunderts (und in Oberitalien auch noch später) behielten die christlichen Grabsteine Südgalliens, der spanischen Mittelmeerküste und Italiens einen stolzen, »kosmischen Tonfall« bei, in dem sie von den Taten der Guten und Großen berichteten. Die Lebenden teilten so in blumigen Gedenkinschriften mit, dass ihre Toten eine sichere Wohnung am bestirnten Himmel bezogen hatten – ganz so wie die Würdenträger im heidnischen Rom. Bischöfe, Kleriker, Mönche, Nonnen und Laien: Alle waren sie zu den Sternen aufgefahren. Verglichen mit den erlesenen Inschriften des 4. Jahrhunderts fielen diese Marmorplatten freilich oft durch ihre unbeholfene Ausführung auf. Aber ihre Botschaften ließen eine Welt aufscheinen, die noch immer dalag wie im späten Abendlicht eines undenklich alten Weltbildes gebadet.74 Doch dann – für die Dauer einer entscheidenden Generation – verstummten die alten Grabsteine. Einen geschichtlichen Augenblick lang verschwanden die eingemeißelten Epitaphe. Und als sie zurückkehrten, sprachen sie mit veränderter Stimme. Jetzt hören wir nicht mehr die Stimme der Lebenden, die ihre Toten preisen; wir hören eine Stimme aus dem Grab. Nach und nach, in einer Gegend nach der anderen (von Irland bis nach Rom) beginnen nun die Toten selbst, die Lebenden um ihr Gebet zu bitten: oroit do – »ein Gebet für« heißt es in Irland, orate pro auf Latein.75 Eines der ersten Beispiele stammt aus dem gotischen Septimanien des 7. Jahrhunderts, also aus der Pyrenäenregion des heutigen Frankreich: Auf einem gewaltigen Felsblock, den drei große, zum Schutz eingeritzte Kreuze zieren, ist sie mit unbeholfenen Buchstaben eingehauen, die Stimme des Toten, der spricht: »In Christi Namen, betet alle für Trasemir.«76 Als dann das Band zwischen den Lebenden und den Toten, das durch die Rituale der Kirche immer fest geknüpft wurde, mit der Zeit einen ganz eigenen Kosmos bedeutete – indem es zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzung, zum Stoff von Visionen und Ziel der regelmäßigen Gebete und Spenden von Millionen geworden war –, können wir, um das Jahr 650 n. Chr. herum, tatsächlich davon sprechen, dass die Welt der Antike in Westeuropa endgültig gestorben war. 217
Danksagung
D
as vorliegende Buch baut auf Vorlesungen auf, die ich am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien im Oktober 2012 gehalten habe. Auf diese Begegnung mit einer wirklich außergewöhnlichen Einrichtung schaue ich mit ganz besonderem Vergnügen zurück. Mein einziges Bedauern liegt darin, dass ich den damaligen, mittlerweile verstorbenen Rektor und Gründer des Instituts, Krzyztof Michalski, wegen seiner schweren Krankheit schon nicht mehr kennenlernen konnte. Als wahrhaftiger Spiritus Rector hat er die thematische Breite, disziplinäre Vielfalt und das bewundernswerte Engagement für ernste Themen und Probleme geprägt, die das Institut nach wie vor auszeichnen. Das warme Willkommen, das mir Cornelia Klinger, Klaus Nellen und Eva Forgacs zusammen mit den anderen Fellows und Mitarbeitern des Instituts bereitet haben, klingt mir heute noch nach und dasselbe gilt für die Umsicht, mit der Mary Nicklas unsere Reise nach und den Aufenthalt in Wien ebenso einfach wie unvergesslich gemacht hat. Dankbar bin ich auch für die Begeisterung so vieler Freunde und Kollegen (die allesamt schon lange zu meinen persönlichen Heldinnen und Helden zählen): Bernhard Palme, Walter Pohl, Herwig Wolfram, Claudia Rapp und Helmut Reimitz. Alles in allem hat der Besuch in Wien ein altes lateinisches Sprichwort mit Leben gefüllt: Ubi amici, ibi patria – »Wo Freunde sind, da ist meine Heimat.« Kaum ein Sinnspruch würde wohl besser zu einem Institut und zu einer Stadt passen, die beide schon seit Langem die freundschaftliche Verbindung so vieler verschiedener patriae befördern.
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Danksagung
Als ich mich dann daranmachte, meine Vorlesung in ein Buch zu verwandeln, hatte ich das wirklich große Glück, stets auf den guten Rat und kritischen Sachverstand von Helmut Reimitz und Jamie Kreiner bauen zu können. Auch den anonymen Lesern meines Manuskripts bin ich sehr dankbar. Durch ihre hilfreichen, stichhaltigen Anmerkungen ist aus dem Manuskript ein in vielen entscheidenden Punkten besseres Buch geworden. Am meisten jedoch verdanke ich Betsy, meiner Frau. Sie hat mich sowohl in der Wirklichkeit als auch in der Welt der Vorstellung auf den vielen Reisen begleitet, die in die Entstehung dieses Buches eingeflossen sind. Unter ihren wachsamen Augen ist schließlich auch das Buch selbst, wie ich glaube, immer anschaulicher, lesbarer und argumentativ schlüssiger geworden. Ihr sei es daher von Herzen gewidmet.
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Anmerkungen Einleitung 1 Julian von Toledo, Prognosticon futuri saeculi, hg. v. J. N. Hillgarth, Corpus Christianorum 115 (Turnhout: Brepols, 1976). 2 R. Collins, Early Medieval Spain: Unity and Diversity, 400–1000 (London: Macmillan, 1983), 78. 3 C. Carozzi, Le voyage de l’âme dans l’au-delà dans la littérature latine (ve–xiiie siècle), Collection de l’École française de Rome 189 (Rom: Palais Farnèse, 1994), 95. 4 Dabei stechen vor allem die Abschriften aus Cyprians De mortalitate in Prognosticon 1,14–16; 1,28–34 sowie aus seiner Schrift Ad Fortunatum in Prognosticon 2,36; 2,74 hervor. 5 Cyprian, De mortalitate 3, hg. v. W. Hartel, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 3 (Wien: Gerold, 1868), 298. 6 Cyprian, Ad Fortunatum 13,347, sowie Julian, Prognosticon 2,37; 2,74, der Augustinus’ Gottesstaat (De civitate Dei), 20,9, zitiert. 7 Siehe E. Gonzalez, The Fate of the Dead in Early Third Century Africa, Studien und Texte zu Antike und Christentum 83 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 69–71. 8 É. Rebillard, Christians and Their Many Identities in Late Antiquity, North Africa, 200–450 CE (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2012), 34–55. 9 Tertullian, De anima 55,5, hg. v. J. H. Waszink, Corpus Christianorum 1 (Turnhout: Brepols, 1954), 863. In Waszinks deutscher Übersetzung dieser Passage heißt es: »Wer den ›neuen Tod‹ für Gott und den außergewöhnlichen für Christus stirbt, wird in eine andere, eine besondere Herberge aufgenommen.« (Tertullian, Über die Seele, eingel., übers. und erl. v. J. H. Waszink. Werke des Q. Septimius Florens Tertullianus 1 [Zürich: Artemis, 1980], 173.) 10 G. W. Bowersock, Martyrdom and Rome (Cambridge: Cambridge University Press, 1995), 41–74. 11 Marcus Aurelius, Meditations 11,3, hg. v. C. Haines, Marcus Aurelius Antoninus, Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1961), 294. Die deutsche Übersetzung folgt der Ausgabe Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, übers. und erl. v. W. Capelle, überarb. und neu eingel. v. J. Fündling, 13. überarb Aufl. (Stuttgart: Kröner, 2008), 164. Siehe auch R. B. Rutherford, The Meditations of Marcus Aurelius: A Study (Oxford: Clarendon Press, 1989), 188. 220
Einleitung
12 F. Dölger, »Gladiatorenblut und Märtyrerblut«, Vorträge der Bibliothek Warburg 1 (1923–1924), 196–214. 13 Lukian, Peregrinus, 11–14 und 35, hg. v. A. M. Harmon, Lucian 5, Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1972), 12–16 und 38–40; siehe auch J. König, »The Cynic and Christian Lives of Peregrinus«, in: The Limits of Ancient Biography, hg. v. B. McGing und J. Mossman (Swansea: Classical Press of Wales, 2006), 227–254. 14 Siehe vor allem A. Stuiber, Refrigerium interim: Die Vorstellungen vom Zwischenzustand und die frühchristliche Grabeskunst, Theophaneia 11 (Bonn: P. Hanstein, 1957); und C. E. Hill, Regnum Caelorum: Patterns of Millennial Thought in Early Christianity (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2001). Nach Gonzalez, Fate of the Dead, 186–195, war die Meinung Tertullians über die Vorläufigkeit des Nachlebens der Nichtmärtyrer nur eine Meinung unter vielen – und noch dazu eine, deren Konkurrentinnen sich schließlich durchsetzen sollten. 15 F. Cumont, The Afterlife in Roman Paganism (New Haven, CT: Yale University Press, 1922), 193–213; und H. Wrede, Consecratio in formam deorum: Vergöttlichte Privatpersonen in der römischen Kaiserzeit (Mainz: von Zabern, 1981). 16 Tertullian, De resurrectione mortuorum 34,10, hg. v. J. Borleffs, Corpus Christianorum 2 (Turnhout: Brepols, 1954), 966. 17 Cyprian, Epistula 6,4, hg. v. W. Hartel, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 3 (Wien: Tempsky, 1871), 484; A. Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970), 41. 18 Irenäus, Adversus Haereses 5,32,1, hg. v. W. Harvey, Sancti Irenaei adversus haereses 2 (Cambridge: Cambridge University Press, 1857), 413. Siehe auch Stuiber, Refrigerium interim, 43–74; H. Finé, Die Terminologie der Jenseitsvorstellungen bei Tertullian, Theophaneia 12 (Bonn: P. Hanstein, 1958), 150–196. Indem er das Konzept des refrigerium interim zur Erklärung sämtlicher Aspekte der christlichen Katakombenkunst heranzog, hat Stuiber ihm wohl eine zu große Erklärungslast aufgebürdet. Eine nuanciertere Sicht findet sich bei D. Hofmann, »Der ›Ort der Erfrischung‹: Refrigerium in der frühchristlichen Literatur und Grabkultur«, in: Topographie des Jenseits: Studien zur Geschichte des Todes in Kaiserzeit und Spätantike, hg. v. W. Ameling, Altertumswissenschaftliches Kolloquium 21 (Stuttgart: F. Steiner, 2011), 103–122. 221
Anmerkungen
19 Gonzalez, Fate of the Dead, 130–139, bringt diese Veränderung mit dem »Aufwärtsdruck« eines Volksglaubens in Verbindung, dessen Ansichten über die Unsterblichkeit den alten heidnischen Vorstellungen entsprachen. Ramsay MacMullen hat diese Bewegung als »zweite Kirche« bezeichnet, vgl. R. MacMullen, The Second Church: Popular Christianity A.D. 200–400 (Atlanta, GA: Society of Biblical Literature, 2009), 104–105. Ich wäre mir nicht ganz so sicher, dass diese Ansichten ihren Ursprung tatsächlich im »Volk« gehabt haben. 20 Julian, Prognosticon, Vorrede, 12. 21 Julian, Prognosticon 1,18, 36. 22 Ebd. 23 Julian, Prognosticon 2,19, 55–56. 24 Darunter vor allem B. E. Daley, The Hope of the Early Church: A Handbook of Patristic Eschatology (Cambridge: Cambridge University Press, 1991; 2. Aufl., Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2010). 25 Carozzi, Le voyage de l’âme, 43–61. 26 P. Fouracre, »Eternal Light and Earthly Needs: Practical Aspects of the Development of Frankish Immunities«, in: Property and Power in the Early Middle Ages, hg. v. W. Davies und P. Fouracre (Cambridge: Cambridge University Press, 1995), 53–81. 27 Defensor von Ligugé, Liber Scintillarum 49,9, hg. v. H. M. Rochais, Corpus Christianorum 117 (Turnhout: Brepols, 1957), 166. 28 Testamentum Leodegarii, hg. v. B. Krusch, W. Gundlach und L. Traube, Corpus Christianorum 117 (Turnhout: Brepols, 1957), 513. 29 W. John, »Formale Beziehungen der privaten Schenkungsurkunde Italiens und des Frankenreiches und die Wirksamkeit der Formulare,« Archiv für Urkundenforschung 14 (1935), 1–104. An dieser Stelle bin ich Professor Helmut Reimitz zu besonderem Dank dafür verpflichtet, dass er mir in der heiklen Frage nach der Echtheit einiger der ältesten merowingischen Schenkungsurkunden mit seiner Expertise beigestanden hat. 30 S. Liebermann, »Some Aspects of the Afterlife in Early Rabbinic Judaism«, in: Harry Austryn Wolfson Jubilee Volume (Jerusalem: Magnes Press, 1965), 495–532; J. Smith und Y. Haddad, The Islamic Understanding of Death and Resurrection (Albany, NY: SUNY Press, 1981; neue Aufl., 2001); L. Halevi, Muhammad’s Grave: Death Rituals and the Making of Islamic Society (New York: Columbia University Press, 2007), 226–233; M. Dal Santo, Debating the Saints’ Cult in the Age of Gregory the Great (Oxford: Oxford University Press, 2012), 237–320. 222
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum 1 Mt 19,21; vgl. Mk 10,21 und Lk 18,22. 2 Lk 12,33. 3 Peah 15b, 63–75, übers. v. M. Schwab, Le Talmud de Jérusalem (Paris: Maisonneuve, 1972), 2,7; und G. A. Wewers, »Pea/Ackerecke« in: Übersetzung des Talmud Yerushalmi (Tübingen: Mohr-Siebeck, 1986), 2,2,10–11. 4 Cyprian, De zelo et livore 16, hg. v. W. Hartel, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 3 (Wien: Gerold, 1868), 431. 5 Lk 16,9. 6 Gregor, Dialogi 4,37,1, hg. v. A. de Vogüé, Grégoire le Grand: Dialogues, Sources chrétiennes 265 (Paris: Le Cerf, 1980), 136; übers. v. J. Funk, Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen Vier Bücher Dialoge, Bibliothek der Kirchenväter, Zweite Reihe, Band III (München: Kösel und Pustet, 1933), 240. 7 Gregor, Dialogi 4,36, hg. v. A. de Vogüé, 134; übers. v. Funk, 238. 8 G. Anderson, Charity: The Place of the Poor in the Biblical Tradition (New Haven, CT: Yale University Press, 2013), 123–135. 9 K. Koch, »Der Schatz im Himmel«, in: Leben angesichts des Todes: Beiträge zum theologischen Problem des Todes. Helmut Thielecke zum 60. Geburtstag (Tübingen: Mohr, 1968), 47–60, hier 52. 10 E. Diehl, Inscriptiones Latinae Christianae Veteres (im Folgenden ILCV) (Dublin: Weidmann, 1970), Nr.1067 aus dem Jahr 449 n. Chr. 11 J. Guyon und M. Heijmans (Hg.), D’un monde à l’autre: Naissance d’une Chrétienté en Provence, ive–vie siècles (Arles: Musée d’Arles antique, 2001), 87. 12 E. Urbach, »Treasure Above«, in: Hommages à Georges Vajda: Études d’histoire et pensée juives, hg. v. G. Nahon und C. Touati (Löwen: Peeters, 1980), 117–124, hier 118 und 124. 13 J. Parry, »The Gift, the Indian Gift and the ›Indian Gift‹«, Man, N. F. 21 (1986), 453–473, hier 466; sowie M. Bloch und J. Parry, »Introduction«, in: Money and the Morality of Exchange, hg. v. M. Bloch und J. Parry (Cambridge University Press, 1989), 1–32, hier 2. Siehe auch meine Ausführungen in P. Brown, Der Schatz im Himmel. Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs, übers. v. M. Bayer und K. Schuler (Stuttgart: Klett-Cotta, 2017; orig. 2012), 148–151; und »›Treasure in Heaven‹: The Implications of an Image«, Cristianesimo nella storia 33 (2012), 377–396. 223
Anmerkungen
14 M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, übers. v. E. Moldenhauer (Frankfurt: Suhrkamp, 2009; orig. 2002). 15 D. C. Ullucci, The Christian Rejection of Animal Sacrifice (Oxford: Oxford University Press, 2012), 65–118. 16 Vgl. J. Lakoff und M. Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, übers. v. A. Hildenbrand. 8. Aufl. (Heidelberg: Carl-Auer-Verlag, 2014; orig. 1980). 17 Anderson, Charity, 170. 18 Gal 2,10; siehe auch D. Georgi, Remembering the Poor: The History of the Pauline Collection for Jerusalem (Nashville, TN: Abingdon Press, 1992); und D. J. Downs, The Offering of the Gentiles: Paul’s Collection for Jerusalem and Its Chronological, Cultural and Cultic Context (Tübingen: Mohr Siebeck, 2008). 19 Hermas, Der Hirt, Gleichnis [similitudo] 2,51, eingel., hg., übers. und erl. v. U. H. J. Körtner und M. Leutzsch, Papiasfragmente. Hirt des Hermas, Schriften des Urchristentums, Dritter Teil (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998), 246–251. Siehe auch C. Osiek, Rich and Poor in the Shepherd of Hermas: An Exegetical-Social Analysis, Catholic Biblical Quarterly Monograph Series 15 (Washington, DC: Catholic Biblical Association of America, 1983), 25. 20 Hullin 92a. Eine (im Wortlaut leicht abweichende) deutsche Übersetzung der gesamten Passage liefert die Ausgabe Babylonischer Talmud, Bd. 11: Hulin, Bekhoroth, Arakhin, übers. v. L. Goldschmidt (Berlin: Jüdischer Verlag, 1967), 284. 21 P. Brown, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire, Menahem Stern Jerusalem Lectures (Hanover, NH: University Press of New England, 2002), 24–26; sowie Brown, Der Schatz im Himmel, 80–84. Die am besten untersuchte Christengemeinde im Westen war die von Karthago. Georg Schöllgen hat ihr eine vorbildliche Studie gewidmet: Ecclesia Sordida? Zur Frage der sozialen Schichtung frühchristlicher Gemeinden am Beispiel Karthagos zur Zeit Tertullians, Jahrbuch für Antike und Christentum Ergänzungsband 12 (Münster: Aschendorff, 1984), 155–269, 286–294 und 299–311. 22 Anderson, Charity, 70–82. 23 R. Krautheimer, Rome: Profile of a City, 312–1308 (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1980), 16, insbesondere Abb. 16. 24 An diesem Punkt bin ich vor allem Steffen Diefenbach verpflichtet: Römische Erinnerungsräume: Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr., Millennium Studien 11 (Berlin: de Gruyter, 2007), 38–62, insbesondere 43–55. 224
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum
25 Passio Perpetuae 8,4, hg. v. H. Musurillo, The Acts of the Christian Martyrs (Oxford: Clarendon Press, 1972), 116. 26 Inscriptiones Christianae Vrbis Romae (im Folgenden ICVR), N.F. 5, hg. v. A. Ferrua (Vatikanstadt: Pontificium Institutum Archaeologiae Christianae, 1971), Nr. 12907–13096, 89–40. 27 Diefenbach, Römische Erinnerungsräume, 16. 28 ICVR, N.F. 5, Nr. 12936, 14 und 12954, 17. 29 ICVR, N.F. 6, hg. v. A. Ferrua (Vatikanstadt: Pontificium Institutum Archaeologiae Christianae, 1975), Nr. 16547 und 16548, aus der Katakombe der Heiligen Marcellinus und Peter. 30 ILCV, Nr. 2315 – San Callisto. 31 K. Argetsinger, »Birthday Rituals: Friends and Patrons in Roman Poetry and Cult«, Classical Antiquity 23 (1992), 175–193. 32 ICVR, N.F. 5, Nr. 12933, 14. 33 C. Rapp, »›For Next to God, You Are My Salvation‹: Reflections on the Rise of the Holy Man in Late Antiquity«, in: The Cult of the Saints in Late Antiquity and the Early Middle Ages: Essays on the Contribution of Peter Brown, hg. v. J. Howard-Johnston und P. A. Hayward (Oxford: Oxford University Press, 1999), 63–81, hier 66–67. Siehe auch Anderson, Charity, 136–148. 34 Augustinus, De civitate Dei 21,27,186, hg. v. B. Dombart und A. Kalb, Corpus Christianorum 48 (Turnhout: Brepols, 1955), 804, unter Zitat von Vergils Aeneis, 6,664. In der deutschen Ausgabe Vom Gottesstaat, 2 Bde., übers. v. W. Thimme, eingel. und erl. v. C. Andresen (Zürich: Artemis, 21978), II, 744, heißt es: »Es ist, als sagten sie zu ihnen, was man häufig auch aus Christenmund vernehmen kann, wenn sich einer demütig einem Heiligen mit den Worten empfiehlt: ›Sei meiner eingedenk‹, wobei man es sich etwas kosten lässt, ihn günstig zu stimmen.« 35 Tertullian, Apologeticum 39,2, hg. v. E. Dekkers, Corpus Christianorum 1 (Turnhout: Brepolis, 1954), 150; Verteidigung des Christentums, übers. v. C. Becker (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 41992), 183. 36 ICVR, N.F. 5, Nr. 2959, 18. 37 Siehe insbesondere. J. Bodel, »From Columbaria to Catacombs: Collective Burial in Pagan and Christian Rome«, in: Texts and Artifacts in Context: Studies in Roman, Jewish and Christian Burials, hg. v. L. Brink und D. Green (Berlin: De Gruyter, 2008); und Brown, Der Schatz im Himmel, 95–99. Zu bukolischen Motiven in der christlichen Grabkunst siehe F. Bisconti, »Primi passi di un’arte cristiana: 225
Anmerkungen
I processi di definizione e l’evoluzione dei significati«, Antiquité Tardive 19 (2011), 35–46, insbesondere 39–40. 38 A. Dworkin, Intercourse (New York: Free Press, 1987), 128. 39 E. Bruck, Über römisches Recht im Rahmen der Kulturgeschichte (Berlin: Springer, 1954), 71. 40 Eine beispielhafte Beschreibung des Mausoleums des Vincentius, eines ehemaligen Stadtpräfekten (Praefectus urbi), findet sich in: A. Bertolino, »›In area Callisti‹: contributo alla topografia di Roma tardoantica«, Rivista di archeologia cristiana 70 (1994), 181–190. 41 ICVR, N.F. 5, Nr. 13273, 69. 42 P. Brown, The Cult of the Saints: Its Rise and Function in Latin Christianity (Chicago: Chicago University Press, 1981, Ndr. mit Einl., 2014), 62–63; J. G. Deckers, »Von Denker zum Diener: Bemerkungen zu den Folgen der konstantinischen Wende im Spiegel der Sarkophagplastik«, in: Innovation in der Spätantike, hg. v. B. Brenk (Wiesbaden: Reichert, 1996), 137–172. 43 ILCV, Nr. 3433,5. 44 ILCV, Nr. 3446,4. Zu Proiecta siehe Brown, Der Schatz im Himmel, 316–319 und 382. Die gesamte Entwicklung erhält eine gute Analyse in P. Courcelle, »Quelques symbols funéraires du néoplatonisme latin«, Revue des etudes anciennes 46 (1944), 65–93, und J. Fontaine, »Les images virgiliennes de l’ascension céleste dans la poésie latine chrétienne«, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für A. Stuiber, Jahrbuch für Antike und Christentum: Ergänzungsband 9 (Münster: Aschendorff, 1982), 55–67. 45 M. Handley, Death, Society and Culture: Inscriptions and Epitaphs in Gaul and Spain, AD 300–750, BAR International Series (Oxford: Oxbow, 2003), 35–39, hier 39. 46 P. Brown, »The Diffusion of Manichaeism in the Roman Empire«, Journal of Roman Studies 59 (1969), 92–103, wiederabgedruckt in: Religion and Society in the Age of Saint Augustine (London: Faber, 1972), 94–118. Die beste Darstellung der syrischen Elemente im Manichäismus ist und bleibt F. C. Burkitt, The Religion of the Manichees (Cambridge: Cambridge University Press, 1925), 71–86, 92–99 und 111–119. 47 Coptic Documentary Texts from Kellis, hg. v. I. Gardner, A. Alcock und W. P. Funk (Oxford: Oxbow, 1999), 79; N. J. Baker-Brian, Manichaeism: An Ancient Faith Rediscovered (Edinburgh: T. and T. Clark, 2011), 54. 48 I. Gardner und S. N. C. Lieu, »From Narmouthis (Medinat Madi) to 226
I. Tod und Gedenken im frühen Christentum
Kellis (Ismant al-Kharab)«, Journal of Roman Studies 86 (1996), 146– 169. Ein großer Teil dieses Materials liegt jetzt in englischer Übersetzung vor: I. Gardner und S. N. C. Lieu, Manichaean Texts from the Roman Empire (Cambridge: Cambridge University Press, 2004). 49 S. G. Richter, Die Aufstiegspsalmen des Herakleides. Untersuchungen zum Seelenaufstieg und zur Seelenmesse bei den Manichäern (Wiesbaden: O. Harrassowitz, 1997), 61–67. 50 W. P. Funk, »The Reconstruction of the Manichaean Kephalaia«, in: Emerging from Darkness, hg. v. P. Mirecki und J. Be Duhn (Leiden: Brill, 1997), 143–159; und T. Pettipiece, Pentadic Redaction of the Manichaean Kephalaia (Leiden: Brill, 2009). 51 P. Brown, »Alms and the Afterlife: A Manichaean View of an Early Christian Practice«, in: East and West: Essays in Ancient History Presented to Glen W. Bowersock, hg. v. T. Corey Brennan und Harriet I. Flower (Cambridge, MA: Department of Classics, Harvard University, 2008), 145–158. 52 Kephalaion 115, hg. v. A. Böhlig, Kephalaia: Teil I. Zweite Hälfte: Lieferung 11/12 (Stuttgart: Kohlhammer, 1966), 270,26–30; übers. v. I. Gardner, The Kephalaia of the Master (Leiden: Brill, 1995), 276. 53 Kephalaion 115, hg. v. Böhlig, 271,10–12; übers. v. Gardner, 277. 54 Kephalaion 144, hg. v. W.-P. Funk, Kephalaia: Teil I. Zweite Hälfte. Lieferung 13/14 (Stuttgart: Kohlhammer, 1999), 347,5. 55 Kephalaion 115, hg. v. Böhlig, 277,21; übers. v. Gardner, 282. 56 Kephalaion 115, hg. v. Böhlig, 280,12; übers. v. Gardner, 283–284. 57 Kephalaion 87, Über Almosen, hg. v. H. Ibscher, Kephalaia: Teil I. Zweite Hälfte. Lieferung 1–10 (Stuttgart: Kohlhammer, 1940), 217,16–20; übers. v. Gardner, 225. 58 The Kellis Agricultural Account Book, hg. v. R. S. Bagnall (Oxford: Oxbow, 1997), 82–84. 59 P. Kell. Copt. 21,51–56, in: Coptic Documentary Texts from Kellis, 188–189. 60 Laurentius, 8, Prosopographie chrétienne du Bas Empire 2: Italie, hg. v. C. Pietri und L. Pietri (Rom: École française de Rome, 2000), 2,1236. Sein Bruder Dulcitius war in Nordafrika aktiv und löcherte Augustinus ebenfalls mit Fragen: Dulcitius, 2, Prosopographie chrétienne du Bas-Empire 1: Afrique, hg. v. A. Mandouze (Paris: CNRS, 1982), 330–333. 61 Augustinus, Predigt 172,2.2; Kephalaion 144, hg. v. Funk, 346. 22–26. 62 Kephalaion 92, hg. v. Ibscher, 235,2–11; übers. v. Gardner, 241–242. 63 Enchiridion (Handbüchlein) 29,110, übers. v. J. Barbel (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960), 183. 227
Anmerkungen
64 P. A. Février, »La mort chrétienne«, in: Segni e riti nella chiesa alto medioevale, Settiimane di Studi 33 (Spoleto: Centro di Studi sull’Alto Medioevo, 1987), 881–942, hier 932.
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins 1 [Neuer] Brief 23A.4, Lettres 1*–29*, Bibliothèque augustinienne: Œuvres de Saint Augustin 46B (Paris: Études Augustiniennes, 1987), 378 mit Kommentar auf den Seiten 532–547. Das Zitat aus dem Brief an Possidius im Absatz zuvor folgt der Übersetzung von W. Kumpmann in P. Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie, erweiterte Neuausgabe, übers. v. J. Bernard und W. Kumpmann (München: dtv, 2000), 401. Zitate aus den Werken Augustins werden im Folgenden mit den gebräuchlichen Titeln der einzelnen Schriften, aber ohne Nennung des Verfassers nachgewiesen. Nur in Einzelfällen werde ich auf eine bestimmte Textausgabe verweisen. 2 B. Shaw, »The Cultural Meaning of Death: Age and Gender in the Roman Family«, in: The Family in Italy from Antiquity to the Present, hg. v. D. Kertzer and R. P. Saller (New Haven, CT: Yale University Press, 1991), 66–90, hier 67. 3 J. Dresken-Weiland, Sarkophagbestattungen des 4.–6. Jahrhunderts im Westen des römischen Reiches, Römische Quartalschrift, Supplementband 55 (Rom: Herder, 2003), 14. 4 U. Volp, Tod und Ritual in den christlichen Gemeinden der Antike, Supplements to Vigiliae Christianae (Leiden: Brill, 2002), 112. 5 S. T. Stevens, »Commemorating the Dead in the Communal Cemeteries of Carthage«, in: Commemorating the Dead: Texts and Artifacts in Context. Studies in Roman, Jewish and Christian Burials, hg. v. L. Brink und D. Green (Berlin: De Gruyter, 2008), 70–103, hier 86 und 94. 6 Siehe insbesondere L. Dossey, Peasant and Empire in Christian North Africa (Berkeley: University of California Press, 2010), 149–162. 7 Augustine, De civitate Dei 21,27,187, hg. v. B. Dombart und A. Kolb, Corpus Christianorum 48 (Turnhout: Brepols, 1955), 804; Vom Gottesstaat, 2 Bde., übers. v. W. Thimme, eingel. und erl. v. C. Andresen (Zürich: Artemis, 21978), II, 744. 8 So der letzte Satz des Romans von G. Eliot, Middlemarch, zitiert in: G. Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568 (Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 518. 228
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
9 Zu Uzalis siehe T. Ghalia, »Le site d’Uzalis: Recherches récentes en archéologie et en épigraphie«, in: Les miracles de saint Étienne, hg. v. J. Meyers, Hagiologia 5 (Turnhout: Brepols, 2006), 81–87. 10 Briefe 158,1–2, hg. v. A. Goldbacher, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum (Wien: Tempsky, 1904), 488–490. 11 Briefe 158,3, hg. v. Goldbacher, 490. 12 M. Dulaey, Le rêve dans la vie et la pensée de saint Augustin (Paris: Études augustiniennes, 1973), 217–223. 13 Briefe 158,10, hg. v. Goldbacher, 495–496. 14 Passio Perpetuae 11,8, hg. v. H. Musurillo, The Acts of the Christian Martyrs (Oxford: Clarendon Press, 1972), 120. 15 Passio Perpetuae 12,6, 120. Zu diesen und anderen Spieltischen siehe H. Dessau, Inscriptiones Latinae Selectae 8626a (Berlin: Weidmann, 1892), 2,964, und H.-G. Horn, »›Si per me misit, nil nisi vota feret.‹ Ein römischer Spielturm aus Froitzheim«, Bonner Jahrbücher 189 (1989), 139–160, hier 158. 16 T. Mathews, The Clash of Gods: A Reinterpretation of Early Christian Art (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1993; 2., überarb. und erw. Aufl., 1999). Meine Rezension findet sich in: P. Brown, Art Bulletin 77 (1995), 499–502. In der Rückschau würde ich mittlerweile sagen, dass Mathews zu viel Wert auf den Nachweis gelegt hat, dass das Christusbild sich nicht am Kaiserbild orientierte. Eine wichtige Rolle könnte dabei die Ambiguität des Bildes gespielt haben: Vielleicht stellte es den Kaiser dar, vielleicht aber auch eine andere geliebte und mächtige Person. Das Zusammenspiel verschiedener visueller Assoziationen gab dem Bild seine besondere Kraft. Auch die bildliche Darstellung Epikurs hatte sich einer ähnlichen Ambiguität bedient, siehe B. Frischer, The Sculpted Word: Epicureanism and Philosophical Recruitment in Ancient Greece (Berkeley: University of California Press, 1982). 17 Siehe J. Matthews, The Roman Empire of Ammianus Marcellinus (London: Duckworth, 1989): Das Ritual, in dem man den Saum des kaiserlichen Purpurgewandes (durch Küssen) »verehrte«, stelle einen Akt der »Abgrenzug [dar], in dem vor aller Augen jene Gefolgsleute des Kaisers ausgezeichnet wurden, die Anspruch auf einen Platz in seiner unmittelbaren Gegenwart erheben durften« (246). Siehe auch W. T. Avery, »The Adoratio Purpurae and the Importance of Imperial Purple in the Fourth Century of the Christian Era«, Memoirs of the American Academy in Rome 17 (1940), 66–80. 18 E. Diehl, Inscriptiones Latinae Christianae Veteres [im Folgenden ILCV] (Dublin: Weidmann, 1970), Nr. 63b, 28–29. 229
Anmerkungen
19 Vergil, Aeneis 4,79, hg. v. R. Mynors, P. Vergili Maronis opera (Oxford: Clarendon Press, 1969), 178. Dort heißt es »[...] pendetque iterum narrantis ab ore« – »[...] und hängt aufs neue am Mund des Erzählers« (Aeneis, Lateinisch-Deutsch, in Zusammenarbeit mit M. Götte hg. und übers. v. J. Götte, Nachw. v. B. Kytzler [Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 71988], 139). 20 Briefe 158,7, hg. v. Goldbacher, 493. Vgl. Acts of the Council of Chalcedon, Sitzung 3.64, hg. v. J. D. Mansi, Sacrorum Conciliorum Amplissima et Nova Collectio (Florenz, 1761; Ndr. Paris: H. Welter, 1901), 6,1033 B; übers. v. R. M. Prince und M. Gaddis, The Acts of the Council of Chalcedon (Liverpool: Liverpool University Press, 2005), 2,63. Ich glaube, dass der Vorwurf, der Patriarch Dioskoros von Alexandria habe die Annahme kaiserlicher laurata (die griechische Übersetzung des lateinischen laureata) in Alexandria verhindert, sich nicht auf tatsächliche (Stand-)Bilder des Kaisers bezog, sondern auf Dokumente, denen Lorbeerkränze beigegeben waren, wie man es bei Abbildern des Kaisers getan hätte. 21 Briefe 158,9, hg. v. Goldbacher, 494–495. 22 Briefe 158,4, hg. v. Goldbacher, 491. Siehe vor allem V. Zangara, Exeuntes de corpore. Discussioni sulle apparizioni dei morti in epoca agostiniana (Florenz: Olschki, 1990). 23 Briefe 158,7, hg. v. Goldbacher, 493. 24 De Genesi ad litteram 12,18,39, hg. v. J. Zycha, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 28 (Wien: Tempsky, 1904), 406. 25 Briefe 159,5, hg. v. Goldbacher, 502. 26 Briefe 159,2, hg. v. Goldbacher, 499. Dies war bei Augustinus schon im Jahr 390 der Fall, vgl. Briefe 7,2. 27 Briefe 158,5, 6, und 11, hg. v. Goldbacher, 491–492 und 496. 28 Dulaey, Le rêve, 77. 29 W. Baltes, »Platonisches Gedankengut im Brief des Evodius an Augustin (Ep. 158)«, Vigiliae Christianae 40 (1986), 251–260. 30 G. Smith, »Physics and Metaphysics«, in: The Oxford Handbook to Late Antiquity, hg. v. Scott Johnson (Oxford: Oxford University Press, 2012), 513– 561, hier 539. 31 Briefe 159,1, hg. v. Goldbacher, 498. 32 De anima 47,2. In der Übersetzung von J.H. Waszink: »[Es] lernt fast der größte Teil der Menschen Gott durch Traumgesichte kennen!« (Tertullian, Über die Seele, eingel., übers. und erläutert von J. H. Waszink. Werke des Q. Septimius Florens Tertullianus 1 [Zürich: Artemis, 1980], 158.) 230
II. Visionen, Gräber und Gedächtnis im Afrika Augustins
33 W. H. C. Frend, The Donatist Church (Oxford: Clarendon Press, 1952), 79, Anm. 7 und 105, Anm. 4. Siehe grundsätzlich J. Amat, Songes et visions: L’au-delà dans la littérature latine tardive (Paris: Études Augustiniennes, 1985), 25–158. 34 B. Shaw, Sacred Violence: African Christianity and Sectarian Hatred in the Age of Augustine (Cambridge: Cambridge University Press, 2011); und P. Brown, Der Schatz im Himmel, 485–496. 35 Siehe insbesondere B. Kriegbaum, Kirche der Traditoren oder Kirche der Märtyrer? Die Vorgeschichte des Donatismus (Innsbruck: Tyrolia, 1986). 36 Epistola ad catholicos de unitate ecclesiae 19,49, hg. v. M. Petschenig, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 52 (Wien: Tempsky, 1908), 296. 37 Fünfte Synode von Karthago (401), canon. 83, hg. v. C. Munier, Corpus Christianorum 149 (Turnhout: Brepols, 1974), 204–205. 38 Shaw, Sacred Violence, 721–770; zu donatistischen Träumen siehe Dulaey, Le rêve, 41. 39 De cura pro mortuis gerenda 12,14, hg. v. J. Zycha, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 41 (Wien: Tempsky, 1900), 643; siehe auch Dulaey, Le rêve, 205–210. 40 A. Besançon, The Forbidden Image: An Intellectual History of Iconoclasm, übers. v. J. M. Todd (Chicago: University of Chicago Press, 2000), 18. 41 Cynegius, Prosopographie chrétienne du Bas-Empire 2: Italie, hg. v. C. Pietri und L. Pietri (Rom: École française de Rome, 1999), 512; und Y. Duval, »Flora était-elle africaine?«, Revue des études augustiniennes 34 (1988), 70–77. 42 ILCV, Nr. 3482,7. 43 Brown, Der Schatz im Himmel, 343–365. 44 P. Brown, The Cult of the Saints: Its Rise and Function in Latin Christianity (Chicago: Chicago University Press, 1981), 34–38. Siehe auch P. Brown, Der Schatz im Himmel, 420–423, zu Vigilantius’ Kritik am Heiligenkult, die womöglich durch das prunkvolle Bauprogramm des Paulinus provoziert wurde. 45 P. Rose, Augustine and the Relations between the Living and the Dead: Discourse-Linguistic Commentary on the de cura pro mortuis gerenda (Amsterdam: Vrije Universiteit, 2011), 154–259 und 283–297. 46 De cura pro mortuis gerenda 4,6 und 18,22. 47 Y. Duval und J.-Ch. Picard (Hg.), L’inhumation privilegiée du ive au viiie siècle en Occident (Paris: de Boccard, 1986). 231
Anmerkungen
48 Maximus von Turin, Predigten 12,2, hg. v. A. Mutzenbecher, Corpus Christianorum 23 (Turnhout: Brepols, 1962), 42. 49 Y. Duval, Auprès des saints corps et âme: L’inhumation »ad sanctos« dans la chrétienté d’Orient et d’Occident du iiie au viie siècle (Paris: Études Augustiniennes, 1988). 50 H. Kotila, Memoria mortuorum: Commemoration of the Dead in Augustine, Studia Ephermeridis Augustinianum 38 (Rom: Institutum Patristicum Augustinianum, 1992). Siehe auch M. A. Handley, Death, Society and Culture: Inscriptions and Epitaphs in Gaul and Spain, AD 300–750, British Archaeological Reports, International Series 1135 (Oxford: Oxbow, 2003), 17: »Bestimmte Formeln treten in Afrika häufiger auf als andernorts. Insbesondere fidelis [getauft] in pace und memoria begegnen immer wieder.« 51 A. M. Yasin, Saints and Churches: Spaces in the Late Antique Mediterranean: Architecture, Cult and Community (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), 71–91 und 221. 52 Confessiones 9,13,35–37, hg. v. P. Knöll, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 33 (Wien: Tempsky, 1906), 224–226; eingel., übers. und erl. v. J. Bernhart (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 41980), 479–483. Diese Übersetzung liegt auch einer kürzlich erfolgten Neuauflage (hg. v. J. Ulrich, Frankfurt: Verlag der Weltreligionen 2007) zugrunde. 53 Confessiones 9,13,37, hg. v. Knöll, 225; übers. v. Bernhart, 483; siehe auch J. J. O’Donnell, Augustine: Confessions. Commentary (Oxford: Clarendon Press, 1992), 3:148. 54 Confessiones 9,11,28 und 9,13,36, hg. v. Knöll, 219 und 224–225; übers. v. Bernhart, 469–471. 55 Confessiones 9,13,34, hg. v. Knöll, 223; übers. v. Bernhart, 479. 56 Confessiones 9,13,36, hg. v. Knöll, 224–225.; übers. v. Bernhart, 481. 57 Confessiones 7,21,27, hg. v. Knöll, 225; übers. v. Bernhart, 355–357, ist die einzige andere Stelle. Und dort spricht Augustinus bezeichnenderweise von den hinterlistigen Versuchen der heidnischen Platoniker, in den Himmel zu gelangen. 58 Brown, Der Schatz im Himmel, 531–533.
232
III. Almosen, Sühne und das Jenseits: Augustinus und Pelagius, 410–430 n. Chr
III. Almosen, Sühne und das Jenseits: Augustinus und Pelagius, 410–430 n. Chr 1 P. Brown, Der Schatz im Himmel. Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs, übers. v. M. Bayer und K. Schuler (Stuttgart: Klett-Cotta, 2017; orig. 2012), 116–124. 2 P. Veyne, Le pain et le cirque (Paris: Le Seuil, 1976), 44–183, übers. v. K. Laermann und H. R. Brittnacher, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990), 17–161; E. Patlagean, Pauvreté économique et pauvreté sociale à Byzance: 4e–7e siècles (Paris: Mouton, 1977), 17–35, 181–196 und 423–432. Siehe auch P. Brown, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire, The Menahem Stern Jerusalem Lectures (Hanover, NH: University Press of New England, 2002), 6–16 mit einem Überblick zu dieser Frage. 3 Siehe insbesondere R. Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire: Christian Promotion and Practice, 313–450 (Oxford: Oxford University Press, 2006). 4 Brown, Poverty and Leadership, 29–44. 5 Brown, Poverty and Leadership, 74–80. 6 I. Schiller, D. Weber und C. Weidmann, »Sechs neue Augustinuspredigten: Teil 2 mit Edition dreier Sermones zum Thema Almosen«, Wiener Studien 122 (2009), 171–213. 7 Brown, Der Schatz im Himmel, 121–124. 8 Erfurter Predigt 4,6, hg. v. I. Schiller, D. Weber und C. Weidmann, »Sechs neue Augustinuspredigten: Teil 2 mit Edition dreier Sermones zum Thema Almosen«, Wiener Studien 122 (2009), 211. 9 Brown, Der Schatz im Himmel, 513–527. Siehe auch R. Lim, »Augustine and Roman Public Spectacles«, in: A Companion to Augustine, hg. v. M. Vessey (Oxford: Wiley-Blackwell, 2012), 138–151. 10 Enarrationes in psalmos 149,10, hg. v. E. Dekkers und J. Fraipont, Corpus Christianorum 40 (Turnhout: Brepols, 1956), 1462–1463. 11 J. Maxwell, Christianization and Communication in Late Antiquity: John Chrysostom and His Congregation at Antioch (Cambridge: Cambridge University Press, 2008), 125 und 147. 12 Predigt 9,21, hg. v. C. Lambot, Corpus Christianorum 41 (Turnhout: Brepols, 1961), 148–151. 13 Siehe auch C. Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and 233
Anmerkungen
the Mediterranean, 400–800 (Oxford University Press, 2005), 708– 712. In der Studie von G. Génelle, La vie économique et sociale dans l’Afrique romaine tardive d’après les sermons de saint Augustin (Lille: Atelier National de Réproduction des Thèses, 2005) wird das Ausmaß deutlich, zu dem Augustinus sich in seinen Predigten auf kommerzielle bzw. Geldmetaphorik stützte. 14 Predigt 86,10,11 und 177,10; Patrologia Latina 38, 582 und 959. 15 R. Sorabji, Emotion and Peace of Mind: From Stoic Agitation to Christian Temptation (Oxford: Oxford University Press, 2000), 165. 16 Predigt 60,6,7; Patrologia Latina 38, 405–406. 17 Predigt 86,9,11; Patrologia Latina 38, 582. 18 J. P. Oleson, Greek and Roman Mechanical Water-Lifting Devices: The History of a Technology, Phoenix Supplementary Volume 16 (Toronto: University of Toronto Press, 1984). 19 Enarrationes in psalmos 38,12, hg. v. E. Dekkers and J. Fraipont, Corpus Christianorum 38 (Turnhout: Brepols, 1956), 413–415. 20 Erfurter Predigten 2,1 und 3,2, hg. v. Schiller, Weber und Weidmann, 10 und 17; Enarrationes in psalmos 121,11. 21 Brown, Der Schatz im Himmel, 52–53, über die Spiele, die Symmachus in Rom ausrichten ließ. Im Jahr 445 ließ Bischof Rusticus von Narbonne die dortige Kathedrale erneuern; die eingesetzten Spenden beliefen sich auf rund 2500 solidi: H. I. Marrou, »Le dossier épigraphique de l’évêque Rusticus de Narbonne«, Rivista di archeologia cristiana 3–4 (1970), 331–347. 22 Brown, Der Schatz im Himmel, 430–431. 23 Gerontius, Leben der heiligen Melania 16, griech. Orig. hg. v. D. Gorce, Vie de Sainte Mélanie, Sources chrétiennes 90 (Paris: Le Cerf, 1962), übers. v. E. A. Clark, Life of Melania the Younger (New York: Edwin Mellen, 1984), 39. Eine ältere deutsche Übersetzung liegt vor in der Ausgabe Das Leben der Heiligen Melania, übers. v. St. Krottenthaler (Kempten: Kösel 1912). 24 Mt 19,24. 25 Gerontius, Leben der heiligen Melania 21, Gorce, 172, übers. v. Clark, 44; übers. v. Krottenthaler, 18. 26 Gerontius, Leben der heiligen Melania 20, Gorce, 170, übers. v. Clark, 43; übers. v. Krottenthaler, 18. 27 Brown, Der Schatz im Himmel, 459–476. 28 Pseudo-Pelagius, De divitiis 12,2, hg. v. A. Kessler, in: Reichtumskritik und Pelagianismus: Die pelagianische Diatribe de divitiis, Paradosis 43 (Freiburg im Uechtland: Universitätsverlag, 1999), 292. 234
III. Almosen, Sühne und das Jenseits: Augustinus und Pelagius, 410–430 n. Chr
29 Augustinus, Briefe 156 und 159,4,23, hg. v. Goldbacher, 448 und 472– 473; siehe auch Briefe 157,4,23. 30 Dan 4,27. 31 Mekilta Israel, übers. v. J. Lauterbach, Mekilta de-Rabbi Ishmael (Philadelphia: Jewish Publication Society, 1935), 3, 86–87. 32 G. Anderson, Sin: A History (New Haven, CT: Yale University Press, 2009), 9 und 135; siehe auch G. Anderson, Charity: The Place of the Poor in the Biblical Tradition (New Haven, CT: Yale University Press, 2013), 114–116. 33 Jesus Sirach [Ecclesiasticus] 3,33: »Wie das Wasser ein brennendes Feuer löscht, so tilgt das Almosen die Sünden.« 34 Spr 19,17. Siehe auch Anderson, Sin, 12; und M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, übers. v. E. Moldenhauer (Frankfurt: Suhrkamp, 2009; orig. 2002), 144. Genau dieses Zusammenspiel von Handelsinteressen im Allgemeinen und Zinsen im Besonderen führte zu dem »Entstehen von unglaublicher Maßlosigkeit«, das Aristoteles am Zinsennehmen so verwerflich fand. 35 Anderson, Sin, 106. 36 Anderson, Sin, 108. Dieses Buch wuchs mit der Zeit an. In einer Vision aus dem 7. Jahrhundert heißt es, Satan habe »ein Buch von schrecklichem Aussehen und außerordentlicher Größe und fast untragbarem Gewicht« bei sich getragen, in dem die Taten und Gedanken einer jeden Person verzeichnet gewesen seien: Beda der Ehrwürdige [Beda Venerabilis], Kirchengeschichte des englischen Volkes [Historia ecclesiastica gentis anglorum], 5,13, übers. v. G. Spitzbart auf Grundlage der Textedition von B. Colgrave und R. A. B. Mynors (Oxford, 1969) (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21997), 475. 37 Anderson, Sin, 131; Charity, 29. 38 É. Rebillard, In hora mortis: Évolution de la pastorale de la mort aux ive et ve siècles dans l’Occident latin, Bibliothèque de l’École française d’Athènes et de Rome 282 (Rom: Palais Farnèse, 1994), 148–167. 39 Enarrationes in psalmos 103; Predigt 3,18, hg. v. Dekkers and Fraipont, Corpus Christianorum 40, 1515–1516. 40 Mt 6,12. 41 Dies hat A.-M. La Bonnardière überzeugend nachgewiesen: »Les commentaires simultanés de Mat. 6,12 et 1 Jo. 1,18 dans l’œuvre de saint Augustin«, Revue des études augustiniennes 1 (1955), 129–147. 42 Enarrationes in psalmos 140,18, hg. v. Dekkers und Fraipont, Corpus Christianorum 40, 2038–2039. 235
Anmerkungen
43 Predigt 58,9,10, Patrologia Latina 38, 398; und Enarrationes in psalmos 43,8. 44 Predigt 56,7,11, Patrologia Latina 38, 381–382. 45 Predigt 9,11,17, hg. v. Lambot, 141–142. 46 Enarrationes in psalmos 52,9, hg. v. Dekkers und Fraipont, Corpus Christianorum 38, 644; Tractatus in Johannem 50,6, hg. v. R. Willems, Corpus Christianorum 36 (Turnhout: Brepols, 1954), 435. 47 De perfectione iustitiae 20,43, hg. v. C. Urba und J. Zycha, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 42 (Wien: Tempsky, 1902), 46. 48 Predigt 9,11,17, hg. v. Lambot, 141–142. Siehe auch (unter zahlreichen vergleichbaren Stellen) De fide et operibus 16,27, hg. v. J. Zycha, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 41 (Wien: Tempsky, 1900), 69–72 (eine Passage, die Augustinus später in seiner Antwort auf eine von Dulcitius’ Fragen zitierte: Quaestiones ad Dulcitium 1,6, hg. v. A. Mutzenbecher, Corpus Christianorum 44A [Turnhout: Brepols, 1975], 260–263), sowie den locus classicus in De civitate Dei 21,26,40–66, hg. v. B. Dombart and A. Kalb, Corpus Christianorum 48 (Turnhout: Brepols, 1955), 797; Vom Gottesstaat, 2 Bde., übers. v. W. Thimme, eingel. und erl. v. C. Andresen (Zürich: Artemis, 21978), II, 732–734. 49 Possidius, Vita Augustini 24,4, Zweisprachige Ausgabe, eingel., komm., [übers. und] hg. v. W. Geerlings (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2005), 73. 50 E. Diehl, Inscriptiones Latinae Christianae Veteres (Dublin: Weidmann 1970), Nr. 1915. 51 Hieronymus, Dialogus contra Pelagianos 1,28: Patrologia Latina 23, 520C–522C. 52 Hieronymus, In Isaiam 18,66,24: Patrologia Latina 24, 676B–678B. 53 B. Daley,The Hope of the Early Church: A Handbook of Patristic Eschatology (Cambridge: Cambridge University Press, 1991), 104. 54 Contra duas epistulas Pelagianorum 3,5,14. Man sollte hinzufügen, dass zwar Pelagius’ eigene Ansichten über Sünder innerhalb der Kirche wesentlich nuancierter waren – dies auf seine Anhänger jedoch nicht zutraf. Siehe auch A. Thier, Kirche bei Pelagius, Patristische Texte und Studien 50 (Berlin: De Gruyter, 1999). 55 Augustinus, Neuer Brief 4*.3, Bibliothèque augustinienne 46B, 112. Ein ausführlicher Kommentar zum Hintergrund dieses Briefes findet sich a. a. O., 430–442. 56 Augustinus, Neuer Brief 4*.4, 114. 57 C. Carozzi, Le voyage de l’âme dans l’au-delà dans la littérature latine 236
III. Almosen, Sühne und das Jenseits: Augustinus und Pelagius, 410–430 n. Chr
(ve–xiiie siècle), Collection de l’École française de Rome 189 (Rom: Palais Farnèse, 1994), 23. 58 De civitate Dei 21,26,105–113; Vom Gottesstaat, 2 Bde., übers. v. W. Thimme, eingel. und erl. v. C. Andresen (Zürich: Artemis, 21978), II, 735. 59 De civitate Dei 10,30,29–55, 307–308; und 12,21,56–112, 378–379, daneben Predigten 240,4, und 241,4,4–7,7. 60 A. Smith, Porphyry’s Place in the Neoplatonic Tradition: A Study of Post-Plotinian Neoplatonism (Den Haag: M. Nijhoff, 1974), 67. 61 Vergil, Aeneis 6,721, hg. v. R. Mynors, P. Vergili Maronis opera (Oxford: Clarendon Press, 1969), 249. Siehe insbesondere A. Settaioli, La vicenda dell’anima nel commento di Servio su Virgilio (Frankfurt am Main: Peter Lang, 1995). 62 Von einer ähnlichen »Präsenz« des Manichäismus als eines Korpus von Vorstellungen und Fragen, mit denen Augustinus sich ständig auseinandersetzen musste, spricht auch J. Be Duhn, Augustine’s Manichaean Dilemma 2: Making a »Catholic« Self (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2013). 63 Dazu jetzt I. Moreira, Heaven’s Purge: Purgatory in Late Antiquity (Oxford: Oxford University Press, 2010). 64 Enarrationes in psalmos 80,20. 65 P. Brown, »The Decline of the Empire of God: Amnesty, Penance and the Afterlife from Late Antiquity to the Middle Ages«, in: Last Things: Death and the Apocalypse in the Middle Ages, hg. v. C. W. Bynum und P. Freedman (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2000), 41–59, hier 47–50. 66 Prudentius, Cathemerinon 5,133–135, hg. v. and übers. v. H. J. Thomson, Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1869), 1:46. Eine aktuelle deutsche Übersetzung liegt vor in der Ausgabe Prudentius. Das Gesamtwerk, eingel., übers. und komm. von W. Fels. Bibliothek der Mittellateinischen Literatur 9 (Stuttgart: Anton Hiersemann, 2011). 67 Visio Pauli 44,2–4, hg. v. C. Carozzi, Eschatologie et au-delà. Recherches sur l’Apocalypse de Paul (Aix-en-Provence: Publications de l’Université de Provence, 1994), 250–252. Eine ältere Ausgabe ist die von Herman Brandes: Visio S. Pauli. Ein Beitrag zur Visionslitteratur mit einem deutschen und zwei lateinischen Texten, hg. v. H. Brandes (Halle: Max Niemeyer, 1885). 68 Brown, Poverty and Leadership, 81–91. 69 De civitate Dei 21,24,78–101, 790–791. 70 Daley, Hope of the Early Church, 132. 237
Anmerkungen
71 Enchiridion (Handbüchlein) 29,112, übers. v. J. Barbel (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960), 189. 72 Possidius, Vita Augustini 31,1–2, Zweisprachige Ausgabe, eingel., komm., [übers. und] hg. v. W. Geerlings (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2005), S. 103.
IV. Buße und Jenseits in Gallien 1 Buße und Jenseits in GallienSalvian, De gubernatione Dei 8,12,72, hg. v. G. Lagarrigue, Salvien de Marseille: Oeuvres 2, Sources chrétiennes 220 (Paris: Le Cerf, 1975), 408; Erhaltene Schriften, übers. v. Mayer, 260–261. Die Werke Salvians liegen gesammelt und ins Deutsche übersetzt vor in dem Band Des Presbyters Salvianus von Massilia erhaltene Schriften, übers. und eingel. v. A. Mayer (München: Kösel und Pustet, 1935); De gubernatione Dei darüber hinaus in der Ausgabe Des Salvianus, Priesters von Marseille, acht Bücher über die göttliche Regierung, übers. v. A. Helf (Kempten: Kösel, 1877); Ad ecclesiam wird im Folgenden nach der Bearbeitung der Übersetzung von A. Mayer durch N. Brox zitiert (Des Timotheus vier Bücher an die Kirche [München: Kösel, 1983]). 2 P. Brown, Der Schatz im Himmel. Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs, übers. v. M. Bayer und K. Schuler (Stuttgart: Klett-Cotta, 2017; orig. 2012), 558–594. 3 Buße und Jenseits in Gallien, Salvian, De gubernatione Dei 6,15, 416; Erhaltene Schriften, übers. v. Mayer, 204–207. 4 Salvian, Brief 1,5–6, hg. v. G. Lagarrigue, Salvien de Marseille: Œuvres 1, Sources chrétiennes 176 (Paris: Le Cerf, 1971), 78; Erhaltene Schriften, übers. v. Mayer, 381–382. 5 Gennadius von Marseille, De viris illustribus 68, hg. v. E. Richardson (Leipzig: Hinrichs, 1896), 84–85. Zu Salvian im Allgemeinen siehe insbesondere D. Lambert, »The Uses of Decay: History in Salvian’s De gubernatione Dei«, Augustinian Studies 30 (1999), 115–130; R. Alciati, Monaci, vescovi e scuola nella Gallia tardoantica (Rom: Edizioni di Storia e Letteratura, 2009), 83–101; Brown, Der Schatz im Himmel, 640–658; und P. Brown, »Salvian of Marseilles: eology and Social Criticism in the Last Century of the Western Empire«, (Dacre Lecture, Oxford University, 2010). Siehe auch D. Lambert, »Salvian and the Bacaudae«, Gallien in Spätantike und Frühmittelalter: Kulturgeschichte einer Region, hg. v. S. Diefenbach und G. M. Müller, Millennium-Studien 43 (Berlin: De Gruyter, 2012), 255–278. 238
IV. Buße und Jenseits in Gallien
6 Salvian, De gubernatione Dei 7,3,14, hg. v. Lagarrigue, 438; Erhaltene Schriften, übers. v. Mayer, 218. 7 Salvian, De gubernatione Dei 7,2,8, hg. v. Lagarrigue, 434–436; Erhaltene Schriften, übers. v. Mayer, 215–217. 8 Didache 1, hg. v. J. B. Lightfoot, The Apostolic Fathers (Grand Rapids, MI: Baker, 1956), 123, zitiert bei Augustinus, Enarrationes in psalmos 102,12, hg. v. E. Dekkers und J. Fraipont, Corpus Christianorum 40 (Turnhout: Brepols 1956), 1462. 9 Salvian, Ad Ecclesiam 3,13,57–58, hg. v. Lagarrigue, Salvien de Marseille: Oeuvres 1, Sources chrétiennes 176 (Paris: Le Cerf, 1971), 282– 284; Vier Bücher an die Kirche, übers. v. Mayer und Brox, 91–92. 10 Salvian, Ad Ecclesiam 3,3,15, hg. v. Lagarrigue, 250; Vier Bücher an die Kirche, übers. v. Mayer und Brox, 72–73. 11 Salvian, Ad Ecclesiam 3,18,81, hg. v. Lagarrigue, 298; Vier Bücher an die Kirche, übers. v. Mayer und Brox, 101. 12 I. Moreira, Dreams, Visions and Spiritual Authority in Merovingian Gaul (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2002), 40. Zu Lérins im Allgemeinen siehe S. Pricoco, L’isola dei santi: Il cenobio di Lérins e le origini del monachesimo gallico (Rom: Edizioni dell’Ateneo e Bizzarri, 1978); und A. de Vogüé, Histoire littéraire du mouvement monastique (Paris: Le Cerf, 2003), 7, 58–180. 13 Vgl. etwa Athanasius, Vita Antonii 66 (eine zweisprachige Ausgabe dieses Textes liegt jetzt vor in Vita Antonii – Leben des Antonius. Lateinisch–Deutsch, übers. und bearb. v. P. Gemeinhardt. Fontes Christiani, 5. Reihe [Freiburg: Herder, 2018]); Palladius von Helenopolis, Historia Lausiaca 21,16–17, auf Deutsch als: Geschichten aus dem frühen Mönchtum. Griechisch–Deutsch, übers. und komm. v. A. Hübner. Fontes Christiani, 4. Reihe (Freiburg: Herder, 2016), 178–181; Bohairic Life of Pachomius 88, übers. v. A. Veilleux Pachomian Kononia 1, Cistercian Studies 45 (Kalamazoo, MI: Cistercian Studies, 1980), 113–117; deutsch als: Das Leben des heiligen Pachom und seiner Nachfolger, übers. v. Ch. Joest (Beuron: Beuroner Kunstverlag, 2016). Siehe auch A. Recheis, Engel, Tod und Seelenreise (Rom: Edizioni di storia e letteratura, 1958), 169–184; und Carozzi, Eschatologie et au-delà. Recherches sur l’Apocalypse de Paul (Aix-en-Provence: Publications de l’Université de Provence, 1994), 81–92. 14 Apophthegmata Patrum: Ammonas 1: Patrologia Graeca 65:120A. Selbstverständlich war dies nicht die einzige Einstellung gegenüber dem Jüngsten Gericht, die unter den Wüstenvätern im Umlauf war: Manche sahen ihm auch wesentlich gelassener entgegen. Aber 239
Anmerkungen
selbst jene, die sich stärker auf Gottes Gnade verließen, waren der Überzeugung, dass ein jeder Mönch sich über »den Feuerfluss, den Tartarus und die äußere Finsternis« seine Gedanken machen müsse. Vgl. Apophthegmata Patrum: Sisoes 19:397D–400A. 15 N. Constas, »›To Sleep, Perchance to Dream‹: The Middle State of Souls in Patristic and Byzantine Literature«, in: Byzantine Eschatology: Views of Death and the Last Things, 8th to 15th Centuries, Dumbarton Oaks Papers 55 (2001), 91–124, hier 123. 16 M. Giorda, Il regno di Dio in terra (Rome: Edizioni di storia e letteratura, 2011), 43–67. 17 V. D. Sicard, La liturgie de la mort dans l’église latine des origines à la réforme carolingienne, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 63 (Münster: Aschendorff, 1978), 399. 18 Maximus von Turin, Predigt 12,2, hg. v. A. Mutzenbecher, Corpus Christianorum 23 (Turnhout: Brepols, 1962), 42. 19 Recueil des inscriptions chrétiennes de la Gaule: Première Belgique, hg. v. N. Gauthier (Paris: CNRS, 1975), Nr. 170, 426–430. 20 E. Diehl, Inscriptiones Latinae Christianae Veteres (Dublin: Weidmann, 1970), Nr. 1729,6. 21 Siehe insbesondere S. J. Shoemaker, Ancient Traditions of the Virgin Mary’s Dormition and Assumption (Oxford: Oxford University Press, 2004), 255 und 314–315. Diese Vordatierung des Legendenursprungs könnte den Eindruck revidieren, dass ein »neues Empfinden von Unsicherheit und unguter Vorahnung« im Angesicht des Todes sich erst nach dem Jahr 400 entwickelt habe, wie Brian E. Daley in einem Aufsatz vorgeschlagen hat: »›At the Hour of our Death‹: Mary’s Dormition and Christian Dying in Late Patristic and Early Byzantine Literature«, in: Byzantine Eschatology, 71–89, hier 74. Das entwertet jedoch nicht Daleys Interpretation von Sinn und Zweck des Transitus Mariae überhaupt: Die Legende kursierte, um den Sterbenden die tröstliche Gewissheit zu vermitteln, dass selbst die Jungfrau Maria die Schrecken des Todes hatte bestehen müssen und dass ihr dies gelungen war, wie es – hoffentlich – auch ihnen gelingen würde. 22 Transitus Mariae 2 und 7, hg. v. M. Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae« des Pseudo-Melito (Rom: Bibliotheca Assumptionis Beatae Virginis Mariae, 1962), 67 und 75. 23 C. Vogel, La discipline pénitentielle en Gaule des origines à la fin du septième siècle (Paris: Letouzey et Ané, 1952), 157–158. 24 François Bonal, Le temps chrétien 3, 165 (1655), zitiert in H. Bré240
IV. Buße und Jenseits in Gallien
mond, Histoire du sentiment religieux en France, vol. 1: L’humanisme dévot (Paris: Bloud et Gay, 1916), 404. 25 É. Rebillard, In hora mortis: Évolution de la pastorale de la mort aux ive et ve siècles dans l’Occident latin, Bibliothèque de l’École française d’Athènes et de Rome 282 (Rom: Palais Farnèse, 1994), 169–227; M. B. De Jong, »Transformations of Penance«, in: Rituals of Power: From Late Antiquity to the Early Middle Ages, hg. v. F. Theuws und J. L. Nelson (Leiden: Brill, 2000), 185–224; K. Uhalde, Expectations of Justice in the Age of Augustine (Philadephia: University of Pennsylvania Press, 2007), 105–134; und K. Uhalde »Juridical Administration in the Church and Pastoral Care in Late Antiquity«, in: A New History of Penance, hg. v. Abigail Firey (Leiden: Brill, 2008), 97–120. 26 Vita Eutropii 4, Acta Sanctorum Mai. VI (Paris: Victor Palmé, 1866), 693E. 27 Die Formulierung »Klasse von Außenseitern« verdanke ich P. G. Delage, »Le canon 13 de Sardique ou Les inquiétudes d’évêques d’origine modeste«, in: Les Pères de l’Église et la voix des pauvres, hg. v. P.-G. Delage (La Rochelle: Histoire et Culture, 2006), 55–74, hier 73. Zu den Spannungen, die durch das Auftreten der Mönchsbischöfe von Lérins entstanden, siehe Brown, Der Schatz im Himmel, 597–601 und 609–622. 28 Hilarius, Vita Honorati 17, hg. v. S. Cavallin, Vitae Sanctorum Honorati et Hilarii episcoporum Arelatensium (Lund: Gleerup, 1952), 54. Im deutschsprachigen Raum greifbar ist auch die ältere Ausgabe Die Vita Sancti Honorati, hg. v. B. Munke, mit zwei Untersuchungen von W. Schäfer und A. Krettek, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 32 (Halle: Max Niemeyer, 1911), 77–78. 29 Hilarius, Vita Honorati 17, hg. v. Cavallin, 61; hg. v. Munk, 77–78. 30 Hilarius, Vita Honorati 28, hg. v. Cavallin, 69; hg. v. Munk, 86–87. 31 Julianus Pomerius, De vita contemplativa 2,9, Patrologia Latina 59:454A. 32 Julianus Pomerius, De vita contemplativa 2,9, 453C. 33 Honoratus von Marseille, Vita Hilarii 16 und 18, hg. v. S. Cavallin, Vitae Sanctorum Honorati et Hilarii (Lund: Gleerup, 1952), 94–95 und 96. 34 Siehe insbesondere R. Barcellona, Fausto di Riez interprete del suo tempo: Un vescovo tardoantico dentro le crisi dell’impero (Soveria Mannelli: Rubettino, 2006). 35 Faustus von Riez, De gratia, hg. v. A. Engelbrecht, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 21 (Wien: Tempsky, 1891), 3–98; und Brief 1, 161–168. 241
Anmerkungen
36 Faustus von Riez, Brief 3, hg. v. Engelbrecht, 168–181. 37 Faustus von Riez, Letters 4–5, hg. v. Engelbrecht, 181–195, an Paulinus von Bordeaux; Brief 6, 195–200, an Felix. 38 Sidonius Apollinaris, Carmen 16,117, hg. v. und übers. v. W. B. Anderson, Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1956), 1: 252. 39 C. Leyser, »Semi-Pelagianism«, in: Augustine through the Ages: An Encyclopedia, hg. v. A. D. Fitzgerald (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1999), 761–766, hier 764; Brown, Der Schatz im Himmel, 622–624. 40 Faustus von Riez, De gratia, prolog. 3, hg. v. Engelbrecht, 20. 41 Faustus von Riez, De gratia 1,10, hg. v. Engelbrecht, 35. 42 Gennadius von Marseille, De viris illustribus 86. 43 Faustus von Riez, Brief 6, hg. v. Engelbrecht, 197. 44 Faustus von Riez, Brief 9, hg. v. Engelbrecht, 216. 45 Faustus von Riez, Brief 6, hg. v. Engelbrecht, 196. 46 Faustus von Riez, Brief 5, hg. v. Engelbrecht, 183. Siehe auch D. J. Nodes, »De subitanea paenitentia in Letters of Faustus of Riez and Avitus of Vienne«, Recherches de théologie ancienne et médiévale 55 (1988), 30–40. 47 Faustus von Riez, Brief 3, hg. v. Engelbrecht, 175, unter Zitat von Johannes Cassian, Collationes patrum 7,13; deutsch als Des ehrwürdigen Johannes Cassianus vierundzwanzig Unterredungen mit den Vätern, 2 Bde., übers. v. K. Kohlhund (Kempten: Kösel, 1879), sowie in der Neuausgabe durch G. Ziegler, Unterredungen mit den Vätern, 3 Bde. (Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag, 2011–15). Zum Ausmaß von Faustus’ Cassian-Anleihen siehe insbesondere C. M. Kasper, Theologie und Askese. Die Spiritualität des Inselmönchtums von Lérins im 5. Jahrhundert (Münster: Aschendorff, 1991), 139–145. 48 Faustus von Riez, De spiritu sancto 2, 1, hg. v. Engelbrecht, 132–133, und Cassian, Collationes patrum [Unterredungen mit den Vätern] 7,15. 49 Faustus von Riez, Brief 5, hg. v. Engelbrecht, 195. 50 Siehe insbesondere E. L. Fortin, Christianisme et culture philosophique au cinquième siècle: La querelle de l’âme humaine en Occident (Paris: Études Augustiniennes, 1959); und M. Di Marco, La polemica sull’anima tra [Fausto di Riez] e Claudiano Mamerto, Studia Ephemeridis Augustinianum 51 (Rom: Institutum Pontificium Augustinianum, 1995). 51 Claudianus Mamertus, De statu animae 2,7 und 2,9, hg. v. A. Engelbrecht, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 11 (Wien: Gerold, 1885), 128 und 133. 242
IV. Buße und Jenseits in Gallien
52 Siehe insbesondere G. Smith, »Physics and Metaphysics«, in: The Oxford Handbook of Late Antiquity, hg. v. S. Johnson (Oxford: Oxford University Press, 2012), 513–561, hier 539, zu den durchaus ernst zu nehmenden geistigen Vorbehalten der zeitgenössischen Denker gegenüber dem extremen »Immaterialismus« Plotins und Augustins. 53 Tertullian, De anima 7, hg. v. J. H. Waszink, Corpus Christianorum 2 (Turnhout: Brepols, 1954), 790; vgl. Über die Seele, eingel., übers. und erläutert von J. H. Waszink. Werke des Q. Septimius Florens Tertullianus 1 [Zürich: Artemis, 1980], 61. Siehe auch P. Kitzler, »Nihil enim anima si non corpus. Tertullian und die Körperlichkeit der Seele«, Wiener Studien 122 (2009), 145–169. 54 Faustus von Riez, Brief 3, hg. v. Engelbrecht, 177–178. 55 Siehe insbesondere W. Klingshirn, Caesarius of Arles: The Making of a Christian Community in Late Antique Gaul (Cambridge: Cambridge University Press, 1994); R. A. Markus, The End of Ancient Christianity (Cambridge: Cambridge University Press, 1990), 202–208. 56 R. H. Weaver, Divine Grace and Human Agency: A Study of the SemiPelagian Controversy (Macon, GA: Mercer University Press, 1996); Leyser, »Semi-Pelagianism«, 764–765. 57 Vita Caesarii 2,32, übers. v. W. Klingshirn, Caesarius of Arles: Life, Testament, Letters (Liverpool: Liverpool University Press, 1994), 58. Siehe insbesondere Klingshirn, Caesarius of Arles: The Making, 146–170. 58 Vita Caesarii 1,27, übers. v. Klingshirn, 22. 59 Vita Caesarii 1,61, übers. v. Klingshirn, 41. 60 Klingshirn, Caesarius of Arles, 201–243. 61 L. K. Bailey, Christianity’s Quiet Success: The Eusebius Gallicanus Sermon Collection and the Power of the Church in Late Antique Gaul (Notre Dame, IN: Notre Dame University Press, 2010), 96–104. 62 Vita Caesarii 2,6, übers. v. Klingshirn, 46. 63 Patricius [Patrick von Irland], Confessio 4,18, hg. v. L. Bieler, Liber epistolarum sancti Patricii episcopi (Dublin: Royal Irish Academy, 1993), 59; deutsch in: Patrick von Irland. Leben und Schriften, eingel. und übers. v. Volker Bialas (St. Ottilien: Eos, 2015). Siehe auch T. O’Loughlin, Discovering Saint Patrick (Mahwah, NJ: Paulist Press, 2005), 81. 64 C. Carozzi, Eschatologie et au-delà, 11–12; L. Jiroušková, Die Visio Pauli: Wege und Wandlungen einer orientalischen Apokryphe im lateinischen Mittelalter (Leiden: Brill, 2006), 5–20; I. Moreira, Heaven’s Purge: Purgatory in Late Antiquity (Oxford: Oxford University Press, 2012), 39–62. 243
Anmerkungen
65 Caesarius, Predigt 20, hg. v. G. Morin, Corpus Christianorum 103 (Turnhout: Brepols, 1953), 91–94; siehe auch B. Fischer, »Impedimenta mundi faciunt eos miseros«, Vigiliae Christianae 5 (1951), 84–87. 66 Visio Pauli 4, hg. v. Carozzi, Eschatologie et au-delà, 188. Vgl. auch die ältere Ausgabe Visio S. Pauli. Ein Beitrag zur Visionslitteratur mit einem deutschen und zwei lateinischen Texten, hg. v. H. Brandes (Halle: Max Niemeyer, 1885). 67 Vitae Patrum Jurensium 2 (93), hg. v. F. Martine, Vies des Pères du Jura, Sources chrétiennes 142 (Paris: Le Cerf, 1968), 338. 68 Brown, Der Schatz im Himmel, 574–594. 69 Ich habe diese unzutreffende Ansicht (und bessere Alternativen) in meinem Vorwort zur überarbeiteten Jubiläumsausgabe meines Buches über Die Entstehung des christlichen Europa diskutiert: The Rise of Western Christendom: Triumph and Diversity, A.D. 200–1000 (Oxford: Wiley-Blackwelll, 2013), xxii–xxxiii. [Dieses Vorwort ist in der deutschen Übersetzung der Erstausgabe, P. Brown, Die Entstehung des christlichen Europa, übers. v. P. Hahlbrock (München: C. H. Beck, 1999), nicht enthalten, Anm. d. Übers.] 70 C. Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800 (Oxford: Oxford University Press, 2005), 168– 203 und 794–803; J. Banaji, »Aristocracies, Peasantries and the Framing of the Early Middle Ages«, Journal of Agrarian Change 9 (2009), 59–91. Siehe auch R. Naismith, »Gold Coinage and Its Use in the Post-Roman West«, Speculum 89 (2014), 273–306, hier 289–300. 71 S. Esders, Sacramentum fidelitatis: Treueid, Militärwesen und Formierung mittelalterlicher Staatlichkeit (Berlin: De Gruyter, im Druck). Siehe auch J. Kreiner, »About the Bishop: The Episcopal Entourage and the Economy of Government in Post-Roman Gaul«, Speculum 86 (2011), 321–360. 72 Banaji, »Aristocracies«, 64. 73 Eine treffende Beschreibung der Situation findet sich bei B. Dumézil, Les racines chrétiennes de l’Europe: Conversion et liberté dans les royaumes barbares, ve–viiie siècle (Paris: Fayard, 2005), 226. 74 Praeceptum Childeberts I., hg. v. A. Boretius, Capitularia Regum Francorum: Monumenta Germaniae Historica: Legum Sectio 2,1 (Hannover: Hahn, 1883), 2. 75 Edikt Guntrams von Burgund (585), hg. v. Boretius, Capitularia, 11; übers. v. J. N. Hillgarth, Christianity and Paganism, 350–750: The Conversion of Western Europe (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1986), 96. 244
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
76 R. Dworkin, Justice in Robes (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2006), 5. 77 Siehe insbesondere K. Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung: Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100), Millennium-Studien 20 (Berlin: de Gruyter, 2008), 115–213.
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours 1 Aus der Fülle der Literatur zu Gregor von Tours siehe insbesondere I. N. Wood, Gregory of Tours, Headstart History Papers (Bangor: Headstart History, 1994); M. Heinzelmann, Gregor von Tours (538– 594). »Zehn Bücher Geschichte« – Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994; sowie K. Mitchell und I. N. Wood (Hg.), The World of Gregory of Tours (Leiden: Brill, 2002). 2 Eine Kritik dieser Konsensmeinung – verbunden mit Argumenten, die für eine Abfassung der Historien en bloc irgendwann nach 585 sprechen – findet sich bei A. C. Murray, »Chronology and the Composition of the Histories of Gregory of Tours«, Journal of Late Antiquity 1 (2008), 157–196. 3 Gregor von Tours, Libri historiarum [im Folgenden Historien] 10,31, hg. v. B. Krusch and W. Levison, Monumenta Germaniae Historica: Scriptores Rerum Merovingicarum 1:1 (Hannover: Hahn, 1937–1951), 535–536; übers. v. W. Giesebrecht und R. Buchner, Zehn Bücher Geschichten, 2 Bde. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 8 2000), II, 415. Im Folgenden werde ich die Werke Gregors ohne Nennung ihres Verfassers zitieren. Die diversen Bücher der Libri miraculorum zitiere ich mit ihrem jeweiligen lateinischen Titel. 4 I. Wood, The Merovingian Kingdoms (London: Longman, 1994), 89. 5 Historien 5,4, 199; übers. v. Giesebrecht und Buchner, I, 285. 6 G. Halsall, »The Preface to Book V of Gregory’s Histories: Its Form, Context and Significance«, English Historical Review 122 (2007), 297–317, hier 310. 7 Historien 5, »Vorrede«, 193; übers. v. Giesebrecht und Buchner, I, 277–279. 8 Epistulae Austrasiacae 9,1, hg. v. W. Gundlach, Corpus Christianorum 117 (Turnhout: Brepols, 1957), 424. 9 W. Goffart, Narrators of Barbarian History (AD 550–800): Jordanes, Gregory of Tours, Bede and Paul the Deacon (Princeton, NJ: Princeton 245
Anmerkungen
University Press, 1988; 2. Aufl., Notre Dame, IN: Notre Dame University Press, 2005), 117–119. 10 H. Reimitz, History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity (Cambridge: Cambridge University Press, 2015). 11 Historien 4,51, 189–190; übers. v. Giesebrecht und Buchner, I, 273. 12 Zu Indizien, die für ein Kursieren der Visio Pauli im merowingischen Gallien sprechen, siehe M. Heinzelmann, »L’hagiographie mérovingienne: Panorama des documents potentiels«, in: L’hagiographie mérovingienne à travers ses réécritures, hg. v. M. Goulet, M. Heinzelmann, C. Veyrarel-Cosme, Beiheft der Francia 71 (Ostfildern: Thorbecke, 2010), 27–83, hier 77, Anm. 223. 13 Historien 1, »Vorrede«, 3; übers. v. Giesebrecht und Buchner, I, 7–9. 14 Historien, übers. v. Thorpe, 67. 15 Salvian, Ad Ecclesiam 2,12,59; Vier Bücher an die Kirche, übers. v. Mayer und Brox, 61. Vgl. Sortes Sangallenses 33, R8: »habebis spem dei, sed de desperato« (»von einem, den du nicht erwartetest«), in: A. Dold, Die Orakelsprüche im St. Galler Palimpsestcodex 908, Österreichische Akademie der Wissenschaften: Sitzungsberichte 225,4 (1948), 24 und Anm. auf 110. 16 Markulf, Formulae 2,3, übers. v. A. Rio, The Formularies of Angers and Marculf: Two Merovingian Legal Handbooks (Liverpool: Liverpool University Press, 2008), 184. 17 B. Dumézil, Les racines chrétiennes de l’Europe. Conversion et liberté dans les royaumes barbares, ve—viiie siècle (Paris: Fayard, 2005), 375; zur »Klerikalisierung« der Gesellschaft als einem Ideal Gregors siehe Heinzelmann, Gregor von Tours, 176–181. 18 Historien 10,13, 496–500, übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 349– 359. 19 Historien 10,13, 498, übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 353–355. 20 Theodoret von Cyrrhus, Eranistes, Dialog 3 (260), hg. v. G. H. Ettlinger (Oxford: Clarendon Press, 1975), 214,27. 21 M. Dal Santo, Debating the Saints’ Cults in the Age of Gregory the Great (Cambridge: Cambridge University Press, 2012), 23–83 und 158. 22 Heinzelmann, »L’hagiographie mérovingienne«, 31–32. 23 De virtutibus sancti Martini 3,1, hg. v. B. Krusch, Gregorii episcopi Turonensis Miracula et Opera Minora: Scriptores Rerum Merovingicarum 1:12 (Hannover: Hahn, 1885), 182; übers. v. R. Van Dam, Saints and Their Miracles in Late Antique Gaul (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1993), 260. 246
V. Das Jenseits im Diesseits: Gregor von Tours
24 Historien 10,29, 524; übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 295. 25 De virtutibus sancti Martini 2,43 und 55, 175 und 178; übers. v. Van Dam, 251 und 255–256. 26 Vita Patrum 7,3, 238, übers. v. E. A. James, Life of the Fathers (Liverpool: Liverpool University Press, 1985), 62. 27 Sulpicius Severus, Brief 3,15–16, hg. v. J. Fontaine, Sulpice Sévère: Vie de Saint Martin, Sources chrétiennes 133 (Paris: Le Cerf, 1967), 342. Die Martinsvita des Sulpicius Severus liegt in deutscher Übersetzung vor als Vita Sancti Martini / Das Leben des Heiligen Martin, Lateinisch–Deutsch, übers., komm. und mit einem Nachw. v. G. Huber-Rebenich (Stuttgart: Reclam, 2010). 28 De virtutibus sancti Martini 1,4, 140; übers. v. Van Dam, 206. 29 De gloria confessorum 5, 501; übers. v. Van Dam, Gregory of Tours: Glory of the Confessors (Liverpool: Liverpool University Press, 1988), 22–23. 30 Augustinus, De civitate Dei 21,17–27, hg. v. B. Dombart and A. Kalb, Corpus Christianorum 48 (Turnhout: Brepols, 1955), 783–805. 31 De virtutibus sancti Martini 2,60, 180; übers. v. Van Dam, 134. 32 De gloria martyrum 106, 111, übers. v. R. Van Dam, Gregory of Tours: The Glory of the Martyrs (Liverpool: Liverpool University Press, 1988), 134. 33 Pro remedio animae: Miracula sancti Juliani 14, 120; übers. v. Van Dam, Saints and Their Miracles, 173; Historien 9,26, 445, übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 275–277; und Historien 9,42, 472; übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 313–315. 34 M. Weidemann, Das Testament des Bischofs Bertram von Le Mans vom 27. März 616: Untersuchungen zu Besitz und Geschichte einer fränkischen Familie im 6. und 7. Jahrhundert, Römisch-germanisches Zentralmuseum. Monographien 9 (Mainz: R. Habelt, 1986), 11; siehe auch M. Borgolte, »Felix est homo ille qui amicos bonos relinquit: Zur sozialen Gestaltungskraft letztwilliger Verfügungen am Beispiel Bischofs Bertram von Le Mans (616)«, in: Festschrift für Berent Schwineköper, hg. v. H. Maurer und H. Patze (Sigmaringen: J. Thorbecke, 1982), 5–18, hier 7. Siehe auch I. N. Wood, »Entrusting Western Europe to the Church«, in: Transactions of the Royal Historical Society 23 (2013), 37–73. 35 S. Diefenbach, »›Bischofsherrschaft‹: Zur Transformation der politischen Kultur im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien«, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter: Kulturgeschichte einer Region, hg. v. S. Diefenbach und M. Müller, Millennium-Studien 43 (Berlin: De Gruyter, 2012), 91–149. 247
Anmerkungen
36 Diefenbach, »›Bischofsherrschaft‹«, 113–115. 37 Brown, Der Schatz im Himmel, 713–719. 38 M. Heinzelmann, Bischofsherrschaften in Gallien: Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 5. bis 7. Jahrhundert, Beihefte der Francia 5 (München: Artemis, 1976). 39 S. Patzold, »Zur Sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter«, in: Völker, Reiche und Namen im Frühmittelalter, hg. v. M. Becher und S. Dick (München: W. Fink, 2010), 121–140. 40 Historien 8,6, 375; übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 265. Siehe auch Diefenbach, »›Bischofsherrschaft‹«, 102. 41 Miracula sancti Juliani 17,122; übers. v. Van Dam, Saints and Their Miracles, 176–177. 42 Vita Patrum 4,4, 226; übers. v. James, 46. 43 Brown, Der Schatz im Himmel, 731–736. 44 Vgl. beispielsweise Historien 9,42, 472, übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 415–417. 45 Borgolte, »Felix est ille homo«, 13; T. Sternberg, Orientalium more secutus: Räume und Institutionen der Caritas des 5. bis 7. Jahrhunderts in Gallien, Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 16 (Münster: Aschendorff, 1991), 126–135. 46 Siehe insbesondere. G. de Nie, Views from a Many-Windowed Tower: Studies of Imagination in the Works of Gregory of Tours (Amsterdam: Rodopi, 1987), 27–57. 47 Historien 5,34, 239–294; übers. v. Giesebrecht und Buchner, II, 49–51. 48 Siehe J. Baschet, Les Justices de l’au-delà: Les représentations de l’enfer en France et en Italie, xiie–xive siècle, Bibliothèque de l’École française d’Athènes et de Rome 279 (Paris: de Boccard, 1993), 146–163, über die speziellen Rahmenbedingungen in Conques zur Zeit der Gottesfriedensbewegung. 49 Siehe insbesondere G. de Nie, »History and Miracle: Gregory’s Use of Metaphor«, in: The World of Gregory of Tours, 261–279. Zu Vorläufern Gregors siehe G. de Nie, Poetics of Wonder: Testimonies of the New Christian Miracles in the Late Antique Latin World (Turnhout: Brepols, 2011), 431–486. 50 Über Lähmungen: De gloria confessorum 73, 357; übers. v. Van Dam, 97; über Fieber: De virtutibus sancti Martini 4,37, 209; übers. v. Van Dam, 300. Siehe auch de Nie, Poetics of Wonder, 162–164; A. Rousselle, Croire et guérir: La foi en Gaule dans l’antiquité tardive (Paris: Fayard, 1990), 96–97 und 115. 248
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
51 De virtutibus sancti Martini 3, »Vorrede«, 182; übers. v. Van Dam, 206. 52 De virtutibus sancti Martini 4, »Vorrede«, 199; übers. v. Van Dam, 285. 53 De Nie, Views from a Many-Windowed Tower, 161. 54 De gloria confessorum 93, 357; übers. v. Van Dam, 97. 55 Diefenbach, »›Bischofsherrschaft‹«, 127, Anm. 153, mit Verweis auf die klassische Studie von F. Graus, »Die Gewalt bei den Anfängen des Feudalismus und die ›Gefangenenbefreiungen‹ der merowingischen Hagiographie«, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (1961), 61–156. 56 De virtutibus sancti Martini 1,23, 150; übers. v. Van Dam, 219. 57 Historien 4,49, 186; übers. v. Giesebrecht und Buchner, 269; De virtutibus sancti Martini 2,7, 161; übers. v. Van Dam, 232. 58 De virtutibus sancti Martini 1,23, 150; übers. v. Van Dam, 219. 59 Historien 5, »Vorrede«, 194, übers. v. Giesebrecht und Buchner, 279.
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits 1 D. Bullough, »The Career of Columbanus«, in: Columbanus: Studies in the Latin Writings, hg. v. M. Lapidge, Studies in Celtic History (Woodbridge: Boydell, 1997), 1–28; P. Brown, The Rise of Western Christendom: Triumph and Diversity, A.D. 200–1000, überarb. Jubil.-Aufl. (Oxford: Wiley-Blackwell, 2013), 248–252 [entspricht 176–182 in der deutschen Übersetzung der Erstausgabe: P. Brown, Die Entstehung des christlichen Europa, übers. v. P. Hahlbrock (München: C. H. Beck, 1999), Anm. d. Übers.]. Siehe auch T. Leso, »Columbanus in Europe: The Evidence of the Epistulae«, Early Medieval Europe 21 (2013), 358–389, insbesondere 363–368. 2 Siehe hierzu die detaillierte Studie von Y. Fox, »Columbanian Monasticism and Frankish Aristocracy: Power and Religion in Merovingian Gaul« (Diss. phil., Open University of Israel). Die Einsicht in diese Dissertation (sowie die in Anm. 13 zitierte von A. O’Hara) verdanke ich der freundlichen Unterstützung meines Kollegen Professor Helmut Reimitz. 3 E. James, »Archaeology and the Merovingian Monastery«, in: Columbanus and Merovingian Monasticism, hg. v. H. B. Clarke und M. Brennan, BAR International Series 113 (Oxford: Oxbow, 1981), 33–55. 4 Columbanus, Instructiones 2,1, hg. v. G. S. M. Walker, Sancti Columbani Opera, Scriptores Latini Hiberniae 2 (Dublin: Dublin Institute for 249
Anmerkungen
Advanced Studies, 1970), 68,8. Zur Überlieferung der Briefe des Faustus von Riez in einem »literarisch-familiären Kreis« im südwestlichen Gallien, der sich auf Freunde von Freunden des Sidonius Apollinaris berief, siehe R. W. Mathisen, »The Codex Sangallensis and the Transmission of the Classical Tradition«, International Journal of the Classical Tradition 5 (1998), 163–194, hier 173. 5 Walker, Sancti Columbani Opera, lxxxi. 6 Columbanus, Epistulae 2,2, hg. v. Walker, 12,23. 7 C. Stancliffe, »The Thirteen Sermons Attributed to Columbanus and the Question of Their Authorship«, in: Lapidge, Columbanus, 93–202. 8 Columbanus, Instructiones 2,1, hg. v. Walker, 66,23. 9 Columbanus, Instructiones 1,4, hg. v. Walker, 64,4. 10 Columbanus, Instructiones 1,3, hg. v. Walker, 62,20. 11 Columbanus, Instructiones 1,5, hg. v. Walker, 66,11. 12 Columbanus, Instructiones 12,2, hg. v. Walker, 114,1. 13 C. Stancliffe, »Jonas’ Life of Columbanus and His Disciples«, in: Studies in Irish Hagiography: Saints and Scholars, hg. v. J. Carey, M. Herbert und P. Ó Riain (Dublin: Four Courts Press, 2001), 189–220, hier 205–219. Siehe auch A. O’Hara, »Jonas of Bobbio and the Vita Columbani: Saints and Community in the Seventh Century« (Diss. phil., University of St. Andrews, 2009). 14 Stancliffe, »The Thirteen Sermons«, 114–115 und 138–141. 15 Columbanus, Instructiones 7,1, hg. v. Walker, 90,4. 16 Columbanus, Regula Monachorum 10, hg. v. Walker, 140,22. Es ist nicht gesichert, dass diese Passage von Columbanus selbst verfasst wurde, aber sie liefert ein kraftvolles Konzentrat seiner extremen Wertschätzung des Gehorsams. 17 J. Stephenson, »The Monastic Rules of Columbanus«, in Lapidge, Columbanus, 203–216, hier 210. Siehe auch C. Stancliffe, »Columbanus’ Monasticism and the Sources of his Inspiration: From Basil to the Master?«, in: Tome: Studies in Medieval Celtic History and Law in Honour of Thomas Charles-Edwards, hg. v. F. Edmonds und P. Russell, Studies in Celtic History (Woodbridge: Boydell, 2011), 17–28. 18 Jonas, Vita Columbani 1,2, hg. v. B. Krusch, Monumenta Germaniae Historica: Scriptorum Rerum Merovingicarum 4 (Hannover: Hahn, 1902), 78,8; dieselbe Edition ist auch abgedruckt in dem MGH-Einzelband Ionae Vitae Sanctorum Columbani, Vedastis, Iohannis, hg. v. B. Krusch (Hannover: Hahn, 1905), 1–294. Das erste Buch der Vita Columbani findet sich zudem übersetzt von H. Haupt in Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, Ausgewählte Quellen zur deut250
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
schen Geschichte des Mittelalters IVa (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21994), 395–497. 19 Columbanus, Regula Monachorum 9, hg. v. Walker, 138,6. 20 Bullough, »The Career of Columbanus«, 8; siehe auch T. M. CharlesEdwards, »The Penitential of Columbanus«, in Lapidge, Columbanus, 217–239. Allgemeiner dazu Brown, Rise of Western Christendom, 241–246 [Kapitel ist in der deutschen Übersetzung der Erstausgabe, Die Entstehung des christlichen Europa, nicht enthalten, Anm. d. Übers.]. 21 C. Etchingham, Church Order in Ireland, A.D. 650–1000 (Maynooth: Department of Old and Middle Irish, St. Patrick’s College, 1999), 291–318. 22 G. Muschiol, Famula Dei: Zur Liturgie in merowingischen Frauenklöstern (Münster: Aschendorff, 1994), 222–263. 23 Siehe beispielsweise Jonas, Vita Columbani 2,19, hg. v. Krusch, 140; übers. v. J. A. McNamara und J. E. Halborg, Sainted Women of the Dark Ages (Durham, NC: Duke University Press, 1992), 154–175, hier 171–173. 24 A. Diem, »Van liefde, vrees en zwijgen. Emoties en ›emotioneel beleid‹ in vroegmiddeleuwse Kloosters«, Groniek. Historisch Tijdschrift 173 (2006): 409–429, hier 410. 25 Columbanus, Regula Monachorum 5, hg. v. Walker, 128,9. 26 P. Brown, »Relics and Social Status in the Age of Gregory of Tours«, in: Society and the Holy in Late Antiquity (Berkeley: University of California Press, 1982), 222–250, hier 243–245. 27 Regula cuiusdam patris ad virgines, 4,11 und 19, Patrologia Latina 88:1057D. 28 Vita Wandregisili 7, hg. v. B. Krusch, Monumenta Germaniae Historica: Scriptores Rerum Merovingicarum 5 (Hannover: Hahn, 1910); B. Effros, »Symbolic Expressions of Sanctity: Gertrude of Nivelles in the Context of Merovingian Mortuary Custom«, Viator 27 (1996), 1–10. 29 A.-M. Helvétius, »Hagiographie et formation politique des aristocrates dans le monde franc (viie—viiie siècle)«, in: Historiographie, idéologie et politique au Moyen Âge, hg. v. E. Bozóky, Hagiologia 8 (Turnhout: Brepols, 2012), 59–80. Eine Beschreibung eines solchen Zirkels von »Römern« im südwestlichen Gallien liefert R. W. Mathisen, »Desiderius of Cahors: Last of the Romans«, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. v. S. Diefenbach und G. M. Müller, Millennium-Studien 43 (Berlin: De 251
Anmerkungen
Gruyter, 2012), 455–469; und B. Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2006), 130–142, insbesondere Anm. 39 auf 139. 30 Siehe J. Kreiner, »About the Bishop: The Episcopal Entourage and the Economy of Government in Post-Roman Gaul«, Speculum 86 (2011), 321–360; und Kreiner, The Social Life of Historiography in the Merovingian Kingdom (Cambridge: Cambridge University Press, 2014). 31 A. Diem, »Monks, Kings, and the Transformation of Sanctity: Jonas of Bobbio and the End of the Holy Man«, Speculum 82 (2007), 521– 559. 32 I. Silber, Virtuosity, Charisma and Social Order: A Comparative Study of Theravada Buddhism and Medieval Catholicism (Cambridge: Cambridge University Press, 1995), 254. 33 Ebd. 34 R. Le Jan, »Convents, Violence and Competition in Seventh-Century Francia«, in: Topographies of Power in the Early Middle Ages, hg. v. M. De Jong und F. Theuws mit C. Van Rijn (Leiden: Brill, 2001), 243– 270, hier 262. 35 Brown, Rise of Western Christendom, 255 [entspricht 186 in der deutschen Übersetzung Die Entstehung des christlichen Europa, Anm. d. Übers.]. 36 Brown, Rise of Western Christendom, 228–231 und 255 [das zuerst zitierte Kapitel ist in der deutschen Übersetzung nicht enthalten; zum zweiten Zitat vgl. Anm. 35, Anm. d. Übers.]; Muschiol, Famula Dei, 179–191. 37 Vita Eligii: Carta Cessionis 3, hg. v. Krusch, Monumenta Germaniae Historica, 747,10 (Stiftung an das Kloster Solignac nahe Limoges). 38 J. Kreiner, »Autopsies and Philosophies of a Merovingian Life: Death, Responsibility, Salvation«, Journal of Early Christian Studies 22 (2014), 113–152, hier 120. 39 Jonas, Vita Columbani 2,11, hg. v. Krusch, 131,1: übers. v. McNamara und Halborg, 162. Siehe die Einträge zu discussio im Codex Theodosianus und den Novellae, in: O. Gradenwitz, Heidelberger Index zum Theodosianus (Berlin: Weidmann, 1925), 64, und dem dazugehörigen Ergänzungsband (Berlin: Weidmann, 1929), 21. 40 Jonas, Vita Columbani 2,11, hg. v. Krusch, 131,1; übers. v. McNamara und Halborg, 162. 41 Jonas, Vita Columbani 2,11, hg. v. Krusch, 131,10; übers. v. McNamara und Halborg, 163. 252
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
42 Jonas, Vita Columbani 2,12, hg. v. Krusch, 132,20; übers. v. McNamara und Halborg, 164. 43 Jonas, Vita Columbani 2,12, hg. v. Krusch, 132,23; übers. v. McNamara und Halborg, 164. 44 J. Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten (München: C. H. Beck, 2 2003), 170. 45 Jonas, Vita Columbani 2,19, hg. v. Krusch, 140,1; übers. v. McNamara und Halborg, 172. 46 Jonas, Vita Columbani 2,15, hg. v. Krusch, 135,18; übers. v. McNamara und Halborg, 167. 47 Jonas, Vita Columbani 2,15, hg. v. Krusch, 135,19; übers. v. McNamara und Halborg, 167. 48 Siehe insbesondere C. Carozzi, Le voyage de l’âme dans l’au-delà d’après la littérature latine (ve–xiiie siècle), Collection de l’École française de Rome 189 (Rom: Palais Farnèse, 1994), 99–138 (zu Fursa) und 139–186 (zu Barontus). Beide Visionstexte liegen ediert mit italienischer Übersetzung vor in M. P. Ciccarese, Visioni dell’Aldilà in Occidente (Florenz: Nardini, 1987), 184–275. Siehe auch Y. Hen, »The Structure and Aims of the Visio Baronti«, Journal of Theological Studies 47 (1996), 477–497; J. J. Contreni, »›Building Mansions in Heaven‹: The Visio Baronti, the Archangel Raphael, and a Carolingian King«, Speculum 78 (2003), 673–706; I. Moreira, Dreams, Visions and Spiritual Authority in Merovingian Gaul (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2000), 155–167; und I. Moreira, Heaven’s Purge: Purgatory in Late Antiquity (Oxford: Oxford University Press, 2010), 113–145. 49 Beda der Ehrwürdige [Beda Venerabilis], Kirchengeschichte des englischen Volkes [Historia ecclesiastica gentis anglorum], 3,19, übers. v. G. Spitzbart auf Grundlage der Textedition von B. Colgrave und R. A. B. Mynors (Oxford, 1969) (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21997), 263. 50 Visio Baronti 12, hg. v. W. Levison, Monumenta Germaniae Historica: Scriptores Rerum Merovingicarum 5 (Hannover: Hahn, 1910), 388,10; übers. v. J. N. Hillgarth, Christianity and Paganism: The Conversion of Western Europe, 350–750 (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1986), 199. Siehe auch Carozzi, Le voyage de l’âme, 141–145. 51 Visio Baronti 4 und 5, 380,20 und 381,7; übers. v. Hillgarth, 196–197. 52 Visio Baronti 12, 386,13; übers. v. Hillgarth, 199. 53 Visio Fursei 15,19 und 17,3, hg. v. Carozzi, Le voyage de l’âme, 691 und 692. 253
Anmerkungen
54 Visio Fursei 7,3, hg. v. Carozzi, 682. 55 Visio Fursei 7,10, hg. v. Carozzi, 681. 56 Visio Fursei 6,10, hg. v. Carozzi, 681. 57 Visio Fursei 7,2, hg. v. Carozzi, 682. 58 Visio Fursei 9,8 und 9,14, hg. v. Carozzi, 684. 59 Visio Fursei 9,14, hg. v. Carozzi, 684. 60 Visio Baronti 13, 388,12; übers. v. Hillgarth, 200. 61 Visio Fursei 9,7, hg. v. Carozzi, 684. 62 Jonas, Vita Columbani 1,19, hg. v. Krusch, 87,24. Man beachte, dass sowohl die Visio Fursei als auch die Vita Columbani das apokryphe Buch Jesus Sirach [Ecclesiasticus] 34,23 zitieren: Munera impiorum reprobat Altissimus – »Die Gaben der Gottlosen gefallen dem Höchsten gar nicht«. 63 Carozzi, Le voyage de l’âme, 100–102. 64 Visio Fursei 16,3, hg. v. Carozzi, 691. 65 Ein brillanter Nachweis hierfür findet sich in I. N. Wood, »A Prelude to Columbanus: The Monastic Achievement in the Burgundian Territories«, in: Columbanus and Merovingian Monasticism, hg. v. H. B. Clarke und M. Brennan, 3–32. Bereits vor Columbanus hatte es in Burgund einen ganzen Kosmos von Klosterstiftungen gegeben, der jedoch von unseren Haupttextzeugen (wie etwa Gregor von Tours) überhaupt nicht erwähnt wird. 66 F. Cumont, Afterlife in Roman Paganism (New Haven, CT: Yale University Press, 1922), 29. 67 J. Fontaine, »Les images virgiliennes de l’ascension céleste dans la poésie latine chrétienne«, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für A. Stuiber, Jahrbuch für Antike und Christentum: Ergänzungsband 9 (Münster: Aschendorff, 1982), 55–67. Allgemein dazu R. Lattimore, Themes in Greek and Latin Epitaphs (Urbana: University of Illinois Press, 1962). 68 Tertullian, De anima 55, hg. v. J. H. Waszink, Corpus Christianorum 2 (Turnhout: Brepols, 1954), 862; Über die Seele, eingel., übers. und erläutert von J. H. Waszink. Werke des Q. Septimius Florens Tertullianus 1 [Zürich: Artemis, 1980], 172. 69 Cumont, Afterlife, 110. 70 Siehe insbesondere S. MacCormack, Shadows of Poetry: Virgil in the Mind of Augustine (Berkeley: University of California Press, 1998), 111. 71 Augustinus, Predigt 241,5,5, Patrologia Latina 38:1136. 72 Cumont, Afterlife, 128. 254
Epilog: Columban von Luxeuil zwischen Kloster und Jenseits
73 Carozzi, Le voyage de l’âme, 638. 74 G. Sanders, »La perennité du message épigraphique: De la communauté chrétienne élitaire du Bas-Empire au corps professionnel de Bologne«, in: La terza età dell’epigrafia, hg. v. A. Donati (Faenza: Fratelli Lega, 1988), 349–414, hier 364. 75 Zahllose Belege der Formel oroit do finden sich in R. A. S. Macalister, Corpus Inscriptionum Insularum Celticarum 2 (Dublin: Stationary Office, 1949); siehe auch Sanders, »La perennité du message épigraphique«, 385–401. Zu Italien siehe beispielsweise P. Rugo, Le iscrizioni dei secoli vi-vii-viii in Italia (Cittadella: Bertoncello, 1975), Bd. 2, Nr.142, 97; Bd. 3 (1976), Nr. 28, 33 und Nr. 64, 53; Bd. 4 (1978), Nr. 108, 85. 76 G. Ripoll López und I. Velázquez Soriano, »El epitafio de Trasemirus (Mandourle, Villeséque de Corbières, Aude)«, Espacio, Tiempo y Forma 3 (1990), 273–287.
255
Register Achämenidenreich 63, 110 Adam 114–115, 165, 169–170 Adel 15, 101, 131, 140–141, 144–145, 155, 177–178, 188, 201, 204 Aeneis (Vergil) 83, 122, 214 Afrika 23, 53, 68, 70, 72, 74–76, 79–80, 88, 90–91, 93–95, 97, 99, 102, 105–108, 115, 117, 127, 129–131, 151, 215 agapê 65, 67 Ägypten 62–64. 67, 97, 106, 132, 134, 146, 207 Almosen(geben) 42–45, 47–49, 51–52, 55, 59–61, 64–67, 72–74, 92, 94, 96–107, 109–111–115, 118, 123, 128, 139, 142, 152, 167, 175, 181– 182, 210 Altes Testament 38, 45, 48 Anderson, Gary 45, 47 Apollinaris, Sidonius 15, 144, 146, 160 Apostel 59, 66, 68, 83, 120, 151; siehe auch Paulus von Tarsus, Petrus Araber 21 Aramäisch 63 Architektur 40 Aredius 171 Arles 15, 45, 128, 141–143, 149, 151, 177, 195 Arme, Armut 9–10, 39–40, 42–44, 47–52, 55, 57–60, 73, 77, 97–98, 100–111, 114–116, 123, 128, 141–142, 153, 175, 180–183, 203, 210 »Armenmörder« siehe necator pauperum Artonne 173 Assmann, Jan 207 Auferstehung 16, 20, 26–28, 30–33, 85, 167–171, 184 Augustinus 12, 14, 23, 56, 60, 62, 68–80, 84–87, 90–95, 97–100, 102– 109, 111–131, 138–139, 142, 147–149, 167–168, 174. 206, 212, 214– 215 Autun, Kathedrale von 39 Bailey, Lisa 149 Banaji, Jairus 155 256
Register
Barbaren(einfälle) 11–12, 15, 129–130, 153, 155, 163, 168, 178 Barontus 208–210, 212, 216 Befreiung(ssymbolik) 184, 186–187, 189, 206 Begräbnis/Bestattung 7, 37–38, 40, 52, 54, 57, 59, 61, 66, 72–73, 77, 91–94, 97, 134–135, 200–201, 207, 215 Begräbniskirchen, Begräbniskapellen 38, 40 Begräbnismahl siehe Festmahl Beichte 198–199, 212 Bertram von Le Mans 16, 176, 182 Bestattung siehe Begräbnisse/Bestattung Bischof 13–16, 19–23, 32–33, 38–39, 45, 56, 60, 68, 73, 75–77, 80, 85, 89, 92, 100–102, 104, 108, 116, 119, 125–126, 128, 135, 137, 139–146, 149–150, 152, 154–156, 158–161, 163–164, 166, 168, 170–172, 176– 179, 181, 186–187, 189, 191–192, 195, 200–202, 213, 217 Blockaden 27, 184 Bolsena, Wunderkind aus 61 Bonal, François 138 Brioude 180 Britannien 129, 144, 194 Bruck, Eberhard 58 Brunichild 164 Buchner, Rudolf 165 Burgund(er) 15, 153, 155–156, 160, 178, 192, 194, 201 Buße, Büßer 71, 74, 112–113, 118, 126, 128–130, 136–140, 143–144, 146, 150–152, 154–155, 157, 184–185, 198–199, 206, 210–212 Caesarius von Arles 15, 128, 149–151, 177, 195 Carozzi, Claude 20, 120, 216 Cassian(us), Johannes 15, 146–148, 195–197, 199 Charonspfennig 77 Childebert I. 15, 156 Chlodwig I. 15, 154 christliches Königreich 157–158 Christus siehe Jesus Christus Chrysostomos, Johannes 104 Circus(spiele) 97, 103–104 257
Register
clementia (»Milde«) 124 collegia 58 Columban(us) 16, 189–203, 205, 211 courtoisie (»Höflichkeit«) 202 Cumont, Franz 213–214 Cynegius 91–94, 134 Cyprian von Karthago 13–14, 20, 22–26, 31–33, 35–36, 43, 53–54 Dagobert I. 16, 201 Daley, Brian E. 117 Dal Santo, Matthew 170 Damasus I. 61 Dämmerlicht Dämonen 12, 62, 89–90, 131–132, 135, 172, 205, 207, 209–212 Daniel 82, 109–110 Dante Alighieri 90, 212 David 126 De Jong, Mayke 138 Deusdedit 44 dévots 138 Diefenbach, Steffen 177–178, 186 Dinocrates 53 discussio 206 Divjak, Johannes 75, 119 Donatismus, Donatisten 75, 88–90 Dulcitius 75 Dumézil, Bruno 168 Einsiedler 132, 153 Eliot, George 80 Elite 29, 93, 101, 107, 109, 141, 153, 155, 192, 199, 203 Ende der Welt 164–165, 167 Engel 32–33, 81, 87, 131–132, 147, 159, 172, 175, 200, 205–206, 209– 210, 212 Erchinoald 211 Eremiten 15, 153 258
Register
Erfurt 102, 107 Esders, Stefan 155 Eucharistie 36–37, 61, 65–66, 73, 92, 97, 215 Euergetismus 99–101, 103–104, 109, 116, 123 Eusebius von Caesarea 164 Eutropius von Orange 139 Eva 114 Evodius von Uzalis 80–81, 84–88, 90, 92, 95 ewige Wahrheiten 21 Ewigkeit 120, 122, 125, 132 expuncta 22 Faremoutiers (Abtei) 16, 205, 207 Faustus von Riez 15, 128, 143–149, 151, 177, 185, 195, 197 Fegefeuer 8, 10, 33, 36, 70, 212 Felix, Magnus 146 Felix, Umbrius 116 Felix von Nola 91–94, 134 Festmahl 53, 60 Feuer 33, 110, 119–121, 123–125, 139, 143, 146, 157, 175, 185, 196–198 fidelis 215 Flora 91–92, 134 Francia 154, 162, 201, 208 Franken(reich) 15–16, 154–155, 157, 161, 163–164, 166, 179, 189, 192, 200–202; siehe auch Francia Frankreich 138, 190, 217 Fredegunde 183 Frieden 53–54, 164, 169, 184, 186–187, 192, 204 frühe Kirche 8, 19, 21, 26, 58 Fürbitte 35, 55, 70, 73, 174 Furcht 12, 33, 83, 123–124, 126, 130, 134, 146, 154, 165, 208–209 Fursa 16, 208, 210–212, 216 Gallien, Gallier 15, 88, 93, 127–132, 134, 136–139, 141–146, 148, 150– 152, 154–165, 167–168, 176–180, 182–183, 189–195, 197–198, 201, 204, 207–208, 212–213, 217 259
Register
Gaudentius von Timgad 75 Geben siehe Almosen(geben) Gebet 7, 37–39, 51, 53–54, 56–59, 61, 64, 66, 69–70, 72–74, 79, 92, 94–95, 97, 112–114, 118, 120–121, 124, 128, 134, 136, 139, 173–174, 176, 203–204, 206–207, 209, 212, 217 Gegenkultur 57, 105 Gegenwart Gottes 23, 29–30, 80, 86, 120–121, 125–126, 173 Gehorsam 197–198 Germanus 164 Gertrude 200 Gibitrudis 206 Giorda, Mariachiara 134 Gleichnis 43, 49 Gnade siehe Gottes Gnade Gott 15, 23–24, 27–30, 39, 46–50, 52, 56–61, 66–69, 74, 79–81, 84–86, 88, 92, 95, 105, 108–111, 116–117, 119–121, 125–126, 130, 143–147, 151–152, 156–157, 159–161, 164–166, 168–170, 173, 175–177, 180, 182–183, 185, 196, 209, 214, 216 Gottesfriedensbewegung 183 Gottes Gnade 15, 47, 74, 78, 117, 125, 144, 160 Grab(steine) 7, 12, 36, 38–41, 45, 48, 52, 54–55, 58, 60–62, 72, 74, 77– 78, 80–81, 83–84, 90–94, 134–135, 161, 167, 169–171, 173, 189–191, 200, 205, 213–215, 217 Graffiti 14, 53–54, 56, 65 gratia (»Wohlwollen«) 141 Grauzone 34–37, 41, 69, 118, 120 Gregor der Große 16, 20, 36, 44–45, 170 Gregor von Langres 171 Gregor von Tours 12, 15, 90, 148, 158–192, 195, 208 Griechisch 23, 63, 65 große Zukunft siehe Zukunft der Seele Guntram von Burgund 15, 156, 179–180 Halsall, Guy 163 hebräische Bibel 48 Heiden(tum) 24–25, 117, 157, 213 260
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Heilige 7, 23, 32, 35–36, 38, 40, 43–44, 54, 56, 59, 66, 69, 78–79, 86, 90–95, 98, 118, 125, 134–135, 146, 150–151, 161, 167–180, 183–187, 189–190, 192, 202–203, 207, 210, 214–215 Heiligenkult 92–93 Heiliger Geist 54, 89 Heimgang der Seele 171–172 hellenistische Königreiche 110 Helvétius, Anne-Marie 202 Hénaff, Marcel 46 Hermas 14, 49–51, 203 »Herrschaft der Heiligen« 179–180 »Herrschaftsstimmung« 155, 160 Hieronymus 117–118, 164 Hilarius von Arles 15, 45, 141–143, 149 Himmel 7–10, 22–24, 27–28, 30–33, 37, 39–40, 42–50, 52, 57–58, 61–62, 69–70, 72–73, 78, 81, 83, 85, 88, 90–91, 95, 99, 101, 105–106, 108–109, 113, 118, 121–122, 132, 135, 139, 147–148, 150, 156, 160, 172, 174, 198, 204, 206, 209–210, 214–215, 217 Hippo 14, 73, 92, 99, 102, 105, 116, 119, 128–129 Hispanien 129 Historiae 148 Hoffnung 8, 14, 47, 67–68, 75, 78, 80, 132, 152, 165–166, 168, 170, 187, 209 Hölle 12, 32–33, 35, 37, 39, 69–70, 88, 90, 118–119, 124–125, 132–133, 135–136, 143, 147–150, 154, 156–157, 160, 174, 183, 210, 215 Honoratus 15, 140–142 Idalius von Barcelona 20–21, 32–33 Ideologie 46, 99, 102, 104, 142, 202 ignis purgatorius 33, 120, 123 Immaterialismus siehe Materialismus/Immaterialismus impii 117–118 Individualität, Individuum 31, 33–34, 47, 93, 145, 151–152, 184, 205, 212, 216 Inschriften 45, 55, 57, 59, 61–62, 76–77, 83, 91–92, 94, 116, 134–135, 213–214, 217 261
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Intelligenzija 80 Irland 15–16, 150, 192–195, 199, 208, 217 Islam 10, 41 Italien(er) 14, 61, 91, 93, 105, 134–135, 151, 170, 193, 215, 217 Ite et ludite 82 Jansenisten 138 Jerusalemer Talmud 42 Jesus Christus 23, 29, 42–43, 45, 73, 82–84, 103, 124–126, 133, 150, 161, 169–170, 174, 181 Jesus Sirach 110 Johannes siehe Offenbarung des Johannes Jonas von Susa 16, 201–202, 205–206, 210 Juden(tum) 7, 41–43, 45, 47, 49, 52, 67, 98, 109–111, 157 Julianus von Eclanum 118 Julian von Toledo 13, 16, 19–23, 26–27, 29–38, 41, 191 Jüngstes Gericht (Weltgericht) 7, 20, 27, 31, 33, 41, 75, 78, 91–92, 117, 119–120, 124–125, 133–134, 143, 146, 148–150, 153–154, 159–161, 164, 166–168, 174–177, 183, 188, 195 Karthago 13–14, 20, 22–24, 26, 33, 51, 53, 75, 77, 80, 83, 99, 102–107, 123 Katakombe 14, 52, 77, 82 Katechumenen 65–67, 69–70 Katholiken, Katholizismus 8, 26, 33, 36, 44–45, 68, 70, 74, 89, 138, 199 Kellis (Ägypten) 67 Kerzen 38 Kirchen, Reichtum der 9, 40, 131, 141–142, 180–182 Kirchenbau 107, 113 »Klasse von Außenseitern« 140–141, 144, 177 Klatsch 200 kleine Zukunft siehe Zukunft der Seele Klerikalisierung 168 Klosterstiftungen 38 Koch, Klaus 45 262
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Konstantin der Große 12, 14, 54, 59, 65, 101, 154 Konstantinopel 125, 170 Konversion, Konvertiten 64, 85, 93, 159, 197 Koptisch 63, 65 Krautheimer, Richard 52 Kreiner, Jamie 202, 205, 219 Kunst 29, 40, 82 Küssen des kaiserlichen Gewandes 83 Kyrill von Alexandria 119–120 Laureatae 84 Laurentius 68–70, 75–76, 98, 126 Lebende und Tote, Beziehung zwischen 34–41, 49, 51–52, 54, 57–58, 60, 64, 66, 71, 77, 90–92, 97, 150, 217 Leodegar von Autun 16, 39 Lérins 15, 130, 132–133, 136, 140, 143–144, 146, 149–151, 195 Leuboveus 187 Lorbeerkranz 84, 135 Lösegeld der Seele 34, 38–40 Lupicinus 15, 153 Luxeuil 16, 189, 192 machinamenta occulta 106 Mamertus, Claudianus 15, 147 Mani 14, 62–70, 72, 74, 118, 135 Manichäer, Manichäismus 62–68, 72–73, 97 »Männer von Le Mans« 163 Marc Aurel 14, 25 Maria (Gottesmutter) 81, 136 Markulf 167 Martin von Tours 14, 171–173, 175, 178, 180, 186–187, 192, 214 Märtyrer 14, 22–26, 29, 31–33, 35–37, 53–54, 59–61, 81, 89, 175 Materialismus/Immaterialismus 45, 87–88, 144, 148, 185 Mathews, Thomas F. 82 Matthäusevangelium 174 Mauretanien 75 263
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Maximus von Turin 135 Maxwell, Jaclyn 104 Medardus 186 Medizin 16, 20, 184 Melania die Jüngere 15, 107–109 memoria 55, 92–94 Merowinger 148, 154–155, 162–163, 165, 179, 182, 187–189, 201–202, 211 Merowingische Bruderkriege 163, 188 Mesopotamien 62–63 Messopfer 65 Metapher 47, 52, 105, 111, 115, 124, 132, 145, 184, 186 Milchstraße 28, 59, 213–215 Mitgefühl 48, 100, 103, 181 Mittelalter 7–10, 12–13, 19–21, 33, 39, 46, 90, 102, 131–132, 138, 148, 155, 162, 165–166, 172, 191, 193, 199, 211–212 Mittelmeerraum 35, 62, 81, 93, 106, 131, 134, 190 Mönch(tum), Mönchsklöster 15, 38, 81, 132–134, 136, 140–144, 146, 151, 154, 160, 166, 177–179, 182, 190–194, 196–205, 208–209, 211, 216–217 Monica 94–95, 97 Monobazos 42–43, 45 Monophysiten 169 Mortalismus 27 Muslime 21; siehe auch Islam Nächstenliebe 43, 51, 102 Naher Osten 10, 63 Nahtoderfahrungen 32, 208 Nebukadnezar 109 necator pauperum 181 Neuplatonismus 86–87, 121–122, 144, 147 Nie, Giselle de 184 Nivelles 200 Nonnen(klöster) 38, 134–135, 166, 182, 190, 193–194, 198–208, 216– 217 264
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non valdes (non valde boni/non valde mali) 70–71, 76, 95, 98, 118, 121, 124, 216 Nordafrika siehe Afrika Offenbarung des Johannes 82 Ökonomie 46, 100, 111 Osten 21, 63, 132, 134, 151 Paganismus 213 Parabel 49–50, 203 Parry, Jonathan 46 Patlagean, Evelyne 100 Patricius (Patrick) 15, 94, 150–151 Paulinus von Bordeaux 146 Paulinus von Nola 14, 90–93, 95, 107–108, 146 Paulus von Tarsus 14–15, 48, 54, 56, 59, 63, 109, 120–121, 123, 125, 145, 151–152 peccata minutissima 112 peccator 117–118, 202 Pelagianer, Pelagianischer Streit 14–15, 95, 97–98, 106, 108–109, 112– 113, 115, 117–120, 128 Pelagius 71, 74, 95, 97–98, 106–107, 112, 115, 117–119, 140 Peregrinus 14, 25 Perfektion(ismus) 98, 112–113, 198 Perpetua 14, 53, 81–83 Pest 23, 183 Petronius Probus 83 Petrus 44, 54, 56, 59, 210 Philosoph(ie) 25, 27, 46, 87, 90, 105, 121–122, 147, 177; siehe auch Platon(ismus), Plotin, Neuplatonismus, Sokrates Pinianus 15, 107, 109 Platon(ismus) 30, 61, 85, 87, 122–123, 125, 147, 214; siehe auch Neuplatonismus Plotin 14, 86–87, 122 Pomerius, Julianus 15, 142 Possidius von Calama 75, 80, 126 265
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Potentes 163 principalia crimina 210 Proiecta 61 Propheten des alten Israel 48 Protestantismus 8, 44–45 Provence 130, 140, 146, 149–150, 154, 159–160 Prudentius 14, 124–126, 174 Purgatorium 33, 123, 212 Quintianus von Rodez 181 Rapp, Claudia 56, 218 Rast der Seele siehe refrigeria Rebillard, Éric 23, 138 Rebstock 50 redemptio animae 38–39 refrigeria 64, 141 Reiche, Reichtum 9–10, 15, 37–41–43, 45–51, 57–60, 73, 77, 83, 91, 93, 98–109, 114–117, 131–132, 136, 141–142, 156, 159, 163, 176, 178, 180–182, 188, 194, 203, 205 Reimitz, Helmut 218–219 Reinigung 33, 117, 120, 122–123, 125, 174, 207 remedia 176, 182 Reue 185, 203, 210 Riez 144 Rituale 47, 65–72, 74, 76–77, 94, 110, 182, 210, 217 Rom, Römer 11, 14–15, 44, 49–52, 58–59, 61, 64–65, 68, 72, 74–76, 82–84, 95, 106–107, 115, 124, 153–154, 157, 166, 178, 193, 213–214, 217 Römisches Reich 9, 12, 15, 62–63, 73–74, 76, 83, 101–102, 118, 129– 130, 144, 152–154, 160, 169, 172, 188 Rose, Paula 92 Rosen aus dem Grab 81 Sainte-Foy-Portal von Conques 183 Salomo 38–39 266
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Salvian von Marseille 15, 128, 130–133, 136–137, 139–140, 143–144, 148, 153, 157, 159–161, 166, 205 Sankt Nazarius 39 San Sebastiano 52, 54, 56, 58, 62, 64–65, 92, 97 Satan 111, 136 Saturus 81–82 Schafe und (Ziegen-)Böcke 174–175 Schatz im Himmel 42–45, 47, 50, 52, 72–73, 91, 101, 105–106, 109 Schenkungen 175, 182, 203 Schiller, Isabella 102 Schutz der Seele 66, 132–133, 182 Seelen, körperlose 28, 61 Seelenreise 208, 211, 216 Seelenschlaf 27, 85 Seelenwanderung 121–122, 214 Selbstaufgabe 197, 200 Seuchen 183 Severinus von Köln 172 Severus, Sulpicius 172, 213 sexuelle Abstinenz/Begierde 137, 139 Shaw, Brent 76 Sigibert I. 164–165, 187 Sisetrudis 205–206 Sklave(rei) 145, 156, 186, 197 Sklaven Gottes 50, 145 sofortiger Eingang in den Himmel 85 Sokrates 46 Solidarität 50–51, 60 soziale Gerechtigkeit 48 Spanien 23, 75, 93, 217 Spenden, Spender 37, 42–44, 95, 99, 100–103, 105, 107–108, 114–117, 128, 130–132, 136, 141–142, 175–176, 182, 204, 207, 210–211, 217 Spiele 14, 25, 82, 99, 103, 107 Sprache 46, 51, 56, 63, 139, 164, 194 Stancliffe, Clare 196 Stein, Gertrude 88 267
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Sterne 28, 40, 172, 196, 209, 213–214, 216–217 Steuereintreiber 180 Stiftungen 37–39, 41–42, 108, 175–176, 204 Stoa 147 Sühne 71, 96–99, 109–111, 115–117, 128–129, 136–137 Suizid 14, 25 Sünde(r) 12, 32–33, 35–36, 39, 62, 69–70, 74–75, 78–79, 90, 95–99, 106, 109–121, 123–125, 128–132, 137–140, 142–143, 146, 148, 151– 154, 156–157, 159, 169, 172–176, 183, 185–187, 189, 195, 198–199, 202, 206, 209–211, 213, 215–216 Synode von Orange 15, 149 Syrien 62 Syrisch(-Aramäisch) 62–63 Tartarus 93, 134–135 Taufe 83, 95, 114, 117, 126, 137, 215 Tertullian von Karthago 14, 26–32, 35–36, 53, 56, 61, 85, 88, 148, 214 Teufel 12, 32–33, 89, 95, 111, 132, 136, 172, 175 Theuderich II. 192, 211 Tod 7–8, 12–14, 20, 22, 24–28, 30–33, 37, 40, 42, 53, 60–61, 63, 65, 70–71, 73, 76, 80–81, 84–85, 87, 93–95, 99, 105, 119–120, 122, 126, 128–130, 133, 135–136, 164–165, 167, 170, 172–174, 176, 180, 183, 189–191, 201, 205–209, 213, 215 Toledo 20–21, 26 Totenbuch 207 Totengedenken 38, 41–42, 54, 61, 64, 67–68, 73, 93–94 Totenliturgien 134 Tradition 21, 26–27, 29, 44, 47–48, 58, 61, 72–73, 78, 90, 92–94, 97, 100, 104, 109, 113, 123, 131, 137, 140, 147–148, 150, 159, 167–168, 171, 195, 200–201, 210, 215 Transitus Mariae 136 Träume 7, 14, 36, 53, 58, 60, 71, 73, 80–81, 84–90, 97, 108, 123, 139, 150, 172–173, 194, 205 triclia 52–54, 59, 62, 64–65, 92 Trier 130, 135
268
Register
Uhalde, Kevin 138 Umkehr 143, 151, 154, 185 Unendlichkeit 111, 125, 147 Unsterblichkeit der Seele 27–28, 214–215 Unvollkommenheit 35, 122–123 Unvollständigkeit 35 Urbach, Ephraim 45 Urbanität 189 Urteil (Gottes) im Hier und Jetzt 130, 159–160 Uzalis 14, 80, 84, 86–87, 89, 120, 126, 135, 173 valde boni / mali 69, 76, 216 Vaterunser 112–113, 116 venator (»Matador«) 104 venia 175–176, 207 Vergebung 39, 74, 95, 98, 111, 113, 116, 142, 175–176, 207 Vergessen 49, 52, 55, 122 Vergil 62, 83, 122, 214 Versuchung 168, 199 Veyne, Paul 100 Vicenza 135 Visio Baronti 16, 212, 216 Visio Fursei 16, 208, 211–212, 216 Visionen 7, 16, 36–37, 44, 53, 60, 71–73, 84, 86, 88–90, 97, 111, 125, 139, 147, 151–152, 190, 194, 205, 208–210, 212, 216–217 Visio Pauli 14–15, 125–126, 151–152, 160, 165, 183 Vita Caesarii 150 Vitalina 173 Vogesen 190, 192 Vollkommenheit 36, 38, 42, 69, 76, 98, 112, 120, 123, 139, 209 Vorstellungskraft 32, 41, 47–48, 73, 78–79, 87, 100, 111, 148, 204 Vorstellungswelt 10–12, 31, 35, 48–49, 52, 56, 58–59, 82, 124, 133– 134, 142, 160, 182, 184, 215, 216 Wandregisel 200 Weber, Dorothea 102 269
Register
Weidmann, Clemens 102 Weinrebe 49 Weltbild 21–22, 42, 64, 111, 184, 191, 194, 214, 216–217 Westgoten(reich) 15, 20–21 Wickham, Christopher 155 Wiedergeburt 95, 122 Wiliachar 186–187 Willensfreiheit 95, 97, 106, 112, 117, 145 Wood, Ian 162 Wunder 7, 16, 47, 161, 166–168, 170–171, 173, 183–187, 189, 200 Wüstenväter 199 Yasin, Ann Marie 93 Zins 111 Zoroastrier 67 Zukunft der Seele (große/kleine Zukunft) 20, 27–30, 32, 41, 168 Zwielicht 29
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Informationen zum Buch Wie kann ich bereits zu Lebzeiten dafür Sorge tragen, dass meine Seele im Jenseits Frieden findet? Und welche Rolle spielt dabei materieller Besitz? Am Übergang vom Römischen Reich zum Mittelalter wandelte sich die christliche Vorstellung des Jenseits: Geld begann das Seelenheil zu bestimmen. Wie kam es, dass die Gläubigen bereit waren, immer mehr auszugeben für die Erlösung nach dem Tod? Peter Brown eröffnet überraschende Perspektiven auf das Christentum, auf seine Entstehung und auf die frühen christlichen Vorstellungen vom Jenseits. Ein außergewöhnliches, glänzendes Panorama des Umbruchs von der Antike zum Mittelalter.
Informationen zum Autor Peter Brown ist einer der renommiertesten Experten für das frühe Christentum und die Spätantike. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er, nach Stationen an den Universitäten von London und Berkeley, an der Universität Princeton. Für seine gefeierten Veröffentlichungen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Balzan-Preis.