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German Pages [207] Year 2020
Jörg Phil Friedrich
Der plausible Gott Welche Erfahrungen sprechen für die Existenz eines Gottes, und was kann man über diesen Gott sagen?
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820438
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B
Jörg Phil Friedrich Der plausible Gott
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Jörg Phil Friedrich
Der plausible Gott Welche Erfahrungen sprechen für die Existenz eines Gottes, und was kann man über diesen Gott sagen?
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Jörg Phil Friedrich The plausible God What experiences speak for the existence of a God, and what can be said about this God? The existence of a divine being can neither be proved nor refuted. Nevertheless, there are people who intimately believe in a being who is the creator of the universe and man's paternal partner, just as there are people who vehemently deny the existence of such a being. The book »The Plausible God« shows that although there is no evidence, there are good reasons to believe in a God. With him it becomes understandable that humans as free beings are endowed with a moral conscience, a sense of beauty and a propensity for truth. The natural sciences by no means contradict the existence of such a God. Rather it becomes understandable with him that the world obeys natural laws at all, which man can understand and use. For a plausible God creates rational beings as free and creative creatures, with a reason that is similar to his, but limited. That is why he cannot spare them every suffering, even if he endows them with the ability to overcome suffering and to better shape their own future and that of their environment. The question about God is not finally answered in this book, but it shows that it is reasonable to believe in his work and to be convinced that this Creator has given his creatures the freedom to shape the world and the responsibility for their own destiny.
The Author: Jörg Phil Friedrich, born in 1965, is a philosopher, natural scientist and IT entrepreneur. He completed his studies in physics and meteorology in 1989 with a degree in meteorology. At the beginning of the new millennium, he then studied philosophy and graduated as a Master of Arts. Since then he has written essays and articles on various topics of practical philosophy. His book »The critique of networked reason« was published in 2012.
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Jörg Phil Friedrich Der plausible Gott Welche Erfahrungen sprechen für die Existenz eines Gottes, und was kann man über diesen Gott sagen? Die Existenz eines göttlichen Wesens kann weder bewiesen noch widerlegt werden. Trotzdem gibt es Menschen, die innig an ein Wesen glauben, das Schöpfer des Universums und väterlicher Partner der Menschen ist, ebenso wie es Menschen gibt, die die Existenz eines solchen Wesens vehement bestreiten. Das Buch »Der plausible Gott« zeigt, dass es zwar keine Beweise, aber doch gute Gründe gibt, an einen Gott zu glauben. Mit ihm wird verständlich, dass die Menschen als freie Wesen mit einem moralischen Gewissen, einem Sinn für Schönheit und einem Hang zur Wahrheit ausgestattet sind. Die Naturwissenschaften stehen keineswegs im Widerspruch zur Existenz eines solchen Gottes. Vielmehr wird mit ihm verständlich, dass die Welt überhaupt Naturgesetzen gehorcht, die der Mensch verstehen und nutzen kann. Denn ein plausibler Gott schafft vernünftige Wesen als freie und schöpferische Geschöpfe, mit einer Vernunft, die seiner ähnlich, aber doch begrenzt ist. Die Frage nach Gott wird in diesem Buch nicht endgültig beantwortet, aber es wird gezeigt, dass es vernünftig ist, an sein Wirken zu glauben und davon überzeugt zu sein, dass dieser Schöpfer seinen Geschöpfen die Freiheit zur Gestaltung der Welt und die Verantwortung für das eigene Schicksal übergeben hat.
Der Autor: Jörg Phil Friedrich, Jahrgang 1965, ist Philosoph, Naturwissenschaftler und IT-Unternehmer. Sein Studium der Physik und Meteorologie schloss er 1989 als Diplom-Meteorologe ab. Zu Beginn des neuen Jahrtausends studierte er dann Philosophie und beendete das Studium als Master of Arts. Seitdem schreibt er Aufsätze und Artikel zu verschiedenen Themen der Praktischen Philosophie. 2012 erschien sein Buch Kritik der vernetzten Vernunft.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: time-picture © iStock by GettyImages Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49066-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82043-8
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Inhalt
Persönliche Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 18 32 47 60 64
Die Dinge in Zeit und Raum . . . . . . . . Organisationen und Institutionen . . . . . Die Objekte der Wissenschaften . . . . . . Fiktionen und Geschichten . . . . . . . . Zusammenfassung: Was existiert wirklich?
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Gottes Geist erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich und Du, Er und Sie . . . . . . . . . . . Gott in der Welt . . . . . . . . . . . . . . Gott unter den Menschen . . . . . . . . . Gott und der Einzelne . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Der menschliche Geist
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69 69 79 93 113 129
Die Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Warum gibt es Naturgesetze . . . . . . Warum verstehen wir die Naturgesetze? Die Vielfalt der Naturgesetze . . . . . . Die Schöpfung der Menschen . . . . . . Wissenschaft und Schöpfung . . . . . . Schöpfung und Verantwortung . . . . .
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132 141 146 151 153 154
7 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Inhalt
Was Gott nicht ist
. . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ergründbarkeit des plausiblen Gottes . . . . . . Die Allmacht und Güte des plausiblen Gottes . . . Hoffen auf Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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158 159 161 165
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
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Persönliche Vorbemerkung
Der Glaube an Gott ist eine sehr persönliche Sache. Es ist immer jeder Einzelne, der an einen Gott glaubt, an ihn nicht glaubt, oder sogar glaubt, sicher zu sein, dass es keinen Gott gibt. Ein Buch, das sich einer so persönlichen Sache widmet, sollte mit ein paar persönlichen Vorbemerkungen beginnen, auch wenn der Gang seiner Argumentation versucht, die persönlichen Überzeugungen oder gar Hoffnungen des Autors außen vor zu lassen. Ich bin in einer atheistischen Welt aufgewachsen, und ich war sehr lange sicher, dass der Glaube an einen Gott etwas ist, was in die Vergangenheit gehört. Ich war sehr sicher, dass es keinen Gott gibt, und ich war auch sicher, dass es heute sogar lächerlich ist, ein Zeichen einer gewissen Rückständigkeit im Denken und Weltverstehen, noch an einen Gott zu glauben. Ich bin also nicht mit einem kindlichen Gottesverständnis oder Gottesbild aufgewachsen, welches dann durch die Einsichten der Jugend und des Erwachsenwerdens erschüttert wurde. Für mich war die Welt immer sehr klar diesseitig, alles musste durch Gründe, die sich in der erkennbaren Welt befanden, erklärt werden können, und selbst wo das nicht möglich war, hatte ich einen fröhlichen Optimismus, dass dies irgendwann möglich sein würde. Durch das Studium der Philosophie wurde ich auf theologische Fragen aufmerksam. Sie kamen mir gleichsam wie Übungsaufgaben vor, es war reizvoll, eine theologische Frage zu durchdenken, obgleich man die Prämissen nicht glaubt. Wie lässt sich etwa die Allwissenheit eines Gottes mit der Freiheit des Menschen zusammendenken? Es ist ein glücklicher Umstand, dass ich mit dem Philosophiestudium erst begonnen habe, als die leidenschaftlich-ideologischen Überzeugungen der Jugend schon lange hinter mir lagen und mir durch eine Reihe von schmerzhaften Einsichten von Fehleinschätzungen klar wurde, dass die Dinge in der Welt nicht 9 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Persönliche Vorbemerkung
so einfach liegen wie der jugendlich-selbstbewusste Verstand es in seiner ersten Anmaßung geglaubt hatte. Das Studium der Philosophie stellte eine Reihe weiterer selbstverständlicher Überzeugungen, die ich in den ersten Jahrzehnten meines Lebens nie bedacht hatte, infrage. So stellte sich etwa die Frage der Existenz der Dinge völlig neu und viel komplexer und vielseitiger, als ich es zuvor für möglich gehalten hatte. Natürlich hatte ich hier und da, angeregt vielleicht durch einen Science-Fiction-Roman, darüber nachgedacht, dass alles nur vorgespielt sein könnte, dass die Welt gar nicht real sein könnte – aber das Existenzproblem in seiner Vielschichtigkeit war mir bis dahin unbekannt geblieben. Der spielerische Drang des Philosophierenden dehnte die Gedankengänge sogleich auf die Gestalten des Glaubens, auf Gott und die Seele aus, und bemerkte, dass die Dinge auch hier nicht so einfach liegen, wie zuvor gedacht. Dann begannen die Auseinandersetzungen mit wissenschaftsphilosophischen, politischen und moralischen Fragen. Immer wieder kam bei der Suche nach der Herkunft von Überzeugungen, Urteilsmaßstäben und Hoffnungen die Möglichkeit eines irgendwie Vorgängigem und Jenseitigem in den Blick. Damit wuchs der Wunsch, die Frage nach der Plausibilität des Gottesglaubens systematischer zu durchdenken. Dieses Buch ist das Ergebnis. Glaube ich nun an Gott? Glaube ich jetzt, dass es einen Gott »gibt«? Die ganz persönliche Antwort darauf lautet: Nein, in letzter Konsequenz und tief im Innern meiner Gewissheiten und Zweifel hat sich der Gottesglaube bisher nicht festsetzen können. Auch wenn meine Argumente, die ich in den folgenden Kapiteln entwickle, durchaus die Plausibilität des Gottesglaubens zeigen, können sie mich letztlich nicht dazu bringen, der Existenz eines unendlichen Geistes sicher zu sein, der Verursacher all dessen ist, was wir ohne ihn prinzipiell nicht erklären können. Das liegt nicht daran, dass ich am Ende die Argumente doch nicht für plausibel halte – es ist eher ein Zeichen dafür, dass Plausibilität und Überzeugungskraft eben beim Menschen nicht übereinstimmen müssen. Mein eigener, in der Jugend geprägter Atheismus ist doch so stark, dass er sich von plausiblen Argumenten nicht erschüttern lässt – zumal diese Argumente die Existenz Gottes ja nicht »be10 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Persönliche Vorbemerkung
weisen« – vielleicht kann man ja sogar sagen, dass es kein Argument gibt, das die Existenz von irgendwas »beweist«. Nein, ich glaube auch heute nicht an einen Gott. Das klingt vielleicht überraschend und mancher wird sich nun fragen, was das ganze Buch dann soll. Ich will mit diesem Buch vor allem für Toleranz werben, ich will denen, die nicht an Gott glauben, zeigen, dass ihr Unglaube nicht plausibler ist als der Glaube von anderen. Denen, die geglaubt haben, und die nicht mehr sicher sind, ob sie glauben oder nicht, kann mein Buch vielleicht eine Reibungsfläche bieten, an der sie die Sicherheiten oder Unsicherheiten, die sie haben, selbst prüfen können. Und denen, die glauben, soll mein Buch Anregung sein für die Frage, was ihren Glauben eigentlich ausmacht. Und vielleicht kann ich ihnen etwas Selbstbewusstsein geben, wenn sie lesen, dass auch einer, der sagt, dass er selbst nicht an Gott glaubt, zu dem Ergebnis kommt, dass ihr Glaube plausibel ist.
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Vorwort
In diesem Buch soll zweierlei geleistet werden. Zum einen soll es zeigen, dass es durchaus plausibel ist, an die Existenz eines göttlichen Wesens zu glauben. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, was wir aus diesen Begründungen heraus über dieses göttliche Wesen sagen können. 1 Um die erste These zu begründen, wird zunächst die Frage zu beantworten sein, was unter dem Begriff der Existenz überhaupt zu verstehen ist. Wir werden deshalb im ersten Kapitel verschiedene Situationen, in denen wir sagen, dass es dies und das gibt, dass dieses und jenes existiert, genauer betrachten. Damit soll begründet werden, dass es nicht nur die physischen Dinge in Zeit und Raum sind, von denen wir in sinnvoller Weise sagen, dass sie existieren. Natürlich könnte man den Begriff der Existenz so stark und eng fassen. Das würde aber zu Problemen führen, wenn wir Situationen in den Blick nehmen, in denen wir uns im Sprechen und Handeln so verhalten, als wenn etwas existiert, was aber nicht physisch in Zeit und Raum lokalisiert werden kann. Das erste Kapitel entwirft also noch kein Bild eines plausiblen Gottes, trotzdem werden wir dort immer wieder der Frage nach der Existenz Gottes begegnen, weil wir anhand der Existenzweisen anderer Sachverhalte das Verständnis von der Existenz Gottes reflektieren werden. Letztlich werden wir einen Existenzbegriff gewinnen, der auf alle Situationen anwendbar ist, in denen das menschliche Handeln sich erfolgreich, dauerhaft und begründet auf eine Existenzbehauptung stützt. Wenn wir erfolgreiches menschliches Verhalten nur sinnvoll erklären und verstehen können, wenn wir annehmen, dass derjenige, der sich da verhält, von einer Existenz begründet überzeugt ist, dann ist es vernünftig, dieser Existenz zuzustimmen. Mit dieser Vorarbeit machen sich das zweite und das dritte Ka13 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Vorwort
pitel daran, die Existenz eines göttlichen Wesens plausibel zu machen. Genauer, die Überzeugung von der Existenz eines solchen Wesens wird als Alternative zu anderen Erklärungsformen, die ohne diese Überzeugung auszukommen meinen, eingeführt und ihre Leistungsfähigkeit für das Verstehen der Welt wird an den Stellen untersucht, an denen die so genannten natürlichen Erklärungsverfahren an ihre Grenzen kommen. Was bedeutet dabei das Attribut »plausibel«? Wir sagen, es sei plausibel, etwas anzunehmen, zu glauben oder zu vermuten, und grenzen die betreffende Überzeugung vom Wissen auf der einen Seite und vom bloßen Meinen auf der anderen Seite ab. Diese Abgrenzungen sind im Einzelfall einer konkreten Überzeugung nicht immer einfach zu ziehen, aber es ist möglich, wenigsten prinzipiell die nötigen Unterscheidungen herauszuarbeiten. Wissen, so lautet ein alter philosophischer Satz, sei wahre, gerechtfertigte Überzeugung. 2 Dieser einfache Satz bringt uns jedoch nicht viel weiter, da wir sogleich klären müssten, was »wahr« und was »gerechtfertigt« ist. Für unsere Zwecke können wir diesen Satz aber so interpretieren, dass eine Überzeugung, die als Wissen bezeichnet wird, so begründet werden kann, dass niemand, der die Begründung hört und versteht, etwas Vernünftiges gegen sie vorbringen kann. Wir stellen uns also eine Runde von verständigen Sprechern vor, in der einer eine Überzeugung vorbringt und begründet, und niemand von den anderen kann an dieser Begründung etwas aussetzen, sie leuchtet allen ein und die Art des Begründens wird von allen akzeptiert. Zweifelt trotzdem jemand an der Überzeugung, und wird seine Begründung dieses Zweifels von den anderen Sprechern abgelehnt, so können wir annehmen, dass in dieser Runde die geäußerte und begründete Überzeugung als Wissen gilt. Dem gegenüber würde in dieser Runde eine Überzeugung als bloße Meinung gelten, wenn der, der sie äußert, entweder nicht bereit ist, sie überhaupt zu begründen, oder wenn die Weise, die Begründung vorzutragen, den Gepflogenheiten des Begründens in dieser Runde überhaupt nicht entspricht, sodass die Begründungen den Umstehenden nicht einleuchten, sondern als absurd angesehen werden. 14 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Vorwort
Eine Überzeugung wäre dann in dieser Runde plausibel, wenn ihre Begründung von den anderen Sprechern durchaus als nachvollziehbar anerkannt wird, aber keinen zwingenden Charakter hat. Andere Sprecher können Begründungen vorbringen, die für das Gegenteil der vorgebrachten Überzeugung sprechen, aber ebenso wenig zwingend erscheinen. Es ist also möglich, eine plausible Überzeugung zu bezweifeln, ohne dass dieser Zweifel sogleich als bloße Meinung gelten würde. Plausible Überzeugungen sind dynamisch und nicht festgelegt, sie werden im Ringen um Begründungen stabilisiert und durch begründeten Zweifel destabilisiert. Dabei verändern sich die Überzeugungen selbst, genauer, ihr Inhalt, das Bild von ihrem Gegenstand kann genauer, detailreicher und bestimmter oder auch verschwommener und unklarer werden. Auf dem Wege der Begründung und Plausibilisierung einer Überzeugung entsteht oft erst eine genaue Vorstellung von dem, wovon man überzeugt ist. Wir werden den Begriff Gott nicht vorab allgemein zu fassen versuchen, vielmehr werden wir ein plausibles Verständnis von Gott aus den Schwierigkeiten gewinnen, die ein Weltbild ohne Gott aufwirft. Was mit dem Begriff Gott gemeint ist, werden wir erst im Laufe der Überlegungen der weiteren Kapitel bestimmen können. Nach und nach wird sich ein Verständnis von dieser Gestalt, diesem Gegenüber, herausbilden. Es mag sein, dass sich die prinzipiellen Schwierigkeiten des naturalistisch-materialistischen Weltbildes, die im Weiteren aufgezeigt und erläutert werden, auch auf andere Weise plausibel überwinden lassen. Allerdings scheint ein konsistenter Ansatz dafür weit und breit nicht in Sicht zu sein. Die Kapitel 2 und 3 dieses Buches zeigen die Schwierigkeiten im Einzelnen auf und prüfen, mit welcher Gottesvorstellung ihnen begegnet werden kann. Im zweiten Kapitel geht es um die Existenz des (menschlichen) Geistes, der sich in einem Ich und einem Du, einem Er und einem Sie artikuliert. Wir werden das Erleben dieses Geistes in der Begegnung mit der Außenwelt, insbesondere mit der Wildnis, mit den anderen, also dem Du, dem Er, dem Sie und dem Wir, sowie schließlich mit sich selbst untersuchen. Wir werden sehen, dass der Mensch als Subjekt, das Ich sagen kann, das Schönes empfin15 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Vorwort
den kann und schützen will und das mit seinem Gewissen das Gute und das Böse unterscheiden kann, in dieser selbst-bewussten Subjektivität nicht auf bloße Materie reduziert werden kann. Von dieser Einsicht aus werden wir uns auf die Suche nach einem unendlichen Geist machen, der als Verursacher dieser Subjektivität infrage kommt. Im dritten Kapitel wenden wir uns der zweiten großen Schwierigkeit der natürlich-materialistischen Welterklärung zu: der Frage, warum es überhaupt Naturgesetze gibt, mit denen sich etwas auf natürliche Weise erklären lässt, und wie es sein kann, dass es solche Gesetze auf verschiedenen Ebenen der Erklärung gibt – und warum wir schließlich Wesen sind, die solche Gesetze auf jeder Ebene sehen und verstehen können. Mit dieser letzten Frage schließt sich der Bogen zurück zu den Fragen der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit, die den Anfang im zweiten Kapitel machen. Beide Fragenkomplexe gehören am Ende zusammen. Aus der Art, wie plausible Begründungen für die Existenz eines Gottes gefunden werden können, müssen sich natürlich auch Hinweise ergeben, was für ein Gott sich da existierend zu erkennen gibt. Auch wenn, das sei schon vorweg gesagt, das göttliche Wesen für den endlichen menschlichen Geist nicht vollständig durchschaubar und erkennbar ist, lassen sich einige Thesen ableiten und begründen, die formulieren, was für ein Gott da existiert. Greift er ins Geschehen ein, ist er allmächtig, ist er gut? Müssen wir ihm gehorchen? Ist er gar ein strafender Gott? Bestimmt er unser Leben vorher? Gibt es Grund zu der Annahme, dass er uns hilft, wenn wir ihn bitten? Gibt es gar Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode in Gottes Obhut? Antworten auf diese Fragen werden sich plausibel ergeben, wenn wir die Begründungen für die Existenz eines göttlichen Wesens gefunden haben.
16 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
Existiert Gott? Gibt es einen Gott, oder gibt es vielleicht sogar mehrere Götter? Gibt es Engel und Teufel? Gibt es ein »höheres Wesen« oder sogar mehrere? Wenn man solche Fragen stellt und eine Antwort finden will, dann muss man zuerst einmal klären, was man eigentlich unter »existieren« versteht. Wenn Menschen über die Frage unterschiedlicher Meinung sind, ob etwas existiert, und wenn man das Gefühl hat, sie werden auch nach langer Diskussion nicht zu einer Einigung in dieser Frage kommen, dann ist es sinnvoll, zu fragen, ob sie überhaupt das gleiche unter »Existenz« verstehen. 3 Diskussionen über Begriffe wie Existenz haben allerdings etwas Eigentümliches. Im ersten Moment werden viele sagen, dass man eine solche Diskussion gar nicht führen muss, weil es doch »völlig klar« ist, was so ein Begriff bedeutet. Wir verwenden diese Wörter so selbstverständlich, dass wir meinen, über ihre Bedeutung völlig im Klaren zu sein. Aber wenn man anfängt, zu erklären, was so ein Wort wirklich bedeutet, wo man es sinnvoll verwenden kann und wo nicht, und was man tatsächlich meint, wenn man es nutzt, wird es plötzlich schwierig. Wir können damit beginnen, das Wort, dessen Sinn wir suchen, zu umschreiben, indem wir andere Wörter und Formulierungen benutzen, die einen ähnlichen oder den gleichen Sinn haben. Wenn ich von der Existenz einer Sache oder einer Person oder eines Dings spreche, dann meine ich, dass es das »gibt«, dass es real ist, dass es da ist, dass es auch dann da ist, wenn ich nicht daran glaube, dass es ganz unabhängig davon ist, ob ich davon überhaupt weiß oder nicht. Vielleicht würde hier schon jemand widersprechen und sagen, dass es durchaus Dinge nur »für mich« geben kann, die für andere aber nicht existieren. Aber auf solche Fälle möchte ich mich hier nicht einlassen. Dinge, die es nur für eine einzelne Person gibt 17 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
und die andere grundsätzlich nicht wahrnehmen oder erkennen können, wollen wir hier außen vor lassen. Existenz würde dadurch ganz beliebig werden: Jeder kann behaupten und voller Überzeugung versichern, dass es für ihn dieses oder jenes, Götter und Engel, Zeitreisende und Gespenster gibt – wenn wir akzeptieren, dass es überhaupt keine Notwendigkeit gibt, dass andere Menschen diese Existenz auch einsehen und verstehen müssen, damit wir wirklich von der Existenz dieser Dinge sprechen können, wären alle folgenden Überlegungen sinnlos. 4
Die Dinge in Zeit und Raum Zur Existenz einer Sache gehört also, dass Menschen einander von dieser Existenz überzeugen können, dass jemand, der von der Existenz diese Sache überzeugt ist, anderen gegenüber nachvollziehbare Gründe angeben kann, die für diese Existenz sprechen. Ob dazu wirklich gehört, wie eben angedeutet, dass man diese Sache dann wahrnehmen oder erkennen kann, hängt davon ab, was man unter »Wahrnehmung« und »Erkennen« versteht. Das werden die folgenden Beispiele zeigen. Die einfachste Form des Existenznachweises einer Sache ist, dass man sie mit den eigenen Sinnesorganen sicher wahrnehmen und erkennen kann. Auf meinem Tisch hier gibt es ein Notebook, ein Smartphone und eine Blumenvase mit roten Tulpen. Diese Dinge existieren. Falls jemand daran zweifelt, könnte er vorbeikommen und nachsehen. Wer mit mir zusammen in diesem Raum anwesend ist, mich bei meiner Tätigkeit am Tisch beobachtet und bestreitet, dass es diese Dinge gibt, mit dem kann ich wohl überhaupt keine weitere sinnvolle Diskussion über die Existenz irgendwelcher Dinge führen. Allerdings gibt es schon in diesen Fällen ein paar Schwierigkeiten, denen wir bei der Frage nach der Existenz Gottes wieder begegnen werden. Stellen wir uns eine Person, nennen wir sie Bob, an einem Tisch vor, auf dem eine Vase mit Blumen steht. Bobs Smartphone klingelt und Alice ist am Telefon (Bob und Alice werden uns im 18 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
Weiteren öfter begegnen). Bob erzählt Alice, dass hier rote Tulpen auf dem Tisch stehen würden. Alice könnte jetzt behaupten, dass das nicht sein könne, weil es gar keine roten Tulpen gäbe, so etwas wie rote Tulpen also nicht existiert. Bob würde sie vielleicht bitten, vorbeizukommen und sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass hier auf diesem Tisch eben rote Tulpen stehen. Alice, kaum eingetreten, würde sogleich auf den Blumenstrauß auf Bobs Tisch schauen und sagen: »Das sind doch keine Tulpen, das sind Rosen!« – und sie könnte weiterhin behaupten, dass rote Tulpen nicht existieren. Vermutlich wären beide einer Meinung darüber, dass da irgendwas auf dem Tisch steht und dass es rot ist. Aber über die Frage, was das ist, wären sie uneins. Und auf Grundlage dieser Uneinigkeit könnten Alice und Bob auch uneins über die Frage sein, ob es bestimmte Dinge überhaupt gibt: Bob hält die Blumen auf seinem Tisch für Tulpen und ist deshalb sicher, dass es rote Tulpen gibt, Alice hält sie für Rosen und bleibt bei ihrer Sicherheit, dass es keine roten Tulpen gibt. Ich kann also mit jemandem darin übereinstimmen, dass es irgendein individuelles Ding hier an diesem Ort in diesem Moment gibt und zugleich in der Frage uneins sein, ob dieses offenbar vorliegende und existierende Ding ein Beleg dafür ist, dass es Dinge gibt, die ich mit einem gewissen Begriff kennzeichne. Wir müssen also erst einmal unterscheiden zwischen der Existenz von Individuen und der Existenz von Klassen, Arten, Sorten, Kategorien usw. Wir können uns schon an dieser Stelle vorstellen, dass Alice und Bob über die Existenz irgendwelcher Phänomene völlig einig sind und dass Bob diese Beobachtungen für Belege der Existenz Gottes hält, während Alice das für abwegig hält. Wir reden auch von der Existenz gewisser Dinge, die wir nicht direkt sehen oder wahrnehmen können, bei denen aber einzelne, beobachtbare Ereignisse und Sachen als Anzeichen für ihre Existenz genommen werden können. Die Blumen auf meinem Tisch sind für mich ein Zeichen dafür, dass es Tulpen gibt, sie sind für mich sogar ein sicherer Beleg für die Existenz von Tulpen, und damit meine ich nicht, dass es eine Blumenkategorie in der Biologie gibt, sondern dass es eine zusammengehörige Menge von Blumen gibt, die »die 19 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
Tulpen« sind und zu denen diese Blumen hier gehören. Es macht also einen Unterschied, ob ich nach der Existenz eines konkreten individuellen Dings frage, ohne darüber nachzudenken, was das ist, oder ob ich nach der Existenz von Dingen frage, die ich unter einem allgemeinen Begriff zusammenfasse. Ist die Frage nach der Existenz Gottes eine Frage nach der Existenz eines Individuums? Das scheint auf den ersten Blick ganz offensichtlich so zu sein. Deshalb wollen wir noch bei der Existenz eines Individuums bleiben. Dieser Blumenstrauß hier auf dem Tisch, dieses Ding, das ich als Blumenstrauß bezeichne, existiert, und das heißt, ganz einfach aufgefasst, es befindet sich an einer bestimmten Stelle im Raum, ich kann darauf zeigen und es damit lokalisieren, und es befindet sich dort zu einer bestimmten Zeit, es gab einen Moment, in dem es dort hinkam, und es wird einen Moment geben, in dem es dort wieder »verschwindet«, und zwischen diesen beiden Augenblicken ist es dort. Dieser einfache und alltägliche Existenzbegriff, dass es zu einem existierenden Ding ein Hier und ein Jetzt geben muss, in dem es existiert, dass es einen Platz haben muss und eine Zeit, ist der Ausgangspunkt aller weiteren Fragen nach dem Existieren. Er bezeichnet unser normales, ganz alltägliches Verständnis davon, was wir meinen, wenn wir darüber reden, dass ein bestimmtes Ding, das wir einzeln identifizieren können, wirklich existiert. Wenn wir von der Existenz Gottes sprechen, meinen wir dann eine solche Existenz? Müssten wir Gott irgendwo in Zeit und Raum lokalisieren können, um sagen zu können, dass es ihn gibt? Manchmal wird von atheistischer Seite – und damit meine ich jene Atheisten, die nicht nur nicht an Gott glauben, sondern aktiv versuchen, den Glauben an Gott zu widerlegen oder gar lächerlich zu machen – darauf bestanden, dass wir einen solchen Begriff von Existenz annehmen müssten, weil dieser Begriff der einzig mögliche ist. Wir werden gleich sehen, dass es selbstverständlich auch andere Bedeutungen geben muss, die das Wort Existenz haben kann. Der Gedanke, dass jemand, der glaubt, dass es einen Gott gibt, auch meinen müsste, dass man diesen Gott dann auch irgendwo im Raum antreffen müsste, kommt sicherlich von alten Geschichten, in denen Gott oder die Götter auf Bergen, in sehr 20 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
unzugänglichen Gegenden, vielleicht auch unter der Meeresoberfläche, oder im Himmel beheimatet wären. Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass die Gegenden, die man als Wohnsitz der Götter oder eines Gottes angesehen hat, niemals Teil der Welt waren, die für die Menschen zugänglich war, die die Menschen betreten konnten. Wenn man in einer Welt lebt, in der die Berggipfel, die Tiefen der Meere oder die Sphären über den Wolken für den Menschen unerreichbar erscheinen, dann kann man die Unerreichbarkeit, die unendliche Ferne, mit den Begriffen belegen, die diese Orte bezeichnen. Himmel und Meerestiefen – das bedeutet in so einer Welt eben gerade: jenseits der Grenzen der Welt, die wir betreten und direkt mit unseren fünf Alltagssinnen erfahren können. Von der Erfahrung Gottes, also von der Möglichkeit, Gott wahrzunehmen, werden wir später sprechen. Selbstverständlich war für Menschen, die an Gott glauben, zu allen Zeiten jedenfalls zweierlei: erstens – man kann Gott nicht direkt mit den fünf Sinnen wahrnehmen, man kann ihn nicht einfach sehen, hören, riechen, schmecken oder gar anfassen. Nur in ganz außergewöhnlichen Situationen kann es – vielleicht auch nur Einzelnen – möglich sein, Spuren oder Schatten Gottes zu sehen. Selbst das ist aber keineswegs notwendig. Zweitens ist aber ebenso klar, dass dem Menschen die Erfahrung Gottes möglich ist, dass er ihn sehen kann, wenn auch nicht mit den Augen, dass er ihn hören kann, wenn auch nicht mit den Ohren. Und diese Erfahrung machen Menschen auch immer wieder – wir werden uns mit diesen Erfahrungen später genauer beschäftigen. Jetzt gehen wir zunächst davon aus, dass es Erfahrungen jenseits der alltäglichen Sinneswahrnehmung gibt, die die Menschen sicher sein lassen, dass es einen Gott gibt. Die Antwort auf die Frage: »Wo ist dieser Gott, wenn er existiert?« wird immer lauten: »Jenseits der Grenzen unserer erfahrbaren Welt«. Nun wird man in einer Welt, die Grenzen des Erreichbaren kennt, dieses Jenseits recht einfach mit Worten bezeichnen können, die zugleich die Grenzen der Welt benennen: der Himmel, die Meerestiefen, die Gipfel der unerreichbaren Berge. All diese Worte sind nur Namen für die unerreichbaren Bezirke jenseits der Grenzen der Welt. 21 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
Wenn die Grenzen dieser Welt ausgedehnt, niedergerissen oder überwunden werden, bedeutet das nicht, dass die Erfahrung Gottes verschwindet – aber die Worte, die man dafür gefunden hatte, zu sagen, dass er sich jenseits der Grenzen unserer Welt »befindet«, sind nicht mehr geeignet, dieses Jenseits zu bezeichnen. Vom Himmel kann man allenfalls noch im metaphorischen Sinne sprechen. Gott »wird« dadurch nicht ortlos, er verliert nicht seinen »Wohnsitz« – er war zuvor schon ohne Ort. Die Ortlosigkeit hatte zuvor nur einen Namen, der jetzt nicht mehr genügt. Es ist also völlig verfehlt, sich darüber lustig zu machen, dass die Menschen irgendwann einmal geglaubt haben, Gott sei im Himmel. Diese Kritik ignoriert, dass zu der Zeit, als die Rede vom Gott im Himmel aufkam, der Himmel noch etwas anderes war, als er für uns heute ist. Zurück zum Begriff der Existenz, zur Frage, was es bedeutet, wenn man sagt, dass es etwas gibt. Der einfachste Nachweis, dass es ein konkretes, individuelles Ding gibt, dass es existiert, können wir in der Tat erbringen, indem wir darauf zeigen und damit feststellen, dass sich dieses Ding zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befunden hat. Allerdings ist dieser einfache Existenznachweis nicht frei von Schwierigkeiten. Die erste wollen wir an einem Beispiel erläutern, das uns gerade zufällig begegnet ist: der Himmel. Man kann auf ihn zeigen und in einem bestimmten Moment sagen: »Schau, man sieht den Himmel.« Man kann sagen, dass er blau ist, oder sogar, dass er hoch ist. Man kann sich darüber freuen, dass dieser Himmel, der sonnig-blaue, da ist. Aber »gibt es« den Himmel? Existiert er? Gerade weil wir wissen, dass man dort hinfliegen kann, wo man jetzt gerade den Himmel sieht, verstehen wir auch die, die sagen, dass es »den Himmel eigentlich gar nicht gibt«. Wir sehen das Flugzeug »am Himmel« – aber die Leute, die in dem Flugzeug sitzen, meinen nicht, gerade an der Oberfläche des Himmels entlangzufliegen. Man könnte einwenden, dass die Rede vom Himmel eben nur metaphorisch ist oder dass wir damit nur etwas abgekürzt sagen wollen, um uns umständliche wissenschaftliche Formulierungen zu ersparen. Aber zumeist ist die Rede vom Himmel nicht meta22 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
phorisch. Der Satz »Der Himmel ist blau« bedeutet wirklich, dass da etwas Blaues ist, und dieses etwas ist der Himmel. Man könnte sagen: Aus unserer Perspektive hier ist der Himmel Realität. Das Gleiche wird noch deutlicher, wenn man über den Begriff »Horizont« nachdenkt. Von meiner Perspektive hier ist der Ort des Horizonts ziemlich klar bestimmt, man kann ihn sogar mit mathematischen Hilfsmitteln bestimmen. Man kann sagen, was sich hinter dem Horizont befindet, man kann sagen, dass etwas am Horizont auftaucht, und all diese Aussagen sind, mit Ort und Zeitpunkt, exakt nachprüfbar. Trotzdem ist da kein Ding, das »der Horizont« ist, und genau genommen gibt es für jeden Menschen sogar einen eigenen Horizont. Ganz ähnlich wie jeder Mensch seinen eigenen Regenbogen hat: Das Licht, das von der Sonne kommend auf die Wassertropfen trifft, wird von jedem Tropfen gebrochen. Dabei wirkt jeder Tropfen wie ein Prisma, und von dem einen Tropfen kommt das rote Licht zu mir, von dem anderen das gelbe. Aber die Person, die neben mir steht, sieht zwar, wie wir sagen, den gleichen Regenbogen, aber »ihr« Regenbogen wird von anderen Tropfen gebildet als »meiner«. Und wenn wir uns bewegen, dann »bewegt« sich auch der Regenbogen – ganz abgesehen davon, dass die Tropfen ja fallen und in jedem Moment das rote und das gelbe Licht von anderen Tropfen zu mir geworfen wird als im Moment davor. Existiert der Regenbogen? Auch hier gilt: Wo sich, von mir aus gesehen, der Bogen »befindet« und wann genau er dort »entsteht«, lässt sich ganz genau ausrechnen. Aber die Person, die sich genau zu diesem Zeitpunkt genau an diesem Ort befindet, steht einfach nur im Regen. Ich werde im Weiteren nicht behaupten, dass Gott im gleichen Sinne existiert wie der Himmel, der Horizont oder der Regenbogen. Die Beispiele sollen nur zeigen, dass es selbst mit der Existenz von Dingen, die wir genau im Raum und in der Zeit lokalisieren können, nicht so einfach ist. Wissenschaftler würden vielleicht sagen, dass es tatsächlich keinen Himmel, keinen Horizont und keinen Regenbogen gibt. Sie stellen sich sozusagen außerhalb der alltäglichen Welt auf und erklären, dass dieses und jenes dem unwissenschaftlichen Menschen eben so erscheint, als 23 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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sei da ein Himmel, ein Horizont, ein Regenbogen. Allerdings stellt uns diese wissenschaftliche Sichtweise vor enorme Schwierigkeiten, wenn wir bedenken, dass wir über all diese Dinge richtige, überprüfbare Aussagen machen können und dass wir sehr erfolgreich sind, wenn wir auf diese Aussagen unser Handeln aufbauen. Wenn jemand sagt: Der Himmel ist blau, heute wird ein schöner Tag, pack Sonnencreme ein, sonst bekommst du einen Sonnenbrand – dann spricht er viele richtige Dinge aus, und wer da antwortet: »Wovon redest du, es gibt gar keinen Himmel« – der klingt in diesem Moment nicht sehr vernünftig. In der letzten Konsequenz des wissenschaftlichen Denkens gäbe es ja nicht nur den Himmel nicht, sondern auch nicht diesen Tisch hier, nicht das Haus, in dem ich gerade sitze, all das wären, wie der Regenbogen, nur erklärbare Erscheinungen, wo »in Wahrheit« nur Moleküle, oder gar nur Elementarteilchen »existierten« – deren Existenz, wie wir später sehen werden, uns allerdings vor neue Herausforderungen stellt. Es gibt noch ein anderes Problem mit der Existenz von Dingen, auf die wir zeigen und die wir damit in Zeit und Raum genau lokalisieren können. Es muss gelingen, die flüchtigen Erscheinungen von den tatsächlich existierenden Dingen zu unterscheiden. Ein Beispiel: Bob steht nachts am Fenster und sieht in die Nacht. Plötzlich entdeckt er einen grünen Schimmer am Horizont. Er ruft nach Alice und sagt: Schau, ich glaube, da ist ein Nordlicht! – Aber in dem Moment, in dem Alice neben ihm steht und hinausschaut, ist dort nichts mehr zu sehen. Die Existenz eines Nordlichtes hat sicherlich viel Ähnlichkeit mit der eines Regenbogens, wenn wir über dieses Beispiel weiter nachdenken. Nehmen wir für den Moment an, dass Regenbögen und Nordlichter gleichermaßen existieren. Es kann sein, dass Alice Bob einfach glaubt, dass da ein Nordlicht war. Es ist aber auch möglich, dass sie Zweifel hat. Es könnte sogar sein, dass Alice überzeugt davon ist, dass es in der Gegend, in der die beiden sich befinden, gar keine Nordlichter geben kann. Vielleicht werden beide noch eine Weile in die Nacht hinaus starren, dann wird Alice zu Bob sagen: »Wer weiß, was du da gesehen hast. Vielleicht ein Scheinwerferlicht von einem Auto?« Dass da 24 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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wirklich ein Nordlicht war, wird sie nicht glauben. Und vermutlich wird auch Bob zu zweifeln beginnen. Zur Existenz eines Dings gehört offenbar, dass man sich und andere davon überzeugen kann, und zwar immer wieder, dass das Ding da ist. Häufig nehmen wir irgendetwas wahr und interpretieren diese Wahrnehmung als etwas. Das war weiter oben schon mal zur Sprache gekommen, als es um rote Tulpen ging. Alice und Bob sahen beide die Blumen, aber er meinte, dass es Tulpen sind, während Alice sie für Rosen hielt, weil sie davon überzeugt war, dass es rote Tulpen gar nicht gibt. Der Fall liegt hier ähnlich und doch etwas anders. Bei den Blumen waren beide davon überzeugt und einig, dass da auf dem Tisch auf alle Fälle ein Objekt, ein Ding oder ein Gegenstand steht – ein Blumenstrauß. Uneinig waren sie darüber, um was es sich handelt, aber diese Uneinigkeit hatte auch mit unterschiedlichen Überzeugungen zu tun: Da Alice sicher war, dass es keine roten Tulpen gibt, war sie auch sicher, dass dies keine Tulpen sind. Im Falle des Nordlichts scheint zwischen Alice und Bob Uneinigkeit darüber zu bestehen, ob da überhaupt irgendetwas war. Bob meint, da war ein Nordlicht. Da er es nicht erneut zeigen kann, wird er womöglich selbst unsicher. Alice meint, da war gar nichts – höchstens ein Auto, das vorübergefahren ist und im Dunst für ein bläuliches Lichtspiel gesorgt hat. Genau besehen ist der Unterschied zwischen den beiden Situationen gar nicht so groß. Denn auch bei der Leuchterscheinung in der Nacht könnte Alice zugeben: »Klar, bestimmt war da irgendwas. Es war aber kein Nordlicht.« Ebenso ist es bei den Blumen: »Klar stehen da irgendwelche Blumen. Es sind aber keine roten Tulpen.« Zur Existenz gehört also, dass wir Wahrnehmungen immer wieder und sicher als etwas Bestimmtes auffassen können und dass wir diese Auffassung in einem Gespräch mit anderen Personen verteidigen können. 5 Zu dieser Verteidigung ist zum einen eine eigene Sicherheit über die Existenz des Dinges, welches jemand wahrgenommen hat, erforderlich. Wenn Bob selbst nicht sicher ist, dass da ein Nordlicht war, wird er dessen Existenz auch nicht verteidigen können. Zum anderen ist notwendig, dass je25 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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mand Gründe angeben kann, die für andere akzeptabel sind, und aus denen plausibel geschlussfolgert werden kann, dass da wirklich etwas ist, aber nicht irgendetwas, sondern gerade das, was derjenige dort zu sehen meint. Das bedeutet, dass eigentlich fast immer, wenn von Existenz gesprochen wird, nicht einfach gemeint ist, dass da irgendwas existiert, sondern etwas, was auf bestimmte Weise aufgefasst werden kann. Stellen wir uns folgenden Dialog vor: Bob sagt zu Alice: »Schau, da ist etwas!« Darauf könnte Alice antworten: »Was ist denn da?« – vermutlich ist sie mit der Antwort von Bob: »Ich habe keine Ahnung, da ist irgendwas!« nicht zufrieden. Sie will wissen, was da ist, und wenn Bob keine Idee hat, wie er diese Frage auch nur vorläufig oder grob beantworten kann, wird Alice möglicherweise sagen: »Da ist nichts!« Natürlich könnten beide gemeinsam eine Wahrnehmung haben, die sie gemeinsam davon überzeugt sein lässt, dass dort »irgendwas« ist. Wir wissen aus solchen Situationen, dass es ein sehr unangenehmes Gefühl ist, wenn man dieses Irgendwas überhaupt nicht, auch nicht auf einen ganz groben und allgemeinen Begriff bringen kann. Alle Wahrnehmungen wollen wir, müssen wir sogar, auf einen Begriff bringen können, und dieser Begriff ist die gemeinsame Auffassung davon, was das Wahrgenommene sein könnte oder sogar ganz sicher ist. Diese Auffassung von Existenz erweckt den Eindruck, als ob Existenz nur darin bestehen würde, dass sich Menschen auf einen gewissen Begriff zum Verstehen von wiederkehrenden Wahrnehmungen einigen können. Da wir hier am Ende auf die Frage hinauswollen, ob Gott existiert, könnte ein Atheist einwenden, dass aber echte Existenz von der Auffassung und dem Verstehen derer, die etwas von dem existierenden Objekt wahrnehmen, unabhängig sein muss. Ob da ein Berg im Nebel existiert oder nicht, ist doch ganz unabhängig davon, ob sich Menschen bei der Beobachtung von Schatten, Schemen und flüchtigen Konturen im Nebel darauf einigen können, dass der Berg existiert oder nicht! Und so muss doch auch die Existenz Gottes ganz unabhängig davon sein, ob sich Menschen im Gespräch darüber verständigen, dass sie ge-
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wisse Wahrnehmungen als Zeichen der Existenz Gottes verstehen wollen oder nicht. Das ist völlig richtig und wird hier nicht bestritten. Die Frage ist aber, wie wir bei der Beurteilung der Existenz einer Sache, die nicht völlig klar und möglichst durch alle fünf Sinne vor uns steht, weiterkommen, wenn wir mit dem Konsens derer nicht zufrieden sind, die sich begründet darauf einigen können, dass das Ding existiert. Wobei »begründet« hier sehr vorsichtig verwendet werden muss, denn die Regeln des »Begründens« sind ja selbst von den Gewohnheiten der Gemeinschaft abhängig. Objektive Existenz einer Sache ist sicherlich unabhängig davon, ob wir wissen, dass die Sache existiert, oder nicht. Aber das bringt uns nicht weiter, denn letztlich geht es den Menschen nicht darum, was objektiv da ist, sondern um das, was sie wissen können. Es geht um die Frage, woher wir die Gewissheit nehmen, dass etwas existiert, von dem wir gewisse Indizien haben oder an dessen Existenz wir zweifeln. Zudem geht es nie um die Existenz von irgendetwas schlechthin, sondern immer um die Frage, was das Existierende ist, als was es für uns aufgefasst werden kann – und dieses Auffassen als etwas ist nie unabhängig von uns und unseren Begründungen. Dem müssen wir hier noch etwas genauer nachgehen, wenn klar werden soll, was unter »Existenz« verstanden werden kann, was es bedeutet, wenn Alice sagt und Bob zustimmt, dass da etwas »ist«. Johann Wolfgang Goethe hat diese Situation in seiner dramatischen Ballade vom Erlkönig eindringlich beschrieben. Der Sohn erblickt in der Landschaft den Erlkönig und dessen Töchter, er hört sogar die Stimme des Erlkönigs. Wir können sagen, er fasst seine Wahrnehmungen als den Erlkönig und seine Töchter auf. Der Vater, der natürlich die Existenz des Erlkönigs für unmöglich hält, versucht den Sohn zu beruhigen, indem er ihm erklärt, all das, was der Sohn sieht, sei nur »ein Nebelstreif« oder die »alten Weiden, so grau«. Und die Stimme, die der Sohn hört, ist, so versichert der Vater, nur der Wind, der »in dürren Blättern säuselt«. Über die Wahrnehmungen selbst sind Vater und Sohn völlig einig, aber die Frage, als was diese Wahrnehmungen aufgefasst wer27 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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den müssen, beantworten beide ganz verschieden. Von diesen unterschiedlichen Antworten hängt letztlich ab, ob sie an die Existenz des Erlkönigs glauben oder nicht. Aber auch umgekehrt: Da der Sohn die Existenz des Erlkönigs für möglich hält, kann er seine Wahrnehmungen auch als Erlkönig und als dessen Töchter auffassen, während der Vater sie nicht sehen kann, weil er bestreitet, dass es sie überhaupt gibt. Wie wir wissen, geht die Sache nicht gut aus. Das Kind stirbt, bevor die beiden ihr Ziel erreichen. Heutige Interpreten stehen ganz auf der Seite des Vaters und vermuten, das Kind habe wahrscheinlich hohes Fieber gehabt. Goethe selbst lässt die Sache offen, dass der Sohn schon zu Beginn Fieber gehabt hätte, können wir aus dem Text auch nicht schließen. Fest steht aber: Da war etwas, was der Vater nicht gesehen hat. Er hat alle Anzeichen, die für die Existenz einer Gefahr sprachen, als Täuschungen gedeutet und sie auf einfache, in Raum und Zeit existierende Dinge zurückgeführt. Am Ende hatte er sich tragisch geirrt, ganz unabhängig davon, ob der Sohn mit seinen Wahrnehmungen im Recht war oder nicht. Da er es nicht für möglich hielt, dass da eine Gefahr sein könnte, hat er mit dem Kind nicht über die reale Gefahr, die dem Kind drohte, Einigkeit erzielen können. Der Konsens, dass da etwas sein kann, ist Voraussetzung dafür, dass Menschen darüber sprechen und Einigkeit erzielen können, dass da wirklich etwas ist und was es ist. Zurück zu Alice und Bob. Sie starren in den Nebel und diskutieren darüber, ob da »etwas ist« – etwas anderes als bloßer Nebel. Das setzt voraus, dass beide davon überzeugt sind, dass da etwas sein könnte. Sie müssen es beide zunächst für möglich halten, dass da überhaupt etwas ist – sonst werden sie jede Wahrnehmung des anderen, die auf etwas hinweisen könnte, als Täuschung abtun. Wenn sie sich in einem Haus auf dem flachen Land befinden, aus dessen Fenster sie noch gestern bis zum Horizont schauen konnten, dann werden sie nicht darüber reden, dass da ein Berg sein könnte. Jeder Schatten, jede Kontur, die sie sehen, wird für sie allenfalls Gegenstand eines Gesprächs über Täuschungen sein: »Schau, das sieht aus, als sei da ein Berg!«
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Auch Täuschungen sind aber irgendetwas. Auch die Täuschung hat ihre Ursache in etwas Realem. Wieder zeigt sich, dass Existenz etwas damit zu tun hat, dass wir die Wahrnehmung als etwas auffassen. Der Schatten im Nebel ist ein Berg, oder er ist eine Täuschung – und dabei steht das Wort »Täuschung« dafür, dass wir eigentlich meinen, da sei »nichts«. Wir könnten versuchen, ganz ohne das Wort »Täuschung« auszukommen. Dann würden wir bei jeder Wahrnehmung, die wir mit jemandem teilen können, sagen: Da ist »etwas«, aber es ist nichts von Bedeutung. Diese Überlegung rührt an dem tiefen und grundlegenden philosophischen Problem, das »etwas sein« genau genommen immer meint, dass da »etwas Bedeutsames« oder »etwas von Bedeutung« ist. Das Sein überhaupt und das Bedeutung-Haben gehören zusammen. Natürlich kann Alice sagen: »Da drüben ist ein Berg, aber er hat für mich keine Bedeutung« – und damit meint sie dann, dass der Berg da drüben in ihrem Leben keine Rolle spielt, weil sie womöglich gerade auf der Autobahn unterwegs ist von einem Meer zu einem anderen und weil sie sich für Berge ganz und gar nicht interessiert. Aber selbst dann hat der Berg, in einem etwas anderen Sinn, auch für Alice Bedeutung – eben als etwas Unwichtiges, Uninteressantes, Nicht-Relevantes. Und dass dieses Ding in der Ferne für Alice bedeutungslos (genauer eben: unwichtig) ist, das weiß sie daher so genau, weil sie weiß, dass das ein Berg ist. Würde sie es etwa für möglich halten, dass es sich bei dem, was sie da sieht, um eine Monsterwelle handelt, dann würde es mit ihrem Desinteresse schnell vorbei sein. In unsere konkreten Vermutungen über die Frage der Existenz eines Gegenstandes, für die einige Anzeichen sprechen, gehen also unsere Gewissheiten zu der Frage ein, was überhaupt sein kann. Wenn Alice und Bob im Nebel durch eine bergige Gegend wandern, dann werden sie eher bereit sein, aus Schatten und dunklen Konturen zwischen den Nebelschwaden zu schließen, dass da ein Berg ist, als wenn sie gerade im Flachland joggen. Weitere Sicherheit bringt ihnen, dass der jeweils andere ebenfalls meint, einen Berg zu sehen. Vielleicht erwarten sie sogar, aufgrund von Informationen, die sie von anderen erhalten haben, dass da ein Berg sein muss. Womöglich haben sie eine Landkarte bei sich und darin 29 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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ist in der Richtung, in der sie im Nebel Konturen erkennen, ein Berg eingezeichnet. Was aber gibt den beiden die letzte, unumstößliche Gewissheit, dass vor ihnen ein Berg ist? Es ist die direkte Konfrontation mit der Existenz des Berges. Die wirkliche Existenz des Berges wird dadurch bestätigt, dass Alice und Bob auf ihn hinaufklettern. Anders gesagt: Die Existenz eines Dings wird endgültig nicht durch gemeinsames Anstarren und Reden bestätigt. Nicht einmal durch den Einsatz aller fünf Sinne erlangen wir letzte Gewissheit davon, dass das Ding wirklich existiert und nicht nur eingebildet ist. Wirklich sicher sind wir seiner Existenz erst dadurch, dass sich die Annahme, dass das Ding existiert, im erfolgreichen praktischen Handeln bestätigt. Im Alltag ist uns die Bedeutung der Praxis für unsere Überzeugungen der Existenz eines Dings zumeist nicht bewusst. Das liegt daran, dass wir durch viele praktische Erfahrungen wissen, dass wir uns in alltäglichen Situationen zumeist auf das bloße Hinschauen verlassen können. Ich habe schon als Kleinkind so oft nach einer Tasse auf dem Tisch gegriffen, sie zum Mund geführt und daraus getrunken, jedes Mal in all den Jahren war die Tasse auch praktisch da, wenn ich sie vor mir stehen gesehen habe, dass mir nun der bloße Anblick der Tasse genügt, um ihrer praktischen Existenz sicher zu sein, um also zu wissen, dass diese Tasse auch meinem Handeln verfügbar ist. In unbekannten Situationen, in denen die Dinge nicht so vertraut sind und nicht so klar erkennbar sind, sieht es anders aus. Man erkennt es daran, dass man in einer Umgebung, die einem nicht so vertraut ist, auch »den eigenen Augen nicht traut«. Um zu sehen, ob da wirklich etwas ist, tritt man näher heran, geht herum, horcht und riecht und tastet. Der Tastsinn ist ja bereits der Übergang zum praktischen Handeln. Kann man das Ding anfassen, hochheben, umwerfen? Mit solchen »Experimenten« erkundet man auch, »was« das denn ist, was da zuvor nur zu sehen war. Es ist ganz erstaunlich, gerade der Sinn, dem wir im Alltag am meisten trauen, ist in besonderen Situationen am leichtesten zu betrügen. Um zu erfahren, ob da etwas ist, dessen wir uns nicht schon auf Anhieb völlig sicher sind, nützt uns das Sehen am we30 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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nigsten. Auch das Hören, der zweitwichtigste Sinn in vertrauten Situationen, lässt sich leicht täuschen. Genauer gesagt, wenn wir unsicher sind, trauen wir dem Hörsinn nicht mehr – dann fragt man sich schnell: »Habe ich das wirklich gehört, oder kam es mir nur so vor?« Wenn ich aber etwas rieche, dann bin ich sicher, dass ich etwas rieche, auch wenn ich es nicht höre und nicht sehe. Und am sichersten bin ich mir der Existenz eines Dings, wenn ich es tasten kann, wenn ich es in der Hand habe, seinen Konturen mit den Fingern nachspüre. Der Tastsinn ist Praxis, es ist der Sinn, der am meisten mit Handeln verbunden ist. Um zu tasten, muss ich mich bewegen, ich muss aktiv mit dem Gegenstand Kontakt aufnehmen. Wir fragen nach Gott und nach seiner Existenz. Natürlich werden wir Gott nicht mit den Händen greifen können und so kann man hier die Frage stellen, ob die Argumentation sich jetzt nicht verirrt hat. Aber zunächst geht es darum, zu verstehen, wann wir gerechtfertigt von der Existenz eines Etwas reden können. Die Überlegungen bis hierher sollten deutlich machen, dass die Überzeugung von einer Existenz dann am ehesten gerechtfertigt ist, wenn sie sich im praktischen Handeln bewährt. Die Sinne, die uns im Alltag zumeist die besten Dienste erweisen, das Sehen und das Hören, sind die schlechtesten Zeugen, wenn es um die Existenz unbekannter, unsicherer Objekte geht. Andere Sinne kommen ins Spiel, vor allem aber das praktische Handeln, in dem sich die Überzeugung, dass etwas existiert, bewährt. Diese Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Existenz Gottes ebenfalls durch die Praxis des menschlichen Handelns plausibel werden kann. Wenn die Überzeugung, dass Gott existiert, das Handeln bestimmt, und wenn dieses Handeln dann erfolgreich ist, dann spricht das für die Existenz Gottes. Allerdings werden wir es uns mit diesem Argument nicht so einfach machen, wie man es aus der Erfahrung einiger landläufiger Diskussionen zwischen Atheisten und Gläubigen vermuten könnte. Denn was Praxis in Bezug auf den Glauben an einen Gott überhaupt bedeutet und wie sich der Erfolg eines solchen Handelns dann bestimmen kann, das sind Fragen, die zuerst noch diskutiert werden 31 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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müssen. Dabei wird sich paradoxerweise herausstellen, dass es gerade für die Existenz Gottes spricht, dass auch ungläubige Menschen gewisse Praktiken ausführen, manchmal sogar mit der Begründung, dass es keinen Gott gäbe.
Organisationen und Institutionen Es gibt nicht nur die Dinge in Zeit und Raum, also nicht nur die Dinge, auf die wir buchstäblich zeigen, die wir anfassen können, von denen wir sagen können, dass sie sich zu diesem oder jenem Zeitpunkt an diesem oder jenem Ort befunden haben. Wenn von der Behauptung, dass Gott existiert, gefordert wird, dass Gott genau in diesem bisher beschriebenen Sinne existiert, dass man also auch für Gott einen Ort angeben können muss, an dem er sich zu jedem bestimmten Zeitpunkt aufhält, dann liegt das wohl daran, dass man sich Gott zunächst als eine Person vorstellt, und daran, dass man sich Personen eben nicht anders vorstellen kann, als dass sie zu jedem Zeitpunkt, in dem sie existieren, auch genau an einem bestimmten Ort existieren. An diesem Ort befindet sich die Person, dort denkt und entscheidet sie, von dort aus nimmt sie die Welt wahr und von dort aus spricht sie zu anderen. Wenn Gott dies alles tut, so könnte man argumentieren, dann muss er sich eben auch an einem solchen Ort befinden. Man könnte bereits dieses Verständnis der Existenz einer Person fragwürdig machen. Oben war von dem Gedicht »Erlkönig« des Dichters Johann Wolfgang Goethe die Rede. Existiert Goethe noch heute? Der physische Körper ist längst verschwunden, aber der Dichter spricht noch immer zu seinem Publikum. Wenn ich das Gedicht lese, egal, ob ich es im Internet gesucht habe oder ob ich ein Buch dazu aus dem Regal nehme und aufschlage, spricht Goethe zu mir. Die Welt ist voll von solchen Gestalten, Dichtern, Philosophen, Musikern, Malern und Bildhauern. Die Menschen sind schon lange verstorben, aber kann man deshalb sagen, dass Platon, Annette von Droste-Hülshoff, Ludwig van Beethoven, Vincent van Gogh oder Hannah Arendt nicht mehr »existieren«? Sie können das 32 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Handeln heute lebender Menschen beeinflussen, man kann sogar mit ihnen in ein Gespräch kommen. Sie sind gegenwärtig. Ihre Existenz ist nicht an die physische Existenz eines bestimmten Menschen gebunden. Hinzu kommt, dass man selbst bei einem lebenden, hier oder dort befindlichen Menschen eigentlich nicht sagen kann, dass er exakt da existiert, wo sich sein Körper befindet. Alice macht sich Notizen und Skizzen, um eine Entscheidung vorzubereiten. Diese Dokumente befinden sich nicht zu jedem Zeitpunkt da, wo sich Alices Körper befindet. Womöglich muss sie in räumlicher Nähe zu diesen Notizen sein, um ihre Entscheidung treffen zu können, vielleicht kann sie sich auch an die Notizen erinnern, weil sie sie einmal aufgeschrieben hat. Aber Bob kann, wenn er die Notizen findet und sieht, etwas über die Absichten und Entscheidungen von Alice erfahren, ohne dass sie körperlich anwesend ist. Das wäre sogar möglich, wenn Alice längst verstorben sein würde. Der Geist eines Menschen kann einem anderen Menschen gegenwärtig werden, wenn er Notizen oder Gegenstände von diesem findet, Büchersammlungen, Fotoalben und Ähnliches. Wir hinterlassen überall Spuren und diese Spuren sind Teil von uns. Sie überdauern unsere Anwesenheit an einem Ort und sogar die Spanne des einzelnen Lebens dessen, der sie hinterlassen hat. 6 Menschen gestalten ihre Wirklichkeit um, und jede dieser Veränderungen ist ein Teil ihrer Person. Die Geschichten, die Bob seiner Freundin Alice erzählt hat, sorgen dafür, dass er ihr auch dann präsent ist, dass er auch da bei ihr ist, wenn er weit entfernt ist. Unsere Vorfahren existieren noch so lange weiter, wie wir noch Geschichten von ihnen haben und selbst weiter erzählen. Die Existenz eines Menschen ist also nicht an das physische Vorhandensein seines Körpers an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gebunden. Menschen erzeugen Spuren in der Wirklichkeit und diese Spuren gehören, so lange sie als die Spuren dieser Menschen erkennbar sind, eben auch zu ihrer Existenz. Viele dieser Spuren sind Dokumente, Texte, Bilder, Noten u. ä., die von anderen Menschen gelesen werden können. Durch das Lesen solcher Spuren werden Menschen immer wieder neu präsent, ihre Existenz dauert fort. Wir lesen Spuren, um selbst 33 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Spuren zu erzeugen, in unseren Spuren sorgen wir dafür, dass die Spuren von anderen erhalten bleiben, oder sogar stärker werden. So kommt es zu dem, was wir als Unsterblichkeit bezeichnen. Auf solche religiösen Begriffe werden wir zurückkommen, wenn wir den Weg der Argumentation zur Existenz Gottes zu Ende gegangen sind. Hier wenden wir uns zunächst einer anderen Art von Existenz zu, die, wie sich zeigen wird, ebenfalls auf solchen Spuren basiert. Existiert die Bundesrepublik Deutschland? Noch ganz im Denken der Existenz physischer Dinge gefangen, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit befindlich sind und damit existieren, könnte man antworten: Natürlich existiert dieses Land. Es ist die Fläche in Europa, die durch die Grenzen zu den umliegenden Ländern begrenzt ist. Man kann diese Grenze sehen und man kann, etwa in der Nähe der Grenze auf belgischem Boden stehend, sagen: Da drüben, das ist die Bundesrepublik Deutschland. Man kann sogar einen bestimmten Zeitpunkt angeben, von dem an dieser Staat existierte, man kann seine räumliche Veränderung angeben, ebenfalls mit bestimmten Zeitpunkten verknüpft. Diese Sicht auf die Frage, was denn so ein Land oder Staat ist (zwischen beidem gibt es ja Unterschiede, die für unsere Frage wichtig sind) und wie es als physisches Ding existiert, wirft aber eine Reihe von Fragen auf. Welche physischen Objekte genau bilden denn das Land? Die Steine, Bäume, Häuser? Das Wasser, der Untergrund? Bis zu welcher Tiefe, bis zu welcher Höhe? Einige dieser Fragen hat man tatsächlich irgendwo geklärt und beantwortet, und für die Art dieser Antworten werden wir uns gleich noch interessieren. Die Bundesrepublik Deutschland mit einer bestimmten Fläche, oder einem räumlichen Gebilde, das einen bestimmten Bereich ober- und unterhalb dieser Fläche umfasst, zu identifizieren, bringt aber noch andere Schwierigkeiten mit sich: denn auf dieser Fläche existieren noch andere Dinge, die aber nicht Teil der Bundesrepublik sind – z. B. Religionsgemeinschaften, Unternehmen, Familien, Fußballmannschaften und Organisationen von Fußballmannschaften, wie etwa die FIFA. 34 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Wenn ein Ding aus Teilen besteht, dann können diese Teile natürlich auch an der Stelle sein wie das ganze Ding, das sie bilden. Ein Auto steht in der Garage, und damit befinden sich die Räder, der Motor, die Sitze usw. auch genau an dem Ort wie das Auto. Es gehört sogar zur Existenz eines physischen Objektes, dass seine Teile sich da befinden, wo sich auch das Objekt befindet, das aus ihnen zusammengesetzt ist. Was befindet sich noch an der Stelle, wo man die Bundesrepublik Deutschland lokalisieren kann? Alice und Bob z. B., die Bürger dieses Staates sind. Die gehören allerdings auch zu diesem Staat, wenn sie sich nicht auf seinem Territorium befinden – zugleich befinden sich dort Menschen, die Bürger anderer Staaten sind. Dann befinden sich dort auch Unternehmen, die allerdings auch teilweise in anderen Staaten angesiedelt sein können, Kirchen und andere internationale Organisationen, Vereine, die manchmal sogar ausdrücklich ihre Staatsferne betonen. Man könnte sagen, dass sich all diese Organisationen, Strukturen und Personen zwar auf dem Territorium des Staates befinden, aber nicht Teile des Staates sind. Der Staat selbst wäre dann eben genau dieses Territorium. Ein Staat kann aber auch ohne Territorium existieren, nämlich genau dann, wenn er von Personen proklamiert wird und von anderen anerkannt wird. Es ist also schwierig, einen Staat als ein physisches Objekt, das in einem bestimmten Zeitabschnitt einen bestimmten Raum einnimmt, aufzufassen. Und noch schwieriger ist das für die weiteren Gebilde, die eben bereits genannt wurden: Familien, Vereine, Parteien, Unternehmen, Behörden und andere Institutionen. Zwar sind diese zumeist auch mit einem Ort verbunden, sie haben einen Wohnsitz oder einen Unternehmenssitz oder ein Büro, aber diese Orte sind nicht die jeweilige Gemeinschaft. Gemeinschaften, so sollen hier im Weiteren solche mehr oder weniger festen Zusammenschlüsse von Personen genannt werden, existieren also auf andere Weise, als es physische Objekte tun. Warum ist das für die Frage nach der Existenz Gottes wichtig? Zum einen, weil uns die Existenz solcher Gemeinschaften auf die Spur von anderen Weisen des Existierens bringt, als wir sie bei physischen Dingen als selbstverständlich und fast notwendig an35 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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gesehen haben. Wenn wir einsehen, dass es eben noch andere Formen des Existierens gibt, dann lohnt sich auch die Frage nach der Existenzweise Gottes, die ja dann auch von anderer Art sein kann als die eines physischen Dings oder einer physisch existierenden Person. Zum anderen könnte Gott ja auch eine bloße Metapher oder Abkürzung für etwas sein, was wir hier als Gemeinschaft bezeichnen. Eben war schon von den Religionsgemeinschaften die Rede, auch der Begriff Glaubensgemeinschaft ist geläufig. Es wäre möglich, dass Gott im Kern nichts weiter ist als eben die Gemeinschaft der Gläubigen, die von seiner Existenz überzeugt ist. Um diesen Gedanken zu prüfen, ist es notwendig, die Existenzweise solcher Gemeinschaften zu verstehen. Gemeinschaften haben mit Personen eine wichtige Gemeinsamkeit, die für die Frage nach der Weise, in der Gott existieren könnte, interessant ist: Sie haben Ziele, sie behaupten etwas, sie handeln. Gerade während diese Zeilen geschrieben werden, hat die SPD sich auf ihrem Parteitag entschieden, Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU aufzunehmen. Sie hat dafür Ziele formuliert, die sie in diesen Verhandlungen durchsetzen will. So sprechen wir auch von anderen Gemeinschaften: Unternehmen formulieren Botschaften an ihre Kunden, sie setzen sich Umsatzziele, sie handeln nachhaltig oder eigennützig. 7 Man könnte versuchen, die Aussagen, Ziele und Handlungen von Gemeinschaften auf die Aussagen, Ziele und Handlungen von Einzelpersonen zu reduzieren – aber das ist nicht so einfach. Womöglich will kein einziger SPD-Politiker und keine einzige Parteitagsdelegierte wirklich Koalitionsgespräche, die Politiker haben vielleicht gar keine Lust auf Verhandlungen mit den CDU-Politikern, die Delegierten haben Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung und Sorge, dass die Mitglieder an der Basis dagegen sind. Die Entscheidung für die Verhandlungen lässt sich also nicht einzelnen Personen zuordnen, sondern nur der Organisation als Ganzer, dem Parteitag selbst. Und die Ziele, die damit verbunden sind, die Handlungen, die nun folgen, ebenfalls, auch wenn die Organisation natürlich handelnde Personen braucht, um handeln zu können und Ziele zu erreichen. 36 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Auf der Suche nach der Möglichkeit, Existenz von etwas zu verstehen, was denkt, meint, spricht und zielgerichtet handelt, aber kein Mensch ist, der an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aufzufinden ist, ist es also sinnvoll, sich mit der Existenzweise von Organisationen zu beschäftigen, auch wenn hier, das sei vorweggeschickt, nicht die These vertreten wird, Gott sei nichts weiter als die Organisation derer, die an Gott glauben. Allerdings wird uns in der Weise, wie bestimmte Organisationen existieren, ihre Ziele formulieren und handeln, etwas begegnen, was uns den Glauben an einen Gott plausibel macht. Doch dazu später. Bevor hier die ganz großen Organisationen wie Parteien, Unternehmen und Kirchen sowie der Staat auf ihre Existenzweise hin untersucht werden, sollen kleinere, einfachere Formen betrachtet werden. Ein Beispiel: Alice und Bob beschließen, zusammen mit ein paar Freunden eine Doppelkopfrunde ins Leben zu rufen. Tatsächlich kommt eine Gruppe von Freunden zusammen, die sich verabreden, an jedem ersten Montag im Monat in der Kneipe nebenan ab 20:00 Uhr Doppelkopf zu spielen. In welchem Sinne existiert diese Gruppe, diese Runde? Man könnte zunächst sagen, dass sie jeden ersten Montag im Monat abends in dieser Kneipe existiert. Man kann da sogar hingehen, kann sie sehen und hören. Man kann zu dem Tisch der Kartenspieler hinüberzeigen und sagen: Das da ist die Doppelkopfrunde von Alice und Bob. Vielleicht würde auch jemand sagen: Da sitzen Alice und Bob mit ihren Freunden und spielen Doppelkopf. Aber wenn beim nächsten Termin ausgerechnet die beiden nicht da sind, stattdessen vielleicht zwei andere Freunde dabei sind, dann würden wir immer noch sagen: Das ist wieder die Doppelkopfrunde von Alice und Bob. Also existiert da etwas, die Gruppe, das die bloße Aufzählung der Personen, die dabei sind, und die Nennung der Tätigkeit, die sie ausführen, übersteigt. Dadurch, dass diese Leute etwas zusammen tun, ist etwas entstanden, was mehr ist als diese Leute. Man könnte, zu vorgerückter Stunde, darüber klagen, dass die Gruppe da am Tisch ziemlich laut wird und andere Gäste stört, ohne zu meinen, dass jeder Einzelne, der zur Gruppe gehört, laut gewor37 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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den ist. Der Wirt könnte, wenn jemand einen Tisch für den ersten Montagabend im Monat reservieren möchte, sagen: Da habe ich immer die Doppelkopfrunde, die will gern diesen Tisch haben – ohne dass jeder Einzelne oder auch nur eine Mehrheit der Teilnehmer je gesagt hätte, dass dieser Tisch zu bevorzugen ist. Ferner ist es möglich, dass die Teilnehmer eines schönen Abends verabreden, am Wochenende gemeinsam nach Holland zum Surfen zu fahren. Sie würden dann anderen erzählen, sie seien mit der Doppelkopfrunde nach Holland gefahren, ungeachtet dessen, dass sie in Holland nicht Doppelkopf gespielt haben, dass dort gar nicht alle Teilnehmer mitgefahren sind und dass vielleicht sogar weitere Personen, die überhaupt nicht wissen, was Doppelkopf ist, in Holland beim Surfen dabei waren. Existiert die Runde auch noch am Dienstag und an all den anderen Tagen, an denen sie sich nicht an jenem Kneipentisch trifft? Man könnte vielleicht sagen, dass sie »schläft« – denn sie existiert weiter in den Absichten ihrer Teilnehmer, in den Eintragungen in den Terminkalendern und im Reservierungsbuch der Kneipe. Sie existiert auch in den Gesprächen der Teilnehmer, die untereinander oder mit anderen Freunden über den netten Abend reden, den sie zusammen hatten. Die Existenz solcher informeller Gruppen ist sicherlich relativ flüchtig, und es kann sein, dass sie sich wieder auflösen, dass sie wieder verschwinden, ohne dass es jemand bemerkt. Vielleicht findet man einfach nach der Sommerpause keinen passenden Termin, man verspricht einander, es wieder zu versuchen, aber es wird nichts daraus. Zu der Existenz einer Gruppe gehört Verbindlichkeit, es gehört dazu eine gewisse Verlässlichkeit der Teilnehmer, die Existenz der Gruppe sicherzustellen. Ohne die Teilnehmer gibt es keine Gruppe, aber die Gruppe, nicht die einzelnen Personen, die dazu gehören, fordert die Einhaltung der Verlässlichkeit auch ein. Weil Alice weiß, dass die Gruppe wartet und von ihr erwartet, dass sie kommt, geht sie zum vereinbarten Treffpunkt, auch wenn sie nicht sicher ist, ob Bob oder irgendein anderer konkreter Freund dort auch warten wird. Der Tisch ist reserviert, der Wirt wird den Tisch freihalten, also sagt man sich auch an Abenden, an denen 38 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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man sich auch anderswo zum Grillen treffen könnte: Nein, an diesem Tag gehen wir Doppelkopf spielen. Überhaupt führt die Einigung auf die Regelmäßigkeit des Treffens und des Kartenspiels dazu, dass es tatsächlich zum regelmäßigen Treffen kommt: Wie oft haben Alice und Bob zu ihren Freunden schon gesagt: Lasst uns an diesem Ort und an dem regelmäßigen Termin festhalten, denn wenn wir das einmal ändern, dann wird es irgendwann gar nichts mehr mit dem Treffen. Zur Existenz einer Gruppe sind weniger die konkreten Personen nötig, die von sich sagen, dass sie zu einer Gruppe gehören. Es kann Gruppen von Menschen geben, die immer wieder darüber reden, dass man endlich wieder einmal zusammen Doppelkopf spielen sollte, die es aber nie tun. Keiner wird akzeptieren, dass diese Leute sagen, wir haben eine Doppelkopfrunde, die gibt es wirklich. Zur Existenz einer Gruppe gehört, dass sie Regeln hat, die eingehalten werden, und Personen, die Mitglieder der Gruppe, die sich verlässlich an die Regeln halten. Dadurch entsteht ein Kollektiv, ein kollektives Wesen beginnt damit zu existieren, dass es Regeln gibt, nach denen es entscheidet, denkt und handelt, und dass diese Regeln von den Mitgliedern des Kollektivs verlässlich befolgt werden. Dem Kollektiv steht die einzelne Person als Mitglied sozusagen gegenüber, das Mitglied geht gegenüber dem Kollektiv eine Verpflichtung ein, sich verlässlich an die Regeln des Kollektivs zu halten, und durch diese Verlässlichkeit kommt das Kollektiv zu einer eigenen Existenz. Das klingt merkwürdig, denn zugleich fordert das Kollektiv die Verlässlichkeit des Mitglieds und bestimmt die Regeln, auf die sich das Mitglied einlässt und zu denen es sich verlässlich bekennt. Kollektive brauchen also zum Existieren die Verlässlichkeit ihrer Mitglieder. Wenn die Mitglieder sich an die Regeln halten, dann kann das Kollektiv auch Ziele und Vorhaben entwickeln und als Kollektiv so handeln, dass die Ziele erreicht werden. Wie kann es aber überhaupt dazu kommen, dass ein Kollektiv entsteht, das Regeln hat, deren Einhaltung es von seinen Mitgliedern verlangen kann, wenn doch das Kollektiv erst durch die verlässliche Regeleinhaltung wirklich zur Existenz kommt? 39 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Um das Entstehen von Kollektiven zu verstehen, muss man sich von einem einfachen Modell von Ursache und Wirkung verabschieden, das unser Denken bestimmt. Zumeist glauben wir heute, dass Ursachen in der Vergangenheit liegen müssten, damit sie Wirkungen erzielen können. Nach diesem Denkmodell müsste das Kollektiv immer schon da sein, und seine Regeln müssten schon vorliegen, damit die Mitglieder des Kollektivs sich darauf festlegen könnten, den Regeln verlässlich zu folgen. Das wäre aber nicht möglich, wenn das Kollektiv erst durch die verlässliche Regeleinhaltung zustande käme. Die Vermeidung dieses Teufelskreises ist aber ganz einfach. Menschen können die Zukunft vorwegnehmen, sie können die Existenz eines Kollektivs gedanklich vorwegnehmen. Wir können auch sagen, sie können daran glauben, dass das Kollektiv entstehen wird, wenn sie sich jetzt schon an die Regeln halten, die das Kollektiv von ihnen erwarten wird. Das Kollektiv, welches erst entsteht, wenn wir uns ihm gegenüber verlässlich verhalten, können wir schon bei unserem gemeinsamen Entschluss, es zu bilden, als existierend annehmen. Die meisten Menschen machen im Verlaufe ihres Lebens mehrfach die Erfahrung entstehender, bestehender und zerfallender Kollektive und damit bilden sich bei ihnen Überzeugungen darüber heraus, was getan werden muss, damit ein Kollektiv existieren kann. Diesen Überzeugungen entsprechend können wir uns verhalten und damit neue Kollektive zur Existenz bringen. Was ist aus diesen Überlegungen für die Frage nach der Existenz Gottes gewonnen? Eine ganze Menge: Die Betrachtung von Gruppen und Zusammenschlüssen von Menschen hat gezeigt, dass Menschen etwas zur Existenz bringen können, indem sie daran glauben, dass es existieren kann, und indem sie sich diesem Etwas gegenüber verlässlich zeigen, so zu handeln, dass dieses Etwas erhalten bleibt. Sie gehen eine Beziehung ein zu einem Subjekt, das erst entsteht, weil diese Beziehung verlässlich aufgebaut wird. Gleichzeitig ist dieses Subjekt aber mehr als die Menge der Personen, die seine Existenz durch ihre Überzeugung, dass das Subjekt existiert, und durch ihre Verlässlichkeit gegenüber dem Subjekt sicherstellen. Das Subjekt kann handeln, es 40 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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kann Ziele haben und verfolgen, die niemand der zugehörigen Personen selbst haben muss. Die Frage ist, ob Gott als ein solches Subjekt, als ein kollektiv gebildetes Wesen vorgestellt werden kann. Dieser Gott wäre erst mit den Menschen in die Welt gekommen, die an ihn glauben, aber er wäre nicht konstruiert und nicht erfunden, denn er würde durch den Glauben an seine Möglichkeit wirklich entstehen. Die Menschen würden durch ihre Verlässlichkeit ihm gegenüber seine Existenz sicherstellen. Eine Antwort wäre: Gott ist wenigstens das, was hier beschrieben wurde. Auf keinen Fall ist er weniger als ein solches kollektives Subjekt, und wer an die Existenz von Kollektiven in dem Sinne glaubt, wie sie gerade beschrieben wurde, der muss auch daran glauben, dass der Gott, der durch die Verlässlichkeit der Glaubenden gegenüber Gott entsteht, auch existiert. Aber Gott ist, das werden die weiteren Überlegungen zeigen, noch weit mehr. Dass er mehr sein muss, zeigt sich schon, wenn wir die Frage stellen, wo denn die Erfahrung herkommt, aus der die Menschen den Glauben an die Möglichkeit dieses Gottes ziehen, und woher die Bereitschaft zur Verlässlichkeit kommt, zu der sie sich bereiterklären. Was uns das Beispiel der Doppelkopfrunde bereits zeigt: Die Existenz eines Dings kann sich im Handeln von Menschen erweisen. Dabei ist es, genau genommen, noch nicht einmal notwendig, dass diese Menschen selbst an die Existenz dieser Sache glauben. Die Teilnehmer der Runde können völlig davon überzeugt sein, dass es »die Runde« selbst nicht gibt, sondern nur ihr einzelnes Handeln, das auf andere Personen gerichtet ist. Dennoch sind wir berechtigt, aus der Verbindlichkeit, die die Personen praktisch zeigen, auf die Existenz der Gruppe selbst zu schließen. Wir können ein Handeln von Menschen als Indiz für das Existieren einer Sache nehmen, die nicht als physischer Gegenstand sichtbar ist, wenn diese Existenz das Handeln der Menschen erklärbar und verständlich macht. Zu diesen Aspekten werden wir im zweiten Kapitel zurückkehren. Zuvor müssen noch weitere Dimensionen des Existierens untersucht werden. Dazu gehört, dass wir die Existenzweise komple41 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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xerer Organisationsformen, als es eine Doppelkopfrunde ist, genauer betrachten müssen. Von einer Doppelkopfrunde würden wir nicht sagen, dass sie eine Meinung vertritt, dass sie ein Ziel formuliert, dass sie Kompromisse macht, dass sie Gegner, Freude oder Feinde hat. Über Organisationen wie etwa Parteien und Unternehmen werden solche Aussagen gemacht – und wenn eine Zeitung (die ebenfalls eine Organisation ist) äußert, dass die Partei X die Partei Y bekämpft oder dass das Land A mit dem Land B befreundet ist, dann ist es nicht ein einzelner Journalist, der seine Meinung über die Gegnerschaft von Politikern der Parteien A und B oder über die Zuneigung der Staatschefs der Länder A und B äußert, sondern es ist ein organisiertes Gebilde Zeitung, das über die organisierten Gebilde Parteien und Staaten seine Ansicht kundtut. Und diese organisierten Gebilde existieren, es gibt sie in noch stärkerer und stabilerer Weise als es bei Kollektiven der Fall ist, die oben beschrieben wurden. Was ist der entscheidende Unterschied zwischen einer Doppelkopfrunde und einer politischen Partei? Die naheliegende Antwort ist: die Partei hat, ebenso wie das Unternehmen und der Staat, Strukturen. Die Organisation unterscheidet sich vom schlichten Kollektiv dadurch, dass es nicht nur Regeln gibt, sondern Vorschriften. Im Kollektiv mag es einen geben, auf den alle hören und der den Hut aufhat, weil er womöglich über Charisma verfügt oder einfach nur am lautesten auf seinen Ideen beharrt. In der Organisation gibt es einen, der nach den Vorschriften dazu bestimmt ist, eine entscheidende Rolle zu spielen. Überhaupt spielen in einer Organisation alle Mitglieder irgendeine Rolle, und aus diesem Rollenspiel, das den Vorschriften folgt, entstehen die Strukturen der Organisation. Worin genau unterscheidet sich die Vorschrift von der Regel? Der Unterschied steckt schon im Wort. Eine Vorschrift ist vorgeschrieben. Sie ist definiert und dokumentiert. Sie wird nicht, wie die Regel, einfach weitererzählt und kopfnickend bestätigt. Sie wird stattdessen aus den Statuten zitiert, sie kann nachgelesen werden. Über die Einhaltung der Vorschriften wachen in der Organisation wiederum vorgeschriebene Gremien, und die Änderung von Vorschriften erfolgt selbst vorschriftsgemäß. 42 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Wenn eine Organisation sich Vorschriften gibt und diese Vorschriften sowohl von den eigenen Mitgliedern als auch von anderen Organisationen (oder von deren Mitgliedern, insofern sie als Angehörige der anderen Organisation handeln) akzeptiert werden, dann kann es passieren, dass die Organisation sich tatsächlich auf Gegenstände der physischen Realität erstreckt. Ein Staat kann sein Staatsgebiet definieren und damit angeben, wann man den Boden dieses Staates betritt – und damit diesen Boden quasi zum Staat selbst machen, soweit diese Vorschrift von anderen auch respektiert wird. Auf diese Weise entsteht dann jenes physische Verständnis der Existenz etwa eines Landes als des Bodens, auf dem ein Staat seine Vorschriften durchsetzen kann. Die tatsächliche Existenz dieses physisch verstandenen Landes ist aber immer an die Akzeptanz des Anspruchs des Staates auf dieses Land durch andere Staaten gebunden. Ganz ähnlich verhält es sich mit anderen physischen Repräsentationen von Organisationen, wie etwa Unternehmenssitzen oder religiösen Gemeinschaften. Eine Organisation besteht nicht aus Personen, sondern aus Vorschriften. Die Vorschriften bestimmen, wie die Organisation zu Ansichten und Zielen kommt, was sie sagt, wie sie handelt. Deshalb sichern die Vorschriften auch die Existenz der Organisation. Dass es die Organisation wirklich gibt, dass sie existiert, ist nicht durch bloßes Beobachten von Regelmäßigkeiten im Verhalten von Menschen bezeugt, sondern durch Dokumente, in denen Vorschriften festgehalten sind und auf deren Beachtung sich die Mitglieder verpflichtet haben. Bekanntlich werden solche Vorschriften nicht unbedingt immer eingehalten. Jede Organisation ist insofern auch im konkreten alltäglichen Handeln bloßes Kollektiv. Dokumentierte Vorschriften existieren als Norm, die gebrochen und deren Verletzung geahndet werden kann. Gerade in der Verletzung der Vorschriften und in der prinzipiellen Möglichkeit, diese Verletzung zu ahnden, zeigt sich, dass die Organisation ohne die Vorschrift nicht existieren würde. Die Vorschrift ist das Gestell, das die Organisation stützt und ihre Richtung und Form im Grundsatz bestimmt, aber die Organisation lebt in der Umgebung dieses Gestells. 8 43 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Es ist nicht Gegenstand dieses Buchs, die Dynamik der Existenz von Organisationen aus der Spannung zwischen Einhaltung und Missachtung von Vorschriften weiter zu verfolgen. Für uns ist wichtig, dass es offenbar für die Aussage, dass eine Organisation existiert, wesentlich ist, dass es Vorschriften gibt, an denen das Verhalten der Mitglieder der Organisation gemessen wird – und wenn das Verhalten dieser Mitglieder im Wesentlichen als Beachtung der Vorschriften interpretiert werden kann, wenn sodann dieses Verhalten in Summe als Verhalten der Organisation interpretiert werden kann, dann sind wir berechtigt zu sagen, dass diese Organisation existiert. Dann spricht aus dem Verhalten der Mitglieder nicht der Wille jedes einzelnen Mitgliedes, sondern der Wille der Organisation, dann können wir auch von der Ansicht der Organisation, von ihren Zielen, von ihren Partnern und Gegnern sprechen. Durch die Vorschrift wird die Organisation grundsätzlich ortlos – sie ist nicht an einen Ort in Raum und Zeit gebunden. Einer Vorschrift können Menschen an ganz verschiedenen Orten folgen, und doch wird durch dieses Befolgen das Handeln der Mitglieder zum Handeln der Organisation. Überall, wo die Vorschriften befolgt werden, existiert die Organisation, die diese Vorschriften zu ihren Statuten erklärt hat. Wichtig für unsere Frage nach der Existenz Gottes ist, dass bei der Existenz von Organisationen zum ersten Mal die Bedeutung des fixierten Wortes für die Existenz eines Subjekts in den Blick kommt. Wir sagen hier »fixiertes Wort«, weil das Wort, also die Vorschriften, nicht zwingend in schriftlicher Form dokumentiert sein müssen. Sie können auch in auswendig gesprochener und rituell wiederholter Rede nur mündlich existieren. Auch diese Form des Vorschreibens kann ortlos werden, wenn die ritualisierte und auswendig gesprochene Regel mündlich von einem Ort zum anderen weitergetragen wird. Aber natürlich ist das geschriebene Wort, die in Satzungen, Verfassungen und heiligen Büchern dokumentierte Regel, eine weit effektivere Form der Stabilisierung organisierter Subjekte. Solche Subjekte können sogar, wenn sie fast schon vergessen sind,
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wieder aufleben durch die Wiederentdeckung und Neubelebung der dokumentierten Regeln. Wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, ob aus der Existenz von Vorschriften etwa in heiligen Büchern von Religionsgemeinschaften auf die Existenz eines Gottes geschlossen werden kann, müssen zwei Aspekte betrachtet werden. Zum einen müssen wir der Herkunft der tatsächlichen Handlungsvorschriften und ihrer Umsetzung und Beachtung in der Gemeinschaft nachgehen. In den heiligen Schriften ist oft von besonderen Ereignissen oder Momenten im Leben eines Religionsstifters die Rede, durch welche der Stifter die Vorschriften direkt von Gott erhalten hat. Das geschieht auf unterschiedliche Weise und wir können davon ausgehen, dass die konkreten Ereignisse von den Berichterstattern ausgeschmückt oder metaphorisch in eine konkrete erfundene Geschichte eingebettet wurden. Später werden wir sehen, dass ein plausibler Gott nicht physisch unmittelbar in dieser Welt auftritt und dass er keine physischen Gegenstände, wie etwa Gesetzestafeln, an Religionsstifter übergibt. Plausibel ist, dass ein Religionsstifter den Erhalt göttlicher Vorschriften als intuitive Inspirationserfahrung erlebt. Gott spricht zu ihm aus seinem Innern heraus, nachdem der Mensch in seinem Innern nach der Stimme Gottes gesucht hat. Dem werden wir uns im zweiten Kapitel genauer zuwenden. Die sodann niedergeschriebenen Vorschriften werden von den anderen in der religiösen Gemeinschaft als Vorschriften akzeptiert, da sie zu ihren eigenen intuitiven Inspirationserfahrungen passen. 9 Wenn es plausibel ist, dass aus solchen intuitiven Inspirationserfahrungen und der Akzeptanz der resultierenden Vorschriften die Existenz Gottes wenigstens gestützt werden kann, dann sind die heiligen Schriften von Religionsgemeinschaften durchaus als Quelle wahrer Aussagen über einen existierenden Gott akzeptabel. Dabei dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass die heiligen Bücher dann zwar als von Gott inspiriert angesehen werden können, dass sie aber von Menschen geschrieben sind und dass dieser Gott zu konkreten, historisch in einer bestimmten Situation befindlichen Menschen gesprochen hat – in einer Sprache, die diese zu diesem Zeitpunkt verstehen konnten. Sowohl die Sprache als auch die 45 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Erfahrungen ändern sich – wenn auch für spätere Menschen das schriftliche Regelwerk einer Religionsgemeinschaft als Existenzbeleg eines Gottes akzeptabel sein soll, muss es immer neu interpretiert werden. Damit verbunden ist der zweite Aspekt: Oft schildern die Autoren der heiligen Schriften eher Erfahrungen, in denen sie Gottes Existenz erlebt haben, als dass sie bloße Vorschriften wiedergeben, die ihnen Gott mitgeteilt haben soll. Erlebnisse und Ereignisse, die für die Autoren der heiligen Schriften Zeugnis von Gottes Existenz ablegen, werden von anderen Mitgliedern der religiösen Gemeinschaft weiterberichtet und schließlich in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen. Das Weitererzählen und Akzeptieren zeugt davon, dass in den Berichten etwas ausgesprochen ist, was auch für die Hörer und Weitererzähler Beleg für die Existenz Gottes ist. Auch aus dieser Perspektive können heilige Schriften als Werk der Religionsgemeinschaft als Beleg der Existenz des Wesens aufgefasst werden, von dem sie sprechen. Wir werden im zweiten Kapitel darauf zurückkommen. Von diesem Gedanken aus können wir unseren Rundgang durch die Weisen des Existierens in zwei Richtungen fortsetzen. Wir können uns der Existenz kultureller Praktiken, wie etwa Sportarten oder alltäglicher Rituale, zuwenden, die, wie wir sehen werden, hinsichtlich ihrer Existenz viel Ähnlichkeit mit den Kollektiven und Organisationen haben. Wir können uns aber auch der Existenz fiktionaler Gestalten und Welten zuwenden, die mit dem eben gesagten gemeinsam haben, dass sie ihre Existenz auch dem geschriebenen Wort verdanken. Da die besondere Existenzweise der kulturellen Praxis des Bücherschreibens und -lesens aber nur eine lineare Vorgehensweise zulässt und nicht das parallele Verfolgen zweier Gedankengänge, müssen wir eins nach dem anderen ansehen. Und in dieser Situation mag es auch gestattet sein, eine weitere Existenzweise einzuschieben, die uns sonst entgehen würde, die aber für unser Nachdenken über die Existenz Gottes bedeutsam ist: die der so genannten theoretischen Entitäten, die die modernen Wissenschaften beschäftigen. Sie haben, wie wir sehen werden, Ähnlichkeit mit dem gerade Beschriebenen: Die Plausibilität ihrer Exis46 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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tenz erwächst aus der Akzeptanz von Beschreibungen und Deutungen von Erfahrungen innerhalb einer Gemeinschaft.
Die Objekte der Wissenschaften Ausgerechnet an dieser Stelle auf die Objekte zu sprechen zu kommen, von deren Existenz die modernen Wissenschaften sprechen, ist nicht so willkürlich, wie es zunächst scheinen mag. Zum einen verdanken diese Objekte ihre Existenz, oder ihre Entdeckung und Beschreibung, dem organisierten und vorschriftenfolgenden Vorgehen des wissenschaftlichen Betriebs und der wissenschaftlichen Institutionen. Dokumentation, schriftliches Festhalten von Existenznachweisen in einer Weise, die durch Vorschriften bestimmt ist und die das Nachvollziehen, Bezeugen und Bestätigen der Existenz dieser Objekte erlaubt, ist ein wesentlicher Bestimmungsfaktor der Wissenschaften. Zum zweiten sind eine Reihe von diesen Entitäten selbst Organisationen, denn wir wollen hier nicht nur nach den Objekten fragen, mit denen sich die Naturwissenschaften beschäftigen, sondern auch nach denen der politischen Theorie, der Ökonomie und der Soziologie, und deren Untersuchungsgegenstände sind politische Vereinigungen, Unternehmen und andere Organisationen, genauer gesagt, diese Institutionen sind sowohl Gegenstand wissenschaftlicher Erklärungen als auch Grundlage und Voraussetzung der Erklärung soziologischer, politischer und ökonomischer Theorien. Schließlich aber, und das ist vielleicht das Entscheidende, sind es oftmals Argumente, die sich auf die Wissenschaften berufen, mit denen die Existenz Gottes bestritten werden soll. Die Wissenschaft hat, so hört man, die Existenz Gottes überflüssig gemacht, wenn nicht sogar widerlegt. Dann muss man natürlich fragen, wie es um die Existenz der Objekte steht, auf die sich die Wissenschaften stützen. Sind sie plausibler als Gott? Wir werden später sehen, dass Gott und die Wissenschaften überhaupt nicht in einem Wettbewerb stehen. Man muss Gottes Existenz nicht ablehnen oder bestreiten, wenn man ein Freund der Wissenschaften, ihrer Methoden und Fortschritte ist. Das Gegen47 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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teil ist der Fall, die Existenz Gottes kann vieles verständlich machen, was die Wissenschaft prinzipiell nicht erklären, wonach sie gar nicht fragen kann. Man meint heute oft, solche Fragen, die die Wissenschaft nicht stellen kann, könne es gar nicht geben, allenfalls gäbe es vielleicht Unbekanntes, das die Wissenschaft erst später erfragen und in Erfahrung bringen kann. Aber wir werden sehen, dass es einige Fragen gibt, die die Wissenschaft genau deshalb verstellt, weil sie diese Fragen als Wissenschaft eben nicht stellen, geschweige denn beantworten kann. Aber dazu später. Jetzt soll die Frage ins Zentrum rücken, auf welche Weise von der Existenz derjenigen Objekte gesprochen werden kann, die als Erklärungsgrundlage in den modernen Wissenschaften gelten. Man denkt in dieser Frage zuerst an die Elementarteilchen der Physik, die in der wissenschaftsphilosophischen Diskussion gern als paradigmatische Beispiele für theoretische Entitäten genannt werden. Aber wir können ebenso etwa die atmosphärischen Fronten in der Meteorologie dazuzählen oder die mehr oder weniger rationalen Akteure (der so genannte homo oeconomicus hat es dabei zu einer gewissen Berühmtheit gebracht) und die Firma in der Ökonomie. Allen ist gemeinsam: Man kann sie nicht direkt beobachten, aber man kann einiges, was man beobachten kann, erklären, wenn man annimmt, dass es diese Entitäten gibt. Über die Existenz dieser theoretischen Entitäten ist viel geschrieben und diskutiert worden, es gibt in der Wissenschaftsphilosophie die so genannten Realisten und die Anti-Realisten und zwischen ihnen gibt es eine Reihe von Abstufungen. Es würde hier natürlich viel zu weit führen und dem Zweck dieses Buches nicht dienlich sein, die verschiedenen Aspekte dieser Diskussion darzustellen. Insbesondere werden wir uns hier nur Aspekten der Diskussion zuwenden, in denen die Existenz dieser Entitäten eine Rolle spielt. Einige Gedanken der verschiedenen Standpunkte sind aber für uns durchaus interessant. Die Realisten sind der Meinung, dass man aus den Beobachtungen, die man in Experimenten oder empirischen Erhebungen macht, durchaus auf die Existenz der theoretischen Entitäten schließen kann, wenn man die empirischen 48 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Befunde mit ihnen gut erklären kann. Letztlich ist jedes Experiment eine Beobachtung der Entität, etwa des Atoms oder gar des Elektrons, auch wenn man sie nicht mit bloßem Auge sieht, sondern etwa durch ein Mikroskop oder durch Ausschläge von Zeigern von Messinstrumenten. Letztlich, so argumentieren sie, muss da ja etwas sein, was diese Messung, diese Beobachtung hervorruft, und dieses Etwas ist eben die theoretische Entität. Das wirft aber das Problem auf, dass die Entität am Ende nur noch ein bloßer Name für eine bestimmte Sorte von Beobachtungen ist, hinter der aber überhaupt keine Aussage mehr steckt, was das denn wirklich sei, was da existiert, wie es vorzustellen wäre. Hinter der ursprünglichen Vorstellung von Realismus steckt ja die Idee, dass man, wenn man nur ganz genau hinsehen könnte, eben an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auch ein Ding vorfinden könnte, das zu Recht den Namen trägt, den man der theoretischen Entität gegeben hat. Spätestens mit der Quantenmechanik wird aber diese Hoffnung obsolet. Trotzdem kann der Realist immer noch sagen, dass da irgendetwas, wenn auch unvorstellbares, an diesem Ort zu dieser Zeit gewesen sein muss, das die beobachtete Wirkung, die gemessen wurde, hervorgerufen hat. Wenn aber dieses Ding, das z. B. den Namen Elektron erhält, mal als Teilchen und mal als Welle und dann wieder als Wahrscheinlichkeitsfeld und dann wieder als noch irgendetwas anderes vorgestellt wird, dann geht die Idee, dass man wirklich in all dem von immer dem gleichen Ding redet, das da existiert, allmählich verloren. Am Ende bleibt tatsächlich nur noch die Möglichkeit, zu sagen, dass die Menge von empirischen Beobachtungen, von Erfahrungen, die in einem bestimmten Umfeld gemacht werden können, eben einen Namen bekommt, ohne dass man nur im mindesten eine Idee davon hat, was da wirklich wo genau »ist«. Das erinnert nun in verwirrender Weise an das, was wir schon über Gott gesagt haben, als wir der Frage nachgingen, ob Gott unbedingt als eine Person vorgestellt werden muss, die irgendwo in Raum und Zeit existiert und auf die man zeigen können muss, um zu sagen: »Da ist sie«, damit wir berechtigt sind, zu sagen, dass er existiert. Mit den theoretischen Entitäten haben die Wis49 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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senschaftler möglicherweise das gleiche Problem: Man kann am Ende nicht auf sie zeigen, man kann nur aus Beobachtungen schließen, dass sie existieren, weil ihre Existenz die (wenigstens momentan) beste Erklärung für die Beobachtungen ist. 10 Ein Wissenschaftler, der nicht an die Existenz Gottes, wohl aber an die Existenz von Elektronen glaubt, könnte einwenden, dass Gott aber keine Wirkungen in der Welt hervorbringt, dass es keine Beobachtungen gibt, für die die Existenz Gottes die beste Erklärung ist. Auf diese Frage werden wir im zweiten und im dritten Kapitel zurückkommen. Eine bemerkenswerte Weiterentwicklung des realistischen Standpunktes besteht darin, zu sagen, dass ein Ding, das man nicht beobachten kann, dann existiert, wenn man es benutzen kann, um eine Wirkung zu erzielen. 11 Wenn man also auf Grundlage theoretischer Erwägungen über unsichtbare Dinge etwa eine Maschine ersinnt, die mit diesen Dingen irgendetwas macht, sie zu einem bestimmten Zweck einsetzt (man denke an Elektronenstrahlen) – dann muss man ja wohl zugeben, dass diese Dinge wirklich da sind. Genau genommen wird hier der Gedanke, dass aus einer experimentellen Beobachtung eines Effekts geschlussfolgert werden kann, dass da wirklich etwas ist, was den Effekt hervorruft, nur konsequent weitergedacht. Letztlich ist ja jedes Experiment auf das Erzielen einer Wirkung gerichtet – ob diese nun auch einen Nutzen hat, ob sie einen Zweck erfüllt oder nur Selbstzweck des experimentellen Nachweises einer theoretischen Entität ist, kann dahingestellt bleiben. Aber ist dieser Realismus, bei dem man sagt, dass ein Ding existiert, wenn man es verwenden kann, um einen Effekt zu erzielen, nicht ein Argument gegen die Idee, dass Gott auf die gleiche Weise existiert wie die theoretischen Entitäten? Denn wir können ja Gott nicht dazu bringen, in bestimmten Momenten etwas Bestimmtes zu tun, von einem solchen Gottesbild sind die meisten Menschen jedenfalls heute weit entfernt. Wir müssen auch diese Frage zurückstellen, werden sie aber in den nächsten Kapiteln beantworten. Auf keinen Fall wollen wir dieser Frage ausweichen. Hier wollen wir aber noch einen kurzen Blick auf die dritte 50 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Variante werfen, mit der Frage nach der Existenz theoretischer Entitäten umzugehen. Diese Variante besagt, dass es eigentlich nicht darauf ankommt, ob diese Entitäten nun existieren oder nicht. Es kommt allein auf ihre Praktikabilität im Rahmen der Theorie an. Eine theoretische Entität ist dann nichts weiter als ein Instrument im Rahmen der Theoriebildung und -nutzung. Theorien als Ganze werden als bloße Instrumente angesehen, um empirische Adäquatheit von Beobachtungsvoraussagen und tatsächlichen Beobachtungen zu erreichen, weshalb dieser Standpunkt als Instrumentalismus bezeichnet wird. Während der wissenschaftliche Realismus annimmt oder wenigstens fordert, dass Theorien buchstäblich eine wahre Geschichte darüber erzählen, wie die Welt wirklich ist, sagt man hier, dass die Wahrheit der Theorie eigentlich unwichtig ist: Es kommt allein darauf an, dass die Theorien Ergebnisse liefern, die sich empirisch überprüfen lassen, und dass die Theorien in der Erklärung oder der Vorhersage der empirischen Beobachtungen erfolgreich sind. 12 Von diesem Standpunkt aus ist die Frage, ob die Entitäten in der Realität auch existieren, die in den Theorien verwendet werden, uninteressant, und erst recht ist es uninteressant, ob sie irgendwie so sind, wie man es sich beim Lesen der theoretischen Beschreibungen vorstellen kann. Wenn etwa vom Wellencharakter des Lichts die Rede ist, weil in den Theorien mathematische Gebilde vorkommen, mit denen man in einem anderen Zusammenhang auch Wasserwellen beschreiben kann, dann soll man daraus nicht folgern, dass es da »wirklich Wellen gibt« – es bietet sich einfach an, diese mathematischen Gleichungen zu benutzen, und da die von früher her nun einmal Wellengleichungen heißen, reden wir eben hier auch von Wellen – aber damit sagen wir nicht, dass da »wirklich« Wellen sind. Was da »wirklich« ist, so sagt sich der Instrumentalist, weiß ich nicht, und streng genommen interessiert es mich auch nicht. Was mich interessiert, ist, dass ich eine Theorie habe, die funktioniert. Das ist ein sehr pragmatischer und in seiner Ehrlichkeit auch sympathischer Ansatz. Schade ist nur, dass in der populären Vermittlung von Wissenschaften oft so getan wird, als ob die Wissenschaftler selbst meinen würden, die Welt sei wirklich so, wie es 51 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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ihre Theorien sagen, wenn man sie wörtlich nehmen will. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass die meisten Wissenschaftler nicht oft darüber nachdenken, ob sie hinsichtlich ihrer Theorien Realisten sind – sie sind vielleicht in ihren Wünschen und Hoffnungen Realisten, in der alltäglichen Praxis der wissenschaftlichen Forschung aber nicht. Die Frage nach der Existenz Gottes stellt sich nach diesen Überlegungen auf neue Weise: Könnten wir Gott wie eine theoretische Entität auffassen, von der wir aber gar nicht behaupten, dass sie existiert? Könnten wir sagen: wir können nicht wissen, ob es Gott gibt, aber im Rahmen unseres Weltverstehens ist es sinnvoll, einen Gott einzubauen, um in der Welt irgendwie praktisch besser zurechtzukommen? Das ist sicher nicht der Fall. Von Gott zu sprechen ist nur sinnvoll, wenn wir dabei von etwas reden, was es wirklich gibt und was in irgendeinem Sinn auch so ist, wie wir es uns denken. Das heißt nicht, dass wir nicht jederzeit davon überzeugt sein könnten, dass Gott insgesamt viel komplexer und undurchschaubarer ist, als es sich mit unserer begrenzten Vernunft denken lässt. Aber irgendwie muss er auch so sein, wie wir ihn verstehen. Was ist damit gemeint? Ein Beispiel kann das veranschaulichen: Wenn ich vor einem Baum stehe und seine Oberfläche fühle, seinen Duft wahrnehme und seine Farben erkenne, dann kann ich zugleich wissen, dass dieser Baum ein viel komplexeres Ding ist. Oberflächenwahrnehmung, Duft und Farben sind Ergebnisse von komplexen Lebensprozessen, die ich nicht durchschaue. Aber dass Duft, Farbe und die Härte des Stamms oder die Flauschigkeit der Blätter nur Trug sind und in Wirklichkeit gar nicht so sind, wie ich sie zusammen wahrnehme, dass der Baum also gar kein Sinnesgegenstand ist, wie ich ihn erlebe, das kann ich nicht akzeptieren. Meine Wahrnehmungen des Baums gehören zum Baum dazu. So ist es auch mit Gott: Wenn ich mir eine Vorstellung von Gott aus meiner Erleben heraus mache, dann kann ich glauben, dass dieser erlebte Gott nicht das Wesen Gottes ausmacht, dass Gott weit mehr und im Wesen unverständlich für mich ist. Aber dass Gott in Wirklichkeit gar nicht so ist, wie ich ihn erlebe, das ist nicht denkbar. 52 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Anders ist es bei den theoretischen Entitäten der Wissenschaften. Bei ihnen ist es nicht nur denkbar, dass sie in Wirklichkeit ganz anders sind und dass nur die Weise meiner empirischen Verfahren und die Methodik meiner theoretischen Erfassung ein bestimmtes Bild aufrufen. Was ich mit dem Bild der Welle beschreibe, muss nicht wirklich eine Welle sein, es ist nur ein mathematisches Verfahren, das geeignet ist, Messergebnisse in bestimmten experimentellen Situationen richtig vorherzusagen. Mit dieser Erkenntnis kommt ganz selbstverständlich die nächste Art von Objekten in den Blick, deren Existenzweise sich stark von physischen Dingen wie Häusern, Steinen, Bäumen sowie Tieren, Pflanzen und Menschen unterscheidet: die mathematischen Gebilde, wie etwa Zahlen, geometrische Konstruktionen, Funktionen und Gleichungen. Es lohnt sich für unseren Zweck deshalb, sich auch mit diesen Objekten zu befassen, weil sich bei ihnen nicht nur die Frage nach der Ortlosigkeit ihrer Existenz verbindet, sondern auch die der Zeitlosigkeit. Eigentlich stellt sich diese Frage schon bei den theoretischen Entitäten der Wissenschaften, wenn wir sie nicht realistisch verstehen. Wenn ein Elektron nur ein Element der physikalischen Theorie ist, dann stellt sich ja die Frage: Gab es Elektronen schon, bevor zum ersten Mal in einer Theorie ein Elektron zur Erklärung und Vorhersage eines empirischen Effektes eingeführt wurde? Man kann diese Frage noch paradoxer formulieren, wenn man sie sich am Beispiel der Wetterfronten in der Meteorologie veranschaulicht: diese Entitäten wurden in der Fronten- und Zyklonentheorie zum ersten Mal Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben und seitdem zur Erklärung und Vorhersage bestimmter Abfolgen von Wetterereignissen verwendet. Seitdem haben wir uns angewöhnt ganz selbstverständlich vom Durchziehen einer Kaltfront zu sprechen. Gab es vor der theoretischen Beschreibung schon Wetterfronten? Man meint vielleicht, dass es die ganz selbstverständlich schon zuvor gegeben haben muss, denn das Wetter hat sich ja in seinem typischen Verlauf nicht dadurch geändert, dass es durch die Entwicklung von Frontensystemen theoretisch beschrieben wurde. Die Fronten, so könnte man meinen, gab es vorher schon, sie wurden aber Mitte des 20. Jahrhunderts durch die synoptische Methode 53 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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der Meteorologie entdeckt und dann theoretisch beschrieben. Doch so einfach ist es nicht, denn jeder Meteorologe, der die synoptische Methode im Studium erlernt hat, weiß, wie schwierig es ist, Fronten im aktuellen Wettergeschehen zu entdecken – und wenn man vorher nicht die Frontentheorie gelernt hätte, dann würde man die Fronten niemals sehen. Aber es wird noch paradoxer: durch die Entwicklung der numerischen Methoden zur Wetterprognose mit Hilfe von Großcomputern werden die Frontentheorien überflüssig. In den numerischen Modellen gibt es keine Wetterfronten. Man kann sie zwar in den Ergebnissen der Modellrechnungen wieder auffinden, aber in den mathematischen Modellen selbst sind sie nicht enthalten. Man kann also sagen, dass sie aus der Wissenschaft wieder verschwinden, und vielleicht verschwinden sie auch bald aus dem Sprachgebrauch der Meteorologen im Radio. Denn genau besehen ist das reale Wetter weit vielfältiger, als es mit ein paar Frontentypen zu beschreiben ist. Kann man also sagen, dass es bis Mitte des 20. Jahrhunderts gar keine Wetterfronten gab, dass sie dann zu existieren begannen, dass es sie für 50 oder 100 Jahre wirklich gab und dass sie dann wieder verschwanden? Das ist genau die Frage, die sich auch bei den mathematischen Objekten stellt. Und für unsere Frage nach Gott ist sie deshalb interessant, weil sich dann ein Gott denken lässt, der mit dem Reden über Gott tatsächlich zu existieren beginnt und der wieder verschwindet, wenn über ihn nicht mehr gesprochen wird. Wir werden sehen, dass Gott auf noch andere Weise existiert. Aber zunächst wollen wir fragen, ob die mathematischen Objekte nicht auch schon existierten, bevor Menschen zum ersten Mal über sie nachgedacht haben. Vielleicht haben die Zahlen ja sogar am Ende ihre Existenzdauer mit Gott gemeinsam. Es gibt sehr einfache und sehr komplizierte mathematische Gebilde, aber die Frage ihrer Existenz stellt sich bei allen gleich. Bob schreibt auf ein Blatt Papier eine Drei (»3«) und ein paar Minuten später fragt Alice ihn, was diese Drei auf dem Blatt zu bedeuten hat. Bob gibt zur Antwort, dass er sich merken wollte, dass er noch drei Äpfel kaufen muss. Oder dass die Eier drei Minuten kochen
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müssen. Oder dass er drei Freunde angerufen hat. Dass da eine Drei auf dem Blatt steht, darüber sind Alice und Bob sich einig. Gibt es diese Drei? Ist es eine andere Drei als die, die dort oben in Klammern in meinem Manuskript steht? Gibt es die Drei in irgendeiner Weise, die in dem Satz vorkommt: »Die Drei ist eine natürliche Zahl.«? Ist diese Drei, über die der Satz spricht, die gleiche Drei wie die, die auf dem Papier und wie die, die hier in meinem Manuskript steht? Die Drei, über die Alice und Bob sprechen, ist eine Farbspur auf einem Blatt Papier. Sie ist ein physisch existierendes Ding, wie ein Haus, ein Baum oder ein Auto. Sie befindet sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Wer sich mit ihrer Nutzungsweise als Drei auskennt, kann sie benutzen, etwa, um sich im Laden daran zu erinnern, wie viele Äpfel er kaufen wollte. Diese Drei ist also ein physisches Ding, sie existiert als Drei und als Zahl, weil dieses Ding von einem verständigen Menschen als Drei genutzt und aufgefasst werden kann, so wie ein verständiger Mensch einen Tisch als Tisch auffassen und nutzen kann und damit durch sein Handeln bezeugt und sicherstellt, dass dieses Ding aus Holz hier in diesem Raum wirklich als Tisch existiert und damit in meiner Welt da ist. Das gleiche gilt für diese Drei auf dem Papier von Bob. Aber was ist mit der Drei, von der es heißt, sie sei eine »natürliche Zahl«, sogar eine »Primzahl«? Gibt es Primzahlen? Und was hat diese Drei mit der Farbspur auf dem Papier bei Bob zu tun? Man kann bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage vielleicht damit beginnen, dass man sagt: Die Farbspur auf dem Blatt ist ein Symbol für die mathematische Drei, von der man sagt, sie sei eine natürliche Zahl. Die Art, wie Bob dieses Symbol erzeugt und verwendet, zeigt, dass er fest daran glaubt, dass es diese Drei gibt. Er kann damit z. B. notieren, wie viele Eier er kaufen will. Er weiß, dass er keine halben Eier kaufen kann, deshalb kommt es ihm nicht in den Sinn, auf den Zettel zu schreiben: »6 ½ Eier«, obwohl er durchaus »1/2 Brot« schreiben könnte. Die Unteilbarkeit haben die natürlichen Zahlen mit den Eiern gemeinsam – und damit verbunden die Zählbarkeit. Man könnte hier einwenden, dass man Brote auch zählen kann, obwohl man 55 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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sie auch teilen kann. Darauf könnten wir antworten, dass man Brote ebenso zählen und teilen kann, wie man von den natürlichen Zahlen zu den gebrochenen übergehen kann, aber sobald man die Brote als beliebig oft teilbare Dinge ansieht, weiß man, dass es mit ihrer Zählbarkeit schnell vorbei ist. (Mathematiker würden hier anmerken, dass man auch rationale Zahlen noch zählen kann, aber das tut für unser Argument nichts zur Sache, genauer, man könnte tatsächlich die besondere Art der Zählbarkeit geteilter Brote sogar auf die Eigenschaft rationaler Zahlen, zählbar zu sein, abbilden, was den Zusammenhang zwischen den Broten und den Zahlen noch einsichtiger macht.) Es gibt also bestimmte Eigenschaften von physischen Dingen, die dazu führen, dass wir mathematische Gebilde dafür verwenden können, mit ihnen umzugehen. Das wirft zwei Fragen auf, erstens: Wie ist das möglich? Zweitens: Heißt das nicht, dass diese mathematischen Gebilde auf jeden Fall existieren müssen? Zur ersten Frage: Möglich ist das, weil wir die physischen Dinge immer als etwas auffassen, was sich mathematisieren lässt. Beim Einkaufen ist das Ei unteilbar, beim Backen oder als gekochtes Ei kann man es sehr wohl teilen. Wir schauen immer mit einem mathematischen Blick auf die Welt und sehen die Mathematik in die Welt hinein. So, wie ich dieses Ding im Kühlschrank überhaupt als Ei auffasse und damit auch sagen kann: Da ist (da existiert) ein Ei im Kühlschrank, habe ich auch gleich eine gewisse mathematische Auffassung von ihm. Das etwas ist, heißt oft, aber nicht immer, dass es mathematisierbar ist: Der Tisch hat eine Höhe, die Eier im Kühlschrank eine Anzahl, der Weg zur Arbeit eine Länge. Ich habe meine Welt verstehen gelernt, indem ich die Mathematik in sie hineinzusehen gelernt habe. Vor allem aber: Wir haben, seit Jahrhunderten, alles dafür getan, dass die Welt mathematisierbar ist, sie ist gut messbar und zählbar. Sie ist, als Kultur, im Gegensatz zur Wildnis, berechenbar. Umso mehr drängt sich die zweite Frage auf: Existieren die mathematischen Gebilde auch ohne diese mathematisierbare Welt? Auf den vorangegangenen Seiten war von dem wissenschaftsphilosophischen Standpunkt die Rede, nach dem alles, was man zu Zwecken verwenden kann, auch existiert. In diesem Sinne 56 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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müssen wir ganz klar sagen, dass die mathematischen Gebilde existieren. Dazu kommt, dass wir sie überall sehen: Vier Stühle stehen in diesem Raum. Wenn diese Aussage ein Beleg dafür ist, dass es Stühle gibt, dann ist sie ebenso ein Beleg dafür, dass es die Vier gibt. Und die Tatsache, dass ich weiß, dass es fünf Stühle wären, wenn ich einen dazu holen würde, belegt auf die gleiche Weise, dass es die natürlichen Zahlen überhaupt gibt, denn diese sind dadurch bestimmt, dass ich immer noch eine dazuzählen kann und das Ergebnis immer noch eine natürliche Zahl ist. Die Brisanz der Existenz mathematischer Gebilde für die Frage nach der Existenz Gottes wird klar, wenn wir einen Schritt weiter gehen. Die Existenz von Stühlen wird dadurch belegt, dass wir ein physisches Ding als Stuhl auffassen und physisch-praktisch als Stuhl benutzen können. Wir können sagen, dass es dieses physische Ding auch gäbe, wenn es niemanden gäbe, der von der Nutzungsweise von Stühlen etwas wüsste, aber es gäbe dann keine Stühle. Die Existenz von Zahlen können wir, im ersten Schritt, auch daraus ableiten, dass wir etwas als Zahl auffassen können und als Zahlen nutzen können: ein paar Holzkugeln etwa, die wir hin und her schieben, um mit ihnen zu rechnen. Nachdem wir das eine Weile gemacht haben, können wir uns aber vom Physischen ganz lösen: Wir können zuerst vielleicht noch Symbole nutzen, die wir an eine Tafel schreiben und wieder wegwischen: Schon diese Symbole haben ja nichts Zahlenhaftes mehr, die Drei ist in ihrem Symbol »3« nicht mehr zu sehen. Ich kann aber noch weiter gehen und auf die Nutzung physischer Objekte ganz verzichten. Ich kann mich in einen Raum begeben, in dem nichts Zählbares vorhanden ist, und trotzdem rechnen, ich kann mit weiteren Personen in diesem Raum sogar darüber streiten, ob mein Rechenergebnis richtig ist, und wir können, wenn wir die gleichen Regeln nutzen, über die Richtigkeit meiner mathematischen Aussage urteilen. Selbst wenn wir uns nicht einigen würden, wüssten wir doch, dass nur einer von uns recht haben kann. Auch in diesem Fall nutzen wir die mathematischen Gebilde, wir verwenden sie, und sei es nur, um uns die Zeit in diesem öden Raum zu vertreiben. Also existieren die mathematischen Gebilde ganz unabhängig 57 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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von physischen Dingen. Die Frage ist allerdings, ob sie auch unabhängig von den Menschen existieren, die sie benutzen. Gab es die Zahlen schon, bevor der erste Mensch gerechnet und gezählt hat? Oder sind sie mit der kulturellen Praxis der Mathematisierung der Welt auch erst in die Welt gekommen? Es spricht nichts dafür, dass es natürliche Zahlen und Primzahlen, dass es Pi oder die Wurzel aus Zwei schon gab, bevor die Menschen die Welt so gestaltet hatten, dass sie diese Gebilde aus ihrer Welt herauslesen konnten. Aber von da an existierten diese Gebilde, und sie existieren nun auch unabhängig von den einzelnen Menschen und begrenzten Gruppen, die sich dieser Existenz vielleicht verweigern, etwas anderes an ihre Stelle setzen oder gar eine Welt ohne Mathematik errichten wollen. Mathematische Gebilde existieren auch unabhängig davon, ob Alice und Bob sie je verstehen werden, wenn es nur überhaupt Mathematiker gibt, die sie verstehen. Noch mehr: Gesetzt, alle Mathematiker, die eine komplizierte mathematische Theorie mit sehr abstrakten Gebilden verstanden hätten, stürben plötzlich und nur ihre Abhandlungen, Aufsätze und Lehrbücher blieben bestehen: Dann würden diese mathematischen Gebilde nicht verschwinden, sie würden sozusagen ruhen, bis sich jemand mit einer ganz normalen mathematischen Durchschnittsbildung und einigem Talent wieder an diese Bücher setzen und die mathematischen Gebilde, die darin konserviert sind, wieder in die Welt zurückholen würde. Setzen wir nun an die Stelle von mathematischen Gebilden Gott – müssen wir nicht unmittelbar akzeptieren, dass Gott wenigstens in diesem Sinne der mathematischen Gebilde existiert? Wenn die Menschen ihre Welt einmal so gestaltet haben, dass sie Gott in allen Dingen sehen und die Welt auf diese Weise verstehen können, dass sie auf diese Weise handelnd ihre Welt weiter gestalten können, müssen wir dann nicht eingestehen, dass Gott existiert? Und wenn wir uns vorstellen, dass alle Menschen, die an einen Gott glauben, sterben und nur ihre Schriften und anderen Zeugnisse von Gott bleiben in der Welt, müssten wir dann nicht auch annehmen, dass Gott in diesen Dokumenten und Zeugnissen ruht und dass er in die Welt zurückkehren kann, wenn Menschen diese 58 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Schriften wieder zur Hand nehmen und ihren Sinn wieder aufnehmen? Wer diese Frage bejahen würde, muss allerdings mit einem wichtigen Einwand rechnen. Natürlich ist denkbar, dass man, nachdem mit der Erinnerung an Gott auch er selbst aus der Welt verschwunden wäre, der Glaube an diesen Gott wieder aus Schriften und Zeugnissen rekonstruiert werden könnte, sodass man wieder versteht, dass die Menschen einen Gott auf bestimmte Weise gehabt haben müssen. Aber dadurch würde doch der Glaube an Gott nicht wieder entstehen. Anders, so könnte man meinen, bei den Zahlen: Wer die mathematischen Werke lesen und verstehen würde, könnte sogleich auch wieder beginnen, mit diesen Gebilden zu arbeiten, sie zu nutzen, damit zu rechnen und Ergebnisse zu erzielen: Sie würden tatsächlich in diesem Arbeiten wieder existieren. Ist der Unterschied tatsächlich so groß? Was, wenn der Leser der mathematischen Lehrbücher zwar nachvollziehen könnte, was die verstorbenen Mathematiker da getan haben, vielleicht sogar ihre Beweise und Herleitungen selbständig erneut ausführen könnte, der Sinn der ganzen Sache sich ihm aber nicht erschließen würde, da er in einer Welt lebte, die mit solchen mathematischen Dingen nichts praktisch anzufangen wüsste und in der auch der weitgehende Selbstzweck der mathematischen Grundlagenforschung unbekannt wäre? Was umgekehrt, wenn die Menschen beim Lesen heiliger Schriften spüren würden, dass ihnen die Geschichten und die kulturellen Praktiken dieses Glaubens selbst neue, wichtige Einsichten gäben, wenn sie sich dadurch ermuntert fühlten, selbst diesen Praktiken neu zu folgen? Würde man im ersten Fall nicht sagen, dass die mathematischen Gebilde eben nicht wieder belebt würden, während man im zweiten Fall eben doch davon sprechen könnte, dass dieser Gott in die Welt zurückkehrte? Diese Fragen sind beide nicht klar mit Ja oder Nein zu beantworten. Aber beide Möglichkeiten sind offenbar vorhanden, und damit verschwinden auch die prinzipiellen Unterschiede zwischen der Existenz der mathematischen Gebilde und der Gottes. Wir haben auch in diesen Fällen gesehen, welch eine große 59 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Rolle schriftliche Dokumentationen und Überlieferungen, die praktisch für die Nutzung und Wirkung mathematischer Gebilde verwendet werden, spielen. Auch auf die schriftlichen Zeugnisse von Gottes Existenz sind wir wieder gestoßen. Man kann sagen, dass die mathematischen Gebilde ebenso wie Gott in den Worten existieren, mit denen sie benannt und durch die von ihnen gesprochen wird. Indem diese Worte praktische Wirkung bekommen, existiert das, wovon sie sprechen. Damit ist es nun Zeit, von den Dingen zu sprechen, die durch das Wort und die Geschichten über sie entstehen: die fiktionalen Gestalten.
Fiktionen und Geschichten Der Einfachheit halber konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf Gestalten, die in Romanen und geschriebenen Geschichten auftauchen. Fiktionale Gestalten, die in Filmen auftauchen, sollen außen vor bleiben. Wenn es Verfilmungen und Theateraufführungen gibt, sollen uns nicht diese konkreten Umsetzungen interessieren, wir wollen sie bewusst ignorieren. Es ist natürlich ein philosophisch spannendes Unternehmen, die Weise der Existenz von Gestalten zu durchdenken, die uns in der Interpretation eines tatsächlichen lebenden Menschen, des Schauspielers, begegnen, aber für die Zwecke dieses Buchs genügt es, sich auf Gestalten aus geschriebenen und erzählten Geschichten zu konzentrieren – aus dem einfachen Grund, weil Gott und die Götter uns fast immer zunächst eben in geschriebenen oder mündlich überlieferten Berichten und Geschichten begegnen. Betrachten wir zunächst den Fall, dass eine Romangestalt frei und ohne bekanntes Vorbild von einer Schriftstellerin erfunden wurde, etwa Harry Potter. Seine Schöpferin hat sich über einige äußere Merkmale dieser Gestalt genau geäußert, etwa die Gestalt und die Platzierung seiner Narbe auf der Stirn. Alice und Bob können sich über diese Narbe unterhalten, sie können über das genaue Aussehen der Narbe unterschiedlicher Meinung sein. Beide sind aber vermutlich darüber einig, dass es eine richtige Vorstellung von dieser Narbe geben muss, dass also, wenn sie über 60 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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diese Frage in Streit geraten, nur einer von ihnen recht haben kann. Wenn es aber eine irgendwie objektive Wahrheit über die Form der Narbe gibt, dann muss es diese Narbe auch geben, und den, der sie auf der Stirn hat, sowieso. Es ist schlichtweg nicht denkbar, dass man dem Satz zustimmt »Harry Potter hat eine Narbe auf der Stirn, die eine gezackte Form hat« und gleichzeitig dem Satz zustimmt: »Harry Potter existiert nicht.« Man könnte dagegen einwenden, dass in diesen Sätzen »Harry Potter« sozusagen eine Abkürzung ist für »die Romangestalt, die J. K. Rowling erfunden hat und die sie mit ›Harry Potter‹ bezeichnet«. Aber das verschiebt das Problem nur. Denn aus der Frage »Gibt es Harry Potter?« wird dann die Frage: »Gibt es die Romangestalt ›Harry Potter‹ ?« Dass diese Gestalt eine Erfindung der Autorin Rowling ist, ändert ja nichts daran, dass sie existiert. Auch Telefone wurden irgendwann erfunden – und seitdem existieren sie. Romangestalten haben hinsichtlich ihrer Existenz jedenfalls vieles mit Menschen gemeinsam, sie können z. B. eine Narbe auf der Stirn haben, und diese kann nicht ohne weiteres ihre Form und ihren Platz ändern. Würde sich Potters Narbe in einem späteren Band an einer anderen Stelle befinden als bei ihrer ersten Erwähnung, würde man sagen, Rowling hätte einen Fehler gemacht, sie hätte sich wohl selbst nicht richtig erinnert, wo die Narbe wirklich sitzt – das zeigt, dass auch Romanautorinnen keine vollständige Macht über ihre Gestalten besitzen, dass diese, einmal in der Welt, unabhängig von ihrem Schöpfer werden. Wir müssen also Romangestalten eine eigenständige Existenz zugestehen, die unabhängig von den Lesern und auch den Autoren, ihren Erfindern ist. Diese Unabhängigkeit steigert sich noch, wenn Autoren auf Gestalten Bezug nehmen, die es im Fundus der überlieferten Geschichten bereits gibt. Man denke an Dr. Faustus oder an Krabat. Hier geschieht aber etwas Merkwürdiges: Zwar ist der Autor, etwa Goethe, der an seinem Faust schreibt, nicht völlig frei in der Gestaltung seiner Figur. Er muss ihn als einen Magier darstellen, der sich mit dem Teufel einlässt. Natürlich könnte er auch irgendeinen anderen Helden mit dem Namen »Faust« benennen, aber 61 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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das wäre dann eine ganz andere Geschichte, bei der sich die Leser möglicherweise zu Recht fragen würden, warum Goethe ihn gerade Faust nennt. In dem Moment, wo ein Autor seinen Helden Faust nennt, erwartet der Leser, dass es um jene Gestalt geht, die es schon vor Goethe gab und die von Goethe nun aufs Neue gedeutet wird. Und das ist ja auch die Absicht des Autors, der sich, wie man sagt, mit dem Faust-Stoff beschäftigt. Das heißt also, es gibt, es existiert in der Tradition der Überlieferung einer Kultur eine Gestalt, die eine bestimmte Verfasstheit hat, die eine bestimmte Situation besetzt, die eine bestimmte Möglichkeit des Lebens ergriffen hat, und dieser Gestalt wendet sich der Schriftsteller deutend zu. Er erzählt uns sein Verständnis dieser Gestalt, die jedoch unabhängig von ihm existiert. Und wir können mit ihm, dem Autor, übereinstimmen oder uneins darüber sein, ob er die Gestalt sozusagen richtig gedeutet hat, ob die Geschichte, die er uns erzählt, die Gestalt so beschreibt, wie wir sie zu sehen bereit sind. Die Gestalt des Faust, des Magiers, der sich mit dem Teufel eingelassen hat, kann in unserem aus Traditionen und Normen gebildeten Weltverständnis nicht jede beliebige Lebensbewegung ausführen. Die Existenzweise solcher Gestalten definiert einen Möglichkeitsraum von Geschichten, die wir über sie erzählen oder akzeptieren können. Was sich außerhalb dieses Raums befindet, ist falsch. Natürlich kann man an dieser Stelle einwenden, dass aber die Geschichten, die etwa Goethe vom Faust erzählt hat, genau unser Verständnis von den möglichen Geschichten, die von ihm erzählt werden können, mitbestimmen. Dabei muss man allerdings zweierlei bedenken: Heute mag unser Verständnis von Faust durch Goethes Deutung vorrangig bestimmt sein, zu der Zeit seiner Entstehung war das aber noch anders. Hätte Goethe sich nicht an das Verständnis der Faust-Gestalt seiner Zeit angeschlossen, wäre er weitgehend auf Unverständnis gestoßen. Zum anderen bleibt die Gestalt des suchenden Weltveränderers, der sich, um seine Ziele zu erreichen, auch mit dunklen Mächten einlässt, weitgehend unabhängig von Goethes Deutung – wir selbst können diese Gestalt in Goethes Faust-Version hineininterpretieren. Wenn uns das gelingt, dann sagt uns Goethes Faust heute noch 62 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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etwas, wenn nicht, dann sehen wir uns nach anderen Deutungen um, die die Gestalt beschreiben, die wir als unabhängig von Goethe existierend erleben. Dass es eine Stimmigkeit geben muss zwischen den Gestalten, die in der Tradition und in dem Geschichtengeflecht einer Kultur existieren, und den Gestalten, die sich in der Literatur darauf beziehen, bemerken wir besonders dann, wenn die Gestalten Namen und Lebensdaten von historisch verbürgten Personen haben. Manchmal wird intuitiv die Forderung erhoben, die literarischen Gestalten müssten doch historisch korrekt dargestellt werden. Andererseits wissen wir, dass auch jede historische Darstellung eine Deutung ist. Auch hier sieht man, dass die Gestalt, die in der Literatur und in der Geschichtsschreibung gedeutet wird, eben auf eine andere Weise existiert als die historische Person, die physisch zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Orten existiert hat. Jede Gestalt, von der in Geschichten, Berichten und anderen mündlich oder schriftlich überlieferten Erzählungen die Rede ist, hat, solange diese Erzählungen lebendig sind, eine eigene Existenz. Über sie kann man nicht irgendetwas Beliebiges erzählen, aber sie können sich verändern, sie haben sozusagen ein »Leben nach dem Tode« – sofern sie als physische Menschen jemals gelebt haben. Fiktionale Gestalten existieren in den Geschichten, ob geschrieben oder mündlich überliefert, die in einer kulturellen Gemeinschaft weitererzählt und weiterentwickelt werden. Das bedeutet nicht, dass sie nur zwischen den Buchdeckeln, in der Reihe von Buchstaben, mit denen ihre Geschichte dokumentiert ist, existieren würden. Dort existieren sie nicht einmal in erster Linie. Ihre eigentliche Existenz konstituiert sich im Erzählen, im Darüber-Reden, im Gespräch über diese Gestalten. In diesen Gesprächen wird entschieden, wie die Gestalten wirklich sind, und bekanntlich kann man in diesen Gesprächen zu richtigen, wahren Aussagen und Urteilen hinsichtlich der fiktionalen Gestalten kommen. Diese Existenz ist also nicht davon abhängig, dass konkrete einzelne Personen entscheiden, die Geschichte so oder anders oder gar nicht weiterzuerzählen. Die Existenz dieser Gestalten wird 63 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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nämlich durch die Akzeptanz der Erzählung bei anderen Menschen gesichert. Wenn sich Alice heute eine neue Geschichte über Harry Potter ausdenken und erzählen würde, hätte sie kaum eine Chance darauf, dass diese Geschichte weitererzählt wird. Wir wissen, wie Harry Potter wirklich ist, eine neue Geschichte über Harry Potter muss nicht nur plausibel sein, sie muss sogar eine gewisse Rechtfertigung dahingehend haben, dass sie im Rahmen des Gesamtwerks notwendig ist. Sie müsste eine Lücke schließen, eine Voraussetzung herleiten oder eine Konsequenz beschreiben.
Zusammenfassung: Was existiert wirklich? In diesem Kapitel ging es noch nicht in erster Linie um die Existenz Gottes. Ziel war es zunächst, den Begriff der Existenz, die Rede vom »es gibt …« überhaupt in der Vielfalt der sinnvollen Verwendungen zu entfalten. Denn wenn hier behauptet werden soll, dass die Existenz Gottes eine plausible Überzeugung ist, dann muss erst einmal Klarheit darüber herrschen, was »Existenz« überhaupt heißt. Es ist deutlich geworden, dass Existenz nicht bedeutet, dass ein Ding physisch in Zeit und Raum da sein muss, dass es mehr Möglichkeiten der Existenz gibt als das bloße physische Vorhandensein an einem bestimmbaren Ort während eines klaren Zeitabschnitts. Schon diese »einfache« physische Existenz hatte sich als fragwürdig erwiesen, denn es ist sichtbar geworden, dass die Rede vom Existieren immer eine Deutung des Vorhandenen als etwas ist. Ein Tisch existiert in diesem Raum nur für jemanden, der mit einem Tisch etwas anzufangen weiß, der einen Begriff von einem Tisch hat. Für jeden anderen ist dort vielleicht irgendwas, womöglich Bau- oder Brennmaterial, vielleicht auch nichts. Die Behauptung von Existenz ist immer Deutung der Beobachtung als etwas. Das gilt auch für die so genannten Dinge des Alltags. Wenn wir die Vielfalt der Beobachtungen nicht als die Gegenstände des Alltags zu deuten in der Lage wären, dann wären wir in all dem von Nichts umgeben. 13 Natürlich sind wir es in unserem ganzen Leben gewohnt und haben es gelernt, die Be64 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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obachtungen als Gegenständlichkeit in Raum und Zeit zu deuten, und wenigstens diese einfachste Deutung, dass da um mich herum Gegenstände existieren (was es mit ihnen vielleicht auch immer auf sich hat), ist so selbstverständlich, dass ich sie nicht hintergehen kann. Das ändert aber nichts daran, dass selbst dieses Verstehen meiner Umgebung schon eine Deutung ist. Und häufig, wenn die Beobachtung unsicher wird, wird es auch schwierig mit der Antwort auf die Frage, ob da nun etwas ist oder nicht. Beobachtung ist allerdings nicht als bloßes Anstarren und »Verfolgen mit den Augen« zu verstehen. Auch das bloße »Hinhören« erschöpft nicht das, was zum Beobachten eigentlich notwendig dazugehört. Zwar könnte man das Wort »Beobachten« für die Fälle reservieren, in denen wir unbeweglich in einem Raum sitzen und nichts weiter nutzen als Augen und Ohren (die wir aber »weit aufsperren«), um die Veränderungen in unserer Umgebung wahrzunehmen und als Existenz von Dingen, die uns umgeben, zu deuten. Aber zu dieser Art von Beobachtung wären wir gar nicht in der Lage, wenn wir nicht eine viel umfassende Weise der Welterkundung zuvor erlernt hätten. Zwar können wir als Erwachsene im Alltag und in vertrauten Umgebungen schon durch flüchtiges Hinsehen recht sicher feststellen, ob da etwas ist, ob da ein Gegenstand existiert. Das liegt aber daran, dass wir von ersten Kleinkindtagen an durch eine ganz andere Art von Beobachtung diese Alltagsumgebung erkundet haben: Durch Hinund Herwenden, durch Herumgehen, durch praktisches Ausprobieren haben wir die Welt in ihrer Gegenständlichkeit erfahren. Und wenn wir in unbekannter Umgebung sind, müssen wir auch später noch genau so verfahren: Um sicher zu sein, dass da etwas ist, müssen wir uns nähern, die Perspektive wechseln, das Ding von allen Seiten erkunden. Wir müssen einen praktischen Umgang damit erlernen. In der Praxis erst erweist sich die tatsächliche Existenz. Alles, was existiert, hat mir seine Existenz im praktischen Umgang mit Situationen, in denen ich diese Existenz erlebt habe, erwiesen. Die Deutung der Beobachtungen als Etwas, das existiert, hat sich im praktischen, aktiven Umgang mit diesem Etwas bewährt. Durch praktisches Erleben, durch ein Verhalten,
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das der Existenz angemessen ist und mit der Existenz angemessen umgehen kann, erweist sich die Existenz. Beobachtung ist also immer eine Aktivität, die Zeit braucht, sie ist ein Prozess. In diesem Prozess sammeln wir Erfahrungen mit dem Ding, aus dem flüchtigen Eindruck, dass da etwas sein könnte, verdichtet sich die Gewissheit, dass da wirklich etwas ist – und mit dieser Gewissheit geht die Deutung einher, was es ist, was es mit dieser beobachteten Sache eigentlich auf sich hat. Das impliziert, dass Existenz eine gewisse Stabilität haben muss. Gleiche Erfahrungen müssen dazu berechtigen, darauf zu vertrauen, dass etwas auf die gleiche Weise in einer anderen Situation erneut existiert. Beobachtungen müssen wiederholt werden können, damit wir ihrer sicher sind. Wenn ich mich dem Ding jetzt auf die gleiche Weise nähere wie vorhin, dann muss die Folge von Beobachtungen sich wiederholen. Ein Schatten im Nebel kann sich nicht jetzt als feste Wand und im nächsten Moment als Trugbild erweisen. Wenn etwas, von dem ich eben noch berechtigterweise sagen konnte, dass es existiert, jetzt verschwindet, muss es einen Grund dafür geben, oder es hat nie existiert. Diese Stabilität hat damit zu tun, dass wir unsere Gewissheiten über die Existenz einer Sache vor und mit anderen rechtfertigen wollen und müssen. Nur selbst von der Existenz einer Sache überzeugt zu sein, ist zumeist selbst für mich nicht ausreichend: Ich muss anderen meine Gewissheit, dass das Ding da ist, plausibel machen können, und zwar so, dass sie selbst am Ende diese Gewissheit teilen. Das setzt voraus, dass ich den anderen die fragliche Sache zeigen kann und dass sie mit mir die Ansicht teilen, dass die Beobachtungen, die ich gemacht habe und die sie nun auch machen, dazu berechtigen, sicher zu sein, dass die Sache wirklich da ist. Wir haben dazu eine Reihe von kulturellen und gemeinschaftlichen Techniken etabliert, mit denen wir einander davon überzeugen, dass Dinge existieren und dass sie so existieren, wie wir sie deuten. Dazu gehört das Zeigen, die Vergewisserung, dass der andere auch wahrnimmt, was ich wahrnehme, und das gegenseitige Bestätigen, dass die Wahrnehmung, die man gemeinsam hat, eine gewisse Deutung eines Dings als ein Etwas erlaubt. Dazu 66 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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gehören auch das Berühren, das gemeinsame Betrachten des Dings von allen Seiten und viele weitere gemeinsame Erfahrungen mit der Sache, um deren Existenz es geht. Am Ende solcher gemeinsamen Beobachtungen und Erfahrungen steht die gemeinsame Überzeugung, dass das Ding existiert und dass es das ist, wofür wir es halten. Genauer: Dass die Beobachtungen und Erfahrungen, die wir gemeinsam gemacht haben, so gedeutet werden können, dass da etwas existiert, das wir als ein bestimmtes Ding, als Etwas ansehen. Bemerkenswert daran ist, dass es keine irgendwie objektive Kriterienliste von Existenz für eine Sache gibt. Sie existiert, wenn die Beobachtungen sich im praktischen Umgang stabil und gemeinschaftlich so deuten lassen, dass die Sache existiert. Die Kriterien dafür werden wiederum in der gemeinschaftlichen Praxis des Umgangs von Menschen mit ihrer Welt herausgebildet. Bei den zusammenfassenden Überlegungen zur Existenz, die wir in den letzten Absätzen zusammengetragen haben, mögen die meisten Leser wiederum physische Dinge, vielleicht Wände im Nebel oder andere undeutliche Wahrnehmungen als Beispiele im Sinn gehabt haben. Vielleicht hat sich der eine oder die andere auch an einmalige klare Beobachtungen erinnert, die man einmal gehabt hat und die sich später nicht reproduzieren ließen: ein Schiff am Horizont etwa, das beim erneuten Hinsehen verschwunden war und bei dem man selbst unsicher wurde, ob es überhaupt da gewesen ist, auch wenn man es doch ganz deutlich gesehen hatte. All diese Überlegungen sind jedoch überhaupt nicht auf physische, in Zeit und Raum existierende Dinge begrenzt. Der Existenzbegriff, den wir jetzt gefunden haben, lässt sich auch auf all die theoretischen Entitäten, die mathematischen Gebilde und die fiktionalen Gestalten anwenden, von denen in diesem Kapitel die Rede war. Uns geht es hier um die Frage nach der Existenz Gottes. Schon im Verlaufe der Überlegungen dieses Kapitels hatten wir gesehen, dass es für die Gewissheit, dass Gott existiert, keineswegs notwendig oder auch nur sinnvoll ist, nach dem physischen Ort zu fragen, an dem sich Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt auf67 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Existenz
gehalten hat oder aufhalten wird. Es gibt viele Wege, Gewissheit über die Existenz eines Wesens oder eines Dings zu erlangen. So, wie es für mathematische Gebilde, fiktionale Gestalten und theoretische Entitäten keine Zeit- und Ortsangabe ihrer physischen Existenz geben muss, so muss es diese auch nicht für einen Gott geben, an den man plausibel glauben kann. Das heißt aber nicht, dass dieser Gott eine theoretische Entität oder eine fiktionale Gestalt – oder vielleicht eine Mischung aus beidem ist. In den weiteren Kapiteln werden wir sehen, dass es plausible Gründe dafür gibt, sich der Existenz eines Gottes gewiss zu sein. Diese Gründe gehen weit über das hinaus, was bereits über die Existenz von fiktionalen Gestalten und theoretischen Entitäten gesagt wurde.
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Gottes Geist erleben
Ich und Du, Er und Sie Im vorigen Kapitel ist eine Art von Wesen noch nicht zur Sprache gekommen, über deren Existenz man im Alltag kaum Zweifel hat, bei der es aber schwierig ist, genau zu sagen, was man damit meint: Es geht um die Personen, um mich selbst, um den anderen, den ich mit »Du« anspreche, um diejenigen, über die wir beide sprechen und die wir mit »Er« und mit »Sie« benennen. Existiere ich selbst? Eine merkwürdige Frage, denn allein die Tatsache, dass ich es bin, der diese Frage stellt, scheint doch klar zu belegen, dass ich existiere. In Descartes berühmtem Satz »Ich denke, also bin ich« ist ausgesprochen, dass ich an meiner eigenen Existenz am wenigsten zweifeln kann. Aber wo existiere ich? Seit wann existiere ich, und wann endet meine Existenz? Offenbar ist meine Existenz an die physische Existenz meines Körpers gebunden. Bevor dieser Körper nicht »da war«, gab es mich auch noch nicht, und wenn dieser Körper nicht mehr in Zeit und Raum vorhanden ist, dann werde auch ich nicht mehr da sein. Wir wollen hier von vornherein nicht über die Existenz einer unsterblichen Seele spekulieren, denn wir wollen uns an die Erfahrungen halten, die jeder Mensch macht und nachvollziehen kann. Irgendwann in den ersten Lebensjahren habe ich zum ersten Mal »Ich« gedacht und gesagt und irgendwann vor meinem Tode werde ich zum letzten Mal die Gewissheit haben, dass es mich gibt. Es ist philosophisch sicherlich bedenkenswert, aber für unsere Überlegungen hier nicht wichtig, ob dieses Ich mit meiner Geburt zu existieren begonnen hat und im Moment meines Todes aufhört zu existieren. Es gibt vielleicht gute Gründe, anzunehmen, dass das Ich-sagende Wesen erst Jahre nach der Geburt zu existieren beginnt und dass es vielleicht schon wieder verschwindet, bevor der Körper sein Lebendigsein beendet. Klar ist: Dieses 69 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Gottes Geist erleben
Ich-sagende Wesen, das wir im weiteren als Subjekt bezeichnen wollen, ist in seiner Existenz davon abhängig, dass da ein lebendiger Körper ist, und sein Ort ist, in irgendeinem Sinne, der Ort dieses Körpers. Aber zugleich bin ich nicht mein Körper. 14 Wenn ich mir meiner gewiss bin, dann nicht auf der Grundlage einer Beobachtung meiner Körperbewegungen, nicht auf der Grundlage der Wahrnehmung meiner Atmung, meines Pulsschlages oder gar meiner Hirnaktivitäten. Die meisten physischen, biologischen, chemischen Prozesse, an die meine Existenz gebunden ist und von deren Zusammenspiel ich wohl auch abhängig bin, sind mir gänzlich unbekannt und undurchschaubar. Ich nehme sie nicht wahr, gerade wenn ich mir meiner als Subjekt am meisten bewusst bin, sind mir all diese Prozesse am wenigsten präsent. Zwar kann ich, als naturwissenschaftlich geschulter Mensch, auch biologische Prozesse mit meiner Selbstwahrnehmung als Subjekt verknüpfen, etwa den beschleunigten Herzschlag und die intensivere Atmung nach einer erschöpfenden Bewegung oder bei einer emotionalen Berührung – aber diese Wahrnehmungen sind sozusagen der ursprünglichen Wahrnehmung meiner subjektiven Empfindung meines Ich-Seins nachgelagert, ich nutze sie, um meine Selbstempfindung zu analysieren und sozusagen zu objektivieren. Zumeist jedenfalls ist mir, was dieser Körper tut, um meine Existenz zu sichern, ganz verborgen, und umso mehr ich mich als Ich erlebe, desto weniger erlebe ich meinen Körper als physisches Ding in der Welt. Ebenso ist es, wenn ich mich auf das Subjekt mir gegenüber ausrichte, das ich mit Du anspreche. Die Frage »Wie geht es dir?« kann zwar wiederum eine analysierende Betrachtung des anderen über seine körperlichen Prozesse auslösen, aber wie es ihm geht, werde ich nicht erfahren, wenn ich die Zahl der Pulsschläge oder der Atemzüge in einer Minute in Erfahrung bringe. »Mir geht es gut« oder »Mir geht es gar nicht gut« sind Aussagen über das andere Subjekt, bei denen wiederum der Status jenes Körpers, an den dieses Subjekt gebunden ist, nur ein Aspekt ist oder vielleicht sogar überhaupt keine Rolle spielt. Wenn ich einen anderen Menschen anspreche oder mit einem 70 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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anderen Menschen von einem dritten Menschen spreche, dann meine ich nicht seinen Körper, sondern ihn als Subjekt. Wir verwenden für dieses Subjekt auch die Begriffe Seele oder Geist, wir wollen aber hier für unsere Zwecke bei dem Begriff Subjekt bleiben, um nicht schon durch die Begriffsverwendung einen religiösen oder genauer gesagt göttlichen Bezug herzustellen, dessen Plausibilität ja erst aufgezeigt werden soll. Zunächst soll gezeigt werden, dass das Erleben des Subjekts, die Existenz des Subjektes, nicht auf die Existenz und auf die Beobachtung des Körpers, an den das Subjekt gebunden ist, reduziert werden kann. Mein eigenes Subjekt-Empfinden, die Gewissheit, dass ich selbst existiere und dass diese Existenz etwas anderes ist, als anzuerkennen, dass da ein Körper ist, der über eine Reihe erstaunlicher Fähigkeiten verfügt, begleitet mich mein ganzes Leben. Ich habe gar keine Erinnerungen an Erlebnisse ohne die Gewissheit, dass es meine Erlebnisse sind. Die Gewissheit, dass ich existiere, ist irgendwann in meiner frühen Kindheit entstanden, und alles, an was ich mich erinnere, ist mit dieser Gewissheit verknüpft. Anders ist es, wenn ich mir die Frage stelle, ab wann ein anderes Subjekt als Subjekt, als ein Du oder ein Sie oder Er für mich da ist. Das andere Subjekt erkenne ich in seiner ersten aktiven Zuwendung zu mir (oder zu einem anderen Ich) – in seinem ersten Lächeln oder seinem ersten Zorn oder in seinem ersten wachen Blick. Genauso ist es mit dem Ende des Lebens: Während es vorstellbar ist, dass ich lange vor dem Ende meines biologischen Lebens schon keine Gewissheit über die Existenz meiner selbst mehr habe, bin ich, wenn ich die Gegenwart eines sterbenden Menschen erlebe, doch noch lange ganz sicher, dass er anwesend ist, diese Gewissheit kann sogar über das Ende des Lebens des anderen hinausgehen. Diese Gewissheit der Anwesenheit des anderen, die über das Vorhandensein seines Körpers weit hinaus geht, zeigt, dass wir mit dem Er, dem Sie oder gar dem Du immer etwas anderes meinen als den Körper, an den das Subjekt gebunden ist. Dass dieser Körper da ist, ist eine einfache Selbstverständlichkeit, die durch unsere Sinne geprüft werden kann. Medizinische Geräte stellen fest, ob dieser Körper, wie man sagt, arbeitet, ob die biologischen 71 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Prozesse des Lebens ablaufen oder nicht. Dass da ein Mensch, ein Subjekt da ist, diese Gewissheit ziehen wir aber nicht aus den Ergebnissen sachlicher Beobachtungen von Körperfunktionen. Es wird von Seiten der Wissenschaften viel Kraft und Aufwand investiert, um zu zeigen, dass das Subjektiv-Geistige oder Seelische des Ich und des Du auf objektiv beobachtbare, messbare Prozesse und auf Kausalitätsketten reduziert werden kann, die in biologischen Modellen beschrieben werden können. Man versucht, Empathie durch Spiegelneuronen zu erklären und Entscheidungen des Subjekts als täuschendes Schauspiel eines Neuronenfeuerwerks zu entzaubern. All diese Modellerklärungen sind interessant und können uns tatsächlich Einsichten in die biologischen Grundlagen und Bedingungen unseres Lebens und Erlebens geben. Sie sind allerdings im Grunde nichts Neues gegenüber den lange bekannten Tatsachen des Blutkreislaufs, der Verdauungsprinzipien und der Chemie der Zellprozesse. Über all diese Dinge wissen wir, dass sie notwendig sind, damit unser subjektives Erleben möglich ist, aber dass sie nicht das sind, was wir erleben, wenn wir uns und die anderen Menschen wahrnehmen und erleben. Wir haben keine Vorstellung von chemischen Zellprozessen, wenn wir Hunger haben oder Schmerzen spüren, und wir beobachten keine Ströme in den neuronalen Netzen unseres Gehirns, wenn wir Mitleid oder Sympathie empfinden, sondern wir haben diese Empfindungen ganz unmittelbar als Teil unseres subjektiven Geistes. Auch können wir nicht durch genaueres Hinsehen oder konzentriertes Beobachten eines Schmerzes oder des Mitleids plötzlich die biologischen oder chemischen Details des Gefühls erkennen, wie wir etwa die Bäume eines Waldes sehen können, den wir von weitem nur als grüne Linie am Horizont gesehen haben, wenn wir nur näher herankommen. Es ist eine Erfahrung, die im Sinne unseres modernen Verständnisses von Erklärung unerklärlich ist: Wir erleben etwas, das ohne seine biologische Grundlage nicht möglich ist, können aber gerade diese biologische Grundlage nicht erleben, sondern eben nur unsere nicht-biologische, subjektiv-geistige Existenz. Ich kann denken, aber ich kann die biologischen Prozesse, die bei diesem Denken passieren und von denen ich sicher annehme, dass 72 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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sie zum Denken auch nötig sind, nicht erleben. Mehr noch, ich weiß zugleich, dass diese biologischen Prozesse nicht mein Denken sind. Nehmen wir als Beispiel, um das Ungeheuerliche des hier Gemeinten deutlich werden zu lassen, ein farbiges Bild, das ich auf dem Monitor meines Computers vor mir haben kann. Ich kann dieses Bild als Ganzes sehen und deuten und zugleich wissen, dass dieses Bild eben nur aus einzelnen Farbpunkten besteht, dass es genau genommen nichts anderes ist als eine große Menge farbiger Punkte. Ich kann mir all die physikalischen und physiologischen Prozesse verständlich machen, die aus den Punkten aus gewisser Entfernung ein Bild »werden lassen«, ja, ich kann diesen Übergang sogar beobachten, indem ich mich dem Bild immer weiter nähere und am Ende womöglich eine Lupe zur Hilfe nehme. All das ist ganz unproblematisch, die Materie des Bildes und die Materie der Einzelpunkte bleibt die gleiche. Meine Gedanken aber, die ich mir über dieses Bild und über die Punkte mache, die Ideen, die ich darüber habe, die Gedanken, die sich die Leser dieses Textes über das Bild, die Punkte und über meine Gedanken zu diesen Dingen machen, diese Gedanken sind nicht in der gleichen Weise auf irgendetwas Physisches reduzierbar, nicht auf die chemischen Prozesse in unseren Gehirnen, nicht auf die optischen Vorgänge in unseren Augen und auch nicht auf eine Summe aus all dem. Denn so weit man auch mit den Messgeräten, die das physikalische, biologische und chemische Geschehen womöglich aufzeichnen könnten, vom einzelnen physischen Geschehen weg geht oder wie weit man sich dem auch nähert, die Gedanken selbst, meine Ideen und Überlegungen, kommen nicht in den Blick. Sie selbst sind nicht messbar, wie das Bild als Farbflächenverlauf messbar ist. Kein wissenschaftlicher Sensor kann die Gedanken selbst aufzeichnen oder sichtbar machen. Und dies scheint nicht nur vorläufig ausgeschlossen zu sein, es besteht vielmehr eine unüberbrückbare Hürde zwischen den chemischen und biologischen Prozessen und den Gedanken. Das bedeutet nicht, dass es nicht denkbar wäre, dass ein solches Messverfahren irgendwann einmal relativ sichere Aussagen darüber machen kann, was ich gerade denke. Letztlich gibt es keinen 73 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Unterschied zwischen einem Temperaturmessgerät, das die Veränderung der Oberflächentemperatur meiner Haut misst und daraus ableitet, ob ich Angst empfinde oder mich wohl fühle, und einem komplizierten Gerät, das Aktivitäten von Hirnregionen misst. Man kann die Messungen interpretieren, und da unbestritten unsere subjektiven Erlebnisse mit solchen Hirnaktivitäten verbunden sind, kann man womöglich durch wiederholte Messungen Vermutungen über die subjektiven Gedanken ableiten. Das bedeutet aber nicht, dass man Gedanken selbst sichtbar machen kann. Um den gewaltigen Unterschied deutlich zu machen, muss man sich nur vorstellen, dass das Gerät eine Aussage über meine Gedanken produziert, die mit meinem eigenen tatsächlichen Erleben nicht übereinstimmt. Würde ich mich jemals auf der Basis eines solchen Messergebnisses korrigieren? Wir wissen, dass wir etwa bei Farbwahrnehmungen zu solchen Korrekturen bereit sind. Ich empfinde einen Grünton, das Messgerät zeigt mir aber eine andere Farbe an. Das kann durchaus dazu führen, dass ich nach den Ursachen meiner Täuschung suche. Vergleichbares ist aber hinsichtlich meiner subjektiven Gedanken, Ideen und Überlegungen nicht möglich. Wie ausgefeilt ein Messverfahren auch immer sein könnte, wenn es über meine Gedanken etwas anderes behauptet, als ich tatsächlich erlebt, also gedacht, überlegt, vorgestellt habe, werde ich immer sagen, dass das Gerät einen Fehler gemacht hat. Es ist auch nicht denkbar, dass es irgendein Verfahren gibt, das eine Täuschung meiner selbst über meine eigenen Gedanken aufzeigen könnte. 15 Man stelle sich vor, ich käme zu der Einsicht: »Ich glaubte, in dem Moment über die Farbe der Blume dort nachzudenken, aber ich habe mich getäuscht. Wie das Gerät dort richtig festgestellt hat, habe ich in Wahrheit über den Geschmack von Brot nachgedacht.« – Das ist absurd. Hinsichtlich meiner eigenen Gedanken kann ich mich also nicht auf die gleiche Weise irren wie etwa hinsichtlich einer Farbwahrnehmung. Aber was hat das mit Gott zu tun? Darauf werden wir gleich kommen. Im Moment gilt es festzuhalten, dass das subjektive Erleben des eigenen Ichs gegenüber allen physischen Wahrnehmungen etwas ganz Besonderes ist. Aber dessen un74 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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geachtet ist völlig klar, dass dieses Ich existiert, und auch die anderen Subjekte, die ich mit Du und Er und Sie anspreche, existieren so wie ich, auch die Gewissheit ihrer Existenz ist dabei eine andere als die Sicherheit, dass physische Gegenstände existieren. Um noch besser zu sehen, dass meine jeweils eigenen mentalen Erlebnisse, also das, was man auch als Geist oder Seele, als mein Ich-Selbst bezeichnen kann, etwas grundsätzlich anderes ist als die biologisch-chemischen Prozesse meines Körpers, an die sie gebunden sind, soll ein weiterer Vergleich helfen. Wir können viele Gegenstände als Summe von Einzelteilen verstehen. Ein Getreidefeld etwa, in das der Wind hineinweht, können wir ohne große Schwierigkeiten als große Menge einzelner Getreidepflanzen auffassen, die Wellenbewegung, die der Wind auf dem Feld verursacht, können wir ganz und gar auflösen in die Bewegung der einzelnen Ähren, die aneinanderstoßen und ihre Bewegungen synchronisieren. Wir sehen dann nicht mehr das große Feld, sondern die einzelnen Pflanzen, und wir können verstehen, wenn jemand sagt, dass es das Feld eigentlich gar nicht gibt, dass das Feld und die Wellen nur Deutungen, Interpretationen und grobe Beschreibungen unserer Wahrnehmung sind, auch wenn uns, aus einer gewissen Entfernung, gar keine andere Möglichkeit der Deutung zur Verfügung steht, als ein Feld und Wellenbewegungen zu sehen. Wir würden mit den Argumenten des vorigen Kapitels auch sagen, dass das Feld und die Wellen existieren, aber wir hätten kein Problem damit, zu akzeptieren, dass aus der Nähe sich das Feld in einzelne Ähren auflöst. Wenden wir nun den Blick vom Feld zurück auf uns selbst, auf den, der da deutet und interpretiert und über diese Deutungen und Interpretationen sogar nachdenkt. Können wir über die Deutungen und Interpretationen ebenfalls sagen, dass sie sich bei genauerer, näherer Betrachtung in chemische und biologische Prozesse auflösen, die in meinem Gehirn stattfinden? Wohl kaum, denn das Deuten und Interpretieren bleibt immer präsent, es bleibt immer das Erste; selbst wenn ich über die Prozesse nachdenke, die dabei in meinem Gehirn stattfinden, kann ich nicht umhin, zuzugeben, dass es meine Überlegungen, Gedanken, die Aktivitäten meines Geistes sind, die dieses Nachdenken aus75 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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machen. Ja, selbst wenn mir jemand beweisen will, dass meine Geistesregungen nicht mehr sind als biologische Prozesse, dann ist es sein Geist mit seinen Überlegungen, die darauf aus sind, meinen Geist in seinen Gewissheiten zu erschüttern und von etwas Neuem zu überzeugen – es sind nicht seine biologischen Prozesse, die da etwas wollen und tun, es ist er selbst. Und es ist auch er selbst, der vielleicht ungeduldig mit mir wird, weil ich seine Ungeduld nicht als bloße Biologie, sondern als Aktivität seines Geistes interpretieren muss. Damit sind wir bei den Anderen, bei denen, die ich mit »Du« anrede oder über die ich als »Sie« und als »Er« spreche. Das kleine Beispiel vom Streit über meine Gewissheiten und die Überzeugungen des Anderen hat schon gezeigt: Auch der Existenz ihres jeweiligen eigenen Geistes, ihrer Seelen, wenn man so will, bin ich auf ganz andere Weise gewiss als der Existenz irgendwelcher biologischen und chemischen Vorgänge in ihren Körpern und Gehirnen, an die ihr Geist doch gebunden ist. Denn alles, was sie tun und äußern, kann ich überhaupt nur so verstehen und einordnen, dass ich annehme, dass da ein Geist wie meiner ist, der Überzeugungen hat und Überlegungen anstellt und der mit mir, nicht mit meinem Körper, sondern eben mit meinem Geist, über diese Überlegungen reden will, der mich von seinen Überzeugungen überzeugen will. Wenn wir nun einsehen, dass unsere jeweils eigene Subjektivität, unser jeweiliger eigener Geist etwas anderes ist als die körperlichen Prozesse, an die er gebunden ist, dann müssen wir uns fragen: Warum gibt es dieses Subjekt? Eins ist natürlich klar: Wenn es ihn nicht gäbe, dann könnten wir uns das nicht fragen, denn es ist mein Geist und, wie ich hoffe, der Geist meiner Leser, denen sich diese Frage nun aufdrängt. Es könnte auch eine ganz geist-lose Welt geben, in der kein Geist sich fragen würde, warum es ihn gibt. Stellen wir uns kurz eine solche Welt vor: Natürlich könnten im Verlaufe der Evolution komplexe Organismen entstanden sein, die mit Sinnesorganen und Speicher- sowie Verarbeitungsmechanismen zur Analyse der eingehenden Signale ausgestattet sind und die aus der Signalverarbeitung entsprechende Reaktionen 76 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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zeigen. Unsere Maschinen- und Computerwelt zeigt, was da alles möglich ist. Solche komplexen Systeme hätten auch durch ganz natürliche Evolutionsprozesse im Verlaufe langer Zeit entstehen können, und zum Teil sind sie natürlich auch entstanden. Viele Reiz- und Reaktionssysteme in der Pflanzen- und Tierwelt haben die Komplexität von elektronischen Regelsystemen. Was da genau an welcher Stelle komplexer ist, können wir hier getrost dahingestellt lassen. Wir werden uns im nächsten Kapitel der schwierigen Frage widmen, warum es überhaupt eine Evolution gibt. Hier müssen wir uns zunächst der Tatsache stellen, dass die Evolution die Entstehung des Geistes nicht erklären kann. 16 Dabei müssen wir nicht einmal annehmen, dass nur den Menschen die Eigenschaft zukommt, einen Geist oder eine Seele zu haben. Wir können die Ansicht vertreten, dass auch andere Lebewesen bereits so etwas wie ein Ich-Bewusstsein besitzen, dass sie ihre Artgenossen als ein Du betrachten. Aber es bleibt dabei, dass die Entstehung dieses Ich-Bewusstseins nicht als Evolutionsschritt angesehen werden kann. Immer komplexere chemische und biologische Prozesse, Reaktionssysteme, Regelkreise – all das ist denkbar. All die Prozesse, die wir als Differenzierung, Spezialisierung, als immer komplexere Rückkopplungsmechanismen deuten können, können wir nämlich auflösen in die darunter liegenden chemischen, biologischen und physikalischen Prozesse. Nichts von den komplexen Prozessen des Lebens ist am Ende mehr oder etwas anderes als Physik, Chemie und Biologie. Mit einer Ausnahme: das denkende Subjekt, der Geist, unsere Gedanken, unsere Wünsche, Ziele, unsere Fähigkeit, Ich und Du zu sagen und zu denken. Dieser je eigene Geist, die Seele oder das Selbstbewusstsein, mein eigenes Wissen um meine eigene Existenz und um die Existenz der Anderen mit ihren je wieder eigenen Wünschen und Überzeugungen, das lässt sich nicht in Naturprozesse auflösen. Und damit all das nicht, was wir im Verlauf dieses Kapitels noch genauer betrachten werden. Wir haben keine natürliche Erklärung für die Existenz unseres eigenen Geistes, unseres eigenen Ichs. Eine solche Erklärung haben wir nicht nur »noch nicht« – wie Naturwissenschaftler viel77 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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leicht gern sagen würden –, sie scheint sogar grundsätzlich ausgeschlossen. Denn die Prinzipien der naturwissenschaftlichen Erklärung, das »Auflösen« eines Phänomens in ein darunter liegendes anderes, bei der das erste Phänomen verschwindet und restlos in Begriffen des Basisphänomens beschrieben werden kann, funktioniert beim Geist nicht. Der Geist bleibt von den natürlichen Lebensprozessen, an die er doch gebunden ist, immer ganz verschieden. Wenn wir die Entstehung unseres eigenen Geistes auf natürliche Weise nicht erklären können, müssen wir uns nach anderen Erklärungsmöglichkeiten umsehen. Eine Möglichkeit ist, dass ein Geist schon da war, bevor die Evolution der natürlichen Prozesse überhaupt die biologische Basis für Lebewesen hervorgebracht hatte, die einen eigenen Geist haben konnten. Wir werden im nächsten Kapitel die Möglichkeit erwägen, dass dieser bereits bestehende Geist selbst auf eine gewisse Weise die Evolution beeinflusst haben könnte, um diese Wesen hervorzubringen. Dieser Gedanke wird vermutlich bei einigen Lesern eine gewisse Abwehrhaltung hervorrufen, und ich kann diese Leser nur bitten, geduldig auf den genauen Gang der Argumentation zu achten. Der jeweils eigene Geist, den ein Subjekt jeweils als seinen erlebt, ist vor der Geburt des Körpers, an den es gebunden ist, nicht da. Und nach dem Tode eben dieses Körpers ist er ebenfalls nicht mehr da. Aber eben in diesem oder an diesem Körper erwacht das Subjekt plötzlich und es erlebt sich selbst nicht als Körper, sondern als Geist, der Ich sagen kann und der andere als Du und Sie und Er erleben und verstehen, also als seinesgleichen auffassen kann. Gerade diese Tatsache des Erlebens und Verstehens anderer Subjekte verweist darauf, dass die Ursache dieses geistigen Selbstverstehens in einer Teilhabe an einem transzendenten, nicht physischen Geistigen liegt. Das Geist-Sein ist als Möglichkeit in der Welt angelegt, und jeder einzelne Geist erwacht zu einem Ich, das an dieser Geistigkeit teilhaben kann. Dass diese Teilhabe mehr ist als ein bloßes Hervortreten einer neuen Komplexitätsstufe auf der Basis einer gewissen Komplexität der physischen Materie, wird eine genauere Betrachtung dieser Geistigkeit in den nächsten Abschnitten dieses Kapitels zeigen. Denn unsere 78 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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menschliche Geistigkeit, die wir jeweils als Subjekte besitzen, besteht ja nicht nur darin, dass da jemand sich selbst als Ich und die anderen als Du, Sie und Er erkennen und erleben kann – was auf der Basis eines rein naturwissenschaftlichen Erklärungsversuches schon unverständlich genug bleibt. Diese Geistigkeit besteht ja auch darin, dass wir uns selbst als Wesen mit Sehnsüchten und Wünschen erleben, aus denen wir Ziele entwickeln, die wir verfolgen, verfehlen oder auch vergessen. Die Geistigkeit besteht weiterhin darin, dass wir für Wahrheit und Schönheit empfänglich sind, dass wir ein Gewissen entwickeln, das uns sagt, was gut und was böse ist und das uns dazu treibt, das Gute zu versuchen und das Böse zu vermeiden. Die Geistigkeit besteht weiter darin, dass wir Freude und Trauer erleben können, dass wir lieben und hassen können. Dieses Erleben bleibt für naturwissenschaftliche Erklärungsversuche völlig unverständlich.
Gott in der Welt Wir werden im Folgenden die Subjektivität in der Perspektive ihrer Verursachung durch einen Gott systematisch betrachten. Dabei gehen wir von einer Person aus, die diesen Gott in der eigenen Subjektivität erlebt. Sie kann die Anwesenheit eines göttlichen Wesens auf drei Ebenen erleben: erstens bei ihrer Betrachtung der Welt, zweitens in ihrem Gespräch mit anderen und beim Erleben der anderen oder beim gemeinsamen Erleben mit anderen, und drittens in der Reflexion auf sich selbst. Auf all diesen Ebenen erlebe ich, dass ich angesprochen werde von etwas, das mich selbst übersteigt, das mich aber in gewissem Sinne als seinesgleichen anspricht, das mich als Subjekt, als Geist, als menschliche Seele in Anspruch nimmt, das also ein anderes Wesen ist, das größer ist als ich, mich aber als geistiges Wesen ansieht, anspricht, akzeptiert und fordert. Diese drei Ebenen sollen im Folgenden in den Blick genommen, dieses Angesprochenwerden deutlich gemacht werden. Man kann sicherlich versuchen, die Ansprache, die da erlebt wird, wegzudiskutieren, als bloße Einbildung abzutun. Ein solcher Ver79 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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such müsste aber nicht nur negativ argumentieren, dass da keine Ansprache ist, sondern auch eine eigene Erklärung dafür bieten, dass diese Erlebnisse als Ansprache erfahren werden. Beginnen wir mit unserem Blick auf die Welt. Was wir hier sehen, sind Schönheit und Erhabenheit, aber auch Unheimlichkeit und das Hässliche. Ich als Subjekt, als geistiges Wesen, sehe in der Welt nicht zuerst die nützlichen Dinge zum Leben, sondern die Plätze, die mir gefallen, die mich anziehen und locken oder die mir gleichgültig sind oder die mich sogar abstoßen. Es ist keineswegs so, dass ich mich einem solchen Erleben der Welt erst zuwende, wenn ich mich schon in Sicherheit wähne, wenn ich satt und sorglos über meine Lebensbedürfnisse bin. Aber selbst wenn es so wäre, gäbe es keine natürliche Erklärung dafür, dass die Welt in ihrer Schönheit oder in ihrer erhabenen Fremdheit mich lockt oder dass sie mich in ihrer Trostlosigkeit, Hässlichkeit oder Langweiligkeit abweist. Bevor wir uns aber der ästhetischen und der herausfordernden Dimension der Ansprache durch die Wirklichkeit zuwenden, beginnen wir mit einer Erfahrung, die bereits im ersten Kapitel angesprochen wurde. Wir sehen und erleben Wirklichkeit nie in einer unübersichtlichen Vielfalt von Eindrücken und Sinneswahrnehmungen, sondern immer als ein System von Bedeutungen, als eine Welt für uns. Wir erfahren nicht unendlich viele Sinnesdaten, sondern wir nehmen eine Welt von Ereignissen und Dingen wahr, die Bedeutung für uns haben. Wir erfahren die Wirklichkeit als eine Welt von Bedeutsamkeiten, und diese Bedeutsamkeiten haben die Dinge für uns. Die Dinge sind etwas, haben eine Bedeutung für mich als erlebendes Subjekt, und was keine Bedeutung hat, das gibt es in dieser Welt auch nicht, egal ob es in der Realität direkt vor mir vorhanden ist oder ob es meinen Sinneswahrnehmungen gerade nicht oder grundsätzlich nicht zugänglich ist. Wir müssen uns fragen, wie das möglich ist. Natürlich lernen wir die konkreten Bedeutungen im Laufe des Lebens, von Eltern, von Lehrern, durch lebendige praktische Erfahrungen und Erlebnisse. Wir werden auf etwas hingewiesen, wir schauen und begreifen. Wir probieren selbst aus und machen uns einen Begriff 80 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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von der Welt. Die Bedeutungen, aus denen die Welt besteht und die wir in der Wirklichkeit erleben und erfahren, sind uns nicht eingegeben, wir erwerben sie durch die Erfahrung. Aber wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass hier ein Ich, ein Subjekt, ist, das sagt: Ich weiß, dass das dort ein Baum ist, er blüht und duftet. Ich habe dort gerade eine Lerche gehört, sie hat gesungen. Ich höre das Rauschen des Waldes. Ich schmecke den salzigen Geschmack des Meeres. Ich spüre deinen heißen Atem auf meiner Haut. In all diesen Sätzen sind Bedeutungen ganz unterschiedlicher Art enthalten, Namen von Kategorien für Dinge in der Wirklichkeit, die ich als etwas erkenne, indem ich sie mit einer Bedeutung versehe, die durch die Kategorie ausgedrückt wird. Indem ich sie als das erkenne, was die Kategorie sagt, grenze ich die Dinge von anderen ab und gebe ihnen Bedeutung. Dadurch sind sie überhaupt etwas und nicht nichts. Namen für das Erleben eines Geschehens, das Rauschen-Hören, das Schmecken, der andere Mensch, dessen Atem ich spüre. All diese einzelnen Bedeutsamkeiten bilden zudem eine gemeinsame Bedeutsamkeit für mich, die sich in dem ganzen Satz ausdrückt, der über sie gesprochen wird. Um die Frage, wie das möglich ist, richtig zu verstehen, versuchen wir einmal, einen Blick »von außen« auf die Situation zu werfen und sie zu beschreiben, als wäre da kein Subjekt, das Bedeutungen sieht und erlebt. Denkbar ist, dass die natürliche Evolution ein Wesen hervorgebracht hat, welches etwa die Sinnesorgane, Nervenbahnen und -zellen und die ganzen komplexen Strukturen eines menschlichen Gehirns hat, vielleicht anders realisiert, aber genauso komplex und ebenso zur Verarbeitung von Sinneseindrücken fähig wie wir. Ein solches Wesen könnte durch komplexe Signalverarbeitung, durch Speicherung von vorherigen Sinneseindrücken, durch Abgleich alter und neuer Datenströme, durch vielfältig miteinander vernetzte Regelkreise genauso effektiv auf die Umwelt reagieren, wie wir es tun, vielleicht sogar schneller. Es könnte durch Lernprozesse auf veränderte Umweltsituationen angepasst reagieren usw. Wir können uns solche Wesen vorstellen, indem wir uns ansehen, was in der modernsten Computer- und Roboter-Technik möglich ist. Es ist denkbar, dass 81 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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sich Objekte vergleichbarer oder auch weit höherer Komplexität im Verlauf der natürlichen Evolution chemisch-biologischer Gebilde entwickelt hätten. Eine solche Entwicklung könnte die physikalisch-chemischbiologisch argumentierende Wissenschaft erklären, die es dann allerdings nicht gäbe, weil diese Objekte, wir können sie der Einfachheit halber auch Lebewesen nennen, keine Bedeutungen kennen würden, über die sie reflektieren, nachdenken würden. Genauer: das ganze Erklärungsschema der Naturwissenschaften kommt ohne die Annahme aus, dass diese Wesen plötzlich einen Geist, ein Selbstbewusstsein entwickeln und damit in der Lage wären, sich Gedanken über die Wirklichkeit zu machen, über die Bedeutungen der Dinge, die sie umgeben. Die Naturwissenschaft kennt diesen Geist schlicht nicht, sie braucht ihn nicht, kann ihn aber auch nicht erklären. Wir müssen aber akzeptieren, dass dieses geistige Subjekt, das eine Wirklichkeit voller Bedeutsamkeiten sieht, existiert, ja, dass wir uns je selbst nur als ein solches Subjekt auffassen können. Und gerade, wenn die Naturwissenschaft versucht, diesen Geist in biologische Prozesse aufzulösen, wie wir es in den letzten Jahren ganz explizit in der Diskussion um den freien Willen erlebt haben, dann bemerken wir, dass wir eben als geisterfüllte Wesen von diesem Erleben des eigenen Geistes nicht absehen können: Es sind andere Subjekte, die uns auffordern, die Nicht-Existenz des freien Willens zu akzeptieren, und es ist, Ironie der Situation, eben eine Entscheidung meines freien Willens, das zu akzeptieren oder nicht. Dass ich selbst es bin, der akzeptiert, ob es mich als Subjekt gibt, zeigt, dass ich hinter die Existenz dieses meines Geistes gar nicht zurück kann. Es wird oft die Frage gestellt, ob denn auch andere Wesen außer uns Menschen einen Geist haben. Für die fehlende Erklärbarkeit des Geistes durch das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell ist dies nicht ganz unerheblich, denn es ist ein Unterschied, ob sich geistige Fähigkeiten mit zunehmender Komplexität der biologischen Strukturen immer stärker ausprägen oder ob der Geist quasi plötzlich und völlig ohne Vorankündigung im Menschen erscheint. Eine allmähliche Ausprägung geistiger 82 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Fähigkeiten mit steigender Komplexität und steigender Masse des biologischen Trägers der geistigen Prozesse (des Gehirns) könnte als Indiz gedeutet werden, dass Geist eben doch nicht mehr ist als eben diese biologischen Prozesse. Die Frage, ob höhere Wirbeltiere oder auch nur die Menschenaffen über geistige Fähigkeiten im hier betrachteten Sinne verfügen, können wir allerdings wiederum nicht abschließend beantworten, und das aus einem sehr wichtigen Grund: Wir können mit diesen Tieren nicht darüber reden, wir können mit ihnen über diese Frage keinen Konsens herstellen. Es gibt in der Tat einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen den Menschen und allen Tieren: Die Menschen können ihre Reflexionen über die Bedeutungen der Dinge, die sie als bedeutsam erleben, zur Sprache bringen, und durch das Gespräch mit anderen können sie, jede einzelne Person für sich, Gewissheit darüber erlangen, dass die anderen ähnliche Wesen sind wie sie selbst. Das verweist darauf, dass der menschliche Geist tatsächlich durch einen qualitativen Unterschied vom Geist der Tiere getrennt ist. 17 Aber es soll nicht bestritten werden, dass auch einige Tiere in ihrer Wirklichkeit Bedeutungen erkennen, und auch für die weiteren Betrachtungen in diesem Kapitel gilt: vermutlich haben auch einige Tierarten ähnliche Erlebnisse, wenn auch womöglich in sehr reduzierter Form. Es gilt aber für diese Formen des tierischen Geistes das gleiche wie für den menschlichen Geist, nämlich dass er für das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell nicht zugänglich ist, weil das Entstehen von Bedeutungen, das Deuten der Wirklichkeit als Etwas, nicht auf Biologie und Chemie reduziert werden kann. Unsere Fähigkeit, vielleicht sogar unser Bedürfnis, auch im Verhalten von Tieren einen Geist zu erkennen, der unserem verwandt ist, auch wenn wir mit diesen Tieren über ihre geistigen Erlebnisse nicht sprechen können, verweist aber noch auf etwas anderes: Dass wir überall in der Welt Bedeutungen sehen, bedeutet auch, dass wir überall in der Welt unseren eigenen Geist wiedererkennen – und dass wir gar nicht anders können, als unseren Geist in der Welt zu sehen. Auch wenn wir, durch die wissenschaftliche Aufklärung geschult, eigentlich »wissen«, dass 83 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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etwa Pflanzen und Flüsse ganz sicher keinen Willen haben, können wir nicht umhin, die Beobachtungen, die wir machen, in einem solchen Sinne zu deuten. Überall spricht Sinn uns an, nicht nur der Sinn, den die Wirklichkeit für unsere Zwecke hat, sondern eben auch der Sinn, den ein Prozess oder ein Ereignis für die Dinge und Lebewesen hat, die uns umgeben. Und aus diesem Sinn heraus bekommt die Wirklichkeit eine Bedeutung für mich als Mensch, Weil ich überall Sinn sehe, weil ich Bedeutungen erkenne, welche die Dinge füreinander haben, wird das Geschehen für sich, auch ganz ohne meine Ziele und Zwecke, sinnvoll. Und dieser Sinn spricht mich an, er fordert mich auf, mich in diese sinnvolle Welt zu integrieren und Teil dieses Sinnzusammenhangs zu werden. Die Welt spricht mich an, sie ruft mich ins Erleben. Man kann das sicherlich anders sehen, man kann versuchen, den Eindruck, den die Wirklichkeit auf mich macht, in nüchternen, sachlichen, wissenschaftlichen Begriffen zu beschreiben, aber es dürfte schwerfallen, das Erleben der Wirklichkeit zutreffend in Sprache zu fassen, ohne dabei die Wirklichkeit als eine aktive, quasi handelnde Instanz zu kennzeichnen. Wir sagen, dass uns ein Anblick überwältigt, etwa der eines Wasserfalls, eines Sonnenuntergangs, einer weiten Landschaft. Überwältigen ist aber, wie die vielen anderen Verben, die wir benutzen, um zu beschreiben, was ein Erlebnis mit uns macht, eine sehr aktive Tätigkeit. Das »Eindruck machen« selbst, das wir der Wirklichkeit oft zuschreiben, ist etwas, das eigentlich ganz selbstverständlich eine Person voraussetzt, die den Eindruck macht. Bemerkenswert ist, dass ein solcher überwältigender Eindruck zumeist insbesondere von einer Wirklichkeit ausgeht, die vom Menschen gerade nicht beeinflusst ist. Der Sternenhimmel über mir, der Sonnenuntergang über dem Meer, die schroffen, hoch aufragenden Gebirge, die urwüchsigen, Jahrhunderte alten Bäume im Urwald, die Exotik und Vielfalt der Lebewesen – all das spricht uns ganz besonders an. Zudem ist erstaunlich, dass wir dieses Ansprechen, diese überwältigende Faszination gerade nicht in Begriffen der Nützlichkeit für das Überleben der Menschen, die da von der Wildnis angesprochen sind, erklären können. Im Ge84 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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genteil. Die Ansprache der Wildnis begegnet uns vor allem als Herausforderung ins risikovolle aktive Erleben oder als Aufforderung zum bewundernden Staunen. Beide sind dem bloßen Überleben in der Wildnis nicht zuträglich. Wenn die Wildnis uns herausfordert, begeben wir uns zumeist in Gefahr. Denken wir an einen Bergsteiger, der sich auf den Weg zu einem Gipfel macht. Der Grund, weshalb Menschen versuchen, Berggipfel zu erreichen, und sich dabei immer neuen Herausforderungen stellen, ist auf Basis einer Rationalität, die Entscheidungen als Kosten-Nutzen-Kalkulation ansieht, nicht zu erklären. Jeder Versuch, die Entscheidung zum Besteigen eines Berges mit den Erklärungsmustern einer so genannten rationalen Vernunft zu erklären, scheitert, auch wenn hier Unterschiede bezüglich der jeweiligen Motivation gemacht werden müssen. Wenn wir hingegen von der Wildnis zum Staunen gebracht werden, ist die Reaktion gerade nicht aktives Handeln, sondern stiller Genuss. Wir bewundern die Schönheit und haben gerade nicht das Bedürfnis, sie handelnd zu stören. Die Wirklichkeit zeigt uns etwas her, das uns staunend verstummen lässt. Das ist insofern überraschend, als uns eine Nutzen-orientierte Vernunft, die wissenschaftlich erklärbar wäre, genau die umgekehrte Reaktion erwarten lassen würde. Wo uns die Wirklichkeit als Gefahr begegnet, sollte uns die Vernunft raten, zurückzuweichen, statt die Herausforderung anzunehmen. Wo uns die Wirklichkeit hingegen sichere Schönheit und Ruhe zeigt, sollten wir zum Handeln und zum Besitz-Ergreifen bereit sein. Versuchen wir, mit den Mitteln der naturwissenschaftlichen Welterklärung die Situation, die wir hier beschrieben haben, zu erfassen. Man könnte, in einem Versuch der natürlichen Erklärung des menschlichen Geistes, die selbstbewusste Vernunft als eine besonders effektive Form auffassen, eine veränderliche Umwelt richtig abzubilden und in neuen, überraschenden Situationen eine optimale Verhaltensstrategie zu finden. Selbst wenn ein solcher Versuch noch nicht erklären könnte, wie im Ergebnis der chemisch-biologischen Evolution das Erleben eines selbstbewussten Geistes überhaupt möglich werden kann, würde diese Sichtweise wenigstens das Ergebnis als einen Vorteil für das Überleben 85 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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in einer veränderlichen, komplexen Umgebung verständlich machen. Auf dieser Grundlage wäre aber niemals erklärbar, dass ein selbst-bewusster Geist sich dazu herausgefordert sieht, sich Situationen auszusetzen, die klar als risikoreich, unbekannt und gefährlich zu beurteilen sind, ohne dass das Ergebnis irgendeinen Nutzen für das Überleben versprechen oder auch nur möglich machen wird. Ein Selbstverständnis, das den menschlichen Geist als einen Mechanismus interpretieren möchte, der besonders flexibel und optimierbar auf unterschiedliche Umweltreize reagieren kann, hilft für das Verstehen dieses Erlebens und Handelns nicht weiter. Ebenso wenig kann ein solcher natürlicher Erklärungsversuch auch nur einen Ansatz bieten, warum der menschliche Geist so etwas wie Staunen oder Bewunderung für eine Schönheit der ihn umgebenden Umwelt empfinden könnte. Erklärbar wäre eine Beurteilung der Umgebung als sicher, ressourcenreich oder bewohnbar – was jeweils auf die Handlungsoption der Ausnutzung und Verwertung hinauslaufen würde. Bloße staunende Bewunderung und Freude ohne Interesse an einer Nutzung, Staunen und Freude gerade über das Nutzlose wie etwa einen Sonnenuntergang oder eine faszinierende Landschaft sind auf diesem Wege unerklärbar. Es gibt eine Vielzahl von Situationen, in denen Menschen die Begegnung mit der Wildnis als eine Ansprache und eine Aufforderung zum aktiven Handeln oder zum staunenden Verharren verstehen, wobei die Aufforderung auf eine verlockende Annäherung, auf eine nahe, besonders intime Begegnung mit der Wildnis hinausläuft. Wie lässt sich das Erleben einer solchen Aufforderung verstehen? Ist es nur ein metaphorisches Empfinden, dass die Wildnis uns anspricht? Im gewissen Sinne müssen wir hier natürlich von einer Metapher reden, denn die Natur spricht nicht in deutscher Sprache, sie formuliert keine Sätze, sie macht keine Aussagen. Wenn wir sagen, dass die Wildnis, oder überhaupt die Wirklichkeit, uns anspricht, dann bedeutet das nicht, dass wir eine menschliche Stimme hören, die Sätze bildete, uns etwas erklärt oder beschreibt. Eine Metapher ist aber, wenn sie verständlich ist und eine Wahrheit ausspricht, mehr als ein bloßer Vergleich oder gar eine 86 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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bildhafte Beschreibung eines Erlebnisses, das beim genauen Hinsehen durch die metaphorische Darstellung gar nicht korrekt wiedergegeben wird. Wenn eine metaphorische Formulierung verwendet wird, also ein Begriff mit seiner Bedeutung von einer Verwendungsweise auf eine andere übertragen wird, dann verweist das darauf, dass die gleiche Bedeutung eigentlich in verschiedenen Sinnzusammenhängen gefunden werden kann. Es ist dann genau genommen nicht die Übertragung eines Begriffs und seiner Bedeutung von einem Zusammenhang auf einen anderen, was die Metapher ermöglicht. Vielmehr wird in der Metapher deutlich, dass eine Bedeutung, die der Begriff kennzeichnet, in verschiedenen Bereichen auf die gleiche Weise existiert. So ist es mit dem Begriff der Sprache, des Sprechens, des Ansprechens. Wir können, in einem engen Sinn, Sprache als das verstehen, was ein menschlicher Sprecher benutzt, um einem menschlichen Zuhörer mit Lautäußerungen eine Tatsache, eine Wahrheit mitzuteilen. Auch eine Aufforderung, etwas zu tun, kann durch eine solche Lautäußerung erfolgen. Wir wissen, dass dazu nicht unbedingt Worte ausgesprochen werden müssen, auch Handzeichen und Kopfbewegungen können zur Sprache gehören – oder ist der Begriff der »Zeichensprache« schon metaphorisch? Und natürlich sind sprachliche Mitteilungen zwischen Menschen nicht auf die Mitteilung wahrer Tatsachen oder auf die Äußerung von Aufforderungen beschränkt, aber bleiben wir einen Moment bei diesen Verwendungen des Begriffs Sprache. Dann kann man sagen, dass wir Menschen eine Vielzahl von Möglichkeiten haben, Wahrheiten mitzuteilen oder Aufforderungen deutlich zu machen: Es werden Romane geschrieben und Bilder gemalt, die komplexe Wahrheiten verdeutlichen, ohne sie direkt in Worten auszusprechen. Es werden Verkehrsschilder und andere Symbole im öffentlichen Raum angebracht, die Aufforderungen beinhalten. Überall können wir dann auch von Sprache reden, wir können sagen, dass wir den Begriff metaphorisch verwenden, wir können aber auch sagen, dass der Begriff der Sprache eben eine weitere Bedeutung hat, die über das Formulieren von Wörtern und Sätzen hinausgeht. Wenn wir nun aber von der Sprache der Natur oder der Wild87 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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nis reden, wenn wir sagen, dass der Berg oder die Ferne uns ruft, dass die Schönheit der Welt aus einem Sonnenuntergang spricht – dann scheint diese Art zu formulieren in einem noch anderen Sinne metaphorisch: da ist kein Sprecher. Bei jedem Ruf, bei jeder Ansprache lässt sich ein Sprecher identifizieren, und wenn wir von einem Ruf oder einer Ansprache sprechen, ohne zu sagen, wer da spricht, dann ist diese Redeweise allerhöchstens metaphorisch. Nun scheint es aber so zu sein, dass wir gar nicht anders können, als in dieser Weise die Begegnung mit der Welt zu erleben. Wir werden angesprochen, wenn wir Schönheit empfinden oder Verlockung spüren. Eine Ansprache ist es schon deshalb, weil all diese Arten des Erlebens mit einem Sinn, einer Bedeutung verbunden sind, und Sinn und Bedeutung sind das, was von Sprache vermittelt wird. Schönheit ist Bedeutung. Indem ich sage, dass dieser Sonnenuntergang schön oder beruhigend oder grandios oder einzigartig ist, spreche ich von einer Bedeutung, die das Geschehen wenigstens für mich hat. Zwar ist diese Bedeutung eine für mich, aber sie kommt nicht von mir. Ich bin es nicht, der dem Geschehen diese Bedeutung gibt. Wäre es so, dann könnte ich auch behaupten, dieser Sonnenuntergang sei gar nicht schön oder grandios – eben: bedeutend. Tatsächlich gibt es ja Menschen, die das tun und die Bedeutsamkeit solcher Erlebnisse bestreiten – aber gerade in der Auseinandersetzung mit so einem Bestreiten erleben wir, dass die Dinge eben doch bedeutsam sind. Wir sagen dann etwa, dieser Mensch sei nicht empfindsam genug, um die Schönheit erfahren zu können. Wir kämen nicht darauf, zu sagen, dass er eigentlich recht hätte und die Sache im Grunde nur schön sei, weil wir sie als schön auffassen wollen. Zwar gibt es den Versuch solcher Argumentationen, bei denen sich derjenige, der die Schönheit erlebt, in der Defensive sieht. Dann zieht man sich gern auf einen Standpunkt zurück, der jedem zubilligt, selbst entscheiden zu können, ob er etwas als schön genießen will oder nicht. Aber im Grunde bleibt dem, der die Schönheit sieht, doch die Gewissheit, dass dies schön ist und dass er selbst sich dieser Schönheit auch nicht durch eine logisch-rationale Argumentation entziehen kann. 88 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Die Bedeutsamkeit, die aus den Dingen spricht, spricht mich also an. Und wenn da Ansprache ist, dann ist dort auch ein Sprecher. Wir können die Existenz dieses Sprechers, der uns die Schönheit der Welt zeigt, einmal akzeptieren und darüber nachdenken, wie plausibel wir diese Situationen dann beschreiben können. Der Sprecher, nennen wir ihn Gott, spricht aus den Dingen zu mir als subjektive, selbstbewusste Person. Indem er die Dinge mit Bedeutungen versieht, die ich erkenne, zeigt er mir die Welt in einem bestimmten Bild. Die Bedeutungen, die dieser Gott zeigt, gehen über das Nützliche hinaus, er zeigt mir die Dinge und ihren Sinnzusammenhang nicht nur und nicht einmal in erster Linie als etwas Nützliches, meinem Leben Zuträgliches, Brauchbares, sondern als etwas Wertvolles jenseits des Nützlichen – als Sinnvolles um seiner selbst willen. Die Schönheit der Dinge, die uns zum Staunen bringt, das Herausfordernde, das uns ins Erleben ruft, sind Bedeutsamkeiten, die keinen Zweck für mich haben. Was aber sagt dieser Sprecher Gott mir, indem er mir die Dinge als bedeutsam um ihrer selbst willen zeigt, mich aber zugleich diese Bedeutsamkeit für mich sehen lässt? Er sagt mir, dass ich in diese Welt gehöre, dass ich ein Teil von ihr bin, dass mein Geist ein Teil des Sinns und der Bedeutsamkeit der Welt ist. Indem wir Sinn und Bedeutsamkeit in der Welt sehen, die nicht Nützlichkeit für uns sind, sehen wir, dass dort Sinn ist und dass wir Teil dieses Sinns sind, weil wir ihn wahrnehmen. Mit anderen Worten, in diesem Sinn der Dinge zeigt sich dieser Gott selbst, er zeigt uns zugleich unseren eigenen Geist, der nicht auf biologische Reflexe und Regelkreise reduziert werden kann, die ja nur Nützliches erkennen und handelnd nutzen könnten. Im Erleben des Sinnzusammenhangs einer schönen und herausfordernden Wirklichkeit erleben wir unseren eigenen Geist als Teil eines Geistes, der in der Wirklichkeit ist. Woher kommt dann dieser Geist? Er war schon in der Wirklichkeit, bevor wir ihn richtig gesehen haben. Wir werden im nächsten Kapitel der Frage nachgehen, in welchem Sinne wir davon sprechen dürfen, dass dieser Geist die Wirklichkeit und schließlich den Menschen geschaffen und ihn zum Teilhaber am 89 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Geist gemacht hat. Dann wird sich das Bild erst vervollständigen, das wir jetzt nur aus einer Perspektive, des Erlebens der Wirklichkeit als bedeutsam, als geistvoll, beschreiben können. Wenn wir nun aber erst einmal die These akzeptieren, dass ein Gott diese Wesen, die wir je selbst sind, am Geist der Welt, welcher er ist, teilhaben lässt, dann wird selbstverständlich, was die Naturwissenschaft nicht erklären kann: dass wir selbst uns als selbst-bewusste Inhaber eines Geistes erleben, die wiederum die Wirklichkeit als geistvoll, als bedeutsam und als buchstäblich ansprechend erleben. Man kann einwenden, dass dies nun aber eine zusätzliche Annahme ist, die selbst nicht bewiesen werden kann. Das ist völlig richtig. Allerdings ist es keine willkürliche Annahme, sondern es ist eine plausible Erklärung eines Erlebens, das sich nicht abweisen und nicht wegdiskutieren lässt. Man muss sich auf die Idee eines Gottes, der sich in der Bedeutsamkeit der Welt zeigt und durch diese Bedeutsamkeit zu uns spricht, nur einlassen, dann wird vieles selbstverständlich, was zuvor völlig unerklärlich war. Wir werden im weiteren Verlauf sehen, dass es eine Vielzahl solcher Phänomene gibt, die aus einer Perspektive, die einen solchen Gott ablehnt, unerklärlich bleiben, die aber, wenn man sich auf diesen Gott einmal eingelassen hat, selbstverständlich und plausibel werden. Wir wollen aber in diesem Buch nicht nur Argumente für die Existenz Gottes vorbringen und diskutieren, sondern auch ableiten, was sich aus diesen Argumenten und aus ihrer Plausibilität über diesen Gott sagen lässt und was nicht. Der Gott, den wir hier beschreiben, spricht nicht in Worten zu uns, er erscheint nicht unmittelbar, er beherzigt, um es einmal ganz lax zu sagen, die Autorenweisheit: »Show, don’t tell!« Er gibt auch keine Anweisungen, wie wir mit der Wirklichkeit zu verfahren haben, er gibt keine Befehle. Er fordert nicht auf, er fordert vielleicht heraus, er zwingt uns zu nichts. Er gibt uns Hinweise, er zeigt etwas, aber er erklärt nicht. Er schreibt uns nichts vor, und somit bringt er uns auch nicht in Gefahr und fordert keinen Gehorsam, aber er schützt und hilft uns auch nicht. Er sendet keine Engel und keine Verführer. 90 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Allerdings können wir fragen, ob dieser Gott uns durch ein Rufen ins Erleben nicht doch in eine Gefahr herausfordert. Hier sprechen wir zum ersten Mal das Problem der Theodizee an, also die Frage, ob dieser Gott zugleich gut und allmächtig sein kann. Spielt dieser Gott mit seinen Geschöpfen? Provoziert er uns womöglich zu unvernünftigen Handlungen? Wir werden dieser Frage im Weiteren immer wieder begegnen. Hier soll zunächst der Hinweis genügen, dass der Mensch sich nur dann von der Gefahr herausgefordert fühlt, wenn er meint, dass er diese Gefahr beherrschen, dass er die Herausforderung bestehen kann. Der plausible Gott hat seine Geschöpfe mit dem Gespür für die Gefahr ausgestattet, er hat sie mit der Fähigkeit versehen, eine Situation einigermaßen richtig erfassen zu können. Wenn er uns tatsächlich ins Erleben ruft, dann auch mit der Gewissheit, dass er Geschöpfe geschaffen hat, die in der Lage sind, vorsichtig zu sein und ihre Fähigkeiten nicht zu überschätzen. Man kann einwenden, dass es aber Situationen gibt, in denen der Mensch die Gefahr nicht beurteilen kann, weil sie ihm verborgen ist. Müsste ein Gott seine Geschöpfe nicht vor diesen Gefahren schützen oder die Welt so einrichten, dass es solche Gefahren gar nicht gibt? Wir werden auf diese Frage zurückkommen, wenn wir uns im letzten Kapitel damit beschäftigen, was ein plausibler Gott gerade nicht ist oder tut. Hier soll der Hinweis genügen, dass der plausible Gott nicht mit der christlichen Vorstellung eines lieben Beschützers übereinstimmen muss. Es ist keine Voraussetzung von Plausibilität eines Gottes, dass er in einem einfachen menschlichen Sinne »gut« ist und in schwierigen Situationen hilft. Vielmehr muss sich die Güte eines Gottes überhaupt erst als plausibel erweisen. Wir werden sehen, dass eine solche Güte durchaus plausibel gemacht werden kann, auch wenn sie zulässt, dass der Mensch sich unverschuldet in Gefahren begibt, an denen er scheitern oder auch zugrunde gehen kann. Wenn wir hier also von Gott sprechen, dann ist damit keineswegs der christliche Gott oder, allgemeiner gesagt, der Gott Abrahams gemeint – genauer gesagt, nicht in dem Verständnis, den die Autoren der heiligen Bücher der abrahamitischen Religionen von Gott entwickelt haben. Wir haben schon im vorangegangenen Ka91 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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pitel die Möglichkeit diskutiert, dass auch diese Autoren von Gott inspiriert gewesen sind. Sie wurden von ihm angesprochen, sie haben Sinn und Bedeutungen gesehen und haben diese in ihren Texten formuliert. Soweit sie aber in diesen Texten Gott als einen Befehlshaber vorstellen, der Gehorsam fordert, oder einen gütigen Vater, der seine Geschöpfe vor jeder Gefahr bewahrt, müssen wir hier schon einmal festhalten, dass eine solche Gottesvorstellung von unseren Überlegungen nicht gedeckt ist und dass sie aus diesen Überlegungen nicht plausibel gemacht werden kann. Aber wenn wir gesagt haben, dass er uns herausfordert, ist er dann kein Verführer? Wenn wir sagen, dass er uns die Schönheit der Wirklichkeit zeigt, sodass wir ins Staunen kommen, ist er dann kein Engel? Offensichtlich nicht, denn dieser Gott ist nur ein zeigender Begleiter: Er weist uns dort auf eine faszinierende Schönheit hin, deutet da auf eine herausfordernde Möglichkeit, Wirklichkeit zu erfahren. Aber ob wir die Möglichkeiten ergreifen oder darauf verzichten, ist ganz uns selbst überlassen. Und ein solcher Gott ist eben auch kein schützender Gott in einem engeren Sinn. So, wie er uns nicht in etwas hineinzieht oder gar zwingt, hält er uns auch vor nichts zurück. Er verhindert nicht unmittelbar, dass etwas Schreckliches geschieht. Zwar hat er uns auch die Möglichkeit gegeben, Angst und Furcht zu erleben, in den Dingen das unheimliche, schreckliche, beängstigende zu sehen, uns erschauern und zurückschrecken zu lassen. Auch das sind Bedeutsamkeiten, die wir in der Wirklichkeit sehen, und die Hinweise sind, etwas zu tun oder zu unterlassen. Aber wir werden auch vor der Gefahr nicht zurückgehalten, wir werden nicht beschützt – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass uns da jemand mit lauter Stimme warnt oder uns gar daran hindert, das Falsche zu tun. Am Geist teilzuhaben, das heißt eben auch, an der Freiheit der Entscheidung zum Handeln und zum Unterlassen teilzuhaben. Wir werden später an verschiedenen Stellen darauf zurückkommen, inwiefern dieser Gott uns trotzdem indirekt oder unmittelbar hilft, in konkreten Situationen das Richtige und Gute herausfinden und tun zu können. Für den Moment halten wir aber fest: Dieser Gott lässt uns Menschen ganz und gar an der 92 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Freiheit des Geistes und des Handelns teilhaben. Und wir selbst sind mit unserem freien Geist dafür verantwortlich, das Richtige und das Gute zu tun. Gott sagt uns nie ausdrücklich, was zu tun ist, aber er gibt uns, wenn wir lernen, seine Zeichen zu deuten, und wenn wir uns auf ihn einlassen, Hinweise, die uns helfen, in der Welt zurechtzukommen und die Welt als bedeutsam zu erleben. Wenn wir uns an die Argumentation des ersten Kapitels erinnern, können wir darin ein starkes Argument sehen, dass dieser Gott tatsächlich existiert. Dort hatten wir gesehen, dass wir von Existenz gerechtfertigter Weise sprechen können, wenn wir stabil, also in ähnlichen Situationen immer wieder, durch die Annahme einer Existenz die Wirklichkeit erfolgreich deuten können und wenn wir diese Deutung auch gegenüber anderen Personen vertreten und mit anderen Personen Übereinstimmung erreichen können, dass die Deutung der Wirklichkeit und unser daraus resultierender praktischer Umgang mit dieser Wirklichkeit plausibel ist. Wenn wir nun das Erlebnis von Ansprache durch die Wirklichkeit als Zeichen der Existenz eines unendlichen Geistes deuten, der uns an seinem Geist teilhaben lässt, indem er uns die Bedeutsamkeit der Welt zeigt, dann können wir unsere reale Reaktion auf diese Ansprache, das Verstehen, das Staunen und das Annehmen der Herausforderung, aber auch das Erschauern und Zurückweichen, verstehen und erklären. Dies lässt sich gerade im gemeinsamen Handeln besonders eindrucksvoll zeigen. Darum geht es im folgenden Abschnitt.
Gott unter den Menschen Wie sich gemeinsames Handeln durch soziale Strukturen erklären lässt und wie umgekehrt soziale Strukturen gemeinsames Handeln hervorbringen, ist Gegenstand der Sozialwissenschaften. Wenn wir darüber nachdenken wollen, ob es gemeinsames Handeln gibt, das nicht rein natürlich durch wissenschaftliche Analysen, Gesetze und Modelle erklärt werden kann, müssen wir die Erklärungen, die die Sozialwissenschaften geben, in unsere Über93 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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legungen einbeziehen. Das Erklärungsmodell der Sozialwissenschaften ist allerdings ein ganz anderes als das der Naturwissenschaften. Beide Erklärungsweisen sind für das weitere von Belang, deshalb soll die Weise, wie in den Naturwissenschaften erklärt wird, und die Methode, wie Sozialwissenschaften etwas verständlich machen, hier kurz dargestellt werden. Während in der Biologie, der Chemie und der Physik versucht wird, die Realität, wie sie beobachtet und gemessen werden kann, auf Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, die sozusagen der Grund für die Regelmäßigkeiten sind, die wir beobachten, versuchen Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie die politischen Wissenschaften und zum großen Teil auch die Ökonomie, in den Beobachtungen einen plausiblen Sinn zu erkennen. Zwar suchen auch sie nach den Gründen für das, was beobachtet werden kann, aber diese Gründe sind weniger die Naturgesetze, sondern die wirkenden gesellschaftlichen Kräfte, Interessensgruppen oder Zielkonflikte von Menschen, Kooperationen und Gegnerschaften. Ziel der Erkenntnis der Naturwissenschaft ist es eigentlich nicht, den einzelnen Fall, der beobachtet wird, zu verstehen, das konkrete Wechselspiel von Ursachen in einer einzelnen, konkret beobachteten Situation, das zu einem ganz bestimmten Ergebnis geführt hat, plausibel und verständlich zu machen, sondern die wichtigsten und stabilsten Wirkungszusammenhänge zu finden, die es möglich machen, die Ereignisse unter Ausschaltung aller störenden anderen, nebensächlichen Zusammenhänge genauso zu reproduzieren, wie sie nach Maßgabe der – meist mathematisch beschreibbaren – Wirkzusammenhänge auch vorhergesagt werden können. Dabei wird in den Naturwissenschaften davon ausgegangen, dass sich die beobachteten Wirkzusammenhänge aus anderen, grundlegenderen Wirkzusammenhängen ableiten lassen. So ergibt sich eine Hierarchie von Gesetzen und als Ziel, ein immer mehr zusammenhängendes Bild von Gesetzmäßigkeiten zu finden, in dem am Ende alle natürlichen Prozesse auf ganz grundlegende physikalische Grundgesetze reduzierbar sein werden. Und immer, wenn eine Beobachtung gemacht wird, so die Überzeugung der Naturwissenschaftler, müsste es möglich sein, die 94 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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wirkenden kausalen Beziehungen sowie die natürlichen Anfangsund Randbedingungen anzugeben, unter denen der gleiche Vorgang exakt auf die gleiche Weise immer wieder ablaufen würde. Man kann hier einwenden, dass die Quantenmechanik dieser Überzeugung grundsätzlich Grenzen setzt, aber das ist nicht der Fall. Zwar sehen die meisten Naturwissenschaftler heute die quantenmechanischen Elementarvorgänge in ihrem einzelnen konkreten Auftreten als grundlegend zufällig an. Damit ist auch das einzelne konkrete Geschehen auf der quantenmechanischen Ebene nicht vorhersehbar. Aber auf einer höheren, statistisch beschreibbaren Ebene ergeben sich eben doch wieder deterministische Kausalgesetze, die es ermöglichen, das Geschehen exakt zu reproduzieren und vorherzuberechnen. Wir werden auf diesen faszinierenden Umstand im nächsten Kapitel noch genauer zu sprechen kommen. Auch wenn in einigen naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen das Einzelgeschehen, das sich zudem der Reproduzierbarkeit durch den Menschen grundlegend entzieht, im Zentrum des Interesses steht, wie etwa in der Astrophysik oder in der Klimatologie, bleibt der methodische Grundansatz doch der gleiche: Die Wissenschaft versucht, die Kausalgesetze sowie die konkreten Bedingungen anzugeben, unter denen ein Geschehen notwendig und sicher so eintreten muss, wie man es beobachtet hat. Und aus diesem Wissen heraus kann man sich aufs Berechnen der Realität verlegen: entweder, indem man versucht, das Geschehen berechnend nachzuvollziehen, oder indem man vorausrechnend in die Zukunft des beobachteten Wirklichkeitsbereichs zu schauen versucht. Die Meteorologie und zunehmend die Klimaforschung geben uns beeindruckende Beispiele der Möglichkeiten dieser Vorherberechnung. Es hat auch in den Wissenschaften vom Sozialen eine Vielzahl von Versuchen gegeben, die naturwissenschaftliche Denkweise zu etablieren, und es sind eine Reihe von Ergebnissen erarbeitet worden. Zwei Dinge fallen aber auf: Die Übertragung des naturwissenschaftlichen Arbeitens auf die Beschreibung von sozialen Prozessen folgt nicht dem Paradigma der Reduktion: Es gibt keine Hierarchie von Gesetzesbeschreibungen, und die Gesetze einer 95 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Ebene lassen sich nicht auf die Gesetze einer irgendwie darunterlegenden Ebene zurückführen. Schon gar nicht gibt es eine befriedigende Begründung der Gesetze, die in Modellen für soziale Systeme beschrieben werden, auf Gesetze der Naturwissenschaft, etwa der Biologie. Das ist das eine. Das andere ist, dass es neben dieser Methodik des naturwissenschaftlichen Erklärens in den Sozialwissenschaften immer eine starke Methodik des Verstehens von Einzelereignissen (oder Klassen von Ereignissen) gibt, die nicht versuchen, die beobachteten Geschehnisse auf irgendwie wirkende objektive Gesetze zurückzuführen, sondern die sich auf Interessen, Ziele und Vorstellungen von Menschen und gesellschaftlichen Subjekten konzentrieren. Diese sozialwissenschaftliche Methodik des Verstehens fragt nicht nach Kausalzusammenhängen, denen alles unterworfen ist, sondern nach den Absichten und Stärken, den Fähigkeiten und konkreten Handlungsoptionen der Menschen, die da handeln. Die Möglichkeiten zur Vorhersage kommender Ereignisse sind für diese Wissenschaften insofern beschränkt, als das, was wirklich passiert, immer von den Ideen, Einfällen, aber auch dem Mut oder den Hoffnungen der handelnden Menschen abhängt. Welche Idee für ein neues Spiel etwa irgendein kreativer Kopf hat und ob diese Idee bei anderen Menschen auf Begeisterung, Unverständnis oder Ablehnung stößt, kann niemand vorhersehen. Deshalb gibt es auch Schwierigkeiten, konkrete kulturelle Phänomene, etwa die Entstehung einer Musikrichtung, das Auftauchen neuer Modetrends, die Entwicklung von Organisationen und Ähnliches vorherzusagen. Allenfalls kann man im Nachhinein verstehen, warum dieser Trend sich verstärkt hat und warum jener Trend zurückgedrängt wurde, warum eine Organisation in bestimmten Situationen Anhänger verloren und warum jene Mode wieder verschwunden ist. All diese Prozesse hängen aber damit zusammen, dass wir Menschen soziale Wesen sind, dass wir andere Menschen als unseresgleichen erkennen können und dass wir den Wunsch haben, mit ihnen in Kontakt zu kommen, um gemeinsam etwas zu erleben. Einige dieser Wünsche können wir rational rekonstruieren, wir können Nutzensargumente vorbringen, die auf Annahmen 96 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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der Effektivitätssteigerung durch Kooperation basieren. Mit solchen Erklärungsmustern können prinzipiell evolutionstheoretische Modelle der sozialen Gebilde gewonnen werden, nach denen die einzelnen handelnden Menschen die Wirkmechanismen gar nicht durchschauen müssen, um sich trotzdem »richtig« zu verhalten: Das kooperative Verhalten führt schlicht zu einem größeren Nutzen für die Menschen, weshalb sich bestimmte kooperative Verhaltensweisen durchsetzen. 18 Wir wollen die Frage zurückstellen, ob dieses Erklärungsmuster auch nur für Teile der sozialen Welt tatsächlich plausibel ist. Offensichtlich ist auf jeden Fall, dass es eine ganze Reihe von sozialen Verhaltensweisen gibt, die sich überhaupt nicht aus Nutzensargumenten begründen lassen, die aber dennoch weit verbreitet sind. Stellen wir uns ganz konkret ein paar Fragen: Warum spielen wir Fußball? Warum feiern wir Partys? Warum schauen wir uns die Hochzeit eines Prinzen im Fernsehen an und reden anschließend tagelang über die Hüte und Kleider der Damen? Warum singen wir zusammen? Warum treffen wir uns mit Freunden? Warum schauen wir uns Kunstwerke oder Spielfilme an, warum lesen wir berührende Geschichten oder historische Romane? All diese kulturellen Praktiken haben keinen Nutzen fürs Überleben der Menschen, sie haben keine Effektivitätssteigerung bei der Bewältigung von Herausforderungen des täglichen Lebens zur Folge. Selbst wenn man annehmen wollte, dass es sich vielleicht um angeborene oder intuitive Praktiken der Kooperation handelt, die dann in ganz anderen Zusammenhängen, etwa bei der Jagd oder beim Ackerbau, Effektivitätsgewinne gebracht haben, stehen einem solchen Ansatz ebenso viele »negative« Effekte gegenüber, etwa die Ablenkung vom alltäglich Nützlichen oder die Trennung der Menschen in Partner und Gegner, schließlich dann in Freunde und Feinde, die den irgendwie implizierten Nutzen wieder zunichte machen würden. Wiederum könnte man zudem argumentieren, dass Wesen, die ohne »darüber nachzudenken«, ohne in der Kooperation Bedeutung zu sehen, die stattdessen aufgrund von biologischen Reflexen und Regelmechanismen kooperatives Verhalten zeigen würden, eine wesentlich effektivere Umsetzung kooperativer Mechanismen entwickeln 97 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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könnten als Wesen wie wir Menschen, die Kooperation nur darüber entwickeln können, dass sie ihrem gemeinsamen Tun Bedeutung geben und kooperative Spiele mit einem Sinn entwickeln, der außerhalb des Spiels überhaupt nicht erkennbar und verständlich ist. Es gibt eine unübersehbare Vielfalt solcher kooperativer Handlungsweisen. Singen und Tanzen gehören dazu ebenso wie das Spielen verschiedener Mannschaftssportarten. Aus diesen relativ einfachen Formen kooperativer Handlungen wiederum werden komplexe Formen zusammengesetzt: Feiern und Feste, auf denen gesungen und getanzt wird, ebenso wie Wettbewerbe und Festivals. Es gibt relativ ungeregelte, spontane gemeinsame Erlebnisse, wie etwa der Small Talk oder das gemeinsame Essen mit Freunden, aber auch hochgradig organisierte und geplante Formen wie die Fußball-Weltmeisterschaft oder den European Song Contest. Es gibt kommerzialisierte und professionell organisierte Formen genauso wie spontane Treffen. Wir können zu diesen Formen auch den gemeinsamen Ausflug, die Urlaubsreise und den Kinobesuch mit Freunden zählen, die regelmäßige Doppelkopfrunde, den Volkshochschul-Zeichenkurs. Natürlich gehören dazu auch die Gottesdienste und Messen in den Kirchen und überhaupt die ritualisierten Feiern bestimmter Lebensereignisse (Geburt, Erwachsenwerden, Hochzeit, Geburtstag, Tod). Für alle diese Formen gemeinsamen Erlebens gilt: Die Sozialwissenschaften können die Vielfalt dieser gemeinsamen Erlebnisse, die wir insgesamt vielleicht mit dem Begriff Kultur bezeichnen können, zwar beschreiben und kategorisieren, sie können die Dynamik und historische Ausdifferenzierung bis zu einem bestimmten Grade erklärbar machen, sie können sogar historisch beschreiben, wie sich aus einer kulturellen Praxis eine andere herausgebildet hat – aber sie können nicht erklären, warum es diese Praktiken überhaupt gibt. Im Einzelfall ist es zwar möglich, im Nachhinein die Entstehung einer bestimmten Tradition zu erklären, etwa des Protestantismus aus der katholischen Kirche aus bestimmten Interessen und Widersprüchen, gepaart mit dem Auftreten und Wirken ganz bestimmter Personen. Das ist aber, wie schon erwähnt, kein Erklären im Sinne der Naturwissenschaft, da 98 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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wird nichts auf grundlegende kausale Prinzipien reduziert. Vielmehr werden die tatsächlichen Ereignisse verständlich gemacht aus konkreten kulturellen Umständen, den Zielen und Vorstellungen konkreter Menschen sowie einer Reihe von Zufälligkeiten, die eben gerade zusammengekommen sind. Selbst wer als Sozialwissenschaftler den materiellen Zwängen der jeweiligen Zeit eine überragende Bedeutung zuweist, wird bei der Erklärung der tatsächlich entstandenen sozialen Praktiken auf die Wünsche und Ziele einzelner Personen, die gemeinsam mit anderen etwas vorangebracht haben, nicht verzichten können. Uns geht es aber hier nicht einmal um die großen sozialen Systeme wie etwa Gesellschaftsordnungen oder herrschende Produktionsverhältnisse, für die einige Sozialwissenschaftler und Ökonomen interessante Modelle aufgestellt und Gesetze gesucht haben. Ganz abgesehen davon, dass auch diese Modelle nicht die Entstehung von Facebook oder das Auftauchen eines neuen Modetrends vorhersagen könnten – die Entstehung von kulturellen Praktiken wie Spiele, Tänze, Chorgesänge, überhaupt das Komponieren und Praktizieren von Musik, das Theaterspielen und das Begehen feierlicher Anlässe in mehr oder weniger ritualisierter Weise können diese Wissenschaften nicht im Ansatz erklären. Des Weiteren sind weder Naturwissenschaften noch die Sozialwissenschaften dazu in der Lage zu erklären, warum Lebewesen, die (ebenso unerklärlich) ein Selbstbewusstsein entwickeln, überhaupt damit beginnen, kollektive Handlungen auszuführen, die keinen Nutzen für die Erhaltung der Art haben. Es geht ja gerade nicht darum, schlichtes »kooperatives Verhalten« zum Erreichen eines nützlichen Ziels zu erklären, sondern völlig unnützes gemeinsames Handeln, welches nur um seiner selbst Willen realisiert wird. Naturalistische Erklärungen auf der Grundlage von Naturwissenschaften sind schon deshalb prinzipiell schwierig, weil die kausale Verbindung zwischen den biologischen und chemischen Prozessen und dem Willen zur Koordination mit dem Ziel zum gemeinsamen Erleben fehlt. Die Sozialwissenschaften wiederum müssten einen rationalen Zweck, etwa einen ökonomischen Vorteil finden, der die ursprüngliche Herausbildung von Handlungen verständlich macht, die doch gerade zweckfrei sind. 99 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Bevor wir uns wieder nach einer Alternative zum »natürlichen« Erklärungsmodell für diese Praktiken umsehen, wollen wir uns etwas genauer ansehen, was eigentlich passiert, wenn wir diese kulturellen Erlebnisse praktizieren. Egal, ob wir uns mit Freunden auf einen schönen Abend verabreden, ob wir im Stadion ein Freudenlied beim Sieg der eigenen Mannschaft singen oder ob wir an einer feierlichen Inszenierung eines Lebensereignisses beiwohnen – immer geschieht etwas ganz Ähnliches: Wir schaffen das Erlebnis einer Gemeinsamkeit, die für uns wichtig ist, die Bedeutung hat. Das Paradoxe ist: Gerade diese Erlebnisse, die keinen Nutzen für das Überleben haben, erscheinen uns im gemeinsamen Erleben als das wirklich Wichtige in unserem Leben. Das Erzeugen von Gemeinsamkeit durch gemeinsames Handeln wird gerade dann besonders hoch bewertet, wenn es keinen äußeren Zweck hat, wenn es Selbstzweck ist – wenn der einzige Sinn darin besteht, sich als Teil der Gemeinschaft zu erleben, genauer, die Gemeinschaft als etwas zu erleben, das größer ist als eine einfache Zusammenrechnung der Einzelnen, die diese Gemeinschaft bilden. 19 Durch solche Erlebnisse der Gemeinschaft entsteht etwas Neues, ein kollektives Wesen, und aus der Teilhabe an diesem Kollektiv zieht der Einzelne für sich einen Sinn. Es muss noch einmal betont werden, dass diese Gemeinschaftserlebnisse gerade dann als wertvoll empfunden werden, wenn sie wiederum nicht Mittel zu anderen Zwecken sind, wenn sie nicht zum Zwecke irgendeines Nutzens eingespannt werden. Natürlich kann Gemeinschaft als Kooperation auch für Zwecke instrumentalisiert werden, und das kann auch im Sinne der einzelnen Mitglieder durchaus nützlich sein. Aber schon durch das Wort »instrumentalisieren« – welches wir heute ja eher in einer abwertenden Bedeutung verwenden – wird klar: Jedes NützlichMachen eines gemeinschaftlichen Sinns für andere Zwecke wird von uns meistens als Missbrauch empfunden, und oft ist es auch Missbrauch, etwa, wenn er zum Anheizen von Konflikten eingesetzt wird oder um die Geschlossenheit einer militärischen Formation zu gewährleisten. Auch wenn es solche Instrumentalisierungen für externe 100 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Zwecke gibt, erklären diese doch nicht im Sinne einer natürlichen Erklärung die Existenz von gemeinschaftlichen Erlebnissen, die für sich Sinn erzeugen. Im Sinne etwa einer evolutionstheoretischen Begründung lassen sich Instrumentalisierungen von Gemeinschaftserlebnissen nicht erklären, denn Kooperation ohne Gegnerschaft, die am Ende in Kriege führt, ist für die Fortexistenz der Spezies, auch schon in ihren frühen Zeiten, sicher ein Vorteil. Das zeigt schon die Tatsache, dass es unter den Tieren keine Kooperation zum Zwecke des Kampfes gegen andere Gruppen der gleichen Art gibt. Gerade unsere nahen Verwandten im Tierreich zeigen keine Neigung, sich zu Gruppen zusammenzuschließen, die in den Kampf gegen andere Gruppen der gleichen Art ziehen. Die Instrumentalisierung und der Missbrauch des Erlebens von Gemeinschaft entwickelt sich erst, nachdem es dieses Gemeinschaftserleben schon gibt und nachdem Menschen darüber nachgedacht haben, zu welchen Zwecken sich dieses selbstgenügsame, selbstzweckhafte Handeln nutzen lässt. Wir müssen also fragen, warum wir Menschen ein Gruppen-Erleben herbeiführen und als wichtiges Gemeinschaftsereignis inszenieren. Wiederum kann uns der naturwissenschaftliche Erklärungsansatz nicht helfen. Wiederum können wir versuchen, in einem Geist, der größer ist als unser eigener begrenzter, individueller Geist, eine plausible Erklärung zu finden. Unter der Annahme, dass es einen solchen Geist gibt und dass dieser Geist uns Menschen auch mit Geist ausgestattet hat, liegt die Erklärung auf der Hand. In der Gemeinschaft und im Erleben des gemeinschaftlichen Sinns kommen wir dem unendlichen Geist näher, als es uns jeweils als Individuum gelingt. Der Geist der Gemeinschaft übersteigt bereits meinen je eigenen Geist, der individuelle Geist kann durch das Gemeinschaftserleben teilhaben an einem Geist, den er mit anderen teilt. Es ist naheliegend, dass ein unendlicher Geist, der den Menschen mit Geist – mit selbstbewusstem Erleben ausgestattet hat, diesen Geist so geschaffen hat, dass er in der Lage ist, einen größeren Geist zu erleben und als sinnvoll, als bedeutsam, kennenzulernen. Und eine Möglichkeit dafür ist der Geist der Gemeinschaft, den wir im Zusammen-
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sein, im gemeinsamen Singen, Tanzen und Handeln sowie in der kultischen Feier erleben und erfahren können. Wie jeder weiß, der schon einmal von einem solchen Geist berührt worden ist, hat auch der gemeinschaftliche Geist die Eigenschaft, uns anzusprechen, uns etwas zu zeigen und zu sagen. Auch in ihm empfinden wir, wie bei der Begegnung mit der Wirklichkeit, die wir im vorangegangenen Abschnitt betrachtet hatten, eine ästhetische und eine herausfordernde Dimension. Das gemeinschaftliche Erleben wird als schön empfunden, zugleich fordert es uns zum Handeln heraus, uns besonders intensiv in das Handeln selbst einzubringen. Es ist nicht verwunderlich, sondern nur folgerichtig, dass besonders intensive Erlebnisse und Handlungen von Gemeinschaften im spirituellen und religiösen Ritus und Kult inszeniert werden. Hier wird über das Entstehen des gemeinschaftlichen Geistes die Nähe und Teilhabe zum unendlichen Geist Gottes explizit hergestellt. Die Fähigkeit dazu, so können wir nun vermuten, hat Gott uns gegeben, um ihm auf diesem Weg besonders nahe zu kommen. Aber der Gott, nach dem wir hier fragen, hat den gemeinschaftlichen Geist offenbar nicht dafür reserviert, seine Nähe zu fühlen. Im Spiel, aber auch in der Instrumentalisierung der Gemeinschaft wird das gleiche Erleben erzeugt, womöglich weniger intensiv, ohne dass der unendliche Geist explizit spürbar wird. Sicherlich kann man sagen, dass es Fälle gibt, in denen der unendliche Geist zwar spürbar wird, aber nicht erkannt wird, ebenso wie es Fälle beim Praktizieren des religiösen Kultes gibt, in denen der unendliche Geist zwar angerufen wird, aber in denen er nicht erreicht wird. Wir können daraus wiederum etwas über den Gott ableiten, der hier sichtbar und plausibel gemacht werden soll. Dieser Gott gibt uns die Möglichkeit, durch die Gemeinschaft seine Nähe zu spüren. Aber er zwingt uns nicht dazu. Er lässt uns auch die Möglichkeit, diese Nähe zu erleben, ohne sie zu erkennen oder explizit als solche zu sehen. Dieser Gott, so könnte man sagen, ist in jedem berührenden gemeinschaftlichen Erleben anwesend, auch wenn er dabei nicht erkannt wird. So können wir uns etwa vorstellen, dass in einer Gemeinschaft explizit bekennender Athe102 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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isten ein Lied angestimmt wird, in dem die Gottlosigkeit gepriesen wird und von dem die Singenden und Zuhörenden ganz berührt sind – selbst darin wäre durch den Geist der Gemeinschaft der unendliche Geist Gottes anwesend. Und warum auch nicht? Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ein solcher Gott eifersüchtig ist und verlangt, dass die Menschen ihn sehen oder gar anbeten. Dieser Gott gibt die Möglichkeit, ihn zu erleben und ihn im Erleben zu erkennen, aber er hat gar keine Veranlassung, uns dazu zu zwingen. Jede Äußerung unseres freien Geistes und jedes Erzeugen eines gemeinschaftlichen Geistes zeigt ihm, dass wir seine Geschöpfe sind. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass einem solchen Gott etwas daran liegt, dass wir ihn bewundern oder gar fürchten. Gibt es dann überhaupt einen Grund, einen Anlass, die Nähe zu Gott unmittelbar zum Gegenstand des Gemeinschaftserlebnisses zu machen, so wie es in der kultischen Verehrung eines Gottes oder der Götter in den verschiedenen Kulturen praktiziert wird? Mit dieser Frage wird eine weitere Frage provoziert, die von streng atheistischer Seite auch immer wieder als Argument gegen den Gottesglauben vorgebracht wird: Es gibt so viele verschiedene Rituale der Gottesverehrung, in denen ganz unterschiedliche Vorstellung von Gott oder von Göttern, allgemeiner gesagt, vom transzendenten Geist wirksam werden. Teilweise widersprechen sich diese Rituale, schließen sich gegenseitig aus. Der richtige Ritus der Verehrung ist Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Zeigt das nicht alles, dass es gar keinen Gott, gar keinen transzendenten Geist geben kann? Schließlich müssten doch, so das Argument, die Formen der Gottesverehrung und die Vorstellungen davon, wie eine Gemeinschaft von Menschen mit diesem Gott ins Gespräch kommen kann, irgendwie ähnlich, wenigstens aber nicht widersprüchlich sein, damit man annehmen kann, dass die Menschen sich diesen Gott nicht nur je nach Interessenslage und Wirklichkeitsverständnis erfinden. Das Gegenteil ist der Fall. Zunächst spricht die Tatsache, dass es offenbar in allen Kulturen und zu allen Zeiten Rituale gab und gibt, mit denen Gemeinschaften das Gespräch mit einem unendlichen transzendenten Geist suchen, dafür, dass die Gewissheit der 103 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Existenz dieses Geistes tief in der Selbstgewissheit der Menschen verankert ist. Es ist naheliegend, dass diese Gewissheit den Menschen mitgegeben ist, eben von dem unendlichen Geist, an dem sie mit ihrem endlichen Geist teilhaben. Zudem unterscheiden sich die Rituale, mit denen sich die Menschen der Nähe des unendlichen Geistes vergewissern, nicht so sehr voneinander. Hier ist nicht der Platz für eine umfangreiche vergleichende Analyse der Kulte der Religionen der Welt, zumal diese der Versuchung zu widerstehen hätte, aus der Perspektive der christlich geprägten Kultur in andere Kulturen sozusagen Ähnlichkeiten hineinzudeuten. So viel lässt sich aber sicherlich sagen: Die Rituale zeichnen sich immer wieder durch eine gewisse Regelmäßigkeit und zudem durch eine Bezogenheit auf bestimmte wichtige Lebensereignisse aus. Sie sind formalisiert, sie bestehen in gemeinsamen, abgestimmten Handlungen und Äußerungen (Bewegungen, Tanz, Gesang, rhythmisches Sprechen), durch die ein Bewusstseinszustand der Offenheit für die Wahrnehmung der Transzendenz erreicht wird. Betrachtet man diese Gemeinsamkeiten, dann werden die Unterschiede fast marginal. Trotzdem zeigen diese Unterschiede Wichtiges über den unendlichen Geist, den wir hier Gott nennen, und über sein Verhältnis zu seinen menschlichen Geschöpfen und »Teilhabern im Geiste«. Dieser Gott schreibt den Menschen eben nicht detailliert vor, wie sie ihm zu begegnen haben. Er fordert schon gar keine rituelle Verehrung. Da der Geist der Menschen endlich ist, schaffen sie sich in jeder Kultur passende, ihrer Welt und ihren Traditionen entsprechende Möglichkeiten, mit ihm in Kontakt zu treten. Jede dieser Möglichkeiten ist die »richtige«, wenn es den Menschen gelingt, im gemeinsamen Erleben des Rituals dem unendlichen Geist zu begegnen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig verweist diese Unterschiedlichkeit in den Ritualen wieder darauf, dass dieser Gott die Menschen mit Freiheit und Eigenständigkeit im Denken und Entscheiden versehen hat. Er hat ihnen die Möglichkeit gegeben, seinem unendlichen Geist zu begegnen, aber die Wege zu dieser Begegnung können und sollen sie allein finden und gestalten. Der Mensch ist kreativ und intel104 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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ligent genug, gemeinsam mit den anderen einen Weg zu Gott zu finden, der für die jeweilige kulturelle Situation geeignet ist. Allerdings kann sich diese Freiheit auch darin zeigen, dass einzelne Menschen sich zum Wächter über den richtigen Weg zu Gott aufschwingen. Auch dagegen wird ein Gott, der die Menschen als freie Wesen mit endlichem Geist geschaffen hat, nichts unmittelbar unternehmen. So bilden sich Kirchen und kirchliche Eliten, die Vorschriften zur richtigen Verehrung Gottes festlegen wollen. Aber wie schon gesagt, ist es ganz unplausibel anzunehmen, dass Gott es nötig hätte, dass die Menschen ihn auf eine ganz bestimmte Weise verehren. Verehrung hat ein Gott ohnehin nicht nötig, an einer wirklichen Begegnung mit seinen Geschöpfen wird ihm jedoch gelegen sein. Ein Gott, der selbstbewusste, vernunftbegabte Wesen schafft und mit einem Teil seines eigenen Geistes ausstattet, wird wollen, dass diese Wesen ihn wenigstens im Ansatz verstehen und erkennen können, und dass sie sich in Freiheit auch dazu entscheiden, den unendlichen Geist zu erkennen. Zur Freiheit des Menschen gehört auch, dass ein jeder, allein oder gemeinsam mit anderen, den unverstellten, direkten Weg zur Begegnung mit diesem Gott für sich sucht. Auf der anderen Seite dürfte es diesem Gott nicht völlig gleichgültig sein, ob die Menschen im gemeinsamen Handeln das Gespräch mit ihm suchen, oder ob sie dies ganz unterlassen. Denn wenn wir uns Gott als handelnde Person denken, dann dürfte sie den freien vernünftigen Wesen diese Möglichkeiten gegeben haben, damit sie sie auch nutzen. In dem Versuch der Menschen, die an die Existenz dieses Gottes glauben, im gemeinsamen Handeln durch den gemeinschaftlichen Geist den unendlichen Geist zu finden, wird der Wunsch dieser Menschen wirksam, die Bedeutsamkeiten und den Sinn ihrer Welt, so wie dieser Gott es gewollt hat, zu erfahren. Der Sinn dieses Wunsches wird sich erst ganz erschließen, wenn wir uns im nächsten Kapitel mit Gott als Schöpfer und der Rolle seiner freien Geschöpfe in dieser Schöpfung befasst haben. Das gemeinschaftliche Gespräch mit dem unendlichen Geist kommt allerdings nicht nur im Ritus zustande. Vor allem erlebt die Gemeinschaft dieses Gespräch auch in den bedeutsamen Ge105 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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schichten, die über Generationen weitergetragen werden. Bereits im ersten Kapitel hatten wir uns mit der Existenz der fiktiven Gestalten in diesen Geschichten beschäftigt. Wie ist es möglich, fragen wir jetzt, dass Geschichten immer wieder neu erzählt, weitergetragen oder neu aufgegriffen, abgewandelt und variiert werden und über lange Zeiten bedeutsam bleiben? Wir können heute eine Jahrtausende alte Geschichte, etwa von Homer oder aus der Bibel, wieder neu erzählen, und sie hat für uns eine Bedeutung, sie hat einen Sinn, der durch die Jahrhunderte fortgedauert hat, obwohl die Gesellschaft sich seit ihrer Entstehung doch deutlich gewandelt hat. Wir erkennen in diesen Geschichten Wahrheiten, die uns wichtig erscheinen, auch wenn wir sie womöglich nicht in einfachen Sätzen aussprechen können, so dass wir, wenn wir diese Wahrheit jemandem anders verdeutlichen wollen, eben wieder auf die erzählte Geschichte verweisen. Aber auch in neuen Geschichten werden solche Wahrheiten sichtbar. Oft sind ja neue Geschichten erneut erzählte Varianten ganz alter Geschichten, aber in den Differenzen kommen neue Ideen, Erfahrungen, kulturelle Wandlungen und Hoffnungen zum Ausdruck. Was hat das Erzählen und Weitererzählen dieser Geschichten mit Gott zu tun? Das Faszinierende am Geschichtenerzählen ist, dass in der Geschichte eine Idee, ein Gedanke sichtbar wird, den die Leser erkennen, ohne dass er explizit hingeschrieben wird. Die Geschichte ist die Idee. Dem Autor der Geschichte ist diese Idee – so sagen wir – eingefallen, und mit der Idee auch die Geschichte, die die Idee erzählt. Intuitiv wusste der Autor, dass die Geschichte diese Idee, diese Wahrheit, erzählt und dass andere Menschen, die Leser, diese Idee in der Geschichte erkennen können. Das liegt natürlich daran, dass die Menschen innerhalb einer Kultur einen Fundus gemeinsamer Geschichten haben, in denen Ideen, bedeutsame Gedanken, Wahrheiten erzählt werden. Wir wachsen mit den Geschichten auf, mit Märchen und Erlebnisberichten, und wir lernen, in diesen Geschichten von einzelnen Ereignissen und Abläufen die bedeutsame Wahrheit zu sehen. Das gilt für Autoren und Leser gleichermaßen. Was wir dazu aber haben müssen, ist ein Sinn für das Bedeutsame in der erzählten 106 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Geschichte, egal ob sie tatsächlich passiert ist oder ob sie frei erfunden ist. Sowohl der, der die Geschichte erzählt, als auch der, der sie hört, müssen fähig sein, in der konkreten Folge von Ereignissen einen Sinn zu sehen – und sie müssen überzeugt davon sein, dass der andere Mensch den gleichen Sinn in der gleichen Geschichte erkennen können muss. Wir können sagen, dass der einzelne Mensch diese Fähigkeit im Tun eben erwirbt. Indem die Eltern den Kindern Geschichten erzählen und auf die Bedeutung hinweisen, die die Geschichte hat, lernt das Kind, Bedeutungen in Geschichten zu sehen. Dazu muss aber, wie gesagt, das Kind bereits einen Sinn für Bedeutungen haben, sonst würde es den Hinweis der Eltern gar nicht verstehen können – und die Eltern, die diesen Sinn nicht auch schon hätten, würden gar nicht auf die Idee kommen, dem Kind eine Geschichte zu erzählen, um eine Idee zu verstehen. Das wird ins im nächsten Abschnitt noch genauer beschäftigen, wenn es um die Sinne des Menschen für das Gute, das Schöne und das Wahre geht. Zudem bleibt offen, warum wir auch in ganz neuen, ganz unvertrauten Geschichten Bedeutungen erkennen können und warum wir das Bedürfnis haben, uns mit fremden und sehr alten Geschichten zu beschäftigen, um ihren Sinn, ihre Idee, ihre Bedeutsamkeit zu erkennen – warum wir alles, was Menschen je getan haben, auf seine Bedeutsamkeit für uns hin deuten wollen, auch wenn ihr Erleben doch mit unserem gar nichts zu tun hat. Hierher gehört auch das Interesse für fremde Kulturen, Traditionen und Ritualen, die wir nicht nur als Fremdes und Unbekanntes analysieren, sondern auf seine Bedeutsamkeit für uns selbst hin verstehen wollen. Deshalb verfängt auch der Einwand nicht, dass die Geschichten, die wir erzählt bekommen und weitererzählen, eben zu unserem Kulturkreis gehören und uns in ihrer Bedeutung deshalb schon weitgehend vertraut sind, bevor wir sie überhaupt gehört oder gelesen haben. Gerade unbekannte Geschichten ziehen uns an, ihre Bedeutung wollen wir erkennen und für uns selbst erlebbar machen, und wenn wir sie verstanden haben, wollen wir sie teilen. Natürlich deuten wir diese Geschichten zunächst innerhalb unseres bekannten Bedeutungshintergrundes, wir versuchen, 107 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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ihren Sinn in den Sinnzusammenhang einzuordnen, den wir schon kennen, aber zugleich sind wir immer bestrebt, diesen Sinnzusammenhang zu erweitern. Warum, so könnte man fragen, tun wir das? Warum faszinieren uns Geschichten, die nichts mit den Nöten und Sorgen des Alltags zu tun haben, die uns nicht im Geringsten helfen, die Aufgaben der täglichen Praxis zu bewältigen? Oftmals lenken sie uns sogar davon ab – zudem machen sie die einfache, vertraute Welt komplizierter, sodass wir aufgrund verwirrender Einsichten aus Geschichten nicht mehr so effektiv auf die Anforderungen der Alltagswelt reagieren können. Das Ausdenken und Weitertragen von Geschichten, gerade von solchen, die aus der Sicht des Alltags »weit hergeholt« erscheinen, Fantasieabenteuer, Geschichten von Zauberern, Engeln, Außerirdischen, auch Detektiv- und Seeräubergeschichten, sie alle sind aus Sicht einer natürlichen Welterklärung völlig unsinnig. Zwar mag aus einer solchen Perspektive die bloße Möglichkeit des Geschichten-Erzählens nicht bestritten werden (ihre tatsächliche Existenz ist ja auch unbestreitbar) – aber wie es dazu kommt, dass Menschen sich Phantasiewesen und fiktive Gestalten ausdenken und diese mögliche und unmögliche Situationen erleben lassen, wie es kommt, dass andere Menschen an solchen Geschichten Gefallen finden und diese Geschichten weitererzählen, das ist aus einer natürlichen Einstellung des Erklärens heraus unverständlich. Von atheistischer Seite wird oft gesagt, dass die Menschen sich Götter erdacht haben, um sich Dinge in ihrer Umwelt zu erklären, die sie anders nicht verstehen könnten. Ob das wirklich plausibel ist, kann dahingestellt bleiben, denn eine solche Erklärung bringt ja keinerlei praktischen Nutzen, und man muss sich fragen, warum Menschen überhaupt nach Erklärungen suchen sollten, wenn ihnen diese Erklärungen das Leben nicht wirklich erleichtern. Dazu kommt aber, dass die Menschen sich aber zu allen Zeiten viele Phantasiegestalten ausgedacht haben, die gar nichts erklären und mit den Beobachtungen im Alltag gar nicht verbunden sind – und deren tatsächliche Existenz nicht behauptet wird. Und heute ziehen uns gerade die Geschichten an, die uns nicht nur nichts erklären und das Leben nicht einfacher machen, sondern die uns 108 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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eher Angst machen könnten, Horror- und Abenteuergeschichten, Krimis und gefährliche Phantasiewesen. Warum denken sich Menschen solche unnützen Geschichten aus? Warum erfinden sie Tragödien, Dramen und Romanzen? Die Antworten auf diese Fragen sind leicht zu geben, wenn wir akzeptieren, dass die Geschichten Teil eines unendlichen Bedeutungszusammenhangs eines unendlichen Geistes sind. Im Ausdenken und Weitererzählen dieser Geschichten, wobei das Weitererzählen hier im doppelten Wortsinn zu verstehen ist, nehmen wir an diesem unendlichen Bedeutungszusammenhang teil, wir reichen sozusagen mit unserer Endlichkeit in das Unendliche hinein. Indem ich eine neue Geschichte erfinde, mit Gestalten, die ich mir ausgedacht oder wenigstens so gestaltet habe, dass sie meine Geschöpfe genannt werden können, und indem diese Geschichten dieser Gestalten für andere Menschen erlebbar werden, da sie meine Geschichte hören oder lesen und miterleben und weitertragen, wird eine Wirklichkeit geschaffen, die uns als Einzelne übersteigt und die doch uns endlichen Wesen gehört. Wir hatten schon im ersten Kapitel dafür argumentiert, dass diese fiktiven Gestalten wirklich existieren – jetzt sehen wir, dass diese Gestalten mit ihren Erlebnissen unsere Geschöpfe sind, indem sie von ihrem Autor erfunden (und oder wenigstens neu erfunden) werden und vom Publikum (besser, im Publikum) zum Leben gebracht werden. Dadurch entsteht eine neue, geistige Welt, genauer, dadurch reicht unser je endlicher Geist in eine unendliche geistige Welt hinein und wir gemeinsam, Autoren und Publikum, erleben die Nähe, die Teilhabe an dieser Welt. 20 Wenn wir uns fragen, wie das möglich ist, können wir die einfache Antwort geben: Wenn der unendliche Geist bereits da ist und uns Menschen mit einem endlichen Geist versehen hat, dann ist es ganz naheliegend, dass er uns die Möglichkeit gibt, durch Geschichten und fiktionale Gestalten unseren endlichen Geist gemeinsam in seinen unendlichen Geist hineinreichen zu lassen und uns auf diese Weise an dem unendlichen Geist teilhaben zu lassen. Ein unendlicher Geist eines Gottes, der uns mit der Fähigkeit der Selbsterkenntnis und des Selbstverstehens versieht, möchte auch, dass wir mit diesem unseren endlichen Geist an seinem Geist teil109 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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haben können und darin spüren können, dass es ihn gibt. Die Fähigkeit, immer neue Geschichten und Erlebnisse von Gestalten auszudenken, deren Schöpfer wir Menschen sind, ist zugleich ein Weg, den unendlichen Geist zu erleben. Natürlich können wir Menschen als freie Wesen mit dieser Fähigkeit machen, was uns beliebt, wir können uns Geschichten von Fabelwesen und Teufeln, von Außerirdischen und sprechenden Tieren ebenso ausdenken wie Geschichten von Menschen, die gegen den Glauben an Gott kämpfen und zu zeigen versuchen, dass es Gott nicht gibt. Es kann sehr überzeugende Geschichten dieser Art geben, in denen humanistische aufklärerische Atheisten sich gegen böswillige Gotteskrieger behaupten müssen, und die Menschen, die sich diese Geschichten weitererzählen, können darin in ihrer Ablehnung jedes Gottesglaubens bestärkt werden. Das alles gehört zu den Möglichkeiten des endlichen menschlichen Geistes, der in Kontakt zum unendlichen Geist kommt. Ein Gott, der den Menschen als freies Wesen geschaffen hat, wird diesem Menschen nicht verbieten, den Glauben an einen unendlichen Geist mit allen Mitteln, den seine Vernunft ihm gibt, zu verneinen und zu bekämpfen. Es ist also keineswegs so, dass dieser Gott uns die Geschichten, die wir erfinden, sozusagen eingibt und dass er dafür sorgt, dass wir uns nur Geschichten ausdenken, die mit seiner Existenz im Einklang sind. Im Gegenteil. Er hat uns nur die Fähigkeit gegeben, uns dichtend und Geschichten ausdenkend in das Erlebnisfeld des unendlichen Geistes zu begeben. Was wir darin tun und wie wir dieses Feld durchstreifen und gestalten, ist uns als freien Geistern überlassen. Wir können aber auch schreibend die Nähe des Gottes selbst suchen. Wir können Geschichten erfindend das Feld des unendlichen Geistes nach den Spuren und der Stimme Gottes absuchen. Wenn das gelingt, dann entstehen heilige Texte. Was als heiliger Text »zählt«, entscheiden Menschen mit ihrem menschlichen Geist, auch geleitet von ihren Interessen und Überzeugungen. Nicht jeder Text, der in ein heiliges Buch aufgenommen wird, muss wirklich ein Zeugnis des Hörens der Stimme Gottes sein. Umgekehrt gibt es sicherlich Werke von 110 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Dichtern, die nie in einem heiligen Buch einer Kirche abgedruckt werden, in denen der Autor aber die Stimme des unendlichen Geistes hörbar gemacht hat. Aber wenn wir das Erzählen bedeutsamer Geschichten als Teilhabe am unendlichen Geist ansehen können, dann ist es auch verständlich, dass Autoren und ihr Publikum, die Menschen, die die Geschichten weitererzählen und weiterentwickeln, ihre dichterische und poetische Kraft auf diesen Geist selbst richten und versuchen, mit ihm selbst ins Gespräch zu kommen. Es ist dann nur plausibel anzunehmen, dass dieser unendliche Geist auf die erzählerischen Versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen, antwortet. Wenn Autoren mit dem Entwickeln von Geschichten ihren endlichen Geist ins Unendliche hinaushalten, dann dürfen sie hoffen, dass der Geist dieser Unendlichkeit ihnen antwortet und seinerseits etwas erzählt. Dieses Erzählen des Geistes, das in der Erzählung des menschlichen Autors vom Unendlichen und von der Erkenntnis Gottes sichtbar wird, ist die Inspiration. Wenn Menschen sich von einem unendlichen Geist inspirieren lassen, dann schaffen sie heilige Texte, egal ob diese in die offiziellen heiligen Schriften einer Kirche Eingang finden oder nicht. Von atheistischer Seite wird diesen Texten oft vorgeworfen, dass sie inzwischen inhaltlich widerlegt seien, dass sie zudem einander widersprechen und dass sie Geschichten erzählen, die sich so nicht zugetragen haben können. Daraus leitet man ab, dass sie keineswegs von einem göttlichen Wesen inspiriert sein könnten. An dieser Stelle müssen wir uns vergegenwärtigen, dass wir hier keineswegs nur von der christlichen Bibel, der Thora oder dem Koran sprechen. Wir reden auch von allen anderen Berichten und Geschichten aus den unterschiedlichsten Kulturen und historischen Zeiten, in denen von Göttern und ihrer Begegnung mit Menschen erzählt wird. Nicht alle diese Geschichten haben den Anspruch, göttlich inspiriert zu sein, und vermutlich kann man bei einigen dieser Geschichten auch annehmen, dass sie nicht aus einer Inspiration heraus, sondern aus anderen Motiven entstanden sind. Aber es gibt sicherlich eine ganze Reihe von Erzählungen, bei denen die Autoren und ihr weiter-erzählendes Publikum 111 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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zutiefst sicher und überzeugt waren, dass sie diese Geschichten im Gespräch mit dem göttlichen Geist aufgeschrieben haben. Ausdrücklich betont werden muss an dieser Stelle, dass es nur bei wenigen Texten auf den einzelnen konkreten Autor allein ankommt. Stellen wir uns einen Autor vor, der seinen Zeitgenossen einen Bericht von der Begegnung mit dem unendlichen Geist gibt, der diesen Bericht in Gleichnissen, Geschehnissen, gewaltigen Bildern wiedergibt – der aber seine Zuhörer nicht in das große Erlebnis des unendlichen Geistes einbeziehen kann –, dann wird sein Bericht schnell vergessen sein. Wenn es ihm aber gelingt, dass seine Geschichte auch seine Mitbürger in das Erleben des unendlichen Geistes einbezieht, wenn sie durch das Gehörte selbst die Gewissheit erhalten, dem unendlichen Geist zu begegnen, dann werden sie zu Zeugen und Mitgestaltern der Entstehung eines wirklich heiligen Textes. Zurück zu dem Einwand von atheistischer Seite, dass diese Geschichten, wenn sie wirklich von dem einen unendlichen Geist inspiriert sind, doch konsistent und widerspruchsfrei untereinander sein müssten, dass sie im Grunde doch alle das Gleiche berichten müssten, dass das Bild, das sie von ihrem Gott (oder den Göttern und weiteren Personen, in denen der unendliche Geist sichtbar wird) zeichnen, doch immer das gleiche sein müsste. Denn dass es mehrere verschiedene Götter gäbe, die mit den verschiedenen Kulturen ins Gespräch kommen, wäre doch unwahrscheinlich, wenn man einen solchen unendlichen Geist als Schöpfer der Welt und der Menschen ansehen sollte. Wenn aber die Gottesbilder, die aus den verschiedenen heiligen Schriften folgen, miteinander unvereinbar wären, dann könne es sich bei ihnen nur um freie Erfindungen von Menschen handeln, ganz uninspiriert von einem unendlichen Geist. Die Sache sieht allerdings anders aus, wenn wir uns Folgendes vergegenwärtigen: Zunächst ist ein unendlicher Geist eben unendlich, kommt aber mit dem endlichen menschlichen Geist immer nur in einem endlichen Bezirk in Kontakt. Die Bezirke des Unendlichen, die ein endlicher Geist erkunden kann, können grundverschieden von denen sein, die ein anderer erkundet. Zudem kommt der unendliche Geist immer mit konkreten Men112 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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schen in einer konkreten Umgebung und mit konkreten Erfahrungen und Kenntnissen von der Welt ins Gespräch. Der unendliche Geist wird, wenn er die Menschen wirklich inspirieren will, im Kontext dieser Welt mit ihnen reden. Er wird an ihre Erfahrungen anknüpfen, wird ihnen von den unendlichen Ideen in Worten erzählen, die sie kennen und verstehen. Auch deshalb sind die Geschichten in verschiedenen Kulturen grundverschieden voneinander. Das unendlich Ferne wird in der einen Kultur durch die Meerestiefe, in der anderen durch die Berggipfel, in der nächsten, modernen, durch etwas außerhalb der materiellen Welt überhaupt bestimmt. Gemeint ist immer das Gleiche, aber es muss davon mit anderen Worten gesprochen werden. Schließlich sind die Autoren und Weiter-Erzähler der heiligen Schriften zwar vom unendlichen Geist inspiriert, aber sie bleiben endliche Menschen, die zum Erzählen und Hören nur ihre endliche Sprache haben. Das Unendliche in einer endlichen Sprache auszudrücken ist immer ein Wagnis, das auf verschiedene Weise versucht werden und auch scheitern kann – selbst wenn man der Unendlichkeit im Geiste tatsächlich begegnet ist. Bedenkt man dies alles, dann wird klar, dass die heiligen Schriften verschiedener Zeiten und Kulturen überhaupt nicht auf Anhieb konsistent erscheinen können, da derjenige, der ihre Konsistenz prüfen will, selbst nur aus einer endlichen Perspektive einer konkreten Kultur und einer persönlichen individuellen Prägung auf sie schaut. Wir Heutigen haben das Glück, dass wir auf ganz unterschiedliche heilige Texte zugreifen können, auf Dichtungen, Berichte und Erzählungen aller Epochen und Kulturen. Wir können uns von ihnen ansprechen lassen und jeder von uns kann seinen Weg zum unendlichen Geist mit den Texten suchen, die ihn am meisten inspirieren.
Gott und der Einzelne Bereits die beiden vorangegangen Abschnitte hatten gezeigt, dass es Erlebnisse und Erfahrungen des menschlichen Geistes gibt, für die das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell keine Erklärun113 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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gen anbietet und aus prinzipiellen Gründen keine Erklärungen anbieten kann. An dem Tag, an dem diese Zeilen entstehen, ist der Astrophysiker Stephen Hawking gestorben. Hawking war der Ansicht, dass das menschliche Gehirn, welches er vermutlich als den Sitz des menschlichen Geistes ansah, nicht mehr ist als ein sehr komplexer Computer. Folgerichtig war er auch der Ansicht, dass man einen Gott für die Erklärung aller Dinge einschließlich des menschlichen Geistes, der in diesem Bild quasi nicht mehr ist als die laufende Software im Computer, nicht braucht. 21 Allerdings kann Hawking eben in diesem Bild die Frage nicht beantworten, wer der ist, der dieses Bild von einem laufenden Computer von sich selbst hat. Wer der ist, der von sich selbst sagt, dass er ein Computer ist, bleibt offen, denn das Computerprogramm wird, so komplex es auch sein mag, nicht »Ich bin ein Computer« sagen können, wenn ihm diese Aussage nicht, auf welche komplexe Weise auch immer, schon in den Code hineinprogrammiert ist – und er wird schon gar nicht verstehen, begreifen und bewerten können, was er da sagt. Selbst wenn der Computer diesen Satz ausgibt, denkt er ihn nicht zuvor, und somit ist es eigentlich auch falsch, davon zu sprechen, dass er ihn sagt, auch wenn die Ausgabe akustisch in verständlichen Worten erfolgt. Es wird ihn nicht traurig oder fröhlich machen, es wird nicht sein Selbstwertgefühl beeinträchtigen oder erhöhen. Er wird nicht darüber nachdenken, ob er ein Computer sein möchte, ob er sich überhaupt richtig verstanden fühlt, wenn jemand sagt, er sei doch – womöglich nur – ein Computer. Von Hawking stammt auch der Satz, dass Intelligenz nichts anderes sei als die Fähigkeit, sich an Veränderungen anpassen zu können. Vermutlich ist dieser Satz auch für einen sehr formalen, biologistischen Intelligenzbegriff falsch, 22 aber in jedem Fall ist er falsch für die menschliche Intelligenz. Bleiben wir bei der Reaktion auf einen Wandel, dann zeichnet sich die menschliche Intelligenz zunächst einmal dadurch aus, dass sie den Wandel bewertet, dass sie ihn einordnet, dass sie darüber nachdenkt, dass sie ihn begrüßt und sich darüber freut oder dass sie ihn ablehnt, weil er sie ängstigt. Mehr noch, die menschliche Intelligenz kann ihre eigene Freude oder Ablehnung selbst zum Gegenstand des 114 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Nachdenkens machen, sie kann zu der Einsicht kommen, dass die Freude unberechtigt ist oder dass die Angst durch das Nachdenken einer Akzeptanz des Wandels weichen kann. Und auf der Grundlage dieser Beurteilung, die vieles ist, aber keine formale NutzenSchaden-Kalkulation, wird die menschliche Vernunft sich entschließen, auf den Wandel zu reagieren, wobei auch Ignoranz eine Reaktion sein kann. Die menschliche Intelligenz kann zum Wandel Stellung beziehen, sie kann sich entscheiden, ihn als Chance zu begreifen, die sie nutzen will, oder als Risiko, das sie eindämmen oder bekämpfen will. Man kann den menschlichen Intelligenzbegriff radikal reduzieren auf irgendein algorithmisches Regelverfahren, das dann in ein physikalisch-mathematisches Erklärungsmodell eingepasst werden kann. Dann kann man sicherlich leicht sagen, dass es für diese Intelligenz keines Gottes bedarf. Aber der menschlichen Intelligenz, selbst der, die eben von sich sagt, dass sie keinen Gott benötigt, wird man damit nicht gerecht. Wir wollen deshalb wiederum fragen, ob wir diese Intelligenz, diesen menschlichen Geist, dieses Bewusstsein, das sich selbst mit seinen Wünschen, Ängsten, Hoffnungen und Zweifeln zum Gegenstand der eigenen Reflexion machen kann, irgendwie besser zu fassen bekommen können, wenn wir als ihre Ursache einen unendlichen Geist, einen Gott, annehmen. In diesem Abschnitt betrachten wir dazu den menschlichen Geist, so wie wir ihn selbst täglich erleben, wir richten den Blick also sozusagen nach innen, schauen auf unser je eigenes Selbst. Dieses Selbst ist in der Lage, das Schöne, das Wahre und das Gute in der Wirklichkeit und in sich selbst zu finden. Diese Gaben, die wir in unserem ästhetischen Empfinden, in unserer Intuition und in unserem Gewissen erleben, lassen sich auf der Grundlage von naturwissenschaftlichen Theorien überhaupt nicht fassen – das ist in den letzten Abschnitten schon hinreichend deutlich geworden. Wir wollen uns dem Erleben dieser Fähigkeiten nun etwas genauer zuwenden. Wie erfolgt das Erkennen des Schönen? Dafür gibt es zwei ganz verschiedene Möglichkeiten. Zum einen kennen wir die Situation, etwas ganz spontan, ohne Erklärung und intuitiv als 115 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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schön zu erkennen. Zum anderen gibt es aber auch die Möglichkeit, das Schöne zu erkunden, zu entdecken und es erst allmählich als schön zu erkennen. Ich stehe vielleicht ratlos vor einem abstrakten Bild, und jemand erklärt mir, was er daran schön findet, was ihm daran ästhetische Freude bereitet. 23 Er wird mich auf dieses und jenes hinweisen und mich fragen: »Siehst du das? Siehst du, wie schön das ist?«, und irgendwann werde ich es entdecken. Das verweist darauf, dass auch das Erkennen der Schönheit eine gemeinschaftliche Erfahrung ist. Wir können uns das Erfahren von Schönheit voneinander abschauen, und womöglich würde ein Mensch, dem Schönes nie gezeigt wurde, auch niemals Schönes erkennen und erleben. Das können wir aber hier dahingestellt sein lassen, denn auf jeden Fall kann ich, wenn ich mich darauf einlasse und wenn ich es will, von einem anderen lernen, was schön ist. Allerdings ist dieses Lernen nicht auf formal-rationale Weise möglich. Wir können zwar analysieren und lernen, was in einer Kultur zu einem schönen Ding dazugehört, aber indem wir diese Merkmale in dem Ding suchen und finden, erleben wir die Schönheit gerade nicht. Zwar kann uns jemand auf die besonders schönen Proportionen eines Bildes hinweisen, aber ob ich dann wirklich sehe, dass diese Proportionen das ganze Bild schön machen, bleibt fraglich. Das Erlebnis des Schönen erlerne ich von jemandem, indem ich mich auf sein Erleben einlasse. Wenn Bob zu Alice sagt: »Schau, wie schön die Farben dort ineinander wechseln«, dann kommt es für Alices Miterleben des Schönen weniger darauf an, was Bob sagt, sondern wie er es sagt, wie er Alice durch sein Hinweisen in das Erleben der Schönheit der Farbübergänge hineinzieht. Alice wird die Schönheit dieses Farbenspiels womöglich nie erkennen können, wenn Bob nur formal und rational über den graduellen Wechsel der Farben doziert. Sie wird aber möglicherweise die Schönheit sehen lernen, wenn sie sich von Bobs Begeisterung, wie man sagt, anstecken lässt, wenn sie erlebt, wie er die Schönheit erlebt. Schönheit erleben lernen kann man am besten, indem man ein Erlebnis des Schönen teilt. Es kommt nicht auf das Erörtern der Merkmale des Schönen an, sondern auf die gemeinsame Erfahrung, das »Überspringen des Funkens«. 116 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Dabei muss man sich deutlich machen, dass es bei aller ästhetischen Toleranz einen gewissen Anspruch gibt, dass die Schönheit, die ich selbst sehe, dem anderen auch sichtbar gemacht werden kann. Gesetzt, dass Alice überhaupt nicht versteht, eben nicht nachvollziehen kann, was Bob an diesen Farbübergängen schön findet. Dann wird Bob doch nicht die Gewissheit aufgeben, dass diese Farbverläufe wirklich schön sind (wir könnten auch sagen, er wird weiterhin gewiss sein, dass diese Schönheit existiert). Wenn ihm etwas daran liegt, dass auch Alice diese Schönheit erleben kann, dann wird er andere Wege suchen, sein Erleben mit ihr zu teilen. Er wird womöglich nach den Gründen suchen, die verhindern, dass Alice sieht, was ihm klar vor Augen steht. Zwar wird Bob womöglich akzeptieren, dass Alice diese Schönheit nicht erkennen kann, und für diese Akzeptanz sind heute Formulierungen geläufig, die vermuten lassen, dass Schönheit etwas sei, das nur für den Einzelnen existiert und nicht wirklich in der Welt ist. Aber jeder, der schon eine Schönheit ganz gewiss erlebt hat und der versucht hat, diese Gewissheit mit anderen zu teilen, weiß vermutlich auch, dass ihn ein Scheitern dieses Versuchs ratlos zurücklässt, weil es doch irgendwie möglich sein muss, dass auch andere sehen, was er als Schönheit erkennt. Das ästhetische Erleben von Schönheit bleibt aber nicht an die Gemeinschaft gebunden. Meistens erlebe ich sie spontan und intuitiv. Schönheit erfüllt mich mit Freude, es weckt den Wunsch, zu verweilen und die Schönheit länger zu genießen. Dieses freudige Gefühl kommt über mich, bei einem schönen Anblick, beim Hören einer schönen Musik, kurz, beim Erleben einer schönen Wahrnehmung. Die Freude an der Schönheit und der Wunsch, bei ihr zu verweilen, erwecken das Bedürfnis, das Schöne zu bewahren und zu schützen. Was schön ist, will ich erhalten, es soll in seiner Schönheit bestehen bleiben, und zwar um dieser Schönheit selbst willen. Der Wunsch, Schönes zu bewahren, ist nicht etwa an den rationalen Gedanken gebunden, dass ich das Erlebnis des Schönen wiederholen können möchte. Selbst wenn ich weiß, dass ich an einen schönen Ort niemals zurückkommen werde, möchte ich das Schöne erhalten. Und wenn ich erfahre, dass etwas Schönes in der Ferne zerstört wurde, schmerzt mich das, unabhängig 117 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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davon, ob ich jemals den Wunsch oder die Absicht hatte, es selbst noch einmal zu erleben. Das Erleben von Schönheit hat also zuerst etwas mit einem Mit-Erleben zu tun, die Erfahrung des Schönen wird zwischen Menschen geteilt. Was wird da geteilt? Metaphorisch sprechen wir von einem Funken, der von einem zum anderen überspringt. Das Erleben der Schönheit ist ein Licht, eine Flamme, die das Leben des Menschen erhellt und wärmt. Er kann dieses Feuer weitergeben, dann erkennt auch der andere die Schönheit. Bei dieser Weitergabe spielt die Sprache auch eine Rolle, aber weniger als Übermittler von Informationen hinsichtlich der vorhandenen Merkmale der Schönheit, sondern eher als Hinweisen und Zeigen, verbunden mit einem emotionalen Hineinziehen des anderen in das Erleben der Schönheit. Sodann ist das Erleben des Schönen auch dem Einzelnen allein möglich – es muss sogar immer möglich sein, denn wenn Bob die Schönheit nicht gerade in diesem Moment erlebt, ist er niemals in der Lage, Alice in dieses Erlebnis hineinzuziehen. Wer einmal das Licht des Schönen gesehen hat, in dem wird es immer wieder spontan und intuitiv aufleuchten, sobald er dem Schönen erneut begegnet. Wir sprechen hier von Licht, Funken, Feuer und Flamme. Warum sind diese Metaphern hier richtig? Wenn wir die Schönheit, deren Erkennen und Erleben von einem zum anderen übertragen werden kann, indem das Erleben geteilt wird, mit diesen Begriffen metaphorisch beschreiben, dann nicht nur, weil die Licht- und Wärme-Metaphern zum Erleben der Schönheit passen, sondern weil das Feuer und seine Übertragung auch das Teilen und Verbreiten dieses Erlebens angemessen beschreibt. Schönheit erleben ist ein Teilhaben an etwas, das schon da ist. Warum ist aber Schönheit in der Welt? Und warum sind wir Menschen so konstituiert (wir halten hier das naheliegende Wort »gemacht« zurück), dass wir diese Schönheit erleben, teilen und sogar erzeugen können? Denn zum Erleben des Schönen tritt ja noch hinzu, dass wir selbst Schönheit in die Welt bringen können, dass wir schöne Dinge schaffen können, die andere als schön erleben, und dass wir gemeinsam Schönes tun können, dass wir in diesem Tun das Schöne des Tuns erleben können. 118 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Zu diesem gemeinsamen Erleben des Schönen, bei dem das Schöne selbst erst entsteht und sogleich erfahren wird, gehört die Liebe der Menschen zueinander. Wenn wir lieben, erschaffen wir Schönheit in unserem Tun und sind zugleich selbst schön. Die Liebenden erleben die Welt und sich darin als schön und sie erleben ihr eigenes Tun als schön – und sie sind zugleich gewiss, dass diese Schönheit durch ihr gemeinsames Erleben des Schönen entsteht. Auch die Liebe ist ein Teilhaben, denn man liebt am schönsten, wenn man weiß, dass man geliebt wird. Warum also sind Schönheit und Liebe in der Welt? Aus biologischen Prinzipen und Gesetzen heraus sind weder ihre Herkunft noch ihr Zweck verständlich. Anders sieht es aus, wenn wir die Tatsache, dass wir sie als Teilhabe erleben, ernst nehmen. Dann stellt sich die Frage: Wer lässt uns hier teilhaben? Woran haben wir als Menschen teil, wenn wir Schönheit erleben? Plausibel ist, hier einen unendlichen Geist anzunehmen, der uns Menschen mit einem Geist ausgestattet hat, der wie er selbst dazu fähig ist, Schönheit zu erleben, die Schönheit der Welt zu sehen. Dieser unendliche Geist sieht selbst die Schönheit der Welt und möchte, dass wir ebenso diese Schönheit sehen können. Er schafft selbst die schönen Dinge der Welt und möchte, dass wir daran teilhaben können – und er möchte, dass wir als geistige, wenn auch begrenzte Wesen, in der Lage sind, selbst Schönes zu schaffen – damit nehmen wir an seinem Schöpfungsprozess teil und sind nicht nur Teil der Schöpfung, sondern, als geistige Wesen, eben auch Teil der schöpferischen Kraft. Dann ist aber die Frage, warum dieser unendliche Geist selbst Schönes erleben und schaffen will. Die Antwort lautet: Im Erleben der Schönheit erlebt der Geist sich selbst. Wenn wir Menschen Schönheit erleben, dann erfahren wir, dass wir mehr sind als nur Materie. Dann erleben wir uns als geistige und schöpferische Wesen. Der Geist, sowohl der unendliche als auch unser endlicher Geist, erlebt im Schönen seine eigene Existenz und den Sinn seines Daseins. Und zugleich sieht er, dass das, was er schaffen kann, wert ist, bewahrt zu werden, denn das Schöne wollen wir erhalten. So ist es nicht nur mit dem Schönen, sondern auch mit den 119 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Dingen, die irgendwie den Geist, die Kultur symbolisieren. Wir halten es für selbstverständlich, dass alte Bauwerke als Denkmäler zu erhalten sind. Wir sind bestürzt, wenn im Krieg Kulturschätze zerstört werden. Wir bewundern die Werke früherer und ferner Kulturen und wollen ihre Spuren und Ergebnisse bewahren. All das ist völlig unabhängig von einem Nutzen, die diese Spuren, Bauten, Schriften und Kulturgüter für uns heute haben können. Der Aufwand, den wir dafür zu treiben bereit sind, ist enorm, und wir sind stolz auf jedes alte Werk, das wir retten und erhalten können. Warum ist das so? In diesen Werken sehen und erfahren wir, was uns als Menschen ausmacht. Wir sehen unsere wahren Möglichkeiten und Fähigkeiten. In ihnen erleben wir die Wahrheit über uns als Menschen. Wiederum zeigen uns diese Spuren der fernen, fremden und vergangenen Kulturen, dass wir Menschen eben mehr sind als materielle Dinge, dass wir nicht nur durch physikalische, chemische und biologische Gesetze bestimmt sind, sondern dass wir geistige Wesen sind. Und auch das Erleben dieser Wahrheit ist eine Teilhabe: Die Teilhabe an der Kreativität und geistigen Kraft der Menschheit. Wiederum können wir fragen, woher diese Teilhabe kommt, und wir haben eine plausible Antwort schon gesehen, als wir eben nach der Herkunft des Schönen gefragt hatten: In den Zeugnissen seines Schaffens erlebt der Geist sich selbst, und es ist die Teilhabe am unendlichen Geist, die wir fühlen, wenn wir die Werke des Geistes früherer und ferner Menschen bewundern und würdigen, gerade und vor allem dann, wenn sie für uns mit keinerlei Nutzen verbunden sind. Ein unendlicher Geist, der uns Menschen mit Geist ausgestattet hat, möchte, dass wir die Werke des Geistes fremder Menschen würdigen, bewundern und schätzen, weil wir damit die Freude empfinden, Teil der unendlichen geistigen Sphäre zu sein, die er hervorgebracht hat. Wir haben also gesehen, dass es plausibel ist, dass es einen unendlichen Geist gibt, der uns als geistige Wesen geschaffen hat und uns mit der Fähigkeit ausgestattet hat, selbst schöpfend tätig zu werden, Neues und Schönes zu schaffen und uns daran zu erfreuen. Es drängte sich die Frage auf, warum uns dieser Geist so 120 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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geschaffen hat. Plausibel ist, dass wir geschaffen sind nicht nur als Teil der Schöpfung, nicht nur als ihr Ergebnis, sondern als Teil der schöpferischen Kraft des unendlichen Geistes selbst. Dieser unendliche Geist, den wir bereits mit dem Namen Gott angesprochen haben, hat uns als Mit-Schöpfer geschaffen, wir gestalten als schöpfende Geschöpfe die Schöpfung mit. Wenn das aber so ist, dann stellt sich sofort eine weitere Frage: Der Mensch schafft bekanntlich nicht nur, er zerstört auch, und zwar nicht nur die eigenen Werke, sondern auch die Wildnis und die Natur, die der schöpfende Gott zuvor geschaffen hat. (Wir werden uns mit der Frage, wie diese Schöpfung und ihr Verhältnis zu den natürlichen Prozessen zu denken sind, im nächsten Kapitel ausführlich befassen). Der Mensch schafft zudem nicht nur Schönes, sondern auch Abstoßendes, das niemand je als schön empfinden kann. Warum hat dieser Gott den Menschen nicht als Wesen geschaffen, das ausschließlich Schönes hervorbringt und nichts Geschaffenes vernichtet, sondern immer bewahrt? Die Antwort darauf ist gar nicht schwer zu geben. Der menschliche Geist ist zum einen begrenzt und zum anderen frei. Begrenzt muss unser Geist sein, weil wir selbst endliche Wesen sind. Frei müssen wir sein, weil wir am schöpferischen, freien Geist teilhaben. Wir könnten nicht schöpferische Geschöpfe sein, wenn wir nicht freie Wesen wären – frei zu schaffen und zu zerstören, frei, das Schöne und das Hässliche gleichermaßen in die Welt zu bringen. Dem endlichen Geist des Menschen begegnet die Schöpfung bekanntlich auch nicht nur als wohltuende Schönheit. Wir werden uns im letzten Kapitel ausführlich der Frage widmen, was es über einen plausiblen Gott aussagt, dass er seine Schöpfung nicht nur so geschaffen hat, dass sie für den Menschen Quell der Freude ist, sondern dass sie auch Quelle des Leids und der Trauer sein kann. Das wird sich erst erschließen können, wenn wir den Charakter der Schöpfung durch einen plausiblen Gott im nächsten Kapitel durchdacht haben werden. Die Tatsache, dass die Welt, die dem Menschen begegnet und die er als Produkt eines plausiblen Gotts auffassen kann, dem Menschen auch Not und Tod bringen kann, ist aber unhintergehbar offensichtlich. Der Um121 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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gang mit dieser Schöpfung ist dementsprechend auch nicht nur kooperative, wertschätzende und bewahrende Mit-Schöpfung, sondern auch Verteidigung und zerstörende Sicherung der eigenen Existenz. Auch diese Zerstörung ist – aus der Sicht des endlichen menschlichen Geistes – Schöpfung, nämlich Erzeugung einer Welt, in der der Mensch sicher leben kann. Dabei richtet sich die Zerstörung schnell gegen vieles, das dem endlichen Geist als Widerständigkeit und ablehnend erscheint – auch gegen andere Menschen. Damit der endliche Geist des Menschen nicht zum Zerstörer der Schöpfung insgesamt wird, sondern, wenn auch auf widersprüchlichen Wegen, zur Erweiterung der Schöpfung beiträgt, hat der unendliche Geist den Menschen eine weitere Fähigkeit gegeben: die Kraft, nicht nur das Schöne und das Wahre, sondern auch das Gute zu erkennen. Wir hatten gesehen, dass schon die Fähigkeit, Schönes und Wahres zu erkennen, dem Menschen hilft, die Schöpfung zu bewahren und selbst Geschöpftes zu schätzen und zu pflegen. Mit dem Gewissen, dem moralischen Empfinden und Erkennen, kommt eine weitere starke Kraft ins Spiel, die den Drang des Menschen eindämmt, aus begrenzter Erkenntnis und Eigennutz das Schöne und Wahre wieder zu zerstören. Wenn wir uns nun dem Guten zuwenden und die Fähigkeit des Menschen in den Blick nehmen, das Gute vom Bösen unterscheiden zu können, dann müssen wir uns zuerst der Frage zuwenden, was denn das Gute überhaupt sei, wodurch es bestimmt ist. Diese Frage hätten wir genau genommen schon beim Schönen stellen müssen. Auch dort haben wir zwar gesagt, dass der Mensch das Schöne erkennen kann, wir haben sogar festgestellt, dass wir Menschen in der Lage sind, das Erleben der Schönheit miteinander zu teilen und andere in dieses Erleben »hineinzuziehen«. Überdies hatten wir gesehen, dass wir Menschen auch selbst schöne Dinge schaffen können – aber was das Schöne ist, darüber haben wir bisher geschwiegen. Es schien ganz sonnenklar zu sein, was es heißt, dass etwas »schön« ist. Beim Wahren liegen die Dinge ähnlich, aber die Erkenntnis des Wahren haben wir bisher ohnehin nur kurz gestreift. Im nächsten Kapitel werden wir ausführlich darauf zurückkommen. Aber nun, 122 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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da wir uns dem Guten zuwenden, kommen wir nicht mehr umhin, danach zu fragen, was genau gemeint ist, wenn wir etwas als gut bezeichnen. Warum ist das so? Weil die Aussage »das ist gut« wenigstens zwei Bedeutungen hat, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Die eine meint »gut« im Sinne von »für einen Zweck geeignet und angemessen«. Wir sagen z. B. »Das ist ein gutes Messer« oder auch »Das ist eine gute Idee« und meinen damit: Das Messer und die Idee sind ausgezeichnet geeignet, um ein Ziel zu erreichen. Das Gute ist in diesem Falle das Nützliche und Sinnvolle, das Praktikable, das, was uns das Leben vereinfacht – das praktisch Gute. Davon müssen wir das moralisch Gute unterscheiden. Um das moralisch Gute geht es uns im Folgenden. Es hat Versuche gegeben, das moralisch Gute auf das praktisch Gute zu reduzieren. 24 Dann wird das Ziel aus einer allgemeinen Nutzenserwartung für die Menschen oder die Menschheit oder aus »inneren Erfordernissen« bestimmt, welches als gut angesetzt wird, weil es einen allgemeinen Nutzen für alle oder für die meisten Menschen verspricht. Das, was diesem Ziel dient, ist dann das moralisch Gute. Es ist hier nicht der Platz, um all die Konzepte, das moralisch Gute aus solchen oder anderen allgemeinen oder objektiven Prinzipien herzuleiten, zu diskutieren und zu kritisieren. Allen diesen Konzepten ist aber gemeinsam, dass sie zu Ergebnissen kommen, gegen die sich im Innern unseres Geistes Widerstand regt. So können wir mit Immanuel Kant zu dem Ergebnis kommen, dass es moralisch geboten ist, auch dem Gewalttäter die Wahrheit über das Versteck eines Menschen zu sagen, der sich doch vor dem Gewalttäter in Sicherheit bringen will – es lässt sich aus dem Kategorischen Imperativ ableiten, der uns womöglich einleuchtet. Aber am Ende regt sich eine innere Stimme, die sagt, dass es niemals gut sein kann, den Freund auszuliefern, dass es vielleicht richtig und logisch beweisbar ist, aber dass es nicht gut ist. 25 Diese innere Stimme kennt jeder Mensch aus verschiedenen Situationen, auch wenn wir im Alltag vielleicht oft versuchen, sie zum Schweigen zu bringen oder sie zu überhören. Es kommt oft vor, dass wir uns durch rationale Erwägung für oder gegen etwas entscheiden und dass uns dann eine innere Stimme sagt, 123 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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dass dies die falsche Entscheidung gewesen ist. Es mögen viele »gute Gründe« für eine Entscheidung sprechen, am Ende gibt es doch eine innere Instanz, die sich meldet, die uns sagt, dass diese Entscheidung nicht gut gewesen ist. Dann bereuen wir, was wir getan haben und dass wir nicht länger nach anderen Wegen gesucht haben, und kein rationales Argument und kein Zureden kann uns davon überzeugen, dass alles so richtig war, wie wir entschieden haben Diese innere Instanz, diese innere Stimme ist das Gewissen. Wir können hier dahingestellt sein lassen, ob das Gewissen durch Erziehung und Erfahrung geprägt ist oder ob wir von Geburt und einfach aus der spezifisch menschlichen Vernunft heraus ein vollständig ausgeprägtes Gewissen haben. Vermutlich ist die Entwicklung der konkreten Ausprägung des Gewissens ein sehr vielschichtiger und komplexer Prozess, in den kulturelle, soziale, familiäre Lernprozesse und persönliche Erlebnisse und Reflexionen eine Rolle spielen. Das muss uns hier nicht beschäftigen, denn entscheidend für uns ist die einfache und offensichtliche Tatsache, dass wir überhaupt ein Gewissen haben und dass wir dieses befragen können – oder dass es sich meldet. 26 Dieser Prozess der Zwiesprache mit der inneren Stimme, wie der Mensch ihn persönlich erlebt, interessiert uns hier. Zumeist meldet sich das Gewissen gerade dann, wenn wir aufgrund von sachlichen Argumenten bereits zu einer Entscheidung gekommen sind, was das Richtige ist, was wir tun sollten. Dabei kann das angestrebte Ziel durchaus etwas sein, das als gut angesehen wird. Das Gewissen wird dann trotzdem womöglich Einspruch erheben – es tut dies nicht mit Worten, sondern als Regung, als Gefühl, als Schmerz, als Gewissens-Biss – wobei das Wort Beißen mit seiner Aggressivität nicht wirklich die Wirkung zum Ausdruck bringt, den das Gewissen auf die Seele ausübt. Das Gewissen lässt uns spüren, dass wir uns moralisch falsch entschieden haben, oder es lässt uns fühlen, was zu tun gut wäre. Es ist darin dem ästhetischen Empfinden des Schönen verwandt, denn auch dieses meldet sich ohne Worte, ist Regung und Gefühl. Ein Beispiel soll das erläutern: Bob muss morgen früh aufstehen und ausgeschlafen sein, da er seinen Kindern versprochen 124 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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hat, einen tollen Tag mit ihnen zu verbringen. Kurz bevor er zu Bett gehen will, ruft Alice ihn an, die sich Sorgen um ihren Vater macht, den sie gerade ins Krankenhaus gebracht hat. Alice braucht jemanden zum Reden – Bob vermutet, dass das lange dauern würde, und sagt ihr, dass er am nächsten Tag leider sehr früh aufstehen muss. Alice sieht das natürlich ein und verabschiedet sich. Bob sagt sich, dass er richtig gehandelt hat, denn so ist er am nächsten Tag ausgeschlafen und kann sich seinen Kindern widmen. Alice, so vermutet er, wird jemanden anderes zum Reden finden und wenn nicht, wird es auch nicht so schlimm sein. Dem Vater, so denkt er, würde es ohnehin nicht helfen, wenn er sich mit Alice getroffen hätte. Aber nun regt sich in Bob dieses Gefühl, dass es eben doch nicht gut war, dass er Alice abgesagt hat. Dieses Gefühl ist das Gewissen. Es sagt, ohne Worte zu benutzen: Du hättest etwas anderes tun sollen. Es fragt, ob es wirklich so schlimm gewesen wäre, wenn Bob am Morgen etwas müde gewesen wäre. Es sagt: Eine Stunde hättest du dich wenigstens dem Kummer von Alice widmen können. Gegen diese Stimme kommt kein rationales Argument an, kein Abwägen von Vor- und Nachteilen der getroffenen Entscheidung. Das Gewissen zeigt an: Ich habe mich zu früh von scheinbar zwingenden rationalen Argumenten davon abbringen lassen, das Gute zu suchen und zu tun. Das Beispiel, so klein und alltäglich es auch ist, zeigt, dass das Gewissen eben nicht eine Entscheidung zwischen zwei schlechten Lösungen in einer Dilemmasituation bietet oder fordert, sondern dass es die Kraft ist, die uns dazu bewegen will, den Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Wenn ich bis zuletzt nach diesem Weg gesucht habe, der mich das Gute tun lässt, auch wenn rationale Gründe dagegen sprachen, dann bin ich mit meinem Gewissen im Reinen. Diese Befriedigung des Gewissens erreiche ich nicht durch ein rationales Abwägen der Optionen, sondern durch die Suche nach einem neuen Weg, der mir neue Optionen eröffnet. Wenn ich das Dilemma akzeptiere, dann habe ich den Bezirk der Moral, die durch die Befragung des eigenen Gewissens bestimmt wird, schon verlassen. Ich kann dann vielleicht das Gewissen zum Schweigen bringen, genau genommen kann ich es nur unhörbar 125 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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machen. Ich kann das Gewissen aber niemals auf diesem Wege »beruhigen«. Wir sprechen oft davon, dass wir etwas tun würden, um das Gewissen zu beruhigen. Diese Beruhigung besteht dann darin, ein wenig vom Guten zu tun, ohne dass es uns zu sehr anstrengt oder fordert. Ob dadurch das Gewissen tatsächlich beruhigt wird oder ob nicht schon in der Rede vom »beruhigten Gewissen« das Gewissen selbst spricht, kann dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall zeigt diese Formulierung, dass das Gewissen eben fordert, das Gute wirklich zu tun und einen Weg zu finden, dem Anspruch des Gewissens tatsächlich gerecht zu werden. Durch eine einfache Argumentation, warum man das Gute in diesem Moment gerade nicht tun konnte, wird das Gewissen niemals beruhigt. Das Gute ist also etwas völlig anderes als das Nützliche, es ist auch etwas anderes als das, was durch allgemeine ethische Prinzipien, etwa durch den Kategorischen Imperativ, geboten ist. Das Gute erkennen wir nicht an irgendwelchen äußeren, theoretisch herleitbaren Merkmalen. Zwar kann es Regeln geben, die aus der Erfahrung gewonnen werden, dass gutes Wirken immer wieder bestimmte Merkmale hat. Aber kein Zusammentreffen dieser Merkmale garantiert, dass das Handeln wirklich gut ist. Das Moralische ist dem Ästhetischen verwandt, das ist hier wieder sehr gut zu erkennen: Auch beim Schönen hatten wir gesehen, dass es zwar bestimmte Merkmale geben mag, die wir bei schönen Dingen immer wieder antreffen, aber ob die Sache wirklich schön ist, kann durch das Auftreten dieser Merkmale nicht garantiert werden. Das Schöne wird im Erleben festgestellt, wenn wir etwas Schönes erleben, dann wissen wir intuitiv, dass es schön ist, und dann gibt es gar keinen Zweifel daran. Ebenso ist es mit dem Guten: Wenn wir etwas Gutes tun, dann wissen wir intuitiv, dass dieses Handeln gut ist, und dann gibt es an diesem Guten auch gar keinen Zweifel. Andererseits gibt es Entscheidungen und Handlungen, die viele Kriterien erfüllen mögen, die wir gemeinhin als gut ansehen, und doch fühlen wir beim Handeln selbst, dass es keine guten Taten sind. Das Schöne und das Gute lassen sich also beide nicht in rationale, objektiv bestimmbare Merkmale auflösen. Es ist der einzelne 126 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Mensch je selbst, der in der Reflexion auf sein Tun und sein Denken erkennt, dass etwas gut oder schön ist. Wenn ich etwas Gutes tue oder getan habe, bin ich auf eine ganz besondere Weise zufrieden mit mir, ich weiß, dass ich mir mit der guten Tat einen unvergesslichen Moment geschaffen habe, der tatsächlich wichtig ist in meinem Leben. Das Gute tun – auch darin ist es dem Schönen verwandt – zeigt mir, dass ich nicht nur ein biologisches Wesen bin, das auf seine Selbsterhaltung ausgerichtet ist. Es ist aber auch nicht der selbstlose Zweck der Arterhaltung, der das Gute ausmacht. Um das genauer zu sehen, müssen wir uns die verschiedenen Situationen des guten Handelns ansehen. Zunächst kann ich mich entschließen, für eine Freundin oder einen Verwandten oder auch für einen Menschen, dem ich zufällig begegne, etwas konkretes Gutes zu tun. Diese gute Handlung richtet sich nicht auf die Menschheit im Allgemeinen, sondern auf ganz konkrete einzelne Menschen in meiner Umgebung. Ob durch mein gutes Handeln die Menschheit als ganze profitiert, ist in einem solchen Fall gar nicht abzuschätzen. Es könnte sogar sein, dass die Menschheit als Art gerade nicht von meiner Handlung profitiert, etwa wenn meine konkrete Handlung für einen Menschen mich von einer allgemein-nützlichen Arbeit abhält. Das wäre aber für die Einschätzung, dass meine konkrete Handlung für den einzelnen anderen eine gute Tat war, völlig bedeutungslos. Natürlich gibt es auch gute Taten, die sich nicht auf konkrete einzelne Menschen beziehen, die derjenige selbst kennt, der gut handelt, etwa wenn jemand einen Impfstoff gegen eine tödliche Krankheit entwickelt oder einen Angriff auf Zivilisten im Krieg verhindert. Auch in diesen Fällen können wir allerdings annehmen, dass dieser Mensch bei seiner guten Tat reale, betroffene Menschen »vor Augen« hat und nicht die abstrakte Menschheit. Er hat die konkreten kranken oder unschuldigen Menschen im Sinn, für die er bis zur Erschöpfung arbeitet oder sich selbst in Gefahr begibt. Wiederum ist es bei dieser Art von guten Taten bedeutungslos, ob die Menschheit selbst von seiner Handlung profitiert oder nicht. Schließlich gibt es auch gute Handlungen, die sich unmittelbar 127 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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auf die Menschheit und ihre Lebensbedingungen oder sogar darüber hinaus auf die Umwelt, die Natur oder andere Lebewesen beziehen. In diesen Fällen können wir tatsächlich sagen, dass die gute Tat dem Fortbestand der Menschheit dient. Schauen wir jedoch genauer hin, erkennen wir, dass auch diese Taten sich auf vorstellbare andere Menschen oder Wesen, die leiden könnten, wenn wir nicht handeln, richten. Menschen, die sich etwa gegen den Klimawandel, für den Frieden und für Umweltschutz engagieren, denken dabei an kommende Generationen, an Menschen in Not oder an andere Lebewesen, von denen sie annehmen, dass diese wie wir Menschen leiden. Für unsere Überlegungen ist wichtig, dass das gute Handeln nicht auf biologische Gründe der Arterhaltung zurückgeführt werden kann. Es hat keinen »Evolutionsvorteil«, gut zu sein, es kann sogar von Nachteil für die Erhaltung der Art sein, wenn man sich um einzelne Menschen kümmert und dabei womöglich viele gefährdet oder zumindest den Nutzen für die vielen vernachlässigt. Das moralisch Gute, wie wir es hier gesehen haben, ist nicht nützlich, es hat keinen Nutzen für die Menschheit insgesamt. Warum also sind wir gut oder wollen es wenigstens sein? Es wiederholt sich, was wir schon als Grund für das Schöne gefunden hatten. Im guten Handeln bemerken wir, dass wir geistige Wesen sind, dass wir mehr sind als biologisch determinierte Lebewesen. Indem wir Gutes tun und Gutes erleben, haben wir teil an einem großen Sinnzusammenhang. Wir spüren, dass unser Leben nicht vergeblich ist, sondern dass es zu einem großen Sinnzusammenhang gehört. Das Gute, das Schöne und das Wahre, die drei Bedeutsamkeiten des Lebens des Menschen, sind nicht nur eng miteinander verwandt, oft erleben wir sie in einem einzigen Erlebnis zusammen. Das Wahre ist oft auch schön. Die Wahrheit über den Sinn des Menschen liegt darin, dass er gut ist und Schönes vollbringt. Wir retten das Schöne vor der Zerstörung, das uns zugleich eine Wahrheit über den Sinn unseres Lebens erzählt. In allen dreien erleben wir, dass wir teilhaben an einem unendlichen Geist, an einem Bedeutungszusammenhang, der nicht nur das menschliche Denken, sondern alles, was uns umgibt, umfasst. 128 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Die Frage, warum wir ein Gewissen haben, das uns ohne Worte sagt, was das Gute ist, ist schon gestellt worden. Es gibt keinen biologischen Grund. Die Forderungen, die das Gewissen an uns stellt, lassen sich nicht mit biologischen Argumenten der Evolution erklären. Erklärbar wird das Gewissen aber, wenn wir annehmen, dass ein Gott, ein unendlicher Geist uns als freie Wesen geschaffen und mit der Kraft zum Verändern der Welt nach eigenem Willen und Vorstellungen ausgestattet hat. Dann muss uns dieser Schöpfer eine moralische Instanz mitgeben, die uns auffordert, das Gute zu wollen. Gleichzeitig haben wir die Gabe mitbekommen, Schönes zu erkennen und zu schaffen. Aus dem Zusammenspiel dieser Gaben heraus nutzen wir unsere Freiheit im Sinne dieses Schöpfers. Wobei, bedingt durch die Endlichkeit unseres Geistes, unser Wille auch immer wieder anderes wollen kann, die Zerstörung und das Böse. Aber da wir freie Wesen sind, muss dieses Risiko getragen werden. Betrachtet man die Geschichte der Menschheit, dann sieht man, dass schon vieles Böse und Abscheuliche durch Menschen getan wurde, aber auch vieles wahrhaft Gute und Schöne. Nicht umsonst bezeichnen wir dieses Gute und Schöne mit dem Begriff der Menschlichkeit. Die Wahrheit, die darin ausgedrückt wird, ist die tiefe Überzeugung, dass der Mensch eben zum Guten und Schönen bestimmt ist und dass er auch fähig ist, dieses Gute und Schöne zu vollbringen.
Zusammenfassung: Der menschliche Geist In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass es eine Reihe von Eigenschaften des menschlichen Geistes gibt, die sich nicht auf biologische Notwendigkeiten oder wenigstens plausible Konsequenzen biologischer Prinzipien zurückführen lassen. Diese Eigenschaften sind die Fähigkeit, Schönes zu erkennen, zu genießen und zu schaffen und Gutes zu tun und dadurch das eigentliche Mensch-Sein zu erleben, das gerade darin besteht, mehr zu sein als nur ein biologisch determiniertes Lebewesen. Diese Eigenschaften sind keineswegs biologisch unmöglich, sie stehen nicht im Widerspruch zu den Prinzipien der Naturwissenschaft, 129 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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aber sie lassen sich durch diese Prinzipien nicht erklären. Diese Nicht-Erklärbarkeit ist, wie wir zu Beginn des Kapitels argumentiert haben, keineswegs vorläufig, vielmehr liegt ein prinzipieller Graben zwischen den naturwissenschaftlichen Erklärungen und dem eigenen, ganz persönlichen, subjektiven Erleben des eigenen Geistes, der eigenen Seele. Diese naturwissenschaftlich nicht verstehbare Seele ist es, die sich selbst wahrnimmt und die dazu fähig ist, Schönes und Gutes zu erkennen, zu erleben und zu schaffen. Plausibel wird die menschliche Seele, wenn wir sie als Teilhabe an einem unendlichen, göttlichen Geist ansehen, wenn wir diesen unendlichen Geist, den wir Gott nennen können, als Ursache dafür annehmen, dass wir eine Seele, einen je eigenen Geist haben – wenn wir also annehmen, dass wir als beseelte Geschöpfe geschaffen sind von diesem Gott. Wie dieses Schaffen, diese Schöpfung vorzustellen ist, wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen. Aus dieser Annahme können wir aber nicht nur die eigene Seele mit ihren ästhetischen und moralischen Empfindungen erklären, wir können daraus auch einiges über den Schöpfer selbst und sein Verhältnis zu seiner Schöpfung ableiten. Zunächst zeigt uns die genaue Reflexion über unsere je eigene Seele, dass wir als freie Wesen geschaffen sind. Natürlich können wir nicht alles tun, aber wir können uns zu dieser oder jener Handlung entscheiden, und jeder weiß, dass er eine Entscheidung immer so erlebt, dass er die Freiheit gehabt hat, auch anders zu handeln. Sonst würde es gar nicht sinnvoll sein, von einer Entscheidung zu sprechen. Selbst wenn wir sagen, dass uns etwa die Umstände der Situation gezwungen haben, so und so zu handeln, wissen wir, dass wir natürlich etwas anderes hätten tun können – wir sind nur zuvor zu der Ansicht gekommen, dass diese Alternative nach den Maßstäben unseres Geistes völlig unvernünftig gewesen wäre und dass wir, hätten wir die Alternative gewählt, keineswegs an ein von uns gewolltes Ziel gekommen wären. In diesem Sinne sind wir also als freie Wesen geschaffen, und keine biologischen und psychologischen Experimente können etwas daran ändern, dass wir uns als freie Wesen erleben und ständig, oft nach langem Ringen mit uns selbst, tatsächlich Entscheidungen treffen und ihnen entsprechend handeln. Warum 130 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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kann ein Gott uns Menschen als freie Wesen wollen? Die Antwort kann nur sein: Weil er uns nicht nur als Teil seiner Schöpfung sieht, sondern als schöpfende Geschöpfe, als Partner in seinem Schöpfungsplan. Ein Gott, der seinen Geschöpfen Freiheit gibt, akzeptiert und will diese als Mit-Schöpfer. Daraus entspringt das, was wir als Verantwortung für die Schöpfung erleben. Damit wir diese Verantwortung überhaupt erleben können, hat uns der Schöpfer nicht nur mit Freiheit, sondern auch mit der Fähigkeit, das Schöne und das Gute zu erkennen und zu wollen, ausgestattet. Auf diese Weise kann der Mensch mit seinem endlichen Geist zum Mitschöpfer und zum Partner des unendlichen göttlichen Geistes werden.
131 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
Im vorigen Kapitel haben wir gezeigt, dass es plausibel ist, den menschlichen Geist mit seiner Fähigkeit, das Schöne, das Wahre und das Gute zu erkennen, als Teilhabe an einem unendlichen Geist zu verstehen. Der unendliche Geist Gottes ist dann die Quelle, die Ursache für den menschlichen Geist, dafür, dass wir Wesen sind, die Ich und Du sagen können, die ästhetisch empfinden und Schönes vollbringen und die moralisch handeln und damit gut sein können. Das Wahre, die Fähigkeit des Menschen, Wahrheiten zu erkennen, wurde bisher erst angedeutet. Zudem blieb die Frage bisher offen, wie es denn dazu kommt, wie es geschieht, dass Gott mit den Menschen Wesen schafft, denen er moralische und ästhetische Fähigkeiten gibt, die Freude und Leid, Trauer und Liebe empfinden können. Diese Fähigkeiten teilt der Mensch sicher in unterschiedlichem Maß mit anderen Lebewesen, auch hier stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass ein unendlicher Geist Gottes diese Wesen mit einer solchen Empfindsamkeit ausstattet, die ja weit über die Fähigkeit biologischer oder gar chemisch-physikalischer Reizbarkeit und Reizbeantwortung hinausgeht. Diese Fragen sind der Gegenstand der folgenden Abschnitte.
Warum gibt es Naturgesetze Die Naturwissenschaften haben zum Ziel, die Gesetze zu erkennen, nach denen natürliche Prozesse ablaufen. Wir sollten hier genauer von materiellen Prozessen sprechen, denn der Begriff des Natürlichen ist sehr vielfältig. »Natürlich« kann z. B. im Gegensatz zu »künstlich« verstanden werden, aber natürlich wirken die Gesetze, die von der Naturwissenschaft gesucht werden, auch in künstlichen Objekten, dort können sie sogar in besonders rei132 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
ner Form oftmals direkt beobachtet werden. Die Naturwissenschaften Physik, Chemie und Biologie stellen extra künstliche Bedingungen her, um unter Laborbedingungen ihre Gegenstände ungestört beobachten zu können. Dementsprechend wird »Natur« oft im Sinne von »Wesen« oder »wesentliche Eigenschaft« verwendet, diese wesentlichen Eigenschaften lassen sich gerade unter künstlichen Laborbedingungen im Experiment kontrolliert und ohne Störung durch die »unwesentlichen« Eigenschaften beobachten. So sprechen wir denn auch von »Natur« und »natürlich«, wenn wir Eigenschaften beobachten können, die wir für wesentlich halten, etwa, wenn wir von der »Natur« einer Person sprechen. Dieser Sinn von »Natur« und »natürlich« ist aber genau genommen nicht das, was die Naturwissenschaft beschäftigt. Der Gegenstand der Naturwissenschaften ist das Materielle. Naturwissenschaftler wollen materielle Veränderungen, also etwa Bewegungen, Entwicklungen, Entstehung und Zerfall von materiellen Gebilden, erklären, indem sie diese auf allgemeine Prinzipien von Ursache und Wirkung zurückführen. Das Nicht-Materielle, also etwa geistige Prozesse, die Entstehung kultureller Strukturen und all der anderen Dinge, deren Existenz wir im ersten Kapitel besprochen haben, würde ein naturwissenschaftliches Erklärungsprinzip dann erfassen, wenn es sich vollständig auf materielle Prinzipien zurückführen lassen würde. Wenn wir die Vereinbarkeit solcher materiellen Prinzipien mit einem göttlichen Schöpfungsprozess, oder allgemeiner, das Verhältnis zwischen materiellen Prinzipien und göttlichen Schöpfungsprinzipien und damit die Plausibilität eines göttlichen Schöpfers beurteilen wollen, müssen wir uns zunächst die Struktur der wissenschaftlichen Erklärungsweise durch materielle Prinzipien klar vor Augen führen. Die naturwissenschaftliche Forschung beginnt mit der Idee, dass es Regelmäßigkeiten in der Welt geben muss. Es ist die grundlegendste Selbstverständlichkeit unserer Erfahrung: Wenn eine Situation ein zweites Mal genauso eintritt, wie sie schon einmal gewesen ist, dann wird genau das Gleiche wieder passieren. Allerdings ist diese Selbstverständlichkeit nur in einer Welt so zwingend, die bereits stark durch unseren technischen Eingriff 133 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
geprägt ist. Dass das Licht angeht, wenn ich den Schalter betätige, ist eine sehr verlässliche Regelmäßigkeit, weit verlässlicher als etwa das Entflammen von Holz im Höhleneingang durch das Reiben trockener Holzstücke. Beides funktioniert aber mit so ausreichender Zuverlässigkeit, dass die Menschen ihren Alltag darauf einrichten können. Es ist sinnvoll, über die allgemeinen Bedingungen und Prinzipien dieser Situationen nachzudenken, damit es gelingt, durch Variation dieser Prinzipien noch zuverlässigere Bedingungen herbeizuführen. Wenn ich diese Tasse, die neben mir auf dem Tisch steht, mit der Hand beiseite fege, dann wird sie zu Boden fallen und wahrscheinlich in Scherben zerspringen, und wenn ich die nächste Tasse aus dem Schrank hole, und das ganze wiederhole, wird das Gleiche erneut passieren. In diesem kleinen Gedankenexperiment tauchen zwei weitere selbstverständliche Erfahrungen auf: Vielleicht geht ja nicht jede Tasse kaputt, die ich zu Boden fallen lasse, das kann ich akzeptieren, indem ich sage, dass die Situation eben nicht genau gleich, sondern nur ähnlich war. Lasse ich die Tasse aus dem Fenster fallen, ich sitze gerade im vierten Stock, wird sie auf jeden Fall zerspringen. In ähnlichen Situationen passiert Ähnliches, und wenn die Situation eindeutig genug ist, wird auch bei leichten Unterschieden das Gleiche passieren: Es gibt wesentliche Umstände in der Situation und unwesentliche. Das sind die wichtigsten Merkmale der naturwissenschaftlichen materiellen Prinzipien: In der gleichen Situation passiert das Gleiche. In ähnlichen Situationen passiert Ähnliches. Und in jeder Situation muss man nicht alles wissen, was gerade der Fall ist, denn es gibt Wesentliches und Unwesentliches für das, was passieren wird. 27 Man kann die Bedingungen, sowohl im Labor als auch im Alltag, so gestalten, dass sehr verlässlich bei einer bestimmten Handlung in der Wirklichkeit immer wieder genau das Gleiche passiert. Es kann Ausnahmen geben, in denen der gewohnte Ablauf nicht eintritt: Das Licht geht nicht an, wenn ich den Schalter betätige. Dann sprechen wir von einer Störung, die wiederum eine Ursache in einem verstehbaren und erklärbaren materiellen Prinzip hat. Verstehen und Erklären bedeutet dann hier, dass wir einen ein134 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
leuchtenden allgemeinen Mechanismus angeben können, nach dem bestimmte Dinge ablaufen. Wir sagen etwa, dass »Strom fließt« und »Kräfte wirken« und dass der Schalter den Stromfluss unterbricht oder ermöglicht. Diese metaphorischen Prinzipien kann die Naturwissenschaft in abstraktere, allgemeinere Regeln übertragen und somit auf eine Vielzahl von Situationen anwenden, die sich auf den ersten Blick gar nicht so sehr ähneln. Sie kann auch neue Situationen und Konstellationen entwerfen, unter denen wiederum diese Regeln, diese materiellen Prinzipien wirken und somit vorhersagbare Ereignisse stattfinden müssten. In einem solchen Weltverständnis scheint für das Wirken eines göttlichen Wesens kein Platz zu sein. Im alltäglichen Verständnis bedeutet göttliches Wirken, dass ein Gott jederzeit willkürlich und unvorhersehbar ins materielle Geschehen eingreifen könnte. Er könnte, wenn er wollte, dafür sorgen, dass die Tasse nicht zerspringt, auch wenn ich sie aus dem vierten Stock auf den Parkplatz fallen lassen würde. Er kann kranke Menschen heilen, ohne sich um das Wirken von Viren, Bakterien oder Krebszellen zu scheren. Wenn ein Gott auf diese Weise wirken würde, dann würde er das Geschehen auf eine Weise beeinflussen, die wir nicht vorhersagen könnten. Das allgemeine Prinzip könnte durch dieses göttliche Wirken jederzeit gestört werden, und anders als die Störungen, die wir oben beschrieben haben, könnten wir die göttlichen Störungen nicht wiederum auf materielle Prinzipien zurückführen. Der Erfolg der naturwissenschaftlichen Forschung und der mit ihr verbundenen technischen Umgestaltung der Wirklichkeit scheint ein sicheres Zeichen zu sein, dass es ein solches göttliches Wirken nicht gibt. Zwar gibt es Ereignisse, die wir im Einzelnen nicht erklären können, Tassen bleiben manchmal heil, auch wenn sie aus großer Höhe fallen, Menschen werden wieder gesund, die als unheilbar krank galten. Beides muss man aber nicht auf ein göttliches Wirken zurückführen, man kann vielmehr vermuten, dass uns nicht alle relevanten materiellen Bedingungen und Wirkungszusammenhänge bekannt waren, die die einzelne Situation beeinflusst haben. Göttliches Wirken, und schon gar die Schöpfung unserer realen Welt durch einen Gott, muss sich aber nicht in einem konkre135 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
ten, spontanen Eingreifen in Einzelfällen äußern, die uns die Welt im Ganzen unberechenbar und unzuverlässig machen würde oder uns darauf angewiesen sein ließe, dass dieser Gott etwa unser Beten erhört und in unserem Sinne und Interesse in die Welt eingreift. Ein solcher Gott wäre mit der Idee eines Gottes, der uns als freie Wesen geschaffen hat, die wir im vorigen Kapitel als plausible Vorstellung eines Gottes entwickelt hatten, ohnehin nur schwer vereinbar. Damit wir frei handeln können, müssen wir die Konsequenzen unseres Handelns einigermaßen verlässlich beurteilen können, und ebenso verlässlich müssen wir darauf vertrauen können, dass in einer bekannten, vertrauten Umwelt nicht immer wieder etwas völlig unverständliches und unerklärliches passiert. Allenfalls wäre es möglich, dass ein solcher Gott auf ausdrückliches Bitten hin im Einzelfall helfend in die Wirklichkeit eingreift. Dann müsste man aber fragen, warum dieser Gott das tun sollte, welche Gründe er dafür haben könnte. Schließlich würde jedes Eingreifen, und sei es noch so individuell, die Freiheit seiner Geschöpfe einschränken. Wir suchen also, wenn wir einen plausiblen Gott erkennen wollen, nicht nach einem Wesen, das willkürlich und im Einzelfall, ob nun strafend, helfend oder gestaltend, in die Wirklichkeit eingreift. Ein plausibler Gott lässt die Wirklichkeit nach materiellen Prinzipien ablaufen, sodass seine freien Geschöpfe sich genau auf diese Prinzipien verlassen können. Die Annahme, dass es in der Realität Gesetzmäßigkeiten gibt, die diese materiellen Prinzipien verursachen, darf ein solcher plausibler Gott nicht infrage stellen, und kein Eingreifen dieses Gottes darf gegen diese Prinzipien verstoßen. Man kann dagegen einwenden, dass aber die Geschichten von Gott, die in den heiligen Büchern etwa der abrahamitischen Religionen zu finden sind, immer wieder von einem solchen direkten Eingreifen eines Gottes ins konkrete Geschehen berichten, sei es, vor allem im Alten Testament, strafend wie bei der Sintflut oder in Sodom und Gomorrha, oder, vor allem im Neuen Testament, helfend und heilend, Wunder vollbringend. Das ist richtig, aber die Gottesvorstellung, die in diesen Geschichten erzeugt wird, wird hier auch nicht verteidigt. Es wäre eine gesonderte Erörte136 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
rung wert, zu diskutieren, inwiefern diese Bücher trotzdem vom Wirken Gottes zeugen. Das kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Dass alles in der materiellen Welt nach kausalen materiellen Prinzipien abläuft, kann und soll durch den Glauben an einen plausiblen Gott also nicht infrage gestellt werden. Wir brauchen keine Wunder, um ein göttliches Wirken für plausibel zu halten. Wir fragen hier: Warum gibt es überhaupt solche materiellen Gesetze? Es könnte doch auch sein, dass in der Welt ständig etwas anderes passiert, was mit der Situation, in der die Welt sich gerade befindet, gar nichts zu tun hat. Es wäre doch vorstellbar, dass eben nicht in ähnlichen Situationen Ähnliches bewirkt wird, und ebenso ist vorstellbar, dass immer der ganze Zustand des ganzen Universums darauf wirkt, was tatsächlich passiert. Egal, welche der drei Vorstellungen wir zulassen, das Ergebnis wäre ein völlig regelloser materieller Prozess. Damit wäre auch klar, dass nichts von dem, was in unserer Welt ist und Bestand hat, existieren würde, jedenfalls nicht für lange. Es gäbe keine Planeten, keine Pflanzen und Tiere, natürlich auch keine Menschen, die planen und handeln. Aber dass es all dies nicht gäbe und wir folglich auch nicht da wären, um darüber nachzudenken, erklärt nicht, dass es diese Regelmäßigkeiten gibt. 28 Sie sind die Voraussetzung von allem, was unsere Wirklichkeit ausmacht, aber was ihr Grund ist, ist uns völlig unklar. Die Naturwissenschaft setzt die Existenz von Gesetzen als Annahme voraus, wenn sie nach den Regelmäßigkeiten im Geschehen sucht und experimentell die Bedingungen so einrichtet, dass sich die Regelmäßigkeiten als Gesetze in reiner Form zeigen und systematisch untersuchen lassen. Die Tatsache, dass sie auf diese Weise immer wieder Gesetze aus dem Geschehen der Natur sozusagen extrahieren kann, gilt als guter Beleg, dass die Annahme, dass es solche Gesetze gibt, zutrifft. Diese Annahme wollen wir hier auch gar nicht infrage stellen, im Gegenteil, wir stimmen mit der Naturwissenschaft darin völlig überein und fragen weiter, wo diese Gesetze ihre Verursachung haben. Wenn wir die Naturwissenschaft nach der Herkunft der Gesetze fragen, die sie findet und extrahiert und deren Wirksamkeit sie 137 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
im Laborexperiment nachweisen kann, dann kann sie zumeist auf das Wirken von grundlegenderen Gesetzen verweisen, die die Gesetzmäßigkeiten im Labor wiederum begründen können. Letztlich geht die Naturwissenschaft, wenn sie konsequent die gesamte materiell beobachtbare Welt in den Blick nimmt, davon aus, dass alle Regelmäßigkeiten sich wiederum herleiten lassen aus grundlegenderen Regelmäßigkeiten. Sie nimmt damit auch an, dass es in der materiellen Welt keine anderen Wirkmechanismen geben kann als eben diese grundlegenden Gesetze. Wenn irgendetwas in der Realität durch die Rückführung auf grundlegende Prinzipien erklärt werden kann, muss es auch vollständig dadurch erklärt werden können, sonst käme es zu Widersprüchen zwischen den verschiedenen Erklärungsebenen. Also muss letztlich alles, was in der Welt geschieht, vollständig durch grundlegende materielle Prinzipien erklärt werden können. Wir lassen für den Moment dahingestellt, dass auch für diese grundlegenden materiellen Prinzipien nach einer Ursache gefragt werden kann. Die Tatsache, dass ich hier sitze und darüber nachdenke, welche Worte ich aufschreiben will, um meine Argumente darzustellen, müsste nach diesem Prinzip – wenn auch über viele Stufen – vollständig aus den quantenmechanischen Wechselwirkungsprinzipien der Elementarteilchen erklärbar sein, aus denen ich bestehe, zudem auch die Tatsache, dass es hier in mir dieses Ich gibt, das über all das nachdenkt. Ebenso müsste erklärbar sein, dass jemand auf die Idee gekommen ist, ein Gerät zu bauen, mit dem ich mein Manuskript schreiben kann, das Bild an der Wand, es ist ein Stillleben, das eine Weinflasche und zwei Gläser zeigt, müsste ebenso erklärbar sein. Alles wäre letztlich nur quantenmechanische Wechselwirkung von Elementarteilchen, denn diese Wechselwirkungen sind nach dem derzeitigen materiellen Weltverständnis die grundlegenden Prinzipien, die Basis aller physikalischen, chemischen, biologischen und neurologischen Prozesse sind, die in uns als Lebewesen ablaufen. Wohl gemerkt, nicht nur, dass diese Objekte stabil existieren können, müsste aus einer grundlegenden Physik erklärt werden können, sondern auch, warum es genau zu diesen Gebilden gekommen ist. Warum Computer, Bilder und dieses Manuskript existieren, all das müsste eine Physik prinzipiell 138 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
erklären können. 29 All das, was wir als Ziele und Wünsche etwa des Malers verstehen, der das Stillleben gemalt hat, die Ziele des Konstrukteurs des elektronischen Geräts auf meinem Tisch, sowie auch meine Absichten, wegen derer ich dieses Manuskript schreibe, müssten vollständig in die Quantenzustände der Elementarteilchen aufgelöst werden können, aus denen die beteiligten Personen bestehen. Und aus ihnen, nicht aus meinen Gedanken, müsste sich grundsätzlich berechnen lassen, was auf den nächsten Seiten dieses Buches stehen wird. Diese Vorstellung scheint absurd, und man müsste sich fragen, warum es quantenmechanische Gesetze für Elementarteilchen geben soll, die dazu führen, dass Texte über sie geschrieben werden. Die materialistische Naturwissenschaft meint aber, die Überzeugung vertreten zu müssen, dass dies grundsätzlich genau so sei. Sie meint, dass ihr ganzes Selbstverständnis zusammenbrechen würde, wenn irgendetwas, was wir in dieser Welt wahrnehmen können, nicht prinzipiell auf diese grundsätzlichen Gesetze der Physik reduzierbar wäre. Diese Wissenschaft kann akzeptieren, dass sie noch sehr weit davon entfernt ist, alles in der Welt auf eine solche Weise zu erklären, sogar die Tatsache, dass es Wissenschaftler gibt, die die Welt erklären wollen und davon noch weit entfernt sind. Die materialistische Wissenschaft kann sogar akzeptieren, dass es ihr vielleicht nie gelingen wird, alles zu erklären. Sie kann akzeptieren, dass die grundlegenden Gesetze, die sie heute gefunden zu haben meint, noch nicht die richtigen und nicht die letzten Gesetze sind. Aber sie kann keineswegs akzeptieren, dass es vielleicht gar nicht diese materiellen Basisgesetze sind, die alles erklären, dass es womöglich andere, nicht-materielle Ursachen dafür gibt, dass die Welt so ist, wie sie heute ist, und dass insbesondere die Tatsache, dass wir geistige Wesen sind, die über die Welt nachdenken, anders erklärt werden muss. Die Naturwissenschaft meint, dass es eine unredliche und unbefriedigende Abkürzung wäre, anzunehmen, dass es andere Wirkprinzipien gibt außer den materiellen Grundgesetzen. Nach dieser Sicht würde sich jemand, der nach anderen Ursachen sucht, zu früh zufriedengeben mit irgendeiner mystischen Annahme und zu früh aufgeben, nach der Wahrheit zu suchen. Die materia139 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
listische Wissenschaft meint auch, dass man sich entscheiden müsste zwischen Naturgesetzen und Schöpfung. Entweder wirken Naturgesetze – oder Gott hat die Welt so geschaffen, wie sie ist. Das alles ist aber nicht der Fall. Die Naturwissenschaft hat Großes geleistet und wird weiterhin Großes leisten – gerade wenn sie akzeptiert, dass sie nicht gegen einen Schöpfer arbeiten muss oder die Idee eines Schöpfer widerlegen soll. Sie kann sich selbst als Teil der Schöpfung sehen, nicht nur als Ergebnis des Schöpfungsprozesses. Sie nimmt produktiv teil am Prozess der Schöpfung. Wir werden auf den nächste Seiten sehen, dass es plausibel ist, anzunehmen, dass der Mensch in der Naturwissenschaft, und natürlich auch in den anderen Wissenschaften, die nach Wahrheit streben, zum Partner des Schöpfers in seinem Schöpfungsprozess wird. Beginnen wir mit der Frage, warum Naturgesetze existieren. Warum gibt es ein Universum, in dem die Dinge nach allgemeinen Prinzipien ablaufen, unabhängig davon, ob diese allgemeinen Prinzipien für uns Menschen verständlich sind oder nicht? Warum passiert in diesem Universum unter gleichen Bedingungen immer das Gleiche und unter ähnlichen Bedingungen Ähnliches? Die Naturwissenschaften haben keinen Ansatz, um überhaupt nach dem Grund der Gesetze zu fragen. Sie können immer nur den Grund eines Gesetzes in der Existenz eines grundlegenderen anderen Gesetzes suchen – dass es überhaupt Gesetzmäßigkeiten gibt, müssen sie fraglos und selbstverständlich voraussetzen. Wenn wir nun fragen, warum es überhaupt Gesetze gibt, dann wird wieder plausibel, einen Gesetzgeber im buchstäblichen Sinn anzunehmen – einen unendlichen Geist, der die materielle Welt mit Gesetzen ausgestattet hat. Diese plausible Annahme provoziert natürlich sogleich die nächste Frage, nämlich die, woher dieser unendliche Geist denn kommt. Muss nicht auch er eine Ursache haben? Ich will eingestehen, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Man kann nur vermuten, dass der, welcher dieser Welt das Prinzip von Ursache und Wirkung gegeben hat, selbst auf ganz andere Weise verursacht sein muss, als es ein Wesen dieser Welt überhaupt denken kann. Aber, so könnte man nun einwenden, dann geht die Annahme eines Schöpfers nur einen 140 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
sehr kleinen Schritt hinter die selbstverständliche Annahme der Naturgesetze selbst zurück und leistet eigentlich nichts großartig Neues zur Erklärung der Welt, wie sie ist. Da würde ich widersprechen. Auf den folgenden Seiten werde ich zeigen, dass es eine ganze Reihe weiterer Schwierigkeiten des materialistischen Weltbildes gibt, die durch die Annahme eines Schöpfers beseitigt werden. Zudem haben wir bereits im vorigen Kapitel gesehen, dass der unendliche schöpfende Geist auch anderes erklärt. In der Zusammenschau der verschiedenen Beobachtungen sehen wir, dass die Annahme der Existenz Gottes eine umfassende Erklärungskraft besitzt.
Warum verstehen wir die Naturgesetze? Neben der Frage, warum es überhaupt Naturgesetze gibt, drängen sich zwei weitere Fragen auf: Erstens: Warum verstehen wir Menschen die Naturgesetze, warum sind wir in der Lage, Naturgesetze zu erkennen? Und zweitens: Warum gibt es auf jeder Ebene der Naturphänomene Naturgesetze? Warum gibt es nicht nur die Grundgesetze der Physik, sondern warum gibt es in der Physik zudem Regelmäßigkeiten in der Mechanik fester Körper, in der Thermo- und Hydromechanik, in der Elektrodynamik? Warum gibt es auf der Ebene der chemischen Prozesse und der biologischen Entwicklungen wieder Gesetze, die ebenfalls eigenständig beschrieben werden können und die zunächst unverbunden neben oder über den anderen Gesetzen der Natur zu stehen scheinen? Beide Fragen hängen miteinander zusammen, aber bevor wir sie im Zusammenhang sehen, müssen wir sie noch etwas klarer formulieren. Warum ist der Mensch in der Lage, Gesetzmäßigkeiten im Naturverlauf zu erkennen, und warum spürt er das Bedürfnis, diese Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben? Auf unserer hohen Stufe der Kultur und der technischen Prägung unseres Alltags, in dem Regelmäßigkeiten nicht so sehr auf Grund von natürlichen Prozessen, die Gesetzen folgen, selbstverständlich sind, sondern vor allem auf Grund der technisch-kulturellen Gestaltung unseres 141 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
Alltags, scheint diese Frage naiv. Man könnte meinen, der Mensch könnte gar nicht existieren, wenn er nicht die Regelmäßigkeiten der Natur erkennen und nutzen könnte. Doch schauen wir uns die Natur als Wildnis an, in ihrer Form, die sie gehabt hat, als der Mensch sich zu seiner heutigen Gestalt und Fähigkeit entwickelte. Da war keine Regelmäßigkeit in der Natur, auf die er sich verlassen konnte. Wie heute auch folgte auf den milden Winter ein kalter Frühling, mal regnete es in Strömen, mal brannte die Sonne vom Himmel, mal froren die Seen zu, in denen Fische gefangen werden konnten, mal vertrockneten die Früchte, von denen der Mensch sich ernähren konnte. Selbst die Regelmäßigkeit des Sonnenlaufs und der Mondphasen muss einem Menschen, der nicht eigens darauf hingewiesen wird, nicht auffallen: Mal verdecken dichte Wolken den Himmel, wenn es gerade Vollmond ist, mal ist der Mond ohnehin nicht zu erkennen ist, da er der Erde seine Schattenseite zuwendet. Ganz davon abgesehen muss man erst einmal auf die Idee kommen, die Tage zwischen zwei gleichen Mondphasen zu zählen, um zu bemerken, dass ihre Anzahl immer gleich ist. Und da ergibt sich die Frage: Warum sollte ein Mensch das tun? Man sagt heute, dass der Mensch eine natürliche Wissbegier habe, dass er erkennen wolle, was die Welt zusammenhält, dass er, kurz gesagt, die Wahrheit über die Welt herausfinden wolle. Wenn wir das – mit vielen begeisterten Freunden der Naturwissenschaften – als gegeben annehmen, dann stellt sich die Frage, warum dem Menschen diese Neugier, diese Fähigkeit zur Wahrheit und dieses Bedürfnis nach Wahrheit eigen sind. Warum interessiert sich der Mensch für das Wahre? Man könnte zunächst vermuten, dass diese Fähigkeit dem Menschen irgendwie helfen könnte, zu überleben. Dazu wäre es aber notwendig, dass auch in einer ursprünglichen Wirklichkeit, in der der Mensch mit diesen Fähigkeiten auftaucht, in der Wildnis, schon Regelmäßigkeit vorherrscht und dass es sinnvoll ist, auf die Regelmäßigkeit zu vertrauen. Das ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr ist es in der Wildnis geboten, gerade nicht darauf zu setzen, dass die Dinge auch morgen so laufen, wie sie gestern und heute gelaufen sind. Heute mag das Nahrungsangebot ausgezeichnet sein, und gestern mag es auch so gewesen sein, aber 142 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
morgen kann es ganz anders sein. Sinnvoll ist, und das zeigen auch die Überlebensstrategien vieler Tiere, auf die konkrete Situation zu reagieren und im Übrigen auf Überraschungen eingestellt zu sein. Wenn der Mensch tatsächlich nichts weiter wäre als ein hoch entwickeltes Tier, dann würde er nicht nach Regelmäßigkeiten Ausschau halten, die in der Wildnis gar nicht anzutreffen sind, sondern er würde den Einzelfall besonders gut verstehen und Strategien haben, auf Überraschungen besonders gut vorbereitet zu sein. Eine Fähigkeit zum Erkennen von Regelmäßigkeiten, die Voraussetzung ist für die Fähigkeit, irgendwann einmal Naturgesetze zu erkennen, hilft in der Wildnis nicht weiter. Hinzu kommt, dass die Naturgesetze nicht einfache Regelmäßigkeiten sind, die die Alltagsphänomene haben, sondern gesetzmäßige Zusammenhänge von irgendwelchen oft versteckten Objekten, welche die Ereignisse verursachen, die wir beobachten, und zwar sowohl die regelmäßigen Ereignisse als auch die überraschenden. Für die Bewegung der Planeten haben sich die Menschen zunächst Sphären ersonnen, an denen die Planeten befestigt sein müssten, später sind sie auf die Idee gekommen, dass es bestimmte Kräfte zwischen den Planeten geben müsste, die zusammen mit den Grundgesetzen der Mechanik die Planeten auf ihren Bahnen halten. Weder die Sphären noch die Schwerkraft und die mechanischen Bewegungsgesetze sind in irgendeiner Weise direkt beobachtbar, man muss sie vermuten, muss ihre Existenz und Wirksamkeit annehmen, um sie als Erklärung der Beobachtung heranzuziehen. Wiederum drängt sich die Frage auf: Welchen Sinn hat es, dass der Mensch so etwas tut und kann? Wie bereits im vorigen Kapitel angedeutet, haben wir es hier mit der Vervollständigung eines Dreiklangs zu tun, dessen Bestandteile des Schönen und des Guten wir bereits ausführlich diskutiert hatten und welchen wir jetzt mit dem Wahren endgültig komplettieren. Das Wahre finden wir, das sei hier vermerkt, nicht nur in der wissenschaftlichen Suche nach Naturgesetzen. Aber dieser spezielle Fall soll uns hier im Weiteren besonders interessieren. In der Suche nach den kausalen Grundlagen, die in Gesetzesform ausgedrückt werden können und die sowohl die Regelmäßigkeiten als auch die Überraschungen in unseren Alltags143 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
erfahrungen beschreiben können, zeigt sich das Bedürfnis des Menschen, die wesentliche Wahrheit hinter den wechselnden Erscheinungen, die die Wirklichkeit ausmachen, zu entdecken. Warum strebt der Mensch nach dieser Wahrheit? Es ist merkwürdig, dass sich die Wissenschaft diese Frage noch nicht ernsthaft gestellt hat, wo doch die Aussage, dass der Mensch eben ein wissbegieriges Wesen sei, zu den Grundlagen des Selbstverständnisses der Wissenschaft gehört. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass der Mensch diese Form der Wahrheit sucht, denn es ist eine theoretische Wahrheit, nicht die praktische Einsicht des Umgangs mit der Welt, die etwa einzelne Zeichen als Anzeichen bevorstehender Ereignisse deuten kann, ohne wissen zu müssen, ob es einen kausalen Zusammenhang in der Art eines Naturgesetzes gibt, oder die aus den Eigenschaften eines Dings seine Eignung für einen nützlichen Gebrauch erkennen kann, ohne die kausalen Gründe dafür zu kennen. Praktische Einsichten dieser Art, verbunden mit der Fähigkeit, zu lernen und wiederzuerkennen, können auch Tiere entwickeln und eine Weiterentwicklung dieser Fähigkeit wäre für den Menschen durchaus ein Evolutionsvorteil. Das Sinnieren über verborgene Zusammenhänge und nicht sichtbare Objekte, welche die beobachteten Ereignisse erklären können, gehört nicht zu den Fähigkeiten, die in der Wildnis das Überleben sichern. Wenn wir nun vermuten, dass der unendliche Geist eines Gottes die Naturgesetze geschaffen hat und die Ursache dafür ist, dass die materielle Realität diesen Naturgesetzen folgt, dann wird aber sofort verständlich, warum wir Menschen als Wesen mit einem endlichen Geist auch versuchen, solche Gesetze zu erkennen und die Beobachtungen aus diesem Erkennen heraus zu verstehen. Unser Geist hat dann eben teil am unendlichen Geist, und deshalb ist er darauf angelegt, das denkend zu vollziehen, was auch der unendliche Geist denkend vollzieht. Wir hatten zudem gesehen, dass es plausibel ist, dass Gott uns als Partner im Schöpfungsprozess anerkennt. Dann ist es plausibel, dass er uns mit der Fähigkeit ausstattet, seinen Plan und seine Gesetze zu verstehen und nicht dumm an der Oberfläche der Ereignisse und Vorkommnisse der Wirklichkeit kleben zu bleiben. Unser endlicher Geist ist dabei natürlich vor Irrtümern und Missverständnissen nicht sicher. Da 144 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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wir freie Wesen sind, gehen wir auch mit unserem Erkenntnisdrang in Richtungen, die uns unser freies Wünschen und Hoffen vorgeben, wir laufen nicht an Gottes Gängelband geradewegs in die »richtige« Richtung dessen, was der unendliche Geist vorgibt. Das wäre auch gar nicht im Sinne des Verständnisses von Gott, wie es sich im Laufe unserer Überlegungen allmählich zeigt. Gott sieht uns als mit-schöpfende Geschöpfe, auch wir bringen Neues hervor, sogar Neues, das Gott nicht vorhergesehen hat. Dieses Neue wäre nicht möglich, wenn wir nur in eine Richtung hin auf die immer vollständigere Erkenntnis eines Schöpfungsplans laufen würden – dann würden wir immer nur das hervorbringen, was Gott schon gedacht und somit schon hervorgebracht hat. Aus unserem endlichen Verständnis der Naturgesetze, welches sich zudem ständig verändert und selbst infrage stellt, schaffen wir Neues, das auch für Gott neu ist. Insofern es stabil bestehen bleibt und nicht sofort wieder zerfällt, zeigt sich, dass wir in unserem Verständnis der Naturzusammenhänge eine Wahrheit des göttlichen Schöpfungsplans aus unserer endlichen Perspektive richtig erfasst haben. Somit zeigt sich, dass wissenschaftliches Erkenntnisstreben und Glauben an einen Schöpfergott sich keineswegs ausschließen. Es ist auch nicht richtig, dass es methodisch sinnvoll wäre, die Gottesannahme aus dem wissenschaftlichen Forschungsbetrieb herauszuhalten. Die Frage ist, welche Vorstellung von einem Gott und einem unendlichen Geist man hat. Wenn man meint, dass ein Gott ständig und überall mit überraschenden Ereignissen, Wundern oder Zauberei, in die Wirklichkeit eingreifen könnte und wollte und dass jeder konkrete überraschende Befund in der wissenschaftlichen Forschung ein solches Wunder sein könnte, dann wäre ein solcher Gott in der Tat aus der Wissenschaft auszuklammern. Genauer: Er würde jede Wissenschaft unmöglich machen, wenn es ihn gäbe. Diese Gottesvorstellung hat aber auch nichts mit einem unendlichen Geist zu tun, der eine Welt gestaltet und uns als Mitschöpfer in dieser Welt will. 30 Der Gott, der für uns gerade immer deutlicher sichtbar wird, schafft eine Welt, in der die Menschen als geistige, vernunftbegabte Wesen frei tätig werden können. Dazu müssen wir diese Welt verstehen können, wir 145 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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müssen die Regeln, die der Gott dieser Welt gegeben hat, verstehen und mit ihnen umgehen können. Es muss uns möglich sein, die Regelmäßigkeiten und ihre Ursachen zu durchschauen, um selbst schöpferisch tätig werden zu können. Der schöpferische Gott plant nicht jede einzelne Bewegung im Universum voraus. Er bestimmt die Regeln und er schafft die Substanz, die den Regeln folgt. Als Werk eines unendlichen Geistes ist die Komplexität dieser Regeln womöglich unendlich, aber er gestaltet sie so, dass ein endlicher Geist aus der Perspektive seiner praktischen Erfahrung sich ein Bild von diesen Regeln machen kann. Der Mensch kann sich Bilder und Modelle dieser Regeln ausdenken, die ihm in seiner konkreten und begrenzten Wirklichkeit helfen, Ereignisse vorauszusehen, Konsequenzen seines eigenen Handelns zu planen und ordnend in diese Wirklichkeit einzugreifen, sodass sie für ihn beherrschbar wird. Durch die Fähigkeit, zu verstehen und zu erklären, hat der unendliche Geist uns die Möglichkeit gegeben, uns eine Wirklichkeit zu schaffen, die unseren Wünschen entspricht und in der wir leben wollen.
Die Vielfalt der Naturgesetze Erstaunlich ist nicht nur, dass es Naturgesetze überhaupt gibt und dass wir als denkende Wesen sie erkennen können, erstaunlich ist auch die Vielfalt der Naturgesetze, die sich zunächst völlig unverbunden nebeneinander zeigen und doch auf irgendeine, zunächst verdeckte Weise zusammenpassen. Ein Beispiel: Für die Bewegung alltäglicher fester Körper kennen wir die Gesetze der Mechanik. Wenn wir eine geeignete Umgebung schaffen, dann verhalten sich Körper mittlerer Größe entsprechend einfacher mathematischer Bewegungsgleichungen, etwa, wenn wir Billard-Kugeln gegeneinander stoßen lassen. Wenn man aber die Ebene der Alltagsgrößen verlässt und tief in die Struktur der Kugeln hineinschaut, findet man dort zunächst Moleküle und Atome, die auf ihre Weise miteinander wechselwirken und schließlich Elementarteilchen – auch wenn wir diese auch 146 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
mit den stärksten Mikroskopen nicht mehr sehen können –, die sich nach den Gesetzen der Quantenmechanik verhalten. Wenn wir in die andere Richtung gehen und immer mehr Kugeln betrachten, die miteinander zusammenstoßen, wenn wir in den Bereich von Tausenden oder gar Millionen Kugeln kommen, die auf einem begrenzten Raum in Bewegung sind und gegeneinander sowie gegen die Außenwände stoßen, dann können wir wieder neue Gesetze finden, die so genannten Gesetze für ideale Gase, oder, wenn sich diese vielen Kugeln gemeinsam durch Kanäle bewegen, die Strömungsgleichungen für Flüssigkeiten. All diese Gesetze sind relativ einfache, plausibel beschreibbare Zusammenhänge, die als mathematische Gleichungen formuliert werden können. Sie passen zusammen, man kann die einen aus den anderen herleiten. Aber es ist doch erstaunlich, geradezu wundersam, dass jedes Gesetz wieder ganz einfach ist und dass diese einfachen Gesetze sehr komplizierte Prozesse und Verhältnisse beschreiben können. Besonders erstaunlich ist, dass sich aus den einfachen Gesetzen auf sehr elementarer Ebene Möglichkeiten ergeben, unter denen auf einer höheren Ebene wieder Gebilde entstehen, die eine Eigendynamik entwickeln. Warum sind die Atome so beschaffen, dass sie sich zu Molekülen zusammenbinden können? Warum entstehen aus Molekülverbindungen auf noch höherer Ebene feste Körper oder Flüssigkeiten, für die es mechanische Gesetze und Strömungsgesetze gibt? Diese Frage nach dem »Warum« beantwortet die Naturwissenschaft mit der Angabe des Gesetzes, welches dafür »sorgt«, dass das eben so ist – aber warum sind die Gesetze so, dass solche Strukturbildungen möglich sind und wirklich passieren? Unser ganzes Universum ist voll von wundersamen Dingen, die sich nach Gesetzen unterschiedlichster Art entwickeln und bewegen und miteinander in Beziehung treten. Sterne entstehen und vergehen, Sonnensysteme und Galaxien, und überall laufen faszinierende Prozesse ab, entsteht Neues, sicherlich gibt es in diesem Universum viele Stellen, an denen Leben existiert, wahrscheinlich auch Wesen mit einer begrenzten Vernunft, wie wir sie haben. Warum sind die Gesetze so, dass all das möglich wird und geschieht? 147 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
Stellen wir uns einen Schöpfer vor, der diese wunderbare Welt geschaffen hat. Wie ist dieser Schaffensprozess zu denken? Versetzen wir uns mit unserem Vorstellungsvermögen, das zwar begrenzt ist, aber dem dieses Schöpfers ja doch verwandt, in seine Lage. Reichern wir diese Vorstellung mit dem an, was wir durch die Wissenschaft bereits über die Entstehung des Universums, der Gestirne, der Erde und der Natur sowie schließlich der Lebewesen und des Menschen wissen oder vermuten können. In dieser Vorstellung beginnt der Schöpfungsprozess mit ein paar einfachen Elementen, die miteinander in Wechselwirkung treten können. Der Schöpfer bringt diese elementaren Bausteine in die Welt und beobachtet, was geschieht, wie sie tatsächlich miteinander interagieren. Er sieht, dass aus diesen Interaktionen etwas entsteht oder entstehen könnte. Der Schöpfer greift in den Schöpfungsprozess ein, indem er die Gesetze so abwandelt, dass tatsächlich etwas entsteht. Für das, was entsteht, schafft er neue Gesetze, die erst sichtbar und wirksam werden, wenn die Dinge sich auf der elementaren Ebene so zusammengefunden haben, wie es die elementaren Gesetze erlauben. Aber werden die Gesetze der höheren Ebene dann nicht denen der fundamentalen ersten Ebene widersprechen? Nein, das muss nicht sein. Der Schöpfer hat die Möglichkeit, den fundamentalen Gesetzen Elemente hinzuzufügen, die erst in einer gewissen besonderen Situation wirksam werden. Ein einfaches Beispiel soll diesen Gedanken verdeutlichen. Wenn man ein Pendel nur um wenige Grad aus seiner Ruheposition bringt, dann ist die Pendeldauer unabhängig von dieser Auslenkung. Ob man das Pendel um ein oder um zwei Grad auslenkt, hat auf die Schwingungsdauer keinen Einfluss. Man kann die Schwingung dann mit einem schönen einfachen Gesetz beschreiben, und die Bahn des Pendelendes lässt sich im Zeitverlauf als Sinuskurve zeichnen. Wenn man aber das Pendel weiter auslenkt, reicht die einfache mathematische Formel nicht mehr aus, sie muss durch zusätzliche Terme ergänzt werden, und der Verlauf der Kurve wird komplizierter. Nun stellen wir uns einen Schöpfer vor, der zunächst schwingende Teilchen schafft, die nur kleine Bewegungen aus148 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
führen, für sie reicht ein einfaches Gesetz. Wird die Schwingung größer, kann der Schöpfer entscheiden, ob er das Gesetz lässt, wie es ist, oder ob er es und wie er es ergänzt. Für die kleinen Schwingungen, die es zuvor gegeben hat und die es weiterhin gibt, ändert sich nichts. Das Beispiel ist natürlich nicht als Tatsachenbehauptung zu verstehen. Es soll nur erläutern, auf welche Weise ein Schöpfer im Verlauf seines Schöpfungsprozesses in das Geschehen eingreifen kann, für alles, was neu entsteht, kann er neue Gesetze schaffen, die im Einklang mit den bestehenden Gesetzen stehen. Bei Bedarf kann er die bestehenden Gesetze so anpassen, dass sie in den neuen Situationen die Wirkung der neuen Gesetze ermöglichen, ohne dass sich für die alten, einfacheren Situationen etwas ändert. In den Wissenschaften kennen wir eine Vielzahl solcher Gesetze. Man denke nur an die berühmten Bewegungsgleichungen der Mechanik. Für kleine Geschwindigkeiten ist alles ganz einfach und die Masse eines Körpers ist unabhängig davon, wie schnell sich der Körper bewegt, ebenso die Längen und die Zeitintervalle. Steigen die Geschwindigkeiten, wird es komplizierter, und wenn sich die Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nähert, dann wird die Masse unendlich groß, die Zeit läuft langsamer ab und die Strecken verkürzen sich. In einer Welt der geringen Geschwindigkeiten braucht es keine Gesetze für hohe Geschwindigkeiten, wenn sich die Geschwindigkeiten aber erhöhen, kann ein Schöpfer die Gesetze so anpassen, dass neues Verhalten entsteht, ohne dass sich für die bisherige Situation etwas verändert. Damit soll nicht gesagt werden, dass der Schöpfer die Gesetze in der Reihenfolge in die Welt gebracht und angepasst hat, wie wir sie erkennen. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Die Welt, die zuerst geschaffen wurde, war ja extrem anders als unser Alltag. Die Beispiele sollen nur zeigen, wie vielfältig die Eingriffsmöglichkeiten eines Schöpfers in den Fortgang seiner Schöpfung sind. Schöpfung durch einen plausiblen Gott heißt dann also: Bedingungen dafür schaffen, dass Neues entstehen kann und für dieses Neue dann Gesetze bestimmen, nach denen es sich verhält, ohne dass sie mit den bisherigen Gesetzen in Konflikt stehen. Der 149 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
Schöpfungsprozess ist nicht als Schreiben eines Drehbuchs oder eines genauen Ablaufplans zu verstehen, ein plausibler Gott lässt die Welt nicht wie ein Puppenspiel tanzen oder wie ein Uhrwerk ablaufen. Er schöpft die Dinge und die Regeln und lässt sich die Dinge dann entwickeln. Und im richtigen Moment greift er erneut ein, damit, im Einklang mit dem Bisherigen, Neues entstehen kann. Im Nachhinein muss es dann so aussehen, als ob dieses Neue natürlich schon im Alten angelegt war und aus dem Alten heraus möglich war. Ob dies tatsächlich der Fall war oder ob Gott hier und da korrigierend eingegriffen hat, ist weitgehend eine Frage der Spekulation, denn das tatsächliche Aussehen der Naturgesetze zu irgendeinem früheren Zeitpunkt können wir nicht mehr ermitteln, so wie wir selbst die genaue Festlegung der gegenwärtigen Gesetze nicht kennen. Wir bewegen uns immer in einem Feld von gut gesicherten Näherungen, plausiblen Annahmen und Spekulationen. Der so verstandene Schöpfungsprozess ist also kein intelligentes Design, bei dem ein Autor ein Theaterstück für ein Welttheater geschrieben hat und die Dinge nun Akt für Akt exakt nach Plan ablaufen lässt. Vielmehr hat dieser Schöpfer Naturgesetze geschaffen und die Materie dazu, die diesen Gesetzen gehorcht, und er hat sie so geschaffen, dass sich auf höheren Ebenen, in größeren Maßstäben, diese Materie zu neuen Dingen organisieren kann, die wiederum ihre eigenen Gesetze erhalten haben, konsistent zu den Gesetzen der Elemente, aus denen sie bestehen. Und er hat zudem und schließlich Wesen geschaffen, die er mit einer eigenen freien, wenn auch begrenzten Vernunft ausstatten konnte, und die wiederum in der Lage sind, diese Gesetze zu verstehen. Sie müssen dazu nicht einmal an die Existenz dieses Gottes glauben, sie müssen ihn nicht anbeten und nicht hoffen, dass er ihnen gnädig etwas zuflüstert über die Prinzipien, die er sich erdacht hat. Sie können ganz ungläubig auf die Vernunft vertrauen, die er ihnen gegeben hat, er hat sie mit der Freiheit ausgestattet, den Glauben an einen Schöpfer abzulehnen und sogar lächerlich zu machen und die Gesetze, die er geschaffen hat, als einfach vorhanden und aus dem Nichts entstanden anzunehmen. Allerdings hat er uns Menschen mit unserem Gewissen und un150 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
serem Sinn für Schönheit auch die Fähigkeit gegeben, mit der Schöpfung nicht gar so frei und sorglos umzugehen. Ein plausibler Gott vertraut auf die Vernunft dieser freien Geschöpfe, die er geschaffen hat.
Die Schöpfung der Menschen Wir spekulieren hier über Ziele und Wege einer göttlichen Vernunft. Eine solche Spekulation hat immer den Beiklang einer kindlichen Phantasie, sie mag sogar absurd klingen. Woher nehmen wir die Berechtigung für eine solche Spekulation? Dazu sind drei Dinge zu sagen: Erstens ist unsere menschliche Vernunft zwar endlich, aber wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, können wir annehmen, dass wir mit dieser endlichen Vernunft an der unendlichen Vernunft Gottes teilhaben. Wir werden dieser also zwar niemals ganz gerecht, und unser Nachdenken über die Ziele dieser Vernunft wird immer von Naivität geprägt sein. Aber wir sind diesem unendlichen Geist eben doch verwandt und können, indem wir uns in die Lage dieses Geistes versetzen, aus unserer Perspektive doch Richtiges spekulieren. Zumal wir zweitens annehmen können, dass Gott will, dass wir ihn verstehen, denn er hat uns mit der Fähigkeit, das Gute, das Schöne und das Wahre zu erkennen, ausgestattet, und wenn er uns diese Fähigkeit gibt, dann wird er sie sicherlich so gestalten, dass wir mit ihr auch auf spekulativem Weg zu wahren Einsichten kommen. Wir können sogar annehmen, dass in der tiefen Reflexion und Kontemplation der Mensch in einen Dialog mit Gott kommt, so wie ihm Gott durch das Gewissen das Gute zeigt, zeigt er ihm durch die reflektierende Spekulation das Wahre. Drittens können wir, so wie wir es bisher bereits getan haben, im Lichte der Annahme eines unendlichen schöpferischen Geistes die Wirklichkeit selbst betrachten und uns fragen, welche Ziele der Gott gehabt haben kann, der genau so eine Wirklichkeit geschaffen hat, und wie er dabei vorgegangen sein kann, damit eine solche Wirklichkeit entsteht. Führen wir unsere Spekulation in diesem Sinne weiter, dann zeigt sich Folgendes: Sicher scheint zu sein, dass Gott gewollt hat, 151 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
dass bei seinem Schöpfungsprozess Menschen entstehen. Vermutlich hat er auch gewollt, dass an verschiedenen Stellen des Universums ganz verschiedene Formen von Leben entstehen, die er mit Vernunft versehen kann. Wir können sogar annehmen, dass Gott die Bedingungen für die Entstehung von Wesen, die an seinem Geist teilhaben können, von Anfang an gewollt hat und dass er an den verschiedenen Orten des Universums ganz unterschiedliche Wege möglich gemacht hat, unter denen Lebewesen entstehen, die mit Vernunft ausgestattet werden können. Gott will diese vernünftigen Wesen als Partner in seiner Schöpfung, als schöpferische Geschöpfe. Ein unendlicher Geist, eine unendliche schöpferische Vernunft ist nicht denkbar als ein anspruchsloser Spieler, der nur Marionetten hin und her bewegt und ihren Mund auf und zu macht, während er selbst spricht. Wir müssen uns diesen Geist denken, indem wir unseren eigenen Geist in seiner besten und anspruchsvollsten Form konsequent weiterdenken. Dann ist klar, dass dieser Geist etwas schaffen will, was seine eigene Dynamik entwickelt und eine eigene Freiheit im Schaffen und Handeln hat und dennoch gut sein kann. Dass die so geschaffenen Wesen in ihrer begrenzten Vernunft auch Böses, Hässliches und Unwahres schaffen können, muss dieser Schöpfer akzeptieren, wenn er die Freiheit seiner Geschöpfe nicht aufgeben will. Er hat uns deshalb mit Gewissen, ästhetischer Wahrnehmungsfähigkeit und einer Neigung zur Wahrheit ausgestattet, er hat uns so geschaffen, dass wir das Schöne, Gute und Wahre mögen. Der Schöpfungsprozess ist also zu denken als ein schrittweises Erschaffen und Variieren immer filigranerer Gebilde. Begonnen bei der Materie aus elementaren Bestandteilen, weiter mit den Gasen, festen Stoffen und Flüssigkeiten sowie den Himmelskörpern, dann mit den ersten Lebewesen, hin zu so komplexen Lebensformen, die als Träger von Emotionen, von Freude und Leid, von Zuneigung und Ablehnung infrage kamen. Dieser Schöpfungsprozess, das muss hier noch einmal betont werden, ist kein Modellieren, kein Design von einem feststehenden Ergebnisbild her, sondern ein Gestalten von Bedingungen, aus denen sich Neues entwickeln kann. Diese Bedingungen sind nichts weiter als die Naturgesetze, die, auch das sei wiederholt, so geschaffen werden, 152 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
dass Gesetze für Neues nie im Widerspruch zu den Gesetzen des Bisherigen stehen. So kommt es dann also zu den Lebewesen, die erste Träger von einfachen Formen der Vernunft sein können. Ihr Nervensystem, dass sich entsprechend der Gesetze des Lebens entwickelt hat und das dementsprechend sicherlich bei der Reizverarbeitung und bei der Reaktion auf Umweltreize Vorteile bringt, ist eine Substanz, die auch Träger erster Formen von Geist sein kann: Emotionen und Gefühle. Wir finden dies bei höheren Lebewesen auf der Erde, wir erkennen sie als unsere Verwandte gerade darin, dass sie Zuneigung und Freude ebenso zeigen können wie Abwehr und Leid. Entsprechend der Gesetze des Lebens entwickeln sich immer neue und höhere Formen dieser vernunftsfähigen Substanz, und schließlich entsteht ein Lebewesen, dem eine Vernunft gegeben werden kann, die es befähigt, sich selbst als bewusstes, vernünftiges Wesen zu erkennen, »Ich« und »Du« zu sagen und vor allem: selbst schöpferisch tätig zu werden. Damit hat der Schöpfer eine neue Phase im Prozess seiner Schöpfung erreicht: Er hat einen Partner in der Schöpfung geschaffen, der seine begrenzte Wirklichkeit von nun an schöpferisch weiter gestaltet.
Wissenschaft und Schöpfung Aus dem bisher Gesagten ist bereits klar geworden, dass die moderne Wissenschaft keineswegs im Widerspruch zu der Vorstellung steht, dass die Wirklichkeit Ergebnis einer Schöpfung ist. Und keineswegs muss sich die Wissenschaft als Gegner des Schöpfungsglaubens positionieren. Sie beweist nicht, dass unsere Welt nicht Ergebnis einer Schöpfung ist, sie kann dies nicht beweisen, und sie muss es auch nicht. Sie kann vielmehr akzeptieren, dass die Gesetze, nach denen sie sucht, deren Existenz selbst sie aber nicht erklären kann, durch einen Schöpfer sehr gut erklärt werden können. Zudem macht die Annahme eines Schöpfers verständlich, dass wir auf allen Ebenen der Naturbeobachtung Gesetze finden können, die wir für sich nehmen und verstehen können,
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Die Schöpfung
deren jeweiliger Zusammenhang mit anderen Gesetzen auf anderen Ebenen uns aber dennoch nicht verschlossen bleiben muss. Die Wissenschaft kann also aus einem so verstandenen Gottesglauben Optimismus schöpfen, dass sie die Welt verstehen kann, und zwar ganz in dem Sinne, wie sie die Welt auch verstehen will: Als Wirklichkeit, die sich nach Gesetzen richtet und sich entsprechend dieser Gesetze bewegt und entwickelt. Der Schöpfer wirkt keine »übernatürlichen« Wunder, wenn wir einmal von der Tatsache abgesehen, dass die ganze Welt und ihre wunderbare Komplexität, die aus Gesetzen und nach Gesetzen sich entwickelt hat, durchaus als Wunder angesehen werden kann. Der Schöpfer will auch nicht, dass wir staunend vor Unverständlichem erschauern und ihn in stummer Verehrung anbeten. Ein solcher Schöpfer kann uns als Mitschöpfer wollen, und in diesem Mitschöpfungsprozess beabsichtigt er, dass wir unser Erkenntnisstreben, unser Verlangen, die Wahrheit über die Welt zu verstehen, nutzen, um Gutes und Schönes zu schaffen. Deshalb stehen Schöpfungsglaube und technischer Fortschritt auch keineswegs im Gegensatz zueinander. Technischer Fortschritt, gegründet auf dem Willen des Menschen, die Welt zu verstehen und schöpferisch so zu gestalten, dass er darin gut leben kann, ist selbst Teil der Schöpfung.
Schöpfung und Verantwortung Allerdings ist es notwendig, dass wir alle unsere Gaben nutzen, um etwas zu schaffen, was von einem solchen Schöpfer wirklich gewollt ist und was als Teil der Schöpfung in seinem Sinne bestehen kann. Als freie Wesen haben wir auch die Möglichkeit, etwas zu schaffen, was von ihm nicht gewollt ist. Da er uns als schöpferische Geschöpfe will, geht er dieses Risiko ein. Er hat uns mit der Gabe ausgestattet, das Gute, Schöne und Wahre zu erkennen und zu tun, er hat uns die Möglichkeit der Freude gegeben, die uns erfüllt, wenn wir uns für das Gute entscheiden, er hat uns das Gewissen gegeben, das uns stört, wenn wir das Böse wol-
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Die Schöpfung
len und tun – aber er gibt uns die Freiheit, zu zerstören und damit seine Schöpfung in Gefahr zu bringen. Das bedeutet, dass uns der Schöpfer ganz die Verantwortung übertragen hat für den Bezirk seiner Schöpfung, der unsere Wirklichkeit bildet. Wir müssen uns klar machen, dass diese Verantwortung für alles, was von unserem Handeln betroffen ist, nicht aus einer materialistischen Sicht auf die Welt begründet werden kann. Wenn wir nicht mehr wären als komplizierte Stücken von Materie, die determiniert sind durch blinde Naturgesetze, welche nicht von einem Schöpfer her kommen, dann gäbe es keine Verantwortung. Der Mensch wäre dann ein komplizierter Organismus, der auf seine Selbsterhaltung, vielleicht noch auf die Erhaltung der Bedingungen der Reproduktion seiner Art hin funktionieren würde. Was dabei mit den übrigen Elementen der Wirklichkeit passierte, wäre nur soweit relevant, wie es auf die Reproduktion des Menschen Einfluss hätte. Aber für die Erhaltung der Welt wie sie ist, für ihre Schönheit, gäbe es keine Verantwortung des Menschen, der in diese Welt eingreift. Die Dinge der Wirklichkeit hätten keinen eigenständigen Wert, der sie für sich schützenswert machen würde. Die materialistische Weltsicht kann uns kein Fundament geben, aus dem heraus wir die Welt vor unseren Zerstörungen schützen müssten, abgesehen vielleicht von den Beiträgen, die diese Welt zur Erhaltung unserer Art selbst beitragen kann. Das heißt nicht, dass ein Mensch ohne Schöpfungsglauben kein Verantwortungsgefühl für die Welt haben könnte. Die tägliche Erfahrung beweist uns das Gegenteil: Viele Menschen ohne Glauben an einen Schöpfer übernehmen täglich Verantwortung für die Umwelt, leben nachhaltig, wehren sich gegen die Zerstörung von Natur. Und sie tun dies nicht aus Eigennutz oder aus pragmatischen Gründen, um die Lebensbedingungen für die Erhaltung der menschlichen Art zu sichern. Sie tun das, weil sie ein Gewissen haben und weil sie einen Sinn für die Schönheit der Welt haben – weil sie die Verantwortung spüren, die sie und wir alle für die gesamte Natur, die wir handelnd, schöpferisch aber auch zerstörend umgestalten, haben, für die wilden Landschaften ebenso wie für die Pflanzen und Tiere, für die Kulturlandschaften, 155 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
die unsere Vorfahren geschaffen haben, für die Lebewesen, die als Nutztiere unser Leben sichern, und für die anderen Menschen, die mit den Ergebnissen unseres Handelns konfrontiert sind. Dieses Verantwortungsgefühl kann jeder Mensch empfinden, unabhängig davon, ob er an einen Schöpfer glaubt, oder nicht. Der Zorn über die Zerstörungen, die Menschen anrichten, kann sogar dazu führen, dass jemand gerade nicht an einen schöpfenden Gott glaubt, weil er zu der Überzeugung kommt, dass ein solcher Gott der Vernichtung seiner Schöpfung durch die Menschen doch Einhalt gebieten müsste. Das Verantwortungsbewusstsein für die Welt entspringt also nicht unmittelbar aus dem Glauben an einen Schöpfer oder aus der Gewissheit, dass alles Teil eines Schöpfungsprozesses ist. Wenn es einen Schöpfer gibt, und wir haben plausible Gründe angeführt, die dafür sprechen, dann wirken die Gaben, die er seinen Geschöpfen mitgegeben hat, auch in denen, die nicht an ihn glauben. Es wäre sogar denkbar, dass der Schöpfer gar nicht will, dass wir ihn als Schöpfer erkennen, dass er uns als freie schöpferische Geschöpfe geschaffen hat und dass er einzig durch die Gaben der Vernunft, die er uns mitgegeben hat, darauf hinwirkt, dass wir unsere schöpferische Kraft letztlich im Sinne seiner Schöpfung nutzen. Wir können diesen Schöpfer nicht direkt erkennen und wir können uns seiner nie ganz sicher sein. Wir können ihn nur vermuten, weil einiges nur im Lichte einer unendlichen schöpferischen Vernunft, an der wir als endliche Wesen teilhaben, sinnvoll wird. Und dazu gehört eben das Verantwortungsbewusstsein, welches wir für die ganze Wirklichkeit empfinden, die von unserem Handeln betroffen ist. Wir müssen wie gesagt nicht an Gott glauben, um diese Verantwortung zu spüren, aber wenn wir fragen, wo dieses sichere Gefühl herkommt, das uns sagt, dass wir Verantwortung für diese Welt haben, dann kann uns eine materialistische Weltsicht nicht weiterhelfen. Wer in materialistischen Argumenten die Gründe für diese Verantwortung sucht, kann allenfalls pragmatisch die Arterhaltung bei gleichzeitigem begrenztem Wissen über die Konsequenzen des menschlichen Handelns als Grund für eine gewisse Vorsicht bei der Zerstörung von Um156 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Die Schöpfung
welt annehmen. Aber wir spüren, wenn wir genauer in uns hineinhören, dass dieser pragmatische Gedanke dem Verantwortungsgefühl, das wir für die Welt empfinden können, nicht gerecht wird. Wenn wir deshalb weiter suchen, dann werden wir zu der Einsicht kommen, dass es plausibel ist, uns als Partner eines Schöpfers zu verstehen, der will, dass wir mit seiner und unserer Schöpfung behutsam umgehen, dass wir erhalten, was er geschaffen und uns zur weiteren Gestaltung in seinem Sinne überlassen hat.
157 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich, dass es gute Gründe gibt, die Existenz eines unendlichen Geistes anzunehmen, der die Welt geschaffen hat und immer noch schafft, der uns Menschen geschaffen und als mitschöpfende Geschöpfe gewollt hat. Dieser schaffende unendliche Geist steht im Einklang mit den Naturgesetzen – er ist ihr Schöpfer, er hat sie so konzipiert, dass alles, was heute ist, entstehen und sich entwickeln konnte. Er hat einen Gesetzeszusammenhang von Regelmäßigkeiten auf den verschiedenen Ebenen des Weltgeschehens geschaffen. Diese Regelmäßigkeiten bauen aufeinander auf, die einen ergeben sich aus den anderen, aber sie lassen sich auch einzeln verstehen, untersuchen und nutzen. Dieser plausible Schöpfer hat auch vernünftige Lebewesen geschaffen wie uns Menschen. Er hat uns mit einer Vernunft ausgestattet, und das heißt, er hat uns die Fähigkeit gegeben, die Wahrheiten der Wirklichkeit, die Gesetze, nach denen sie entsteht und vergeht, zu erkennen. Das heißt auch, dass er uns den Sinn für die Schönheit seiner Schöpfung gegeben hat und dass er uns mit dem Bedürfnis ausgestattet hat, diese Schönheit zu bewahren und schöpferisch zu vermehren und das Gute zu wollen, das Gute für die Wirklichkeit, für die Dinge, die in ihr entstanden sind, die Organismen und Lebewesen, die anderen Menschen und für uns selbst. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass ein solcher unendlicher und schöpferischer Geist existiert. Er existiert nicht in dem Sinne, wie Steine und Bäume existieren, auch wenn wir in ihrer Existenz, wenn wir ihre Schönheit und die Wahrheit über ihre Existenz erkennen, auch Gottes Geist und Willen sehen. Er existiert auch nicht, wie die theoretischen Entitäten der Naturwissenschaften existieren, auch wenn er als Ursache eine Erklärung für vieles bietet, was sonst unerklärlich und ohne Ursache hingenom158 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
men werden müsste. Er existiert auch nicht wie die fiktionalen Gestalten von Geschichten, auch wenn sie durch die schöpferische Kraft ihrer Erfinder in die Welt gekommen sind, die ein Teil der unendlichen schöpferischen Kraft dieses Gottes ist, und auch wenn in diesen Geschichten oft gerade die wichtigen Gaben, die uns der Schöpfer gegeben hat, damit wir unsere Freiheit in seinem Sinne nutzen können, bezeichnet und beschrieben werden.
Die Ergründbarkeit des plausiblen Gottes Wir konnten in den vorangegangenen Kapiteln einige plausible Aussagen über diesen unendlichen Geist und Schöpfer machen. Es gibt aber auch einige Aussagen, die oft über Gott und sein Wirken gemacht werden, die wir nicht bestätigt finden. Um einige davon soll es zum Abschluss gehen. Ein plausibler Gott ist nicht unergründbar in dem Sinne, dass wir sein Wirken und seine Absichten überhaupt nicht verstehen könnten. Im Gegenteil, aus der Tatsache, dass wir uns als seine schöpferischen, mit-schöpfenden Geschöpfe verstehen können, können wir einiges über seinen schöpferischen Geist ableiten. Wir können annehmen, dass er uns als geistige Wesen in seinem Sinn geschaffen haben muss, dass wir also, wenn wir über unseren eigenen Geist reflektieren, auch etwas über den Geist dieses Gottes erfahren können. Die Tatsache, dass wir einen Sinn für das Gute, das Schöne und das Wahre haben und dass wir danach streben, Gutes, Schönes und Wahres zu schaffen und zu erleben, kann als Hinweis dafür gedeutet werden, dass auch der schöpfende Gott Interesse daran hat. Wir können annehmen, dass er uns als Partner in der Schöpfung will, denn er hat uns mit schöpferischen Fähigkeiten und mit der Kraft, unsere Werke als gut und schön zu beurteilen, ausgestattet. Er hat eine Welt geschaffen, die wir verstehen und verändern können, und in dieser Welt können wir diesen plausiblen Gott selbst auch erkennen und verstehen, auch wenn uns das als begrenzten Wesen immer nur in begrenztem Maße gelingt. Wir können darüber hinaus auch annehmen, dass wir mit dem 159 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
unendlichen Geist dieses Gottes ins Gespräch kommen, wenn wir unser Gewissen befragen, wenn wir nach dem Schönen und nach dem Geist der Gemeinschaft suchen. Wenn wir diese Erlebnisse verstehen, dann, so können wir vermuten, verstehen wir auch den Willen und die Absichten des plausiblen Gottes. Wir können auch sagen, dass wir über unsere ästhetischen, moralischen und erkennenden Fähigkeiten mit Gott mehr oder weniger direkt ins Gespräch kommen. Wenn ein Gott uns diese Fähigkeiten gegeben hat, um in seiner Schöpfung in seinem Sinne tätig zu werden, dann kann ein tiefes reflektierendes Nachspüren dessen, was diese Sinne uns sagen, das Sinnieren und Grübeln, in dem wir intuitiv Inspiration für das gute Handeln finden, als Gespräch mit Gott verstanden werden. Und sicherlich ist die Vorstellung oder gar Gewissheit dabei hilfreich, in dieser tiefen Inspiration Gottes Stimme selbst zu vernehmen. In diesem Sinne können wir sagen, dass die Existenz eines plausiblen Gottes und der Umgang mit ihm den Menschen, die an diese Existenz glauben, auch hilft, in der Welt zurechtzukommen. Der plausible Gott lässt sich, in einem solchen Sinne, dazu bewegen, die Welt zu verändern: Allerdings nicht, indem er Wunder wirkt, sondern indem er Antworten gibt auf die Frage danach, was wir tun sollen. Diese Antworten kommen nicht von außen, sondern aus dem Innern des Menschen, der fragt. Das schließt nicht aus, dass wir darin irren können, was wir da zu verstehen glauben. Das macht die Endlichkeit unseres Geistes aus. Der plausible Gott, der seine Geschöpfe in die Freiheit entlassen hat, kann weder verhindern, dass wir dem Irrtum folgen, noch kann er uns mit einer endgültigen Sicherheit versehen, wenn er unseren Fragen in der Reflexion innerhalb unseres je endlichen Geistes antwortet. Deshalb kann es auch keine menschliche Autorität, keine Kirche und keine Theologie und auch keine Überlieferung geben, die endgültig und verbindlich darüber befinden könnte, was der Wille dieses Gottes hinsichtlich des menschlichen Handelns ist. Dieser Gott befiehlt also auch nicht. Er fordert uns nicht zu diesen und jenen Taten auf, er gibt uns keine konkreten Anweisungen für den Alltag. Er hat uns mit dem Gewissen, mit ästheti160 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
schem Gefühl und mit der Fähigkeit, die Wahrheit in der Welt zu sehen, ausgestattet, und er hat Vertrauen, dass wir unsere Verantwortung für diese Welt wahrnehmen werden. Diese Fähigkeiten hat jeder von uns, unabhängig davon, ob wir an diesen Gott glauben oder nicht. Nur in der Reflexion über diese Fähigkeiten erkennen wir Gott selbst – aber wir müssen ihn nicht als den Schöpfer und Verursacher erkennen, um in seinem Sinne mit seiner und unserer Schöpfung richtig umzugehen.
Die Allmacht und Güte des plausiblen Gottes Ein plausibler Gott ist nicht allmächtig in dem Sinne, dass genau das geschieht, was er will. Gott lenkt nicht den tatsächlichen Ablauf des Weltgeschehens, und er lenkt auch nicht unsere Handlungen unmittelbar. Gott, wie wir ihn hier verstehen, ist einer, der Regeln setzt und die Dinge dann zunächst laufen lässt. Wenn auf der Grundlage dieser Regeln Neues entsteht, und wir können annehmen, dass Gott dies will, dann schafft er für dieses Neue auch neue Regeln, und womöglich passt er die alten Regeln so an, dass sie mit den neuen zusammenspielen. Aber Gott wirkt nicht durch Wunder und nicht durch direkten Eingriff in die Welt. Es gibt keine materiellen Ereignisse, die nicht auf Naturgesetze zurückgeführt werden können, alles, was in der materiellen Welt geschieht, ist in dem Sinne erklärbar, dass es im Einklang mit den Naturgesetzen steht. Man könnte also sagen, dass der schöpferische Gott gerade in dem Sinne allmächtig ist, dass er keine Wunder braucht, dass er nie direkt handelnd eingreifen muss, um die Wirklichkeit in seinem Sinne weiter zu treiben. Gott kann, für unsere begrenzte Vernunft unmerklich, die Regeln so weiterentwickeln, dass die Welt sich in seinem Sinn weiterbewegt. Wir kommen damit zum Problem der Theodizee zurück. Müsste man von einem plausiblen Gott erwarten, dass er zu seinen Geschöpfen gut in dem Sinne ist, dass die Schöpfung für diese Geschöpfe ausschließlich ein Quell der Freude ist? Müsste ein plausibler Gott nicht auch ein guter Gott in dem Sinne sein, dass 161 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
er seine gestaltende Kraft dafür verwendet, dass wir Menschen, als mitschöpfende Geschöpfe und somit als Partner in der Schöpfung, nicht unter der Schöpfung zu leiden haben? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir den Blick zunächst von unserem eigenen menschlichen Leben lösen und noch einmal auf die Prinzipien der Schöpfung als Ganzen schauen. Diese Prinzipien erkennen wir im Wirken der materiellen Naturgesetze – und sie sind immer und überall Gesetze des Entstehens und Vergehens, der Neubildung und des Verfalls. Elementarteilchen, Atome und Moleküle, Planeten und Sterne, Gebirge und Meere entwickeln sich nach diesen Gesetzen, und indem Neues entsteht, wird Bisheriges zerstört. Diese Prozesse des Entstehens und Verschwindens sind die Grundlage der Prozesse, die das Leben in seiner Vielfalt und in seiner Dynamik ermöglichen. Auch die Welt der Lebewesen besteht aus komplexen Kreisläufen, in denen Lebewesen untergehen, damit andere leben können, die doch auch wieder ihre Rolle dafür spielen, dass alle verschiedenen Arten von Leben sich bilden und weiterentwickeln können. Diese Prozesse bilden insgesamt das Bedingungsgeflecht, in dem der Mensch als schöpferischer Partner der Schöpfung möglich wird. Er will und soll, im Sinne des plausiblen Gottes, diese Welt bewohnen und gestalten, und zwar als freies, kreatives, selbstbestimmtes Wesen. Die Konsequenzen sollen durch ein Beispiel erläutert werden: Der Vulkanismus etwa als natürlicher Prozess ist Teil der Schöpfung, der die Gestalt der Erdoberfläche, der Kontinente, Ozeane und Gebirge mitbestimmt. Die Gesetze dieser Prozesse sind für den Menschen prinzipiell verständlich und auf ihrer Basis ist vieles entstanden, was zur Entstehung und Erhaltung des Lebens beiträgt, Lebensräume und Nährstoffe, am Ende auch die Materialien, die der Mensch nutzt, um sich Häuser und Werkzeuge für ein bequemes Leben zu schaffen. Diesen Vulkanismus wird ein plausibler Gott nicht einfach ausschalten oder unterdrücken, weil der Mensch sich an einem Ort niederlässt, der durch die materiellen Gesetze gefährdet ist oder zerstört wird. Ein solches Eingreifen würde dem wider-
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sprechen, was wir als plausibel über das göttliche Wirken der Gestaltung der materiellen Gesetze erkannt haben. Auf der anderen Seite wird ein plausibler Gott dem Menschen auch nicht verbieten, sich an einem solchen gefährdeten Ort anzusiedeln. Das würde dem Gedanken widersprechen, dass Gott die Menschen als freie Wesen und Partner im Schöpfungsprozess geschaffen hat. Nicht nur würde er mit einem solchen Verbot die Freiheit der Menschen einschränken, er würde ihnen auch die Erfahrung des materiellen Prozesses verwehren, die dazu führen kann, dass der Mensch in seinen eigenen schöpferischen Handlungen mit diesen Prozessen umzugehen und sie womöglich sogar zu nutzen lernt. Wenn man bedenkt, wie vielen Gefahren sich der Mensch in seiner Freiheit aussetzt und wie viel ein Gott, der den Menschen schützen und ihm Leid vollständig ersparen wollte, also dem Menschen verbieten müsste, wird schnell klar, dass von Freiheit und schöpferischer Gestaltung nicht mehr die Rede sein könnte, wenn ein plausibler Gott ein guter Gott in dem Sinne wäre, dass er seinen Geschöpfen jedes Leid und jede Not ersparen würde. Ist also ein plausibler Gott in keinem Sinne ein guter Gott? Wie könnte man dann davon sprechen, dass er den Menschen als Partner in seinem Schöpfungsprozess geschaffen hat? Natürlich könnten wir uns hier auf eine solche Vorstellung von Gott zurückziehen. Wir sind nicht auf einen guten Gott im Sinne etwa des Christentums verpflichtet, wenn wir auf der Suche nach einem plausiblen Gott sind. Wir müssten uns mit der TheodizeeFrage gar nicht beschäftigen. Andererseits haben wir bereits festgestellt, dass der unendliche Geist eines plausiblen Gottes im gewissen Sinne mit unserem Geist Ähnlichkeit haben muss. Insbesondere müssen wir annehmen, dass die zentralen Merkmale unseres Geistes, die Fähigkeit zum Erkennen des Guten, des Schönen und des Wahren sowie das Streben danach, Gutes, Schönes und Wahres zu schaffen und zu erleben, sich auch bei einem plausiblen Gott finden lassen sollten. Warum und wie sollte ein Gott uns als moralische Wesen mit Gewissen und der Fähigkeit zum Mitleid erschaffen, wenn ihm selbst Gewissen und Mitleid fremd wären? Wir sollten es also als plausibel annehmen, dass Gott Mit163 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
leid mit seinen leidenden Geschöpfen hat, und dass sein Gewissen ihn dazu bringt, den Menschen die Möglichkeit zu geben, Leid zu vermeiden. Allerdings wird dieser Gott deshalb eben nicht in sein Regelwerk der Naturgesetze willkürlich eingreifen, um etwa ein Erdbeben, welches nach den Naturgesetzen an einem Ort stattfinden muss, zu verhindern, nur weil sich dort Menschen angesiedelt haben. Eine solche Welt wäre für den Menschen nicht erkennbar und letztlich also auch nicht durch menschliche Schöpferkraft veränderbar. Ebenso kann ein solcher Gott nicht die Freiheit der Menschen beschneiden, indem er auf eine irgendwie mystische, unverständliche Weise verhindert, dass sie sich in einem Gebiet ansiedeln, in denen ein Erdbeben droht. Er kann den Menschen nur helfen, indem er sie mit Fähigkeiten ausstattet, sich im Rahmen ihrer begrenzten Vernunft, in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten ihrer Freiheit sowie im Einklang mit den Naturgesetzen selbst zu helfen. Der Gott, den wir hier als plausibel verstehen wollen, hat dem Menschen die Fähigkeit gegeben, aus Erfahrungen zu lernen. Wir können Zusammenhänge erkennen, wir können lernen, Anzeichen von Gefahren zu deuten. Wir können dieses Wissen weitergeben, wir können kulturelle Regeln etablieren, die das, was wir im Leiden und in der Not erfahren haben, auch denen zugänglich macht, die das Leid nicht selbst ertragen mussten. Damit haben wir Fähigkeiten, um Leid reduzieren zu können, um uns vor zukünftigen leidvollen Erfahrungen zu schützen. Wir können aus eigenen Erfahrungen und aus den Erfahrungen anderer lernen, Risiken einzuschätzen oder Maßnahmen zu ergreifen, die uns vor Gefahren schützen. Wenn wir, mit den Überlegungen der vorangegangenen Kapitel, diese Fähigkeiten einem plausiblen Gott verdanken, dann können wir durchaus sagen, dass dieser Gott gut ist. Er schaut nicht einfach zu, wie wir mit seiner Welt voller Gefahren zurechtkommen, sondern er hat uns so geschaffen, dass wir als freie schöpferische Geschöpfe dem Leid begegnen können. Wir können Häuser bauen, die erdbebensicher sind, wir können Gegenden erkennen und meiden, die vom Vulkanismus zerstört werden können, wir können uns vor Krankheiten und vielen an164 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
deren Gefahren immer besser schützen auf der Grundlage unserer Fähigkeit, die Gesetzmäßigkeiten der Welt zu verstehen und verstehend zu nutzen.
Hoffen auf Gott? Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, dass es der Vorstellung von einem plausiblen Gott völlig widerspricht, wenn man annimmt, dass sich dieser Gott durch direkte Ansprache zu einem Eingreifen in unser alltägliches Leben bewegen ließe. Ein plausibler Gott möchte nicht angebetet und verehrt werden, er kann uns nicht vergeben, was wir anderen oder der Schöpfung angetan haben, und er kann niemanden von uns dafür belohnen, ihm zum Ruhm zu handeln. Zwar kann im religiösen Kult, im Gebet und im gemeinsamen reflexiven Gespräch das Schöne, Gute und Wahre deutlich werden, aber es ist dazu nicht zwingend und unbedingt nötig, dass wir besonders stark und intensiv an Gott und seine Gegenwart glauben. Einen Sinn für die Schöpfung entwickeln die Menschen auf sehr unterschiedliche Weise, und es ist nicht gewiss, dass sie diesen Sinn besonders stark ausprägen, wenn sie vor einem Gott auf die Knie fallen. Schon gar nicht kann man sich durch die Ansprache Gottes aus der Verantwortung für das befreien, was man anderen Menschen, Wesen oder der Welt angetan hat. Das heißt andererseits auch: Dieser Gott straft uns nicht für unser Tun, nicht für die Zerstörung und nicht für das Böse, das wir anderen Lebewesen und Menschen antun. Eine Strafe, wenn man das so nennen kann, kommt nur aus uns selbst, wenn wir unser böses Handeln reflektieren und darunter leiden. Ebenso kommt die Freude am guten Handeln und am Schaffen des Schönen nur aus uns selbst, wenn wir bemerken, trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten das Richtige getan zu haben. Gott hat uns die Fähigkeit dazu gegeben, das zu erkennen, aber er teilt uns nicht in direkter Ansprache mit, dass wir etwas Gutes oder Böses getan, etwas Schönes oder Hässliches geschaffen, die Wahr-
165 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Was Gott nicht ist
heit gesehen und gesagt oder die Lüge akzeptiert und verbreitet haben. Schließlich gibt uns ein solcher Gott auch keine Hoffnung über unser endliches Leben hinaus. Wir haben keine Anhaltspunkte für ein Leben nach dem Tod, für eine Bestrafung oder Belohnung in einem Jenseits gefunden. Unsere endliche Vernunft ist an die Endlichkeit unseres materiellen Lebens gebunden und nichts deutet darauf hin, dass unsere Seele nach dem Ende des Körpers als Seele weiter existiert. Der Sinn meines Lebens muss ganz allein in diesem Leben gefunden werden, im Guten, das ich tue, im Wahren, das ich erkenne und teile, und im Schönen, das ich schaffe.
166 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Stichwortverzeichnis
Allmacht 161, 171–172 Ansprechen 84 ästhetische Begriffe 193, 195 Atheismus 20, 103, 108 Axelrodt 187 Bedeutsamkeit 29, 80–82, 89–90, 92, 105, 128 Bibel 106, 111, 203 Biologie 19, 76–77, 83, 94, 96, 133 Chemie 72, 77, 83, 94, 133 Christlicher Gott 91, 171–172 Computer 81, 114, 138, 191 Dennett 178, 205 Detel 171, 205 Du 15, 69–72, 75–78, 132, 153 Erhabenheit 80 Evolution 77–78, 81, 128, 144 Existenz 17, 160 – auffassen 26 – eines Menschen 33 – objektive 27 – von fiktionalen Gestalten 60 – von Gemeinschaften 36 – von Individuen 19 – von Institutionen 35 – von Klassen 19 – von Organisationen 43 – von Personen 69 Feyerabend 179–183, 205 Flynn 192–193, 205
Foucault 173, 205 Fraassen, van 183, 206 Gedanken 74 Gefahr 91 Gehirn 75, 114, 193 Geist 71, 76, 82, 101 – der Gemeinschaft 102 – der Tiere 83 – endlicher 109, 112, 119, 144, 146, 190 – menschlicher 85 – unendlicher 103, 112, 146, 160, 163 Gemeinsames Handeln 100 Gemeinsamkeit 100 Geschichten 60, 106 Gespräch mit Gott 105 Gewissen 16, 79, 115, 122, 124– 126, 129, 150–152, 154–155, 160, 163, 188, 196–197 Gewissheit 27, 30, 66–69, 71, 75, 83, 88, 91, 103, 112, 117, 156, 160, 175, 185 Goethe 27–28, 32, 61–62 Grenzen der Welt 21 Güte 91 Hacking 182–183, 205 Harry Potter 60, 64 Hawking 114, 191, 200, 202, 205 Hegel 176 Heidegger 176, 179, 186, 188–190, 196–197, 205 heiliger Text 110 Himmel 22
167 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Stichwortverzeichnis
Hoffnung 16, 49, 166 Hölscher 176, 205 Ich 15, 69–70, 72, 75, 77–78, 80– 81, 114, 132, 138, 153 Instrumentalismus 192 Intelligenz 114–115, 191–193 Kant 123, 196–197 Kausalität 95 Kooperation 97, 100–101, 187–188 Koran 111 Kuhlmann 174 Kulturelle Praktiken 99 Lennox 202–203 Mackie 195, 205 Marten 176, 205 Materielle Prinzipien 133–138 Mathematik 54, 56, 58 Merleau-Ponty 185, 205 Meteorologie 54 Mlodinow 200, 202, 205 Moral 123 Nagel 172, 186, 206 Natur 86–87, 121, 128, 133, 137, 141–142, 148, 155, 189–190, 201–202 Naturgesetze 16, 94, 132, 140–141, 143–144, 146, 150, 152, 155, 161– 162, 164, 199 Naturwissenschaft 47, 82, 90, 94, 96, 98–99, 129, 132–133, 135, 137, 139–140, 142, 147, 158, 182– 183, 189, 201, 200, 205 Nutzen 85, 97 ortlos 22, 44 Parmenides 176, 205 Pauen 186
Person 17–18, 23, 32–33, 36, 39, 49, 63, 79, 83–84, 89, 105, 133, 174–177, 190, 196–197 Physik 48, 77, 94, 133, 138–139, 141, 183, 193, 197, 200 Platon 32, 172, 206 Praxis 30–31, 46, 52, 57–58, 65, 67, 98, 108, 173, 175, 189 Primzahl 55 Quantenmechanik 49, 95, 147, 197–198 Rationalität 85, 179, 202 Regelmäßigkeit 133, 142 Rohs 171, 186, 206 Schmerz 124, 174–175 Schönheit 79–80, 85–86, 88–89, 92, 116–119, 121–122, 151, 155, 158 Schöpfer 61, 105, 110, 121, 129– 131, 140, 148–150, 152–156, 158–159, 161, 200, 202 Schöpfung 105, 119, 121–122, 130–132, 135, 140, 149, 151–162, 165 Schöpfungsprozess 119, 133, 140, 144, 148, 150, 152, 163 Seele 10, 69, 71, 75, 77, 79, 124, 130, 166 Sein 29, 78, 129, 176, 183, 197, 205 Sibley 193–195, 206 Sprache 87 Strafe 165 Subjekt 15, 40–41, 70–71, 76–82, 175 Täuschung 29, 74 Taylor 179, 186, 188, 206 Tetens 171, 175, 186, 206 Theodizee 91, 161, 163, 172 Theoretische Entitäten 48
168 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
Stichwortverzeichnis
Thora 111 Toleffsen 179 Verantwortung 131, 154–156, 161, 165 Verführer 92 Wahrnehmung 28 Wildnis 15, 56, 84–86, 88, 121, 142, 144
Wissenschaft 47–48, 54, 72, 82, 85, 93, 95, 132, 139–140, 144–145, 148, 153–154, 182, 192 Wissenschaftlicher Realismus 49 Wissenschaftliches Denken 24 Wittgenstein 173–174, 186, 206 Zweifel 10, 15, 24, 36, 69, 126, 173, 175
169 https://doi.org/10.5771/9783495820438 .
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Anmerkungen
1 S. 10 (Abgrenzung zum christlichen Gott) Ein ähnliches Ziel verfolgt Tetens (2015) oder auch Rohs (2013). Allerdings, um das bereits vorwegzunehmen, ist es dort immer schon der christliche Gott, oder wenigstens der abrahamitische Gott, der zu denken ist und dessen Existenzmöglichkeit diskutiert wird. Das gilt auch für Autoren, die zeigen wollen, dass Gott gerade nicht gedacht werden kann, wie etwa jüngst Detel (2018). Er referenziert ausdrücklich abrahamitische Gottesvorstellungen und meint, dass etwa »Allmacht, Allwissenheit und perfekte Güte« (Detel, 2018, 8) zu den Eigenschaften Gottes gehören müssen. Tetens (2015, 7) spricht von Beginn an von einem Gott, auf den man vernünftig hoffen kann. Für Rohs (2013, 7) geht es um die »postmortale Fortexistenz moralischer Wesen«. Auch wenn dies nicht explizit gesagt wird, deuten somit zwei methodische Prinzipien dieser Autoren darauf hin, dass sie von vornherein über die Existenz des abrahamitischen Gottes nachdenken: Einerseits charakterisieren sie von Anfang an die Vorstellungen von Gott mit Attributen, die dem Fundus der abrahamitischen Traditionen und Schriften entnommen sind. Andererseits beziehen sie sich vorrangig auf die Argumentationen der europäischen Theologie seit Augustinus – mithin der christlichen Theologie, die sich ausschließlich mit der christlichen Vorstellung von Gott befasst. Wenn also auch die Fragestellung dieser Autoren und des vorliegenden Buchs durchaus vergleichbar sind, können die Ausgangspunkte kaum unterschiedlicher sein. In meinem Buch versuche ich, von der christlichen Prägung eines Gottesdenkens gerade abzusehen und quasi aus den offenen Fragen, die eine materialistische oder atheistische Weltsicht gerade nicht und scheinbar prinzipiell nicht erklären kann, zu einem Bild eines Gottes zu kommen, der die Antwort auf diese Fragen sein könnte. Ich verteidige hier kein Gotteskonzept, das ich zuvor schon gehabt habe, sondern gewinne aus dem Unvermögen des atheistisch-materialistischen Weltbildes ein solches Konzept. Ich beginne hier nicht bei einem Gott, dessen Existenz fraglich ist, sondern ich beginne bei bestimmten zentralen Erscheinungen unserer Welt und frage nach ihrer prinzipiellen Erklärbarkeit in einer Welt ohne Gott. Erst, wenn das Scheitern dieser Erklärungsmethode plausibel geworden ist, sehe ich mich nach Alternativen um und finde sie in einer plausiblen Vorstellung von Gott. Die Texte von Tetens (2015) und Rohs (2013 und 2015) haben mir während der Arbeit an diesem Manuskript eine Vielzahl von Anregungen ge-
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Anmerkungen
geben, sie haben zum Weiterdenken und Widersprechen herausgefordert und mir die Vielfältigkeit der Fragestellung nach dem plausiblen Gott zu erkennen geholfen. Dies an allen Stellen ausgiebig zu würdigen, ist leider nicht möglich. Letztlich setzt sich diese Arbeit jedoch klar und ausdrücklich von Tetens und Rohs ab, da ich nicht versuche, eine christliche Gottesvorstellung zu verteidigen oder Argumente der christlichen Theologie zu diskutieren. Der plausible Gott, dem wir hier nachspüren, ist wesentlich von der Gottesvorstellung unterschieden, die in der Tradition der abrahamitischen heiligen Schriften entstanden ist. Dass diese Vorstellung von Gott womöglich doch Reste der abrahamitischen Vorstellung vom Schöpfergott enthält, soll nicht bestritten werden. Ich lebe ich einer Welt, deren Kultur christlich tradiert ist, in der christliche und andere abrahamitische Gottesvorstellungen latent oder präsent sind, und natürlich ist nicht auszuschließen, dass diese Vorstellungen ungewollt meine Suche prägen. Es gibt weitere Alternativen zu einem rein naturalistischen Weltbild, die in den letzten Jahren entwickelt wurden, diese scheinen mir jedoch nicht plausibel. So hat etwa Nagel (2013) einerseits nachgewiesen, dass der naturalistisch-reduktionistische Ansatz der Welterklärung, den die Naturwissenschaft heute präferiert, große Schwierigkeiten bei der Erklärung des Mentalen hat. Andererseits entwickelt er eine panpsychistische und teleologische Alternative (vgl. Michel 2009), die sich die Frage gefallen lassen muss, wo diese besondere Ausstattung aller materiellen Weltbestandteile mit mentalen Dispositionen und wo vor allem die Neigung des Universums zur Ausbildung psychischer Eigenschaften herkommt, wenn kein unendlicher Schöpfergeist im Spiel ist. Diese Fragen wollen wir auf der Suche nach einem plausiblen Gott beantworten. Dieser muss nicht den Vorstellungen der christlichen Theologie und überhaupt der abrahamitischen Glaubenstradition genügen. Es wird sich zeigen, dass sich eine Reihe von Problemen, denen sich die christliche Theologie gegenüber sieht, hier nicht in gleicher Weise stellen, insbesondere das der Theodizee, da der plausible Gott zunächst weder gütig noch (in einem alltäglichen Sinne) allmächtig ist. Ob Allmacht und Güte bei einem plausiblen Gott erwartet werden können, muss erst erwiesen werden, beide werden nicht selbstverständlich als notwendige Attribute eines Gottes, an den man glauben kann, vorausgesetzt. 2 S. 11 (Erkenntnis und Begründung) Als erste Quelle des Satzes, Wissen sei wahre gerechtfertigte Überzeugung, wird zumeist Platon, (Theaitetos 201d) angegeben. Es lohnt sich, dort genauer hinzusehen. Dort steht: Εφη δε την μεν μετά λόγου αληθή δόξαν επιστήμην είναι, την δ αλογόν εκτός επιστήμης. Schleiermacher hat dies übersetzt mit »Er sagte nämlich, die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung wäre Erkenntnis, die unerklärbare dagegen läge außerhalb der Erkenntnis.« (Platon 2013, 237) Zunächst können wir natürlich nicht einfach behaupten, diese Bestim-
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Anmerkungen
mung von Wissen sei Platons Sicht oder Definition. Platon lässt den Theaitetos diesen Satz als ein Zitat eines anderen, unbekannten aussprechen, dessen er sich erst im Laufe der Diskussion wieder erinnert. Sokrates stimmt dieser Bestimmung keineswegs zu, sondern weist auf ihre Schwächen und Grenzen hin. An anderer Stelle (Symposion 202a) lässt Platon Diotima allerdings etwas ganz Ähnliches aussprechen, und Sokrates stimmt ihr unumwunden zu: Το ορθά δοξάζει και άνευ του έχειν λογον δουναι ουκ οισθ, εφη, ότι ουτ επιστασθαι έστιν – αλογον γαρ πράγμα πως αν ειν επιστήμη. Schleiermacher übersetzt hier »Wenn man richtig vorstellt ohne jedoch Rechenschaft davon geben zu können, weißt du nicht daß das weder Wissen ist, denn wie könnte etwas grundloses eine Erkenntnis sein?« Schleiermacher übersetzt im Theaitetos επιστήμη mit »Erkenntnis«, nicht mit »Wissen«: »die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung wäre Erkenntnis«, während er im Symposion dieses Wort einmal mit Erkenntnis und einmal mit Wissen übersetzt. Das, was mit »Erklärung« oder »Rechenschaft« übersetzt wird, ist im griechischen Original das vielschichtige Wort λόγος. Das Gegenstück αλογον wird einmal mit »unerklärbar« und einmal mit »grundlos« übersetzt. (Ich danke Niko Strobach für die Unterstützung und Diskussion zu diesem Punkt.) Wissen als Erkenntnis ist also zunächst zu unterscheiden von all dem, was landläufig mit »ich weiß, dass …« (vgl. Wittgenstein 1984, 122) benannt wird. Erkenntnis ist ja immer ein Prozess, an dessen Ende erst die Überzeugung steht. Zu dieser Erkenntnis aber gehört notwendig der λογος, die erklärende, begründende Rede, das Ablegen von Rechenschaft über das Zustandekommen der Erkenntnis. Das wird jeweils im zweiten Teil des Satzes betont, in dem ja gesagt wird, dass auch eine richtige Überzeugung, wenn sie aber keine Erklärung, keine Gründe hat, keine Erkenntnis sein kann. Damit liegt nahe, dass επιστήμη keineswegs etwas für alle Zeiten Sicheres ist, sondern immer etwas, was in einer bestimmten Praxis des Sprechens und Begründens als sicher gilt, eben als etwas, das so gut begründet ist, dass kein Zweifel möglich ist (vgl. Wittgenstein, 1984, 122). Die Elemente solcher »diskursiven Formationen«, die in einer bestimmten Praxis als Begründung von Wissen (Erkenntnis) gelten, hat Foucault (1973) ausführlich dargestellt. In unserem Zusammenhang ergibt sich, dass plausible Überzeugungen ebenfalls diskursiv erläutert werden können und müssen, und sie müssen sich in einer aktuellen diskursiven Formation bewähren. Es muss also durchaus gute Begründungen geben, die Weise des Begründens muss im herrschenden Diskurs akzeptiert werden. Zugleich ist die plausible Überzeugung sozusagen nie vollständig begründet, es gibt ebenso akzeptierte Argumente, die dagegen sprechen, ohne aber die fragliche Überzeugung zu widerlegen. Die Abhängigkeit der επιστήμη vom λογος, von der praktisch akzep-
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Anmerkungen
tierten Weise des Begründens, mag unbefriedigend sein. Man hofft doch, Erkenntnis, die als Wissen gelten soll, so gewiss zu haben, dass sie nicht von diesen oder jenen aktuellen Standards des Begründens abhängig ist und in zukünftigen diskursiven Formationen womöglich wieder ungültig ist. Dies weiter zu diskutieren, ist hier jedoch nicht möglich. 3 S. 12 Der Begriff der Existenz wird hier nicht definiert, vielmehr versuchen wir im Verlaufe des Kapitels eine Begriffsbestimmung (vgl. Kuhlmann, 2017). Ich setze die Bedeutung des Begriffs »Existenz« nicht fest, wie man es mit einer gewissen Willkür mit einer Definition tun kann. Vielmehr will ich, wie Kuhlmann es beschreibt, mit einer Begriffsbestimmung herausfinden, was wir sowieso immer schon mit diesem Begriff meinen. Wir wollen den Begriff so bestimmen, dass er in seiner Bedeutung möglichst klar wird und zu unseren Verwendungen passt. Das ist, davon bin ich überzeugt, eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie. Es geht darum, die Verwendung des Begriffs zu klären, auch für den, der den Begriff intuitiv erfolgreich verwendet. Dadurch gewinnt die Philosophie durchaus neues Wissen. Sie kann zeigen, inwiefern den verschiedenen Verwendungen ein tieferes intuitives Grundverständnis einer Sache zugrunde liegt, und sie kann dem Sprecher seine eigenen undeutlichen Grundannahmen verständlich machen. 4 S. 20 (Zur Existenz des subjektiv Erlebten) Ein besonderer Fall, der durchaus interessant sein könnte, ist der, dass etwas tatsächlich nur für eine Person existiert, diese jedoch gegenüber anderen diese Existenz rechtfertigen kann. Ein einfaches Beispiel ist ein persönliches Gefühl, Schmerzen, Liebe, Trauer, das nur für eine Person existiert, dessen Existenz andere aber »glauben« können, da es zum einen auch für die anderen Erfahrungen gibt, die die Existenz dieser individuellen Gefühle bestätigen, zum anderen aber auch äußerlich beobachtbare Ereignisse, die plausibel machen, dass das Gefühl tatsächlich beim Einzelnen da ist. Beides hängt miteinander zusammen. Wittgenstein (1984, 361) setzt, um seine Überlegungen zur privaten Sprache über private Erlebnisse wie Schmerzen durchführen zu können, gerade voraus, dass es möglich wäre, dass »Menschen ihre Schmerzen nicht äußerten (nicht stöhnten, das Gesicht nicht verzögen, etc.)«. Mich interessiert hier nicht das Privatsprachenargument, denn für die Frage nach der Existenz des Schmerzes des anderen kommt es auf den sprachlichen Begriff gerade nicht an, sondern eben auf das, was Wittgenstein einklammert, die Beobachtung des schmerzvoll verzogenen Gesichts, das Hören der Schmerzensschreie, kurz, das äußerlich sichtbare Verhalten des Menschen. Dass ich glaube, dass der Schmerz des anderen wirklich da ist, hängt von zwei Voraussetzungen ab. Zum einen muss ich wissen, wie es ist, einen Schmerz zu haben und ich muss Erfahrungen darin haben, wie ich mich verhalte, wenn ich Schmerzen habe. Zweitens muss ich diese Anzeichen
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Anmerkungen
beim anderen beobachten können, und ich muss gewiss sein, dass er nicht simuliert. Streng genommen kann es sogar sein, dass ich selbst noch nie Schmerzen hatte, dass ich aber bei verschiedenen anderen bereits beobachten habe, wie sie sich unter Schmerzen verhalten, und dass sie dazu den Satz: »Ich habe Schmerzen« geäußert haben. Dann werde ich auch bei einem nächsten Menschen, der sich ebenso verhält, glauben, dass da ein Schmerz ist – ohne allerdings zu wissen, was das wirklich ist, was er da hat. In der Praxis begegnet uns zumeist beides, das Wissen um den Schmerz aus eigener Erfahrung und die Beobachtung vieler anderer, die Schmerzen haben und das auch dazu sagen. Für die Frage nach Gott ist diese Überlegung von Interesse, wenn wir an die Stelle des Schmerz-Erlebens das Gottes-Erleben setzen. Gesetzt, jemand hat eine bestimmte persönliche Erfahrung, die er als Ansprache durch einen Geist, ein Subjekt, erfährt, das er gleichzeitig nicht in Raum und Zeit verorten kann. Weiterhin will ich annehmen, dass sich das Erleben dieses Menschen in bestimmten ungewöhnlichen, nicht alltäglichen Verhaltensweisen zeigt. Andere, die Ähnliches erleben, können sich darin wiedererkennen und kommen zu der Gewissheit, dass diese Person das Gleiche erlebt wie sie, dass das Gotteserleben mithin real ist. Zudem können diese Menschen über ihr Erleben auch sprechen und den Begriff Gott-Erlebnis dafür finden. Klar ist: Für die, die dieses Erleben teilen, ist das Verhalten und die Beschreibung des je anderen ein Beleg dafür, dass da etwas Reales, ein realer Gott, erlebt wird. Zugleich wird jeder, der dieses Erleben nicht kennt, Zweifel daran haben, dass es sich da wirklich um ein Gott-Erlebnis handelt. Die zweite Voraussetzung, dass ich die Existenz des Schmerzes glaube, bedingt, dass ich gewiss bin, dass der andere nicht simuliert. Eine Simulation anzunehmen, bedeutet allerdings, Gründe dafür zu haben, dass die Schmerzen nicht echt sind. Im Falle des Gottes-Erlebnisses würde man vielleicht gar nicht von Simulation reden, hier gibt es tatsächlich einen großen Unterschied zum Schmerz, aber derjenige, der das Erlebnis nicht kennt, wird womöglich sagen, dass es ja nicht sein könne, dass es sich tatsächlich um ein Gott-Erleben handelt – denn aus seinem eigenen Nicht-Erleben schließt er, dass es Gott nicht gibt, mithin, dass es auch kein Gott-Erleben geben kann. Zu diesem Ergebnis kommt auch Tetens (2015, 83): »Nichts prägt den Gläubigen so sehr wie die Tatsache, dass er auf Gott vertraut. … Ebenso konsequent ist es, dass für ihn Gott auch darin wirksam und gegenwärtig ist, dass auch andere Menschen auf Gottes Erlösung hoffen … und nicht zuletzt Gott als ernsthafte Möglichkeit vernünftig denken«. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Glauben an die Existenz Gottes sich allein darauf stützt, dass auch andere an seine Existenz glauben. Es gibt, wie Kapitel 2 und 3 zeigen, weitere gute Gründe dafür, Gründe, die auch jemanden zu der Einsicht bringen können, dass Gott existiert, der die gleichen Erlebnisse bisher nicht in diesem Licht gedeutet hat.
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Anmerkungen 5
S. 21 (Denken und Sein) An dieser Stelle streifen wir die Frage nach dem Sein in der Form, wie sie Heidegger in seiner Spätphilosophie beschäftigt hat. In seinen Reflexionen von 1952 etwa zu den Fragmenten von Parmenides (Heidegger 2000, 237–261) beginnt er mit dem Fragment 3 (το γαρ αντο νοειν έστιν τε και ειναι), welches er übersetzt mit »Denn dasselbe sind Denken und Sein«. Diese Übersetzung ist kritisiert worden, etwa von Marten (1990), aber auch von Hölscher (1986) in der Erläuterung der von ihm herausgegebenen Parmenides-Ausgabe. Hölscher übersetzt »Denn dasselbe kann gedacht werden und sein« und sieht den Satz »als das Grundaxiom der Parmenideischen Philosophie« (81). Die Kritiken laufen also etwa darauf hinaus, dass nach Parmenides nicht etwa Denken und Sein dasselbe sind, sondern dass die Gleichsetzung zwischen dem Sein und dem Gedachtwerden-Können besteht. Alles, was ist, kann auch gedacht werden, wäre dann die unspektakuläre Interpretation des Parmenides-Fragments, die allerdings dem Fragment VIII nicht gerecht wird, welches Heidegger als Erläuterung des Fragments III ansieht. In seiner Reflexion zu Parmenides zeigt Heidegger jedoch, dass seine Lesart nicht ganz so abwegig ist, denn sie passt recht gut mit einem anderen Satz über das Sein zusammen, der in der Philosophiegeschichte eine wichtige Rolle gespielt hat, Berkleys »esse est percipi«, den Heidegger (2000, 240) mit »Sein ist gleich Vorgestelltwerden« übersetzt. Zudem verweist Heidegger (ebd.) auf Hegel, der den ersten Satz des Fragments VIII übersetzt mit »Das Denken und das, um weswillen der Gedanken ist, ist das selbe. Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es sich ausspricht (…), wirst du das Denken finden« (zitiert nach Heidegger 2000, 241). In der Tradition von Hegel zu Heidegger könnte man zunächst vermuten, dass für diese beiden das Denken dem Sein vorgängig ist, dass für sie das Sein aus dem Denken entsteht. Es kommt aber darauf an, hier klar zwischen Sein und Seiendem zu unterscheiden. Das Seiende, das irgendwie vorliegende und bestehende, kann durchaus ohne das Denken bestehen. Das Denken bringt nicht das Materielle erst ins Bestehen, wie man bei einer zugespitzten Lesart des Idealismus vermuten könnte. Vielmehr ist das, was das Seiende ist, das Sein des Seienden also, mit dem Denken dasselbe. Was das Seiende ist, das ist identisch mit dem, was von ihm gedacht wird. So kann Heidegger schreiben »Sein ist für Hegel die Bejahung des sich selbst pro-duzierenden Denkens«. Fraglich bleibt dann allerdings, und für unseren Gegenstand erheblich, wie das vorliegende Materielle beschaffen sein muss und warum es so beschaffen sein kann, dass sein Sein (das, was es ist) und das Denken dasselbe sein kann. Wir werden in den Anmerkungen 13 und 28 darauf zurückkommen. 6 S. 22 (Zum erweiterten Geist) Die Frage, ob der einzelne Mensch als Person nur dort existiert, wo der lebendige Körper dieser Person vorgefunden werden kann, verweist auf die Diskussion um den so genannten erwei-
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terten Geist, die in den letzten 25 Jahren intensiv geführt wurde. Michel (2016), der auch einen guten Überblick über die wichtigsten Argumente der Debatte gibt, hat darauf hingewiesen, dass die Diskussion im Kern schon viel älter ist. Zugleich hat Michel eine für uns interessante Unterscheidung gemacht zwischen Geist auf der einen und Kognition auf der anderen Seite. Er hat gezeigt, dass es sich bei den Prozessen, die Gegenstand der Diskussionen um den erweiterten Geist sind, genau genommen nur um informationsverarbeitende kognitive Prozesse handelt, die aber im engeren Sinne nicht Teil des Geistes der betreffenden Person sind. Wenn sich etwa Otto, um herauszufinden, wo sich ein Museum befindet, seines Notizbuchs bedient, so ist dies zwar ein Prozess, das externe Komponenten außerhalb des Gehirns einbezieht, die eigentlichen geistigen Prozesse aber, so Michel, bestehen zum einen in einem Inhalt (oder Gehalt), zu dem aber immer auch eine intentionale Bezugnahme (ein Modus) gehört: Otto wünscht, ins Museum zu gehen, er ist überzeugt, dass er schon einmal wusste, wo sich das Museum befindet. Michel kommt zu dem Schluss, dass das, worum es in der Debatte um den erweiterten Geist im Wesentlichen geht, nicht der Geist mit seinem intentionalen Charakter ist, sondern dass man allenfalls von einer erweiterten Kognition sprechen kann. Dem ist sicherlich zuzustimmen. Für unsere Diskussion um die Frage, ob die Existenz einer Person an den Ort des lebendigen Körpers dieser Person gebunden ist, könnte man diese Frage als zweitrangig ansehen, wenn es uns hier nicht letztlich mehr auf den intentionalen Geist, den Menschen mit Überzeugungen, Hoffnungen, Wünschen und Befürchtungen, ankäme als auf seine kognitiven Fähigkeiten. Michels Argument würde dahin deuten, dass die Existenz des Menschen als Person mit Geist eben an die örtlich und zeitlich lokalisierbare Position seines Körpers, womöglich sogar seines Gehirns, gebunden wäre. Allerdings kann man fragen, ob nicht auch die explizit mentalen Gehalte und die Intentionen, die sich darauf richten, wenigstens zum Teil außerhalb des Körpers befindlich sind und auch zeitlich von der Existenz des Körpers dieser Person entkoppelt sind. Ein Beispiel: Alice und Bob schreiben einander liebevolle Briefe. Schon in dem Moment, in dem Bob den Brief von Alice in den Händen hält, erlebt er beim Lesen die tatsächliche Sehnsucht Alices und auch seine eigene Sehnsucht nach ihr. Der Wunsch, bei ihr zu sein, wird durch das Lesen ihrer Worte geweckt und erlebt. Aber mehr noch: Die Jahre vergehen, Alice und Bob sind längst kein Paar mehr. Die Gefühle, Sehnsüchte und Wünsche sind längst vergessen. Beim Aufräumen fallen nun Alice die alten Briefe in die Hände, sie beginnt zu lesen und sofort ist, wie man so sagt, alles wieder da, sowohl Bob samt seiner Liebe als auch die alte Sehnsucht und die alten Wünsche sind buchstäblich wieder gegenwärtig. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Bob und Alice sind verstorben, und die Urenkel bekommen die Briefe in die Hände: Auch für sie werden die Wünsche und die Personen,
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nüchtern gesagt, die intentionalen Gehalte samt ihrer Modi des Wünschens, des Sehnens, des Hoffens gegenwärtig. Den gleichen Effekt können bekanntlich Filme, Fotografien, Romane, Geschenke und anderes hervorrufen. In diesen Fällen geht es ganz offensichtlich nicht um kognitive Prozesse, die mit Hilfe externer Vehikel ausgeführt werden, sondern es geht tatsächlich um geistige Inhalte in einem ganz ursprünglichen und engen Sinne. Meine eigenen früheren Wünsche, Hoffnungen, Sorgen und Absichten können durch externe Komponenten wieder aktualisiert werden, und sie wären ohne diese Komponenten für immer verloren. Mehr noch: Mein Geist kann im Geist eines anderen wieder aufleben, ganz unabhängig von meiner Gegenwart, auch lange nach meinem Tode. So verstanden ist die Existenz eines Menschen eben nicht an sein körperliches Leben gebunden. Die genannten Beispiele mögen den Eindruck erwecken, dass eine solche geistige Existenz über Räume und Zeiten hinaus besonderen, künstlerisch begabten Menschen vorbehalten wäre. Aber das ist mitnichten der Fall. Ganz unabhängig davon, dass auch in dem schlichtesten Geschenk und in der einfachsten Zeile der Geist eines sehnsüchtigen und hoffenden Menschen enthalten ist, können wir das gleiche Phänomen ja auch an vielen anderen Beispielen des Alltags beobachten. Was ich am Abend essen möchte, erfahre ich womöglich erst angesichts des Angebotes im Markt oder beim Lesen der Speisekarte im Restaurant. Fühle ich mich vorher unschlüssig, weiß ich durch eine externe Information plötzlich sehr genau, dass ich heute gerade auf dieses Gericht Appetit habe. Womöglich weckt ein altes Foto, das ich bei einem Essen gemacht habe, den Wunsch, genau dieses Essen in genau diesem Restaurant erneut zu verspeisen. Fotografien von Urlauben und anderen Menschen sind überhaupt Hilfsmittel, um intentionale geistige Gehalte zu aktualisieren. Michel könnte hier zwar einwenden, dass die Fotografien nur Vehikel des Erinnerns sind, das eigentliche Wünschen und Sehnen aber dann doch wieder im Kopf stattfindet. Aber zum Erleben des Wünschens gehört eben nicht nur das, was dabei im Kopf passiert, sondern auch das behutsame Blättern im alten Fotoalbum und das Berühren des Briefpapiers. Und jede eingerichtete Wohnung enthält den Geist eines Menschen, sein Wohlbehagen und seine Wünsche, er kann selbst, nach längerer Abwesenheit, darin wiederfinden, wovon er nicht wusste, dass er es vermisst hat, und andere werden, unabhängig davon, ob er selbst anwesend ist oder nicht, den Geist des Besitzers in den Räumen spüren können. 7 S. 23 (Zur Intentionalen Einstellung) Zur Begründung der Existenz von Institutionen aufgrund ihrer Intentionen können wir die Diskussion zur Intentional Stance im Anschluss an Dennett (1981) anknüpfen. Dennett hat gezeigt, dass es sinnvoll ist, bestimmte Objekte so zu beschreiben und zu verstehen, dass angenommen wird, dass sie, wie einzelne Menschen,
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Intentionen (Wünsche, Absichten, Sorgen, Befürchtungen) haben. Dies bezeichnet Dennett als die Intentionale Einstellung. Oft ist es sinnvoll, so Dennett, Objekten Intentionen zuzuschreiben, um effektiv und erfolgreich mit ihnen umgehen zu können. Das kann für Tiere gelten, aber auch etwa für technische Geräte. Wir können selbstverständlich voraussetzen, dass eine notwendige Bedingung für die Zuschreibung von Intentionen zu einem Ding ist, dass dieses Ding überhaupt existiert. Die Annahme von Intentionen, ob gerechtfertigt oder nicht, setzt sie Sicherheit darüber voraus, dass das Objekt, dem Intentionen zugeschrieben werden, auch wenigstens da ist. Toleffsen (2002 und 2004) hat sich aus einer solchen Perspektive mit Organisationen beschäftigt. Sie hat gezeigt, dass es oft Organisationen und nicht die handelnden Einzelpersonen sind, die tatsächlich Überzeugungen haben, die als Quellen von Rationalität aufgefasst werden können oder sogar müssen, und dass diese Rationalität nicht den Menschen in den Organisationen, sondern den Organisationen selbst zugeordnet werden müssen. In den Regeln und in der Regeleinhaltung innerhalb der Organisationen, in ihren Statuten und Vorschriften kommt diese Rationalität zur Geltung. Somit müssen wir den Organisationen auch eine Existenz unabhängig von der Existenz der einzelnen Personen, die die Organisation bilden, zubilligen. 8 S. 23 Die Anspielung auf den Begriff des Gestells bei Heidegger (2000, 20) ist hier nicht zufällig. 9 S. 23 Taylor (2013) hat das Entstehen einer religiösen Gemeinschaft aus der besonders intensiven religiösen Erfahrung des Stifters beschrieben. 10 S. 24 (Zur Existenz theoretischer Entitäten) Feyerabend (1978) hat den Unterschied zwischen der Beobachtbarkeit der Gegenstände des Alltages und der Nicht-Beobachtbarkeit theoretischer Entitäten analysiert, um eine Begründung für die realistische Deutung wissenschaftlicher Theorien zu liefern. Seine Argumentation ist in unserem Zusammenhang interessant, weil sie verschiedene Aspekte der Abgrenzung der Existenz von Alltagsgegenständen zur Existenz theoretischer Entitäten beleuchtet, die das illustrieren, was in diesem Buch diskutiert wurde. Die Argumentation Feyerabends lässt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Um die Existenz theoretischer Entitäten überhaupt infrage stellen zu können, muss man einen Unterschied zwischen theoretischen Begriffen und Beobachtungsbegriffen annehmen. Feyerabend geht zunächst davon aus, dass dieser Unterschied in der unterschiedlichen Beobachtbarkeit der Entitäten, die mit Beobachtungsbegriffen belegt werden, und den Entitäten, die mit theoretischen Begriffen belegt werden, liegt. Feyerabend meint dann zeigen zu können, dass ein solcher Unterschied nicht existiert. Da aber die Existenz der Alltagsgegenstände außer Frage steht, ist nach Feyerabend damit auch die Existenz der theoretischen Entitäten gezeigt. Wie geht Feyerabend im Einzelnen vor, um diese Folgerung ziehen zu
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können? Zunächst trifft er eine Unterscheidung zwischen Beobachtungsbegriffen und theoretischen Begriffen: »ein Begriff ist ein Beobachtungsbegriff, wenn man über den Wahrheitswert eines singulären Satzes, der entweder nur diesen Begriff oder der ihn zusammen mit anderen Beobachtungsbegriffen enthält, schnell und auf Grund von Wahrnehmungen allein zu einer Entscheidung kommen kann […] Ein Begriff ist ein theoretischer Begriff, wenn zur Entscheidung des Wahrheitswertes eines singulären Satzes, der ihn enthält, außer Beobachtungen auch noch Theorien notwendig sind. […] Das Problem der Existenz theoretischer Entitäten kann nun so formuliert werden: gibt es Dinge, die den theoretischen Begriffen entsprechen … oder dürfen theoretische Begriffe nicht als Begriffe aufgefasst werden, die sich auf existierende Gegenstände beziehen?« (Feyerabend 1978, 49) Feyerabend versucht nun, anhand verschiedener Beispiele nachzuweisen, dass auch für theoretische Begriffe das Kriterium der direkten Entscheidbarkeit ohne Hinzuziehung von Theorien gegeben ist, oder dass man streng genommen auch für Begriffe der Beobachtungssprache Theorien benötigt. Allerdings sind die Beispiele Feyerabends hier nicht immer nachvollziehbar gewählt beziehungsweise dargestellt. Wenn er z. B. von einem Elektriker berichtet, der direkt und ohne über die Funktion des Voltmeters nachzudenken eine elektrische Spannung bestimmt, kleinere Spannungen vielleicht mit dem angefeuchteten Finger und noch kleinere mit der Zunge, so übersieht er eben, dass der Beobachtung Entscheidungen vorausgehen (eben welche Art der Prüfung zu wählen ist) und dass genau diese Entscheidungen aus der Theorie begründet sind, die die elektrische Spannung genau in diesem Moment, da Feyerabend eine direkte Beobachtung konstatierten will, zu einer theoretischen Entität mit einer sehr differenzierten und durchdachten Anwendung macht. Wenn Feyerabend dann umgekehrt zeigen will, dass auch Begriffe der Alltagssprache als theoretische Begriffe aufgefasst werden können, indem er die Situation der Prüfung des Gewichtes eines Koffers mit der Beobachtung des Schwerefeldes der Erde gleichsetzt (Feyerabend 1978, 43–44), berücksichtigt er nicht, dass beim Anheben eines Gegenstandes im Alltag niemals das Schwerefeld der Erde beobachtet wird, da der Beobachter dazu die Theorie der Schwerkraft und des Gravitationsfeldes bereits haben müsste, sondern dass der Beobachter immer das Gewicht des Gegenstandes als eine Eigenschaft des Gegenstandes betrachten und beobachten wird. Die Tatsache, dass Feyerabend in seinen Beispielen immer wieder verschiedene Ebenen der Beobachtung miteinander vermischt, macht das Nachvollziehen seiner Argumentation schwer. Das zeigt sich schon am Beginn seines Aufsatzes, wenn er schreibt: »Während ein Blick genügt, um festzustellen, ob der Tisch in meinem Büro braun ist, bedarf es komplizierter Messgeräte sowie der Verwertung der Ablesungen an diesen Geräten auf Grund von physikalischen Theorien, wenn man feststellen will, ob es
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da auch elektrische Felder gibt, wie stark sie sind und welche Eigenschaften sie besitzen.« (Feyerabend 1978, 40) Betrachtet man diese Beobachtungsbeispiele genauer, fällt auf, dass Feyerabend sowohl für den Tisch als auch für das elektrische Feld drei Beobachtungs-Ergebnistypen in einem Atemzug nennt, die auf jeden Fall einzeln betrachtet werden müssen: 1. Die Beobachtung, dass da ein Einzelding ist. 2. Die »Beobachtung«, dass dieses Einzelding zu einer bestimmten Klasse von Dingen (Tische, elektrische Felder) gehört. 3. Die Beobachtung von bestimmten Eigenschaften dieser Einzeldinge, die hinsichtlich der Zugehörigkeit des Gegenstandes zu der genannten Klasse kontingent sein können (der Tisch ist braun) oder zu den wesentlichen Bestimmungen der Gegenstände dieser Klasse gehören (die Stärke des elektrischen Feldes) Die ersten beiden Punkte haben wir im Abschnitt Die Dinge in Zeit und Raum ausgiebig diskutiert. Hält man diese drei Beobachtungsarten auseinander, kommt man auch bei der Untersuchung von Feyerabends Beispielen zu folgenden Ergebnissen: 1. Für die Entscheidung, dass da Einzeldinge sind, kann man tatsächlich mit Feyerabend nachweisen, dass die Unterschiede zwischen Alltagsbegriffen und theoretischen Begriffen bei genauer Betrachtung verschwinden. Allenfalls die Sinne, auf die diese Einzeldinge wirken, werden unterschiedlich stark angesprochen. Bei Alltagsbegriffen, so könnte man zunächst vermuten, wird weit öfter und stärker der Gesichtssinn verwendet, während bei der Wahrnehmung theoretischer Entitäten als vorhandener Einzeldinge öfter der Tastsinn, der Gleichgewichtssinn usw. angesprochen werden. Der Elektriker spürt, dass da etwas ist, wenn er mit dem Finger oder der Zunge den elektrischen Leiter berührt. 2. Komplizierter wird es, wenn man die Beobachtung als Einordnung des Einzeldings in eine Gegenstandsklasse auffasst: »Da ist ein Tisch«, »Da sind Atome« oder »Da ist elektrischer Strom«. Zunächst scheint es, dass die Unterscheidung zwischen Alltags-Entitäten und theoretischen Entitäten hier entlang der praktischen alltäglichen Relevanz des Gegenstandes erfolgen könnte: Alltagsentitäten werden Begriffsklassen zugeordnet, die ihre Verwendung oder ihre Wirkung in der praktischen Alltäglichkeit zeigen, was für theoretische Entitäten nicht gilt. Der elektrische Strom wäre dann als theoretische Entität aufzugeben (hier wäre Feyerabend im Ergebnis zu folgen), was jedoch kein grundsätzliches Problem ist, Atome, elektrische Felder, Gravitationsfelder usw. würden jedoch als theoretische Entitäten anzusehen sein. Es ist dann allerdings nicht auszuschließen, auch hier ist Feyerabend im Ergebnis zu folgen, dass die Grenze zwischen theoretischen Entitäten und Alltagsentitäten sich durch Lernen und neue Anwendungen verschiebt.
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3. Anders stellt sich die Beobachtung von Eigenschaften der Entitäten dar. Hier fällt, wenn man Feyerabends Beispiele untersucht, auf, dass wir bei Alltagsentitäten immer auch Eigenschaften beobachten, die hinsichtlich der Zuordnung zur Entitätenklasse kontingent sind: dass der Tisch braun ist, ist für seine Eigenschaft als Tisch unwesentlich. Für theoretische Entitäten beobachtet man aber immer nur Eigenschaften, die für die Zugehörigkeit zur Klasse wesentlich sind. Das gilt sowohl für die Stärke des Stromes als auch für seine Wellenlänge, das gilt für die Zahl der Protonen in einem Atom genauso wie für die Stärke des Gravitationsfeldes. Das Kriterium der Beobachtbarkeit, welches Feyerabend zur Unterscheidung theoretischer Entitäten von denen des Alltages zulässt, kann auf diese Weise neu formuliert werden: Während wir für Gegenstände des Alltages immer auch Eigenschaften beobachten, die für die Zuordnung des Einzeldings zu einer Klasse (als die das Einzelding beobachtet wird) kontingent sind, werden bei theoretischen Entitäten immer genau die Eigenschaften beobachtet, die für die Zuordnung zur Entitätenklasse wesentlich sind. 11 S. 25 (Existenz und Handeln) Den bekanntesten Beitrag, der für uns hier auch von besonderem Interesse ist, hat Hacking (1996) in seiner »Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften« geleistet. Hacking ist in diesem Werk der Ansicht, dass die Wissenschaftstheorie sich bisher zu sehr mit dem darstellenden Aspekt der Wissenschaft, den Theorien, beschäftigt und den Handlungsaspekt, die Experimente, vernachlässigt hat. Schon in der Einleitung macht Hacking deshalb deutlich, dass er den Standpunkt vertritt, dass »die experimentelle Forschung ein Eigenleben führt, das in höherem Maße unabhängig ist von der Theorie, als normalerweise eingeräumt wird«. Hacking nennt diese These seinen »antitheoretischen Ausgangspunkt« (Hacking 1996, 10). Die nicht beobachtbaren Entitäten, die in Theorien angenommen werden, um beobachtbare Phänomene zu erklären, werden von Hacking quasi aus dem Dunkel der Theorie herausgeholt und ins Licht des Experiments gestellt. Was Hacking dazu allerdings leisten muss, ist zu zeigen, dass diese Entitäten, die sich im Handeln des Experimentators zeigen, auch jene theoretischen Entitäten sind, die von den Theorien zur Erklärung der Phänomene als existierend vorausgesetzt werden. Die Frage nach der Existenz der theoretischen Entitäten bekommt damit eine neue Dimension, sie wird zur Frage der Existenz der (nicht beobachtbaren) Werkzeuge des experimentellen Handelns. »Nicht weil die Elektronen Bausteine wären, sind wir dazu berechtigt, von ihrer Wirklichkeit zu sprechen, sondern weil wir wissen, dass sie ganz bestimmte Kausalkräfte aufweisen«, schreibt Hacking (1996, 69), und noch pointierter, ebenfalls bezogen auf Elektronen: »Wenn man sie versprühen kann, sind sie real« (1996, 47). Hacking rechtfertigt also seine Ansicht, dass Elektronen existieren, damit, dass er die offensichtliche Möglichkeit aufzeigt, dass man mit Elektro-
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Anmerkungen
nen etwas machen kann, dass man ihre kausalen Kräfte dazu nutzen kann, um experimentell in die Welt einzugreifen. Wir behaupten Existenz oder gehen davon aus, dass die Gegenstände der Wissenschaften wirklich existieren, weil wir mit ihnen auf dieser Basis handelnd in die Welt eingreifen können. Hacking begründet seinen Überzeugung, dass die nicht direkt beobachtbaren Entitäten existieren, also damit, dass es dem Wissenschaftler möglich ist, durch die erkannten kausalen Kräfte der Entitäten diese wiederum im Experiment einzusetzen, um neue Effekte zu produzieren. Hervorzuheben ist, dass Hacking eine ganz bestimmte Methode, Existenzaussagen zu rechtfertigen, in den Mittelpunkt stellt: Er spricht von der Existenz einer Entität, wenn es uns mit ihrer Hilfe gelingt, uns in einem bestimmten Handlungsumfeld zurecht zu finden und die Entitäten als Werkzeuge, als Instrumente für dieses Zurechtfinden und für das aktive Hervorbringen neuer Effekte einzusetzen. Sein Realismus ist also ein ganz pragmatischer: Wenn der Experimentator die nicht beobachtbaren Entitäten verwenden kann, um Effekte zu produzieren, dann wird in dieser Handlung offenbar die Existenz der Entität, die da benutzt wird, vorausgesetzt – und sie kann in allen wissenschaftlichen Handlungen und theoretischen Überlegungen, die auf dieser Nutzung aufbauen, auch nicht mehr geleugnet werden. 12 S. 27 (Vorhersageinstrument statt Existenz) Naturwissenschaften müssen nicht zwingend voraussetzen, dass die Dinge, die sie zur Erklärung der Beobachtungen nutzen, auch wirklich existieren, weder im Sinne von Feyerabend noch im Sinne von Hacking. So hat etwa van Fraassen das Argument entwickelt, dass es nicht auf die buchstäbliche Wahrheit der Theorie ankomme, sondern darauf, dass Theorien empirisch adäquat seien. Den realistischen Standpunkt kennzeichnet er folgendermaßen: »Science aims to give us, in its theories, a literally true story what the world is like; and acceptance of a scientific theory involve the belief that it is true.« (van Fraassen 1980, 8) Trotz der wichtigen Rolle, die der Realismus in der Wissenschaftstheorie van Fraassen zufolge im 20. Jahrhundert für das Verständnis des Wissenschaftlichen gespielt hat, steht er angesichts der Entwicklung gerade der Physik vor einer Reihe von Problemen. Das gilt insbesondere, da Theorien Entitäten zur Erklärung der Beobachtungen einführen, die selbst einer unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich sind, wie etwa Elementarteilchen, Felder u. Ä. Da sich deren Existenz nicht ohne die Zuhilfenahme der Theorien selbst nachweisen lässt, ist über die Wahrheit oder die Wahrheitsnähe der Theorien kein sicheres Urteil möglich. Van Fraassen hält das jedoch auch gar nicht für notwendig. Theorien müssen nicht wahr sein, es ist ausreichend, dass sie empirisch adäquat sind. Dem realistischen Standpunkt setzt er einen hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der Theorien instrumentalistischen entgegen: »Science aims to give
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Anmerkungen
us theories which are empirically adequate; and acceptance of a theory involves as belief only that it is empirically adequate.« (1980, 12) Empirisch adäquat bedeutet, dass die Theorie die tatsächlich empirisch beobachtbaren Phänomene erklären kann, dass sie Aussagen über beobachtbare Objekte oder Ereignisse enthält und dass diese Aussagen wahr sind (ebd.). Wobei das Wort »erklären« hier dann nicht mehr bedeutet, als dass die empirisch beobachtbaren Phänomene eben auch aus der Theorie geschlussfolgert werden können. 13 S. 28 (Existenz und Bedeutung) Die alte Frage der Philosophie »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts« wird oft in einer viel zu einfachen Weise verstanden, auch wenn es um die Existenz Gottes geht, der als Antwort auf diese Frage gesehen wird. Genau besehen ist das Verwunderliche nicht, dass irgendwas »da ist«, dass Materie im Universum vorfindlich ist (wir werden auf diese Deutung der Frage in der Anmerkung 28 zurückkommen). Verwunderlich ist, dass das, was »da ist«, eben etwas ist, und nicht nichts. Dass das da draußen »ein Baum« ist, dass dort, genauer betrachtet, Stamm, Wurzeln, Äste und Blätter sind, die auf bestimmte Weise zusammenspielen, dass wir bei genauerem Hinsehen dann bemerken, dass da Zellen sind, aus denen der Baum mit seinen Bestandteilen wieder besteht, und so fort, das ist das bemerkenswerte, das uns ins philosophische Staunen versetzt – und zwar gar nicht in dem Sinne, dass all dies irgendwie Bestandteile oder Ergebnisse eine selbstorganisierenden Materie sind, sondern dass all dies eben Bedeutungen hat, und zwar auf jeder Ebene der Betrachtung, sei es der Baum im Ökosystem des Waldes und der Wald im klimatischen System der Erde oder seien es die Blätter, die Bedeutung für den Baum haben im Zusammenspiel mit den Kanälen, die den Baum von den Blättern bis hin zu den Wurzeln durchziehen. Die Frage, die die obige Grundfrage der Philosophie, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts, aufwirft, ist zunächst gar nicht die nach der Materialität dessen, was da ist, überhaupt, sondern danach, warum alles, was ist, eben in etwas gliedert, das wir als vernünftige Wesen als bedeutsam auffassen können oder sogar müssen,und warum es nichts gibt, wofür sich keine Bedeutungen finden lassen, was also nichts ist. Alles, was ist, zergliedret sich in vieles, das etwas ist und hat als dieses Etwas Bedeutung in seiner Umgebung im Zusammenspiel mit anderem, das auch etwas ist. Die Grundfrage müsste deshalb genauer formuliert werden: Warum ist offenbar alles, was ist, auch etwas, warum ist kein Ding nichts (in dem Sinne, dass es keinerlei Bedeutung hat). Man könnte nun vermuten, dass diese scheinbar unhintergehbare Tatsache, dass alles, was da ist, eben auch etwas ist, nur durch unsere menschliche Sicht auf die Welt so erscheint, dass all das nur für uns so scheint, als ob es etwas ist, dass wir mit unserer begrenzten und spezifisch menschlichen Vernunft es sind, die den Dingen, die eigentlich bedeutungslos sind,
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Anmerkungen
Bedeutung geben (oder zuschreiben). Es wäre dann sozusagen unserem endlichen Weltverstehen geschuldet, dass wir meinen, dass die Dinge auf den verschiedenen Ebenen Bedeutungen haben. Wir sind es, würde man dann sagen, die die Dinge als etwas auffassen, das sie in Wirklichkeit gar nicht sind. Stellen wir uns aber einmal vor, dass wir mit einer anderen Spezies zusammentreffen, die womöglich sogar technologisch weit fortgeschrittener wäre als wir, die aber einen Baum nicht als etwas (eben als Baum) auffassen könnte, Gebirge nicht als Gebirge, Planeten nicht als Planeten und so fort. In allem würden die Zugehörigen der anderen Spezies nur die mikrophysikalischen elementaren Prozesse sehen, die ihnen unmittelbar einleuchten. Gesetzt sogar, dieser Fähigkeit wäre ihr enormer technologischer Fortschritt zu verdanken. Trotzdem würden wir Menschen doch meinen, dass ihnen etwas entgeht, wenn sie einen Stern eben nicht als Stern ansehen könnten, der von Planeten umkreist wird, wenn sie den Baum nicht sehen könnten, der zusammen mit anderen Bäumen einen Wald bildet, wenn sie nicht mal die Photosynthese in den Blättern als tatsächlich ablaufenden Prozess sehen würden, sondern nur die ganz basalen elementaren physikalischen Prozesse (wenn es diese überhaupt gibt). Es ist natürlich sogar fraglich, ob eine solche Spezies überhaupt technologische Leistungen vollbringen könnte, denn dazu gehört zweifellos, wenigstens einiges in der Welt als etwas mit Bedeutung ansehen zu können, etwa bestimmte Stoffe als Raketentreibstoff. Aber angenommen, sie könnten genau das, nämlich bestimmtes Nützliches als etwas Nützliches betrachten, dann wären wir doch sicher, dass ihnen vieles Wahre entgehen würde, wenn sie all das andere nicht als das ansehen könnten, was es ist, etwas im Wechselspiel des Universum Bedeutsames, das unabhängig davon, ob es etwas Nützliches ist, etwas ist. Es ist also offensichtlich, dass die Welt in ihren Teilen nicht nur von uns Menschen zufällig so aufgefasst werden kann, dass diese Teile etwas mit Bedeutung sind, sondern dass die Welt selbst eben aus diesen Dingen besteht, die immer auch etwas sind – unabhängig davon, ob wir schon erkannt haben, was dies ist, oder nicht. 14 S. 29 (Körper vs Leib) Im Anschluss an Merleau-Ponty (1974) kann man natürlich einwenden, dass ich zwar nicht mein Körper bin, aber doch mein Leib, und zwar in dem Sinne, dass alle Erfahrung, alles Erleben und auch alles Handeln leiblich sind. Es ist das Druckempfinden meiner Finger auf der Tastatur, das mir die Gewissheit gibt, dass ich die Buchstaben dieses Textes wirklich geschrieben habe, zudem die Sehfähigkeit meiner Augen, beides natürlich im leiblichen Erleben, nicht als körperliche Signale von Werkzeugen oder Sensoren. Wenn ich sage: »Ich schreibe gerade an diesem Buch«, dann ist das, was ich damit beschreibe, ein leibliches Handeln, in dem physisches und mentales Geschehen als Gesamterlebnis erfahren werden.
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S. 29 (Zur Kritik am »Introspektionsprivileg«) Pauen (2016) hat das so genannte Introspektionsprivileg, welches besagt, dass der Mensch über seine eigenen Empfindungen grundsätzlich selbst am besten Bescheid weiß, angegriffen und nachweisen wollen, dass es möglich ist, dass Dritte von außen sichereres Wissen über die Empfindungen eines Menschen haben können als dieser selbst. Pauen bedient sich dazu so genannter Zombie-Gedankenexperimente, die in den letzten Jahrzehnten vor allem in der analytischen Philosophie sehr beliebt geworden sind. Diese Gedankenexperimente sagen jedoch nichts über den Menschen, da die Menschen nun einmal keine Zombies sind – mehr noch, sie sagen nichts über selbstbewusste Wesen überhaupt, da diese nun einmal die entscheidende Eigenschaft der Zombies, kein Selbstbewusstsein zu besitzen, nicht teilen. 16 S. 32 Ausführlich hat das Nagel (2012) dargestellt. Auch Rohs (2016) argumentiert im Anschluss an Tetens (2015) überzeugend in diese Richtung. 17 S. 32 (Sprache erschafft Bedeutung) Taylor (2017), hat den entscheidenden Unterschied zwischen der Sprache der Menschen und den sprachlichen Äußerungen von Tieren darin erkannt, dass die Menschen mit ihrer Sprache Bedeutungen erschaffen, die in der Welt zuvor gar nicht existieren. Menschliche Sprache gibt nicht nur den materiellen Dingen in der Welt Sinn, sie schafft in sich selbst und aus sich heraus Sinn. Sprache macht eben weit mehr, als Dinge oder Prozesse in der Welt zu bezeichnen. Wittgenstein und Heidegger, an die Taylor anschließt, haben beide die schöpferische Kraft der Sprache und die ganze Vielfalt des wirklichen, alltäglichen Sprechens gesehen, und jeder von ihnen hat auf seine Weise davon gesprochen, dass diese Vielfalt, die sich in kein Korsett der formalen Logik zwängen lässt, das menschliche Sprechen, Denken und Weltverstehen ausmacht – mehr noch, dass es gerade dieses schöpferische, vielfältige Denken ist, das die Welt nicht nur verstehbar macht, sondern eine völlig neue Welt, in der der Mensch zu Hause ist, erst schafft. Taylor zeigt, dass die Fähigkeit des Menschen, eine bildhafte, metaphorische Sprache zu verwenden und zu verstehen, überhaupt die Voraussetzung jeglicher wirklich menschlicher, gesellschaftlicher Sprache ist. Gerade unser Vermögen, die neuen Bedeutungen zu verstehen, die aus dem »Verstoß« gegen Regeln und der kreativen Erweiterung und Verlagerung von Wortbenutzungen entstehen, macht uns zu Menschen, die sich mit der Sprache eine Welt schaffen. Unsere menschliche Gesellschaft wäre ohne diese konstitutive Kraft der Sprache gar nicht möglich. Die schöpferische Kraft des Menschen, so können wir im Anschluss an Taylor für uns festhalten, wird zuallererst nicht in den materiellen Dingen sichtbar, die der Mensch erzeugt, sondern in seiner Sprache, die eine neue Welt schaffen kann. Dass die schöpferische Kraft des Worts auch in heiligen Schriften betont wird, können wir als Hinweis darauf verstehen, dass diese Schriften tatsächlich von einem unendlichen
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Anmerkungen
Geist inspiriert sind, auch wenn sie von Menschen geschrieben worden sind. 18 S. 32 (Zur ökonomischen Erklärung der Kooperation) Axelrod (1987) war der erste, der die Evolution der Kooperation systematisch mit mathematischen Modellen untersucht hat. Er hat gezeigt, dass es ökonomische Bedingungen gibt, bei denen auf lange Sicht kooperatives Verhalten erfolgreicher ist als bloßes eigennütziges Handeln. Ökonomisch bedeutet hier, eine auf Nutzen und Aufwand bezogene Abwägung des eigenen Handelns durchzuführen. Axelrod hat Situationen untersucht, bei denen der eigene Nutzen von den ökonomischen Erwägungen anderer abhängt und zugleich jeder diese Erwägungen der anderen in die eigene Entscheidung einbeziehen kann. Es lassen sich dann plausible Handlungssituationen konstruieren, bei denen ein kooperatives Verhalten zweier Handelnder für beide zwar das beste Ergebnis liefern würde, beide sich aber gegen die Kooperation und für den Eigennutz entscheiden werden, wenn sie die Überlegungen des anderen mit einbeziehen. Diese Situation wird als Gefangenendilemma bezeichnet, weil das erste Beispiel, welches dafür immer wieder diskutiert wird, von zwei Gefangenen erzählt, die einer gemeinschaftlichen Straftat bezichtigt werden. Würden sie beide leugnen, dann könnte man ihnen nichts beweisen und sie würden freigesprochen werden. Man kann die Strafandrohung aber so konstruieren, dass sich beide für das Geständnis entscheiden, weil sie sich nicht darauf verlassen können, dass der andere auch leugnet. Die entscheidende Erkenntnis von Axelrod ist nun, dass dies nur gilt, wenn es nur eine einmalige Entscheidungssituation gibt. Wenn hingegen die handelnden Personen Erfahrungen machen können, weil sie mehrfach in solche Entscheidungssituationen kommen, und wenn sie diese Erfahrungen in ihre Entscheidungen einbeziehen, dann können Strategien, die Kooperation bevorzugen, erfolgreicher sein. Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Die einfachste Strategie dieser Art ist: »Wie du mir, so ich dir« – wer dieser Strategie folgt, kooperiert beim ersten Versuch und macht beim zweiten Versuch immer das Gleiche wie das, was der andere beim vorigen Mal gemacht hat. Wenn zwei Personen mit dieser Strategie aufeinandertreffen, werden sie immer kooperieren und somit das beste Ergebnis erzielen. Man kann auf diese Weise also Kooperation erklären, ohne auf irgendwelche außerökonomischen Eigenschaften von Menschen zurückgreifen zu müssen. Allerdings hat diese Erklärung einige wichtige Grenzen. 1. Sie lässt sich überhaupt nur auf ökonomische Situationen anwenden, bei denen es ausschließlich auf die Erzielung eines Nutzens ankommt, der gegen den Aufwand und das Risiko von Kooperation oder Eigennutz aufgerechnet werden kann. Situationen, in denen es solche Maßstäbe nicht gibt, können nur durch künstliche theoretische Ökonomisierung abgebildet werden.
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Anmerkungen
2. Sie setzt voraus, dass die Beteiligten wissen, dass es zukünftig weitere Entscheidungssituationen gibt, bei denen sie das Wissen aus den Erfahrungen nutzen können und wollen. 3. Sie setzt voraus, dass es gar keine außerökonomischen Beweggründe gibt, die die Menschen zu einem bestimmten Handeln veranlassen. Nicht nur benötigt sie diese Beweggründe nicht, sie muss auch annehmen, dass es etwas wie Sympathie für den anderen, Freude am Handeln oder Gewissen überhaupt nicht gibt oder dass es die Entscheidung jedenfalls nicht beeinflusst. Eine wirkliche Erklärung wäre Axelrods Prinzip der Evolution der Kooperation also nur in einer durch und durch ökonomisierten Welt, in der tatsächlich alles auf Nutzen abzielt und ausschließlich in der Kosten-Nutzens-Verrechnung bewertet und entschieden wird. Es ist für das ökonomische Handeln sicherlich gut, zu verstehen, dass sich Kooperation als vernünftige Strategie begründen lässt. Als Erklärung dafür, dass Menschen kooperativ zusammenwirken, genügt sie jedoch nicht. 19 S. 33 Taylor (2013) hat in seiner Untersuchung über das Religiöse in der Gegenwart in Anschluss an William James zu zeigen versucht, dass diese Gruppenerlebnisse zugunsten einer individuellen Expressivität an Bedeutung verlieren. Allerdings verweist er selbst auf den gemeinsamen Gesang im Fußballstadion. Es kann auch sein, dass er die individuelle Expressivität stark überschätzt, in der Masse möchten auch die modernen Menschen in einer Gemeinschaft Gemeinsamkeit erleben. 20 S. 33 (Zum Geviert bei Heidegger) Heidegger (2000, 180) hat die Spannung zwischen der Endlichkeit des menschlichen Tuns und der Unendlichkeit der Bedeutsamkeit im Geviert beschrieben. Das Ding, von den Sterblichen geschaffen, die wir Menschen sind, reicht in seiner Bedeutsamkeit in das Göttliche hinein, gehalten von der Erde, also dem Materiellen, das als stoffliche Quelle des Dings dient, und dem Himmlischen, dem, was als unveränderlich gegeben in seinen Regelmäßigkeiten gesetzt ist. Um die Bedeutung des Gevierts für die hier verhandelten Fragen zu verstehen, müssen wir uns seine Bedeutung neu aneignen. Zur Erde zählt Martin Heidegger alles, was uns auf der Erde begegnet und was uns angeht, mit dem wir umgehen. Umgehen, das heißt auch, verändern. Die Erde ist uns ausgesetzt, sie steht unter dem praktischen Einfluss des Menschen. Darum kann Heidegger auch sagen, der Mensch muss die Erde retten. Der Mensch gestaltet die Erde. Deshalb gehört zur Erde nicht nur das, was wir anfassen können, nicht nur das Feste, die Pflanzen, das Wasser. Zur Erde gehört alles, was uns dient und in diesem Dienen verbraucht oder verändert wird. Heidegger schreibt: »Die Erde ist die dienend Tragende« (151). Offenbar erweitert sich der Bezirk der Erde ständig. Für Heidegger mag die Luft und das Wasser noch nicht zur Erde gehört haben, für uns heute gehören sie dazu.
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Anmerkungen
Die Erde dauert, sie ist der Stoff und der Stoff ist von Dauer, aber er ändert durch die menschliche Praxis seine Gestalt, seine Eigenschaften. Was steht der Erde als Gegenpol in einer Dichotomie gegenüber? Es ist gerade das, was unserem praktischen Eingriff nicht ausgesetzt ist, was sich unter der menschlichen Praxis nicht verändert, was wir aber auch nicht retten können. Wir können den Namen Himmel dafür wählen, weil vieles von dem, was dazu gehört, tatsächlich in den Blick kommt, wenn wir nach oben schauen, es sind die Abläufe, die auch Heidegger nennt, die Drehung der Erde, das Strahlen der Sonne. Aber zu dem, was unserem Handeln nicht ausgeliefert ist, dem vielmehr wir ausgeliefert sind, gehört noch mehr, auch wenn sein Bezirk scheinbar allmählich kleiner wird. Es gehören dazu die Vorgänge in den Tiefen der Erde ebenso wie in den Tiefen der Atome und in den Tiefen des Lebens. All diese Abläufe unterliegen nicht unserer Macht, deshalb wollen wir sie jetzt unter dem Namen Himmel zusammenfassen, wissend, dass dieser Name zunächst irritieren muss. Aber die moderne Naturwissenschaft hat den Himmel doch schon vor langer Zeit »abgeschafft«, seitdem erwiesen ist, dass sich da keine Kuppel über unseren Köpfen spannt, ist Himmel nur noch eine romantische Metapher für das Blaue oder Graue, das wir sehen, wenn wir hinauf schauen. Nennen wir also Himmel all das, was wir nicht handelnd verwandeln können. Wir hatten gesagt, dass dieser Bezirk durch das forschende Fortschreiten des Menschen kleiner wird, und doch ist er wohl noch immer unermesslich groß, während der Bezirk der Erde begrenzt und endlich bleibt. Wir zählen zum Bezirk des Himmels auch die Prozesse in den Atomkernen und in den Zellen des Lebens. Aber hat der Mensch diese Prozesse nicht längst in seiner Gewalt? Nein, denn er kann sie zwar nutzen, so wie er die Kraft der Sonne und der Gezeiten nutzen kann, aber er kann sie nicht verbrauchen oder verwandeln. Vielleicht kann der Mensch einmal die Abläufe in dieser und jener Pflanze durch seine Manipulationen verändern, aber er wird nicht verhindern, dass eine wilde Blume blüht, dass das Laub der Eiche im Herbst welkt und dass aus einer Kaulquappe ein Frosch wird. Wir erkennen an diesen Beispielen, so unvollkommen und missverständlich sie sind, was den Bezirk des Himmels eigentlich ausmacht. Es sind die Gesetze der Natur, denen alles unterworfen ist, auch der Mensch, auch die Erde, die der Mensch handelnd verändert. Diese Gesetze – und wir meinen damit nicht das, was die Naturwissenschaften als ihre Gesetze ansehen, nicht diesen oder jenen Hauptsatz einer Lehre oder dieses oder jenes Axiom einer Theorie – bestimmen so die Regelmäßigkeit der Erscheinungen, die wir am Himmel beobachten und die unserem praktischen Zugriff tatsächlich entzogen sind. Die Gesetze der Natur können wir erkennen und verstehen, wenn wir den Himmel beobachten. Die Sterblichen, das sind wir Menschen. Die Endlichkeit des Menschen betrifft aber nicht nur das jeweilige einzelne Leben, weder das eigene noch
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Anmerkungen
das der anderen Menschen. Auch mit der Endlichkeit dessen, was der Mensch in seinem Leben schafft, muss er sich abfinden. Der Mensch vermag nicht nur, die Endlichkeit des eigenen Lebens zu akzeptieren, sondern auch die Endlichkeit seines Wirkens. Sterblich ist der Mensch nicht nur darin, dass seine jeweilige eigene Zeit begrenzt ist, auch das, was er schafft und was er bewirkt, ist endlich in der Zeit und damit auch im Raum, es ist einem Verfallen ausgesetzt. Es ist Vergängliches. Sterblich zu sein bedeutet auch, zu schaffen und zu bewirken in dem Wissen, dass die Zeit des Wirkens, auch wenn sie länger dauert als das eigene Leben, begrenzt ist, dass alles, was geschaffen wird, in endlicher Zeit wieder vergeht. Den Sterblichen setzt Heidegger die Göttlichen entgegen, sie stehen auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums, dessen eine Seite von den Sterblichen begrenzt wird. Wenn Sterbliche und Göttliche ebenso wie Himmel und Erde eine Dichotomie bilden, dann müssen die Göttlichen gerade das sein, was die Sterblichen nicht sind. Wenn die Sterblichen diejenigen sind, die das Endliche zu schaffen vermögen in dem Bewusstsein, dass es vergänglich ist, dann stehen die Göttlichen für das Unvergängliche, das, was in allem Vergänglichen fortbesteht. Auch dieses Unvergängliche entsteht im praktischen Schaffen der Sterblichen, und es begegnet uns im Leben des Menschen, aber es ist nicht durch das Leben des Menschen oder durch die Vergänglichkeit seiner Werke selbst begrenzt. Wir könnten zunächst meinen, dass das Göttliche mit dem Himmel übereinstimmt, mit den Gesetzen der Natur, die die Sterblichen erkennen und als erkannte Unvergängliche im Vergänglichen des eigenen Schaffens nutzen können. Aber im Göttlichen nennt Heidegger etwas anderes als das Himmlische. Während die Sterblichen den Himmel »empfangen«, »erwarten« sie die Göttlichen. Der Himmel wird als gegeben angenommen, zu den Göttlichen stehen die Sterblichen in einer anderen Beziehung: »Hoffend halten sie ihnen das Unverhoffte entgegen.« (152) Um die Göttlichen des Gevierts zu verstehen, müssen wir uns zuerst ganz von dem Gedanken trennen, dass Heidegger von einer Person oder gar einer Gemeinschaft von Personen spricht, die im Gegensatz zu den sterblichen Menschen eben unsterblich sind. Wir können uns jedoch fragen, was uns denn im Sprechen von solchen Göttern begegnet und warum also Heidegger den Begriff des Göttlichen nutzt, um eine Seite des Gevierts, einen Pol im Spektrum, das auf der anderen Seite von den Sterblichen begrenzt wird, zu benennen. An anderer Stelle, in einer der »Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung« unter dem Titel »Hölderlins Erde und Himmel« schreibt Heidegger (2012, 168): »Das Rufen der Sänger ist ein Hinausschauen zur Unsterblichkeit, d. h., zur Göttlichkeit, die sich ins Heilige birgt.« Das heißt, das Göttliche ist anders mit dem menschlichen Handeln verknüpft als das Himmlische.
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Anmerkungen
Das Himmlische, als das Gesetzliche, das Gesetzte, bildet für den Umgang des Menschen mit der Erde den Rahmen und die Grenze der Möglichkeiten. Als dieser Rahmen ist das Gesetzte wie das Verfügbare dem Menschen zeitlos vorgegeben. Das Göttliche hingegen erscheint erst im Handeln des Menschen, mit seinem Handeln versucht der Mensch, in das Unsterbliche hineinzureichen. Was ist das Unsterbliche, was der Mensch in seinem Handeln, im Herstellen des Endlichen, zu erreichen oder zu erblicken versucht? Es ist das, was wir den Sinn oder die Bedeutung des Handelns nennen. Die Bedeutungen der Dinge und der Handlungen sind es, die im Endlichen des Hergestellten über das Hergestellte hinausweisen, die dem Handeln Sinn und Wert geben. In diesen Bezirk gehören auch die ästhetischen und moralischen Normen, das Schöne und das Gute, die im Herstellen und Handeln der Menschen erscheinen. Dieses Bedeutsame ist das, was uns anrührt im Anblick dessen, was wir herstellen, und im Erleben dessen, was wir tun. Es ist das, was die Endlichkeit des eigenen Lebens und der eigenen Werke überdauert, was uns, der Intention nach, unsterblich macht. Dabei können wir eben gerade nicht selbst etwas Unsterbliches schaffen, der Mensch, jeder Mensch als Mensch, bleibt sterblich, solange er lebt. Das Gleiche gilt für die Werke, die Menschen aktuell erschaffen. Das Unsterbliche begegnet uns immer erst im Nachhinein, als Geschichte. Die Unsterblichkeit als das Bedeutsame steht gerade nicht in der Macht des sterblichen Menschen, auch wenn sie in seinem Handeln und Schaffen, vor allem aber in der Aneignung und Wiederbelebung des vormals Geschaffenen wirklich wird. In der Sicht unserer Betrachtung zum plausiblen Gott sieht sich der sterbliche Mensch im Geviert drei Aspekten Gottes gegenüber: Da ist zum einen die materielle Welt, die dieser Gott geschaffen und als Verfügbares den Menschen (und womöglich auch anderen vernünftigen Wesen im Universum) als schöpferischen Geschöpfen anvertraut hat: die Erde. Sodann ist da die Regelmäßigkeit der materiellen Gesetze, welche die Menschen erkennen, verstehen und für ihre Schöpfungen nutzen können. Schließlich aber, und dem sterblichen Menschen sozusagen unmittelbar gegenüber, ist da die Bedeutsamkeit des von den Menschen Hervorgebrachten, mit dem sie in die Unendlichkeit des göttlichen Geistes hineinreichen und mit der sie diesem Göttlichen in ihren eigenen Werken begegnen können. 21 S. 34 (Das Gehirn als Computer) Schon in »Das Universum in der Nussschale« hat Hawking (2001, 173) den Standpunkt vertreten, dass die Komplexität des Gehirns und die Komplexität des Computers im Grunde die gleiche ist und dass Computer, bei entsprechender Komplexität, ebenfalls intelligent werden. Er hat sich sogar dafür ausgesprochen, dass die menschliche Intelligenz durch Implantate u. Ä. verbessert werden sollte, damit sie den elektronischen Systemen überlegen bleibt. Wenn die Größe
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Anmerkungen
des menschlichen Gehirns ein begrenzender Faktor für die Vergrößerung der Intelligenz des Menschen sei, und wenn diese wiederum durch den Geburtskanal begrenzt sei, dann würde man eben die Kinder außerhalb des Mutterleibs zur Welt bringen (175). Eine solche Zukunftsvision ist die logische Konsequenz einer Betrachtungsweise, die den Menschen nicht als ein Wesen mit Geist und Selbstempfinden betrachtet, sondern eben nur als einen effizienten Computer, dessen Fähigkeit, schwierige Aufgaben zu lösen, man als Intelligenz definiert. 22 S. 36 (Was ist Intelligenz?) Eine systematische Darstellung dessen, was in der Psychologie unter Intelligenz verstanden wird, hat Flynn (2007) in What is Intelligence? geleistet. Aus empirischen Untersuchungen und den Erklärungsversuchen zu den beobachteten Phänomenen leitet er die Grundzüge einer Theorie der Intelligenz ab, deren Entwicklung und Struktur für die wissenschaftstheoretische Fragestellung des Status theoretischer Entitäten von großem Interesse ist. Flynn beginnt mit der Kritik eines Standpunktes, den Jensen 1972 formuliert hat: »He said that intelligence, by definition, is what intelligence tests measure.« (49) Diesen Standpunkt bezeichnet Flynn als Instrumentalismus, und er lehnt ihn schon aus dem Grund ab, dass es dann niemals möglich wäre, bessere Intelligenztests zu entwickeln, da alles, was der neue Test misst, von dem abweichen würde, was Intelligenz per Definition ist. Instrumentalisten würden Flynn hier sicherlich widersprechen und würden wahrscheinlich so argumentieren, dass eine neue Theorie, die mit einem neuen Testverfahren auch eine abweichende Definition von Intelligenz aufstellen würde, natürlich möglich wäre. Die neue Theorie wäre dann besser, und damit auch das in ihr zur Definition von Intelligenz verwendete Messverfahren, wenn sie mehr empirische Phänomene erklären würde als die vorherige Theorie. Flynn lehnt auch Jensens in der Folge vorgeschlagenen Versuch ab, den Begriff Intelligenz ganz zu vermeiden, weil er unpräzise ist und kein Konsens zu erwarten ist. Flynn zeigt, dass es auch Jensen gar nicht möglich ist, ganz auf diesen Begriff zu verzichten und dass es auch nicht hilft, Umschreibungen wie »mentale Fähigkeiten« zu verwenden. Da wir einen unklaren Begriff von Intelligenz immer im Kopf haben, ist es ein großer Fehler zu versuchen, auf diesen Begriff in der Wissenschaft zu verzichten. Vielmehr muss eine klare Definition gefunden werden. Um dieses Ziel zu erreichen, geht Flynn zunächst von einer vortheoretischen Bestimmung des Intelligenzbegriffes aus (53 ff). Er bestimmt sechs Charakteristiken, die unsere Fähigkeit zum Lösen kognitiver Probleme bestimmen: mentale Schärfe, geistige Gewohnheiten, Einstellungen, Wissen und Informationen, Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, Gedächtnis. Flynn geht davon aus, dass diejenigen, die Intelligenztests entwickeln, einen Intelligenzbegriff im Kopf haben, der diese Komponenten
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Anmerkungen
umfasst. Von diesem Begriff aus unternimmt Flynn den Versuch, einen wissenschaftlichen Intelligenzbegriff zu entwickeln, der auf drei Ebenen einsetzbar ist: der Gehirnphysiologie, der Untersuchung individueller Unterschiede und der Erforschung sozialer Trends. Diese drei Ebenen haben für Flynn die gleiche Funktion innerhalb der Theorie wie die Teilchenund die Wellendarstellung des Lichts innerhalb der Physik: Auf der einen Ebene kann Intelligenz als hoch-korreliertes Set von Fähigkeiten angesehen werden, während auf einer anderen Ebene diese Fähigkeiten funktionell voneinander unabhängig sind. Die drei Ebenen sind (56 f): 1. Das Gehirn: Intelligenz bedeutet auf dieser Ebene die Entwicklung hoch lokalisierter neuraler Cluster auf Grund spezialisierter kognitiver Übungen. 2. Individuelle Unterschiede: Performanz-Unterschiede zwischen Individuen hinsichtlich einer Vielzahl verschiedener kognitiver Aufgaben sind hoch korreliert. 3. Gesellschaft: Verschiedene kognitive Fähigkeiten zeigen im Verlauf der Zeit unterschiedliche Trends als Ergebnis der Veränderungen in den sozialen Prioritäten. Flynn selbst verweist darauf, dass es noch ein langer Weg ist, bis das Wissen, das auf diesen drei Ebenen verfügbar ist, zu einer einzigen Theorie vereinigt ist. Die Ansätze, die er selbst zur Konstruktion dieser Theorie im Weiteren geliefert hat, können hier nicht dargestellt werden, auch wenn die wissenschaftstheoretischen Implikationen einer solchen Theorie genauso interessant zu untersuchen sein werden wie die ethischen Konsequenzen. 23 S. 37 (Zum ästhetischen Sehen) Die hier dargestellten Überlegungen sind von den Arbeiten von Sibley zu ästhetischen Begriffen und die daraus resultierende Diskussion beeinflusst. Seine wichtigste und für die philosophische Diskussion folgenreichste Arbeit zu diesem Thema erschien 1959 unter dem Titel »Aesthetic Concepts« (im Folgenden zitiert als ÄB nach dem deutschen Titel »Ästhetische Begriffe«). Er ging dabei von der alltäglichen Verwendung bestimmter Begriffe aus, die wir benutzen können, um z. B. ein Gemälde zu beschreiben. Dabei stellte er fest, dass es zwei verschiedene Arten solcher Begriffe gibt, und zwar solche, deren richtige Verwendung in einem konkreten Fall unter den meisten Beobachtern in normalen Beobachtungssituationen ohne Schwierigkeiten intersubjektiv überprüft werden kann, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist, weil ihre Verwendung ästhetisches Urteilsvermögen erfordert. Dementsprechend bezeichnete er die ersten als nicht-ästhetische und die letzteren als ästhetische Begriffe. Über die Beziehung der ästhetischen zu den nicht-ästhetischen Begriffen stellte Sibley zwei Thesen auf: 1. Es gibt keine nicht-ästhetischen Begriffe, die »unter irgendwelchen Umständen als logisch hinreichende Bedingungen für die Anwendung ästhetischer Termini fungieren« (ÄB, 90).
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Anmerkungen
2. »Es kann durchaus Beschreibungen mit ausschließlich nicht-ästhetischen Termini geben, die unvereinbar sind mit Beschreibungen, die bestimmte ästhetische Termini verwenden.« (ÄB, 90) Zuschreibungen ästhetischer Termini hängen zwar von nicht-ästhetischen Eigenschaften ab, so kann z. B. ein Bild anmutig sein wegen der gebogenen Linien, es kann einen zarten Eindruck machen wegen der Verwendung von Pastell-Farbtönen. Es ist aber nach Sibley niemals möglich, aus dem Vorhandensein solcher nicht-ästhetischer Eigenschaften sicher auf das Vorhandensein einer ästhetischen Eigenschaft zu schließen. Es ist möglich, dass ein Bild nur aus Pastelltönen und gebogenen Linien besteht, ohne dass es zart oder anmutig ist, stattdessen kann es fad und langweilig oder kraftlos wirken. Somit sind die ästhetischen Begriffe weder mit den Wittgenstein’schen Familienähnlichkeiten zu fassen, noch sind es so genannte anfechtbare Begriffe. Bei Begriffen, die auf Familienähnlichkeiten basieren, gäbe es immer eine gewisse Menge nicht-ästhetischer Eigenschaften, die ausreichen würden, um das Auftreten der ästhetischen Eigenschaft sicherzustellen, auch wenn diese Menge nicht-ästhetischer Eigenschaften in jedem konkreten Fall eine andere sein könnte. Das ist bei ästhetischen Eigenschaften aber nicht der Fall. Genauso wenig sind ästhetische Eigenschaften durch das Auftreten einer bestimmten Menge nicht-ästhetischer Eigenschaften bei gleichzeitiger Abwesenheit einer bestimmten nicht-ästhetischen Eigenschaft, die die Zuschreibung der ästhetischen Eigenschaft ausschließen würde, charakterisiert, wie es bei den anfechtbaren Begriffen der Fall ist. Allerdings gibt es nach Sibley (ÄB, 91) eine negative Abhängigkeit ästhetischer Urteile von nicht-ästhetischen Eigenschaften. Sibley schreibt: »Es kann z. B. unmöglich sein, ein Ding als grell zu bezeichnen, wenn es nur in blassen Pastelltönen gehalten ist, oder als flammend, wenn alle Linien gerade sind.« Sibley ist also der Ansicht, dass man die Abwesenheit einer ästhetischen Eigenschaft durchaus sicher aus den nicht-ästhetischen Eigenschaften schließen kann. Wir können also aus einer Beschreibung der nicht-ästhetischen Eigenschaften, die sicher und für jeden normalen Beobachter nachvollziehbar und benennbar sind, möglicherweise bestimmte ästhetische Eigenschaften ausschließen, können sicher sagen, dass bestimmte ästhetische Zuschreibungen nicht vorgenommen werden können, aber wir können niemals aus solchen Beschreibungen positiv sicher auf ästhetische Eigenschaften schließen. In diesem Sinne sagt Sibley, »dass es keine nicht-ästhetischen Merkmale gibt, die unter irgendwelchen Umständen als logisch hinreichende Bedingungen für die Anwendung ästhetischer Termini fungieren«. Wenn die ästhetischen Begriffe nicht logisch von nicht-ästhetischen Eigenschaften abhängen, dann kann das ästhetische Urteil nicht gelernt werden, indem der Schüler vom Lehrer sozusagen in der Anwendung eines
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Anmerkungen
Regelwerkes unterwiesen wird. Im Gegenteil, Sibley bestreitet diese Möglichkeit ausdrücklich (ÄB, 95). Jemand, der »das Wesen von ästhetischen Begriffen nicht versteht« kann sich zwar »einige Regeln und Verallgemeinerungen verschaffen« und »kann dann häufig das richtige sagen«. Aber das wäre kein ästhetisches Urteilen, er »könnte ebenso richtig wie falsch getippt haben«. Kann man also ästhetisches Urteilen nicht lernen? Sibley ist der Ansicht, dass dies trotzdem möglich ist, und er weist dafür dem Kritiker eine besondere Rolle zu. Ob die Bezeichnung »Kritiker« für diejenigen, die die geforderte Funktion ausfüllen, geschickt gewählt ist, kann dahingestellt bleiben, wichtig ist, welche Tätigkeiten der Kritiker erbringen soll, um den Menschen beim Erlernen der ästhetischen Urteilskraft Unterstützung zu bieten. Die Methode des Kritikers basiert darauf, dass die ästhetischen Eigenschaften zwar nicht logisch von den nicht-ästhetischen abhängen, aber doch durch sie »gemacht« sind, dass sie für die ästhetischen Eigenschaften doch »verantwortlich« sind (Im Aufsatz »Aestetic and Non-Aesthetic« im gleichen Band, 137). Deshalb kann der Kritiker den Betrachter auf nicht-ästhetische Eigenschaften hinweisen, die zwar nicht allgemein, aber im konkreten Fall für die ästhetischen Eigenschaften des Werkes verantwortlich sind. Er kann dabei die ästhetischen Eigenschaften nennen, er kann auch ästhetische Eigenschaften, die vielleicht bereits vom Betrachter erkannt sind, mit den noch nicht erkannten in Beziehung setzen. Auf diese Weise wird der Kritiker dem Betrachter helfen, die ästhetischen Eigenschaften eines Werkes zu entdecken. Wenn ihm dies nicht gelingt, wird der Kritiker den Betrachter bitten, sich zunächst andere Werke anzusehen und dann zu diesem zurück zu kehren. Deutlich wird hier, dass der Betrachter das Sehen der ästhetischen Eigenschaften nicht allgemein aufgrund von Regeln lernen kann, sondern nur immer konkret am jeweiligen einzelnen Werk. Wenn dieses Entdecken bei einem Werk jedoch gelungen ist, wird es dem Betrachter auch möglich sein, ästhetische Eigenschaften anderer, ähnlicher Werke zu entdecken. 24 S. 37 (Was heißt »gut«?) Mackie (1981) hat eine allgemeine, nicht im Moralischen fundierte Begriffsbestimmung von »gut« geliefert und diese dann auf den Bezirk des Moralischen anzuwenden versucht. Die allgemeine Bedeutung von »gut« sei eben eine deskriptive, »gut«, so Mackie, beschreibt einen Gegenstand als angemessen in Bezug auf ein Interesse, eine Absicht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das moralisch Gute immer auch eine solche deskriptive Komponente hat, die bestimmte »innere Erfordernisse« der Sache beschreibt. Auch das moralisch Gute kommt dann nicht ohne ein gewisses Interesse aus. Diese Sicht kann durchaus in der Tradition Kants gelesen werden. Allerdings legt die allgemeine Bedeutung von »gut« nicht »schon seinen Gebrauch in moralischen Kontexten fest« (Mackie 1981,
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Anmerkungen
78 f). Mackie kommt in der Folge zu einer Ablehnung des Utilitarismus, weil er den Begriff des Guten im moralischen Kontext eben nicht auf das Nützliche reduzieren kann (189). Andererseits kann er aber keinen stark universalisierbaren Begriff des Guten entwickeln (192 f). Letztendlich muss er sich auf einen Begriff des Guten festlegen, der für jeden Menschen eine andere Bedeutung haben kann. Das liegt m. E. daran, dass die deskriptiven Elemente der »inneren Erfordernisse« eben nicht an universellen Kriterien gemessen werden können. Eine rein moralische Entscheidungsinstanz (das Gewissen) bringt Mackie nicht ins Spiel. Seine Studie zeigt insofern überzeugend, dass eine Moraltheorie, die auf eine solche Instanz verzichtet, letztlich zu Ergebnissen kommen muss, die einer rein moralischen Erfahrung widersprechen. 25 S. 37 (Ethik des Auswegs) Man darf hier allerdings nicht vergessen, dass Kant in diesem oft zitierten Beispiel nicht schlicht fordert, den Freund auszuliefern, und meint, dass damit das Gute getan wäre. Kant lässt ja durchaus zu, dass man nach Alternativen zur Auslieferung sucht, dem Freund etwa zur Flucht verhilft, während man selbst den Bösewicht noch mit allgemeinen Gesprächen hinhält. Über die Ethik des Ausweges wird allerdings zu wenig gesprochen, zu oft wird über die Entscheidung in vorgeblichen Dilemma-Situationen diskutiert und behauptet, die Moral würde sich in der richtigen Entscheidung zwischen zwei schlechten Lösungen zeigen. Moralisch ist aber, das Dilemma nicht zu akzeptieren und nach Auswegen zu suchen. 26 S. 38 (Der Ruf des Gewissens) Heidegger (1977, 360) spricht in Sein und Zeit davon, dass das Gewissen den Charakter eines Rufes hat. Diese Charakteristik des Gewissens grenzt Heidegger vom Bild des Gerichtshofs, das Kant entwickelt hat, ab. Kant hat in der »Metaphysik der Sitten« das Gewissen als einen Gerichtshof dargestellt, in dem der Einzelne gewissermaßen Angeklagter und Richter zugleich ist. Der Mensch muss sich jedoch den Richter als eine »idealische Person« (2016, 574) denken, die die Vernunft sich selbst schafft. Letztlich identifiziert der Mensch diese Person mit Gott, da sie allverpflichtend ist und »zugleich alle Gewalt (im Himmel und auf Erden) haben muss« (ebd.) – im Gewissen, so Kant, wird Gott also immer mitgedacht. Dies ist nicht so zu verstehen, dass Kant die Existenz Gottes durch die Existenz des Gewissens als bewiesen ansieht, allerdings ist der Begriff Gottes für Kant »(wenn gleich nur auf dunkele Art) in jenem moralischen Selbstbewußtsein jederzeit enthalten« (ebd.). Wir folgen diesem Argument, auch wenn wir das Bild des Gerichtshofes mit Heidegger ablehnen. Der, der da im Gewissen spricht, ist kein Richter, denn er wendet keine expliziten Gesetze an, er urteilt über unsere Handlungen nicht nach einem jederzeit lesbaren und verständlichen Gesetzbuch. In Kants Gerichtshof steht der angeklagte schwache, fehlbare, durch unvernünftige Triebe und Sehnsüchte beherrschte Mensch einem vernünftigen,
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Anmerkungen
klar denkenden Richter gegenüber, der jederzeit aus den moralischen Gesetzen herleiten kann, was der Mensch als vernünftiges Wesen getan haben müsste, und der entsprechend urteilen kann. Der Gerichtsprozesse wäre ein Verfahren, in dem der Mensch »mit sich selbst« ausmachen kann, was moralisch richtig gewesen wäre, indem Fakten ermittelt und Gesetze angewandt werden. Das entspricht aber nicht der Erfahrung, die wir mit dem Gewissen machen, wenn es ruft. Folgen wir der phänomenologischen Analyse Heideggers, dann verstehen wir das Gewissen als Ruf an das Dasein, das im alltäglichen Mit-Sein des Man getroffen wird (362). Es wird auf sein eigentliches Selbst-Sein-Können hin angerufen. Das bedeutet: der im Alltag vor sich hin lebende, dem alltäglichen Zusammenleben und unreflektierten sorglosen und oberflächlich handelnde Mensch wird vom Gewissen daraufhin angerufen, dass er in diesem alltäglichen Leben seine Möglichkeit, Mensch zu sein, verfehlt. Heidegger betont, dass der Inhalt des Rufes leer ist: »Dem angerufenen Selbst wird ›nichts‹ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt, zu seinem eigensten Seinkönnen« (363). Das Gewissen erschüttert also den Menschen, es erinnert ihn an seine Möglichkeit, Mensch sein zu können. Heidegger geht auch der Frage nach, wer der ist, der ruft. Ähnlich wie Kant, der den Richter und den Angeklagten nicht unmittelbar als die gleiche Person ansetzen kann, hat auch Heidegger Schwierigkeiten, den Rufenden und den Angerufenen mit dem Dasein, also dem, der je ich selbst bin, zu identifizieren. Insbesondere verweist Heidegger darauf, dass der Ruf ja von uns selbst »weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen« (365) wird. Auch Heidegger erwägt, den Rufer mit Gott zu identifizieren – er verwirft dies jedoch als »vorschnell« (366). Die phänomenologische Analyse führt Heidegger dazu, als »das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-Sein als Un-zuhause, das nackte ›Dass‹ im Nichts der Welt« (367) zu bestimmen. Hier ist nicht der Raum, diese Bestimmung ausgiebig zu diskutieren. Wichtig für uns ist, dass es tatsächlich vorschnell wäre, das Gewissen einfach mit Gott zu identifizieren, und die Stimme des Gewissens, sei es nun als Kants Richter oder als Heideggers Ruf, als »Wort Gottes« festzulegen. Ein plausibler Gott spricht nicht in direkten Anweisungen zum einzelnen Menschen, wenn dieser sein Gewissen »befragt«. Plausibel ist allerdings, zu erwägen, dass ein unendlicher Geist den Geist des Menschen mit der Fähigkeit eines Gewissens ausgestattet hat. Das ist die Frage, die wir diskutieren. 27 S. 38 (Kausalität und Quantenmechanik) Kenner der modernen Physik werden hier einwenden, dass das Prinzip, nach dem in gleichen Situationen das Gleiche passiert, durch die Quantenmechanik ungültig wird. Hier wirkt der unhintergehbare Zufall. Das ist für die quantenmechanische Ebe-
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Anmerkungen
ne selbst richtig. Ob ein Lichtquant, das auf einen Polarisationsfilter trifft, seinen Spin in Richtung des Filters ausrichtet und somit den Filter passieren kann, oder ob es sich genau senkrecht dazu ausrichtet und damit absorbiert wird, ist absoluter und nicht vorausberechenbarer Zufall. Das gilt allerdings nicht für die Statistik der Lichtquanten, die von einer Lichtquelle auf identische Weise emittiert werden und auf den Polarisationsfilter treffen. Für diese lässt sich eine Wahrscheinlichkeitsverteilung exakt berechnen und die Dynamik dieser Wahrscheinlichkeitsverteilung wiederum gehorcht genau dem angegebenen Prinzip: Unter gleichen Bedingungen ist sie gleich und unter ähnlichen Bedingungen ist sie ähnlich. Dagegen sind zwei Einwände möglich. Zum einen kann man darauf verweisen, dass im Falle von einzelnen und seltenen quantenmechanischen Vorgängen auf lange Sicht durchaus auch auf mikroskopischer Ebene relevante Unterschiede bemerkbar werden können. Wenn man z. B. annimmt, dass solche einzelnen Vorgänge zu Mutationen in der DNA von Lebewesen führen, dann könnte man argumentieren, dass eine Mutation durchaus einen Evolutionsprozess in Gang setzen kann, der am Ende zu einem ganz anderen Ergebnis führt, als eine andere Mutation geführt hätte. Hier kann man aber Folgendes erwidern. Eine einzelne Mutation kann noch keine stabile Evolution eines biologischen Organismus auslösen, hier muss immer eine Vielzahl von Mutationen zusammenkommen, von denen einige gar keine Auswirkung haben, einige zum Verschwinden des Organismus führen und wieder andere tatsächlich im Zusammenwirken etwas Neues entstehen lassen. Dieses Neue kann sich, abhängig von den tatsächlichen Mutationen, im Detail oder manchmal auch wesentlich von anderen Optionen unterscheiden, aber das, was hier ähnlich ist, ist, dass sich auf Grundlage eben dieser Mutationen die Organismen allmählich weiterentwickeln und ausdifferenzieren. Und dann gilt wieder, dass unter ähnlichen Bedingungen auch Ähnliches passiert. Die Ebene, auf der das gilt, ist dann nicht mehr die der Quantenmechanik, sondern die der biologischen Evolution. Es ist dies ähnlich wie mit dem viel genannten Bild vom Schmetterling, der einen Orkan auslösen könne. Richtig ist daran, dass der konkrete Moment, die Details des Sturms und seiner Zugrichtung, unter anderem von kleinen Störungen beeinflusst werden, und das nicht nur von dem einen Schmetterling, sondern von vielen kleinen ähnlichen Störungen und Schwankungen. Dass aber unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen sich überhaupt Orkane entwickeln, und dass in bestimmten Situationen kleine Störungen eben dazu führen, dass sich mit großer Sicherheit Orkane entwickeln, das hat nichts mit dem einzelnen Schmetterling zu tun. Und dann gilt eben wieder, dass unter ähnlichen Bedingungen ganz Ähnliches passiert. Ein zweiter Einwand wiegt schwerer, und er klingt in dem Beispiel des Schmetterlings schon an. Aufgrund der so genannten Nichtlinearität vieler
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Naturgesetze kommt es, bei allmählicher Verschiebung der Bedingungen, tatsächlich zu so genannten Kipp- oder Bifurkationssituationen, bei denen durch nur noch ganz leichte, minimale Veränderung der Situation tatsächlich etwas völlig anderes passiert. Das erleben wir auch ständig im Alltag: Wenn ich das Wasserglas, das hier bei mir auf dem Tisch steht, anstoße, dann wird, abhängig von der Geschwindigkeit und Kraft, mit der ich das tue, über lange Zeit unter ähnlichen Bedingungen etwas Ähnliches passieren: Es bleibt stehen. Aber wenn ich meine Kraft weiter erhöhe, mit der ich gegen das Glas schlage, dann wird irgendwann bei einer nur noch geringfügig größeren Anstrengung das Glas plötzlich umkippen und das Wasser über den Tisch fließen. Eine geringfügige Veränderung der Situation, aber ein völlig anderes Ergebnis. Es ist richtig, für solche Situationen muss man das materielle Grundprinzip der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, dass unter ähnlichen Bedingungen Ähnliches passiert, modifizieren. Es gibt Unstetigkeiten und Sprünge. Allerdings stimmt für diese Unstetigkeiten das Prinzip dann doch wieder: Das Glas wird eben immer umkippen, wenn ich es mit einer bestimmten Kraft anstoße. 28 S. 43 (Zur Strukturiertheit des Vorliegenden) Hier ist die zweite Version der philosophischen Grundfrage »Warum gibt es überhaupt etwas, und nicht viel mehr nichts?« ausgesprochen. Sie fragt nicht, wie wir es in der Anmerkung 13 diskutiert haben, danach, warum alles, was ist, auch etwas ist, sondern danach, warum das Vorliegende sich überhaupt in unterschiedliches Unterscheidbares teilt. Warum ist das Materielle nicht einfach ein grauer Einheitsbrei, warum ist es vielmehr offenbar auf allen Skalen von Raum und Zeit immer wieder gegliedert, und zwar sogar auf immer wieder die gleiche Weise? Ebenso denkbar wäre ja eine absolute Leere oder eine absolute Homogenität. Wenn alles eine Ursache haben muss, dann muss es eben dafür, dass das Universum kein solches Nichts ist, auch eine Ursache geben. Die Ursache dafür im Wirken der Naturgesetze zu suchen, ist eine Möglichkeit, mit dem, was da ist, planvoll umzugehen und das, was offenbar da ist, so zu beschreiben, wie es ist. Aber genau genommen ist ein Naturgesetz keine Ursache, es ist nur die systematische Beschreibung des Verursachten. Das Naturgesetz selbst muss ja eine Ursache haben. Wir können die philosophische Grundfrage so stellen: »Warum sind überhaupt Naturgesetze und nicht vielmehr Chaos?« – wobei »Chaos« hier im herkömmlichen Sinne der völligen Unordnung gemeint wäre. Natürlich wäre das Chaos selbst auch immer noch etwas, eine weitere Frage ist ja: »Warum ist da überhaupt etwas, das sich nach Naturgesetzen richtet, und nicht vielmehr die absolute Leere?« Die Philosophie kann diese Grundfrage so wenig beantworten wie die erste, die wir in Anmerkung 13 genannt haben. Sie kann diese Fragen stel-
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Anmerkungen
len und ihre Unbeantwortbarkeit auch durch die Naturwissenschaften im Bewusstsein der Menschen halten. Sie kann die Abhängigkeit der beiden Varianten der Grundfrage voneinander untersuchen – sicherlich ist es so, dass die Tatsache, nach der wir hier fragen, Voraussetzung dafür ist, dass wir die Version der Frage in Anmerkung 13 überhaupt stellen können. Was Philosophie zudem tun kann, ist, die Plausibilität bestimmter Antwortversuche zu prüfen. Eine mögliche Antwort ist: Dafür, dass nicht die Leere, nicht das Chaos, nicht das Nichts ist, ist ein göttlicher Schöpfer verantwortlich. Herauszufinden, wie ein solcher Schöpfer zu denken ist, das ist das Anliegen dieses Buchs. 29 S. 44 (Der Zufall als Erklärung) In seinem letzten populärwissenschaftlichen Buch »Der große Entwurf«, das Stephen Hawking zusammen mit Leonard Mlodinow geschrieben hat, erläutern die Autoren ihr Verständnis von der Entstehung und Entwicklung des Universums in einem Kapitel, das »Die Theorie von Allem« als Titel hat (Hawking und Mlodinow, 2017, 118). Die Theorie, die darin beschrieben wird, umfasst jedoch ausschließlich physikalische Gesetze und die damit erklärbaren elementaren physikalischen Basisprozesse. Wie es möglich ist, dass sich auch auf höherer physikalischer Ebene, etwa auf thermodynamischer, hydrodynamischer oder optischer Ebene einfache Gesetze finden lassen und dass sich dann sogar auf chemischer und biologischer, schließlich gar auf soziologischer und ökonomischer Ebene Gesetze finden lassen, wird ebenso wenig erklärt wie auch höchstens angedeutet wird, wie sich die Entstehung von Gebilden wie Kunstwerken, Staaten oder Sportarten auf diese Weise erklären lassen könnte. Man muss vermuten, dass die Autoren diese Dinge entweder nicht zum Universum, zu »Allem« dazuzählen, oder dass es ihnen selbstverständlich ist, dass sich die Gegenstände und Gesetze dieser Ebenen irgendwann genauso auf die elementare Physik reduzieren lassen werden, wie es innerhalb der Physik etwa mit thermodynamischen Gesetzen möglich ist, die sich wenigstens prinzipiell auf Teilchenphysik reduzieren lassen. Was dabei allerdings ausgeklammert wird, ist, dass die Reduktion der Prozesse einer physikalischen Ebene auf eine darunter liegende Ebene nur der eine Schritt der Erklärung ist. Der zweite muss sein, dass man erklären muss, warum die elementaren Gesetze so sind, dass sie auf der nächsten Ebene wieder Regelmäßigkeiten zeigen, die einfach zu erkennen, zu beschreiben und zu verstehen sind, ohne dass man die Basisprozesse überhaupt kennt. Wie kann es sein, dass Prozesse auf jeder Ebene der Beobachtung der Realität für sich schon Regelmäßigkeiten zeigen, und dass wir diese Regelmäßigkeiten in den Begriffen dieser Ebene ohne Kenntnis der darunter liegenden Prozesse beschreiben können? Man könnte Hawking und Mlodinow so verstehen, dass dies durch bloßen Zufall schlicht eben der Fall ist. Ihre so genannte M-Theorie lässt eine fünfhundertstellige Zahl von Universen zu, und jedes davon hat seine eige-
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nen Gesetze. Eines dieser Universen ist unseres, und das hat eben diese fein abgestimmten Gesetze, die wir beobachten können (Hawking und Mlodinow, 136). Darüber sollen wir uns auch nicht wundern, denn nur durch diesen kosmischen Zufall sind wir ja überhaupt in der Welt und nur durch ihn können wir uns darüber wundern. In den vielen anderen Universen, die nicht so fein abgestimmt sind, herrscht das erwartete Chaos, und dort gibt es natürlich auch keine vernunftbegabten Wesen, die sich wundern oder Gesetze im Chaos erkennen können. Das leuchtet zunächst ein, allerdings fällt auch auf, dass die Naturwissenschaft auf viele Zufälle angewiesen ist, um das zu erklären, was wir erleben. Das Leben auf der Erde ist von einer Vielzahl von Zufällen abhängig, zunächst muss ein Planet in der richtigen Entfernung von einer Sonne sein, er muss die richtige Größe und die richtige Ausstattung mit Elementen haben. Man antwortet, dass das Universum riesig ist, eine Unzahl von Galaxien und Sternen enthält, von denen wiederum eine Unzahl von Planeten umkreist wird, sodass eben eine gewisse Zahl auch diese Bedingungen erfüllt. Das leuchtet ein. Sodann muss es zufällige Zusammenballungen bestimmter Stoffe auf diesen Planeten geben, die irgendwann die biologische Evolution in Gang bringen. Man antwortet mit der langen Zeit, die dafür zur Verfügung steht, und wieder mit der Unzahl von Planeten, auf denen dieses passieren kann. Nun kommt noch der Zufall dazu, dass die Gesetze der Natur so sein müssen, dass sie genau so zusammenpassen, um all das zu ermöglichen, und man antwortet mit einer riesigen Zahl von Universen, in denen jeweils unterschiedliche Gesetze wirken, sodass es eben zufällig auch ein Universum gibt, das von diesen optimalen Gesetzen regiert wird. Das mag alles sein. Allerdings hat noch niemand ausgerechnet, wie groß die Zahlen wirklich sein müssen, damit der Zufall mit einiger Sicherheit an irgendeiner Stelle in irgendeinem Universum zu irgendeiner Zeit tatsächlich diese unwahrscheinlichen Prozesse in Gang setzt. Es ist auch nirgends eine Spur von anderen Orten in unserem Universum, an denen wenigstens irgendetwas Ähnliches passiert ist, wie hier auf der Erde. Wir werden wahrscheinlich aus prinzipiellen Gründen nie in ein anderes Universum schauen können, in dem andere Gesetze herrschen, um bestätigt zu bekommen, dass einfach aus Zufall hier ein Universum entstanden ist, das diese Feinabstimmung seiner Gesetze hat. Zudem muss man sich fragen, ob es nicht wenigstens äußerst wahrscheinlich wäre, dass wir in einem Universum leben und dieses auch verstehen, das zwar zu einem bestimmten notwendigen Grad zufällig feinabgestimmt ist, aber auf einer höheren Ebene doch chaotisch wäre. Müsste man nicht annehmen, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit Wesen wären, die zwar die Welt erkennen und verstehen können, aber nicht selbst wiederum komplexe und nach eigenen Regeln funktionierende Gegenstände entwer-
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fen? Warum gibt es Staaten und Fußballturniere, die nach Regeln funktionieren, und die ja von einer »Theorie von Allem« mit abgedeckt sein müssten? Warum können wir Geräte bauen, die es in der Natur nie gäbe (etwa Laser), für die man aber exakte Gesetze des Verhaltens aufschreiben kann? Trotzdem ist die Geschichte der M-Theorie, die Hawking und Mlodinow erzählen, natürlich plausibel. Sie ist, in einem bestimmten System des Begründens, ebenso plausibel wie es die vielen Mythen sind, die diese beiden Autoren zu Beginn ihrer Kapitel jeweils aufzählen und die sie mit ihrer Geschichte zu widerlegen meinen. Die zwingende Beweiskraft fehlt der MTheorie auch heute und womöglich wird sie ihr noch lange, vielleicht für immer fehlen. Aber selbst wenn die M-Theorie im Sinne unserer heute akzeptierten Begründungsmodelle bewiesen werden kann, lässt sie die Fragen, die zur Annahme eines plausiblen Gottes führen, völlig unberührt (auch wenn die Autoren meinen, genau diese Fragen zu beantworten). Denn sie haben keine Idee, warum es die unzähligen Universen mit den unzähligen verschiedenen Systemen von Naturgesetzen überhaupt geben sollte, warum jedes dieser Universen mit einem Satz von Naturgesetzen ausgestattet ist, und warum es genau diese und solche sind. Wie viele Raumdimensionen die M-Theorie benötigt und wie diese »aufgewickelt« sein mögen, um eine bestimmte Konfiguration von Universum zu erzeugen, ist dabei völlig belanglos, denn man muss fragen, warum es diese Dimensionen gibt und warum durch eine »spontane Quantenfluktuation« daraus Universen entstehen. Diese Frage unterscheidet sich nicht von der, warum überhaupt ein Universum da ist, es bleibt die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht viel mehr nichts, und zu der Antwort auf diese Frage trägt die M-Theorie unterm Strich nichts bei. 30 S. 44 (Gott oder Götter?) Lennox (2017, 14 ff) hat in seiner kritischen und umfassenden Analyse des Buchs von Hawking und Mlodinow auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam gemacht, nämlich die zwischen dem Glauben an einen monotheistischer Gott und dem polytheistischen Glauben, wie etwa dem an die griechischen Götter. Es kommt dabei allerdings nicht so sehr darauf an, dass es sich im ersten Fall um einen einzelnen Gott handelt und im zweiten um eine Vielzahl von Göttern, vielmehr geht es darum, wie man sich überhaupt das Göttliche vorzustellen hat. Wenn man von Gott als Schöpfer und Verursacher von allem spricht, dann spricht man von dem unendlichen Geist, der allem Materiellen vorausgeht, dieses anlegt, gestaltet und in Gang hält. Wenn man ein Götterbild hat, das den griechischen Vorstellungen gleicht, dann sind die Götter einzelne Subjekte, die selbst, vielleicht stärker als die Menschen, aber doch endlich sind, die willkürlich dies und das verursachen, die miteinander streiten und dabei die Menschen zur Streitmasse machen, die fehlbar und begrenzt in ihrer Rationalität sind. Sie werden, das ist für Lennox wichtig, für diese und jene unerklärliche Ereignisse im Einzelnen verantwortlich gemacht, eine Sturm-
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flut wird als Rache gegen einen bestimmten Menschen oder einen anderen Gott gesehen, Sonnen- und Mondfinsternisse werden als willkürlich herbeigeführte Ereignisse gedacht. Dem monotheistischen Gottesbild ist so ein Eingreifen prinzipiell fremd, Gott gestaltet die Welt nicht, indem er hier und da dieses und jenes Ereignis auslöst, sondern indem er die Regeln bestimmt, nach denen die materielle Welt sich entwickelt. Und dieses Bild ist eben schon genauso alt, wie die Vorstellung eines Schöpfergottes es ist. Allerdings muss man sehen, dass der biblische Gott nicht so weit entfernt ist von der griechischen Götterwelt, wie Lennox uns glauben machen will. Auch in der Bibel gibt es bekanntlich eine Vielzahl göttlicher Gestalten, die Engel und den Satan. Und die Bibel ist auch voll von Geschichten, in denen Gott ganz griechisch in das Weltgeschehen eingreift, etwa, indem er eine Sintflut auslöst, indem er diese oder jene Stadt vernichtet, indem er jemanden zur Salzsäule erstarren lässt. Und auch das Neue Testament ist bekanntlich voll von Wundern, und von denen will Lennox auch gar nicht lassen, er sagt sogar, dass das Wunder der Auferstehung Christi die zentrale Botschaft des Christentums sei (64). In diesem Buch sollte gezeigt werden, dass ein plausibler Gottesglaube auch dieses Wunder (wie überhaupt jede Art von Wunder) nicht benötigt. Es muss deshalb noch einmal betont werden, dass hier nicht das Christentum als Religion und nicht die christliche Gottesvorstellung verteidigt wurde.
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