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German Pages 264 [267] Year 2015
Antonia Wunderlich Der Philosoph im Museum
2008-06-10 13-37-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b1181000004816|(S.
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Meinen Eltern
Antonia Wunderlich (Dr. phil.) unterrichtet Kunstgeschichte an den Universitäten Köln und Witten/Herdecke. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ausstellungstheorie, Bildwissenschaften und Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts.
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Antonia Wunderlich Der Philosoph im Museum. Die Ausstellung »Les Immatériaux« von Jean François Lyotard
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Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine von der Fakultät für das Studium Fundamentale der Universität Witten/Herdecke 2006 angenommene Dissertation.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Centre Pompidou, Bibliothèque Kandinsky, Ausstellung »Les Immatériaux«, 1985 Lektorat & Satz: Antonia Wunderlich Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-937-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Dank 1. Einleitung 1.1. »Merkzettel zur Lektüre«
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Teil I 2. Les Immatériaux im Kontext: Der Museumsboom der 1980er Jahre in Frankreich
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3. Zur Szenographie von Les Immatériaux 3.1. Ausstellungsraum und Stationen 3.2. Die Exponate – Lyotards Spiel mit konventionellen Objekttypen 3.3. Das Kopfhörerprogramm 3.4. Metasysteme der Raumgliederung
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4. Kataloge und andere Publikationen
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Teil II 5. Philosophieren und Ausstellen – Les Immatériaux als Medienwechsel 69 5.1. Die Philosophie der Sensibilisierung als 70 Ausstellungspädagogik 5.2. Der Körper als kritische Instanz: Zur Rolle der sinnlichen 76 Wahrnehmung in Les Immatériaux 6. Immaterialität – Materialität – Les Immatériaux 6.1. Sprachspiel, Satz, Nachricht 6.2. Après six mois de travail
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Teil III 7. Phénoménologie de la visite 7.1. Der Eingangsbereich 7.2. Der erste Weg: Matériau – Substanz, Rohstoff, Medium 7.3. Der zweite Weg: Matrice – Sprache, Code, Matrix 7.4. Der dritte Weg: Matériel – Sinneswahrnehmung, Prothese, Interface 7.5. Der vierte Weg: Matière – Realität, Fiktion, Simulation 7.6. Der fünfte Weg: Maternité – Vater/Mutter, Autor, Zirkulation
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8. Schluss
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9. Literatur 9.1. Bibliographie zu Les Immatériaux: Quellen 9.2. Bibliographie zu Les Immatériaux: Rezensionen 9.3. Andere Texte über Les Immatériaux 9.4. Sonstige Literatur
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Dank Viele Personen haben dazu beigetragen, dass ich diese Arbeit schreiben konnte. Ich danke Rudolf Prinz zur Lippe und Matthias Kettner von der Universität Witten/Herdecke sowie Hildegund Amanshauser von der Kunstakademie Münster für ihre Betreuung mit viel Geduld, Ermutigung und Freiraum. Ich danke Petra Gehring für ihre konstruktiven und inspirierenden Mail-Antworten auf meine Fragen zur Philosophie Lyotards, Ronald Voullié für seine unschätzbare Hilfe bei Übersetzungs- und Auslegungsfragen und meinem Vater Hartmut Wunderlich für seine so hilfreichen Erklärungen zu physikalischen und mathematischen Problemen. Herzlichen Dank an Annette Ziegert und Johannes Wunderlich für ihr gründliches, kritisches und inspirierendes Lektorat und Christian Posthofen von der Buchhandlung Walther König dafür, dass er mir den äußert seltenen Katalog von Les Immatériaux besorgt hat. Für ihre Bereitschaft, mich zu einem Gespräch zu treffen und mir von ihren Erfahrungen mit Les Immatériaux zu berichten, danke ich: Marc Alizard, William Chamay und Martine Moinot vom Centre Pompidou, Rudolf Frieling und Peter Weibel vom Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, Wolfgang Welsch von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Sarah Wilson vom Courtauld Insitute of Art in London, Michael Wetzel von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Annegret Soltau aus Darmstadt und Christine Pries aus Frankfurt. Für unbürokratische und nette Hilfe bei den Recherchen in Paris danke ich Henri de l’Angle, Monique Chardet, Jean Charlier und Jean-Philippe Bonilli vom Service des Archives au Centre Pompidou, Christine Sorin von der Bibliothèque Kandinsky, Gilles Bion vom Filmarchiv des Centre Pompidou sowie Philip Tinel, der mir ein Zuhause gab. Für Unterstützung bei einzelnen Fragen, sei es durch Texte, Manuskripte oder Gespräche danke ich Gerd Blum, Rolf Elberfeld, Peter Engelmann, Elke Gaugele, Nina Gorgus, Antje von Graevenitz, Stephan Hoppe, Antony Hudek, Tanja Klemm, Klaus Kurre, Hans Messelken, Peter Rech, Julia Reich, Ulrike Roesler, Martin Roussel, Katinka Sanchez, Dirk Strohmann, Anke te Heesen, Sandra Thomas, Anselm Weyer, Markus Wirtz und Alexandra Zepter. Dem transcript-Verlag, vor allem Christine Jüchter, danke ich für die tatkräftige und immer sehr freundliche Unterstützung, der VG-Wort danke ich für den Druckkostenzuschuss. Johannes und Elisa Wunderlich danke ich dafür, dass sie da sind.
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1. E I N L E I T U N G »Qu’est-ce qu’un philosophe fait ici? [...] se dire: ›Il y a une idée sur le changement du monde. Est-ce qu’on peut la sortir d’un livre et l’inscrire sur un autre support?‹ C’est un vieux projet que j’avais inscrit comme thème à un séminaire de Collège international de philosophie. L’enjeu? Peut-on philosopher en direction du grand public sans trahir la pensée? Et chercher à atteindre ce public tout en sachant qu’il n’est pas philosophe, mais en supposant qu’il est sensible aux mêmes questions que les philosophes tentent par ailleurs d’élaborer.«1
Die Ausstellung Les Immatériaux, die 1985 im Centre Georges Pompidou gezeigt wurde, war in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Projekt. Konzipiert von einem bekannten Philosophen, in Auftrag gegeben von Instituten zur Erforschung der Gegenwartskultur und ausgestattet mit dem üppigsten Ausstellungsetat, den es bis dahin am Centre Pompidou gegeben hatte, war Les Immatériaux als großzügiger Beitrag zum Diskurs über die aktuelle gesellschaftliche Lage angelegt. Mit einem achtköpfigen Team arbeitete Jean-François Lyotard zwei Jahre lang an dem Projekt, das zum Ziel hatte, »einem möglichst großen Publikum«2 Fragen über dessen Identität und Selbstverständnis, über seinen Platz in einer sich rasant verändernden Gesellschaft nahe zu bringen. Lyotard stellte diese Fragen im Duktus eines philosophischen Lehrers, dessen zentrales Anliegen es ist, seine Schüler so weit zu verunsichern, dass sie einer eigenen Auseinandersetzung nicht mehr ausweichen können. Dieser Duktus war sowohl inhaltlich als auch ausstellungsgestalterisch zu spü1
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Lyotard in einem Interview: Bidaine, Philippe/Saur, Jacques (1985): Les Immatériaux – Un entretien avec Jean-François Lyotard. In: CNAC Magazine, 1.3., S. 16. Lyotard, Jean-François (1985a): Immaterialien. Presse-Mitteilung vom 8.1. 1985. In: Ders. et.al. 1985, S. 7-18, hier S. 9. 9
DER PHILOSOPH IM MUSEUM
ren: Eindeutige Antworten oder vereinfachte Darstellungen, klar definierte Wege oder ein System zur Lenkung der Besucher der 3.000 Quadratmeter großen fünften Etage des Centre Pompidou fehlten völlig. Die Radikalität, mit der Lyotard sich weigerte, Interpretationshilfen jeglicher Art bereitzustellen, spaltete sein Publikum. Von großer Begeisterung bis hin zu verständnislosem Ärger reichten die Reaktionen auf die Ausstellung, die, in Anbetracht des sperrigen Themas, relativ gut besucht war. Insgesamt 206.000 Menschen sahen sie, 2.170 pro Tag. Der Durchschnitt für die Sonderausstellungen des Centre Pompidou lag in der Mitte der 1980er Jahre mit 2.900 Besuchern am Tag um etwa 25% höher.3 Lyotard, sein Mitkurator Thierry Chaput und der Ausstellungsarchitekt Philippe Délis4 gliederten die gesamte Ausstellungsfläche in einen aus fünf Wegen bestehenden Parcours. Ein kompletter Rundgang durch die sehr sparsam beleuchteten Ausstellungsräume, deren Grundfarbe ein dunkles Grau war, führte an insgesamt 61 Stationen entlang, die als eigenständige inhaltliche Einheiten konzipiert waren. Zudem wurde jedem Besucher am Eingang ein Kopfhörer ausgehändigt, mit dem er Texte und Klänge empfangen konnte, die in 31 über die gesamte Ausstellungsfläche verteilten Infrarot-Sendezonen ausgestrahlt wurden. Dieses Kopfhörerprogramm stellte eine eigenständige inhaltliche Ebene dar und diente nicht dazu, Metainformationen über die einzelnen Stationen oder das Konzept von Les Immatériaux zu vermitteln. Insgesamt gab es bis auf eine schmale Saalzeitung, das Petit Journal, so gut wie keine Informationen in den Ausstellungsräumen, die den Besuchern räumliche oder inhaltliche Orientierung hätten bieten können. Die in der Ausstellung gezeigten Objekte stammten aus allen Bereichen des alltäglichen Lebens und unterschieden sich in ihrer Thematik
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Heinich, Nathalie (1986): Un évènement culturel. In: Cahier Expo-Media (Hg.) (1986): Les Immatériaux au Centre G. Pompidou en 1985. Etude de l’événement exposition et son public. Nr. 1. Paris, S. 25-122, hier S. 72. Der Tatsache, dass Chaput und Délis maßgebllich an Les Immatériaux beteiligt waren, habe ich kaum Rechnung getragen. Dies liegt daran, dass beinahe alle Texte von Lyotard stammen und über die Autorschaft der Stationen kaum etwas bekannt ist (eine Ausnahme bildet die Station Nu vain, vgl. S. 151 dieser Arbeit). Vgl.: »Indeed, it would not prove difficult to argue that far from blurring the lines of authorship, Les Immatériaux enhances Lyotard’s name and profile, a fame with little trickle-down effect for his collaborators, Chaput first in line.« Hudek, Antony (2001): Museum Tremens or the mausoleum without walls: working through Les Immatériaux at the Centre Pompidou in 1985. Manuskript zur Magisterarbeit am Courtauld Institute, University of London, bei Sarah Wilson. Unveröffentlicht. S. 14. 10
EINLEITUNG
stark von den Inhalten, die man zu dieser Zeit üblicherweise in Ausstellungen oder Museen für moderne und zeitgenössische Kunst erwarten konnte. Die Besucher trafen auf Dokumentationen naturwissenschaftlicher Experimente, Hologramme, Film- und Bildprojektionen, interaktive Computerinstallationen und Objekte wie Roboter, Schlafzellen und Kühlschränke, es wurde eine Partitur zeitgenössischer Musik gezeigt, Architekturzeichnungen, Konzept- und Lichtkunst sowie Fraktalbilder. Insgesamt dominierten aktuelle Technologien die Ausstellung, deren Computerterminals, Projektoren und multimediale Installationen zum Avanciertesten gehörten, was in der wissenschaftlichen Forschung und auf dem Markt in den 1980er Jahren erhältlich war. Diese Dominanz war eng an die philosophische Thematik geknüpft, die Lyotard mit der Ausstellung transportieren wollte. Les Immatériaux stellte mittels dieser Exponate die zentrale Frage: »Verändern die ›Immaterialien‹ die Beziehung des Menschen zum Material, wie es in der Tradition der Moderne festgelegt ist, zum Beispiel durch das cartesische Programm: ›sich zum Herrn und Besitzer der Natur zu machen‹?«5 Lyotard war der Meinung, dass ein großer Umbruch stattfände, der durch die neuen Technologien, vor allem Telekommunikation und Informatik, sowohl überhaupt erst sichtbar als auch vorangetrieben würde. Die Entwicklung von der Materie bearbeitenden Industriegesellschaft zur Daten verarbeitenden, informatisierten Gesellschaft habe vor allem Auswirkungen auf den menschlichen Geist, für dessen Funktionen es bisher keinen maschinellen Ersatz gegeben habe. In dem Maße, in dem Technologien in der Lage seien, Vermögen des logos zu übernehmen – durch die Möglichkeiten zur Speicherung und Verarbeitung entmaterialisierter Daten –, relativiere sich die »Beziehung des Menschen zum Material« und damit auch sein Selbstverständnis: »Aber vielleicht wollten wir anhand von Materialität und Immaterialität auch die Frage nach der Identität hervorheben: die Frage nach dem, was wir sind und was die Objekte sind, die uns umgeben.«6 Die neuen Technologien waren sowohl Ausgangspunkt für Lyotards Philosophieren in Les Immatériaux als auch zentrales gestalterisches Mittel der Ausstellung. Durch die große Zahl an Computern, Projektoren und anderen High-Tech-Elementen funktionierte die Ausstellung als Ganzes wie ein überdimensionaler Datenraum, in dem sich Besucher, Objekte, szenographische Elemente und Klänge in einem beständigen 5 6
Lyotard, Jean-François (1985b): Immaterialien. Konzeption. In: Ders. et. al. 1985, S. 75-90, hier S. 79. Lyotard, Jean-François/Blistène, Bernard (1985): Kunst heute? Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Bernard Blistène. In: Lyotard et. al. 1985, S. 55-74, hier S. 74. 11
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Austausch miteinander befanden. Die Ausstellung verwirklichte so Lyotards Bild der zukünftigen Welt, in das er die Besucher hinein holen wollte, um ihnen einen Vorgeschmack auf die verunsichernden Erfahrungen zu bieten, die ihnen in ihrer unmittelbaren, alltäglichen Zukunft seiner Meinung nach immer wieder begegnen würden. Ziel dieses komplexen Settings war – und dies gibt einen ersten Hinweis darauf, warum Lyotard sich auf das für einen Philosophen ungewöhnliche Medium Ausstellung einließ – die Sensibilisierung der Besucher: »Es wird eine Sensibilität zu erwecken versucht, von der wir glauben, daß sie beim Publikum bereits vorhanden ist, jedoch noch ohne Ausdrucksmittel. Die Veranstaltung möchte das Gefühl vom Abschluß eines Zeitabschnitts und die unruhige Neugier verspüren lassen, die im Anbruch der Postmoderne entsteht.«7 Das Medium der multimedialen Ausstellung bot sehr viel weitergehende Mittel als etwa das näher liegende Medium des (wissenschaftlichen) Buches. Durch den unmittelbaren körperlichen Einbezug der Besucher verwickelte Les Immatériaux das Publikum in etwas völlig anderes, als es eine theoretisch-kognitive Auseinandersetzung mit einem Text vermocht hätte, auch wenn keineswegs davon ausgegangen werden kann, dass die Ausstellung einfacher zu verstehen war als ein philosophisches Buch. Dennoch: Sie richtete sich an ein weitaus größeres Publikum, als es üblicherweise der akademischen Philosophie zur Verfügung steht und verlangte von Lyotard, nicht nur einem anderen Medium, sondern auch einem größeren Adressatenkreis Rechnung zu tragen. Er setzte mit Les Immatériaux sein philosophisches Denken im wahrsten Sinne des Wortes in Szene, was in der Geschichte der Ausstellungen bis dahin noch nicht geschehen war, und er schuf ein philosophisches Werk, dessen Medialität es in dieser Zeit zu einem einzigartigen Projekt machte.
1.1. »Merkzettel zur Lektüre«8 Heute, mehr als 20 Jahre, nachdem Les Immatériaux stattgefunden hat, gibt es zwar ein deutlich gestiegenes Interesse an Lyotards ungewöhnlichem Projekt, es fehlt aber nach wie vor eine substanzielle Auseinandersetzung damit. Neben einer Reihe von Quellentexten, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Ausstellung entstanden, liegt zwar eine große 7 8
Lyotard 1985a, S. 11. So nennt Lyotard die ersten 15 Seiten seines Buches Der Widerstreit. Er verhandelt dort die wesentlichen personalen und poetischen Akteure einer Pragmatik des philosophischen Textes wie z.B. Titel, Gegenstand, These, Frage, Kontext, Stil, Leser, Autor und Adressat. 12
EINLEITUNG
Zahl von Rezensionen aus der damaligen Zeit vor, diese Texte sind aber von zwei überraschenden Befunden geprägt: Erstens schreiben viele der Journalisten und Wissenschaftler über einzelne Themen der Ausstellung, vernachlässigen aber die Darstellungsform, das Medium Ausstellung, in auffälliger Weise. Dies gilt sowohl für Berichte in den Feuilletons als auch für die philosophische und kunsthistorische Fachliteratur (letztere hat Les Immatériaux bis auf wenige Ausnahmen völlig ignoriert). Zweitens sind die Autoren bemerkenswert zurückhaltend mit eigenen Analysen, was sich vor allem in der hohen Zahl der Interviews mit Lyotard widerspiegelt, die fundierten Berichten vom Besuch der Ausstellung gegenüberstehen. Diese grundsätzliche Zurückhaltung zeigt sich auch in der philosophischen Fachliteratur: In den meisten Publikationen zu Lyotard wird Les Immatériaux nicht einmal im Index erwähnt, als wenn die Ausstellung nicht auch ein eigenständiges Werk des Philosophen wäre. Der erste Befund steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass es lange nicht dem Habitus der Ausstellungskritik entsprach, die Ausstellung selbst zum Thema zu machen, sondern dass der Schwerpunkt der Auseinandersetzung meistens auf den gezeigten Werken oder Inhalten lag: »Man stelle sich etwa die Rezension einer Opernaufführung vor, die sich auf eine Inhaltsangabe der Handlung beschränkt, hingegen die Leistung des Dirigenten, der Sänger, des Orchesters nicht beachtet, die Regie und ihr Konzept nicht bespricht und bewertet, das Bühnenbild, die Ausstattung, den Stil, das Tempo, die Atmosphäre, den Gesamteindruck der Veranstaltung einfach ignoriert. Bei Ausstellungen ist dies [...] fast die Regel.«9
Der zweite Befund mag mit der für die Philosophie ausgesprochen unüblichen Darstellungsform und der für eine Ausstellung im Kunstmuseum fremdartigen Thematik von Les Immatériaux zusammenhängen. Es ist schlicht nicht möglich, einen Überblick über das Werk Les Immatériaux zu erhalten, ohne sich auch mit den Exponaten und der Szenographie, mit dem Parcours und der Lichtführung, mit den möglichen Reaktionen der Besucher und anderen museologischen oder kunstwissenschaftlichen Fragen zu befassen. Dies dürfte der Philosophie Schwierigkeiten bereitet haben. Und für die Kunstwissenschaft fiel die Ausstellung thematisch aus dem Rahmen und wurde daher für nicht relevant erachtet. So lag dieser Untersuchung die Diagnose zugrunde, dass die grundsätzlich komplexe Aufgabe, über Ausstellungen zu schreiben, durch die 9
Waidacher, Friedrich (2000): Ausstellungen besprechen. In: Museologie online, 2. Jahrgang, S. 21-34, hier S. 23. 13
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Besonderheiten von Les Immatériaux zusätzlich verkompliziert wurde. Viele ineinander greifende Ebenen galt es zugleich zu unterscheiden und in ihrem Gesamtgefüge zu verstehen: Die Thematik und ihre konzeptionelle Umsetzung in einen Parcours, die Gestaltung des gesamten Raumes und kleinerer inhaltlicher Einheiten, die Auswahl der Objekte und ihre Kontextualisierung in der Gesamtgestaltung, die Methoden der Vermittlung und Kommentierung des Ausgestellten und nicht zuletzt der institutionelle und kulturelle Kontext, in dem die Ausstellung produziert und rezipiert wurde. Darüber hinaus musste es gelingen, einen multimedialen Raum angemessen in einen linear aufgebauten Text zu übertragen. Bisher gibt es keine explizite Ausstellungstheorie oder -ästhetik, die Aufgaben wie diesen einen methodischen Boden hätte verschaffen können, so dass diese Untersuchung auch ein methodologisches Projekt darstellt, das seinen Zugriff auf Les Immatériaux erst entwickeln musste und das sich in einer Lücke vor allem der deutschsprachigen Forschungslandschaft positioniert: »Denn grundsätzlich bedarf die Ausstellungstheorie überhaupt einer Anerkennung als Untersuchungsgegenstand, was sich sowohl in der vorliegenden Literatur, der Lehre wie auch der Ausstellungspraxis zeigt.«10 Aus diesen Überlegungen resultiert ein Vorgehen in drei Schritten. Insgesamt fasst diese Untersuchung Ausstellungen als Medien auf, die bestimmte Rezeptionsvorschläge an die Besucher machen: Ausstellungen »kommunizieren mit dem Publikum, wobei ihre Gestaltungsmittel und Techniken die kognitiven und emotionalen Aktivitäten der Besucher vorstrukturieren.«11 Da Lyotard in besonderer Weise nicht nur auf die kognitiven, sondern gerade auch auf die emotionalen Aktivitäten der Besucher abzielte, würde eine Analyse im herkömmlichen Sinn, die primär an den kognitiven Aspekten interessiert ist, die emotionalen jedoch aufgrund ihrer Subjektivität ausblendet, nicht ausreichen, um Les Immatériaux zu verstehen. Die Daten und Fakten rund um Lyotards Projekt – ausstellungshistorische und institutionelle Kontexte, Beschreibungen und Interpretationen der Szenographie und der Objekte, eine Analyse des Kopfhörerprogramms sowie eine summarische Vorstellung der Kataloge und anderer Publikationen – bilden daher einen wichtigen ersten Teil dieser Untersuchung, sind aber nicht ihr zentrales Anliegen. Als eine Art Bindeglied zwischen diesem deskriptiv-analytischen Teil und dem dritten Teil, der aus dem eben erwähnten zentralen Anlie10 Scholze, Jana (2004): Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltungen in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin. Bielefeld, S. 8. 11 Mikos, Lothar (2003): Film- und Fernsehanalyse. Konstanz, S. 12. Mikos bezieht sich auf das Medium Film, das ähnlich komplex und daher auf ähnliche Weise zu analysieren ist wie das Medium Ausstellung. 14
EINLEITUNG
gen hervorgegangen ist, steht ein Mittelteil, der Lyotards Philosophie zum Thema hat. Lyotard fasste die Ausstellung als eine Methode des Philosophierens auf: »[...] j’ai été amené à me demander […] s’il n’était pas possible de philosopher par d’autres moyens«.12 Diese Untersuchung folgt ihm insofern, als sie Les Immatériaux als eigenständiges, einem philosophischen Buch gleichrangiges Werk rezipiert, auch wenn dies keinesfalls bedeutet, dass die Ausstellung wie ein Buch oder ein Text gelesen wird. In leichter Modifikation von Marshall McLuhans Maxime »the medium is the message«13, die den ersten Teil prägt, ist also dieser zweite Teil dem Motto »the way the medium is used is part of the message« gewidmet, indem er philosophische und philosophiedidaktische Hintergründe beleuchtet: Lyotards Auffassung darüber, wie das Medium Ausstellung zu nutzen sei, wird in einem ersten Teil bezogen auf seine Auffassung über das Philosophieren im Allgemeinen sowie auf Aspekte seines Körper- und Theaterbegriffes. Die für Les Immatériaux wesentliche Orientierung an der Sprache als Grundparadigma wird anhand von Lyotards Termini »Sprachspiel«, »Satz« und »Nachricht« im zweiten Teil erörtert. Zudem wird ein bislang nicht veröffentlichter Text aus dem Archiv des Centre Pompidou vorgestellt, in dem Lyotard sich so fundiert wie sonst an keiner Stelle über die Ausstellung und die ihr zugrunde liegenden Philosopheme äußert. Dem eigentlich zentralen Anliegen der Untersuchung trägt die »phénoménologie de la visite« – diese Formulierung stammt von dem Kommunikationswissenschaftler Charles Perraton14 – im dritten Teil Rechnung: Wie hat Lyotard mit dem Medium der Ausstellung und im Hinblick auf ein »möglichst großes Publikum« philosophiert? Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, heißt das Kapitel »phénoménologie de la visite« und nicht »phénoménologie de l’exposition«, weil es um die konkrete Interaktion zwischen der Ausstellung und dem Rezipienten, um das Philosophieren also, geht. Um den Ausstellungsbesuch, und nicht um die Ausstellung allein. Darin folge ich dem französischen Ausstellungstheoretiker Jean Davallon, der eine Ausstellung als »sozio-
12 Soutif, Daniel (1985): Mieux Lyotard que jamais. In: Libération, 28.3., S. 30. 13 So der Titel eines Aufsatzes von McLuhan im NEA Journal, 1967, Vol. 56, Nr. 7, S. 24. 14 Vgl. Perraton, Charles (1986): L’œuvre des petits récits autonomes. In: Cahier Expo-Media (Hg.) (1986): Les Immatériaux au Centre G. Pompidou en 1985. Etude de l’événement exposition et son public. Nr. 1. Paris, S. 1324. 15
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symbolisches Dispositiv«15 versteht, das auf die pragmatischen Aspekte der Kommunikation mit den Besuchern hin befragt werden muß, und ich folge ebenso der Konsequenz, die Davallon daraus zieht: »C’était s’orienter vers une pragmatique portant sur l’agencement matériel qui rend possible et guide la relation au visiteur.«16 Dieser unter dem Schlagwort der »Materialität der Kommunikation«17 verhandelte Fokus auf die Darstellungsform wird flankiert und ergänzt von einem bestimmten Objektbegriff. Objekte in Ausstellungen – und Ausstellungen insgesamt! – werden auf zweierlei Weisen verstanden, in ihrer »ästhetische[n] Doppelpräsenz als Sinn und als Zeichen«18 nämlich, wie Juliane Rebentisch in ihrer Ästhetik der Installation deutlich macht. Ähnlich Fischer-Lichte, und damit sind neben Davallon zwei weitere Ansätze genannt, denen die folgenden Seiten viel verdanken: Die »Unterscheidung zwischen der sinnlichen Wahrnehmung eines Objektes, die als ein eher physiologischer Vorgang begriffen wird, und der Zuweisung einer Bedeutung, die als ein geistiger Akt gilt«,19 sei eine Folge des dualistischen Subjekt-Objekt-Denkens, die sich im Gewand der Trennung von Körper und Geist zeige. Dagegen müsse davon ausgegangen werden, »daß Wahrnehmung und Bedeutungserzeugung der gleiche Prozeß sind.«20 Dieser These legt sie zugrunde: »Bewußte Wahrnehmung erzeugt immer Bedeutung, und ›sinnliche Eindrücke‹ lassen sich daher angemessener als jene Art von Bedeutungen beschreiben, die mir als spezifisch sinnliche Eindrücke bewußt werden.«21 Diese methodische Ausrichtung entspricht Lyotards Vorstellungen darüber, wie Les Immatériaux rezipiert werden sollte: Die Besucher von Les Immatériaux gerieten, bevor sie sich überhaupt mit einzelnen Stationen oder Objekten näher beschäftigen konnten, in eine konsequent inszenierte Atmosphäre: Ohne Orientierung außer der eigenen Neugier und der Bereitschaft, sich auf die nächste Überraschung einzulassen, flottierten sie durch ein gigantisches Ensemble von Sinneseindrücken und Raumbildern, Technologien und manifestierten Theorien: »One’s first impression of the exhibition, then, 15 Davallon, Jean (1999): L’exposition à l’œuvre. Stratégies de communication et médiation symbolique. Paris, S. 18. 16 Ebd. Hervorhebungen A.W. 17 Vgl.: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988. 18 Rebentisch, Juliane (2003): Ästhetik der Installation. Frankfurt a.M., S. 171. 19 Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M., S. 246. 20 Ebd., S. 247. 21 Ebd., S. 246. 16
EINLEITUNG
had to do with the uncertainty of the itinerary and the unsettling experience of audio-visual juxtapositions.«22 Den möglichen Impressionen, die sich an den einzelnen Stationen für die Besucher ergaben, spürt die »phénoménologie de la visite« in ähnlicher Weise nach, wie es der Anthropologe Clifford Geertz für die Begegnung mit einer fremden Kultur fordert: »Die Ethnologen waren sich nicht immer […] darüber im klaren, daß es Kultur zwar in den Handelsstationen, Bergforts und auf den Schafweiden gibt, Ethnologie dagegen nur in Büchern, Artikeln, Vorlesungen, in Museumsausstellungen […]. Sich darüber im klaren zu sein heißt zu realisieren, daß es in der Untersuchung von Kultur ebensowenig wie in der Malerei möglich ist, eine Grenze zwischen Darstellungsweise und zugrunde liegendem Inhalt zu ziehen. […] Die Aufmerksamkeit, die eine ethnographische Erklärung beanspruchen kann, beruht nicht auf der Fähigkeit des Autors, simple Fakten an entlegenen Orten einzusammeln […], sondern darauf, inwieweit er zu erhellen vermag, was sich an derartigen Orten ereignet […]. Wir haben die Triftigkeit unserer Erklärung nicht nach der Anzahl uninterpretierter Daten und radikal verdünnter Beschreibungen zu beurteilen, sondern danach, inwieweit ihre wissenschaftliche Imagination uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu bringen vermag.«23
Die »phénoménologie de la visite« ist daher zugleich Beschreibung, Erzählung und Interpretation und hat einen völlig anderen Stellenwert, als es etwa Nacherzählungen oder Zusammenfassungen von Texten hätten: Sie bringt etwas von dem Werk Les Immatériaux überhaupt erst zum Vorschein. Es handelt sich bei diesem zum Vorschein Tretenden nicht um eine Rekonstruktion der Ausstellung – eine solche Rekonstruktion müsste die Ausstellung tatsächlich erlebbar machen und Anspruch auf eine gewisse Objektivität erheben können. Es handelt sich vielmehr um eine »dichte Nacherzählung« (um den Begriff der »dichten Beschreibung« von Geertz24 zu modifizieren) eines fiktiven Besuches der Ausstellung, in der objektivierbare Daten mit einer subjektiven Vorstellung 22 Birringer, Johannes (1986): Overexposure: Les Immatériaux. In: Performing Arts Journal, 10, S. 6-11, hier S. 8. 23 Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M., S. 24. 24 Geertz spricht in seinem Buch Dichte Beschreibung mit Rückgriff auf Max Weber von einem Bedeutungsgewebe, in das der Ethnologe seine Beobachtungen einbetten muss, will er nicht der Kultur, die er untersucht, Unrecht tun. Der »dünnen Beschreibung«, einer schlichten Auflistung beobachtbarer Fakten, stellt Geertz die »dichte Beschreibung« gegenüber, die im Beschreiben schon in die Bedeutungswelt des zu Untersuchenden eingetaucht ist. Vgl. Geertz 1987. 17
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davon, wie ein solcher Besuch vonstatten gegangen sein könnte, zusammenfließen. Der Horizont, der mein ›Erleben‹ prägte, war – ähnlich vielleicht wie bei tatsächlichen Besuchern – eine Mischung aus persönlichen und wissenschaftlichen Interessen und dem im Laufe der Arbeit neu hinzugekommenen Wissen. Zudem flossen weitere Informationen ein: Texte aus der Saalzeitung Petit Journal sowie den Katalogen und Presserezensionen, Archivmaterial wie Fotografien aus der Ausstellung, Konstruktionspläne, Verträge oder Briefe sowie meine Gespräche mit damaligen Besuchern und Mitarbeitern. Die Ausstellung wird damit nicht als Darstellungsform eines von ihr unabhängigen Inhaltes untersucht, der ebenso eine andere Darstellungsform hätte finden können, sondern als das einzige Medium, dessen Eigenheiten geeignet waren, Lyotards philosophische Ziele zu erreichen. Er setzte diese Eigenheiten als »kognitives Werkzeug«25 und nicht nur als didaktisch aufbereitendes Instrument ein: Das ausgestellte Philosophem ist tatsächlich ein grundlegend anderes als ein gedachtes oder geschriebenes.
25 Dieser Begriff wird vor allem in Bezug auf Computeranwendungen verwendet (vgl. z.B. Willibald Dörfler et al. (Hg.) (1991): Computer – Mensch – Mathematik: Beiträge zum 6. Internationalen Symposium zur Didaktik der Mathematik, Universität Klagenfurt, 23.-27.09.1990. Wien, Stuttgart). Dafür, dass er mich auf diesen Begriff – der eine Formulierung für die Tatsache darstellt, dass die Art und Weise, wie etwas umgesetzt wird, nicht beliebig ist, sondern entscheidende Wirkung auf das Ergebnis hat – aufmerksam gemacht hat, danke ich Stephan Hoppe. 18
T EIL I
»Les Immatériaux was a singular museological exercise – the movement of an influential strand of current French thought into a museum space, a great public or popular display of what thought takes to be our condition. We have seen ›theoretical‹ artefacts, and art for theory’s sake. Here it was the museum itself which was turned into a theoretical object.« Aus: Rajchman, John (2004): The Postmodern Museum. In: Robbins, Derek (Hg.): Jean-François Lyotard. 3 Bde. London, Thousand Oak, New Delhi, S. 229-240, hier S. 231.
2. L E S I M M A T É R I AU X I M K O N T E X T : D E R M U SE U MS B O O M D E R 1980 E R J A H R E I N F R AN K R EI C H
In den späten 1970er und frühen 1980er Jahre erfasste der Museums- und Ausstellungsboom die gesamte westliche Welt. Als ein Teil der Bildungsreform in Europa um 1970 rehabilitierte die Museumsreform die Institution Museum und das Medium Ausstellung, die sich bis dahin häufig den Vorwurf des Verstaubtseins gefallen lassen mussten, als wichtige Teile des gesellschaftlichen Lebens. In Frankreich, wo »dem Medium Museum ein hoher gesellschaftlicher Rang zukommt«1, gab es ein reges Interesse an neuen museologischen Konzeptionen, in deren Kielwasser auch eine intensive wissenschaftliche Debatte entstand. Das zentrale Schlagwort dieser Debatte war »Demokratisierung«, eine explizite Ausrichtung der kulturellen Institutionen auf die breite Masse. Dieser antielitäre Gestus hat in Frankreich früher als in Deutschland dazu geführt, Museums- und Ausstellungsformen zu mischen und museumsdidaktischen Überlegungen den Vorrang vor disziplinären Abgrenzungs- und Zuständigkeitsfragen zu geben. Kulturpolitischen Rückenwind erhielt diese Entwicklung von den so genannten grands projets; vom französischen Staatspräsidenten François Mitterrand initiierte repräsentative Kulturbauten, die ab Mitte der 1980er Jahre die Landschaft der kulturellen Institutionen in Paris beträchtlich veränderten. Die meisten der grand projets sollten zur 200-Jahr-Feier der Revolution 1989 fertig gestellt werden, wie z.B. das Musée d’Orsay und die Wissenschafts- und Technikstadt La Villette (beide 1986), das Institut du Monde Arabe (1987), die Opéra de la Bastille (1989), der Grande Arche in La Défense (1989), der Umbau des Musée du Louvre (1992) und die neue Bibliothèque Nationa-
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Gorgus, Nina (1999): Der Zauberer der Vitrinen. Zur Museologie Georges Henri Rivières. Münster, New York, München, Berlin, S. 135-142, hier S. 14. 21
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le (1996).2 Aber nicht nur diese spektakulären Bauten, sondern auch kleinere Projekte wie die ab Mitte der 1970er Jahre überall in Frankreich entstehenden Ecomusées – Heimatmuseen, die ganze Landstriche in die Verantwortung für Museen des Alltags einbanden – zeigen, wie konsequent die Demokratisierung der Kulturwelt und die Öffnung der »Musentempel« angegangen wurde. Les Immatériaux war ein frühes und besonders radikal betriebenes Projekt dieses allgemeinen Um- und Aufbruchs. Die hohen Kosten von etwa zehn Millionen Francs, die Les Immatériaux zu der bis dahin teuersten Ausstellung im 8 Jahre alten Centre Pompidou machten, zeigen die Bereitschaft, hohe Summen auch in unerprobte Konzeptionen zu investieren. Lyotard wollte sich zwar explizit von dem bisher Bekannten abgrenzen: »Wir versuchen etwas Neues zu machen darin, wie der Raum angeordnet und aufgeteilt wird, wie Sprache und Ton eingesetzt werden…«.3 Ein Blick auf den ausstellungstheoretischen Kontext aber zeigt, dass einige der neuen Ideen damals bereits im zeitgenössischen Diskurs verhandelt wurden. Lyotard äußert sich an keiner Stelle über diesen Widerhall, weder in den vielen Interviews, noch in seinen Texten, noch im Pressematerial des Centre Pompidou. Daher soll hier kein starker kausaler Zusammenhang konstruiert werden. Dennoch ist es lohnend, einige Parallelen aufzuzeigen, um den Boden sichtbar zu machen, auf dem sich alle Akteure bewegt haben, Kuratoren ebenso wie Kritiker und Besucher. Drei institutionelle Zeitzeugen sollen herangezogen werden, um das diskursive Feld zu skizzieren: Der Centre Pompidou als erstes programmatisches Museum der Demokratisierung und zudem als besonders gut geeigneten Ort für ein Projekt wie Les Immatériaux und zwei grand projets, die beide im selben Zeitraum entstanden wie Lyotards Ausstellung, das Musée d’Orsay und La Villette. Les Immatériaux fand in der fünften Etage des Centre Pompidou statt, dort also, wo seit der Eröffnung des Museums die großen Sonderausstellungen veranstaltet werden. Das Centre Pompidou, genauer: Centre National d’Art et de Culture Georges Pompidou, ist »ein Kind des Mai 1968«4 und befindet sich im Herzen von Paris. In einem der ältesten Viertel der Stadt erbaut, sorgte der futuristische Fremdkörper zu Beginn sowohl für Erstaunen als auch für Entsetzen. Dennoch hat sich »Beau2
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Vgl. dazu und zur Stadtentwicklung von Paris allgemein: Schüle, Klaus (1997): Paris. Vordergründe - Hintergründe - Abgründe. Stadtentwicklung, Stadtgeschichte und sozialkultureller Wandel. München. Lyotard, Jean-François/Derrida, Jacques (1985): Philosophie in der Diaspora. J.-F. Lyotard im Gespräch mit Jacques Derrida. In: Lyotard et. al. 1985, S. 19-26., hier S. 24. Dufrêne, Bernadette (2000): La création de Beaubourg. Grenoble, S. 19. 22
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bourg«, wie die Pariser das Kulturzentrum in Anlehnung an den aus dem Mittelalter stammenden Namen des Viertels nennen, direkt nach seiner Eröffnung am 2.2.1977 zu einem Publikumsmagneten entwickelt, dessen Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst zu den weltweit größten gehört und dessen nach wie vor spektakuläres Ausstellungsprogramm bis zu acht Millionen Besucher im Jahr anzieht. Zu dem Architekturwettbewerb, den der damalige Präsident Frankreichs, Georges Pompidou, 1970 ausschrieb, wurden 681 Projekte aus 49 Ländern eingereicht. Renzo Piano aus Italien und Richard Rogers aus England gewannen die Ausschreibung, nicht zuletzt auch, weil sie vor der Westfassade des Gebäudes eine große Freifläche einplanten, die Piazza, auf der sich heute Portraitzeichner, Straßenmusiker und Touristen tummeln und die für eine Einbindung des riesigen Gebäudes in das Viertel sorgt. Von 1972 bis 1977 wurde der monumentale Bau erstellt, dessen Maße von 166 Metern Länge, 60 Metern Breite und 42 Metern Höhe ihn inmitten der eng bebauten Innenstadt wie ein »gelandetes Raumschiff«5 aussehen lassen. Diese Assoziation entsteht jedoch nicht nur durch die ungewöhnliche Größe des Gebäudes, das annähernd doppelt so hoch ist wie die an es angrenzenden Bauten aus der Haussman-Zeit. Hinzu kommt, dass Piano und Rogers sämtliche Versorgungsleitungen, die normalerweise im Inneren verborgen werden, an die Außenseite legten. Ein imposantes Gewirr aus je nach Funktion in den Farben rot, gelb, grün und blau bemalten Rohren unterschiedlichen Durchmessers, Verstrebungen, Fahrstühlen und Treppen dominiert die Fassade. Wie in einem Diagramm wird so mit einem schlichten visuellen Mittel eine Struktur lesbar, die sonst verborgen bliebe. Zudem ist das gesamte Gebäude in einer weiß gestrichenen Skelettstruktur aufgehängt, sämtliche tragenden Teile liegen außen. Diese Konstruktionsweise hatte vor allem ein Ziel: die fünf etwa 7500 qm großen Etagen möglichst von allem freizuhalten, was eine flexible Bespielung der Ausstellungsräume behindern könnte. Vier Abteilungen gehören zum Centre Pompidou: das Musée National d’Art Moderne (MNAM) – dessen Gründungsdirektor der Schwede Pontus Hulten war, was in patriotisch gestimmten Kreisen für einigen Unmut sorgte: »Voilà l'héritage national entre les mains d'un Suédois«6 –, die erste kostenlose öffentliche Bibliothek Frankreichs, die Bibliothèque publique d'information (BPI), ein Forschungsinstitut für Neue Musik, das Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique 5 6
Schüle 1997, S. 111. Perrot-Lanaud, Monique (1996): Centre Georges Pompidou. Vingt ans de culture pour tous. In: Arts & Spectacles Nr. 25, 9. www.diplomatie.gouv. fr/label_france/FRANCE/ART/POMPIDOU/pompidou.html(11.11.05). 23
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(IRCAM), und das Centre de Création Industrielle (CCI), unter dessen Direktor François Burkhardt Les Immatériaux entstand. Die Struktur dieser Abteilungen bildet das zentrale Ziel des Centre Pompidou ab: die sich elitär gerierende Kulturwelt dem großen Publikum zu öffnen. Lyotard benennt diesen Spagat mit den Worten »Beaubourg, Ort der Avantgarde und gleichzeitig Volkshochschule«7 und äußert damit einen leisen Zweifel am Gelingen eines solchen Vorhabens, obwohl er für Les Immatériaux auf gerade dieses Konzept zurückgreift. Ob nun Präsident Pompidou nach dem Mai 1968 »seine großkapitalistische Herkunft durch eine kulturelle Großtat kaschieren«8 oder ob er generell auf die veränderte Stimmung nach den Studentenunruhen reagieren wollte, sei dahin gestellt. Tatsache ist, dass das Centre Pompidou, eines der ersten großen repräsentativen Pariser Kulturbauwerke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit viel Erfolg auf eine komplexe soziokulturelle Situation antwortete: »Reclaiming Paris as the center of international avant-garde, heeding the lessons of the spring 1968 about abolishing outmoded conventions and embracing the populace, affirming new technology, and revitalizing a neighborhood in serious decline (the Marais) were all factors determining the shape and character of both the building and its programs.«9 Die Sichtbarkeit der Struktur des Gebäudes, die »Entmaterialisierung« der Innenräume durch das nach außen verlagerte Skelett, die programmatische Öffnung zum Massenpublikum oder die durch die vier Abteilungen gewährte Interdisziplinarität sind Aspekte der Institution Centre Pompidou, die sich in Les Immatériaux wiederfinden lassen. Ohne eine derartige Analogie allzu sehr zu strapazieren, kann man sagen, dass es sicherlich keinen anderen Ort in Paris gegeben hätte (und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt in Europa einen anderen Ort mit einem ähnlichen Bedingungsgefüge – z.B. die Verankerung der Intellektuellen in der französischen Gesellschaft10 oder die Technikbegeisterung der Franzo7
Lyotard, Jean-François/Burkhardt, François (1985): Design jenseits von Ästhetik. Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und François Burkhardt. In: Lyotard et. al. 1985, S. 27-33, hier S. 31. 8 Schüle 1997, S. 111. 9 Stich, Sidra (2002): Art-Sites Paris. San Francisco, S. 71. Vgl. zu Geschichte, Konzeption und Rezeption der Institution Centre Pompidou Dufrêne 2000. 10 Vgl. z.B. Marquart, Christian (1985): Zwischen Postmoderne und Transavantgarde. In: Stuttgarter Zeitung, 4.5., S. 50 S. 50: »Les Immatériaux ist [...] ein höchst unkonventionelles Unternehmen [...], und es läßt sich wohl behaupten, daß ein derartig subversives Projekt bei den Kulturpolitikern des Bonner Schlages keine Chance hätte.« 24
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sen11 – hätte geben können), an dem Lyotards ungewöhnliches Projekt besser aufgehoben gewesen wäre. Die Einschätzung von Bernadette Dufrêne, die ein Standardwerk über das Phänomen Centre Pompidou geschrieben hat, klingt jedenfalls beinahe wie eine Synopsis von Les Immatériaux: »Beaubourg, institution des années soixante-dix, au moment même où se crée une nouvelle discipline universitaire, ›les sciences de l’information et de la communication‹, s’inscrit dans une problématique de la communication; il s’agit de concevoir et de mettre en place […] des dispositifs de production et de communication de l’information et non plus de se contenter de faire admirer par le grand public les objets d’une culture vulnérable : l’œuvre d’art, le livre, l’œuvre musicale.«12
Die diskursiven Erschütterungen, die das Mammut-Projekt Centre Pompidou mit sich brachte, fanden ein Echo in weiteren großen und neuartigen Ausstellungsinstitutionen, wie etwa dem im Dezember 1986 eröffneten Musée d’Orsay. Diese Mischung aus historischem Museum und Kunstmuseum warf einerseits Fragen nach kulturellen und historischen Identitäten neu auf und stellte andererseits die bisherigen ausstellungstheoretischen und -praktischen Konventionen auf den Kopf.13 Das gegenüber dem Musée du Louvre gelegene Bahnhofsgebäude von Victor Laloux, in dem sich das Musée d’Orsay heute befindet, war zur Weltausstellung 1900 fertig gestellt worden. Es sollte in den 1970er Jahren eigentlich abgerissen werden, da es seit 1939 nicht mehr als Bahnhof genutzt wurde. 1978 wurde es jedoch unter Denkmalschutz gestellt, was es 11 Vgl. z.B. Wiegand, Wilfried (1985): Die körperlose Kunst oder: Reklame für die Zukunft. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.7., S. 27: »Die Franzosen aber glauben, für ihre Technik, Forschung und Wirtschaft habe eben gerade die Zukunft begonnen. [...] Die Regierung tut alles, um diese Begeisterung anzuheizen. Kritik [...] fehlt fast völlig.« 12 Dufrêne 2000, S. 15. 13 Zu einer solchen konzeptionellen Erweiterung der traditionellen Museumstypen war man in Frankreich früher bereit als in Deutschland. Vgl. Gorgus 1999, S. 13: »[Man] errichtete [...] mit dem Musée d’Orsay ein Kunst- und Geschichtsmuseum von nationaler Tragweite. In Deutschland wäre dies vermutlich nicht möglich gewesen, bezweifelte doch die Fachwelt bis Mitte der neunziger Jahre die Notwendigkeit eines nationalen Museums, da es, so die Argumentation, doch schon so viele Heimatmuseen und Freilichtmuseen gebe. Ein Grund dafür liegt in der scharf gezogenen Grenze zwischen Kunst- und Geschichtsmuseum.« Vgl. auch Ebd., S. 14: »Die Tendenz, Geschichte mit dem kunsthistorischen Präsentationsprinzip zu verbinden, lässt sich in Frankreich früher als in Deutschland konstatieren.« 25
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ermöglichte, dieses monumentale Beispiel der Pariser Gusseisenarchitektur des 19. Jahrhunderts zu erhalten. Das Musée d’Orsay zeigt Malerei, Skulptur, Grafik, Architektur, Fotografie und Kunsthandwerk aus den Jahren 1848 bis 1914 – zwei Rahmendaten, die politischen, aber nicht künstlerischen oder kunsthistorischen Zäsuren entsprechen. Es vereint Kunstwerke und historische Objekte als gleichwertige Inhalte einer gemeinsamen musealen Präsentation und stellt Meisterwerke der Avantgarde neben weniger bekannte Objekte von akademischen und offiziellen Künstlern und Kunsthandwerkern: »The museum itself is an exciting, uniquely organized cultural factory. More than simply an art museum, it is dedicated to all forms of artistic expression of a specific era. […] even the permanent exhibitions denote the historical, social and cultural context for the art.«14 Diese Grenzüberschreitungen stellten ein neues Konzept dar, nicht nur für das Ausstellen von Kunst, sondern auch für die Institution Kunstmuseum. Sie wurden sowohl von der Kritik als auch vom Publikum mit Begeisterung wie mit Ablehnung aufgenommen. Der ungewöhnlich hohe Stellenwert, den historische, politische und kunstsoziologische Kontextualisierungen erhielten, verwirrte die Besucher, die Schwierigkeiten damit hatten, die sehr unterschiedlichen Rezeptionsvorschläge des Museums einzuordnen: »Critics have tried to make sense of the blizzard of signifiers that issue forth from Orsay by placing them in the context they find most meaningful, that of recent art history. In the process they have, with some exceptions, tended not to notice that many of Orsay’s signals have to do with a very different context, the history of the art museum as an institution.«15 Die neue Museumsform wurde aber keineswegs nur von der Kunstwelt infrage gestellt, auch wenn diese sich mit besonderer Sorge zu den programmatischen Experimenten des Musée d’Orsay äußerte.16 Mitterrand berief 1981 die Historikerin Madeleine Rebérioux in den Planungsausschuss des Museums, was zu ebenso angeregten Debatten bei den Geschichtsdidaktikern wie in den politischen Seminaren der Hochschulen führte. Das Musée d’Orsay war ein Projekt, das die Demokratisierung der kulturellen Welt über die Frage nach der historischen Identität seiner Besucher vorantrieb: Nicht mehr elitärer Kunsttempel, sondern 14 Stich 2002, S. 131. 15 Ebd. 16 Vgl. Rebérioux, Madeleine (1990): Ort der Erinnerung oder Ort der Geschichte? Das Museum des 19. Jahrhunderts in der Gare d’Orsay. In: Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.) (1990): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt a.M., New York, S. 167-178, hier S. 167. 26
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Ort der Verhandlung eines historischen und damit politischen Bewusstseins wollte es sein. Nicht nur die Kunst- und Geschichtswissenschaften rückten so in den Fokus des allgemeinen gesellschaftlichen Interesses, auch Natur- und Technikwissenschaften entdeckten das Museum als Ort der Vermittlung und Popularisierung ihrer Themen. Nachdem mit dem Exploratorium in San Francisco 1969 das erste Science Center der Welt eröffnet worden war und dieser neue Museumstyp in den USA schnell Verbreitung gefunden hatte, folgten etwas später europäische Science Centers, regionale Wissenschaftsmuseen, technisch geprägte Erlebnisparks und Wissenschaftsfestivals. Ihr allgemeines Ziel war es, die Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften in Neugier und Faszination umzuwandeln. Ein Großteil dieser frühen Projekte ging davon aus, dass »die wissenschaftliche Ausstellung ein Instrument der Wissensvermittlung sei«17 und adressierte sich an ein Publikum, das – in »Verkennung der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise«18 – »gesicherte Erkenntnisse«19 von der Wissenschaftsvermittlung erwarte. Sie zeigten daher oftmals »einen positivistischen Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Forschung und wirtschaftlichem Wohlstand«20 und boten damit gerade nicht diskursive Foren für kritische Fragen. In diesen Kontext lässt sich auch die Wissenschafts- und Technikstadt La Villette im Norden von Paris einbetten. La Villette entstand parallel zu Les Immatériaux und ist doch Stellvertreter für ein nahezu konträres wissenschaftstheoretisches und -didaktisches Programm. Auf einem ehemals am Stadtrand gelegenen Areal errichtete man ab 1979 einen 30 Hektar großen Park, die Musikstadt Cité de la Musique und die Konzerthalle Le Zénith. Der Bau des eigentlichen Science Centers, die Cité des Sciences et de l’Industrie, wurde 1980 begonnen und 1986 fertiggestellt. Das Konzept der Institution, deren Name Cité des Sciences et de l’Industrie bereits auf eine Mischform aus klassischem Science Center und Industrie- und Technikmuseum hinweist, beruht auf fünf Zielen. Es soll Ort der Emanzipation, der Bildung, der Vertiefung von Wissen, der sozialen Transformation und der Diskussionen sein, so die Selbstdarstellung auf der Homepage. Es soll sichtbar werden, dass naturwissenschaftliches Wissen für das alltägliche Leben relevant ist, dass es ebenso wichtig und kulturell prägend ist wie anderes Wissen. Dieser Ansatz der Emanzipie17 Turner, Matthew (2003): Wissenschaftliche Ausstellungen und die Zukunft des Designs. In: museumskunde 68/1, S. 101-107, hier S. 104. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 27
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rung der Besucher zog im ersten Jahrzehnt von La Villette etwa 1,8 Millionen Besucher jährlich an. Der Erfolg dieser frühen Jahre beruhte zu einem großen Teil auf der Interaktivität der Exponate, die zu eigenen Experimenten einluden: »A kind of contagious wild energy and excitement affects visitors of all ages as they get hooked and become challenged by some scientific or technological device.«21 Gerade die interaktiven Multimedia-Exponate brachten La Villette in den folgenden Jahren allerdings in Schwierigkeiten: Sie verloren rasch den Nimbus des faszinierenden Neuen und wurden, so kritisiert z.B. Klaus Schüle, durch fehlende (sozial)geschichtliche Einbindung zu Ikonen der französischen High-TechBegeisterung. In der Folge ist das Konzept von La Villette vielfach als »Gemisch aus staatlich-nationaler Selbstdarstellung, Werbung und Industrie« kritisiert worden, dessen »billige Technikgläubigkeit stellenweise wirklich schwer zu ertragen«22 sei. La Villette spiegelt damit sowohl die Bedürfnisse als auch die Befürchtungen, die von der Gesellschaft auf Naturwissenschaft und Technik projiziert wurden: »Dans les années 1980 […] la science était perçue comme la clé du progrès et la solution à tous les problèmes de l'humanité. Aujourd'hui, la relation des citoyens à la science et à la technique a changé. Ils expriment des demandes plus concrètes et plus personnelles touchant à leur vie quotidienne […].«23 In einem Klima, in dem Naturwissenschaften und Technik von der Gesellschaft die Aufgabe zugeschrieben wurde, die Welt verständlich zu machen und die Bedingungen des Lebens zu verbessern, nahm sich Les Immatériaux wie ein Fremdkörper aus, der derartige Erwartungen programmatisch enttäuschte. Der Ausstellungsdesigner Matthew Turner warf 2003 einen Blick zurück auf die letzten 20 Jahre der Science Centers und kommt zu einem Schluss, der zeigt, dass Lyotards Projekt keineswegs dem ausstellungsdidaktischen Programm seiner Zeit entsprach, sondern eher eine Entwicklung vorwegnahm. So seien Wissenschaftsausstellungen in den 1980er Jahren von einem »grob positivistischen, unternehmerischen Ansatz unter den Schlagwörtern ›Wissenstransfer‹ und ›Leidenschaft wecken‹« geprägt gewesen und hätten erst später »zu komplexeren Formen ›konativer‹ Motivation und […] Modellen ›umstrittenen Wissens und umkämpfter Werte‹«24 gefunden. Das Paris der 1980er Jahre war, so zeigen diese exemplarischen Exkurse in die Museumsgeschichte, aufgrund einer einmaligen Gemengela21 Stich 2002, S. 246. 22 Schüle 1997, S. 116. 23 So Nicole Pot, Generaldirektorin der Cité, in Le Monde. Vgl. Le Hir, Pierre (2001): La Cité de La Villette à Paris à la recherche d’un deuxième souffle. In: Le Monde, 02.03. 24 Turner 2003, S. 106. 28
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ge aus politischem Repräsentationswillen und intensivem intellektuellen Austausch zwischen akademischen und kulturellen Institutionen eine ausgesprochen lebendiger Ort für ausstellungstheoretische Diskurse. Daraus erklärt sich auch, dass diejenige Institution, die Les Immatériaux initiierte und Lyotard als Kurator anfragte, ein an einem Museum angesiedeltes, interdisziplinäres Forschungsinstitut mit schwer greifbarem Profil war: das Centre de création industrielle (CCI). Es wurde 1969 gegründet und 1977 in das Centre Pompidou aufgenommen.25 Auch das CCI wandte sich explizit sowohl an Experten als auch an die breite Öffentlichkeit, sein Ziel war ein »regard critique sur les objets, les signes et les espaces de la société industrielle contemporaine sur leur portée et leurs enjeux«,26 Themen waren vor allem Design, Architektur, neuen Technologien und soziale Innovationen. Von August 1981 an plante man im CCI eine Ausstellung zum Themenkreis Materie-Technologie-neue Medien, die 1983 eröffnet werden sollte und deren provisorischer Titel Création et Matériaux Nouveaux lautete. Lyotard hatte ein paar Jahre vorher, 1979, La condition postmoderne (dt. Das Postmoderne Wissen, 1999) als »Gelegenheitsschrift«, wie er selbst sagt, für den Universitätsrat der Regierung von Québec veröffentlicht. Dieser Text, eine Untersuchung über »die Lage des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften«,27 ist einer der wichtigsten philosophischen Schlüsseltexte für die Diskussion um die Postmoderne und fragt, inwiefern »neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, in der Politik, im Alltagsleben und in der Kunst nicht nur, wie sonst üblich, als Fortschreibung des Projekts der Moderne zu verstehen, sondern [...] als Phänomene des Bruches mit diesem Projekt zu begreifen [sind].«28 Die Auseinandersetzung mit Paradigmen der neuen Technologien, die Lyotard in diesem Buch führt, war für das CCI Anlass, ihn als Leiter für das Ausstellungskonzept in Betracht zu ziehen. Lyotard war einverstanden, änderte allerdings als erstes den Titel ab: »Zuerst sollte sie Neue Materialien und Kreation heißen. Ich habe dann das Sujet der Ausstellung ein bißchen abgewandelt und versucht, ihm eine andere Dimension 25 Seit 1995 ist es nicht mehr eigenständig, sondern Teil des Musée National d’Art Moderne. Sein offizieller Titel lautet heute: Bibliothèque Kandinsky – Centre de documentation et de recherche du Musée national d'art moderne – Centre de création industrielle. 26 Bertrand, Pascale (1987): Beaubourg: les dix premières années du Centre Georges Pompidou. 1977-1987. Beaux-Arts Magazine, Paris, S. 110. 27 Lyotard, Jean-François (1999): Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien. S. 13. 28 Peter Engelmann in ebd., S. 9. 29
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zu geben. Denn ich habe mich gefragt : ›Kreation‹ – was ist darunter zu verstehen ? Ebenso ›neu‹… Was sagt der Begriff ›Materialien‹ heute z.B. einem Architekten oder einem Industriellen?«29 Das CCI nahm seinen Vorschlag an. Lyotard war damit zuständig für das Konzept der Ausstellung, für ihre Produktion und Finanzierung, für die Umsetzung des Konzepts, für die Koordination der Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern des Centre Pompidou und externen Experten sowie für die Entwicklung des Kataloges, der audiovisuellen Produktionen und des Begleitprogramms.30 Er stieg zu einem Zeitpunkt in das Projekt ein, als das CCI bereits eine zeitlang daran gearbeitet hatte und einige Ideen schon konkretisiert worden waren: »L’équipe donc était déjà là, il y avait déjà l’idée de remplacer des cimaises par des trames, on avait déjà pensé à réaliser le catalogue par une expérience d’écriture. Je me suis trouvé de plain pied dans le concept.«31 Seine Arbeit mit den Mitarbeitern während der zwei Jahre, die zur Vorbereitung der Ausstellung zur Verfügung standen, war sehr intensiv, er hatte ein Büro im Centre Pompidou und kam jeden Tag. Das Team bestand aus Lyotard und Thierry Chaput als Leiter des Projektes sowie fünf Mitarbeiterinnen des Centre Pompidou: Martine Moinot, die die Hauptverantwortliche für die Koordination war, Nicole Toutcheff, Catherine Testanière und Sabine Vigoureux für alle weiteren konzeptionellen und organisatorischen Aufgaben sowie Chantal Noel für den Katalog. Zudem gehörte als externer Mitarbeiter der Ausstellungsarchitekt Philippe Délis dazu, der bis dato weitgehend unbekannt war. Außerdem war eine Reihe von Wissenschaftlern regelmäßig an den Vorbereitungen beteiligt, u.a. Mario Borillo (Informatik, Kognitionswissenschaft), Paul Caro (Chemie), Michel Cassé (Astrophysik), Pierre Rosensthiel (Mathematik) und Jean-Louis Boissier (Physik, Medienkunst). Lyotard wollte damit die Arbeit an Les Immatériaux wissenschaftlich absichern: »Während der Ausstellungsvorbereitung haben wir auch Begegnungen und Beratungen mit etlichen Wissenschaftlern organisiert, wodurch ich mich wieder ein wenig auf den neuesten Stand des etablierten Wissens bringen wollte. Dabei ist mir nun aufgefallen, daß es so etwas wie ein feststehendes Wissen gar nicht gibt. Vielleicht ist das übertrieben, aber man muß schon anerkennen, daß die
29 Lyotard/Blistène 1985, S. 61. 30 Vgl. Brief von Jean Maheu an Jean-François Lyotard, Box 94033/668, Archiv des Centre Pompidou. 31 Lyotard im Gespräch: Dumont, François (1985): C’est notre sensibilité qui change d’échelle. In: Le Matin de Paris, 28.3., S. 23-24, hier S. 23. 30
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Vorstellung eines abgesicherten Wissens ziemlich althergebracht und dürftig ist.«32
Obwohl Lyotard als Kopf von Les Immatériaux gesehen wird – von 59 Rezensionen, die mir vorliegen, werden in lediglich einer Thierry Chaput und in einer anderen der CCI-Direktor Burkhardt interviewt –, ist er in den Gesprächen mit der Presse immer wieder darum bemüht, seine Position zu relativieren: »Ce fut un véritable travail d’équipe, et il n’est pas question que je revendique pour moi seul la responsabilité des Immatériaux. Mon rôle, ce fut un peu d’articuler les concepts, c‹était un peu ma spécialité, je me suis cantonné à cela. Ma seule ›idée‹ ce fut le son.«33 Die komplexe Thematik der Ausstellung und ihre Umsetzung in einen Parcours haben sich langsam entwickelt. Der Ausstellungsarchitekt Philippe Délis erzählt, es habe lange keine Überlegungen zur räumlichen Gestaltung gegeben, um die theoretische Basis erarbeiten zu können, ohne allzu früh von pragmatischen Zwängen gelenkt zu werden: »Le schéma de l’exposition est donc resté une matrice très longtemps jusqu’à ce que l’on connaisse finalement les choses qu’on allait exposer.«34 Délis berichtet weiter, er habe lange Zeit mit Zeichnungen gearbeitet, in denen die Stationen nur durch Rechtecke angedeutet wurden, um alle Elemente als gleichwertig darstellen zu können und zu verhindern, dass eine Station oder ein Weg wichtiger wurde als die anderen.35 Erst Anfang Februar 1985, zwei Monate vor der Ausstellungseröffnung, begannen die ersten Aufbauarbeiten der räumlichen Struktur, ab Anfang März wurden die Stationen installiert, am 28.3.1985 fand die Eröffnung statt.
32 Lyotard/Blistène 1985, S. 56. 33 Lyotard im Gespräch mit Dumont 1985, S. 23. Diese Bescheidenheit scheint keine Koketterie zu sein. Sowohl Martine Moinot (Gespräch mit der Autorin in Paris am 5.10.2005) als auch William Chamay, der damals für den Aufbau der Ausstellung verantwortlich war (Gespräch mit der Autorin in Paris am 26.9.2004), erzählen heute noch mit viel Begeisterung von der offenen und an jeder Meinung interessierten Atmosphäre, die Lyotard in den Sitzungen des Teams zu verbreiten wusste. 34 Hudek 2001, Annex 1. 35 Vgl. Ebd. 31
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VON
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Keinem der Mitte der 1980er Jahre üblichen Ausstellungstypen ließ sich Les Immatériaux ohne Schwierigkeiten zuordnen. Sowohl die Komplexität des Themas als auch die aufwändige Ausstellungsgestaltung waren etwas Neues: »A la fois exposition documentaire, exposition spectacle, exposition communication sociale, exposition artistique, elle n’appartenait pleinement ni à l’une ni à l’autre de ces catégories.«1 Lyotard wollte mit Les Immatériaux, der »[...] exposition qui enfin travaille sur la pensée«2, völlig unterschiedliche Formen von »Denken« darstellbar machen: Es ging um gesichertes naturwissenschaftliches Wissen ebenso wie um offene Fragen, um moralisch-ethische Probleme der Bewertung neuer technologischer Möglichkeiten, um Beschreibungen und Analysen von Vergangenheit und Gegenwart und um komplexe philosophische Diskurse. Diese Untersuchung von Les Immatériaux geht mit dem französischen Ausstellungstheoretiker Jean Davallon davon aus, dass die Analyse einer Ausstellung den speziellen Rezeptionsvorschlägen Rechnung tragen muss, die die Ausstellung durch ihre besondere Gestalt und ihre besondere Medialität an die Besucher macht: »[…] l’exposition proposerait un mode de réception de ce qui est exposée […]. [Elle] serait au service de ce qu’elle montre. Non seulement elle montrerait des ›choses‹, mais toujours indiquerait comment les regarder. L’exposition pourrait être ainsi abordée comme un média.«3 Insgesamt liegt, Davallons Position ein wenig modifizierend, dem Folgenden zugrunde, dass »jede Ausstellung [...] einerseits vorgegebenen Kommunikationsstrukturen unterworfen [ist] und andererseits selbst neue
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Davallon, Jean (1986): Le présent des Immatériaux. In: Cahier Expo-Media (Hg.) (1986): Les Immatériaux au Centre G. Pompidou en 1985. Etude de l’événement exposition et son public. Nr. 1. Paris, S. 7-11, hier S. 8. Brief eines »Jacques« an Lyotard, Box 94033/667, Archiv des Centre Pompidou. Durch einen Handschriftenvergleich hat sich gezeigt, dass es sich bei »Jacques« nicht um Derrida handelt. Davallon 1999, S. 7, Hervorhebungen im Text. 33
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Kommunikationsstrukturen [entfaltet].«4 Beide Aspekte, die je einer produktions- und einer rezeptionsästhetischen Ausrichtung entsprechen und in der Realität einer Ausstellung nicht voneinander zu trennen sind, werden berücksichtigt. Die produktionsästhetische Perspektive entspricht der Frage, mit Hilfe welcher Gestaltungselemente die Ausstellung welche Kommunikationsstrukturen entfaltete (Kapitel 3.1.). Die rezeptionsästhetische Perspektive entspricht der Frage, welchen Kommunikationsstrukturen die Ausstellung unterworfen war, welche Erwartungen also von den Besuchern an sie herangetragen wurden. Diese Perspektive basiert auf der Annahme, dass die aus unterschiedlichen Bereichen stammenden Objekte in der Ausstellung unterschiedliche Verstehenskontexte evozierten und damit die Rezeption der Besucher beeinflussten (Kapitel 3.2.). Jeder konventionellen Ausstellung wäre mit einer solchen Differenzierung sinnvoll und erschöpfend Genüge getan. Doch Lyotard arbeitete mit drei weiteren Ebenen, die sowohl inhaltlich als auch strukturell eigenständige Bereiche des komplexen Projektes bildeten. Dazu gehörten einerseits das Kopfhörerprogramm und andererseits drei inhaltliche Metasysteme, die sich weniger im Raum als in den Texten über die Ausstellung zeigten: (a) das aus kommunikationstheoretischen Modellen abgeleitete mât-System, das für die Differenzierung der fünf Wege untereinander zuständig war, (b) die thematische Entwicklung aller Wege »vom Körper zur Sprache«,5 und (c) ein unsichtbares Netz von Bezügen zwischen Stationen verschiedener Wege.
3 . 1 . A u s s t e l l u n g s r a u m u nd S t a t i o n e n Les Immatériaux fand, wie alle großen Sonderausstellungen im Centre Pompidou, auf einer Fläche von etwa 3000 qm in der fünften Etage des Museums statt. Der Eingang befand sich in einem Vorraum mit Garderobe und Buchladen, in dem die Kopfhörer und das Petit Journal ausgeteilt wurden und in dessen rechter hinterer Ecke man in die Ausstellung hinein und aus dessen linker hinterer Ecke man heraus kam.6 Von diesem Vorraum aus konnte man nicht in die Ausstellung hineinsehen, es blieb also – auch durch den enigmatischen Titel und das Signet von Les Immatériaux, ein eigenartig in sich verschraubter Fingerabdruck – unklar, was die Besucher erwartete, bis sie sich wirklich darin befanden. 4 5 6
Schmolke, Michael (2003): Ausstellungen und die Kommunikation der Gesellschaft. In: museumskunde 68/1, S. 112-116, hier S. 112. Lyotard 1985a, S. 12. Plan von Philippe Délis vom 21.1.1985, Archiv Br. 94033/240. 34
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Abb. 1a: Grundriss vom vorderen...
Abb. 1b: ... und vom hinteren Teil von Les Immatériaux (Überarbeitung eines Grundrisses aus dem Inventaire).
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Der Ausstellungsraum war in fünf inhaltlich voneinander unterschiedene Wege unterteilt. Sie verliefen im Großen und Ganzen von Süden nach Norden parallel zur Längswand des Gebäudes und waren durch keinerlei Elemente der Ausstellungsgestaltung markiert. Der Verlauf eines Weges ließ sich nur nachvollziehen, wenn man mit dem Grundriss aus der Saalzeitung Petit Journal den eigenen Parcours mitverfolgte. Zu jedem Weg gehörten mehrere Infrarot-Sendezonen für das Kopfhörerprogramm, insgesamt waren es 31. Jede Sendezone wiederum war in eine oder mehrere Stationen unterteilt, wobei alle einer Zone zugeordneten Stationen auch auf demselben Weg lagen. Zusätzlich zu den Stationen gab es außerdem in Zwischenräumen, toten Winkeln und auf den Rückseiten von Displays kleine Räume, in denen das technische Equipment benachbart gelegener Stationen untergebracht war. Die ersten drei Stationen der Ausstellung, die keinem der fünf Wege angehörten und die jeweils eine eigene Zone bildeten, lagen hintereinander und mussten von allen Besuchern passiert werden. Hinter der dritten Station begannen die fünf Wege durch die Ausstellung, die so angeordnet waren, dass die Besucher wählen konnten, mit welchem Weg sie beginnen wollten. Zudem konnten sie – je nachdem, auf welchem Weg sie sich befanden – nach zwei, drei oder vier Stationen zu einem anderen Weg wechseln; eine Möglichkeit, die insgesamt das Wegesystem prägte und die für Lyotard von konzeptioneller Bedeutung war: Der Besucher »wird nicht gezwungen, aber doch geleitet.«7 Wege, Kopfhörer-Zonen, Stationen und Objekte verdichteten sich, je nach gewähltem Parcours, zu kleinen Einheiten von Bildern, Themen und Informationen.8 Die Ausstellung gab also keinen linearen Parcours vor, sondern ermöglichte einen Spaziergang, über dessen weiteren Verlauf an jeder Ecke dieses großen Labyrinths aufs Neue entschieden werden musste. Den Besuchern gelang es an keinem Standort in der Ausstellung, eine das Ganze beherrschende Position einzunehmen. Bereits im Grundriss von Les Immatériaux war somit eine bestimmte Vorstellung angelegt, wie die Besucher die Ausstellung rezipieren sollten. Die den Raum unterteilenden Wände bestanden aus 350 zwischen Decke und Fußboden eingespannten Bahnen aus einem speziell für Les 7 8
Lyotard 1985a, S. 12. Der Grundriss von Les Immatériaux funktionierte somit ähnlich wie Lyotards Texte, deren »heterotope Schachtelstruktur« (Gehring, Petra (1994): Innen des Außen - Foucault, Derrida, Lyotard. München, S. 226) auf denselben baulichen Prinzipien zu beruhen scheint wie die Ausstellung: »Analytisch konstruierte Innenräume stehen lückenlos aneinander, aber dennoch untereinander unverbunden, tendenziell konkurrierend und in einem Verhältnis der Unübersetzbarkeit nebeneinander« (ebd.). 36
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Immatériaux angefertigten, transparenten Metallgewebe. Sie boten eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Stationen voneinander zu trennen oder Übergänge zwischen ihnen zu schaffen, stellten also ein »plastisches und immaterielles Raumaufteilungssystem«9, wie Lyotard es nannte, dar: »Es wird also anstelle der Trennwände ein Rastersystem geben, das zwischen Boden und Decke gespannt ist, und das uns erlaubt, je nach dem, wie es beleuchtet ist, die Blickweite zu variieren und die Blickrichtung zu ändern, ohne dabei das eine oder das andere vorzuschreiben, da ja viele Bereiche, die errichtet werden, Kreuzungen sind, die es ermöglichen in mehrere Richtungen zu gehen. Jene Raster werden grau sein. Ihr Farbton variiert je nach Beleuchtung, ihre Dichte ebenfalls…«10
Die Rasterwände schwebten 50 cm über dem Boden und reichten bis weit über Kopfhöhe nach oben. Zusätzlich gab es massive Wände, die als Hängefläche für Bilder, Behälter für die technischen Bestandteile, Ständer für Monitore und anderes dienten. Sie standen auf dem Boden. Die Platzierung der meisten Gegenstände der Ausstellung aber orientierte sich an der unsichtbaren Linie in 50 cm Höhe und gab damit dem Ganzen einen Ausdruck von schwebender Leichtigkeit und ephemerer Unverbundenheit.11 Von jedem beliebigen Standpunkt der Ausstellung aus stieß man sowohl auf Rasterwände, die nahezu durchsichtig den Blick auf andere Stationen, andere Besucher und Übergänge zu anderen Wegen ermöglichten, als auch auf solche, deren Opazität sie wie eine wirkliche Wand erscheinen ließ. Wieder andere changierten je nach Beleuchtung oder Überlagerungen mit anderen Wänden zwischen Offenheit und Geschlossenheit. Das nicht lackierte, feine Metallgewebe in der Grundfarbe der Ausstellung, einem dunklen Grau, bildete eine Art neutralen Teppich für dieses subtile Spiel mit den Blicken der Besucher, das Thierry Chaput in einem Interview folgendermaßen zusammenfasst: »Leur transparence 9 Lyotard/Blistène 1985, S. 70. 10 Ebd. 11 Einem der wichtigsten frabzösischen Museologen des 20. Jahrhunderts, Georges Henri Rivière, wird die Erfindung der »Museographie des Nylonfadens« (Gorgus, Nina (2002): Scenographische Ausstellungen in Frankreich. In: museumskunde 67/2, S. 135-142, S. 137) zugeprochen, weil er die auszustellenden Objekte gern an unsichtbaren Nylonfäden in seinen Inszenierungen aufhängte. Seit den 1950er Jahren machte er im Musée national des Arts et des Traditions populaires mit seinen »kunstvollen Objektarrangements zur Volks- und Alltagskultur« (ebd.) auf sich aufmerksam (vgl. auch Gorgus 1999). Vielleicht kannten Lyotard oder Délis seine Arbeit. 37
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plus ou moins forte guide le visiteur dans ce labyrinthe, leur opacité plus ou moins grande incite à la promenade du regard, provoque de façon directe ou allusive la référence.«12 Auch alle anderen Bestandteile der Ausstellungsarchitektur, die festen Wände, die Konsolen, Podeste und der Fußboden, waren dem dunklen Grau gestrichen. In einem Interview erinnert Lyotard an eine Stelle bei Hegel: »Quand la philosophie peint sa grisaille, une figure de la vie est devenue vieille et, avec de la grisaille, elle ne se laisse pas rajeunir, mais seulement connaître.«13 Das Grau, die Nicht-Farbe, die aus der Mischung aller Primärfarben hervorgeht, bleibt von allen Farben am ehesten im Hintergrund und war daher gut geeignet, die Besucher möglichst wenig vom Wesentlichen abzulenken. In der Ausstellung gab es keine Deckenbeleuchtung, die allgemein die Räume erhellte. Alles, was sich im Hintergrund befand – Wände und Technikkabinen, Ecken und Übergänge zwischen den Stationen – lag dadurch im Dunkeln. Zudem gab es an vielen Stationen Projektionsflächen für Videos, digitale Bilder oder Dias sowie Computer- oder Fernsehbildschirme, die eine dunkle Umgebung benötigten, um gut erkennbar zu sein. Die tatsächlich vorhandenen Exponate wurden von Spots angestrahlt, die es ermöglichten, sehr frei Schwerpunkte zu setzen und damit die Aufmerksamkeit der Besucher zu lenken: »Das durchgängig kontrollierte Licht gibt den Blicken Intensität und Wärme, Farben und Grenzen.«14 Es gab keinerlei Beschilderung in der Ausstellung, die erklärende Texte, Entstehungsdaten oder Herkunftsorte zu einzelnen Objekten oder ganzen Stationen geboten hätte. Lediglich die mit weißer Farbe auf die Trennwände gedruckten Titel der Stationen gaben Aufschluss darüber, wo man sich befand – und auch das nur, wenn man willens und in der Lage war, seinen Standort zu identifizieren und auf dem Grundriss im Petit Journal zu suchen. Hatte man die Titel der Stationen entdeckt, gaben sie in einigen Fällen poetische Hinweise darauf, auf welchen theoretischen Horizont die jeweilige Station bezogen werden konnte, oftmals aber waren sie rein deskriptiv und halfen wenig. Für die Interpretation der Stationen war man also auf die eigene Phantasie und die – allerdings meist nur ein bis zwei Sätze kurzen – Texte im Petit Journal angewiesen, die in manchmal durchaus erhellender, manchmal aber auch ausgesprochen enigmatischer Form einen inhaltlichen Horizont aufspannen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Besucher den sehr viel ausführlicheren Katalogteil Inventaire bei sich trugen und als Informationsquelle nutzten, ist 12 Bidaine 1985, S. 18. 13 Lyotard in : Lascault, Gilbert (1985): Les Immatériaux. Tout ce que nous aimons va mourir. In: La Quinzaine Littéraire, 30.4., S. 21. 14 Lyotard 1985a, S. 12. 38
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gering: Das Inventaire besteht aus einem nicht gebundenen Stapel von einzelnen Blättern ohne Seitenzahlen und ist daher sehr unhandlich. Auch die Kopfhörer, die jeder Besucher am Eingang ausgehändigt bekam, boten keinerlei Orientierungshilfe, sondern waren eine zusätzlich zu den Stationen zu verarbeitende Informationsebene, deren assoziativer Gehalt lediglich den Blick auf eine Station ergänzen, erweitern oder kontrastieren konnte, aber in keiner Weise Erklärungen oder Auslegungen anbot. Und eine weitere wichtige Orientierungshilfe wurde den Besuchern vorenthalten: das Gespräch mit anderen Personen, entweder mit anderen Besuchern oder mit Personen zur Vermittlung der Ausstellung, wie sie bei Führungen oder anderen ausstellungspädagogischen Mitteln wie Workshops zur Verfügung stehen. Die Kopfhörer machten es unmöglich, in der Ausstellung Führungen anzubieten, und sie erschwerten zudem persönliche Gespräche, indem sie die Besucher voneinander isolierten. Auch das umfangreiche Beiprogramm zu Les Immatériaux bot kein derartiges Forum für Fragen, die sich unmittelbar aus dem Ausstellungsbesuch ergaben, sondern diente einer auf hohem intellektuellen Niveau geführten Auseinandersetzung mit Themen der Ausstellung. Die Szenographie des Gesamtraums nahm also beträchtlichen Einfluss auf die Betrachtungshaltung der Besucher. Dieser große Rahmen wurde durch die einzelnen Stationen in inhaltliche Untereinheiten gegliedert, deren Setting den Besuchern auch wieder je eigene Kommunikationsangebote präsentierte. Dabei spielten zwei Grundprinzipien eine Rolle: An einigen wenigen Stationen wurden die einzelnen Exponate sowohl voneinander als auch von den ausstellungsgestalterischen Elementen weit gehend isoliert präsentiert, die Szenographie war also eher zurückhaltend. Die meisten Stationen jedoch zeigten Exponate, die in eine Inszenierung eingebunden waren, oder beruhten gar auf einer nahezu vollständigen Verschmelzung von Exponat und Gestaltung, die es schwierig machte, zwischen diesen beiden zu differenzieren. In jedem Fall entstanden an den Stationen kleine Raumeinheiten mit einem eigenen Thema, einer eigenen Atmosphäre und je besonderen Rezeptionserfordernissen. Dort, wo die Exponate einer Station isoliert präsentiert wurden, trafen die Besucher auf keinerlei Vorgaben darüber, welche Objekte sie genauer ansehen, wie lange sie verweilen und ob sie die Station als Ganzes oder nur in Teilen rezipieren sollten. Da die Exponate nicht beschriftet waren, blieb es ihnen überlassen, ob sie mit Hilfe des Petit Journal mehr über die Station erfahren wollten oder ob ihnen ein unmittelbarer Eindruck und ihre eigenen Assoziationen genügten. Diese sparsame szenographische Einbindung kannten sie vor allem aus Kunstmuseen, und bei
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vielen der isoliert präsentierten Objekte handelte es sich auch tatsächlich um Kunstwerke. Sie hingen einzeln an den Metallrastern oder an festen Wänden, so dass diese Stationen inmitten der großen Zahl unkonventioneller Objekte und Ausstellungsweisen wie Miniaturausgaben eines klassischen Kunstmuseums wirkten. Dabei konnte es sich um einzelne Gemälde und Skulpturen handeln oder um Tableaus, die aus mehreren Arbeiten bestanden. Andere Stationen enthielten Vitrinen, in denen Modelle, Zeichnungen und Fotografien zusammengestellt waren. Der weitaus größte Teil der Stationen von Les Immatériaux jedoch funktionierte in mehr oder weniger starkem Ausmaß über die Kombination von Objekten und szenographischen Mitteln zu einem inhaltlichen Gesamtgefüge. Dieses Gefüge wurde nicht zuletzt dadurch spürbar, dass die Besucher sich in den meisten Fällen in solche installativen Präsentationen hineinbegeben konnten und so zu einem Teil des Ganzen wurden: Im Gegensatz zu der Position des gleichsam aus einer anderen Sphäre kommenden Gegenübers, die ihnen die einzeln präsentierten Objekte zuwiesen, sind Besucher einer installativen Präsentation Körper unter Körpern. Und nicht nur zum Besucher, auch zum Raum, in dem sie sich befindet, hat eine installative Präsentation, ähnlich wie die Kunstgattung Installation, einen besonderen Bezug: »Sie kann sich fest an die Architektur binden und diese ebenso zum Thema machen wie außer Kraft setzen oder überspielen.«15 Installative Präsentationen sind also in den meisten Fällen ortsspezifisch, sie würden sich verändern, wenn sie an einem anderen Standort realisiert würden. In installativen Präsentationen lassen sich daher weder die Objekte von ihren Ausstellungsweisen noch die Ausstellungsweisen von der sie aufnehmenden Architektur trennen, radikaler könnte man sagen: In der installativen Präsentation ist es nahezu unmöglich, Objekt, Ausstellungsweise und Raum analytisch voneinander zu trennen. So verlangte z.B. ein Arrangement von vier sich ansehenden Gipsköpfen der Station L’ange, dass man sich um sie herum bewegen musste, wenn man dem Spiel aus Spiegelung und Begegnung der Blicke folgen wollte. An den Wänden der Station hingen zudem große mehrteilige Fototableaus von Klonaris/Thomadaki, die männliche und weibliche Köpfe in verschiedenen Perspektiven zeigten und die – ähnlich wie eine Hintergrundmusik – stets präsent waren, auch wenn sie sich nicht direkt im Blick befanden. Der artifizielle Bildraum, den Tableaus und Köpfe bildeten, wurde gebrochen von einer schwarz-weiß-Aufnahme der hellenistischen Statue Schlafende Hermaphrodite aus dem Louvre, deren
15 Butin, Hubertus (Hg.) (2002): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln., Stichwort »Installation«, S. 125. 40
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steinerne Dauerhaftigkeit einen deutlichen Gegensatz zu dem flüchtigen Spiel aus Köpfen, Spiegeln, Glasscheiben, Licht und Fotografie bildete. Die Frage, ob in L’ange nur die Fototableaus als eigentliche Exponate aufgefasst, die Köpfe, die Spiegel, die Aufnahme der Hermaphrodite jedoch als szenographische Elemente gesehen werden müssen, war für die Besucher nicht zu beantworten. Dies lag nicht nur an der Verschmelzung von Szenographie und Objekt, sondern auch daran, dass der Status der Objekte unklar war: Was war Kunstwerk, was Dokument, was lediglich Abbild? Einige andere Installationen von Les Immatériaux waren nicht betretbar, so bildeten z.B. hängende Puppen in der Station Nu vain einen »Wald«, wie Lyotard im Inventaire beschreibt, durch den man hindurch blicken musste, um eine in einer Ecke des Raumes positionierte Leinwand sehen zu können. Auf diese Leinwand wurde eine Szene aus einem Film projiziert, in der eine nackte Frau in einem Konzentrationslager mit kalter Präzision von einem Arzt untersucht wurde. Eine einzelne Puppe hätte in diesem Zusammenhang anders gewirkt als der Wald aus zwölf Puppen, und die farb-, gesichts- und leblosen Figuren wirkten ihrerseits wieder völlig anders im Zusammenhang mit der Filmszene. Auch die Station Indiscernables spielte mit räumlichen und bildlichen Fiktionen: Drei uniformierte Schaufensterpuppen hingen in einer verwinkelten Spiegelarchitektur. Dadurch wurde der Raum der Station illusionistisch vergrößert, vervielfältigt und fragmentiert und es schien so, als gäbe es unzählige Puppen, die zudem in verschiedenen Perspektiven zu sehen waren. Andere Stationen bestanden aus Installationsräumen, mit denen die Besucher in Interaktion – also ein über die kontemplativ-kognitive Rezeption hinausgehendes körperliches Eingreifen in das Werk – treten konnten. Drei Stationen waren Interaktionsräume im engeren Sinn, d.h. sie erforderten die Anwesenheit eines Besuchers innerhalb der Station, um überhaupt funktionieren zu können, und reagierten auf diese Anwesenheit, ohne einfach nur – wie auf Knopfdruck – ein festgelegtes Programm abzuspielen: Bei Musicien malgré lui lösten Bewegungen der Körper im Raum Klänge aus, Vite-habillé war eine virtuelle Ankleidekabine, in der per Projektion das Bild des Besuchers mit verschiedenen Kleidungsstücken überlagert wurde und Temps différé, die letzte Station der gesamten Ausstellung, war eine closed-circuit-Installation, die den Besucher filmte und ihm zeitversetzt das eigene Bild vorspielte. Alle drei waren also Anordnungen, die – je nachdem, wie der Besucher sich verhielt – unterschiedlich klangen oder aussahen.
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3.2. Die Exponate – Lyotards Spiel mit konventionellen O bj e k t t y p e n Mittels einer Vielzahl kommunikativer Strukturen evozierte Les Immatériaux also eine Vielzahl von Rezeptionshaltungen in den Besuchern. Diese brachten ihrerseits Erfahrungen mit Museen und Ausstellugen mit, die sie als mehr oder weniger implizite Rezeptionserwartungen an die Ausstellung herantrugen. Von drei Museumstypen soll im Folgenden ausgangen werden: »Vereinfachend gesagt, lässt sich die Museumslandschaft in die Gebiete der Kunstmuseen, der naturwissenschaftlich-technischen und der – im weitesten Sinne – historischen Museen unterteilen.«16 Jeder dieser drei Typen zeichnet sich durch je spezifische Exponattypen und Präsentationsweisen aus; Kunstwerke werden anders ausgestellt – und daher auch anders rezipiert – als experimentelle Phänobjekte oder historische Zeugnisse. Lyotard spielte mit den Zuschreibungen, die sich nahezu vorreflexiv durch die mit diesen Typen verbundenen Rezeptionskonventionen ergaben. Nicht nur, dass die starke Szenographie von Les Immatériaux eine Unterscheidung zwischen Objekt und Gestaltung oftmals erschwerte, Lyotard verhinderte auch eine allzu einfache Identifikation der Objekte und ihrer Funktionen, indem er zwar vordergründig Konventionen nutzte, sie aber an beinahe jeder Station brach: »Dans Les Immatériaux, le visiteur, par exemple, reconnaît bien certains codes de l’exposition documentaire […], mais il est surpris par leur emploi […]. D’où une relative ›illisibilité‹ […].«17 Diese Verwirrung bezüglich der Codierungen wurde zudem durch die »Doppelrolle«,18 in der jedes ausgestellte Objekt auftritt – »[...] als ›es selbst‹ und als Stellvertreter der in ihm konzentrierten Idee«19 – verstärkt. In Les Immatériaux, so die These im Folgenden, dominierte die Stellvertreterrolle die Rolle des Objektes als »es selbst«, ja, beide Rollen wurden oft gegeneinander ausgespielt. So äußerte etwa die an zwei Stationen vertretene Künstlerin Annegret Soltau in einem Brief an François Burkhardt die nicht unberechtigte Sorge, dass ihr Werk lediglich instrumentalisiert werden könne: »Meine Kunst steht ausschließlich für sich selbst und sie kann nicht Träger sein für übergeordnete Ideen. [...] ich will mit meinen Arbeiten vorgestellt werden als mit mir selbst identische Künstlerin, an mir soll nicht vorwie-
16 Klein, Alexander (2004): Expositum. Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld, S. 12. 17 Davallon 1986, S. 9. 18 Schmolke 2003, S. 115. 19 Ebd. 42
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gend etwas dokumentiert werden«.20 Aber gerade Kunstwerke werden durch eine zu starke Betonung ihrer Stellvertreterrolle ad absurdum geführt. Sie soll beim Kunstwerk möglichst wenig zum Tragen kommen; es soll um seiner selbst willen gezeigt werden und nicht, um etwas anderes zu symbolisieren. Wenn in eine Kunstausstellung andere Objekte eingefügt sind – z.B. historische Dokumente – sorgt die Ausstellungsgestaltung im Allgemeinen dafür, dass sie sich vom Typus »Kunstwerk« unterscheiden lassen. So ist ein Brief des ausgestellten Künstlers sofort als Zeugnis des biografischen Hintergrundes zu erkennen und wird nicht selbst für ein Kunstwerk gehalten. Selbst wenn eine Verwechselung intendiert ist, wie es im Werk vieler Künstler der Fall ist, dient sie dem Spiel mit der Zuschreibung »dies ist Kunst« und verzichtet keineswegs vollständig auf den Status »Kunstwerk«, dessen Gestus konstitutiv auf es selbst zeigt. Alle Bemühungen, diesen Gestus vollständig zu verhindern, geraten zu eigenartigen Schimären – denn wenn ein Künstler wirklich konsequent damit aufhören würde, Kunst zu produzieren, würde er aus dem Kunstsystem herausfallen und nicht mehr in diesem Kontext wahrgenommen werden. Wenn Martin Creed den Turner-Preis für das Anund Ausschalten eines Lichtschalters bekommt (so im Jahr 2001 mit der Arbeit Work No.227: The lights going on and off), wird diese alltägliche Geste im Zusammenhang mit dem vom Künstler und der Kunstwelt hergestellten Kontext zu »Kunst« erklärt. Wenn der Künstler zuhause das Licht anschaltet, um den Effekt zu erzielen, der damit in Alltagszusammenhängen erzielt werden soll – die Beleuchtung eines dunklen Raumes –, ist es gleichgültig, ob er diese Handlung als Kunst versteht oder nicht, da der institutionelle Bestätigungsrahmen fehlt. Die Frage, welche Exponate in Les Immatériaux Kunstwerke waren, war für die Besucher nicht einfach zu beantworten. Interessant ist, dass in der von Nathalie Heinich durchgeführten Evaluation viele Besucher angaben, sie hätten überhaupt keine Kunstwerke gesehen.21 Diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Besucher und der tatsächlichen Zahl der Kunstwerke überrascht trotz der Schwierigkeiten, die viele Besucher mit einigen der ausgestellten zeitgenössischen Werke gehabt haben mögen, denn in elf Stationen waren die Kunstwerke ganz klassisch präsentiert: in abgeschlossenen Raumeinheiten, die eine mehr oder weniger ungewöhnliche Zusammenstellung von thematisch einander nahen Kunstwerken zeigten. Die Zuschreibungsprobleme kamen durch verschiedene Präsentationsstrategien zustande. Erstens zeigte Les Immatériaux klassische
20 Brief vom 6.3.1985, Box 94033/224, Archiv des Centre Pompidou. 21 Vgl. Heinich 1986, S. 77 43
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Kunstwerke ebenso wie Kopien und Fotografien von Kunstwerken. So gehörte z.B. zur Station L’ange eine große Fotografie der Statue Schlafende Hermaphrodite aus dem Louvre – was sollte in diesem Fall als Kunstwerk rezipiert werden? Die Fotografie oder die Skulptur? Die Gemälde von Impressionisten, Rayonisten und Futuristen in Lumière dérobée, einer Station zum Thema Licht, wurden sicher sofort als Kunstwerke identifiziert, allerdings hing in dieser Station neben klassischen Meisterwerken auch eine Kopie der Verkündigung von Simone Martini aus dem Jahr 1333 – konnte man sie überhaupt »als Kunstwerk« rezipieren oder musste man sie im Kontext der Ausstellung völlig anders verstehen? Oder sollte man auch die anderen Werke von Lumière dérobée gar nicht als Kunstwerke, sondern als bildliche Versuche zur Darstellung von Licht verstehen? Oder beides? Zweitens gab es viele konzeptionelle Arbeiten, die nicht ohne weiteres dem klassischen Objekttyp »Kunstwerk« zugeordnet werden konnten. Die anonymen Schnappschüsse aus amerikanischen Behörden etwa, die bei Trace de Trace ausgestellt waren, waren sicher weniger »Kunstwerk« als das berühmt gewordene Ausstellungsprojekt Evidence von Mike Mandel und Larry Sultan, innerhalb dessen sie gezeigt wurden. Auch der Schatten, der in Ombre de l’ombre als realer Schatten und als Fotografie dieses Schattens gezeigt wurde, machte die Entscheidung nicht leicht: War er Teil eines Kunstwerkes oder lediglich der Referent, auf den es sich bezog? Ähnlich war es bei der Station Infra-mince: Yves Kleins dort gezeigtes Werk Zones de sensibilité picturale immatérielle besteht aus Kontrollabschnitten und Skizzen für eine Performance, bei der er Blattgold in die Seine warf. Das eigentliche Werk, die Performance, ist damit vergangen, seine »Reste« nahezu wertlos. Auch was in Giovanni Anselmos Arbeit Invisible, die aus der Projektion dieses Wortes auf die Rücken der Betrachter bestand und damit für den »Träger« des Werkes nicht einmal mehr sichtbar war, das Kunstwerk war, dürfte für viele Besucher schwer auszumachen gewesen sein. Drittens gab es Kunstwerke, deren Medialität weit vom klassischen Tafelbild-Format entfernt war. So zeigten die Stationen Homme invisible, Espace réciproque und Profondeur simulée Hologramme, die aus heutiger Sicht als erste Vertreter einer damals jungen künstlerischen Gattung gesehen werden können. Möglicherweise haben die Besucher von Les Immatériaux sie aber nicht als Kunstwerke aufgefasst, sondern als technologisches Faszinosum, weil die Grenze zwischen künstlerischem und nicht-künstlerischem Hologramm damals noch sehr unscharf war. Ähnlich ist die Situation bei den Architekturplänen, -zeichnungen und Modellen, die in den Stationen Architecture plane und Référence inversée zu sehen waren: Kann eine Architekturzeichnung als eigenständiges Kunst-
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werk gelten? Und macht es einen Unterschied zur klassischen, also dienenden Entwurfszeichnung, wenn – wie im Fall der gezeigten Arbeiten von Zaha Hadid – die entworfenen Bauten überhaupt nicht realisiert werden sollten? Ein ganz anderer Objekttypus kam bei denjenigen Exponaten zum Tragen, deren Funktion ausschließlich darin bestand, als »Stellvertreter der in ihnen konzentrierten Ideen« zu dienen, den sogenannten Phänobjekten. Solche Exponate, die in vielen Fällen extra angefertigt werden, kommen vor allem in Science Centers vor, wo sie Effekte realisierbar machen sollen, die in abstrakten naturwissenschaftlichen Gesetzen beschrieben werden. Science Centers waren im Europa der 1980er Jahre eine recht junge Erscheinung, die aus den USA kam, wo 1969 das Exploratorium in San Francisco als erstes Science Center der Welt eröffnet worden war. Neu waren dort interaktive Experimentierstationen, sogenannte Hands-On-Exponate, an denen die Besucher aktiv und spielerisch Prinzipien naturwissenschaftlicher Gesetze erfahren konnten. Diese nach Hugo Kükelhaus »Phänobjekte« genannten Exponate spielen auch in den heutigen Science Centers noch eine entscheidende Rolle. Phänobjekte transportieren Sachverhalte, die sich der unmittelbaren Anschauung entziehen. Seit Jahren nimmt im Zuge der technologischen Entwicklungen die Menge der sowieso unanschaulichen Phänomene stark zu, es gibt keine Objekte, die z.B. digitale Daten, Nanoobjekte, mathematische Modelle, Erkenntnisse aus Chaostheorie oder Kybernetik einfach repräsentieren können, sondern es muss eine Apparatur konstruiert werden, die geeignet ist, Aspekte dieser komplexen Modelle der Realität in eine einfache experimentelle Struktur zu verwandeln. Diese oftmals sehr aufwendig designten Exponate müssen aber nicht nur für die Besucher attraktiv und verständlich sein, sondern auch den Kriterien von Naturwissenschaftlichkeit entsprechen, d.h., objektive und reliable Ergebnisse liefern, die reproduzierbar sind. Sie dürfen also gerade nicht in der Art und Weise singulär und subjektiv sein, wie es ein historisches Zeugnis oder ein Kunstwerk sind. Phänobjekte sind jedoch, und das ist im Science Center ein grundlegendes museologisches Dilemma, für die Vermittlung solcher Inhalte nur bedingt geeignet: »Wer sich der Aufgabe verschrieben hat, ›die Wissenschaft‹ zu erklären, wird das Objekt als problematisch ansehen, weil es stets mehrdeutig ist und viele unterschiedliche Assoziationen beim Betrachter weckt.«22 Diese Mehrdeutigkeit ist 22 Bennett, Jim: Beyond understanding. Curatorship and access in science museums, in: Lindqvist, S. (Hg.): Museum of Modern Science. 2000, S. 56, zit. nach MacDonald, Sharon (2003): »Neu-Alte« Formen der Präsentation in Wissenschaftsmuseen. In: museumskunde 68/1, S. 92 (Angaben zum Verlagsort fehlen). 45
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für ein Science Center ein Problem, Lyotard jedoch arbeitete nicht gegen sie, sondern mit ihr. Programmatisch machte er sie zum didaktischen Kern von Les Immatériaux: »Forschung und Entwicklung in Technowissenschaft, Kunst und Technik, ja selbst die Politik erwecken heute den Eindruck, daß die Wirklichkeit, was auch immer sie sei, ständig ungreifbarer wird, daß sie unmittelbar niemals beherrscht werden kann – sie erwecken den Eindruck einer Komplexität der Dinge.«23 In Les Immatériaux waren experimentelle Phänobjekte im engeren Sinne z.B. Arôme simulé, eine Station, an der man verschiedene Düfte erschnuppern konnte, Musicien malgré lui, ein interaktiver Klangraum, die virtuelle Umkleidekabine Vite-habillé, Jeu d’echecs, ein Riesenschachspiel, oder Temps différé, die closed-circuit-Installation, die den Besucher selbst ins Bild setzte. Auch einige der interaktiven Computerterminals können als Phänobjekte bezeichnet werden, z.B. Images calculés, wo die Besucher durch ihren Atem eine Feder aufwirbeln ließen und der Computer daraus synthetische Bilder berechnete oder Variables cachées, eine Station zur Erhebung und Analyse von demographischen Daten. Insgesamt war im Prinzip die gesamte Ausstellung Les Immatériaux ein Phänobjekt, allerdings gleichsam mit umgekehrten Vorzeichen – basieren die Science Centers auf dem modernen Traum der Emanzipierung des Subjekts qua Wissen, wollte Lyotard zeigen, dass wir diese Sehnsucht aufgeben und zu einem neuen Bewusstsein finden müssen, das sich in den Unschärfen und Unsicherheiten der postmodernen Welt zurecht findet. Ebenso wie Kunstwerke und Phänobjekte wurde auch der dritte Objekttypus, das historische Exponat des Geschichtsmuseums, gleichsam unter verkehrten Vorzeichen präsentiert: Realien, die, ihres Herkunftkontextes beraubt, neu kontextualisiert werden mussten. Im historischen oder kulturhistorischen Museum haben sie vor allem eine Funktion: die abstrakte Konstruktion Geschichte im sinnlichen Raum des Museums und in Anknüpfung an die Lebenswelt der Besucher erlebbar zu machen. Ein historisches Zeugnis hat damit immer auch einen Bezug zu Fragen der historischen und politischen Identität, der persönlichen und kollektiven Erinnerung sowie der sozialen Strukturen und Institutionen: »Geschichte ist ein [...] bedeutungsvoller Zusammenhang zwischen vergangenem und gegenwärtigem Handeln, der nur auf der Grundlage bedeutungsverleihender Normen, die aus praktischen Interessen, genauer: aus Sinnkriterien absichtsvollen aktuellen Handelns herrühren, erkannt und dargestellt werden. [...]
23 Lyotard 1985a, S. 10. 46
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Diese Sinn- und Bedeutungskriterien entstehen [...] aus dem allgemeinen Bedürfnis [...] nach einer zeitlichen Orientierung [...].«24
Daher sind historische Ausstellungen in einer besonderen Weise auf die Orientierungsbedürfnisse der Besucher in der Gesellschaft bezogen, man kann auch sagen: haben eine besonders enge Verbindung zu Fragen nach der individuellen und kollektiven Identität. Ähnlich Les Immatériaux: Lyotard wollte explizit sein Publikum für Fragen sensibilisieren, die im alltäglichen Leben eine große Rolle spielten, er wollte die neuen Parameter aufzeigen, die seiner Meinung nach in den kommenden Jahren »Sinnkriterien absichtsvollen aktuellen Handelns« werden würden. Historische Zeugnisse haben die Aufgabe, als möglichst authentische Stellvertreter für die Behauptung zu stehen, es habe so oder so stattgefunden und ausgesehen. Das historische Zeugnis erhält seine Attraktivität nicht primär durch seine besonderen künstlerischen oder technischen Eigenschaften, sondern durch seine Einbindung in denjenigen Kontext, den die Ausstellung an dieser Stelle zeigen will. Der abgetragene Schuh des Bergarbeiters etwa dient dazu, als kleines »Realienfenster« in eine vergangene Zeit hineinzuführen und anschaulich von einem heute fremden Alltag zu erzählen. Selbst wenn im historischen Objekt ästhetische Eigenschaften und historische Bezüge gleichrangig sind, wenn z.B. in einer Ausstellung über das Gold der Inka gerade die herausragenden Zeugnisse dieser Kultur gezeigt werden, geht es doch immer auch um die Einbindung in einen funktionalen Kontext – ohne ihn würde das Objekt ausschließlich als Kunstwerk gezeigt werden. Historische Objekte werden also erst durch ihre Vermittlung zu Trägern von Informationen, wie Krzysztof Pomian durch seinen sprechenden Begriff »Semiophore« verdeutlicht hat. Solche Semiophoren, bei Pomian auch »Repräsentanten des Unsichtbaren«25 genannt, sind auch die Objekte von Les Immatériaux. Sie repräsentieren jedoch nicht etwas historisch oder kulturell Entferntes, sondern eine philosophischen Idee eines in der nahen Zukunft liegenden Unbekannten. Viele der Objekte sollten authentische Zeugnisse der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sein, die zum Zeitpunkt der Ausstellung zwar schon existent, aber noch nicht so bekannt waren, dass es uninteressant gewesen wäre,
24 Rüsen, Jörn (1985): Geschichte als Wissenschaft. In: Bergman, Klaus (Hg.) (1985): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 3. völlig überarb. u. bedeutend erweiterte Aufl. Düsseldorf, S. 69-82., hier S. 71. 25 Pomian, Krzysztof (1988): Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin., S. 58. 47
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sie auszustellen. Der Gestus der Authentizität ist hier kein »so oder so war es«, sondern ein »so oder so könnte es sein«.26 Diese Zeugnisse wurden von Lyotard wie Boten aus der Zukunft inszeniert. Beispiele sind eine japanische Schlafzelle, die im wörtlichen Sinn aus einer anderen Welt stammend in der Station Habitacle zu sehen war, ein Roboter aus der Peugeot-Fabrik, der in Auto-Engendrement einen Polystyrol-Block bearbeitete oder in Plastik eingeschweißte Proben künstlicher Haut in Deuxième peau. Die Station Corps chanté, die zusammengeschnittene Videoclips zeigte, war eine der attraktivsten Stationen der Ausstellung, weil »man so etwas bis dahin noch nicht gesehen hatte«.27 Der große technische Aufwand, mit dem die gesamte Ausstellung gemacht war, kann hier insgesamt als Zeugnis gelten, das die Aufgabe hatte, Lyotards Gegenwartsanalysen und die darin impliziten Zukunftsprognosen argumentativ zu stützen. Sein Versuch, einen Blick in die nahe Zukunft zu ermöglichen, ist dabei denselben Bedingungen unterworfen wie die Bemühungen im historischen Museum, Geschichte zu verlebendigen: »Denn ebenso wenig, wie es Sinn macht, geschichtliche Entwicklung als logisch-konsequenten Weg zu beschreiben, ebenso wenig können wir in der Gestaltung des Museums eine analytische Methode wählen. Geschichte muß immer erzählt werden, denn narrative Darstellung vereint zwei Dimensionen, die eigentlich meist getrennt auftreten: Zeitlichkeit und Möglichkeit. Geschichte erzählen bedeutet, sie in eine zeitliche Logik zu bringen, in welche jedoch die Möglichkeitsspielräume mit eingebaut werden; damit wird das immer Unvollständige von Geschichte thematisiert.«28
26 Lediglich die Station Terroir oublié zeigte historische Zeugnisse: klassische Baumaterialien wie Ziegel, Holz und Keramik von zwei Pionieren der so genannten organischen Architektur. Lyotard ließ dies allerdings nicht unkommentiert (und damit ungebrochen): »Das geheiligte Material als Museumsobjekt« (Inventaire zu Terroir oublié) schreibt er dazu, die Verschiebungen vom authentischen zum autonomen Objekt reflektierend. 27 So Michael Wetzel im Gespräch mit der Autorin am 19.1.2006. 28 Franzke, Jürgen (1988): Sakral und schockierend – Die Darstellung historischer Wirklichkeit im Museum. In: Rüsen, Jörn (Hg.) (1988): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen. Pfaffenweiler, S. 69-81, hier S. 79. 48
ZUR SZENOGRAPHIE VON LES IMMATÉRIAUX
3.3. Das Kopfhörerprogramm Aber nicht nur Ausstellungsgestaltung und Exponate dienten Lyotard dazu, die üblichen museologischen und rezeptionsästhetischen Rahmungen zu erweitern. Er fügte darüber hinaus der visuellen Ebene des Mediums Ausstellung eine akustische hinzu und knüpfte daran ein programmatisches Ziel: »Dem Auge wird das Exklusivrecht, das ihm die moderne Galerie zuspricht, entzogen«.29 Mit einer völlig neuen Sendetechnik und einem Kopfhörer-Prototypen der Firma Philipps, der extra für Les Immatériaux entwickelt wurde und das Budget der Ausstellung beträchtlich in die Höhe trieb, war es möglich, den gesamten Raum in 31 deutlich voneinander abgegrenzte Sendezonen zu unterteilen. Die Besucher wechselten auf ihrem Weg durch die Ausstellung von einer Zone in die nächste und empfingen je nach Standort unterschiedliche Programme. Anders als bei einem elektronischen Ausstellungsführer, wie er heute üblich ist und auch damals schon in großen Ausstellungen verwendet wurde, konnten die Besucher also nicht per Knopfdruck selbst entscheiden, ob und wann sie etwas hören wollten. Ebenso wenig bot das Kopfhörerprogramm irgendeine Orientierung – etwa Erklärungen zu den Objekten oder Hinweise, wo man als nächstes hingehen könnte – wie es bei einer Audioführung der Fall wäre. Das Programm bestand aus zwei verschiedenen Arten von Zuspielungen: aus Texten, deren Ausschnitte und Anordnung von der externen Mitarbeiterin Dolores Rogozinski zusammengestellt und die auf dramatisch-theatralische Weise vorgelesen wurden und aus Klängen, die aus den Eigenarten bestimmter Stationen hervorgingen. Die Zahl der Texte pro Zone war unterschiedlich; manchmal wurden in einer Zone mit zwei Stationen zwei Autoren vorgelesen, manchmal war drei Stationen nur ein Text zugeordnet. Die meisten Texte hatten einen deutlich erkennbaren inhaltlichen Bezug zu den Stationen, der sich umso leichter entschlüsseln ließ, wenn man sich in den aktuellen geisteswissenschaftlichen Diskursen ein wenig auskannte: Wenn etwa Paul Virilios Begriff ›Dromoskopie‹ zu einem Autobus-Modell vorgelesen wurde, in dessen Fenstern Videofilme seiner fiktiven Fahrt gezeigt wurden; wenn Baudrillards Text La précession des simulacres mit Bildern von Fraktalen kombiniert wurde; oder wenn Yves Kleins Text La maison immatérielle und Baumaterialien der Architekten Wright und Aalto aufeinander trafen. In ähnlicher Weise waren in den meisten Zonen Texte berühmter philosophischer oder literarischer Autoren zu hören, die meisten französische Klassiker der Moderne
29 Lyotard 1985b, S. 87f. 49
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aus dem späten 19. oder 20. Jahrhundert: Artaud, Bachelard, Barthes, Beckett, Blanchot, Borgès, Carroll, Casarès, Yves Klein, Lascault, Mallarmé, Michaux, Paz, Proust, Rabelais, Roubaud, Zola u.a. Das Programm bot Ausschnitte aus Kurzgeschichten, Prosatexten, Gedichten und Theaterstücken, die teilweise von Rogozinski überarbeitet, ergänzt und auf die Stationen bezogen wurden. Sieben Stationen waren von dieser Logik der Zuordnung ausgenommen und bildeten jeweils eine eigene Zone; dort waren Geräusche und Musik zu hören, die eigens komponiert und programmiert worden waren und sich unmittelbar auf die Station bezogen. Nathalie Heinich weist in der Evaluation von Les Immatériaux auf einige Konsequenzen und Probleme hin, die sich aus der Funktionsweise der Kopfhörer und dem Inhalt des Programms ergaben. Zum einen waren die Texte, zumindest für einige Besucher, erklärungsbedürftig – wer versteht schon Barthes oder Mallarmé, Virilio oder Roubaud auf Anhieb, wenn er sonst keinen Kontakt mit solcherart Denkern und Texten hat? Zudem befand sich die Geräuschquelle unmittelbar am Ohr, die Kopfhörer dürften dadurch wie eine Art innere Stimme gewirkt haben, »ein ergänzendes Labyrinth voll poetischer Texte in unserem Gehörgang.«30 Diese innere Stimme war aber körperlos: »The ›immateriality‹ that is the subject of the exhibit is thus signified by the disembodied sounds addressing the viewer [...]«.31 Außerdem herrschte in der Ausstellung selbst völlige Stille32 – nahm man die Kopfhörer ab, gab es nichts mehr, das über die umliegenden Stationen hätte Auskunft geben können. Man war gezwungen, den Kopfhörer wieder aufzusetzen und seinen Standort zu verändern, um zu überprüfen, ob man sich bereits am Rand einer Sendezone befand. Durch diese gleichsam im Kopfhörer versteckten Informationen funktionierte das Hören nicht, wie normalerweise, als Mittel der Orientierung im Raum, das auf Distanz Informationen verschaffen kann, die dem Auge unzugänglich sind. Nur im Modus des Erkundens, der konkreten Bewegung, war es möglich, sich akustisch zu orientieren. Da die Zonen nicht visuell markiert waren, bestand zudem die Gefahr, dass ein Besucher aus Versehen eine Zone verließ, während er noch dem entsprechenden Text zuhörte. Das Kopfhörerprogramm stand den Besuchern also gleichsam unfreiwillig auf Abruf zur Verfügung, wie Heinich beobachtete: 30 Fritz-Vannahme, Joachim: »Immatériaux«: Im Labyrinth der Postmoderne. Ohne weitere bibliographische Angaben. 31 Gibson 1985, o. S. 32 Vgl. Lyotard 1985a, S. 12. Die Station Musicien malgré lui war eine Ausnahme: Dort wurden die Besucher aufgefordert, die Kopfhörer abzunehmen, um den von ihnen erzeugten Klängen zuhören zu können. 50
ZUR SZENOGRAPHIE VON LES IMMATÉRIAUX
»Au lieu de répondre, comme d’habitude, à la logique ›objective‹ du déroulement des objets exposées, où le visiteur guide ses déplacements et ses regards en fonction du texte entendu, il ›subjectivise‹ au contraire l’émission du texte en fonction des mouvements de la personne, dès lors investie de la maîtrise d’un ›commentaire‹ qui […] tend moins à ›éclairer‹ ce qui peut paraître obscur qu’à surajouter, éventuellement, de l’opacité (des textes) à l’opacité (des objets).«33
Trotz der praktischen Schwierigkeiten fühlten sich die Besucher von der Neuartigkeit der Kopfhörer angezogen. Heinich spricht vom »objet fétiche de l’exposition«34, das für viele ein wichtiger Grund war, Les Immatériaux zu besuchen. Niemals vorher hatte es so etwas in einer Ausstellung gegeben. Doch trotz ihrer anfänglichen Neugier waren viele Besucher nicht besonders glücklich mit dem ungewohnten Kopfhörer, der durch seine Größe auch noch optisch stark auffiel – »Kopfhörer-Scheuklappe« nennt Joseph Haniman das Gerät in seiner Rezension in Die Zeit.35 Es gab, schreibt Christiane Bravo in ihrer zynischen Rezension in Le Matin de Paris, »deux types de réactions de la part du public. Il y a d’une part ceux qui piétinent leur casque et, d’autre part, les très intelligentes ou les très imbéciles qui font comme si de rien n’était.«36
3 . 4 . Me t a s y s t e m e d e r R a u m g l i e d e r u ng Über die ausstellungsgestalterischen Elemente und das Kopfhörerprogramm hinaus gab es drei konzeptionelle Metasysteme, die ordnend und strukturierend die große Zahl an Stationen und Objekten semantisch gliederten. Sie hatten eine prägende Kraft für das Ausstellungsganze, auch wenn sie weder visuell noch akustisch in der Ausstellung markiert und für viele Besucher nicht erkennbar waren: das mât-System, die Dramaturgie »vom Körper zur Sprache« und das Netz aus Bezugsstationen. Das mât-System diente als Differenzierung der Frage nach dem Verhältnis von Materie, Immateriellem und den sogenannten »Immaterialien« (frz. Immatériaux). Von der Sanskrit-Wurzel mât ausgehend wurde jeder der fünf Wege durch die Ausstellung einem der fünf kommunikationstheoretischen Aspekte Medium, Code, Empfänger, Referent und Sender zugeordnet. Diese Zuordnung prägte in entscheidendem Maße je33 34 35 36
Heinich 1986, S. 38. Ebd., S. 37. Haniman, Joseph (1985): Philosophie für Füße. In: Die Zeit, 28.6., S. 43. Bravo, Christine (1985): Les Immatériaux à Beaubourg: J’ai vu notre corps en exil de lui-même. In: Le Matin de Paris, 28.3., S. 22. 51
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de Station und sorgte für einen minimalen thematischen roten Faden, der die Stationen eines Weges miteinander verband. Ausführliche Informationen über das mât-System gibt Lyotard nur im Katalogteil Inventaire, wo er auf je einer Seite in die philosophischen Hintergründe des jeweiligen mât-Aspektes einführt, im Petit Journal dagegen fanden die Besucher lediglich ein paar Zeilen und ein Schaubild. Die einzelnen Begriffe aus dem semantischen Feld um den Terminus ›Material‹ waren von dem Wortstamm ›mât‹ abgeleitet: »Wir haben uns gesagt, ›mât‹ ist eine alte indo-germanische Wurzel. Das war rein fiktiv, denn heute wissen wir natürlich, daß es die Indo-Europäer nicht gegeben hat. Dann sagten wir uns, daß sie in mehreren Sprachen wieder auftaucht, sei es als Lehnwort, sei es als gemeinsame Wurzel, und daß diese Wurzel ›mit der Hand messen‹ bedeutet, letztlich auch ›bauen‹ oder ›modellieren‹.«37
Die im Französischen gebräuchlichen und von Lyotard für sein mât-System verwendeten Ableitungen von dieser Wurzel lauten matériau, matrice, matériel, matière und maternité. Die drei Begriffe matériau, matériel und matière haben im Französischen deutlich voneinander unterscheidbare Bedeutungen und können ins Deutsche weniger differenziert alle mit »Material« übersetzt werden. Matériau kann aber auch Rohstoff, matériel Ausrüstung und matière Thema bedeuten: Matériau, der Rohstoff oder das Medium der Nachricht, ist ihr stofflicher Träger, matériel die Ausrüstung, mit der sie empfangen wird und matière das Thema, von dem sie handelt, also ihr Referent. Matrice und maternité bezeichnen den Code (Matrix), in dem die Nachricht gesendet wird und den Autor (Mutterschaft), der sie sendet. Lyotard bekennt freimütig, dass die Aufteilung des mât-Systems nicht nur kommunikationstheoretischen Überlegungen entstammte (»Wir haben dann vollkommen willkürlich entschieden, diese Pole mit der Wurzel ›mât‹ zu benennen«38) und dass die dem System zugrunde liegende Kommunikationstheorie keinesfalls dem neuesten wissenschaftlichen Stand auf diesem Gebiet entsprach (wieder Lyotard: »All das ist nicht neu, es ist nur eine Art und Weise, unsere Arbeit abzustecken, eine ÜberAuswahl zu treffen aus dem, was schon im Blick war [...]«39). Vorläufer für die fünf mât-Begriffe waren kommunikationstheoretische Modelle
37 Lyotard/Blistène 1985, S. 73. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 73f. 52
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von Harold Lasswell, Oswald Wiener und Roman O.Jakobson.40 Lasswells und Jakobsons Modelle gehen auf das Organon-Modell zurück, das Karl Bühler in seinem Buch Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache im Jahr 1934 vorstellte und das sprachliche Äußerungen als aus drei Komponenten zusammengesetzt auffasst: Sender, Empfänger und Nachricht. Lasswells Modell aus den 1930er Jahren besteht aus fünf Komponenten (»Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welchem Effekt«?) und erweitert damit das Organon-Modell um das Medium (den Kanal) und die Wirkung (den Effekt). Jakobson erweitert ebenfalls Bühlers Modell und geht von sechs Komponenten (Sender, Nachricht, Kanal, Empfänger, Kontext und Code) sowie sechs Sprachfunktionen (emotive, poetische, phatische, konative, referentielle und metalinguale) aus.41 Für das mât-System modifiziert Lyotard diese Modelle: Er übernimmt Sender (maternité) und Empfänger (matériel), auch der Code (matrice) und der Kanal (matériau) sind wieder erkennbare Bestandteile der älteren Modelle. Das, was Lyotard den Referenten (matière) nennt, dasjenige also, von dem die Nachricht handelt, ist wohl am ehesten mit Lasswells Kontext zu vergleichen und geht bei Jakobson in dem weniger stark differenzierten Begriff ›was‹ auf: »Matière: Das Objekt, über das die Nachricht Informationen gibt; das, was der Logiker und der Linguist den Referenten der Nachricht nennen. Wie bei einem ›Inhaltsverzeichnis‹ [frz.: table de matières, A.W.].«42 Die Nachricht selbst (message) fällt aus der mât-struktur heraus und entsteht aus der Kombination aller einzelnen Komponenten, was sich in der räumlichen Struktur von Les Immatériaux widerspiegelt: Es gab keinen Weg, der dem Begriff ›message‹ zugeordnet war. Der Vergleich mit den Vorgängermodellen hinkt allerdings. Lasswell und Jakobson entwickelten ihre Modelle, um pragmatische Aspekte des Kommunizierens beschreibbar zu machen, bezogen sich also auf an der Kommunikation beteiligte Personen. Lyotard jedoch hat die einzelnen mât-Aspekte mit Blick auf die neuen Technologien, vor allem die Com40 Unter der Überschrift »Der Operator« erklärt Lyotard in dem Text Immaterialien. Konzeption: »Es handelt sich um den der Kommunikation oder der ›Pragmatik‹ im linguistischen Sinn. Laswell [sic], Wiener und Jakobson haben seine ersten Formulierungen erarbeitet.« Lyotard 1985b, S. 80. 41 Welche Rolle Oswald Wiener für das mât-System spielt, ist unklar, da Wiener meines Wissens keine derartige Systematisierung erarbeitet hat wie Lasswell und Jakobson und von Lyotard nur in dem o.g. Zitat erwähnt wird. Allerdings dürften Wieners Forschungen zur künstlichen Intelligenz zumindest eine Inspirationsquelle für Les Immatériaux gewesen sein. 42 Inventaire, Einführung zu Matière. 53
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putertechnologien, entpersonalisiert: »Die derzeitigen Studien erlauben, ihn [den Operator, d.h. das mât-System, A.W.] aus seinen anthropologischen Bindungen zu lösen.«43 Dadurch weichen Lyotards kommunikationstheoretische Begriffe deutlich von dem ab, was in den Vorgängermodellen angelegt ist: Alles kann eine Nachricht, ein Sender oder ein Empfänger sein, was aber nicht heißt, dass jedes Phänomen von einem Sender stammt und mit einer bestimmten Intention an einen Empfänger geschickt wird. Das mât-System steht vielmehr als Metapher für die Tatsache, dass alles als »rezipierbare, sinnhafte Entität«44 aufgefasst werden kann. Diese Setzung wirft Fragen auf – Lyotards Äußerungen zum mâtSystem sind, wie sich in Kapitel 6.1. über den Nachricht-Begriff in Les Immatériaux zeigen wird, nicht immer konsistent, lediglich in dem unveröffentlichten Text Après six mois de travail spricht er einige der Widersprüche an, die seine »Entanthropologisierung« aufwirft. Die beiden anderen Metasysteme wurden weder explizit erklärt, noch waren sie in ähnlicher Weise prägend wie das mât-System. Die Dramaturgie der Stationenthemen entfaltete sich für einen durch die Ausstellung hindurch laufenden Besucher vom Eingang der Ausstellung bis zu ihrem Ausgang. Lyotard fasst sie mit dem schlichten Satz zusammen: »Die einzelnen Wege führen alle irgendwie vom Körper zur Sprache.«45 Zentrale Stellvertreter dieser Dramaturgie waren die beiden großen Räume, die Ausgangs- und Zielpunkt der fünf Wege waren und die Extrema aufspannten, innerhalb derer die einzelnen Stationen situiert waren: das Théâtre du non-corps und das Labyrinthe du langage. Die Stationen, die direkt hinter den Durchgängen zwischen den Dioramen des Théâtre du non-corps lagen, hatten fast alle den menschlichen Körper zum Thema: Dort ging es ums Schlafen, Essen, Ankleiden, um Haut, um Nacktheit, um Sexualität und um Empfängnis. Sie reduzierten den Körper auf seine physiologischen Grundfunktionen, er wurde mit kühler Strenge examiniert oder sämtlicher individueller Merkmale beraubt, er wurde zerlegt oder Technologien ausgesetzt, die unmittelbar in den vermeintlich geschützten Raum der Identität eingriffen. Am Ende der Wege, in der Nähe des Labyrinthe du langage, befanden sich Stationen, die sich mit sprachlichen oder quasi-sprachlichen Phänomenen befassten, z.B. mit Architekturmodellen, die Lyotard als materialisierte Sprache vorstellte, es gab einen Roboter, der, einem unsichtbaren Code folgend, Autoteile aus einem Polystyrol-Block ausschnitt, eine andere Station bestand aus einem Terminal, an dem demoskopische Daten der Besucher abgefragt
43 Lyotard 1985b, S. 80. 44 Petra Gehring in einer Mail an die Autorin am 1.12.2005. 45 Lyotard 1985a, S. 12. 54
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wurden oder es wurden Mikroskopaufnahmen von industriellen Materialien gezeigt, um deren strukturelle Ähnlichkeiten zu visualisieren. Der letzte große Raum der Ausstellung, das Labyrinthe du langage, bestand aus 16 Computern. Es bildete eine eigene Zone, die letzte des Parcours, in der ein Auszug aus Die Bibliothek von Babel von Jorge Luis Borgès über den Kopfhörer vorgelesen wurde. Man konnte an Terminals Informationen aus Bild- und Textdatenbanken abrufen, mathematische Rätsel lösen oder dem Computer die Aufgabe stellen, aus vorgegebenen Textbausteinen und syntaktischen Regeln Geschichten zu komponieren, sich durch einen Kriminalfall hindurchklicken, indem man zu verschiedenen vom Computer vorgestellten Szenarios richtig/falsch-Antworten gab, mit synthetischen Klängen experimentieren und Auszüge aus dem Textproduktionsexperiment Epreuves d’écriture lesen. Das Labyrinthe du langage präsentierte also im Gegensatz zu den anderen Stationen der Ausstellung Maschinen, die »nicht mit, sondern über Sprache arbeiten«,46 um zeigen zu können, »daß in den kommenden Jahren die Hauptanstrengung der Technologien darauf gerichtet sein wird, die menschliche Sprache so korrekt wie möglich zu imitieren.«47 Die Dramaturgie »vom Körper zur Sprache« bildete so Lyotards Theorie zum Verhältnis von Materiellem und Immateriellem ab: Erstens, so argumentiert Lyotard in seinen Texten und Interviews, sei Materie nicht aus einer unteilbaren Substanz aufgebaut, sondern bestehe aus Informationen und Interaktionen. Zweitens würden durch die neuen Technologien die energetischen Strukturen jeglicher Materie überhaupt erst messbar. Beides zeige, dass das Wahrnehmungsspektrum des menschlichen Körpers keineswegs das Maß aller Dinge sei. Damit werde deutlich, dass die Materie keineswegs das widerständige Objekt eines über sie herrschenden Subjektes sei, sondern dass die Differenzierung in Materie und Nicht-Materie – respektive Substanz und Logos – nur von der anthropozentrischen Position des modernen Subjekts aus kategorisch machbar sei: »Damit wollten wir beginnen [mit dem Théâtre du non-corps, A.W.], um dann sehr schnell dahin zu kommen, wo die Anwesenheit des Körpers allmählich verschwindet und er als materieller Sinnträger erscheint, auf dem mit einer bestimmten Zahl von Codes (Gefühle, Bewegungen) Einschreibungen erfolgen, – was man sich normalerweise nicht klarmacht.«48 Der Mensch, so Lyotards Schluss, sei denselben sprachartigen Strukturen unterworfen wie Materie und Energie, und dies sollte in der Ausstellung als unmittelbar sensorisches Erlebnis deutlich werden: »Der 46 Lyotard/Blistène 1985, S. 55. 47 Ebd., S. 56. 48 Ebd., S. 55, Hervorhebung im Text. 55
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Besucher spaziert in einem Rhizom herum, in dem kein Wissensfaden aufscheint, sondern generalisierte Interaktionen, Deplatzierungsprozesse, in denen der Mensch nicht mehr ist als ein Interface-Knoten.«49 Und tatsächlich befanden sich die Besucher von Les Immatériaux in einem Netz aus Bezügen und Daten, innerhalb dessen sie sich immer wieder neu orientieren, mit dem sie an jeder neuen Station wieder aufs Neue in Interaktion treten mussten. Ähnlich verborgen blieb das dritte theoretische Ordnungssystem: Es gab ein unregelmäßiges Netz, das durch inhaltliche Verwandtschaften zwischen Stationen unterschiedlicher Wege gebildet wurde. Dieses Netz war rein virtuell, da es nur im Inventaire thematisiert wurde und in der Ausstellung selbst nicht sichtbar war. Aufmerksamen Besucher dürfte allerdings aufgefallen sein, dass es inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Stationen gab. Insgesamt scheinen die Bezüge keine große Rolle gespielt zu haben – weder für die Ausstellung selbst, noch für die konzeptionellen Texte von Lyotard. Keiner der Rezensenten erwähnt sie, was nicht weiter verwunderlich ist, da wohl niemand mit dem Inventaire in der Ausstellung war und die Bezüge im Petit Journal nicht genannt werden. Auch das Metasystem »vom Körper zur Sprache« wird in den Rezensionen nur selten erwähnt, meist ist es Lyotard, der in Interviews darauf zu sprechen kommt. Lediglich auf das mât-System wird Bezug genommen. Insgesamt scheint es, dass die drei Systeme nicht dazu dienen sollten, dem Publikum die Orientierung in der Ausstellung zu erleichtern, dafür blieben alle drei zu abstrakt. Vielmehr dienten sie wohl Lyotard und seinen Mitarbeitern als Hilfsmittel, um die Komplexität der Ausstellung in den Griff zu bekommen und die Themen der einzelnen Stationen legitimieren zu können. Dass die Metasysteme überhaupt offen gelegt wurden, steht im Zusammenhang mit einer Eigenart von Les Immatériaux: Die Publikationen zur Ausstellung stellten einen Ort der Selbstreflexivität dar, an dem die Ausstellungsmacher mit verschiedenen Mitteln über ihre Entscheidungen Rechenschaft ablegten. Dies zeigt sich am deutlichsten im Album, dem zweiten Teil des Kataloges, von dem im folgenden Kapitel die Rede sein wird.
49 Album, S. 13. 56
4. K A T A L O G E
UND ANDERE
P U BL I K A T I O N EN
Die große Zahl der Publikationen, die als begleitendes Material zu Les Immatériaux produziert wurden, lässt vermuten, dass man der Neuartigkeit dieses Projektes mit einer entsprechenden Menge an Informationen zu begegnen versuchte. Zudem steht sie für eine bestimmte Publikationspolitik des Centre Pompidou: »[L]es ›Editions du Centre Pompidou‹ ambitionnent maintenant une presque total autonomie.«1 Die Wichtigste war der dreiteilige Katalog, der – ähnlich wie andere Kataloge, die am Centre Pompidou produziert werden – weitaus mehr als eine Begleitschrift ist. Darüber hinaus gab es eine große Zahl an kleineren Publikationen: Pressemitteilungen, Flyer, Plakate, die Einladungskarte und die Saalzeitung Petit Journal. Angegliedert an Les Immatériaux waren zudem zwei Buchprojekte: ein Sammelband mit kurzen Texten von Autoren, die an der Vorbereitung der Ausstellung beteiligt waren und die Dossiers mit Hintergrundinformationen zu einzelnen Stationen geschrieben hatten (Modernes et après: Les Immatériaux) sowie eine wissenschaftliche Evaluation der Ausstellung (›Les Immatériaux‹ au Centre G. Pompidou: étude de l’évènement-exposition et de son public). All diese Publikationen stellten eine weitere theoretische Ebene der Ausstellung dar. Sie wurden genutzt, um Einzelthemen zu vertiefen, Hintergründe zu beleuchten, Foren zu eröffnen und Diskussionen anzuregen. Ihre Aufgabe war keineswegs, Erklärungen oder Interpretationshilfen zu liefern, im Gegenteil: »Comme l’exposition elle même, les produits d’édition avaient le mérite de revoir complètement les idées de ce qu’est un catalogue. […] Ils [die einzelnen Teile des Kataloges, A.W.] servaient à mettre en question la linéarité d’une lecture de catalogue classique.«2
1 2
Bertrand 1987, S. 108. Armaos, Georges (1998): Etude comparative des six grandes expositions temporaires organisés et/ou tenues au Centre Georges Pompidou à Paris et au Museum of Modern Art de New York de 1985-1995. Manuskript der Mémoire présenté en vue du DEA de l’art contemporain an der Université de Paris I, Panthéon-Sorbonne, bei Jean-Claude Lebensztejn. Archiv des Centre Pompidou RAP 200 006. Unveröffentlicht., S. 19. 57
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Der Katalog besteht aus drei Teilen im Format DIN A 4, die in zwei silberfarbene, glänzende Folien eingeschweißt sind. Der erste Band, Epreuves d’écriture, dokumentiert ein vor und während der Ausstellung laufendes Textexperiment, der zweite und dritte Band, Album und Inventaire, beziehen sich unmittelbar auf die Ausstellung. Die beiden letzteren sind in einem gemeinsamen Einband aus Pappe zusammengefasst – klappt man ihn auf, findet man in seiner linken Einstecktasche das Album, in der rechten das Inventaire. Die Epreuves d’écriture – deutsch: Korrekturbögen – wurden von 26 französischen Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern (darunter nur zwei Frauen),3 die in einem Computernetz miteinander verbunden waren, verfasst. Sie nahmen an einem Textproduktionsexperiment teil, dessen Konzeption vom CCI bereits ausgearbeitet worden war, bevor Lyotard Generalkommissar der Ausstellung wurde. Zu insgesamt 50 Begriffen wie Autor, Geste, Interaktion, Ordnung, Erinnerung oder Zeichen sollten in einem Zeitraum von zwei Monaten gegen Ende des Jahres 1984 Definitionen von mindestens zehn Wörtern und höchstens zehn Zeilen Länge in das Computernetz eingespeist werden. Die Teilnehmer waren mit je einem Computer ausgestattet, den die Firma Olivetti gesponsort hatte,4 und schickten ihre Texte an einen Server, der sie speicherte und auf Anfrage wieder frei gab. Die Arbeit der Autoren wurde konsequent auf die Computer beschränkt, indem man ihnen keine Drucker gab; die Texte existierten also tatsächlich nur auf dem Rechner und konnten auch nur dort bearbeitet werden.5 Jede Autorin, jeder Autor wurde ausdrücklich dazu aufgefordert, ihre bzw. seine Texte möglichst früh im Netz zu veröffentlichen, damit die anderen darauf reagieren konnten. Im Laufe der beiden Monate entstanden auf diese Weise ca. 600 kurze Definitionen, deren Verknüpfungen untereinander in Epreuves d’écriture dokumentiert sind: Zu jedem Text ist am Rand angegeben, welche Texte
3
4
5
Hubert Astier, Nanni Balestrini, Mario Borillo, Christine Buci-Glucksmann, Daniel Buren, Michel Butor, Paul Caro, Michel Cassé, Daniel Charles, François Châtelet, Philippe Curval, Jacques Derrida, Marc Guillaume, Philippe Lacoue-Labarthe, Bruno Latour, René Major, JeanClaude Passeron, François Recanati, Jean-Loup Rivière, Maurice Roche, Pierre Rosenstiehl, Jacques Roubaud, Dan Sperber, Isabelle Stengers, Michel Tibon-Cornillot, Jean-Noël Vuarnet. Dort war man allerdings nicht sofort davon überzeugt, dass das Experiment sich lohnen würde: »Le patron d’Olivetti en France, qui nous a fourni le matériel nécessaire pour l’expérience d’écriture, a dit qu’il ne connaissait pas d’expérience plu folle.« Lyotard im Gespräch mit Dumont 1985, S. 23. Vgl. Noël, Chantal/Toutcheff, Nicole (1985): Une écriture immatérielle. In: Théofilakis 1985, S. 33-37, hier S. 33. 58
KATALOGE UND ANDERE PUBLIKATIONEN
ihm in diesen schriftlichen Gesprächen vorausgegangen und welche gefolgt waren. Mit dem Experiment wollte man untersuchen, ob und wie sich das Schreiben und die Texte dieses »kleinen Lexikon[s] der Immaterialien«6 von unvernetzter handschriftlicher Textproduktion unterscheiden. Dabei lag besonderes Augenmerk auf den fünf kommunikationstheoretischen Polen aus dem mât-System, die auch Les Immatériaux gliederten: »[Q]ue devient l’auteur; que devient le code; que devient ce dont on parle, ce champ interdisciplinaire extraordinairement ouvert; qui lit et que devient le support?«7 Damit kommt in den Epreuves d’écriture dieselbe Verschränkung von Thema und Darstellungsform zum Tragen wie in Les Immatériaux. In der kurzen Einführung in den Katalogteil fordern Lyotard und Chaput für das Experiment, »[...] dass das zu behandelnde Objekt, die Immaterialien, durch die Art der Reflexion, das Schreiben, vorgestellt werden soll.«8 Man wolle kein Wörterbuch erstellen, da ja die Autoren gegebenenfalls 26 verschiedene Definitionen zu einem Begriff liefern würden. Vielmehr sei man an einer »Aufladung«9 der semantischen Felder interessiert, die von einem Wort erzeugt würden, an der Komplexität der Bedeutungen, die »das Ressort des Schreibens und des Denkens in ihrer Schlacht gegen dieses Lager von etablierten Bedeutungen bildet, das die Sprache [la langue] darstellt.«10 Ähnlich wie die Besucher der Ausstellung wolle man auch die Autoren des Experiments mit ihren Ängsten vor dem Ungewissen konfrontieren. Zur Unruhe, die dem Schreiben allgemein eigne, solle zusätzlich die Ratlosigkeit und die Angst kommen, die das Hineingeworfensein in den unmittelbaren Austausch von Gedanken mit sich bringe – schließlich setze sich jeder den Missverständnissen, der Feindseligkeit oder dem Unverständnis der anderen aus: »Was wäre also, fragten wir uns, wenn das Denken und das Schreiben sich dem Zufall der bizarren Interferenzen ausgesetzt sähen, nicht nur im Zustand des bereits fertigen Werkes, im Text, den sie hervorgebracht haben, sondern wenn sie sich bilden, im Zustand des Geborenwerdens?«11 Im Post-scriptum, das aus der privilegierten Position des von den Spielregeln der Epreuves frei gesetzten Forschers geschrieben werden konnte, ziehen Lyotard und drei Mitarbeiterinnen, Elisabeth Gad, Chantal Noël und Nicole Toutcheff, Bilanz. Wahrscheinlich hat diesen Text 6 7 8 9 10 11
Epreuves d’écriture, S. 6. Noël/Toutcheff 1985, S. 33. Epreuves d’écriture, S. 6. Ebd. Ebd. Ebd. 59
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hauptsächlich Lyotard verfasst; er versucht dort mit einiger Mühe, philosophisch relevanten Veränderungen sowohl der Texte als auch der Schreibprozesse innerhalb des Experiments auf die Spur zu kommen. Die Materialität des Schreibens im Computernetzwerk unterscheide sich immens vom Schreiben mit Stift und Papier. Ein Grund dafür sei, dass die meisten Autoren den Umgang mit dem stark vereinfachten Textverarbeitungsprogramm erst lernen mussten und sich so »in der Position von Kindern [wiederfanden], aufgefordert, schreiben zu lernen, um an einer Gemeinschaft teilhaben zu können.«12 Die Motivation, einen solchen Umweg auf sich zu nehmen, anstatt wie gewohnt mit Papier und Stift zu schreiben, sei nicht sehr hoch gewesen. Diese »Infantilisation«13 symbolisiere den Zustand der aktuellen Gesellschaft, die dem technologischen Fortschritt und der wachsenden Komplexität nur mit Verspätung begegnen könne. Zum anderen habe es Probleme mit den verschiedenen Programmen des Servers und der einzelnen Rechner gegeben, was es den Autoren unmöglich gemacht habe nachzuvollziehen, welche Antwort wann entstanden war – bis schließlich die Informatiker ein Programm schrieben, das die Texte chronologisch ordnete. Außerdem seien die Texte sehr langsam übermittelt worden, mit einer Geschwindigkeit von 30 Zeichen pro Sekunde, was zur Folge hatte, dass die Autoren viel Zeit wartend vor dem Rechner verbrachten. Diese beiden Umstände führten dazu, dass ein signifikanter Unterschied zwischen dem Schreiben auf Papier und dem Schreiben mit einem Textverarbeitungsprogramm die Langsamkeit und Zeitlosigkeit des Letzteren gewesen sei. Abgesehen von diesen technischen Schwierigkeiten interessierten Lyotard die konstitutiven Unterschiede zwischen den beiden Medien in Bezug auf Les Immatériaux, vor allem auf das mât-System. Im Schreibgerät »Computer« fielen zwei Aspekte der Nachricht zusammen, die beim Schreiben auf Papier getrennt sind: »Wenn man ›am Bildschirm‹ schreibt, platziert man den Text bereits im Netz seines Umlaufs [...]: Das Materielle, der stoffliche Träger der Produktion der Nachricht, ist nicht unabhängig von der Ausrüstung, die deren Verbreitung sicherstellt.«14 Mit dem mât-System gesprochen: Das Medium (matériau) und der Kanal (matériel, hier in einer für das mât-System ungewöhnlichen Verwendung) sind eins. Diese Verknüpfung von Produktion und Verbreitung finde man in ähnlicher Form im internationalen Geldverkehr oder im Interesse der Linguisten an der Pragmatik. Sie raube dem Autor einen Raum der Privatheit, der aus den vielfältigen Überarbeitungen, Streichungen, Hinzufügungen etc. bestehe, die er an seinem Text vornehme, und der 12 Epreuves d’écriture, S. 260. 13 Ebd. 14 Ebd. 60
KATALOGE UND ANDERE PUBLIKATIONEN
denjenigen, die später seinen Schreibprozess dechiffrierten, Hinweise auf den »harten Weg«15 gäben, den der Autor gegangen sei. Im Gegensatz dazu zeige sich der am Computer geschriebene Text ohne diese Umwege und sei damit frei von derlei Intimitäten. Auch über den Leser der Texte herrsche große Unklarheit. Sei die Frage, für wen man schreibe, schon immer schwierig zu beantworten gewesen, so werde diese Schwierigkeit bei den Epreuves gesteigert, weil es kein klar definiertes Buchprojekt gegeben habe, sondern ein anonymes und reaktionsschnelles Netz. »In seinem tiefsten Inneren bezweifelte jeder ›Autor‹, dass das Resultat seiner epreuves jemals eine fertige Schrift werde, publizierbar, verteilbar, lesbar, für wen auch immer interessant.«16 Die Suche nach einem Partner für den Austausch gestalte sich in dem »losen und konfusen Gewebe des Netzes«17 schwierig und erlaube bestenfalls einige wenige ephemere und unsichere Kontakte. Daher hätten sich einige Autoren auf die ihnen sicher erscheinende Position des Dozierenden zurückgezogen und pädagogische Lehrtexte verfasst. Den »Mangel an Zieladressen«18 sieht Lyotard als exemplarisch für die postmoderne Gesellschaft an, die nicht mehr an eine Gemeinschaft des Wissens glaube wie noch die Moderne, sondern von der Singularität und der Differenz ausgehe: »So sind wir, vielleicht: gemeinsam allein. Wir?«,19 fragt er rhetorisch. Vor allem die Autorität des Autors (maternité) werde durch das Experiment der Epreuves stark hinterfragt. Das Thema seines Textes spiele eine Nebenrolle, das strenge Regelwerk zur Erzeugung der Texte sei es, das viel stärker ins Gewicht falle: »Die Meisterschaft des Autors über sein Schrifttum erscheint illusorisch.«20 Die »Unmöglichkeit der Aneignung [...] ist unheilbar«21 und erzeuge Ärger über die fehlende »Rechtschaffenheit«22 des Schreibens. So sei den Autoren nur die Möglichkeit geblieben, mit einer gewissen sportlichen Haltung spielerisch auf die Bedingungen zu reagieren und ihren Ärger in eine humorvolle Beschwingtheit zu verwandeln – nicht alle seien jedoch dazu bereit gewesen, einige brachen das Experiment ab. Die entstandenen Texte jedoch seien im Großen und Ganzen dem ähnlich geblieben, was die Autoren auch unter anderen Bedingungen schrieben. 15 16 17 18 19 20 21 22
Epreuves d’écriture, S.260. Ebd., S. 261. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 262. Ebd. Ebd. 61
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Das Thema (matière) der Epreuves, die Immaterialien, habe im Postscriptum nur insofern interessiert, als es Effekte auf das Schreiben haben könnte. Man hätte erwarten können, dass, bedingt durch die Spielregeln und die Freiheit der Autoren, ein Puzzle entstehen würde, eine Collage. Dies sei aber nicht der Fall, das Ergebnis sei eher zu beschreiben als »Band aus der borgèsschen Bibliothek von Babel, eines dieser Werke, in dem der Gesamtinhalt der Bibliothek als Miniatur repräsentiert wird. Eine Projektion der Galaxie von Nachrichten, in der ›wir‹ nomadisieren, mit reduziertem Maßstab.«23 Das Schreiben in ein Computernetz zu verlagern, führe also dazu, dass es sich an die Bedingungen, welche die Technologien vorgäben, anpasse: »Die Sprachtechnologien setzen voraus, so scheint es, dass die Sprache ein Instrument der Kommunikation zwischen Benutzern ist. Die Schrift ist also der Transparenz der Nachricht geweiht, dem Transport der Information ohne Verlust. Der Wert der Nachricht misst sich ihrem Informationsgehalt, und die Information steht in umgekehrtem Verhältnis zur wahrscheinlichsten Verteilung. Alles drängt also in Richtung der Vereinfachung der Sprachen, Eindeutigkeit der Nachrichten, Verständlichkeit der Codes, für den größtmöglichen Komfort der Benutzer.«24
Umgekehrt zeige sich, dass die Maschinen der Textverarbeitung sich so entwickelten, dass sie immer besser in der Lage sein würden, die Alltagssprache zu imitieren: »Die Sprachmaschinen müssen komplexer werden, um mit diesen einzigartigen Organismen, mit diesen vor-maschinellen Sprachen – die vielleicht die höchstentwickelten und unwahrscheinlichsten sind, die im Kosmos selektiert wurden – rivalisieren zu können. Der Respekt vor ihrer Komplexität, das Hören auf das, was sie vermögen, die Leidenschaft, die Leistungen zu aktualisieren, zu denen sie zwar fähig sind, die aber nur potentiell geblieben sind – kurz, all das, was die Schrift leistet –, erweisen sich also, trotz ihrer Konnotation eines überholten Humanismus, als profitabler für das Schicksal des Komplexer-Werdens, welches das der menschlichen Gattung ist, als das Verlangen nach Vereinfachung der Kommunikation.«25
Insgesamt, so gestehen Noël und Toutcheff in einer rückblickenden Reflexion weniger philosophisch, aber vielleicht realistischer als Lyotard in dem Sammelband Modernes et après. Les Immatériaux ein, hätten sich nicht so sehr die Texte der Autoren verändert als vielmehr ihr Verhalten 23 Epreuves d’écriture, S. 263. 24 Ebd. 25 Ebd. 62
KATALOGE UND ANDERE PUBLIKATIONEN
beim Schreiben: So bezog sich z.B. der Inhalt der Texte, die zum Stichwort »auteur« geschrieben worden seien, auf die eigene Situation der Autoren während des Experimentes. Sie handelten von den Gesten des traditionellen Schreibens auf Papier, der fehlenden Berührung des Stiftes, aber auch der Unmöglichkeit, den ganzen Text auf einmal zu überblicken, weil der Bildschirm nur eine bestimmte Anzahl von Zeilen anzeigen konnte. Einige der Autoren hätten sich aus Angst vor Daten- oder Kontrollverlust nur sehr zögerlich auf die Spielregeln eingelassen und ihre Texte erst kurz vor Schluss an den Server weitergeleitet, was das Antworten nahezu unmöglich machte.26 Auch die Angst vor den anderen Autoren, die aus allen möglichen Fachbereichen kamen, spielte eine Rolle, da deren Antworten, anders als beim schwerfälligen Publikationsweg des Buches, prompt kamen. Insgesamt habe also eine ungewohnte Unsicherheit den Autoren Probleme gemacht: »Les textes partent comme des bouteilles à la mer.«27 Auch Lyotards im Gespräch mit Jacques Derrida geäußerte conclusio hebt auf die Pragmatik des Schreibens und weniger auf die produzierten Texte ab: »Das Experiment scheint mir vor allem insofern aufschlußreich, als sich darin alle Zeiten des Schreibens ändern: die Zeit der Inspiration, die Zeit des Überlesens des eigenen Textes, die Zeit zum Nachgucken in anderen Texten. Und daraufhin, im Hinblick auf die Zeit, wird das Experiment wohl auch zu untersuchen sein.«28 Obwohl die Epreuves in der Ausstellung keine allzu große Rolle spielten, ist gerade dieser Teil des Kataloges vergleichsweise bekannt geworden. Vor allem Computerlinguisten, Netzpoeten und Internethistoriker interessieren sich für dieses Projekt, das als eines der ersten groß angelegten Experimente zum digitalen vernetzten Schreiben gilt. Die beiden anderen Katalogteile beziehen sich direkter auf die Ausstellung selbst. Das Album, ein schmaler, schlecht gebundener Band, versammelt auf 63 Seiten Dokumente aus der Vorbereitungszeit von Les Immatériaux. Es ist in die Kapitel Présenter, Concevoir, Imaginer und Inscrire (Präsentieren, Konzipieren, Imaginieren, Beschriften/Einmeißeln) untergliedert, in denen ausgewählte Dokumente aus der Vorbereitungszeit in chronologischer Reihenfolge faksimiliert sind. Auf einige einleitenden Texte von Jean Maheu, dem damaligen Präsidenten des Centre Pompidou, François Burkhardt, dem Direktor des CCI, Lyotard sowie Thierry Chaput folgen originale Protokolle, Skizzen zum mât-System 26 Vgl. Noël/Toutcheff 1985, S. 36. 27 Ebd., S. 37. Heinich fasst das Experiment brüsk zusammen: »D’où, en guise de collaboration intellectuelle, un mélange assez inattendu d’interrogations philosophiques (comment définir le post-modernisme?) et de question pragmatiques: ›Une fois qu’on appuie sur START, qu’est-ce qu’il faut faire’?« Heinich 1986, S. 62. 28 Lyotard/Derrida 1985, S. 26. 63
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Abb. 2.: Eines der Kästchen-Schemata aus dem Album.
Abb. 3: Eine typische Seite aus dem Inventaire. und zum Metasystem »vom Körper zur Sprache«, handgezeichnete Schemata zur Verteilung der Stationen im Raum, eine Skizze des Parcours, auf der mögliche Querverbindungen zwischen den Wegen farbig eingezeichnet und die Zugehörigkeit der Stationen zu den Wegen markiert sind und der fertige Grundriss, in den die Sendezonen des Kopfhörerprogramms farbig eingetragen sind. Am Ende des letzten Kapitels befin-
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det sich ein Projektplan für den Aufbau der Ausstellung, der am 4.2. 1985 begann. Die Selbstreflexivität, die in dieser Projektdokumentation liegt, ist für Ausstellungen, aber auch für Bücher und andere Projekte ungewöhnlich. Am ehesten kennt man sie vom Medium Film, das in den letzten Jahren verstärkt mit der Gattung des »Making of« seine Entstehungsweise dokumentiert und reflektiert. Mit dem Album hält Lyotard fest, wie konsequent er die Entstehung von Les Immatériaux zu jedem Zeitpunkt der Vorbereitungen als einen offenen Prozess verstanden wissen wollte. Das Inventaire, der dritte Teil des Kataloges, besteht aus lose in einem Schuber liegenden Karten und ist nach Form und Inhalt eher ein wissenschaftlicher Apparat als eine für den Besucher handhabbare Publikation zur Ausstellung. Dort findet man zu jedem der fünf Wege eine allgemeine Einführung, die aus einigen Absätzen besteht, mit »J-F L« signiert ist und die mât-Zuordnungen aufschlüsselt. Diesen Einführungstexten folgen Karten, auf denen die zum jeweiligen Weg gehörenden Stationen einzeln vorgestellt werden. Auf jeder Karte findet man ein oder zwei Sätze zu den theoretischen Hintergründen der Station, ein oder mehrere Bilder sowie, je nach Station, kurze, technische Beschreibungen der Anordnungen von Geräten, Vitrinen oder Kunstwerken. Es fällt auf, dass die Bilder im Inventaire bei nur etwa einem Drittel der Stationen die Objekte abbilden, die vor Ort zu sehen waren. Vor allem die Kunstwerke werden auf diese Weise gezeigt, sonst stellen die Bilder des Kataloges eine weitere semantische Ebene zu den Stationen dar oder stehen gar in einem so locker-assoziativen Zusammenhang mit der Station, dass es schwer fällt, die Verbindung zu rekonstruieren. Die für die Besucher vielleicht wichtigste Publikation war aber keiner der Katalogteile, sondern das Petit Journal, eine 16 Seiten umfassende Saalzeitung, wie sie das Centre Pompidou im Allgemeinen für Ausstellungen herausbrachte. Das Petit Journal war – sowohl was es den Umfang als auch die darin enthaltenen Informationen angeht – die einzige Informationsquelle, die man sinnvoll während des Ausstellungsbesuches konsultieren konnte. Allerdings stellte sich heraus, dass viele Besucher es nicht nutzten: »[La] plupart des visiteurs interrogés à la sortie ignorent – faute sans doute d’avoir remarqué la librairie, peut-être insuffisamment visible – qu’il existait un ›petit journal‹ de l’exposition.«29 Damit entging ihnen das einzige Werkzeug, das hätte helfen können, sich ein wenig Überblick und Metainformation zu verschaffen. Das Petit Journal enthält einen Grundriss der Ausstellung, einen einführenden Text, der einige Überlegungen von Lyotard und Chaput zur Moderne, zur
29 Heinich 1986, S. 39. 65
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Immaterialität, zum mât-System und zu den Ausstellungsweisen von Les Immatériaux vorstellt sowie Abbildungen einiger ausgestellter Objekte. Dem Textproduktionsexperiment aus dem Katalogteil Epreuves d’écriture ist eine Seite gewidmet. Zudem ist eine Zusammenfassung einer jeden Zone des Kopfhörerprogramms, die es in dieser Form in keiner der anderen Publikationen gibt, abgedruckt, sowie kurze Beschreibungen der Stationen, die sehr präzise sind und oftmals über die ausführlichen Texte im Inventaire hinaus erhellen, was Lyotard an der jeweiligen Stelle thematisieren wollte.30 Für Besucher, die kein Französisch sprachen, wurde es ein 24 Seiten starkes Heft mit einer Übersetzung des kompletten Kopfhörerprogramms ins Englische verkauft, ein wertvolles Dokument, da die Kopfhörertexte sonst nur als Audiokassetten exisiteren und kaum zugänglich sind. Zudem gab es mehrere Pressemitteilungen, einen Flyer (Autour des Immatériaux) mit dem Konzert- und Vortragsprogramm, das die Ausstellung flankierte, eine Broschüre mit dem Titel Les Immatériaux Générique, in der sämtliche Mitarbeiter der Ausstellung genannt und Danksagungen an Personen und Institutionen aufgelistet werden sowie eine Liste mit sämtlichen bibliographischen Nachweisen zu den Kopfhörertexten, allerdings ohne Nennung der Seitenzahlen in den Herkunftstexten.31
30 Lediglich einem Rezensenten ist die hohe Qualität dieser Texte eine Erwähnung wert, er ist überhaupt einer der wenigen, die das Petit Journal in ihre Rezension einbeziehen: »La concision et la clarté des textes sont tout à fait remarquables.« Launay, Jean (1985): Les Immatériaux. In: Le Monde, 28.3., S. 11. 31 Eine solche Liste befindet sich nur im Archiv: Box 95016/007. 66
T EIL II
»[...] wir denken mitten in jener Welt aus schon vollzogenen Einschreibungen – man kann sie auch ›Kultur‹ nennen. Und wir denken nur deshalb, weil es inmitten solcher Fülle doch noch etwas Leeres gibt und weil wir für dieses Leere einen Platz schaffen müssen, durch den möglich wird, dass sich das einstellt, was noch zu denken bleibt. Aber das kann nicht anders ›kommen‹ als im Modus des Einschreibens.« Aus: Lyotard, Jean-François (2001b): Ob man ohne Körper denken kann. In: Ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. 2. Aufl. Wien, S. 19-36, hier S. 32.
5. P H I L O SO P H I E R E N U N D A U S S T EL L EN – L E S I M M A T É R I AU X A L S M E DI E N W EC H SE L Lyotard reizte an Les Immatériaux nicht nur das »Abenteuer [...], einmal das traditionelle Medium des Buches aufzugeben,«1 sondern auch, das Medium Ausstellung zu verändern: »Bei der Realisierung nun versuchen wir [...] so weit wie möglich – doch das ist nicht so leicht – den herkömmlichen Zwängen von Ausstellungen zu entgehen, wie sie die Moderne hervorgebracht hat.«2 Er wolle gerade »nicht noch einmal mehr Galerie oder Salon heraufbeschwören«,3 in denen sich ein Besucher wie der Held der Bildungsromane des 19. und 20. Jahrhunderts bewegte: Dieser »durchläuft die Welt, erlebt Abenteuer aller Art, erprobt so seine Intelligenz, seinen Mut und seine Leidenschaften und kehrt schließlich ›gebildet‹ nach Hause zurück«.4 Daher traf Lyotard einige grundlegende ausstellungsdidaktische Entscheidungen. Erstens adressierte er Les Immatériaux nicht primär an das Publikum, das üblicherweise zur Zielgruppe eines Philosophen gehört, sondern auch an junge und bildungsferne Besucher: »Nous avions quand même [...] une cible principale, éminente, les jeunes de la banlieue.«5 Zweitens wollte er keine Ausstellung für eine breite Masse machen – man könnte auch sagen: keine durchschnittliche Ausstellung, die möglichst viele Personen auf möglichst ähnliche Weise ansprechen sollte –, sondern eine Ausstellung, die sich explizit an individualisierte Einzelne richtet: »Il n’y a pas de ›visiteur quelconque‹ [...], il y a des singularités très différenciées – parce que les humains sont ce qu’il y a au monde de plus complexe [...]«.6 Drittens wandte er sich mit Les Immatériaux nicht primär an den Intellekt, sondern an die Emo1 2 3 4 5
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Lyotard/Derrida 1985, S. 24. Ebd. Lyotard/Blistène 1985, S. 70. Lyotard 1985b, S. 86. Ohne Autorenangabe (1997): Interview mit Jean-François Lyotard: Les Immatériaux. In: Le Magazine du Centre, 1.1., S. 21. Tatsächlich waren 87 % der Besucher unter 39 Jahre alt. Lyotard, Jean-François (1985d): Qui a peur des »Immatériaux«?. In: Le Monde, 3.5., o.S. 69
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tionen der Besucher, was sich im Schlagwort des »Sensibilisierens« kondensiert: »Die Ausstellung [...] versucht lediglich, eine für die Postmoderne spezifische Sensibilität zu entdecken und zu erwecken, die wir bereits als vorhanden annehmen [..., die aber] noch verborgen und sich ihrer selbst zweifellos nicht bewußt«7 ist. Diese Ausrich«tung war in einer doppelten Weise in Lyotards Denken verankert. Als »philosophe, qui n’est pas pour autant celui de la tour d’ivoire«,8 übernahm er seine gegen jedes statische Expertentum abgegrenzte Vorstellung von einem kritischen Philosophieren auch für Les Immatériaux, so dass man sagen kann, dass er zwar einen »Medienwechsel vom Denker zum Ausstellungsmacher«9 vollzog, dass seine Perspektive aber dennoch die des Philosophen blieb. Als Konsequenz daraus bildete sein Verständnis davon, was Philosophieren eigentlich ist, die Grundlage seiner Ausstellungspädagogik. Diese philosophiedidaktische Ebene wurde in Les Immatériaux flankiert von einer mehr impliziten als expliziten Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, deren Basis Lyotards Anleihen bei den Theater- und Körperbegriffen von Artaud und Beckett sowie seine Kritik an der Hegemonie des Sehsinns gegenüber dem Hören in der Moderne sind.
5.1. Die Philosophie der Sensibilisierung als Ausstellungspädagogik Lyotard verstand Les Immatériaux als einen Impuls, der die Besucher in einen Zustand erhöhter Sensibilität für bestimmte Fragestellungen versetzen sollte. Er wollte diese »Fragen [...] intensivieren«10 und zugleich erreichen, dass sie »für den Besucher der Veranstaltung bis zum Ausgang und noch darüber hinaus offenbleib[en].«11 Ein Weg, um zu diesem Ziel zu kommen, war die Verankerung der Ausstellung in »Erkenntnisweisen [...], die nicht mehr ans Buch gebunden sind« – eine Ausrichtung, die für Lyotard nicht ungewöhnlich ist, hat er doch immer wieder Experimente mit verschiedenen Darstellungsformen und Modi des Philosophierens un-
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Lyotard/Derrida 1985, S. 24. Gauville, Hervé (1985): Le Labyrinthe des Immatériaux. In: Libération, 28.3., S. 28-31, hier S. 30. 9 Weibel, Peter (1985): Les Immatériaux. Jean-François Lyotards Ausstellung zum postmodernen Zustand der Techno-Welt. In: Wolkenkratzer Art Journal 8, S. 24-29, hier S. 26. 10 Lyotard 1985b, S. 77. 11 Ebd., S. 79. 70
PHILOSOPHIEREN UND AUSSTELLEN – LES IMMATÉRIAUX ALS MEDIENWECHSEL
ternommen:12 »Ich akzeptiere meinerseits schon, der Philosoph zu sein, der ›etwas zu sehen gibt‹, wie Sie sagen. Dann halte ich es aber für ausgesprochen wichtig – und das ist für mich als Philosoph gar nicht einmal neu – daß das, was gedacht wird, auch auf anderen Trägern als denen des Buches eingeschrieben wird.«13 Der »Träger Ausstellung« bot ein völlig anderes Spektrum von Möglichkeiten als der »Träger Buch«: So stellten z.B. weder die räumliche Struktur von Les Immatériaux noch der Katalog ähnliche Orientierungshilfen dar, wie sie ein Buch zumindest dem Anschein nach durch die formale Ordnung der gebundenen Seiten mit sich bringt. Die labyrinthische Form der fünf Wege, die einzelnen Blätter des Inventaire und die quer durch die gesamte Publikation verlinkte Sammlung von Texten verschiedener Autoren in Epreuves d`écriture sprachen eine deutliche Sprache: Bevor die Besucher überhaupt in eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Ausstellung treten konnten, wurde ihnen bereits signalisiert, dass sie nicht erwarten durften, auf gewohnte Weise an die Hand genommen und geführt zu werden. Darüber hinaus verlangte die Ausstellung im Gegensatz zu einem Buch von den Besuchern, sich körperlich in den Ausstellungsraum hineinzubewegen – ein Buch kann man jederzeit schließen, eine Ausstellung muss man erst verlassen, wenn man sich nicht mehr mit ihr befassen will. Diese für das Philosophieren zumindest ungewöhnliche Rolle des Körpers zeigte sich zudem darin, dass die Besucher nicht nur auf Texte und Informationen trafen, sondern auch auf Licht und Farbe, Raumbilder und Atmosphären, Objekte und Settings: »Im Gegen-
12 Vgl.: »Daß Lyotard die Schuldigkeit, Zeugnis abzulegen, mit dem Bewusstsein von der Unmöglichkeit einer adäquaten Darstellung verband, mag erklären, warum er mit immer neuen Formen des philosophischen Ausdrucks und Argumentierens experimentierte. ›Le Différend‹ war eine Sammlung philosophischer Aufzeichnungen. Das Buch über das Erhabene, ›Leçons sur l'Analytique du Sublime’, war ein Kommentar im Sinne der klassischen Schultradition. ›La condition postmoderne‹ fügte sich den Gattungsregeln des Gutachtens. 1985 richtete Lyotard im Pariser Centre Pompidou sogar eine Ausstellung ein, ›Les Immatériaux‹, die die Erfahrung von der Flüchtigkeit all jener Bezüge vermitteln sollte, in denen wir eine Wirklichkeit des Gegenständlichen zu erleben suchen. Schließlich hat Lyotard viele Variationen des autobiographischen Schreibens erprobt, von Protokollen über exzentrische Lektüren bis zu dem Bericht über eine Vortragsreise in Japan, mit weiblichem Ich-Erzähler.« Gumbrecht, Hans-Ulrich (1998): Nostalgiker des Seins. Denker der Nachträglichkeit: Zum Tode von Jean-François Lyotard. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.4., Nr. 93, S. 41. 13 Lyotard/Blistène 1985, S. 62. 71
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satz zu anderen Medien wie Buch, Film, Fernsehen, Tageszeitung et cetera übermittelt eine Ausstellung in aller Regel Inhalte nicht nur symbolisch, sondern integriert diese als Objekte in ihrer materiellen Gestalt.«14 Jeder Besucher war also »herausgefordert, sich gegenüber dem Objekt faktisch zu verhalten, [war] folglich gezwungen, sich auf das Gegebene leiblich-situational einzustellen.«15 Zudem macht es generell die semantische Offenheit von Objekten problematisch, ein bestimmtes Rezeptionsergebnis anzuvisieren: »Für die übergroße Mehrzahl der Besucher und Nutzer gilt, dass Entschlüsselungsakte eher auf assoziative Verarbeitungsvorgänge rückführbar sind mit der Folge, daß die in Ausstellungen übliche Form von Objektdeutungen auf subjektive oder private kommunikative Vorerfahrungen zurückgreift, diese verstärkt, etwaige abweichende Bedeutungsaspekte der betreffenden Objekte außer acht lässt und damit zusätzliche neue Lerneffekte nicht unbedingt fördert.«16
Die medialen Differenzen zwischen Text und Ausstellung waren für Lyotards Absichten von großer Bedeutung: »Die Ausstellung möchte die Verwirrung eher wecken als zur Ruhe bringen, denn es besteht kein Grund, zur Ruhe zu kommen...«.17 Die Verwirrung war für ihn ein Spiegel der postmodernen Gesellschaft, ihrer massiven Umbrüche und ihres Bewusstseins vom Ende der Illusionen der Moderne. Eine dieser Situation angemessene Haltung, ein Zustand des von allen festen Gewissheiten Freigesetztseins, sei zugleich die Basis für ein echtes philosophisches Denken: »Cet état dans lequel on ne sait plus où on en est, constitue spé14 Locher, Hubert (2002): Die Kunst des Ausstellens. Anmerkungen zu einem unübersichtlichen Diskurs. In: Huber, Hans-Dieter/Locher, Hubert/Schulte, Karin (Hg.) (2002): Kunst des Ausstellens. Beiträge, Statements, Diskussionen. Ostfildern-Ruit, hier S. 17. 15 Graulich, Gerhard (1989): Die leibliche Selbsterfahrung des Rezipienten – ein Thema transmodernen Kunstwollens. Essen, S. 176 f. 16 Treinen, Heiner (1995): Ausstellungen und Kommunikationstheorie. In: Museums-Fragen. Museen und ihre Besucher. Symposium im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, S. 60-71, S. 65. Es ist allerdings interessant, dass Lyotard bei den Vorbereitungen der Ausstellung einige sehr konkrete (Lern)Ziele formulierte, die in den Publikationen überhaupt nicht erwähnt werden. Im Archiv des Centre Pompidou gibt es eine Reihe von handschriftlichen Notizen und Skizzen zu den meisten Stationen sowie eine Liste mit kurzen Erklärungen der an jeder Station verfolgten Ziele, die in einigen Fällen den Texten im Inventaire sehr ähnlich sind, in anderen jedoch ganz direkte Erklärungen zu Sinn und Zweck der Stationen beinhalten. 17 Lyotard/Blistène 1985, S. 66. 72
PHILOSOPHIEREN UND AUSSTELLEN – LES IMMATÉRIAUX ALS MEDIENWECHSEL
cifiquement le point de départ de toute pensée.«18 Ein Denken, das von wirklicher Offenheit für die befragten Phänomene geprägt ist, auf Vereinnahmungen verzichtet und sich den spezifischen Eigenarten des jeweiligen Einzelfalls widmet, kann für Lyotard nur entstehen, wenn man »nicht mehr weiß, wo man ist«, wenn es keine einfachen Antworten mehr gibt. Dies kann erreicht werden, so kann man das gesamte Setting von Les Immatériaux interpretieren, wenn das Denken Phänomenen ausgesetzt ist, die sich nicht einfach in den Griff bekommen lassen. Und vor allem: wenn nicht nur das Denken angesprochen wird, sondern auch das ästhetische Empfinden, die Emotionen und die sinnliche Wahrnehmung.19 Lyotard wollte die Besucher von Les Immatériaux dazu verführen, sich eine derartig komplexe Auseinandersetzung zuzutrauen, anstatt nach den üblichen Sicherheiten zu suchen: »Je crois qu’il est très important [...] que l’humanité abandonne sa demande de simplicité. Car il faut qu’elle se mette à la hauteur des tâches extraordinairement complexes […] C’est la seule perspective pédagogique sérieuse.«20 Diese pädagogische Perspektive spielt bereits in Das postmoderne Wissen21 aus dem Jahr 1979, ein Buch, dem Les Immatériaux einiges verdankt, eine entscheidende Rolle. In dieser »Gelegenheitsarbeit« (PW 17), wie Lyotard selbst die Schrift nennt, beschäftigt er sich mit dem »Wissen in den informatisierten Gesellschaften« (PW 19), die man heute »postmodern [...] nenn[t]« (PW 13). Diese »höchstentwickelten Gesellschaften« (PW 13) hätten die aus Aufklärung und Moderne stammende Vorstellung, der Mensch könne die materielle Welt beherrschen und sie für seine Zwecke nutzbar machen, aufgegeben, da sie durch die jüngsten technologischen Entwicklungen hätten erkennen müssen, dass die Vorstellung eines derartigen Herrscher-Subjekts eine Illusion gewesen sei. Aus dieser Diagnose leitet Lyotard wesentliche Paradigmen für Wissen, Wissenschaft, Forschung und Lehre ab, die er sowohl in Das postmoderne Wissen als auch für Les Immatériaux formuliert hat: in beiden geht es um einen »doppelten Hintergrund, [der aus] einer weit vorangeschrittenen Kapitalisierung aller Kommunikationsprozesse und deren gleichzeitiger Technisierung in Form von sogenannten ›Neuen Medien‹«22 besteht. 18 Lyotard in einem Interview in: Ohne Autorenangabe, Le Magazine du Centre 1997, S. 21. 19 Diese Ästhetik spielt unter dem Schlagworrt des Erhabenen in vielen Texten Lyotards eine große Rolle. 20 Lyotard im Interview: Levy, Pierre (1985): Entretien avec Jean-François Lyotard a propos de l’exposition »Les Immatériaux«. In: Terminal, no. 25, 1.9., S. 3-5, hier S. 5. 21 Im Folgenden im Text gekennzeichnet mit PW. 22 Gehring 1994, S. 221. Hervorhebungen im Text. 73
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Die Technisierung wirke sich insofern aus, als die Technowissenschaften Informatik und Elektronik »die Identität des als Geist und Willlen oder Bewußtsein und Freiheit begriffenen ›Menschen‹ [beeinträchtigen]. Das ›Menschliche‹, als substantiviertes Adjektiv, bezeichnet eine alte Domäne von Kenntnissen und Interventionen [...]«.23 Das »Menschliche« ist in Formulierungen wie dieser der Kondensationspunkt für die Ideologie der Vormachtstellung des menschlichen Subjekts, die den Fragen und Ideen der Moderne zugrunde liege, ohne dass sie als Grundlegung reflektiert werde. Diese fehlende Reflexion – bei Lyotard auch: Legitimierung – führe dazu, dass das auf einer solchen Grundlegung beruhende Denken totalitär verengt werde, indem alle zu untersuchenden Phänomene unhinterfragt dem »Menschlichen« untergeordnet würden. Daher sucht Lyotard mit Les Immatériaux nach »einer Perspektive, in der nicht mit dem angefangen wird, was alle Humanwissenschaften als gegeben an den Anfang setzen – den Menschen.«24 Die eigenartige Entanthropologisierung des kommunikationstheoretischen Sender-Empfänger-Modells, das dem mât-System und damit der gesamten Ausstellung zugrunde lag, erklärt sich aus diesem Ziel ebenso wie die massive Präsenz von Hightech-Geräten, die Lyotard in vielen Rezensionen als unkritische »Technolatrie« ausgelegt wurde. Damit hat man ihn aber missverstanden: Die neuen Technologien sind für Lyotard Zeichen dafür, dass dezentrale Netze, rhizomatische Strukturen und ungehinderter Datenaustausch an die Stelle der einen Machtinstanz getreten seien, die in der Moderne das Subjekt dargestellt habe. Das habe Konsequenzen für unsere Vorstellung von der Materie: Sie sei quasisprachlich organisiert und bestehe aus Codes, die modifizierbar seien. Dies werde, so Lyotard in Das postmoderne Wissen und in Les Immatériaux, durch die neuen Technologien sichtbar und zugleich handhabbar. Wäre sich die Gesellschaft der darin liegenden Chancen bewusst und würde nicht, wie es Lyotard befürchtet, aus dem Geist der Moderne heraus weiter an dem einen Herrscher-Subjekt festhalten, dann gäbe es die Möglichkeit, sich wahrlich den Neuerungen zu stellen, die auf uns zukämen: »Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen« (PW 16). Eine Gesellschaft, die das »Inkommensurable ertragen« kann, wäre zudem immun gegen die Kapitalisierung: ein von der Moderne befeuerter Kapitalismus wolle ähnlich wie das unhinterfragte Paradigma des Herrscher-Subjektes jegliche Singularitäten unter seine Maximen – »Effizi-
23 Lyotard 1985b, S. 80. 24 Lyotard/Blistène 1985, S. 65. 74
PHILOSOPHIEREN UND AUSSTELLEN – LES IMMATÉRIAUX ALS MEDIENWECHSEL
enz« und »Performativität« – subsummieren. Die kapitalistischen Wirtschaft verliere in ihrem Bemühen um »die Kommensurabilität der Elemente und die Determinierbarkeit des Ganzen« (PW 15), das Wesentliche aus den Augen: »[...] das Kriterium des ›Erfolgs‹ läßt jede Achtung schwinden: die Achtung vor dem Leben, dem Tod und der Natur, den Gefühlen und dem Wissen – die Achtung vor dem Menschen.«25 Dieser Verlust gehe einher mit der Gefahr, dass die Informatisierung »das ›erträumte‹ Kontroll- und Regelinstrument des Systems des Marktes werden [...] und ausschließlich dem Prinzip der Performativität gehorchen« (PW 192) könnte. Dies habe Folgen die ganze Gesellschaft, die durch die Technologisierung gerade erst beginne zu verstehen, dass ihre Basis keine Materie, sondern Daten seien. Die Unterordnung dieser Daten unter die Maximen des Kapitalismus sei deswegen so gefährlich, weil das, was als »›zum Wissen‹ gehörig« (PW 24) angesehen werde – und der Begriff Wissen scheint in Das postmoderne Wissen eine Art Chiffre für diese Daten zu sein –, davon beeinflusst sei: »Man kann also die Prognose stellen, daß all das, was vom überkommenen Wissen nicht in dieser Weise übersetzbar ist, vernachlässigt werden wird [...]« (PW 23). Wissenserwerb sei nicht mehr »unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selbst der Person verbunden« (PW 24), Forschung und Lehre instrumentalisiert: »Man kauft keine Gelehrten, Techniker und Apparate, um die Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern« (PW 135). Auf der Basis dieser beiden Denkfiguren konzipierte Lyotard Les Immatériaux als eine Art Verunsicherungsparcours, der gerade kein feststehendes und instrumentalisierbares Wissen vermitteln sollte – das wäre Sache der sogenannten Experten gewesen, die Lyotard mit ausgesprochen negativem Beiklang gegen die Philosophen abgrenzt. Experten beriefen sich auf gesichertes Wissen im geschützten Rahmen der Institution Universität: sie »beschränken [...] sich darauf, das für etabliert gehaltene Wissen weiterzugeben, und sichern durch die Didaktik eher die Reproduktion der Professoren als die der Forscher« (PW 117). Für Experten bestünde Wissen daraus, das Ungreifbare und Inkommensurable auszumerzen, der »Experte [...] weiß, was er weiß und er weiß, was er nicht weiß, [der Philosoph] weiß es nicht. Der eine folgert, der andere fragt, das sind zweierlei Sprachspiele« (PW 17). Lyotard versteht die postmoderne Sensibilität gewissermaßen als ein gesellschaftliches Spiegelbild eines solchen Philosophierens, welches »das Inkommensurable ertragen« kann. Besonders deutlich wird diese Les Immatériaux prägende Auffassung im Vergleich von Lyotards Aussagen mit den Zielen Frank Oppenheimers, des Gründers des Science
25 Lyotard 1985a, S. 9. 75
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Centers Exploratorium in San Francisco. Oppenheimer träumt von der Beherrschung der Komplexität durch Wissen: »Die eigentliche Mission des Exploratoriums ist doch, den Menschen die Gewißheit zu vermitteln, daß man die Welt um sich herum verstehen kann. Meines Erachtens hat ein Großteil der Leute es aufgegeben, ihre Mitwelt zu verstehen, und wenn sie sich bei der physikalischen Welt geschlagen geben, reagieren sie bei gesellschaftlichen und politischen Dingen ebenso. Ich glaube, wenn wir aufhören, die Dinge verstehen zu wollen, sind wir alle verloren. «26
»Verstehen« ist für Oppenheimer Ziel und Mittel, um die Menschen zu emanzipieren, sie zu eigenverantwortlichen, politisch mündigen Bürgern zu machen. Ganz anders klingt dagegen Lyotard, der zwar auch sein Publikum auf eine sich verändernde Welt vorbereiten will, aber von einem völlig anderen Kanon von Fähigkeiten ausgeht, derer es dazu bedarf: »Es geht darum, die Frage zu intensivieren und sozusagen die Ungewißheit zu verschärfen, mit der sie auf Gegenwart und Zukunft des Menschen lastet.«27
5 . 2 . D e r K ö r p e r a l s k r i t i s c h e I ns t a nz : Z u r R o l l e d e r s i n nl i c h e n W a h r n e h m u ng in Les Immatériaux Der Medienwechsel vom philosophischen Buch zur philosophischen Ausstellung erforderte nicht nur eine Modifkation des Philosophierens, sondern in ähnlicher Form auch des Ausstellens. Vor allem zwei Aspekte finden sich in Lyotards Äußerungen immer wieder: die Auffassung von Les Immatériaux als theatralem Raum und, eng verknüpft damit, das Ziel, die Ausstellung an die sinnliche Wahrnehmung der Besucher zu adressieren. Lyotard weist auf die Theatertheorien zweier Autoren hin, die die Szenographie stark geprägt hätten: »En cherchant, on s’est aperçu que Beckett et Artaud sont les dramaturges qui ont le plus affronté la question du non-corps au théâtre.«28 Beide ruft er als Stellvertreter eines Denkens auf, das helfen könne, moderne Ausstellungen – die sich einsei26 Oppenheimer zitiert nach Hein, Hilde (1993): Naturwissenschaft, Kunst und Wahrnehmung. Der neue Museumstyp aus San Francisco. Stuttgart, S. 12. 27 Lyotard 1985b, S. 79. 28 Lyotard im Interview mit Bidaine/Saur 1985, S. 13. Der französische Begriff ›dramaturge‹ wird mit ›Dramatiker‹ übersetzt, bezeichnet also nicht einen Dramaturgen, sondern einen Theaterautor. 76
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tig an den Sehsinn und damit den Geist der Besucher adressierten – im Sinne der Postmoderne zu modifizieren und so dem Körper als Ort der Rezeption zu einem neuen Recht zu verhelfen. Lyotards Überlegungen zu den Feldern Theater und sinnliche Wahrnehmung, die er vor allem in Interviews über Les Immatériaux äußert, stehen in einem auffälligen Widerspruch zu den modernistischen Paradigmen, innerhalb derer er den Körper im Inventaire oder im Petit Journal verortet. Mal kann man ihn dort so verstehen, als sei der Körper ein beherrschbares Instrument, das ein modernes Subjekt für seine Zwecke nutzt. So ist etwa im Petit Journal zu Homme invisible zu lesen: »Der menschliche Körper ist keine gute Ausrüstung, [...] man träumt von seinem Verschwinden«,29 oder zu Ration alimentaire, wo Nahrungsmittel in isolierte Fette, Kohlenhydrate und Proteine aufgespaltet wurden: »Die einzige Identifikation, die unter diesen Bedingungen erlaubt ist: einen ›guten‹ Stoffwechsel haben.«30 Dieser Widerspuch löst sich nicht auf, sondern zieht sich vielmehr als Denkfigur mit zwei einander relativierenden Extrema durch die Texte. Nicht nur dort findet sich dieser Widerspruch, auch im Vergleich zwischen Texten und Ausstellung zeigt sich eine Diskrepanz. Das gesamte Setting der Ausstellung ist an einen empfänglichen, sensibilisierbaren Körper adressiert, der dem von der Rationalität des »akademischen Diskurses« und der Effizienz des »ökonomischen Diskurses«31 Verdrängten Raum gibt: »Philosophical discourse, for example, but also entrepreneurial discourse, is exempted from any inference of bodily states. It’s forbidden, it’s a shame, it’s trouble, and there’s suspicion against people, males often, precisely when the bodily states, bodily gestures, emotions, cries, laughter, affective expressions are present.«32 Die Rolle, die der Körper in Lyotards Denken spielt, beruht auf zwei Kernpunkten seines Philosophierens: einerseits einer »Art von sensualistischem Zug«,33 der »mit Lyotards besonders nachhaltig wirksamen phänomenologischen Wurzeln zu tun haben [mag]«34 sowie andererseits einer »poststrukturalistischen Aufmerksamkeit und Liebe für die disparaten Verzweigungen und Verschaltungen mit gerade auch den sprachlichen, semantischen Aspekten der Welt, in die unsere Körper eingelassen Petit Journal, S. 7. Inventaire zu Ration alimentaire. Vgl. Lyotard, Jean-François (1989): Der Widerstreit. München, S. 11. Lyotard im Gespräch: Olson, Gary A. (1995): Resisting a Discourse of Mastery: A Conversation with Jean-François Lyotard. In: JAC 15.3., http:// jac.gsu.edu/jac/15.3/Articles/1.htm (7.9.2005). 33 Gehring 1994, S. 205. 34 Ebd. 29 30 31 32
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sind.«35 Lyotards Philosophie bewegt sich, allgemeiner formuliert, zwischen Phänomenologie und Poststrukturalismus und kann daher weder auf ein Denken der Präsenz und der Erscheinungen noch auf eine Sprachphilosophie im Kielwasser des linguistic turn reduziert werden, auch wenn beides in seinen Texten immer wieder durchscheint: »Denn der Aufbruch des postmodernen Denkens basiert [...] gerade nicht allein auf der linguistisch-diskursiven Konstruktion jeglicher Realität, er setzt nicht nur auf die wirklichkeitsschaffende Funktion der Sprache, sondern ist von Anfang an in eine Spannung zwischen sprachlich-diskursivem Apriori und einer leiblich-individuellen Komponente eingelassen. Diese Spannung kann [...] auch als eine sich im theoretischen Zugriff einstellende Gleichzeitigkeit aus bedingendem und beschreibendem Diskurs gedacht werden [...]. Dabei wird dieselbe Spannung zwischen determinierender Sprache und kontingenter, konkreter Ding- oder Leiblichkeit aber auch als ein Paradox lesbar [...].«36
Diese – bisweilen paradoxale – Spannung zwischen Sprache und Leiblichkeit kondensiert sich an Lyotards Theaterbegriff, der Les Immatériaux entscheidend prägte. Der Choreograph und Regisseur Johannes Birringer schreibt im Performing Arts Journal über seine Erlebnisse in der Ausstellung: »When I visited Les Immatériaux […] at the Centre Georges Pompidou in Paris, I felt as if I had walked into a theater.«37 Die Dunkelheit, der Einsatz von Klängen und Licht, die dramatisierend vorgetragenen Texte im Kopfhörer und die Inszenierungen der kleinen, leeren Bühnen der Dioramen im Théâtre du non-corps erzeugten in ihm den Eindruck, in einen »disembodied remainder of a theatre«38 geraten zu sein. Auch der Kunsthistoriker John Rajchman nahm Les Immatériaux ähnlich wahr: »One could not ›participate‹ in this theater because one was already part of it.«39 In der Tat verstand Lyotard Les Immatériaux als eine Art theatrale Inszenierung und die Besucher als Akteure: »Et, c’est le corps du visiteur qui en bougeant fera changer les scènes. […] Sa façon de circuler dans l’exposition va être déterminante pour son sens. C’est lui qui est l’acteur.«40 Ohne diesen Bezug zum Körper handele es sich nicht mehr um
35 Petra Gehring in einer Mail an die Autorin am 1.12.2005. 36 Stäheli, Alexandra (2004): Materie und Melancholie. Die Postmoderne zwischen Adorno, Lyotard und dem pictorial turn. Wien, S. 16. 37 Birringer 1986, S. 7. 38 Ebd. S. 8. 39 Rajchman 2004, S. 232. 40 Pencenat, Corinne (1988): Les Immatériaux – Entretien avec Jean-François Lyotard. In: L’Art Vivant, 1.5., S. 22-23., hier S. 22. 78
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Theater: »[...] le théâtre en vidéo n’est plus du théâtre, c’est de la vidéo«.41 Bereits in Der Zahn, die Hand, einem kurzen Text aus dem Sammelband Essays zu einer affirmativen Ästhetik vom Beginn der 1970er Jahre, äußerte Lyotard eine Vorstellung von theatraler Repräsentation, die auch für Les Immatériaux noch von Bedeutung ist. Der Theaterbegriff, den Lyotard dort im Hinblick auf japanische Theaterformen und die Theatertheorien von Artaud reflektiert, beruht auf der programmatischen Weigerung, mittels eindeutig übersetzbarer Zeichen zu kommunizieren: »Wo man die Zeichenbeziehung und deren Kluft abschafft, wird die Machtbeziehung (die Hierarchie) und folglich die Herrschaft des Dramaturgen + Regisseurs + Choreographen + Bühnenbildners über die angeblichen Zeichen und die angeblichen Zuschauer unmöglich.«42 Nicht »das Theater« gebe also durch vorab definierte Zeichen vor, was wie zu rezipieren sei, oder poststrukturalistisch formuliert: Theater ist nicht die Repräsentation von außerhalb der Aufführung festgelegten Zeichen. Das Verhältnis zwischen Zuschauer und Schauspieler, so Lyotard weiter in Der Zahn, die Hand, oder zwischen realer Lebenswelt und dargestellter Narration dürfe nicht länger als Dualität von »Wahrheit und Illusion, von Ursache und Wirkung, von Signifikant und Signifikat«43 verstanden werden, sondern müsse als Koexistenz von »Übergangs-Besetzungen [...], die zufällig und für einen Augenblick eine Konstellation bilden«,44 aufgefasst werden. Weder der Körper noch die Sprache, weder Aufführung noch Text, weder Regisseur noch Darsteller und weder Darsteller noch Zuschauer sind in einer solchen Konstellation gegenüber dem je anderen privilegiert, sondern begegnen sich als temporäre Phänomene. Somit stehen sie nicht mehr in konstitutiver Differenz zueinander, was es unmöglich macht, sie in einem Verhältnis der Hierarchie einander über- oder unterzuordnen. Eine solche Enthierarchisierung wollte Lyotard auch für Les Immatériaux erreichen. Er bezieht sich explizit auf Artaud, dessen Theater der Grausamkeit von einer radikalen Ablehnung traditioneller Theaterformen und deren Hierarchie von Repräsentation und Rezeption geprägt ist. Artaud konzipierte sein Theater als einen »mentale[n] Raum, der in der Interaktion von visuellen und sonoren Signifikanten die Bewegung eines körperlichen Denkens erfahrbar macht. Ein solches Denken erschüttert
41 Lyotard im Interview mit Bidaine/Saur 1985, S. 14. 42 Lyotard, Jean-François (1982): Der Zahn, die Hand. In: Ders. (1982): Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin, S. 21. 43 Ebd., S. 20 f. 44 Ebd., S. 21. 79
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die Annahme einer Kongruenz von Wahrnehmen und Verstehen, von Wissen und Erfahrung, von Subjekt und Sprache.«45 Dieses »körperliche Denken«, bei Artaud auch »körperliche Sprache«46 genannt, basiert auf der Überzeugung, dass in der Metaphysik der Repräsentation, der Differenz also zwischen konkretem Signifikant und abstrakt-theoretischem Signifikat, dem Körper als materieller Substanz immer ein ihn prägendes, bestimmendes Geistiges übergeordnet ist. Artauds Theater hat eine Aufwertung des Körpers zum Ziel, um der Vorstellung zu entgehen, der Körper verweise lediglich auf etwas außerhalb seiner selbst Liegendes: »Artaud will [...] einzig die Vorherrschaft der artikulierten Sprache aufheben und die Vernachlässigung des Körpers beseitigen«,47 die Spaltung zwischen den rationalen und den körperlichtriebhaften Aspekten des Menschen also. Artaud schreibt: »Das Theater [ist] nicht dieser szenische Aufmarsch [...], wo man virtuell und symbolisch einen Mythos entwickelt, sondern dieser Schmelztiegel aus Feuer und wirklichem Fleisch, wo sich anatomisch, durch das Stampfen von Knochen, Gliedern und Silben, die Körper erneuern.«48 Dieses Theater, für das Artaud Inspiration bei balinesischen Tänzen oder im Umgang mit Drogen bei mexikanischen Indianerstämmen fand, verzichtete z.B. auf geschriebene Stücke, brachte über die gesprochene Sprache hinausgehende Geräusche und Klänge ein, arbeitete mit »besonderen atmosphärischen Lichtwirkungen«49 und speziellen Kostümen und hob die Trennung in Zuschauer- und Bühnenraum durch Rundumpanoramen, Drehstühle und parallele Handlungen »auf allen Raumebenen«50 auf. Mit Mitteln wie diesen wollte Artaud – ebenso wie Lyotard in Les Immatériaux – den Körper des Zuschauers und die theatrale Repräsentation miteinander verweben. Der erste Ort in der Ausstellung, in dem diese Verschränkung unmittelbar spürbar wurde, was das Théâtre du non corps. Den nahezu leeren Bühnen, auf denen sich »Figuren« wie ein von selbst rauchender Aschenbecher, ein sprechender Mund oder leere, tan45 Finter, Helga (1990): Der subjektive Raum. Bd. 2: ...der Ort, wo das Denken seinen Körper finden soll: Antonin Artaud und die Utopie des Theaters. Tübingen., S. 6. 46 Seegers, Ulli (2003): Alchemie des Sehens. Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert. Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke. Köln., S. 82. Seegers zitiert hier aus einer mit der Sigle A.A. nachgewiesenen Quelle. Leider fehlt in ihrem Buch eine Liste mit den verwendeten Siglen. 47 Lyotard 1982, S. 16. 48 Artaud, Antonin (1980): Schluß mit dem Gottesgericht / Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. München, S. 71. 49 Seegers 2003, S. 81. 50 Ebd. 80
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zende Schuhe präsentierten, fehlten die Schauspieler, diejenigen Aspekte des theatralen Settings also, die durch ihre eigenartige Doppelpräsenz als »echte« Körper der Darsteller und als dargestellte Körper der »verkörperten« Figuren Stellvertreter des von Lyotard kritisierten metaphysischen Repräsentationsmodus sind. Das Fehlen der Körper auf der Bühne löste diese Metaphysik auf und projizierte die Besucher in eine prekäre Position: Sie wurden selbst zu Akteuren in einem Stück, das so umfassend war, dass niemand festlegen konnte, wo es begonnen, wer es geschrieben und wer es zur Aufführung gebracht hatte. Über die Kopfhörer wurde den Besuchern des Théâtre du non-corps ein Text von Beckett, dem zweiten Autor, den Lyotard als Referenz für seinen Theaterbegriff nennt, zugespielt. Auch er hob die Differenz zwischen Körper und Geist auf: Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Rollenspiele, denen sich die Besucher ausgesetzt sahen, wurden fortgesetzt in der eigenartigen Reflexion über den Körper und die Identität, die Beckett einen atemlos redenden Erzähler anstellen ließ. Beckett stößt damit an einen Nullpunkt des Schreibens: die aus einer ominösen ersten-Person-Perspektive geführten Monologe ohne Handlungen und ohne Akteure stellen paradoxe Konstruktionen von Erzählern dar, die keine sind, die über Körper sprechen, die sie nicht spüren und die sich auf der Suche nach einer Identität befinden, die sich in einer endlosen Reihung von minimalen Momenten des Sagens vollends auflöst. Bei Beckett ist der Körper keineswegs die Instanz der Wahrnehmung und der Verankerung in der Welt, als die er im traditionellen Theater adressiert wird. Die Konsequenz daraus ist eine »sprachliche und szenische Desintegration scheinbar solider Sinn- und Wertvorstellungen sowie die anschaulich irreparable Dissoziation zwischen dem subjektiven Bewusstsein und der Außenwelt«.51 Dies macht allzu deutlich, dass nicht das Subjekt die Kontrolle über das Geschehen haben kann, sondern dass »ein vorgegebenes System von Repräsentationen es konstituiert«.52 Daher wirken »Becketts Stücke [...] auf die Zuschauer genauso wie die Situation in diesen Stücken auf deren Gestalten«53 – wieder eine performative Verschränkung von Inhalt und Darstellungsform. Die Ratlosigkeit über den eigenen Körper, die Becketts Ich-Erzähler umtreibt und ihn dauerhaft von jeder festen Gewissheit über seine Identität fernhält, sollte auch die Besucher der Ausstellung erfassen: »Les Immatériaux was a phenomenologist’s nightmare; everywhere one was shown the replacement of the material activities of
51 Brockmeier, Peter (2001): Samuel Beckett. Stuttgart, S. 139. 52 Ebd., S. 210. 53 Ebd., S. 140. Brockmeier zitiert hier Peter Brook (1970): Mit Beckett leben. In: Materialien zu Becketts Endspiel. Frankfurt a.M., S. 34. 81
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the ›lived body‹ with artificial ones, or with formal or immaterial languages.«54 Lyotards Überlegungen zum Theater finden ein fernes Echo in seiner These, dass die Komplexität der Sinneswahrnehmungen in der Moderne an Bedeutung verloren habe, ein einzelner Sinn, der Sehsinn, hingegen aufgewertet worden sei. Diese These ist Thema von Lyotards Aufsatz Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit,55 dessen Argumentationen für Les Immatériaux ausgesprochen fruchtbar ist. Seit der frühen Neuzeit habe man visuelle Repräsentationen – und darunter zählt Lyotard vor allem Gemälde, aber auch repräsentative Gesamtprogramme an fürstlichen oder königlichen Höfen, in Kirchen und später auch Ausstellungen – den Prinzipien der Zentralperspektive untergeordnet, also die einzelnen Elemente auf einen übergeordneten (Flucht-)Punkt hin organisiert. Dieses Verhältnis der Über- und Unterordnung zwischen Herrscher und Untertanen diene dazu, die Hierarchie visuell zu stärken und die Identifikation mit einer bestimmten politischen Struktur zu transportieren: »An der durch den Fluchtpunkt bezeichneten Stelle empfängt [...] das Auge des Monarchen jenes geometrisch geordnete Universum«.56 Die auf den Regeln der Zentralperspektive basierende Malerei habe damit die Aufgabe, »die Welt dem monokularen Zugriff durchsichtig zu machen: deutlich und unterscheidbar«57 und ihren Betrachtern als unter ein »metaphysisches und politisches Programm«58 unterworfene darzustellen. Die Verbreitung dieser Ideologie sei zunächst durch die Präsentation von Gemälden in Kirchen und Palästen geschehen, ab dem 18. Jahrhundert auch in Museen. Daher könnten Museen als Medium par excellence für die Moderne gelten: »Der moderne Begriff der Bildung entsteht in jenem öffentlichen Zugang zu den Zeichen historisch-politischer Identität und ihrer kollektiven Entzifferung«.59 Ausstellungen, derart als Räume für »Bildungsreisen«60 aufgefasst, reduzierten die Besucher auf ihre kognitiven Vermögen: »Der Besucher ist ein Auge. Von seinem Blick, der sich nicht nur auf die ausgestellten Werke, sondern auch auf die Ausstellungsräume 54 Rajchman 2004, S. 235. 55 Lyotard, Jean-François (1985c): Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit. In: Ders. et. al. 1985: Immaterialität und Postmoderne. Berlin, S. 91102. 56 Ebd., S. 91. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 92. 60 Engelmann, Peter (1985): Paris, Kalifornien. Zur Ausstellung »Die Immaterialien«, die im Pariser Centre Pompidou vom 28. März bis 15. Juli 1985 zu sehen war. In: Fragmente Nr. 17/18, S. 332-339, hier S. 336. 82
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richtet, wird angenommen, daß ihn die Prinzipien der ›gesetzmäßigen Konstruktion‹ leiten, die im Quattrocento aufgestellt wurden: Geometrie der Herrschaft über den Wahrnehmungsraum.«61 Autor einer solchen Bildungsreise sei der »Experte«, der feststehendes Wissen vermitteln wolle, Rezipient sei ein lernwilliges Subjekt mit der Bereitschaft, das von einer Autorität anerkannte und für ihn aufbereitete Wissen aufzunehmen. Zentrale Methode einer solchen Ausstellung sei die Darstellung eindeutig verständlicher Zeichen aus jener »Welt aus schon vollzogenen Einschreibungen«62, die Lyotard Kultur nennt. Die moderne Ausstellung funktionierte also für Lyotard ähnlich wie das moderne Theater über eine Differenz zwischen Wissen und Lernen, Präsentieren und Rezipieren, Signifikant und Signifikat. Daher könne sie auf den Körper als komplexes Sinnesorgan nahezu vollständig verzichten; eine These, die auch Brian O’Doherty in seinem berühmt gewordenen Text »Inside the White Cube« vertritt: »Der Galerie-Raum legt den Gedanken nahe, daß Augen und Geist willkommen sind, raumgreifende Körper dagegen nicht«.63 Mit dem Aufkommen der Fotografie, so Lyotard weiter, bringe ein neues Medium »das Programm eines metapolitischen Ordnens des Visuellen und Sozialen zur Vollendung.«64 Damit weise sie die »dokumentarisch« arbeitende Malerei in ihre Schranken, was zur Folge habe, dass die »Malerei [...] eine philosophische Tätigkeit«65 werde. Lyotard setzt an dieser Stelle die Fotografie gleich mit technologisch vermittelter »Präzision«, »Unfehlbarkeit« und »Perfektion«66 und stellt ihr die von diesen Aufgaben befreite Malerei gegenüber, die nun eine neue Funktion habe: »sehen zu lassen, daß es Unsichtbares im Sichtbaren gibt.«67 Dies habe auch eine Ausstellung zu leisten, die – eben wie Les Immatériaux – keine »Bildungsreise« mehr sein will. Um also den Paradigmen der Moderne zu entgehen, legte Lyotard Les Immatériaux so an, dass der Stellenwert des »raumgreifenden Körpers« erhöht, der von Auge und Geist relativiert wurde. Eine seiner Strategien war das Kopfhörerprogramm, das dem Auge »das Exklusivrecht, das ihm die moderne Galerie zuspricht«68 entzog. In einem Szenario, in dem »[...] der akustischen Kommunikation (gebunden an den Zeitablauf) 61 62 63 64 65 66 67 68
Lyotard 1985b, S. 86. Lyotard 2001b, S. 32. O'Doherty (1992), S. 336. Lyotard 1985c, S. 92. Ebd., S. 93. Alle Zitate ebd., S. 94. Ebd., S. 98. Lyotard 1985b, S. 87f. 83
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[...] der Vorrang gegenüber der visuellen eingeräumt [wird],«69 ist das Sinnesorgan, das primär für die Orientierung zuständig ist, nicht mehr das Auge, sondern das Ohr – »Lyotard s’adresse à ›l’orœil‹«70, »Lyotard wendet sich an das Ohrenauge«, schreibt ein Rezensent passend. Eine weitere Strategie war die Adressierung des Betrachters als involvierter Akteur, wie sie Lyotard durch die Annäherung der Ausstellung ans Theater erreichen wollte, eine dritte, die Ausstellung als »Zeit-Raum der Postmoderne«71 zu organisieren, wie ihn »Urbanisten, Architekten und Stadtsoziologen wie Virilio oder Daghini«72 beschrieben hätten. Mit der Metapher einer Autofahrt von San Diego nach Santa Barbara, die zu einem Lieblingstopos der Rezensenten von Les Immatériaux avancierte, verdeutlicht Lyotard, was er sich vorstellte. Auf dieser Fahrt durch Kalifornien von etwa 350 km Länge passiere man mehrere Radio-Sendebereiche, die einen dazu zwängen, das Autoradio immer wieder neu einzustellen; man bewege sich zwischen Stadt und Peripherie, Land und Wüste, die sich kaum voneinander unterscheiden ließen. Lyotard greift hier auf ein Bild von Wittgenstein zurück, der die Sprache mit einer natürlich gewachsenen Stadt vergleicht, von der man nicht entscheiden könne, wo die Vorstadt beginne und wie viele Häuser überhaupt notwendig seien, um sie als Stadt bezeichnen zu können.73 Auch Paul Virilios Text Die überbelichtete Stadt (frz. La ville surexposée, 1984) scheint ein Vorbild für diese Metaphorik zu sein. Virilio kombiniert die Stadtmetapher mit Auswirkungen der neuen Technologien: »Die Stadt, eine Einheit des Ortes ohne Einheit der Zeit, verschwindet nun in der Heterogenität des Zeitsystems der neuen Technologien.«74 Im Anschluss an Virilio fragt Lyotard in dem unveröffentlichen Text Après six mois de travail, welches nun der neue Raum sei, »der sich heute durch diese unsichtbaren Netze
69 Lyotard 1985a, S. 12. Die Zeit ist ein wichtiges und bisher nur wenig beachtetes Thema in Lyotards Philosophie, vgl. dazu: Köveker, Dietmar (2005): Sprache, Zeit und Differenz: Elemente einer Kritik der reinen Diskursvernunft. Frankfurt a.M. 70 Ferrier, Jean-Louis (1985): Art sans art. Les Immatériaux. In: Le Point, 13.4., o.S. 71 Lyotard 1985b, S. 87. 72 Ebd. 73 Vgl. Lyotard 1999, S. 119 f. 74 Virilio, Paul (1994 [frz. 1984]): Die überbelichtete Stadt. Ars Electronica Katalog-Archiv: Festival-Katalog 1994, Bd. 1. www.aec.at/de/archives/fes tival_archive/festivalcatalogs/festivalartikel.asp?iProjectID=8678 (19.06.06). 84
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konstituiert«.75 Diese Frage, die er mit Virilio teile, beziehe sich nicht nur auf die Stadt, sondern ebenso auf das Medium der Ausstellung. Lyotard begründet diese Interpretation von Virilios Überlegungen mit einem Verweis auf den Titel des Aufsatzes: »Überbelichtet« sei eine der beiden Möglichkeiten der Übersetzung des Begriffes »surexposé«, die zweite müsste etwa »überausgestellt« lauten, da »exposer« zugleich belichten und ausstellen bedeute. Lyotard schreibt in Après six mois de travail, er würde gern Les Immatériaux als »surexposition« bezeichnen, da sich in dieser Bezeichnung ein Verständnis des postmodernen »Zeit-Raums« kondensiere, der sich den Maximen des perspektivischen Sehens entziehe: »Es wäre eher angemessen, von einem Nebelgebilde zu sprechen, in dem die Materialien (Gebäude, Straßen) metastabile Zustände einer Energie sind. [...] Die Informationen zirkulieren über Strahlungen und unsichtbare Interfaces.«76 Der Fokussierung von Les Immatériaux auf den Körper als kritische Instanz gegen die kontrollierende Rationalität der Moderne scheint die Orientierung an der modernen Auffassung, alles sei sprachlich organisiert, entgegen zu stehen. Inwiefern Lyotards Aussagen zu diesem Thema innerhalb der Texte zu Les Immatériaux widersprüchlich sind und wo sich Hinweise darauf zeigen, wie diese Widersprüche zu verstehen sein könnten, ist Thema des nächsten Kapitels.
75 Lyotard, Jean-François (1984): Après six mois de travail. Archiv des Centre Pompidou, Nr. 94033/666 Techno Nouv CCI Immatériaux. Unveröffentlicht, S..33. 76 Lyotard 1985b, S. 87f. 85
6. I M MA T ER I AL I T Ä T – M A T E R I A L I T Ä T – L E S I M M A T É R I AU X Die Ausstellung präsentierte eine Vielzahl von Phänomenen, die einzelne Aspekte des semantischen Feldes um den Neologismus »Immatériaux« veranschaulichen sollten. Lyotards recht unscharfe Verwendung des Begriffes macht es schwierig, ihn zu definieren: mal bezeichnet »Immatériaux« bestimmte Technologien wie Telekommunikation und Informatik, mal den durch diese hervorgerufenen epistemologischen Wandel: »Beim Begriff ›Immaterial‹ handelt es sich nun um einen etwas gewagten Neologismus... Damit ist lediglich ausgedrückt, daß heute – und das hat sich in allen Bereichen durchgesetzt – das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt einem Subjekt entgegensetzt.«1 Um diesen Wandel begrifflich fassen zu können und eine gänzlich neue Sicht auf das Verhältnis von Materiellem und Immateriellem ermöglichen, habe er das Kunstwort »Immatériaux« aus dem Adjektiv immatériel und dem Substantiv matériaux konstruiert: Das Adjektiv wird in den Plural gesetzt, um mit einem einzelnen Begriff eine ganze Schar von Beobachtungen beschreiben zu können, das Substantiv wird negativiert, um anzuzeigen, dass es das Modell »Materie«, wie es bis dato verstanden wurde, nicht mehr gibt. Vielmehr ersetze das »Modell der Sprache [...] das Modell der Materie«.2 Diese These arbeitet Lyotard vor allem mit dem mât-System aus, dessen zentraler kommunikationstheoretischer Parameter »Nachricht« von ihm wenig systematisiert wird. Lyotard sagt lediglich, er habe das gesamte mât-System aus seinen »anthropologischen Bindungen« gelöst, so dass also auch der Begriff Nachricht nicht, wie in den Vorläufer-Modellen von Lasswell und Jakobson, auf Teile eines Kommunikationsaktes zwischen personalen Akteuren verweist, sondern eher eine metaphorische Bedeutung hat. Zwei andere aus der Linguistik entlehnte zentrale Begriffe im Denken Lyotards, »Sprachspiel« aus Das postmoderne Wissen und »Satz« aus Der Widerstreit, können helfen, den unklaren Nach-
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Lyotard/Derrida 1985, S. 25. Lyotard 1985b, S. 81. 87
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richten-Terminus zu konturieren. Im Folgenden wird anhand eines Vergleiches dieser drei gezeigt, wo der Widerspruch liegt, der das mât-System inkonstitent macht: Lyotard fundiert es in der Annahme, dass alle Phänomene als Nachrichten, also als sprachlich organisierte Phänomene betrachtet werden können, behauptet aber zugleich, dass diese Annahme einen Kern des modernen Denkens bildet, gegen das er Les Immatériaux abgrenzen will. Dieser Widerspruch wird in keinem der veröffentlichten Texte von ihm aufgelöst. Daher folgt im Anschluß an den Vergleich ein Kapitel, das einen Großteil der Argumentation nachvollzieht, die Lyotard in dem unveröffentlichten Typoskript Après six mois de travail zu dieser Frage entfaltet. Dieser Text stellt das einzige Dokument dar, das als eine Art textliche Entsprechung zu Les Immatériaux aufgefasst werden kann – eine ausführliche Erklärung über Ziele, Themen, Hintergründe und Methoden der Ausstellung. Nirgendwo sonst legt Lyotard z.B. Bezüge der Ausstellung zu Autoren wie Descartes, Freud, Diderot, Virilio oder Daghini offen, nirgendwo sonst setzt er sich mit dem oben erwähnten Widerspruch auseinander, wenn auch seine Argumentation nicht ganz leicht nachvollziehbar ist. Dies mag an der Form des Typoskriptes liegen – eine unredigierte Transkription einer von Lyotard auf Band aufgenommenen Ansprache – zum Teil aber auch an der eigenartig komplizierten Denkfigur, die dieser Widerspruch bildet.
6.1. Sprachspiel, Satz, Nachricht Der zentrale Begriff in Das postmoderne Wissen ist der kommunikationstheoretisch und somit sprachpragmatisch gefasste Terminus »Sprachspiel«: »Wir legen den Akzent auf die Gegebenheiten der Sprache und darin auf ihren pragmatischen Aspekt« (PW 36). Lyotard übernimmt ihn von Wittgenstein, der bereits definierte, dass es verschiedene Sprachspiele gebe, die »durch Regeln, die ihre Eigenschaften und ihren möglichen Gebrauch spezifizieren, determinierbar« (PW 39) sein müssten, ähnlich wie die Regeln eines Schachspieles. Die drei wichtigsten Sprachspiele in Das postmoderne Wissen sind die Denotation, die Performativität und die Präskription. Das denotative Sprachspiel ist das Spiel der Wissenschaft und umfasst Äußerungen, deren Sender sich in der Position des Wissenden befindet, deren Empfänger »in die Lage versetzt [ist], seine Zustimmung entweder geben oder verweigern zu müssen« (PW 37) und deren Referent von beiden als »korrekt identifiziert und ausgedrückt werden muß« (PW 37). Lyotard führt als Beispiel die Aussage »die Universität ist krank« (PW 37) an. Das performative Sprachspiel bezeichnet eine
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Aussage mit der »Besonderheit, dass ihre Wirkung auf den Referenten mit ihrer Äußerung zusammentrifft« (PW 38), wie es in dem Beispiel »die Universität ist offen« (PW 37) der Fall ist. Präskriptionen hingegen beruhen auf der Tatsache, dass der Sender »vom Empfänger die Ausführung der bezeichneten Handlung erwartet« (PW 39), wie etwa in »stellen Sie der Universität Mittel zur Verfügung« (PW 38). Natürlich gibt es, so Lyotard mit Blick auf Wittgenstein, noch viel mehr Sprachspiele, etwa Fragen, Versprechen, Erzählen etc. Sie sind aber für die Argumentation, auf die er mit Das postmoderne Wissen hinaus will, weniger wichtig und werden daher von ihm nicht ausführlicher untersucht. Sprachspiele regeln also Kommunikation zwischen Personen. Der Begriff »Nachricht«, der für Les Immatériaux so zentral ist und der in ähnlicher Weise an personale Akteure gekoppelt zu sein scheint, taucht in Das postmoderne Wissen nur an einigen wenigen Stellen auf und wird dort synonym zu »Sprachspiel« verwendet, ebenso wie der Terminus »Mitteilung« (PW 58).3 Diese Synonymie erlaubt allerdings keineswegs, den Begriff »Nachricht« im Kontext von Les Immatériaux ebenso zu verstehen wie in Das postmoderne Wissen: Die Setzung innerhalb des mât-Systems, alles Existierende sei als Nachricht aufzufassen, zeigt, dass »Nachricht« deutlich weiter gefasst ist als »Sprachspiel« und sich nicht nur auf Prozesse der Kommunikation bezieht, sondern auch Phänomene umfasst, die sich nicht als von einem Sender an einen Empfänger gesendete begreifen lassen. In Formulierungen wie der folgenden erweist sich dieser Aspekt als problematisch, weil dort das Missverständnis aufkommt, »Nachricht« sei ein kommunikationstheoretischer Begriff: »Wie Sie vielleicht wissen, setzen die Kommunikationstheorien voraus, daß jedes Objekt eine Nachricht ist, daß jede Nachricht eine Quelle hat, zu einem Empfänger geht, auf einem Träger eingeschrieben ist und einen Code hat, der sie entzifferbar macht: erst damit wird sie zur Nachricht und informiert über etwas.«4 3
4
»Das Selbst ist [...] auf Posten gesetzt, die von Nachrichten verschiedener Natur passiert werden. Und sogar das benachteiligste Selbst ist niemals machtlos gegenüber diesen Nachrichten, die es durchqueren, indem sie ihm die Stelle entweder des Senders oder des Empfängers oder des Referenten zuordnen. Denn seine Verschiebung hinsichtlich dieser Wirkungen der Sprachspiele – man versteht, daß es sich um diese handelt – ist zumindest in bestimmten Grenzen [...] tolerierbar [...]« (PW 55, Hervorhebung A.W.). Ähnliches sagt Lyotard ein paar Seiten weiter: »Die Atome [hier in analoger Verwendung zum Begriff Selbst, A.W.] sind an Kreuzungen pragmatischer Beziehungen aufgestellt, aber sie werden durch die sie durchkreuzenden Mitteilungen in ununterbrochener Bewegung verschoben« (PW 58). Lyotard/Blistène 1985, S. 73. Hervorhebung im Text. 89
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Eine verbale Aussage, ein Kunstwerk oder eine mathematische Formel sind sicher Nachrichten im Sinne dieser Aussage. Ihr jeweiliger Sender ist für Lyotard aber nicht das Subjekt der Moderne, ein Autor, der allein über die Form und den Inhalt der Nachricht bestimmt, sondern vielmehr ein komplexes Gefüge aus einander ebenbürtigen Einzelteilen (z.B. das verbale oder das mathematische Zeichensystem, grammatikalische Regeln, ikonographische Codes, Rechenoperationen, situative Kontexte, Personen mit einem bestimmten Kommunikationsinteresse etc.), deren Zusammenspiel eine Nachricht ergibt. Die Position des Autors, die in der Moderne als herausgehoben definiert war, wird also eingebettet und relativiert. Trotzdem ist es bei Nachrichten wie den bisher genannten sinnvoll, den Sender als im weitesten Sinne kommunizierende Instanz aufzufassen, weil die Nachrichten aus diesen Beispielen auf Kommunikationsabsichten beruhen. Anders verhält es sich bei Phänomenen, die nicht mehr als Kommunikationsabsichten aufgefasst werden können und die Lyotard ebenfalls als Nachrichten bezeichnet: »Ein Gegenstand im allgemeinen [sic] oder ein Phänomen wird als eine Nachricht (eine Kombination von Zeichen) betrachtet.«5 Bereits die Formulierung »eine Kombination von Zeichen« deutet jedoch auf eine Kommunikationsabsicht hin. Zeichen können immer nur Zeichen für jemanden sein und haben – vor allem im poststrukturalistischen Denken – keine Bedeutung an sich. Wie kann vor einem solchen Hintergrund Lyotards Beispiel vom »Regenschauer, der von Westen über das Meer aufzieht«6 als Nachricht zu verstehen sein, die »über etwas informiert«? Der Regenschauer stammt nicht aus den Texten zu Les Immatériaux, sondern aus Der Widerstreit.7 Dort dient er nicht als Beispiel für eine Nachricht, sondern für einen Satz. Lyotard sagt nirgendwo, dass der Begriff »Nachricht« in Les Immatériaux genauso verstanden werden soll wie der Begriff »Satz« in Der Widerstreit. Es gibt allerdings so viele Ähnlichkeiten zwischen den beiden Termini, dass hier davon ausgegangen werden kann, dass der Satzbegriff als Vorbild für den kaum konturierten Nachrichtenbegriff gedient hat: Auch den Satz definiert Lyotard mittels eines sprachpragmatischen Systems über die Instanzen Sender, Empfänger und Referent (vgl. W 35), auch der Satz ist – trotz dieser Terminologie – wie die aus den anthropologischen Bindungen herausgelöste Nachricht »von jeder Definition in Bezug auf die Rede abstrahiert«.8 Im Unterschied zur Nachricht ist beim Satz nicht vom Code oder Medium 5 6 7 8
Lyotard 1985b, S. 80. Lyotard 1989, S. 125. Im Folgenden im Text gekennzeichnet mit W. Derrida in Lyotard/Derrida 1985, S. 22. 90
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die Rede, sondern lediglich von einer Bedeutung, dem »Sinn« (W 34) des Satzes. Das Fehlen von Medium und Code erklärt sich aus der größeren Distanz des Satzbegriffes zur Pragmatik: Ein Satz in Der Widerstreit ist – weit entfernt von dem grammatikalischen Konstrukt »Satz« in Kommunikations- und Sprachtheorien – ein »Prozeßhaftes, Vorgangshaftes ohne Handlungssubjekt«,9 also jede »rezipierbare, sinnhafte Entität«.10 »’Satz‹förmig ist schlicht alles, was der Fall ist, was geschieht: ›Ein Satz ist ein Was‹ (W 118).«11 Mit dem Begriff »Satz« bezeichnet Lyotard somit die Tatsache, dass es überhaupt etwas gibt – genauer, wenn auch nicht ganz korrekt übersetzt: dass es »geschieht« (frz.: il-y-a):12 »Im Satz sieht Lyotard einen Zustand von Sprache vor ihrem Gebrauch, der sich deshalb durch Abwesenheit jeglicher Vereinnahmung auszeichnet«.13 Diesen Zustand umschreibt Lyotard wie folgt: »In: Jeder Satz ist bedeutet jeder Satz: alles, was geschieht; bedeutet ist: es gibt, es geschieht. Aber Es geschieht ist nicht, was geschieht, wie sinngemäß quod nicht quid ist (und die Darstellung nicht die Situation). Folglich bedeutet ist nicht: ist da, noch weniger: ist wirklich. Ist bedeutet nichts und würde das Vorkommnis ›vor‹ der Bedeutung (dem Inhalt) des Vorkommnisses bezeichnen. Würde es bezeichnen und bezeichnet es nicht, da es das Vorkommnis situiert (›vor‹ der Bedeutung), indem es dieses bezeichnet [...]«, (W 140, Hervorhebungen im Text).
Auch Lyotards Definition von Sender, Empfänger und Referent in Der Widerstreit wendet sich explizit gegen das kommunikationstheoretische Modell der Übermittlung von Sätzen durch auktoriale Sender und Empfänger: »Man müsste sagen: Sender und Empfänger sind markierte oder nicht-markierte Instanzen, die durch einen Satz dargestellt werden. Dieser Satz ist keine Nachricht, die von einem Sender zu einem Empfänger – beide von ihm unabhängig – gelangt [...]. Sender und Empfänger werden
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Gloy, Klaus/Warmer, Gebhard (1995): Lyotard. Darstellung und Kritik seines Sprachbegriffs. Aachen, S. 164. Hervorhebung im Text. Petra Gehring in einer Mail an die Autorin am 1.12.2005. Gehring 1994, S. 225. Hier entsteht durch die Übersetzung aus dem Französischen eine Ungenauigkeit: das französische »il y a«, wörtlich übersetzt »es hat dort«, ist eine vollkommen unpersönliche Wendung, während das deutsche »es gibt« noch einen Gebenden in sich birgt. Vgl. Bedorf, Thomas/Keicher, Peter (1995): L’ange qui nage. Ein Engel der schwimmt. Jean-François Lyotard im Gespräch mit Thomas Bedorf und Peter Keicher. Tacho Nr. 5. Karlsruhe., S. 12. Gloy/Warmer 1995, S. 163. 91
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im Universum, das der Satz darstellt, situiert, genauso wie dessen Referent und dessen Sinn«, (W, S. 30). Der Terminus »Nachricht« aus diesem Zitat darf nicht mit demjenigen in Les Immatériaux verwechselt werden; vielmehr scheint »Nachricht« in Les Immatériaux dem Begriff »Satz« in Der Widerstreit zu entsprechen. Lyotard grenzt »Nachricht« an einigen wenigen Stellen in den Texten zu Les Immatériaux gegen seine Bedeutung in der Moderne ab, etwa im Gespräch mit Derrida, der ihn auf den Satzbegriff aus Der Widerstreit anspricht und konstatiert, Les Immatériaux liege »gar nicht einmal so weit ab von den im Différend [Le Différent ist der französische Titel von Der Widerstreit, Anm. A.W.] entwickelten Fragestellungen«:14 »An sich – läßt sich aber solch ein Sinn je festmachen? – kann alles einen Satz bilden, insofern es, und sei es nur für einen Augenblick, so etwas wie ein Universum eröffnet und damit einen Sinn erhält, der noch zu bestimmen ist. Ich habe einen linguistischen Begriff gewählt, weil wir uns, die wir gewöhnlich Sprache ›gebrauchen‹, sonst nur schwer jene sich eröffnenden dichten Universen vorstellen könnten, die viele Bedeutungen haben und auch viele Handlungsmöglichkeiten bieten. Durch die Sprache müssen wir gleichsam immer ›hindurch‹.«15
Die Differenz zwischen »Sprache gebrauchen« – einer Denkfigur, die dem Topos des kontrollierenden Subjekts der Moderne angehört – und den »sich eröffnenden Universen« ist es, die für Lyotards Sprachbegriff grundlegend ist. Ähnlich argumentiert er in einem Interview mit Giairo Daghini, auf dessen Frage nach dem Sprachbegriff aus Der Widerstreit er antwortet: »Ein Satz ist eine Nachricht. Sie transportiert die Information, die sich auf einen Referenten bezieht. Und diese Information ist nur dann Information, wenn Sender und Empfänger der Nachricht denselben Code besitzen oder über ein Interface verfügen, das die Übersetzung des einen Codes in einen anderen gewährleistet. Schlussfolgerung: was nicht übersetzbar ist, ist nicht sprachlich. Le Différend ist unter anderem auch gegen diese Ideologie geschrieben worden.«16
Hier unterscheidet er die »Ideologie« der Moderne, die er sonst völlig selbstverständlich zu verwenden scheint (vgl. das Zitat »Wie Sie viel14 Lyotard/Derrida 1985, S. 23. 15 Ebd. 16 Lyotard, Jean-François/Daghini, Giairo (1985): Sprache, Zeit, Arbeit. Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Giairo Daghini. In: Lyotard et. al. 1985, S. 35-53., hier S. 48. 92
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leicht wissen...« oben), von dem Sprachbegriff, auf den sich eigentlich sein Interesse richtet. Erst der letzte Satz zeigt an, dass Formulierungen wie eine »Nachricht [...] informiert über etwas«,17 sie sei »eine Kombination von Zeichen«18 und damit »entzifferbar«,19 dem Modell angehören, von dem sich Lyotard mit Les Immatériaux verabschieden will. In Der Widerstreit sind seine Äußerungen darüber viel prägnanter, und es ist nicht nachzuvollziehen, dass er in den Texten zu Les Immatériaux auf eine Klärung dieser Frage verzichtet hat, zumal er auf Abschnitte wie den folgenden aus Der Widerstreit hätte zurückgreifen können: »Das Vorurteil widerlegen, das sich [...] über Jahrhunderte von Humanismus und ›Humanwissenschaften‹ hinweg festgesetzt hatte: daß es nämlich den ›Menschen‹ gibt, die ›Sprache‹, dass jener sich dieser ›Sprache‹ zu seinen eigenen Zwecken bedient, daß das Verfehlen dieser Zwecke auf dem Mangel einer ausreichenden Kontrolle über die Sprache beruht, einer Kontrolle über die Sprache ›mittels‹ einer ›besseren‹ Sprache«, (W 11).
An lediglich einer Stelle setzt er sich mit den Widersprüchen im mâtSystem auseinander: im unveröffentlichten Typoskript Après six mois de travail, das – wenn überhaupt – nur den an der Vorbereitung der Ausstellung Beteiligten zur Verfügung gestanden haben dürfte. Der Argumentationsgang in diesem Text ist Thema des folgenden Kapitels.
6 . 2 . A pr è s s i x m o i s d e t r a v a i l Nach sechs Monaten Vorbereitungen für die Ausstellung wendet sich Lyotard an die Kollegen des Centre Pompidou, um einige grundlegende Fragestellungen zu erörtern. Das unveröffentlichte, 50 Seiten lange Typoskript ohne Titel scheint eine Abschrift von einem auf einen Tonträger gesprochenen Vortrag zu sein, die Lyotard nicht überarbeitet hat. Ich habe den Text Après six mois de travail genannt, weil Lyotard ihn mit diesen Worten beginnt. Viele seiner sehr aufschlussreichen Aussagen in diesem Text sind nicht oder nur extrem verkürzt in den offiziellen Publikationen zu finden, daher wird der Argumentationsgang im Folgenden vollständig, wenn auch summarisch wiedergegeben. Lyotard beginnt seine Ansprache mit einer Analyse des Titels Les nouveaux matériaux et la création, den das Centre de Création Industrielle ursprünglich für Les Immatériaux vorgesehen hatte. Bereits die Aus17 Lyotard/Blistène 1985, S. 73. Hervorhebung im Text. 18 Lyotard 1985b, S. 80. 19 Lyotard/Blistène 1985, S. 73. Hervorhebung im Text. 93
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wahl dieser Begriffe weise auf einen bestimmten Denkhorizont hin: Die Intelligenz – sie scheint ein Synonym für den Begriff »Subjekt« zu sein – analysiere das Gegebene, erhalte einzelne Elemente, die sie mittels schöpferischer Imagination neu zusammensetze und erzeuge so Objekte, die bis dato unbekannt waren20. In dieser Vorstellung sei eine für die Moderne typische Denkfigur wiederzuerkennen, das »intelligente, imaginierende und willensbegabte« (ebda.) Subjekt, das seine Position der Herrschaft über die Welt der Objekte demonstriere, indem es völlig neue »Empfänger, Materialien, sogar Themen« (ebda.) kreiere. Lyotard verwende für die Ausstellung das Kunstwort immatériaux, um den Begriff matériaux zu erweitern und so zu »versuchen, all das wieder zu umfassen, was das Projekt der Moderne […] wie eine Art zu bezwingender Passivität behandelt, wie zu analysierende Daten« (ebda.). Gebe man dem Begriff »matériau« eine philosophische Reichweite, die über den üblichen Sprachgebrauch etwa in der Architektur oder der Kunst hinausgehe, könne man mit ihm die Frage nach dem bereits erwähnten Subjekt als »Ursprung« (ASM 2) aufwerfen, die »in der Denkfigur der Moderne« (ebda.) im Allgemeinen ignoriert werde. Die Erweiterung des Begriffes »matériau« geschehe durch das mâtSystem, dessen Differenzierung in fünf Aspekte zwar »notwendigerweise willkürlich« (ebda.) sei, es aber ermögliche, den »etwas unscharfen Begriff matériau auf spezifische und extrem präzise Funktionen neu zu verteilen« (ebda.),die man aus der Linguistik oder der Kommunikationstechnik kenne. Diese Präzision helfe bei der Aufgabe, aus der großen Menge der Themen diejenigen auszuwählen, die besonders geeignet für die Ausstellung seien. Sowohl die Wortneuschöpfung »immatériaux« als auch das mât-System seien also dazu angelegt, über das Denken der Moderne hinauszugehen. Allerdings relativiert Lyotard die unmittelbar im Anschluss: »Man muss offensichtlich die Tatsache betonen, dass wir, indem wir diese Kommunikationsstruktur [das mât-System] als Paradigma und zugleich als Filter für das, was wir zeigen wollen, verwenden, die spezifisch moderne Hypothese akzeptieren, dass alle Gegebenheiten Nachrichten sind« (ASM 3). Diese Feststellung überrascht. Kann das mât-System seine Aufgabe der Erweiterung überhaupt erfüllen, wenn es auf einer »spezifisch modernen Hypothese« beruht? Oder differenziert Lyotard das mât-System in einen zwar modernen Nachricht-Begriff, der aber von einer über die Moderne hinausgehende Systematisierung des Terminus »Materie« postmodern relativiert wird?
20 Im Folgenden im Text gekennzeichnet mit ASM, hier S. 1. 94
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Die Moderne, so nimmt er einen bereits erwähnten Gedanken nochmals auf, basiere auf einer »Vorherrschaft der Intelligenz, des Willens und der Imagination des Subjekts« (ASM 4) über die Objekte. Das Subjekt sichere sich diese Vorherrschaft, indem es jedes Objekt als Zeichen auffasse, das sich auf etwas beziehe. Dies habe die Konsequenz, dass jedes Objekt unmittelbar in eine Sprache (langage) integriert werden könne, oder, wie Lyotard anders formuliert: Indem das Subjekt für jede dieser ObjektNachrichten die fünf mât-Aspekte definieren könne, mache es die Objekte kontrollierbar. Die im mât-System liegende Auffassung vom Objekt als Nachricht sei also die »Figur der Moderne schlechthin« (ASM 4). Nun verwende er aber gerade nicht den Begriff matériau, sondern immatériau, weil er etwas sehr Präzises bezeichnen wolle: dass sich nämlich das Projekt der Moderne, alles kontrollieren zu können, »[…] vollständig realisiert und dass gleichzeitig eben diese Realisierung, diese Erfüllung der Modernität, die Figur der Moderne destabilisiert, dass sie sich durch ihre Erfüllung beunruhigt« (ebda.). Dasjenige mât-System, das Lyotard für Les Immatériaux stark machen will, ist also entgegen seiner bisherigen Ausführungen nicht das moderne mât-System, sondern eine Modifikation, die durch die Vorsilbe »im« angezeigt wird. Lyotards Formulierungen auf den ersten beiden Seiten des Typoskripts, wo es diese Differenzierung nicht gab, waren daher irreführend. Die Negation »im«, so Lyotard weiter, bezeichne die Tatsache, dass die »Opposition zwischen dem Subjekt des Wissens, des Geistes und des Blickes und dem, was nicht dieses Subjekt ist und unter die Bezeichnung ›mat‹ fällt« (ASM 4), erschüttert werde. Diese Erschütterung entstehe durch die Technowissenschaften einerseits und den Kummer um die unerfüllten Hoffnungen der Moderne, die sich als illusorisch oder gar gefährlich herausgestellt hätten, andererseits. Mit dem Titel »Immatériaux« wolle er anzeigen, dass eine Art Trauerarbeit um diese unerfüllten Hoffnungen geleistet werden müsse, indem man die »Leistungsfähigkeit oder die Relevanz der Kommunikationsstruktur [des mât-Systems, A.W.] im zeitgenössischen Kontext reflektiert« (ASM 5). Diese Reflexion fördere etwas Überraschendes zutage: Die Forschung in den »Technowissenschaften« (ASM 3) beobachte eine Annäherung zwischen Subjekt und Objekt. Dies zeige sich konkret in den neuen Technologien, in denen der Geist in die Materie inkorporiert sei und es umgekehrt Materialien gäbe, die Produkte des Geistes seien. Beispiele seien vom Menschen erzeugte Materialien wie Polymere oder Manipulationen der DNS: »Der Geist selbst in seinen Eigenschaften, seiner intimsten Charakteristik, kann wie Materie behandelt werden, weil er Materie ist« (ASM 5). Da die Moderne davon ausgehe, »dass alles spricht« (ebda.), da sie also alles »verbinden, empfangen, übersetzen und interpre-
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tieren« (ebda.) könne, ginge die fundamentale Differenz zwischen einer Gegebenheit und einem Satz verloren. Die Zielsetzung des modernen Subjekts, sich die Materie zu unterwerfen, lösche also in dem Moment, wo sie sich erfülle, die konstitutive Differenz zwischen Subjekt und Objekt aus und raube damit dem Subjekt seinen Widerpart. Daraus folge, dass es keine Position der heroischen Dominanz für das Subjekt mehr geben könne (ebda.), sondern dass es als ein Fall unter vielen anderen mit dem Universum in vielfältiger Interaktion stehe. Oder, wie Lyotard an anderer Stelle bündig formuliert: »Zwischen Geist und Materie ist die Beziehung nicht mehr die zwischen einem intelligenten, seine Absichten verfolgenden Subjekt und einem leblosen, trägen Objekt. In der Familie der ›Immaterialien‹ sind sie Vettern.«21 Auf eine solche Gegenfigur, die »sich in der Figur der Moderne abzeichnet« (ASM 5), ja sogar: die »man auch postmodern nennen könnte, weil sie immer in der Modernität präsent war« (ebda.), beziehe sich Les Immatériaux, und dieser Bezug sei ein Teil der zu leistenden Trauerarbeit. Die Gegenfigur sei erst jetzt erkennbar, weil sich das »Projekt der Beherrschung« (ebda.) erst jetzt erfülle. Die Metaphysik, die zu dieser »Technowissenschaft der Beherrschung« (ebda.) gehört habe, sei diejenige Descartes’ und des »gesamten Subjektdenkens bis ins 20. Jahrhundert einschließlich« (ASM 6) gewesen. Eine der vorrangigen Aufgaben der Ausstellung sei nun die Suche nach einer Metaphysik, die zu einer »Technowissenschaft der Interaktion« (ebda.) passe: »uns bleibt, ein Denken und eine Praxis im Zusammenhang mit der Technowissenschaft der Interaktion zu finden, die alles in allem einen Bruch mit dem Denken und der Praxis der Wissenschaft, der Technologie der Herrschaft, darstellt« (ASM 6). In dem oben bereits erwähnten Interview, das Daghini mit Lyotard über Les Immatériaux geführt hat, sagt Lyotard: »was nicht übersetzbar ist, ist nicht sprachlich. Le Différend ist unter anderem auch gegen diese Ideologie geschrieben worden«,22 und im Gespräch mit Bernard Blistène betont er: »Wie Sie vielleicht wissen, setzen die Kommunikationstheorien voraus, daß jedes Objekt eine Nachricht ist«.23 In seiner Argumentation zu diesem Thema in Après six mois de travail wird sehr viel stärker als in diesen publizierten Aussagen – von denen es überdies kaum mehr als die beiden hier zitierten gibt – deutlich, dass er das Denken der Moderne nicht völiig aufgeben will, sondern dass er mit einer doppelten Bewegung aus Aufnahme und gleichzeitiger Modifikation des modernen Paradigmas arbeitet: Zwar übernehme er die Annahme der Moderne, alle 21 Lyotard 1985b, S. 83. 22 Lyotard/Daghini 1985, S. 48. 23 Lyotard/Blistène 1985, S. 73. Hervorhebung im Text. 96
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Objekte seien im Grunde Nachrichten und ließen sich mit dem kommunikationstheoretischen mât-System beschreiben, dies dürfe aber nicht bedeuten, dass diese Nachrichten weiterhin als durch das Subjekt kontrollierbar aufgefasst werden dürfen. Die Begriffe der »Technowissenschaft der Beherrschung« und der »Technowissenschaft der Interaktion« sind dabei Schlüsselbegriffe, die er eigenartigerweise in keinem der öffentlich zugänglichen Texte erwähnt. Aber nicht nur diese beiden Termini enthält er den Besuchern der Ausstellung und den Lesern der Kataloge vor. Auch andere, für Les Immatériaux ganz grundlegende Thesen erörtert er in Aprés six mois de travail in einer Ausführlichkeit, die viel zum Verständnis des Projektes hätten beitragen können. Im Anschluss an die Ausführungen zum mât-System beschäftigt sich Lyotard mit den sechs Begriffen »unreif« (immature), »ungeschaffen« (incrée), »umittelbar« (immédiat), »unbeherrschbar« (imaîtrisable), »ungeschlechtlich« (unsexué24 oder transsexué) und »unsterblich« (immortel), die er assoziativ mit dem Terminus »immatéraux« verbindet, um »das geistige Klima der Ausstellung«25 anzuzeigen. Seine Analyse dieser Begriffe nimmt – von einigen Exkursen zu Themen wie der Zeit, dem Schreiben und dem Sehsinn durchsetzt – insgesamt 14 Typoskript-Seiten ein und taucht in dem Text Immaterialien. Konzeption, der auf einer Präsentation vom März 198526 beruht, als Zusammenfassung auf einer Seite in der Öffentlichkeit auf. Mit dem Begriff »unreif« wolle er anzeigen, dass in der neuen Technowissenschaft und der neuen Politik etwas Kindliches enthalten sein müsse. Im Denken der Moderne sei die Kindheit ein Stadium gewesen, in dem sich Kultur und Natur – Sprache und Materie also, wie Lyotard präzisiert – noch nicht voneinander abgespalten hätten. Die »Intimität« zwischen Materie und Geist, die in den neuen Technologien beobachtet werden könne, sei also mit der Situation des Kindes zu vergleichen. Lyotard führt als Beispiel eine Überlegung von Descartes an, der sich in seinem Discours de la Méthode darüber beklagt, dass Städte nicht nach einem einmal festgelegten Plan gebaut würden, sondern dass sie nach ständig wechselnden Prinzipien wie dem Wachstum der Bevölkerung, Invasionen oder den Handelsrouten in »großer Unordnung« (ASM 7) wucherten. Dieses Wuchern, dieses »kommen lassen, was geschehen muss [...], und ihm Platz in einem notwendigerweise fluktuierenden Raum zu geben« (ebd.) sei es, was er mit der Kindlichkeit verbinde. 24 »Sexué« bedeutet auf Deutsch »geschlechtlich differenziert«, »unsexué« scheint ein Tippfehler oder ein Kunstwort zu sein, dessen Übersetzung also lauten müsste: »geschlechtlich nicht differenziert«. 25 Lyotard 1985b, S. 84. 26 Vgl. Box 94033/666, Archiv des Centre Pompidou. 97
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Der zweite Begriff, mit dem Lyotard die Ausstellung assoziiert, ist »ungeschaffen«. Er solle anzeigen, dass in den neuen Technologien die Chance eines »Niedergangs des Humanismus, der Überheblichkeit des Menschen inmitten der Welt, des Narzismus, des Anthropozentrismus« (ASM 9) aufscheine. Seit Augustinus habe das moderne Denken ein Subjekt gebraucht, das seine Welt erschaffe – bei Augustinus sei dies Gott gewesen, bei Descartes das Ego. Wenn man nun über die neuen Technologien immer noch in Bezug auf die Kategorie der Kreation nachdenke, ignoriere man den wichtigen Aspekt der Intimität zwischen »Intelligenz und Welt, Sprache und Dingen« (ebda.). Der Begriff Kreation unterdrücke die andere Metaphysik, von der in Bezug auf die Technowissenschaft der Interaktion bereits die Rede war und innerhalb derer der Mensch nicht mehr sei als eine Art Synapse oder Interface – allerdings, so räumt Lyotard ein, eines der höchstentwickelten, kompliziertesten, am wenigsten vorhersehbaren und unwahrscheinlichsten Interfaces, was ihm eine gewisse Größe verleihe. Als Beispiele für eine solche Metaphysik zählt er Spinoza oder die Philosophie des Zen27 auf. Er erläutert, wie er den Terminus »Interaktion« versteht: gerade nicht als Dialog – der aufgrund seiner platonischen Herkunft zu kritisieren sei –, sondern als »eine Art Ontologie der unendlichen Übertragung von Nachrichten, die sich ineinander übersetzen, [...] in der der Mensch selbst nicht der Ursprung der Nachrichten ist, sondern mal der Empfänger, mal der Referent, mal der Code, mal das Medium und mal die Nachricht selbst« (ASM 9). Das mâtSystem müsse also verstanden werden als System von modellierbaren Zuschreibungen, in dem jeder mât-Aspekt immer wieder aufs Neue besetzt werden kann.28 Die nächsten beiden assoziativen Begriffe sind »unmittelbar« und »unbeherrschbar«. Beide bezögen sich auf das Thema Zeit, das in Les Immatériaux eine große Rolle spiele. Sie bezeichneten zwei einander widersprechende Aspekte, von denen der eine zeige, dass die Postmoderne 27 Er erwähnt einen großen japanischen Philosophen, der in China gelebt habe – an der Stelle, wo er dessen Namen nennt, befinden sich aber leider drei Auslassungspunkte. 28 Diese Figur erinnert an Lyotards Beschreibung des narrativen Wissens aus Das postmoderne Wissen. Dort heißt es über das Erzählen von Geschichten: »Die narrativen ›Rollen‹ (Sender, Empfänger, Held) sind so verteilt, daß das Recht, die eine, nämlich jene des Senders, zu besetzen, sich auf den doppelten Umstand gründet, die andere, also die des Narratärs, eingenommen zu haben, und durch den getragenen Namen bereits von der Geschichte erzählt worden zu sein; das heißt bei anderer narrativer Gelegenheit in die Position des berichteten Referenten gestellt worden zu sein.« PW 71. 98
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bestimmte Projekte der Moderne erfülle oder zumindest fortsetze, der andere gerade das Gegenteil verdeutliche, dass nämlich die Postmoderne Projekte der Moderne verwerfe. So stehe der Begriff »unmittelbar« für das Streben der zeitgenössischen Technologien und Lebensweisen nach einer Herrschaft über die Zeit. Dieses Streben gleiche der Vorstellung der Moderne, das Subjekt könne den Raum körperlich besetzen und so über ihn herrschen. Der Begriff »unbeherrschbar« signalisiere im Gegensatz dazu, dass die Zeit dem Subjekt als Objekt nicht zur Verfügung stehe, weil sie die »Form – um mit Kant zu sprechen – oder das Milieu schlechthin der Immaterialität« (ASM 11) sei. Mit der Unmittelbarkeit sei das Ideal verknüpft, »sofort in das Verhalten eines Objektes eingreifen zu können« (ebda.). Eine solche »Eroberung des Jetzt« (ASM 14) sei mit den neuen Technologien möglich, deren Geschwindigkeit in Picosekunden gemessen werde und dem Menschen den Eindruck vermittele, er könne in Echtzeit agieren. Zugleich entrinne uns die Zeit, sei also gerade nicht in der Art und Weise verfügbar, wie die Erfahrung des Zugriffs in Echtzeit glauben machen könnte. Lyotard begründet dies mit einer Analogie zu Freuds Begriff des Traumas, das nur in zwei Schritten zu Bewusstsein kommen könnte: in dem Moment, in dem sich das Trauma ereigne, sei es nicht wahrnehmbar, und sobald es wahrnehmbar werde, sei das auslösende Ereignis bereits vorbei. »Es gibt das Geheimnis, dass die Zeit des Ereignisses uns entkommt, dass wir dieser Zeit innewohnen und sie nicht beherrschen können« (ASM 17). Ein weiterer dem Terminus »immatériaux« nahe stehender Begriff sei »ungeschlechtlich« oder »transsexuell«. Werde der Körper als Nachricht verstanden, die Informationen über sein Geschlecht vermittele, dann sei die Transsexualität eine »Unschicklichkeit der Immaterialität« (ASM 18), weil sie die Alternativen Mann oder Frau, die der Nachrichten-Körper bedeuten könne, verweigere. Der Glaubwürdigkeitsverlust, den die Opposition von Subjekt und Objekt in der Postmoderne hinnehmen müsse, finde sich in der Auflösung der Geschlechterdifferenzen wieder. Der letzte Begriff, den Lyotard als Assoziation erwähnt, ist »unsterblich«. Er habe nicht die Zeit, seine Überlegungen zu diesem Terminus zu entwickeln und lese stattdessen einen Teil aus Techniques et civilisation von Lewis Mumford aus dem Jahr 1934. Mumford behaupte, dass Medien, die sprachliche Informationen speichern könnten, vergangene Kulturen besser überliefern könnten als »die große Masse von physischen Hindernissen« (ebda.) wie etwa »Ruinen von Monumenten und Gebäuden, Skulpturen und Meisterwerke« (ASM 19). Schriftstücke auf Papier, Disketten aus Metall oder Ebonit, Filme auf Zelluloid seien geeignet, um »mit Hilfe des Geistes den Kontakt mit den Formen und den Expressionen der Vergangenheit zu halten« (ASM 18). Sie historisierten die Ge-
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genwart, indem sie die Zeitspanne zwischen dem Ereignis und seiner konkreten Erfassung verkleinerten und schafften so eine neue Form der Unsterblichkeit – übrigens, so fügt Lyotard in den Text von Mumford ein, ähnelten sie darin dem Museum. Ist also, fragt Lyotard, ein Mensch wirklich tot, wenn man über Bilder oder Aufnahmen seiner Stimme verfüge, die eine direkte Wirkung auf einen Betrachter oder Zuhörer haben? Auf den folgenden fünf Seiten stellt Lyotard einige Aspekte der Ausstellungsgestaltung vor. Er äußert sich über die Aktivierung der Besucher, die Differenz zwischen einer modernen Ausstellung und der »Manifestation« Les Immatériaux und reflektiert mit einem Rückgriff auf Walter Benjamin und Charles Baudelaire über den Parcours, den die Ausstellung anbieten wird. Im Anschluss folgen Exkurse, in denen Lyotard verschiedene Autoren bespricht; er liest ganze Absätze aus fremden Texten vor und es ist nahezu unmöglich, in dem chaotischen Typoskript zu unterscheiden, welche Aussagen von ihm und welche von den anderen Autoren stammen. Auf sieben Seiten beschäftigt er sich mit »dem Wechsel der Rollen zwischen Fiktion und Realität, zwischen der Kreation und der Natur« (ASM 27) in Denis Diderots Schriften über den Salon von 1765 und 1757. Diderots Äußerung über eine Landschaft von Claude Joseph Vernet springe gleichsam ins Bild und spaziere durch die reale – nicht die dargestellte! – Landschaft, was in gewisser Weise die »Funktion des Blickes in die Funktion des Sprechens« (ASM 28) verwandele und so durch die Betonung der Zeit den Galerieraum aufbreche (ASM 29). Auf den folgenden acht Seiten setzt er sich mit zwei Artikeln auseinander, die 1983 in der Zeitschrift Change International erschienen waren: Giairo Daghinis Artikel Babel-Métropole und Die überbelichtete Stadt von Paul Virilio. In beiden geht es um die Stadt als Metapher für die Veränderungen, die sich im Übergang von der Moderne zur Postmoderne im Verhältnis zwischen Raum und Zeit ergeben. Man könne einen Übergang von einem »Paradigma der industriellen Mechanik zu einem elektro-nuklearen Paradigma« (ASM 32) beobachten, der die Frage aufwerfe, »welches der neue Raum ist, der heute durch diese unsichtbaren Netze entsteht« (ASM 33). Beide seien eine Grundlage für Lyotards Ausstellungsbegriff, der gegen die Orientierung am Raum eine Orientierung an der Zeit setzen wolle: Les Immatériaux finde in einem Raum ohne Absperrungen statt – hier bezieht sich Lyotard auf die Konstruktion des Centre Pompidou, die sämtliche tragenden Teile der Architektur aus dem Inneren nach außen verlegt hat –, in einem Gebäude, dessen Transparenz eine deutliche Trennung von innen und außen verhindere, an einem Ort in der Stadt, der von einer hohen Fluktuation von Menschen geprägt sei. Zudem sei eine Ausstellung kein Museum, sondern ein vergänglicher Raum.
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IMMATERIALITÄT – MATERIALITÄT – LES IMMATÉRIAUX
Auf diese Exkurse folgen wieder einige Überlegungen zu Konzeption und Gestaltung der Ausstellung. Lyotard äußert sich über die Pädagogik der Sensibilisierung, die Arbeit mit seinem Team, das mât-System, die Labyrinthform der Ausstellung und die Offenheit des Parcours, das Kopfhörerprogramm und das Licht. Zudem erwähnt er die Idee, jedem Besucher eine Speicherung seines Ausstellungsbesuches zu ermöglichen. Die Umsetzung sei allerdings technisch nicht so einfach, wie man sich es sich wünschen würde – in der Tat scheint sich erst kurz vor der Eröffnung herausgestellt zu haben, dass ein solches Speichersystem nicht realisierbar war. Auch der Katalog zur Ausstellung solle mit den üblichen Regeln brechen, Lyotard beschreibt kurz das Inventaire und das Schreibexperiment, das dem Katalogteil Epreuves d’écriture zugrunde lag. Es mutet eigenartig an, dass dieser Text in keine der Publikationen Eingang gefunden hat - er hätte wahrlich erhellende Einsichten sowohl für das Publikum als auch die Fachwelt beitragen können. Da im Archiv nur diese eine, nicht überarbeitete Fassung zu finden war, könnte es gut sein, dass Lyotard ihn vorbereitet und aufgenommen hat und dann die Arbeit damit abbrach. Da an mehreren Stellen Auslassungszeichen in den Text eingefügt sind – meist dort, wo Autoren als Referenz genannt werden – dürfte heute unmöglich sein, den Text und Lyotards Gedankengang vollständig zu rekonstruieren.
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T EIL III
»Avec Les Immatériaux, il n’y a plus: des mots et des choses, que des choses suspendues et des mots en suspension. Ce qui m’apparaissait comme un défaut de conception au début – pourquoi ne se sont-ils même pas donnés la peine de bien fixer les choses? – m’apparaît maintenant comme l’une des qualités nécessaires pour l’inscription du destinataire dans le processus de dématérialisation. Sans références stables, je sens plus que jamais la contingence de mon environnement.« Aus: Perraton 1986, S. 16 f.
7. P H É N O M É N O L O G I E
DE LA VISITE
Die folgenden Kapitel rekonstruieren meinen imaginären Besuch von Les Immatériaux. Wie die bereits in der Einleitung erwähnte fiktive Anthropologin habe ich mich – so weit es aus der zeitlichen und räumlichen Distanz anhand der mir vorliegenden Materialien möglich war – in die Ausstellung hinein projiziert, habe versucht, mir vorzustellen, wie ein Besuch möglicherweise vor sich gegangen ist. Den damaligen Besuchern gegenüber habe ich den Vorteil, dass ich eine große Menge Material über die Ausstellung in die Rezeption einbeziehen, mein Nachteil ist, dass ich den Raum der Ausstellung nicht wirklich betreten konnte. Ich musste mich also im Folgenden auf meine Analysen und meine Assoziationen zu den Stationen und Objekten beschränken, auch wenn ich natürlich versucht habe, mich auf Lyotards Spuren zu begeben und meine Rezeption so weit wie möglich mit einem Blick durch seine Brille abzustimmen. Aus dem Zusammentreffen meiner Assoziationen mit Lyotards »Spuren« habe ich einen Ausstellungsbesuch konstruiert, der ebenso analytisch wie synthetisch funktioniert. Dabei waren zwei Prinzipien für mich erkenntnisleitend: erstens sollten möglichst viele Details von Les Immatériaux ans Licht geholt werden, da das Material in den letzten 20 Jahren kaum bearbeitet wurde und die wenigen Texte über die Ausstellung sich auf einzelne Stationen und Themen beziehen. Zweitens stellt diese Form der Darstellung ein Werkzeug dar, mittels dessen sich Themen und Präsentationsformen gleichermaßen untersuchen lassen. Nachdem in den vorigen Kapiteln verschiedene Aspekte der Ausstellung gleichsam horizontal nebeneinander ausgebreitet und im Überblick präsentiert wurden, ist es hier möglich, wie in einem vertikalen Schnitt diese verschiedenen Ebenen an jeweilig einem Knotenpunkt übereinander zu legen und so in einer vertieften Einzelfallanalyse zu einem besseren Verständnis von Lyotards Theoremen zu finden. Dies entspricht der Rolle, die die Stationen und Exponate in Les Immatériaux einnahmen: sie waren Beispiele, Stellvertreter, Veranschaulichungen, an denen sich ein Diskurs kondensieren und konkretisieren konnte.
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7 . 1 . D e r E i ng a n g s be r e i c h Vestibule d’entrée Wer die Warteschlange am Eingang des Centre Pompidou hinter sich gebracht, zusätzlich zum Eintritts die fünf Francs für den Kopfhörer bezahlt hatte und in die fünfte Etage hinaufgefahren war, lief durch einen der für das große Museum so typischen transparenten Schlauchgänge auf den Vorraum von Les Immatériaux zu. Dort passierte man eine Theke, an der man das Petit Journal kaufen konnte, und betrat durch eine schlichte Absperrung den ersten Raum der Ausstellung, der die Form eines rechtwinkligen Dreiecks hatte. In einem der beiden Basiswinkel des Dreieckes befand sich das erste Exponat, ein etwa ein mal ein Meter großes altägyptisches Flachrelief aus Stein von ca. 340 v. Chr. Auf Kopfhöhe an der Wand hängend und von einem Spot dramatisierend aus dem Dunkel herausgehoben, waren die schlichte Ritzzeichnung des Reliefs und seine mythologisch-religiöse Darstellung sicher nicht das, was Besucher erwarteten, die ein paar Informationen über Les Immatériaux aus der Presse aufgeschnappt hatten. Wer über das Petit Journal verfügte und es konsultierte, erfuhr dort, dass auf dem Relief eine Göttin zu sehen sei, die König Nectanébo II., dem letzten unabhängigen Pharao Ägyptens, das Zeichen des Lebens reiche und dass die Tafel aus dem Musée de Grenoble stamme. Weiterhin ist dort zu lesen: »Das Symbol des gegebenen Lebens markiert, was in dieser Manifestation auf dem Spiel steht: gibt es heute etwas, das den Menschen bestimmt ist? Müssen wir die Seele zurückgeben, den letzten Seufzer?«1 Der inhaltliche Horizont dieser wenigen Zeilen überrascht, zumal sich im Petit Journal auf der selben Seite eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen befindet, die Lyotard und Chaput mit Les Immatériaux verfolgen wollten und die zunächst einen solchen Einstieg nicht erwarten ließen. Dort konstatiert nämlich Lyotard im ersten Satz, dass die neuen Technologien gewisse Überzeugungen der Moderne in Frage stellten und dass diese Diskussion bisher in Frankreich nur sehr wenig aufgegriffen worden sei. Von (Techno-)Wissenschaft, Materie, Energie, Interaktion, dem mât-System und der Kommunikationstheorie ist in den beiden Spalten die Rede, die Lyotard verfasst hat. Chaput hingegen liefert eine in ihrer Dunkelheit ebenso poetische wie sperrige Be- und Umschreibung der Szenographie von Les Immatériaux, aus deren Prinzipien er den epistemologischen Rahmen der Veranstaltung ableitet: »Aufgespannt zwischen fein abgestuften Grautönen und in einer unwahrscheinlichen Beleuchtung, lassen ›Les Immatériaux‹ zu dieser Stunde, an diesem
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Lyotard 1985d, S. 3. 107
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Tag, in diesem Jahr unvorhersehbare Ideen schweben, die mit Strenge, aber ohne System gehängt und angeordnet sind und sich dem Sehen, dem Fühlen und dem Hören darbieten.«2 Die Technowissenschaft sei präsent, ohne die Szenerie zu beherrschen, schreibt Chaput, und die Stationen antworteten in einer »polymorphen Entwicklung«3 aufeinander. Aus der Polysemie der Bilder, der Szenen und der Klänge entstehe eine Collage, »aus der ein dritter Sinn erwächst, neu und eigenartig.«4 Inmitten dieser sprachlich anspruchsvollen und inhaltlich schwer zu greifenden Vorankündigung auf das, was die Besucher zu erwarten hatten, fand sich in Lyotards Text ein Absatz, der einen Bezug zur Lebenswelt und zum Alltag der Besucher herstellen sollte: »Die Unsicherheit, der Verlust der Identität, die Krise zeigen sich nicht nur im Ökonomischen und Sozialen, sondern auch auf dem Gebiet der Sensibilität, des Wissens und der Vermögen des Menschen (Befruchtung, Leben, Tod), den Lebensweisen (Bezug zur Arbeit, zum Wohnraum, zur Ernährung etc.).«5 Wer diese Texte gelesen hatte, ahnte, dass ihn ein alle Bereiche seines täglichen Lebens berührender Parcours mit einem hohen theoretischen Anspruch und einer zumindest ungewöhnlichen Perspektive erwartete. Das altägyptische Relief diente im Zusammenhang mit dieser Einführung als Rahmung, die die Fragen von Lyotard und Chaput in eine Jahrtausende umfassende Geschichte einband und stellte zugleich einen Verweis auf die Religion dar, die in Les Immatériaux sonst keine Rolle spielte. Rahmung war das Relief nicht nur im metaphorischen, sondern auch im räumlichen Sinn: im Vestibule de Sortie, dem letzten Raum vor dem Ausgang, wurde eine Fotografie des Reliefs, die es in viele schmale Streifen geschnitten und versetzt wieder aneinander montiert zu haben schien, projiziert, die Stimmen im Kopfhörer waren dort zum ersten Mal still. »Der Materie-Effekt verschwindet«, schreibt Lyotard dazu im Inventaire, wo sich auch eine Antwort auf seine Eingangsfrage findet, ob wir die Seele zurück geben müssen: »Das Leben, der Sinn – werden sie uns immer noch von einer Mutter gegeben (vorbestimmt), wie eine Nachricht zum Entschlüsseln, Honorieren und Zurückerstatten, wenn sie fällig geworden sind? Unsere Art und Weise, sie zu empfangen, sie zu verstehen, sie zu verändern, sie darzustellen, uns von ihnen freizusprechen – legt sie uns nicht ein Dementi dieser antiken Überzeugung auf, dass
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Petit Journal, S. 2. Ebd. Ebd. Ebd. 108
PHÉNOMÉNOLOGIE DE LA VISITE: EINGANGSBEREICH
Abb. 4: Das Nectanébo-Relief aus dem Vestibule d’entrée (Inventaire).
Abb. 5: Das verzitterte Relief aus dem Vestibule de sortie (Inventaire).
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die Seele zurückgegeben werden muss, intakt, perfektioniert? Wenn nicht ein Dementi, zumindest Ärger?«6
In einem Interview wird Lyotard nach der Bedeutung der Religion für Les Immatériaux gefragt, woraufhin er antwortet, sie sei durch das altägyptische Relief vertreten. Im nächsten Satz erwähnt er den Begriff »Seele«, den er nur im Zusammenhang mit dem Relief verwendet: »Je ne pense pas qu’il n’y ait plus d’âme. Au contraire.«7 Die Seele werde allerdings heute durch die Maschinen, die die materiellen Substanzen entmaterialisieren, selbst wieder materialisiert – hier klingt der Topos der mentalen Prothesen an, die im Zeitalter der Informatisierung die Vermögen des Geistes zu ersetzen im Stande sind. Der Eingang in die Ausstellung konfrontierte die Besucher also mit einem Thema, das eine doppelte, paradoxe Funktion erfüllte. Erstens wurden sie auf die Tragweite des Kommenden vorbereitet und zweitens wurde der Glaube, in dessen Zuständigkeitsbereich solche existentiellen Fragen sonst oft geschoben werden, an den äußersten Rand – Eingang und Ausgang – der Ausstellung verlagert, wie ein Horizont, der nur vermittelt zu greifen ist. Die vielen Bezüge auf fundamentale Fragen der menschlichen Identität, die in der schlichten Geste anklangen, mit der die Göttin dem König das Zeichen des Lebens reicht – wie die Differenz der Geschlechter, die Diskrepanz zwischen Göttlichem und Menschlichen, eine nährende Mütterlichkeit, der hohe Stellenwert der sozialen Interaktion –, machten das Relief zu einer zeitlosen Botschaft. Die überkulturelle und überzeitliche Verständlichkeit der existentiellen Geste findet eine Entsprechung in der schlichten Umrisslinie, die in den Stein geritzt ist und die aus dem Relief eine Mischform aus Zeichnung und Skulptur, aus Abbildung und Verkörperlichung macht. Die Leichtigkeit der Zeichnung, die Fragilität der einfachen Umrisslinie und die Entkörperlichung der Figuren in die Fläche hinein transportieren die Transzendenz des abgebildeten Ereignisses, der Stein hingegen, in den die scheinbar leichthändige Zeichnung gegen viel Widerstand eingemeißelt wurde, steht für eine Dauerhaftigkeit und Widerständigkeit, die dem ephemeren Inhalt eine zusätzliche Dimension verleihen: Das Lebenszeichen bedeutet so auch die Gebundenheit an die Materie, an das Irdische und an den Körper. Im Kopfhörer war dazu der Atem eines Menschen zu hören. Die Aufmerksamkeit der Besucher wurde damit auf eine zwischen Bewusstsein und Unbewusstem liegende Tätigkeit ihres Körpers gerichtet, die unter alltäglichen Bedingungen zwar wahrnehmbar, aber nur begrenzt bewusst 6 7
Inventaire zu Vestibule de Sortie. Bidaine/Saur 1985, S. 16. 110
PHÉNOMÉNOLOGIE DE LA VISITE: EINGANGSBEREICH
steuerbar ist. Lyotard verwendete den Atem als Symbol für das Leben schlechthin, wie er im Petit Journal aufzeigt: »Der Atem wird Seele genannt: Leben und Sinn. Der erste Schrei des Neugeborenen, der letzte Atemzug des Sterbenden. Die Atemlosigkeit in der Herz-Lungen-Maschine, in der Mund-zu-Mund-Beatmung. Der Atemrhythmus: wir nehmen und geben der Welt unsere Präsenz. Die erste Musik. Wenn wir außer Atem sind, welche Mutter ist da, die ihn uns zurückgibt? Welcher Kuss, von welchem Mund?«8
Die Kombination aus diesem Geräusch und der Thematik des Reliefs konfrontierte die Besucher bereits im ersten Raum der Ausstellung mit der ihnen zugedachten Rolle: Nicht nur distanzierte Betrachter, sondern auch eingebundene Akteure zu sein. Der Atem im Kopfhörer funktionierte wie eine Rückkoppelungsschleife, die alles, was ihnen außerhalb ihrer selbst begegnete, auf ihren eigenen Körper zurückbezog, wie ein virtuelles Raumschiff, mit dem sie eine Reise in ihren eigenen Körper antreten konnten. Galerie d’entrée Diese Rückkoppelung wurde im nächsten Raum noch verstärkt. Wer das Vestibule d’entrée verließ, kam in die etwa 20 m lange Galerie d’entrée, die den Übergang zum Théâtre du non-corps bildete. Dieser schmale dunkle Gang bog am Ende nach links ab und ermöglichte durch einen in der Kurve platzierten Spiegel einen Einblick ins Théâtre du non-corps, noch bevor man die Galerie d’entrée verlassen hatte. Über den Kopfhörer war der Pulsschlag von Blut in einer Kopfschlagader zu hören, mit einem Ultraschallgerät aufgenommen. War der Atem im Vestibule d’entrée noch die akustische Spur eines gerade nicht anwesenden Gegenübers und damit eine Art Attrappe für etwas tatsächlich Erlebbares, wurden die Besucher in der Galerie d’entrée mit einem Geräusch konfrontiert, das unter normalen Bedingungen nicht zu hören ist. Sie empfingen ein Signal aus einer verborgenen Welt – wer sich auf den Pulsschlag einließ, fand sich tiefer noch als durch den Atem in den eigenen Körper hineinprojiziert. Dementsprechend schwierig war es, das zudem durch die Ultraschallaufnahme mit einer speziellen Klangfarbe versehene Geräusch überhaupt zu identifizieren: in einer Rezension etwa ist die Rede von einem »komischen Klang«,9 in einer anderen vom »rythme des curieux battements«,10 der zu hören gewesen sei. Lyotard gibt den Lesern des 8 Petit Journal, S. 3. 9 Fritz-Vannahme. Ohne weitere bibliographische Angaben. 10 Perraton 1986, S. 14 f. 111
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Petit Journal einen Hinweis: »In die massive Textur des Körpers eintreten, durch seine naheliegendste, unerhörte Immaterialität: Der Klang des Blutes.«11 Die Reduktion aller weiteren sinnlichen Eindrücke – es war dunkel, der Gang war völlig leer, die Wände waren in demselben neutralen Grau gestrichen wie alle anderen in der Ausstellung auch – warf die Besucher vollends auf sich selbst und auf ihren Körper zurück. Wie in einem Passageritus durchliefen sie eine sinnliche Deprivation und Zuspitzung zugleich. Das Setting dieses »Geburtskanals« brachte ein intensives, körperliches Erlebnis mit sich, das jegliche Reflexion zunächst einmal auf später verschob und die sonst so vereinzelten Besucher der Ausstellung auf subtile Weise einte: »Je sens l’ombre de ceux qui m’ont précédé. Ce lieu – ou plutôt ce non lieu, en fait: ce passage – consacre le caractère sensitif de la bande-son«12, schreibt Perraton in der Evaluation der Ausstellung. Der inszenatorische Trick der Galerie d’entrée bestand darin, das rezipierende Subjekt an die Stelle des auszustellenden Objekts treten zu lassen – die Aufmerksamkeit der Besucher wurde nicht von ihnen weg auf ein Etwas gelenkt, sondern an ihren eigenen Körper als Gegen-Stand gebunden. Der kurze Text im Petit Journal lieferte keine Erklärungen: »Ströme von Blut, das von der Kraft des Herzmuskels in Richtung des Gehirns beschleunigt wird. Sie dröhnen durch das Kanalisiert-Werden. Rhythmus von Zusammenschnüren und Lockern. Fluß und Rückfluß des frischen Blutes. Ein stummes Echo des Atems, im Inneren.«13 Schon bevor die Besucher die Initiation in die Themen und Methoden von Les Immatériaux durchlaufen hatten, wurden sie also mit einem wesentlichen Moment der Ausstellung konfrontiert: Die Präsentationsweisen waren zugleich der Inhalt. Nirgendwo sonst wurde das so deutlich wie in diesem langen dunklen Gang, der auf jedes Objekt verzichtete und damit auf institutionenkritische Kunstaktionen zurückgriff wie etwa Yves Kleins Le Vide oder John Cages 4’33, beide aus den 1950er Jahren, die explizit jede Geste des Aus- und Herstellens verweigerten und damit die Rezipienten auf die Prozesse zurückwarfen, mittels derer sie selbst die Kunstwerke mitkonstituierten. Das einzige Objekt, das sich in der Galerie d’entrée befand, war der Spiegel, in dem man sich selbst und das folgende Théâtre du non-corps reflektiert sehen konnte. Der Blick in den Spiegel, mit dem die Szenographie von Les Immatériaux an vielen Stellen arbeitete, kann als Stellvertreter für bestimmte, in der Moderne entstandene Bedingungen des Bli11 Petit Journal, S. 3. 12 Perraton 1986, S. 14 f. 13 Petit Journal, S. 3. 112
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ckens verstanden werden: das Raumkontinuum wird gerahmt und in eine Fläche transponiert, die nach den Regeln des perspektivischen Sehens organisiert ist und dem Spiegel die Macht verleiht, auch die Gegenstände zu zeigen, die nicht in den dem Verhältnis von Betrachterstandpunkt und Raumkontinuum entsprechenden Blickachsen liegen. Damit ist er eine Chiffre für den abstrakten Überblick, erlaubt er die Fernkontrolle über das, was sich in Distanz zum eigenen Körper befindet. Dieses Sehideal aus der Renaissance steht in deutlicher Diskrepanz zu der unmittelbaren Körpererfahrung in der Passage durch den Gang. Théâtre du non-corps Der Spiegel als Übergang in das Théâtre du non-corps bot zugleich einen Blick zurück, auf den eigenen Körper und in den noch nicht betretenen Raum. Wie eine Schnittstelle zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war er das Tor, das die Besucher endgültig in die Ausstellung hinein führte. Sie verließen den Gang der Galerie d’entrée und standen in einem weiten Saal, der – genauso wie das Labyrinthe du langage am Ende des Ausstellungsraumes – die größte Fläche einnahm, die die Szenographie für eine einzelne Station vorsah. Fünf freistehende Wände mit Dioramen, auf Augenhöhe in die Wand eingelassene Schaukästen, waren in einem weiten Halbkreis entlang der linken Seite des Raumes angeordnet und grenzten ihn gegen die dahinter beginnenden fünf Wege ab. Die aus der Sicht des eben in den Raum hinein getretenen Besuchers rechts gelegene Wand war vollständig verspiegelt. »La grande salle du miroir«14 nennt ein Rezensent passend das Théâtre, dessen Raum durch die Spiegel illusionistisch verdoppelt und unübersichtlich wird – wo ist hier die Realität, wo das Spiegelbild? Das Gegensatzpaar Realität/Fiktion spielte auch in den Dioramen die Hauptrolle. Sie verwandelten das Théâtre in einen großen Zuschauerraum, der zugleich die Bühne war, auf der sich das Leben abspielte, das in den Dioramen fehlte: Illusionistisch bemalte Rückwände bildeten den Hintergrund der mit verschiedenen Requisiten ausgestatteten kleinen Bühnenräume, in denen sich winzige Gegenstände befanden – Schuhe, Aschenbecher, Lampen, ein Stuhl, ein Mantel – und deren Fenster auf Hochhäuser hinaus wiesen oder deren Türen sich in eine nicht identifizierbare Helligkeit hinein öffneten: »Im zweiten von links drei Lämpchen, hochgehalten von drei bleistiftlangen Stangen. In ihrem Lichtkegel hüpfen drei Schuhpaare, grau, zerschlissen, schmuddelig wie der Herrenmantel, den in einem anderen Diorama jemand überm Stuhl hängen liess
14 Gauville 1985, S. 29. 113
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Abb. 6: Das Diorama mit dem Erdboden. Entwurfs-Zeichnung. (Inventaire).
Abb. 7: Das Diorama mit den tanzenden Schuhen, das Diorama mit den Hochhäusern. Entwurfs-Zeichnungen (Inventaire).
Abb. 8: Das Diorama mit dem Mantel und das Diorama mit dem sprechenden Mund. Entwurfs-Zeichnungen (Inventaire).
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[sic], ehe er durch die winzige Tür im Hintergrund das Weite suchte. Da war also wer: jetzt ist er weg.«15 Die entlebten Miniaturszenen, die schon an sich unheimlich genug waren, bewegten sich zudem wie von Geisterhand. Die Schuhe drehten sich in einem sinnlosen Stepptanz, die Fenster in den Hochhäusern waren plötzlich erleuchtet und dann wieder dunkel, der Aschenbecher quoll von Zigaretten über, die niemand geraucht hatte,16 ein steiniger, »jenseits unserer Normalerfahrung [...] atmender, d.h. auf- und abschwellender Erdboden«17, wurde von einem vertikalen Spalt im Hintergrund hell erleuchtet. Eines der Dioramen zeigte einen von seinem Körper isolierten »Mund, der sich gelegentlich zu bewegen scheint, als gäbe es da – schon ganz unpersönlich – gerade noch etwas zu sagen, zu flüstern, anzuzeigen.«18 Die Szenen, die von zwei Beckett-Spezialisten gestaltet wurden – dem Regisseur Jean-Claude Fall und dem Maler und Szenographen Gérard Didier – sollten typische Themen von Beckett aufgreifen und umsetzen: »Ainsi a-t-on retenu […] des situations inventées, inspirées des pièces de l’auteur, des pièces à la limite de la présence, du corps, où celui-ci est par exemple réduit à une lumière sur une bouche […].«19 Das Théâtre du non-corps war ein Nicht-Theater, das mit allen üblicherweise im Theater zu erwartenden Konventionen brach: »Toute de suite, il a su que c’était comme au théâtre mais sans acteurs et sans public, sans scène et sans salle. Sans théâtre, quoi!«20 Die Leere der Bühnen und der Bruch mit den üblichen Rollenmodellen – Zuschauer, Schauspieler und Ausstattung – bereiteten das Feld für beliebige Zuschreibungen. Sie forderten dazu auf, in einem subjektiven Akt des Ausdenkens gefüllt zu werden, eröffneten im wahrsten Sinne des Wortes Spiel-Räume. Diejenigen Besucher, die in der Lage waren, die Leerstellen als Leerstellen zu erkennen und sie nicht als fehlendes Angebot missverstanden, konnten ihrer Imagination freien Lauf lassen und die ihnen angebotenen Displays zu ihrer eigenen Ausstellung umgestalten. Akteure und Zuschauer fielen im Théâtre du non-corps in ähnlicher Weise zusammen wie Ausstellungsobjekt und Betrachtersubjekt in der Galerie d’entrée, und ebenso wie dort war die Instanz, die dieses Zusam15 Fritz-Vannahme, ohne bibliographische Angaben. 16 Cournot, Michel (1985): »Les Immatériaux« au Centre Georges-Pompidou: Un »magasin de curiosités«, naif et macabre. In: Le Monde, 12.4., o.S. 17 Schlocker, Georges (1985): Die Verflüchtigung der faßbaren Wirklichkeit. In: Handelsblatt, 19.4., S. 30. 18 Haniman 1985, S. 43. 19 Lyotard im Interview mit Bidaine/Saur 1985, S. 13. 20 Gauville 1985, S. 28. 115
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menfallen organisierte, das Kopfhörerprogramm.21 Man hörte den ersten Text aus dem Gemeinschaftsprojekt Foirades/Fizzles von Beckett und dem Künstler Jasper Johns, das letzterer zu Beginn der 1970er initiierte. Johns bat Beckett, ihm unveröffentlichte Textfragmente zu schicken, um dazu Radierungen anzufertigen – Beckett jedoch verfasste fünf Texte neu, Miniaturen, zu denen Johns sein visuelles Universum hinzukombinieren musste. Der Auftakt des ersten Textes von »Foirades/Fizzles, was vom Dünnschiss bis zum Fiasko ein kleines Spektrum der realen wie metaphorischen Insuffizienz umfasst«,22 ist in seiner Negation und Ausweglosigkeit typisch für Beckett und dürfte, ebenso wie der Rest des Textes,
21 Als wenn der Text im Kopfhörerprogramm nicht ausreichen würde, setzte Lyotard auf einer »moi au théâtre« betitelten Extraseite des Inventaire einen weiteren Ausschnitt eines Beckett-Textes an den Beginn der Loseblattsammlung. Dort war ein Teil des Romans Der Namenlose von 1949/50 zu lesen. Der eindringliche Redefluss, den Beckett eine Figur namens Worm an sich selbst und an die Leser richten ließ, stellte gleichsam einen Perspektivwechsel zu dem Text dar, der im Théâtre du non-corps über die Kopfhörer zu hören war: das Ich befragt nun nicht mehr sein Verhältnis zu einem Anderen und zu dessen Körper, sondern die Wahrnehmungen, die es von sich selbst hat, oder eher: nicht hat. Ähnlich wie die rhythmische Aneinanderreihung der unerträglichen, weil zutiefst verunsichernden Fragen aus Foirades/Fizzles ist auch das fruchtlose Selbstgespräch, das Worm auf der Suche nach einer Gewissheit, und sei sie noch so marginal, begleitet, nicht dazu angelegt, jemals an ein Ziel zu führen. Worm, ein ›Ich‹, das jegliche Verbindung zu seinem Körper ebenso wie seine Extremitäten verloren hat und nur aus einem in Tücher gewickelten Kopf zu bestehen scheint, versucht, sich im Modus des Sprechens des eigenen Körpers und der eigenen Identität zu versichern. Die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens zeigt sich schon darin, dass bereits die Methode nicht geeignet ist, um das gewünschte Ergebnis zu bringen: der eigene Körper kann nur in der eigenen sinnlichen Wahrnehmung sich seiner wirklich gewiss werden, sonst wird jede Gewissheit über die Identität von Wissendem und Spürendem verunmöglicht. Worm sucht jedoch nach einer Bestätigung ausschließlich durch den Intellekt, durch die Sprache, oder eher: durch das Sprechen. Sprechend will Worm eine Gewissheit erlangen, die er nur fühlend wirklich bekommen kann: »[...] ich fühle keinen Mund an mir, ich fühle keinen Kopf an mir, fühle ich denn ein Ohr an mir, antworten Sie freiweg, ob ich ein Ohr an mir fühle, offen gesagt, nein, wenn schon, ich fühle auch kein Ohr an mir, wie mies es geht, suchen Sie gut, ich muss irgendwas fühlen [...]« (Beckett, Samuel (1976): Werke, Bd. III (Romane). Frankfurt a. M., S. 522-523). 22 Kipphoff, Petra (2006): Horn kam immer nachts. Foirades/Fizzles – eine Co-Produktion von Samuel Beckett und Jasper Johns. In: Die Zeit online, 12.04. http://www.zeit.de/2006/16/BKunst?page=1 (5.6.2006). 116
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für die meisten Besucher ein Schock gewesen sein: »Ich habe vor der Geburt aufgegeben anders ist es nicht möglich.«23 Der Ich-Erzähler – oder eher: der Ich-Redner, Erzählung kann man diesen Text wahrhaftig nicht nennen – ist auf der Suche nach demjenigen, der die im ersten Satz erwähnte Geburt (»ein Geboren-Werden muss allerdings geschehen sein«24) erlebt hat und ist sicher, dass es nicht er selbst gewesen sein kann: »[...] er war es, der gejammert hat, er, der das Licht gesehen hat, ich habe nicht gejammert, ich habe kein Licht gesehen, es ist unmöglich, dass ich eine Stimme haben soll, unmöglich, dass ich Gedanken haben soll, dass ich spreche und denke [...]«.25 Der Strom der absurd-verzweifelten Fragen reißt nicht ab, das eigenartige »Ich« rätselt über den Tod und das Begräbnis des ebenso rätselhaften »Er«, und erst nach einiger Zeit kommt man auf die Idee, dass beide vielleicht ein und derselbe sind: »[...] er, der sterben wird, ich werde nicht sterben, vielleicht beerdigen sie ihn, wenn sie ihn finden, ich werde innen drin sein, er wird verrotten, ich werde nicht verrotten, es wird nichts von ihm übrig bleiben als Knochen, ich werden innen drin sein, nichts übrig als Staub, ich werde innen drin sein, es ist anders nicht möglich, so sehe ich das [...].«26 Spricht hier eine Seele über »ihren« Körper? Oder ein Toter über sein Leben? Auf jeden Fall ist das »Ich« sehr interessiert daran, seine Körperlosigkeit deutlich zu machen, einen Zustand, der den Erfahrungshorizont der Besucher überschritt und ihnen als Gedankenexperiment angeboten wurde. In seinem Text im Petit Journal stellt Lyotard dieser eigenartigen Körperlichkeit die Realität der Ausstellung entgegen: »Der Körper, Träger der Präsenz, Bedingung eines jeden Theaters: du und ich, Schauspieler und Zuschauer, einer auf der Bühne, einer im Saal, beide hier und jetzt. Ein offensichtliches Forum für jede Form des Widerstands gegen die Dematerialisierung seiner Umgebung durch die medialisierte Sozio-Kultur.«27 Lyotard wollte mit dem Setting nicht so sehr die Existenz des Körpers in Frage stellen, sondern eher die Gewissheit erschüttern, der Körper und die sinnliche Wahrnehmung seien dasjenige, als das wir sie zu denken gewohnt sind. Die Besucher wurden im Théâtre du non-corps Zeugen einer Infragestellung des Körpers, auf den sie an den beiden vorher genannten Stationen so deutlich zurückgeworfen worden waren. Hier wurden ihnen nun diejenigen Fragen drastisch vor Augen gestellt, auf die sich die gesamte Ausstellung konzentrierte: Wie die Identität – und damit 23 24 25 26 27
Beckett, zit. nach Petit Journal, S. 3. Ebd. Beckett, zit. nach Route: Zones & Sites, S. 3. Ebd. Petit Journal, S. 3. 117
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auch der Körper – des Menschen noch gedacht werden kann, wenn in immer mehr Bereichen des Lebens die Materie als Gegebenes verschwindet und Informationen, Codierungen und Strukturen an ihre Stelle treten. Wenn also keine substanziellen Definitionen mehr greifen, es keinen festen Halt mehr in einem unveränderlichen Gegenüber gibt, sondern wenn alles in Bewegung gerät: »An die Stelle fester Zuordnung tritt die Idee einer generalisierten Interaktion.«28 Becketts Text führt erschreckend konkret vor, was geschieht, wenn man sich der Zuordnungen nicht mehr sicher sein kann.
28 Härle 1987, 238. 118
7.2. Der erste Weg: Matériau – Substanz, Rohstoff, Medium Der erste Weg, der Weg zum Begriff »matériau«, begann dort, wo sich der Anfang eines konventionellen, gegen den Uhrzeigersinn aufgebauten Ausstellungsparcours’ befinden würde, am rechten Ausgang aus dem Théâtre du non-corps. Die meisten Besucher folgten dieser Konvention und begannen ihren Ausstellungsbesuch mit diesem Weg: »Pourtant, presque tout le monde se dirige vers le passage d’extrême droite.«1 Der Begriff matériau (frz. auch: Rohstoff) bezeichnet innerhalb des mât-Systems den stofflichen Träger jeder Nachricht, ihre materiellen Aspekte, das Medium also, in das eine Nachricht eingeschrieben wird. Im Inventaire beginnt Lyotard seine Erläuterungen zum ersten Weg mit zwei Beispielen über die Veränderungen, denen Rohstoffe in den vorangegangenen Jahren unterworfen waren. Er nennt eine Kunstfaser, deren hohe Stabilität bei zugleich sehr niedrigem Gewicht Projekte ermögliche, die bisher nicht denkbar gewesen seien: »Kevlar-Fasern, eineinhalb mal dichter als Wasser und vier- oder fünfmal stabiler als Stahl. Mit diesem paradoxen Rohstoff können Sie in Erdbebenzonen bauen.«2 Das zweite Beispiel bezieht sich auf den menschlichen Körper, in dessen Struktur durch die Fortschritte in der Medizin viel weitgehender eingegriffen werden könne als es bis dahin jemals der Fall war: »Geschlecht: maskulin. Es sei denn, es zeigt sich, dass Sie es hassen, ein Mann zu sein. Die Biochemie und die Chirurgie können Ihnen einen Frauenkörper machen. Diesen Rohstoff, das Geschlecht qua Geburt, mit Ihrem Wunsch in Übereinstimmung bringen. Dem Schicksal entkommen, das Ihnen vorgezeichnet ist.«3 Beide Beispiele zielen auf das Argument ab, dass dank der technologischen Kompetenzen, die sich die informatisierten Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten angeeignet hätten, die Rohstoffe, welcher Art auch immer, sehr viel besser als früher an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden könnten. Dies liege an zwei Entwicklungen: erstens könnten Rohstoffe wie Kevlar völlig neu erzeugt und direkt an die Projekte angepasst werden, es müsse also nicht mehr auf bereits existente und nicht ideal passende Materialien zurückgegriffen werden. Zweitens könnten bereits gegebene Eigenschaften der Rohstoffe wie etwa das Geschlecht des menschlichen Körpers den Zwecken entsprechend manipuliert werden.
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Diese beiden kurzen Beispiele sind typisch für die Texte, mit denen Lyotard im Inventaire in die Wege und das mât-System einführt. Er konfrontiert die Leser mit weitgehend neutralen Beschreibungen der Phänomene und Veränderungen, die er beobachtet und in der Ausstellung präsentieren will. Ein affirmativer Ton prägt diese lapidare Texte – ist es nicht gut, wenn man in Erdbebenzonen bauen oder in ein Schicksal eingreifen kann, das man hasst? Auch die meisten Texte, die im Inventaire sowie im Petit Journal als kurze Metainformation dienen, sind in diesem neutralen bis affirmativen Duktus verfasst. Beim ersten Lesen ist man irritiert, weil Lyotard damit kritiklos die Prinzipien der Moderne fortzuschreiben scheint, die er zugleich attackiert: die Technologien scheinen Fortschritte zu bringen, die dem menschlichen Subjekt helfen, die Welt seinen Zielen entsprechend zu gestalten. Aber Lyotard macht an vielen Stellen in diesen Texten und in der Ausstellung sehr subtil deutlich, dass er entgegen dieses ersten Eindrucks gerade nicht einverstanden mit den Konsequenzen ist, die sich aus den von ihm beschriebenen Phänomenen ergeben. Dies geschieht durch mehrere Strategien: Zum einen tauchen in den Texten Schlüsselbegriffe auf, die im Kontext von Lyotards Philosophie eindeutig negativ konnotiert sind. Zum Beispiel schreibt er in der Einleitung zum zweiten Weg im Inventaire, es entspräche einer »aufklärerischen Einstellung«, wenn man die DNS als vollständige Codierung des Körpers auffassen und daraus schließen würde, man könne ihn vollständig verstehen. Oder er behauptet im Petit Journal über die ersten Stationen des zweiten Weges, sie würden zeigen, wie man die Leistungen des Körpers »optimieren« kann, oder er fasst an derselben Stelle die ersten Stationen des dritten Weges als Beispiele dafür zusammen, wie ein wahrlich »wirtschaftlicher« Empfänger zu funktionieren hat. Die Begriffe Aufklärung, Optimierung und Wirtschaft sind gleichsam Chiffren für seine Kritik an Denkgewohnheiten, die Einzelfälle unzulässig unter einem ideologischen Dach zusammenfassen, um sie besser kontrollieren zu können – sei es im wirtschaftlichen, sei es im wissenschaftlichen Sinne. Zum anderen waren viele der Exponate entweder selbst so schockierend oder so schockierend inszeniert, dass sie kaum dazu dienen konnten, eine unbeschwerte Fortschrittseuphorie auszulösen. Natürlich lässt sich nicht objektiv entscheiden, ob man etwas schockierend findet oder nicht, hier spielen die Kontexte der Betrachter eine große Rolle. Dennoch lässt sich bei vielen Stationen von Les Immatériaux sagen, dass sie, um eine ungebrochene Affirmation zu transportieren, anders hätten inszeniert werden müssen. Die Hautfetzen unter Plexiglas, die enge Schlafzelle, die unappetitlichen Häufchen Fast-Food, die Kombination einer neutralen
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Tabelle mit einem hochgradig emotionalisierenden Kunstwerk sind Beispiele für solch implizite Wertungen. Der nächste Absatz der Einleitung in den ersten Weg stellt eine dieser neutral-affirmativen Beschreibungen dar: »Rohstoff: das, in das sich eine Nachricht einschreibt: Ihr Träger. Er leistet Widerstand. Man muss ihn zu nehmen wissen, ihn überwinden. Es war ein Handwerk, einen Tisch aus einem Baum zu machen.«4 Der Widerstand war für die Moderne eine konstitutive Eigenschaft des Rohstoffes, die den Projekten des Subjekts Grenzen setzte und es erforderlich machte, dass das Subjekt in eine Position der Herrschaft über die Rohstoffe finden musste. Allerdings, so überlegt Lyotard im nächsten Abschnitt, ist diese Herrschaft gefährdet, sobald die Überwindung des Widerstands nicht mehr notwendig ist, weil sie einer neuen Freiheit in der Herstellung und Manipulation von geeigneten Rohstoffen weicht: Was passiert, wenn man das Materielle nach der Natur des Projektes plant, simuliert und realisiert? Jeglicher Widerstand gegen das Projekt, eine Nachricht einzuschreiben, wäre gebrochen. Die Nachricht trifft nicht auf ihren Widerstand, sondern sie erfindet ihn. Die Arbeit bietet ihrem Objekt nicht die Stirn, sondern kalkuliert es und leitet es her.5
Das Projekt und seine Notwendigkeiten werden zum Maßstab für die Konstruktion der Rohstoffe und nicht umgekehrt. Das hat Konsequenzen für das Subjekt-Objekt-Verhältnis: Der alte Kampf zwischen Subjekt und Objekt findet nicht mehr an den gewohnten Fronten statt, da die Kluft zwischen Rohstoff und Projekt nicht mehr existiert. Das Subjekt verliert seine angestammte Herrschaftsposition und ist damit weit reichenden Veränderungen ausgesetzt, die seine soziale, politische und individuelle Identität betreffen. Lyotards Schluss aus diesen Reflexionen scheint dazu zu dienen, seinen Lesern die Konsequenzen für ihre eigene Lebenswelt nahe zu bringen und ist eine Denkfigur, die auch in Das postmoderne Wissen eine Rolle spielt: »Entwicklung der Berufe in Richtung von Konzeption und Ingenieurswesen der Informatik. Der Wert von Arbeit, von Erfahrung, von Willen, von Emanzipation sinkt. Aufschwung der kombinierenden Imagination, von Experiment und Versuch. Drängende Frage: ist mit dem Verlust des Materiellen die Arbeitslosigkeit unausweichlich?«6 Der Begriff »Arbeitslosigkeit« wirkt wie ein massiver Anker in einem weiten Meer aus philosophisch-abstrakten Reflexionen. Der Hand4 5 6
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werker, der aus einem Tisch einen Baum macht, wird ebenso seine Tätigkeiten modifizieren müssen wie andere Arbeitnehmer, deren Tätigkeiten auf einer Herrschaft über welche Materie auch immer beruhen. »Imagination, Experiment und Versuch« hingegen gehören für Lyotard anderen Berufen und einem anderen Denken an, einem Denken, das mit Unwägbarkeiten statt Gewissheiten operiert, das seine Ergebnisse immer wieder der Revision unterzieht – ähnlich jenem Ideal, das er auch für die Tätigkeit des Philosophierens fordert. Diese Einführung in das semantische Feld um den Begriff »matériau« arbeitet mit einem Widerspruch, der in allen Aussagen Lyotards zu Les Immatériaux verborgen ist und nur an einer Stelle von ihm aufgeklärt wird: in dem unveröffentlichen Text Après six mois de travail. Lyotards Beispiele zu Beginn der Einführung setzen – obwohl sie eine Situation beschreiben sollen, die nicht mehr von den Parametern der Moderne bestimmt wird – immer noch eine Herrschaftsposition voraus, auch wenn diese anders definiert ist als noch zu Zeiten der ungebrochenen Ideale der Moderne. Das sein Geschlecht wandelnde Subjekt ist kein heroischer Herrscher mehr, der die Eigenschaften einer substanziell gedachten Materie seinem Willen und seiner Kompetenz unterzuordnen weiß, sondern ein herrschender Gestalter, der eine als Nachricht, also als Information, Code oder Energie verstandene Materie seinen Projekten anpasst, indem er ihre grundlegenden Eigenschaften modifiziert. Es findet also kein Prozess des Einschreibens mehr statt, sondern eher einer des Fortschreibens. Dieses Fortschreiben kann jedoch, und das bleibt in diesem Text ebenso wie in den anderen mât-Einführungen unerwähnt und wird nur in Après six mois de travail entschlüsselt, in einem nach wie vor modernen Geist der Dominanz geschehen – dann werden die neuen Technologien und all ihre Möglichkeiten genutzt, um letztendlich doch die Herrschaftsposition des Subjektes zu erhalten. Sie kann aber auch aus einem postmodernen Geist der Interaktion heraus geschehen, was voraussetzt, dass das Subjekt sich der Gefahren bewusst geworden ist, die sein Streben nach Dominanz mit sich bringt, und sich mit der Bescheidenheit eines primus inter pares nicht mehr als Autor und als Herrscher versteht, sondern als experimentierende und kombinierende Schaltstelle in dem Universum von Nachrichten, das die Welt ist. Der erste Weg durch die Ausstellung spürt sowohl dem alten Substanzmodell, seinen Konsequenzen für die Funktion des Denkens und des Körpers als auch dem neuen Materiebild nach, das Lyotard aus den technologischen Entwicklungen ableitet. Nu vain Ebenso wie die anderen Wege auch folgt der matériau-Weg der Logik »vom Körper zur Sprache«. Lyotard stellt in den ersten Stationen des
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Weges Fragen an den »Rohstoff Körper« und untersucht, was passiert, wenn man ihn auf seine Materialität reduziert. Dies impliziert die Frage, ob es einen »natürlichen« Zustand des »Rohstoffes Körper« überhaupt geben kann und wenn ja, ob sich zwischen ihm und seiner materiellen, sozialen und seelisch-geistigen Umgebung Grenzverläufe ausmachen lassen. Mit dem mât-System formuliert: Welche Nachrichten schreiben wir wie in ihn ein oder mittels seiner fort? Ein kurzer Text im Petit Journal führt summarisch in die zur Kopfhörerprogramm-Zone 4 zusammengefassten ersten drei Stationen des Weges ein: »Die Abgrenzungen des Körpers: Beschränkt durch die ›sexuelle Identität‹, durch die Hülle der natürlichen Haut? Und der minimale Körper: absurd bei der Schaufensterpuppe, nichtig und ehrenvoll beim Deportierten.«7 Auch die Textfragmente von Antonin Artaud und Dolores Rogozinsky, die in dieser Zone über Kopfhörer zu hören waren, beziehen sich auf den Körper. Artaud sucht nach einer Art minimaler sinnlicher Gewissheit, die wie ein Analogon zu Descartes’ Zweifel einen wenn auch schwankenden Haltepunkt bieten kann: »Aber es gibt eine Sache / die etwas ist / eine einzige Sache / die etwas wäre / und die ich spüre / weil sie / HERVORTRETEN will: / die Präsenz / meines körperlichen / Schmerzes.«8 Sein Selbstgespräch besteht ähnlich wie das von Becketts Figur aus dem Théâtre du non-corps aus einem Fluss zirkulärer Gedanken, geht aber in der Hinterfragung der eigenen Identität nicht ganz so weit. Artaud äußert deutliche körperliche Empfindungen, immer wieder ist in dem kurzen Ausschnitt davon die Rede, dass ihn seine Fragen bis zur äußersten körperlichen Belastbarkeit bedrängen: »und dieser Punkt / ist erreicht / wenn man mich bedrängt / wenn man mich auspreßt / [...] und was bleibt? / dass ich erstickt, sprachlos bin«.9 Der Ausgang des Ringens ist die Negation, die Absenz, die Nichtigkeit der Fragen, und schließlich auch des Körpers: »weil mein Körper / niemals berührt wird«.10 Rogozinski hingegen reflektiert über das Geschlecht, das den Menschen eine Identität aufzwänge: »Als auf die sehr alte Rasse des Menschen der göttliche Zorn fiel. Und dass Zeus entschied, sie in zwei zu Petit Journal, S. 4. Artaud, zit. nach ebd. Die Übersetzung stammt von Elena Kapralik und wurde 1980 im Matthes & Seitz Verlag veröffentlicht, dort befindet sich der hier zitierte Ausschnitt auf S. 23. Dieser Text entstand als Radiobeitrag mit dem Titel Pour en finir avec le Jugement de Dieu im Jahr 1947 und wurde 1973 zum ersten Mal gesendet. 9 Artaud, zit. nach Route: Zones & Sites, S. 3. Ich zitiere hier Artaud 1980, S. 24. 10 Ebd.
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schneiden. [...] Mein Körper kommt von meinem Körper, er hat sich im Geschlecht vertan.«11 Die Differenz zwischen den Geschlechtern spielt bei Lyotard immer wieder als ein Unhintergehbares und Begehren Auslösendes eine große Rolle, weil der Körper dadurch dem vereinheitlichenden Zugriff des »alles spricht« konstitutiv entzogen bleibt. In Ob man ohne Körper denken kann spricht Lyotard von der »unauf-hebbaren [sic] Transzendenz, die dem Körper durch den Unterschied der Geschlechter eingeschrieben ist«.12 Dieser Unterschied »läßt unendlich denken, aber er läßt sich nicht denken«.13 Er mache »das Prinzip des Einsseins [...] zunichte«14 und gebe als »den Geschlechtern verborgener [Unterschied] unendlich Anlaß zum Denken«.15 Lyotards Konsequenz daraus ist: »Das Denken läßt sich nicht vom phänomenologischen Körper absetzen.«16 Ähnlich Rogozinski in ihrem Text im Kopfhörerprogramm: »Da das Geschlecht, männlich oder weiblich, Dich jetzt entzweit und bindet. [...] Lerne dann, dass vielleicht kein Körper jemals gegeben war. Dass Dein Körper schon eine Prothese war, dem Unmöglichen prostituiert. Dass das Unbekannte Dich anfleht. Das Geschlecht, genannt, durch den anderen.«17 In dem Moment, in dem die Besucher die Zone 4 betraten und diese nicht ganz leicht zu verstehenden Texte hörten, befanden sie sich direkt vor der ersten Station des Weges. Falls sie sich im Petit Journal über die Zone 4 informiert hatten, überlagerten sich die provokante These aus der Saalzeitung, die schwierigen Verse aus den Kopfhörern und eine drastische szenographische Inszenierung – selten war Les Immatériaux so düster, so rätselhaft, so schockierend wie hier.18 Ein »Wald aus zwölf asexuellen Gliederpuppen«19 befand sich vor einer schräg in die hintere Ecke des Raumes hineingehängten Leinwand und hinter einem der metallenen Gitter, die in der Ausstellung als Trennwände benutzt wurden. Die identitäts- und kleidungslosen Puppen aus einem dunklen gummiartigen Material baumelten von der Decke herab, sie waren für Les Immatériaux extra angefertigt worden. Ihre Körperformen waren stilisiert, sie hatten we11 12 13 14 15 16 17 18 19
Rogozinski, zit. nach Petit Journal, S. 4. Lyotard 2001b, S. 35. Ebd., Hervorhebung im Text. Ebd. Ebd. Ebd. Route: Zones & Sites, S. 4. Vgl. die Abbildung auf dem Buchumschlag. Inventaire zu Nu vain. Anscheinend wurden nur sieben Puppen tatsächlich aufgehängt: »Au premier plan, dans la cage, sont pendus sept mannequins nus, en baudruche, gris.« Cournot 1985, o.S. 124
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der Geschlechtsmerkmale noch Gesichter noch Haare. Einige hatten einen Arm angewinkelt oder hielten die Arme vor dem Köper gekreuzt, und eine eigenartige Spannung schien die Körper davor zu bewahren, sich vollständig der Schwerkraft hinzugeben – ihre Füße waren angespannt und hingen nicht einfach schlaff herunter. Die große Zahl der völlig identischen Puppen erzeugte einen Eindruck von Austauschbarkeit und Gleichförmigkeit, die Dunkelheit und das Metallgitter gaben der Szenerie etwas Unheimliches. Auf die Leinwand wurde abwechselnd ein Teil des Films Monsieur Klein des amerikanischen Regisseurs Joseph Losey aus dem Jahr 1976 und ein Bild eines Deportierten aus dem zweiten Weltkrieg projiziert. Mit Alain Delon in der Hauptrolle zeigt der Film Loseys einen skrupellosen Kunsthändler, der vom An- und Verkauf des Besitzes von in die Flucht getriebenen Juden während des zweiten Weltkrieges in Paris lebt. Durch eine Zeitung, die er eines Tages vor seiner Tür findet und die an einen ihm unbekannten jüdischen Namensvetter adressiert ist, bricht in sein gut funktionierendes Leben die Angst ein, er könne von der Gestapo mit diesem als Widerstandskämpfer untergetauchten Mann verwechselt werden. Er wird vom Täter zum Opfer und verliert seine Identität, indem er auf seiner Suche nach Klein immer weiter in dessen Leben eindringt und dabei sein eigenes immer mehr hinter sich lässt. Über die Fotografie des Deportierten verrät das Inventaire nur, dass sie aus dem Centre de Documentation Juive Contemporaine stammt, einem Archiv zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Juden in Frankreich im 20. Jahrhundert. Der Eigenname, der in dem Film als Chiffre für die Identität des Menschen steht, spielt bei Lyotard, vor allem in Der Widerstreit, eine große Rolle. Nicht einmal sein Name, so impliziert die Geschichte von Monsieur Klein, ist als Instanz der Identitätsversicherung unantastbar: »Forderung und Illusion der Metaphysik: daß die Namen Eigennamen sein müssen, daß ein Gegenstand der Welt unfehlbar auf sein Zeichen (seine Bezeichnung) in der Sprache antwortet. Wie wäre sonst, sagt der Dogmatismus, wahrhafte Erkenntnis möglich?«,20 schreibt Lyotard in Der Widerstreit. Monsieur Klein fällt aus dieser Struktur von Zuschreibungen heraus und wird tatsächlich existentiell bedroht. Über diesen Nexus hinaus, der nur Lesern von Lyotard aufgefallen sein dürfte, hatte der Film eine zweite, offensichtlichere Bedeutung, da er einen Arzt zeigt, der krude den nackten Körper einer Frau inspiziert: »Un film projeté sur le grillage, au fond, montre une femme debout, sans vêtement, assez âgée, examiné par un homme en blouse blanche: il lui inspecte les gencives,
20 Lyotard 1989, S. 73 (Nr. 55). 125
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l’intérieur des narines, comme un maquignon qui examine une bête. La femme exprime un peur.«21 Zusätzlich zu Film und Bild in der Ausstellung sind im Inventaire vier Fotografien eines Pioniers der Bewegungsfotografie, Eadward Muybridge, abgebildet – je zwei Aufnahmen eines stehenden nackten Mannes und einer auf den Fotografen zulaufenden nackten Frau. Sie stammen aus dem Buch Animal Locomotion mit Bildserien von Tieren und Menschen in Bewegung von 1887 und setzten die kühl-analytische Examinierung des Körpers fort, die durch den Film eine Kontextualisierung mit der Shoa erfährt. Das komplexe Ensemble aus Selbst- und Fremdzuschreibungen, aus materiellen und ideellen Festlegungen, das wir für unsere Identität halten, wird in Nu vain als schwache Konstruktion erkennbar, die durch einige wenige Dekontextualisierungen ins Wanken gerät. Der Körper wird durch die verschiedenen Aspekte der Station als ein von allen individuellen Definitionen abstrahiertes Materielles gezeigt: Die Puppen verfügen über keinerlei persönliche Körpersprache, der wie ein Tier inspizierten Frau wird jeglicher Respekt verweigert, die Figuren von Muybridges Aufnahmen dienen lediglich der Analyse ihrer Bewegungsfolgen und spielen als Persönlichkeiten keine Rolle. Der Text von Artaud suggeriert, dass die Selbstwahrnehmung des Körpers, als eine der intimsten Bastionen gegen den Verlust der Identität als Mensch, auf Empfindungen von Schmerz und Bedrängung reduziert wird. Der Text im Inventaire zeigt diesen assoziativen Rahmen auf: »Der entblößte Körper. Nacktheit als Grenze des Sinns, als absurde Präsenz. Fleisch wird ersetzt durch neutrales Material, messbar, vervielfältigbar, registrierbar.« 22 Sowohl in den Bild- und Filmprojektionen als auch durch die leblosen Puppen wird der Körper als Rohstoff, als »nackte Substanz« präsentiert. Nu vain stellt somit dar, wie verletzlich ein Körper ist, wenn man ihn der ihn üblicherweise umgebenden – und schützenden – sozialen und kulturellen Zuschreibungen beraubt. Der nackte, ungeschützte, »minimale« Körper, der Messungen, Untersuchungen und Eingriffen unterworfen wird, ist keine Person mehr, sondern Objekt dieser enthumanisierten Examinationen. »Je sens la violence exercée sur le corps«,23 schreibt Perraton in der Evaluation von Les Immatériaux über Nu vain. Er war, so berichtet er, gegen den Strom der Besucher als erstes in den dritten Weg gegangen und wurde dort von der Station Habitacle so unangenehm berührt, dass er umkehrte und doch wie alle anderen mit dem ersten Weg
21 Cournot 1985, o.S. 22 Inventaire zu Nu vain. 23 Perraton 1986, S. 16. 126
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begann. Aber auch dessen erste Stationen seien »schwer zu schlucken«,24 so dass Perraton, und mit ihm die anderen Besucher, Lyotards radikaler Infragestellung des Körpers nicht entkommen konnte. In einem Interview umriss Lyotard, welches Ziel er mit dieser drastischen ersten Station verfolgte: »[...] des extraits du film Monsieur Klein signifiaient cet adieu à l’horizon d’émancipation de l’humanité auquel nous avons cru«.25 Die Konzentrationslager sind für Lyotard ein Symbol für das Grauen, in das die moderne Illusion der Kontrolle führen kann. Sie dienen in Der Widerstreit dazu, seine Theorie von den Sprachspielen mit einer unbedingten Verteidigung der Diskurspluralität zu begründen: Auschwitz als »Chiffre des Nicht-Darstellbaren«26 müsse dazu verleiten, »das Wagnis auf sich zu nehmen, auch dem Gehör zu schenken, was im Rahmen der Regeln der Erkenntnis nicht darstellbar ist.«27 Was also nach den Regeln der Sprache und der Kommunikation nicht ausgesprochen werden könne, ein Gefühl nämlich, dass ein Unrecht geschehen sei. Deuxième peau Auch die beiden folgenden Stationen, die zur Zone 4 gehörten, thematisierten den »Rohstoff« menschlicher Körper. Deuxième peau stellte die räumliche Grenze des biologischen Körpers in Frage, eine Größe, die in Nu vain noch als materieller Orientierungspunkt festzuliegen schien. Deuxième peau ging einen Schritt weiter, indem gezeigt wurde, wie in den Rohstoff Körper eingegriffen und seine – scheinbar? – natürliche Materialität manipuliert werden kann. Es ging also hier, um mit Rogozinskis Text aus dem Kopfhörerprogramm zu sprechen, darum, dass »vielleicht kein Körper jemals gegeben war«, was nicht so sehr darauf abzielte, den Körper generell als Konstrukt zu enttarnen, sondern deutlich machen sollte, dass es die Ursprünglichkeit, die Natürlichkeit nicht geben kann, die im Rekurs auf den Körper und vor allem auf die sinnliche Wahrnehmung als Instanz des Weltzuganges liegt. Die Station zeigte verschiedene Proben künstlicher Haut, die eingeschweißt und ansehnlich gerahmt nebeneinander an einer Metallgitterwand präsentiert wurden. Die Hängung dieser »Bilder« wie eine Serie autonomer Kunstwerke stand in krassem Kontrast zu dem, was sie beinhalteten: synthetische Haut, Kollagenfilme, Zellkulturen vom Schwein oder Hautprothesen zur Verpflanzung am eigenen Körper. Außerdem gab
24 Vgl. Perraton 1986, S. 16. 25 Ohne Autorenangabe 1997, S. 21. 26 Reese-Schäfer, Walter (1995): Lyotard zur Einführung. Überarb. Neuausg., 3. Aufl. Hamburg 1995, S. 77. 27 Der Widerstreit, S.107, zit. nach ebd. S. 76. 127
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es eine Vitrine mit Petrischalen, in denen eine Kultur mit menschlichen Hautzellen angelegt war.
Abb. 9: Die Abbildung zu Deuxième Peau (Inventaire). Kontrastierend zu diesen Prothesen waren ein Astronautenanzug und eine geöffnete camera silens, eine vollkommen schall- und lichtisolierte Kammer, zu sehen. Beides sind Umräume für den Körper, die ihn vollständig umfangen und von der Außenwelt in besonders konsequentem Maß abschirmen, »künstliche Umhüllungen, die es erlauben, die Grenzen der Haut zu verschieben«,28 wie Lyotard im Inventaire schreibt. Im Fall des Astronautenanzuges dient diese Abschirmung dem Schutz vor Bedingungen, unter denen der menschliche Körper nicht lebensfähig ist, die camera silens wurde 1970 in Hamburg für Forschungen zur sensorischen Deprivation entwickelt und isoliert den Körper vollständig von der Außenwelt. Das Thema von Innerem und Äußerem wird in Deuxième peau also aus verschiedenen Blickrichtungen examiniert: Wie weit kann man die äußere Grenze des Körpers manipulieren, ohne dass er seine Ganzheit verliert? Wie different darf der Körper von seiner unmittelbaren Umgebung sein, um ohne Hilfe überleben zu können? Und was geschieht mit dem Körper, wenn er von allen üblichen äußeren Reizen ferngehalten wird? Diese Fragen klingen im Inventaire an, wo Lyotard den Zusammenhang zwischen medizinischer Forschung und derlei anthropologisch-philosophischen Fragen aufzeigt, auf den er mit Deuxième peau hinaus will: 28 Inventaire zu Deuxième peau. 128
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»Die Haut als erstes Kleidungsstück. Hülle, die den Körper vor dem Außen schützt und so die Gegensätze Innen/Außen erzeugt. Prothesen der Haut ersetzen diese Grenze. Wo fängt das Außen an?«29 Das Inventaire zeigt ein Foto von zwei Händen, die mit Pinzetten ein durchsichtiges, rosafarbenes Stück Haut aus einer Petrischale hochheben und dem Betrachter des Bildes präsentieren. Mit der medizinischen Überschreitung der Grenzen des Körpers löst sich die Gewissheit auf, so kann man Lyotard hier verstehen, einen sicheren Bezugspunkt zu haben, von dem aus sich eine Identität empfinden und festlegen ließe. Die materielle Grenze zwischen Innen und Außen verliert ihre Selbstverständlichkeit und wird durch Spielräume der Zuschreibung ersetzt.30 L’ange L’ange, die dritte Station des Weges und der Zone 4, hatte das Verhältnis von biologischen und kulturellen Aspekten des Körpers zum Thema. Sie ist eine der wenigen Stationen, deren Autorin bekannt ist – Martine Moinot, die Koordinatorin der Vorbereitungen der Ausstellung, hat sie erarbeitet.31 Im Zentrum von L’ange stand eine Installation aus je zwei männlichen und weiblichen Gipsköpfen, die zwei heterosexuelle Paare bildeten. Jedes Paar blickte sich durch eine Glasscheibe hindurch an, die beiden Paare waren voneinander durch ein Metallgitter getrennt. Bei einem Paar bestand die Glasscheibe aus zwei spiegelnden Seiten, so dass jeder Kopf sich selbst spiegelte, »ein narzisstischer Blick, dem das Be-
29 Inventaire zu Deuxième peau. 30 Dieser Gedanke scheint ein spätes Echo von Lyotards Buch Die Ökonomie des Wunsches von 1974 zu sein, das einige Parallelen zu Gilles Deleuzes und Félix Guattaris 1972 erschienenem Werk Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie aufweist. Gehring fasst eine der zentralen Denkfiguren von Die Ökonomie des Wunsches wie folgt zusammen: »Innen und Außen entpuppen sich in Lyotards Bild folglich als ein Einerlei unendlicher Oberflächen; noch die Vorstellung der ›Öffnung‹ ist eine Fiktion« (Gehring 1994, S. 210). 31 »Moinot interviewed transsexuals and compiled a bibliography […]. By her own admission, her Ange site theoretically summarizes the theses of two books quoted in the bibliography, Robert Stoller’s Sex and Gender and Janice Raymond’s The Transsexual Empire.« Hudek 2001, S. 18. In der großen Menge an Meta-Informationen über Les Immatériaux gibt es kaum derlei konkrete Zuordnungen, wodurch einerseits die Frage der Autorschaft generell in den Hintergrund tritt, andererseits aber Lyotard zu einer Art Über-Autor wird, weil nahezu alle Rezensenten, Interviewer und Wissenschaftler ihm alles zuschreiben. 129
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gehren für den anderen fehlt.«32 Bei dem anderen Paar war die Glasscheibe durchlässig, so dass sich die Reflektion des einen Kopfes mit der Sicht auf den anderen Kopf überlagerte, beide also ineinander abgebildet wurden. Köpfe und Spiegel waren auf etwa 15 cm dicke, an Drahtseilen hängende Platten montiert.
Abb. 10: Das Tableau von Klonaris/Thomadaki (Inventaire). Um diese zentrale Installation herum hingen verschiedene Fotografien an den die Station begrenzenden Wänden. Ein Großteil dieser Bilder war zwei Zyklen von Maria Klonaris und Katharina Thomadaki entnommen, radikalfeministischen Medienkünstlerinnen und Experimentalfilmerinnen, die sich während ihrer Studienzeit in Athen kennen lernten und seit 1975 in Paris als ›Doppelautorin‹ zusammen leben und arbeiten. Die Auszüge aus Hermaphrodite endormi/e (1982) und Orlando-Hermaphrodite II (1983) zeigen Brustbilder und Portraits androgyner Personen, die stark geschminkt und mit Anzug, Krawatte und Sonnenbrille bekleidet mit Masken spielen und sich gegenseitig anblicken. Fragmentiert, gespiegelt und übereinander projiziert sind sie zu einem mehrere Meter langen schwarz-weißen Tableau zusammengesetzt. Sie wirken wie eine Verbildlichung der Szenen, die in den Köpfen der Besucher beim Betrachten der Gipsköpfe entstanden sein mögen. Als gleichsam historisches Echo auf die Titel der Zyklen hing eine weitere Fotografie isoliert am Rand der Station: etwa auf Augenhöhe der Besucher ragte ein schwarz-weißes Foto der hellenistischen Statue Schlafende Hermaphrodite aus dem Louvre, der der Barockbildhauer Gianlorenzo Bernini eine Matratze hinzugefügt hat, in den Raum hinein. Lediglich Oberschenkel und Rumpf der sich räkelnden Figur, deren Pose den Blick auf ihren Penis und ihre Brüste freigibt, sind auf der Aufnahme zu sehen. Schließlich gehörte ein weiteres Kunstwerk, das in keiner der vorliegenden Abbildungen aus der Ausstellung zu sehen ist und daher nicht genau lokalisiert werden kann, zu Deuxième peau. Es trägt den Titel
32 »[…] regard narcissique où le désir de l’autre est absent«, ohne Autor, Box 94033/669 Archiv des Centre Pompidou. 130
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Schwanger und stammt von Annegret Soltau, einer Darmstädter Künstlerin, von der als einziger zeitgenössischer Künstlerin zwei Werke in Les Immatériaux vorkommen. Es besteht ebenfalls aus zu einem Tableau zusammengesetzten Fotografien und ist 156 x 186 cm groß. Insgesamt 135 Einzelbilder sind in neun Reihen angeordnet, jede Reihe steht für einen Monat der Schwangerschaft. Jeweils in der Mitte einer jeden Reihe befindet sich eine Aufnahme einer frontal zur Kamera positionierten nackten Schwangeren. In der ersten Reihe ist ihr ganzer Körper zu sehen, je weiter in den folgenden Reihen die Schwangerschaft fortschreitet, desto größer wird ihr Bauch und desto kleiner wird der abgebildete Ausschnitt ihres Körpers. Wie mit einer Lupe konzentriert sich der Blick also immer stärker auf den Bauch, das Kind, das Schwangersein, und immer weniger auf die Frau als Person, bis in der letzten Reihe nur Bauch und Schamhaare sichtbar sind. Jede dieser Frontalaufnahmen wird rechts und links von sieben Bildern flankiert, auf denen die Schwangere von der Seite aufgenommen wurde. Ihre Blickrichtung geht von der Mitte weg, und ebenso nehmen Verfremdungen und Zerstörungen der Bilder von innen nach außen zu. Soltau arbeitet in diesem Tableau, wie in vielen ihrer Arbeiten, mit Schnitten und Rissen, die sie den Abzügen zufügt, so dass die äußersten Bilder jeder Reihe nur noch aus abstrakt-verwirbelten HellDunkel-Strukturen zu bestehen scheinen. Schwangerschaft wird in dieser Arbeit also als etwas entindividualisierendes und den Körper zerstörendes dargestellt, das zugleich zu einer Reduktion der schwangeren Frau auf ihren Bauch und die Funktionen ihres Körpers führt. Lyotard ging die sensiblen Themen von geschlechtlicher Identität und Schwangerschaft mit Mitteln der Kunst an. In der dichten Inszenierung, die durch die vielen Spiegelungen sowohl anhand der real im Raum befindlichen Objekte als auch bildlich innerhalb der Tableaus mit poetischen Mitteln den Blick der Besucher aufnahm, wurde deutlich, wie abhängig die Zuschreibungen von Geschlecht und Identität von dem – im wahrsten Sinne des Wortes – Blickwinkel sind, mit dem sie gesehen werden. Der Hermaphrodit stand auf zweifache Weise für dieses Thema: einerseits als Symbol für die ideale Co-Präsenz beider Geschlechter in einem Körper und andererseits als dasjenige, das weder männlich noch weiblich ist, das Neutrum, dem eine wichtige Zuschreibung fehlt. Lyotard versteht diese mythologische Figur als Symbol für das Begehren, das »dem Denken, nicht nur dem analogischen Denken, entzogen«33 ist. Er sieht in Ob man ohne Körper denken kann die Gefahr, »daß es Technik und Wissenschaft dem Denken langsam beibringen, jene Spannung auszublenden, die zu seinem Wesen gehört«. Diese Gefahr will er mit den
33 Lyotard 2001b, S. 33. 131
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ersten Stationen des ersten Weges aufzeigen, die von der technologischen Beherrschbarkeit nicht nur des Geschlechterunterschiedes, sondern des Körpers insgesamt Zeugnis ablegen: »Il rappelle au contraire que le désir est clivé, que l’opposition masculin/féminin est constitutive. Tout le début de l’exposition pèse ainsi dans le sens d’un rappel du prix en oubli que fait payer cette métaphysique qui s’appelle technologie.«34 Corps chanté Die vierte Station des ersten Weges, Corps chanté, war eine der beliebtesten der gesamten Ausstellung35 und die einzige in der Zone 5. Aus rund 100 Videoclips zu aktuellen Popsongs36 isolierten die Filmemacher Christophe Bargues und Jean-Paul Fargier einzelne Sequenzen und kombinierten sie miteinander. Die so entstehende Arbeit von 33 Minuten Länge hieß Clips à la loupe und wurde auf drei großen Videomonitoren gezeigt, die etwa 1,5 Meter über dem Boden hingen. Über die Kopfhörer waren die Popsongs zu hören, was Corps chanté zu einer der wenigen Stationen machte, wo Klang und Bild unmittelbar zusammengehörten. Das Inventaire beschreibt Corps chanté wie folgt: »Neues Genre: Der Clip, der sich selber schreibt. Die Bilder vom Körper des Sängers, seiner Partner, des Bühnenraumes, werden ausgeschnitten und nach den Vorgaben der Melodie und des Rhythmus’ wieder montiert.«37 Der Musikclip, ein mit der Verbreitung der Videotechnik Anfang der 1980er Jahre neu entstehendes Genre, das mit Musiksendern wie MTV zu großer Verbreitung fand, ist eine Art Kurzfilm zu einem Stück der populären Musik. Im Dossier Clip38 analysieren Bargues und Fargier dieses neue Genre und stellen fest: »Le succès du clip ne tient pas seulement à sa brièveté, mais aux manières nouvelles de faire court, d’être bref, qu’il
34 Lyotard im Interview mit Levy 1985, S. 3. 35 Vgl. Heinich 1986. Dies war allerdings gar nicht so sehr in Lyotards Interesse: »Il y a quelques sites où il y a de la fascination: celui des vidéo-clips où le public statonne [sic]. Ce site là est fascinant, et pédagogique. […] En général, nous avons evité d`être fascinants.« Lyotard im Interview mit Levy 1985, S. 3. 36 U.a. von David Bowie: Let’s Dance, Kate Bush: Babooshka, Duran Duran: The Reflex, Frankie goes to Hollywood: Two tribes, Pat Benatar: Love is a Battlefield, Rolling Stones: Under Cover of the Night, Queen: I want to break free, Eurythmics: Love is a Stranger, Depeche Mode: People are People, Laurie Anderson: Sharky’s Day, U2: New Year’s Day, Elton John: Sad Song, Devo: Peek a Boo. Eine Liste mit 57 Stücken befindet sich im Archiv des Centre Pompidou, Box 94033/236. 37 Inventaire zu Corps chanté. 38 Box 94033/234. 132
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a inventées.«39 Die selbst für einen Kurzfilm ungewöhnlich kurze Dauer von etwa drei bis fünf Minuten, so die Autoren, zwinge den Clip zu neuen Methoden der Verknüpfung von Bild und Musik, die sich vor allem auf den Körper des Sängers bezögen: »Dans le clip, le corps du chanteur a non seulement le pouvoir d’être partout à la fois, mais aussi celui d’accomplir plusieurs actions, plusieurs destins dans le même temps.«40 Bargues und Fargier stellen in ihrem Dossier Clip, das zur Vorbereitung dieser Station diente und sich im Archiv des Centre Pompidou befindet, ihre Untersuchung von Objekten, Orten und Personen, die besonders häufig in Clips vorkommen, dar. Jede der über 100 Kategorien, die so entstanden – z.B. Verdoppelung, Tanz, Schmuck, Krieg, Saxophon, Verlangsamung, Selbstmord, Ballon, Sonnenbrille, Kind, Muskeln, Doppelbelichtung, Uhr – wurden für den in Les Immatériaux gezeigten Film mit vier oder fünf kurzen Beispielen illustriert. Dabei ist ein ästhetisches Leitprinzip des Clips, dass nicht nur der Körper als Ort entmaterialisiert wird, wie in den Stationen Nu vain, Deuxième peau und L’ange, sondern auch seine Handlungen – seine Kontinuität in der Zeit und seine Wirkungen auf seine Umgebung also. Im Petit Journal weist Lyotard auf diese Ausweitung hin: »Nicht mehr die Musikstücke im Körper und des Körpers (Zonen 1 und 2), sondern der Körper und seine Umgebungen, zerlegt und zerstückelt dank der Videoakrobatik, um die Musik besser mit der Show zu verbinden. Von der Bühne zum Bildschirm, der dematerialisierte Körper des Sängers.«41 Diese Losgelöstheit des Körpers sowohl vom Text des Stückes als auch vom Akt des Singens, aber auch von den übrigen Bestandteilen des Clips (wie der Dekoration, anderen Personen, einer eventuellen Handlung etc.) ist paradigmatisch für Musikvideos. Deren zentrales Merkmal ist die Dissoziation, die auch Bargues und Fargier in ihrem Text als grundlegend ansehen. Bildliche und musikalische Strategien werden im Clip einander angeglichen, vermischt, gegeneinander in Anschlag gebracht, kurz: Musik und Film können nicht länger als verschiedene Gattungen gelten, sondern inkorporieren Strategien des jeweils anderen. Ebenso verfährt der Clip mit Kategorien wie Livemusik und Aufzeichnung, Realzeit und repräsentierter Zeit, Wirklichkeit und Fiktion, Erzählung im Song und Erzählung des Songs durch den Clip, mit unterschiedlichen Sehgewohnheiten und Medienrezeptionsweisen. Er war eine zur Zeit von Les Immatériaux junge Kunstform, die in sich einige der von Lyotard für die informatisierten Gesellschaften beobachteten Parameter 39 Box 94033/234, S. 1, Archiv des Centre Pompidou. 40 Ebd., S. 11. 41 Petit Journal, S. 4. 133
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exemplarisch versammelt, wie Bargues und Fargier analysieren: »Le clip est contemporain de la découverte du vide entre les atomes, du cyclotron où l’on accélère les particules. Le clip est contemporain des circuits imprimés, de la puce électronique. Le clip est contemporain du mini-ordinateur, de la calculatrice de poche, du stylo-montre à quartz. Le clip est contemporain aussi de la fast-food.«42 Auch Charles Perraton reflektiert in seinem Text in der Evaluation von Les Immatériaux darüber, dass Corps chanté als pars pro toto für die gesamte Ausstellung gesehen werden kann: »Ce site m’aide à comprendre ce que je fais depuis mon arrivée à l’exposition. Ici, je combine, connecte et inter-relie – non pas tant les choses en montre que les questions qu’elles laissent naître.«43 Corps éclaté Wer auf dem matériau-Weg weitergehen wollte, musste nach diesen ersten vier Stationen einen langen Gang durchqueren, in dem sich die Station Tous les bruits vom zweiten Weg befand. Die hinter der Unterbrechung liegende fünfte Station des ersten Weges, Corps éclaté, zeigte fünf etwa zwei Meter hohe und 70 Zentimeter breite, schräg hintereinander gestaffelt hängende Poster. Lief man, von Tous les bruits kommend, an ihnen entlang, wurde man visuell immer tiefer in den menschlichen Körper hinein geführt: Das erste Poster zeigte den ganzen Körper, dargestellt mit freigelegten Muskeln und Knochen, weitere zeigten einzelne Organe und Gewebe, auf dem fünften war eine Explosionszeichnung einer Zelle zu sehen. Die Poster hingen vor einem Spiegel, der den Raum vergrößerte und durch die Spiegelung der Posterreihe die Serialität der Anordnung verstärkte. Die Zeichnungen stammten von Denis Horvath, der auch für das große französische Konversationslexikon Grand dictionnaire encyclopédique Larousse arbeitete, und waren Abbildungen ähnlich, die im Schulunterricht verwendet wurden44 – die Besucher kannten diese Art der bildlichen Darstellung also. Innerhalb von Les Immatériaux waren die Zeichnungen allerdings ein überraschend altmodisches Medium und konterkarierten die Technologielastigkeit der vorhergehenden Stationen. Sie hatten jedoch eine Aufgabe, die kein anderes Medium zu jener Zeit übernehmen konnte, da die technischen Möglichkeiten zur Herstellung von Computergrafiken noch recht beschränkt waren: Corps éclaté nutzte das Medium der Zeichnung, um Mikrostrukturen, die in dieser Klarheit im Mikroskop nicht sichtbar sind, fiktional zu verdeutlichen und 42 Box 94033/234, S. 18, Archiv des Centre Pompidou, Text von Christophe Bargues und Jean-Paul Fargier. 43 Perraton 1986, S. 16. 44 Für diesen Hinweis danke ich Martine Moinot. 134
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die vielen kleinen Ausschnitte, die im Mikroskop zu sehen sind, in eine große Ansicht zu synthetisieren.
Abb. 11 Explosionszeichnung (Inventaire). Das Inventaire informiert über Corps éclaté: »Die Anordnung gibt einen Eindruck des fortschreitenden Verschwindens des ›Körpers‹ in seiner scheinbaren Einheit, dort, wo die universelle ›Sprache‹ der Makromoleküle freigelegt wird.«45 Das, was wir als Körper empfinden, als Einheit, als selbstverständlich identisch mit sich selbst, besteht, so argumentierten die Zeichnungen von Corps éclaté, aus einer Vielzahl voneinander unterscheidbarer Einzelteile. Auf dieser Erkenntnis beruhte die Reise in den Körper, indem sie den Maßstab der Beobachtung soweit verkleinerte, bis Zellen und Moleküle sichtbar gemacht werden konnten, die mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmbar waren. Aber entgegen des visuellen Arguments, das auf jeder neuen Mikroebene wieder neue substanzielle Ganzheiten vorführte, wollte Lyotard auf einen solch materialistischanalytischen Körperbegriff nicht hinaus, wie sein Text aus dem Inventaire zeigt. Es ging ihm vielmehr, und daher hätte Corps éclaté auch gut zum zweiten Weg gepasst, der sich mit dem Code der Nachricht beschäftigt, um die »universelle ›Sprache‹ der Makromoleküle«, die als Erklärungsmodell an die Stelle der »scheinbaren Einheit« des Körpers trete. Der kurze Ausschnitt aus Marcel Prousts Die Welt der Guermantes, der im Kopfhörer zu hören war und der zur Zone 6 gehörte, nahm die durch die Poster regelrecht verkörperte Wanderung des Blickes und das sich dadurch verändernde Verständnis des gesehenen Objektes auf: Proust beschreibt, wie er, sich mit dem Mund der Wange seiner Gelieb45 Inventaire zu Corps éclaté. 135
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ten Albertine nähernd, plötzlich ihren Hals direkt vor sich sieht und wie dessen Grobheit seine Wahrnehmung von Albertines Gesicht beeinflusst. Der gesprochene Text erweitert die Station um eine epistemologische Facette: er zeigt beispielhaft und poetisch auf, wie sich sowohl Wahrnehmung als auch Erkenntnis über das Wahrgenommene verändern, wenn ein bisher nicht verfügbares Wissen zu dem Gefüge aus Sinneseindrücken und Wissen hinzukommt. Der menschliche Körper, so kann man die Analogie von Prousts Reflexionen zu den fünf Postern fortspinnen, erscheint von außen als Einheit und ist doch etwas ganz anderes, das Materielle ist also keineswegs das, als was es unseren Sinnen erscheint. Lyotards Einführung im Petit Journal zu Corps éclaté und den beiden anderen Stationen der Zone 6, »Infra-Mince« und Surface introuvable, zielt auf die Fallen, die uns die Wahrnehmung stellt. Bei näherem Hinsehen, so argumentieren alle drei Stationen, verschwinde die Einheit, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung zu sehen meinen: »Bei starker Vergrößerung verwandeln sich die Oberflächen in belebte Reliefe, ihr Fleisch löst sich in staubfeine Zellen auf. Die Kunst gibt den sichtbaren Anschein für die nicht fassbare Erscheinung auf. Was Duchamp das ›InfraMince‹ nannte.«46 »Infra-Mince« Zur darauf folgenden Station, »Infra-Mince«, wurde man vom Ende der Posterreihe aus nahezu automatisch geführt – auf Höhe des letzten Posters befand sich der Übergang zwischen beiden Stationen. »InfraMince« hatte einen Begriff von Marcel Duchamp zum Titel, der das Beinahe-nicht-mehr, das Super-Dünne, das nahezu Immaterielle bezeichnet und war eine der Stationen, die Kunstwerke wie in einer Galerie als autonome Werke präsentierte: In einem kleinen, nahezu quadratischen Raum mit zwei einander gegenüber liegenden Durchgängen bot die Station genug Hänge- und Stellfläche, um vier Kunstwerke von vier Künstlern auszustellen. Trotz dieser traditionellen Präsentationsform waren die Arbeiten in einen theoretischen Horizont eingebunden, der »Infra-Mince« in Bezug zu den vorherigen Stationen und den Fragestellungen von Les Immatériaux setzte. Lyotard fasst im Inventaire zusammen: »Eine geheime Erscheinung unter dem Anschein. Der Künstler verfolgt das Ereignis in seinem ungreifbaren Charakter. Das visuelle Werk wird Zeuge des Unsichtbaren im Sichtbaren.«47 Stand bei den ersten Stationen des Weges der Rohstoff ›Körper‹ im Vordergrund, dessen Materialität, Geschlossenheit und Einheitlichkeit auf verschiedene Weisen in Frage gestellt wurde,
46 Petit Journal, S. 4. 47 Inventaire zu »Infra-Mince«. 136
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geht es nun um die Relation von Substanz und Gehalt in der Kunst. Lyotards Text im Inventaire klingt wie eine Kondensation seines Kunstbegriffs, dessen zentrales Moment das Bemühen der Kunst um das Ungreifbare, das sich Ereignende und zugleich sich Entziehende darstellt. Gezeigt wurden Arbeiten von Marcel Duchamp, Yves Klein, Giovanni Anselmo und Thierry Kuntzel. Ihnen ist die Verwurzelung in einem Kunstbegriff gemeinsam, der den Wert des Kunstwerkes vom Wert seiner materiellen Substanz entkoppeln will. Der Rückgriff auf ephemere, wertlose oder gar völlig immaterielle »Rohstoffe« sollte Kunst und Künstler vor der Instrumentalisierung durch den Markt und durch die Musealisierung sowie vor Autor- und Meisterschaftsdiskursen schützen. Hier ist Lyotards Frage aus der Einleitung in den ersten Weg nach dem Verhältnis von Material und Projekt zentral: Nicht mehr das Material bestimmt, was ein Kunstwerk ist und welchen Wert es hat, sondern das Projekt, die Idee, steuert, ob überhaupt Material zum Einsatz kommt oder nicht. Von Duchamp war eine Reihe von Dokumenten zu sehen, in denen er seinen Begriff des »Infra-Mince« entwickelte. Sie stammten aus der Weißen Schachtel, in der sich 46 Zettel mit Notizen befanden, die 1999 mit Vorworten von Paul Matisse und Pontus Hulten unter dem Titel Marcel Duchamp. Notes herausgegeben wurden. Auf jedem dieser Zettel steht sich eine kurze Definition, mit der Duchamp sich dem schwer definierbaren Begriff infra-mince48 zu nähern versuchte, so unter anderem auch diejenige, die Lyotard im Inventaire zitiert: »Ich habe absichtlich das Wort ›mince‹ genommen, das ein menschliches Wort ist, affektiv, und kein präzises Maß aus dem Labor. Das Geräusch oder die Musik, die eine Hose aus Cord wie diese hier verursacht, wenn man sich bewegt, erzeugt das infra-mince. Der Hohlraum im Papier, zwischen Vorder- und Rückseite eines dünnen Blattes…«49 Auch der Satz von Duchamp, den Lyotard zu Beginn der Seite zu »Infra-mince« im Inventaire zitiert, stammt aus dieser Sammlung: »Wenn der Tabakrauch auch aus dem Mund riecht, der ihn ausatmet, vermählen sich die beiden Gerüche im infra-mince«.50 In diesen poetischen Umschreibungen Duchamps wird nie so recht deutlich, was das inframince ist, sie entfalten aber einen assoziativen Rahmen, innerhalb dessen man sich eine ungefähre Vorstellung bilden kann – es entzieht sich eben 48 Eine ausführliche Begriffsgeschichte zum infra-mince findet sich bei: Graevenitz, Antje von (2005): Marcel Duchamps »infra-mince« und andere Annäherungen an das Nichts. Manuskript eines Vortrages an der Universität zu Köln am 21.7.2005. Unveröffentlicht. 49 Inventaire zu »Infra-mince«. 50 Ebd. 137
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nicht nur das Werk, sondern auch sein Begriff. Duchamp ist sich natürlich darüber im Klaren und nutzt die semantische Offenheit: es geht ihm um einen Begriff, »der unseren wissenschaftlichen Definitionen entkommt«.51 Sowohl seine Methode des Umschreibens als auch das zu Umschreibende wirken dabei wie eine Metapher für den Begriff Immatériaux. Es ging bei Duchamps Infra-Mince wie in der Ausstellung insgesamt eben nicht um das Nichts, um das Entmaterialisierte, um die Negation, sondern um ein dem Nichts sehr nahes Etwas – Lyotard findet dafür den Neologismus Immatériaux. Duchamp fasst dies prägnant zusammen: »Dada war eine Verneinung und ein Protest. Ich war daran nicht sonderlich interessiert. Das eigene Nein macht einen nur abhängig von dem, was man verneint – ein gemeinsames Nein bedeutet nichts.«52 Sicher wird Lyotard ihm darin zugestimmt haben, auch wenn er nirgendwo so explizit wird wie z.B. Ruth Henry in ihrer Rezension über Les Immatériaux in der Frankfurter Rundschau: »die Nicht-Substanzen, das Nicht-Dingliche! – Eine andere Realität also und nicht etwas ›Immaterielles‹ oder eine Irrealität gar ist gemeint«.53 Von einem ähnlichen Interesse am Undarstellbaren ist Yves Kleins Arbeit Zones de sensibilité picturale immatérielle geprägt. Klein wollte mit diesem Projekt, wie überhaupt mit seinem gesamten Werk, das Immaterielle tatsächlich als Immaterielles zeigen und es künstlerisch aufarbeiten, um dem eigentlichen Wert der Kunst auf die Spur zu kommen. In Les Immatériaux waren Skizzen, Kontrollabschnitte und Schecks einer 1959 am Seine-Ufer durchgeführten Aktion ausgestellt. Sie bestand daraus, dass die Zuschauer von Klein Blattgold kaufen konnten und über den ausgegebenen Betrag eine Bescheinigung bekamen, die sie verbrennen sollten. Sie sollten dann zusehen, wie Klein einen Teil des Goldes in die Seine warf oder in der Erde begrub. Durch diese Aktion bestimmte Klein eine »Zone immaterieller pikturaler Sensibilität«, die von einer Umwidmung des ökonomischen Wertes des Goldes in einen »Statthalter des Spirituellen«54 und des Immateriellen geprägt war. Im Gegensatz zu den subtilen, esoterischen Werken von Klein wirkt Giovanni Anselmos Arbeit Invisible aus dem Jahr 1969 wie ein humorvoller Paukenschlag. Anselmo arbeitet mit der Polarität von Sichtbarem 51 Inventaire zu »infra-mince«. 52 Duchamp im Gespräch mit Ulf Linde 1961. In Stauffer, Serge: Marcel Duchamp. Die Schriften. Zürich 1981, S. 123. Zit. nach Graevenitz 2005, o. S. 53 Henry, Ruth (1985a): Telefoniere mir ein Schaf. Der Philosoph Jean-François Lyotard bündelt Hinweise auf Zukünftiges. In: Frankfurter Rundschau, 30.4., S. 9. 54 Wagner, Monika (2001): Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München S. 297. 138
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und Unsichtbarem und untersucht damit – weniger metaphysisch als Klein und Duchamp, sondern eher phänomenologisch – das Verhältnis von Visualität und Materialität. Im Inventaire beschreibt Lyotard, wie diese Installation funktioniert: »Ein Diaprojektor projiziert in einer gewissen Entfernung, ohne dass unbedingt eine Leinwand da wäre, ein Dia, auf das das Wort VISIBILE geschrieben steht. Das, was sichtbar ist, erscheint also in unsichtbarer Form. Wenn man sich in irgendeinem Abstand von dem Projektor aufstellt, transformiert sich unser Körper in eine Projektionsfläche, auf der das Wort VISIBILE erscheint. Anselmo: ›Ich wollte ein unsichtbares Werk herstellen. Aber wenn ich das, was unsichtbar ist, überprüfen will, kann ich es nur tun, indem ich mit dem Sichtbaren arbeite. Wenn ich das Unsichtbare materialisieren will, wird dieses sogleich sichtbar. Das Unsichtbare ist das, was sichtbar ist, das man aber nicht sehen kann.‹«55
Die Projektion des Wortes Visible war möglicherweise für einen Besucher, der allein an dem Projektor vorbeiging, nicht zu sehen, weil sie auf seinem Rücken erschien. Er verpasste also das Werk einfach. Lief er auf den Projektor zu und konnte die Projektion auf der Vorderseite seines Körpers sehen, dürfte es schwierig gewesen sein, das Wort zu entziffern – es stand ja aus seiner Perspektive auf dem Kopf und war nur verzerrt zu sehen. Das Unsichtbare wurde also nur sichtbar, wenn man einen anderen Besucher im Lichtstrahl antraf: Blick und Handlung des Sichtbarmachens waren hier dissoziiert.56 Thierry Kuntzels Videoarbeit La Desserte Blanche von 1980 schließlich zeigt ein schlichtes Interieur und eine sich darin aufhaltende Frau. Das Bild ist von einem weißen Schleier überzogen, die Kontraste ändern sich unmerklich, so dass die Realität als Abbild nicht fassbar wird, sondern hinter einem Spiel aus Aufscheinen und Wegebben verborgen bleibt. Das Inventaire nennt die Arbeit »ein Werk zur Geburt des Sichtbaren«.57
55 Inventaire, Rückseite zu »Infra-Mince«. Das Binnenzitat stammt aus: Ammann, Jean-Christophe: Giovanni Anselmo, Ausst. Kat. Musée de Grenoble 1980, S. 15. 56 Vgl. Boudin-Lestiennes, Stéphane (2002): Les images immatérielles dans l’art contemporain. De l’illusion aux dispositifs visuels. http://membres.ly cos.fr/sblmemoire/deatt.pdf (10.9.2005), S. 36. 57 Inventaire zu »Infra-Mince«. 139
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Surface introuvable Auch die nächste Station, Surface introuvable, zielte auf visuelle Repräsentationen ab. Sie zeigte verschiedene Ansichten einer Landkarte: eine große dreidimensionale Frankreichkarte, eine faltbare Landkarte aus Papier, dasselbe Papier, bevor es bedruckt wurde sowie je eine Rugosimeter-58 und Elektronenmikroskop-Aufnahme von der Oberflächenstruktur dieses Papiers. Im Inventaire schreibt Lyotard dazu: »Ob man eine Oberfläche als flach wahrnimmt, hängt von der Skala der Beobachtung ab. Die zweidimensionale Darstellung ist konventionell. In jeder Oberfläche versteckt sich das Relief ihres Materials.«59 Wie in Corps éclaté reisten die Besucher gleichsam durch verschiedene Beobachtungsmaßstäbe und erfuhren dabei, dass das, was ihre Sinne ohne technologische Vermittlung von den Gegenständen wahrnahmen, keineswegs die einzige objektive Wahrheit über diese Gegenstände war, sondern lediglich eine Wahrnehmung unter vielen. Auch zu Surface introuvable gehörte der Text von Proust, in dem er sich beim Kuss auf die Wange seiner Geliebten vor der plötzlichen Sichtbarkeit von Unebenheiten erschrickt, die aus größerer Distanz nicht wahrzunehmen waren. Aber es ging in Surface introuvable nicht nur um die Auswirkungen verschiedener Maßstäbe und unterschiedlicher Distanzen zum Untersuchungsgegenstand, wie sie durch das Eintauchen in die Oberfläche des Papiers mittels Mikroskop deutlich wurden. Es ging auch um die Frage nach den Möglichkeiten der Repräsentation im Allgemeinen, die durch das Wesen der Landkarte aufgeworfen wird. Die Landkarte ist eben nicht das Territorium, und man kann sagen, dass Lyotard diesen berühmten Gedanken von Alfred Korzybski benutzt hat, um nicht nur das Verhältnis von Territorium und Karte zu hinterfragen, sondern auch das Verhältnis der Darstellung selbst zum materiellen Ort dieser Darstellung, wie er den Besuchern im Petit Journal zu bedenken gab: »Die unauffindbare Oberfläche Frankreichs wird flach auf ein Papier mit dem Volumen der winzig kleinen Textur eben dieses Papiers projiziert.«60 Lyotard konjugiert die Tiefenstruktur des Materiellen in den drei Stationen der Zone 6 in Bezug auf verschiedene Aspekte durch: Mit den drei Metaphern »belebte Reliefe«, »staubfeine Zellen« und »nicht fassbare Erscheinung[en],61 umschreibt er die sich in Strukturen auflösende Substanz des Materiellen im Petit Journal. Hier klingen Denkfiguren aus Virilios Text Die überbelichtete Stadt an, mit dem sich Lyotard explizit nur in Après six mois de travail auseinandersetzt, dessen Thesen aber für Les 58 59 60 61
Ein Rugosimeter misst die Rauheit von Oberflächen. Inventaire zu Surface introuvable. Petit Journal, S. 4. Alle Zitate ebd. 140
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Immatériaux eine große Rolle spielten: »Diese neue wissenschaftliche Definition des Begriffs der Oberfläche (surface) zeigt die sprachliche Kontamination, die gerade wirksam ist: die ›Oberfläche der Grenze‹ wird zu einer osmotischen Membran, einem Löschblatt … [...] Künftig verbirgt das Äußere der Oberflächen eine geheime Transparenz, eine Dichte ohne Dichte, ein Volumen ohne Volumen, eine unmerkliche Quantität…«62 Indiscernables Indiscernables war die siebte Station auf dem ersten Weg und die einzige der Zone 7. Drei Schaufensterpuppen baumelten, ähnlich wie bei Nu vain und bei Toutes les peaux, von der Decke herab. Sie trugen die Berufskleidung eines Chirurgen, eines Kochs und eines Polizisten und befanden sich in einer komplexen Architektur aus Spiegeln und Lichtquellen, die sie vervielfältigte und abwechselnd oder zusammen anstrahlte. Indiscernables scheint eine ähnlich bedrückende Wirkung gehabt zu haben wie Nu vain, auch wenn die verkleideten Puppen keine Parallele zu einem Thema wie dem in Nu vain sehr präsenten Holocaust hatten. Aber auch ohne eine solche Kontextualisierung war der Anblick der an der Kehle aufgehängten, stummen Gestalten, deren Uniformen wie eine Parade der drei beliebtesten Traumberufe kleiner Jungen daher kamen, eine zumindest verwirrende Angelegenheit, deren Sinn sich keineswegs auf den ersten Blick erschloss. Das lag primär an der Art und Weise, in der die Station inszeniert war: das eigentliche Thema von Indiscernables waren die verschiedenen szenographischen Settings, die durch die Licht- und Spiegelarchitektur je nach Standort der Besucher zustande kamen. Es ging um die Position der Puppen im Raum, die viel eher, so Lyotard im Petit Journal, Auskunft über die Identität der Puppe geben könne als ihre Uniform: »Ein Elektron ist nur durch seinen Platz in einem gegebenen Ensemble von einem anderen unterscheidbar. [...] Analogie: der Ort jeder Uniform im Bezug auf die beiden anderen, nach ihrer Ordnung in der Beleuchtung, bestimmt die Bedeutung der Sequenz.«63 Die Puppen dienten also als etwas weit hergeholte Veranschaulichungen für die Frage nach der Individualität, nach der Unterscheidbarkeit einzelner Gegebenheiten. Mit Indiscernables setzte Lyotard diese Frage auf der Ebene der Quantenphysik an, um sich gleichsam zur Basis des Materiellen hinzudenken und von dort aus Schlüsse für den Alltag der Besucher zu ziehen. Deutlich wird die Stoßrichtung dieser Station erst,
62 Virilio 1994. 63 Petit Journal, S. 5. 141
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wenn man das Kopfhörerprogramm analysiert: Dort ist ein Auszug aus zwei Büchern Gaston Bachelards, Le nouvel esprit scientifique und L’activité rationaliste de la physique contemporaine, zu hören. In einem fiktiven Dialog zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und Werner Heisenberg stellt Leibniz die Behauptung auf, dass es keine zwei Individuen in der Welt gebe, die ununterscheidbar seien. Um das Argument zu untermauern, fordert er seinen Gesprächspartner auf, in den Wald zu gehen und ihm zwei vollkommen identische Blätter, Fische oder Wassertropfen zu bringen. Bachelard lässt Heisenberg zwei Jahrhunderte später antworten: »Ihr Prinzip der Individuation [...] verliert jede Gültigkeit im Bereich der mikrophysikalischen Phänomene [...]. Die Individualität ist ein Privileg der Komplexität, und ein isoliertes Teilchen ist zu schlicht, um zur Individualität begabt zu sein.«64 Mit seinem Argument will Heisenberg sich gegen die Leibniz’ Argument innewohnende Vorstellung wehren, es gäbe eine »elementare Singularität, die vom Ursprung her, in den Wurzeln des Seins, präsent«65 sei. Lyotards Auseinandersetzung mit dem cartesianischen Substanzbegriff und Leibniz’ Monadenbegriff, die er in dem Text Materie und Zeit führt, klingt hier an. Ob die Präsentation der drei uniformierten Puppen geeignet war, diese wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Themen zu materialisieren, sei dahingestellt. Der Le-Monde-Kritiker Cournot nutzt in seiner geradezu vernichtenden Kritik von Les Immatériaux die Titel dieser und ähnlicher Stationen, um zu verdeutlichen, welch absurdes Unterfangen die Ausstellung sei. Man solle sich die erschöpften und verwirrten Besucher ansehen, die den Centre Pompidou verließen, nachdem sie bei ihrem Versuch gescheitert seien, vom »l’introuvable à l’indiscernable, du dématérialisé à l’irreprésentable«66 zu navigieren. Matériau dématérialisé Die nächste Station, Matériau dématérialisé, war ein »audiovisuelles Multimedia-Spektakel«, wie Lyotard im Petit Journal schreibt, und bildete ebenso wie Indiscernables allein eine Zone. In dieser Zone 8 hörte man synthetische Klänge, die die Komponisten und Sounddesigner Gérard Chiron und Arnaud Petit zu Bildern von Georges Meguerditchian komponiert hatten. Unter der Leitung des Filmemachers Philippe Puicouyoul entstand so eine die Besucher von allen Seiten umgebende Installation, die aus einem über Kopfhöhe angebrachten Kreis aus fünf Projektionsflächen und drei Blöcken von Videobildschirmen bestand. Im Mittelpunkt dieser über 100m2 großen Station – mit dem Théâtre du non64 Bachelard, zit. nach Petit Journal, S. 5. 65 Bachelard zit. nach Route: Zones & Sites, S. 5. 66 Ohne Autorenangabe, Le Monde 02.04.1985, o. S. 142
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corps und dem Labyrinthe du langage die größte der Ausstellung – befanden sich die fünf Projektoren, die Bilder auf die ringförmig um sie herum angeordneten Leinwände projizierten. Puicouyoul kombinierte Leinwände und Fernsehbildschirme, um den ohnehin schon aufwändigen Effekten des Spektakels eine Ebene der medialen Verschiebung und Verfremdung hinzuzufügen: »Philippe Puicouyoul designed the multi-media deambulatory environment with slides of various industrial or scientific images – in varying degrees of abstraction – projected against the two semi-spheres of the zone. Through holes perforating the curvilinear walls, television monitors would run the exact image as the slide projector, but in video format. The visitor would only grow accustom to the different nature of the image after a period of reconnaissance and habituation.«67
Die Bilder stammten aus Archiven von großen französischen Technologie-Firmen. Sie zeigten Mikroskopaufnahmen verschiedener industrieller Materialien wie Stahl, Legierungen und Kompositwerkstoffen, über die die Bezeichnungen dieser Stoffe als Text übergeblendet waren. Einfärbungen und unterschiedlich starke Vergrößerungen der Aufnahmen machten Matériau dématérialisé zu einem Bildraum aus hochgradig ästhetisierten, abstrakten Bildern: »Elsewhere, a color slide show on industrial materials made much of their spectacular, atomized beauty, showing that the world of special effects lies within our contemporary horizon.«68 Matériau dématérialisé thematisierte die neuen Materialien, von denen Lyotard in seinem einführenden Text zum matériau-Weg im Inventaire sagt, dass sie nicht mehr in einem Prozess der Überwindung vom Subjekt beherrscht werden müssten. Im Petit Journal erklärt er nochmals explizit den Unterschied zwischen dem Rohstoff der Moderne und den neuen Materialien der Postmoderne: »Das ›harte‹ Material der Industrie wird kreiert, um den Normen des geplanten Projektes zu entsprechen. Es geht weder dem Projekt noch der Arbeit voraus, seine Konzeption und Simulation sind Teil des Einen wie des Anderen. Es wird nicht mehr von außen eingeführt, wie ein Objekt, das der Arbeit widersteht: Es ist selbst das Resultat einer techno-wissenschaftlichen Arbeit der Synthese.«69
67 Hudek 2001, S. 17 f. 68 Linker, Kate (1985): A reflection on post-modernism. In: Artforum, Sept., S. 104-105, hier S. 105. 69 Petit Journal, S. 5. 143
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Zugleich zeigte die Station, wie abhängig unsere Wahrnehmung eines Inhaltes von seiner Präsentationsform ist – man hätte auf die theatralische Visualisierung verzichten und einige Proben in einer Vitrine zeigen können, wenn es primär um Materialien aus der Industrie gegangen wäre. Die artifiziellen Bilder waren also auch als subtiles Echo auf die synthetischen Materialien gedacht, wie Lyotard im Petit Journal reflektiert: »Das Material [...] selbst ist das Resultat einer synthetisierenden technowissenschaftlichen Arbeit. Analoge Situation in der Kunst, z.B. in der Musik mit ihren synthetischen Klängen.«70 Matériau dématérialisé sollte Analogien spürbar machen – die Musik im Kopfhörer, die Bilder der Installation und die Thematik der neuen Materialien vereinigten sich zu einem multisensoriell Erkenntnisse vermittelnden Ganzen. An der Stelle im Petit Journal, wo sonst ein Ausschnitt aus dem Kopfhörerprogramm zu lesen ist, befindet sich ein Zitat aus dem Tao Te King von Lao Tse, das wie eine Zusammenfassung nicht nur von Matériau dématérialisé, sondern der gesamten Ausstellung wirkt: »Hier ist also das Prinzip: Die Materie verbirgt das Mögliche, das Immaterielle realisiert es.«71 Peinture luminescente Die letzten drei Stationen des ersten Weges waren zur Zone 9 zusammengefasst. Peinture luminescente, Peintre sans corps und Toutes les copies beschäftigten sich mit der Entstehung von Bildern, vor allem von künstlerischen Bildern. Über die Kopfhörer waren Textfragmente aus Maurice Blanchots Werk Le rire des dieux (1965) – Kommentare zum Werk Pierre Klossowskis –, aus Le singe grammairien (1972) von Octavio Paz und aus dem Buch Emergences – Résurgences (1972) von Henri Michaux zu hören. Es ist schwierig, die Auszüge den Autoren zuzuordnen, da Rogozinski einzelne Sätze aus verschiedenen Teilen der Texte kombiniert und möglicherweise durch eigene Hinzufügungen miteinander verbunden hat und keines der Zitate nachweist. So bleiben nur Vermutungen. Der Text mit dem berühmten AndyWarhol-Zitat »Wenn ich so male, dann deswegen, weil ich eine Maschine sein will«72 könnte als Exempel für das Verhältnis von Malerei und Fotografie dienen, indem es die Fotografie als Produkt eines technischen Vorganges der »handschriftlichen« Malerei entgegensetzt. Damit würde er das Thema der Station Peintre sans corps aufgreifen, in der ein Gemälde als Original und drei weiteren Fassungen, als unterschiedlich farbintensive Nachbildungen dieses Originals, gezeigt wurden. Zugleich könnte dieser Text eine Poetisierung des Fotokopierers sein, der in Tou70 Petit Journal, S. 5. 71 Lao Tse, zit. nach ebd. 72 Ebd. 144
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tes les copies von den Besuchern benutzt werden konnte, um weitgehend frei von ihrer eigenen Handschrift »Lichtbilder« von Alltagsgegenständen anzufertigen. Das zweite Fragment bewegt sich in einem ähnlichen Feld und hat einen ähnlichen Bezug zu diesen beiden Stationen: »Das Bild scheint dort auf, wo es kein Original mehr gibt, sondern nur ein ewiges Sternfunkeln«.73 Die Metapher des Sternenfunkelns kann auch ein Verweis auf die Station Peinture luminescente sein, in der Kunstwerke aus dem Material Licht zu sehen waren. Schließlich klingt die bündige Feststellung »Die Zeichen verschlingen die Zeichen«74 wie ein baudrillard’sches Echo, das Les Immatériaux als Ganzes kondensieren und zugleich auf die Verweise hindeuten könnte, die die Bilder untereinander austauschen. Die Zusammenstellung dieser drei Texte ergibt eine komplexe Miniatur, die zentrale Topoi einer möglichen poststrukturalistischen Bildtheorie in sich vereint: Die Ablehnung einer auktorialen Position, den Simulationsbegriff, der Verweis der Signifikanten auf andere Signifikanten und nicht auf etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes. Die erste Station dieser Zone war Peinture luminescente. Den dort gezeigten Kunstwerken, Arbeiten von Dan Flavin, Lucio Fontana, Laszlo Moholy-Nagy, Sam Moree, François Morellet und Robert Ryman, war gemeinsam, dass sie Licht nicht nur bildlich darstellten, sondern als Material verwendeten, dass also ihr Rohstoff paradoxerweise etwas Immaterielles war: »Nach der Verwendung der Paste und der Chemie der Farben als Material der Darstellung des Lichtes präsentiert sich dieses selbst als Material des Werkes.«75 Für Peinture luminescente hatte Lyotard einige Ikonen der Lichtkunst ausgewählt. Moholy-Nagys Raum-Licht-Modulator aus dem Jahr 1930, von dem eine Replik gezeigt wurde, war sicher das berühmteste Werk. Dieses Objekt ist mehr als eine kinetische Lichtskulptur: es geht bei dem Raum-Licht-Modulator auch um den Raum, um Elektrizität, um Farben, um Bewegung – kurz, um den Versuch, Unsichtbares zu verkörpern. Ähnlich komplex waren Fontanas Rauminstallation Ambiente (1967), die aus mit phosphoreszierenden Farben bemalten Leinwänden und Schwarzlicht bestand, die große Skulptur von Takis mit dem Titel La Méduse (1980), deren blau leuchtender Glaskörper von magnetisch-zittrig bewegten Metallkugeln umgeben war oder Dan Flavins in eine Raumecke hinein gebaute Neoninstallation To Donna von 1971. Etwas anders gelagert waren die Interessen, die Morellet mit seiner Neoninstallation Parallèles de néon 0°, 45°, 90°, 135° avec quatre rythmes interférents (1963) verfolgte, einer Arbeit, die man durch ihre mathematische Konzeption und geometrische Strenge zur Minimal Art rech73 Petit Journal, S. 5. 74 Ebd. 75 Inventaire zu Peinture luminescente. 145
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nen kann. Sam Morees Installation aus einem Hologramm und Neonröhren von 1983 trug den Titel Cartesian Memories und arbeitete mit einer Mitte der 1980er Jahre noch recht jungen Lichttechnologie, die einige der traditionellen Vorstellungen darüber, was ein Bild ist, ins Wanken brachte. Das einzige Gemälde, das in Peinture luminescente zu sehen war, war Robert Rymans Midland I aus dem Jahr 1976. Die konsequente Weißmalerei des Amerikaners, von der Lyotard im Inventaire schreibt, sie »dekliniere die Materialität der Malerei«,76 nähert sich so weitgehend der Entmaterialisierung der Farbe und der Materialisierung des Lichts, dass sie hier durchaus sinnvoll einen Platz besetzt. Lyotards Reflexion im Petit Journal zu dieser großen Kunst-Station ist von knapper Klarheit: »Das beste Material, um das Licht nachzuahmen, ist das Licht.«77 Peintre sans corps Auch bei der folgenden Station, Peintre sans corps, stand das Licht als Material und als Medium im Fokus. Die Arbeit Explosion aus dem Jahr 1973 von Lyotards Freund Jacques Monory besteht aus vier Teilen: ein klassisches Ölgemälde und drei Reproduktionen dieses Gemäldes in unterschiedlichen Farbintensitäten. Warhols Sehnsucht, eine Maschine zu sein, klingt in Lyotards Text im Inventaire an, ebenso wie die Frage nach der Autorschaft, der der fünfte Weg von Les Immatériaux gewidmet ist: »Warum nach einem Motiv malen, indem man mit der Hand oder einem Pinsel Farbe auf eine vorbereitete Leinwand aufträgt? Eher ein Dia vom selben Motiv anfertigen und auf einen lichtempfindlichen Bildschirm projizieren. Keine Geste mehr, keine ›Ausarbeitung‹. Man entfernt den malenden Körper aus dem Kreislauf der Malerei.«78
Der »malende Körper«, Chiffre für die Gebundenheit der Malerei an die Materie, verschwindet bei Explosion hinter einem Projektionsapparat, der zur Herstellung der drei Reproduktionen diente. Lyotard beschreibt auf der Rückseite des zu Peintre sans corps gehörenden Katalogblattes im Inventaire detailliert Monorys Arbeitsweise: Nachdem das erste Bild fertiggestellt sei, projiziere der Künstler ein Dia davon auf eine fotosensible Leinwand und erhalte so »ein erstes Objekt der Produktion, bei dem die liebkosende Hand abwesend ist«.79 Das Dia werde ein zweites Mal auf eine normale Leinwand projiziert und diene so als Vorlage für den Künstler, der die Umrisslinien und Farbwerte mittels der Projektion kopiere und dann das Bild nach einer Vorlage, die er in der 76 77 78 79
Inventaire zu Peinture luminescente. Petit Journal, S. 5. Inventaire zu Peintre sans corps. Inventaire, Rückseite zu Peintre sans corps. 146
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Abb. 12: Die ersten beiden Tafeln von Peintre sans corps (Inventaire). linken Hand halte, fertig stelle. Vergleiche man diese beiden Bilder, sei man erstaunt über die immensen Unterschiede: »Die sensibilisierte Leinwand (die wie ein Entwicklerpapier funktioniert) hat den Transformationsprozess der Lichtenergie in Punkte aufgenommen, und diese Aufnahme kann nicht ohne Wertverlust vor sich gehen. Daneben zerbirst die gemalte Leinwand vor Energie, vor verführerischer und nostalgischer Kraft. Dies liegt daran, dass in dem ersten Werk die Mittel der Reproduktion ihrem Prinzip entsprechend operiert haben, das lediglich die Replikation ist.«80
Der Körper des Künstlers hinterlässt auf der gemalten Leinwand Spuren, die Lyotard mit Begriffen wie ›Energie‹ und ›Kraft‹ umschreibt. Dagegen findet in den anderen drei Tafeln eine Entkörperlichung statt, deren Konsequenzen sich auch im gesamten Setting zeigen: Die große Bildfläche, die durch die Vervierfachung des ohnehin schon monumentalen Gemäldes mit den Maßen 228 x 195 cm und die nahtlose Hängung der Tafeln nebeneinander eine ganze Raumseite bedeckte, bildete einen immersiven, überwältigenden Gesamtraum. Auch das Sujet des Bildes, ein auf einer Landebahn in eine Vielzahl kleiner Teile zerberstendes Flugzeug, hängt mit der Entkörperlichung zusammen, die Lyotard in Peintre sans corps interessiert: Die ungeheure Kraft, die das massive Flugzeug fragmentiert, scheinbar ohne auf großen Widerstand zu treffen, verbildlicht, wie instabil Materie sein kann. Der Titel der Serie, zu der die vier Tafeln gehören, Les premiers numéros du catalogue mondial des images incurables, weist ironisierend auf die Konsequenzen dieser Arbeitsweise hin, die mit zentralen Paradigmen der Malerei der Moderne bricht: dem Autor-Künstler, der im Pinselduktus liegenden individuellen Handschrift, der Vorstellung, eine außerbildliche Realität könne dargestellt werden und der Lesbarkeit des Sujets. 80 Ebd., Hervorhebung im Text. 147
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Toutes les copies Die letzte Station des Weges, Toutes les copies, bot den Besuchern die Möglichkeit, sich selbst in experimenteller Bildproduktion zu versuchen. In einem kleinen gläsernen Käfig befand sich ein Fotokopierer, der von Studierenden einer Klasse der Künstlerin Liliane Terrier der Université Paris VIII bedient wurde. Ihnen standen verschiedene Alltagsgegenstände zur Verfügung, »household objects, including gloves, candy, and cheese«,81 Pflanzenteile, Obst und ein Paar Kindergummistiefel, aus denen die Besucher oder die Studierenden selbst auswählten, was als nächstes fotokopiert werden sollte. Simultan dazu empfing ein Faxgerät Sendungen aus dem Atelier des Enfants des Centre Pompidou, wo es Veranstaltungen wie La photocopie à l’oeuvre oder Les Merveilles du monde gab, die von Liliane Terrier, dem Multimediakünstler und Ästhetikprofessor Jean-Louis Boissier und ihren Studierenden angeleitet wurden. Die Ergebnisse dieser verschiedenen Kopiervorgänge wurden an einer Wand in der Nähe des Kopierers aufgehängt. Der leere Raum zwischen dem Gerät und der Wand öffne das Feld der Fragen dieser Station, so Terrier und Boissier in ihrem die Station vorbereitenden Dossier: »[...] la photocopie confronte de façon inquiétante l’image à son ›modèle‹: elle combine la rapidité de son apparition et l’affirmation de sa distance.«82 Die Beliebigkeit der fotokopierten Gegenstände diente in Toutes les copies als Zeuge dafür, dass Bilder keine künstlerischen Objekte sein müssen und dennoch dem sich Entziehenden einen Ort geben können: »Alles kann fotokopiert werden. [...] Das Unkenntliche kann stattfinden«,83 schreibt Lyotard im Inventaire. Wie bei Peintre sans corps auch ist es beim Fotokopierer das Licht, das ohne jede Beurteilung des Gegenstandes, der kopiert wird, nahezu eigenständig – also ohne schöpferischen Akt, ohne Autor, ohne metaphysische Referenz – in der Lage sei, ein Bild zu erzeugen: »Und wenn man die phototechnische Falle einrichtet, wird das Licht das Werk machen. Automatisierung der Simulakra.«84 Das fotokopierte Bild ist also eine Art Ideal für den Traum von der autorlosen, maschinellen Bilderzeugung, bei der sich die Methode des Abbildens und die funktionelle Logik des Sehsinnes in weitgehender Deckung miteinander befinden. Dieser Deckung spüren die drei Statio81 Linker 1985, S. 105. 82 Vgl. Boissier, Jean-Louis/Terrier, Liliane (1984): Projet pour Les Immatériaux/Centre Georges Pompidou: La photocopie à l’œuvre ou, Les merveilles du monde (installation étonnante). Archiv des Centre Pompidou, Box 94033/234. Unveröffentlicht., S. 5. 83 Inventaire zu Toutes les copies. 84 Petit Journal S. 5. 148
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nen der Zone 9 nach, unterstützt von den Kopfhörertexten, die die Illusion eines außerhalb des Bildes liegenden Referenten, zu dessen Darstellung das Material Licht instrumentalisiert werden muss, aufgegeben haben. Lyotard bringt die in dieser Vorstellungen enthaltene Sehnsucht nach einer technologisch ermöglichten Freiheit des Visuellen von den Einflüssen des die Welt gestaltenden Subjekts im Petit Journal auf den Punkt: »Das beste Mittel, die Beleuchtung eines Gegenstands zu reproduzieren, ist die fotografische Erfassung und Projektion«85 – mehr nicht, will man ergänzen, keine noch so ausgefeilte malerische, illusionistische Technik, kein genialer Autor, keine Kreation. Im Gegensatz zu diesen Phantasien stand das Setting der Station, das von der unmittelbaren Begegnung der Besucher mit einem den Fotokopierer bedienenden Menschen geprägt war und so die Isolation des Einzelnen in der Ausstellung durchbrach. Hier war – einmalig in Les Immatériaux – echte Interaktion möglich, auch wenn sie durch den gläsernen Kasten eingeschränkt blieb. Hier gab es, gleichsam als Negativfolie zum Traum von der technologisierten Bilderzeugung, einen Spielraum im wahrsten Sinne des Wortes, der zu einem vorsichtigen Ausprobieren einlud und von dem theoretischen Überbau der Zone weit entfernt schien.
85 Petit Journal S. 5. 149
7.3. Der zweite Weg: Matrice – Sprache, Code, Matrix Der zweite Weg der Ausstellung war dem Begriff ›matrice‹, Matrix oder Code, zugeordnet. Der Terminus ›Matrix‹ stammt aus der Mathematik und bezeichnet dort ein »Zahlenschema, für das bestimmte Rechenregeln gelten«1, die Bezeichnung ›Code‹ benennt ein »Zeichensystem als Grundlage für Kommunikation«.2 Je nachdem, wie man matrice übersetzt, bedeutet der Begriff also eher allgemein ›Ordnungsstruktur‹ oder spezieller ›sprachlicher Code‹. Im Vorgriff auf die Analyse dieses Aspektes des mât-Systems sei hier gesagt, dass Lyotards Definition von ›matrice‹ etwas inkonsistent wirkt. Dies mag daran liegen, dass der Begriff als das eigentliche Zentrum der Sprachmetaphorik von Les Immatériaux aufgefasst werden kann, während die anderen mât-Begriffe pragmatische oder kontextuelle Instanzen (Sender, Empfänger, Medium, Referent) bezeichnen und daher einfachere Metaphern darstellen. Innerhalb der kommunikationstheoretischen Metaphorik des mâtSystems bezeichnete matrice die Codierungen, mittels derer eine Nachricht vom Sender verschlüsselt und vom Empfänger entschlüsselt wird. Lyotard stellte mit diesem zweiten Weg nicht die unterschiedlichen Vorstellungen dar, die man sich in Moderne und Postmoderne von den Matrizes und Codes selbst, sondern diejenigen, die man sich von der Beherrschbarkeit der Matrizes und Codes gemacht hat: Die Moderne glaubte daran, jedes Phänomen durch einen eindeutigen Code bestimmen zu können. Darüber hinaus ging man davon aus, dass es möglich sein müsste, diesen Code nicht nur zu verstehen, sondern auch zu kontrollieren und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Für die Moderne war also der Code der Hebel, an dem der Intellekt des Menschen ansetzen musste, um die Materie zu beherrschen: »Kennen bedeutet, ein Objekt zu dechiffrieren. Man setzt voraus, dass dieses hier eine Nachricht ist, und dass sie also in einer ›Sprache‹, in einem ›Code‹ geschrieben ist. Die Matrix ist diese Sprache, die ›Chiffre‹ der Nachricht«,3 schreibt Lyotard zusammenfassend im Inventaire. Vor dem Hintergrund dieses modernen Paradigmas scheine es fraglos möglich zu sein, jedes Phänomen zu dechiffrieren und es damit vollständig zu verstehen, wenn man nur über die Sprache verfüge, in der sie geschrieben sei. Lyotard will sich jedoch gerade gegen die Vorstellung wehren, man könne jede Nachricht restlos verstehen. Seine Kritik daran
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Duden Fremdwörterbuch. Ebd. Inventaire, Einführung zu Matrice. 151
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bleibt im Inventaire weitgehend unerwähnt und wird im nächsten Absatz nur dadurch ersichtlich, dass er die in ihm enthaltenen Überlegungen der von ihm häufig kritisierten Aufklärung zuordnet und damit implizit sagt, dass dies keineswegs in allen Denksystemen Geltung haben kann: »Die aufklärerische Einstellung: die Matrix der scheinbar nicht dechiffrierbaren oder nicht vergleichbaren Phänomene zu finden. Die Genetik hat auf diese Weise entdeckt, dass die einzigartigen Eigenschaften eines lebendigen Individuums Sätze sind, die aus einer Sprache zusammengesetzt werden, dem Code der DNS. Die Felszeichnungen von Altamira oder Lascaux wären so Sätze, die von einem ikonographischen Code herstammen.«4
Die »nicht dechiffrierbaren oder nicht vergleichbaren Phänomene« sind innerhalb von Les Immatériaux z.B. die Kunstwerke oder der menschliche Körper. Sie sind in Lyotards Denken als sich dem ordnenden Zugriff des Subjekts konstitutiv entziehende Phänomene gefasst, wurden aber, so Lyotard, in der Moderne gerade anders verstanden. Lyotard fährt mit einer Konkretisierung des bisher Gesagten fort und bleibt dabei selbst innerhalb des Denkmusters, dass er als aufklärerisch apostrophiert hatte: »Man kann sich in die entdeckten Matrizes einschalten, um ›Sätze‹ zu erhalten, die niemals vorher beobachtet werden konnten (genetische Schimären). Man kann sich neue Matrizes ausdenken, woraus pure Artefakte entstünden (künstliche Lebensmittel, die wie BioLebensmittel wirken, logische Paradoxien).«5 Das moderne Subjekt, das qua logos die Sprache zu kontrollieren vermag, sieht sich auch in der Lage, die Codierungen jedes Phänomens nach Belieben zu handhaben. Solange noch der moderne Materie-Begriff die Grundlage für den Handlungsspielraum des Subjekts bildete, lag in den Eigenschaften der Materie eine Grenze. Da nun aber deutlich werde, dass die Codierungen nicht an eine substantiell verstandene Materie gebunden seien, sondern dass man gerade in die ›Substanz‹ der Materie eingreifen könne, indem man die Codierungen direkt manipuliere, öffneten sich neue Spielräume, die das nach wie vor über den Logos herrschende Subjekt nutzen könne. Hier findet sich also die Erklärung dafür, wie es möglich sein kann, die in der Einleitung in den ersten Weg beschriebenen ›paradoxen‹ Materialien wie die Kevlarfaser zu erzeugen, über deren Entstehungsweise dort nichts zu erfahren war: Man bearbeitet keine gegebene Materie, sondern modifiziert die Codierungen und schafft damit neue Materialien.
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Inventaire, Einführung zu Matrice. Ebd. 152
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Bis hierhin klingt Lyotard, als wenn er diesen Entwicklungen nahezu uneingeschränkt zustimmen würde. Erst im letzten Satz der Einführung stellt er – wie in den meisten Einführungen in die Wege im Inventaire – eine kritische Frage, deren Antwort er den Exponaten der Ausstellung und der Rezeption der Besucher überlässt: »[Sind wir die] Beherrscher der Sprache? Oder [sind] die Sprachen Meister des Wissens und Handelns? Auf jeden Fall eine Revolution in unserem Verhältnis mit der Matrix. Das, was das Sein und den Sinn erzeugt, ist keine Göttin, sondern eine Struktur.«6 Die Postmoderne, so kann man ihn hier verstehen, ist also zumindest von einem Zweifel an der modernen Vorstellung geprägt, man könne die Codierungen beherrschen. Die »Revolution« besteht darin, dass sich das Subjekt nicht mehr als »Meister« über die Strukturen versteht, sondern sich als ein Aspekt unter vielen in sie einordnet. In diesen vier Absätzen bleibt Lyotard weitgehend abstrakt. Es gibt einen weiteren Absatz, der aus konkreten Beispielen besteht und der offenbart, dass Matrix und Code weitaus kompliziertere Denkfiguren sind, als die theoretischen Überlegungen vermuten lassen. Lyotard stellt diesen Absatz an den Beginn seiner Einführung in den zweiten Weg: »Ein Rot: leuchtende Strahlung, von einem Objekt ausgesendet, definiert durch die Länge seiner Wellen. Ein C: tönende Vibration, definiert durch ihre Höhe. Ein Neutron: materielles Teilchen, definiert durch seine Masse, seinen Spin und seinen Status in der statistischen Mechanik. Der Laut p: Element (Phonem) einer gesprochenen Sprache, definiert durch die Art und Weise, in der es in den Sprechorganen produziert wird und durch seine Relevanz in der phonologischen Struktur dieser Sprache.«7
Um die Beispiele zu verstehen, ist es sinnvoll, die genannten Phänomene auf die Fünferstruktur des mât-Systems zu übertragen. Das Rot, der Ton C, das Neutron und der Laut p können als die eigentlichen Nachrichten verstanden werden, bei denen die Sender ein rot strahlendes Objekt sowie je ein den Ton C und das Phonem p hervorbringender Klangkörper wären; der Sender des Neutrons – und hier verliert das Beispiel bereits deutlich an veranschaulichender Kraft, weil es keine beobachtbaren Phänomene mehr beschreibt – müsste sehr abstrakt als ›Neutronenquelle‹ bezeichnet werden. Empfänger im Sinne des mât-Systems sind in den ers-
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Inventaire, Einführung zu Matrice. Der Begriff Meister der Sprache, frz. maîtres du langage, umfasst vieles, vom Sprachlehrer über den Schriftsteller bis hin zum Mitglied der Akademie der Sprache, welche die Regeln der Sprache festzulegen versucht (für diesen Hinweis danke ich Ronald Voullié). Ebd. 153
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ten drei Fällen die Sinnesorgane Auge und Ohr, beim Neutron eine Apparatur im Labor. Medium, die materielle Basis also, ist bei den Schallwellen die Luft, die in Schwingung versetzt wird; beim Licht ist die Zuordnung problematischer, weil es sich um eine elektromagnetische Strahlung handelt und nicht mehr einfach von ›Materie‹ als Medium gesprochen werden kann. Ähnlich beim Neutron: das Neutron hat zwar eine Masse, aber es ist zugleich ein Bestandteil jeglicher Materie, so dass man also nicht vom Medium sprechen kann, das ein Neutron übermittelt. Die Codierung der in dem kurzen Text aufgezählten Phänomene schließlich müsste die jeweilige Gesetzmäßigkeit sein, die für die konkrete Form der Nachrichten sorgt: bei der Farbe die Länge der Wellen, beim Ton die Höhe der Frequenz und beim Neutron Eigenschaften wie sein Spin. Dass es jedoch die Eindeutigkeit nicht geben kann, die Lyotard impliziert, wenn er schreibt, dass »eine Nachricht [...] in einer Sprache [...] geschrieben ist«, zeigt das Beispiel des Phonems p: Lyotard erwähnt zwei auf völlig unterschiedlichen Ebenen liegende Codes, die das Phonem bilden, zum einen die Form und Haltung der Sprechwerkzeuge, zum anderen den Platz in der phonologischen Struktur einer Sprache. Die Sprechwerkzeuge sind gleichsam die materielle Basis des Phonems, der Code, nach dem es gebildet wird, könnte »stimmloser bilabialer Plosiv« lauten, ein stimmhafter bilabialer Plosiv wäre ein anderer Laut, nämlich das b – diese Art und Weise der Codierung kann für alle Phoneme durchdekliniert werden. Der Ort, den das Phonem in der phonologischen Struktur einer Sprache hat, gehört zu einem anderen Code, der in den anderen Beispielen unerwähnt bleibt: es geht hier um die Kontextualisierung des Phonems innerhalb eines Sinnsystems, um seine Verortung innerhalb einer Bedeutungsstruktur also. Innerhalb dieser Bedeutungsstruktur macht es einen großen Unterschied, ob das Phonem p oder b verwendet wird, weil mit der Verwendung eines anderen Phonems eine andere Nachricht, ein anderes Wort also, entsteht. In ähnlicher Weise ist der Ton C nicht nur ein Klang, dessen materielle Gesetzmäßigkeiten seine Frequenz bestimmen, sondern er steht auch im System der Musik an einer bestimmten Stelle, die durch die nicht-materielle Gesetzmäßigkeit eines bestimmten musikalischen Systems definiert ist. Die Beispiele aus dem Inventaire erlauben also den Schluss, dass der Begriff ›matrice‹ im mât-System eine doppelte Funktion hat: ähnlich wie die mit dem französischen Begriff ›langue‹ bezeichnete abstrakte Struktur einer Sprache regelt er grundsätzlich, was innerhalb eines jeweiligen Bezugssystems (z.B. Wellenlängen, Tonhöhen oder das Lautsystem der gesprochenen Sprache) überhaupt möglich ist und was nicht. Und er bestimmt im konkreten Fall – und dies entspricht dem französischen Begriff ›parole‹ – durch Anwendung dieser Regeln auf einen Inhalt, welche
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Ausformung ein zu einem solchen Bezugssystem gehörender Gegenstand hat, welche Schattierung von Rot zu sehen ist, ob der Ton ein C oder ein D ist und ob das Phonem p oder b lautet. Eine Vielzahl von Phänomenen wird durch eine ihnen allen zugrunde liegende abstrakte Matrix gruppiert, z.B. alle Töne, die auf einer Tonleiter liegen, oder alle Phoneme, die zu einer Sprache gehören. Die Individualität des einzelnen Tons, des einzelnen Phonems, seine konkrete Form also, kommt erst dann zustande, wenn diese abstrakte Matrix in Bezug auf eine Bedeutung und ein Medium konkretisiert wird. Da Lyotard aber zwischen diesen beiden Typen von Codierungen nicht differenziert, bleibt der mât-Aspekt ›matrice‹ auf eigenartige Weise unklar, was Auswirkungen auf die Anwendbarkeit hat: Solange von einem personalen Sender die Rede ist, der eine Nachricht auf eine bestimmte Art und Weise gestaltet, ergibt eine Formulierung, die einen Vorgang der Produktion beschreibt, noch Sinn. Ein Sender verschlüsselt eine Aussage über einen Referenten mittels eines bestimmten Codes und schreibt sie damit in ein bestimmtes Medium ein. Wendet man jedoch, wie Lyotard es tut, den Begriff matrice auch auf andere Entstehungsprozesse an, die ebenfalls von Gesetzmäßigkeiten – also in der Terminologie des mât-Systems: von Codes – gesteuert werden, wie z.B. der Bildung einer Wolke am Himmel, impliziert die Rede von dem einen Code eine Einfachheit, die einem solch komplexen Vorgang völlig widerspricht. Ist der Code das Naturgesetz, nach dem Wassertropfen kondensieren? Oder die Menge an Feuchtigkeit in der Luft, die überhaupt erst die Bildung einer Wolke ermöglicht? Oder die Stärke des Windes, oder die durch das Sonnenlicht erzeugte Wärme, die das Wasser verdunsten lässt? Da Lyotard den Begriff ›Matrix‹ unterschiedslos sowohl auf bedeutungsvoll gemeinte als auch auf schlicht existente Phänomene wie die Wolke bezieht, vermischt sich der Code der materiell-technischen Weise der Erzeugung mit demjenigen des immateriell-strukturellen Bezuges auf eine Bedeutung. Von einer Bedeutung kann aber nur die Rede sein, wenn es Instanzen gibt, für die überhaupt etwas eine Bedeutung darstellt, wie es z.B. eine Aussage, ein Kunstwerk, eine politische Entscheidung oder ähnliches für den Menschen tun. Handelt es sich um ein Phänomen wie die Wolke, gerät die Metaphorik ins Wanken: für wen stellt eine Wolke welche Bedeutung dar? Man könnte sich alle möglichen Bedeutungen vorstellen: die Wolke steht für Regen oder für trübe Gedanken, sie weckt die Sehnsucht nach einer Flugreise in die Ferne oder sieht aus wie ein Pferd, sie ärgert ihren Betrachter, weil sie die Sonne verdeckt oder verschafft aus genau demselben Grund Erleichterung an einem heißen Tag. All dies sind aber keine Bedeutungen, die in der Wolke selbst liegen, sondern Zuschreibungen, die auf der Grundlage von individuellen Asso-
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ziations- und Bedeutungsmustern an sie vorgenommen werden. Hier gerät das gesamte mât-System an eine Grenze. Toutes les peaux Der zweite Weg begann zwischen dem dritten und dem vierten Diorama mit der Zone 10, die zwei Stationen, Toutes les peaux und Ration alimentaire, umfasste. Toutes les peaux, die erste dieser beiden, thematisierte die Kleidung als prothetische Erweiterung des Körpers, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen war. Ration alimentaire zeigte isolierte Bestandteile von Lebensmitteln, die als Basis für die Codierung von Nahrungsmitteln verstanden wurden. In Toutes les peaux hingen geschlechts- und gesichtslose Gliederpuppen von der Decke herab, die mit verschiedenen Kleidungsstücken bekleidet waren. Sie trugen Tauch- und Fechtanzüge, Spezialschürzen und Schutzhandschuhe sowie andere Kleidung für extreme Bedingungen wie etwa im Flugsport oder in der Höhlenforschung. Lyotard fasst diese Vielfalt im Inventaire knapp mit »eine Vielzahl funktioneller Kleidungsstücke«8 zusammen und erklärt, dass Kleidung wie diese konzipiert werde, um in einigen wenigen Situationen besonders effektiv zu sein: »Die funktionale Überdifferenzierung der Kleidung scheint heute einer strengen Rationalisierung nach Leistung und Effektivität zu gehorchen. Jedoch nicht ausschließlich einem bestimmten Code des ›besonders Hervorhebens‹. In der Freizeit wie bei der Arbeit.«9 Lyotard argumentiert hier ähnlich wie bei Nu vain vom ersten Weg: Das komplexe Medium Kleidung, das mit McLuhan als »Ausweitung der Haut«10 verstanden werden kann, wird auf einige wenige Aspekte reduziert, ähnlich wie der Körper der im Konzentrationslager inspizierten Frau, die in dem in Nu vain gezeigten Film zu sehen war. Alle anderen Funktionen, die Kleidung haben könnte, fallen in einem solchen Wertesystem weg: sie dient weder als Schmuck noch als Statussymbol, sie braucht nicht bequem oder besonders modisch zu sein: »La surdifférenciation transforme tout langage social ou culturel du vêtement en une rationalisation de la performance et de l’efficacité,«11 lautet die Erklärung des Settings in den unveröffentlichten Skizzen aus dem Archiv des Centre Pompidou. Diese auf einige wenige Funktionen des menschlichen Körpers gerichtete Optimierung stamme aus einem von wirtschaftlichen Maximen 8 Inventaire zu Toutes les peaux. 9 Ebd. 10 McLuhan, Marshall (2001): Das Medium ist die Botschaft – The Medium is the message. Hg. von Martin Baltes. Dresden, S. 189. 11 Archiv des Centre Pompidou, Box 94033/667. 156
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geprägten Denken und spiele, wie Lyotard im Petit Journal im Hinblick auf die zweite Station der Zone 10, Ration alimentaire, ausführt, auch für unseren Umgang mit Nahrung eine Rolle: »Das Kleidungsstück, die Nahrung werden der schlichten Matrix des Funktionellen untergeordnet: seien wir schlank, rüstig, die ersten am Ziel. Der Körper wird angekleidet und ernährt, um seine Leistungen zu optimieren. Der Krankheit, dem Unfall entgehen, besser leben, indem man jung bleibt, sind Siege. Eliminieren wir das Überflüssige, das Prunkvolle, das schlechte Fett: ›specken wir ab‹!«12
Dieser kurze Text erfüllt eine ähnliche Funktion wie die scheinbar so affirmativen Beispiele aus den Einführungen im Inventaire. Als wenn er seine Leser zum Widerspruch herausfordern wollte, formuliert Lyotard die kompakten Absätze ohne jede implizite – und schon gar nicht mit irgendeiner expliziten – Bewertung in kühler Neutralität. Gerade dieser Ton macht sie aber zu einem Zerrbild des Ideals, das er scheinbar unbeirrt zeichnet. Der oben zitierte Abschnitt gerät so zu einer Art Manifest eines von der Optimierung Besessenen, der jedes Maß und jede Praxis aus den Augen verloren hat: Alles Überflüssige, Schwache, Kranke und Langsame gilt es zu besiegen, da es sich nicht funktionalisieren lässt und der gewünschten Leistungsfähigkeit im Wege steht.
Abb. 13: Pompier (1951) von Irving Penn (Inventaire). 12 Petit Journal, S. 6. 157
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Das im Text verloren gegangene Maß kehrt in den Bildern im Inventaire zurück, wo vier Aufnahmen des amerikanischen Modefotografen Irving Penn aus dem Jahr 1951 abgebildet sind. Die Fotografien zeigen Angehörige verschiedener Berufe, die im Gegensatz zu den in der Ausstellung aufgehängten Gliederpuppen als individuelle Personen zu erkennen sind. Sie verkörpern mit einem Stolz, den sie aus der Identifikation mit ihrem Beruf zu entnehmen scheinen, dessen jeweilige Klischees: Im dramatischen Ausfallschritt besiegt der Feuerwehrmann das Feuer, der Polizist lacht als freundlicher Freund und Helfer in die Kamera, der Kellner wartet mit akkurat gebügelter Schürze auf die nächste Bestellung und der Bauarbeiter hält einen Moment von seiner schweren Arbeit inne und stützt sich auf seinen Bohrer. Die Abbildungen stammen aus einer Zeit, so scheint Lyotard mit der komplexen Montage aus Exponat, Text und Bild sagen zu wollen, in der die Funktionalisierung noch mit einem Glauben an den Fortschritt und die Emanzipation des Menschen verbunden war. Lyotard spannt so zwischen Text und Bild eine Diskrepanz auf, die ihn seinem Ziel, »die Frage zu intensivieren«,13 effektiv näher bringt. Über die Kopfhörer war je ein Ausschnitt aus dem Roman Au Bonheur des Dames (dt.: Das Paradies der Damen) von Emile Zola und aus Les goûts réunis von Gilbert Lascault zu hören. Die Zuordnung der Texte zu den beiden Stationen fällt nicht schwer: Zolas Text handelt von der Mode und Lascault schreibt über absurde Mahlzeiten. Beide entsprechen dem zynischen Tonfall, der auch den kurzen Text im Petit Journal prägt. Zolas »Beschreibung der damals noch neuen Institution Warenhaus und seine scharfsinnige Analyse der Verführung durch den Konsum«14 liest sich wie eine im schwelgerische Lobrede auf die unendlichen Möglichkeiten, die im Angebot eines großen Warenhauses liegen: »Hier die Unterjäckchen, die kleinen Corsagen, die Morgenmäntel, die Frisierumhänge, Leinen, Baumwolle, Spitze, lange weiße Gewänder, leicht und dünn, weiße Unterröcke von jeder Länge [...]«.15 Von einer mondänen, etwas snobistisch klingenden Stimme vorgetragen16 fügt der Text Toutes les peaux eine weitere Ebene hinzu: die »Überdifferenzierung«, von der im Inventaire die Rede ist, führt geradezu automatisch zu einem Überangebot an Waren, zu einem Überfluss von Möglichkeiten, sich nicht nur zu wärmen und zu kleiden, sondern auch zu schmücken und auszustatten, kurz: sich qua Kleidung eine Identität zuzulegen. Die Mechanismen des 13 Lyotard 1985b, S. 79. 14 Lehnert, Gertrud (2002): Verführung und Kaufrausch. Eine Weihnachtslektüre: Emile Zolas »Paradies der Damen«. In: http://www.uni-potsdam.de/ portal/dez02/konsum.htm (30.7.2005). 15 Zola, zit. nach Petit Journal, S. 6. 16 Vgl. Cournot 1985, o.S. 158
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Kapitalismus greifen also, so kann man das gesamte Setting der Station verstehen, von allen Seiten nach dem Konsumenten, der aus einer Vielzahl von Codierungen seine beruflichen und privaten Identitäten auswählen kann und muss und sich damit den überall präsenten Prinzipien des Marktes ausliefert. Ration alimentaire Ein ähnliches Argument übertrug an der nächsten Station, Ration alimentaire, Lyotards Überlegungen zur Kleidung auf den Bereich der Ernährung. Wieder wurde der Körper als Werkzeug verstanden, dessen möglichst gutes Funktionieren ausschließlich davon abhängt, dass seine materiellen Bedürfnisse erfüllt werden. Ration alimentaire zeigte die Grundbestandteile einer Mahlzeit, deren richtige Zusammensetzung garantiere, dass der Körper ideal versorgt werde: »kleine Haufen«17 Fette, Proteine, Kohlenhydrate wurden auf Tellern aufgehäuft in einem offenen Kühlschrank präsentiert. Auf einem Bildschirm wurden zudem Diätpläne angezeigt. Wie aus der Codierung Fett-Protein-Kohlenhydrat Nahrungsmittel zusammengestellt werden können, zeigte die Abbildung zu Ration alimentaire im Inventaire: dort war eine Fotografie von den Mahlzeiten zu sehen, die zwei Astronauten während eines viertägigen Fluges ins All zu sich nahmen. Die Dosen und Tüten, auf denen eine Beschriftung verkündet, für welchen Tag und welche Mahlzeit sie gedacht sind, liegen eng verpackt in einer fest verschnürten Kiste, die – als wenn dadurch die Künstlichkeit gesteigert werden sollte – von zwei mit weißen Handschuhen bekleideten Händen der Kamera präsentiert wird. Der Text, mit dem Lyotard im Inventaire das Setting begleitet, deutet die Komplexität an, die im Zuge einer solchen Optimierung verloren geht: »Der Ernährungscode hat früher ganz allgemein die Regulierung der Beziehungen einer Gesellschaft zu sich selbst und zur Natur garantiert. Heute tendiert er dahin, durch die Optimierung der Nahrungsfunktionen reguliert zu werden. Es gibt viele Ausdrücke dieses Optimums. Die einzige Identifikation, die unter diesen Bedingungen erlaubt ist: einen ›guten‹ Stoffwechsel haben.«18 Viele Aspekte der Ernährung, wie die Form, in der die Grundbestandteile der Nahrung verabreicht werden, ihre Herkunft, die Art und Weise ihrer Zubereitung oder ihr Geschmack – ganz abgesehen von dem Genuss, den eine Mahlzeit bereiten kann – werden in einem solchen Denken als irrelevant übergangen, ebenso wie kulturelle Fragen, die Lyotard unter »Steuerung der Beziehungen einer Gesellschaft mit sich selbst
17 Inventaire zu Ration alimentaire. 18 Ebd. 159
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und der Natur« subsummiert. Dass er diese Komplexität als verloren ansieht, gibt einen Hinweis darauf, dass er mit der Reduktion der Ernährung auf das eine Codierungssystem nicht einverstanden ist. Als wenn die Absurdität der Ernährung aus kleinen Häufchen, Dosen und Tüten noch zusätzlich akzentuiert werden sollte, waren über den Kopfhörer Teile des Textes Les goûts réunis von Gilbert Lascault zu hören. Dort werden verschiedene Methoden aufgezählt, nach scheinbar unsinnigen Kriterien Mahlzeiten zusammen zu stellen: »Der römische Kaiser Publius Septimus Greta (189-212) organisierte Mahlzeiten, bei denen die Bezeichnungen aller Gerichte mit demselben Buchstaben begannen.«19 Ebenso ist von Speisen die Rede, bei denen es lediglich auf die Farbe ihrer Zutaten ankomme, oder von welchen, die durch die Zugabe von Gold und Edelsteinen wertvoller gemacht werden sollten, oder es wird darüber nachgedacht, ob die Milch von schwarzen Kühen weißer sei als die andersfarbiger. Offensichtlich irrt sich der Kaiser mit seiner Analyse, welcher Code zu welcher Wirkung führt, was Lascaults Text zu einer satirischen Zuspitzung der Themen von Ration alimentaire machte. Tous les bruits An die beiden Stationen der Zone 10 schloss sich die Station Tous les bruits an, die allein die Zone 11 bildete. Sie lag in einem langen Gang und untersuchte eine Matrix, die einer Sprache sehr viel näher kommt als die Beispiele der beiden ersten Stationen: das Notensystem in der Musik. Die Station bestand aus einer Reproduktion der vollständigen Partitur des Stückes Remarques Pertinentes sur les Crustacés Décapodes (etwa: Aussagekräftige Anmerkungen zum Zehnfußkrebs) aus dem Jahr 1982. Der Komponist und Percussionist Jean-Charles François hatte es für je einen »Pianisten-Sänger und Tänzer-Sänger«20 geschrieben. Als 17 Meter langes Band21 waren die einzelnen Seiten etwa in Augenhöhe an die Wand montiert. Die Partitur bestand neben Notenlinien und Noten aus Fotografien, Zeichnungen, Worten und Diagrammen. François hatte diese unterschiedlichen Elemente ausgeschnitten und in seine Aufzeichnungen hinein geklebt, so dass sich Bilder von tanzenden Männern, Aufnahmen von gestikulierenden Personen oder einer jungen Frau, die vor einem Bürogerät posiert, mit so enigmatischen Anweisungen wie »main qui s’ouvre et se ferme aussitôt« oder »tout le corps se mettre debout« abwechseln und zu einem diagrammatischen Text-Bild-Gefüge zusammen-
19 Lascault, zit. nach Petit Journal, S. 6. 20 Box 94033/667, Archiv des Centre Pompidou. 21 Vgl. eine Skizze aus Box 98014/021, Archiv des Centre Pompidou. 160
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Abb. 14 : Ausschnitt aus der Partitur (Inventaire).
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finden. Lyotards Text im Inventaire bringt das Thema der Station auf den Punkt: »Wie kann man die Klänge aufschreiben, ›Lärm‹ inklusive, die die zeitgenössische Musik bilden? Die Schwierigkeit einer Notation ohne Noten. Das musikalische Alphabet kann nicht alles bezeichnen, Zuflucht zu Symbolen. Die Partitur als Rebus.«22 Der Gang entlang dieser Partitur, deren einzelne, durchnummerierte Seiten als Kopien auf einen silbrigen Stoff aufgeklebt waren, führte eindrücklich das Ringen des Komponisten um eine adäquate Schreibweise vor Augen. Die Partitur dürfte für die Besucher nahezu unlesbar gewesen sein – zu assoziativ, fremd und eigen sind die Elemente, aus denen sie zusammengesetzt ist. Umso wichtiger war, dass über die Kopfhörer eine Aufnahme des Stückes zu hören war, obwohl es auch mit dieser Ergänzung nur einem musikalisch vorgebildeten Besucher möglich gewesen sein dürfte, Teile des Stückes mit Hilfe der Partitur nachzuvollziehen. Tous les bruits ist damit eine der wenigen Stationen, bei denen das Kopfhörerprogramm akustisch präsentierte, was visuell gezeigt wurde. Die Partitur und ihre Aufführung wurden somit als zwei unterschiedliche Repräsentationen desselben Codes dargestellt, der in zwei verschiedene Rohstoffe eingeschrieben wurde, um in der Terminologie des mât-Systems zu bleiben: Die der Nachricht Remarques Pertinentes zugrundeliegenden Codes sind das traditionelle Notationssystem und François’ Weiterentwicklungen der Notenschrift, die Rohstoffe die Blätter der Partitur und die Klänge des Musikstückes. Lyotards ungewöhnlich langer Text im Petit Journal zu Tous les bruits reflektiert die durch François’ Schreibweise veranschaulichte Notwendigkeit, die bekannten Codes in bestimmten Fällen um neue Facetten für die bisher »nicht dechiffrierbaren oder nicht vergleichbaren Phänomene«23 zu erweitern: »Was ist der Unterschied zwischen der Vibration, die produziert wird, indem Sie mit der Handfläche auf den Korpus Ihres Klaviers schlagen, und derjenigen, die Sie erhalten, indem sie mit einem Finger eine Taste auf der Tastatur anschlagen? Letztere ist ein Ton, ausgewählt durch eine Matrix, die temperierte Tonleiter; man kann es auf einer klassischen Partitur notieren. Ist erstere nur ein Lärm? Wie alle zeitgenössischen Künste befragt sich die Musik über ihre Grenzen. Die Forschung zu den Perkussionen, zu den synthetischen Tönen, zur nicht-europäischen Musik, zur Akustik machen die Idee der sonoren Matrix komplexer. Auswirkung auf die musikalische Notierung.«24
22 Inventaire zu Tous les bruits. 23 Inventaire, Einführung zu Matrice. 24 Petit Journal, S. 6. 162
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Diese »Befragung über ihre Grenzen« ist ein Aspekt der zeitgenössischen Kunst, den Lyotard als unerlässlich ansieht, wenn die Kunst sich nicht der Gefahr aussetzen will, von wirtschaftlichem Denken und Handeln vereinnahmt zu werden. Einen bestehenden Code zu modifizieren kann also der Notwendigkeit zur Erweiterung des bisher Bekannten Rechnung tragen, deren Ziel ein besseres Erfassen der Singularität eines bestimmten Phänomens ist. Es kann aber auch, und diese Alternative wird an vielen Stellen in Les Immatériaux kritisch beurteilt, Ausdruck des Willens sein, neue Matrizes auszudenken und »pure Artefakte«, wie Lyotard in der Einführung in den zweiten Weg im Inventaire schreibt, zu erzeugen – dann läuft sie Gefahr, zu einer Geste der willkürlichen Macht des Subjekts zu werden. Zone 12 Am Ende des Ganges, in dem sich die Station Tous les bruits befand, lag Langue vivante, die mit den folgenden drei Stationen zur großen Zone 12 zusammengefasst war. Diese Zone zeigte weitere Beispiele für Codes, die aus völlig verschiedenen Bereichen stammten: So wurde bei Langue vivante die DNS als Code des Körpers vorgestellt, wurden die Besucher bei Jeu d’échecs durch einen schwarz-weiß gewürfelten Boden in ein Schachspiel verwickelt und bei Variables cachées nach demographischen Daten gefragt, und bekamen bei Matricule eine ungewöhnliche Sicht auf das Sonnensystem präsentiert. Lyotard fasst diese so unterschiedlichen Stationen im Petit Journal zusammen: »Was existiert, existiert nur, wenn es nach Regeln einer operativen Matrix möglich ist: Regeln des Schachspiels, der DNS, der Wahrscheinlichkeit einer Ausstellungsbesuchs, der kosmischen Individuation. Darüber hinaus werden bestimmte Möglichkeiten der Matrix de facto vernachlässigt. Die Notwendigkeit und der Zufall, die mathematische Struktur und die unverständliche Zufälligkeit lassen sein, was ist.«25
Hier spricht Lyotard explizit an, was er vor allem bei den ersten beiden Stationen des Weges nur andeutete: »bestimmte Möglichkeiten der Matrix [werden] de facto vernachlässigt.« Der Traum von einer idealen Kleidung und perfekten Ernährung lässt keinen Raum für diejenigen Phänomene, die sich der Kontrolle und der Steuerung entziehen, weil sie per se unkontrollierbar sind. Umso stärker sind sie nun in den folgenden Stationen vertreten: Das Kopfhörerprogramm der gesamten Zone 12 bestand aus Ausschnitten des Gedichtes Un coup de dès jamais n’abolira le hasard (Ein Würfelwurf wird niemals den Zufall abschaffen) von Stephane 25 Petit Journal, S. 6. 163
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Mallarmé aus dem Jahr 1897, die mit Texten von Dolores Rogozinski kombiniert waren. Sowohl das Petit Journal als auch Route: Zones & Sites verschweigen allerdings wie so oft, welche Teile des gesprochenen Textes von wem verfasst wurden. Ein Vergleich mit dem berühmten Gedicht Mallarmés zeigt, dass nur etwa ein Drittel des Kopfhörertextes aus Un coup de dès stammt, und zwar aus den letzten drei von Mallarmé auch visuell gestalteten Seiten. In der ausführlicheren englischen Übersetzung des Kopfhörerprogramms wird der Name von Rogozinski nicht einmal genannt, obwohl ihr Text gekennzeichnet wird, indem er linksbündig gedruckt wird. Eine solche Ungenauigkeit führte die Besucher von Les Immatériaux auf eine Art und Weise in die Irre, die sich nicht mehr mit einer Didaktik der offenen Fragen erklären lässt. Mallarmé spürt in seiner »Partitur«,26 wie er selbst in einer Vorrede das Gedicht nennt, der Differenz nach, die zwischen einem linear fortlaufenden Text und diesem »ersten abstrakten Figurengedicht der Weltliteratur«27 – über jede Seite sind die Worte in unterschiedlichen typografischen Größen und Schnitten verteilt – existiert: »Der literarische Vorteil [...] dieser Distanzschreibung, die ihrem Sinn nach Wortgruppen oder einzelne Wörter trennt, scheint der: dann und wann die Bewegung zu beschleunigen oder zu verlangsamen, sie skandierend, sie umfassend sogar zu einer simultanen Vision der Buchseite [...]. Alles ereignet sich gerafft, als Hypothese, man vermeidet die Erzählung.«28
Im Kopfhörerprogramm geht die semantische Ebene, die sich aus der Visualität des gesetzten Textes ergibt, verloren, auch wenn man vermuten kann, dass gerade dieser Aspekt Lyotard besonders interessiert haben wird. Für die Hörer des Textes blieb daher nur die Metapher des Würfelspiels erhalten, die Lyotard als Beweis dafür einzusetzen scheint, dass der Zufall immer auch als ein Bestandteil einer jeden Matrix gesehen werden muss: »ES WAR / sternhaften Ursprungs / DIE ZAHL [...] / ES WÄRE / schlimmer / nicht / mehr oder weniger / ununterscheidbar doch gleichviel / DER ZUFALL / NICHTS / WIRD STATTGEFUNDEN HABEN [...] / ALS DIE STÄTTE [...] EINE ORDNUNG VON ZEICHEN [...].«29 Mallarmés ungewöhnliche mediale Lösung für Un coup de dès 26 Mallarmé, Stéphane (1966): Ein Würfelwurf. Übersetzt und erläutert von Marie-Louise Erlenmeyer. Olten, Freiburg., »Vorwort«, o.S. 27 So die Ankündigung des Buches in der Reihe Typographische Bibliothek des Lipsius-Verlages aus Kiel, http://www.lipsius.de/steidl.html. 28 Mallarmé 1966, »Vorwort«, o.S. 29 Ebd., o.S. Die »Tanskription« der über die ganze Seite verteilten Zeilen im Petit Journal entspricht in Bezug auf die Auslassungen und Forma164
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funktioniert ähnlich wie der labyrinthische Grundriss von Les Immatériaux, der sich jedem Versuch, eine schlichte Matrix in ihm zu entdecken, entzieht, »die Stätte, die stattgefunden hat«, erinnert in der Abstraktion von jeglicher räumlicher und zeitlicher Konkretisierung an Lyotards Begriff des Satzes aus Der Widerstreit. Lyotard setzt Mallarmés ›Textbild‹ als überzeugenden poetischen Gegenspieler gegen die Vorstellung ein, alles lasse sich auf eine sprachförmige Matrix zurückführen und damit vollständig verstehen. Rogozinski nimmt in ihrem Text unmittelbar Bezug auf die Themen der zur Zone 12 gehörenden Stationen: Sie schreibt über das Schachbrett, die DNS und die Sterne. Ihr Ton ist im Gegensatz zum nüchternen Stil von Lyotards einführendem Satz im Inventaire und zu Mallarmés poetischer Freiheit von einer fatalistischen Schwere geprägt: »Da existieren Sie. Auf diesem Platz des Schachbretts. Geordnet, nummeriert, markiert. Bereits vor Ihrer Geburt, angeordnet, eingetragen. / Diese innere Reglementierung, diese invariante und verheimlichte Zuteilung wird Sie auf Befehl einer Notwendigkeit programmiert haben [...]. Man muss immer noch mit dem Unfall, der Ausnahme, dem Glück rechnen, die das System ablenken.«30
Die Kritik an Reglementierungen, Programmierungen und Einschreibungen, die bei Rogozinski anklingt, nimmt Bezug auf Lyotards Interesse an dem, das sich nicht darstellen, verstehen und kontrollieren lässt. In der Zone 12 setzt er also dem neutral-affirmativen Ton, der im Inventaire und im Petit Journal vorherrscht, das Kopfhörerprogramm wie ein Gegengewicht entgegen: Der letzte Satz von Rogozinskis Text nennt das eine Schlupfloch, das aus der Determiniertheit noch bleibt. Die Kontingenz wird so zu einer Art Anti-Matrix, die eine ebenso große Macht haben kann wie die vermeintlich geordneten Gesetzmäßigkeiten. Langue vivante Die Station Langue vivante war eine der am besten besuchten Stationen der Ausstellung. Heinich konstatiert dies in ihrer Evaluation und vermutet, dass der Grund dafür darin lag, dass ein Film gezeigt wurde – im Gegensatz zu den Stationen, die interaktive Installationen anboten, erwiesen tierungen des Textes nicht dem Original. Ich gebe oben die deutsche Übersetzung von Marie-Louise Erlenmeyer wieder – zum Vergleich hier der Text aus dem Petit Journal: »[…] C’était issu stellaire / le nombre [...]. / Ce serait / pire / non davantage ni moins / indifféremment mais autant / le hasard / rien […] / n’aurait eu lieu / que le lieu […] / Une constellation […].« Mallarmé, zit. nach Petit Journal, S. 6. 30 Rogozinski, zit. nach Petit Journal, S. 6. 165
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sich diejenigen mit Filmen bei den Besuchern als besonders beliebt, wie z.B. Corps chanté, Visites simulés oder Profondeur simulée. Der Film in Langue vivante zeigte Experimente mit Embryonen von Kälbern und Kaninchen, die im Centre National de la Recherche Scientifique entstanden waren. Die Bilder davon, wie mit einer Nadel fremde DNS in eine entkernte Eizelle eingebracht wird, haben die Stammzellendebatte der letzten Jahre visuell geprägt; 1985 dürften sie noch nicht zum Bildrepertoire des Wissenschaftsjournalismus gehört haben.31 Lyotard setzte mit Langue vivante die Reise in den Körper fort, die mit der Station Corps éclaté auf dem ersten Weg begonnen hatte; war dort die einzelne Zelle der Endpunkt der Reise, stellte sie hier ihren Ausgangspunkt dar: »Im Herzen der Zellen zeigen sich die Vielfalt und die Komplexität der molekularen Organe: Nachrichten, Empfänger für Codes, Kommunikationsnetze, Informationsspeicher, die die biochemische Erkennung und Interaktion ermöglichen«,32 schreibt Lyotard im Inventaire. Der Blick auf die MikroEbene offenbare, so argumentiert er hier, dass der Körper sich nicht aus substanziellen Elementen zusammensetze, sondern von sprachartigen, nicht-materiellen Vorgängen gesteuert werde. Daher, so fordert Lyotard, müssten sich die Analysemethoden ändern, mit denen wir versuchen, die Welt zu verstehen: »Es geht heute darum, die fundamentalen Prozesse des Lebens mit den Begriffen der Kommunikation und der Kybernetik im Maßstab der Moleküle zu verstehen und zu interpretieren.«33 Wieder hält er sich mit einer Bewertung dieser neuen Methoden zurück. Es wird überhaupt nicht deutlich, dass er der auch hier anklingenden modernen Vorstellung, alles sei lesbar, sehr kritisch gegenüber steht. Allzu leicht kann seine Neutralität als Affirmation missverstanden werden, z.B. im Inventaire, wo Abbildungen eines Chromosoms und der Doppelhelix zu sehen sind, und wo er in einer Bildunterschrift noch einmal das zentrale Thema der Station auf den Punkt bringt: »Die molekulare Sprache dekodieren, sie lesen können, zu lernen, sie zu schreiben.«34 Jeu d’echecs Die folgende Station, Jeu d’echecs, lag unmittelbar neben Langue vivante. Sobald die Besucher Langue vivante verlassen hatten, befanden sie sich mitten in einem überdimensionierten Schachspiel, was für sie zu31 Jacek Modlinski, einer der beiden Wissenschaftler vom CNRS, die in dem Film zu sehen waren, war ein Pionier dieser Technik: Ihm war es erstmals in den frühen 1980er Jahren gelungen, die DNS in eine Eizelle zu transferieren. 32 Inventaire zu Langue vivante. 33 Ebd. 34 Ebd. 166
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nächst nur daran erkennbar war, dass sie auf einem schwarz-weiß gewürfelten Fußboden standen. Viele erkannten allerdings das Schachbrettmuster nicht als eigentliches Ausstellungsobjekt.35 Sie fanden lediglich einen Bildschirm, der sich am Eingang der Station befand und der, wie Lyotard enigmatisch im Inventaire schreibt, »das mathematische Prinzip der Matrix«36 zeigte. Bewegten sie sich weiter in die Station hinein, wurden sie überrascht davon, dass sie mal von einem Spot beleuchtet wurden, mal nicht. Die Steuerung der Spots erfolgte durch einen Computer, der mit im Boden installierten Sensoren verbunden war und der jedes Mal, wenn ein Besucher ein Feld betrat, auf dem in einer verborgen gespielten Schachpartie eine Figur stand, das Licht aktivierte. Jeder Besucher wurde damit ein ebenso rat- wie machtloser Teil der Partie: »Er ist der Entwickler [wie die Entwicklerlösung im Fotolabor, Anm. A.W.] einer Situation, deren Entstehung den Gesetzen der Matrix unterworfen ist«,37 schreibt Lyotard im Inventaire. Die Lichtreflexe boten Anhaltspunkte dafür, dass etwas existierte, von dem die Besucher zunächst nichts wussten; Forschern gleich versetzte Lyotard sie in eine unbekannte Situation, deren Regeln und Akteure es zu analysieren galt: »Von einer offensichtlich zufälligen Folge von Ereignissen zurückgehen bis auf die Regel des Spiels (Matrix), das sie lenkt. Ein Ereignis findet nur statt, wenn es von der Matrix (z.B. der Gesamtheit der lexikalischen und syntaktischen Regeln des Schachspiels) und der Situation oder dem Kontext (Zustand des Spiels zu einem gegebenen Zeitpunkt) zugelassen wird.«38
Wer die wenigen Zeilen im Petit Journal, die die Funktionsweise des Schachspieles erklärten, vor Betreten der Station gelesen hatte, wusste von der Rolle, die er unfreiwillig einnahm – wer unvoreingenommen in den kleinen Raum hinein lief, verließ ihn entweder wieder, ohne überhaupt bemerkt zu haben, dass er als »Entwickler« gedient hatte oder musste sich mit einigem Aufwand dem Verstehen der verborgenen Matrix widmen. Dazu stand ein weiterer Monitor am Ausgang der Station zur Verfügung, der ein elektronisch gespieltes Schachspiel zeigte. Unabhängig davon, ob sie sich mit der Station ausführlicher beschäftigen, waren die Besucher materielle Bezugspunkte für die abstrakten Codierungen, deren Funktionen von ihren Entscheidungen völlig unabhängig waren. Rogozinskis Vision, jeder sei nach verborgen bleibenden Notwend-
35 36 37 38
Vgl. Cahier Expo Media 1986, S. 82. Inventaire zu Jeu d’echecs. Ebd. Ebd. 167
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igkeiten programmiert, findet in Jeu d’echecs eine konsequente Umsetzung. Im Inventaire sind zu Jeu d’echecs einige Seiten aus Edgar Allan Poes Erzählung Der Goldkäfer von 1843 abgebildet. Poe erzählt von einem sonderbaren Einsiedler, der auf einem Spaziergang einen Goldkäfer findet – ein seltsames Insekt, dessen Farbe den Diener des Einsiedlers zu der Vermutung verleitet, er bestehe aus Gold. Um das Tier nach Hause zu transportieren, wickeln sie es in ein Stück Pergament ein, das sie zufällig am Strand finden. Dieses Pergament erweist sich als Träger einer geheimen Botschaft, die nur unter Einfluss von Hitze lesbar wird und auf einen Piratenschatz hinweist. Ein guter Teil des Textes beschäftigt sich damit, wie der Einsiedler seinem Freund, dem Erzähler, von seinem Vorgehen zum Entschlüsseln dieser Geheimbotschaft berichtet. Diejenigen Seiten der Erzählung, die seine Dekodierung der geheimen Matrix beinhalten, sind im Inventaire abgebildet – eine komplizierte Folge von Zahlen, Zeichen und Buchstaben. Sie wirken sowohl als Bild – schon der erste Blick auf die Seite des Inventaire ist durch die vielen Tabellen und Formeln verwirrend – als auch als Text, dem zu folgen man einige Mühe hat, weil man jeden der entschlüsselnden Schritte nachvollziehen muss, um der Geschichte folgen zu können. Der Leser des Kataloges befindet sich an der Stelle des Ich-Erzählers, dessen Verwunderung und Faszination für die Leistung des Einsiedlers zu Beginn des Textes offensichtlich wird: »Viele Züge im Wesen des Einsiedlers erweckten mein Interesse und erfüllten mich mit Hochachtung für ihn«.39 Diese Identifikation mit demjenigen, der seine Energie dem Verstehen einer verborgenen Matrix widmete, war es, die Lyotard den Besuchern dieser Station abverlangte und die sicher von vielen nicht als Thema erkannt wurde, sei es, weil sie die Station direkt wieder verließen oder sei es, weil sie das Setting als technische Spielerei missverstanden. Matricule Von Jeu d’echecs aus gelangten die Besucher zu einer freien Fläche, von der aus sie Zugang zu drei Wegen hatten: Surface introuvable vom ersten und Irreprésentable vom vierten Weg boten sich als ebenso sinnvolle Anschlüsse an wie die kleine Kammer, in der sich der zweite Weg fortsetzte. Betrat man sie, stand man zunächst in der Station Matricule, die den Besuchern ein Terminal zur Interaktion anbot und in der eine Vergrößerung des spiralförmig in die Länge gezogenen Fingerabdrucks hing, der als Signet von Les Immatériaux diente.40 Man konnte an einem Com-
39 Poe, http://gutenberg.spiegel.de/poe/kaefer/kaefe001.htm. 40 Vgl. Cournot 1985, o.S. 168
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puter mit Zahlenfolgen experimentieren, von denen einige Objekte von der Erde und aus dem All bezeichneten. Zu jedem auf diese Weise identifizierten Objekt wurde über einen Diaprojektor ein fiktiver Ausweis gezeigt – derjenige einer menschlichen Identität, wenn die Zahlenfolge die Erde betraf, derjenige eines Minerals, wenn sie ein Objekt im All betraf. Eine einfache Folge von Zahlen, so Lyotard im Inventaire, genüge also, um alles im Sonnensystem identifizieren und einordnen zu können: »Die Zahlen reichen aus, um alle möglichen Zustände der Materie zu klassifizieren. Sie erlauben eine exklusive und komplette Beschreibung: sie geben die Identifikation und die Einordnung von jedem beliebigen Individuum.«41 Die Matrix, die an dieser Station vorgestellt wurde, stellte ein klassisches Ordnungssystem dar, das tatsächlich in der Lage war, ein Objekt eindeutig zu identifizieren. Die Fotografie im Inventaire verbildlicht den Prozess der Bezeichnung. Zu sehen ist ein Abzug von einer Aufnahme der südlichen Hemisphäre, auf dem einzelne Sterne und Sterngruppen mit Buchstaben- und Zahlenfolgen beschriftet sind. Diese Abbildung macht deutlich, dass die »exklusive und komplette Beschreibung«, von der Lyotard im typischen affirmativen Ton des Inventaire etwas anmaßend schreibt, sich nur auf die Relationen beziehen kann, die ein Element innerhalb einer Gruppe von Elementen hat – mit der Bezeichnung »N346« ist eine Sternenkonstellation keineswegs tatsächlich beschrieben, sondern lediglich unter anderen Konstellationen verortet. Zusätzlich zu dem Terminal gab es einen Bildschirm, auf dem die Partitionen der Zahl Vier, wie sie in der theoretischen Physik Verwendung finden, dargestellt und erklärt wurden. Diese Rechenoperation zerlegt eine Zahl in die Menge aller möglichen Einzelzahlen (außer der Null) oder Summen von Einzelzahlen, aus denen die Ausgangszahl gebildet werden kann. So sind die Partitionen der Zahl 4 z.B. 4, 3 + 1, 2 + 2, 2 + 1 + 1 und 1 + 1 + 1 + 1. Matricule schlug so, ähnlich wie Indiscernables vom ersten Weg, einen extrem weiten Bogen zwischen hochspezialisiertem Fachwissen und der Lebenswelt der Besucher. Die Wahrscheinlichkeit, dass nur wenige Rezipienten den Verweis auf die Physik überhaupt registrierten, geschweige denn verstanden, war hoch – für alle anderen mag diese Station wie eine banale Spielerei gewirkt haben. Variables cachées Von Matricule aus kam man zur Station Variables cachées, die direkt nebenan lag. Dort befand sich ebenfalls ein Computer, mit dem die Besucher in Interaktion treten konnten, sowie eine Projektion, die aus den Be41 Inventaire zu Matricule. 169
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rechnungen des Computers generiert wurde. Über die Tastatur konnten die Besucher Angaben zu ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrer Ausbildung und ihrem Wohnort in eine Statistiksoftware eingeben, die ihre Antworten sofort zu allen bisher gegebenen Antworten hinzurechnete und grafisch darstellte. Variables cachées diente tatsächlich als Ort der Datenerhebung in Les Immatériaux, die Ergebnisse wurden in der Evaluation der Ausstellung als soziologisch-ausstellungstheoretische Studie veröffentlicht. Dort kann man z.B. nachlesen, dass 25.765 Besucher die Fragen von Variables cachées beantwortet haben, dass insgesamt 87% von ihnen unter 39 Jahre alt, 56% Männer, 28% Studenten und 3% Arbeiter waren, und dass insgesamt 49% akademischen und freien Berufen angehörten, knapp über die Hälfte der Besucher kam aus Paris oder den Vororten, 27% aus dem Ausland.42 Die Station suggerierte durch die statistischen Berechnungen, dass tatsächlich erhebbar sei, welchen gesellschaftlichen Hintergrund ein Besucher haben musste, damit die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass er den Centre Pompidou besuchte. Lyotards Text im Inventaire legt nahe, dass dies mit dem Experiment auch tatsächlich bewiesen werden sollte: »Durch eine Untersuchung über den Besucher wird eine versteckte Variable der Ausstellung aufgedeckt: Die Öffentlichkeit. Die Suche (vor Ort) nach der Gesamtheit der Regeln (Matrix), die das Phänomen ›Besuch von Les Immatériaux‹ beherrschen.«43 Dieses Ziel sei aber, so Lyotard sowohl im Inventaire als auch im Petit Journal, keineswegs erreicht worden: »Die statistische Aufbereitung zeigt, dass der Besuch von unbekannten Variablen bestimmt wird. Wieder andere müssen außerhalb von jeder Kontrolle agieren.«44 Wie in Jeu d’echecs auch klingt wieder Rogozinskis Beschwörung des sich Entziehenden, von »Unfall, Ausnahme und Glück« an. Auch Lyotard kommt zu diesem Schluss, wenn er im Inventaire der Phantasie, das »Phänomen Besuch von ›Les Immatériaux‹« ließe sich vollständig analysieren, den Schluss entgegensetzt: »Die Unmöglichkeit, die Matrix zu sättigen und das System vom ›Kontext‹ zu isolieren.«45 Wie ein wissenschaftshistorisches Echo dieser Überlegungen sind im Inventaire zwei schematische Zeichnungen von Sigmund 42 Das Profil der Besucher von Les Immatériaux war also keineswegs repräsentativ für die Bevölkerung Frankreichs, wer die Ausstellung besuchte, war jünger, urbaner und besser ausgebildet als der Durchschnitt. Dies entsprach, so Heinich in der Evaluation, in etwa der Zusammensetzung der Besucher des Centre Pompidou insgesamt. Vgl. Cahier Expo Media 1986, S. 73. 43 Inventaire zu Variables cachées. 44 Ebd. 45 Ebd. 170
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Freud aus den Jahren 1921 und 1932 abgebildet. Freud stellt dort bildlich dar, wo er innerhalb der Topologie des psychischen Apparates das Es lokalisiert – diejenige Instanz also, in der er die dem Bewussten nicht zugänglichen Triebe, Bedürfnisse und Affekte verortet. Lyotards intensive Beschäftigung mit Freud in seinen frühen Schriften klingt hier an. Petits invisibles Verließ man Variables cachées, kam man zunächst in die Stationen Indiscernables und Matériau dématérialisé vom ersten Weg. Die letzten beiden Stationen des zweiten Weges lagen damit so weit von Variables cachées entfernt, dass der thematische rote Faden den Besuchern völlig abhanden gekommen sein dürfte. Petits invisibles und Architecture plane waren zur Zone 13 zusammengefasst, in der – wie bereits in der Zone 9 vom ersten Weg – ein Auszug eines Textes von Henri Michaux aus dem Jahr 1972 gelesen wurde. Michaux, der zugleich Maler, Zeichner und Schriftsteller war, schrieb mit Emergences – Résurgences eine Art Autobiographie seiner Entwicklung als Zeichner. Der Ausschnitt, der in Les Immatériaux zu hören war, thematisiert die Linie und ihre nahezu selbsttätige Bewegung beim Zeichnen: »Die Linie sucht, / ohne zu wissen, was sie sucht / [...] darauf bedacht, nicht ›anzukommen‹, / Linie der blinden Nachforschung«.46 Wer sich auf solche »blinde Nachforschung« einlässt und »nicht ankommen« will, geht kaum davon aus, dass es eine alles erklärende Matrix zu finden gilt. Das Kopfhörerprogramm war also auch hier ein poetischer Gegenspieler gegen die Macht der Moderne, deren Ideologie des »alles spricht« einmal mehr von der Kunst – der Poesie ebenso wie der Zeichnung – konterkariert wurde. Petits invisibles bestand aus drei Bereichen, die mit »demselben Motiv« dekoriert waren, wie es im Inventaire heißt. Eventuell handelte es sich dabei um Strukturen oder Farbflächen an den Wänden. Die Bereiche wurden abwechselnd beleuchtet: Im ersten Bereich wechselte natürliches Licht mit monochromatischem Licht ab, im zweiten strahlte mal natürliches, mal ultraviolettes Licht die Dekoration an und im dritten Bereich gab es nur natürliches Licht. Der schlichte visuelle Eindruck im dritten Bereich wurde allerdings von einer Infrarot-Kamera verkompliziert, die die Dekoration filmte und dadurch den Besuchern nicht sichtbare Teile auf einem Monitor sichtbar machte. Ähnliches geschah im zweiten Bereich: das UV-Licht ließ Teile der Dekoration erkennen, die dem bloßen Auge verborgen blieben. Eine solche Methode des Sichtbarmachens war auf der Abbildung im Inventaire zu sehen: dort war eine Thermographie, eine Wärmeaufnahme, von Obstgärten in Avignon abgebildet. Im rechten
46 Michaux, zit. nach Petit Journal, S. 7. 171
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Winkel aus großer Höhe herab nach unten fotografiert, wirken die Parzellen wie ein unregelmäßiges Patchworkmuster, was eine Ordnung offenbarte, die für einen in den Gärten stehenden Betrachter kaum zu erkennen wäre. Petits invisibles griff ein Thema auf, das vor allem auf dem ersten Weg an vielen Stationen eine Rolle gespielt hatte: «Finally, in the site ›The Small Invisibles‹, it was demonstrated that bodily senses no longer supply the empirical court of appeal for scientifc theories.«47 Im Petit Journal bezeichnet Lyotard diese Lichttechniken als »neue visuelle Prothesen«, welche »die Matrix der Sichtbarkeit modifizieren«48. Was bisher als sichtbar und was als unsichtbar galt, wurde, so kann man ihn hier verstehen, von den optischen Gesetzen, denen das Auge unterworfen ist, gesteuert. In der Loseblattsammlung der Vorbereitungsskizzen aus dem Archiv des Centre Pompidou bringt Lyotard das Ziel der Station deutlicher als in den veröffentlichten Texten auf den Punkt: »Faire apparaître à l’œil des couleurs que l’homme ne peut pas percevoir, c’est enrichir la palette chromatique avec laquelle il s’inscrit dans le monde extérieur.«49 Die Codierungen des Sehens wurden durch die in Les Immatériaux exemplarisch gezeigten Technologien, die Licht aus dem ultravioletten oder dem infraroten Spektrum in für uns sichtbares Licht umwandeln können, ausgedehnt, wie Lyotard im Inventaire sagt: »Die Vervielfältigung von Objekten, die für das menschliche Auge durch Ausrüstungen zum Erfassen, Aufzeichnen und zur Wiedergabe von unsichtbaren Wellen sichtbar werden. Das menschliche Auge hat Zugang zu Informationen, die jenseits und diesseits der ›natürlichen‹ Grenzen seines Wahrnehmungsfeldes liegen.«50 Mit diesem Bezug auf die Ausweitungen des menschlichen Sinnesapparates würde Petits invisibles auch gut zum dritten Weg passen, auf dem die neuen Technologien als neue Apparaturen für den Empfang von Nachrichten befragt wurden. Architecture plane Die letzte Station des Weges, Architecture plane, war neben Référence inversée vom vierten Weg und Terroir oublié vom fünften Weg eine von drei Stationen, die Werke von avantgardistischen Architekten des 20. Jahrhunderts präsentierte. Die Architektur spielte innerhalb von Les Immatériaux eine besondere Rolle, weil sie auf besondere Art und Weise geeignet war, Lyotards Frage nach dem Verhältnis von Autor, Material, 47 48 49 50
Rajchman 2004, S. 236. Petit Journal, S. 7. Box 94033/667, Archiv des Centre Pompidou. Inventaire zu Petits invisibles. 172
PHÉNOMÉNOLOGIE DE LA VISITE: DER ZWEITE WEG
Matrix und Referent zu untersuchen: Die Materialien der Architektur sind im wörtlichen Sinne Rohstoffe, die einem Projekt zu dienen haben und die anders als bei der Malerei – die andere Kunstgattung, die besonderes Gewicht in der Ausstellung hatte – von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der Gebäude waren. Diesem Funktionieren ordnet der Architekt die Matrix, den Entwurf, in stärkerem Maße unter als der Maler, der lediglich einem ästhetischen Funktionieren unterworden ist, das weitaus weniger eng definiert ist als die Sicherheit, Funktionalität und Finanzierbarkeit eines Gebäudes. In Architecture plane, der letzten Station des zweiten Weges, ging es um die Relation zwischen dem Entwurf und dem fertigen Gebäude. Es hingen Pläne und Zeichnungen von Zaha Hadid, Rem Koolhaas und Piet Zwart an den Wänden, kombiniert mit architektonischen Modellen von Kasimir Malewitsch aus den 1920er Jahren. Diese Zusammenstellung solle zeigen, so Lyotard im Inventaire, dass nichts »die architektonische Zeichnung von der eines Malers [unterscheidet]«,51 und umgekehrt, dass das architektonische Modell des Malers keine grundlegende Differenz zu demjenigen eines Architekten aufweise. »Die neuen Materialen befreien den Architekten von den Zwängen des ›Bauens‹«,52 schreibt Lyotard in der kurzen Einführung in die Zone 13 im Petit Journal, eine Überlegung, die eigentlich besser zum ersten Weg passen würde und die daher hier ein wenig überrascht. Deutlicher auf die Thematik des zweiten Weges bezogen ist der folgende Satz: »Der Code der architektonischen Botschaft neigt dazu, sich mit demjenigen der freien Zeichnung zu vermischen«.53 Ist der Bau selbst nicht mehr das eigentliche Ziel, steigt der Stellenwert des Entwurfes, wie Lyotard im Inventaire textlich und in der Ausstellung durch die Auswahl der Architekten konstatiert. Es waren insgesamt fünf Entwürfe zu sehen. Von Piet Zwart (18551977), der als Designer, Innenarchitekt, Typograph und Fotograf gearbeitet und am Bauhaus gelehrt hatte, zeigte die Ausstellung das Projekt eines Standes für die Zelluloidfabrik auf der Messe in Utrecht aus dem Jahr 1921. Lyotard schreibt über ihn im Inventaire: »Linien, Flächen, Farben bedeuten über eine Interpretation in ›Raum‹-Begriffen hinaus ein unabhängiges Entwerfen der Materialien, die den Raum konstituieren.«54 Von Rem Koolhaas (*1944), der Ende der 1970er Jahre mit seinem Buch Delirious New York (1978) und einem Entwurf für die Erweiterung des Parlaments in Den Haag als Theoretiker bekannt wurde, war ein dreiteiliger Entwurf für eine Anlage in Rotterdam mit dem Titel Isometrische 51 52 53 54
Inventaire zu Architecture plane. Petit Journal, S. 7. Ebd. Inventaire zu Architecture plane. 173
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Übersicht der Gesamtanlage, Triptychon aus dem Jahr 1982 zu sehen. Im Inventaire bezeichnet Lyotard das Projekt als »realen Ort der Architektur«55: »Die gebaute Realisierung dessen ist lediglich eine Darstellung durch Materialien, die als sie selbst verschwinden, eine fatal inadäquate und vielleicht nicht notwendige Reproduktion.«56 Zur Zeit von Les Immatériaux war Koolhaas ebenso wie die auch in der Station vertretene Zaha Hadid weniger durch spektakuläre Bauten als vielmehr durch seine theoretischen Auseinandersetzungen bekannt. Hadid, eine der wichtigsten Vertreterinnen des Dekonstruktivismus und eine Schülerin von Koolhaas, erregte 1983 mit ihrem ungebauten Entwurf für einen Freizeitpark in Hongkong erstmals internationales Aufsehen und realisierte 1993 ihr erstes Gebäude, das Feuerwehrhaus des Vitra-Werks in Weil am Rhein. Von ihr war eine Zeichnung mit dem Titel Les trois tours aus dem Jahr 1985 zu sehen, über die Lyotard schreibt, sie ein »graphisches Zwischenspiel, das auf das geringe Interesse für die Architektur als fertiges Objekt oder Resultat hinweist«.57 Die visuellen Eigenschaften dieser Arbeiten erlaubten keinen Rückschluss auf die sie erzeugende Matrix, wie Lyotard im Inventaire konstatiert: »Die Baumaterialien können nach Bedarf produziert werden, also während eines Projekts. Das auf dem Papier geplante Bauwerk macht also das Wesentliche der architektonischen Nachricht aus. Die Zeichnung des Architekten emanzipiert sich von den Zwängen des Bauens und nähert sich denen des Malens. Das Ineinandergleiten des einen Codes in den anderen macht die Unterscheidung zwischen den beiden Nachrichten, architektonisch und bildlich, unsicher.«58
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Inventaire zu Architecture plane Ebd. Ebd. Ebd. 174
7 . 4 . D e r d r i t t e W e g : Ma t é r i e l – S i n ne s w a h r n e h m u ng , P r o t h e s e , I nt e r f a c e Lediglich sechs Stationen gehörten zu diesem Weg, der so häufig unterbrochen wurde, dass von einem wirklichen Parcours hier nicht die Rede sein kann. Die sechs Stationen waren dem Begriff ›matériel‹ zugeordnet, mit dem Lyotard den Empfänger einer Nachricht assoziierte. In seinem Einführungstext zum dritten Weg im Inventaire erläutert Lyotard, dass diese Apparatur zur Aufnahme einer Nachricht so ausgerüstet sein müsse, dass sie mit dem stofflichen Träger der Nachricht, also ihrem Medium, in Kontakt treten könne: »Das vibrierende Element (Luft, Wasser, Gesteine), das die Übertragung eines Tones (Vibration) sichert, ist ein ›natürliches‹ Material. Die auditive Apparatur des Menschen, Empfänger dieses Tones, ist eine Ausrüstung zur Aufnahme, die an ersteres angepasst ist.«1 Das »vibrierende Element« ist das Medium, dem die Nachricht eingeschrieben wird – der Rohstoff vom ersten Weg –, die »Ausrüstung zur Aufnahme« ist das, was sich in den traditionellen Kommunikationstheorien an der Stelle des Empfängers befindet. Dies meint aber keinen personalen Empfänger, der die Nachricht – wie in den klassischen Kommunikationstheorien – verstehen kann, sondern lediglich dasjenige Element, das in der Lage ist, die in ein bestimmtes Medium eingeschriebene Nachricht aufzunehmen, z.B. das Gehör oder das Auge. Dass Lyotard dieses Element in zwei Bedeutungen differenziert – den Empfang im technischen Sinn und das Verstehen im inhaltlichen Sinn – und dass ihn im Rahmen des mât-Systems nur die erste interessiert, zeigt der nächste Satz der Einführung: »Ausrüstung: die Apparatur der Übertragung und der Aufnahme der Nachricht, die diese an ihr Ziel bringt.«2 Das »Ziel« ist also etwas anderes als die »Ausrüstung«. Mit dieser Definition bewegt sich Lyotard in großer Nähe zu McLuhans Medienbegriff, der davon ausgeht, dass »alle Medien, vom phonetischen Alphabet bis zum Computer, Ausweitungen des Menschen sind, die tiefe und andauernde Veränderungen im Menschen selbst auslösen und seine gesamte Umwelt verwandeln.«3 Die Konzeption des dritten Weges könnte man mit McLuhan als Untersuchung darüber verstehen, wie sich die Identität des Menschen verändert, wenn sich seine »Ausweitungen« – in Les Immatériaux heißen sie auch »Prothesen« – verändern. Die neuen Technologien, auf die Lyotard immer wieder abzielt, spielen
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Inventaire, Einführung zu Matériel. Ebd. McLuhan 2001, S. 171. 175
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in diesem Prozess der Ausweitung eine doppelte Rolle: Sie sind einerseits diejenigen Instanzen, die Nachrichten erzeugen, für deren Sendung die menschlichen Sinnesorgane allein nicht ausreichen, und sie stellen andererseits die Apparaturen bereit, mittels derer diese Nachrichten empfangen werden können. Sie bringen also Phänomene zu Bewusstsein, die vorher entweder unbekannt oder bestenfalls abstrakt berechenbar, aber nicht wahrnehmbar waren, wie Lyotard in der Einführung in den dritten Weg weiter ausführt: »In dem Maße, in dem sich die Technowissenschaft entwickelt, vervielfältigen sich die Prothesen und werden komplexer. Sie geben die Vibrationen (Nachrichten) außerhalb unserer Reichweite wieder: Spektren von unsichtbaren Sternen, Röntgenstrahlen, Scanner, Elektronenmikroskope, Chromatographien... Alte ›Elemente‹, alte ›Empfänger‹ sind abgewertet. Die Nachrichten laufen über alle Wellenlängen, mit Geschwindigkeiten, die der des Lichtes verwandt sind.«4
Lyotards Ausführungen im Inventaire scheinen das Ziel zu haben, den menschlichen Körper als »alten Empfänger« zu zeigen, dessen Abwertung bereits in vollem Gange ist. Eine solche Abwertung impliziert, dass die neuen »Prothesen« den Körper als »Empfangsgerät« irgendwann überflüssig machen könnten, da viele der Nachrichten nur noch zwischen Apparaturen kommunizierbar sind. Mit dieser Implikation ist Lyotards Begriff des Abwertens unschärfer als McLuhans Terminus »Ausweitung«, da beide zwar ähnliche Konsequenzen für die Identität des Menschen haben, McLuhans Begriff aber nicht impliziert, dass der menschliche Körper – der ja die von den Technologien erzeugten und empfangenen Nachrichten nach wie vor rezipiert, nur eben erst nach ihrer Umwandlung – überhaupt keine Relevanz mehr hat. Lyotard gibt im Inventaire ein Beispiel, das sich gut eignet, um die Differenz zwischen alten und neuen Empfängern zu veranschaulichen. Wellen jeglicher Art, »elektronische Wellen, Schallwellen, Lichtwellen«5 sind als immaterielles Medium der Übertragung eine passende Metapher für die Interaktionen, die Lyotard als zentrales Paradigma in den informatisierten Gesellschaften begreift: »Die Oberfläche des Planeten spickt sich mit Antennen, die in das Feld der Wellen eingetaucht sind, sie bedeckt sich mit Geflechten der Informationsübertragung.«6 Im nächsten Satz folgt ein weiteres Beispiel, das unmittelbar Bezug auf eine der Stationen des Weges nimmt und den nur technologisch vermittelt wahr4 5 6
Inventaire, Einführung zu Matériel. Lyotard 1985b, S. 81. Inventaire, Einführung zu Matériel. 176
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nehmbaren Makro-Bereich anspricht: »Die Sterne sind Werkstätten der Transformation der Materie, die Erde wird ein Labor des kosmischen Wissens.«7 Der deskriptive Ton dieser drei ersten Absätze weist auf Zusammenhänge hin, die in dieser Form kaum bestritten werden können und ein gewisses Einverständnis mit dem Beschriebenen suggerieren. Auch in dieser Einführung jedoch lässt Lyotard den Beschreibungen Fragen folgen, die den affirmativen Ton brechen, indem sie die nicht unproblematischen Auswirkungen auf den Menschen und die Gesellschaft in den Blick nehmen: »Das große Ziel: den Abstand verringern zwischen dem Empfangen einer Nachricht und ihrer zweckdienlichen Rekonstruktion, in ›Echtzeit‹ operieren. Anwendungen bei der Musik, bei der Ernährung, beim Bild, beim Wohnen. Man stößt auf folgendes Paradox: man mag zwar sehr schnell vorgehen, der gegenwärtige Augenblick bleibt ungreifbar.«8 Welche Konsequenzen hat die Technologisierung in Lebensbereichen wie Musik, Ernährung und Wohnen – lässt sich das Wesentliche dieser kulturellen Phänomene mit Apparaturen, Prothesen und Antennen überhaupt erfassen? Welche Relevanz kann eine Übertragung der Nachrichten »in Echtzeit« haben, wenn es um einen komplexen Rezeptionsprozess geht, der sich nicht auf ›informatisierte‹ Aspekte reduzieren lässt? Nicht so sehr die Frage nach dem Verlust einer Unmittelbarkeit, einer Authentizität im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt klingt hier an, dafür ist Lyotard zu sehr Poststrukturalist. Vielmehr scheint er ein Scheitern der Vision angekündigt zu sehen, die mittels einer technologischen Perfektionierung die Kontrolle über den »gegenwärtigen Augenblick« erlangen will. Das Subjekt der Moderne, das seine Anstrengungen, die Welt zu erforschen, noch mit der Illusion unternahm, irgendwann alles verstehen zu können, habe zu oft die Erfahrung gemacht, mit der Unwissenheit auch seine Unschuld zu verlieren. Warum, fragt Lyotard mit einiger Ironie, glauben die Menschen immer noch, dass sie Wissen und Seelenruhe zugleich haben könnten: »Und dieses: alle diese Nachrichten waren uns nicht bestimmt, wir stehlen sie. Adam, Prometheus, Faust zahlten ein hohes Lösegeld für ihren Wunsch nach Wissen, ihre Indiskretion, ihre Hochstapelei. Wenn wir nun unbestraft bleiben, dann, weil die Götter tot sind?«9 Die Prothesen, mit denen die Nachrichten der Welt abgetrotzt werden sollen, sind also vielleicht doch mit dem Teufel im Pakt, oder anders formuliert: man muss darauf gefasst sein, dass das Wissen, das man erlangen will, Konsequenzen haben kann, die über das Erwartete hinausgehen. 7 8 9
Inventaire, Einführung zu Matériel. Ebd. Ebd. 177
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Die Götter – Chiffre für diejenigen Instanzen, die auch mit noch so guten Empfängern nicht zu begreifen sind – bewachen das Ungreifbare, das Lyotard als »gegenwärtigen Augenblick« paraphrasiert. Homme invisible Die ersten drei Stationen des matériel-Weges gehörten zur Zone 14 und befassten sich mit dem Blick auf den Körper (Homme invisible), mit dem Wohnen (Habitacle) und mit Mahlzeiten (Mangeur pressé). Sie lagen gemeinsam in einer Nische hinter dem zweiten und dritten Diorama des Théâtre du non-corps – nirgendwo sonst in der Ausstellung befanden sich mehrere Stationen so nah beieinander, ohne durch Trennwände voneinander abgeschirmt zu sein. Alle drei warfen die Frage auf, welche Auswirkungen die Erweiterung der ›Sinnesapparatur Körper‹ haben könne bzw. ob sie nicht gänzlich durch besser funktionierende Apparaturen ersetzt werden solle, wie Lyotard im Petit Journal konstatiert: »Der Körper als Ausrüstung, als eine Apparatur der Übertragung und des Auffangens der Mitteilungen. Gute Ausrüstung: jene, die sie ohne Verlust und ohne Verspätung auf den Weg bringt. Der menschliche Körper ist keine gute Ausrüstung, er bremst die Mitteilungen, er verliert Teile davon. Man träumt von seinem Verschwinden, von einer beschleunigten minimalen Wartung und Restaurierung, wirtschaftlich.«10
Lyotard lässt hier offen, wer diesen Traum eigentlich träumt. Einen Hinweis gibt das letzte Wort des kurzen Textes: »wirtschaftlich«, mit dem Lyotard vor allem eine aus dem Geist des Kapitalismus gesteuerte Wirtschaft meint. Seine hier weitgehend verborgene Argumentation funktioniert wie folgt: Der Kapitalismus, dessen Streben nach Optimierung und Funktionalisierung aller Vorgänge »die Achtung vor dem Leben, dem Tod und der Natur, den Gefühlen und dem Wissen – die Achtung vor dem Menschen«11 aus dem Blick verliere, ja sogar aus dem Blick verlieren wolle, impliziere, dass der menschliche Körper »keine gute Ausrüstung« sein könne, weil er zu ineffektiv sei. Kannte man Lyotards kritische Haltung der Hegemonie der wirtschaftlichen Prinzipien gegenüber nicht, konnte man zu der Einschätzung kommen, er sei mit diesem Traum einverstanden, obwohl die Exponate in der Ausstellung ein anderes Bild zeichneten. Auch das Kopfhörerprogramm der ersten Zone des Weges, der Zone 14, verbarg diese Haltung Lyotards. Von den drei Texten der Zone stammten einer von Maurice Blanchot und zwei von Eugène Savitzkaya. 10 Petit Journal, S. 7. 11 Lyotard 1985a, S. 9. 178
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Die Auszüge aus Savitzkayas Roman Les morts sentent bon (1984) nahmen die Themen der Stationen Habitacle und Mangeur pressé auf und handelten wie ein poetisches Echo der Exponate von einer Schlafstätte und einer überreich gedeckten Tafel. So lässt sich vermuten, dass der kurze Ausschnitt aus Blanchots Erzählung Thomas l’obscur aus dem Jahr 1941 sich auf Homme invisible bezog, auch sich wenn keine so deutliche semantische Parallele ausmachen lässt. In Homme invisible waren Hologramme zu sehen, eine Bildtechnik, die an insgesamt vier Stationen der Ausstellung – außer bei Homme invisible noch bei Peinture luminescente, Profondeur simulé und Espace réciproque – vorkam. Lyotard scheint von dieser spektakulären Technologie, die in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren die Ausstellungsorte eroberte, fasziniert gewesen zu sein. Im Inventaire stellt er heraus, dass er mit Homme invisible vor allem epistemologische Fragen des Sichtbaren untersuchen will, die an so vielen Stellen in Les Immatériaux eine Rolle spielen, dass man sie als ein verborgenes Hauptthema der Ausstellung auffassen kann: »Die Auswirkung des Unsichtbaren im Sichtbaren spürbar machen. Das sichtbare Bild, das durch Holographie entsteht, betont den unsicheren Aspekt der ›gesehenen Sache‹. Eine Unsicherheit, die sich auf das sehende Subjekt zurückwirft: ist es nicht für sich selbst unsichtbar ohne die Hilfe irgendeines spiegelnden Materials?«12 Wer vom Théâtre du non-corps aus in den matériel-Weg hineinging und sich nach links wandte, stieß auf zwei Hologramme, die in einem Winkel von 45° nebeneinander hingen. Sie stammten von dem Amerikaner Stephen Benton und dem britischen Künstler Alexander, beide zu der Zeit zentrale Protagonisten dieser Technologie. Benton (1942-2003) war der Erfinder des für die künstlerische Holographie wichtigen Regenbogen- oder Bentonhologrammes und forschte am Massachusetts Institute of Technology, Alexander war zunächst Bildhauer und fand in den Hologrammen eine geeignete Möglichkeit, die räumliche Struktur seiner großen, begehbaren Skulpturen darzustellen. Beide Hologramme sind im Inventaire abgebildet. Bentons Arbeit, Rind II aus dem Jahr 1977 (30,5 x 30,5 cm), zeigt einen Hohlkörper in der Form eines menschlichen Kopfes, wie er entstehen würde, wenn man einen Kopf wie einen Apfel schälen könnte und dann alles bis auf die Schale entfernen würde. Der Körper wird reduziert auf eine äußere Hülle und eine Form. In Holographie bleibt die Räumlichkeit des Körpers erhalten, obwohl sie, wie Benton es hier durch die Fiktion des Schälens vorführt, den »Körper selbst« aus dem Bild ent-
12 Inventaire zu Homme invisible. 179
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fernt. Mit einer völlig anderen Exponat-»Sprache« stellt Rind II also ähnliche Fragen wie die eingeschweißten Hautprothesen der Station Deuxième peau des ersten Weges. Alexanders Hologramm, Head in a 4 Dimensional Environment von 1982 (50 x 60 cm), zeigt den Schatten eines Kopfes, der in mehrere Schichten übereinanderliegender Gitter auf geheimnisvolle Weise hineinprojiziert ist und so eine Art Bild im Bild darstellt. Beide Hologramme bieten spektakuläre dreidimensionale Effekte und thematisieren damit Darstellungsformen des Themas »menschlicher Körper« ebenso, wie sie traditionelle Weisen des Blickens auf diesen Körper aufnehmen und weiter entwickeln. Die Ausweitung des »empfangenden Apparates«, von dem Lyotard im Inventaire schreibt, führt also nicht nur zu neuen Darstellungsformen, sondern auch zu einer völlig neuen Seherfahrung. Dies ist sicher einer der Gründe, warum die Holographie in den Jahren vor Les Immatériaux zu einem Publikumsliebling avanciert war: »During the heady days of the late 1970’s and early 80’s holography was the new buzzword, the ultimate visual medium. It had everything: lasers, three dimensions, mystery, danger, complexity and visual impact beyond anything we had seen before.«13 Hologramme beruhen auf einer Technik des Sichtbarmachens, die – anders als die Fotografie – mehr transportiert als diejenigen Aspekte eines Objektes, die ein einzelnes menschliches Auge von einer einzelnen Position aus sehen kann. Sie funktionieren nach derselben Logik, nach der das Gehirn die Unterschiede zwischen den Lichtimpulsen, die durch den Abstand zwischen beiden Augen zustande kommen, vergleicht. Die Holographie, wörtlich übersetzt ›Darstellung des Gesamten‹, ist also ein Verfahren, das im Grunde genommen weder Bilder noch Skulpturen erzeugt, obwohl ein sichtbares dreidimensionales Objekt entsteht: »Ein Hologramm ist ein offenes Fenster in einen virtuellen Raum. Die hinter dem Fenster liegende holographische Erscheinung verhält sich im Verhältnis zum Betrachter analog der Erscheinung wirklicher Dinge vor wirklichen Fenstern und mithin vollkommen anders, als zweidimensionale bildliche Darstellungen, wie sie nach dem Renaissancemodell der ›finestra aperta‹ oder mit fotografischen Mitteln erstellt werden können. Fotografien [...] erlauben immer nur den Blick aus einer Richtung [...] auf einen Gegenstand. In einem Hologramm ist die Perspektive nicht eingefroren, sondern sie verändert sich mit dem Betrachtungswinkel und dem Betrachtungsabstand.«14
13 Pepper, Andrew (2004): Something in the air: Stephen Benton and a ›family‹ reunion. In: http://www.apepper.com/content/articles/jan04.html (15. 09.2005). 14 Schmid, Gabriele (1999): Illusionsräume. Mesdags Panorama, Monets Seerosen, Boissonnets Hologramme und Kirchen der Gebrüder Asam. Kon180
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Hologramme sind also Objekte, die sowohl die Räumlichkeit als auch Aspekte der Zeitgebundenheit eines Ausgangsobjekts transportieren – die Bewegung um das Hologramm herum macht verschiedene perspektivische Ansichten auf den Gegenstand sichtbar und erfordert, ähnlich wie ein Film, dass der Betrachter sich Zeit nimmt. Anders als ein Film jedoch – und ähnlich wie ein Bild – gibt das Hologramm keine Dauer vor, die der Betrachter abwarten muss, um das Werk vollständig gesehen zu haben: »Zeit manifestiert sich in der Holografiekunst nicht als eine Folge von Bildern wie im Film, sondern vor allem in der Variabilität und Betrachterabhängigkeit der immateriellen, schwebenden Lichtformen.«15 Die Holographietechnik macht also etwas sichtbar, das andere »Ausweitungen« des Blicks – um mit McLuhan zu sprechen – wie der fotografische Apparat oder die Filmkamera, nicht zeigen können. Sie ist zudem in ihrer Fähigkeit, nach Belieben Fiktionen zu erzeugen, freier als die Skulptur, die stärker darauf angewiesen ist, materiell zu funktionieren. Der »geschälte Kopf« wäre nicht so ohne weiteres als Skulptur denkbar: selbst wenn sich ein Material finden ließe, das sich ähnlich frei und ohne Mittelstütze aufbauen ließe, dann wäre das freie Schweben des Kopfes im Raum kaum zu erreichen. Durch das Hologramm befindet er sich in einem Raum, der zwar vom Realraum des Besuchers getrennt ist, der aber kein vorgestellter Raum ist, wie bei einer Fotografie, sondern ein tatsächlicher. Das Kopfhörerprogramm stellte mit Blanchots Erzählung Thomas l’obscur zwischen dem »tatsächlichen Fiktionsraum« des Hologramms und dem Realraum der Blicke der Betrachter einen Bezug her. Blanchot scheint eine ähnliche Spannung wie die zwischen den beiden Blick-Sphären literarisch fassen zu wollen: »Innerhalb meiner Reichweite ist eine Welt – ich nenne es Welt als Tod, ich werde die Erde Nichtigkeit nennen. [...] Das Objekt, unsichtbar und außerhalb des Seins, nimmt mich wahr und unterstützt mich im Sein. [...] Ich bin gesehen.«16 Das »Ich bin gesehen« hinterfängt die Station mit dem bildanthropologischen Topos, dass Bilder nicht nur von uns angesehen werden, sondern uns in eine enge Verflechtung aus Sehen und Gesehenwerden verwickeln: »Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbil-
struktionen und Vermittlungsstrategien. Berlin. http://www.eugwiss.hdkberlin.de/schmid/diss/III.10.html (2.7.2006), S. 155. 15 Kac, Eduardo (1996): Jenseits des räumlichen Paradigmas – Zeit und Filmstruktur in der holografischen Kunst. In: Interferenzen, (N. 2/3), S. 7-12. http://www.ekac.org/beyondger.html (9.9.2005). 16 Blanchot, zit. nach Petit Journal, S. 7. 181
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dung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbildes [...].«17 Habitacle Die zweite Station des matériel-Weges war Habitacle. Ähnlich wie bei den am Beginn des ersten und des zweiten Weges liegenden Stationen ging es um die Konsequenzen der Funktionalisierung des Körpers. Für Habitacle stellte Lyotard eine echte Schlafzelle der japanischen Firma Kotobuki Seating Co., Ldt in die Ausstellung hinein, wie sie in japanischen Business-Hotels oder gar Studentenwohnheimen und Wintersportorten Verwendung fanden. In seinem kurzen Text im Inventaire, formuliert wie eine erstaunte Frage, klingt eine ungewöhnlich deutliche Kritik an der Vorstellung an, der Köper sei nicht mehr als eine Summe der Aufgaben, die er zu erfüllen hat: »Verfall der Behausung als Ort der Identifikation und des Genusses, Erscheinung von Umgebungen, die für die zweckdienlichen organischen Funktionen kalkuliert sind? Eine Behausung als Prothese des privaten Körpers ohne jede andere Dimension als die funktionale?«18
Abb. 15: Schlafzellen ähnlich derjenigen in Habitacle (Inventaire). Die Konstruktion der Schlafzelle basiert auf der Überlegung, dass der Ort, an dem ein Mensch schläft, eine vorrangige Funktion zu erfüllen hat: 17 Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München, S. 89, Hervorhebungen im Text. 18 Inventaire zu Habitacle. 182
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er muss den regenerierenden Schlaf ermöglichen, der dafür sorgt, dass der Körper am nächsten Tag wieder voll zur Verfügung steht. Alle anderen Bedürfnisse werden außer acht gelassen: weder geht es darum, sich in einer vertrauten Umgebung wohl zu fühlen, noch um die Möglichkeit, persönliche Gegenstände aufzubewahren oder sich außerhalb des Bettes aufzuhalten. Will man sich bewegen, muss man die Zelle verlassen und befindet sich im öffentlichen Raum des Hotels oder des Wohnheimes, den man mit den Bewohnern anderer Zellen teilt. Wohnen, ein komplexer Vorgang, an dem sämtliche sozialen, psychologischen, körperlichen Prozesse des Menschseins beteiligt sind, wird reduziert auf einen Schlafplatz; der Raum, der einem Individuum als Privatsphäre zugestanden wird, orientiert sich an der Fläche, die ein liegender menschlicher Körper einnimmt. Mit den Maßen 1,1 x 1,2 x 2,2 Meter (Breite x Höhe x Länge) sind die Zellen gerade so groß, dass ein erwachsener Mensch sich darin liegend ausstrecken und zum Sitzen aufrichten kann. Die Eingangstüren der Zellen sind mit Glasscheiben versehen, so dass die Bewohner den Blicken von außen schutzlos ausgeliefert sind, solange sie keinen Vorhang zugezogen haben. Da die Kapseln keine Fenster haben, sind sie künstlich beleuchtet und belüftet und verfügen neben einem Spiegel und einem Wecker auch über ein Radio, einen Fernseher und ein Telefon (heute wäre sicher auch ein Computer mit Internetzugang dabei). Virtuell verfügen die Bewohner also über die Freiheit, sich überall hin zu bewegen, materiell sind sie in hohem Maße an einen Ort gebunden. Der Prospekt der Firma Kotobuki Seating Co., Ldt19 preist die Vorzüge der Schlafzelle an, die aus dem Bedürfnis heraus entstanden ist, in einem Land mit einer hohen Bevölkerungsdichte und einem rasant wachsenden kapitalistischen Markt die Leistungsfähigkeit des einzelnen so weit wie möglich zu steigern und die Kosten für diese Steigerung so niedrig wie möglich zu halten. Jeder Gast brauche durch die Möglichkeit, mehrere Schlafzellen übereinander zu stapeln und sie modular beliebig nebeneinander zu stellen, nur 1,21qm Fläche, die effektive technische Verwaltung mehrerer Zellen von einem Kontrollstand aus reduziere die Kosten für das Hotelpersonal drastisch, Ausgaben für Belüftung und Licht seien extrem niedrig und die in der Fabrik vorgefertigte Zelle brauche über die Installation hinaus kaum Bearbeitung. Der kapitalistische Traum »von einer beschleunigten, minimalen Wartung und Restaurierung«, den Lyotard im Petit Journal erwähnt, scheint hier Wirklichkeit geworden zu sein.
19 Box 95052/027, aus dem Archiv des Centre Pompidou. 183
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Der Werbeprospekt, dem diese Daten entnommen sind, war zwar in Les Immatériaux nicht ausgestellt. Dennoch wurde für die Besucher die mit der Schlafzelle angestrebte Funktionalisierung unmittelbar sicht- und nachvollziehbar, wenn sie der niedrigen und engen Kabine gegenüberstanden. In dem Film Octave aux Pays des Immatériaux20 sieht man sogar den kleinen Jungen Octave, der auf seinen Rollerblades die Zuschauer auf eine rasante Tour de Force durch die Ausstellung mitnimmt, verwundert in dem winzigen Raum hocken und spielerisch eine Nacht in der Zelle nachvollziehen. Charles Perraton, der in seiner »phénoménologie de la visite« in der Evaluation der Ausstellung beschließt, nicht wie die meisten anderen Besucher vom Théâtre du non-corps aus mit dem ersten Weg zu beginnen, scheint die bedrückende Atmosphäre von Habitacle als so unangenehm empfunden zu haben, dass er die Richtung seines Ausstellungsbesuchs ändert und doch dem Strom der Besucher folgt: »Comment ne pas se sentir esseulé dans un tel caisson-tout-confort? N’y a t’il pas lieu de se poser le problème éthique des pratiques de conception et de production? Quelles limites doit-on se donner?«21 Der Bezug des Kopfhörertextes zum Thema der Station ist hier ein illustrativer. Die kurzen Ausschnitte von Savitzkaya beschreiben eine Schlafstätte, die unmittelbar an die japanische Zelle denken lässt: »Eine Wohnung jedoch, eine Reihe von Enklaven / die an jeden Körper angrenzen würde / es für sich behalten [...] / eine Schlafstätte, von der man sagen würde, sie sei nur der Konservierung gewidmet [...]«.22 Habitacle zeichnete sich durch diese Direktheit gegenüber den anderen Stationen aus: die Schlafzelle diente nicht nur als Symbol für oder als Hinweis auf die Veränderungen, die durch die neuen Technologien möglich wurden, sondern sie bot einen unmittelbaren, jedem einleuchtenden Beweis dafür, dass die Veränderungen schon längst stattgefunden hatten. Wer vor dem winzigen, künstlich beleuchteten Raum stand, konnte der Evidenz nicht entkommen, die die Präsenz der Zelle in der Ausstellung mit sich brachte und die vor einer allzu weitgehenden Kapitalisierung zu warnen schien, indem sie ankündigte, dass es eng, unpersönlich und ungemütlich werden würde. Mangeur pressé In derselben Nische wie Homme invisible und Habitacle befand sich die dritte Station des Weges, Mangeur pressé. Ein schlichter Holztisch hing mit stark geneigter Oberfläche in etwa 1,20 m Höhe an durchsichtigen
20 Zajderman/Soutif 1985. 21 Perraton 1986, S. 15. 22 Savitzkaya, zit. nach Petit Journal, S. 7. 184
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Seilen. Vier Teller, ebenso wie der Tisch schmucklos weiß, waren auf ihm befestigt, als wenn für eine Mahlzeit mit vier Personen eingedeckt worden wäre. Nacheinander wurden farbige Bilder verschiedener Mahlzeiten – eine typische Mahlzeit in der Familie, ein Festessen, eine alltägliche Mahlzeit und eine Portion Fast-Food – so auf den Tisch und die Teller projiziert, dass man den Eindruck bekommen konnte, die Mahlzeiten seien gerade eben serviert worden. Auch bei Mangeur pressé ging es um das, was verloren geht, wenn der »alte Empfänger« Körper auf seine materiellen Bedürfnisse reduziert wird: Mahlzeiten können so nicht mehr sein als die Aufnahme von Nahrung. Die ebenfalls dem Thema Ernährung gewidmete Station Ration alimentaire auf dem zweiten Weg suchte nach dem Code für eine ideale Ernährung, bei Mangeur pressé interessierten Lyotard die kulturellen und funktionalen Aspekte der Praxis der Nahrungsaufnahme: »Die Bräuche und Rituale der Ernährung verlieren ihre Präsenz im Kontakt mit den funktionalisierten Weisen des Lebens. Dafür gewinnen sie an nostalgischem Wert. Essen ist kaum mehr eine Inszenierung des Kulturellen, wenn das Hauptziel ist, Zeit und Energie zu gewinnen, ganz allein.«23 Mangeur pressé scheint, im Gegensatz zu der technologischen Unterkühlung, die in Homme invisible und Habitacle vorherrschte, ein eher harmloses ästhetisches Spiel gewesen zu sein. Lyotard nennt die Station in einem Interview »site un peu nostalgique«24, als wenn auch er der Meinung wäre, dass es hier nicht so sehr um eine Erkenntnis gehe, sondern eher um das Evozieren von lieb gewordenen Erinnerungen. Die Mahlzeiten, so Lyotard weiter in diesem Interview, hätten einmal eine »feierliche Bestätigung des sozialen Bandes der Natur gegenüber«25 bedeutet. Ein Festessen im Kreis der Familie sei so nicht nur eine Mahlzeit, sondern auch die symbolische Anerkennung der Institution Familie gewesen – eine soziale Leistung, die den Menschen, diesen »im Universum einmaligen Fall«,26 auszeichnet. Die Ritualisierung sei durch die gegenwärtigen Gewohnheiten verloren gegangen und habe, vor allem im Beruf, der Vereinzelung Platz gemacht, so dass das soziale Band nicht mehr auf diese Weise aufrecht erhalten werden könne.27 In Äußerungen wie dieser scheint der Körper mehr zu sein als eine alle Nachrichten ohne Verlust und in Echtzeit aufbereitende Apparatur, die Lyotard im Inventaire hervorbeschwört. Der Tisch mit den projizierten Mahlzeiten hat in-
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Inventaire zu Mangeur Pressé. Bidaine/Saur 1985, S. 14. Ebd. Vgl. Après six mois de travail. Vgl. Lyotard in Bidaine/Saur 1985, S. 14. 185
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sofern tatsächlich einen nostalgisch-melancholischen Anklang an eine vergangene Zeit und mit ihr vergangene Werte. Im Inventaire ist ein Bild zu sehen, das die Kehrseite einer solchen Funktionalisierung der Mahlzeiten drastisch darstellt und der Station ihre spielerische Leichtigkeit nimmt: Börsenmakler einer deutschen Börse sitzen an einem vollgestellten Tisch, jeder von ihnen hat mehrere Telefongeräte und -hörer vor sich. Zwischen die Apparate haben die Männer Teller mit ihrer Mittagsmahlzeit gequetscht, sie essen und telefonieren zugleich auf mehreren Leitungen. Der Tisch, der so voll ist, dass man kaum etwas von seiner Oberfläche sehen kann, die unansehnlichen Teller mit halb gegessenen Mahlzeiten, die vielen Telefone und Telefonhörer mit Kabeln, die ins Essen hängen – all das verbildlicht, was in der Station und in den Texten nur angedeutet war: für die gestressten Börsianer ist die Einnahme von Mahlzeiten zu einer schlichten Versorgung des Körpers mit Nahrung degradiert und hat keinen kulturellen Wert, bedeutet keinen Genuss mehr.
Abb. 16: Das Bild aus dem Inventaire. Der Ausschnitt aus Savitskayas Roman, dessen erster Teil so unmittelbar zu Habitacle passte, hat auch in dieser Station eine illustrative Funktion, 186
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allerdings eher mit Bezug auf das Bild im Inventaire als im Hinblick auf die Station. Mit surrealistischer Phantasie malt Savitzkaya eine Szenerie aus, die die Abbildung aus dem Inventaire zu karikieren scheint: »Eine Tafel aufgestellt, bedeckt von einem Tischtuch mit tausend Schlangen, das mit breiten Tabletts, wie mit Mühlsteinen, beladen wurde.«28 Der Text fährt mit üppigen Bildern fort und beschreibt eine Situation, die wie ein Echo des hektischen Mittagsmahls der Börsianer klingt: »[...] blau und gold verzierte Teller voller Ruß, mit Gips, noch heiß, Knospen kurz vor der Blüte, Zungen, Haar, weiche poröse Steine, in der schwachen Sonne erhitzt, Federn und, zwischen den Gläsern und Tellern, Bücher, weil die Gäste es mögen, beim Essen zu lesen [...].«29 Mangeur pressé zeigte also zwei unterschiedliche Aspekte, die medial voneinander getrennt waren, aber als Ganzes eine Aussage ergaben: eine nostalgisch-spielerische Fassade und eine bittere Kritik an den Konsequenzen, die eine allzu leichtfertige Bejahung der Technologisierung auch der alltäglichen Lebensvollzüge mit sich bringen kann. Für die Besucher der Station, für die der schwebende Tisch im Vordergrund stand, blieb die Komplexität dieser Station im Verborgenen, zumal im Petit Journal lediglich eine kurze Beschreibung des Tisches zu lesen war. Dass einige Rezensenten einige der Ausstellungsobjekte »unglaublich banal«30 fanden, verwundert daher nicht. Musicien malgré lui Verließ man die Nische, in der sich die ersten drei Stationen befanden, stieß man zunächst auf die Station Ration alimentaire, die zum zweiten Weg gehörte und von der aus man entweder über Toutes les peaux (ebenfalls zweiter Weg) zurück ins Théâtre du non-corps gehen konnte oder durch Tous les bruits vom zweiten Weg hindurch zu einer Passage, die nahe der nächsten Station des dritten Weges lag. Musicien malgré lui befand sich in einem rundum geschlossenen, quadratischen Raum von sechs Metern Seitenlänge mit einer kleinen Öffnung, in dem – ungewöhnlicherweise – sowohl der Boden als auch die Wände mit verschiedenen Mustern aus bunten Linien überzogen waren. Rolf Gelhaar, der Musiker, der die Station konzipierte, hatte auf dieser Dekoration bestanden, »in order to make the ›control structure‹, i.e. the topographical distribution of the controls over the the sound visible«.31 Außerdem gab es ein kleines Fenster, durch das man ins Innere des Raumes sehen konnte. Zu Musicien malgré lui existierte kein zusätzliches Kopfhörerprogramm 28 29 30 31
Savitzkaya, zit. nach Petit Journal, S. 7. Savitzkaya, zit. nach Route: Zones & Sites, S. 10. Wiegand 1985, S. 27. Gelhaar 2001, o. S. 187
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– das Petit Journal fordert die Besucher auf, die Kopfhörer abzunehmen, um den Klängen lauschen zu können, die sie mit ihren Bewegungen erzeugen.32 Die Installation, aus der Musicien malgré lui bestand und die Gelhaar Sound=Space nannte, bestand aus einem Netz von 16 Ultraschallsensoren, die in den Wänden verborgen lagen und per Echolot in der Lage waren, die Bewegungen der Besucher zu registrieren. Über einen Computer und einen Synthesizer wurden diese Bewegungsimpulse in Klänge umgerechnet. Vier verschiedene musikalische »Topographien«33, Quartet, Orchestre, Monolith und Rhumba, reagierten unterschiedlich auf Aufenthaltsort und Aktivitätsniveau – also auch Anzahl – der Besucher. Lyotard beschreibt die Logik dieser Station im Inventaire: »Einfache Idee: jede Bewegung ist eine potentielle Quelle von Musik. [...] Die Art und Weise der erzeugten Musik hängt völlig von den Gesten des Besuchers ab: der Raum wird so zu einem immateriellen Musikinstrument.«34 Bei Quartet und Orchestre reagierten die Sensoren auf den Abstand der Besucher zum Sensor: je näher man an ihn herantrat, desto tiefer und länger wurden die Töne. Monolith war so programmiert, dass die Computer auf die Intensität der Aktivität im Raum reagierte: je größer sie wurde, desto weiter entfaltete sich der von 256 Oszillatoren erzeugte Klang in die ihn konstituierenden Harmonien. Rhumba reagierte ebenfalls auf die Menge an Aktivität im Raum: je mehr Aktivität, desto heller und rhythmisch komplexer wurden die Klänge.35 Es gab so vielfältige Möglichkeiten der Interaktion zwischen Sound=Space und Besuchern, dass man vermuten kann, dass keine einzige Konstellation zweimal erzeugt wurde. Heinich hat in ihrer Evaluation der Ausstellung das Verhalten der Besucher an einzelnen Stationen durch dort postierte Studierende über
32 Gelhaar berichtet über die vielfältigen Schwierigkeiten, die sich aus der knapp bemessenen Zeit, einer mangelhaften Versorgung mit Strom und Licht und der Entwicklung von zu viel Hitze in dem kleinen geschlossenen Raum während des Aufbaus ergaben und gibt dabei interessante Einblicke in seinen Kontakt mit Lyotard: »He was friendly, affable even, but seemed to have difficulties in focussing on them [Gelhaars technische Probleme, Anm. A.W.]. The thought brievly appeared to me that maybe he did not really understand what we were doing and that perhaps even if he did understand, de didn’t like the idea, that what I was doing was bit too structural, positive? I had already seen some of the other partially installed exhibits, and many of them seemed quite triste.« Gelhaar 2001, o. S. 33 Vgl. Ebd. 34 Inventaire zu Musicien malgré lui. 35 Vgl. Gelhaar 2001, o. S. 188
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einen längeren Zeitraum beobachten lassen. So auch bei Musicien malgré lui, wo ein Posten 30 Minuten lang seine Beobachtungen notierte: »Pendant ces trente minutes, quinze personnes sont entrées dans la salle sans lire la légende et en ressortant presque immédiatement, alors que la majorité – cinquante-trois exactement – se sont prêtées au jeu en marchant comme des équilibristes sur les bandes de couleurs correspondant à des sons divers. En général, ils semblent jouer à comprendre mais ont l’air relativement vite déçus, dans une position d’attente, comme s’il devait se passer autre chose.«36
Eventuell hing die Frustration der Besucher damit zusammen, dass Sound=Space eine zu große Zahl zeitgleich stattfindender Bewegungen nicht angemessen differenzieren konnte, so dass die einzelne Bewegung eines einzelnen Besuchers keine erkennbare Reaktion mehr erzeugen konnte. Befand man sich in einer Kakophonie aus fremden, elektronischen Klängen, ohne dass überhaupt deutlich wurde, dass man Einfluss auf sie hatte, mag die Station uninteressant und unverständlich gewesen sein. Gelhaar erzählt, es habe ein Zählwerk am Eingang der Station gegeben, das »space full – please wait« meldete, wenn mehr als zwölf Menschen in dem kleinen Raum waren, dass aber die Besucher auf diese Meldung nicht geachtet hätten, so dass der Raum häufig überfüllt war. So berichtet er von der Vernissage: »[…] when Jack Lang [der damalige Kulturminister Frankreichs, Anm. A.W.] came in with an entourage of about 40 people. He complained that it didn’t seem to respond. I explained that the system responded to movement and that with 40 people in such a small space, there was not enough room for movement. He promptly shooed everyone else out and had a marvelous time.«37
Im Gegensatz zu Lang, der die Station mit einigem Humor zu nutzen schien, sah sich der Rezensent Joachim Fritz-Vannahme gar in seinem Stolz gekränkt, weil er plötzlich nicht mehr der kreative Schöpfer eines musikalischen Werkes war, sondern als ein ›Werkzeug‹ für ein Computerprogramm diente: »In Rolf Gelhaars Raum ›Musiker wider Willen‹ überwachen Detektoren unser Tun und setzen es in eine Rumba um. Wir, stolze Menschen, Meister der Materie, mit einem Mal nur ein Wind, der pfeifend durch die Äste streicht, im Kirchturm sich verfängt, mit der leise klingenden Glocke spielt.«38
36 Heinich 1986, S. 82. 37 Gelhaar 2001, o. S. 38 Fritz-Vannahme, ohne bibliographische Angaben. 189
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Der Rezensent nimmt hier Bezug auf den Text im Petit Journal: »Hier gibt es nur die unfreiwillige Gelegenheit, ein bereits fertiges musikalisches Potential zu aktualisieren. Wie der Wind, der eine Glocke in ihrem Klang läuten lässt, indem er sie bewegt.«39 Lyotard wollte, so lässt sich vermuten, auf genau die Erfahrung hinaus, die Fritz-Vannahme als so bedrückend beschreibt: Wir sind eben nicht »Meister der Materie«. Die Körper der Besucher wurden in einen technologisch erzeugten Klangraum hinein erweitert. Wer Sound=Space betrat, sah sich also einem weit über seinen eigenen Körper hinausgehenden »Empfänger« ausgesetzt, der den Bewegungen der Besucher die Klänge stahl, so wie Prometheus den Göttern das Feuer entwendet hatte – um mit Lyotards Formulierung aus dem letzten Absatz des Inventaire zu sprechen. Auto-engendrement Wieder war der Übergang zur nächsten Station unterbrochen. Für Autoengendrement hat Lyotard einen Roboter der Firma Peugeot in die Ausstellung bauen lassen, wie er in Autofabriken verwendet wird. Auf einen Polystyren-Block wurde die Gitterzeichnung eines Automodells projiziert, an deren Linien entlang der Roboter aus dem Block den vorderen Teil des Wagens ausschnitt, bzw., so stellt Lyotard im Petit Journal klar, wurde dies an dieser Station simuliert, hätte aber ebenso gut wirklich in einer Werkstatt stattfinden können.40 Im Inventaire kommt Lyotard auf das für die gesamte Ausstellung so zentrale Konzept der nicht mehr vorhandenen Differenz zwischen Materie und Geist zu sprechen: »Automatisierung eines kompletten Fabrikationsprozesses. Von der Idee zum fertigen Objekt verflechten sich Software und ›Material‹ so, dass man nicht weiß, ob die Maschine denkt oder der Geist fabriziert. Die Kreation resultiert eher aus einem Zustand hoher Komplexität denn aus einer Handlung.«41 Diese Station scheint auf den ersten Blick von einer tatsächlich recht naiven Faszination für die technischen Möglichkeiten geprägt gewesen zu sein. Der Roboter, der als Ausstellungsobjekt Furore machte, weil bis zu Les Immatériaux derartige ›Fremdkörper‹ nicht in Kunstmuseen aufgetaucht waren, wirkt aus der heutigen Sicht wie ein besonders geschätztes Spielzeug im Kinderzimmer. Lyotards Frage nach der denkenden Maschine klingt nach den Enthusiasmen der frühen Forschung zur Künstlichen Intelligenz, als man der Meinung war, das menschliche Gehirn ließe sich in absehbarer Zeit als denkender und fühlender Computer nachbauen. Erst durch den Kopfhörertext in der Zone 16, die ähnlich wie bei Mu39 Petit Journal, S. 7. 40 Ebd., S. 8. 41 Inventaire zu Auto-engendrement. 190
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sicien malgré lui und der letzten Station des dritten Weges, Creusets stellaires, aufgrund der isolierten Lage nur aus einer Station bestand, erhielt Auto-engendrement eine poetische Komplexität, die den Roboter in ein denkästhetisch reizvolles Setting einband. In einem Interview mit Pierre Levy findet sich der einzige konkrete Hinweis, den Lyotard zu den Prinzipien gibt, nach denen in Les Immatériaux Exponat und Kopfhörertext – Heinrich von Kleists kurze Erzählung »Über das Marionettentheater« – miteinander verschränkt wurden: »Si vous regardiez un robot industriel comme celui que Peugeot nous a prêté, avec aux oreilles un texte comme celui de Kleist sur la marionnette, dix fois supérieure à celle d’aucune gestuelle humaine – Kleist dit que la grâce de l’automate mécanique parfait est équivalent à celle de dieu même – alors le robot que vous croyez ›bien connu‹ prend une tout autre allure, vous le regardez autrement, il porte évidemment le projet métaphysique de la technologie.«42
Kleists Erzählung besteht aus einem Gespräch zwischen einem Ich-Erzähler und einem Tänzer, den Kleist C. nennt. C. besucht mehrfach ein kleines Jahrmarkts-Marionettentheater, wo ihn der Erzähler zufällig trifft. Auf dessen überraschte Frage, warum denn er, der als erster Tänzer an der Oper so erfolgreich sei, sich für diese schlichte Form des Theaters interessiere, antwortet C.: »Und der Vorteil, den diese Puppe vor lebendigen Tänzern voraus haben würde? Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, daß sie sich niemals zierte. Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung.«43 An diese Behauptung schließt C. eine von einigen Beispielen erhellte Überlegung über die Anmut der Marionetten an. Die Bewusstheit über den eigenen Körper, die eitle Kontrolle der eigenen Bewegungen (die »Ziererei«) seien es nämlich, die den Menschen die natürliche Grazie raube, so dass die vollkommene Anmut eigentlich nur von zweierlei Wesen erreicht werden könne: »[...] so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.«44 Der konsternierte Schluss, den der Erzähler aus dieser Aussage zieht und in dem ihn der Tänzer bestätigt, klingt wie eine Anspielung auf Lyo42 Lyotard im Interview mit Levy 1985, S. 3. 43 Kleist 2002, S. 5-6. Hervorhebung im Text. 44 Kleist 2002, S. 8. 191
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tards Nullpunkt des Denkens, den er als Ausgangspunkt für das Philosophieren mit Les Immatériaux erreichen will: »Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.«45 Der Tänzer hat gleichsam kapituliert vor der Illusion einer vollkommenen Kontrolle oder einer vollkommenen Freiheit. Beide Zustände, Gliedermann und Gott, sind für den Menschen keine Alternativen zu seinem defizitären, realen Leben, und ebenso wenig, wie in der Bibel der Baum der Erkenntnis nach der Vertreibung aus dem Paradies noch zur Verfügung steht, ist die Unschuld im Leben eines Erwachsenen eine reale Option. Seine Theorie führt den Tänzer, und mit ihm den Erzähler, also in eine Sackgasse. Wer sich nicht auf das feine Zusammenspiel zwischen Exponat und Kopfhörersystem einlassen konnte oder wollte, mag durchaus auch an dieser Station den Eindruck gewonnen haben, die Automatisierung und die technologische Beherrschung der Materie stünden bei Les Immatériaux im Vordergrund. Das unkonventionelle Exponat »Roboter« stellte für sich genommen eine laute ausstellungsgestalterische Geste dar und unterschied sich in seiner Präsentation nicht wesentlich von der Zurschaustellung eines neuen High-Tech-Gerätes auf einer Industriemesse. Dennoch: Auto-engendrement veranschaulicht, wie Lyotard als Gegenimpuls zur starken Präsenz des technologischen Fortschritts eine implizite Ethik installierte, die vorsichtig und subtil eingebracht wurde und oftmals im Ästhetisch-Poetischen verborgen blieb. In dieser Hinsicht ist Auto-engendrement paradigmatisch für viele Stationen in Les Immatériaux: ein sehr komplexer, philosophischer Gedanke wird gleichsam über ein recht einfaches Ausstellungsobjekt gelegt, wodurch letzteres mit einer Theoretisierung aufgeladen wird, die sich aus dem Objekt selbst heraus kaum ergeben könnte. Creusets Stellaires Creusets Stellaires war die letzte Station des dritten Weges. Sie lag nicht in direkter Nachbarschaft zu Auto-engendrement, sondern hinter den Stationen Odeur peinte und Arôme simulé vom vierten Weg. Auf eine runde konkave Projektionsfläche von etwa drei Meter Durchmesser, die wie eine große flache Schüssel auf einem sehr kleinen Fuß stand und daher so wirkte, als schwebte sie knapp über dem Boden, wurden von oben Bilder vom Sternenhimmel projiziert. Eine hüfthohe Absperrung, die um diese Projektionsfläche herum angebracht war, schützte sie und ermöglichte es den Besuchern, sich zur Betrachtung der Bilder abzustützen. Et-
45 Kleist 2002, S. 8. 192
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wa ein Drittel der Absperrung war bis unter die Decke des Ausstellungsraumes hochgezogen und bildete einen zweiten Bildschirm, auf dem Formeln und Kommentare zu den Sternenaufnahmen zu sehen waren. Durch die ungewöhnliche Position und Form der beiden Bildschirme bot diese Station ein spektakuläres visuelles Erlebnis, das auch ohne theoretische Auseinandersetzung faszinierte. Lyotards kurze Überlegung im Inventaire klingt, als wolle er einen Entstehungsmythos schreiben: »Der Stern als Material der Programmierung und Verwandlung der Elemente. Geburt, Leben, Tod der Sterne selbst im kosmischen Labor des Himmels.«46 Seine Erklärung im Petit Journal zeigt deutlicher, wie er den Blick ins All in Les Immatériaux einbindet: »Die Sterne sind keine festen Himmelskörper, sondern Laboratorien, das heißt Apparaturen, in denen die Elemente in anderen Elemente umgewandelt werden. Diese Laboratorien verbrauchen sich selbst (denn diese Apparaturen sind ihre eigenen Rohstoffe). Die Sterne benutzen sich, sie sind dem Tod versprochen. Unsere Sonne hat noch ungefähr fünf Millionen Jahre vor sich.«47 Der Gedanke der Selbstreferentialität, der hier in der Doppelung von Apparatur und Rohstoff anklingt, beschäftigte Lyotard in Les Immatériaux häufig. So zeigte die Station Peinture luminescente des ersten Weges z.B. Kunstwerke, bei denen das Licht sowohl Thema als auch Material war, in Jeu d’echecs vom zweiten Weg war jeder Besucher zugleich Schachfigur und Schachspieler, Ombre de l’ombre vom vierten Weg zeigte eine Arbeit des Konzeptkünstlers Joseph Kosuth, die einen Schatten sowohl als Objekt als auch als Darstellung verwendete, oder der Katalogteil Album versammelt Skizzen und Protokolle aus der Vorbereitungszeit der Ausstellung, wodurch ein Rückbezug von Les Immatériaux auf die eigene Geschichte entstand. Vor allem aber entfaltet Lyotard hier einen Gedanken, der ihn in seinem Text Ob man ohne Körper denken kann aus dem Jahr 1986 kurz nach Les Immatériaux intensiv beschäftigt hat: Man wisse heute, so erklärt Lyotard dort, dass in den Sternen aus den Ausgangsstoffen Wasserstoff und Helium durch atomare Umwandlungen alle anderen Elemente des Universums hervorgegangen seien. Dies bedeute zugleich, dass die Sterne – und somit auch die Sonne, die das Leben auf der Erde ermögliche – eine begrenzte Lebensdauer hätten, dass wir also unseren Exodus vorzubereiten hätten. Dieser Exodus habe bereits begonnen, so Lyotard in einem Interview zum selben Thema. Er wird in diesem Gespräch nicht deutlicher, in Ob man ohne Körper denken kann jedoch findet man das
46 Inventaire zu Creusets Stellaires. 47 Petit Journal, S. 8. 193
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Argument ausführlicher ausgearbeitet. Dort tritt er in einer fiktiven Ansprache an die »Philosophen« – und damit meint er die institutionell abgesicherten Funktionäre – vehement und polemisch dafür ein, die Materie und damit auch den menschlichen Körper ins Denken einzubeziehen, das »Leben des Geistes«48 zurückzukoppeln an Bedingtheiten, die das Denken allzu oft außer acht lasse: »Vielmehr wirkt diese Explosion [der Tod der Sonne, A.W.], die unvermeidlich kommen wird, dergestalt, daß das, was ihr in euren Denk-Spielen immer vergesst, diese Spiele nichtig wie Spiele nach dem Tod zu machen scheint. Ich spreche von dem, was aus Euren Schriften verbannt ist, nämlich von der Materie. Von der Materie als einem Zustand der Energie, der sich beständig herstellt, auflöst und wiederherstellt.«49
Das sich selbst verzehrende Material verwendet Lyotard als Metapher für seine Kritik an dem Streben nach optimaler wirtschaftlicher Nutzung der Natur, wie sie die »Technowissenschaft der Beherrschung« anstrebt, die trotz all der Erkenntnisse, die aus dem Scheitern der Moderne gewonnen werden können, an die Herrschaft des Subjektes über das Materielle glaubt: selbst das unendlich scheinende Universum sei kein unerschöpflicher Vorrat. Die fünf Millionen Jahre, die die Sonne noch existieren wird, sind aus der Sicht eines einzelnen Lebens eine nahezu unendliche Zeit, aber Lyotard nutzt den Gedanken, dass auch diese Zeit ein Ende haben wird, als prinzipielles Argument gegen die vollständige Lösung des Denkens aus den materiellen Bindungen wie dem Körper.
48 Lyotard 2001b, S. 20. 49 Ebd. 194
7 . 5 . D e r v i e r t e W e g : Ma t i è r e – Realität, Fiktion, Simulation Der vierte Weg, der den Begriff »matière«, den Referenten der Nachricht, zum Thema hatte, nahm die Verknüpfungen zwischen einer wie auch immer gearteten »Realität« und den Nachrichten, die über diese Realität kommuniziert werden, in den Blick. Die Fragestellungen, die den Besuchern der elf Stationen dieses Weges begegneten, bezogen sich auf die Begriffe der Repräsentation und der Wahrnehmung. Bereits die Titel der Stationen wiesen darauf hin: der Begriff simulé war in drei Titeln enthalten, eine Station hieß Référence inversée, eine weitere Trace de Trace, eine dritte Ombre de l’ombre – es ging also um die Frage, wie das, was wir wahrnehmen, mit dem zusammenhängt, was möglicherweise ist, was also überhaupt den Referenten einer Nachricht bilden kann: eine Realität, eine Fiktion, ein Simulakrum, eine Wahrnehmung selbst, ein Begriff? Lyotard schreibt im Inventaire als Einführung in den Weg: »Man stellt sie sich unabhängig von der Nachricht vor, die uns darüber informiert: eine Substanz, eine Realität, eine Objektivität in sich. Sie sagen Materie, und Sie denken, dass sie bleibt, wenn Sie ihr den Rücken zukehren.«1 Die Stationen des vierten Weges sollten den Beweis erbringen, dass es einen von der Nachricht unabhängigen Referenten nicht gibt. Oder zumindest, so Lyotard weiter im Inventaire, dass wir nicht wissen können, ob es ihn geben kann: »Aber dieses Fortbestehen kann nicht bewiesen werden, da das Objekt nun einmal nur zugänglich ist, wenn man eine Nachricht über es hat.«2 Wie immer innerhalb des mât-Systems bedeutet der Begriff »Nachricht« nicht »Aussage« oder etwas ähnlich Konkretes aus der Kommunikationstheorie, sondern jedes mögliche Phänomen, im Hinblick auf die Thematik des vierten Weges: jede mögliche Wahrnehmung. Lyotards Behauptung, dass eine Wolke eine Nachricht sei, müsste also genauer heißen: die Wolke »selbst« – und sie wird mit einer solchen Formulierung zunächst als existent vorausgesetzt – ist der Referent, die eigentliche Nachricht ist die Wahrnehmung der Wolke. Mit den Stationen dieses Weges argumentiert Lyotard nun, dass es ohne Nachricht, also ohne jede Wahrnehmung, keinen Zugang zum Objekt geben kann. Dennoch schreibt er im Inventaire, Thema des Weges seien die Objekte selbst und erweckt damit das Missverständnis, er nehme das Vorhandensein einer nachrichten- bzw. wahrnehmungsunabhängigen Realität an: »Matière: Das Objekt, über das die Nachricht Informa-
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Inventaire, Einführung zu Matière. Ebd. 195
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tionen gibt; das, was der Programmierer und der Linguist den Referenten der Nachricht nennen. Wie in ›Inhaltsverzeichnis‹ [frz. ›table de matières, A.W.].«3 Eine der wichtigsten Methoden des vierten Weges war daher, die Evidenzen in Frage zu stellen, die sich uns durch die sinnliche Wahrnehmung anbieten. Die Stationen des Weges argumentierten, dass es keinen Maßstab gebe, der helfen könne, eine Wahrnehmung der Realität von Illusionen, Simulationen, Fiktionen und Täuschungen zu unterscheiden. An die Stelle der Behauptung, etwas sei so oder so, müsse daher die Feststellung treten, man habe eine so oder so beschaffene Nachricht aufgenommen. Die Vorstellung, es gäbe überhaupt einen Referenten, ist aus einer solchen Perspektive eine überholte Denkgewohnheit, wie Lyotard im Inventaire weiter ausführt: »Frage der Zeugenschaft, die dieses ausgehende Jahrhundert beunruhigt, in allen Bereichen. Nichts existiert, nicht einmal das schlimmste Verbrechen, wenn es von ihm keine Spur gibt. Die Materie des Objektes existiert nur in seinen Spuren. Diese müssen zugänglich und anfechtbar sein, wie Beweisstücke. Dies gilt für den Astrophysiker wie für den Parfumeur, für den Historiker wie für den Photographen: alles Richter, die eine Untersuchung durchführen, in der die Deliquenten die Spuren des Delikts durcheinander bringen. Denn man kann simulieren.«4
Das Problem, so Lyotard hier, sei nicht so sehr die Realität an sich, das Objekt oder der Referent mit seinen Eigenschaften, sondern die Frage danach, wie glaubwürdig eigentlich jemand ist, der mit Bezug auf ein Geschehen Nachrichten sendet. Deswegen stellte Lyotard verschiedene Nachrichten vor, bei denen der Bezug zwischen Wahrnehmung und Referent sich bereits auf den ersten Blick als kompliziert erwies: Schatten, Fotografien, digitale Bilder, Integralfunktionen, künstliche Aromen. Aus diesen Beispielen lasse sich Grundsätzliches ableiten, wie er im letzten Absatz der Einführung konstatiert: »Von daher eine Art Schizophrenie in unseren Weisen des Repräsentierens und der Hegemonie der Medien: der ›Deckmantel‹ des Ereignisses verwechselt mit dem Ereignis. Ein Gefühl, dass es keine äußere Realität gibt, kein Anderes außer den Repräsentationen. Botschaften verweisen unendlich auf Botschaften. Simulakra, niemals die Sache selbst. Zwischen ihr und uns, der Schleier der Analogie. Mehr noch: der Filter der Digitalisierung.«5
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Inventaire, Einführung zu Matière. Ebd. Ebd. 196
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Diese Sätze klingen nach Baudrillards These, »dass das Reale verschwunden ist«,6 dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Realem und Simulation geben kann, wie die Metaphysik annimmt, sondern dass es nur Zeichen gibt, die ihrerseits wieder auf Zeichen verweisen. Eine Konsequenz Baudrillards daraus ist, dass es keine Aussagen über das Reale geben kann, sondern nur Interpretationen dieser sogenannten Simulakra. Da diese aber nicht auf eine Realität bezogen werden können, um ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, sind in der Konsequenz »alle Interpretationen [...] wahr«.7 Lyotards Text aus dem Inventaire, ebenso wie andere seiner Texte, klingt allerdings nicht nach einer vollständigen Übernahme von Baudrillards Simulakrum-Begriff. Für ihn gibt es nach wie vor das Ereignis, »die Sache selbst«, sie ist uns nur nicht zugänglich. Es scheint also, als wolle Lyotard nicht auf eine Ontologie, sondern eher auf eine Epistemologie hinaus, er will keine Aussage über die Realität treffen, sondern darüber, was über Realität gewusst werden kann. Ein weiteres Anzeichen dafür ist der Begriff des Zeugen, der beim vierten Weg von Les Immatériaux und in Der Widerstreit eine große Rolle spielt. Der Zeuge ist die Instanz, die sich mit ihrer Wahrnehmung in die Pflicht nehmen lässt und die Spuren sichert, um sie dem Richter als Beweis vorzuführen. Lyotards juristische Metaphorik macht deutlich, dass es nicht um eine Objektivität gehen kann, die unabhängig von den an einer Aussage beteiligten Akteuren Gültigkeit hat, sondern er versteht Aussagen über die Realität als einen Prozess der Einigung zwischen den Akteuren. Dabei hat der Zeuge die Funktion, das noch-nicht-Greifbare zu vertreten und so real zu machen: »Die Wirklichkeit ist nicht diesem oder jenem ›Subjekt‹ ›gegeben‹, sie ist ein Zustand des Referenten (das, worüber man spricht), der aus dem Vollzug von Ermittlungsverfahren [...] hervorgeht [...]«.8 Ombre de l’ombre Die ersten vier Stationen des vierten Weges nahmen diesen Gedanken der Zeugenschaft auf und deklinierten ihn anhand unterschiedlichster Bildtypen für verschiedene Aspekte des Sichtbaren durch. Im Gegensatz zu den anderen vier Wegen war der matière-Weg nicht nach der Logik »vom Körper zur Sprache« organisiert, obwohl durchaus Stationen mit dem Körper als Referenten im Blick denkbar gewesen wären – z.B. die virtuelle Umkleidekabine Vite habillé vom fünften Weg. Gleichsam als Ersatz könnte man hier die beiden Texte von Beckett verstehen, in denen nicht einmal mehr der Referent »Körper« wahrgenommen werden kann. 6 7 8
Münker/Roesler 2000, S. 104f. Baudrillard 1978, S. 31, zit. nach Münker/Roesler 2000, S. 105. Lyotard 1989, S. 18. 197
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Die ersten vier Stationen lagen hintereinander auf einem Wegstück, das keine Übergänge zu anderen Wegen ermöglichte und bildeten gemeinsam die Zone 18, in der ein Gedicht des Mathematikers und Autors Jacques Roubaud, Ombre: éloge inverse, zu hören war. Sowohl der Kopfhörertext als auch die Stationen thematisierten Bilder und ihre je spezifischen Weisen, sich auf Referenten zu beziehen: Bilder in Form von Begriffen und Metaphern, mentale Bilder also, ebenso wie fotografische, digitale und holographische Bilder, medial vermittelte Bilder also.9 Lyotard reflektiert diese Doppeldeutigkeit in seiner Zusammenfassung der Zone 18 im Petit Journal, indem er einige schwer übersetzbare Wortspiele verwendet: »Zone des Lichtes, der Zeugenschaft. Die Materie eines Gegenstands existiert nur durch ihre Spuren. Verbrecher verschwinden im Dunkel, Ermittler können die Tat aber doch erhellen. Etwas Licht in die Sache bringen? Aber es ist notwendig, dass sie schon ›ans Licht‹ gekommen ist. Alles ist also Photo-Graphie. Das Photon ist der Meister der Themen, der Realitäten. Von dem, was es nicht berührt, werden wir nichts wissen.«10
Zeugenschaft, »témoignage«, kann ebenso mit »Beweis« übersetzt werden – je nach Übersetzung liegt also der Fokus stärker auf dem Beobachter oder auf dem Beweismittel. »Die Materie eines Gegenstands«, »la matière d’un objet« könnte mit dem mât-System gedacht auch »der Referent« oder gar »das Thema« eines Gegenstandes lauten. »Faire la lumière sur l’événement?« habe ich mit »Licht in die Sache bringen« übersetzt, dadurch geht allerdings der Bezug auf den Ereignis-Begriff von Lyotard verloren. Der Trennstrich in Photo-graphie spaltet den Begriff Fotografie in seine beiden lateinischen Wurzeln auf und betont so die Herkunft des Begriffes aus einer Metapher: Fotografieren als Schreiben mit Licht. Das Wort ›Themen‹ ist hier eine mit den Kategorien des mât-Systems interpretierende Übersetzung des Begriffes matière; ohne Bezug auf das mât-
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Zur Differenzierung in mentale und materiale Bildproduktion vgl. Belting 2001, bes. S. 19-22. Ähnliche Differenzierungen prägen seit geraumer Zeit die bildwissenschaftlichen Diskurse, vgl. z.B. auch Mitchell, der »picture« und »image« unterscheidet (Mitchell, William J. T. (2001): Der Mehrwert von Bildern. In: Andriopoulos, Stefan/Schabach, Gabriele/Schumacher, Eckhard (Hg.): Die Adresse des Mediums. Köln, S. 158_184), oder Wiesing, der von »Bildobjekt« und »Bildträger« spricht (Wiesing, Lambert (2005): Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M., S. 37-80). 10 Petit Journal, S. 8. 198
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System könnte man auch sagen, »das Photon ist der Meister der Materie«. Solche Verschränkungen verschiedenster semantischer und formaler Ebenen sind es, die auch den Autor des Gedichts im Kopfhörerprogramm interessieren. Roubaud (geb. 1932) war von 1990-2001 Professor für formale Poetik an der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, nachdem er Mathematik an der Université Paris X unterrichtet hatte. Seine Lyrik beruht auf der Prämisse, dass Poesie und Mathematik im Rhythmus und in der Zahl gemeinsame Wurzeln haben, dass beide auf Proportionen, Permutationen, Regeln und Strukturen basieren. Ombre: éloge inverse – eine Anspielung auf Jorge Luis Borgès Gedicht Lob des Schattens von 1969? – thematisiert Licht als Phänomen, das die Dinge in Erscheinung bringt: »Das gesamte Licht ist die Welt«.11 Auch in Roubauds Text geht es also um die epistemologische Frage, wie unsere Wahrnehmungen zustande kommen: »[...] da sind diese Massen von Punkten, die in einem unendlichen Raum schwimmen es ist nicht vorstellbar, dass da / weder diese Massen von Punkten noch ein unendlicher Raum sein sollen«.12 Oder um das, was außerhalb unserer Wahrnehmung gerade nicht existiert: »Objekte: ohne Farbe / wie eine Zahl / und wie eine Zahl, / heimatlos / Bild: / einzige / Heimat / eines Objekts«.13 Diese metaphysischen Fragen spielen am Schluss des Gedichtes keine Rolle mehr, im letzten Satz scheint Roubaud sich dafür entschieden zu haben, beim Phänomen des Bildes zu bleiben: »die Fotografie ist die Manipulation / des Lichtes / auf dem Papier. / Schatten: umgekehrte Lobrede«.14 Ombre de l’ombre, die erste Station der Zone 18, trägt den Schatten im Titel, der bei Roubaud wie ein Gegenspieler zum Sichtbarkeit bringenden Licht erscheint. Neben einem Schatten – einem »Bild«, das durch die Beleuchtung in der Ausstellung gleichsam von allein entstanden war – hing eine Fotografie dieses Schattens und ein Auszug aus einem Lexikonartikel zum Begriff »shadow«. Die Texte im Inventaire und im Petit Journal sowie die Abbildung im Inventaire legen nahe, dass der Schatten, der auf der Fotografie zu sehen war, eine Aufnahme eines »echten« Schattens aus Les Immatériaux gewesen ist: »[...] ein Schatten, sein Bild, das am selben Ort fotografiert wurde«15 und »der ›reale‹ Schatten, sein fotografiertes Bild«.16 Auf einer handschriftlichen Projektbeschreibung aus dem Archiv des Centre Pompidou ist die Rede davon, dass ein Schat11 12 13 14 15 16
Roubaud, zit. nach Petit Journal, S. 8. Roubaud, zit. nach Route: Zones & Sites, S. 12. Ebd. Roubaud, zit. nach Petit Journal, S. 8. Inventaire zu Ombre de l’ombre. Petit Journal, S. 8. 199
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ten auf der Metallgitterwand erzeugt und von dort abfotografiert werden muss.17 Das gesamte Setting gehörte zu dem Kunstwerk One and three shadows des Amerikaners Joseph Kosuth (geb. 1945) aus dem Jahr 1965, das also aus einer Installationsanleitung und nicht aus einzelnen Objekten besteht. Kosuth ist einer der wichtigsten Vertreter der Konzeptkunst. Er prägte das Bonmot »art as idea as idea« und stellte die Behauptung auf, dass die materiellen Gegebenheiten des Kunstwerks von seinen Funktionen völlig getrennt zu betrachten seien: »Wirkliche Kunstwerke sind kaum mehr als historische Kuriositäten«.18 Kunst habe sich also mit ihrer aktuellen Theorie zu beschäftigen, der Niederschlag in der Materialität sei lediglich von historischem Interesse, nicht aber von theoretischem. Diese »linguistischen Verfahren – die nach den strukturellen Bedingungen dessen fragen, was Kunst zu Kunst macht«19 hat Kosuth vor allem in seiner Werk- und Schriftenreihe Investigations aus den Jahren 1965 bis 1973 durchdekliniert. Die bekannteste Arbeit aus dieser Reihe, der auch One and three shadows angehört, ist eine vielzitierte Ikone der Konzeptkunst, One and Three Chairs aus dem Jahr 1965: ein Stuhl steht vor einer Fotografie dieses Stuhles und einer Definition des Begriffes »Stuhl« aus einem Lexikon. Das reale Objekt, sein Abbild und sein Begriff werden so miteinander in Bezug gebracht und zeigen auf, dass die Frage, wie Begriffe und Bilder (vor allem Vorstellungs-Bilder) entstehen und welchen Bezug sie zur Wahrnehmung einerseits und zur Wirklichkeit andererseits haben, keineswegs einfach zu beantworten ist. Diese Interferenzen waren genau das, was Lyotard mit dem vierten Weg untersuchen wollte. Mit One and Three Shadows fand er einen guten Einstieg in seine komplexe Fragestellung. Allerdings gibt es zwischen One and Three Shadows und One and Three Chairs einen grundlegenden Unterschied: ein Stuhl ist ein materielles Objekt und kein Bild, ein Schatten jedoch ist bereits das Ergebnis eines bildgebenden Prozesses, in dem Licht auf ein Objekt fällt und eine dahinter liegende Fläche beleuchtet, auf der sich gleichsam als Negativ der Schatten zeigt. Die Fotografie des Stuhls ist ein Bild von einem Objekt, die des Schattens ein Bild von einem Bild – ein Zeichen, das auf ein Zeichen verweist, was die Fragestellung des vierten Weges noch prägnanter trifft als es mit One and Three Chairs möglich gewesen wäre. Lyotards Text im Inventaire hebt auf dieses Verhältnis ab: »Das ist real, was Objekt einer Zeugen17 Box 95052/027, Archiv des Centre Pompidou. 18 Kosuth 1969, zit. nach Harrison, Charles/Wood, Paul (1998): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Ostfildern-Ruit, S. 1035. 19 Buchmann 2002, S. 50. 200
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schaft (hier: die Fotografie) und einer Definition (hier: das Lexikon) ist. Die Realität wird der Schatten von demjenigen, welches sie in Bildern und/oder Worten wiederholt.«20 Obwohl Lyotard in verschiedenen kunsttheoretischen Texten seine Abneigung gegen die Fotografie deutlich macht, spielt dieses Medium sowohl bei Ombre de l’ombre als auch bei der folgenden Station, Trace de trace, die Hauptrolle. Lyotards Kritik am fotografischen Bild beruht darauf, dass es seiner Meinung nach in der Tradition der zentralperspektivischen Malerei »Identifikationsräume« organisiere, also auf der Vorstellung basiere, es könne eine Realität abbilden und diese Realität auf einen einzigen Betrachterstandpunkt hin ausrichten. Kosuths Verwendung der Fotografie hinterfragt diese Abbildfunktion des Bildes, wie er – in interessanter Analogie zu Aspekten von Roubauds Poetik-Begriff – in seinem geradezu zum Manifest der Konzeptkunst gewordenen Text Art after philosophy reflektiert: »[...] im einzigartigen Charakter von Kunst ist die Fähigkeit beschlossen, von philosophischen Urteilen unberührt zu bleiben. In eben dieser Hinsicht weist Kunst Ähnlichkeiten mit Logik, Mathematik und ebenso mit den Naturwissenschaften auf. Doch während die anderen Disziplinen nützlich sind, ist es die Kunst nicht. Kunst existiert in der Tat um ihrer selbst willen.«21 Mit Kosuth hat Lyotard einen Theoretiker aufgerufen, der ihn sehr interessiert – er hat ein Vorwort zu einer Gesamtausgabe von Kosuths Schriften geschrieben22 – und der sich völlig der Autonomie des Kunstwerkes verschrieben hat. One and three shadows führt paradigmatisch Lyotards Kunstbegriff vor: »Das einzige unveränderliche Kriterium, dem das Werk heute unterliegt, ist nun aber, ob sich darin etwas Mögliches zeigt, womit noch nicht experimentiert worden ist, das also noch keine Regeln hat – etwas Mögliches für die Empfindung oder die Sprache.«23 Trace de Trace Die nächste Station, Trace de Trace, lag nicht nur thematisch und räumlich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Ombre de l’ombre, sondern hatte auch einen ähnlichen Titel. Sie zeigte 23 dokumentarische Fotografien aus der Ausstellung Evidence, die 1977 im San Francisco Museum of Modern Art stattgefunden hatte und die ähnlich wie Kosuths Arbeit zu 20 Inventaire zu Ombre de l’ombre. 21 Kosuth zit. nach Harrison/Wood 1998, S. 1038. 22 Foreword: After the Words. In: Joseph Kosuth, Art After Philosophy and After: Collected Writings, 1966-1990, pp. xv-xviii. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Gabriele Guercio. Cambridge, Massachusetts, 1991. Diesen Hinweis verdanke ich Hudek 2001, S. 31. 23 Lyotard 1986, S. 72. 201
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den Ikonen ihres Genres, in diesem Fall der konzeptionellen Fotografie, gehört. Die Fotografien von 20,3 x 25,4 cm Größe waren so gruppiert und zwischen zwei Plexiglasscheiben befestigt, dass drei Tableaus entstanden, die halbkreisförmig nebeneinander angeordnet waren.24 Ähnlich wie bei der ersten Station des Weges konnte man also auf den ersten Blick meinen, es seien mehrere Objekte zu sehen, deren Status als Kunstwerk recht zweifelhaft erschien. Erst bei näherer Beschäftigung mit der Station konnte man feststellen, dass sich die einzelnen Exponate zu einem größeren, sie umfassenden, konzeptionellen Kunstobjekt zusammenfügten.
Abb. 17: Eines der Bilder aus Evidence (Inventaire). 24 Vgl. den detaillierten Grundriss der Ausstellung, Box 94033/228, Archiv des Centre Pompidou. 202
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Die Ausstellung Evidence wurde von zwei jungen Fotografen kuratiert, Larry Sultan (geb. 1946) und Mike Mandel (geb. 1950), die als Graduierte am San Francisco Art Institute studierten und bereits einige konzeptionell-fotografische Projekte zusammen durchgeführt hatten. 1975 bekamen sie ein Stipendium des National Endowment for the Arts, einer staatlichen Institution zur Förderung von Künstlern in den USA, um die Akten verschiedener Institutionen aus Wissenschaft und Industrie sowie staatlicher Behörden durchzusehen und aus deren Bildbeständen eine Ausstellung zu produzieren. Es gelang ihnen, nicht nur John Humphrey, den Kurator für Fotografie am San Francisco Museum of Modern Art, sondern auch die Verantwortlichen der Archive zu überzeugen, die ihnen freien Zugang gewährten und viele der ausgewählten Bilder überließen. Aus Hunderttausenden von Bildern, »chaotic, marvelous, mournful, and funny pictures of people engulfed by a new technology no one could understand but experts«25, wählten sie einen Teil für die Ausstellung aus und publizierten 50 in dem sorgfältig und hochwertig produzierten Katalog, der ebenfalls den Titel Evidence trug. Auf vielen der Bilder sind Menschen zu sehen, die an technischen Geräten hantieren, in sie eingespannt sind oder von anderen mit Geräten traktiert werden, es gibt Bilder von Messgeräten, menschenleeren, verbauten Gegenden und Straßenzügen, Aufnahmen von Fußspuren oder Handabdrücken. Die Zusammenstellung der Bilder visualisierte eine schwer greifbare Atmosphäre: »Evidence, therefore, is a post-vietnam, post-Watergate work of art, one which engages the loss of belief provoked by that era and an examination of the resulting ambivalent relationship of people to the new machines.«26 Das Projekt war ein Meilenstein in der Geschichte der Fotografie, deren künstlerischer Status sich im Laufe der 70er Jahre ohnehin beträchtlich wandelte. Nachdem seit Beginn des 20. Jahrhunderts darüber gestritten worden war, ob das Foto ein künstlerisches oder ein dokumentarisches Bild, wie also sein Verhältnis zur Wirklichkeit zu verstehen sei, wurde in den 1970er Jahren deutlich, dass die Fotografie grundsätzlich beides in sich vereint, dass also das fotografische Bild zweierlei ist: »a powerful means of representing both fantasy and truth.«27 Sultan und Mandel rührten mit ihrem ungewöhnlichen Konzept an eine sowohl zu Zeiten ihrer Ausstellung als auch zur Zeit von Les Immatériaux virulente Frage. Ihrem Kontext entrissen, ohne Bildunterschriften, die über das Visuelle hinausgehende Informationen hätten bereit stellen können, wurden die Bilder in Evidence zu eigenartigen Schimären: sie zeigten, dokumen25 Phillips in Mandel/Sultan 1977/2003, o.S. 26 Ebd. 27 Ebd. 203
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tierten, bildeten Wirklichkeit ab und verhinderten zugleich, dass man sie in der üblichen Weise verstehen konnte. Das Konzept von Sultan und Mandel – »select photographs intended to be used as objective evidence and show that it is never that simple«28 – machte deutlich, dass Bild und Kontext eine Einheit bilden: Wird ein Bild de- oder rekontextualisiert, ist es nicht mehr dasselbe. Damit zeigte das Projekt, dass das Verstehen von Bildern, ob dokumentarischen oder künstlerischen, generell ein epistemologisch-bildtheoretisches Problem ist und machte das Entweder-Oder der fototheoretischen Debatte obsolet. In der Presseerklärung zur Ausstellung äußern sich Mandel und Sultan: »By definition these found objects are records and by implication they are cultural artifacts. This is a [...] poetic exploration upon the restructuring of imagery.«29 Dieser Aspekt war es, der Lyotard vor allem interessierte, wie eine handschriftlich festgehaltene Überlegung aus dem Archiv des Centre Pompidou verdeutlicht: »La photographie est un témoignage de la réalité et de son contraire. Elle est une trace d’une absence.«30 Im Inventaire sind zwei der Bilder aus Evidence abgebildet. Eines zeigt einen beinahe leeren, schnurgeraden Highway, auf dessen einer Fahrbahn ein Schild und ein Mann den Weg blockieren. Das andere zeigt Abdrücke von nackten Füßen neben einem Bleistift auf einem Steinfußboden. Das zweite Bild hat nahezu illustrativen Charakter für die Thematik der Station und den vierten Weg; die Aufnahme des Abdruckes ist die Spur einer Spur und kann so mit Roland Barthes als Zeuge für einen abwesenden Referenten aufgefasst werden: »das, was ich sehe, befand sich dort, [...] es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden.«31 Der Stift kann, will man eine ikonographische Interpretation des Bildes noch etwas strapazieren, dazu noch auf den Akt des Schreibens verweisen, was die Station in eine gewisse Nähe zu Derrida rückt, dessen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Spur und dem Schreiben einen Kern seines Denkens ausmacht.32 Trace de trace bezieht 28 Rezension der Neuauflage von Evidence auf der Homepage des Verlages D.A.P./Distributed Art Publishers, Inc. http://www.artbook.com/18910246 20.html, 14.6.2005. 29 Presseerklärung, San Francisco Museum of Modern Art, S. 1f, zit. nach Phillips in Mandel/Sultan 1977/2003, o.S. 30 Box 94033-7669, Archiv des Centre Pompidou. 31 Barthes 1989, S. 87. 32 Derridas Versuch, einer Metaphysik der Präsenz zu entgehen, hat Konsequenzen für das, was Lyotard im mât-System den Referenten nennt und was sich, wie er hier im vierten Weg aufzeigt, konstitutiv entzieht: »Der Begriff der ›Spur‹ wiederum ist ein Verweis auf den Sinn, der nicht anwe204
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sich dabei nicht nur auf die Lichtspur, die in dem kurzen Moment der Belichtung auf dem Negativ hinterlassen wurde, sondern auch auf die Informationsspuren, die jedes Bild umgeben. Nach Ombre de l’ombre, der Station, die das Verhältnis zwischen Begriff, Bild und Gegenstand auslotete, befasste sich Trace de Trace also mit den Verbindungsstücken zwischen diesen dreien, dem Zeugen und der Spur. Sultan und Mandel treten als Archäologen der Archiv-Bestände an die Stelle des Fotografen, der das Bild gemacht hat und finden in dieser Nähe zum Amateurfotografen anscheinend die Sympathie Lyotards: »Der Amateur [...] kann sich [...] freimachen und das Unerwartete suchen«.33 Espace réciproque Zwischen Trace de Trace und der nächsten Station, Espace réciproque, gab es – ähnlich wie schon zwischen Trace de Trace und Ombre de l’ombre – einen breiten offenen Durchgang, der weniger dazu diente, die beiden Stationen voneinander zu unterscheiden als vielmehr eine Kontinuität zwischen ihnen zu schaffen. Die meisten Verbindungen zwischen den anderen Stationen von Les Immatériaux bestanden aus Durchgängen von der Breite einer Tür oder aus gegeneinander verschobenen und dementsprechend unübersichtlicheren Öffnungen – dies gibt einen Hinweis auf eine große thematische Nähe zwischen den ersten drei Stationen des vierten Weges. Espace réciproque nahm die Frage nach der bildlichen Repräsentation ein drittes Mal auf. Zu sehen war ein Hologramm des Pioniers dieser Technik, Stephen Benton, dessen Arbeit Rind II in Homme invisible hing und dort eine Chiffre für den Blick auf den Körper darstellte. Espace réciproque zeigte eine seiner bekanntesten Arbeiten, Crystal Beginning aus dem Jahr 1977. Gleichmäßig über die Fläche verteilte, auf einen im Bild-
send sein kann, da sonst die ganze Figur der Metaphysik der Präsenz verhaftet bliebe« (Münker/Roesler 2000, S. 45). Auch für den Sender der Nachrichten, ihren Ursprung, der kein Ursprung sein kann, ist Derridas Konzept von Bedeutung: »Im Begriff der ›Spur‹ wird auch die Frage nach dem Ursprung thematisiert, den es natürlich nicht geben kann, da er wieder nur als Präsenz gedacht werden könnte [...]« (ebd.). In Derridas Worten: »Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier [...], dass der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, dass die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät [...] Und doch ist uns bewußt, dass dieser Begriff seinen Namen zerstört und dass es, selbst wenn alles mit der Spur beginnt, eine ursprüngliche Spur nicht geben kann« (Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 107f., zit. nach ebd.). 33 Lyotard 1985c, S. 92. 205
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mittelpunkt liegenden Fluchtpunkt hin organisierte helle Punkte bilden einen Tiefenraum, der den Betrachter in die Fläche hineinzusaugen scheint – wie ein visuelles Echo der Punkte im unendlichen Raum aus dem Gedicht von Roubaud, das auch hier noch im Kopfhörer zu hören war. Verlagerte ein Betrachter seinen Standort vor dem Hologramm, entstand der Eindruck, »[the points] seem to travel towards the viewer as though one is traveling through space«.34 Benton spielt also, wie mit Rind II auch, mit der Wahrnehmung und den Konzepten, die wir von unserer Umwelt haben und bietet ungewöhnliche Ansichten an – im doppelten Sinne des Wortes –, die überhaupt erst durch die Technologie des Hologramms möglich werden. Neben dem Hologramm befand sich ein Bildschirm, auf dem die Fouriertransformation erklärt wurde, eine der wichtigsten mathematischen Formeln in der digitalen Bildverarbeitung. Lyotard begründet im Inventaire, warum er diese komplizierte mathematische Berechnungsmethode, die für einen durchschnittlichen Besucher kaum nachzuvollziehen gewesen sein wird, in Les Immatériaux einbrachte: »Um die Eigenschaften der Materie zu erklären, muss man sie in einen anderen Raum transkribieren, der sich mit Hilfe einer mathematischen Relation herleiten lässt: eine Art von materieller Anamorphose, das ist der reziproke Raum.«35 Die Fouriertransformation ist ein Verfahren, das bestimmte Aspekte eines Gegenstands mittels eines Laserstrahls visuell verfügbar und in einem weiteren Schritt berechenbar macht. Der Laser bestrahlt dafür einen Gegenstand, wodurch eine Wechselwirkung zwischen dem einfallenden Strahl und dem Gegenstand entsteht, z.B. eine Beugung des Laserstrahls. Diese Beugung bringt ein Muster im reziproken Raum, einem theoretisch-mathematischen Konzept, hervor. Um diese Muster, die Informationen über die Materie beinhalten, welche ohne dieses Verfahren nicht zugänglich wären, erfassen und umrechnen zu können, wendet man auf die Ergebnisse im reziproken Raum die Fouriertransformation an und transformiert die Daten damit in den direkten oder realen Raum. Konkret bedeutet dies, dass man Punkte im reziproken Raum in Flächen im direkten Raum umrechnen kann. Um diese Methode zu veranschaulichen, war ein solcher Laser in der Ausstellung aufgebaut. Zudem waren in der Station und im Inventaire zwei Tafeln zu sehen, die typische Bilder eines solchen Visualisierungsprozesses zeigen: Beugungsbilder, geometrische Figuren, die in regelmäßige Reihen von Punkten gerastert sind. Dies sind Aufnahmen des »rezi-
34 Bildunterschrift zu Crystal Beginning unter http://electronicimaging.org/ Program/04/ (29.5.2006). 35 Inventaire zu Espace réciproque. 206
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proken Raumes des realen materiellen Raumes«,36 wie Lyotard im Inventaire mathematisch korrekt, aber trotzdem – oder gerade deswegen – schwer verständlich formuliert. Espace réciproque veranschaulicht weniger poetisch und dadurch vielleicht um einiges deutlicher als die ersten beiden Stationen Lyotards These, dass außer komplexen Konstruktionen von Konstruktionen, Zeichen von Zeichen, kaum etwas über die Realität zur Verfügung stehen kann. Und es stellt sich sofort die Frage, was mit den Daten aus dem reziproken Raum gewonnen ist – sicherlich Modi zur Bearbeitung und zum Verständnis bestimmter Eigenschaften bestimmter Materialien, aber bedeutet dies auch, dass diese Materialien nun verstanden worden sind? Lumière dérobée Die vierte Station des Weges, Lumière dérobée, zeigte ausschließlich Kunstwerke und befasste sich mit der Frage, inwiefern Licht Thema der Kunst sein kann. Damit hatte sie große thematische Ähnlichkeit mit Peinture luminescente vom ersten Weg, wo nach dem Licht als Material, als Rohstoff für die Kunst gefragt wurde. Dort waren einige Arbeiten zu sehen, die reale physikalische Lichtquellen beinhalten (wie z.B. der Raum-Licht-Modulator von Moholy-Nagy, eine Neoninstallation von Flavin oder eine Mixed-Media-Installation von Takis), während Lumière dérobée Gemälde zeigte, die um eine angemessene malerische Darstellung des Lichtes ringen, sowie Installationen, die mit Spiegelungen und Projektionen arbeiteten. Lumière dérobée war die letzte Station, die zur großen Zone 18 gehörte, daher waren Roubauds Reflexionen über das Licht, die Sichtbarkeit, den Schatten und die fragwürdige Existenz der Dinge wie in den anderen Stationen der Zone auch hier der poetische Boden, der den Blick auf die Exponate theoretisch hinterfing. Es waren insgesamt 13 Kunstwerke präsentiert, neun davon Gemälde, eine Skulptur und drei Installationen. Die Gemälde von Georges Seurat, Giacomo Balla, Natalia Gontscharowa, Michail Larionov, Kasimir Malewitsch sowie Sonia und Robert Delaunay waren Zeugnisse einer künstlerischen Entwicklung, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit dem Paradigma des realistischen Abbildens gebrochen hatte und auf der Suche nach den genuin malerischen Vermögen war: Was kann Farbe auf einer Leinwand überhaupt? Was kann sie abbilden, was darstellen? Lyotard versammelte in Lumière dérobée Vertreter verschiedener Stile, die unterschiedliche Antworten auf diese Fragen gefunden hatten: der Pointillismus z.B. löste die Wahrnehmung von Farbflächen in Lichtpunkte auf, wie das Gemälde von Seurat verdeutlichte. Es zeigt
36 Inventaire zu Espace réciproque. 207
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einen Rückenakt mit dem Titel Poseuse assise, vue de dos von 1887, dessen fragmentierte Konturen nahezu mit dem Hintergrund verschmelzen, eine »Auflösung des Körpers in das Licht«,37 wie Lyotard dazu anmerkt. Der Rayonismus, vertreten durch eine Landschaft von Larionov (Paysage von 1905) und eine abstrakte Komposition von Gontscharowa (Construction rayonniste, ca. 1913), »hebt die Form in die Farbe auf«,38 indem er die Bildfläche durch Farbstrahlen quasi-kubistisch untergliedert. Zum Orphismus schreibt Lyotard, er habe »kein anderes Thema als das Licht und die Bewegung durch die Farbe«39 – von Sonia Delaunay war Étude pour les prismes électriques (1914) zu sehen, von Robert Delaunay ein weitgehend abstraktes Bild mit dem Titel Une fenêtre (191213) und die kubistisch-impressionistische Komposition La femme et la tour (ca. 1925). Der Futurismus brach mit der Einheit des Bildes, indem er verschiedene Zeitphasen synchron darstellte, was zu Bildlösungen führte, die wie Mehrfachbelichtungen einzelne Aspekte des Sujets in minimalen Variationen gegeneinander verschoben. Das Gemälde Lampadaire (étude de lumière) von Balla (1910) zeigt sogar eine Lichtquelle, eine Straßenlaterne, und reflektiert damit »die moderne Schönheit des fabrizierten Lichtes«,40 wie Lyotard im Inventaire schreibt. Malewitschs Zeichnung Composition suprématiste (ca. 1915, 1917 oder 1920) trägt auf der Rückseite einen zufällig entstandenen Abdruck einer Bleistiftzeichnung des Künstlers, der nach Lyotards Text im Inventaire »das Minimum des Bildes«41 darstellt und zu seiner Entstehung nicht das Licht, sondern die Berührung benötigte. In einem eigenartigen Gegensatz zu diesen Positionen der klassischen Moderne stand eine 50 x 60 cm42 große Kopie der Verkündigung von Simone Martini, einer 265 x 305 cm messenden Holztafel aus dem Jahr 1333, deren Original sich in den Uffizien befindet. Eigenartig, weil sowohl das Thema »Licht« hier eine völlig andere Rolle spielt – »Metaphysik des Lichtes«43 resümiert Lyotard im Inventaire bündig das Geschehen der Verkündigung, die in den meisten Bildern dieser Zeit durch einen Lichtstrahl symbolisiert wird –, als auch und vor allem deswegen, weil es sich um eine Kopie handelte. Es gibt sicher Werke zu diesem Thema, die für Les Immatériaux hätten ausgeliehen werden können. Mit der Entscheidung für eine Kopie gibt Lyotard der Vorstellung, die Materialität des Werkes ordne sich seinem Sujet un37 38 39 40 41 42 43
Inventaire zu Lumière dérobée. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Box 94033-7669, Archiv des Centre Pompidou. Inventaire zu Lumière dérobée. 208
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ter, mehr Raum, als seine kritische Befragung gerade dieser Vorstellung, z.B. bei Peintre sans corps auf dem ersten Weg, vermuten lässt. Die raumgreifenden Installationen von Dan Graham, die ebenfalls zu der Station gehörten, erweiterten den engen Fokus der malereitheoretischen Fragen: ein Modell von Two adjacent pavilions (aus den Jahren 1978 bis 82), ein Modell der bis dahin noch nicht realisierten Installation Cinema (1981) und das interaktive Environment Present Continuous Past(s) (1974) funktionieren als Räume, in denen mit Hilfe von Spiegeln, Kameras und closed-circuit-Installationen Abbilder der Besucher zeitversetzt oder verzerrt sichtbar wurden: »Les dispositifs de Graham transforment le regard en action et l’action en image«.44 Auch die Skulptur Ohne Titel des Minimalisten Larry Bell aus dem Jahr 1966 untersucht »das Licht in seiner räumlichen und zeitlichen Dynamik«45: Verzinnte, mit einem Chromrahmen zusammengehaltene Glasscheiben stehen auf einem Plexiglassockel. Lyotard schreibt metaphorisierend, der Chromrahmen spiegele das Umgebungslicht, so dass aus der Skulptur ein Gebäude werde. Das Licht vergrößert also den Kubus, der mit 50 cm Kantenlänge ein handliches Objekt ist, gleichsam in den unendlichen Raum hinein. »Werke über das Licht, mit Licht gemacht. Ihr Thema ist ihr Material: Schwindel der Selbstreferentialität«46, fasst Lyotard im Inventaire diese kleine Ausstellung in der Ausstellung zusammen. Die Frage nach dem Verhältnis von Nachricht und Referent wird in diesen Bildern auf eine besondere Weise beantwortet: die Selbstreferentialität, die in der malerischen Darstellung von Licht liegt, macht die traditionelle Unterscheidung zwischen Material und Sujet unmöglich. Irreprésentable Die nächste Station, Irreprésentable, lag hinter der Station Musicien malgré lui, die aus dem dritten Weg in den vierten hineinragte. Sie bildete mit der ihr folgenden Station Images calculées die Zone 19, in der Texte von Jorge Luis Borgès (1899-1986) und Jean Baudrillard (geb. 1929) zu hören waren. Mit einigem technischen Aufwand baute man für Irreprésentable auf einer Fläche von 20 qm einen Wald in die Ausstellungsräume hinein. Die Besucher bewegten sich inmitten einer Anordnung meterlanger Pflanzkübel, in denen sich verschiedene Pflanzen, ein gläsernes Phytotron sowie Messgeräte befanden; zudem gab es einen Bildschirm, der die gemessenen Werte anzeigte. Das Phytotron, eine Klimakammer aus der biologischen Forschung, in der unterschiedliche klimatische Be44 Boudin-Lestienne 2002, S. 40. 45 Inventaire zu Lumière dérobée. 46 Ebd. Das schöne Wortspiel, das den Begriff Matière synonym für Materie, Inhalt und Thema verwendet, hat im Deutschen keine Entsprechung. 209
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dingungen simuliert werden können, hatte eine Größe von etwa einem Meter Kantenlänge und stand, dramatisierend rot angestrahlt, zwischen den Pflanzen. Im Inventaire schreibt Lyotard dazu: »Darstellung der Komplexität: es ist unmöglich die Matrix eines Elementes visuell wiederherzustellen, wenn es vier oder mehr Variablen unterworfen ist. Man muss es also in Querschnitten analysieren. Die Mehrzahl der natürlichen Systeme hängt von einer sehr großen Zahl von Variablen ab. Sie sind nicht auf einmal als Ganzes darstellbar. Dematerialisierung des Objektes ›Natur‹.«47 Wissenschaftliche Daten repräsentieren, so argumentiert Lyotard hier, immer nur einen kleinen Ausschnitt aus der Realität, also dessen, das untersucht werden soll. Die Querschnitte, von denen in seinem kurzen Text die Rede ist, entsprechen den einzelnen Fragestellungen, mit denen sich eine analytische Forschung dem Objekt nähert. Die so erhaltenen Ergebnisse können der Komplexität des gesamten »Objekts Natur« nicht gerecht werden, sondern bilden es als »dematerialisiertes«, also seiner sinnlichen und ästhetischen Qualitäten beraubtes Phänomen ab. Der aus echten Pflanzen bestehende Wald von Irreprésentable ließ in seiner grünen Üppigkeit nicht vermuten, dass das Kopfhörerprogramm gerade hier mit zwei Texten aufwarten würde, die besonders deutlich für die These sprachen, dass die Realität selbst nicht zugänglich sei. Borgès’ Text De la rigueur de la science gibt vor, von einem Autor namens Suarez Miranda aus dem Jahr 1658 zu stammen und wurde 1951 erstmals auf Französisch veröffentlicht. Er besteht lediglich aus einigen Zeilen und war vollständig in Les Immatériaux zu hören, büßte allerdings sowohl im gesprochenen Text als auch in Route: Zones & Sites den Hinweis auf den – falschen – Autor ein und verlor dadurch eine Ebene der Simulation. Miranda alias Borgès berichtet von einem Reich, in dem man in der Lage sei, extrem präzise geographische Karten anzufertigen. Ihre Perfektion sei so groß, dass die Karte einer Provinz die Fläche einer ganzen Stadt bedeckte und diejenige des gesamten Reiches eine komplette Provinz. Dennoch seien sie nicht ausreichend, so dass man eine Karte angefertigt habe, die mit dem eigentlichen Reich in jedem Detail übereinstimmte und genau seine Größe habe. Spätere Generationen hätten die Leidenschaft für Karten verloren, so dass es keine Verwendung mehr für die Meisterwerke gäbe. In den Wüsten des Westens allerdings existierten bruchstückhafte Ruinen der Karten, in denen Bettler und Tiere lebten. In diesem poetischen Kleinod, das eine Figur aus Lewis Carrolls 1893 entstandenem Buch Sylvie and Bruno Concluded aufnimmt,48 fin47 Inventaire zu Irreprésentable. 48 Dieser Hinweis stammt von Seriot, Patrick (2000): Limites, bornes et normes: la délicate constitution de l’objet de connaissance en sciences humai210
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den sich einige der zentralen Themen von Les Immatériaux wieder. Der Autor ist nicht der Autor, die Karte ist nicht das Territorium, die Realität keine letzte Bastion – letzteres allerdings aus anderen Gründen als bei Lyotard, nämlich narrativen: die Menschen des Reiches verlieren einfach das Interesse an den Karten, in der fiktiven Welt, die Borgès beschreibt, wäre es prinzipiell möglich, dass Karte und Reich zugleich existieren. Der in Les Immatériaux hinein verpflanzte Wald, ein lebensgroßes pars pro toto für eine außerhalb der Ausstellung liegende Realität, findet eine Analogie in der Karte des Reiches, die eine perfekte Illusion schafft und trotzdem völlig nutzlos ist – in Carrolls Erzählung bitten die Bauern den Hersteller der Karte, sie nicht aufzufalten, weil sie sonst die Sonne verdunkeln würde, was dazu führt, dass der Hersteller mit dem tatsächlichen Terrain arbeitet und zu dem Schluss kommt, dass dies auch ganz gut funktioniere. Nicht zuletzt spielt Lyotard mit der Verwendung von Borgès’ Text, dessen Titel ja darauf hinweist, dass es sich um eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaft handelt, auf seine Überlegungen zu den Grenzen der Technowissenschaft und den Sprachen der wissenschaftlichen Institutionen allgemein an. Baudrillards Text Die Präzession der Simulakra (1978) nimmt unmittelbar Bezug auf De la rigueur de la science – somit ist die Zone 19 eine der wenigen in Les Immatériaux, in der intertextuelle Verknüpfungen offen gelegt wurden. Baudrillard stellt die These auf, dass Borgès’ Text, diese »schönste Allegorie der Simulation«,49 für uns heute nur noch poetischen Wert habe, weil der Begriff des Simulakrums keine Verdoppelung oder Spiegelung bezeichne, sondern »eine Realität ohne Ursprung oder Realität: Hyperrealität«.50 Nicht die Karte, so fährt Baudrillard im Rückgriff auf die Fabel von Borgès fort, sei es, die verrotte, sondern das Terrain, das unter der Karte liege. Dieser für Baudrillards Medientheorie grundlegende Text spielte für Les Immatériaux eine große Rolle, auch wenn er nur an dieser Stelle explizit genannt wird. Baudrillards Begriff der Simulation, der »die Absorption der Wahrnehmbarkeit der Differenz von Zeichen und Realem«51 und die »Liquidierung aller Referentiale«52 bezeichnet, stellt einen Leitgedanken von Les Immatériaux, vor allem des vierten Weges dar. Der Wald von Irreprésentable kann vor diesem Hintergrund auch als Simulakrum – oder gar als perfek-
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nes. In: Colloque GéoPonts, S. 125-139. www2.unil.ch/slav/ling/recherche/ biblio/03.GeoPonts.pdf (29.5.2006), S. 125. Route: Zones & Sites, S. 14. Ebd. Fahle, Oliver: Französische Medientheorien. In: http://www.informationphilosophie.de/philosophie/medientheorie.html (29.5.2006). Baudrillard 1978, S. 9. 211
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te Karte von einem unter dieser verborgenen Territorium – verstanden werden. Das beinahe romantische Setting mit den Pflanzen war allerdings nicht so recht geeignet, um derartig komplexe Denkfiguren zu veranschaulichen. Erst die Abbildung im Inventaire leistete dies: dort waren zwei Diagramme abgebildet, die wirtschaftliche Entwicklungen über Zeiträume von je einem Jahrzehnt darstellen sollten. Ihre kleinteiligen Informationen, die aus Abkürzungen, Prozentsätzen und statistischen Daten bestanden, wirken auf den ersten Blick verwirrend und unverständlich – so machte Lyotard im Inventaire mit einer überzeugenderen Bildsprache als in der Ausstellung deutlich, worum es ihm bei Irreprésentable ging. Images calculées In unmittelbarer Nähe zu Irreprésentable, am Rand der Pflanzkübel, lag die nächste Station des Weges. Images calculées bestand aus einem interaktiven Setting, bei dem synthetische, durch die Interaktion mit den Besuchern in Echtzeit erzeugte Fraktalbilder präsentiert wurden: Man konnte eine Feder durch seinen Atem auffliegen lassen, der Computer rechnete ihre Bewegungen in dreidimensionale Darstellungen um und zeigte sie direkt auf einem Bildschirm an. Zudem gab es eine Videoprojektion von neuen synthetischen Bildern – eine Vorschau auf die SIGGRAPH 85 (Special Interest Group on Graphics and Interactive Techniques), wie Lyotard im Petit Journal schreibt, eine der wichtigsten internationalen Messen für Computergraphiken.53
Abb. 18: Ein Fraktalbild aus dem Inventaire. 53 »SIGGRAPH Video Review is the world's most widely circulated videobased publication. Since 1979, SIGGRAPH Video Review has illustrated the latest concepts in computer graphics and interactive techniques.« http://paris. siggraph.org/, 21.6.2005. Thierry Chaput arbeitete eng mit der SIGGRAPH zusammen und baute nach Les Immatériaux eine französische Dependance auf, so wird der Kontakt zustande gekommen sein. 212
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Im Inventaire befinden sich vier Abbildungen, die einzelne Rechenschritte auf dem Weg zu einem Fraktalbild nachvollziehbar machen. Fraktale sind Bilder, die durch rekursive Operationen erzeugt werden: eine Berechnung wird immer wieder auf sich selbst angewendet. Dieses Verfahren, das auf keinerlei außer ihm liegende Realität mehr verweist, sondern völlig selbstbezüglich funktioniert, bringt Bilder hervor, die einen hohen Grad an Selbstähnlichkeit aufweisen – ihre Mikro-Strukturen ähneln den Makro-Strukturen so, dass man Fraktale im Prinzip unendlich verkleinern oder vergrößern kann, ohne dass sich ihr Aussehen wesentlich ändert. Sie sind aufgrund ihrer Eigenarten gut geeignet, um im Rahmen des vierten Weges als Beispiel für Phänomene zu dienen, bei denen die Unterscheidung in Simulation und Realität wenig sinnvoll ist, wie Lyotard im Inventaire schreibt: »Von der Berechnung zum Bild. Die synthetischen Bilder ermöglichen die Befreiung vom Referenten (dem Thema der Repräsentation), selbst wenn sie manchmal den Modus der realistischen Repräsentation beibehalten.«54 Zwar ließ die spielerische Interaktion mit der Feder noch zu, dass die Besucher zwischen ihren Handlungen und den Bildern Zusammenhänge im Sinne von Ursache und Wirkung erkennen konnten, aber die Berechnungen, die letztendlich zu den Bildern führten, waren nicht nachvollziehbar. Ebenso bei den Videos der SIGGRAPH: Die Verbindung von Realität und Abbild ist beim digitalen Bild eine rein willkürliche, viele der elektronischen Bilder haben keinerlei Bezug zu einer außerbildlichen Realität mehr. Die Fraktalbilder sind für Lyotard ein Synonym für die prinzipielle Unabschließbarkeit des Denkens, eine Metapher, die er 1986 in einem Vortrag wieder aufgriff: »Die Randzone von Gedanken ist ebenso unermeßlich wie die fraktalen Linien Benoit Mandelbrots. [...] Gedanken wechseln unaufhörlich ihren Aufenthaltsort untereinander. Wenn man meint, im Zuge der Analyse entweder ihrer sogenannten Struktur oder Genealogie oder sogar ihrer Post-Struktur tief in ihr Inneres eingedrungen zu sein, dann ist es in Wahrheit zu spät oder zu früh.«55 Images Calculées stellt also nicht nur eine Veranschaulichung für eine Realität ohne Realität dar, sondern kann auch als Chiffre für Lyotards Verständnis vom Philosophieren aufgefasst werden, in Bezug auf die Fraktalbilder formuliert: sich immer wieder aufs Neue dieser »Randzone der Gedanken« zu nähern.
54 Inventaire zu Images calculées. 55 Lyotard 1989a, S. 23. 213
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Odeur peinte Hinter Images calculées lag die Station Odeur peinte, die mit der folgenden, ebenfalls den Geruchssinn thematisierenden Station Arôme simulé die Zone 20 bildete. Lyotard sieht in diesen beiden Stationen eine »zweifache Bewegung des Simulakrums«56, wie er im Petit Journal schreibt: »Das Bildwerk, das hoffnungslos das Aroma repräsentiert, benutzt es schließlich als Material (der Kaffee im Werk von Kounellis); umgekehrt erzeugt die synthetische Chemie Gerüche, die der Nase echter vorkommen als die natürlichen.«57 Der Text, der in Zone 20 im Kopfhörer zu hören war, stammte von dem argentinischen Schriftsteller Adolfo Bioy Casarès (1914-1999), einem Freund von Borgès. Aus seinem Roman La invención de Morel, der um 1940 entstand und heute sein bekanntestes Werk ist, waren einige kurze Zitate zu hören, in denen der Erzähler von einem Apparat berichtet, der perfekte sensorische Illusionen verbreiten könne. Auf Knopfdruck erzeuge er olfaktorische Wellen, die es möglich machten, die auf eine Bluse gedruckten Jasminblüten zu riechen, oder man könne qua taktiler Welle jemandem über das Haar streichen, ohne dass die Person anwesend sei. Der Apparat könne auch die komplette Person erzeugen, indem man alle sensorischen Elemente kombiniere – diese Wesen, so überlegt der Erzähler, hätten aber wahrscheinlich kein Bewusstsein, ähnlich wie die Charaktere in einem Film. Casarès’ Vision ist Baudrillards von der Realität nicht unterscheidbarem Simulakrum nahe, da bei beiden davon ausgegangen wird, dass die sinnliche Wahrnehmung kein Kriterium vorweisen kann, das ihr eine Unterscheidung zwischen Simulation und Realität ermöglicht. Im Unterschied zum baudrillardschen Simulakrum jedoch handelt es sich bei den von dem wundersamen Apparat erzeugten Wesen um eigenartige Schimären aus verschiedenen Sinnestäuschungen, deren Status eindeutig ist: die »Wellen« imitieren zwar die sensorischen Sensationen in großer Perfektion, das Wesen wird aber dennoch nicht für »real« gehalten, weil es nur eine Projektion ist, die kein eigenständiges Leben – oder bei Casarès: kein Bewusstsein – hat. Odeur peinte griff den Gedanken der Sinnestäuschung auf und bezog ihn auf Methoden der Repräsentation in der modernen Kunst. Die Kunstwerke der Station stellten, ähnlich wie die Werke bei Lumière dérobée das Licht, nicht nur Gerüche als Sujet dar, sondern verströmten selbst verschiedene Düfte. Sie veranschaulichten also eine ähnliche Unklarheit über die Positionen von Material und Referent wie die Kunstwerke zum Thema Licht: »Das Werk repräsentiert den Duft. Es wird zum Duft. Das
56 Petit Journal, S. 9. 57 Ebd. 214
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Material wird das Thema des Werkes. Das Werk repräsentiert sich selbst.«58 Eines der Kunstwerke bestand tatsächlich aus einer duftenden Substanz und erfüllte damit Lyotards Ankündigung, dass das Werk zum Duft werde. Jannis Kounellis’ Senza Titolo von 1969 setzt sich aus mehreren übereinander hängenden Schalen zusammen, in die Kaffeebohnen gefüllt sind. In zwei anderen Werken war der Geruch zwar als Materie vorhanden, blieb aber dennoch virtuell, weil er nicht der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich war: Piero Manzonis Merda d’Artista von 1961 besteht aus einer geschlossenen Konservendose, die – wie der Titel behauptet – mit Exkrementen des Künstlers gefüllt sein soll. Marcel Duchamps Belle Haleine, Eau de voilette von 1921 ist ein Parfumflakon mit dem Konterfei des Künstlers. Beide Werke spielen auf unterschiedliche Weise mit der Phantasie des Betrachters, Manzoni, weil er qua Titel eine unüberprüfbare Behauptung aufstellt, Duchamp, weil er mittels Wortspielen Bezüge herstellt: ›violette‹ ist das Veilchen, ›voilette‹ der Schleier, ›haleine‹ ist der Atem, und ›Belle Haleine‹ klingt nach ›Belle Hélène‹, wie Lyotard im Inventaire aufschlüsselt. Wer sich durch dieses Gewirr an Konnotationen durchgedacht hatte, wusste womöglich nicht mehr, was dieses Werk nun darstellen sollte und was nicht – ein Spiel mit der Vieldeutigkeit der Referenten, das für viele Werke Duchamps grundlegend ist und für Lyotard eine willkommene zusätzliche semantische Ebene einbrachte. Die letzten beiden Arbeiten, das Objekt Torture-Morte von Duchamp aus dem Jahr 1959 und das Gemälde Trois pommes d‹api, deux châtaignes, une écuelle et un gobelet d’argent (nach 1750) von Jean Siméon Chardin zeigen mit illusionistischen Mitteln Gegenstände, die einen starken Geruch verströmen. Torture-Morte besteht aus einem in Gips gegossenen Fuß, an dessen Unterseite Fliegen kleben und der in einen Holzrahmen montiert ist, in dessen Boden unterhalb des Fußes mit weißer Farbe der Titel und eine Signatur gepinselt sind. Die Fliegen, die in der Tradition der Malerei als Trompe l’oeil dazu dienen, die Fähigkeit des Künstlers zur realistischen Abbildung unter Beweis zu stellen, haben in Torture-Morte einen ähnlichen Effekt – allerdings staunt man nicht so sehr über die Kunstfertigkeit des Künstlers, sondern vermeint eher, einen stinkenden Fuß vor sich zu haben. Lyotards Analyse im Inventaire weist darauf hin, dass der Titel Torture-Morte ein Wortspiel mit dem Begriff ›nature-morte‹ ist, der französischen Bezeichnung für das Stillleben – das Werk sei so vom »Duft des Kalauers«59 umgeben, kalauert Lyotard. Und 58 Inventaire zu Odeur peinte. Auch hier ist wieder die Mehrdeutigkeit des Begriffes Matière im Deutschen nicht nachvollziehbar. 59 Inventaire zu Odeur peinte. 215
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eine weitere Anspielung deckt er auf: Duchamp scheint sich auf die Geschichte des Zeuxis von Plinius zu beziehen, der im Malerei-Wettstreit mit Parrhasios unterliegt. Zeuxis hatte Trauben so täuschend echt gemalt, dass die Vögel nach ihnen pickten, Parrhasios aber war es gelungen, einen Vorhang so perfekt zu imitieren, dass Zeuxis von ihm verlangte, er möge doch endlich den Vorhang von seinem Bild wegziehen, damit er, Zeuxis, sich ein Urteil machen könne. Parrhasios gewann also den Wettstreit, weil Zeuxis zwar die Vögel, Parrhasios aber Zeuxis zu täuschen vermochte. Bei Le gobelet d’argent von Chardin seien es Äpfel, die so realistisch gemalt seien, dass man meine, ihren Duft riechen zu können: »Man nimmt die Nachahmungen Chardins eben deswegen für die Natur selbst, ›weil er das Fleisch hervorbringt, wann er will‹, Pfirsiche und Trauben inbegriffen«,60 schreibt Lyotard in seinem Aufsatz Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens über Chardin und greift dabei auf ein Zitat von Diderot zurück. Allerdings funktioniert die Analyse der Selbstbezüglichkeit in Odeur peinte nicht so gut wie bei Lumière dérobée, weil dort das Sehen, das Licht und die Farbe auf derselben Wahrnehmungsebene liegen. Die Doppelung von Material und Thema des Bildes hängt bei den Licht-Arbeiten unmittelbar mit den Eigenschaften des Materials zusammen. Bei den Arbeiten von Odeur peinte – außer der Installation von Kounellis – geht es um den Unterschied zwischen einer fiktionalen Darstellung und der Realität, nicht um eine wirkliche Doppelung von Materialeigenschaften, die im Werk genutzt werden. Der nicht erkennbare Referent ist also bei Odeur peinte deswegen nicht erkennbar, weil er gar nicht da ist, es wird nur auf ihn verwiesen, im Modus des als-ob, bei Lumière dérobée hingegen ist er nicht erkennbar, weil er sich nicht trennen lässt von der Nachricht, die ihn vermittelt. Arôme simulé In Arôme simulé wurden synthetische Duftstoffe, die den Geruch verschiedener Obstsorten imitierten, aus kleinen Rohren in die Luft geblasen, so dass die Besucher sich darüber beugen und daran riechen konnten. Hinter den Duftrohren war eine Projektion eines digitalen »dreidimensionalen«61 Bildes zu sehen, das einen üppig gefüllten Obstkorb
60 Lyotard 1986, S. 65. Binnenzitat aus Diderot, Denis: Versuch über die Malerei, Ästhetische Schriften I, S. 644. 61 Inventaire zu Arôme simulé. Eventuell ist mit dem dreidimensionalen Bild gemeint, dass den Computerbildern der Obststücke mit Schatten und anderen illusionistischen Techniken eine gewisse Räumlichkeit verliehen worden ist, was damals in der digitalen Grafik keineswegs so gängig war wie 216
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zeigte. Auch auf der visuellen Ebene warf Arôme simulé also die Frage nach dem Verhältnis zwischen digitalem Bild und seinen Referenten auf, die bei so vielen Stationen des vierten Weges eine zentrale Rolle spielte. Lyotard fragt im Inventaire, wie man noch Orientierung finden solle, wenn sich synthetische Phänomene nicht mehr von natürlichen unterscheiden ließen: »Frage nach den olfaktorischen Simulakra. Wie soll man identifizieren, was unsere Nase riecht, wenn die Chemie beinahe perfekte (oder mehr als perfekte) Äquivalente der ›natürlichen‹ Ausdünstungen produziert? Destabilisierung der Markierungen in der Welt der Gerüche.«62 Arôme simulé erwies sich in der Evaluation der Ausstellung als eine der beliebtesten Stationen von Les Immatériaux. Die Besucher nutzten das Angebot zur Interaktion63 und waren – so gaben sie in den Interviews an, die man nach dem Besucher der Ausstellung mit ihnen machte – ausgesprochen überrascht über ihre Wahrnehmungen: sie konnten tatsächlich keinen Unterschied zwischen den natürlichen und den synthetischen Düften feststellen. Heinich vermutet, die Beliebtheit der Station habe eventell daran gelegen, dass sie eine einfache Konfrontation mit einer seltenen Erfahrung vorschlage.64 In der Tat glich das Setting eher einem Phänobjekt in einem Science Center als einem Exponat, das man in einem Kunstmuseum erwarten konnte. Im Vergleich zu den ersten Stationen des vierten Weges mit den Fraktalbildern, dem Laserexperiment, dem Hologramm und den konzeptionellen Kunstwerken, waren die Duftröhrchen in der Tat ausgesprochen zugängliche Objekte, deren spielerischer Charakter die Besucher in ein problemloses und unmittelbar einleuchtendes Experiment verwickelte, zu dessen Rezeption es keiner weiteren theoretischen Reflexion bedurfte. Die synthetischen Aromen stellten eine perfekte und zugängliche Veranschaulichung von Baudrillards Simulakrum-Begriff dar, die Differenz zwischen Realität und Simulation war vollständig aufgehoben. Visites simulées Die letzten drei Stationen des Weges waren zur Zone 21 zusammengefasst, die, wie Lyotard im Petit Journal schreibt, die »Vorherrschaft des Konzipierten über das Wahrgenommene«65 thematisieren sollte, ein Ziel, das auch für alle anderen Stationen des vierten Weges Gültigkeit hatte.
62 63 64 65
heute. Auf keinen Fall handelte es sich bei der Projektion um ein Hologramm. Inventaire zu Arôme simulé. Dies war überraschenderweise oft nicht der Fall, vgl. Heinich 1986, S. 105. Vgl. Heinich 1986, S. 77. Petit Journal, S. 9. 217
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Exponate in dieser Zone waren digitale Filme und Bilder, die die Besucher auf eine imaginäre Reise mitnahmen, Hologrammbilder, ein Hologrammfilm und die Modelle und Skizzen des Architekten Peter Eisenman. »Die neue Komplexität der Bilder bringt dem Auge bei, anders zu sehen, andere Sachen«,66 fasst Lyotard die Gemeinsamkeiten der drei Stationen zusammen. Im Kopfhörerprogramm war ein Auszug aus Paul Virilios L’Horizon négatif von 1984 zu hören, in dem Virilio die Windschutzscheibe eines Autos als Metapher für die mediale Vermittlung der Welt versteht: »Die Fahrerkabine ist nichts weiter als ein Simulator für Landschaften. Die Welt wird ein Videospiel. [...] Der Rahmen der Windschutzscheibe ist also kein Fenster, sondern eine Art Balkontür, durch die die Voyeur-Reisenden in Erwartung der Ankunft strömen [...]. Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr auf die Ankunft warten müssen?«67
Abb. 19: Das Bild aus dem Inventaire. Die Station Visites simulées bestand, passend zu dieser Metaphorik, aus einer Videoinstallation mit dem Titel Le Bus, die in ein Modell eines Autobusses hinein montiert war. Drei Fenster des Modells, das mit einem Maßstab von etwa 1:10 deutlich größer war als übliche Spielzeugautos, waren von Bildschirmen hinterfangen, auf denen Filme und Bilder von einer Bildplatte gezeigt wurden. Vor dem Busmodell befand sich eine den realen Maßen in einem Bus entsprechende Haltestange mit einem Knopf, mittels dessen die Besucher nach Belieben die Filme in Gang setzen oder anhalten konnten. In den Filmen waren die Fahrt des Busses zu sehen und, passend zu den imaginären Halten, die das Drücken des Knopfes auslöste, ein- und aussteigende Passiere sowie Situationen, die sich im Umkreis der jeweiligen Haltestelle ereignet hatten.68 Aufgenommen wurden die Filme von Jean-Louis Boissier, einem Medienkünstler und -theoretiker, der heute eine Professur für Freie Kunst an der Université Paris VIII innehat. In seinem kurzen Text Des images,
66 Petit Journal, S. 9. 67 Virilio, zit. nach Petit Journal, S. 9. 68 Weibel 1985, S. 28. 218
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en veux-tu, en voilà erzählt er, dass eine Luftaufnahme der Universität in Vincennes Anlass und Ausgangspunkt der Installation gewesen sei. Man habe einfach mehrmals auf das Foto getippt, zwischen diesen Punkten Linien gezogen und aus diesen Flächen konstruiert und sei mit den so gewonnenen Vorgaben an die entsprechenden Orte in Vincennes gefahren. Dort habe man von einem langsam fahrenden Bus aus – »assez vite pour se sentir bien transporté, mais pas trop pour que ça ne ›file‹ pas«69 – durchs Fenster die Gegend gefilmt, so dass ein Zuschauer vor dem Bildschirm tatsächlich den Eindruck gewinnen konnte, er säße in einem Bus. Auf diese Weise entstanden 36 Minuten Material aus 54.000 Bildern, die alle einzeln bearbeitet werden mussten. 14 Personen, Boissier und seine Studierenden, arbeiteten neun Monate an dieser Station. Die Studierenden waren es auch, die die verschiedenen Situationen an den »Haltestellen« aufgenommen hatten, an denen die Betrachter »aussteigen« konnten: »[...] vous entrez dans une série d’images, compte-rendu de la rencontre de l’un des quatorze opérateurs avec une personne, une plante, un animal, quelque chose de particulier, d’identifiable.«70 Boissier kommt in seinem kurzen Text zu dem Schluss, dass die Bildfolge der interaktiven Bildplatte nicht mehr nach dem Prinzip der Zentralperspektive organisiert sei, obwohl sie von einer Kamera aufgenommen wurde. Vielmehr, so überlegt er, müsse man die chinesische Malerei zum Vergleich heranziehen, deren Verzicht auf einen Fluchtpunkt variable Betrachterstandpunkte impliziere. Zudem sei es dem Betrachter überlassen, in welcher Reihenfolge er die Filme und Bilder sehen wolle, es gebe also nicht eine fertige, sondern viele verschiedene Perspektiven, die aus den unterschiedlichen Prozessen der Rezeption entstünden. In Virilios Text findet man – außerhalb der wenigen Zeilen, die im Kopfhörer zu hören waren – Sätze, die eine unmittelbare Vorlage für Visites simulées gewesen zu sein scheinen: »[...] mittels des Lenkrades und des Schalthebels stellt der Autor und Komponist der Reise in der Tat Sequenzen von Geschwindigkeitsszenen zusammen, die insgeheim über den durchsichtigen Bildschirm der Windschutzscheibe laufen.«71 Und auch Lyotards Text im Inventaire scheint Bezug auf Virilio zu nehmen, der wiederum auf Merleau-Ponty zurückgreift, um auf die Entfremdung hinzuweisen, die sich aus der medialen Vermittlung des Gesehenen ergibt. Merleau-Ponty nämlich geht von einer gewissen räumlichen Nähe aus, in der sich das Gesehene zum Sehenden befinden muss: »Alles was 69 Boissier 1985, S. 29. 70 Ebd., S. 30. 71 Virilio, Paul (1989): Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung. München, Wien, S. 134. 219
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ich sehe, ist prinzipiell in meiner Reichweite, zumindest in der Reichweite meines Blickes, es ist vermerkt auf der Karte des ›ich kann‹.« Diese »Karte des ›ich kann‹« wird von Lyotard umformuliert zu einem »als wenn man dort wäre«: »Das Kamera-Auge geht über die Wege hinaus, die dem Auge bei der realen Bewegung möglich sind. Es erweitert sie und macht sie komplexer. Es lässt einen das, was gerade nicht gesehen werden kann, sehen, ›als wenn man dort wäre'. Das, was dort hinten ist, rivalisiert also in seiner Präsenz mit dem, was hier ist, jetzt.«72 Die Erweiterung des Blickes über die realen Bewegungen hinaus und der Zugriff auf das, was »dort hinten« ist – beides können auch Fiktionen sein – sei deswegen möglich, so konkretisiert Lyotard im Petit Journal, weil die Bilder auf der Bildplatte digitalisiert seien, weil in ihnen also »Realität und Fiktion rivalisieren«.73 Das Konzept der Realität wird also in Visites simulées aufgelöst in zwei es ersetzende Aspekte: zum einen gibt es die Fiktion, die aus den Besuchen der Studierenden in Vincennes Geschichten erzeugt, zum anderen gibt es die Simulation der Bildplatte, die den Besuchern ermöglicht, sich auf die fiktive Reise zu begeben. Profondeur simulée Bei Profondeur simulée, der vorletzten Station des Weges, ging es – wie bei Homme invisible vom dritten und Espace réciproque zu Beginn des vierten Weges – um Besonderheiten von holographischen Bildern. Eine dreiteilige Arbeit des zur Zeit von Les Immatériaux bereits arrivierten Hologrammkünstlers und -professors Doug Tyler mit dem Titel Dream Passage, study No.1 aus dem Jahr 1983, eine fragile, raumfüllende Konstruktion, schuf einen virtuellen Raum, der aus weit mehr bestand als aus den drei Hologrammen. Die etwa 200 x 120 cm großen transparenten Tafeln hingen leicht versetzt hintereinander und wurden von hinten mit starkem Licht angestrahlt, so dass sich vor ihnen ein komplexes Spiel aus Licht und Schatten auf dem Boden ergab und die Installation bis vor die Absperrung in den Ausstellungsraum hinein projiziert wurde. Die Hologramme zeigten geometrische und sparsam in Primärfarben kolorierte Konstruktionen aus gegeneinander gekippten und ineinander geschobenen Rechteckformen, die an Malewitschs suprematistische Architekturentwürfe erinnern, die in Architecture plane vom zweiten Weg und der letzten Station des vierten Weges, Référence inversée, zu sehen waren. Neben der Arbeit von Tyler gehörte ein weiteres Holographie-Kunstwerk zu Profondeur simulée, der Hologrammfilm Circular Flight of Seagulls von Claudine Eizykman und ihrem Lebensgefährten Guy Fihman
72 Inventaire zu Visites simulés. 73 Petit Journal, S. 9. 220
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vom Experimental Cinema Laboratory an der Université Paris VII. Hologramm-Filme waren damals eine avancierte Technologie, die sich als künstlerisches Medium bis heute anscheinend kaum über den damaligen Stand hinaus weiter entwickelt hat. »Vor Mitte der achtziger Jahre wurden holografische Filme ohne wissenschaftlichen Hintergrund vor allem von französischen Filmemachern gedreht«,74 zu denen auch Eizykman und Fihman gehörten, die 1984 ihren ersten holographischen Film produzierten. Circular Flight of Seagulls entstand ein Jahr später und ist Etienne-Jules Marey gewidmet, einem Physiologen, der im späten 19. Jahrhundert Experimente mit der Fotografie von Bewegungen machte und so als erster zeigen konnte, dass ein galoppierendes Pferd einen kurzen Moment lang mit keinem seiner vier Hufe den Boden berührt. Seine sogenannte Chronofotografie beeinflusste maßgeblich Eadward Muybridge, der den Besuchern von Les Immatériaux auf der Katalogseite im Inventaire zur ersten Station des ersten Weges, Nu vain, begegnet war. Sowohl für Marey als auch für Muybridge waren also die jeweils neuen Techniken der Bilderzeugung – wie etwa die von Marey selbst entwickelten Hochgeschwindigkeitskameras oder Zeitraffer-Aufnahmen75 – wichtige epistemologische Werkzeuge. Circular Flight of Seagulls schreibt sich durch seine Thematik in eine lange Tradition ein und diente damit in Les Immatériaux als Stellvertreter für die Faszination, die das komplexe Verhältnis zwischen Bildern und der in ihnen abgebildeten Realität seit langem erzeugt. Diese Tradition kondensiert sich in Profondeur simulée zu der Frage, was eine Holographie überhaupt sei. Lyotard bezieht sich in seinem kurzen Text im Inventaire auf einen Kernaspekt dieser Technologie, der es gelinge, auf einer zweidimensionalen Fläche ein dreidimensionales bildähnliches Gebilde entstehen zu lassen, dessen Status – Bild, Projektion, Skulptur? – uneindeutig sei: »Radikaler Bruch mit dem Modell der camera obscura. Das Hologramm ist eine ›Lichtskulptur‹. Die überlagernde Einschreibung auf dem photosensiblen Untergrund, die den Referenz-Lichtstrahl moduliert, gibt das von der Ausgangsszene reflektierte und verteilte Licht wieder. Der Hologrammfilm ist eine Serie von Hologrammen, die in einer angemessenen Geschwindigkeit aufgenommen und präsentiert werden.«76
74 Kac 1996. 75 Vgl. Sacks, Oliver (2005): Gehirntempo. Über neurologische Anomalien, Bewegung, Denken und Zeit. In: Lettre International 68, Online-Ausgabe http://www.lettre.de/archiv/68_Sacks.html (9.9.2005). 76 Inventaire zu Profondeur simulé. 221
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Hologramme, vor allem in der Größe von Tylers Arbeiten, faszinieren und irritieren, weil ihre Dreidimensionalität nicht zu der »Bild«-Fläche zu passen scheint. Die dargestellte »Lichtskulptur« entzieht sich auf eigenartige Weise dem Blick des Betrachters, weil sie in einem virtuellen Raum hinter der Bildfläche zu liegen scheint, in einem Raum also, der in der Realität des Betrachters nicht existieren kann – einem »tatsächlichen Fiktionsraum«, wie ich ihn in Bezug auf die Hologramme der Station Homme invisible vom dritten Weg genannt habe. Lyotard bezieht im Petit Journal die Bild-Skulptur-Licht-Schimäre des Hologramms auf seine Überlegungen zum Sehsinn, der seit der Erfindung der perspektivischen Darstellung der Ordnung und Kontrolle des Gesehenen diene und so eine Chiffre für den Zugriff des Denkens darstelle: »Eine nicht-cartesianische Optik, die auf der interferentiellen Eigenschaft der Ausbreitung des Lichtes beruht, produziert mit Hilfe der Holographie ein von einer Platte ausgehendes Relief, das keine subjektive Wirkung darstellt; und mit der Filmholographie ein bewegtes Relief, das von einem beweglichen Band ausgeht.«77 Référence inversée Bei Référence inversée als letzter Station des Weges waren Modelle und Zeichnungen des dekonstruktivistischen Architekten und Architekturtheoretikers Peter Eisenman ausgestellt. Eisenman, der 1979 gemeinsam mit Jacques Derrida am Wettbewerb für den Parc de la Villette gearbeitet und 1997 ein Buch mit ihm veröffentlicht hat,78 begann erst in den 1980er Jahren, konkrete Projekte zu verwirklichen. Auf der Rückseite des zu dieser Station gehörenden Blattes im Inventaire macht ein Auszug aus einem seiner Texte seine poststrukturalistische Denkweise deutlich: »Meine Architektur repräsentiert nichts und kommentiert nichts, sie verweist nur auf sich selbst, sie ist das Zeichen ihrer selbst, ihrer eigenen Erscheinung...«.79 Eisenman formuliert damit eine radikale architekturtheoretische Position, die große Wirkung auf die Architektur haben sollte. Als Zeichen, das auf nichts außerhalb seiner selbst verweist, kann Architektur nicht mehr an ihre scheinbaren Grundlagen gebunden bleiben, die metaphysisch festlegen, wie sie zu funktionieren hat. Derlei Grundlagen sind für Eisenman z.B. »daß Bauten und Bauteile eine Funktion haben müssen, daß ein Gebäude den Eindruck der Standsicherheit zu vermitteln hat, daß die Architektur einen Autor hat und die Benutzer ein Recht auf
77 Petit Journal, S. 9. 78 Eisenman, Peter/Derrida, Jacques (1997): Chora L Works. New York. 79 Inventaire Rückseite zu Référence Inversée. 222
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Komfort haben.«80 Um es mit dem mât-System auszudrücken: Eine Nachricht »Bau« handelt nicht mehr über Referenten wie Funktion und Gebrauchswert, ebenso ist sie nicht mehr von einem Autor »Architekt« gesendet und richtet sich an einen Empfänger »Benutzer«, von klassischen materiellen Medien wie Stein, Glas und Stahl ganz zu schweigen. Nein, die eigentliche Nachricht, so argumentiert Eisenman – und mit ihm Lyotard –, ist der Entwurf. »Das Gebäude ist weniger wichtig als seine Repräsentation auf dem Papier«,81 schreibt Lyotard im Petit Journal; der Autor wird im Fall der Entwürfe von Eisenman durch »maschinell betriebene Formengrammatiken«82 ersetzt, Empfänger sind diejenigen, die sich in den Entwurf hineindenken und Medium ist bestenfalls das Papier, auf dem der Entwurf ausgedruckt wird. Die Architektur scheint gleichsam in die Idee, das Denken des Architekten eingeschlossen, und die Wege, auf denen sie kommunizierbar – also materialisierbar – ist, sind vielfältig, wie Lyotard im Inventaire aufzeigt: »Nicht das ›harte‹ Gebäude83 dient als Bezugspunkt für ein architektonisches Vorhaben, sondern eher (oder besser) der Plan des Architekten, der Aufriss, die Schnittzeichnung, welche man in der Konstruktion ›sehen‹ muss. Der Bezug auf die Materie der Architektur kehrt sich um. Das Bauwerk repräsentiert seine Repräsentation auf dem Papier.«84 So sind die in Les Immatériaux gezeigten Modelle von Eisenmans Projekten, House II (1969-1979), House X (1975-1978) und House El Even Old (1980), im Grunde autonome Werke,85 die auf ihre Realisierung verzichten können. Auf der Rückseite des Blattes zu Référence inversée im Inventaire schreibt Eisenman zu seinem House II, er habe es absichtlich so codiert, dass das fertige Gebäude wie ein Modell aussähe, und es gäbe tatsächlich viele Abbildungen des realisierten Gebäudes in Publikationen, deren Bildunterschrift behaupten, es sei ein Modell zu sehen. Die Art und Weise, wie Eisenmans Entwürfe entstehen, birgt aber noch einen weiteren Bezugspunkt zu Lyotards Themen: Um zu verhin80 Franck, Georg (2005): Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien, S. 46. 81 Petit Journal, S. 9. 82 Franck 2005, S. 46. 83 Vgl. den Begriff ›construction en dur‹: Massivbau. Für diesen Hinweis danke ich Ronald Voullié. 84 Inventaire zu Référence inversée. Aufgrund der semantischen Vieldeutigkeit des Begriffes Représentation könnte der letzte Satz auch lauten: »Das Bauwerk gibt eine Vorstellung von der Vorstellung des Architekten auf dem Papier.« Für diesen Hinweis danke ich Ronald Voullié. 85 Vgl. Rajchman 2004, S. 236. 223
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dern, dass die Entwürfe auf einen identifizierbaren Autor zurückgeführt werden, arbeitet Eisenman mit Theoremen aus der nichtlinearen Dynamik und der Katastrophentheorie und lässt Zufallsgeneratoren die Formfindung übernehmen. Damit setzt er den Computer auf eine Art und Weise als intellektuelle Prothese ein, die Lyotard in seiner These von der Erweiterung der menschlichen Vermögen durch die Technologien so nicht erdacht hatte: »Der Computer wird zum katalytischen Gerät gemacht, das mehr aus dem Unterbewussten des entwerfenden Subjekts herausholt, als dessen ungewaffneter Anstrengung verfügbar wäre.«86 Bei Lyotard dienen Computer dazu, in bewusste, steuerbare, kognitive Prozesse einzugreifen, bei Eisenman setzen sie am Unbewussten an, also gerade an dem, was Lyotard vor der Effizienz und dem Kontrollvermögen der Technologien schützen will.
86 Franck 2005, S. 46. 224
7 . 6 . D e r f ü nf t e W e g : Ma t e r n i t é – Vater/Mutter, Autor, Zirkulation Der fünfte Weg war mit dem Begriff »maternité« verknüpft und fragte nach dem Sender der Nachrichten. In traditionellen Kommunikationstheorien ist der Sender diejenige Instanz, die eine Nachricht erzeugt, in Les Immatériaux diente der Begriff weiter gefasst als Metapher für die Frage nach dem Ursprung, der Herkunft, dem Autor und der Schöpfung. Die sieben Stationen dieses Weges, der vor dem ersten Diorama im Théâtre du non-corps begann, lagen auf einem kurzen Wegstück, das nur an zwei Stellen Übergänge in den parallel verlaufenden vierten Weg hatte, hintereinander aufgereiht. Im unmittelbaren Anschluss an die beiden Texte von Beckett im Théâtre du non-corps und im Inventaire fragt Lyotard in der Einführung zu maternité im Inventaire: »Und schließlich, wer spricht? Von wem rühren diese unzähligen Nachrichten her?«1 Mit dieser Frage bleibt er in der Terminologie der traditionellen kommunikationstheoretischen Vorbilder des mât-Systems, obwohl die Rede vom »Sprechen« hier eher irreführend ist, da sie allzu direkt auf eine Kommunikation zwischen personalen Akteuren abzuzielen scheint. Als wenn er die Leser auf eine falsche Fährte setzen wollte, fragt er nach einer Instanz, die mächtig genug ist, »diese unzähligen Nachrichten« – also seiner Definition nach alles, was existiert – in die Welt zu setzen. Diese Stelle nimmt im christlich-abendländischen Denken die Vaterfigur Gott ein, in vielen anderen Kulturen auch weibliche, mütterliche Göttinnen-Figuren. Dass die Existenz von Nachrichten im modernen Denken mit einer solchen mächtigen (Denk)Figur verbunden wird, will Lyotard mit dem Begriff maternité, der von allen mât-Begriffen am stärksten metaphorisch funktioniert, transportieren: »Mutterschaft: die Quelle der Nachricht, das, was ihr Existenz und Glaubwürdigkeit gibt, ist ihr Autor. Der Sender drückt der Nachricht ihre Bestimmung und dem Empfänger der Nachricht sein Los auf (welches ist: die Nachricht zu empfangen). [...] Ob diese Nachricht nun ein Satz ist, ein sichtbares Bild, ein Gebäude, ein Kind, Reichtum, ein Kochrezept, ein Kleidungsstück – wir, die Postmodernen, weigern uns, ihr einen Ursprung, einen ersten Grund zuzuschreiben.«2
Der Begriff Existenz bezieht sich auf den Aspekt der Schöpfung, auf das In-die-Welt-Bringen überhaupt, der Terminus Autorität bezeichnet da1 2
Inventaire, Einführung zu Maternité. Ebd. 225
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rüber hinaus den Rückgriff auf diese schöpferische Instanz, der das Vorhandensein von Nachrichten legitimiert. Der Verweis auf die Transzendenz wird in dieser Denkfigur dazu genutzt, um jeden diesseitigen Anspruch des Senders zu stärken, um ihn dem Empfänger gegenüber in eine Position der Macht zu bringen. Begriffe wie Bestimmung und Los stellen zusätzliche Hinweise auf die semantische Ebene dar, auf die Lyotard im nächsten Absatz zu sprechen kommt und die den Kern der Thematik ausmacht: »Während die Menschen sich als herausragende Empfänger des Lebens, des Sichtbaren, des Intelligiblen, des Rechtes verstanden, imaginierten sie, sie wären der Sohn Gottes, oder eher, wie in den alten Religionen des Nahen Ostens, der Göttin. Vor-bestimmt. Der moderne Mensch war dazu verführt, die Position des Autors einzunehmen, sich die ›Kreation‹ anzumaßen. Man sagt daher ›Vaterschaft‹ eines Werkes. Das Phantasma eines zölibatären Samens. Die Weiblichkeit wird von der Autorität abgesondert, deklassiert und auf die Seite der Leidenschaften und der Abhängigkeiten abgeschoben.«3
Solange es noch den Glauben an einen Gott oder eine Göttin gab, galten die Menschen als den anderen Dingen der Welt gegenüber privilegierte »Empfänger des Lebens«, standen also der Sender-Instanz näher als die – empfangende, passive, unterworfene – Materie und konnten aus dieser Position heraus über sie herrschen. In der säkularisierten Moderne verloren die Götter an Gewicht, weil sich die Menschen an ihre Stelle setzten und ohne Legitimation durch die Transzendenz die »Position des Autors« einnahmen, die gleichsam zum Ersatz für den Verweis auf die Transzendenz wurde. Beide Fälle beruhen auf dem Paradigma des Vaters, dessen Vision vom zölibatären Samen ein Gegenstück zur unbefleckten Empfängnis4 darstellt. Damit schaltet der Vater-Autor die Weiblichkeit, die sich an der Stelle der passiv empfangenden Materie befindet, aus und ermöglicht es, aus eigener Kraft, mit vollständiger Kontrolle und Macht über die Dinge, Nachrichten zu entwerfen und zu senden, also Projekte zu entwickeln und die zu ihnen passenden Phänomene zu erzeugen, wie Lyotard auf dem ersten Weg darstellt. Die Weiblichkeit, die Seite der »Leidenschaften und Abhängigkeiten« bezeichnet all das, was sich dieser Herrschaftsposition nicht unterordnen lässt: »there is a sort of openness to something unknown without any project to master it, but, rather, the opposite: to work on it. As a male, I represent this attitude as feminine,«5 so Lyotard in einem Inter3 4 5
Inventaire, Einführung zu Maternité. Für diesen Hinweis danke ich Ronald Voullié. Lyotard im Gespräch mit Olson 1995. 226
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view. Das Weibliche bezeichnet also dasjenige, um dessen Recht er immer wieder so bemüht ist: das sich-Entziehende, das Ungreifbare, das Undarstellbare. Um dieses Recht einzufordern, muss er das Konzept der Autorschaft verabschieden und das Konzept des Senders aus den Zwängen der Moderne lösen. Der letzte Absatz der Einführung im Inventaire zeigt, wie diese Verabschiedung von statten gehen soll – sie wird zur Verweigerung, der die positive Neuformulierung fehlt: »Sei es, dass die Nachricht ein Satz sei, ein sichtbares Bild, ein Gebäude, ein Kind, Reichtum, ein Gericht, ein Kleidungsstück – wir, die Postmodernen, verzichten darauf, ihr einen Ursprung, einen ersten Grund zuzuschreiben. Wir glauben nicht, dass sie uns von einer Mutter vorbestimmt ist und wir übernehmen nicht ihre Vaterschaft. Die Freiheit der Waisen.«6 Kein Vater, keine Mutter, kein Gott, verwaist, aber frei. Lyotard geht der Frage nach dem Ursprung der Nachrichten aus dem Weg, vielleicht, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, doch eine wie auch immer geartete Machtposition annehmen zu müssen.7 So bleibt an der Stelle des Autors, des Ursprungs, eine Leere, die viele poststrukturalistische Theorien prägt und oft als Enthumanisierung verstanden worden ist. Sie soll aber vielmehr das Feld bereiten für ein Denken, das ohne die Vereinnahmungen, die der Autorbegriff mit sich bringt, auskommt: »Der rhetorisch ins Feld geführte Topos vom ›Tod des Autors‹ versteht sich dabei nicht als grundsätzliche Negation der werkimmanenten Kategorie Autor, sondern als funktionale Relativierung derselben im Gesamtprozeß ästhetischer Sinngebung.«8 Am Ende des Weges, in der Zone 25, waren Texte von Roland Barthes im Kopfhörerprogramm zu hören, die Lyotard in der Einführung zwar nicht als Theoriehintergrund nutzte, die aber helfen können, die
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Inventaire, Einführung zu Maternité. Vielleicht leitet ihn bei diesen Überlegungen – abgesehen von der Tatsache, dass es sich um ein zentrales poststrukturalistisches Theorem handelt – auch sein Interesse an der fernöstlichen Philosophie, das sich z.B. in einem Vorwort für François Julliens Der Umweg über China widerspiegelt: »Für einen Chinesen ist es klar, daß die Situation zu etwas neigt, daß er selbst darin verwickelt ist, und daß sie dabei ihre Ergebnisse zeitigt. Genau in diesem Zeitigen besteht die Situation. So ist jede mögliche Wirkung jener immanenten Entfaltung geschuldet: als Wirkung ohne Ursache, gewollt oder nicht, ist sie nur Moment einer permanenten Effizienz.« Lyotard 2002, S. 10. Wetzel, Michael (2000): Autor/Künstler. In: Karlheinz Bark/Jörg Heininger/Dieter Kliche (Hg.) (2000): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1. Stuttgart, Weimar, S. 480-544., S. 481. 227
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etwas plakative Verweigerung abzumildern. In De l’œuvre au texte reflektiert Barthes die Differenz zwischen dem Werk als Phänomen, das sich aus dem Geist der modernen Autorschaftskonzeption definiert, und dem Text, der von einer solchen Zuschreibung frei sei. Das Werk sei eine organische, konsumierbare, in eine Ordnung eingeschriebene Substanz, die von einem Autor, einem Vater abstamme. Der Text hingegen ist bei Barthes ein offenes, paradoxes, gebrochenes und schwer konsumierbares methodisches Feld, das keinen Ursprung, keinen Vater habe. Der fünfte Weg deklinierte verschiedene dieser autor- und vaterlosen »Texte« durch, die in der Moderne als materiell gebundene Werke verstanden wurden und die nun als komplexe Situationen ohne feststellbaren Ursprung aufgefasst werden sollten. Vite-habillé Die ersten drei Stationen dieses aus nur sieben Stationen bestehenden Weges, Vite-habillé, Les trois mères und Préparlé/Précuisiné, lagen hintereinander in einem schmalen Gang, der keine Übergänge zu anderen Wegen zuließ. Die beiden ersten waren zur Zone 22 zusammengefasst, die dritte bildete allein die Zone 23. Lyotards kurzer Text im Petit Journal stellte den Besuchern der Zone 22 eine eigenartige Frage, die die Themen beider Stationen subsummierte: »Wer macht die Kleider, wer macht das Kind? Diese Nachrichten von Leben, von Sinn, wer stellt sie her und sendet sie?«9 »Die Kleider« gehörten zu Vite-habillé, einer virtuellen Umkleidekabine, »das Kind« – oder genauer: verschiedene Methoden, ein Kind zu empfangen – war Thema in Les trois mères. In Zone 22 waren Ausschnitte aus Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider sowie eine eigenartige Geburtsszene aus François Rabelais’ Romanzyklus Gargantua et Pantagruel zu hören. Sucht man nach einem gemeinsamen Nenner, könnte man sagen, dass die Verbindung zwischen diesen beiden Stationen die Frage war: »Wo komme ich her, und wie repräsentiere ich diese Herkunft?« In der Station Vite-habillé, »ein Bekleidungs-Simulator, der die Benützer auf Tastendruck einkleidet«10, ging es um Körperpraktiken, die den Alltag eines jeden Besuchers prägten: um die mit dem Phänomen Mode verknüpften Weisen des Kleidens und Verkleidens, die Identitäten erzeugen und visualisieren. Vite-habillé konfrontierte die Besucher mit den komplexen sozialen Rahmungen, die ihre Entscheidung für bestimmte Kleidungsstücke, ob gewollt oder ungewollt, ob bewusst oder un-
9 Petit Journal S. 10. 10 Hanimann 1985, S. 43. 228
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bewusst mit sich brachte: »Mode ist als ›ästhetisch-medialer Komplex‹ [...] die visuelle Repräsentation von Körper und Identität.«11 Diese visuellen Repräsentationen konnten die Besucher von Vite-habillé in einem spielerischen Modus des als-ob anprobieren. Sie betraten eine geschlossene Kabine von der Größe einer üblichen Umkleidekabine und standen vor einem Spiegel, der aus zwei Teilen bestand. Etwa in Kopfhöhe spiegelte er das Gesicht des jeweiligen Besuchers, darunter befand sich eine Projektionsfläche, auf die von hinten kopflose, unterschiedlich bekleidete Körper von vorab fotografierten Modellen projiziert wurden, so dass der Eindruck entstand, die Person vor dem Spiegel würde die Kleidungsstücke anprobieren. Auf Knopfdruck konnte man die Modelle wechseln, die das fiktive alter ego trug; es standen so unterschiedliche Stile wie »Disco«, »Retro 50« oder »Retro 60«, »Punk«, »Sport« oder »Streng« zur Verfügung. Die Umkleidekabine, eine Apparatur der japanischen Firma Eiwa International Co. Ltd. mit dem Namen Alice Mirror, gehörte damals zum aktuellsten, was die Modebranche zu bieten hatte und war ein aufwändiges und reparaturanfälliges Gerät – sie konnte während der Dauer von Les Immatériaux nur selten genutzt werden, weil sie häufig nicht funktionierte. Zudem war die Illusion des Bekleidens nur eine sehr unvollständige, schließlich sahen die Besucher nicht ihren eigenen Körper und konnten also – anders als es heute mit Bodyscannern üblich ist – keinerlei Aufschluss darüber erhalten, ob die ausgewählten Modelle ihnen tatsächlich passen oder stehen würden. Darüber hinaus traf die Auswahl der Modelle nicht bei jedem auf Zustimmung – eine sonst durchaus von Les Immatériaux begeisterte Physikerin erzählt in der Evaluation über ihre Reaktion auf Vite-habillé: »C’est marrant que dans un truc comme celuilà, les fringues manquaient vraiment d’imagination. Moi rien ne m’allait dans ce truc-là, c’était trop standard.«12 Ihre Aussage zeigt aber nicht nur, dass sie mit den modischen Vorstellungen der Produzenten von Alice Mirror nicht einverstanden war, sondern verdeutlicht auch, wie Kleidung Identität konstruieren kann: sie weigerte sich, die Kabine zu benutzen, weil sie nicht mit diesen »Standardklamotten« in Verbindung gebracht werden wollte. Das Betreten und Benutzen von Vite-habillé setzte also »[...] eine Form der Selbstreflexion, bei der sich die individuelle Aufmerksamkeit auf den Abgleich und die Übersetzung von Leib und Medien-/Kunstkör-
11 Gaugele 2005, S. 439. Gaugele bezieht sich auf einen Artikel von Birgit Richard: Die oberflächlichen Hüllen des Selbst. Mode als ästhetisch-medialer Komplex. In: Kunstforum International Bd. 141, S. 49-101. 12 Heinich 1986, S. 94. 229
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per zentriert«,13 in Gang. Man konnte problemlos den Festlegungen entgehen, die der Besitz der Modelle im eigenen Kleiderschrank mit sich brachte, Selbstbilder konnten an- und wieder ausgezogen werden, mit einer spielerischen Freiheit, die es im Alltag so nicht geben konnte. Vitehabillé lud die Besucher in eine fiktive Welt ein, in der der eigene Körper und die Bilder, die man von ihm hatte, übereinander geblendet werden konnten. Insofern hätte die Station auch gut zum vierten Weg und dessen zentraler Frage nach dem Verhältnis von Realität, Fiktion und Simulation gepasst. In seiner kurzen Analyse von Vite-habillé im Inventaire bezieht Lyotard die Thematik des Weges, die Frage nach dem Ursprung der Nachrichten, auf die Prinzipien des Modemarktes: »Die Kutte macht immer den Mönch, aber es ist nicht mehr Mama, die die Kutte macht, es ist der Markt der Konfektionen.«14 Nicht mehr aus einer engen Beziehung heraus, wie sie zwischen »Mama« – die hier als Metapher für ein gleichsam aus der Mode gekommenes Mikrosystem zu stehen scheint – und Kind existiert, entstehen die Repräsentationen kultureller Identitäten, sondern durch die Mechanismen des Marktes – der Kunde unterwirft sich dessen Prinzipien, indem er die »Konfektionskutten« akzeptiert. Die Verschiebung vom Mikrosystem Familie zum Makrosystem Markt bedingt sowohl eine Lösung aus den engen Strukturen – also eine Befreiung, die Lyotard in seiner Einführung in den Weg als »Freiheit der Waisen« paraphrasiert – als auch die Gefahr der Vereinnahmung durch die Regeln des Marktes, eine Einengung also. Lyotards Text im Petit Journal, in dem er einen Bezug zwischen den beiden Nachbarstationen Vite-habillé und Les trois mères herstellt, beschreibt diese Regeln des Marktes: »Man wählt die Konfektion, man probiert sie so schnell wie möglich an. Man wählt die Empfängnismethode, die Leihmutter und den Samen. Wann kommt die beschleunigte Empfängnis?«15 Provozierend verwischt Lyotard hier zudem die Unterschiede, die zwischen der Konstruiertheit einer ModeIdentität und der scheinbaren Natürlichkeit einer Identität der biologischen Herkunft bestehen. Er stellt die Vielfalt der Empfängnismethoden – die eine Wahl darüber implizieren, welche Eigenschaften das Kind bekommen soll – mit der Verfügbarkeit der Mode auf dem Laufsteg auf eine Ebene, so dass durch das Vergnügen am Spiel und an der Camouflage, das die Besucher von Vite-habillé gehabt haben mögen, ein Schrecken über darin verborgene Machbarkeitsphantasien durchschimmert. Im Inventaire ist auf der zu Vite-habillé gehörenden Seite eine Fotografie des Cartoonisten, Zeichners und Graphikers Saul Steinberg abge13 Gaugele 2005, S. 440. 14 Inventaire zu Vite-habillé. 15 Petit Journal, S. 10. 230
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bildet. Masques (1958) zeigt sieben Menschen, die Papiertüten mit stilisierten, karikaturesken Gesichtern über den Kopf gestülpt haben. Zwar erzeugen die ausdrucksstarken Grimassen den Eindruck, man habe eine Gruppe von miteinander interagierenden Individuen vor sich, bei genauerem Hinsehen erweist sich aber, das das genaue Gegenteil abgebildet ist: ein paar standardisierte Gesten sind zu erkennen, gefaltete Hände und verschränkte Arme, mehr nicht, und die Personen blicken sich nicht an, sondern sehen in die Kamera. Umso wichtiger wird ihre Kleidung, sie dient als einziger Anhaltspunkt, um etwas über die Dargestellten zu erfahren. So tragen z.B. zwei Personen eine Perlenkette, drei einen Rock, drei Anzug und Krawatte und sind damit als Männer oder Frauen zu erkennen und als Angehörige der Mittelschicht, die möglicherweise während ihrer Arbeitszeit fotografiert wurden; alle wirken seriös und elegant. Eine der ersten Überlegungen zu dieser Station, die im Archiv des Centre Pompidou in einer Reihe von Skizzen zu den Stationen zu finden sind, zielt auf diesen Aspekt ab: »La dédifférentiation des oppositions sexe, age, catégorie socio-professionelle débouche sur une uniformisation dans des stéréotypes vestimentaires.«16 Zu diesem Setting aus Station, Texten und Bild stellt das Märchen Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen, das über den Kopfhörer zu hören war, eine weitere Ebene dar. In dieser Geschichte lässt sich der narzisstische, seiner selbst sehr unsichere Kaiser von zwei Schneidern blenden, die ihre eigene Inkompetenz mit der Lüge maskieren, dass sich der Betrachter ihrer Mode diskreditiere, wenn er die von ihnen gefertigten Kleidungsstücke nicht sehen könne: »[...] die in diesem Stoff geschnittenen Gewänder hatten die wunderbare Eigenschaft, für jeden unsichtbar zu sein, der seinen Beruf nicht ordentlich ausfüllte oder von einer unverzeihlichen Dummheit war.«17 Natürlich kann sich der Kaiser, der bei den Anproben stets nackt vor dem Spiegel steht, nicht in die Gefahr bringen, als dumm dazustehen, daher ist er von allen Vorschlägen der Schneider begeistert und begibt sich schließlich ohne einen Fetzen am Leib auf die Straße. Auch in Vite-habillé existieren die gänzlich entmaterialisierten Kleidungsstücke nur als Projektion – die Kombination aus der Ankleidekabine und dem Kopfhörerprogramm lässt die Schneider als Zerrbild der Versprechen der Modeindustrie auftreten und warnt die Besucher vor den »Unschärfen zwischen Waren, menschlichen Körpern und Bildern«,18 mit denen die Modeindustrie auf ihre Suche nach einer Identität reagiert. 16 Box 94033/667, Archiv des Centre Pompidou. 17 Andersen, zit. nach Petit Journal, S. 10. 18 Gaugele 2005, S. 439. 231
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Les trois mères Die nächste Station des fünften Weges, Les trois mères, verschärfte die Fragen aus Vite-habillé, indem sie ein brisanteres Thema aufgriff und jede spielerische Leichtigkeit aus dem Setting verbannte. Ähnlich wie bei den ersten Stationen des ersten Weges, Deuxième peau und L’ange, ging es um die materiellen Grenzen des Körpers und um die damit verbundenen Fragen nach einer biologisch gegebenen Identität. Anhand der Themen Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt fragte Les Immatériaux an dieser Station, welche Eingriffe in den Körper, in diesem Fall in den Prozess der Befruchtung einer Eizelle, für machbar gehalten werden und welche Konsequenzen diese Machbarkeit für die Identität des Kindes und der Mutter haben kann. Eine fotografisches Tableau der Darmstädter Künstlerin Annegret Soltau aus dem Jahr 1978, Auf dem Gebärtisch, wurde von Tabellen flankiert, die über die verschiedenen Möglichkeiten der Empfängnis informierten.19 Die dreiteilige Fotoarbeit zeigt die hochschwangere Künstlerin auf einem schlichten Tisch liegend. Die Kamera befindet sich leicht oberhalb ihres Körpers zu ihren Füßen, so dass lediglich ihre Beine und der dicke Bauch zu sehen sind. Auf dem ersten Bild ist sie vollständig von einem hellen Tuch bedeckt, auf dem zweiten ist der Bauch nackt, der Rest des Körpers weiterhin unter dem Tuch verborgen, das dritte Bild zeigt sie völlig nackt, mit einem langen spitzen Gegenstand zwischen den Beinen. Der kahle Tisch, das Tuch und der völlig neutrale Hintergrund, der keinerlei räumliche Orientierung zulässt, erinnern an eine Leichenhalle, der spitze Gegenstand wirkt ausgesprochen bedrohlich. Die Abfolge der Bilder erzählt auf spröde Weise vom Schrecken des Ausgeliefertseins – sowohl dem eigenen Körper gegenüber, der hier wie unbelebtes Fleisch präsentiert wird, als auch den medizinischen und gesellschaftlichen Vorstellungen des Gebärens gegenüber, das in dieser Umgebung jeglicher Würde beraubt zu sein scheint. Annegret Soltau ist in den 1980er Jahren eine der wenigen Künstlerinnen, die sich im Rahmen der Body Art mit Schwangerschaft, Geburt und ihrer eigenen Mutterrolle beschäftigen. Auf ihrer Homepage schreibt sie: »Die Angst, die Rolle der Mutterschaft könne meine Existenz als Künstlerin gefährden, inspirierte mich zu einer Fülle von Foto- und Videoarbeiten. In dieser Zeit habe ich die alte Frage aufgegriffen, wie Frauen 19 Im Petit Journal schreibt Lyotard, die Tabelle sei auf die Fotografien projiziert worden: »Un diagramme représentant les divers modes de conception actuellement possibles est projeté sur l’agrandissement d’une œuvre photographique d’Annegret Soltau«, S. 10. Dies konnte allerdings Annegret Soltau nicht bestätigen, vielleicht war es so geplant und hat sich als nicht praktikabel erwiesen. 232
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Kreativität und Mutterschaft verbinden können.«20 Soltaus Reflexion über die einander gefährdenden Rollen ›Mutter‹ und ›Künstlerin‹ macht aus dem zunächst privat erscheinenden Thema ein politisches, gibt ihrer Arbeit einen gesellschaftskritischen Impetus. Mit der Auswahl dieser Arbeiten bezog Lyotard also ungewöhnlich deutlich Stellung. Im krassen Gegensatz zu dem radikalen und zugleich intimen Tableau standen die Tabellen, die 17 verschiedene Methoden auflistete, wie eine Schwangerschaft zustande kommen kann, welche Techniken zur Befruchtung möglich sind, wer das Kind austrägt, von wem die Gene des Kindes in welchem Fall stammen und welchen rechtlichen Status die jeweilige Methode hat. So erhält man Informationen über die in-vitro-Fertilisation, die mit dem Samen des Vaters oder eines Spenders oder mit einer Eizelle einer Spenderin durchgeführt werden könne, über Leihmutterschaft und die Befruchtung mit eingefrorenen Samen, falls der Mann verstorben ist, über die Geburt von echten Geschwistern durch verschiedene Mütter, nachdem die Embryonen in vitro befruchtet wurden und die Spenderin der Eizelle – die eigentliche Mutter also? – verstorben ist, über Klone und über Kinder, die die Zeit bis zur Geburt vollständig außerhalb des Mutterleibes zugebracht haben.21 Wie mehrfach in Les Immatériaux wurde ein Kunstwerk als Träger ästhetisch zu rezipierender Information anderen Methoden der Informationsübermittlung gegenüber gestellt. Das Kunstwerk, sei es ein Kunstobjekt oder ein poetischer Text im Kopfhörerprogramm diente – wie etwa bei Nu vain, L’ange, Espace réciproque, Petits invisibles oder Corps éclaté auch – als eine Art Gegengewicht gegen eine wissenschaftliche Position, die als weitgehend frei von ethisch-moralischen Fragen dargestellt wurde. Die Tabellen in Les trois mères listeten neutral auf, was zum damaligen Zeitpunkt medizintechnologisch machbar war, Soltaus drastische Fotoarbeit kontextualisierte den neutralen Ton der Tabellen und nahm ihm gleichsam die Unschuld. Der individuelle Blick der Künstlerin auf das Thema bot den Besuchern über eine protagonistische, sich selbst ins Bild setzende Autorin die Möglichkeit zur Identifikation an. Kunstwerk und Diagramm beeinflussten sich also gegenseitig, indem die Anwesenheit der jeweils ganz anderen Sprache den Absolutheitsanspruch verunmöglichte, den jede von beiden einzeln hätte haben können. Im Petit Journal fragt Lyotard: »Ist die Zeit der Mama vorbei, die ihr Kleines in ihrem Schoß empfängt und die es in den Windeln und den Strampelanzügen verhätschelt, die sie ihm vorbereitet?«22 Auch im Inventaire fragt er sich und die Leser nach den Konsequenzen der Repro20 http://www.annegret-soltau.de/bilder/bilder.htm (10.6.2005). 21 Vgl. Tabelle aus dem Archiv des Centre Pompidou, Box 94033/224. 22 Petit Journal, S. 10. 233
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duktionsmedizin: »Viele mögliche Kombinationen für die 46 Chromosomen eines Embryos. Gebären stellt heute nicht nur das Recht, die Moral, die Religion in Frage, sondern auch die ›natürlich‹ genannten Evidenzen, die für definitiv gehalten werden.«23 Das gesamte Setting der Station lässt seine Kritik an den Entwicklungen, die eine Technologisierung von Mutterschaft und Geburt ermöglichen und vorantreiben, deutlich sichtbar werden. Die Informationen über die »beschleunigte Empfängnis«, die ohne realen körperlichen Kontakt und seine Unwägbarkeiten von statten geht und die problemlose und schnelle Erzeugung von Identität ermöglicht, wird in Kombination mit Soltaus Ausgeliefertsein zu einem Horrorszenario, das an Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt erinnert. So ist es in gewisser Weise überraschend, dass nicht Huxley über den Kopfhörer zu hören war, sondern ein Text des Arztes und Pfarrers François Rabelais aus den Jahren 1532 bis 1564. Rabelais, der in Frankreich noch heute ausgesprochen populär ist, »und sei es nur dank der Adjektive pantagruélique (avoir un appétit pantagruélique) und gargantuesque (un repas gargantuesque)«24, gilt als der größte französische Autor des 16. Jahrhunderts. Er verfasste seine »enorme, riesenhafte Karikatur und Verspottung aller möglichen menschlichen und gesellschaftlichen, insbesondere auch der kirchlichen Verhältnisse«25 neben seinen Tätigkeiten als Arzt, Forscher, Übersetzer und Gelehrter und kämpfte zeitlebens gegen die Zensur durch die Kirche. Die Absurdität der eigenartigen Geburtsszene, von der im Petit Journal ein kleiner Ausschnitt abgedruckt ist, dient Rabelais dazu, den Willen und die Macht Gottes herauszustellen. Mit dem Verweis auf Geburten mythischer Figuren wie Bacchus, Minerva, Adonis oder Castor und Pollux stützt er – in einem schriftlichen Streitgespräch mit einem nicht näher bezeichneten Gegenüber, an dessen Stelle sich die Besucher durchaus selbst setzen konnten – sein Argument, dass Gott mehr vermag, als der Mensch sich vorstellen kann: »Durch das Zwerchfell aufsteigend bis zur Oberfläche/Oberseite der Schultern, an der Stelle, wo die Vene (aufsteigende Höhle/Hohlvene) sich in zwei teilt, ging es nach links und kam durch das Ohr auf derselben Seite heraus [...] ich
23 Inventaire zu Les trois mères. 24 Pinkernell, Gert (1998): Namen, Titel und Daten der französischen Literatur. Ein chronologisches Repertorium wichtiger Autoren und Werke. Teil I: 842 bis ca. 1800. Wuppertal (überarbeitet 2003, Ergänzungen und Korrekturen 2004/05). http://www.pinkernell.de/romanistikstudium/Internet1.doc (1.8.2005). 25 Feld, Helmut 1994: Rabelais. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bautz, Band VII. Spalten 1159-1166 (Stichwort Rabelais) http:// www.bautz.de/bbkl/r/rabelais_f.shtml (8.9.2005). 234
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vermute, dass Sie sicherlich nicht an diese eigenartige Geburt glauben [...] [ jedoch], wenn dies der Wille Gottes gewesen wäre, würden Sie behaupten, dass er nicht dazu in der Lage wäre?«26
Rabelais’ Text scheint in Les trois mères zwei sich widersprechende Funktionen zu haben: seine Beschreibung einer Geburt ohne Mutter argumentiert einerseits gegen die traditionellen Vorstellungen eines identifizierbaren Ursprungs und erhöht andererseits zugleich die Macht Gottes, des Schöpfers par excellence. Zu Rabelais’ Zeiten, so kann man vermuten, diente eine solche Differenzierung dazu, der Institution Kirche den Kampf anzusagen und sich so für einen freien Glauben einzusetzen. Auf Les Immatériaux übertragen, könnte das Paradox lauten: die Mutter ist tot, es lebe die Mutter, oder anders formuliert: zwar kann die Postmoderne keine modern verstandene Position der Vater- oder Mutterschaft, des kreativen Autors oder des einen Ursprungs mehr annehmen. Diese Verabschiedung – die letztlich einen Abschied von der Metaphysik des Subjekts darstellt – darf aber nicht zur Folge haben, dass jede Individualität in funktionalen Mechanismen aufgeht, wie sie der Markt installiert. Das allmächtige Subjekt, der Autor, der Ursprung gehen nicht völlig verloren, sondern existieren modifiziert weiter, wie z.B. auch Peter Bürger konstatiert: »Wie der Tod Gottes etwas hinterläßt, nämlich die Markierung der Stelle, wo Gott war, so hinterließe auch der Tod des Subjekts eine Spur, auf die es zurückweist. Das würde bedeuten: auch nach seinem Tode ist für uns das Subjekt noch gegenwärtig, nur nicht mehr als widerspruchsfreies Schema der Ordnung für unsere Beziehung zur Welt und zu uns selbst, sondern als in sich brüchiges.«27
Der Text von Rabelais im Kopfhörerprogramm steht zudem in einer argumentativen Linie mit Lyotards Buch Ökonomie des Wunsches von 1974, in dem die Parallelen zu Deleuzes und Guattaris Anti-Ödipus unübersehbar sind und das von einigen Lyotard-Forschern als »Ausdruck einer tiefen persönlichen Krise«28 begriffen wird. Die mit dieser Krise einhergehende Abwendung vom Marxismus und der »strenge[n] linksmoralisierende[n] Politik«,29 die Lyotard in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren beschäftigte, bedeutete auch eine Suche nach neuen Weisen des Philosophierens. Bereits damals fand er Formulierungen, die
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Rabelais, zit. nach Petit Journal, S. 10. Bürger 1998, S. 19. Reese-Schäfer 1995, S. 17. Ebd., S. 18. 235
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auch später noch zentrale Anliegen seiner Arbeiten bleiben sollten – auch wenn sich seine Sprache vollständig gewandelt hat: »Kämpfen wir also gegen den weißen Terror der Wahrheit, mit und für die rote Grausamkeit der Singularitäten«.30 Gargantua et Pantagruel scheint sowohl sprachlich als auch inhaltlich ein Echo dieser krisenhaften Zeit zu sein: »So ignoriert die künstlerische Logik des grotesken Motivs die geschlossene, gleichmäßige und glatte (Ober-) Fläche des Körpers und fixiert nur seine Auswölbungen und Öffnungen, das, was über die Grenzen des Körpers hinaus -, und das, was in sein Inneres führt.«31 Préparlé/Précuisiné Die nächste Station, Préparlé/Précuisiné, bestand aus zwei Bereichen, Préparlé und Précuisiné. Die von Les trois mères kommenden Besucher trafen zunächst auf Précuisiné, einen Verkaufsständer, auf dem verschiedene Gerichte angeordnet waren, die tiefgekühlt, gemahlen oder gefriergetrocknet waren. Einige Schritte weiter, bei Préparlé, stand ein »mit einem Programm ausgestatteter Mikrocomputer, das ihm erlaubt, durch Schlüsselsätze auf die ihm vom Besucher gestellten Fragen zu ›antworten‹«.32 Zudem waren auf einem weiteren Bildschirm Teile aus Epreuves d’écriture zu lesen. Lyotards Text im Inventaire erklärt nicht, warum gerade die Sprache und die Mahlzeiten in dieser Station kombiniert waren, was sich vielleicht aus der orthographischen Nähe der beiden französischen Begriffe mots (Worte) und mets (Gerichte) ergeben hat: »Was ist in Bereichen wie der Ernährung oder der Sprache die ursprüngliche Bedeutung, wenn diese von einer Maschine vorprogrammiert wird? Die Nahrung in der Küche, die Antwort in der Unterhaltung, alles vorgefertigt. Glauben Sie wirklich noch, dass Sie Herr über die Gerichte und Worte sind?«33 Ähnlich wie bei Les trois mères auch präsentiert Lyotard neue Formen der Autorschaft, die immer noch vom Geist der »Technowissenschaft der Beherrschung« geprägt sind. Waren es bei der vorigen Station die in der Neutralität der Empfängnismethoden-Liste verschwindenden ethischen Fragen und die bedrückende Stimmung von Soltaus Tableau, die unter dem Deckmantel der Beschreibung eine deutliche Kritik an den neuen Möglichkeiten bedeuteten, stellte Lyotard bei Préparlé/Précuisiné eine rhetorische Frage an die Leser des Inventaire, deren Antwort ein30 Ökonomie des Wunsches, S. 351, zit. nach Reese-Schäfer 1995, S. 17. 31 Bachtin, Michail (1987): Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a.M., S. 359. 32 Petit Journal, S. 10. 33 Inventaire zu Préparle/Précuisiné. 236
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deutig war: Die Herrschaft über die Materie und über die Sprache, wie sie Moderne anstrebte, kann kein Ziel mehr sein. Das Kopfhörerprogramm bestand aus den Ausschnitten zweier verschiedener Texte – Roland Barthes’ L’empire des signes von 1970 und Lewis Carrolls De l’autre côté du miroir aus dem Jahr 1871 – von denen sich einer auf Préparlé, einer auf Précuisiné bezog. Der Ausschnitt aus Barthes Text stellte der trüben Vision von gefriergetrockneten Fertiggerichten von Précuisiné einen Koch entgegen, dessen außergewöhnliche Kunstfertigkeit bei den Speisen weitaus mehr als nur geschmackliche Qualität verleiht: »Wir müssen in der Tat auf jenen jungen Künstler zurückkommen, der aus Fisch und Pfefferschoten Spitzenwerk herstellt. Wenn er unsere Speise vor uns zubereitet und den Aal von Handgriff zu Handgriff, von Ort zu Ort aus dem Bassin in die weiße Papierserviette überführt, die ihn am Ende als durchbrochenes Spitzenwerk aufnehmen wird, so geschieht das nicht (allein), um uns zu Zeugen der hohen Präzision und der Reinheit seiner Kochkunst zu machen, sondern weil seine Tätigkeit buchstäblich graphischen Charakter hat.«34
Die dichte poetische Sprache Barthes’ führt nicht nur die Szenerie in einem japanischen Restaurant unmittelbar vor Augen, sondern bildet zugleich ein ästhetisches Gegengewicht zu den Gerichten auf dem Verkaufsständer. Zwischen den Computerterminals und den High-Tech-Nahrungsmitteln muss der Text von Barthes wie eine Oase für die Sinne gewirkt haben, der man sich gern zum Zuhören überließ. Es scheint, als sei dieser Genuss nicht allein als ästhetischen Vergnügen gedacht gewesen, sondern als habe Lyotard damit ein Exempel für einige der wissenschaftstheoretischen Aspekte statuieren wollen, die implizit Les Immatériaux prägten: »L'Empire des signes ist ein Text über die im Schreiben mögliche Befreiung von der als autoritär empfundenen westlichen Subjektivität. Und insofern ist L'Empire des signes nicht nur ein Text über das Glück – es ist der Text als Glück.«35 Wer sich auf dieses Glück des Zuhörens und auf die Ästhetik, die das Werk des jungen Koches ausmachte, einlassen konnte, und wer bereit war, das Glück des Schreibens, das wie ein um das Geschehen kreisendes Nacherleben wirkte, nachzuempfinden, konnte vielleicht etwas von der Erleichterung, die für Barthes in der »Befreiung von der westlichen Subjektivität« gelegen haben mag, 34 Ich zitiere hier aus der deutschen Übersetzung von Martin Bischoff. Barthes 1981, S. 40 f., Hervorhebungen im Text. 35 Krüger, Bettina (o.J.): Sehnsucht nach dem ganz anderen. Roland Barthes’ L’Empire des signes – eine Japan-Reise? In: http://parapluie.de/archiv/ sehnsucht/japan/ (23.5.2006). 237
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ahnen. Die Feinsinnigkeit, mit der Barthes der Handfertigkeit des Koches und dessen Liebe zu seiner Tätigkeit schreibend folgt und – als Verdoppelung auf der narrativen Ebene – das ruhige, um seine Wirkung unaufgeregt wissende »Schreiben« des Koches – ist ein starkes Argument gegen die Vorstellung, die Kreation sei im Zusammensetzen vorgefertigter Teile zu erledigen. Die Autoren – sowohl Barthes als auch der Koch – sind hier Teil des Ganzen, befinden sich im Fluss mit den Geschehnissen und dem Geschriebenen, sind weder allmächtige Lenker wie in der Moderne noch in die vorgedachten Phänomene eingezwängt wie in der informatisierten Gesellschaft der »Technowissenschaft der Beherrschung«. Ähnlich diskrepant und zugleich inspirierend standen Exponat und Kopfhörertext beim zweiten Teil der Station, bei Préparlé, zueinander: Aus Carrolls Buch De l’autre côté du miroir war ein Dialog zwischen dem Mädchen Alice und Humpty Dumpty, einem anthropomorphen Ei, zu hören: »Die Frage ist, sagt Alice, ob Sie die Worte dazu bringen können, dass sie etwas anderes bedeuten als das, was sie sagen wollen? Die Frage, antwortete Humpty Dumpty, ist, wer der Meister sein würde... Punkt, das ist alles.«36 Humpty Dumpty, der in einem englischen Kinderreim von einer Mauer stürzt, zerbricht und nicht wieder repariert werden kann, diskutiert mit Alice über semantische und pragmatische Aspekte der Sprache. In dem Ausschnitt, der in Les Immatériaux zu hören war, erklärt Humpty Dumpty Alice, dass er den Worten als ihr Meister jede Bedeutung verleihen könne. Man müsse eben ihr Temperament kennen – die Verben seien die stolzesten, Adjektive seien völlig von ihnen abhängig, aber er sei in der Lage, sie im Griff zu behalten. Auf Alices erstaunte Reaktion hin treibt er sein Spiel weiter und lädt sie ein, sie müsse sich unbedingt einmal ansehen, wie all die Worte Samstags abends zu ihm kämen, um sich den Lohn für ihre Arbeit der vergangenen Woche abzuholen. Wer vor einem Terminal stand, das vorgefertigte Antworten auf Fragen gab, die man in die Tastatur getippt hatte, wer also recht schnell die recht frustrierende Erfahrung gemacht hatte, die Mitte der 1980er Jahre mit der Begriffsstutzigkeit solcher Textsoftware verbunden war, der wird die abstruse Unterhaltung zwischen einem kleinen Mädchen und einem Ei über die Worte als Lohnarbeiter geradezu als Erleichterung empfunden haben. Das Kopfhörerprogramm dient hier als humorvoll-poetischer Gegenpol gegen die Errungenschaften der Wissenschaft und die spröden Zukunftsvisionen einer avancierten Technologie. 36 Carroll, zit. nach Petit Journal, S. 10. Der englische Text in Route: Zones & Sites liest sich etwas anders: »The question ist, said Alice, wether you can make words mean so many different things. The question ist, said Humpty Dumpty, which is to be the master – that’s all.« S. 17. 238
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Monnaie du temps Im weiteren Verlauf des fünften Weg begegneten die Besucher den beiden einzigen Stationen der Ausstellung, die sich explizit mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigten: Monnaie du temps griff die Frage nach den sich immer stärker entmaterialisierenden globalen Finanzströmen auf, und Négoce peint zeigte Kunstwerke, deren Sujet das Geld war. Man konnte sowohl vor Monnaie du temps als auch hinter Négoce peint den fünften Weg verlassen und in den vierten wechseln, so dass diese beiden Stationen nicht nur thematisch, sondern auch räumlich einer Insel glichen, die etwas aus dem Zusammenhang des Weges herausfiel. Zudem waren beide zu einer Zone zusammengefasst, deren Kopfhörerprogramm – nach dem poetischen Feuerwerk der Vorgängerzonen – ausgesprochen theoretisch, wenn nicht sogar kompliziert und schwer verständlich war. In dieser Zone 24 war ein Text von Rogozinski zu hören, in den sie zwei kurze Zitate aus Les étalons figuratifs (1975) des poststrukturalistischen Philosophen Jean-Joseph Goux eingefügt hatte. Rogozinski bezieht sich auf Unterschiede zwischen den entmaterialisierten Zahlungsweisen des globalen Marktes und traditionellen Zahlungsmitteln wie z.B. Gold und beschreibt den endlosen Finanzstrom, der letztlich nirgendwo mehr ankommen kann: »Was bleibt, ist ein fluktuierendes System von Zwischenstationen und Überträgen, bei denen das Geld nur bei der Endabrechnung ausgetauscht werden kann, bei einer Begleichung, die immer auf später verschoben wird.«37 Gegen Ende des Textes nutzt Rogozinski ein Satzfragment von Goux, um mittels ihrer eigenen Ergänzung beide Stationen der Zone 24 miteinander zu verbinden. »Ebenso wie Kandinsky und Mondrian die Suche nach einer empirischen Referenz aufgaben, um damit die reine Malerei zu fördern«,38 schreibt Goux, und sie schließt daran an: »ebenso wie die moderne Kunst sich von den Zwängen der Figuration befreite, [...] befreit sich das Geld, verwaist, von seinem ursprünglichen Wert.«39 Lyotards kurzer Text im Petit Journal, der sich ebenfalls auf beide Stationen zugleich bezieht, nimmt die Argumentation von Rogozinskis Text, der das poststrukturalistische Theorem von den lediglich auf Zeichen verweisenden Zeichen für die Malerei (keine »empirische Referenz«) und die Finanzmärkte (kein »ursprünglicher Wert«) stark macht, auf. Er modifiziert sie zugleich, indem in seiner Reflexion die Kunst nicht mehr Anlass zu einer malereitheoretischen Fragestellung gibt – die Rogozinski als Analogie verwendet –, sondern indem er nach der Ware Kunstwerk fragt, deren Wert sich genauso wenig an einem Fixpunkt festmachen 37 Rogozinski, zit. nach Petit Journal, S. 10. 38 Goux, zit. nach ebd. 39 Rogozinski, zit. nach ebd. 239
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lässt wie der des Geldes: »Der Wert des Geldes, eines Bildes, errechnet sich aus ihrem Gegenwert im Austausch. Er verkörpert keine Menge von wertvollem Metall oder ästhetischer Wertschätzung, die außerhalb des Austausches liegt. Die Goldmünze oder der Geschmack verschwinden. Vorherrschaft der Zirkulation, deren Maß die Zeit ist.«40 Die Parallele zwischen den Prinzipien des Finanzmarktes und des Kunsthandels scheint etwas bemüht, da gerade der Wert eines Kunstwerkes nicht erst zu Zeiten des nervösen Kunstmarktes im 20. Jahrhundert unter der »Vorherrschaft der Zirkulation« stand. In diesem Licht passt Rogozinskis Analogie besser zu den beiden Stationen, vor allem zu Négoce peint, wo es um eine Frage ging, die auch an einigen anderen Stationen an Kunstwerke gestellt wurde: Wie hängen der Wert, den ein Kunstwerk abbildet und derjenige, der ihm als Ware zugeschrieben wird, zusammen? Anders als Lyotards Text im Petit Journal vermuten lässt, thematisiert Négoce peint also primär ein kunsttheoretisches Problem und nicht die Frage nach der Ware ›Kunstwerk‹. Dass Lyotards Text leicht aus der semantischen Achse verschoben ist, erklärt sich, wenn man die Rolle berücksichtigt, die diese Thematik in der poststrukturalistische Denkpraxis spielt: »In der Fortschreibung des seit der Antike geläufigen Vergleichs von Sprache und Geld konvergiert die Engführung von Wirtschaftstheorie und Sprachtheorie in Dekonstruktion und Poststrukturalismus schließlich auf die aktuelle Geldtheorie als Denkmodell für die Semiotik. Es liegen sowohl bei Derrida wie auch bei Goux und Baudrillard komplexe theoretische Konstrukte vor, die geldtheoretische Begriffe auf die Zeichentheorie anwenden.«41
Eine solche Engführung von Wirtschafts- und Zeichentheorie prägte Monnaie du temps. Die Besucher passierten diese erste der beiden Wirtschafts-Stationen, nachdem sie eine kleine Freifläche durchquert hatten, die sich an Préparlé/Précuisiné anschloss. Monnaie du temps nahm das
40 Ebd. 41 Gernalzick, Nadja (1998): Gegen eine Metaphysik der Arbeit. Abstrakt zur Gradnet-Konferenz PostModerne Diskurse zwischen Sprache und Macht, 20.-22. November in Erlangen. In: http://www.gradnet.de/papers/pomo2.ar chives/pomo98.papers/nagernal98.htm (14.9.2005). Vgl. dazu Lyotard in Essays zu einer affirmativen Ästhetik: »Die heutige Erfahrung der Ökonomie des Wachstums lehrt uns jedoch, daß die sogenannte ökonomische Aktivität keinen Ursprung hat, in keiner Position A verankert ist. Unter der einzig gültigen Bedingung des Wertgesetzes ist alles austauschbar und reversibel, [...] das Geld ist nicht weniger ein Zeichen als das Haus [...].« Lyotard 1982, S. 13. 240
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Verschwinden der materiellen Gegenwerte auf dem internationalen Markt und die Bedeutung des Parameters Zeit für den virtuellen Handel anhand eines Settings aus Symbolisierungen in den Blick, die in einer Art additiver Lesart zu einem Gedankengang zusammengesetzt werden konnten. So wurden auf einem Bildschirm die Kurse von Optionsgeschäften verschiedener, über die ganze Welt verteilter Börsen angezeigt, zudem waren »auf den Spuren der Vergangenheit«42 unechte Goldbarren sowie altmodische »Wertpapiere vor der Dematerialisierung durch die Bank«43 zu sehen. Im Hintergrund der Station wurden mehrere Wanduhren, die Uhrzeiten verschiedener Zeitzonen anzeigten, an die Wand projiziert. Der Text zu Monnaie du temps im Inventaire ist länger als die meisten Texte anderer Stationen und liefert eine überraschend griffige Kontextualisierung in das Thema des fünften Weges. Lyotard entfaltet hier in knappen Sätzen seine Analyse der Mechanismen des Kapitalismus, die er auch im Gespräch mit dem Architekten Giario Daghini44 ausführt und die auf seinem Interesse an der Zeit beruht: »Wie viel ist ein Franc wert? Er verbirgt nicht nur ein wertvolles Metall, sondern auch einen Bruchteil dieser oder jener ausländischen Währung, gegen die er getauscht werden kann. Und Wechselkurse hören nicht auf, zu schwanken. Die Kaufkraft des Geldes ist wie potentielle Zeit: indem ich ausleihe, kann ich das, auf das ich sonst warten müsste, sofort bekommen. Aber diese gewonnene Zeit kann auch gekauft werden (Zinsen). Und man kann auf sie spekulieren (Optionen). Die wirkliche Mutterschaft des Wertes: die Zeit.«45
Durch die in Echtzeit gezeigten Börsenkurse und die Uhrzeiten der verschiedenen Zeitzonen wurde veranschaulicht, dass die Finanzströme keinen Ort und keine Zeit mehr haben, sondern immer und überall zur Verfügung stehen. Ihre Entmaterialisierung bringe mit sich, so lautet die Formulierung in den Vorbereitungsskizzen aus dem Archiv des Centre Pompidou, dass »le temps réel et potentiel [...] devient le véritable étalon.«46
42 Inventaire zu Monnaie du temps. 43 Petit Journal, S. 10. 44 Vgl. z.B.: »Der Kapitalismus führt nun ein großes Prinzip ein: das Intervall, das Abtretung und Gegenabtretung trennt, ist für A verlorene Zeit. B muss ihm diese vorgeschossene Zeit zusätzlich zum Wert von y zurückerstatten. Die Quelle des zusätzlichen Werts, den A aus dem Tausch zieht, liegt nicht im Objekt y, sondern in der Zeit, die B verliert, bis er A y überlässt.« Lyotard/Daghini 1985, S. 50. 45 Inventaire zu Monnaie du temps. 46 Box 94033/667, Archiv des Centre Pompidou. 241
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Lyotards Rede von der »Postmoderne, die von der Beherrschung der Zeit besessen ist«47 war also in Les Immatériaux in mehreren Hinsichten ein zentraler Topos, in diesem Fall als Teil seiner Kapitalismustheorie, im Fall des Kopfhörersystems etwa als Versuch, der durchorganisierten Raumstruktur des modernen Mediums Ausstellung zu entgehen. Négoce peint In Bezug auf die nächste Station, Négoce peint, stellt Lyotard im Petit Journal die Frage, ob ein Gemälde überhaupt etwas anderes sein könne als ein ornamentierter Scheck, da es schließlich all dessen Merkmale trage. Provozierend greift er das Bemühen vor allem einiger avantgardistischer Pariser Künstler und Künstlergruppen auf, den Wert ihrer Werke sowohl von deren materieller Basis als auch von jeglicher darstellenden, narrativen, figurativen Funktion zu lösen.48 Lyotards Affinität zu diesen Avantgarden sowie seine kritische Haltung den neuen – marktorientierten, wie er meint – Strömungen wie der Figuration Libre in Frankreich oder Pattern aus den USA gegenüber schimmert durch seinen Text im Inventaire durch, in dem er sich fragt, ob die Kunst nicht ihre Ansprüche verrate, sobald sie sich auf einen Markt hin ausrichte: »Das Gemälde hat den Handel in seinem Ruhm und seiner Schande dargestellt. Der Künstler kann zeigen, dass das Werk selbst (vor allem?) ein kommerzieller Wert ist, der Prostitution ausgeliefert. Ist die Mutter der Künste der Markt der Freuden?«49 Négoce peint zeigte – ähnlich wie einige andere Stationen als eine Art Miniaturmuseum – sechs Kunstwerke, deren Sujet den Markt direkt thematisiert: Eine Kopie von Quentin Massys Der Geldverleiher und seine Frau aus dem Jahr 1514, Marcel Duchamps Obligation pour la roulette de Monte-Carlo von 1924 und Andy Warhols Dollar Sign von 1981 bilden verschiedene Facetten der Thematik der Station unmittelbar ab. 47 Lyotard/Daghini 1985, S. 51. 48 Gerade in Paris herrschten in den 70er Jahren solche Avantgarden vor, deren Ikonoklasmus und Intellektualismus im intellektuellen Schmelztiegel der Stadt besonders gut gedieh, aber auch besonders hermetisch blieb, vgl. z.B. die Zeitschrift Peinture, Cahiers Théoriques, die im Jahr 1971 von den Künstlern um die Gruppe Support/Surfaces gegründet wurde und vollständig auf Abbildungen verzichtete: »Von nun an wird der form- und ideologiekritische Ansatz der 1966er Bewegung dubliert durch eine extrem verschachtelte Theoriekonstruktion aus Dialektischem Materialismus, Psychoanalyse und strukturaler Linguistik.« Syring, Marie-Louise (1987): Kunst in Frankreich seit 1966. Zerborstene Sprache, zersprengte Form. Köln, S. 70. 49 Inventaire zu Négoce peint. 242
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Im Gegensatz zu diesen Werken ist bei dem undatierten Gemälde von Simon Vouet aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Jeune Homme faisant la figue, bei Raoul Hausmanns Dada-Skulptur L’esprit de notre temps von 1919 und Philippe Thomas’ dreiteiliger Fotoarbeit Sujet à discrétion aus dem Jahr 1985 der Bezug zur Ware Kunstwerk aus den Werken heraus nicht zu erkennen. Diese Mischung aus verschiedenen bildnerischen Sprachen ist auffällig und könnte Lyotards Abneigung gegen eine allzu leichte Übersetzbarkeit der Werke zuzuschreiben sein. Jedem der Werke ist im Inventaire ein kurzer Satz beigefügt, der einen Hinweis auf die Rolle geben soll, die es in der Station spielt. Bei den drei Werken, deren Sujet auf das Thema Wirtschaft hinweist, fügen Lyotards Erklärungen dem offensichtlichen Bezug eine weitere Ebene hinzu. So weise Der Geldverleiher auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern hin – das Bild zeigt den Mann, der Geld zählt, während seine Frau in der Bibel liest und einen verstohlenen Blick auf die Münzen wirft, die vor ihrem Gatten auf dem Tisch liegen. Duchamps Collage auf einem 500-Franc-Schein aus dem Kasino von Monte-Carlo, den der Künstler gestempelt, mit einem Foto seines über und über mit Rasierschaum bedeckten Kopfes beklebt und mit Rrose Selavy und Marcel Duchamp signiert hat, bezeichnet Lyotard als »Kunstwerk gegen Nachnahme«,50 und zu Warhols Siebdruck mit dem Dollarzeichen schreibt er mit einem im Deutschen nicht nachvollziehbaren Spiel mit der Ähnlichkeit der beiden Worte l’art und l’argent »Kunst und Geld, Geld und Kunst«.51 Die Funktion der drei anderen Werke jedoch wird auch durch Lyotards kurze Erklärungen nicht deutlicher. Zu Vouets Tafel schreibt er knapp »das Rätsel und die Bedeutung«52 – zu sehen ist ein prächtig gekleideter Mann, der mit freundlichem Blick dem Betrachter zwei Feigen präsentiert – und erklärt damit so gut wie nichts. Haussmanns hölzerner Perückenkopf L’esprit de notre temps, an den ein Lineal, eine Uhr, ein Nummernschild und andere Objekte montiert sind, zeige, so formuliert Lyotard den Titel der Skulptur um »den Geist einer Zeit, die noch immer unsere ist«.53 Thomas’ Fotoarbeit schließlich trägt den Titel Sujet à discrétion (1985) und besteht aus drei identischen Farbfotos, die eine ruhig an den Strand plätschernde Welle zeigen. Einer der Abzüge verweigert Aussagen über die Autorschaft und soll damit auf seine Abbildfunktion beschränkt bleiben, ein weiterer ist von Thomas signiert und trägt den Titel Autoportrait, der dritte soll das Selbstportrait des Käufers sein, der ihn erwirbt und signiert und damit anerkennt, dass er genauso gut Autor 50 51 52 53
Inventaire zu Négoce Peint. Ebd. Ebd. Ebd. 243
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sein könnte wie Thomas. Lyotard reflektiert anhand dieses konzeptionellen Werkes das Verhältnis der – wiederum im Französischen klangähnlichen – Begriffe auteur und acheteur: »Wenn ›Autor‹ und ›Käufer‹ sich in der Kunst des Selbstportraits den Verdienst am Werk streitig machen.«54 Bei dieser konzeptionellen Fotoarbeit wird das Thema des fünften Weges deutlich: Thomas findet eine ebenso humorvolle wie elegante Lösung für die Frage nach der Autorschaft des Bildes. Der Käufer hat in Lyotards Kommentar allerdings nicht so sehr die Funktion, auf eine schwierige Situation der Ware Kunst hinzuweisen, als vielmehr diejenige, das komplexe Verhältnis von Autorschaft und Eigentum, von Ursprung und Herkunft also, zu beleuchten. Sujet à discrétion stellt somit eine Art künstlerische Verdichtung des gesamten fünften Weges dar. Terroir oublié Die sechste Station des fünften Weges, Terroir oublié, war mit der letzten Station, Tous les auteurs, zur Zone 25 zusammengefasst. Über den Kopfhörer konnte man zu beiden Stationen vier Texte von zwei Autoren hören: Ein längerer Ausschnitt aus Yves Kleins La maison immatérielle und eine Zusammenstellung von Zitaten aus den 1984 herausgegebenen Essais critiques IV mit dem Titel Le bruissement de la langue von Roland Barthes – wieder einmal nicht eindeutig nachgewiesenen: Eine Montage aus Auszügen von La mort de l’auteur (1968) und De l’œuvre au texte (1971). Klein schreibt über ein architektonisches Projekt, von dem er seit langem träume: ein Haus zu bauen, dessen Fundamente aus Beton und dessen über der Erde befindliche Teile aus Luft bestehen: »In der Luft [...]: immaterielle Materialien. In der Erde [...]: materielle Materialien.«55 In dem Ausschnitt, der in Les Immatériaux zu hören war, zeichnet Klein ein deutliches Bild dieses immateriellen Hauses. Räume wie das Bad, die Toilette ebenso wie die Schränke seien unter der Erde gelegen und könnten abgeschlossen werden, in allen anderen Räumen gebe es nichts, das berührbar sei und gestohlen werden könne. Und man solle doch darüber nachdenken, ob man seine Idee nicht auf ganze Städte ausweite – welche Möglichkeiten biete ein Luftdach, das einen solch immensen Raum abdecke! Ein wenig erinnert Kleins Vision an die eine ganze Region bedeckende Landkarte aus der Geschichte von Borgès, die auf dem vierten Weg zu hören war, aber sie dient hier anderen Zwecken: »Man baut nicht mehr«,56 schreibt Lyotard im Inventaire, und in den Skizzen aus dem Ar-
54 Inventaire zu Négoce Peint. 55 Route: Zones & Sites, S. 19. 56 Inventaire zu Terroir oublié. 244
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chiv heißt es: »Le bâtiment n’est plus engendré par les matériaux du sol où il prend racine.«57 Zu Kleins Reflexionen passte die Station Terroir oublié, wo auf zwei Bildschirmen eine audiovisuelle Montage zu sehen war, die »den Verlust der Baumaterialien, den Zusammenbruch des Gestells«58 zeigte – genaueres geht aus dem Inventaire nicht hervor. Zudem lagen in einer Vitrine Ziegelsteine, Holz- und Keramikstücke, die von Bauten Frank Lloyd Wrights (1867-1959) und Alvar Aaltos (1898-1976) stammten. Diesen traditionellen Baumaterialien haftete der Nimbus des Autors, des Bauherren, der ein materielles und in seiner Herkunft bestimmbares Werk produziert hat, geradezu an: »One site, ›Forgotten Soil‹, presented fragments of brick, wood and ceramic from buildings of Frank Lloyd Wright and Alvar Aalto as if they were ruins of a lost age.«59 Die beiden Architekten, die Lyotard als Stellvertreter für ein solch klassisches, vom Barthesschen Werkbegriff geprägtes Gebäude ausgewählt hatte, waren Pioniere der organischen Architektur, die sich durch ein Interesse an der Funktion der Bauten in Bezug auf den Menschen (im Gegensatz zu »regelhaften Gestaltvorstellungen«60), Anlehnung an organische Formen (»kurvigfließende Linien«61) und eine gewisse Expressivität auszeichnet. Wright und Aalto waren besonders am Zusammenspiel von Mensch und Bau interessiert: »Zwischen Material und Mensch besteht eine Art biolog. Beziehung. Das menschliche Maß der Baukunst, die humane Vernunft der Architektur kann sich dabei sowohl auf die körperl. als auch auf die seel. Seite des Menschen beziehen.«62 Mit ihren Vorstellungen von einer gegebenen Natürlichkeit und ihrem Humanismus sind sie Vertreter einer Moderne, der Lyotard in Les Immatériaux an so vielen Stellen den Kampf ansagte, auch wenn sich der Autor der organischen Architektur durch seine Bereitschaft zur Unterordnung unter eine eigengesetzliche »Natur« selbst in Schach zu halten scheint. Mit den Ziegelsteinen und den Keramikstücken zeigte Lyotard als große Ausnahme in Les Immatériaux Exponate, die sich auf die Vergangenheit bezogen: »Das geheiligte Material als Museumsobjekt«,63 wie er sie selbst, die ausstellungstheoretische Ebene reflektierend, nennt. Terroir oublié warf implizit die Frage auf, welche Steuerungen einer Architektur zur Verfügung stehen, die aus der Spannung zwischen Vater57 58 59 60 61 62 63
Box 94033/667, Archiv des Centre Pompidou. Inventaire zu Terroir oublié. Rajchman 2004 [1985], S. 236. Lexikon der Kunst, Stichwort Organische Architektur. Ebd. Aalto, zitiert nach: Lexikon der Kunst, Stichwort Aalto. Inventaire zu Terroir oublié. 245
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Autor und Mutter-Natur entlassen ist. Die Antwort lag verborgen in der Musealisierung der Baumaterialien, die einer Verabschiedung aus der Realität des Bauens gleichkommt. Les Immatériaux stellte diese Frage an die Architektur – je nach Weg mit unterschiedlicher Stoßrichtung – insgesamt drei mal: Auf dem zweiten Weg (Architecture plane) lautete die Antwort, das eigentliche Werk sei der Entwurf des Architekten als Matrix des Bauens, auf dem vierten Weg (Référence inversée) wurde deutlich, dass keinerlei Referenz auf eine außerhalb des Gebäudes liegende Realität mehr angenommen werden kann. Im Zusammenhang mit dem Begriff maternité nun bleibt Lyotard – wie bereits bei der Einführung in den fünften Weg – eine Antwort schuldig: »Das Gebäude wird nicht mehr von dem Standort und den Materialien der Erde erzeugt, wo es sich befindet. Man baut nicht mehr, man implantiert. Indem man konstruierte, baute man im Ruhm oder in der Bescheidenheit die Entsprechung einer Kultur mit einer Mutter-Natur. Welches ist die Mutter, die die großen Ensembles verehren?«64 Tous les auteurs Die Textausschnitte der drei Texte von Barthes, die in der Zone 25 zu hören waren, stellten einerseits eine theoretische Metaebene zur Thematik der Architektur dar und standen andererseits im engen Bezug zur zweiten Station der Zone, zu Tous les auteurs. Sie begannen mit einer Frage, die Lyotards Einführung in den fünften Weg im Inventaire ähnlich ist: »Wer schreibt? Wer produziert? Wer spricht also?«65 Es sei unmöglich, dies zu wissen, setzt sich der Kopfhörertext fort, in den an einigen Stellen Anführungszeichen eingefügt sind, denen die Ausführungszeichen fehlen, als wenn den Lesern von Route: Zones & Sites direkt vor Augen geführt werden sollte, wie es sich mit dem Phänomen Text verhält. Das Schreiben beginne, sobald die Stimme ihren Ursprung verliere, so Barthes in diesem Text: »Wir wissen heute, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Worten besteht, die nur eine Bedeutung hervorbringen, sondern dass er ein multidimensionaler Raum ist, in dem verschiedenartige Schreiben, von denen keines ursprünglich ist, sich vermischen und einander bekämpfen: Der Text ist ein Netzwerk aus Zitaten, hervorgegangen aus tausenden von kulturellen Heimstätten.«66 Das Setting der Station Tous les auteurs, die vor einem langen leeren Gang lag, der die Mündung des fünften Weges ins Labyrinthe du langage bildete, scheint sich szenographisch der Komplexität von Barthes’ Theorien genähert zu haben. Die Rekonstruktion dieser Station ist 64 Inventaire zu Terroir oublié. 65 Route: Zones & Sites, S. 19. 66 Barthes, zit. nach Route: Zones & Sites, S. 19. 246
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schwierig, da keine der Rezensionen sie erwähnt, mir keine Fotografien vorliegen und Lyotards Beschreibung im Inventaire kaum zu verstehen ist: »Komposition eines Gewirrs von farbig beleuchteten Rundwegen [frz. circuits; auch: Schaltkreise], in das elf Pfade eingezeichnet sind, die elf dem Besucher zugänglichen Fragen entsprechen. Die Farben verändern sich nach der Natur des Rechts [frz. nature du droit; auch: Art der Zugangsberechtigung].«67 Ähnlich der Text im Petit Journal: »Baumartig verzweigter, vielfarbig leuchtender Rundweg, wo sich mehrere Wege als Antwort auf die durch den Besucher gestellte Anfrage abzeichnen können. Die Anfrage ist: an wen zahlt man die Gebühr für ein solches ›kulturelles‹ Wunschprodukt, und was ist seine Natur? [frz: »Pour tel produit ›culturel‹ désiré, à qui doit-on payer les droits et quelle en est la nature?« Auch: »Für welches gewünschte kulturelle Produkt und an wen muss man die Gebühren zahlen und welche Natur hat es?«]«68 Es scheint, als habe eine labyrinthartige Lichtstruktur auf die Interaktion des Besuchers mit einer Reihe von Fragen reagiert, oder als seien Schalttafeln an der Wand angebracht gewesen, die aus aufleuchtenden Flächen o.ä. bestanden. Es wird allerdings kein Computer erwähnt, über dessen Tastatur an anderen, ähnlichen Stationen die Kommunikation lief, so dass unklar bleibt, wie das Spiel von Frage und Antwort hier funktioniert haben könnte. Der Einführungstext von Lyotard im Inventaire bleibt völlig abstrakt und verzichtet auf Hinweise zum konkreten Setting: »Aufgrund der Vervielfachung der Prozesse von Reproduktion, von Verbreitung und von der Komplexität der Herstellungstechniken ist die Identität des Autors immer schwieriger einzugrenzen und zu definieren. Die Vaterschaft eines Werks, undefinierbar?«69 Und auch die Abbildung im Inventaire zeigte nichts von dem, was in der Ausstellung zu sehen war, sondern ein Tryptichon von Ruth Francken, einer Freundin Lyotards, das den Titel Jean-Paul Sartre trägt und aus dem Jahr 1979 stammt. Es gehörte zu der Serie Mirrorical Return, einer Reihe von Portraits berühmter Persönlichkeiten – Joseph Beuys, John Cage, Samuel Beckett, Michel Butor, Leopard Lindner, Yannis Xenakis, Jean Tinguely; sogar Lyotard selbst war dabei und eine Frau: Simone de Beauvoir – und bestand aus drei Tafeln von 65 cm Höhe, von denen die mittlere 200 cm und die beiden äußeren 100 cm breit waren. Francken hat den aus verschiedenen Perspektiven gezeigten Kopf Sartres 67 Inventaire zu Tous les auteurs. In den eckigen Klammern stehen die Vermutungen, die der Lyotard-Übersetzer Ronald Voullié zu diesen eigenartigen Formulierungen geäußert hat. 68 Petit Journal, S. 11. Vgl. zu den eckigen Klammern die vorhergehende Fußnote. 69 Inventaire zu Tous les auteurs. 247
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in monumentaler, zwei Drittel der Bildhöhe füllender Größe als Fotografie, Scherenschnitt und Umrisszeichnung fragmentiert, mehrfach übereinander collagiert und vor einen völlig ungestalteten, weißen Hintergrund gelegt. Die langgestreckte Arbeit wirkt wie ein zu schnell oder zu nachlässig vorgenommener Filmschnitt und scheint durch die Vervielfachung des Motivs ein optisches Echo ihrer selbst zu sein. Lyotard, der in einer langen Analyse über Francken auch über die Serie Mirrorical Return geschrieben hat, reflektiert die Mischung aus zwei Bildsprachen: So »muß, was von der Photographie übrigbleibt, als ein Fragment betrachtet werden, das die Lücke einer Zeichnung füllt. Das Gesicht wird also doppelt in seiner Unfertigkeit wiedergegeben.«70 Und es geht eben, so möchte man die Überlegung fortführen, nicht um die Abbildung, es geht nicht darum, Sartre zu portraitieren, sondern es geht darum, Erscheinungen zu produzieren, wie Lyotard in seinem Text über Francken schreibt: »Kleider machen Leute, Clothes make the man, say the German and the English. To which the French and Italians respond: the habit doesn't make the monk, Non e l'abito che fa il monacco. The four languages say the same thing, that is one thing and its opposite. Denial, in both cases. Mirrorical Return is born from Ruth's dream about this paradox. What Duchamp called: the paradox of appearance and apparition.«71
Das Paradox von Hervorkommendem und Erscheinung – anders formuliert: es ist nichts, wie es scheint – ist eines der zentralen Themen von Les Immatériaux. Vor allem auch auf dem vierten Weg, der die Differenz – oder gerade das Fehlen der Differenz? – zwischen Realität und Fiktion bzw. Simulation thematisierte, wurden verschiedene Phänomene, allen voran Bilder, auf dieses Paradox hin untersucht.
70 Lyotard 1987, o. S. 71 Ebd. 248
8. S C H L U SS
Das Labyrinthe de Langage, das sich an die fünf Wege anschloss, war als Ort der Sprache der Endpunkt eines jeden Parcours. Nahezu vollständig immateriell waren die Exponate, denen die Besucher begegneten: Insgesamt 16 verschiedene Computerterminals ermöglichten das Spiel mit 16 Arten von Sprach-, Bild- und Rechensoftware. Die einzelnen Stationen waren zu thematischen Clustern gebündelt und erkundeten verschiedene Felder: etwa die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der digitalen Speicherung von Daten (Mémoires artificielles), der Beurteilung von Sachlagen durch Berechnungen (Logiques artificielles), des Schreibens von Texten aus vorgefertigten Satzteilen (Séquences à moduler, Machines stylistiques und Romans à faire), der Analyse von Klängen (Champ et moments de la voix) oder der Art und Weise, wie aus einzelnen Standbildern Filme werden (Cine-Immatériaux). Es gab drei Werke von Künstlern zu sehen, die Schrift als Bild einsetzten und mit den sich daraus ergebenden Diskrepanzen zwischen Inhalt, Bedeutung und Form arbeiteten (Five Words aus dem Jahr 1965 von Joseph Kosuth, There is a discussion von 1979 von Ian Wilson und die Arbeit Of course aus dem Jahr 1979 von Robert Barry). Auch das Experiment der Epreuves d’écriture wurde gezeigt. Es ist gut möglich, dass das Labyrinthe de Langage für die Besucher ein einziges großes Faszinosum darstellte, vor allem für diejenigen – und das dürften 1985 noch relativ viele gewesen sein – die es nicht gewohnt waren, am Computer zu arbeiten. Tatsächlich war in diesem großen Saal der Körper nicht mehr von Belang, weder als Ausstellungsobjekt noch als Rezipient. Kopfarbeit war in noch größerem Maß gefragt als im Rest der Ausstellung. Doch das Labyrinthe de Langage war noch nicht der letzte Raum von Les Immatériaux. Es gab zwei weitere Stationen, die so verborgen lagen, dass die meisten Besucher sie übersahen: Temps différé, ein langer Gang entlang einer Seite der fünften Etage und das Vestibule de Sortie, das spiegelsymmetrisch zum Vestibule d’entrée in den Vorraum führte, durch den die Besucher eintraten.
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In Temps différé griff Lyotard das Thema der Zeit auf, das an so vielen Stellen in der Ausstellung eine große, wenn auch wenig explizite Rolle spielte. Die Station bestand aus einer Arbeit von Catherine Ikam: zwei hintereinander liegende, jeweils etwa sechs Meter lange Gänge, die völlig gleich aussahen. In beiden gab es einen Bildschirm, auf dem ein Video lief. Im ersten sahen die Besucher den leeren Gang, als wenn sie selbst aus dem Bild herausgenommen worden wären. Im zweiten waren sie zeitversetzt auf dem Bildschirm zu sehen; sie sahen sich selbst, wie sie im ersten Gang standen. »Simultane Existenz von unterschiedlichen Zeiten. Die Präsenz des zeitlich Versetzten, Abwesenheit des Sofortigen. Zeit ist weder eindeutig, noch linear, jeder Augenblick entfaltet auf einmal multiple Momente«1, schreibt Lyotard im Inventaire. Im Kopfhörerprogramm herrschte Stille, als wenn die Verschiebung der Zeiten nicht durch eine eindeutige Hör-Zeit wieder aufgehoben werden sollte. Diese closed-circuit-Installation war wie eine Kulmination dessen, was die Besucher in Les Immatériaux erleben konnten. Waren sie in allen anderen Stationen, der Interaktivität der einen oder anderen sowie Lyotards Philosophie der Sensibilisierung zum Trotz, vorrangig Rezipienten, wurden sie in Temps différé nun selbst zum Exponat. Die Installation ermöglichte ihnen durch eine Art Zeitreise einen Blick von außen auf sich selbst, als wenn Lyotard hier explizit sagen wollte: Schau, das bist Du, in Diener eigenen Zukunft, die zugleich Deine Vergangenheit ist. Auch hier gelang es wieder nicht, der Lage Herr zu werden, auch hier war wieder ein eher spielerischer Zugang hilfreicher als jeder Versuch, die Station rational zu bewältigen. Wer es bis in die Station Temps différé geschafft hatte, hatte eine Vielzahl solch komplexer Gedankengänge durchlaufen. Diejnigen, denen es gelang, die humorvollen und spielerischen Aspekte zu genießen und sich nicht von der immensen Denkarbeit schrecken zu lassen, dürften einen außergewöhnlichen Ausstellungsbesuch erlebt haben.
1
Inventaire zu Temps différé. 250
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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)
Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Transpositionen des Televisiven Fernsehen in Literatur und Film
Ramón Reichert Amateure im Netz Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. YouTube – MySpace – Second Life
Dezember 2008, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-938-1
Oktober 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-861-2
Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hg.) 9/11 als kulturelle Zäsur Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) StreitKulturen Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart
Dezember 2008, ca. 294 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-8376-1016-1
Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Oktober 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-420-1
Daniel Gethmann, Susanne Hauser (Hg.) Kulturtechnik Entwerfen Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science Oktober 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-901-5
Oktober 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-919-0
Margreth Lünenborg (Hg.) Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft Oktober 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-939-8
Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Performative Grundlegungen eines bürgerlichen Habitus im 18. Jahrhundert September 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-803-2
Uwe Seifert, Jin Hyun Kim, Anthony Moore (eds.) Paradoxes of Interactivity Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations September 2008, ca. 350 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-842-1
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Thomas Weitin (Hg.) Wahrheit und Gewalt Der Diskurs der Folter September 2008, ca. 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-8376-1009-3
Marcus S. Kleiner Im Widerstreit vereint Kulturelle Globalisierung als Geschichte der Grenzen September 2008, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-652-6
Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hg.) Wider den Kulturenzwang Kulturalisierung und Dekulturalisierung in Literatur, Kultur und Migration September 2008, ca. 290 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-987-9
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien September 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-873-5
Christian Pundt Medien und Diskurs Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens August 2008, ca. 400 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-994-7
Susanne von Falkenhausen KugelbauVisionen Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter August 2008, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-945-9
Alma-Elisa Kittner Visuelle Autobiographien Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager August 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-872-8
Michael Schetsche, Martin Engelbrecht (Hg.) Von Menschen und Außerirdischen Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft August 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-855-1
York Kautt Image Zur Genealogie eines Kommunikationscodes und zur Entwicklung des Funktionssystems Werbung August 2008, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-826-1
Dorothee Kimmich, Wolfgang Matzat (Hg.) Der gepflegte Umgang Interkulturelle Aspekte der Höflichkeit in Literatur und Sprache August 2008, ca. 180 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-820-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Gerald Kapfhammer, Friederike Wille (Hg.) »Grenzgänger« Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild August 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-888-9
Anja Zimmermann Ästhetik der Objektivität Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert August 2008, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-860-5
Ulrike Haß, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.) Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution August 2008, ca. 160 Seiten, kart., ca. 12,80 €, ISBN: 978-3-89942-907-7
Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hg.) Stimm-Welten Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven August 2008, ca. 216 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-904-6
Ines Kappert Der Mann in der Krise oder: Eine konservative Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur
Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Juli 2008, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9
Christa Sommerer, Laurent Mignonneau, Dorothée King (eds.) Interface Cultures Artistic Aspects of Interaction Juli 2008, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-884-1
Antonia Wunderlich Der Philosoph im Museum Die Ausstellung »Les Immatériaux« von Jean François Lyotard Juli 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-937-4
Annette Bitsch Diskrete Gespenster Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit Juli 2008, ca. 552 Seiten, kart., ca. 42,80 €, ISBN: 978-3-89942-958-9
Geert Lovink Zero Comments Elemente einer kritischen Internetkultur Juli 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-804-9
August 2008, ca. 232 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-897-1
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