Der Philosoph als Autodidakt. Hayy ibn Yaqzan: Ein philosophischer Insel-Roman [2 ed.] 9783787336463, 9783787336401

Ziel dieses philosophisch-allegorischen Inselromans des arabisch-andalusischen Denkers Ibn Tufail ist die Verteidigung d

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German Pages 155 [244] Year 2019

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Der Philosoph als Autodidakt. Hayy ibn Yaqzan: Ein philosophischer Insel-Roman [2 ed.]
 9783787336463, 9783787336401

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Philosophische Bibliothek

Abu ¯  Bakr Ibn T.  ufail Der Philosoph als Autodidakt H.  ayy ibn Yaqz. ¯a n

Meiner

A BŪ BA K R I BN T U FA I L

Der Philosoph als Autodidakt Hayy ibn Yaqzān Ein philosophischer Inselroman

Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von

patric o. schaerer

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 558

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. Print ISBN 978-3-7873-3640-1 eBook ISBN 978-3-7873-3646-3

2., durchgesehene Aufl. mit ergänzter Bibliographie © Felix Meiner Verlag 2019. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und ­andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich ge­statten. Satz: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim  / Hüfingen. Druck: Strauss, Mörlenbach. Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz  &  Bauer, Berlin. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. ­ Printed in Germany.            www.meiner.de

I N H A LT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   I X Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   X I 1. Abū Bakr Ibn Tufail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   X I

2. Inhaltsübersicht und Gliederung von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzān . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   X IV

3. Philosophie im islamischen Raum vom 9. bis 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   X V III i) al-Kindī  X I X |  ii) al-Fārābī  X X I |  iii) Ibn Sīnā  X X I X | iv) al-Ga­z ālī  X L  | v) Das islamische Spanien und Ibn Bāffa  X LV III

4. Weitere wichtige Themenbereiche . . . . . . . . . . . . . . . .   LIII i) Mystik  LIII  |  ii) Das politische und theologische Um­ feld: Ibn Tūmart und die Almohaden  LI X  | iii) Medizin und Naturwissenschaft  L X I  |  iv) Das Inselmotiv in Literatur und Theologie  L X IV

5. Gegenstand, Adressat und Zweck des Werkes. . . .   L X V II 6. Rezeption und Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . .   L X X 7. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   L X X X V II A BŪ BA K R IBN T U FA IL

Der Philosoph als Autodidakt i. Vorwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  3 ii. Zwei verschiedene Erzählungen über die Entstehung von Hayy ibn Yaqzān . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

i ii. Erster Lebensabschnitt – bis zum siebten Altersjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

VI

Inhalt

iv. Zweiter Lebensabschnitt – bis zum einundzwanzigsten Altersjahr . . . . . . . . . . . 28 v. Dritter Lebensabschnitt – bis zum achtundzwanzigsten Altersjahr . . . . . . . . . . 43 vi. Vierter Lebensabschnitt – bis zum fünfunddreißigsten Altersjahr . . . . . . . . . . . 57

vii. Fünfter Lebensabschnitt – bis zum neunundvierzigsten Altersjahr . . . . . . . . . . . 67

v iii. Die Begegnung zwischen Hayy ibn Yaqzān, Absāl und Salāmān . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

ix. Schlußwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   114 Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

πάντες ἄνϑρωποι τοᇿ εἰδέναι ὀρέγονται ϕύσει. Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.

Aristoteles Metaphysik A, 980 a  21

Wenn du dir vorstelltest, du selbst wärest vom ersten M ­ oment an mit tadellosem Intellekt und Disposition geschaffen ­worden, und angenommen du würdest in dieser Lage w ­ eder deine Körperteile sehen noch würden sich deine Glieder gegen­seitig berühren, sondern du wärest losgelöst und augen­ blicklich in der freien Luft schwebend, so wäre dir nichts ­bewußt, außer der Gewißheit deiner eigenen Existenz.

Ibn Sīnā al-Išārāt wa-t-tanbīhāt, Bd.   II S.  344 f.

Das Wissen steht über dem Glauben, aber das Schmecken steht über dem Wissen. Denn das Schmecken ist ein intuitives ­Erleben, das Wissen hingegen erschöpft sich im Syllogismus, und der Glaube ist bloße Annahme der traditionellen Autorität.

al-Gazālī Miškāt al-anwār, S.   7 8

VORWOR T

Die vorliegende deutsche Neuübersetzung von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzān wendet sich an ein Publikum mit einem Interesse an arabisch-islamischer Philosophie, ohne allerdings größere Vorkenntnisse auf diesem Gebiet vorauszusetzen. Die dem Werk vorangestellte Einleitung versucht schlaglichtartig, Ibn Tufails Roman in die Geschichte der Philosophie im Islam einzuordnen, in der Absicht, die in früheren Ausgaben manchmal zu wenig beachtete Einbettung des Werks in einen Diskussions- und Problemkontext zu verdeutlichen. Das Augenmerk richtet sich dabei sowohl auf islamwissenschaftliche als auch auf philosophiegeschichtliche Gesichtspunkte. Der letzte Teil der Einleitung widmet sich der Rezeption des Werkes im islamischen Raum und in der europäischen Neuzeit. Beim Text der Übersetzung wurde versucht, dem arabischen Original möglichst genau zu folgen; die vielfach repetitiven Ausdrucksweisen der Vorlage, die manchmal schwerfällig wirken, werden dabei bewußt beibehalten, da sie für den »blumigen« arabischen Stil charakteristisch sind. Die Anmerkungen zur Übersetzung sind als »erste Hilfe« zum Verständnis einzelner Begriffe oder schwieriger Passagen gedacht; zudem erklären sie relevante Bezüge zur Tradition und geben Hinweise auf weiterführende Literatur. Allerdings erheben sie keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit; insbesondere Verweise auf Entsprechungen in der neuzeitlichen Philosophie wurden aus Platzgründen größtenteils weggelassen. Dank schulde ich an erster Stelle Herrn Prof. Ulrich Rudolph (Zürich), der die Anregung zu dieser Übersetzung gab, den Kontakt zum Felix Meiner Verlag herstellte und während der Arbeit stets ein offenes Ohr für meine Fragen und Anliegen hatte. Herzlich zu danken habe ich weiter auch meinen Freun-

X

Vorwort

den Luciano Cavaliere, Regula Forster und Gerald Grobbel, die mit ihren zahlreichen Hinweisen und Korrekturvorschlägen bei der Entstehung dieses Buches mitgeholfen haben; ganz besonders dankbar bin ich aber auch meinen Eltern U ­ rsula E.  und Emil A. Schaerer für ihre stete Begleitung, Unterstützung und Zuneigung während meiner Beschäftigung mit Ibn Tufail und seinem Werk. Gerne danke ich schließlich dem Felix Meiner Verlag für die Aufnahme des Hayy ibn Yaq­zān in die Philosophische Bibliothek, die angenehme Zusammen­ arbeit und die kompetente Betreuung der Drucklegung. Hinweise zur Aussprache des Arabischen Die Transkription arabischer Namen und Begriffe folgt den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Bei der Aussprache ist folgendes besonders zu beachten: Ein Strich über einem Vokal (ā, ī, ū) bezeichnet einen lang auszusprechenden Vokal; ein Punkt unter einem Buchstaben (s, d, t, z) bezeichnet einen dumpf und dunkel auszusprechenden (emphatischen) Laut.  ’ leichter Stimmabsatz, wie in »be’achten«  ‘ stimmhafter Reibelaut im Kehlkopf (»Würgelaut«) e stimmhaftes englisches »th«, wie in engl. »this« f stimmhaftes »dsch«, wie in engl. »jungle« g stimmhaftes »Zäpfchen-r«, wie in franz. »rue« h stimmloses, in der Kehle gesprochenes (heiseres) »h« i geriebenes »ch«, wie in »Bach« bzw. span. »Juan« q dunkles, hinten im Gaumen gesprochenes (velares) »k« s immer stimmlos gesprochen, wie in »fassen« š stimmloses »sch«, wie in »fischen« u stimmloses englisches »th«, wie in engl. »think« w halbvokalisches »w«, wie in engl. »wear« y halbvokalisches »j«, wie in »Jahr« z stimmhaftes »s«, wie in »Sonne« bzw. engl. »wizzard«

EINLEIT U NG

1.  Abū Bakr Ibn Tufail Vermutlich im Jahr 1168 erhielt der Arzt und Philosoph Abū al-Walīd Ibn Rušd 1 (1126 – 1198), im mittelalterlichen Europa bekannt als Averroes, zum ersten Mal die Gelegenheit, beim Kalifen Abū Ya‘qūb Yūsuf (reg.  1163 – 1184) vorstellig zu werden. Möglich gemacht wurde ihm dies durch die Vermittlung eines um einige Jahre älteren Berufskollegen, Abū Bakr Ibn Tufail, der eine einflußreiche Stellung am Hof der Almohaden in Marrakesch innehatte. Über den Verlauf dieser Audienz sind wir gut unterrichtet, denn einer von Ibn Rušds Schülern hat diese Geschichte, die ihm der Philosoph selbst mehrmals erzählt hatte, später einem Historiker anvertraut: »Als ich beim Fürsten eingetreten war, fand ich ihn dort allein mit Ibn Tufail, der unverzüglich begann, mich und meine Familie in den höchsten Tönen zu loben. Nachdem der Fürst mich nach meinem Namen gefragt hatte, sagte er zu mir: ›Sag, was für eine Ansicht haben sie – und damit meinte er die Philosophen – über den Himmel; ist er ewig oder in der Zeit erschaffen?‹ Da erfaßten mich Scham und Furcht, und ich gab vor, mich noch nie mit Philosophie beschäftigt zu haben, denn ich wußte nicht, was Ibn Tufail mit dem Fürst schon alles besprochen hatte. Doch dieser verstand meine Furcht und meine Ver­legen­ heit; er wandte sich an Ibn Tufail und begann, das Problem, nach dem er mich gefragt hatte, zu erörtern. Er brachte vor, was Aristoteles, Platon und die übrigen Philosophen ­darüber 1  Zu Ibn Rušd siehe O. Leaman 1988 und Art. Ibn Rushd in EI²

Bd.    I II , S.   909b  ff. Abgekürzte Literaturangaben verweisen im folgenden auf die Bibliographie im Anhang.

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Patric Schaerer

gesagt hatten und erwähnte auch, was die islamischen Gelehrten an ihren Lehren zu beanstanden hatten. Da bemerkte ich, daß der Kalif so umfassend gebildet war, wie ich es nicht einmal bei jemandem vermutet hätte, der sich ausschließlich mit diesen Dingen befaßt. Er gewann mein Vertrauen, so daß ich meinerseits begann, über das Problem zu referieren, bis er alles, was ich dazu sagen konnte, erfahren hatte. – Als ich ihn wieder verließ, beschenkte er mich mit Geld, einem Ehren­gewand und einem Pferd«.2 Vom selben Berichterstatter erfahren wir auch, daß der Kalif einige Zeit später, nachdem ihm eine unklare Stelle bei Aristoteles Kopfzerbrechen bereitet hatte, Ibn Tufail beauftragen wollte, einen Kommentar dazu zu verfassen. Doch dieser lehnte ab mit der Begründung, er sei schon alt und werde durch seine offiziellen Pflichten in Beschlag genommen; zudem müsse er sich einer anderen Aufgabe widmen, die für ihn zur Zeit von größerer Bedeutung sei. Aber er empfahl dem Kalifen, er solle Ibn Rušd die Aufgabe, das Corpus Aristotelicum zu kommentieren, übertragen.3 So entstanden in der Folge die zahlreichen Aristoteles-Kommentare des Ibn Rušd, die ihm insbesondere durch ihre Übersetzung ins Lateinische im euro­ päischen Mittel­a lter schlechthin den Beinamen Commentator eintrugen. Diese Episode mit Ibn Rušd ist eine der wenigen Einzelheiten, die uns vom Leben Ibn Tufails bekannt sind. Im übrigen kennen wir seine Biographie nur in groben Zügen.4 Abū Bakr ibn ‘Abd al-Malik ibn Muhammad Ibn Tufail al-Qaisī wurde um 1110 im andalusischen Wādī Āš, dem heutigen Guadix, etwa 60  k m nordöstlich von Granada geboren. Über seine 2  al-Marrākušī: Mu‘ fib, S.   174. 3  Ebd. S.   175. 4  Zu Leben und Werk Ibn Tufails siehe L. Gauthier   1909 1, L.  I. Conrad 1996 2 , S.   5 – 22 und T. Kukkonen 2014.

Einleitung

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Ausbildung wissen wir mit Sicherheit nur, daß er in Granada ­Medizin studiert und anschließend dort auch als Arzt gewirkt hat. 1147 begab er sich nach Marrakesch, der Hauptstadt des Almohaden-Reiches, und wurde 1154 Sekretär beim Gouverneur von Ceuta und Tanger, einem Sohn des damaligen Kalifen ‘Abd al-Mu’min (reg.  1130 – 1163). Während dieser Zeit muß Ibn Tufail Bekanntschaft mit dem anderen Sohn ‘Abd al-Mu’mins, dem zukünftigen Kalifen Abū Ya‘qūb Yūsuf (reg.  1163 – 1184) geschlossen haben, denn er wurde dessen Vertrauter und Leibarzt; dieses Amt bekleidete er, bis er 1182 altershalber zurücktrat. Sein Nachfolger in dieser Funktion wurde sein jüngerer Kollege Ibn Rušd. Ibn Tufail starb 1185 hoch angesehen, und sein Begräbnis fand im Beisein des neuen Kalifen Abū Yūsuf Ya‘qūb (reg.  1184 – 1199) statt. Ibn Tufail scheint am Hof der Almohaden in Marrakesch trotz anderslautenden Vermutungen nie offiziell das Amt e­ ines Ministers bekleidet zu haben, aber er gehörte vermutlich zu ­einer Gruppe von Intellektuellen, den sogenannten Talaba, die das kulturelle und wissenschaftliche Leben am Hof prägten und zu deren Aufgaben es auch gehörte, Gelehrte und Künstler an den Hof zu bringen, wie wir es im Fall von Ibn Rušd schon gesehen haben.5 Von den Schriften Ibn Tufails sind kürzere Fragmente einiger Gedichte sowie das Manuskript eines umfangreichen medizinischen Lehrgedichts ­erhalten. Berühmtheit aber erlangte er durch sein philosophisches Hauptwerk, das vermutlich in der Zeit um 1177 – 1182 entstandene Buch Der Traktat von Hayy ibn Yaqzān (Risālat Hayy ibn Yaqzān),6 das hier in einer neuen Übersetzung aus dem A ­ rabischen vorgelegt wird. Dieses relativ kurze, aber sehr vielschichtige Werk wurde 5  Vgl. L.   I. Conrad 1995. 6  Einen guten allgemeinen Überblick über das Werk vermitteln

U.   Rudolph 1995 und 2018, S. 65–69, L.  E . Goodman 1996 und 2000 sowie P. Adamson 2016.

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schon als eines der »originellsten Bücher des Mittel­a lters« 7 gelobt und darf zu Recht als eine Art »philosophischer Bildungsroman«  8 bezeichnet werden. 2.  Inhaltsübersicht und Gliederung von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzān i)  Vorwort des Autors (S.   3 – 15): In einem ausführlichen ­Vorwort legt Ibn Tufail seine Beweggründe für die Abfassung des vorliegenden Werkes dar und geht in groben Zügen auf die Posi­ tionen einiger Vorgänger ein. Er kritisiert die Philosophen Fārābī und Ibn Bāffa für ihre bloß der rationalen und deduktiven Betrachtung verpflichtete Methode, aber auch einige frühere Mystiker für ihre ekstatischen Äußerungen und bezeichnet seine eigene Position als eine Synthese im Anschluß an Ibn Sīnā und Gazālī, ergänzt mit philosophischen Gedanken seiner eigenen Zeit. Da die letzten Wahrheiten in sprachlicher Form nicht adäquat, sondern nur gleichnishaft wiedergegeben werden können, soll deshalb im folgenden die Geschichte von Hayy ibn Yaqzān (»der Lebende, Sohn des Wachenden«), Absāl und Salāmān erzählt werden. ii) Vorgeschichte (S.   16 – 24): Der Hauptteil des Werkes beginnt mit einer Erklärung, wie Hayy ibn Yaqzān auf jene Insel im indischen Ozean gekommen ist, indem zwei verschiedene Versionen seiner Herkunft erzählt werden. Es gibt Leute, die sagen, er sei das heimliche Kind einer Prinzessin, die ihn nach der Geburt in einer Kiste im Meer ausgesetzt habe, weil sie nicht wollte, daß ihr Bruder, der Herrscher über ihre Insel, von der geheimen Beziehung zum Vater des Kindes erfahre; diese Kiste sei ans Ufer einer benachbarten, unbewohnten Insel ge7  G. Sarton 1931 Bd.   I I /1, S.   354. 8  F. Rosenthal 1970, S.   285.

Einleitung

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trieben worden, auf der Hayy dann aufgewachsen sei. Andere hingegen sind überzeugt, daß das Kind ganz ohne Eltern auf jener Insel entstanden sei, und zwar durch spontane Genese aus einer optimal disponierten Lehmmasse, in der sich ein Körper gebildet habe, der schließlich den lebensspendenden Geist von Gott empfangen habe. iii)  Erster Lebensabschnitt, bis zum siebten Altersjahr (S.   25 – 27): Eine Gazelle kümmert sich um den hilflosen Säugling und zieht ihn auf. Mit der Zeit lernt der Junge, die Laute der Gazellen nachzuahmen, und realisiert, daß er nackt ist und keine natürlichen Waffen besitzt; er behilft sich mit Blättern als Bekleidung und benutzt Stöcke zu seiner Verteidigung. – Diese erste Lebensphase endet mit dem Erwachen des Selbstbewußtseins; Hayy kann selbständig handeln und hat gelernt, sich aus eigener Kraft am Leben zu erhalten. iv)  Zweiter Lebensabschnitt, bis zum einundzwanzigsten Al­ tersjahr (S.   28 – 4 2): Der Knabe beginnt, seine Lebensumstände bewußt und zweckrational zu gestalten, macht sich Werkzeuge, fertigt Kleider aus Fellen, entdeckt das Feuer und zähmt Tiere. Als die Gazelle stirbt, will er sie retten und öffnet ihren Körper, um den Schaden, der sie befallen hat, zu finden und zu beseitigen. Dabei entdeckt er das Herz, das der Sitz ihres (Lebens‑)Geistes war, als die Gazelle noch lebte, und sieht darin das eigentliche Prinzip des lebenden Körpers. – Die Aneignung technischer und handwerklicher Disziplinen prägt diesen Lebensabschnitt; Hayys Untersuchungen stützen sich auf Beobachtung, Experimente und Analogieschlüsse. v)  Dritter Lebensabschnitt, bis zum achtundzwanzigsten Al­ tersjahr (S.   43 – 56): Hayys Überlegungen zu Einheit und Vielheit in der Welt des Entstehens und Vergehens führen ihn zur Erkenntnis, daß es Individuen, Arten und Gattungen gibt. Er studiert die körperlichen Dinge und lernt, zwischen Form und Materie zu unterscheiden; als Form eines Lebewesens erkennt er dessen Seele. Es wird ihm klar, daß alles eine Ursache haben

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muß; alles, was geschieht, und selbst die intelligiblen Formen brauchen einen Urheber. So führt ihn die Entdeckung der Kausalität zu einer ersten, vagen Erkenntnis von Gott. – Fragen aus Logik und Physik dominieren diesen Abschnitt; ausgehend von den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen stößt Hayy mittels Abstraktion bis in den Bereich des Intelligiblen vor. vi)  Vierter Lebensabschnitt, bis zum fünfunddreißigsten Alters­ jahr (S.   57 – 66): Er leitet die Gesetze der Gestirnsbewegungen her und führt den Beweis, daß alle Körper und somit auch das All endlich sind. Über das Problem, ob das Universum in der Zeit erschaffen oder urewig ist, denkt er lange nach, ohne sich für eine der beiden Alternativen entscheiden zu können, da er für beide Ansichten plausible Argumente findet; doch schließlich zeigt sich ihm, daß beide Positionen die Notwendigkeit eines Urhebers bedingen. Er erkennt in diesem Urheber, dem das Sein mit Notwendigkeit zukommen muß, schließlich Gott; Er ist vollkommen, allmächtig, allwissend und barmherzig. – Über Astronomie und Kosmologie gelangt Hayy so zur Metaphysik. Seine rationale Apodiktik hat damit ihren Höhe­punkt erreicht und gipfelt in der Erkenntnis des einen, allmächtigen Gottes. vii)  Fünfter Lebensabschnitt, bis zum fünfzigsten Altersjahr (S.  67 – 97): Durch Reflexion auf den soeben vollzogenen Erkenntnisprozeß erkennt Hayy, daß er Gott nicht mit den Sinnen, sondern mit seinem eigentlichen Wesen erkannt hat. Dieses eigentliche Wesen ist unkörperlich und kann nur durch sich selbst erfaßt werden; es ist zugleich Erkennendes, Erkanntes und Erkenntnis. Damit ist es in gewisser Weise Gott ähnlich. Aus dieser Ähnlichkeit ergibt sich für Hayy die Notwendigkeit, sein Leben gemäß einer dreifach abgestuften Angleichung zu gestalten: Die tiefste Stufe besteht in der Ähnlichkeit mit den vernunftlosen Tieren, da er seinen Leib ernähren muß; zu diesem Zweck auferlegt er sich strenge Richtlinien, welche Auswahl und Menge der Nahrung regeln. Die nächste Stufe be-

Einleitung

XVII

steht in der Angleichung an die Himmelskörper; wie sie wirkt er wohltätig, hält sich rein, beginnt, sich manchmal im Kreis zu drehen, und widmet sich der Gottesverehrung. Die dritte Art schließlich ist die Angleichung an die Attribute Gottes; sie besteht darin, sich mit seinem Denken nur noch auf Gott allein zu richten sowie alle körperlichen Eigenschaften und Handlungen abzulegen. So widmet sich Hayy ganz der Meditation und der Schau Gottes; in diesem Zustand wird ihm eine Vision der himmlischen Welt zuteil. – Die in der Reflexion des Intellekts auf sich selbst erfahrene Ähnlichkeit mit Gott führt Hayy also zur systematischen Entwicklung einer asketisch-philosophischen Ethik, die in der mystischen Versenkung in Gott gipfelt. viii)   Hayy ibn Yaqzān begegnet Absāl und Salāmān (S.   98 – 113): An diesem Punkt wendet sich der Blick wieder auf die benachbarte Insel, auf der man an eine Offenbarungsreligion glaubt; dort leben Salāmān, der regen gesellschaftlichen Umgang und eine streng wörtliche (»äußerliche«) Auslegung der religiösen Schriften und Gesetze pflegt, und Absāl, der die meditative Zurückgezogenheit und die allegorische (»innere«) Auslegung bevorzugt. Auf der Suche nach andächtiger Einsamkeit begibt sich Absāl auf die vermeintlich unbewohnte Insel und begegnet dort Hayy ibn Yaqzān. Von Absāl lernt Hayy zu sprechen und teilt ihm alles mit, was er im Laufe seines Lebens erkannt hat. Absāl erfaßt sofort, daß die unverhüllten Wahrheiten Hayys mit den überlieferten, in seiner Religion gleichnishaft dargestellten Lehren übereinstimmen. Hayy seinerseits erfährt von der dortigen Religion und anerkennt sie als wahres Abbild seiner eigenen Erkenntnisse. Er faßt den Entschluß, auch allen andern Leuten die unverhüllte Wahrheit zu lehren, und so machen sich die beiden auf zur Nachbarinsel, wo Salāmān inzwischen König geworden ist. Hayy beginnt, die Inselbewohner zu unterweisen, doch sobald er nur ein wenig über den äußeren Wortsinn hinausgeht, um die dahinterliegende Wahrheit

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zu erklären, vermögen ihm die Leute nicht mehr zu folgen. Je mehr er versucht, sie zu belehren, desto ablehnender werden sie. Schließlich sieht er ein, daß die Leute von ihrer natürlichen Veranlagung her gar nicht fähig sind, etwas anderes als jene symbolische Darstellung zu verstehen. Er widerruft seine Aussagen und ermahnt die Leute, weiterhin streng nach ihren bisherigen Gesetzen zu leben. Mit Absāl kehrt er auf seine Insel zurück, wo sich beide fortan der mystischen Versenkung in Gott hingeben. – In dieser letzten Episode wird deutlich, daß zwischen wahrer Religion und wahrer Philosophie kein grundsätzlicher Widerspruch besteht; beide unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Ausdrucksweise, der Klarheit ihrer Erkenntnisse und der Methode des Wissenserwerbs. Nur die wenigsten sind fähig, die unverhüllte Wahrheit zu erfassen, während für alle anderen die symbolhafte Religion genügen muß; da es für den wahrhaft Erkennenden gar nicht möglich ist, der breiten Masse diese Wahrheiten zu lehren, muß er einsehen, daß er vor ihnen gar nicht über jene Dinge sprechen darf, wenn er ihnen und sich selbst keinen Schaden zufügen will. ix) Schlußwort (S.   114 – 115): Zum Schluß bittet der Autor um Nachsicht für die Unvollkommenheit seines Werks und ruft in Erinnerung, daß er seine Schrift mit einem dünnen Schleier versehen habe, der aber für denjenigen, der dazu bestimmt ist, leicht zu lüften sei. 3.  Philosophie im islamischen Raum vom 9. bis 12. Jahrhundert Um die zahlreichen Ebenen und philosophiegeschichtlichen Bezüge in Ibn Tufails Roman deutlich zu machen, soll im folgenden ein kurzer Überblick über die wichtigsten Stationen und Entwicklungen der Philosophie im Islam bis in die Zeit Ibn Tufails gegeben und dabei die relevanten Bezugspunkte

Einleitung

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zu seinem Hayy ibn Yaqzān kurz besprochen werden. Dadurch soll aufgezeigt werden, welche philosophischen Fragen und Lösungsansätze zu jener Zeit von besonderer Aktualität waren, um so den größeren philosophiehistorischen Kontext, in dem dieses Werk steht, zu umreißen. Wie brisant damals beispielsweise die Frage nach der Geschaffenheit oder Ewigkeit der Welt war, hat sich ja bereits in der eingangs erwähnten Episode mit Ibn Rušd gezeigt. i)  al-Kindī (gest. um 870)9 Als um 750 die Dynastie der ‘Abbāsiden die Herrschaft von den Umayyaden übernahm, hatte das islamische Reich seine größte Ausdehnung erreicht und erstreckte sich von ZentralAsien im Osten bis nach al-Andalus im Westen. Es umfaßte dabei sowohl das Gebiet des ehemaligen sassānidischen Perser­ reiches als auch die ehemals zum byzantinischen Reich gehörenden Regionen Syriens und Ägyptens. Der ‘abbāsidische Ka­ lif al-Mansūr (reg.  754 –  7 75), bekannt als Gründer der neuen Reichshauptstadt Baghdad, initiierte die Rezeption der antiken Wissenschaften, indem er den Auftrag gab, griechische Werke ins Arabische zu übersetzen.10 Diese Aufgabe wurde vor allem von syrisch sprechenden Christen übernommen, die bereits vorhandene oder auch speziell angefertigte syrische Versionen und später dann auch direkt aus dem Griechischen ins Arabische übersetzten. Bearbeitet wurden vor allem Texte zu Medizin, Astronomie, Mathematik und Logik, etwas spä  9  Zu Kindī siehe: F. W. Zimmermann 1990, G. Endress /

P. Adamson 2012 und Art. al-Kindī in EI² Bd.   V, S.   122a  ff. 10  Zu Übersetzung und Rezeption der griechischen Wissenschaften im Islam siehe D. Gutas 1998, L. E. Goodman 1990 und M. Meyer­ hof 1930.

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ter auch Philosophie, insbesondere Aristoteles und seine spät­ antiken Kommentatoren, die vielfach neuplatonisch beeinflußt waren, wodurch die Muslime ihren Aristoteles bereits in einem »neuplatonischen Gewand« kennenlernten. Einen ersten Höhepunkt erreichte diese Übersetzungstätigkeit unter dem Kalifen al-Ma’mūn (reg.  813 – 833) und seinem Nachfolger alMu‘tasim (reg.  833 – 842). Als erster namhafter Philosoph in der islamischen Welt begegnet uns Abū Yūsuf Ya‘qūb Ibn Ishāq al-Kindī (lateinisch Alkindi), der zu Recht mit dem Titel »Philosoph der Araber« (Failasūf al-‘arab) ausgezeichnet wurde. Obwohl nur ein kleiner Teil seiner Werke erhalten ist, wissen wir, daß er über die verschiedensten Themen (Mathematik, Physik, Optik, Astro­nomie, Psychologie, Metaphysik, Ethik, Pharmazie und Zoologie) geschrieben hat; in vielen Disziplinen kam ihm eine wichtige Pionierrolle zu, und ebenso bedeutend war sein Beitrag bei der Schaffung eines wissenschaftlichen Vokabulars in arabischer Sprache. Die zentralen Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, wie die Lehre der vier Ursachen (causa materialis, formalis, finalis und movens), die Akt  /  PotenzUnter­scheidung oder die Typen des wissenschaftlichen Fragens aus der zweiten Analytik, waren ihm wohl vertraut. Er setzte sich mit der rationalistischen Theologie (Mu‘tazila) seiner Zeit auseinander und war bemüht, die Rolle der Philosophie zu legitimieren; so betonte er, daß Philosophie und Religion einander nicht widersprechen, und vertrat in Übereinstimmung mit dem religiösen Dogma des Islams – anders als dann später seine Nachfolger – die Erschaffenheit der Welt aus dem Nichts. Dennoch begegneten die orthodoxen islamischen Theologen (Mutakallimūn)   ihm – und somit auch der Philosophie als Wissenschaft ganz allgemein – mit Ablehnung. Obwohl Kindī mehrere Schüler hatte, bildete sich keine eigent­liche Schule im Anschluß an sein Wirken, und seine Arbeiten wurden später wenig zitiert. Auch Ibn Tufail nennt

Einleitung

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ihn nicht explizit.11 Eine indirekte Wirkung bis hin zu Ibn Tufail kann man aber in dem schon von Kīndī vertretenen Anspruch auf eine umfassende Ausgestaltung des Wissenschaftskanons sehen, zu der ja auch Hayy ibn Yaqzān gelangt, indem er es in allen Zweigen der Wissenschaft schließlich zur Meisterschaft bringt. ii)  al-Fārābī (870 – 950)12 Trotz seiner bedeutenden Rolle als Begründer der philosophischen Tradition im Islam wurden al-Kindī und sein Werk bald überschattet durch den aus dem transoxanischen Fārāb stammenden Muhammad ibn Tariān Abū Nasr al-Fārābī, im lateinischen Mittelalter bekannt als Alfarabius oder Avennasar. Schon in jungen Jahren kam Fārābī nach Baghdad und studierte dort Arabisch und Logik. Er hatte Kontakt zum mehrheitlich aus arabischen Christen bestehenden Kreis der Philosophen und Übersetzer in der Tradition des alexandrinischen Aristotelismus, und hier in Baghdad entstand auch der größte Teil seiner Werke. Fārābī scheint während seines ganzen Aufenthaltes in Baghdad nie eine amtliche Funktion am Hof eingenommen oder eine offizielle Lehrfunktion ausgeübt zu haben. Im Jahre 942 begab er sich nach Syrien an den Hof des Hamdāniden-Herrschers Saif ad-Daula, wo er bis zu seinem Tod auch blieb. Aufgrund seiner herausragenden Bedeutung als Philosoph erhielt Fārābī den ehrenvollen Beinamen »der zweite Lehrer« (al-Mu‘allim au-uānī), direkt nach Aristoteles, dem ersten Lehrer und Philosophen schlechthin. Ein großer 11  Ob Ibn Tufail Werke von Kindī gekannt hat, ist nicht geklärt;

man weiß aber, daß Kindī im 10. Jh. und später in Andalusien noch gelesen wurde (vgl. F. W. Zimmermann 1990, S.   368). 12  Zu Fārābī siehe: D. L. Black 1996, U. Rudolph 2012 und Art. alFārābī in EI² Bd.  I I , S.   7 78b.

Erstes Seiendes, Erste Ursache, Gott (W = Wesenheit, Intellekt) Tag- und Nachtsphäre

W (1)

Fixsternsphäre

W (2)

Saturnsphäre Jupitersphäre Marssphäre Sonnensphäre Venussphäre Merkursphäre

W (3) W (4) W (5) W (6) W (7) W (8)

Mondsphäre

W (9)

sublunare Sphäre, Erde.

W (10)

(intelligible Formen)

Kosmologieschema nach Fārābī

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Teil seiner Werke behandelt Logik und Sprachphilosophie, einer­seits in der Form von Kommentaren zum gesamten aristotelischen Organon, andererseits aber auch in Form eigenständiger Werke, in denen er sich insbesondere mit den Eigenheiten der arabischen Sprache und deren Konsequenzen für die Logik befaßt. Daneben behandelte er in seinen Schriften aber auch Themen wie Metaphysik, Ethik, Politik, Musik, Naturwissenschaft, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Der Systematiker Fārābī setzte die schon von Kindī begonnene Rezeption und Adaption der antiken W ­ issenschaften fort und versuchte, die verschiedenen Strömungen und Schulen der griechischen Philosophie in eine einheitliche und konsistente Form zu bringen. Dazu gehörte unter anderem der Versuch zu zeigen, daß sowohl Platon als auch Aristoteles eine über­einstimmende Lehrmeinung vertreten haben.13 Besonders einflußreich waren Fārābīs Beiträge zur Kosmologie und zur Erkenntnistheorie, die im folgenden kurz skizziert werden ­sollen. a)  Das kosmologische Weltbild : Das Erste oder die erste Ursache (Gott) ist ewig, unerschaffen, vollkommen, immateriell und unteilbar; es ist essentiell und stets aktuell Denken oder Intellekt (‘aql), Denkendes (‘āqil) und Gedachtes (ma‘qūl). Indem das Erste Seiende sich selbst denkt, geht aus ihm in einem ewigen Emanationsprozeß (faid) ein zweites Seiendes hervor, das ebenso wie das Erste eine immaterielle Substanz ist. Das zweite Seiende – der erste der transzendenten kosmischen Intellekte – denkt sowohl das Erste, wodurch aus ihm ein drit13  Darüber verfaßte al-Fārābī einen eigenen kleinen Traktat: Die

Übereinstimmung zwischen den Lehrmeinungen der beiden Weisen, dem göttlichen Platon und Aristoteles (al-Fam‘ baina ra’yai al-hakīmain, Iflātūn al-ilāhi wa Aristutālīs) und führte damit einen schon in der Spätantike (etwa bei Porphyr, der ein Buch zum selben Thema verfaßt haben soll) gebräuchlichen Interpretationsansatz fort; die Zuschreibung an Fārābī ist allerdings nicht unumstritten, siehe M. Rashed 2009.

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tes Seiendes hervorgeht, als auch sich selbst und bringt dadurch die oberste Himmelssphäre (die Tag- und Nachtsphäre) hervor. Auch das dritte Seiende ist seiner Substanz nach Intellekt, denkt das Erste und sich selbst und bringt dadurch ein viertes Seiendes und die Sphäre der Fixsterne hervor. Das vierte Seiende denkt wiederum das Erste und sich selbst und bringt so ein fünftes Seiendes und die Sphäre des Saturns hervor. Durch diesen symmetrischen Emanationsprozeß, der sich über die Sphären von Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond fortsetzt, erklärt Fārābī den Aufbau des Weltalls. Beim zehnten Intellekt allerdings kommt dieser Prozeß zu einem Ende, denn aus diesem geht kein weiterer selbständiger Intellekt hervor.14 Aber diesem Intellekt kommt eine andere Aufgabe zu, denn Fārābī identifiziert ihn mit dem aktiven Intellekt (‘aql fa‘‘āl),15 der den anfänglich nur potentiell erkennenden menschlichen Intellekt (‘aql bi-l-quwwa) in den Zustand des aktuell erkennenden Intellekts (‘aql bi-l-fi‘ l) überführt, indem er ihm die intelligiblen Formen (sūra) vermittelt. Der aktive Intellekt gleicht so der Sonne, die das nur potentiell sehende Auge durch ihr Licht aktuell sehend macht. Diese auf den ersten Blick seltsam erscheinende Konzeption mit der Verbindung von Theologie, Kosmologie und Epistemologie wird verständlicher, wenn man sie vor dem Hintergrund der verschiedenen Traditionen betrachtet, mit welchen Fārābī 14  Fārābī: Perfect State I–III , S.   56– 105. Zum Auf bau des Univer-

sums siehe das Schema auf S.   X X II . 15  Fārābī vermeidet es, den transzendenten Intellekten explizit einen Ort in einer bestimmten Sphäre zuzuweisen, da diese Intellekte ja per definitionem immateriell sind und somit nicht räumlich lokalisierbar sein können. Bei Ibn Sīnā (Šifā’, Ilāhiyyāt I X 3, S.  401 / franz. Übers. Bd.   I I , S.   135) und in der Tradition nach ihm wird der aktive Intellekt jedoch meist ausdrücklich der sublunaren Welt zugeordnet, so bei Ibn Tufail (Übersetzung S.   93  f. ) oder Moses Narboni (vgl. M.  Hayoun 1985, S.   137 – 1 42).

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konfrontiert war. Die Grundlage der Kosmologie stammt von Aristoteles, der noch von acht Himmelsphären ausgegangen war, die von mehreren, selbst unbewegten Bewegern bewegt wurden. Ptolemaios führte später eine weitere, oberste Sphäre ein, die gestirnslose Tag- und Nachtsphäre, und nahm für jede Sphäre nur je einen Beweger an. Fārābī kombinierte nun diese beiden Ansätze mit der neuplatonischen Emanationstheorie.16 Auch der aktive Intellekt (‘aql fa‘‘āl), der von Fārābī als der u ­ nterste der transzendenten Intellekte verstanden wird, hat seinen Ursprung bei Aristoteles. In einer kurzen und sehr vage formulierten Stelle in seinem Buch Über die Seele sagt Aristoteles: »Es gibt einen Intellekt, der alles wird, und einen anderen, der alles wirkt. […] Dieser Intellekt ist abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt.«  17 Die Andeutungen in dieser kurzen Passage haben unzählige Diskussionen unter den Kommentatoren ausgelöst, denn es blieb unklar, um was für eine Entität es sich bei diesem wirkenden Intellekt überhaupt handelte, insbesondere, ob er immanent oder transzendent war. Bereits Alexander von Aphrodisias (um 200 n.  Chr.) identifizierte dann den sogenannten aktiven Intellekt (ὁ ποιητικὸς νοῦς, intellectus agens), der den menschlichen Intellekt vom potentiell erkennenden zum aktuell erkennenden macht, mit Hinweis auf Buch   X II von Aristoteles’ Metaphysik mit der ersten Ursache des Alls.18 Fārābī gelingt es, aus den verschiedenen ihm vorliegenden Interpretationen ein Erklärungsmodell zusammenzufügen, das die einzelnen Ansätze miteinander verbindet und ihm erlaubt, ein konsistentes Weltbild zu entwerfen. Auch bei Ibn Tufail begegnet uns noch dieses von Fārābī gestaltete Kosmologie16  Vgl. dazu M. Maróth 1995 und den Kommentar von R. Wal-

zer 1985, S.   364  f. 17  Aristoteles: De anima III 5, 430 a 15 – 25. 18  Vgl. H. A. Davidson 1992, S.   13  f.

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schema, allerdings mit gewissen Vorbehalten. So ist es nicht Ergebnis des wissenschaftlich-rationalen Erkenntnisprozesses, den Hayy ibn Yaqzān bis zu seinem fünfzigsten Altersjahr durchläuft, sondern es wird ausdrücklich als Teil seiner Visionen während des mystischen Zustandes bezeichnet; die Beschreibung des dabei Gesehenen darf laut Ibn Tufail nicht wörtlich verstanden werden, sondern nur als Andeutung oder Hinweis. Anders als bei Fārābī werden die himmlischen Wesenheiten nicht mehr als Intellekte bezeichnet, und die unterste dieser Wesenheiten (bei Fārābī und Ibn Sīnā der aktive Intellekt) hat auch keine explizit erwähnte epistemologische oder kosmologische Funktion mehr, sondern ihre Aufgabe ist einzig, Gott zu preisen und zu loben. Die Grundlage für Hayy ibn Yaqzāns Erkenntnisprozeß bildet vielmehr, wie öfters betont wird, seine ihm von Gott verliehene hervorragende natürliche Veranlagung (fitra). Ibn Tufail schafft so eine gewisse Distanz zur stark neuplatonisch gefärbten Darstellung bei Fārābī oder Ibn Sīnā und läßt damit Raum für einen anders akzentuierten Lösungsansatz. Aber während es beispielsweise dem Aristoteles-Kommentator Ibn Rušd, der auch ab und zu gewisse »unaristotelische« Innovationen bei Ibn Sīnā kritisierte, darum ging, eine wieder etwas näher beim ursprünglichen Aristoteles liegende Textinterpretation zu ermöglichen,19 dürfte Ibn Tufails Motivation wohl eher darin liegen, auf eine Kritik zu reagieren, mit der die Philosophie von seiten der islamischen Theologie – insbesondere vom berühmten Gazālī – konfrontiert worden war.20 Ibn Tufails eigenes Verhältnis zum Neuplatonismus schließlich ist nicht leicht zu bestimmen. Einerseits taucht bei ihm der stufenweise Emanationsprozeß, durch den bei Fārābī und 19  Vgl. O. Leaman 1988, S.   104 – 116. 20  Siehe dazu den Abschnitt über Gazālī infra S.   X L  – X LV III und

Übersetzung S.   88 – 97.

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Ibn Sīnā der Kosmos entsteht, nicht mehr auf, und Gott, das Notwendig-Seiende, ist alleiniger, unmittelbarer Schöpfer der Welt. Andererseits wird aber auch bei Ibn Tufail die Verleihung des Lebensgeistes (rūh) an den Menschen oder allgemein der Formen (sūra) an die Dinge in der Welt als Ausströmen bzw. Emanieren (fayadān) verstanden. Wohl sind die Himmelssphären in diesen Emanationsprozeß nicht mehr direkt involviert, aber immerhin schreibt ihnen Ibn Tufail zu, den Dingen in der Welt die Disposition zur Aufnahme dieser Formen zu verleihen. Und schließlich werden die transzendenten himmlischen Wesenheiten als Prinzip und Ursache der irdischen Dinge bezeichnet; und obwohl sie keine explizite epistemologische Funktion mehr haben, werden sie doch mit Spiegeln verglichen, die das »göttliche Licht« bis hinab zu den individuellen, irdischen Seelen gelangen lassen.21 b)  Philosophie und Religion  : Für Fārābī besteht zwischen Philosophie (falsafa) und Religion (milla) ein genau definierter Unterschied, den er wie folgt erklärt: »Jeder Wissenserwerb setzt sich aus zwei Dingen zusammen: Zuerst muß das, was gewußt werden soll, verstanden und dessen begriff liche Bestimmung in der Seele abgelegt werden; dann kann über das, was verstanden und in der Seele abgelegt wurde, ein wahres Urteil gefällt werden. Eine Sache verstehen geschieht aber auf zwei Weisen: Entweder wird das Wesen dieser Sache mit dem Intellekt erkannt, oder die Sache wird mittels eines bildhaften Gleichnisses (miuāl), das sie imitiert, als eine Vorstellung aufgenommen; und das Fällen eines Urteils geschieht entweder mittels eines gültigen Beweises oder mittels Überzeugung. Wenn nun die seienden Dinge Gegenstand des Wissens oder Lernens werden, ihre eigentlichen Begriffe durch den Intellekt erkannt 21  Siehe Übersetzung S.   21  f., 82 und 91 – 97. Zu Ibn Tufails Verhält-

nis zum Neuplatonismus siehe die Arbeiten von R. Kruk 1991 und 1996, S.   87 – 89.

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werden und man darüber mittels eines gültigen Beweises ein wahres Urteil fällt, dann ist die Wissenschaft, die ihre Gegenstände so erfaßt, Philosophie. Wenn aber die Gegenstände bloß anhand der Gleichnisse, welche die tatsächlichen Sachverhalte imitieren, von der Vorstellungskraft erfaßt werden und das Urteil über das Vorgestellte mittels Überzeugung zustande kommt, dann ist gemäß der Benennung der Vorfahren das, was seine Gegenstände so erfaßt, Religion«.22 Während also in der Philosophie die Sachverhalte mittels gültigen Beweisen so, wie sie wirklich sind, erkannt werden, vermittelt die Religion nur Vorstellungen, die durch Gleichnisse oder Symbole mittels Überzeugung zustande kommen; dabei fungiert in der Philosophie der Intellekt als Erkenntnis­ instanz, in der Religion hingegen die Vorstellungskraft (so werden beispielsweise die oben erwähnten himmlischen Intellekte in der Sprache der Religion als Engel bezeichnet). Da die Philosophie per definitionem über die wahre Erkenntnis der Wirklichkeit verfügt, gibt es für Fārābī auch nur eine Philosophie. Dagegen können die wirklichen Verhältnisse auf mannigfaltige Weise durch Symbole nachgeahmt werden, und ein bildhaftes Gleichnis kann auf die eine oder andere Art ausgelegt und verstanden werden; so gibt es denn auch viele verschiedene Religionen, in denen die eine Wahrheit je anders umschrieben wird.23 Zudem geht Fārābī auch davon aus, daß der Philosophie eine zeitliche Priorität zukommt, daß es also zuerst die Philosophie gab und erst allmählich die Religionen entstanden. In einem Staat oder einer Gesellschaft sind die Philosophen diejenigen, die über das beste Erkenntnisvermö22  Fārābī: Tahsīl as-sa‘āda, S.   184 / engl. Übers. S.  4 4; vgl. auch

Fārābī: Perfect State XV II , S.   276–285. 23  Dazu und zu den antiken (insbesondere stoischen) Vorläufern dieser Sichtweise siehe den Kommentar von R.   Walzer 1985, S.  471– 479; sowie N. Germann 2016².

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gen verfügen und dadurch Kenntnis von der Wahrheit besitzen; die etwas weniger Begabten können immerhin durch die Belehrungen der Philosophen und das Vertrauen in sie an der intelligiblen Wahrheit teilhaben. Die große Mehrheit allerdings ist aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung (fitra) gar nicht in der Lage, die Wahrheit zu erkennen; für diese Leute gibt es die religiösen Symbole, die ihrem Verständnis angemessen sind. Über sie alle regiert der schlechthin vollkommene Philosoph, der nicht nur über ein theoretisches Wissen verfügen muß, sondern dieses auch in der Praxis anzuwenden versteht. Trotz der betont kritischen Haltung gegenüber Fārābī in seinem Vorwort übernimmt Ibn Tufail von ihm die soeben beschriebene Konzeption weitgehend; auch bei Ibn Tufail deckt sich die in Symbolen ausgedrückte Religion der Bewohner der großen Inseln mit den Erkenntnissen Hayy ibn Yaqzāns, die in schlüssigen Beweisen gründen, während jene bloß Bilder und Umschreibungen der wahren Sachverhalte sind, welche die Bewohner gar nicht verstehen könnten, auch wenn sie es wollten. 24 iii)  Ibn Sīnā (980 – 1037)25 Anders als Kindī und Fārābī, die beide während der formativen Anfangsphase einer erst entstehenden philosophischen Tradition wirkten, stand für Ibn Sīnā (lateinisch Avicenna) bereits ein breites, von seinen Vorgängern erarbeitetes Fundament als Ausgangspunkt für seine eigenen Arbeiten bereit. Sein großes Werk Das Buch der Genesung (Kitāb aš-šifā’), eine Summe der Philosophie mit den vier umfangreichen Teilen Logik, Mathematik, Physik und Metaphysik, und sein medizinisches Lehr24  Siehe Übersetzung S.   10 und 109–113. 25  A llgemein zu Ibn Sīnā siehe: Sh. Inati 1996, L. E. Goodman

1992 und Art. Ibn Sīnā in EI² Bd.  I II , S.   941a.

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buch Der Kanon der Medizin (al-Qānūn fī at-tibb) stellen einen Höhepunkt in der Entwicklung der jeweiligen Wissenschaft im islamischen Raum dar; zu Recht erhielt Ibn Sīnā den Beinamen »der unübertroffene Meister« (aš-Šaii ar-ra’īs). Dank einer erhaltenen Autobiographie sind wir über sein Leben recht gut unterrichtet.26 Geboren in der Nähe von Bukhara erwarb er sich als hochbegabtes Kind bis zum achtzehnten Altersjahr ein umfassendes Wissen in Logik, Mathematik, Physik, Rechtswissenschaft und Medizin. Einzig die Metaphysik des Aristoteles blieb ihm, obwohl er sie vierzig Mal gelesen hatte und auswendig kannte, ein Rätsel; erst ein zufällig auf dem Markt erworbenes Buch von Fārābī mit dem Titel Über die Ziele der Metaphysik eröffnete ihm das Verständnis dieses Werks. Die erfolgreiche Behandlung des kranken sāmānidischen Sultans in Bukhara verschaffte ihm eine Stellung am Hof und damit Zugang zu einer der umfangreichsten Bibliotheken jener Zeit. Doch die politischen Umstände erlaubten ihm nicht, dort zu bleiben, und er blieb zeit seines Lebens ein Wanderer, wobei ihn sein Weg an verschiedene iranische Fürstenhöfe, unter anderem in Gurgan, Rayy, Isfahan und Hamadan führte. Er verstarb schließlich unterwegs, auf dem Weg von Isfahan nach Hamadan. a)  Die Orientalische Weisheit ( hikma mašriqiyya) : Als Auftakt für seine philosophische Erzählung dient Ibn Tufail die Frage nach der Orientalischen Weisheit, auf die Ibn Sīnā in der Einleitung seines Kitāb aš-šifā’ mit den folgenden Worten zu sprechen kommt: »Daneben habe ich auch ein anderes Buch geschrieben, in welchem ich die Philosophie so dargestellt habe, wie sie eigentlich ist; mit klaren Worten und ohne auf Fachkollegen Rücksicht zu nehmen, […] und das ist mein Buch über die orientalische Weisheit. Das vorliegende Buch hingegen 26  Der Text von Ibn Sīnās Autobiographie wurde von W. Gohlman

1974 herausgegeben und übersetzt.

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ist ausführlicher geschrieben und besser geeignet für meine peripatetischen Fachkollegen; aber wer die Wahrheit ohne Umschweife möchte, der soll jenes Buch lesen.«  27 Doch während das Kitāb aš-šifā’ vollständig erhalten ist und schon früh größere Verbreitung fand, kam das Manuskript der Orientalischen Weisheit seinem Autor vermutlich während einer Belagerung abhanden, und große Teile davon wurden zerstört. Erhalten geblieben sind einzig der Teil über Logik und Abschnitte aus der Physik; ediert ist bis heute nur die Logik. Man muß deshalb davon ausgehen, daß zur Zeit Ibn Tufails insbesondere im Westen der islamischen Welt wohl nichts über den Inhalt jenes Werkes bekannt war. Dadurch und durch die von Ibn Sīnā in Aussicht gestellte »Wahrheit ohne Umschweife« wurde das Interesse an diesem Werk natürlich nur noch größer; dank einer Bemerkung von Ibn Rušd wissen wir, daß gegen Ende des 12.   Jh. in seinem Umfeld tatsächlich über den Inhalt der Orien­ tali­schen Weisheit spekuliert wurde.28 Durch Vergleich der erhaltenen Schriften Ibn Sīnās mit den noch unedierten Manuskripten der Orientalischen Weisheit konnte D. Gutas aber überzeugend zeigen, daß der Autor in der Orientalischen Weisheit keine von den übrigen Werken abweichende esoterische Lehre vertrat, sondern den Stoff ledig­lich in einer freieren Form präsentierte und daher keine inhaltlichen, sondern nur stilistische Differenzen bestehen. Das Attribut »orientalisch« im Titel bezog sich dabei auf den östlichen Teil der islamischen Welt, also die Gegend, in der Ibn Sīnā wirkte (insbesondere Khorasan), im Gegensatz zum westlichen (okzidentalen) Baghdad, wo man, wie Ibn Sīnā ja erklärt, eine stärker peripatetisch geprägte Philosophie pflegte.29 27  Ibn Sīnā: Šifā’, Mantiq, Madial, S.   10 / engl. Übers. in: D. Gu-

tas 1988, S.   52–53. 28  Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut, S.  4 21 / engl. Übers. S.   254. 29  Vgl. dazu D. Gutas 1988, S.   115 – 130 und 2000.

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Also greift Ibn Tufail mit seiner Behauptung, herausgefunden zu haben, was Ibn Sīnā unter seiner Orientalischen Weis­ heit verstanden habe, eine damals aktuelle Diskussion auf und kann durch das Versprechen, dem Leser geheimes Wissen zu enthüllen, seinem Buch eine besondere Attraktivität verleihen. Mit dem Anspruch, in seinen Ausführungen die »esoterische Lehre« Ibn Sīnās wiederzugeben, stellt er zudem sein eigenes Werk unter die Autorität des unübertroffenen Meisters. Allerdings ist Ibn Tufail in dem, was er im Namen des großen Philosophen vorbringt, zum Teil recht »innovativ«, insbesondere hinsichtlich des Stellenwerts der Mystik. Zwar billigt auch Ibn Sīnā im vierten Teil seines Spätwerks Die Andeutungen und An­ weisungen (al-Išārāt wa-t-tanbīhāt) die Mystik als eine wahre und adäquate Form der Erkenntnis; aber er tut dies, indem er versucht, den Erkenntnisprozeß der Mystiker mit seinen eigenen philosophischen Mitteln darzustellen, und nicht dadurch, daß er dabei eine inhaltlich verschiedene Position entwickeln würde, wie dies neben Ibn Tufail auch einige moderne Forscher schon wiederholt zu zeigen versucht haben.30 b)  Gott als Notwendig-Seiendes : Ibn Sīnā knüpft in der Metaphysik an Fārābī an und übernimmt beispielsweise dessen Emanationsmodell und verfeinert es mit einigen präzisierenden Änderungen; so ist bei ihm der aktive Intellekt nicht mehr nur der dator formarum (wāhib as-suwar), von dem die intelligiblen Formen ausgehen, sondern er bringt auch die Materie der sublunaren Sphäre hervor und wird so zum Urheber der gesamten materiellen, irdischen Welt.31 Aber er geht auch über Fārābī hinaus, denn er stellt ins Zentrum seiner Ontologie – der Wissenschaft vom Seienden qua Seienden – einen äußerst einflußreichen, innovativen Ansatz: Dem geschaffenen, kontingenten (mumkin al-wufūd) Seienden stellt er das Seiende, dessen Sein 30  Vgl. Art. Avicenna: Mysticism in EIr Bd.   I II , S.   79–83. 31  Ibn Sīnā: Šifā’, Ilāhiyyāt I X 5, S.  4 13  / franz. Übers. Bd.   II, S.   1 47.

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notwendig ist (wāfib al-wufūd), gegenüber.32 Jedes erschaffene und somit verursachte Seiende ist seinem Wesen oder seiner Essenz nach (bi eātihī) bloß ein mögliches Seiendes, da sein Dasein von einem verursachenden Prinzip abhängig ist – gäbe es seine Ursache nicht, dann wäre es selbst auch nicht vorhanden. Andererseits ist es aber jetzt tatsächlich da und kann, da es ja erschaffen wurde, unmöglich nicht sein; deshalb ist es hinsichtlich seinem verursachenden Prinzip auch notwendig seiend, allerdings nur unwesentlich (bi gairihī). Das essentiell notwendige Seiende kann per se unmöglich nicht sein. Es ist demnach ewig, unerschaffen, einzig und vollkommen.33 Zudem ist es mittel- oder unmittelbar verursachendes Prinzip von allem übrigen Seienden. Während dem kontingenten Seienden die Existenz (anniyya) nur akzidentiell zukommt, ist die Existenz für das schlechthin Notwendig-Seiende – also Gott – ein essentielles Attribut, ja seine Existenz ist geradezu seine Essenz, seine Quidditas (māhiyya).34 Mit seinem Ansatz gelingt es Ibn Sīnā unter anderem, die von der griechischen Philosophie vertretene These der Ewigkeit der Welt und das Verständnis des ersten Prinzips als unbewegtem Beweger mit der Lehre der islamischen Theologie, gemäß der die Welt von Gott aus dem Nichts erschaffen wurde, zu verbinden.35 Ibn Tufail nun übernimmt den in Ibn Sīnās Metaphysik zentralen Begriff des Not32  Während Fārābī den Begriff des kontingenten Seienden (al-mum­

kin wufūduhū) bereits verwendet (Siyāsa madaniyya, S.   56  f. / dt. Übers. S.   34  f.) wird derjenige des Notwendig-Seienden zwar implizit vorausgesetzt, erscheint als Terminus technicus aber noch nicht. Der Begriff wāfib al-wufūd selbst tritt schon bei einigen Theologen und Philosophen kurz vor Ibn Sīnā gelegentlich auf (vgl. Gutas 1988, S.   261  f.), aber erst bei ihm gewinnt er diese zentrale und grundlegende Bedeutung. 33  Ibn Sīnā: Šifā’, Ilāhiyyāt I 6–7, S.   37–47 / franz. Übers. Bd.   I , S.   113 – 122. 34  Ebd. X III 4, S.   343–349 / franz. Übers. Bd.    I I , S.   85–89. 35  Vgl. dazu L. E. Goodman 1992, S.   61–83.

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wendig-Seienden und verwendet ihn in seiner eigenen Onto­ logie in weitgehender Übereinstimmung mit Ibn Sīnā. c)  Hayy ibn Yaqzān, Absāl und Salāmān : Im Gegensatz zu Fārābī, der ausschließlich »trockene« theoretische Schriften verfaßt hatte, versuchte Ibn Sīnā, seine philosophischen Gedanken auch in anderer Form auszudrücken, und zwar indem er Gedichte und allegorische Traktate verfaßte. Zum einen schrieb er Lehrgedichte, die eine zusammenfassende Darstellung seiner Ansichten in der jeweiligen Wissenschaft geben; so ein berühmtes Gedicht über die Seele  36 oder die beiden längeren Werke in Versform über Medizin und Logik.37 Zum anderen gibt es von ihm verschiedene kürzere Prosatexte mit allegorischen Erzählungen, zu denen auch der Traktat von Hayy ibn Yaqzān (Risālat Hayy ibn Yaqzān) gehört, von dem Ibn Tufail den Namen für sein eigenes Werk übernommen hat. Der Inhalt dieses schwierigen und oft rätselhaften Textes soll im folgenden kurz zusammengefaßt und gedeutet werden: 38 Der IchErzähler (die rationale Seele) begegnet, während er zusammen mit drei Begleitern (die imaginativen, appetitiven und irasziblen Vermögen der Seele) unterwegs ist, einem alten Mann von eindrücklicher Gestalt (der aktive Intellekt), der sich ihm als Hayy ibn Yaqzān (»der Lebende, Sohn des Wachenden«) vorstellt und erklärt, es obliege ihm, durch alle Gegenden zu wandern, und er habe von seinem Vater (Gott) die Schlüssel zu allen Wissenschaften erhalten. Auf die Bitte des Erzählers, 36  F. Kholeif 1974, S.   129 – 131 / engl. Übers. in A.   J. Arberry 1951,

S.   7 7–78 37  Ibn Sīnā: Poème de la Médecine und das Logik-Lehrgedicht (alQasīda al-muzdawifa fī al-mantiq). 38  Die Interpretation folgt der Arbeit von A.-M. Goichon 1959, die eine Übersetzung und einen umfangreichen Kommentar enthält; vgl. auch Art. Hayy ibn Yakzān in EI² Bd.   I II , S.   330b; zu Parallelen von Ibn Sīnās Hayy mit dem Poimandres des Corpus Hermeticum siehe P. Schaerer 2008.

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von diesen Gebieten zu berichten, warnt Hayy ibn Yaqzān zuerst vor den drei Begleitern sowie den von ihnen ausgehenden Gefahren und erklärt dann, es gebe drei Regionen: eine mittlere Zone, die uns wohlvertraut ist (die empirische Welt), und zwei unbekannte, je eine jenseits von Orient und Okzident. Die Kraft, um diese Gebiete zu bereisen, gewinnt man aus dem Wasser einer speziellen Quelle (die Logik). Die Region im Westen ist ein dunkler Ort, mit einem Meer aus Schlamm, ungeordnet und zertrümmert (der Bereich der Materie). Über unserer eigenen Region liegt eine kahle Landschaft, unterteilt in neun aufeinanderfolgende Reiche (die Himmelssphären mit ihren Planeten). Der Weg zum Orient (der Bereich der Formen) beginnt in einer Einöde, in der es nur brachen Boden, Wasserfluten, brausenden Wind und lodernde Flammen gibt (die vier Elemente). Daran schließt sich eine Zone an mit großen Flüssen, Wolken und hohen Bergen mit Erzen, Metallen und Edelsteinen; in der nächsten gibt es bereits die verschiedensten Arten von Pflanzen und Gewächsen, aber erst in der folgenden leben auch Tiere (die Gattungen und Arten von Mineralien, Flora und Fauna). Es folgt ein Land, in dem fünf von Soldaten bewachte Hauptstraßen angelegt sind, auf denen Meldungen befördert werden; alle ankommenden Nachrichten werden von Beamten entgegengenommen und verarbeitet (die Sinneswahrnehmung und die kognitiven Prozesse). Dahinter liegt eine Region mit geistigen Wesen (die Engel); der Zutritt zum letzten Bereich schließlich, dem des erhabenen Königs (Gott), ist nur ganz wenigen vergönnt. Nach dieser Schilderung endet die Erzählung mit der Einladung von Hayy ibn Yaqzān, ihm auf dem Weg zum König zu folgen. Ob Ibn Tufail mehr als nur den Namen dieser Erzählung kannte, ist nicht bekannt; inhaltlich gibt es kaum Übereinstimmungen, im Gegenteil: Während Hayy ibn Yaqzān bei Ibn Sīnā für den aktiven Intellekt steht, der als vermittelnde, transzendente Wesenheit den menschlichen Intellekt zur Erkennt-

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nis führt, so gehört bei Ibn Tufail dieser Name der menschlichen Hauptfigur, die sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie es aus sich selbst heraus in allen Wissenschaften zur Meisterschaft bringt. Nicht nur Ibn Tufail, sondern auch noch zwei weitere Autoren wurden von dieser allegorischen Erzählung inspiriert: Im Westen verfaßte der jüdische Gelehrte Abraham ibn Ezra (1089 – 1164), der sich längere Zeit in Italien aufhielt, eine recht vorlagentreue, hebräische Nachdichtung unter dem Titel Chaj ben Mekitz, die unter anderem als mögliche Vorlage für Dante Alighieris (1265 – 1321) Divina Commedia gehandelt wird;39 diese dank dem Werk Abraham ibn Ezras belegbare Rezeption des Textes im mediterranen Raum des 12. Jh. läßt die Wahrscheinlichkeit, daß Ibn Tufail das Original Ibn Sīnās ebenfalls kannte, zumindest etwas größer werden. Und im Osten schrieb der als Begründer der Illuminationsphilosophie ( hikmat al-išrāq) bekannte Perser Šihābaddīn Suhrawardī (1154 – 1191), angeregt durch Ibn Sīnās Text, den er als unbefriedigend empfand, selbst eine kurze und schwierige Allegorie, die er Erzählung vom ­okzidentalen Exil 40 (Qissat al-gurba al-garbiyya) nannte. Etwas anders verhält es sich mit den beiden Namen Absāl und Salāmān. Sie sind nicht Gegenstand einer eigenen Schrift, sondern werden von Ibn Sīnā in den Andeutungen und Anwei­ sungen, seinem Spätwerk, im zweitletzten Kapitel des vierten Bandes, in dem die »sufische« Erkenntnisweise (‘ irfān) erörtert wird, nur kurz genannt: »Für die Erkennenden gibt es Standorte (maqāmāt) und Grade (darafāt) […] Wenn dir irgend etwas zu Ohren kommen oder man dir eine Geschichte erzählen sollte von Salāmān und Absāl, so wisse, daß Salāmān ein 39  Vgl. G. Strohmaier 1981, D. Kremers 1990 und A. Hughes 2004. 40  Suhrawardī: Opera Metaphysica et Mystica Bd.   I I , S.   273–297 /

engl. Übers. S.   100 – 108. Zu Suhrawardī siehe H. Ziai 1996, U. Rudolph 2018, S. 77–85, und Art. Suhrawardī in EI² Bd.   X , S.   7 82a  ff.

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Gleichnis ist, welches für dich selbst steht, und daß Absāl ein Gleichnis ist, das für deinen Grad im Erkennen (‘ irfān) steht – vorausgesetzt, es ist dir gegeben. Nun löse die Allegorie auf, wenn du kannst.«  41 Mehr erfahren wir von Ibn Sīnā leider nicht, und schon den Kommentatoren des 12./13. Jh. bereitete die Deutung dieser Stelle Kopfzerbrechen. Von Nasīraddīn at-Tūsī 42 (1201 – 1274), der selbst ein namhafter Philosoph war, hören wir in seinem Kommentar zur Erklärung dieser Stelle zwei verschiedene Geschichten. Die erste, angeblich aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt, handelt von einem kinderlosen König, dem von seinem weisen Berater auf alchemistischem Weg zu einem Sohn verholfen wird. Dieses ohne Mutter aus einer Alraunenwurzel entstandene Kind namens Salāmān wird der Obhut Absāls, einer jungen Amme, anvertraut, und die beiden verlieben sich im Laufe der Zeit leidenschaftlich ineinander. Um vor dem König, der diese Liebe nicht billigt, zu fliehen, begeben sie sich ins Land westlich des Ozeans, doch selbst dort werden sie vom König ausfindig gemacht und müssen zurückkehren. Da es zwischen den Liebenden und dem König zu keiner Einigung kommt, beschließt das Paar, aus dem Leben zu scheiden; dabei kommt Absāl um, während Salāmān von seinem Vater gerettet wird, sich schließlich mit ihm versöhnt und danach auch sein Erbe antritt.43 – In der Deutung Tūsīs entsprechen der König und sein Sohn dem aktiven Intellekt und der rationalen Seele, während Absāl für die körperlichen Vermögen und Salāmāns Liebe zu ihr für die fleischlichen Genüsse steht. 41  Ibn Sīnā: al-Išārāt, S.  47–56 (mit dem Kommentar Tūsīs ebd.) /

engl. Übers. S.   81 / franz. Übers. S.  484  f.; daneben werden die Namen Absāl und Hayy ibn Yaqzān auch noch in einer weiteren Schrift Ibn Sīnās (Risālat al-qadr, S.   1) kurz erwähnt. 42  Zu ihm siehe Art. al-Tūsī, Nasīr al-Dīn in EI² Bd.   X , S.   746a  ff. 43  Zum möglichen Hintergrund dieser Erzählung siehe N. P. Joosse 1993 und Sh. Pines 1964.

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In der zweiten Geschichte, die Tūsī nun Ibn Sīnā selbst zuschreibt, sind Salāmān und Absāl zwei königliche Brüder. Absāl, der jüngere der beiden, wird von Salāmāns Ehefrau umworben, widersteht aber ihren Verführungskünsten; um sich ihrem Einfluß zu entziehen, bricht er mit seinem Heer auf und erobert viele Länder. Als er nach einem heftigen Gefecht schwer verletzt von seinen Leuten zurückgelassen wird, überlebt er nur dank eines wilden Tieres, das ihm seine Milch zu trinken gibt, wodurch er wieder gesund wird und nach Hause zurückkehren kann. Aber die verschmähte Frau rächt sich an Absāl, indem sie ihn vergiften läßt. Von der Trauer um seinen toten Bruder überwältigt, läßt Salāmān seine treulose Gattin hinrichten, dankt ab und zieht sich zur Zwiesprache mit Gott in die Einsamkeit zurück. – In bezug auf die Auslegung der beiden Namen deutet Tūsī hier Salāmān als Sinnbild für die rationale Seele und Absāl als den theoretischen Intellekt des Menschen, der sich über verschiedene Grade der Vollkommenheit nähert, während die Gattin wiederum für die körperlichen Vermögen und Triebe steht.44 Ob Ibn Tufail die Namen Absāl und Salāmān lediglich dank der rätselhaften Passage aus den Andeutungen und Anweisun­ gen kannte oder in irgendeiner Form doch Kenntnis vom Inhalt jener zwei Erzählungen hatte, muß vorderhand offen bleiben. Die mangelnde Übereinstimmung mit Tūsī jedenfalls scheint eher dagegen zu sprechen; allerdings sind vereinzelte parallele Motive auffallend, wie etwa die Erschaffung eines Menschen außerhalb des Mutterleibes in der ersten Erzählung oder die Rettung durch die Milch eines Wildtieres und der Rückzug in die Einsamkeit in der zweiten. Auch Absāl und Salāmān fanden später in poetischer Form Eingang in die Literatur: Dem persischen Dichter Fāmī (1414  – 44  Eine französische Übersetzung beider Geschichten gibt H. Cor-

bin 1954, S.   236–279 / engl. Übers. S.   204–241.

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1492) diente die erste Version der Geschichte als Vorbild für ein sufisches Versepos (maunawī) gleichen Namens, auf dessen Grundlage der osmanische Dichter Lāmi‘ī (1472 – 1531) schließlich noch eine türkische Fassung schuf. d)  Das Gedankenexperiment : Um die Substantialität der menschlichen Seele aufzuzeigen, bedient sich Ibn Sīnā in seiner Psychologie der folgenden Überlegung, die als »Argument vom schwebenden Menschen« bekannt ist: »Wenn du dir vorstelltest, du selbst wärest vom ersten Moment an mit tadel­ losem Intellekt und Disposition geschaffen worden, und angenommen du würdest in dieser Lage weder deine Körperteile sehen noch würden sich deine Glieder gegenseitig berühren, sondern du wärest losgelöst und augenblicklich in der freien Luft schwebend, so wäre dir nichts bewußt außer der Gewißheit deiner eigenen Existenz.«  45 Mit dem in dieser Passage entwickelten Gedankenexperiment will Ibn Sīnā zeigen, daß die Seele eine selbständige Substanz ist, die unabhängig vom Körper existiert.46 Ibn Sīnā führt damit also neben der Allegorie als Form des Philosophierens auch das Gedankenexperiment als argumentatives Instrument in die islamische Philosophie ein. Ibn Tufails eigene Erzählung von Hayy ibn Yaqzān kann so auch als Weiterentwicklung dieses Gedankenexperiments angesehen werden, das nun nicht mehr nur die substantielle Existenz der Seele und ihre Reflexion auf sich selbst zum Gegenstand hat, sondern das in seiner erweiterten Form nun auch den über verschiedene Stufen fortschreitenden Erkenntnisprozeß und Wissenserwerb beschreibt.47 45  Ibn Sīnā: Išārāt Bd.    I I , S.   344 / franz. Übers. S.   303–304; vgl.

auch Šifā’, Nafs, S.   16 und 255 / franz. Übers. S.   12  f. und 181. 46  Zu dieser Überlegung und zur Parallele zu Descartes vgl. L.   E. Goodman 1992, S.   1 49 – 163. 47  Zu dieser Parallele zw. Ibn Sīnā und Ibn Tufail vgl. L. E. Goodman 2000, S.   320.

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iv) al-Gazālī (1058 – 1111)48 Der Theologe und Rechtsgelehrte Muhammad Abū Hāmid alGazālī (lateinisch Algazel) gehört zu den bedeutendsten, aber auch schillerndsten Figuren der islamischen Geistesgeschichte; sein Einfluß reichte weit über die religiösen Wissenschaften hinaus und prägte auch die Entwicklung von Philosophie und Mystik im Islam in entscheidender Weise. Nachdem er zuerst einige Zeit in seiner Heimatstadt Tūs im iranischen Khorasan studiert hatte, begab sich Gazālī 1077 nach Nīšāpūr, um seine Ausbildung bei einem der bedeutendsten Theologen seiner Zeit, Abū al-Ma‘ālī al-Fuwainī (1028 – 1085), fortzusetzen. Einerseits zeichnete er sich durch außerordentliche Gelehrsamkeit und einen ausgeprägten Wissensdrang aus und erhielt in der Folge bereits mit dreiunddreißig Jahren einen Lehrstuhl an der berühmten Nizāmiyya-Hochschule in Baghdad. Andererseits wurde er – wie er selbst schreibt – schon früh von Selbstzweifel und Skepsis geplagt; er verlor das Vertrauen in die ererbten Glaubenssätze (‘aqā’id maurūua) und die bedingungslose, blinde Übernahme der Tradition (taqlīd). Er kam zur Einsicht, daß Muslime nur Muslime waren, weil sie von ihren Eltern dazu erzogen wurden, gleiches galt für die Juden und die Christen. Die Glaubensgrundsätze waren der natürlichen Veranlagung (fitra) der Menschen gewissermaßen bloß aufgesetzt und boten dem Erkenntnissuchenden keinerlei Gewißheit.49 Sein Ziel war aber gerade, wirklich zu wissen und zu verstehen, wie sich alles verhielt. Deshalb sah er ein, daß er zuerst über das Wissen selbst Klarheit gewinnen mußte, was 48  Zu Gazālī allgemein siehe: W.  M.  Watt 1963; E. Glassen 1981,

F. Griffel 2009 und Art. al-Ghazālī, Abū Hāmid Muhammad in EI² Bd.   I I , S.   1038b  ff. 49  Zur natürlichen Veranlagung (fitra) vgl. auch Übersetzung S.   6, Anm.   19.

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es eigentlich war. Es zeigte sich ihm, daß nur das, was für ihn selbst unbezweifelbar und fehlerfrei feststand, als absolut gewisses Wissen (‘ ilm yaqīni) gelten konnte. Er befand, daß nur das unmittelbar sinnlich Wahrgenommene ( hissiyyāt) und die notwendigerweise wahren Sätze (darūriyyāt) diese Bedingung erfüllten. Aber bald erkannte er, daß die Sinneswahrnehmung leicht zu täuschen war und manches, was den Sinnen als wahr erschien, durch den Intellekt als falsch entlarvt wurde. So blieben ihm also bloß die intelligiblen, axiomatischen Wahrheiten; doch auch sie konnten angezweifelt werden, denn hatte er nicht im Schlaf schon Dinge als unumstößliche Wahrheiten angesehen, die er später, als er wieder wach war, als falsch anerkennen mußte? Dieser ausweglose Zustand quälte ihn, wie uns Gazālī berichtet, während zwei Monaten, und erst als er mit der Hilfe Gottes von dieser Krankheit, wie er es nennt, geheilt worden war, faßte er wieder Vertrauen in die Erkenntnis des Intellekts; dies geschah jedoch nicht aufgrund eines rationalen Beweises, den der Intellekt ja selbst hätte leisten müssen, sondern dank eines göttlichen Lichts (nūr min Allāh) in seinem Innern.50 Die Schilderung dieses Erlebnisses stammt aus Gazālīs autobiographischer Schrift Der Erretter aus dem Irrtum (al-Munqie min ad-dalāl), die allerdings nicht streng chronologisch, sondern eher nach thematischen bzw. systematischen Gesichtspunkten gegliedert ist; denn Gazālī resümiert darin, wie er im Laufe seines Lebens nacheinander vier verschiedene Gruppen von Gelehrten einer Prüfung unterzogen habe, indem er untersuchte, wie sie Wissen erwarben und damit umgingen. Es handelt sich dabei um die islamischen Theologen (mutakallimūn), die Ismailiten (bātiniyya), die Philosophen (falāsifa) und die Mystiker (sūfiyya), und aufgrund seiner Untersuchungen kam er zu folgendem Urteil über jene vier Gruppen: Die Haupt50  al-Gazālī: Munqie, S.   10 – 1 4 / dt. Übers. S.   5 – 11.

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aufgabe der Theologie 51 bestand in der Wahrung des orthodoxen islamischen Glaubens und in der Auslegung der religiösen Schriften; für viele Leute waren die von dieser Wissenschaft gelieferten Erkenntnisse vollkommen ausreichend, aber ihm genügte es nicht, da ihm klar wurde, daß mit den Methoden der dialektischen Theologie die letzte Gewißheit nicht erreicht werden konnte. Ganz eindeutig war die Sache bei den Ismailiten,52 einer radikalen, schiitischen Richtung, gegen deren häretische Irrlehren Gazālī mehrere Schriften verfaßt hatte; im Zentrum der ismailitischen Lehren stand der Grundsatz, daß Wahrheit nur durch die Belehrung durch den geistlichen Führer, den Imam, zu erlangen war, während der eigenen Erkenntnis kein Wert zukam.53 Komplizierter verhält sich die Sache bei der Philosophie mit ihren Teilgebieten Mathematik, Logik, Physik, Metaphysik, Politik und Ethik. Gegenstand der Logik sind die Regeln des gültigen Schließens; an sich stehen diese Regeln nicht im Widerspruch zur Religion und enthalten auch keine Behauptungen über sie, sondern die Logik ist gewissermaßen bloß ein Instrument. Auch die mathematischen Wissenschaften (Arithmetik, Geometrie und Astronomie) billigt Gazālī im Prinzip und hält ihre Ergebnisse für gesichert und unbestreitbar. Allerdings unter gewissen Vorbehalten: Man soll nicht meinen, daß die Logik uneingeschränkt auf Glaubensfragen angewendet werden kann; ebenso verleiten die beachtlichen Resultate der mathematischen Wissenschaften dazu, der Philosophie auch auf anderen Gebieten mehr zuzutrauen, als diese tatsächlich zu leisten vermag. Nur kurz streift er Ethik und Politik, die er zu tolerieren scheint, deren Einsichten sich aber ebenso – 51  Siehe dazu Art. ‘Ilm al-Kalām in EI² Bd.   I II , S.   1141b  ff. 52  Vgl. dazu H. Halm 1988, S.   193–243. 53  Gazālī: Munqie, S.   15 – 17 und 28–34 / dt. Übers. S.   12 – 1 4 und

30–40.

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wenn nicht sogar besser – aus den Worten der Propheten und der Mystik herauslesen lassen. Problematischer wird es bei der Physik; zwar sind die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in der Regel annehmbar, doch mißfällt Gazālī, daß die Philosophen dazu neigen, in der Natur selbständige Ursachen anzunehmen, anstatt einzusehen, daß alle Wirkungen letztlich von Gott ausgehen.54 Am schärfsten allerdings kritisiert Gazālī die Philosophen im Bereich der Metaphysik. Diese folgenschwere Kritik, die in der Autobiographie nur kurz umrissen wird, entwickelt er ausführlich in seinem berühmten Buch Die Inkohärenz der Phi­ losophen (Tahāfut al-falāsifa). Während seiner Zeit in Baghdad widmete sich Gazālī neben der Lehrtätigkeit nämlich auch eingehend dem Studium der Werke Fārābīs und Ibn Sīnās, um ihre metaphysischen Lehren zu verstehen, und verfaßte als Ausgangspunkt für seine Auseinandersetzung mit ihnen eine neutrale und übersichtliche Darstellung ihrer Philosophie unter dem Titel Die Absichten der Philosophen (Maqāsid al-falāsifa).55 Nachdem er so das Ziel für seinen Angriff klar bestimmt hat, listet er in der Folge im Tahāfut zwanzig Thesen aus dem Bereich der Physik und Metaphysik auf, deren Unhaltbarkeit er aufzeigen will. Drei dieser Thesen verurteilt Gazālī als atheistisch bzw. reinen Unglauben (kufr). Darunter fallen die Behauptungen, daß die Welt nicht von Gott in der Zeit erschaffen, sondern urewig sei; zweitens, daß Gott nur ein Wissen von den Universalia (kulliyyāt) habe, während er die Partikularia (fuz’iyyāt) bloß auf allgemeine Weise kenne, und drit54  Gazālī: Munqie, S.   20–25 / dt. Übers. S.   19–25. 55  Wie akkurat Gazālīs zusammenfassende Darstellung seiner

Gegner war, zeigt sich darin, daß die lateinische Übersetzung von Teilen seines Maqāsid al-falāsifa unter dem Titel Logica et Philoso­ phia Algazelis Arabis im europäischen Mittelalter zuerst für das genuine Werk eines Philosophen in der Tradition von Fārābī und Ibn Sīnā gehalten wurde.

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tens, daß am Jüngsten Tag nur die Seelen wieder auferweckt würden, nicht aber die Körper. Bei neun weiteren Lehrsätzen der Philosophen kommt Gazālī zum Schluß, daß es sich zumindest um häretische Neuerungen (bid‘a) handle, während er die übrigen acht Fälle nicht inhaltlich kritisiert, sondern zeigt, daß die Philosophen mit ihren Mitteln der Logik und der Argumentation nicht in der Lage sind, ihre Behauptungen tatsächlich zu beweisen; seine Vorbehalte richten sich also nicht nur gegen die Inhalte, sondern mindestens ebenso sehr gegen die Methoden der Philosophie. Mit seiner fundamentalen Kritik auf hohem argumentativen Niveau stellte Gazālī die islamische Philosophie vor eine große Herausforderung; und erst gegen Ende des 12. Jh. vermochte Ibn Rušd ihm eine direkte Antwort entgegenzuhalten, indem er Die Inkohärenz der Inkohärenz (Tahāfut at-tahāfut) verfaßte und darin Gazālīs Angriffen Punkt für Punkt entgegnete. Trotz seines großen akademischen Erfolgs fiel Gazālī im Jahr 1095 nach vierjähriger Lehrtätigkeit erneut in eine Krise, welche dieses Mal über Monate anhielt und schließlich dazu führt, daß er seine Stelle aufgab und in den folgenden Jahren ein unstetes Wanderleben führte; er begab sich auf die Pilgerfahrt nach Mekka, hielt sich in verschiedenen Städten auf und widmete sich der Meditation und der mystischen (sufischen) Praxis.56 In dieser Zeit entstand sein großes Werk Die Bele­ bung der Wissenschaften der Religion (Ihyā’ ‘ulūm ad-dīn), das in vierzig Traktaten ein umfassendes Regelwerk zur islamischen Lebensweise enthält; insbesondere sufischem Gedankengut räumte Gazālī darin einen wichtigen Platz ein und integrierte dieses damit in den orthodoxen Islam.57 Im Tahāfut al-falāsifa 56  Zur islamischen Mystik (Sufik) siehe infra S.   L III–LI X . 57  Zur Mystik Gazālīs siehe sein Ihyā’ IV 1–6 / dt. Übers: Mu­

hammad al-Gazzālīs Lehre von den Stufen zur Gottesliebe; und auch Gazālī: Das Elixier der Glückseligkeit, S.   177–224.

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hatte sich Gazālī noch darauf beschränkt, die Ansichten der Philosophen zu widerlegen, ohne eine eigene Gegenposition zu formulieren. In der Mystik hatte er nun eine Erkenntnisform gefunden, die den beiden anderen Weisen des Erkennens, die ihm schon viel früher als unzureichend erschienen waren, überlegen war. Über die Hierarchie dieser drei verschiedenen Arten des Erkennens äußert er sich wie folgt: »Das Wissen (‘ ilm) steht über dem Glauben (imān), aber das Schmecken (eauq) steht über dem Wissen. Denn das Schmecken ist ein intuitives Erleben, das Wissen hingegen erschöpft sich im Syllogismus (qiyās), und der Glaube ist bloße Annahme der traditionellen Autorität (taqlīd).«  58 An einer anderen Stelle erklärt er: »Das Schmecken ist wie das Schauen oder das Ergreifen mit der Hand; es ist nur mit der Methode der Mystiker zu erlangen.«  59 Er bezeichnet also die intuitive Erkenntnis des Mystikers als Schmecken oder Geschmack;60 es ist das von ihm gesuchte unmittelbare, absolut gewisse Wissen, das er weder mit rationalem, deduktivem Schlußfolgern noch durch blindes Nachahmen der autoritativen Tradition erlangen konnte. Damit folgt er den Mystikern, die selbst auch die Erkenntnis mittels Schmecken und mystischem Zustand (eauqan wa hālan) von derjenigen durch Wissenschaft und Glaube (‘ ilman wa īmānan) unterscheiden.61 Nach der zehnjährigen Zeit des Umherwanderns übernahm Gazālī nochmals eine Stelle als Lehrer, diesmal an der Nizāmiyya-Hochschule in Nīšāpūr, die er aber bald wieder aufgab, um sich für den Rest seines Lebens in seiner Heimatstadt Tūs als Sufi-Scheich zu betätigen. 58  Gazālī: Miškāt, S.   7 8 / dt. Übers. S.  48. 59  Gazālī: Munqie, S.  45 / dt. Übers. S.   55. 60  Zur Bedeutung des Schmeckens (eauq) bei Gazālī vgl. auch

F.  Jabre 1985, S.   100 – 102 und E. L. Ormsby 1991. 61  Vgl. R. Gramlich 1976, S.   127.

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Eine große Schwierigkeit bei der Beschäftigung mit den Werken Gazālīs liegt in seiner vielfach vagen oder ambivalen­ ten Ausdrucksweise. Wie wir gesehen haben, beschränkt er sich im Tahāfut al-falāsifa darauf, die Positionen der Philosophen zu widerlegen, ohne selbst eine positive Gegenposition zu entwickeln; vielfach wurde aber schon darauf hingewiesen, daß er in manchen anderen Werken eine erstaunlich große Nähe zu den Lehren aufweist, die er im Tahāfut widerlegt. Daher muß die Frage gestellt werden, inwieweit Gazālī selbst eine konsistente, eigene Position zugeschrieben werden kann oder ob er möglicherweise mehrere, inhaltlich verschiedene Lehren vertreten hat, beispielsweise eine esoterische und eine exoterische; eine Frage, die ja auch Ibn Tufail aufwirft – und bejaht.62 Insbesondere von gegnerischer Seite wurde Gazālī vorgeworfen, er vertrete keine eigene Position; so sagt etwa sein Kontrahent Ibn Rušd: »Er folgt in seinen Büchern keiner einheitlichen Lehre, sondern mit den aš‘aritischen Theologen ist er Theologe, mit den Mystikern ist er Mystiker, und mit den Philosophen ist er Philosoph.«  63 Allerdings muß man dabei eine Unterscheidung beachten: Zum einen gibt es den Vorwurf, Gazālī habe gar keine einheitliche Lehre gehabt und bald dieses, bald jenes vertreten. Doch Gazālī selbst äußert sich genau dazu und präzisiert in einer auch von Ibn Tufail zitierten Stelle, er habe sich für gewisse Zielgruppen einfach je verschieden ausgedrückt; und dies bedingt nicht schon zwangsläufig eine dahinterliegende, wesentlich andere und esoterische Lehre. Auch die moderne Forschung neigt heute eher dazu, Gazālī eine einheitliche, konsistente Position zuzugestehen,64 die allerdings zahlreiche Parallelen mit philosophischen Positionen aufweist, 62  Siehe Übersetzung S.   11–13. 63  Ibn Rušd: Fasl al-maqāl, S.   27 f. / dt. Übers. S.   38 f. 64  Siehe dazu H. Lazarus-Yafeh 1975, S.   349–411 und H. A. David­

son 1992, S.   129 – 1 44.

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mehr als Gazālīs Kritik im Tahāfut al-falāsifa erwarten lassen könnte.65 Insbesondere die neuplatonische Färbung, die wir ja schon bei Fārābī und Ibn Sīnā angetroffen haben, ist auch bei Gazālī vorhanden. Am stärksten in seinem späten Werk Die Nische der Lichter (Miškāt al-anwār), wo Gazālī anhand des »Licht­verses« aus dem Koran (Q  24  :  35) eine Art Lichtmetaphysik entwickelt, die stark neuplatonische Züge trägt und – je nach Interpretation – sogar eine von Gott verschiedene Wesenheit als Schöpfer der Welt annimmt, die dem ersten himmlischen Intellekt bei Fārābī entsprechen würde.66 Vor dem Hintergrund der Angriffe Gazālīs erscheint Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzān in verschiedener Hinsicht als Antwort bzw. Reaktion auf die Kritik des Religionsgelehrten: Aber anders als Ibn Rušds spätere Widerlegung im Tahāfut, die Gazālīs Philosophiekritik Punkt für Punkt zu entkräften versucht, legitimiert Ibn Tufail die philosophischen Wissenschaften durch den fast wie selbstverständlich fortlaufenden, rationalen und in der gottgegebenen, natürlichen Veranlagung gründenden Erkenntnisprozeß seines idealisierten Inselbewohners, wozu allerdings gewisse heikle Schlüsselthemen – wie die Frage nach dem Ursprung der Welt – geschickt umgangen oder offen gelassen werden müssen. Gleichzeitig wird aber auch der von Gazālī vorgebrachte Anspruch der Mystik berücksichtigt, indem diese als höchste Stufe in den Wissenschaftskanon i­ntegriert wird. Zu diesem Zweck werden die beiden »Rivalen« – die schlußfolgernde Philosophie und die schauende Mystik – als sich gegenseitig bedingend und ergänzend vorgestellt: Die Philosophie mit ihrem theoretischen Erfassen (idrāk nazarī) als Erkenntnisinstanz wird als notwendige und unerläßliche Bedingung der mystischen Gottes­erkennt­nis vorausgesetzt, während die Mystik mit dem 65  Vgl. etwa R. M. Frank 1992. 66  Vgl. Übersetzung S.   13 und Anm.   52.

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ihr zugehörigen intuitiven Erfahren bzw. Schmecken (eauq) als Vollendung und eigentliches Ziel des menschlichen Wissens verstanden wird. Darüber hinaus zeigt sich der starke Einfluß Gazālīs auch an den vielen Zitaten, Anspielungen und Motiven aus dessen Werken, die in Ibn Tufails eigener Schrift Verwendung finden.67 Einen Anknüpfungspunkt an Gazālī kann man zudem in der von Ibn Tufail gewählten Form der Darstellung sehen, in welcher er einen umfassenden Wissenschaftskanon anhand der Beschreibung eines Lebenslaufes entwickelt. Denn auch Gazālī hat, wie wir oben gesehen haben, anhand seiner idealisierten und schematisierten Autobiographie versucht, die verschiedenen Wissenschaften miteinander in eine systematische und auf den Erkenntnisfortschritt bezogene Relation zu setzen. Gazālī seinerseits folgte damit schon dem Beispiel Ibn Sīnās, der in seiner detaillierten Autobiographie mit der Beschreibung seines eigenen Ausbildungsweges ebenfalls ein ideales und paradigmatisches Curriculum der Wissenschaften vorgegeben hatte.68 v)  Das islamische Spanien und Ibn Bāffa (gest.   1139) Historischer Überblick    :69 Nachdem die muslimischen Eroberer bis zum Ende des 7. Jh. den nordafrikanischen Mittelmeerraum von Ägypten bis Marokko eingenommen hatten, begannen sie im Jahre 711 mit der Eroberung Spaniens, und schon 67  Siehe dazu etwa in der Übersetzung S.   4 Anm.   8, S.   6 Anm.   19,

S.  68 Anm.   102, S.   87 Anm.   125 und S.   90 Anm.   129. 68  Eine ausführliche Interpretation von Ibn Sīnās Autobiographie (vgl. supra S.   X X X Anm.   26) und ihrer Bedeutung für das Curriculum der Wissenschaften bei Ibn Sīnā gibt D. Gutas 1988, S.   1 49 – 198. 69  Siehe dazu allgemein A. Hottinger 1995 und Art. al-Andalus in EI² Bd.   I, S.  486a  ff.

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nach wenigen Jahrzehnten hatten sie den größten Teil der Iberischen Halbinsel in ihre Gewalt gebracht. Unter der Dynastie der andalusischen Umayyaden (756 – 1031, ab 929 mit dem Anspruch auf die Kalifats-Würde) wurden die eroberten Gebiete geeint, und al-Andalus (das islamisch beherrschte Gebiet Spaniens) erlebte eine erste kulturelle Blütezeit. Nach dem Ende der Umayyaden zerfiel das Reich in zahlreiche Kleinkönigreiche, deren Herrscher sich besonders durch die Förderung von Kunst und Wissenschaft auszeichneten. Der nordafrikanischen Reformbewegung der Almoraviden (al-Murābitūn) gelang es 1086, ihre Herrschaft auf die Iberische Halbinsel auszudehnen, das zersplitterte andalusische Reich wieder zu vereinen und die fortschreitende christliche Rückeroberung Spaniens aufzuhalten. Doch schon 1147 wurden sie von den ebenfalls aus Nordafrika stammenden Almohaden (al-Muwahhidūn) gestürzt, die ihrerseits den vorrückenden christlichen Kräften nochmals ein knappes Jahrhundert standhalten konnten, bis auch sie im Jahr 1225 schließlich ihren Angreifern unterlagen. Nur ganz im Süden konnte sich das kleine Königreich Granada noch längere Zeit erfolgreich verteidigen, und die arabisch-andalusische Kultur erlebte hier eine letzte Blütezeit; mit der ­K apitulation Granadas im Jahre 1492 endete schließlich die islamische Herrschaft in Spanien. Wissenschaft und Kunst in al-Andalus  :70 Die kulturelle Entwicklung in al-Andalus war geprägt von seiner peripheren Lage im Westen der islamischen Welt. Zwei Faktoren spielten dabei eine besonders wichtige Rolle: Einerseits die kulturelle Abhängigkeit gegenüber dem Zentrum der islamischen Welt im Osten und die stete Übernahme bzw. der »Import« von Kunst und Wissenschaft nach al-Andalus; andererseits die Schaffung eines eigenen andalusischen Stils und die charakteristische Gestaltung und Weiterentwicklung des Übernommenen, bis hin 70  Siehe dazu P. Heath 2000 und J. Samsó 1992.

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zu einer eigentlichen Rivalität zwischen West und Ost um die kulturelle Vorherrschaft. Die Vermittlung von Wissen nach alAndalus war lange Zeit geprägt von der Gewohnheit, zu Ausbildungszwecken in den Osten, insbesondere nach Baghdad zu reisen und dort zu studieren; gelegentlich begaben sich aber auch berühmte Künstler (Literaten, Musiker) und Gelehrte nach al-Andalus, um ihr Fach dort zu unterrichten. Neben den religiösen Wissenschaften – darunter vor allem die islamische Rechtswissenschaft (fiqh) – wurde in der frühen Zeit fast nur Astronomie und Astrologie gepflegt. Erst ab der Mitte des 10. Jahrhunderts setzte unter ‘Abd ar-Rahmān   I II. (reg.  912 – 961) und al-Hakam   I I. (reg.  961 – 976) eine Phase mit verstärkter Rezeption der übrigen Wissenschaften ein, wobei vor allem dem Kalifen al-Hakam   I I. das Verdienst zukam, in seiner Hauptstadt Córdoba mit dem Auf bau einer bedeutenden Bibliothek begonnen zu haben. Nach und nach kamen damit die wichtigsten Werke der literarischen und wissenschaftlichen Literatur nach al-Andalus; so soll die Logik im Jahre 970 von einem gewissen Muhammad Ibn ‘Abdūn (ca.   930 – 995) bei der Rückkehr von seinem langjährigen Studienaufenthalt in Baghdad nach al-Andalus gebracht worden sein,71 und die Vermittlung der umfangreichen philosophischen Enzyklopädie der Lauteren Brüder von Basra (Iiwān as-safā’) in den Westen wird dem Mathematiker und Astronomen Maslama al-Mafritī (gest.   1007) oder seinem Schüler al-Kirmāni (gest.   1066) zugeschrieben.72 Doch anders als Literatur und Naturwissenschaft fand die Philosophie vorerst nur relativ geringe Beachtung; auf reges Interesse stieß zunächst die Logik: Der Theologe, Jurist und Literat Ibn Hazm (997 – 1064), einer der bedeutendsten andalusischen Gelehrten, oder etwa der Grammatiker und 71  Vgl. N. Rescher 1964, S.   135  f. 72  Vgl. E. García Gómez 1939, S.  462  f. und G. Sarton 1927–48 Bd.  I ,

S.   668.

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­ istoriker al-Waqqāšī (1017 – 96) verfaßten unter anderem auch H Werke über Logik.73 Mit der Zeit begannen die Gelehrten, die meist in mehreren Wissenschaften zugleich bewandert waren, vermehrt, sich für weitere philosophische Themen zu interessieren und diese in ihren Werken zu behandeln.74 Die Etablierung der Philosophie durch Ibn Bāffa  :75 Erst mit Abū Bakr Muhammad Ibn as-Sā’ig, genannt Ibn Bāffa (lateinisch Avempace), konnte die Philosophie in der Tradition Fārābīs und Ibn Sīnās in al-Andalus richtig Fuß fassen. Geboren gegen Ende des 11. Jahrhunderts in Zaragoza trat Ibn Bāffa schon früh in den Dienst der Almoraviden und bekleidete unter dem Kalifen ‘Ali Ibn Yūsuf Ibn Tāšufīn (reg.  1106 – 1143) über zwanzig Jahre lang das Amt eines Ministers, bis er im Jahre 1139 relativ früh verstarb; man vermutet, daß er einer Hof­ intrige zum Opfer fiel und von einem mit ihm rivalisierenden Arzt vergiftet wurde. Neben seiner politischen Tätigkeit befaßte sich Ibn Bāffa als Wissenschaftler mit Medizin, Musik und Dichtung; sein besonderes Interesse aber galt der Philosophie. Er war der erste bedeutende Aristoteles-Kommentator im Westen und schrieb über Logik, Physik, Psychologie und Metaphysik, kannte sich aber auch in Mathematik, Astronomie und Botanik bestens aus. Doch die politischen und gesellschaftlichen Umstände waren dem Philosophen nicht besonders günstig gestimmt; mehrmals stand Ibn Bāffa unter dem Verdacht der Ketzerei, und mehr als einmal wurde er ins Gefängnis geworfen. Die tra73  Siehe dazu Art. Ibn Hazm in EI² Bd.   I II , S.   790b  ff.; zu Waqqāšī

siehe Übersetzung S.   9 und Anm.   28. 74  So beispielsweise der Grammatiker, Lexikograph und Jurist Ibn as-Sīd al-Batalyūsī (1058 – 1127); zu ihm und dessen Beeinflussung durch Fārābī siehe A. Elamrani-Jamal 1996. 75 Zu Ibn Bāffa siehe F. Griffel 2000, S.   388–400; M. Fakhry 1970, S.   257–263 und Art. Ibn Bādjdja in EI² Bd.  I II , S.   728a  ff.

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ditionalistischen islamischen Rechtsgelehrten (fuqahā’), welche spekulative Theologie (kalām) und Philosophie (falsafa) ablehnten und oft scharf verurteilten, hatten in al-Andalus immer schon großen Einfluß, den sie unter den Almoraviden und den nachfolgenden Almohaden weiter ausbauen konnten. U ­ nter diesen Voraussetzungen wurde für Ibn Bāffa die Legitimation der Philosophie und die Frage nach ihrer Rolle in der Gesellschaft zu einem zentralen Problem, das ihn insbesondere in seinem Spätwerk Die Richtlinien des Einsiedlers (Tadbīr al-mutawahhid) beschäftigte. Während Fārābī in seiner poli­tischen Theorie im Anschluß an Platons Politeia noch davon ausgegegangen war, daß dem vollkommenen Philosophen auch die Leitung des vollkommenen Staates zukam, so ist der vollkommene Staat für Ibn Bāffa kaum noch mehr als ein un­erreich­bares Ideal; sein Interesse richtet sich vielmehr auf die Situation des Philosophen in der unvollkommenen Gesellschaft. Fārābī hatte diejenigen Mitglieder einer Gesellschaft, die eine abweichende Meinung vertraten, ungehorsam waren und der Allgemeinheit schadeten, als Unkraut  76 (nawābit) bezeichnet; für Ibn Bāffa wird nun der Philosoph selbst, der zwar über die wahren Einsichten verfügt, aber in einer unvollkommenen, fehlbaren Gesellschaft lebt, zum »Unkraut«, das sich von seiner Umgebung – nun allerdings in positivem Sinne – abhebt; und nur durch den Rückzug aus der Gesellschaft kann der Philosoph sein Ziel – die Erlangung des vollkommenen Wissens durch die Verbindung mit dem aktiven Intellekt – erreichen.77 Ibn Tufails eigenes Verhältnis zu seinem Vorgänger, den er nach eigener Aussage nie persönlich kennengelernt hatte,78 ist ambivalent. Einerseits lobt er ihn als hervorragenden Philoso76  Fārābī: Siyāsa madaniyya, S.   87 und 104  f. / dt. Übers. S.   7 1 und 89. 77  Ibn Bāffa: Tadbīr al-mutawahhid, S.  41–46 / span. Übers. S.   38–44. 78  Siehe Übersetzung S.   10.

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phen, andererseits kritisiert er ihn für seine Geringschätzung der Mystik. Im schlußendlichen Rückzug der beiden Hauptfiguren am Ende des Buches jedenfalls ist deutlich der Einfluß Ibn Bāffas am Werk. 4.  Weitere wichtige Themenbereiche Es ist aber nicht nur die rein philosophische Tradition, die für die geistesgeschichtliche Einordnung von Ibn Tufails Werk von Bedeutung ist; sondern auch eine Reihe weiterer Themenbereiche sollte dabei berücksichtigt werden, von denen vier im folgenden noch zur Sprache kommen sollen. i)  Mystik  79 Die Mystik nimmt im Islam einen besonders hohen Stellenwert ein; aus einer zu Anfang auf Askese und Weltverzicht bedachten Strömung wurde im Laufe der Zeit eine im ganzen islamischen Raum verbreitete, höchst einflußreiche Bewegung. Erstmals greifbar werden mystische Tendenzen bereits im 8.   Jh.; in der frühen Zeit begegnen uns die Mystiker als Asketen, die sich durch Skrupelhaftigkeit, Gottesfurcht, Armut und Weltverzicht auszeichneten. In Erwartung des jüngsten Gerichts riefen sie zu Reue und Umkehr auf und tadelten die zunehmende Verweltlichung der muslimischen Gesellschaft. Als Zeichen ihrer Demut und Hingabe an Gott trugen sie einfache Gewänder aus Wolle (sūf); daher lautet die arabische Bezeichnung des Mystikers auch Sufi. Schon früh zeichneten sich im Verhalten der Sufis zwei verschiedene Tendenzen ab. 79  Zur islamischen Mystik siehe A. Schimmel 1995, A. Knysh 2000

und Art. Tasawwuf  in EI² Bd.   X , S.   313b–340b.

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Einerseits zogen sie sich aus der Gesellschaft zurück, um sich in der Einsamkeit ganz dem Gottgedenken, dem Gebet und der Meditation hingeben zu können; andererseits traten sie in den Städten aber auch als Prediger und Mahner auf. Ein wichtiges Merkmal der Mystik bestand in der Verinnerlichung der Religiosität; die Gewissenserforschung (muhāsabat al-nafs) wurde zu einem wichtigen Element, und gleichzeitig rückte auch die eigene Beziehung des Menschen zu Gott in den Vordergrund. Als Inbegriff dieser Beziehung erlangte die Liebe zu Gott bei den Sufis bald eine zentrale Bedeutung, denn schon sehr früh wurde das Verhältnis zwischen Mensch und Gott mit demjenigen zwischen Liebendem und Geliebtem verglichen. Mit der Zeit entwickelte sich neben einer eher nüchternen Richtung auch eine ekstatisch-schwärmerische Form, als deren Hauptvertreter Husain Ibn Mansūr al-Hallāf (857– 922) gilt. Durch seine Dichtung wurde das Bild des Falters berühmt, der sich von der Flamme angezogen ihr immer mehr annähert und schließlich darin verbrennt. Mit dieser Metapher wird die Liebe des Mystikers zu Gott symbolisiert, deren Ziel in der Auflösung in Gott liegt. Dieses Erlebnis bezeichneten die Sufis als das Entwerden (fanā’) in Gott, das jedoch noch nicht die letzte Stufe ist, denn dem Entwerden folgt schließlich noch das Weiterbestehen (baqā’) in Gott. Vor diesem Hintergrund muß auch Hallāfs Ausruf »ana alhaqq« (Ich bin die absolute Wahrheit bzw. Ich bin Gott) verstanden werden; dieser steht in der Tradition der von den Sufis in einem Zustand der ekstatischen Entrückung gepflegten theopathischen Aussprüche (šatahāt), mit denen sie die in der Unio mystica erlebte Gegenwart Gottes auszudrücken versuchten. Diese auf den ersten Blick oftmals paradoxen šatahāt sind als Versuch anzusehen, die an sich nicht sprachlich wiederzugebende mystische Erfahrung doch irgendwie in Worte fassen zu können. In den Augen der Orthodoxie, die solche Aussagen ihrem normalen Wortsinn entsprechend verstand, war das je-

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doch nichts als Ketzerei. So wurde Hallāf denn auch ge­fangen­ genom­men und nach mehrjähriger Haft schließlich unter dem Vorwurf der Häresie zum Tode verurteilt und hingerichtet.80 Sein Martyrium prägte die islamische Mystik nachhaltig; mit dem Ziel, Außenstehenden den Einblick in die eigentlichen Inhalte der mystischen Schriften zu erschweren, wurde die schon davor einsetzende Tendenz, das Gemeinte nicht in klaren Worten, sondern in verschleierter Form festzuhalten, zunehmend stärker, und die Kunst, sich nur noch in Andeutungen (išārāt) auszudrücken, war sehr beliebt. Damit entstand eine für Nicht-Eingeweihte nur schwer verständliche Fachsprache, was bedingte, daß Neulinge, die sich einer mystischen Gruppierung anschließen wollten, zuerst eingeweiht werden mußten. Aus kleineren Zirkeln, die sich um besonders charismatische Sufischeiche gebildet hatten, entstanden so mit der Zeit richtiggehende Orden (tarīqa) und Bruderschaften, die sich in der ganzen islamischen Welt ausbreiteten. Diese Orden definierten sich über einen langen Lehrer-Schüler-Stammbaum (silsila), der jeweils bis zum Gründer des entsprechenden Ordens oder noch weiter bis zu einem der bedeutenden frühen Sufimeister zurückreichte. Mit der Konsolidierung des Ordenswesens ging auch eine Systematisierung der sufischen Lehren einher, die einzelnen Orden entwickelten ihre eigenen Charakteristika, und es entstanden Lehrbücher und biographische Sammlungen über Leben und Werk früherer Sufis. Wer Mystiker werden wollte, mußte sich für einen Meister (šaii) entscheiden und von diesem als Jünger (murīd) angenommen werden; ihm schuldete er während seiner ganzen Ausbildung absoluten Gehorsam. Zur sufischen Praxis gehörte neben der vierzig Tage dauernden Klausur auch der eikr, das Gottgedenken, bei dem man unablässig einen der Namen Gottes oder einen Koranvers lautlos 80  Zu Hallāf vgl. Übersetzung S.   4, Anm.   5.

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oder hörbar wiederholte, und der samā‘, bei dem man gemeinschaftlich Musik hörte, zu der dann oft auch getanzt wurde, wobei sich die Tänzer jeweils schneller und schneller um sich selbst zu drehen pflegten und dadurch in einen ekstatischen Zustand gerieten. Die Sufis selbst verstanden sich als Wanderer auf einem Pfad, dessen Ziel die Erfahrung der absoluten Einheit Gottes (tauhīd) war. Auf diesem Pfad durchlebte der Mystiker verschiedene Zustände und Standorte; während der mystische Zustand ( hāl) in der Regel eine von Gott verliehene, unkontrollierbare und vorübergehende Erscheinung war, so konnte ein Standort (maqām) erarbeitet werden, und man verweilte solange in ihm, bis man den nächsten erreichte. Unter Standorten verstand man meist religiöse Haltungen, Tugenden oder Eigenschaften wie Reue, Skrupelhaftigkeit, Weltverzicht, Armut, Geduld, Gottvertrauen, Zufriedenheit; die Zustände dagegen waren eher emotionale Erscheinungen oder Anwandlungen wie Liebe, Furcht, Hoffnung, Leidenschaft, Schau und Gewißheit. Allerdings ist die Auswahl und Reihenfolge der Zustände und Standorte nicht einheitlich und von Autor zu Autor verschieden.81 In welchem Maße Ibn Tufail durch die Mystik beeinflußt wurde, zeigt sich anhand zweier verschiedener Anhaltspunkte. Zum einen aus dem Text selbst, denn in seinem Vorwort erklärt der Autor, durch die an ihn gerichtete Frage nach der »orientalischen Weisheit« sei er in einen Zustand ( hal ) versetzt worden, wie er ihn noch nie zuvor erlebt habe. Daß der Ausdruck hal hier auch in seiner sufischen Bedeutung zu verstehen ist, wird gleich anschließend deutlich, wenn Ibn Tufail die ekstatischen Aussprüche dreier berühmter Sufis bemängelt und erklärt, diese Aussagen seien während eines ebensolchen 81  Vgl. dazu beispielsweise as-Sarrāf: Luma‘, S.  4 1–71 / dt. Übers.

S.   83 – 128 und Übersetzung S.   3, Anm.   3.

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Zustandes gemacht worden, doch jene Leute seien nicht genügend gebildet gewesen, um ihre Erfahrungen in die richtigen Worte zu kleiden. Weiter wird auch die bei Ibn Tufail gern erwähnte Schau (mušāhada) bei den Sufis zur Bezeichnung eines bestimmten Zustandes verwendet, und zudem hebt Ibn Tufail das schon von Gazālī besonders geschätzte Schmecken (eauq) als Erkenntnisinstanz hervor, das er gegenüber dem rational arbeitenden, theoretisch-wissenschaftlichen Erfassen (idrāk nazarī) als überlegen auszeichnet.82 In der Erzählung finden sich dann wiederum mehrere Stellen, die sehr deutlich sufisch geprägt sind. Während seiner Angleichung an die Himmelskörper beginnt Hayy ibn Yaqzān, angeregt durch deren kreisende Bewegungen, selbst allerlei Kreis- und Rotationsbewegungen zu vollführen; so umrundet er wiederholt die Insel oder einen großen Felsen, oder er dreht sich immer schneller um sich selbst, bis er die Besinnung verliert. Die Parallelen zu den sich im Tanz drehenden Sufis beim samā‘ sind offensichtlich. Ebenso tauchen bei der Beschreibung seiner mystischen Erfahrungen und Visionen die sufischen Fachbegriffe Zustand, Standort und Schau regelmäßig auf, wobei sein Zustand unter anderem mit dem der Trunkenheit verglichen wird.83 Der zweite Anhaltspunkt stammt nicht aus Ibn Tufails eige­ nem Text, sondern wurde von V.   J. Cornell in einem histo­rischbiografischen Werk von Abū Ya‘qūb Yūsuf at-Tādilī über die Sufis des Maghreb entdeckt: In der Einleitung dieses Werks erwähnt Tādilī nämlich, daß sein eigener Lehrmeister ein Schüler des großen Scheichs und hochgebildeten Rechtsgelehrten, des unvergleichlichen Abū Bakr Ibn Tufail gewesen sei.84 Darüber hinaus führt er die Lehrer-Schüler-Kette über 82  Siehe Übersetzung S.   4–7. 83  Siehe Übersetzung S.   82–85, 88. 84  Siehe V. J. Cornell 1996 und at-Tādilī: at-Tašawwuf, S.   6 / frz.

Übers. S. 35; zudem gibt Cornell auch eine ausführliche Beschrei-

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weitere Gelehrte zurück bis auf den Prediger und Mystiker Ahmad al-Gazālī  85 (gest.   1126), den jüngeren Bruder des berühmten Muhammad al-Gazālī und Autor einer berühmten persischen Schrift über die mystische Gottesliebe mit dem Titel Sawānih (Die Gedanken über die Liebe). Damit erhält die im Text feststellbare Affinität zu sufischem Gedankengut durch einen externen Berichterstatter eine zusätzliche Bedeutung. Auffallend in diesem Zusammenhang ist jedoch, daß bei Ibn Tufail gar keine Spuren dieser beim jüngeren Gazālī wichtigen mystischen Gottesliebe erscheinen und in der ganzen Erzählung auch außerhalb des sufischen Kontexts alle Elemente, die einen erotischen oder sexuellen Bezug aufweisen könnten, übergangen oder bewußt vermieden werden.86 Die Affinität von Ibn Tufails Verhältnis zur Mystik bleibt somit von einer gewissen Ambivalenz geprägt, denn er distanziert sich gleich zu Beginn seiner Schrift klar von den »ungenügend gebildeten« exstatischen Mystikern und ihren unvorsichtigen Äußerungen. Als Hayy ibn Yaqzān nach seiner Erkenntnis des Notwendig-Seienden auf den Gedanken verfällt, sein eigenes Wesen sei zusammen mit allen anderen Wesenheiten nicht verschieden vom Wesen des Notwendig-Seienden und somit ein und dasselbe wie Gott, da wird er – mit der Hilfe Gottes – vor diesem Irrtum bewahrt, weil er einsieht, daß diese Annahme auf einer Art Kategorienverwechslung beruht, da sich die Begriffe Vereinigung, Trennung, Einheit und bung der Situation und des Umfelds der Sufis im Maghrib während des 11. und 12. Jahrhunderts. 85  Zu ihm siehe A. Schimmel 1995, S.  4 17–420 und Art. al-Ghazālī, Ahmad b. Muhammad in EI² Bd.    I I , S.   1041b. 86  Vgl. dazu L. Richter-Bernburg 1996, S.   106 – 113. Dabei hatte gerade auch Ibn Sīnā im Traktat Über die Liebe (Risāla fī al-‘ išq) versucht, die Liebe als eine grundlegende, im ganzen Kosmos wirkende Kraft zu bestimmen.

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Vielheit stets auf Materielles beziehen und daher nicht auf das absolut Materielose anwendbar sind – etwas das man aber erst einsehen kann, wenn man den Erkenntnisgang mit Hayy ibn Yaqzān ganz mitgemacht hat, also die notwendige philosophische Bildung erworben und verstanden hat, was Materie, Form, Einheit und Vielheit wirklich bedeuten. Aus den genannten Gründen verwendet Ibn Tufail in seinen Beschreibungen der Unio mystica auch nie die (vor allem in den Augen der Theologen problematischen) Ausdrücke Vereinigung (ittihād) und Verbindung (ittisāl), sondern spricht – in Anlehnung an Ibn Sīnā – immer nur vom »Erreichen« (wusūl).87 ii)  Das politische und theologische Umfeld: Ibn Tūmart und die Almohaden 88 Der spätere Gründer der Almohaden-Dynastie, der Berber Ibn Tūmart (ca.   1080 – 1130), verließ seine Heimatregion Sūs im marokkanischen Anti-Atlas im Jahre 1106, begab sich zuerst für etwa ein Jahr nach Córdoba und reiste dann von dort zur Fortsetzung seiner Studien weiter ostwärts nach Alexandria und Baghdad, wo er sich etwa zehn Jahre lang aufhielt. Es wird 87  Aber auch die eigentlichen Sufis verwenden die Ausdrücke

ittihād und ittisāl selbst nicht, sondern sie sprechen von Entwerden (fanā’), Sammlung (fam‘) und Versinken (istigrāq) in Gott; vielmehr sind es vor allem ihre Interpreten und Kritiker, die für die Darstellung der sufischen Positionen zu diesen Ausdrücken greifen (vgl. dazu H.  R itter 1956, S.   575–637). Zur Verwendung und Bedeutung von ittihād bzw. ittisāl bei den philosophischen und sufischen Vorläufern Ibn Tufails siehe auch B. Radtke 1996. 88  Zu Ibn Tūmart und den Almohaden siehe Art. Ibn Tūmart in EI² Bd.  I II , S.   958b  ff. und Art. al-Muwahhidūn in EI² Bd.   V II , S.   801b  ff.; zur theologischen Doktrin der Almohaden siehe I. Goldziher 1887.

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berichtet, daß er während dieser Zeit auch Schüler Gazālīs gewesen sein soll, doch hatte Gazālī zu dieser Zeit Baghdad schon längst verlassen und war wieder in seine Heimat Khorasan zurückgekehrt. Neben seinen Studien der dialektischen Theologie (kalām) scheint Ibn Tūmart auch mit verschiedenen anderen religiösen Strömungen – Mu‘tazila, Schia – Bekanntschaft gemacht zu haben, woraus er dann seine eigene, charakteristische Lehre entwickelte. Als er um 1117 wieder Richtung Westen aufbrach, begann er auf seinem Weg durch Nordafrika dort, wo er vorbei kam, zu predigen und seine Ideen zu verkünden, womit er jeweils schnell das Mißfallen der lokalen Behörden erregte und von diesen dann auch stets umgehend ausgewiesen wurde. Während dieser Reise begegnete er in der Nähe des algerischen Bougie zum ersten Mal seinem wichtigsten Schüler und Vertrauten ‘Abd al-Mu’min, der später sein Nachfolger und erster Kalif der Almohaden (reg.  1133 – 1163) werden sollte. Zurück in seiner Heimatregion Sūs gelang es dem charismatischen Ibn Tūmart, die mit dem Regime der Almoraviden unzufriedenen Berberstämme um sich zu scharen, und avancierte zum weltlichen und religiösen Führer, so daß er sich 1121 zum Mahdī (dem von Gott auserwählten und unfehlbaren Führer der Muslime) ernennen konnte. Nach seinem Tod übernahm ‘Abd al-Mu’min dessen Funktion, und schließlich gelang es der almohadischen Bewegung im Jahre 1147, die almoravidische Hauptstadt Marrakesch zu erobern und in der Folge auch die Herrschaft über al-Andalus zu erlangen. Im Zentrum der Lehre Ibn Tūmarts stand das Bekenntnis der absoluten Einheit Gottes (tauhīd), woraus sich auch der Name seiner Anhänger, der Almohaden (al-muwahhidūn = die, welche die Einheit Gottes bekennen) ableitete. Er selbst befürwortete die freie, allegorische Auslegung (ta’wīl) der religiösen Schriften und verurteilte vehement die Almoraviden und die unter ihrer Herrschaft besonders einflußreichen Rechtsgelehrten für ihr anthropomorphistisches Gottesverständnis (tafsīm)

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und den von ihnen gepflegten blinden Gehorsam gegenüber den traditionellen Autoritäten (taqlīd). Schon W.  M. Watt  89 sah eine Parallele zwischen den theologischen Vorstellungen Ibn Tūmarts und der Figur des Absāl, der ja ebenfalls als Anhänger der allegorischen Interpretation beschrieben wird, da er sich mehr für den verborgenen, inneren Sinn (bātin) der religiösen Texte und die geistigen Bedeutungen interessiert, während Hayy ibn Yaqzān nach W.  M. Watt die reine Philosophie repräsentiert; die Figur Salāmāns, der sich mit dem äußeren Wortsinn (zāhir) begnügt und eine freie Interpretation ablehnt, steht dagegen für die traditionsgebundenen Rechtsgelehrten mit ihrem simplen, anthropomorphistischen Gottesverständnis. Andererseits wies nun D. Urvoy90. in einem einige Jahre später erschienenen Aufsatz darauf hin, daß insbesondere auch Hayy ibn Yaqzān selbst mehrere zentrale Elemente der almohadischen Lehre vertritt, denn auch für Hayy ist die absolute Einheit und Einzigkeit Gottes von grundlegender Bedeutung in seinen theologischen Betrachtungen, genauso wie die Unkörperlichkeit Gottes und seine Transzendenz. iii)  Medizin und Naturwissenschaft Siebenjahreszyklen  : In Ibn Tufails Roman begegnen uns auch mehrere Elemente, die auf einen medizinischen oder naturwissenschaftlichen Hintergrund verweisen. Dazu gehört unter anderem die Unterteilung von Hayy ibn Yaqzāns Entwicklung in Abschnitte zu je sieben (oder auch vierzehn) Jahren. Eine solche heptomadische (siebenzahlige) Einteilung, die bereits in einer Elegie 91 des athenischen Staatsmannes und Gesetz­gebers 89  W. M. Watt 1964, S.  48  f. 90  D. Urvoy 1974, S.   39–44. 91  D. E. Gerber 1999, S.   1 48 – 151.

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Solōn (ca. 630  – ca. 560 v. Chr.) zur paradigmatischen Gliederung eines menschlichen Lebens diente, fand in der Antike breite Verwendung in der medizinischen Literatur, aber auch in der Astrologie.92 Mit der Übersetzung der griechischen Werke ins Arabische gelangte dieses Ordnungsprinzip dann in den Islam, etwa mit der arabischen Übersetzung des pseudo-galenischen Kommentars zu Hippokrates’ Schrift De Septimanis (Περὶ ἑβδομάδων).93 In der Philosophie hören wir von den Stoikern, daß sich die Vernunft bzw. die Sprache (λόγος, ratio) des Menschen bis im Alter von sieben Jahren vervollständigt, während er mit vierzehn Jahren seine körperliche Reife erreicht und fähig ist, gute und schlechte Handlungen zu beurteilen.94 Damit verwandt, wenn auch anders ausgestaltet, ist die ansatzweise Einteilung der menschlichen Entwicklung in Siebenjahres-Schritte in Gazālīs Munqie, wo es heißt, daß »für den Menschen in einem ersten Lebensabschnitt die Vermögen der Sinneswahrnehmung geschaffen werden. […] Danach wird das Unterscheidungsvermögen geschaffen, wenn er etwa sieben Jahre alt ist; damit ist er in einem neuen Lebensabschnitt, in dem er über das sinnlich Wahrnehmbare hinaus Dinge erfaßt, die in der Welt der Sinneswahrnehmung nicht vorhanden sind. Danach tritt er in einen neuen Abschnitt, und ihm wird der Intellekt geschaffen, so daß er die ­notwendigen, möglichen und unmöglichen Dinge erfassen kann und ande92  Zur Medizin siehe L. Richter-Bernburg 1996, S.   109 – 113, dort

auch Anm.   69–71 mit zahlreichen Literaturhinweisen zum Thema. Zur Astronomie siehe A. Bouché-Leclercq 1899, S.   500–511. 93  Vgl. die arabische Edition mit deutscher Übersetzung von G.  Bergsträsser 1914. 94  K . Hülser 1987 Bd.  I , S.   286–291 (Nr.  277), Bd.  I I , S.   536–539 (Nr.  492A); zur arabischen Rezeption siehe H.   Daiber 1980, S.   199 bzw. seinen Kommentar S.  470; sowie K. Versteegh 1977, S. 37.

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res mehr, das im vorhergehenden Abschnitt noch nicht vorhanden war.«  95 Ibn Tufail seinerseits hält sein hebdomadisches Strukturprinzip über fünf Lebensabschnitte durch, allerdings nicht ganz konsequent, denn der zweite und fünfte Lebensabschnitt umfassen je vierzehn Jahre und werden damit in ihrer Wichtigkeit leicht hervorgehoben, während der letzte Abschnitt, in dem Hayy die höchste Stufe seines Wegs erreicht, sich bis zum fünfzigsten Altersjahr erstreckt, womit am Schluß die systematische Einteilung schließlich durchbrochen wird. Ibn Tufail zwischen Aristoteles, Galen und Gazālī  : Mit seinen unzähligen Schriften über die verschiedensten Gebiete der Medizin war der aus Pergamon stammende Arzt Galēnos (129 – 199) im Laufe der Zeit zur einer der einflußreichsten medizinischen Autoritäten in der spätantiken Welt geworden, und durch die arabischen Übersetzungen seiner Werke prägte er auch die Entwicklung der Medizin im Islam nachhaltig. Von großer Bedeutung waren seine wegweisenden Entdeckungen im Bereich der Anatomie und Physiologie sowie die durch ihn geleistete Systematisierung und Kodifizierung der medizinischen Wissenschaften. Dabei entfernte er sich allerdings beträchtlich von den durch Aristoteles festgelegten Grundlagen der Biologie. Eine der Hauptdifferenzen lag in der Bestimmung der primären Lebensfunktionen: Galen verteilte den Ursprung der verschiedenen biologischen Vermögen auf das Gehirn (sensible und kognitive Vermögen), das Herz (emotionale und motorische Vermögen), die Leber (Ernährung und Wachstum) und die Geschlechtsorgane (Fortpflanzung); bei Aristoteles dagegen entsprangen alle diese Vermögen letztlich aus dem Herz, während etwa dem Gehirn lediglich eine kühlende Funktion zukam. Konfrontiert mit diesem Konflikt zwi95  Gazālī: Munqie S.  4 1 / dt. Übers. S.  49.

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schen den Autoritäten versuchte der sowohl in Philosophie als auch in Medizin bewanderte Ibn Sīnā dann meist, den autori­ tati­ven Vorrang des Philosophen Aristoteles zu stützen, aber wo nötig die problematischen Stellen im Sinne des Mediziners Galen umzudeuten oder einen Kompromißvorschlag zu formulieren.96 In der Anatomie, wie sie uns Ibn Tufail anläßlich der gene­ ratio spontanea Hayys und seinen anatomischen Untersuchungen schildert, hat nun auch das Herz die Herrschaft über das Gehirn und die Leber; der Vorrang des Herzes geht sogar soweit, daß Hayy bei der Frage nach der Wichtigkeit des Herzes glaubt, nebst allen anderen Körperteilen selbst auf den Kopf verzichten zu können, unmöglich aber auf das Herz.97 Damit gibt Ibn Tufail klar der älteren, von Aristoteles vertretenen Auffassung den Vorzug und wendet sich gegen die fachlich besser fundierte galenische Position; gleichzeitig scheint er dabei aber auch Gazālī verpflichtet, bei dem ebenso das »Herz« als eigentliche Erkenntnis-Instanz hervorhoben wird.98 iv)  Das Inselmotiv in der Literatur und der Theologie Bereits in der antiken Literatur begegnen wir dem Insel-Motiv, beispielsweise der sagenumwobenen Insel Atlantis bei Platon (427 – 347 v. Chr.), oder wir hören beim Historiker Diodorus Siculus (1. Jh. v.  Chr.) den Reisebericht eines gewissen Iambulos, der auf einem kleinen Schiff im indischen Ozean ausgesetzt und ans Ufer einer am Äquator gelegenen Insel getrieben wird. Die Bewohner dieser wundersamen Insel, auf der stets ein an96  Vgl. Art. Avicenna: Medicine in EIr Bd III , S.   94–99. 97  Übersetzung S.   30 – 32 und 35  f. 98  Vgl. L. Richter-Bernburg 1996, S.   90 – 106 sowie Übersetzung

S.  68, Anm.   102 und S.   87, Anm.   125.

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genehmes und ausgeglichenes Klima herrscht, leben in einer vollkommenen Gesellschaft, in der jeder dem andern gleichgestellt ist. Sie pflegen die Wissenschaften, insbesondere die Astronomie, verehren die Sonne und die übrigen Himmelskörper und üben sich, obwohl ihnen reichlich Nahrungsmittel zur Verfügung stehen, beim Essen in Zurückhaltung und meiden – unter Einhaltung genau festgelegter Ernährungsregeln – übermäßigen Genuß. Nach einem siebenjährigen Aufenthalt bei ihnen kehrt Iambulos schließlich wieder in seine Heimat zurück.99 Erzählungen mit Motiven, wie sie uns aus Ibn Tufails Roman vertraut sind, waren also schon in der Antike verbreitet. Aber während Ibn Tufail die Iambulos-Geschichte kaum gekannt haben dürfte, liegt die Sache in einem zweiten Fall anders. Denn der spanische Arabist E. García Gómez entdeckte 1922 im Escorial in Madrid eine arabische Handschrift mit einer Geschichte aus dem Alexander-Roman. In diesem Text landet der Eroberer Alexander der Große während einer Seefahrt auf einer unbewohnten Insel am Äquator, wo er eine Inschrift findet. Diese berichtet von einem Menschen, der, nachdem er als Säugling von seiner Mutter in einem Kistchen im Meer ausgesetzt worden war, auf dieser Insel von einer Gazelle aufgezogen wurde; als Heranwachsender stellte dieser Junge dann allerlei Betrachtungen über die Beschaffenheit der Welt an, bis er als Erwachsener schließlich gerettet und zu seiner Familie, die auf der Nachbarinsel wohnte, zurückgebracht wurde. Dieser offenbar schon vor Ibn Tufail populäre Stoff war also, wie wir dank der im Escorial gefundenen Version wissen, auch im arabischen Spanien bekannt und E. García Gómez konnte durch den Nachweis mehrerer bemerkenswerter Parallelen zwi99  Platon Tim.   25  a; Diodorus Siculus, Bibliotheca historica Bd.  I 2,

55–60 / dt. Übers. S.   72–78.

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schen beiden Texten aufzeigen, daß Ibn Tufail diese oder eine ähnliche Geschichte gekannt haben dürfte.100 In einer philosophiehistorisch relevanten Verwendung erscheint das Insel-Motiv aber auch wiederholt bei den islamischen Theologen, und zwar im Zusammenhang mit der Frage nach der Leistungsfähigkeit des menschlichen Verstandes und der Erkennbarkeit Gottes, wobei die Theologen freilich zu anderen Schlußfolgerungen gelangen als Ibn Tufail. So behandelt der Theologe Abū al-Ma‘āli al- Fuwainī (1028 – 1085), der Lehrer Gazālīs, die Frage, ob der Mensch von sich aus zur Erkenntnis Gottes und der von ihm geschaffenen Satzung (šarī‘a) gelangen könne, am Beispiel eines auf einer Insel lebenden Volkes und kommt zum Schluß, daß diese Menschen, selbst wenn sie Kunde erhalten vom wahren Glauben an den einen Gott und von seinem Propheten und sich dann bekehren, einzig und allein mit Hilfe ihres Intellekts doch nicht in der Lage sind, das, was ihnen von Gott auferlegt wurde, zu erfassen und noch viel weniger zu einer Erkenntnis von Gott selbst zu gelangen. Auch bei anderen Autoren gibt es Überlegungen dieser Art, einige sprechen dabei von einer einsamen Person in der Wüste oder von einem Menschen, der mit einem Schlag mit tadel­ losem Verstand geschaffen wurde, ohne jedoch in Kontakt mit anderen Leuten gekommen oder von jemandem belehrt worden zu sein (ein Gedankenexperiment, das uns oben in einer ähnlichen Form auch schon bei Ibn Sīnā begegnet ist).101

100  Siehe E. García Gómez 1926. 101  Zu Fuwainī siehe T. Nagel 1988, S.   339 und 256  f. Für weitere

Stellen des gleichen Motivs oder Varianten dazu siehe J. van Ess 1991– 97 Bd.   I V, S.   669  f.; allgem. zum Thema »Autodidakt« in der islam. Philosophie siehe N. Germann 2016¹.

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5.  Gegenstand, Adressat und Zweck des Werkes Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, daß in der Risālat Hayy ibn Yaqzān viele verschiedene Probleme und Themenkreise zur Sprache kommen. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit und des allegorischen Charakters der Erzählung stellten sich Leser und Interpreten immer wieder die Frage, worum es denn in diesem Werk überhaupt geht. In seiner Studie von 1909 stellt L. Gauthier die wichtigsten Meinungen zusammen: Im 13. Jh. wurde das Buch als eine naturphilosophische Abhandlung über die Entstehung der menschlichen Spezies verstanden; im 17. und 18. Jh. galt es als eine Beschreibung des Aufstiegs der nur auf sich selbst gestellten menschlichen ratio zu den höchsten Erkenntnissen, und im 19. Jh. sah man darin eine mit dem Neuplatonismus verwandte Form der Mystik, die in der Ver­eini­ gung mit Gott gipfelt. Diesen Deutungen widersprach nun L.   Gauthier und hob die im letzten Teil der Geschichte thematisierte Übereinstimmung zwischen Religion und Philosophie als eigentlichen Gegenstand (l’objet essentiel) des Buches hervor, gestützt auf die Begründung, die Absāl / Salāmān-Episode bilde den eigentlichen Höhepunkt des ganzen Werkes.102 Gegen L. Gauthier argumentierte dann wiederum G.  F. Hourani und ortete das Hauptthema (the principal subject) im längeren, rational argumentierenden Mittelteil.103 Allen diesen Deutungen gemeinsam ist, daß sie einen einzelnen Teil des Werkes herausgreifen und in diesem dann ein bestimmtes Hauptthema erkennen wollen. Im Gegensatz dazu soll hier kurz versucht werden, den Traktat von Hayy ibn Yaqzān als ganzes zu betrachten, wobei nicht die Suche nach einem Hauptthema leitend sein soll, sondern die Frage, an wen sich die Schrift richten könnte und mit welchem Zweck. 102  L. Gauthier 1909¹,  S.   63–66. 103  G. F. Hourani 1956.

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Mit seiner sukzessiv aufbauenden, auf Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit bedachten Darstellung, für deren Vereinfachungen im Schlußwort entschuldigend um Nachsicht gebeten wird, richtet sich das Werk kaum an Fachphilosophen; vielmehr entsteht der Eindruck einer Lehr- oder Einführungsschrift für ein Publikum ohne nennenswerte philosophische Vorkenntnisse. Mit verschiedenen Elementen wird im Text zudem versucht, dem »trockenen« philosophischen Inhalt eine besondere Attraktivität und Spannung zu verleihen, etwa mit der ansprechenden und zum Teil liebevoll ausgestalteten literarischen Rahmenerzählung oder auch mit der im Vorwort in Aussicht gestellten Antwort auf die Frage, was es mit Ibn Sīnās rätselhafter »orientalischen Weisheit« auf sich habe. Weiter finden sich im Text wie beiläufig eingestreut immer wieder lehrbuchartige Definitionen philosophischer Fachbegriffe.104. Dagegen werden Ausdrücke und Anspielungen, die eine eindeutig sufische Konnotation haben, nicht ausdrücklich erklärt und offensichtlich als bekannt vorausgesetzt.105 Wir können daher annehmen, daß sich das Werk an ein Publikum richtet, das bereits in einem gewissen Maße mit der Sufik vertraut ist. Mit dem oben erwähnten biographisch bezeugten Bezug Ibn Tufails zu sufischen Kreisen scheint daher die folgende Hypothese gerechtfertigt: Beim Traktat von Hayy ibn Yaqzān handelt es sich um eine Art Einführung in die islamische Philosophie für ein sufisch geprägtes Publikum mit einem Interesse an philosophischen Fragestellungen. Inhaltlich läßt sich diese sufisch-philosophische Lehrschrift unterteilen in das Vorwort des Autors, das eine – wenn auch 104  Solche Definitionen finden sich im Text unter anderem für die

Termini Ernährung und Wachstum (Übersetzung S.   51), Vorstellung (S.  62), Töne (S.  67), Vergehen (S.  69), aktuell und potentiell (S.  69). 105  Dazu gehören Zustand (Übersetzung S.  3), Geschmack (S.   5), Entwerden (S.   79) und Standort (S.   88).

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knappe, unvollständige und streckenweise sehr tendenziöse, so doch im ganzen nicht unzutreffende – historische Darstellung der islamischen Philosophie bietet (Kap.  i), und in den erzählenden Hauptteil, der sozusagen eine Einführung in systemati­ scher Hinsicht enthält (Kap.   i i–viii); die wichtigsten Themen dieses systematischen Teils und die entsprechenden Bezugspunkte bei Fārābī, Ibn Sīnā, Ibn Baffa und Gazālī wurden im Verlauf dieser Einleitung ja bereits erörtert. Als zentrales Anliegen von Ibn Tufails Traktat erscheint die Legitimation der philosophischen Wissenschaften als wahre und rationale Form der Erkenntnis, im Sinne einer Antwort auf die Angriffe von Seiten Gazālīs und der b ­ uchstabentreuen Rechtsgelehrten, welche die philosophische Methodik bzw. deren Vereinbarkeit mit der Orthodoxie in Frage stellten. Entgegnet wird dieser Kritik im argumentativen Hauptteil (Kap.  i ii–vi), wo die rationale, der natürlichen Veranlagung des Menschen angemessene Struktur des philosophischen Wissenschaftskanons aufgezeigt wird, aber auch in der Absāl / Sa­lā­­mān-Epi­sode (Kap.  viii), indem gezeigt wird, daß philosophische Erkenntnis sehr wohl mit den richtig verstandenen Inhalten der Offenbarungsreligion übereinstimmt, viel besser und wahrheitsgetreuer sogar als die bloß symbolhafte Religion der breiten Masse. Gleichzeitig wird aber auch die von Gazālī vollzogene Wendung hin zur Mystik berücksichtigt (Kap.   i und vii), indem das »Schmecken« (eauq), die unmittelbare, intui­tive Erfahrung als Erkenntnisinstanz etabliert und dem theoretischen Erfassen (idrāk nazarī) gleichgestellt, ja übergeordnet wird. Beide Wege bzw. Methoden (tarīq), die Philosophie wie die Sufik, werden dabei miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig. Für diese Einbindung der Sufik in die Philosophie (die man als den mystic turn Ibn Tufails bezeichnen könnte) wird schließlich auch die Autorität Ibn Sīnās in Anspruch genommen, indem ihm unter dem Titel der »orientalischen Weisheit« eine esoterisch-sufische Lehre unter­geschoben wird.

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In diesem Sinne wird man Ibn Tufail verstehen dürfen, wenn er gegen Ende seines Vorwortes sagt: »Die Wahrheit, bis zu der wir vorgestoßen sind und die unseren Anteil an der Wissenschaft darstellt, hat sich uns letztlich nur dadurch eröffnet, daß wir den Worten Gazālīs und Ibn Sīnās gefolgt sind und anschließend die Vorzüge des einen wie des andern gegeneinander abgewogen haben; das Ergebnis haben wir dann mit den Meinungen, die zu unserer Zeit aufgekommen und von den Leuten, die sich mit Philosophie beschäftigen, eifrig vertreten worden sind, kombiniert, so daß für uns zum Schluß die Wahrheit untrüglich feststand.«  106 6.  Rezeption und Wirkungsgeschichte Obwohl es Ibn Tufail war, der Ibn Rušd dem Kalifen Abū Ya‘qūb Yūsuf vorgestellt hatte, wissen wir über das Verhältnis zwischen diesen beiden Philosophen kaum etwas. Zwei Äußerungen 107 im Vorwort Ibn Tufails können zwar als Andeutungen über Ibn Rušd ausgelegt werden, doch es gibt keinen Hinweis auf eine Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen den beiden ; in den Werken Ibn Rušds andererseits wird Ibn Tufail zwar an drei Stellen genannt, aber nicht im Zusammenhang mit philosophischen Fragestellungen,108 und der Hayy ibn Yaqzān wird von Ibn Rušd nie erwähnt. Thematisch allerdings finden wir sehr wohl Parallelen, denn auch Ibn Rušd hat sich zum Verhältnis zwischen Philosophie und Religion geäußert: So legte er in 106  Siehe Übersetzung S.   13; allgem. zu Ibn Tufails Philosophie­

begriff siehe auch N. Germann 2008. 107  Siehe Übersetzung S.   10 (»unsere Zeitgenossen«) und S.   13 (Kritik an Gazālī). 108  Sondern Ibn Rušd erwähnt Ibn Tufail lediglich im Rahmen medizinischer, astronomischer oder geographischer Erörterungen; vgl. L. Gauthier 1936, S.   122 – 126 und Übersetzung S.   18, Anm.   60.

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der kleinen, in der Form eines islamischen Rechtsgutachtens (fatwa) gehaltenen Schrift Die entscheidende Abhandlung (Fasl al-maqāl) dar, daß zwischen der religiösen Satzung des Islams (šarī‘a) und den Erkenntnissen der Philosophie keinerlei Widersprüche bestehen, ja daß die religiöse Satzung sogar zur philosophischen Tätigkeit verpflichtet, womit sich Ibn Rušd gegen die immer stärker werdenden Angriffe der islamischen Rechtsgelehrten auf die Philosophie zu verteidigen versucht.109 Vom Astronomen Nūraddīn al-Bitrūfī (gest. um 1200) hingegen wissen wir, daß er ein Schüler Ibn Tufails war. Denn in seinem astronomischen Hauptwerk berichtet er, wie Ibn Tufail ihm erzählte, daß er eine völlig neue Methode gefunden habe, um die Bewegungen der Himmelskörper ohne die Annahme von exzentrischen und epizyklischen Sphären zu erklären, und darüber auch ein Buch schreiben wolle;110 doch wie dieser neue Ansatz Ibn Tufails genau aussah, erfahren wir leider nicht. Wir kennen nur Bitrūfis eigene astronomische Theorie: Zusammen mit Ibn Rušd gehörte er zu einer Gruppe von andalusischen Gelehrten, die im 12. Jahrhundert die Gültigkeit der astronomischen Prinzipien, wie sie von Ptolemaios (2. Jh. n.  Chr.) im Almagest vorgegeben worden waren, in Frage stellten. Sie versuchten mit Rückgriff auf Aristoteles, Widersprüche und Probleme wie etwa die Annahme exzentrischer Sphären (Epi­ zykeln), die sich aus den ptolemäischen Gesetzen ergaben, zu umgehen. Bitrūfīs eigene astronomische Theorie arbeitete daher ausschließlich mit konzentrischen Sphären und versuchte, die Bahnen der Himmelskörper mittels spiralförmiger Bewegungen zu beschreiben.111 109  Zur Übereinstimmung zwischen religiöser Überlieferung

(manqūl) und intellektueller Erkenntnis (ma‘qūl) bei Ibn Tufail siehe Übersetzung S.   106 und Anm.   139. 110  B. R. Goldstein 1971 Bd.   I, S.   61. 111  Vgl. A. I. Sabra 1984 und L. Gauthier 1909 2 .

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Daß das geistige Klima in al-Andalus keineswegs so tolerant und offen für religiöse oder philosophische ­Diskussionen war, wie man aus dem eingangs erwähnten Gespräch zwischen Ibn Rušd und dem gebildeten Kalifen Abū Ya‘qūb vielleicht schließen könnte, zeigt insbesondere die Situation der andalusischen Juden, die während der Herrschaft der ­A lmohaden in großer Zahl Spanien verlassen mußten. Zu diesen gehörte auch der in Córdoba geborene Philosoph Moses ben ­Maimon (1138 – 1204), genannt Maimonides, der im Jahre 1148 seine Heimat verließ und sich ab 1166 in Kairo aufhielt. Ob und inwiefern Maimonides von Ibn Tufail beeinflußt wurde, ist umstritten;112 jedenfalls erwähnt er in seinem Hauptwerk Der Führer der Un­ schlüssigen (Dalālat al-hā’irīn) zwar den Namen Ibn Bāffas, denjenigen Ibn Tufails hingegen nicht. Aber er verwendet das Insel-Motiv in einem Gedankenexperiment, um die Frage nach der Ewigkeit der Welt zu untersuchen: Auf einer abgelegenen Insel wird ein Knabe von vollkommener natürlicher Ver­ anla­g ung (kāmil al-fitra), nachdem seine Mutter bald nach der Geburt stirbt, von seinem Vater aufgezogen. Wenn der Knabe größer wird, so wird er nach seinem Ursprung fragen; aber da er nie ein weibliches Wesen gesehen hat, wird er die Erklärung, er sei im Bauch einer Frau herangewachsen und von ihr auf die Welt gebracht worden, für unmöglich und falsch halten.113 Mit diesem Gleichnis will Maimonides zeigen, daß vom aktuellen Zustand eines Gegenstandes nicht unter allen Umständen auf seinen vorherigen Zustand geschlossen werden kann; genauso wenig kann daher aus dem gegenwärtigen 112  So geht M. Hayoun von einer starken Beeinflussung aus

(M.   Ha­youn 1994, S.   126  f. und 178 – 188 / dt. Übers. S.   103 und 145 – 153), während Sh. Pines dagegen einen Einfluß für kaum wahrscheinlich hält (Sh. Pines 1963, S.   c viii). 113  Moses Maimonides: Dalālat al-hā’irīn II 17, S.   131  f. / dt. Übers. Bd.   I I , S.   111  f.  / engl. Übers. S.   295.

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Zustand der Welt etwas über ihr früheres Sein oder Nichtsein abgeleitet werden. Mit Thomas von Aquin (1224 – 1274), der diese Stelle von Maimonides übernahm, fand dieses Gleichnis dann auch Eingang in die Philosophie des europäischen Mittelalters.114 Innerhalb der islamischen Philosophie stieß das Werk Ibn Tufails kaum auf Resonanz, zumal die Philosophie in al-Andalus nach Ibn Rušd kaum noch gepflegt wurde; und selbst das umfangreiche Kommentarwerk des Ibn Rušd fand im islamischen Raum – anders als in Europa – wenig Beachtung.115. Allerdings scheint unser Roman doch ein gewisses Interesse gefunden zu haben, wie die erhaltenen Handschriften belegen, in denen Hayy ibn Yaqzān – zum Teil zusammen im anderen philosophischen Texten – überliefert wird.116 Auch in der islamischen Mystik scheint Ibn Tufails Schrift keine größeren Spuren hinterlassen zu haben. Ein Grund dafür dürfte sein, daß die Sufik kurz nach Ibn Tufail von anderer Seite in entscheidender Weise beeinflußt wurde. Diesbezüglich in erster Linie zu nennen – vielleicht neben dem schon oben erwähnten Suhrawardī – ist der aus Murcia stammende Mystiker Muhyiddīn Ibn al-‘Arabī  117 (1165 – 1240), in dessen reichhaltigem Œuvre insbesondere auch philosophische und theologische Fragestellungen einen wichtigen Raum einnehmen. Durch den wegweisenden Einfluß Ibn al-‘Arabīs, dem man den Beinamen der »Größte Meister« (aš-šaii al-akbar) gab und der zu Recht als eine der bedeutendsten Figuren der is114  Thomas v. Aquin: De symbolo apostolorum, S.   355 / engl. Übers.

S.   12.

115  Vgl. O. Leaman 1988, S.   163  ff. 116  Man kennt heute etwa ein knappes Dutzend Manuskripte, un-

ter anderem in Madrid, Algier, Kairo, Damaskus und Istanbul; siehe L. I. Conrad 1996 4 , S.   268–271 und R.  C. Taylor 1982. 117  Zu Ibn al-‘Arabī siehe W. H. Chittik 1996; A. Giese 2002 und Art. Ibn al-‘Arabī in EI² Bd.    I II , S.   707b  ff.

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lamischen Mystik angesehen wird, scheint Ibn Tufails eigener Versuch, eine Verbindung zwischen Philosophie und Mystik zu initiieren, überschattet worden zu sein. Eine besonders ungewöhnliche Art der Rezeption von Ibn Tufails Werk finden wir hingegen bei dem vielseitigen Gelehrten ‘Alā’addīn Ibn an-Nafīs 118 (gest.   1288). Der vor allem für seine medizinischen Schriften und die erste Beschreibung des doppelten Blutkreislaufes berühmte Ibn an-Nafīs, der sich daneben aber auch mit Logik, Grammatik und religiösen Wissenschaften befaßte, ist der Autor einer kleinen Schrift mit dem Titel Der Traktat des Kāmil über die Lebensgeschichte des Propheten  119 (ar-Risāla al-kāmiliyya fī as-sīra an-nabawiyya, auch bekannt als Theologus Autodidactus), die in Anlehnung an Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzān in einer parodistisch anmutenden Weise dessen Stoff adaptiert. Während sich bei Ibn Tufail die Hauptfigur durch Beobachtung und logische Überlegung nach und nach sämtliche Wissenschaften aneignet und schließlich in der mystischen Versenkung zur wahren Gotteserkenntnis gelangt, so erzählt bei Ibn an-Nafīs ein Erzähler mit dem Namen Fādil ibn Nātiq (»der Vorzügliche, Sohn des Vernünftigen«) die Geschichte eines Menschen namens Kāmil (»der Vollkommene«), der aus einer Masse Lehm entstanden auf einer einsamen Insel heranwächst und sukzessiv erkennt, daß es eine Reihe von Propheten gibt, auf die ein letzter Prophet folgt, wie dessen Lebensgeschichte verlaufen muß (die bis ins Detail mit der Biographie Muhammads übereinstimmt), was für eine Lehre dieser Prophet verkündet (wobei die Parallelen zu den Gesetzen des Islams deutlicher nicht sein könnten) und welches Schicksal seiner Gemeinde nach seinem Tod widerfahren wird (unübersehbar eine Zusammenfassung der Geschichte des Islams bis in die Zeit von Ibn an-Nafīs). Dabei verzichtet Ibn 118  Zu ihm siehe Art. Ibn an-Nafīs in EI² Bd.   I II , S.   897a  ff. 119  M. Meyerhof / J. Schacht 1968.

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an-Nafīs auf praktisch jeglichen philosophischen Inhalt und seine Argumentationen, die er zumeist anhand des Kriteriums »er sah, daß es passender bzw. förderlicher (aslah) war anzunehmen, daß […]« vollzieht, ist so plump, daß man kaum umhin kommt, in diesem Werk eine parodistische, wenn nicht gar polemi­sche Imitation des Hayy ibn Yaqzān zu sehen. Eine im engeren Sinne philosophische Wirkung hatte Ibn Tufails Werk sehr wohl, freilich auf anderem Weg. Denn im 13. Jahrhundert entstand eine anonyme hebräische Übersetzung des Textes, auf deren Grundlage der jüdische Religionsphilosoph Moses Narboni (1300 – 1362) aus Perpignan im Jahre 1349 einen umfangreichen Kommentar verfaßte.120 Narboni, der daneben auch Kommentare zu Ibn Rušd, Gazālī und Maimonides verfaßte, war stark von der Philosophie Ibn Rušds geprägt; gleichzeitig war er aber auch von der jüdischen Kabbala beeinflußt und versuchte, seine an Ibn Rušd orientierte Philosophie mit kabbalistischen Elementen in Einklang zu bringen, indem er beispielsweise die immateriellen himmlischen Wesenheiten aus Hayy ibn Yaqzāns mystischer Schau mit den zehn Sefirot (den zehn Manifestationen Gottes) der Kabbala identifiziert.121. Narbonis hebräischer Kommentar, der jeweils zusammen mit der Übersetzung des Textes kopiert wurde, erfreute sich unter den gebildeten Juden der damaligen Zeit einer großen Beliebtheit, wie aus der beeindruckenden Zahl von erhaltenen Manuskripten dieses Werks geschlossen werden kann.122 Etwas mehr als hundert Jahre nach dem Tode Narbonis entstand dann zu dessen Kommentarwerk auch noch ein Super120  Zu Moses Narboni und seinem Kommentar siehe M. Hayoun

1988 und 2002. 121  Vgl. M. Hayoun 1985 und Übersetzung S.   91–95. 122  Mit gut über zwanzig Handschriften (vgl. M. Hayoun 2002, S.   232) sind mehr als doppelt so viele Exemplare erhalten wie von Ibn Tufails arabischem Original.

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kommentar aus der Feder des gebildeten jüdischen Literaten und Philosophen Yohanan Alemanno (1434 – 1504), den sein Lebensweg in die wichtigsten italienischen Städte der damaligen Zeit führte; im Jahre 1488 machte er in Florenz die Bekanntschaft des berühmten italienischen Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1 494), der sich schon früher für die jüdisch-philosophische Literatur interessiert hatte, und zwischen den beiden kam es zu einer engeren Zusammenarbeit, die vermutlich bis zu Picos frühem Tod andauerte. Man nimmt an, daß Alemanno seinen Superkommentar zum Hayy ibn Yaqzān im Auftrage Picos verfaßt hat,123 und auch eine aus dem Hebräischen übersetzte handschriftliche lateinische Fassung von Ibn Tufails Roman, die heute in der Biblioteca Universitaria di Genova liegt, scheint von Pico veranlaßt worden zu sein; ob es sich bei dieser Übersetzung um das Werk von Alemanno selbst oder von einem anderen, möglicherweise zum Christentum konvertierten Gelehrten handelt, ist noch nicht endgültig geklärt.124 Über die mögliche Verbreitung dieser lateinischen Übersetzung wissen wir kaum etwas; doch scheint der lateinische Text über den engeren Kreis um Pico della Mirandola hinaus bekannt gewesen zu sein. Denn der italienische Literat Antonio Fileremo Fregoso (ca.   1 455 – 1532) aus Carrara, zu dessen Werk auch einige philosophische Dialoge zählen, schildert in seiner 1525 erschienenen Terzinen-Dichtung De lo istinto naturale sehr detailliert mehrere Episoden aus dem Leben von Ibn Tufails Romanhelden – so etwa dessen spontane Genese auf einer einsamen Insel, die Sorge der 123  F. Lelli 1995, S.   3 – 11; zur Beziehung zwischen Pico und Ale-

manno siehe B.  C. Novak 1982. 124  Zur lateinischen Handschrift (wo das Werk als Übersetzung eines Textes von Abū Bakr ar-Rāzī angegeben wird) siehe O.   Cartaregia 1991, S.   29–31; zur Frage nach der Identität des Übersetzers siehe F. Bacchelli 1993.

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Gazelle um das Kind oder die anatomische Untersuchung der toten Gazelle.125 Das Inselmotiv begegnet uns dann etwa ein Jahrhundert später wieder im philosophisch-satirischen Roman El Criticón des berühmten spanischen Schriftstellers Baltasar Gracián (1601 – 1658). Zu Beginn dieses Buches wird der Abenteurer Critilo, der vor der Insel St.  Helena Schiff bruch erlitten hat, von einem jungen Mann gerettet, der auf dieser unbewohnten Insel von einem wilden Tier aufgezogenen wurde. Critilo bringt seinem Retter, der keine Sprache versteht, das Reden bei und gibt ihm den Namen Andrenio. Bald können sich die beiden so gut verständigen, daß Andrenio seinem Lehrer erzählen kann, wie er auf dieser Insel aufwuchs, seine Umgebung erkundete und sich zuletzt sogar Gedanken über den allmächtigen Schöpfer der Welt machte.126 Aufgrund dieser und weiterer Parallelen zwischen der Erzählung Ibn Tufails und dem Anfang von Graciáns Roman rätselte man lange über einen möglichen Einfluß; doch konnte man sich einen solchen kaum erklären, da die wirkungsträchtige Edition des arabischen Textes von Edward Pococke erst knapp zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Graciáns Roman herausgegeben wurde. Nach der Entdeckung des arabischen Fragmentes aus dem Alexander-Roman durch E. García-Gómez,127 der diesen Text als gemeinsame Quelle für Ibn Tufail und Gracián ansah und damit eine Verbindung Ibn Tufail-Gracián ausschloß, galt diese Frage als beantwortet; mit der Existenz der lateinischen Ibn Tufail-Übersetzung sowie deren späteren Rezeption durch Fregoso im 16. Jh. bleibt die Frage aber vorläufig wieder unentschieden. Zu allgemeiner Bekanntheit in Europa gelangte die Erzählung Ibn Tufails schließlich im 17. und 18. Jh.; der englische

49.

125  Antonio Fileremo Fregoso, Opere, S.   308–323. 126  Baltasar Gracián, El Criticón Bd.   I, S.   103 – 1 44 / dt. Übers. S.   13– 127  Siehe supra S.   L XV.

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Orientalist Edward Pococke 1 28 (1604 – 1691), der sich nach dem Studium der semitischen Sprachen von 1630 – 1636 in Aleppo aufhielt und dort seine Kenntnis der arabischen Sprache vertiefte, wurde nach seiner Rückkehr Professor für Arabisch in Oxford. Unter den zahlreichen Handschriften, die er während seines Aufenthaltes im Orient gesammelt hatte, dürfte sich auch das Exemplar von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzān befunden haben, das seit seinem Tod im Besitz der Oxforder Bodleian Library ist. Bereits 1645 arbeitete Pococke an einer – un­ voll­endet gebliebenen – englischen Übersetzung; doch erst 1671 erschien dann eine zweisprachige Ausgabe mit dem arabischen Originaltext jenes Manuskripts und einer lateinischen Übersetzung von seinem Sohn Edward Pococke jun. (1648 – 1727), zu der Pococke sen. eine philosophiehistorische Einleitung beisteuerte. Das Buch trägt den Titel Philosophus Autodidactus sive Epistola Abi Jaafar Ebn Tophail de Hai Ebn Yokdhan gefolgt vom erläuternden Untertitel In qua ostenditur quomodo ex Inferiorum contemplatione ad Superiorum notitiam Ratio humana ascendere possit.129 Es gehört zu den frühesten auf Arabisch gedruckten Werken der islamischen Philosophie überhaupt 130 und zeichnet sich durch eine getreue Widergabe des Originaltextes und einen schön gestalteten Druck der arabischen Typen aus. Die sehr wörtlich gehaltene lateinische Übersetzung hält sich eng an ihre Vorlage, zog aber gelegentlich die Kritik zeitgenössischer Leser auf sich, da man ihren lateinischen Stil bemängelte. Das Werk stieß auf reges Interesse; schon 1674 veröffentlichte der Quäker George Keith eine englische Übersetzung 128  Zur Biographie von Edward Pococke siehe P. M. Holt 1973,

S.   1–26. 129  Eine Übersicht aller bekannten Handschriften, Editionen und Übersetzungen gibt L. I. Conrad 1996 4 , S.   267–285. 130  Bereits 1593 war in Rom Ibn Sīnās philosophisches Kompendium Die Rettung (an-Nafāt) als Anhang zu seinem arabisch gedruckten Kanon der Medizin (al-Qānūn fī at-tibb) erschienen.

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des lateinischen Textes unter dem Titel An Account of the Ori­ ental Philosophy, und 1686 erschien eine weitere englische Übersetzung aus der Feder des anglikanischen Theologen George Ashwell als The History of Hai Eb’n Yockdan, an Indian Prince: or the Self-Taught Philosopher, in der allerdings das Vorwort Ibn Tufails und längere, als unwichtig erachtete Passagen, darunter die generatio spontanea Hayys, fehlten. Im Jahr 1708 erschien in London die erste direkt aus dem Arabischen übersetzte Version von Simon Ockley (1678 – 1720), Professor für Arabisch in Cambridge, als The Improvement of Human Reason, mit dem Unter­titel By what Methods one may, by the meer Light of Nature, attain the Knowledg of things Natural and Supernatural; more particularly the Knowledg of God and the Affairs of another Life.131 Bereits früher, nämlich schon im Jahre 1672 erschien in Amsterdam die erste niederländische Übersetzung unter dem Titel Het leeven von Hai ebn Yokdhan. Diese anonym erschienene Bearbeitung des lateinischen Textes wurde dann 1701 in einer durch den Utrechter Orientalisten Adriaan Reland (1676 – 1718) auf der Grundlage des arabischen Originaltextes revidierten Fassung nochmals gedruckt, diesmal mit der Nennung von »S. D.  B.« als Urheber der ursprünglichen Übersetzung; obwohl diese Initialen an den berühmten Philosophen Baruch de Spinoza (1604 – 1691) denken lassen, muß man davon ausgehen, daß nicht Spinoza selbst, sondern ein enger Bekannter von ihm, nämlich Johan Bouwmeester (1630 – 1680), als Übersetzer – möglicherweise auf Anregung Spinozas hin – angesehen werden muß.132 Die erste deutsche Ausgabe erschien im Jahr 1726 in der Übersetzung von Johann Georg Pritius (1662 – 1732) auf der 131  Zu diesen englischen Übersetzern siehe A. Pastor 1930, S.   191–

240.

132  Zur Urheberschaft Johan Bouwmeesters siehe L. Gauthier 1936,

S.   x xx–xxxii. Zu Ibn Tufail und Spinoza siehe C.   von Brockdorff 1932.

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­ asis des lateinischen und englischen Textes als Der von sich B selbst gelehrte Weltweise. Im Jahre 1782 veröffentlichte dann Johann Gottfried Eichhorn (1752 – 1827), der von 1775 – 1788 Professor für orientalische Sprachen in Jena war und danach e­ inen Lehrstuhl für Philosophie in Göttingen innehatte, seine direkt aus dem Arabischen übertragene Übersetzung, deren leicht romantisch-rousseauistischer Grundton bereits im Titel Der Natur­mensch deutlich wird.133 Die Wirkung der Edition Pocockes und der zahlreichen auf sie zurückgehenden Übersetzungen war vielfältig. Die Geschichte des Philosophus Autodidactus, in der durch Beobachtung und Vernunftgebrauch Stufe für Stufe ein Wissenschaftsgebäude entworfen und die Religion als symbolische Darstellung der philosophischen Wahrheiten bestimmt wurde, fand im Zeitalter der beginnenden Aufklärung rege Beachtung.134 So gibt es Hinweise, daß John Locke (1632 – 1704), der mit der Arbeit an seinem Essay concerning Human Understan­ ding genau im Erscheinungsjahr des Philosophus Autodidactus begann und mit Vater und Sohn Pococke aus Oxford persönlich bekannt war, dieses Werk gelesen hat.135 Explizit erwähnt wird der Philosophus Autodidactus bei Locke allerdings nicht; aber auch Locke verwendet das Insel-Motiv in seiner ­A rgumentation, und zwar dort, wo er sich fragt, ob und in welcher Form ein paar Kinder, die man allein auf einer Insel aufwachsen läßt, über einen ­Begriff (idea) von Gott oder von Feuer verfügen.136 133  Zu Johann Gottfried Eichhorns deutscher Übersetzung siehe

F.   Niewöhner 1992 (wo auch Eichhorns Vorrede zu seiner Übersetzung mit erläuternden Anmerkungen abgedruck ist). 134  Zur Rezeption des Philosophus Autodidactus im 17./18. Jh. siehe H. Daiber 1994, S.   74–80 und Sh. Ikhtiar 1992. 135  Vgl. G. A. Russell 1994. 136  John Locke: An Essay Concerning Human Understanding I 4 § 11, S.   90 / dt. Übers. Bd.   I, S.   87  f.

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Von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) dagegen ist belegt, daß er den Philosophus Autodidactus gelesen und geschätzt hat, denn er erklärte in einem Brief vom Juli 1696, er halte dieses Buch für »wirklich exzellent« und habe es »mit außer­ ordent­lichem Vergnügen« gelesen; darüber hinaus hielt er in einem anderen Brief im Februar 1697 fest, aus diesem Werk sei ersichtlich, daß »die arabischen Philosophen ihren christlichen Fachgenossen in theologischen Dingen durchaus ebenbürtig seien.«  137 Aber der Philosophus Autodidactus fand nicht nur Zustimmung. So meinte der unermüdliche Polemiker Voltaire (1694 – 1778), der während seiner Zeit in England gebeten wurde, ein Exemplar der englischen Übersetzung nach Frankreich zu schicken, in einem Brief vom März 1727, daß sich die Mühe, das schwer zu findende Buch aufzutreiben, nicht gelohnt habe; es sei vom Anfang bis zum Ende ein beispielloser non sense, eine abscheuliche Romanze und eine Strafe für jeden Leser.138 Allgemein scheint das Buch im französisch-sprachigen Raum nicht viel Beachtung erhalten zu haben, obwohl bereits im Jahre 1686 Jean Le Clerc in seiner drei- bis viermal jährlich in Amsterdam erscheinenden Bibliothèque Universelle et Hi­ storique eine ausführliche und gut gemachte französische Zusammenfassung des Philosophus Autodidactus – wenn auch mit leicht spitzem Unterton – auf der Basis von Pocockes Edition herausgebracht hatte.139 Ebenfalls wenig angetan von der Lektüre des Philosophus Autodidactus, wenn auch in anderem Sinn, war Moses Mendelssohn (1729 – 1786). In einem an Gotthold Ephraim Lessing 137  Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften Bd.   I I ,

S.   563 und Bd.   I II , S.   184. 138  Voltaire: Les Œuvres complets Bd.   L X X XV, S.   317  f. 139  Jean Le Clerc: Bibliothèque Universelle et Historique Bd.   I II , S.   76–98; vgl. dazu Sh. Ekhtiar 1992, S.   229.

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(1729 – 1781) gerichteten Brief vom Mai 1763 bedankt sich Mendelssohn für das von Lessing erhaltene Exemplar des Werkes und zeigt sich freudig überrascht, »die Denkungsart und das ganze System unserer hebräischen Weltweisen in diesem Araber wieder zu finden.« Aber Mendelssohns Wohlwollen findet das Buch nicht, denn er fährt unwirsch fort: »O was für Schritte hat die Weltweisheit seit der Zeit des Verfassers getan! Nichts als die Lehre von Gott war zu seiner Zeit gebildet. Seine Begriffe von der Welt, von der Seele, und seine ganze Moral sind höchst elend.«  140 Gegen Ende des 18. Jh. ging das Interesse an Ibn Tufails philosophischem Roman zurück, und die deutsche Version Eichhorns blieb für mehr als ein Jahrhundert die letzte Bearbeitung des Textes; der Orientalist E.   M. Quatremère (1782 – 1852) verfertigte zwar noch eine französische Übersetzung mit dem Titel Le philosophe sans maître, ou la vie de Hai ebn Yoq­dhan,141. doch kam es letztlich nie zu einer Publikation dieser Arbeit. Während des 19. Jh. blieb das Werk zwar bekannt, fand aber kaum größere Beachtung und wurde auch in islamwissenschaftlichen Arbeiten zur Philosophiegeschichte meist bloß am Rande erwähnt.142 Daß man aber auch außerhalb der Orientalistik eine gewisse Kenntnis des Werks hatte, zeigt das Beispiel von F.  W.  J. Schelling (1775 – 1854), der in seinen Münchener Vorlesungen von 1827 Zur Geschichte der neueren ­Philosophie, während er gegen David Hume a­ rgumentiert, kurz den Philo­ sophus Autodidactus und dessen Inhalt erwähnt.143 Dafür, daß in fachphilosophischen Kreisen im 18. und 19. Jh. also durchaus eine gewisse – wenn auch begrenzte – Beschäf140  Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften Bd.  X II /1, S.   10. 141  Das Manuskript ist im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek

in München; vgl. J. Aumer 1866, S.  4 21. 142  Etwa bei S.   Munk 1859, S.  4 10–418 oder E. Renan 1866, S.   1 4 – 18 und 99  f. 143  F.  W.  J. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, S.   70.

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tigung mit Ibn Tufail und der arabischen Philosophie generell stattfand, dürfte nebst den erwähnten Editionen und Übersetzungen vor allem der sich ab dem späten 17. Jh. herausbildenden Disziplin der Philosophiegeschichtsschreibung zu verdanken sein. Zu nennen ist in diesem Kontext in erster Linie der Theologe, Pfarrer und Pädagoge Jacob Brucker (1696–1770),   144 den man wohl zu Recht als Vater der modernen, systematischen Philosophiehistorie bezeichnen kann. In seinen 1731–1736 erschienenen Kurtzen Fragen aus der philo­ sophischen Historie, die entgegen dem Titel aus sieben dicken Bändchen mit insgesamt rund neuntausend Seiten bestehen, und in der monumentalen Historia critica philosophiae, deren sechs Bände 1742–1767 noch in Latein erschienen und so über den deutschen Sprachraum hinaus vor allem auch ein inter­ nationales Publikum ansprachen, gab Brucker einen umfassenden philosophiegeschichtlichen Abriß von der Antike bis in seine eigene Zeit. Im umfangreichen und von erstaunlich breiter Kenntnis des damals verfügbaren Materials zeugenden Teil über die philosophia saracenorum behandelt Brucker auch Ibn Tufail und seinen Traktat, welchen er – wie bei ihm üblich – übersichtlich in viele kleine, durchnummerierte Lehrsätze gegliedert resümiert und mit eigenen erklärenden und kritischen Anmerkungen ergänzt.145 Bruckers Werk wurde rege rezipiert und diente späteren Philosophiehistorikern als Ausgangsbasis, so etwa Wilhelm Gottlieb Tennemann (1761–1819), der in seiner zwölfbändigen G ­ eschichte der Philosophie (ersch. 1798–1819) ebenfalls im Rahmen der »Philosophie der Araber« auf Ibn Tufail eingeht, aber in Sachen Originalität nicht an Brucker

144  Zu Brucker und seinem Werk siehe W. Schmidt-Biggemann/

Th. Stammen 1998. 145  Jakob Brucker: Kurtze Fragen, Bd. V, S.367-438; Historia cri­ tica, Bd. III, S. 172–198.

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herankommt, sondern auf knappen acht Seiten hauptsächlich die Eichhornsche Übersetzung zusammenfaßt.146 Spuren hinterließ der Philosophus Autodidactus aber auch außer­halb der wissenschaftlichen Sphäre im engeren Sinn, nämlich in der Roman-Literatur. Die berühmteste und erfolgreichste Adaption des Insel-Motivs, nämlich der 1719 erschienene Abenteuerroman The Life and Strange Surprizing Adven­ tures of Robinson Crusoe von Daniel Defoe (1660 – 1731), dürfte aber entgegen wiederholten, anders lautenden Vermutungen kaum direkt von unserem Philosophus Autodidactus beeinflußt sein.147 Lange nahm man an, daß sich Defoe für seinen Roman vor allem von den Erlebnissen des Seemannes Alexander Selkirk inspirieren ließ, der mehrere Jahre auf einer Insel im Pazifik ausharren mußte, bis er endlich gerettet wurde, und dessen 1712 veröffentliche Geschichte in England für einiges Auf­sehen sorgte. Vor kurzem konnte jedoch T. Severin zeigen, daß sich Defoe wohl in erster Linie auf den Bericht des Schiffs­a rztes Henry Pitman gestützt hat, dessen kurze Erzählung über seinen dreimonatigen Aufenthalt auf einer unbewohnten karibischen Insel deutlich besser als Vorlage paßt und zudem im Jahre 1689 beim gleichen Verlag erschienen war, bei dem später auch Defoes Robinson Crusoe herauskam; da Pitman auch eine Zeitlang im Hause seines Verlegers wohnte, ist es gut möglich, daß Defoe dort sogar Gelegenheit hatte, ihn persönlich kennenzulernen und somit von ihm seine Geschichte aus erster Hand erfahren haben könnte.148 Die große Popularität, die Defoes Roman genoß, hatte nun aber zur Folge, daß schon bald unzählige Adaptionen und Nachahmungen erschienen. Darunter gab es auch einige 146  Wilhelm Gottlieb Tennemann: Geschichte der Philosophie,

Bd. VIII, S. 411–419. 147  Zu Parallelen zwischen beiden Werken siehe z. B. S. Attar 1996. 148  T. Severin 2002, S.   279  f. und 339–344.

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Werke, die aus einer Vermischung von Material aus Defoes Robinson Crusoe und Ibn Tufails Philosophus Autodidactus hervorgingen. So erschien 1745 von einem John Kirkby (1705 – 1754) ein Buch The Capacity and Extent of the Human Understanding exemplified In the Extraordinary Case of Automathes  ; in welchem die Lebensgeschichte von Automathes (»der Selbstlernende«) erzählt wird, die bald an Robinson Crusoe, bald an Hayy ibn Yaqzān angelehnt ist.149 Das Werk war offenbar erfolgreich genug, daß zwei Jahre später in Amsterdam eine niederländische und schließlich 1750 auch noch eine deutsche Version publiziert werden konnten. Eine weitere Bearbeitung des Themas ist das um 1761 anonym erschienene Werk The Life and surprizing Ad­ ventures of Don Antonio de Trezzanio, das ganze Passagen aus dem Philosophus Autodidactus wortwörtlich übernimmt und mit Elementen aus Defoe ergänzt; doch leider ist das Resultat nicht mehr als eine belanglose Kompilation, in der die jeweiligen Qualitäten der beiden Vorlagen kaum mehr zu erkennen sind.150 Zu Beginn des 20. Jh. setzte das Interesse an Ibn Tufail neu ein. Bereits 1882 war in Kairo der arabische Text in gedruckter Form erschienen, zum ersten Mal auf Grundlage einer nichteuropäischen Bearbeitung, allerdings noch in einer unkritischen Edition, die sich nur auf ein einziges Manuskript stützte. Mit Léon Gauthier (1862 – 1949), der im Jahr 1900 die erste kritische Edition des Hayy ibn Yaqzān zusammen mit einer ausgezeichneten französischen Übersetzung herausgab, die 1936 stark überarbeitet und erweitert erneut aufgelegt wurde und bis heute als Standard-Edition dient, war dann die Grundlage geschaffen für die moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit Ibn Tufail und seinem Werk.151 149  Sh. Ikhtiar 1992, S.   242  f. 150  Vgl. R. Kruk 1987. 151  Einen guten Überblick zum gegenwärtigen Stand der IbnTufail-Forschung gibt L. I. Conrad 1996 1 .

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Auf seine philosophische »Wiederentdeckung« mußte Hayy ibn Yaqzān bis zum Jahr 1952 warten. In diesem Jahr publizierte der stark von der Philosophie Karl Marx’ geprägte Ernst Bloch (1885 – 1977) sein kurzes Buch Avicenna und die Aristoteli­ sche Linke. Darin versucht Bloch ausgehend vom aristotelischen Begriff der Materie, Ibn Sīnā und Ibn Rušd als Vertreter einer »Aristotelischen Linken« darzustellen, die mit ihrem materialistischen Weltbild einen Gegenpol bilden zu den »rechten« Aristotelikern, als deren Oberhaupt ihm Thomas von Aquin gilt. Bloch, der Ibn Tufail in der Übersetzung Eichhorns kennengelernt hatte, liest die Geschichte Hayy ibn Yaqzāns natürlich auch aus diesem materialistischen Blickwinkel und sieht in diesem Werk den Grundglauben der Aufklärung bestärkt, »daß der Mensch außer seiner Vernunft einen Glauben nicht brauche«, wobei aber auch Bloch eingestehen muß, daß das, was er als Materialismus verstehen will, bei Ibn Tufail letztlich in der unio mystica gipfelt.152 Über Bloch führt uns die letzte Etappe der Rezeptionsgeschichte in gewissem Sinne wieder an den Anfang zurück. Der syrische Philosoph Tayyib Tīzīnī (geb.  1938), der in den sechziger Jahren in Ost-Berlin studierte und 1975 Professor an der Universität Damaskus wurde, promovierte 1968 bei Hermann Ley (1911 – 1990) mit der Arbeit Die Materieauffassung in der is­ lamisch-arabischen Philosophie des Mittelalters. Darin versucht Tīzīnī, eine marxistische Lesung der islamischen Philosophiegeschichte zu entwerfen, und zeigt sich dabei auch von Bloch und seinem Verständnis Ibn Tufails beeinflußt. So fand auch Hayy ibn Yaqzān über Bloch und Tizīnī wieder den Weg in den zeitgenössischen philosophischen Diskurs in der arabischislamischen Welt.153 152  Ernst Bloch: Avicenna und die Aristotelische Linke, S.   25  f. 153  Vgl. A. von Kügelgen 1994, S.   237–241.

Einleitung

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7. Textgrundlage Die vorliegende Neu-Übersetzung von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzān basiert auf der guten und bisher einzigen textkritischen Ausgabe (deren Seitenzahlen in der Übersetzung jeweils neben der Textkolumne angegeben sind): L. Gauthier: Hayy ben Yaqdhân, Roman philosophique d’Ibn Thofaïl, Beirut 1939. Eine umfassende Übersicht mit Angaben zu den erhaltenen Manuskripten, den früheren Editionen und den bisherigen Übersetzungen gibt L. I. Conrad 1996 4 , S.   271–285. Die Abbildungen sind entnommen aus der englischen Übersetzung von Simon Ockley: The Improvement of Human Rea­ son, London 1708. Von den zahlreichen Übersetzungen seien hier nur die neueren Datums genannt: Deutsch:  J. G. Eichhorn (übers.) / St. Schreiner (ed.): Hajj ibn Jaqzan der Naturmensch, Leipzig / Weimar 1983. O. F. Best: Der Ur-Robinson, München 1987. Ben Abdeljelil, Jameleddine (übers.) / Frysak, Viktoria (ed.): Hayy Ibn Yaqdhan, ein muslimischer Inselroman, Wien 2007. Englisch:  L. E. Goodman: Ibn Tufayl’s Hayy Ibn Yaqzān, New York 1972. (enthält eine umfangreiche Einleitung und viele erklärende Anmerkungen). Französisch:  in L. Gauthier 1939, S.   1–114 (europäische Seiten­ zählung). Italienisch:  P. Carusi: Epistola di Hayy ibn Yaqzān, Milano 1983. Niederländisch:  R. Kruk: De geschiedenis van Hayy ibn Yaqzān, Amsterdam 1985. Spanisch: Á. González Palencia (übers.) /  E . Tornero (ed.): El filósofo auto­didacto, Madrid 1995.

A BŪ B A K R I BN T U FA I L D ER P H I LO S O P H A L S AU TO D I DA KT H AY Y I BN YAQ Z Ā N

[ i. Vorwort des Autors ] | Im Namen Gottes des Barmherzigen, des Erbarmers; Gott 3 segne unseren Herrn Muhammad, seine Familie und seine Gefährten und schenke ihnen Heil! Du batest mich, edler, reiner und inniger Bruder – Gott verleihe dir ewiges Leben und gewähre dir immerwährende Glückseligkeit –, dir, so gut ich es vermag, | etwas von den Geheimnissen der Orientalischen 4 Weisheit 1 kundzutun, von der schon der unübertroffene Scheich Abū ‘Alī ibn Sīnā sprach und erklärte: Wer die Wahrheit ohne Umschweife haben will, der muß sich dem Studium der »Orientali­ schen Weisheit« widmen und sich bemühen, sie sich anzueignen.2 Deine Bitte hat in mir einen vorzüglichen Gedanken hervorgerufen, der mich – gelobt sei Gott – schließlich bis zum Schauen eines Zustandes 3 gelangen ließ, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte und der bei mir am Ende ein Maß erreichte, das so erstaunlich ist, daß es keine Zunge zu verkünden und keine Erklärung zu ergründen vermag, denn das gehört einem ganz anderen Rang und einer ganz anderen Welt an. Doch jemand, der diesen Zustand erreicht hat und bis zu einer bestimmten Grenze vorgedrungen ist, kann aufgrund der Wonne, der Freude und des Genusses, die damit verbunden sind, nicht einfach das, was mit diesem Zustand zu tun hat, verstecken oder sein Geheimnis verborgen halten; sondern die Verzückung, die Lebendigkeit, die Fröhlichkeit und die Heiterkeit, die ihn erfassen, bringen ihn dazu, in groben Zügen und undetailliert etwas davon preiszugeben. Wenn dies nun jemand ist, dem nicht wissenschaftliche Tätigkeit eine hinreichende Fertigkeit verliehen hat, dann wird er ohne irgendein brauchbares Resultat darüber sprechen. So sagte jemand 4 in diesem

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besagten Zustand: Preis sei Mir, wie groß ist Meine Majestät; ein anderer  5 behauptete: Ich bin die absolute Wahrheit, und ein dritter  6 sprach: In diesem Gewand ist nur Gott. Abū Hāmid alGazālī 7 dagegen zitierte beim Erreichen dieses Zustandes folgenden Vers: Es war, was es war; aber mehr erwähn ich hier nicht. 5 So glaub etwas Gutes, doch frag nach keinem Bericht!  8 | Allein Gazālī war gebildet durch vielerlei Kenntnisse, und die Wissenschaften verliehen ihm eine hinreichende Fertigkeit. Betrachte aber auch, was Abū Bakr ibn as-Sā’ig, genannt Ibn Bāffa, gesagt hat im Anschluß an seine Erörterung über die Art und Weise der Verbindung  :  9 Wenn der intendierte Gedanke richtig verstanden wird, dann wird auch klar, daß keine durch die herkömmlichen Wissenschaften erbrachte Erkenntnis mit ihm auf der selben Ebene stehen kann. Jemand, der das begreift, gelangt durch das Verstehen jenes Gedankens auf eine Ebene, auf der er – losgelöst von allen früheren Überzeugungen – ganz andere Dinge sieht, die nicht materiell sind und die zu erhaben sind, um mit dem physischen Leben in Beziehung gesetzt werden zu können; sie sind gereinigt vom Zusammengesetzt-Sein des physischen Lebens und so beschaffen, daß man sie »göttliche Zustände« nennen könnte – Gott verleiht sie, wem Er will von Seinen Knechten.10 Ibn Bāffa gelangte bis zu der von ihm genannten Ebene mittels theoretischer Wissenschaft und rationaler Untersuchung;11 und zweifellos hat er diese Ebene erreicht, sie jedoch nicht überschritten. Diejenige Ebene, die wir vorhin meinten, ist eine andere; obschon sie jener genannten in dem Sinne entspricht, daß zwischen dem, was auf der einen, und dem, was auf der anderen enthüllt wird, kein Widerspruch besteht. Der Unterschied zwischen ihnen liegt einzig in der größeren Deutlichkeit und in der Schau,12 die ermöglicht wird durch etwas, das wir nur metaphorisch als ein »Vermögen« 13 bezeichnen, denn 6 weder in der Alltagssprache | noch unter den Fachausdrücken finden wir Worte, die das bezeichnen können, wodurch sich diese Art der Schau vollzieht.

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Dieser erwähnte Zustand, von dem uns – ausgelöst durch deine Bitte – ein Geschmack 14 zuteil wurde, gehört zu einer Gruppe von Zuständen, auf die Ibn Sīnā mit den folgenden Worten aufmerksam 15 macht: Wenn seine (sc. des Erkennenden) Bereitwilligkeit und seine asketische Übung ein bestimmtes Maß erreicht haben, werden ihm flüchtige Augenblicke gegönnt, in denen sich ihm das Licht der Wahrheit eröffnet, ein wunderbarer Genuß, so wie Blitze, die kurz aufleuchten und wieder erlöschen. – Sofern er seine Übungen beharrlich fortsetzt, stellen sich diese eksta­ tischen Erlebnisse häufiger ein, und schließlich bringt er es soweit, daß sie ihn überkommen, ohne daß er die Übungen vollzieht. Jedes­ mal, wenn er dann irgend etwas erblickt, wird er sich davon ab­ wenden und sich auf die Erhabene Heiligkeit richten, wobei er sich in irgendeinen bestimmten Gedanken an Sie vertieft. In der Folge befällt ihn eine Art Ekstase, und er erblickt beinahe in jedem Ding die Wahrheit selbst. – Später dann geht sein mystischer Augen­blick über in eine Stille; das Flüchtige wird vertraut, und das Funkeln wird zu einer hellen Flamme. | Es verwirklicht sich für ihn eine 7 bleibende Bekanntheit, so wie ein andauerndes vertrautes Zusam­ mensein.16 Anschließend fährt Ibn Sīnā fort, die Abfolge der verschiedenen Stufen zu beschreiben, deren Ende das Erlan­ gen ist, wobei sein Allerinnerstes zu einem polierten Spiegel wird und sich auf die Wahrheit selbst richtet. Erhabene Genüsse ergie­ ßen sich über ihn, und er freut sich über den Eindruck der Wahr­ heit in seinem Selbst. Auf dieser Ebene wirft er einen Blick auf die Wahrheit und ebenso auf sich selbst, und zwischen beiden zögert er. Dann verliert er das Selbstbewußtsein, und er nimmt nur noch die Erhabene Heiligkeit wahr; ist er noch seines eigenen Selbsts ge­ wahr, dann nur insofern sein Selbst jenes Wahrnehmen vollzieht. – Dort vollendet sich das Erreichen.17 Mit diesen Zuständen, die Ibn Sīnā beschreibt, wollte er ausdrücken, daß es sich um ein »Schmecken« handelt 18 und nicht um ein theoretisches Erfassen, das syllogistische Deduktion betreibt, Prämissen aufstellt und Konklusionen zieht. Wenn du nach einem Gleichnis ver-

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langst, das dir den Unterschied zeigt zwischen dem Erfassen, das die eine und die andere Gruppe vollzieht, dann stell dir einen blind geborenen Menschen vor, der über eine vorzügliche natürliche Veranlagung, eine starke Intuition, ein gutes Gedächtnis und treffliche Gedanken verfügt.19 Seit seiner Ge8 burt lebt er in der gleichen Stadt, | in der er die einzelnen Bewohner, viele Arten von Tieren und Gegenständen, die Wege und Straßen der Stadt sowie ihre Häuser und Märkte mit Hilfe seiner übrigen Sinne kennengelernt hat, so daß er sogar ohne Führer in der Stadt umhergehen kann und jeden, der ihm begegnet, sogleich erkennt. Allein die Farben kennt er nur durch die Erklärung ihrer Namen und die auf sie verweisenden Definitionen. Wenn ihm nun, nachdem er diese Stufe erreicht hat, die Augen geöffnet werden und er die Sehkraft erlangt, dann wird er, wenn er in der Stadt umhergeht und sich umschaut, alles so vorfinden, wie er es sich vorgestellt hatte, und nichts wird ihm unbekannt sein; selbst die Farben wird er als übereinstimmend mit den Umschreibungen, mit denen sie ihm erklärt worden waren, antreffen. Doch bei all dem sind zwei besonders wichtige Sachverhalte, von denen einer dem anderen nachfolgt, neu für ihn: Erstens die gesteigerte Deutlichkeit und Helligkeit und zweitens der überwältigende Genuß. Der Zustand der Theoretiker, die nicht bis zur Vertrautheit  20 gelangt sind, 9 ist wie der erste Zustand dieses Blinden; | und die Farben, die ihm in jenem Zustand nur durch die Erklärung ihrer Namen bekannt sind, sind wie die Zustände, von denen Ibn Bāffa gesagt hat  : Sie sind zu erhaben, als daß sie mit der alltäglich-phy­ sischen Welt in Beziehung gesetzt werden könnten – Gott verleiht sie, wem Er will von seinen Knechten.21 Der Zustand derjenigen Theoretiker, die bis zur Vertrautheit gelangt sind und von Gott das, von dem wir sagten, daß es nur metaphorisch als »Vermögen« bezeichnet werden könne, erhalten haben, entspricht dem zweiten Zustand. In seltenen Fällen kann es jemanden geben, dem es ergeht wie einem, der seit jeher über einen durchdrin-

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genden Scharfblick und offene Augen verfügt, ohne auf theoretische Betrachtungen angewiesen zu sein.22 Dabei meine ich – möge dir Gott mit Seiner Vertrautheit Ehre erweisen – mit dem Erfassen der Anhänger der theoretischen Betrachtung nicht das, was diese aus dem Bereich der Physik erfassen, im Gegensatz zu dem, was die Anhänger der Vertrautheit aus dem Bereich der Metaphysik erfassen, denn das je Erfaßte ist vom anderen sehr deutlich getrennt, und das eine kann mit dem anderen gar nicht verwechselt werden. Sondern wir meinen mit dem Erfassen der Anhänger der theoretischen Betrachtung auch das, was sie aus dem Bereich der Metaphysik erfassen, entsprechend dem, was auch Ibn Bāffa erfaßt hat. Wenn wir voraussetzen, daß das theoretische Erfassen wahr und gültig ist, zeigt sich beim Vergleich zwischen ihnen und den Anhängern der Vertrautheit, die mit genau denselben Dingen beschäftigt sind, die größere Deutlichkeit und der höhere Genuß bei Letzteren. | Ibn Bāffa tadelte die Leute für diesen 10 Genuß und meinte, es sei ein Produkt der Vorstellungskraft.23. Er versprach, einen detaillierten und klaren Bericht darüber zu geben, wie der Zustand der Glückseligen dabei sein soll. Aber was das betrifft, sollte man ihm sagen: Erkläre nicht eine Speise für süß, die du nicht gekostet hast, und trample nicht auf dem Nacken der Leute, welche die Wahrheit sprechen! Er hat sein Vorhaben nämlich nicht ausgeführt und sein Versprechen nicht gehalten. Es scheint, daß er – wie er selbst sagt – nicht dazu kam, weil seine Zeit zu knapp war und er durch eine Reise nach Oran abgelenkt wurde. Oder er sah, daß er, wenn er diesen Zustand beschreiben würde, vielleicht gezwungen sein würde, etwas zu sagen, das nicht im Einklang mit seinem eigenen Lebenswandel stehen oder gar dem widersprechen würde, was er über den Drang, Vermögen zu erwerben und zusammenzuraffen, oder über die Anwendung verschiedener Rechtskniffe hatte verlauten lassen. Doch damit sind wir von deiner ursprünglichen ­Fragestellung etwas mehr als unbedingt nötig abgewichen.

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Aus dem Gesagten geht jedenfalls hervor, daß deine Frage in eine der folgenden beiden Richtungen zielt: Entweder fragst du nach dem, was die Anhänger von Schau, Schmecken und Anwesenheit auf der Stufe der Vertrautheit sehen. Doch dies kann unmöglich seiner Wirklichkeit entsprechend in schriftlicher Form festgehalten werden. Wenn es jemand dennoch versucht, sei es in gesprochener Rede oder in Büchern, dann wird der eigentliche Gehalt entstellt und wird zu dem, was 11 unter den anderen, theoretischen Bereich fällt. | Denn wenn es in Buchstaben und Worte gefaßt und der Welt des Augenfälligen angenähert wird, dann bleibt es in keinerlei Hinsicht das, was es einmal war, und die verschiedenen Ausdrucksweisen, mit denen darüber gesprochen wird, sind miteinander auch nicht vereinbar. Einige Leute sind dabei vom rechten Weg abgekommen, während man von anderen annahm, sie seien abge­kommen, obwohl sie es gar nicht waren. Das kommt daher, daß es ein unendliches Thema ist, das eine sich weit erstreckende Hoheit betrifft, die umfaßt, ohne selbst umfaßt zu werden. Die zweite der beiden möglichen Richtungen, in die – wie wir gesagt haben – deine Frage gezielt hat, ist die, daß du verlangst, über dieses Thema in der Art und Weise der Vertreter der theoretischen Betrachtung unterrichtet zu werden, und dies ist – möge Gott dir mit Seiner Vertrautheit Ehre erweisen – nun etwas, das in Büchern festgehalten und mit sprachlichen Ausdrücken behandelt werden kann; doch es ist seltener als roter Schwefel, besonders in unserer Gegend.24 Es ist etwas so Außergewöhnliches, daß nur einzelne nacheinander ein kleines Stück davon erlangen, und wer etwas davon erreicht hat, der spricht darüber nicht zu den Leuten, außer in Symbolen; denn die orthodoxe Religion und die wahrheitsgemäße religiöse Satzung  25 lehnen eine tiefere Beschäftigung damit ab und warnen davor. 12 Glaube nicht, daß die Philosophie, 26 | die mit den Büchern des Aristoteles, des Abū Nasr al-Fārābī oder mit Ibn Sīnās

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Werk Die Heilung zu uns gelangt ist, dich deinem gewählten Ziel näherbringt, und auch nicht, daß irgend jemand in al-Andalus darüber schon etwas Brauchbares geschrieben hat! Denn bevor sich Logik und Philosophie in al-Andalus ausgebreitet hatten, widmeten sich die Leute, die eine vorzügliche natürliche Veranlagung besaßen, nur den mathematischen Wissenschaften 27 und brachten es darin auch auf ein hohes Niveau, doch zu mehr waren sie nicht in der Lage. Ihre Nachkommen verfügten dann schon über einige Kenntnisse in der Wissenschaft der Logik und trieben Forschung auf diesem Gebiet, aber auch das verhalf ihnen nicht zu wahrer Vollkommenheit. Einer von diesen sprach: Ein Kummer ists für mich, daß ach die Menschheit lediglich zwei Wissenschaften hat, und nebst den bei­ den keine mehr. Zum einen Wahrheit, die uns letztlich unerreich­ bar bleibt; zum andern eitles Zeug – nutzlos ist sein Gewinn und leer!  28 Auf sie folgten die Leute der nächsten Generation, die wiederum eine bessere Fertigkeit in der theoretischen Betrachtung besaßen als sie und der Wahrheit noch etwas näher waren. Unter ihnen gab es keinen mit einer durchdringenderen Denkkraft, richtigeren theoretischen Einsichten und einem zuverlässigeren Blick als Ibn Bāffa; doch er war so sehr von weltlichen Belangen eingenommen, daß ihn der Tod dahinraffte, bevor seine ganzen Vorräte an Wissen zu Tage treten und die verborgenen Kostbarkeiten seiner Weisheit allgemein bekannt werden konnten. Die meisten seiner Schriften sind unvoll­ endet geblieben und brechen unvermittelt ab, | etwa sein Buch 13 über die Seele oder Die Richtlinien des Einsiedlers sowie seine Schriften über Logik und Physik.29 Bei den Werken, die er voll­enden konnte, handelt es sich um kurzgefaßte Bücher und hastig geschriebene Traktate, wie er selbst zugibt; denn er erwähnt im Traktat über die Verbindung, daß der Gedanke, den er durch die Beweisführung aufzuzeigen beabsichtigt habe, in dieser Abhandlung nicht klar und deutlich zum Vorschein komme, außer

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nach großer Anstrengung und Mühe,30 und die Anordnung sei­ ner Ausführungen sei an einigen Stellen methodisch nicht optimal gelungen. Wenn er mehr Zeit zur Verfügung gehabt hätte, dann hätte er diese gerne überarbeitet.31 So steht es um das, was von der Wissenschaft dieses Mannes bis zu uns gelangt ist – denn persönlich getroffen haben wir ihn nie; und von denjenigen seiner Zeitgenossen, die man als ihm ebenbürtig erachtete, haben wir nie ein Werk zu Gesicht bekommen. Ihre Nachfolger – unsere Zeitgenossen – schließlich befinden sich noch in der Entwicklung, sind vor der Vollendung stehengeblieben oder gehören zu d ­ enjenigen, über die wir noch nicht wirklich unterrichtet sind.32 Diejenigen Bücher Fārābīs, die uns erreicht haben, handeln größtenteils von Logik, und was darin an eigentlicher Philosophie vorkommt, gibt Anlaß zu mancherlei Zweifeln. So konstatiert er in seinem Buch Über die vorzügliche Religion,33 daß lasterhafte Seelen nach dem Tod unter endlosen Qualen bis in alle Ewigkeit fortbestehen würden, und verkündet darauf in seiner Staatsführung,34 daß sich die Seelen auflösen und zu 14 Nichts werden würden, | wobei es nur ein Fortbestehen für die tugendhaften, vollkommenen Seelen gebe. Schließlich sagt er im Kommentar zur Ethik etwas über die menschliche Glückseligkeit und daß sie nur im diesseitigen Leben liege,35 worauf er am Ende noch sinngemäß beifügt, wenn jemand etwas anderes behaupte, dann sei dies dummes Zeug und AltweiberGeschwätz.36 Solche Aussagen lassen die Menschen an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln, und der Tugendhafte wie der Lasterhafte werden auf dieselbe Stufe gestellt, weil damit behauptet wird, die Bestimmung aller Menschen führe letztendlich ins Nichtsein. Das ist ein unsäglicher Fehltritt und ein unverzeihlicher Irrtum!37 Nebst all dem verbreitet er auch seine verwerfliche Ansicht über die Prophetie, die gemäß seiner Behauptung der Vorstellungskraft angehören soll,38 wobei er gleichzeitig der Philosophie gegenüber der Prophetie den

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Vorzug einräumt  39 – und manches mehr, das wir hier nicht vorzubringen brauchen. Die Bücher des Aristoteles wurden von Ibn Sīnā paraphrasiert; er folgte dessen Lehre und übernahm die Methodik der aristotelischen Philosophie für sein Werk Die Heilung. Aber er erklärt in seinem Vorwort, daß für ihn die eigentliche Wahrheit eine andere sei; er habe wohl dieses Buch gemäß der Lehre der Peripatetiker verfaßt, doch wer die Wahrheit ohne Umschweife wolle, der müsse sein Buch über die Orientalische Weisheit lesen.40 | Wenn man sich der Lektüre von Ibn Sīnās 15 Heilung und der Werke des Aristoteles widmet, dann zeigt sich einem, daß sie in den meisten Fällen miteinander übereinstimmen, auch wenn es in Ibn Sīnās Werk gewisse Dinge gibt, die uns unter dem Namen des Aristoteles nicht überliefert werden. Nimmt man den Inhalt der gesamten Schriften des Aristoteles und den wörtlichen, äußeren Sinn der Heilung, ohne ihr Geheimnis und ihren inneren Sinn zu begreifen, dann gelangt man allein damit, wie Ibn Sīnā in der Heilung mahnend in Erinnerung ruft, nicht zur Vollkommenheit. Der Scheich Abū Hāmid al-Gazālī schnürt in seinen Werken an einer Stelle, wenn er sich an die breite Masse richtet, etwas zusammen und löst es an einer anderen wieder auf;41 bald erklärt er etwas für Unglaube, bald hält er es für erlaubt: Denn zu der Menge der Thesen, aufgrund derer er die Philosophen in der Inkohärenz der Philosophen  42 des Unglaubens bezichtigt, gehört, daß sie die körperliche Auferstehung am jüngsten Tag leugnen und statt dessen behaupten, nur die Seelen empfingen Vergeltung und Strafe. Aber zu Beginn der Waagschale des Handelns  43 behauptet er unmißverständlich, genau dies sei die Meinung der Sufi-Scheiche. Und in seinem Buch Der Erretter aus dem Irrtum  4 4 sagt er, seine eigene Überzeugung entspreche derjenigen der Sufis, doch habe er das erst nach langem Forschen verstanden. | Wenn man seine Werke studiert und 16 gründlich betrachtet, findet man vieles dieser Art; er entschul-

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digt sich sogar für dieses Vorgehen am Schluß der Waagschale des Handelns, wo er eine dreifache Unterteilung der Meinungen vornimmt: erstens die Meinung, die mit den Ansichten der breiten Masse im Einklang steht; zweitens die Meinung, gemäß der man jemandem antwortet, der einen um Rat fragt; und drittens die persönliche Meinung, die man nur jemandem preisgibt, der die gleichen Überzeugungen hegt wie man selbst. Dann fügt er noch hinzu: Wenn diese Worte auch nichts ande­ res bewirken würden, als dich an deinen tradierten Überzeugun­ gen zweifeln zu lassen, dann wäre das schon Nutzen genug. Denn wer nicht zweifelt, der überlegt nicht; wer nicht überlegt, der er­ langt keine Einsicht, und wer keine Einsicht erlangt, der verharrt in Blindheit und Verwirrung. Dabei zitiert er auch den folgenden Vers: Halt dich an das, was du siehst – aufs Hörensagen ver­ lasse dich nicht. Den Saturn kannst du entbehren dank des hellen Scheins der Sonne Licht !  45 Das also ist die Beschaffenheit seiner Lehre. Sie besteht zum großen Teil aus Symbolen und Andeutungen, aus denen nur einen Nutzen ziehen kann, wer diese mit dem Scharfblick seiner Seele im voraus schon verstanden hat, bevor er sie dann von ihm nochmals hört, oder auch, wer dank seiner hervorragenden natürlichen Veranlagung  4 6 in der Lage ist, sie zu verstehen, und dem deshalb auch schon der geringste Hinweis genügt. 17 | In seinem Buch Die Juwelen des Korans  47 erwähnt Gazālī, daß er esoterische Schriften verfaßt habe, in denen er die reine Wahrheit niedergelegt habe; doch unseres Wissens ist keine von diesen je bis nach al-Andalus gelangt. Zwar haben wir Schriften, von denen einige Leute behaupten, daß dies die esoterischen Werke seien, doch trifft das nicht zu. Es handelt sich bei diesen Schriften um Die intellektuellen Erkenntnisse  4 8 und Über das Einhauchen, das Gleichmachen und einige ähnliche Fra­ gen.49 Doch obwohl in diesen Büchern gewisse Andeutungen enthalten sind, enthüllen sie nicht sehr viel mehr als das, was in seinen allgemein bekannten Werken verkündet wird: Selbst

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in seinem Buch Das erhabenste Ziel  50 mag es noch viel dunklere Stellen als in jenen andern Büchern geben, und trotzdem betont er ausdrücklich, daß Das erhabenste Ziel kein esoterisches Werk sei. Daher können notwendigerweise auch diese vorliegenden Werke nicht esoterisch sein. Ausgehend von seinen Worten am Ende des Buches Die Nische der Lichter 51 hat man sich unter den Späteren etwas Un­geheures zusammengereimt, das Gazālī in einen Abgrund stürzen lassen soll, aus dem es für ihn keinen Ausweg gibt: Es handelt sich um seine Aussagen im Anschluß an die Erörterung der verschiedenen Klassen der durch Licht Verschleierten und die nachfolgende Erwähnung, daß »diejenigen, die er­ reicht haben«, verstanden haben, daß sich dieses Seiende durch ein Attribut auszeichne, | das nicht mit der reinen, absoluten Einheit 18 vereinbar sei,52 und man meinte, ihm damit die Überzeugung anhängen zu können, daß der Erste, Wahrhaftige – gepriesen sei Er – in Seinem eigentlichen Wesen in irgendeiner Weise der Vielheit unterworfen sei; doch Gott ist erhaben über das, was die Frevler behaupten.53 Wir haben indessen keinen Zweifel, daß Gazālī die höchste Glückseligkeit erfahren hat und bis zu jenen erhabenen Orten des Erreichens gelangt ist – uns aber haben seine esoterischen Werke, die das Wissen der Enthüllung  54 enthalten, nicht erreicht. Die Wahrheit nun, bis zu der wir selbst vorgestoßen sind und die unseren Anteil an der Wissenschaft darstellt, hat sich uns letztlich nur dadurch eröffnet, daß wir den Worten Gazālīs und Ibn Sīnās folgten und anschließend die Vorzüge des einen wie des andern gegeneinander abwogen; das Ergebnis kombinierten wir dann mit den Meinungen, die zu unserer Zeit aufkamen und von den Leuten, die sich mit Philosophie beschäftigen, eifrig vertreten wurden, so daß für uns zum Schluß die Wahrheit untrüglich feststand; zuerst durch die Methode der Forschung und der theoretischen Betrachtung, anschließend fanden wir zu einem schwachen Geschmack der Wahrheit in

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der Schau. Da gelangten wir zur Einsicht, daß wir in der Lage sind, etwas, das in unserem Namen hinterlassen wird, festzuhalten, und es war unser Anliegen, daß du, aufgrund deiner aufrichtigen Freundschaft und reinen Lauterkeit, der erste sein solltest, dem wir unser Gut darbringen und den wir darüber in Kenntnis setzen. Doch wenn wir dir die letzten Ziele, zu denen wir vorgestoßen sind, preisgeben würden, bevor wir dir deren Grundlagen genau dargelegt haben, wäre dir das nicht von grö19 ßerem Nutzen als ein summarischer, autoritativer Befehl. | Es wäre, wie wenn du uns nur aufgrund unserer Freundschaft und Zuneigung vertrautest und nicht, weil du denkst, daß es uns wirklich zusteht, daß unsere Worte Zustimmung finden; doch in deinem Fall begnügen wir uns nicht mit dieser Ebene und sind erst zufrieden, wenn du höher hinauf gelangst als bis dorthin, denn nur soweit würde noch nicht zur Rettung gereichen, geschweige denn zum Gewinn des allerhöchsten Grades. Unser Wille ist es, dich auf jene Pfade zu lenken, auf denen wir uns schon bewegten, und dich in jenem Meer schwimmen zu lassen, das wir bereits vor dir durchquerten, damit du schließlich dorthin geführt wirst, wohin auch wir geführt wurden. Dann wirst du schauen, was wir geschaut haben, und mit dem Scharf blick deiner Seele über all das Gewißheit erlangen, was auch uns zur Gewißheit geworden ist, und du wirst nicht mehr darauf angewiesen sein, mit deiner eigenen Erkenntnis an das, was wir erkannt haben, anzuknüpfen. Dies erfordert allerdings ein nicht geringes Maß an Zeit, Befreiung von anderen Beschäftigungen und eine vollständige Hingabe an dieses Vorhaben. Wenn dein Entschluß, dich in diese Aufgabe zu stürzen, ernsthaft und deine Gesinnung aufrichtig ist, dann wirst du am Morgen zufrieden sein mit deiner nächtlichen Reise, Segen ernten für deinen Weg auf diesem Geleise und deinen Herrn zufriedengestellt haben, sowie Er dich in gleicher Weise.55 | 20 Ich führe dich so weit du willst auf dem direktesten und vor Gefahr und Unheil sichersten Weg – auch wenn mir bis jetzt

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nur ein kurzer, flüchtiger Blick gelungen ist – in der Absicht, dein Verlangen zu wecken und dich anzuspornen, den Weg in Angriff zu nehmen. So will ich dir nun die Geschichte erzählen von Hayy ibn Yaqzān, Absāl und Salāmān, deren Namen schon Ibn Sīnā erwähnt hat; in ihrer Geschichte liegt eine Lehre für die Leute mit einem verständigen Herzen (Q   12  :  111)56 und eine Mahnung für den, der ein Herz hat, oder für den, der zuhört und bei der Sache ist (Q   50  :  37).57

[ ii. Zwei verschiedene Erzählungen über die ­Entstehung von Hayy ibn Yaqzān ] Unsere frommen Vorfahren – mögen sie Gott wohlgefällig sein – überliefern, daß es irgendwo im indischen Ozean eine am Äquator gelegene Insel gebe, auf der Menschen ohne Vater und Mutter zur Welt kommen, weil sie von allen Regionen der Erde das ausgeglichenste Klima habe und in vollkommener Weise dazu geeignet sei, das Licht des Himmels auf sich einstrahlen zu lassen. Allerdings widerspricht das der Ansicht der meisten Philosophen und der großen Ärzte, wonach das ausgeglichenste Klima der bewohnten Welt in der vierten Zone zu finden sei.58 Wenn sie dies behaupten, weil sie davon ausgehen, 21 | daß es am Äquator aufgrund irgendeines landschaftlichen Hindernisses keine Besiedlung gibt, dann hat ihre Aussage, daß die vierte Klimazone die ausgeglichenste Region der Erde sei, eine gewisse Berechtigung. Meinen sie aber damit bloß, daß am Äquator eine hohe Temperatur herrsche, wie der größte Teil von ihnen behauptet, dann ist das eine Annahme, deren Unrichtigkeit mittels eines Beweises gezeigt werden kann. Denn in den physikalischen Wissenschaften wird der Beweis erbracht, daß Hitze allein durch Bewegung, durch Kontakt mit warmen Körpern oder durch Lichteinstrahlung entstehen kann. Weiter wird dort klar, daß die Sonne nicht ihrem Wesen nach heiß ist und ihr wesentlich ebensowenig eine der anderen elementaren Grundqualitäten zukommt.59 Und ebenso wird klar, daß es die glattpolierten, glänzenden Körper sind und nicht die durchsichtigen, welche die Lichtstrahlung am besten empfangen und reflektieren können; ihnen folgen hinsichtlich der Empfänglichkeit die festen, matten Körper; und

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die durchsichtigen Körper, die überhaupt nicht fest sind, nehmen das Licht gar nicht auf. All das hat alleine Ibn Sīnā bewiesen; von seinen Vorgängern erwähnt es niemand. Wenn nun diese Prämissen richtig sind, dann folgt daraus, daß die Sonne die Erde nicht in gleicher Weise erwärmt, | wie warme Körper 22 bei Kontakt andere Körper erwärmen, weil die Sonne nicht ihrem Wesen nach heiß ist. Die Erde wird auch nicht durch Bewegung erwärmt, weil sie ruht und sowohl bei Sonnenaufgang wie bei Sonnenuntergang im selben Zustand verbleibt, während gleichwohl die Erwärmung und die Abkühlung in diesen beiden Zeiträumen für die Sinne einen deutlich spürbaren Unterschied darstellen. Die Sonne erwärmt aber auch nicht zuerst die Luft und danach die Erde mittels der Wärme der Luft – wie sollte das auch der Fall sein, wo wir doch feststellen können, daß, wenn es heiß ist, die Luft in der Nähe des Bodens viel heißer ist als die höher gelegene Luft, die weiter vom Boden entfernt ist. Also bleibt einzig, daß die Sonne die Erde mittels Lichteinstrahlung erwärmt; denn Wärme ist eine unweigerliche Folge des Lichts, dergestalt sogar, daß Licht, wenn es in einem Brennspiegel verstärkt wird, einen davor plazierten Gegenstand zum Entflammen bringt. Zudem belegen die mathematischen Wissenschaften mit schlüssigen Beweisen, daß die Sonne von kugelförmiger Gestalt ist, und ebenso die Erde; ferner wird auch bewiesen, daß die Sonne um vieles größer ist als die Erde und etwas mehr als die Hälfte der Erdoberfläche ständig von der Sonne beschienen wird. Am stärksten ist das Licht jeweils in der Mitte der beschienenen Hemisphäre, | weil das die am weitesten von der Dunkelheit entfernten Stel- 23 len sind und auch weil es die am meisten von der Sonne beschienene Partie ist. Je näher ein Ort an der Peripherie liegt, desto weniger Licht trifft ihn, bis hin zur völligen Dunkelheit am Rand des kreisförmigen, von der Sonne beschienenen Gebietes. Ein Ort ist genau dann im Zentrum der beschienenen Kreisfläche, wenn die Sonne für die Bewohner dort im Zenit

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steht, und dann wird auch die Hitze an jenem Ort am stärksten sein. An einem Ort, an dem die Sonne weit entfernt vom Zenit steht, ist es sehr kalt; dort, wo sie im Zenit steht, ist es hin­ gegen sehr warm. In der Astronomie wird bewiesen, daß in den Regionen am Äquator die Sonne nur zweimal im Jahr im Zenit steht: Wenn sie ins Zeichen des Widders tritt und wenn sie ins Zeichen der Waage tritt; während sechs Monaten steht sie südlicher, und während sechs Monaten steht sie nördlicher. Die Leute spüren dort also weder übermäßige Hitze noch übermä24 ßige Kälte, sondern genießen ein konstantes Klima.60 | Diese Ausführungen bräuchten eine noch eingehendere Darstellung, die aber dem, was wir jetzt im Sinn haben, nicht angemessen wäre. Wir haben dich lediglich darauf hinweisen wollen, weil es die Richtigkeit von dem bezeugt, was oben über die Voraussetzungen der Entstehung eines Menschen an jenem Ort ohne Mutter und Vater erzählt worden ist. Es gibt nämlich Leute, die restlos überzeugt sind, daß Hayy ibn Yaqzān an jenem Ort ohne Mutter und ohne Vater entstanden ist. Es gibt aber auch solche, die all das nicht für wahr halten und darüber eine andere Geschichte verbreiten, die wir dir nun erzählen wollen. Sie sagen nämlich, daß in der Nähe jener Insel eine andere, größere Insel lag, von ausgedehntem Umfang, mit großem Wohlstand versehen und von Leuten bewohnt, die unter der Herrschaft eines hochmütigen und eifersüchtigen Mannes standen. Dieser hatte eine Schwester, die er mit Gewalt am Heiraten hinderte, weil er niemanden für standesgemäß hielt. Sie jedoch hatte einen Verwandten namens Yaqzān, der sie heimlich heiratete, auf eine Weise, wie sie durch die dortigen Bräuche erlaubt war. Bald empfing sie ein Kind von ihm und brachte es zur Welt. Weil sie aber fürchtete, daß ihre Sache auskommen und ihr Geheimnis entdeckt werden könnte, legte sie das Kind, nachdem sie es gesäugt hatte, in eine stabile Holzkiste  61 und ging damit in Begleitung ihrer Bediensteten 25 und Vertrauten zur Küste, | wobei ihr Herz brannte aus Liebe

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und Angst um das Kind. Sie sprach: »Gott, Du hast dieses Kind, das zuvor nichts Nennenswertes war (Q 76:1), geschaffen, es genährt in der Dunkelheit des Mutterleibes und Sorge getragen, bis es vollendet und ebenmäßig war. Ich überlasse es Deiner Güte und flehe um Deine Gnade, aus Furcht vor diesem groben, tyrannischen und eigensinnigen König. Sei mit ihm und verlasse es nicht, Allergnädigster!« Darauf übergab sie das Kind dem Meer, und sogleich wurde es von einer starken Meeresströmung erfaßt, die es noch in der selben Nacht ans Ufer der oben erwähnten Insel trug. Die Flut erreichte zur jener Zeit eine Höhe, die sie jeweils nur einmal im Jahr zu erreichten pflegte. So konnte das Wasser die Kiste bis in ein dichtes Gebüsch mit weichem Boden tragen, das von Wind und Regen abgeschirmt war und geschützt vor der Sonne, die sich von ihm wegwandte, wenn sie aufging, und sich abkehrte, wenn sie unterging (Q 18:17). Als dann die Ebbe einsetzte, blieb die Kiste an jener Stelle liegen, und mit 26 der Zeit lagerte sich davor Sand ab, | so daß kein Wasser mehr bis zu jenem Dickicht gelangen konnte, und auch die Flut erreichte es nicht mehr. Die Nägel der Kiste waren bereits locker geworden, und ihre Bretter hatten sich durch die Wucht der Wellen gelöst, als diese noch bis an das Dickicht heranreichten. Als sein Hunger immer stärker wurde, begann der Kleine zu schluchzen, zu schreien und zu strampeln, und schließlich drang sein Weinen ans Ohr einer Gazelle, die soeben ihr Junges verloren hatte. Diese folgte seinen Lauten im Glauben, es sei ihr Junges, bis sie zu der Kiste kam und sie mit ihren Hufen untersuchte, während der Kleine sich von innen her mühte, so daß schließlich ein Brett von der Oberseite der Kiste wegsprang. Die Gazelle empfand sogleich Zuneigung und Liebe zu ihm, bot ihm ihre Zitzen an und gab ihm reichlich Milch zu trinken. Von da an kümmerte sie sich um ihn, zog ihn auf und beschützte ihn vor Gefahren. – So lautet also der Beginn seiner Geschichte bei denen, die nichts von einer spontanen Ent­

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stehung wissen wollen. Im folgenden werden wir dann schildern, wie er aufwuchs und wie seine Entwicklung vonstatten ging, bis er einen großartigen Grad erlangte. Diejenigen aber, | die behaupten, daß er durch spontane Ge- 27 nese entstanden sei, sagen folgendes: In einer Bodengrube auf dieser Insel hatte eine Lehmmasse im Laufe der Jahre vor sich hin gegärt, bis sich schließlich Wärme mit Kälte und Feuchtigkeit mit Trockenheit so vermischt hatten, daß dabei die einzelnen Kräfte gleichmäßig und ausgewogen verteilt waren. Diese gärende Menge Lehm war sehr groß und so beschaffen, daß ein bestimmter Teil davon noch ausgewogener durchmischt war als der Rest und besser geeignet für die Entstehung von Keimzellen (nach Q 76:2). Das Zentrum aber war am ausgewogensten und erreichte eine vollkommene Ähnlichkeit mit dem Mischungsverhältnis des menschlichen Körpers. Die Lehmmasse geriet in Bewegung,62 und es entstand darin auf Grund der großen Viskosität etwas ähnliches wie Blasen in kochendem Wasser. In der Mitte bildete sich eine sehr kleine Blase, die in zwei Hälften, zwischen denen eine dünne Membran lag, geteilt und mit | einem sehr feinen, gasförmigen Stoff, der 28 genau die dazu erforderliche äußerste Ausgewogenheit besaß, angefüllt war. Zu jenem Zeitpunkt verband sich mit dieser Blase der Geist, der von Gott kommt (nach Q 17:85), und ging mit ihr eine derart enge Verbindung ein, daß es sowohl für die Sinne als auch für den Intellekt kaum möglich ist, die beiden voneinander zu lösen. Denn es ist offenbar, daß dieser Geist immerwährend von Gott – mächtig und erhaben ist Er – ausströmt.63 Das ist vergleichbar mit dem Licht der Sonne, das immerwährend auf die Welt herabströmt: Durch dieses Licht werden einige Körper überhaupt nicht beleuchtet, nämlich die ganz durchsichtige Luft. Andere aber werden durch das Licht in einem gewissen Maß zum Leuchten gebracht; das sind die festen, aber matten Körper, die sich untereinander bezüglich ihrer Licht-

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aufnahme unterscheiden und dadurch unterschiedliche Farben aufweisen. Einige schließlich werden durch das Licht äußerst stark zum Leuchten gebracht, nämlich die glänzenden Körper wie die Spiegel und dergleichen; und wenn ein solcher Spiegel auch noch eine speziell geformte, konkave Wölbung besitzt, kann darin durch die Bündelung des Lichts sogar ein Feuer entstehen. Genauso verhält es sich auch mit dem Geist, der von Gott kommt und der immerwährend über alles Seiende herabströmt. An einigen seienden Dingen nun tritt sein Einfluß überhaupt nicht in Erscheinung, weil ihnen die Disposition dazu fehlt; das sind die leblosen Körper, die der Luft im vorangegangenen Beispiel entsprechen. Bei anderen hingegen zeigt sich sein Einfluß, nämlich bei den Pflanzenarten, entsprechend ihren jeweiligen Dispositionen; sie sind mit den festen Körpern im 29 Beispiel vergleichbar. | Bei wieder anderen tritt sein Einfluß besonders deutlich in Erscheinung, und das sind die Arten der Tiere, die den glänzenden Körpern im Beispiel entsprechen. Von diesen glänzenden Körpern sind einige besonders empfänglich für das Sonnenlicht, so daß sie der Form der Sonne und ihrem Vorbild ähnlich werden. Ebenso gibt es unter den beseelten Lebewesen solche, die besonders empfänglich sind für den Geist, dergestalt daß sie ihm ähnlich werden und sich nach seiner Form formen; im besonderen ist dies der Mensch. Darauf verweist auch das Wort des Propheten – Gott segne und bewahre ihn –, daß Gott Adam nach Seiner Form geschaf­ fen hat.64 Wenn im Menschen diese eine Form so stark wird, daß alle anderen Formen in ihrer Realität verschwinden, einzig sie alleine übrig bleibt und die Erhabenheit ihres Lichtes alles, was es erreicht, verbrennt, dann ist es wie mit dem auf sich selbst reflektierenden Spiegel, der alles andere versengt; doch das geschieht nur den Propheten – die Segnungen Gottes seien mit ihnen.65 Das alles wird deutlich werden am angemessenen Ort.

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Wir aber wollen zurückkehren zur Vollendung von dem, was man über jenen Entstehungsprozeß erzählt: Nachdem sich der Geist mit jener ersten, gefäßartigen Struktur verbunden hatte, unterwarfen sich ihm sämtliche Vermögen, verneigten sich vor ihm und stellten sich gemäß dem Befehl Gottes ganz in seinen Dienst. | Neben dieser Struktur hatte sich eine weitere 30 Blase gebildet, die in drei Kammern geteilt war, zwischen denen feine Membranen und Verbindungsgänge lagen, und auch sie war wie die erste Struktur angefüllt mit einem solchen gasförmigen Stoff, der allerdings etwas feiner war als in der ersten Struktur. In diesen drei Hohlräumen ließen sich einige der Vermögen nieder, die sich dem Geist unterstellt hatten, und übernahmen Aufsicht, Fürsorge und die Übermittlung der größeren und kleineren Ereignisse an den mit der ersten Struktur verbundenen Geist. Auf der entgegengesetzten Seite dieser ersten Struktur bildete sich in unmittelbarer Nähe eine dritte Blase, die ebenfalls mit einem gasförmigen Stoff angefüllt war, der nun etwas gröber war als in den ersten beiden. Auch in dieser Struktur befanden sich einige von den dem Geist unter­ stellten Vermögen und übernahmen die Verantwortung für die Erhaltung und Versorgung der ersten Struktur. Diese drei Gebilde | waren das allererste, was – in der eben genannten An- 31 ordnung – aus der gärenden Lehmmasse hervorging, und es bestand zwischen ihnen eine gegenseitige Abhängigkeit. Das erste war angewiesen auf den Dienst und die Arbeit der beiden anderen; während diese beiden das erste brauchten wie der Untertan seinen Herrscher oder das Geordnete das Ordnende. Beide aber – das zweite wie das dritte – waren ihrerseits nach der Entstehung der weiteren Organe selbst wieder Regierende, nicht Regierte, wobei das zweite mehr regierte als das dritte.66. Das erste von ihnen nahm, nachdem sich der Geist mit ihm verbunden und seine innere Wärme entzündet hatte, eine kegel- oder flammenförmige Gestalt an, und ebenso der es um­ gebende gröbere Stoff, der sich zu festem Fleisch wandelte,

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über das sich zu dessen Schutz eine hautartige Hülle, das 32 Bauchfell, legte. – Dieses Organ wird »Herz« genannt. | Es benötigte wegen der Hitze, welche die Auflösung und das Schwinden der feuchten Stoffe zur Folge hatte, etwas, das es versorgte, ernährte und ihm für das Verbrauchte fortlaufend Nachschub lieferte, sonst hätte es nicht lange Bestand gehabt. Ebenso brauchte es etwas um wahrzunehmen, was ihm bekömmlich war, um es dann aufzunehmen, und was ihm abträglich war, um es zu meiden. Die erste Aufgabe übernahm das eine Organ, das über die entsprechenden Kräfte verfügte, die zweite Aufgabe übernahm das andere. Das Organ für die Wahrnehmung war das Gehirn, das für die Ernährung war die Leber. Jedes dieser beiden war aber seinerseits auch auf das Herz angewiesen, das die beiden anderen Organe mit Wärme und mit den ihm eigenen Kräften versorgte. Dazu bildeten sich zwischen ihnen engere und breitere Verbindungswege und Durchgänge, je nach dem, wie es die Notwendigkeit erforderte. Dies waren die Arterien und die Venen.67 So beschreiben die Vertreter dieser Version, ohne etwas auszulassen, die ganze Entstehung und alle Organe, ganz so wie es auch die Naturwissenschaftler tun, wenn sie die Entstehung des Fötus in der Gebärmutter erklären, bis zur Ausformung der Glieder und zur gänzlichen Vollendung des Entwicklungsprozesses, der mit der Geburt des Kindes einen Abschluß findet. Bei ihrer Beschreibung legen sie Wert auf die Tatsache, daß die Lehmmasse so beschaffen war, daß sie mit allem ausgestattet war, was bei der Entstehung eines Menschen nötig ist, wie etwa den Hüllen, die den Embryo umgeben und dergleichen. 33 | Als die Entstehung vollendet war, sprangen diese Hüllen wie bei einer Geburt auseinander, und der Lehm, der in der Zwischenzeit ausgetrocknet war, wurde rissig. Als das Kind keine Nahrung mehr hatte und sein Hunger immer stärker wurde, begann es zu schreien und wurde von der Gazelle, die ihr Junges verloren hatte, aufgenommen.

[ iii. Erster Lebensabschnitt – bis zum siebten Altersjahr ] Ab diesem Punkt stimmen die Beschreibungen, welche uns die beiden Parteien vom Aufwachsen des Kindes geben, überein; sie erzählen einstimmig, daß die Gazelle, welche die Sorge für das Kind übernommen hatte, auf fruchtbaren und saftigen Wiesen weidete, wodurch sie prächtig gedieh, reichlich Milch hatte und so den Knaben aufs beste ernähren konnte. Sie war für ihn da und entfernte sich nur von ihm, wenn sie weiden gehen mußte, wodurch sich der Kleine so sehr an jene Gazelle gewöhnte, daß er, wenn sie einmal länger fort blieb, heftig zu weinen begann und sie umgehend zurückeilte. Es gab auf jener Insel auch keine der üblichen Raubkatzen, und so wuchs der Knabe heran und ernährte sich von der Gazellenmilch, bis er zwei Jahre alt war, mit Laufen anfing und Milchzähne bekam. Er begann, der Gazelle zu folgen, und sie paßte auf ihn auf, begleitete ihn, brachte ihn zu Plätzen mit Obstbäumen und gab ihm dort die reifen und süßen Früchte zu essen, die von den Bäumen gefallen waren. Mit ihren Zähnen brach sie die, welche eine harte Schale hatten, für ihn entzwei. Sie säugte ihn, wenn er nach Milch verlangte, | und führte ihn zum Wasser, 34 wenn er Durst hatte. Sie spendete ihm Schatten, wenn die Sonne brannte, und wärmte ihn, wenn er fror. Bei Einbruch der Nacht brachte sie ihn jeweils dorthin zurück, wo sie ihn gefunden hatte, und bedeckte ihn mit ihrem Körper und mit den Federn, mit denen man die Kiste gepolstert hatte, als das Kind hineingelegt worden war. Wohin sie auch gingen, wurden sie von einer Herde Wildtiere begleitet, die mit ihnen herum­ zog und mit ihnen lagerte. Mit der Zeit begann der Kleine,

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­ eren Laute mit seiner Stimme so gut nachzuahmen, daß kaum d noch ein Unterschied bemerkbar war. Und auch die Stimmen der anderen Tiere und das Singen der Vögel imitierte er gekonnt. Aber besonders gut beherrschte er die Laute der Gazellen, mit denen sie Gefahren, Freundschaft, Zutrauen und Verteidigungsbereitschaft signalisierten, denn die Tiere hatten für alle diese verschiedenen Situationen auch verschiedene Laute. So wurden die Tiere und er gegenseitig miteinander vertraut und empfanden keine Scheu voreinander. Als ihm allmählich die Abbilder der Dinge selbst auch dann gegenwärtig blieben, wenn sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden waren, begann er, nach den einen Verlangen zu 35 empfinden, gegenüber den anderen jedoch Abscheu. | Darüber hinaus begann er, die Tiere zu betrachten, und sah, daß sie mit Fellen, Haaren oder Federn bekleidet waren; er bemerkte ihre Geschwindigkeit im Lauf, ihre Stärke im Kampf und ihre Waffen zur Verteidigung gegen Angreifer, wie Hörner, Zähne, Hufe, Sporne und Krallen. Darauf blickte er auf sich selbst und sah ein, daß er nackt und wehrlos war, ein schlechter Läufer und schwacher Kämpfer in all den Situationen, in denen die Tiere ihm eßbare Früchte streitig machten und ihm diese dann jeweils wegschnappten oder sogar entrissen. Ebensowenig konnte er sich selbst verteidigen, noch sich in Sicherheit bringen. Weiter sah er, daß den Gazellen, die seine Altersgenossen waren, plötzlich Hörner zu sprießen begannen und aus ihnen immer flinkere Läufer wurden, während er bei sich selbst nichts, was all dem vergleichbar gewesen wäre, feststellte. Obwohl er darüber nachdachte, fand er keine Erklärung, und selbst wenn er die behinderten oder mißgestalteten Tiere betrachtete, fand er keines, das ihm ähnlich gewesen wäre. Weiter schaute er auf die Austrittsstellen der Körper­ ausscheidungen und fand, daß diese bei den anderen Tieren bedeckt waren, und zwar die für die festen Ausscheidungen mit einem Schwanz und die für die dünnflüssigen mit Haa-

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ren | oder ähnlichem. Und auch die Geschlechtsteile waren 36 bei ihnen besser versteckt als bei ihm. All das bereitete ihm Kummer und Sorge.

[ iv. Zweiter Lebensabschnitt – bis zum einundzwanzigsten Altersjahr ] Als er knapp sieben Jahre alt geworden war und sich lange genug gegrämt hatte, gab er die Hoffnung auf, daß sich alle diese Unzulänglichkeiten, die ihn plagten, noch verbessern würden, und nahm breite Blätter von einem Baum, die er sich hinten und vorne anlegte und mit einem aus Palmblättern und Gras gefertigten Gürtel befestigte. Doch schon nach kurzer Zeit wurden diese Blätter welk, verdorrten und fielen ab. So mußte er immer wieder neue Blätter nehmen, die er dann in Lagen übereinander legte, wodurch sie vielleicht ein wenig länger hielten, aber auch so jedenfalls nur für eine kurze Zeit. Von den Ästen eines Baumes fertigte er sich einen Stock, indem er die Enden und den Schaft glättete und ebnete. Damit vertrieb er die Tiere, die ihn bedrängten, wobei er die Schwächeren sogar angreifen und den Kräftigeren wenigstens standhalten 37 konnte. So lernte er seine eigene Kraft wertzuschätzen | und merkte, daß seine Hände gegenüber den Pfoten und Hufen der Tiere viele Vorzüge hatten. Denn mit ihrer Hilfe gelang es ihm ja, seine Blöße zu bedecken und einen Stock zur Selbstverteidigung einzusetzen, so daß er auf einen Schwanz und natur­ gegebene Waffen verzichten konnte. Unterdessen war er herangewachsen und hatte das siebte Altersjahr hinter sich gelassen. Mit der Zeit wurde ihm das ständige Erneuern der Blätter, die ihm als Bedeckung dienten, zu mühsam, und er dachte daran, den Schwanz eines toten Tieres zu nehmen, um ihn sich umzuhängen. Aber er hatte gesehen, daß die lebenden Tiere ihre toten Artgenossen mieden und vor ihnen zurückschreckten. So konnte er sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen, bis

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er eines Tages auf einen toten Adler stieß. Da bot sich ihm ein Weg, um seinen Plan zu verwirklichen, und er ergriff die Gelegenheit, da er gesehen hatte, daß die übrigen Tiere den toten Vogel nicht als abstoßend empfanden. Er ging zu ihm hin, trennte die beiden Flügel und den Schwanz als ganze Stücke ab, breitete deren Federn aus und strich sie glatt. Auch die übrige Haut zog er ab, teilte sie in zwei Stücke und band sich das eine an den Rücken und das andere um den Bauch. Den Schwanz hängte er über den Hintern und die beiden Flügel an seine Oberarme. So kam er zu einer wärmenden Bekleidung, die ihm darüber hinaus bei den Tieren auf der Insel Respekt verschaffte, so daß ihn keines mehr bedrängte oder sich ihm widersetzte. Nur noch die Gazelle, | die ihn gestillt und auf- 38 gezogen hatte, kam weiterhin in seine Nähe. Beide wichen sie kaum je von des anderen Seite, bis die Gazelle allmählich alt und schwach wurde. Da brachte nun er sie zu den fruchtbaren Weideplätzen, sammelte für sie süße Früchte und fütterte sie; aber trotzdem wurde sie immer schwächer und magerte ab, bis sie schließlich starb, wodurch ihre Bewegungen gänzlich zum Erliegen kamen und all ihre Aktivitäten erloschen. Als der Knabe sie in diesem Zustand sah, überkam ihn eine tiefe Verzweiflung, und seine Seele war übervoll mit Kummer ihretwegen. Er rief ihr zu mit der gleichen Stimme, mit der sie ihm zu antworten pflegte, wenn sie ihn hörte, und er schrie so laut er konnte, aber bei alldem konnte er bei ihr weder eine Bewegung noch eine Veränderung erkennen. Er untersuchte ihre Ohren und ihre Augen, ohne einen offensichtlichen Schaden an ihnen feststellen zu können. Ebenso untersuchte er alle ihre Glieder und konnte daran ebensowenig etwas Schadhaftes entdecken. Er hatte nämlich die Absicht, den Ort des Schadens zu finden, um diesen zu beseitigen, damit die Gazelle wieder so würde, wie sie früher war – doch es mißlang ihm, und er konnte nichts tun. Auf jenen Gedanken war er durch eine Überlegung gebracht worden, die er schon zuvor angestellt

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hatte; denn es war ihm aufgefallen, daß er, wenn er die Augen 39 schloß oder sie mit etwas abdeckte, | nichts mehr sah, bis jenes Hindernis wieder entfernt wurde. Ebenso bemerkte er, daß er, wenn er zwei Finger in seine Ohren steckte und sie damit verstopfte, nichts mehr hörte, bis er jene Blockierung wieder aufhob; und wenn er seine Nase mit der Hand zuhielt, dann nahm er keine Gerüche mehr wahr, bis er seine Nase wieder öffnete. Daher war er der Überzeugung, daß seine sämtlichen Wahrnehmungen und Körperfunktionen durch Hindernisse blockiert werden konnten und erst wieder funktionierten, wenn diese Hindernisse aufgehoben wurden. Nachdem er alle ihre sichtbaren Körperteile untersucht hatte und an ihnen keinen offensichtlichen Schaden feststellen konnte, aber sah, daß der Stillstand sie vollumfänglich erfaßt hatte und nicht nur ein einzelnes Körperteil betraf, da kam er auf den Gedanken, daß der Schaden, der über sie gekommen war, in einem unsichtbaren Organ liegen mußte, das im Inneren des Körpers verborgen war, auf das aber alle äußeren Körperteile für ihr Funktionieren angewiesen waren, so daß sich das Übel, nachdem der Schaden dieses innere Organ befallen hatte, ausbreitete und ein umfassender Stillstand eintrat. Er hoffte, daß jenes Organ, wenn er es finden und das, was es befallen hatte, entfernen könnte, in seinen normalen, gesunden Zustand zurückkehren, seinen nützlichen Einfluß auf den restlichen Körper wieder ausüben und dadurch auch die Körperfunktionen ihre frühere Arbeit wieder aufnehmen würden. 40 | Schon zuvor hatte er beobachtet, daß bei den Körpern verendeter Tiere sämtliche Glieder massiv und ohne Hohlraum waren, außer dem Schädel, der Brust und dem Bauch. Das brachte ihn auf den Gedanken, daß das Organ mit jenen Eigen­ schaften nur an einem dieser drei Orte sein könne, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach im Mittleren von diesen drei. Denn er war zur festen Überzeugung gelangt, daß alle anderen Organe seiner bedurften und es deshalb notwendig war, daß

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sich sein Sitz in der Mitte befand. Zudem fühlte er bei sich selbst auch etwas wie ein solches Organ in seiner Brust. Die übrigen Körperteile – die Hand, den Fuß, das Ohr, die Nase und das Auge – hielt er für abtrennbar und somit für entbehrlich, auch vom Kopf dachte er solches und daß er ihn entbehren könnte. Wenn er aber an das Ding in seiner Brust dachte, so hielt er es für unentbehrlich, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick.68 | Deshalb versuchte er auch stets, wenn 41 er mit wilden Tieren kämpfte, vor allem seine Brust vor ihren Hörnern zu schützen, aufgrund der Empfindung, die er für das Ding in seinem Innern hegte. Nachdem feststand, daß sich das durch den Schaden betroffene Organ in ihrer Brust befand, entschloß er sich, danach zu suchen und es zu überprüfen, um vielleicht seinen Schaden zu besiegen und zu entfernen. Aber er befürchtete, daß sein Tun schlimmer als der ursprüngliche Schaden, der sie befallen hatte, sein könnte und seine Bemühungen ihr noch mehr schadeten. Da überlegte er, ob er schon einmal eines von den Tieren der Insel in einem solchen Zustand gesehen hatte, das sich danach wieder erholt hätte. Es kam ihm jedoch kein einziger Fall in den Sinn, und er realisierte die Aussichtslosigkeit, daß sie wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren würde, wenn er sie so bleiben ließe. Dagegen blieb ihm etwas Hoffnung, daß sich ihr Zustand wieder ändern würde, wenn er jenes Organ finden und seinen Schaden beheben könnte. Da entschloß er sich, ihre Brust aufzuschneiden und das Innere zu untersuchen. Er nahm harte Steinsplitter und Streifen von trockenem Schilfrohr, die eine messerähnliche Form hatten, und machte damit einen Schnitt zwischen ihren Rippen, bis er das Fleisch dazwischen entzweigetrennt hatte, und gelangte bis zur Hülle, die unter den Rippen lag – dem Zwerchfell. Er sah, daß es fest war, und hatte die starke Vermutung, daß eine solche Hülle nur zu einem ebensolchen Organ, wie er es suchte, gehören konnte. Er hoffte, hinter ihr auf das Ge-

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suchte zu stoßen, und so versuchte er, | die Hülle aufzuschneiden; aber es fiel ihm schwer, weil er keine richtigen Werkzeuge, sondern nur solche aus Stein und Schilfrohr besaß. Er erneuerte und schärfte sie und gab sein Bestes, um die Hülle zu durchdringen, bis sie endlich nachgab und er zur Lunge gelangte. Zuerst dachte er, daß dies das Gesuchte sei; er drehte und wendete es auf der Suche nach dem Ort des Schadens; dabei hatte er vorerst nur den einen Lungenflügel auf der ihm zugewandten Körperhälfte gefunden. Als er merkte, daß die Lunge sich weiter zur Seite hin erstreckte, setzte er seine Suche in der Mitte der Brust fort – weil er überzeugt war, daß jenes Organ der Breite nach nur in der Mitte des Körpers liegen konnte, wie es sich ja auch der Länge nach in der Mitte befand –, bis er schließlich das Herz fand. Es war umgeben von einer äußerst harten Hülle, mit sehr starken Bändern befestigt und auf der Seite, von der er mit dem Öffnen des Körpers begonnen hatte, von einem Lungenflügel umgeben. Er sagte sich: »Wenn dieses Organ auf der gegenüberliegenden Seite ebenso beschaffen ist wie auf dieser Seite, dann ist es wirklich in der Mitte und muß das sein, was ich suche. Insbesondere, wenn ich seine vorzügliche Lage, die schöne Form, die kompakte Struktur und das massive Fleisch bedenke; zudem ist es von einer Hülle umgeben, wie ich sie bei keinem anderen Körperteil gesehen habe.« Darauf begann er von der gegenüberliegenden Seite der Brust her zu suchen und fand auch dort die un43 ter den Rippen liegende Hülle und den Lungenflügel, | wie er es schon auf dieser Seite gefunden hatte. Da entschied er, daß dieses Organ das von ihm Gesuchte sei, und er versuchte, dessen Hülle aufzureißen und den Herzbeutel zu zerteilen. Mit großer Mühe und Anstrengung gelang ihm dies, nachdem er sein Bestes gegeben hatte, und er legte das Herz frei. Er sah, daß es rundum fest und massiv war, und schaute, ob er einen sichtbaren Schaden daran entdecken könnte, aber er fand keinen. Da drückte er es mit seiner Hand und merkte, daß darin

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ein Hohlraum vorhanden war. »Vielleicht«, sagte er sich, »ist das, was ich letztlich suche, ja im Innern dieses Organs, und ich bin bis jetzt noch gar nicht bis zu ihm gelangt.« Also teilte er das Herz entzwei und fand darin zwei Hohlräume. Einen auf der rechten Seite und einen auf der linken. Derjenige auf der rechten Seite war gefüllt mit einem Klumpen geronnenen Blutes, der auf der linken Seite aber war leer und enthielt nichts. Er sagte sich: »Der Sitz von dem, was ich suche, muß zweifellos in einer dieser zwei Kammern sein. In der linken Kammer aber sehe ich nur dieses geronnene Blut, und ohne Zweifel ist es erst geronnen, als der Körper in diesem Zustand war.« Denn er hatte schon beobachtet, daß Blut, sobald es vergossen wird und austritt, gerinnt und fest wird. Und dieses Blut hier war gleich wie jedes andere. »Ich sehe, daß sich auch in allen anderen Organen solches Blut befindet, und kein Organ zeichnet sich dadurch gegenüber einem anderen besonders aus. | 44 Das von mir Gesuchte ist aber gerade nicht so beschaffen, sondern es ist das, was allein diesem Ort eigentümlich ist; es ist das, wovon ich spüre, daß ich es keinen Augenblick entbehren könnte, und das, worauf ich von Anfang an aus war. Das Blut aber – wie viele Male haben mich nicht Tiere im Streit verwundet, so daß ich viel davon verloren habe, und doch hat mir das nicht geschadet, noch irgendeine meiner Körperfunktionen zum Erliegen gebracht. In dieser Kammer liegt das, was ich suche, also nicht. Die linke Kammer dagegen ist offenbar leer und enthält nichts; doch – wie ich annehme – nicht ohne Grund: Denn ich habe gesehen, daß jedes Organ eine ihm eigene Funktion besitzt. Wie könnte nun diese Kammer nutzlos sein, nach all den Vorzügen, die ich an ihr festgestellt habe? Ich kann nicht anders, als anzunehmen, daß sich das, wonach ich suche, darin befunden hatte, dann aber aus der Kammer entwich und sie leer zurückließ. Hierauf befiel ebenjenes Unglück diesen Körper, was den Verlust der Wahrnehmungen und das Erliegen der Bewegungen zur Folge hatte.« Nachdem er sah,

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daß das, was dieser Kammer inne­gewohnt hatte, schon vor deren Zerstörung durch ihn entwichen war und diese schon verlassen hatte, als sie noch intakt war, da sah er auch ein, daß es wohl kaum wieder zurückkehren würde nach all der erfolgten Beschädigung und Zerstörung. | Der ganze Körper erschien 45 ihm darauf erbärmlich und wertlos gegenüber jenem Ding, von dem er annahm, daß es dem Körper eine Zeitlang innewohnte und ihn danach aber verließ. Fortan kreiste sein Denken nur noch um folgende Fragen zu jenem Ding: Was ist es? Wie ist es? Womit war es mit diesem Körper verbunden? Wohin war es gegangen? Wo hindurch entwich es aus dem Körper? Was war die Ursache, die es aus dem Körper vertrieben hatte, falls es den Körper wider Willen verließ; oder was war die Ursache, die ihm den Körper so verhaßt gemacht hatte, daß es sich schließlich von ihm trennte, falls es ihn denn freiwillig verließ? 69 Über all das dachte er viel nach und kümmerte sich kaum mehr um den leblosen Körper. Er wußte, daß seine Mutter, die für ihn Zuneigung empfunden und ihn aufgezogen hatte, eben jenes Ding war, das jetzt verschwunden war. Nur von ihm gingen all jene Handlungen aus, nicht von jenem reglosen Körper, der bloß ein Werkzeug dazu war, vergleichbar dem Stock, den er selbst gebrauchte, wenn er gegen Tiere zu kämpfen hatte. Seine Verbundenheit zu jenem Körper übertrug sich auf das, das ihn regiert und bewegt hatte, und nur nach diesem empfand er fortan Verlangen. | In der Zwischenzeit begann der 46 Körper zu verwesen und verbreitete einen widerlichen Gestank, was seine Abneigung gegenüber dem Körper noch steigerte, und er wollte ihn überhaupt nicht mehr sehen. Wenig später beobachtete er zwei Raben, die miteinander kämpften, bis einer den anderen getötet hatte. Der Überlebende begann darauf, solange am Boden zu scharren, bis er eine Vertiefung geschaffen hatte, in der er den andern mit Erde begraben konnte (nach Q 5:31).70. »Wie gut hat doch dieser Rabe gehandelt«, sagte er zu sich, »als er die Leiche seines Gefährten begraben hat – obwohl er, in-

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dem er ihn tötete, zuvor schlecht gehandelt hatte. So hätte ich doch erst recht das gleiche mit meiner Mutter tun sollen.« Also grub er ein Loch, legte den Körper seiner Mutter hinein und bedeckte ihn mit Erde. Seine Gedanken aber beschäftigten sich weiter mit jenem Ding, das den Körper kontrollierte, da er immer noch nicht wußte, was es war. Wenn er allerdings die übrigen Gazellen eine um die andere betrachtete, dann sah er, daß sie alle dieselbe Gestalt und Form hatten wie seine Mutter. Er ging deshalb davon aus, daß das, was jede einzelne Gazelle kontrollierte und bewegte, von gleicher Beschaffenheit war wie das, was auch seine Mutter kontrolliert und bewegt hatte. So pflegte er weiterhin Umgang mit den Gazellen und empfand Zuneigung zu ihnen aufgrund dieser Ähnlichkeit. 47 Eine Zeitlang verbrachte er auf diese Weise, | studierte dabei die verschiedenen Tier- und Pflanzenarten, durchstreifte die Küste jener Insel und versuchte etwas zu finden, das ihm ähnlich war – so wie er auch sah, daß alle Tiere und Pflanzen ihresgleichen in großer Zahl hatten –, doch fand er nichts derartiges. Er konnte sehen, daß die Insel von allen Seiten vom Meer umgeben war, und glaubte deshalb, daß es in der Welt nebst jener Insel kein anderes Land gebe. Zufälligerweise entzündete sich eines Tages in einem Staudendickicht durch Reibungshitze ein Feuer; als er dieses entdeckte, hielt er es für eine furchterregende Erscheinung und ein Naturphänomen, dem er zuvor noch nie begegnet war. Er stand verwundert eine Zeitlang davor und wagte sich dann allmählich immer näher an das Feuer heran. Da sah er, was für ein durchdringendes Licht und eine überwältigende Wirkung das Feuer hatte, dergestalt daß es alles, was mit ihm in Kontakt kam, erfaßte und auch in Feuer verwandelte. Die Verwunderung und die seinem Charakter von Gott verliehene Kühnheit und Kraft ließen ihn seine Hand danach ausstrecken, in der Absicht etwas davon zu ergreifen. Sobald er ihm aber nahe genug war, da verbrannte es seine Hand, und er

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vermochte es nicht festzuhalten. | Da kam ihm die Idee, ein 48 glimmendes Holzstück zu nehmen, welches vom Feuer noch nicht vollständig erfaßt worden war, und es am unversehrten Ende zu ergreifen, während das Feuer am anderen Ende noch brannte. Das gelang ihm, und er trug es zu dem Ort, der ihm als Unterschlupf diente; er hatte sich nämlich schon früher in eine Höhle zurückgezogen, die ihm als Wohnstätte geeignet erschien. Fortan hielt er das Feuer ununterbrochen mit Heu und reichlich Holz am Brennen und trug Sorge dafür Tag und Nacht, da er es so schön fand und bewunderte. Während der Nacht war es ihm besonders lieb, weil es für ihn mit seinem Licht und seiner Wärme den Platz der Sonne einnahm. Seine Leidenschaft für das Feuer wurde immer stärker, und er hielt es für das vorzüglichste Ding, das er besaß. Er bemerkte, daß es sich stets nach oben bewegte und in die Höhe strebte, und gelangte zur Überzeugung, daß es zu der Menge der himmlischen Substanzen 71 gehörte, die er jeweils beobachtet hatte. Er erprobte die Kraft des Feuers an sämtlichen Dingen, indem er sie hineinwarf. Dabei sah er, daß es sie alle erfaßte – entweder schneller oder langsamer, entsprechend der ­stärkeren oder schwächeren Brennbarkeit des hineingeworfenen Gegenstandes. Unter den Dingen, die er mit der Absicht, dessen Kraft zu erproben, ins Feuer geworfen hatte, befanden sich auch einige Meerestiere, | die von der Brandung ans Ufer gespült wor- 49 den waren. Nachdem nun ein solches Meerestier gebraten war und von ihm ein leckerer Duft ausging, regte sich sein Appetit, und er kostete ein Stück davon. Es schmeckte ihm vorzüglich, und daher wurde es ihm zur Gewohnheit, Fleisch zu essen. Sowohl zu Lande als auch zu Wasser übte er sich sodann in allerlei Jagdmethoden, bis er darin eine große Geschicklichkeit erworben hatte; und seine Liebe zum Feuer wurde noch stärker, weil er dank ihm zu allerlei wohlschmeckenden Speisen kam – etwas, das er vorher nicht gehabt hatte. Als seine Liebe zum Feuer nun dank dessen guten Auswirkungen und großer

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Macht so stark geworden war, kam er auf den Gedanken, daß das, was aus dem Herz der Gazelle, die ihn aufgezogen hatte, entwichen war, von der selben Substanz war oder zumindest ihm gattungsgleich. Seine Annahme wurde bestätigt durch die Beobachtung, daß Tiere während ihres ganzen Lebens warm waren, nach ihrem Tod aber erkalteten – und dies immer, ohne Ausnahme. Dazu kam, daß er in seiner Brust eine intensive Wärme spürte, etwa an der Stelle, wo er auch die Brust der Gazelle geöffnet hatte. Ihm kam der Gedanke, daß wenn er ein lebendes Tier nehmen, dessen Herz aufschneiden und in das Innere, das er beim Öffnen der Gazelle leer vorgefunden hatte, blicken könnte, dann würde er bei dem lebenden Tier dieses Innere wohl noch mit dem ihm innewohnenden Ding erblic50 ken und auf diese Weise herausfinden können, | ob es von derselben Substanz war wie das Feuer und ob es darin Licht und Wärme gab oder nicht. Er nahm sich ein Tier, band es fest und schlitzte es auf, wie er es bei der Gazelle getan hatte, bis er zum Herz gelangte. Zuerst nahm er sich die linke Seite vor, schnitt sie auf und sah, daß der Hohlraum gefüllt war mit einem luftartigen Dampf, ähnlich wie weißer Nebel. Er streckte seinen Finger hinein und merkte, daß dieser so heiß war, daß er ihn beinahe verbrannt hätte. Das Tier verstarb im selben Augenblick. Für ihn war klar, daß es dieser heiße Dampf war, der dem Tier die Bewegung verlieh, daß es so etwas wie jenes Ding in jedem einzelnen Tier gab und daß das Tier starb, wenn es von ihm getrennt wurde. Darauf regte sich in ihm das Verlangen, auch alle übrigen Organe der Tiere zu erforschen, insbesondere ihre Anordnung, ihre Lage, ihre Quantität, die Beschaffenheit ihrer Verbindung untereinander, wie sie alle aus diesem heißen Dampf ihre Lebenskraft schöpften, wie sich der Dampf erhielt, solange er es eben tat, woraus er selbst schöpfte und wie sich seine Wärme bewahrte. Dies alles studierte er mittels Sezie51 rung lebender und toter Tiere. | Darin vertiefte er sich ununter-

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brochen und dachte gründlich darüber nach, bis er in all dem den Rang der großen Naturwissenschaftler erreicht hatte. Es war ihm klar geworden, daß jedes einzelne Tier – obwohl vieles hinsichtlich seiner Organe und der Mannigfaltigkeit seiner Sinne und Bewegungen – doch eines war durch jenen Geist,72 der von einem einzigen Ursprungsort ausging und sich von dort auf alle anderen Organe verteilte; ebenso, daß alle Organe ihm dienten oder von ihm kontrolliert wurden, und weiter, daß die Rolle des Geistes bei der Handhabung des Körpers vergleichbar war seiner eigenen Handhabung von Geräten, von denen einige ihm zum Kampf gegen Tiere dienten, andere zum Jagen und wieder andere zum Sezieren. Diejenigen zum Kämpfen ließen sich unterteilen in solche für die Verteidigung und in solche für den Angriff. Ebenso ließen sich die Jagdgeräte unterteilen in solche, die für Meerestiere geeignet waren, und solche, die sich für Landtiere eigneten. Und auch die Seziergeräte ließen sich unterteilen in solche, die zum Zerteilen, Brechen oder Durchbohren geeignet waren. Ein und derselbe Leib handhabte dies alles in verschiedener Weise, je nach Eignung eines jeden Gerätes und entsprechend des bei dieser Handhabung erstrebten Zweckes. | Ebenso war nun auch dieser tierhafte Geist ein einziger, der 52 beim Gebrauch des Gerätes »Auge« die Funktion des Sehens ausübte, beim Gebrauch des Gerätes »Ohr« die Funktion des Hörens, beim Gebrauch des Gerätes »Nase« die Funktion des Riechens, beim Gebrauch des Gerätes »Zunge« die Funktion des Schmeckens, beim Gebrauch der Haut und des Fleisches die Funktion des Tastens, beim Gebrauch der Extremitäten die Funktion der Körperbewegung und beim Gebrauch des Gerätes »Leber« die Funktion der Ernährung und Verdauung. Jedes einzelne dieser Organe hatte also eine eigene Aufgabe zu verrichten, und es konnte seine Funktion nur ausüben dank dem, was von jenem Geist ausgehend über die Verbindungswege, die Nerven genannt werden, zu ihm gelangte. Wenn diese Verbin-

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dungen durchtrennt oder blockiert wurden, dann versagte auch die Funktion jenes Organs. Die Nerven ihrerseits empfingen den Geist bloß aus den inneren Regionen des Gehirns, und das Gehirn wiederum empfing den Geist aus dem Herz.73 Im Hirn selbst befanden sich mehrere Arten Geist, weil es ein Ort war, der in viele kleine Einheiten unterteilt war. Jedes Organ, dem aus irgendeinem Grund dieser Geist fehlte, gab seine Funktion auf und glich einem weggeworfenen Gerät, das niemand mehr verwendete oder benötigte. Wenn der Geist den Körper vollständig verließ oder verschwand oder sich sonst irgendwie auflöste, dann versagte der ganze Körper und starb. 53 | Bis zu diesem Punkt gelangte er mit solcherlei Betrachtungen, als er den dritten Siebenjahres-Abschnitt – also einundzwanzig Jahre – durchlebt hatte. In diesem Zeitraum hatte er mannigfaltige Fertigkeiten entwickelt: Er kleidete sich mit Häuten von Tieren, die er seziert hatte, und machte sich daraus auch Schuhe. Schnüre und Fäden machte er sich aus Bast von Hibiskus-, Malven- und Hanfstauden und allen anderen faserhaltigen Pflanzen, worauf ihn ursprünglich der Gebrauch von Grashalmen gebracht hatte. Er machte sich Ahlen aus harten Dornen und Rohren, die er mittels Steinen zugespitzt hatte. Die Anregung zum Bauen gab ihm die Beobachtung von Schwalben, und so machte er sich eine Behausung und eine Vorratskammer für Lebensmittel, die er mit einer Tür aus geflochtenen Rohren versah, damit nicht irgendein Tier hineingelangen konnte, wenn er aufgrund einer bestimm54 ten Angelegenheit abwesend war. | Er richtete Raubvögel ab, um sie bei der Jagd einzusetzen, und hielt Hühner, um deren Eier und Küken zu verwenden. Aus Hörnern von wilden Kühen machte er sich so etwas wie Speerspitzen, befestigte sie an starken Schilfrohren, Buchenästen oder dergleichen und machte daraus mit Hilfe von Feuer und scharfen Steinkanten etwas ähnliches wie Speere, und einen Schild fertigte er sich aus mehreren Lagen von Leder. Dies alles, nachdem er gemerkt

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hatte, daß er zwar keine natürlichen Waffen besaß, aber dank seiner Hände alles, was ihm fehlte, wettmachen konnte. So kam es, daß sich ihm kein Tier, von welcher Art es auch war, widersetzen konnte, außer daß sie vor ihm flohen und ihm so entkamen. Also begann er über einen Ausweg nachzudenken, und es schien ihm am aussichtsreichsten, einige schnelle Tiere zu zähmen und ihnen gefällig zu sein mit bekömmlichem Futter, bis es ihm schließlich gelänge, auf ihnen zu reiten und den anderen Tierarten nachzujagen. Auf jener Insel gab es frei­ lebende Pferde und Wildesel; von diesen nahm er sich einige, die ihm angemessen schienen und ritt sie zu, bis er mit ihnen sein Vorhaben verwirklichen konnte. Er fertigte für sie mit Riemen und Leder etwas ähnliches wie Zaumzeug und Sattel, und damit gelang es ihm schließlich wie erhofft, denjeni55 gen Tieren nachzujagen, | die sonst nur sehr schwer zu fangen waren. In all diesen Dingen brachte er es zur Meisterschaft zu der Zeit, da er beschäftigt war mit Sezieren und dem Bestreben, alle Eigen­t ümlich­keiten der tierischen Organe und wodurch sie sich unterschieden genau zu verstehen. Dies alles in dem Zeitraum, der – wie wir schon festgelegt haben – bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr dauerte.

[ v. Dritter Lebensabschnitt – bis zum a­ chtundzwanzigsten Altersjahr ] Danach begann er, anderweitige Betrachtungen a­ nzustellen, und studierte sämtliche Körper aus der Welt des ­Entstehens und Vergehens: die Tiere mit ihren verschiedenen Arten, Pflanzen, verschiedene Sorten von Steinen, Erde, Wasser, Dampf, Eis, Schnee, Hagel, Rauch, Flammen und Glut. Er bemerkte an ihnen viele Merkmale, unterschiedliche Wirkungen und übereinstimmende oder entgegengesetzte Bewegungen. Er dachte scharf und gründlich darüber nach und erkannte, daß sie in einigen Eigenschaften übereinstimmten und sich in einigen unterschieden, | und auch, daß sie in be- 56 zug auf das, worin sie übereinstimmten, eines waren und in bezug auf das, wodurch sie sich unterschieden, untereinander verschieden und vielfältig. Manchmal betrachtete er die Eigentümlichkeiten der Dinge und das, wodurch sich die einen von den andern abgrenzten; dann schienen sie ihm von grenzenloser Mannigfaltigkeit zu sein, und die Welt des Seins erstreckte sich in seinen Augen unfaßbar weit. Sogar sein eigenes Selbst, sein eigent­liches Wesen 74 erschien ihm als mannigfaltig, denn er sah die Verschiedenheit seiner Organe und daß sich jedes einzelne durch eine ihm eigene Funktion und Eigenschaft auszeichnete. Er betrachtete jedes einzelne Organ und sah, daß es in sehr viele Teile unterteilt werden konnte; so kam er zum Schluß, daß sein Wesen und das Wesen eines jeden Dinges je vieles war. Darauf aber wandte er sich einer zweiten Betrachtung zu, die er von einem anderen Weg her anging: Er sah, daß seine Organe, obschon sie viele waren, alle untereinander verbunden waren, und zwar ohne irgendeine Unterbrechung da-

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zwischen. Also galten sie doch als eines und unterschieden sich nur durch ihre verschiedenen Funktionen. Jener Unterschied aber wurde allein durch das, was vom Vermögen des tierhaften Geistes die Organe erreichte, hervorgerufen. Jener Geist war seinem Wesen nach einer; er war sein wahres, eigentliches Wesen, während alle übrigen Organe gleichsam nur Geräte waren. Auf diesem Weg nun kam er zum Schluß, daß sein eige­nes Wesen eine Einheit bildete. 57 Darauf schritt er zu den übrigen Tierarten und sah, | daß jedes Individuum unter ihnen, auf diese Weise betrachtet, eines war. Wenn er sie aber Art für Art betrachtete, also die Gazellen, die Pferde, die Esel und nacheinander die verschiedenen Sorten von Vögeln, dann konnte er sehen, daß die Individuen jeder Art untereinander ähnlich waren in bezug auf ihre äußeren und inneren Organe, ihre Wahrnehmungsvermögen, ihre Bewegungen und ihre Triebe. Im Vergleich zu dem, worin sie untereinander übereinstimmten, bemerkte er zwischen ihnen nur geringfügige Unterschiede. So kam er zum Schluß, daß der Geist, der all diesen Arten gemeinsam war, auch ein ­einziges Ding war, nur dadurch unterschieden, daß er sich auf viele Herzen verteilte. Wäre es möglich gewesen, das, was auf vie­le Herzen aufgeteilt war, zusammenzubringen und in einem Gefäß zu sammeln, dann wäre alles ein einziges Ding gewesen, genauso wie eine Flüssigkeit oder ein Getränk, das auf viele Krüge verteilt war und dann wieder gesammelt wurde, sowohl im Zustand der Aufteilung wie auch der Sammlung ein einziges Ding war. Die Mannigfaltigkeit trat gewissermaßen nur als unwesentliche, akzidentielle Eigenschaft hinzu. Also sah er die ganze Art aufgrund dieser Betrachtungsweise als etwas einziges an und verglich die Vielheit der Individuen mit der Vielheit der Organe eines Individuums, die ja in Realität keine eigentliche Vielheit war. 58 | Darauf stellte er sich alle Tierarten vor, ging sie in Gedanken durch und bemerkte, daß sie fühlen, sich ernähren und

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sich nach ihrem Willen da- und dorthin bewegen konnten. Er wußte, daß diese Wirkungen zu den Eigentümlichkeiten des tierhaften Geistes gehörten, und auch, daß diejenigen Dinge, worin sie sich – über diese Übereinstimmungen hinaus – unter­ schieden, nicht im besonderen dem tierhaften Geist eigentümlich waren. Durch diese Gedanken zeigte sich ihm, daß der tierhafte Geist, welcher der gesamten Gattung der Tiere zukam, in Realität ein einziger war. Wenn es innerhalb der Gattung geringe Unterschiede gab, so war es gerade das, wodurch sich jede Art gegenüber einer anderen auszeichnete, vergleichbar einer Flüssigkeit, die auf verschiedene Krüge verteilt, mehr oder weniger kalt, aber dennoch ursprünglich etwas einziges war. Der gleiche Grad von Kälte war dabei vergleichbar mit dem, was einer bestimmten Art vermöge des tierhaften Geistes je eigentümlich war. Genauso wie diese ganze Flüssigkeit eine einzige war, war auch der tierhafte Geist ein einziger, auch wenn ihm – auf die eine oder andere Weise, jedoch immer nur akzidentiell – Mannigfaltigkeit zukam. Durch diese Art von Betrachtung sah er ein, daß die ganze Gattung 75 der Tiere ­etwas einziges – eine Einheit – war. Danach ging er über zu den Arten der Pflanzen in ihrer Verschiedenheit und merkte, daß die Individuen jeder Art einander glichen in bezug auf ihre Zweige, Blätter, Blüten, Früchte und Funktionen. | Er verglich sie mit den Tieren und erkannte, 59 daß sie etwas besaßen, das ihnen allen gemeinsam war, vergleichbar dem tierhaften Geist, und daß sie aufgrund dieses Dinges etwas einziges – eine Einheit – waren. Ebenso schaute er auf die ganze Gattung der Pflanzen und entschied, daß auch sie eine Einheit bildete, entsprechend den übereinstimmenden Funktionen wie Nahrungsaufnahme und Wachstum, die er bei dieser Gattung bemerkte. In Gedanken faßte er nun die beiden Gattungen der Pflanzen und Tiere zusammen und sah, daß beide übereinstimmten in Nahrungsaufnahme und Wachstum, daß aber die Tiere die

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Pflanzen übertrafen durch Gefühl, Wahrnehmung und Bewegung. Obwohl etwas Vergleichbares manchmal auch bei den Pflanzen zu beobachten war, nämlich die Ausrichtung der Blumen in Richtung zur Sonne oder die Bewegung ihrer Wurzeln in Richtung zur Nahrung und dergleichen. Durch diese Überlegung zeigte sich ihm, daß Pflanzen und Tiere eine Einheit bildeten auf Grund eines Dinges, das ihnen beiden gemeinsam war; bei den einen war es vollendeter und vollkommener, bei den anderen durch irgendein Hindernis gehemmt, vergleichbar mit ein und derselben Flüssigkeit, die in zwei Teile geteilt wurde, von denen einer gefroren und der andere flüssig war. So bildeten für ihn Pflanzen und Tiere eine Einheit. 60 | Anschließend betrachtete er die Körper, die nicht fühlten, keine Nahrung aufnahmen und nicht wuchsen: Steine, Erde, Wasser, Luft und Feuer. Er bemerkte, daß sie bestimmte Ausmaße hatten, nämlich Länge, Breite und Tiefe, und sich nur dadurch unterschieden, daß einige farbig waren und andere farblos, einige warm und andere kalt und weitere Unterschiede dieser Art. Er bemerkte, wie warme Körper kalt wurden und kalte warm, wie Wasser zu Dampf wurde und Dampf zu Wasser, wie Brennbares zu Glut, Asche und Rauch wurde und wie sich der Rauch beim Aufstieg, wenn er auf ein Steingewölbe traf, dort festsetzte und zu etwas ähnlichem wie Erde wurde. Durch diese Überlegungen zeigte sich ihm, daß alle diese Dinge in Realität eine Einheit bildeten. Ihnen haftete zwar auf gewisse Weise Vielheit an, aber doch nur so, wie auch den Tieren und Pflanzen Vielheit anhaftete. Als nächstes betrachtete er das, wodurch die Pflanzen und die Tiere in seinen Augen eine Einheit bildeten. Er sah ein, daß ein beliebiger Körper von der Art ebendieser Körper eine Länge, Breite und Tiefe hatte und bald warm, bald kalt war, genauso wie einer jener Körper, die weder fühlten noch Nahrung aufnahmen. Er unterschied sich von jenen bloß hinsichtlich seiner Wirkungen, die vermöge der tierischen und pflanz-

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lichen »Geräte« von ihm ausgingen, aber sonst durch nichts anderes. Vielleicht gehörten diese Wirkungen ja gar nicht zu seinem Wesen, sondern flossen ihm von etwas anderem her zu; | und wenn sie jenen anderen Körpern zugeflossen wären, 61 dann hätten auch sie sich ebenso verhalten wie dieser. Also betrachtete er ihn nur in seinem Wesen, losgelöst von jenen Wirkungen, die auf den ersten Blick von ihm auszugehen schienen, und merkte so, daß auch er nur ein Körper wie jene anderen Körper war. Durch diese Überlegung zeigte sich ihm, daß alle Körper etwas einziges waren, die Lebenden wie die Leb­ losen, die Bewegungsfähigen wie die Unbeweglichen. Indessen zeigte sich auch, daß einigen unter ihnen durch Geräte gewisse Wirkungen zukamen, und er wußte noch nicht, ob diese Wirkungen zu ihrem Wesen gehörten oder ob sie ihnen anderweitig zuflossen; in seinem momentanen Zustand sah er eben noch nichts anderes als Körper. Auf diesem Weg erachtete er also alles Seiende als etwas einziges, während er durch die erste Betrachtungsweise das Seiende als unfaßbare und unendliche Vielheit ansah. Dabei ließ er es eine Zeitlang bewenden. Dann begann er, über sämtliche Körper – lebendige wie leblose – nachzudenken, die ihm ja bald eine Einheit zu bilden, bald von einer grenzenlosen Vielheit zu sein schienen, und er merkte, daß auf alle Körper immer einer von zwei Sachverhalten zutraf: Entweder bewegten sie sich aufwärts wie Rauch, Flammen und Luft unter Wasser oder sie bewegten sich in die entgegengesetzte Richtung – also abwärts – wie Wasser, Erdklumpen und Teile von Pflanzen und Tieren; | und weiter, 62 daß jeder dieser Körper nie ohne eine dieser beiden Bewegungen sein konnte und auch nicht zur Ruhe kam, außer wenn er durch ein Hindernis, das ihm in den Weg trat, aufgehalten wurde. – Ein fallender Stein beispielsweise, der auf den harten Boden aufschlägt und diesen nicht zu durchdringen vermag, würde offensichtlich, wenn es ihm möglich wäre, seine Bewegung fortsetzen. Wenn du daher einen Stein hochhebst,

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so wirst du merken, daß er dir mit seinem Drang nach unten einen gewissen Widerstand entgegenbringt und abwärts strebt. Ebenso steigt Rauch unentwegt auf, bis er auf ein festes Gewölbe trifft, in dem er sich fängt. Dann wird er ver­suchen, nach rechts oder links auszuweichen; und wenn es ihm gelingt, das Gewölbe hinter sich zu lassen, so wird er seinen Aufstieg durch die Luft weiter fortsetzen, denn Luft kann ihn nicht aufhalten. Weiter merkte er, daß Luft, wenn man sie in einen ledernen Schlauch füllte, diesen zusammenband und unter Wasser tauchte, stets aufzusteigen versuchte und demjenigen, der sie unter Wasser hielt, Widerstand entgegenbrachte, solange bis sie wieder an ihrem gebührenden Ort – nämlich über dem Wasser – war, wo sie zur Ruhe kam, keinen Widerstand mehr leistete und keinen Auftrieb mehr hatte wie noch zuvor.76 63 | Er fragte sich, ob er einen Körper fände, der zu irgend­ einem Zeitpunkt frei war von diesen beiden Bewegungen oder von der Neigung dazu, aber unter den Körpern um ihn herum fand er keinen solchen. Er tat dies darum, weil er bestrebt war, solch einen Körper zu finden, um dann die Natur des Körpers qua Körper zu erkennen, ohne daß an ihn irgendwelche Merkmale gekoppelt waren, aus denen ja die Mannigfaltigkeit entsprang. Als ihm das nicht gelang und er diejenigen Körper betrachtete, welche die geringste Menge von Merkmalen trugen, und selbst bei ihnen feststellte, daß sie auf die eine oder andere Weise nicht frei waren von diesen beiden Merkmalen, die man »Schwere« und »Leichtigkeit« nennt, da richtete er sein Augen­ merk auf die Schwere und die Leichtigkeit und fragte sich, ob sie dem Körper qua Körper zukamen oder ob sie zu einem über die Körperlichkeit hinausreichenden Moment  77 gehörten; und es zeigte sich ihm, daß sie tatsächlich einem über die Körperlichkeit hinausreichenden Moment angehörten, denn wenn sie dem Körper qua Körper zugekommen wären, dann hätte man nur Körper gefunden, denen beides zukam. – Aber

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wir finden ja Schweres, in dem sich keine Leichtigkeit befindet, und ebenso Leichtes, in dem sich keine Schwere befindet; und doch sind beides zweifellos Körper, und beide besitzen über ihre Körperlichkeit hinaus ein Moment, durch das sich der eine gegenüber dem anderen individualisiert. Genau durch dieses Moment unterscheiden sich beide voneinander, und ohne dieses wären sie ein und dasselbe Ding in jedweder Hinsicht. Ihm wurde klar, daß die Realität  78 von etwas Schwerem und etwas Leichtem aus je zwei Momenten zusammengesetzt war: zum einen aus dem, | das beiden gemeinsam war, näm- 64 lich dem Moment der Körperlichkeit, und zum anderen aus dem, das jeweils mit dem Moment der Körperlichkeit gekoppelt war und wodurch sich die Realität von jedem der beiden gegenüber dem anderen individualisierte, also der Schwere im einen und der Leichtigkeit im anderen, und genau dies war das Moment, durch das sich eines der beiden aufwärts und das andere abwärts bewegte. Ebenso betrachtete er die übrigen lebenden und leblosen Körper und sah ein, daß die Realität des Seins von jedem einzelnen von ihnen zusammengesetzt war aus dem Moment der Körperlichkeit und über die Körperlichkeit hinaus aus etwas anderem, entweder aus einem einzelnen oder aus mehr als einem. – Und so offenbarten sich ihm die Formen 79 der Körper in ihrer Verschiedenheit, und dies war das Erste aus dem Bereich der geistigen Welt, das sich ihm offenbarte. Es sind dies nämlich Formen, die man nicht mit den Sinnen erfaßt, sondern man erfaßt sie allein durch eine Art intellek­t ueller Betrachtung. Unter anderem zeigte sich ihm auch, daß der tierhafte Geist – dessen Sitz wie schon erläutert das Herz ist – notwendigerweise auch ein Moment besitzen mußte, das über die Körperlichkeit hinausreichte; ein Moment, das ihm erlaubte, diese erstaunlichen Leistungen zu vollbringen, wie die verschiedenen Gefühle, die mannigfaltigen Sinneswahrnehmungen und die unterschiedlichen Weisen der Bewegung. Dieses zusätzli-

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che Moment war seine Form und seine Differenz, durch die er sich von den übrigen Körpern unterschied – also das, was die 65 theoretischen Philosophen »tierhafte Seele« nennen. | Auf gleiche Weise mußte auch das, was bei den Pflanzen die Stelle der naturgegebenen Wärme bei den Tieren einnahm, etwas ihm Eigentümliches haben – eben seine Form, welche die theoretischen Philosophen die »pflanzenhafte Seele« nennen.80 Auch alle unbelebten Körper, also alles außer Tieren und Pflanzen in der Welt des Entstehens und Vergehens, hatten etwas ihnen Eigentümliches, das ihnen erlaubte, die für sie charakteristischen Wirkungen auszuüben, wie die unterschiedlichen Weisen der Bewegung oder ihre verschiedenen sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten – dieses war ihre Form, welche die theoretischen Philosophen als »Natur bezeichnen«. 81 Nachdem er durch diese Betrachtung verstanden hatte, daß die Realität dieses tierhaften Geistes, auf den sich sein Verlangen immer gerichtet hatte, zusammengesetzt war aus dem Moment der Körperlichkeit und einem weiteren Moment über die Körperlichkeit hinaus, daß aber das Moment der Körperlichkeit sowohl ihm als auch allen übrigen Körpern gemeinsam war und daß es ganz allein dieses andere damit gekoppelte Moment war, durch das allein dieser sich individualisierte, da kam ihm das Moment der Körperlichkeit wertlos vor, und er verwarf es. Dafür richtete er seine Aufmerksamkeit auf dieses 66 zweite Moment, das man »Seele« nennt, | und mit dem Verlangen, Gewißheit über sie zu erhalten, konzentrierte er nun seine Überlegungen ganz auf sie.82 Er begann seine Betrachtung damit, alle Körper zu untersuchen, nicht insofern sie Körper waren, sondern insofern sie Formen besaßen, aus denen bestimmte Eigentümlichkeiten hervorgingen, durch die sich die Körper voneinander unterschieden. Er studierte dies eingehend und hielt es für sich fest. So wurde ihm klar, daß einer großen Menge von Körpern eine bestimmte Form gemeinsam war, von der eine oder mehrere

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Wirkungen ausgingen. Daneben bemerkte er aber auch, daß eine Teilmenge davon, ungeachtet der Tatsache, daß sie mit der großen Menge jene Form gemeinsam hatte, darüber hinaus noch eine andere Form besaß, von der bestimmte Wirkungen ausgingen. Und schließlich sah er, daß eine Gruppe dieser Teilmenge, obwohl auch sie mit der Teilmenge die erste und die zweite Form gemeinsam hatte, darüber hinaus noch eine dritte Form gemeinsam hatte, von der wiederum bestimmte Wirkungen ausgingen. So zählten alle irdischen Körper wie Erde, Gestein, Mineralien, Pflanzen, Tiere und alle übrigen schweren Körper zu der einen großen Menge, der diejenige Form gemeinsam war, | aus der die Abwärtsbewegung hervorging, jedenfalls solange 67 sich dem Fall kein Hindernis in den Weg stellte; und wenn sie durch Zwang in die Höhe stiegen, dann nur solange, bis sie fallengelassen wurden und sich dann entsprechend ihrer Form nach unten bewegten. Eine Teilmenge davon, also die Pflanzen und die Tiere, die mit der großen, eben genannten Menge jene Form gemeinsam hatten, verfügten darüber hinaus noch über ein andere Form, von der die Ernährung und das Wachstum ausgingen. Ernährung ist der Vorgang, bei dem das Ernährende das, was es verbraucht hat, ersetzt, indem es ihm verwandte Stoffe mittels Umwandlung an seine eigene Substanz angleicht und diese aufnimmt.83 Wachstum ist die Ausdehnung in allen drei Dimensionen unter Beibehaltung der Proportionen in Länge, Breite und Tiefe. Diese beiden Wirkungen waren also den Pflanzen und Tieren gemeinsam und gingen zweifellos von der den beiden gemeinsamen Form aus, die man »pflanzenhafte Seele« nennt. | Eine Gruppe dieser Teilmenge, 68 nämlich die Tiere, besaßen nun im besonderen, obschon sie mit besagter Teilmenge die erste und die zweite Form gemeinsam hatten, darüber hinaus noch eine dritte Form, von der die Sinneswahrnehmung und die Ortsbewegung ausgingen. Weiter bemerkte er, daß jede Tierart eine besondere Eigenschaft

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besaß, durch die sie sich von den restlichen Tierarten abhob, unterschied und auszeichnete. Dadurch gelangte er zu der Einsicht, daß dies von einer der Art eigenen Form ausging, die über das Moment der ihr und den restlichen Tieren gemeinsamen Form hinaus nur dieser Art eigentümlich war; und dies auf gleiche Weise auch für alle Pflanzenarten. Es wurde ihm klar, daß sich die Realität der sinnlich wahrnehmbaren Körper aus der Welt des Entstehens und Vergehens bei einigen dieser Körper aus vielen Momenten – über das Moment der Körperlichkeit hinaus – zusammenfügte, bei andern jedoch nur aus wenigen. Mit dem Wissen, daß die Erkenntnis von wenigem leichter ist als die Erkenntnis von vielem, versuchte er zuerst, die Realität von dem genau zu verstehen, dessen Realität aus möglichst wenigen Dingen zusammengefügt war. Er bemerkte, daß die Realitäten der Tiere und Pflanzen auf Grund der Mannigfaltigkeit ihrer Wirkungen immer aus vielen Momenten zusammengefügt waren, weshalb er das 69 Nachdenken über ihre Formen auf später verschob. | Er sah aber auch, daß einige Teile der Erde einfacher waren als andere, und daher richtete er sein Augenmerk auf das Einfachste, das er davon finden konnte; auch Wasser, so fiel ihm auf, war von einfacher Struktur, weil nur eine geringe Zahl verschiedener Wirkungen von seiner Form ausging, und ebenso Feuer und Luft. Schon zuvor war er auf den Gedanken gekommen, daß diese vier sich ineinander umwandelten 8 4 und daß es etwas gab, das ihnen gemeinsam war, nämlich das Moment der Körperlichkeit. Dieses aber mußte frei sein von allen Momenten, durch die sich diese vier voneinander abhoben. Also ohne Aufund Abwärtsbewegung, ohne Wärme und Kälte, ohne Feuchtigkeit und Trockenheit. Denn keines von all diesen Merkmalen war allen Körpern gemeinsam, und deshalb gehörte auch keines zum Körper qua Körper. Wenn es also möglich war, daß es einen Körper gab, der keine Form über die Körperlichkeit hinaus besaß, dann war ihm auch keine einzige von

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diesen Eigenschaften inhärent, sondern einzig und allein die­ jenige Eigen­schaft, die auch allen anderen Körpern – ungeachtet ihrer verschiedenen Formen – gemeinsam war. Also hielt er Ausschau nach diesem einen Merkmal, das allen Körpern, lebendigen wie leblosen, gemeinsam war. Er fand nichts, das den Körpern allgemein zukam, | außer dem bei allen vorhan- 70 denen Moment der Ausdehnung in den drei Dimensionen, die man Länge, Breite und Tiefe nennt.85 Er erkannte, daß dieses Moment dem Körper qua Körper zukam. Doch es gelang ihm mittels der Sinne nicht, einen Körper mit nur dieser einzigen Eigenschaft zu finden, dem kein weiteres Moment – über die erwähnte Ausdehnung hinaus – zukam und der frei war von allen restlichen Formen. Er überlegte, ob diese dreidimensionale Ausdehnung das eigentliche, bestimmende Moment des Körpers war und es sonst kein weiteres Moment mehr gab oder ob es nicht so war. Er erkannte, daß es hinter der Ausdehnung doch noch ein anderes Moment gab. In diesem befand sich die Ausdehnung, und für sich alleine konnte die Ausdehnung nicht bestehen, genauso wie auch das ausgedehnte Ding nicht für sich selbst, ohne die Ausdehnung bestehen konnte. Er ging dem nach anhand von sinnlich wahrnehmbaren Körpern mit bestimmten Formen, | etwa Lehm, und erkannte, 71 daß, wenn er daraus eine bestimmte Figur formte, beispielsweise eine Kugel, diese dann eine Länge, Breite und Tiefe von bestimmter Größe hatte. Nahm man die Kugel und gab ihr eine eckige oder ovale Gestalt, dann veränderten sich Länge, Breite und Tiefe und nahmen eine neue Größe an. Der Lehm hingegen blieb ein und derselbe und veränderte sich nicht. Indessen hatte er notwendigerweise irgendeine Länge, Breite und Tiefe, von welcher Größe auch immer, und es war ihm unmöglich, diese abzulegen. Aus der Tatsache, daß diese Proportionen sich abwechselten, wurde ihm klar, daß sie ein eigenes Moment waren. Daraus, daß der Lehm sie nie vollständig ablegen konnte, wurde ihm klar, daß sie zu seiner Realität gehörten.86

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Durch diese Überlegung zeigte sich ihm, daß der Körper qua Körper in Realität zusammengesetzt war aus zwei Momenten: einem davon entsprach der Lehm der Kugel aus dem gegebenen Beispiel, dem andern entsprach die Länge, Breite und Tiefe der Kugel oder des Quaders oder welcher Figur auch immer. Der Körper mußte also immer als eine Kombination 72 von diesen zwei Momenten verstanden werden, | von denen eines nie ohne das andere sein konnte. Das, was sich auf vielerlei Arten verändern und abwechseln konnte, das Moment der Ausdehnung, war vergleichbar mit der Form der restlichen Körper, die eine Form besaßen. Das, was in ein und demselben Zustand verharrte, also das, was die Stelle des Lehms aus dem vorangegangenen Beispiel einnimmt, war vergleichbar mit dem Moment der Körperlichkeit der restlichen Körper, die eine Form besaßen. – Dieses Moment also, das die Stelle des Lehms in jenem Beispiel einnimmt, ist das, was die theoretischen Philosophen »Materie« oder »Hyle« nennen; sie ist ganz und gar frei von Formen.87 Nachdem seine Betrachtung so weit fortgeschritten war, daß er das sinnlich Wahrnehmbare schon bis zu einem gewissen Grad hinter sich gelassen hatte und zu den Grenzen der intelligiblen Welt vorgedrungen war, da empfand er ein Befremden und sehnte sich zurück nach der ihm vertrauten sinnlich wahrnehmbaren Welt. Er wich also ein wenig zurück und ließ ab vom reinen, absoluten Körper, denn das war etwas, das die Sinneswahrnehmung weder erfassen noch begreifen konnte. So nahm er sich die einfachsten sinnlich wahrnehmbaren Körper vor, die er gesehen hatte: Es waren jene vier, auf die sein Blick schon gefallen war. Als erstes betrachtete er das Wasser und merkte, daß von ihm, wenn man es in Ruhe ließ und in dem Zustand, den seine Form erforderte, eine sinnlich wahrnehmbare Kälte ausging und es nach unten zu fallen strebte. 73 | Wenn es erwärmt wurde, sei es durch Feuer oder durch die Hitze der Sonne, dann verschwand als erstes die Kälte, wäh-

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rend die Neigung zu fallen bestehen blieb. Wurde es noch weiter erwärmt, dann verschwand auch seine Neigung, abwärts zu fallen, und es begann, aufwärts zu steigen. So verlor es vollständig die beiden Merkmale, die zuvor beständig von seiner Form ausgegangen waren. Er wußte von dieser Form aber nicht mehr, als daß von ihr diese zwei Wirkungen ausgingen. Also war mit dem Verschwinden dieser beiden Wirkungen auch die Herrschaft der Form vorbei. Mit dem Auftreten neuer Wirkungen, die ihrerseits von einer neuen Form ausgingen, war die Wasser-Form folglich aus jenem Körper verschwunden, und er erhielt eine neue Form, die zuvor nicht da war. Durch sie gingen von ihm neue Wirkungen aus, die noch nicht von ihm auszugehen pflegten, als er noch die frühere Form besessen hatte. Er wußte, daß es notwendigerweise für alles, was in der Zeit entstanden war, auch eine auslösende Ursache der Entstehung geben mußte. Durch diese Betrachtungsweise zeichnete sich in seiner Seele – zunächst noch allgemein und ohne Einzelheiten – die Ahnung von einem Urheber der Form. Da ging er die Formen, die er zuvor schon ausgemacht hatte, eine nach der anderen durch und merkte, daß auch sie alle entstanden waren und notwendigerweise einen Urheber hatten. Danach betrachtete er das Wesen der Formen und merkte, daß es nicht mehr war als die Disposition des Körpers, daß jene Wirkung von ihm ausgehen konnte. Wie es beispielsweise beim Wasser der Fall war, das bei starker Erwärmung dazu disponiert und tauglich war, sich aufwärts zu bewegen. Diese Disposition war seine Form. | – Denn es gibt nichts außer dem Kör- 74 per selbst und Dingen, die man an ihm wahrnimmt, nachdem diese zuvor nicht da waren, wie etwa die Qualitäten und die Bewegungen, und einem U ­ rheber, der sie hervorbringt, nachdem sie ­zuvor nicht da waren. Die Tauglichkeit des Körpers zu gewissen Bewegungen, im Gegensatz zu anderen, ist seine Disposition und seine Form.

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Es zeigte sich ihm, daß es bei allen anderen Formen ebenso war, und so wurde ihm klar, daß die Wirkungen, die von den Formen ausgingen, in Realität nicht von ihnen kamen, sondern von einem Urheber, der durch sie die Wirkungen, die ihnen zugeschrieben wurden, bewirkte. Dieses Moment, das sich ihm zeigte, ist das, was ausgedrückt wird im Wort des Propheten Gottes – Er segne ihn und schenke ihm Heil: Ich war das Hö­ ren, durch das Er hört, und Sein Sehen, durch das Er sieht 88 und in der eindeutig bestimmten Offenbarung: Und nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott. Und nicht du hast jenen Wurf ausgeführt, sondern Gott (Q 8:17).89 Nachdem er eine vage und unbestimmte Ahnung von diesem Urheber bekommen hatte, erwachte in ihm das heftige Verlangen, Ihn genauer zu erkennen. Da er die sinnliche Welt noch nicht ganz hinter sich gelassen hatte, begann er, diesen Urheber unter den sinnlich wahrnehmbaren Dingen zu suchen, ohne zu wissen, ob Er eines oder mehreres war. Er ging alle Körper, die ihn umgaben und bis jetzt stets Gegenstand seiner Überlegungen waren, der Reihe nach durch und bemerkte, daß sie alle bald entstanden, bald vergingen, und wenn etwas nicht als Ganzes dem Vergehen unterworfen war, dann waren es doch seine Teile, wie beispielsweise das Wasser oder die Erde. 75 | Denn er sah, daß deren Bestandteile durch Feuer zugrunde gehen konnten; auch die Luft konnte durch starke Kälte zugrunde gehen und zu Wasser oder Schnee werden, und das gleiche galt auch für alle anderen Körper um ihn herum, denn er hatte festgestellt, daß kein einziger von ihnen dem Werden enthoben war und nicht eines Urhebers bedurft hätte. So verwarf er sie alle und richtete seine Überlegungen auf die himmlischen Körper.

[ vi. Vierter Lebensabschnitt – bis zum f­ ünfunddreißigsten Altersjahr ] Bis zu diesem Punkt gelangte er mit seinen Betrachtungen, als er den vierten Siebenjahres-Abschnitt seines Lebens voll­endet hatte und achtundzwanzig Jahre alt wurde. Er wußte, daß der Himmel und sämtliche Planeten darin Körper waren; sie hatten nämlich eine dreidimensionale Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe, wobei kein einziger von ihnen frei von dieser Eigenschaft war. Und da alles, was nicht frei von dieser Eigenschaft war, eben ein Körper war, so waren sie folglich alle Körper. Danach überlegte er, ob sie endlos ausgedehnt waren und ihre Länge, Breite und Tiefe bis ins Unendliche gingen oder ob sie endlich und von Grenzen umschlossen waren, an denen sie endeten und über die hinaus keine Ausdehnung mehr möglich war. Eine Zeitlang blieb er ratlos, doch durch die Kraft seiner natürlichen Veranlagung und die Klugheit seines Gemüts kam er zur Einsicht, daß ein unendlicher Körper etwas Absurdes, Unmögliches und Unbegreifbares war. | Er gelangte zu immer größerer Gewißheit in diesem Ur- 76 teil durch eine Vielzahl von Argumenten, die sich aus seinen Reflexionen ergaben. Er sagte sich nämlich folgendes: »Dieser Himmelskörper ist auf der Seite, die mir zugewandt und Gegenstand meiner Sinneswahrnehmung ist, begrenzt. Daran gibt es keinen Zweifel, denn ich nehme dies ja mit meinen eige­nen Augen wahr. Aber auch die gegenüberliegende Seite, bezüglich der ich im Ungewissen bin, kann sich nicht bis zur Unendlichkeit ausdehnen. Denn ich kann mir zwei Linien vorstellen, die bei der endlichen Seite des Körpers beginnen und in seinem Innern bis ins Unendliche verlaufen, entsprechend sei-

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ner Ausdehnung. Wenn ich mir dann vorstelle, daß von einer dieser beiden Linien auf der begrenzten Seite ein großes Stück weggeschnitten und darauf die Schnittstelle des verbleibenden Stücks so mit dem Anfangspunkt der Linie, von der nichts abgeschnitten wurde, in Übereinstimmung gebracht wird, daß die gekürzte Linie wieder mit der ungekürzten übereinstimmt, dann gibt es, wenn man in Gedanken den beiden Linien entlang der als unendlich angenommenen Seite folgt, zwei Fälle: | 77 Entweder erstrecken sich beide Linien bis in die Unendlichkeit, wobei keine der beiden kürzer wäre als die andere und folglich die gekürzte Linie gleich lang wäre wie die ungekürzte, was aber undenkbar ist. Oder aber die beiden verlaufen nicht ewig nebeneinander her, sondern die eine endet, hört irgendwo auf und ist somit endlich. Wenn man nun dieser endlichen Linie das zuvor abgeschnittene Stück wieder hinzufügt, dann ist auch das Ganze wiederum endlich. Da diese Linie gemäß der Annahme weder kürzer ist als die andere, von der nichts weggeschnitten wurde, noch länger als diese, sind sie beide einander gleich. Und da diese endlich ist, so ist auch jene endlich und ebenso der Körper, in dem gemäß der Annahme die Linien verlaufen. Diese Linien können in jedem beliebigen Körper angenommen werden. Daher ist die Annahme, es gebe einen unendlichen Körper, absurd und undenkbar.«  90 Nachdem für ihn dank seiner hervorragenden Veranlagung, die ihn auf eine derartige Argumentation gebracht hatte, feststand, daß der Himmel endlich war, wollte er wissen, wie dessen Gestalt beschaffen war und wie er durch seine umhüllende 78 Oberfläche begrenzt wurde. | Zuerst betrachtete er die Sonne, den Mond und die übrigen Sterne und stellte fest, daß sie alle von Osten her aufgingen und nach Westen hin untergingen. Diejenigen, die durch den Zenit liefen, beschrieben eine sehr große Kreisbahn, und diejenigen, die vom Zenit nach Norden oder Süden abwichen, eine kleinere. Je weiter eine Bahn vom Zenit auf dieser oder jener Seite entfernt war, desto kleiner war

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auch die Kreisbahn im Vergleich mit den Nähergelegenen. Die allerkleinsten Kreisbahnen wurden von zwei Sternen beschrieben, die sich um den Südpol beziehungsweise den Nordpol drehten; dies waren die Bahnen von Suhail und Farqadān.91. Weil sein Standort – wie wir bereits geschildert haben – auf dem Äquator lag, schnitten sich alle diese Kreisbahnen rechtwinklig mit der Ebene des Horizonts; die Verhältnisse im Norden und im Süden waren zueinander symmetrisch, und beide Pole waren ihm zugleich sichtbar. Er beobachtete, daß ein Stern auf einer großen Umlaufbahn und ein Stern auf ­einer kleinen Umlaufbahn, die zusammen aufgingen, auch wieder zusammen untergingen. | Dies galt ausnahmslos für alle Sterne 79 und für jeden Zeitpunkt, wodurch ihm klar wurde, daß die Himmelssphäre die Gestalt einer Kugel hatte. In seiner Überzeugung wurde er noch bestärkt durch die Beobachtung, daß die Sonne, der Mond und die übrigen Sterne wieder im Osten erschienen, nachdem sie im Westen verschwunden waren, sowie dadurch, daß sie seinen Augen sowohl beim Aufgehen, mitten am Himmel und beim Untergehen immer von derselben Größe erschienen. Wäre ihre Bewegung nicht kugelförmig gewesen, dann wären sie notwendigerweise zu gewissen Zeitpunkten seinem Blick näher gewesen als zu anderen. Und wenn dies der Fall gewesen wäre, dann hätten sich auch ihre Abmessungen und ihre Größe für seine Augen verändert, so daß er sie in der Nähe größer gesehen hätte als in der Ferne. Da aber nichts von all dem der Fall war, erwies sich ihm die sphärische Gestalt als zutreffend. Er fuhr fort und widmete sich sowohl der Untersuchung der phasenabhängigen Verschiebung des Mondes, wobei er merkte, daß diese von Westen nach Osten verlief, als auch der Bewegung der Planeten, bis er schließlich über ein umfangreiches Wissen in der Wissenschaft der Astronomie verfügte und ihm offenbar wurde, daß ihre Bewegungen nur durch eine Vielzahl von Himmelssphären zu erklären waren, die alle von e­ iner

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obersten Himmelssphäre umgeben waren, | die das Ganze innerhalb eines Tages und einer Nacht von Osten nach Westen bewegte. Zu erklären, wie sich sein Fortschritt in der Erkenntnis dieser Dinge vollzog, würde lang dauern, und in den Büchern steht genug darüber. Für unseren Zweck ist davon nicht mehr nötig, als was wir schon vorgebracht haben. Nachdem er also diese Erkenntnis erlangt hatte, verstand er, daß die gesamte Himmelssphäre mit allem, was sie enthielt, wie ein einziges Ding war, dessen Bestandteile untereinander verbunden waren, und daß sämtliche Körper, die er betrachtet hatte – also Erde, Wasser, Luft, Pflanzen, Tiere und dergleichen –, in ihr enthalten waren und sich nicht außerhalb von ihr befanden. Das Ganze glich einem lebenden Individuum: die leuchtenden Sterne waren wie die Sinne eines Tieres, die verschiedenen untereinander verbundenen Sphären glichen den Organen des Tieres, und die ganze Welt des Entstehens und Vergehens in ihrem Innern entsprach dem Inhalt eines Tierbauches mit seinen verschiedenen Säften und Abfallstoffen, in denen oftmals auch Lebewesen entstanden, wie es auch im Makrokosmos der Fall war.92 Nachdem ihm klar geworden war, daß in Realität all das wie ein einziges Individuum war, dessen viele Teile sich in seinen 81 Augen zu einer Einheit zusammengefügt hatten, | und zwar auf Grund einer analogen Betrachtung, durch die sich für ihn schon die Körper aus der Welt des Entstehens und Vergehens als Einheit erwiesen hatten, da überlegte er, ob die Welt insgesamt entweder etwas war, das entstanden war, nachdem es zuvor nicht da war und ins Sein trat aus dem Nichtsein, oder ob sie etwas war, das seit jeher immer schon da war, ohne daß ihr auf irgendeine Weise das Nichtsein vorausging. Darüber war er im Zweifel, und keine der beiden Auffassungen erschien ihm überzeugender zu sein als die andere. Wenn er sich einmal für die These entschieden hatte, daß die Welt ewig war, dann ergaben sich sogleich viele Einwände auf Grund der Un-

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möglichkeit eines unendlichen Vorhandenseins, analog dem Schluß, durch den sich ihm die Unmöglichkeit eines unendlichen Körpers erwiesen hatte. Ferner sah er auch ein, daß die Welt immer auch in der Zeit Entstandenes umfaßte und diesem nicht vorausgehen konnte; was aber dem in der Zeit Entstandenen nicht vorausgehen konnte, das war selbst etwas in der Zeit Entstandenes.93 Entschied er sich hingegen für die These, daß die Welt entstanden war, dann stellten sich ihm andere Einwände entgegen: Er sah nämlich ein, daß das begriffliche Moment »ihrer Entstehung, nachdem sie zuvor nicht da war« nur in der Weise verstanden werden konnte, daß ihr die Zeit voranging. Doch die Zeit gehörte zur Gesamtheit der Welt und war nicht von ihr abtrennbar, und daher war ein Nachher der Welt gegenüber der Zeit auch nicht zu begreifen. | Weiter sagte er sich 82 auch: »Wenn die Welt entstanden ist, dann muß es auch einen Urheber dieses Entstehens geben. Aber warum hat dieser Urheber, der sie entstehen ließ, das gerade zu diesem Zeitpunkt getan und nicht schon früher? Etwa auf Grund irgendeines Ereignisses, das auf Ihn eingewirkt hat? Aber es war ja nichts da außer Ihm! Oder auf Grund irgendeiner Veränderung, die sich in Seinem Wesen ereignet hat? Doch wer war der Urheber dieser Veränderung?«  94 Mehrere Jahre lang dachte er fortwährend darüber nach, aber die Argumente widersprachen einander, und keine der beiden Thesen war in seinen Augen überzeugender als die andere. Nachdem er so nicht weiterkam, überlegte er, was aus jeder der beiden Thesen folgte und ob die Folgerungen aus beiden nicht vielleicht identisch waren. Er sah folgendes ein: Wenn er annahm, daß die Welt entstanden war und ins Sein trat, nachdem sie zuvor nicht da war, so folgte daraus mit Notwendigkeit, daß sie unmöglich nur durch sich selbst ins Sein treten konnte, sondern daß sie eines Urhebers bedurfte, der sie ins Sein treten ließ. Dieser Urheber konnte aber nicht sinnlich wahrnehmbar

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sein, denn wenn Er sinnlich wahrnehmbar gewesen wäre, dann wäre auch Er irgendein Körper gewesen. Wenn Er aber irgend­ ein Körper gewesen wäre, dann wäre auch Er ein Teil des Weltalls gewesen und hätte als Entstandenes wiederum eines Urhebers bedurft, der als etwas Körperliches seinerseits eines dritten Urhebers bedurft hätte und dieser wiederum e­ ines Vierten und 83 so weiter bis in die Unendlichkeit. | Folglich mußte die Welt einen unkörperlichen Urheber haben, und wenn dieser kein Körper war, dann war es auch ausgeschlossen, daß man Ihn sinnlich wahrnehmen konnte, denn die fünf Sinne konnten nur Körper oder was Körpern anhaftete wahrnehmen. Also war Er weder wahrnehmbar noch vorstellbar, denn die Vorstellung ist nichts anderes als die Vergegenwärtigung der Formen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge während ihrer Abwesenheit; und da Er eben kein Körper war, waren auch körperliche Eigen­schaften an ihm undenkbar. Die primäre Eigenschaft von Körpern war die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe. Er mußte dem ganz und gar enthoben sein und ebenso allen andern körperlichen Eigenschaften, die sich aus diesem Merkmal ergaben.95 Wenn Er nun Urheber der Welt war, dann besaß Er ohne Zweifel Macht und Wissen über sie (nach Q 16:70). Sollte einer, der die Welt geschaffen hat, nicht Bescheid wissen, wo Er doch Mittel und Wege findet und über alles wohl unterrichtet ist? (Q 67:14). Wenn er hingegen annahm, daß die Welt urewig und immer gleich war, ohne daß das Nichtsein ihr vorausgegangen wäre, so folgte daraus, daß auch ihre Bewegung ewig, unendlich und ohne Anfang war, denn es ging ihr ja keine Ruhe voraus, von der aus die Bewegung ihren Anfang hätte nehmen 84 können. | Bei jeder Bewegung mußte es notwendigerweise ein Bewegungsprinzip geben; das war eine Kraft, die entweder irgendeinem Körper innewohnte – sei es dem bewegten Körper selbst, sei es einem anderen Körper außerhalb von ihm – oder aber eine Kraft, die keinem Körper innewohnte und sich nicht

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in ihm erstreckte. Jede einem Körper innewohnende und sich in ihm erstreckende Kraft wurde aufgeteilt, wenn der Körper aufgeteilt wurde, und sie wurde vervielfacht, wenn der Körper vervielfacht wurde. Beispielsweise das Gewicht des Steins, das den Stein nach unten bewegte: Wurde der Stein in zwei Hälften geteilt, dann halbierte sich auch das Gewicht; wurde noch ein gleicher dazugetan, dann nahm auch das Gewicht in gleichem Maß zu. Wenn es möglich war, die Steine unablässig zu vermehren bis in die Unendlichkeit, dann nahm auch das Gewicht unendlich zu; erreichte die Masse der Steine jedoch eine bestimmte Grenze und blieb dann konstant, so erreichte auch das Gewicht eine bestimmte Grenze und blieb konstant. Es war aber schon vorhin zweifelsfrei bewiesen worden, daß jeder Körper endlich war; also war auch jede Kraft in einem Körper endlich. – Wenn wir aber eine Kraft finden, die eine unendliche Wirkung ausübt, dann ist dies eine Kraft, die sich nicht in einem Körper befindet: | Wir haben festgestellt, daß 85 die Himmelssphäre immer in Bewegung ist, und zwar endlos und ununterbrochen – wir haben ja vorausgesetzt, daß die Welt urewig und ohne Anfang ist. Die notwendige Folge daraus ist, daß die Kraft, welche die Himmelssphäre bewegt, weder im Sphärenkörper selbst noch in einem Körper außerhalb der Sphäre liegen kann. Deshalb gehört sie zu etwas, das völlig frei von Körpern ist und keine Merkmale der Körperlichkeit trägt.96 Es hatte sich ihm in seinen früheren Betrachtungen über die Welt des Entstehens und Vergehens schon gezeigt, daß die Realität des Seins eines jeden Körpers durch seine Form begründet war, die in seiner Disposition, verschiedene Weisen der Bewegung zu vollziehen, bestand. Das Sein des Körpers hingegen, das ihm von seiner Materie her zukam, war ein schwaches, defektives Sein, das beinahe nicht erfaßt werden konnte. Das Sein der ganzen Welt entsprang also allein aus ihrer Disposition, durch diesen Beweger bewegt zu werden, der völlig

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frei von Materie und körperlichen Eigenschaften war und enthoben von allem, was die Sinne erfaßten oder der Vorstellung zugänglich war. Wenn Er also der Urheber dieser ununterbrochenen, konstanten und kontinuierlichen Bewegungen der Himmelssphäre in all ihrer Vielfalt war, dann besaß Er ohne Zweifel Macht und Wissen über sie (nach Q 16:70). Auf diesem Weg gelangte er mit seiner Betrachtung zum 86 selben Schluß wie auf dem ersten Weg, | und sein Zweifeln darüber, ob die Welt urewig war oder in der Zeit entstanden, behinderte ihn dabei in keiner Weise. Jede der beiden Sichtweisen bestätigte ihm das Vorhandensein eines Urhebers, der kein Körper war, der weder mit einem Körper verbunden noch von ihm abgetrennt, weder in ihm noch außerhalb von ihm war – denn Verbundensein, Getrenntsein, Darinsein und Außer­halbsein sind alles Eigenschaften von Körpern – Er aber ist all dem ganz und gar enthoben.97 Die Materie in jedem Körper bedurfte einer Form, denn nur mit ihr konnte sie bestehen, und ohne sie kam ihr keine Realität zu; und das Vorhandensein der Form kam nur zustande durch diesen Urheber. Deshalb wurde ihm klar, daß alle seienden Dinge zu ihrem Sein dieses Urhebers bedurften und nur durch Ihn Bestand hatten. Er war ihre Ursache und sie waren durch Ihn verursacht, gleichgültig, ob sie in der Zeit entstanden waren und das Nichtsein ihnen vorausging oder ob sie ohne zeitlichen Anfang waren und das Nichtsein ihnen nicht vorausging. In jedem der beiden Fälle waren sie verursacht, bedurften eines Urhebers und waren in ihrem Dasein von Ihm abhängig. Ohne Sein Fortdauern würden auch sie nicht fortdauern, ohne Sein Dasein wären auch sie nicht da, und ohne Seine Urewigkeit wären auch sie nicht urewig. Er hingegen brauchte sie nicht und war ganz und gar frei ihnen gegenüber. Und wie sollte es nicht so sein? Es hatte sich ja erwiesen, daß Seine 87 Macht und Seine Kraft unendlich waren; | sämtliche Körper hingegen waren endlich und begrenzt, genauso wie ­a lles, was

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mit ihnen in Verbindung stand oder von ihnen abhing. Daher war die ganze Welt, der Himmel und die Erde und alles dazwischen Sein Werk und Seine Schöpfung, | die dem Wesen 88 nach später als Er war, auch wenn sie der Zeit nach vielleicht nicht später war.98 – Wie wenn du irgendeinen Körper in die Hand nimmst und dann deine Hand bewegst, so wird sich dieser Körper zweifellos entsprechend der Bewegung deiner Hand bewegen, wobei die Bewegung dem Wesen nach später ist als die Bewegung deiner Hand, auch wenn sie der Zeit nach nicht später ist, da beide Bewegungen gleichzeitig begonnen haben. Ebenso ist die ganze Welt von diesem Urheber verursacht und erschaffen außerhalb der Zeit, denn bei Ihm ist es so: Wenn Er etwas will, dann sagt Er dazu nur: »Sei!«, dann ist es (Q 36:82). Nachdem er erkannt hatte, daß alles Seiende Sein Werk war, betrachtete er es unter einem neuen Gesichtspunkt, nämlich mit Ehrfurcht vor der Macht ihres Urhebers, mit Bewunderung für Seine wunderbare Kunstfertigkeit, Seine subtile Weisheit und Sein präzises Wissen. In den kleinsten seienden Dingen – und erst recht in deren Größten – zeigten sich ihm Spuren der Weisheit und Wunder der Kunstfertigkeit, die ihn zutiefst in Erstaunen versetzten, und es wurde ihm zur Gewißheit, daß jene nur aus einem Urheber von äußerster Vollkommenheit – ja sogar über die Vollkommenheit hinaus – hervorgehen konnten. Ihm entgeht auch nicht das Gewicht eines Stäubchens, weder im Himmel noch auf der Erde: Und es gibt nichts, was kleiner ist als dies, und nichts, was größer ist (Q 34:3). Er vertiefte sich in die Überlegung, wie Er sämtlichen Gattungen der Tiere eine ­eigene Wesensart gegeben hatte und sie darauf zur rechten Anwendung geführt hatte, | denn wenn Er sie nicht zur vorgese- 89 henen nutzbringenden Anwendung der Organe, die Er für sie geschaffen hatte, rechtgeleitet hätte, so hätten die Tiere keinen Nutzen aus ihnen ziehen können, und sie wären ihnen lediglich zur Last gefallen. Dadurch wußte er, daß Er der Edelste der Edlen und der Barmherzigste der Barmherzigen war. Sooft er

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etwas Seiendes betrachtete, das Güte, Pracht, Vollkommenheit, Macht oder sonst irgendeine Vorzüglichkeit besaß, dachte er nach und erkannte, daß dies so war durch ein Ausströmen von diesem Urheber, durch Sein Dasein und Sein Wirken. Er erkannte, daß alles, was Ihm zukam, seinem Wesen nach mächtiger, vollendeter, vollkommener, schöner, prächtiger und beständiger war als beim geschaffenen Seienden und daß dieses keinerlei Entsprechung mit jenem Wesen hatte. Ohne Unterlaß untersuchte er sodann alle Attribute der Vollkommenheit und sah ein, daß sie alle Ihm zukamen und von Ihm ausgingen. Er war ihrer weit würdiger als alles übrige, das man neben Ihm noch mit diesen Attributen versah. Er untersuchte alle Attribute des Mangels und erkannte, daß Er ihnen enthoben und völlig frei von ihnen war. Wie hätte Er auch nicht frei von ihnen sein sollen, wo doch Mangel nichts anderes bedeutet als das reine Nichtsein oder das, was dem Nichtsein verbunden ist? Und wie hätte das Nichtsein verbunden oder vermengt sein können mit dem reinen Seienden, dessen Sein essentiell notwendig war und der jedem Seienden sein 90 Sein verlieh? Außer Ihm gab es kein Sein. | Er war das Sein, die Vollkommenheit, die Vollendung, die Güte, die Pracht, die Macht und das Wissen. Er war Er. Alles ist dem Untergang geweiht, nur Sein Antlitz nicht (Q 28:88).

[ vii. Fünfter Lebensabschnitt – bis zum n ­ eunundvierzigsten Altersjahr ] Bis zu diesem Punkt reichte seine Erkenntnis, als er den fünften Siebenjahres-Abschnitt seines Lebens vollendet hatte und fünfunddreißig Jahre alt wurde. Die Beschäftigung mit jenem Urheber wurzelte so tief in seinem Herzen, daß er über nichts anderes mehr nachdachte als über Ihn, und von der Untersuchung und Erforschung der übrigen seienden Dinge Abstand nahm. Er kam soweit, daß er jedesmal, wenn sein Blick auf irgendein Ding fiel, in diesem das Zeichen Seiner Schöpfung erkannte, worauf seine Gedanken unverzüglich das Geschöpf verließen und sich auf den Schöpfer richteten, bis schließlich sein Verlangen nach Ihm immer heftiger wurde; sein Herz verwarf die sinnlich wahrnehmbare Welt, und er widmete sich ganz der intelligiblen Welt.99 Nachdem er das Wissen über dieses beständig seiende Wesen erlangt hatte, dessen Sein keine Ursache besaß, sondern das selbst vielmehr die Ursache des Seins sämtlicher Dinge war, wollte er wissen, wodurch er denn dieses Wissen erlangt und mit welchem Vermögen er dieses Seiende erfaßt hatte. Er prüfte alle seine Sinne: das Gehör, den Gesichtssinn, den Geruchssinn, den Geschmackssinn und den Tastsinn. Aber er sah ein, daß diese alle nur einen Körper oder was in einem Körper war, erfaßten. | – Das Gehör erfaßt nämlich nur Töne, 91 also die Wellenbewegung der Luft, die beim Zusammenstoß von Körpern entsteht;100 der Gesichtssinn erfaßt nur die Farben, der Geruchssinn nur die Gerüche, der Geschmackssinn nur den Geschmack und der Tastsinn nur Härte, Weichheit, Rauheit und Glätte. Ebenso erfaßt die Vorstellungskraft nur

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Dinge, die Länge, Breite und Tiefe aufweisen. Was so erfaßt wird, sind also nur die Eigenschaften von Körpern, und etwas anderes können die Sinne gar nicht erfassen. Dies deshalb, weil die Sinne sich in Körpern erstreckende und – entsprechend der Teilbarkeit dieser Körper – aufteilbare Vermögen sind; daher können sie auch nur einen aufteilbaren Körper erfassen. Denn wenn sich ein solches Vermögen in etwas Aufteilbarem erstreckt, so muß notwendigerweise, wenn dieses Vermögen irgendein Ding erfassen kann, auch das Erfaßte – entsprechend der Aufteilbarkeit des Vermögens – aufteilbar sein. Also gilt: Jedes Vermögen in einem Körper kann nur einen Körper oder was in einem Körper ist erfassen.101 Aber es hatte sich ja herausgestellt, daß dieses NotwendigSeiende in jeder Hinsicht frei von allen körperlichen Attribu92 ten war. Deshalb konnte Er nur durch etwas | erfaßt werden, das weder in einem Körper noch das Vermögen eines Körpers war, und ebensowenig durfte es in irgendeiner Weise von Körpern abhängig sein; es durfte sich weder innerhalb noch außerhalb eines Körpers befinden, nicht mit ihm verbunden noch von ihm abgetrennt sein. Er war sich im klaren, daß er Ihn mit seinem eigentlichen Wesen erfaßt und die Erkenntnis von Ihm sich in seinem Innern verankert hatte; dadurch wurde ihm nun klar, daß sein eigentliches Wesen, mit dem er Ihn erfaßt hatte, auch etwas Unkörperliches war, dem überhaupt keines der körperlichen Attribute zukommen konnte. Alles, was er an Körperlichem, das außerhalb seines eigentlichen Wesens lag, erfaßt hatte, war nicht sein wahres Wesen, sondern sein wahres Wesen war alleine das, mit dem er das Seiende, dessen Sein notwendig war, erfaßt hatte.102 Als er nun wußte, daß sein Wesen nicht aus all den körperlichen Dingen bestand, die er mit den Sinnen wahrnahm und die unter seiner Haut lagen, da wurde ihm sein ganzer Körper wertlos, und er begann, über dieses erhabene Wesen nachzudenken, mit dem er jenes erhabene Notwendig-Seiende erfaßt

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hatte. Er betrachtete dieses erhabene Wesen in ihm und fragte sich, ob es vernichtet werden, zugrunde gehen oder verschwinden könnte oder ob es immerwährend Bestand habe. Er sah, daß Vergehen und Verschwinden körperliche Attribute waren, bei denen eine Form abgelegt und eine andere aufgenommen wurde. | Wie wenn Wasser zu Luft wurde oder Luft zu Wasser; 93 oder wie wenn Pflanzen zu Erde oder Asche wurden oder Erde zu Pflanzen – das ist nämlich die Bedeutung von »Vergehen«. Das Körperlose hingegen bedurfte keines Körpers für sein Bestehen, war vollständig frei von Körperlichkeit, und sein Vergehen war ganz und gar unvorstellbar. Nachdem er die Gewißheit hatte, daß sein wahres Wesen unvergänglich war, wollte er wissen, wie es ihm ergehen würde, wenn es sich dereinst vom Körper befreit und diesen zurückgelassen haben würde, wobei ihm aber schon klar geworden war, daß es sich erst des Körpers entledigen würde, wenn dieser ihm nicht mehr als Instrument nützlich sein würde. Er untersuchte die Wahrnehmungsvermögen und erkannte, daß jedes davon manchmal potentiell und manchmal aktuell erfaßte. – Wie zum Beispiel das Auge, das, wenn es geschlossen oder der Blick auf seinen Gegenstand durch etwas behindert ist, nur potentiell sieht; »potentiell erfassen« heißt demnach, daß es jetzt gerade nicht erfaßt, zukünftig aber sehr wohl. Wenn es hingegen offen ist und seinen Gegenstand anvisieren kann, dann ist es aktuell sehend; »aktuell sehend« heißt demnach, daß es genau zu diesem Zeitpunkt sehend ist. Analog verhält es sich mit allen anderen Wahrnehmungsvermögen, die bald potentiell, | bald aktuell erfassen.103 Von diesen Ver- 94 mögen wird jedes, das gar nie aktuell erfaßt hat, solange es in der Potentialität verbleibt, nie ein Verlangen haben, den ihm angemessenen Gegenstand wahrzunehmen, weil es ja keine Kenntnis davon hat, vergleichbar einem von Geburt an blinden Menschen. Wenn es aber auch nur ein einziges Mal aktuell erfaßt hat, darauf aber in die Potentialität zurückfällt, so

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wird es, solange es in der Potentialität verbleibt, doch stets nach dem aktuellen Erfassen verlangen, weil es mit jenem Erfaßten Bekanntschaft geschlossen, eine Beziehung zu ihm entwickelt und ein Verlangen danach verspürt hat; genauso wie jemand, der sehen kann, später aber erblindet, weiterhin ein Verlangen nach den gesehenen Dingen verspürt. Je nachdem, wie voll­ endet, prächtig und schön das Erfaßte ist, desto größer wird das Verlangen danach und desto mächtiger der Schmerz über dessen Verlust sein. Der Schmerz des Sehenden, der das Augen­ licht verliert, ist deshalb größer als der Schmerz von dem, der den Geruchssinn verliert; die Gegenstände der Sehkraft sind nämlich vollendeter und schöner als diejenigen des Geruchssinnes. Gibt es nun etwas unendlich Vollendetes, unermeßlich Schönes und Prächtiges, das jede Vollendung, Schönheit und Pracht noch übersteigt, ja dergestalt, daß Vollendung, Schönheit und Pracht einzig und allein von ihm ausgehen, so wird jemand, der die Wahrnehmung davon unwiederbringlich verliert, 95 | nachdem er damit bekannt geworden ist, zweifellos unendlich leiden; andererseits ist derjenige, der es beständig erfaßt, im Zustand ununterbrochenen Genusses, grenzenloser Seligkeit, Wonne und Freude ohne Ende. Ihm war auch schon klar geworden, daß das NotwendigSeiende alle Merkmale der Vollkommenheit trug, während Er von allen Attributen des Mangels frei und enthoben war. Das, wodurch er zur Erkenntnis des Notwendig-Seienden gelangt war, war etwas, das überhaupt keine Ähnlichkeit mit den körperlichen Dingen hatte und nicht zusammen mit diesen zugrunde ging. Dadurch wurde ihm folgendes deutlich: »Für jemanden, der über ein derartiges Wesen verfügt, das zu einem solchen Erfassen fähig ist, stehen beim Zurücklassen des Körpers nach dem Tod folgende drei Wege bereit: Entweder hat er, solange er noch über seinen Körper verfügte, gar nie die Erkenntnis des Notwendig-Seienden erlangt, nie einen Bezug zu Ihm gehabt und auch nie etwas von Ihm gehört. Dann

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wird er beim Verlassen des Körpers kein Verlangen nach jenem Seienden empfinden und keinen Schmerz über seinen Verlust. Sämtliche Vermögen des Körpers gehen mit ihm zusammen zugrunde und verlangen nicht mehr nach ihren früheren Verrichtungen, sehnen sich nicht mehr nach ihnen und leiden nicht unter ihrem Verlust. Das ist der Fall bei allen unvernünftigen Lebewesen, gleichgültig, ob sie menschliche Form haben oder nicht. – Oder er hat, während er noch über seinen Körper verfügte, die Erkenntnis des Notwendig-Seienden erlangt und erkannt, wie vollkommen und gut Er ist, aber sich dann von Ihm abgewandt | und seinen Leidenschaften gefrönt, 96 bis ihn in diesem Zustand sein Geschick ereilt und ihm die Schau versagt wird, auch wenn er danach verlangt. So erleidet er endlose Qualen und unendliche Schmerzen, denen er entweder nach langer Anstrengung entrinnen und zur ersehnten Schau gelangen kann, oder aber er verbleibt auf ewig in seinen Schmerzen, abhängig von seiner persönlichen Disposition hinsichtlich dieser beiden Möglichkeiten während seines körperlichen Lebens. – Oder er gelangt zur Erkenntnis des Notwendig-Seienden, bevor er sich von seinem Körper trennt, wendet sich voll und ganz Ihm zu und richtet sein Denken auf Seine Größe, Güte und Pracht, ohne sich von Ihm abzuwenden, bis ihn sein Geschick ereilt, während er noch aktuell in diesem Zustand von Meditation und Schau ist. Ihm nun wird bei der Trennung von seinem Körper unendlicher Genuß, Seligkeit, Freude und Glück ohne Ende zuteil werden durch die un­unter­ brochene Schau jenes Notwendig-Seienden, die von Leid und Kummer unberührt ist, während die von den körperlichen Vermögen bedingten Verrichtungen aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung von ihm weichen werden, die in seinem Zustand ohnehin nur Schmerzen, Unheil und Behinderungen bedeuten würden.«  104 Als ihm klar geworden war, daß für sein eigentliches Wesen die Vollkommenheit und der Genuß nur in der ununter-

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brochenen und aktuellen Schau jenes Notwendig-Seienden lie97 gen konnte, | ohne sich auch nur einen Augenblick von Ihm abzuwenden, damit er sich, wenn ihn der Tod ereilte, im Zustand der aktuellen Schau befinden und so seine Wonne fortdauern würde, ohne durch einen Schmerz beeinträchtigt zu werden, da begann er zu überlegen, wie ihm diese ununterbrochene und aktuelle Schau gelingen könnte, ohne daß er durch irgend etwas daran gehindert würde. Er begann, sein Denken auf jenes Seiende zu richten, aber schon nach einer Stunde zog irgendein Sinneseindruck seinen Blick auf sich, drang ein Tierlaut an sein Ohr, lenkte ihn eine Vorstellung ab, plagte ihn ein Schmerz in einem seiner Glieder, oder es befielen ihn Hunger, Durst, Hitze oder Kälte, oder er mußte ein Bedürfnis verrichten. So wurden seine Gedanken unterbrochen, und er verlor den Anschluß, worauf er nur mühsam wieder zum eben erreichten Grad der Schau zurückkehren konnte. Er fürchtete, daß ihn der Tod in einem Moment der Ablenkung überraschen könnte, wodurch er in ewiges Leid und den Schmerz der Abgeschiedenheit gestürzt würde. Seine Lage bereitete ihm großen Kummer, und er fand keinen Ausweg. 98 | Er begann, alle Arten von Tieren zu prüfen sowie ihre Handlungen und Verhaltensweisen zu beobachten, in der Hoffnung, unter ihnen einige zu finden, die eine intuitive Erkenntnis von jenem Seienden besaßen und zu Ihm hinstrebten, damit er von ihnen lernen könnte, welches das Mittel war, um zur Erlösung zu gelangen. Aber er merkte, daß sie alle nur auf den Erwerb ihres Lebensunterhalts aus waren und ihre Bedürfnisse nach Speise, Trank, Fortpflanzung, Beschattung oder Erwärmung befriedigten. Tag und Nacht kümmerten sie sich ihr ganzes Leben lang nur darum. Er sah auch nicht, daß irgendeines je davon abwich oder von Zeit zu Zeit nach etwas anderem verlangte. Dadurch wurde er gewahr, daß sie jenes Seiende nicht erkannt hatten, noch sich nach Ihm sehnten, noch auf irgendeine Weise mit Ihm Bekanntschaft geschlos-

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sen hatten. Sie alle würden zu Nichts werden oder zumindest etwas, das dem Nichtsein ähnlich ist. Nachdem er sich dadurch ein Urteil über die Tiere gebildet hatte, erkannte er, daß dieses auf die Pflanzen noch in viel stärkerem Maße zutreffen würde, da diese nur über einen Bruchteil der Wahrnehmungsvermögen der Tiere verfügten. Wenn schon diejenigen mit der besseren Wahrnehmung diese Erkenntnis nicht erreichten, so war klar, daß diejenigen mit der mangelhafteren Wahrnehmung auch nicht so weit gelangten, insbesondere da er auch sah, daß das, was die Pflanzen taten, gar nicht über Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung hinausging. Darauf wandte er sich den Himmelskörpern und den Himmelssphären zu. Er sah, wie sie alle auf einer gleichmäßigen Bahn einer geordneten Bewegung folgten. | Sie waren hell 99 und leuchtend, fern von Veränderung und Vergehen. Er hatte die starke Vermutung, daß auch sie, über den Körper hinaus, je eigene Wesenheiten hatten, die zur Erkenntnis jenes Notwendig-Seienden gelangt waren, und daß diese erkennenden Wesenheiten weder selbst Körper waren noch in einen Körper eingebunden waren. Ja, warum hätten nicht auch sie solche von Körperlichkeit freien Wesenheiten haben sollen, wo doch sogar jemand wie er, der schwach und in hohem Maße auf das Sinnliche angewiesen war, eine solche besaß; er gehörte auch zu den vergänglichen Körpern, und trotz dieses Mangels war sein Wesen unkörperlich und unvergänglich. Er schloß, daß die Himmelskörper dessen noch viel würdiger waren, und er wußte, daß sie jenes Notwendig-Seiende erkennen und Ihn auf ewig aktuell betrachten; denn die Hindernisse, durch die er von der beständigen Schau abgehalten wurde, nämlich die sinnlichen Störungen, sind für die Himmelskörper nicht vorhanden. Dann überlegte er, warum gerade er sich unter allen übrigen Tierarten durch ein Wesen auszeichnete, durch das er eine Ähnlichkeit mit den Himmelskörpern hatte. Es war ihm schon zuvor auf Grund der Elemente und ihrer gegenseitigen

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Umwandlung ineinander klargeworden, | daß nichts auf der Erdoberfläche in seiner Form verharrte, sondern unaufhörlich der Abfolge von Entstehen und Vergehen unterworfen war und daß diese Körper vermischt und aus gegensätzlichen Dingen zusammengesetzt und deshalb vergänglich waren. Unter ihnen gab es nichts wirklich Reines, doch was von ihnen am nächsten daran war, völlig rein und unvermischt zu sein, das war noch am wenigsten vergänglich, wie beispielsweise das Gold oder der Rubin. Die Himmelskörper dagegen waren einfach und rein, und deshalb waren sie fern von Vergänglichkeit und nicht den sich abwechselnden Formen unterworfen. Ebenso war ihm auch schon klar geworden, daß es unter sämtlichen Körpern in der Welt des Entstehens und Vergehens solche gab, deren Realität aus einer einzigen Form über das Moment der Körperlichkeit hinaus bestand – nämlich die vier Elemente –, und solche, deren Realität aus mehreren bestand, wie bei den Pflanzen und den Tieren. Diejenigen, deren Realität aus weniger Formen bestand, übten auch weniger Wirkungen aus und waren vom Le101 bendigsein weiter entfernt; | wenn etwas überhaupt keine Form hatte, dann war ihm das Leben verwehrt, und es befand sich in einem dem Nichtsein ähnlichen Zustand. Diejenigen Dinge, deren Realität aus mehreren Formen bestand, übten auch mehr Wirkungen aus und besaßen mehr Anteil am Leben; war die Form untrennbar mit der ihr zugehörigen Materie verbunden, dann trat das Leben mit größter Deutlichkeit, Dauerhaftigkeit und Stärke hervor. Das völlig formlose war die Hyle oder die Materie, die überhaupt kein Leben besaß und mit dem Nichtsein vergleichbar war. Aus einer einzigen Form bestanden die vier Elemente, die sich auf der untersten Seinsstufe in der Welt des Entstehens und Vergehens befanden, und aus ihnen setzten sich diejenigen Dinge zusammen, die mehrere Formen besaßen. Diese Elemente verfügten nur in geringem Maße über Leben, denn ihnen kam nur eine einzige Bewegungsweise zu; zudem war

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ihre Lebenskraft gering, weil es zu jedem von ihnen ein Entgegengesetztes gab, das mit deutlichem Widerstand dem Streben der Natur dieses Elementes entgegenwirkte und versuchte, dessen Form zu verändern. Deshalb war das Sein der Elemente unbeständig und ihre Lebenskraft gering; die Pflanzen verfügten schon über eine stärkere Lebenskraft als jene, während die Lebenskraft der Tiere noch deutlicher zum Vorschein kam. | Wenn in einem zusammengesetzten Gebilde die Natur 102 ­eines einzigen Elements dominant wurde, dann dominierte diese aufgrund ihrer eigenen Kraft die Naturen der übrigen Elemente in ihm, neutralisierte deren Kräfte, und jenes Gebilde geriet unter die Herrschaft des dominierenden Elements, so daß ihm aus diesem Grund nur noch eine geringe Lebenskraft zukam, wie auch jenem einzelnen Element nur eine unbedeutende und geringe Lebenskraft zukam. Wenn hingegen in einem zusammengesetzten Gebilde keine Natur eines Elementes dominant war, dann waren die Elemente in ihm unter­ einander im Gleichgewicht und ausgewogen; folglich neutralisierte keines die Kraft eines anderen in größerem Maße, als jenes die Kraft des ersteren neutralisierte, sondern ihre gegenseitigen Wirkungen aufeinander waren im Gleichgewicht, weshalb in diesem Gebilde keine Wirkung eines einzelnen Elementes in den Vordergrund trat und sich seiner bemächtigte. Daher war es weit davon entfernt, einem einzigen Element zu ähneln – beinahe so, als hätte seine Form überhaupt kein Entgegengesetztes –, und dadurch kam ihm seine Lebenskraft zu; | wann immer diese Ausgewogenheit zunahm, es vollende- 103 ter wurde und sich mehr von der Unausgewogenheit entfernte, dann war es auch davon, daß es zu ihm ein Entgegengesetztes gab, weiter entfernt, und sein Leben war vollkommener. Da der tierhafte Geist, dessen Sitz das Herz war,105 besonders ausgewogen war – weil er feiner als Erde und Wasser, aber gröber als Feuer und Luft war –, befand er sich sozusagen in der Mitte, und keines der Elemente war ihm in offensichtlicher Art und

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Weise entgegengesetzt; genau das war es, was ihn für die Form der Tierhaftigkeit disponierte. Daraus zog er nun den notwendigen Schluß, daß im schlecht­ hin ausgewogensten tierhaften Geist auch die Disposition zum vollkommensten Leben innerhalb der Welt des Entstehens und Vergehens angelegt war. Beinahe konnte man von jenem Geist sagen, daß es zu seiner Form keinen Gegensatz gab, so daß er jenen Himmelskörpern ähnlich war, deren Formen ebenfalls keinen Gegensatz hatten.106 Weil der Geist jenes Lebewesens in Realität eine mittlere Stellung zwischen den Elementen einnahm, bewegte er sich absolut weder aufwärts noch abwärts, 104 sondern er würde, | wenn man ihn in die Mitte der Strecke zwischen dem Zentrum und dem höchsten Punkt, bis zu dem das Feuer reichte,107 stellen könnte, ohne daß er dem Vergehen ausgesetzt wäre, in der Tat dort verharren und weder nach oben noch nach unten streben. Wenn er eine Ortsbewegung vollziehen würde, dann in Form einer Kreisbewegung um den Mittelpunkt, wie es auch die Himmelskörper tun; würde er sich am Ort bewegen, dann in einer Rotationsbewegung um sich selber, und er wäre kugelförmig, denn anders ist es nicht möglich. Aus all diesen Punkten ergab sich seine große Ähnlichkeit mit den Himmelskörpern.108 Als er alle Situationen des tierischen Lebens überdacht hatte und auf nichts gestoßen war, das ihn hätte vermuten lassen, daß die Tiere Kenntnis vom Notwendig-Seienden besaßen, er aber schon genau wußte, daß sein eigentliches Wesen Ihn sehr wohl erkannt hatte, schloß er daraus, daß er allein das Lebewesen war, das einen genügend ausgewogenen Geist besaß, um den Himmelskörpern ähnlich zu sein. Ihm wurde klar, daß er von einer ganz anderen Art war als alle anderen Arten von Lebewesen, daß er zu einem anderen Zweck geschaffen worden und zu etwas Großartigem bestimmt war, wie sonst keine andere Art unter den Lebewesen. Es war ihm ein hinreichendes Zeichen seiner edlen Natur, daß auch sein niederer, körper­licher

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Teil | unter sämtlichen Dingen die größte Ähnlichkeit mit den 105 himmlischen Substanzen hatte, die sich außer­halb der Welt des Entstehens und Vergehens befanden und frei von allen Erscheinungen des Mangels, des Wandels und der Ver­ände­r ung waren. Sein edlerer Teil aber war der, mit dem er das Notwendig-Seiende erkannt hatte.109 Dieses erkennende Etwas war etwas Souveränes, Göttliches, Unwandelbares und Unvergängliches. Es war mit körperlichen Attributen nicht zu beschreiben und für die Sinne oder die Vorstellungskraft unfaßbar. Kein Erkenntnismittel konnte es erreichen außer es selbst. Ja, es ­gelangte zu sich durch sich selbst, war Erkennendes, Erkanntes und Erkenntnis zugleich; Wissendes, Gewußtes und Wissen;110 dazwischen bestand gar keine Trennung, denn Trennung und Zerteilung sind Attribute und Begleitbestimmungen von Körpern. Doch in diesem Bereich gab es keinen Körper, kein Attribut und keine Begleitbestimmung eines Körpers. Nachdem ihm klar geworden war, welchen außergewöhnlichen Rang er – durch seine Ähnlichkeit mit den Himmelkörpern – vor allen anderen Lebewesen einnahm, sah er ein, daß er ihrem Vorbild folgen, ihre Handlungen imitieren und sein Streben ihnen angleichen mußte. Er sah auch, daß sein edlerer Teil, mit dem er das Notwendig-Seiende erkannt hatte, sogar in gewisser Weise Ihm ähnlich war, | denn dieser Teil war 106 genauso den körperlichen Attributen enthoben wie das Notwendig-Seiende. Deshalb mußte er danach streben, auf jede nur mögliche Weise Seine Attribute für sich selbst zu erlangen, Sein Verhalten zu übernehmen und sich Seine Handlungen zum Vorbild zu nehmen. Er mußte Seinem Willen folgend handeln, Ihm untergeben sein und alle Seine Entschlüsse von ganzem Herzen – sowohl nach außen wie nach innen – mit Freude akzeptieren, auch wenn es für seinen Körper schmerzhaft oder schädlich wäre oder sogar seinen Leib gänzlich zerstören würde. Er bemerkte aber auch, daß er – in seinem niederen Teil, welcher der Welt des Entstehens und Vergehens

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angehörte – mit den übrigen Tierarten eine gewisse Ähnlichkeit hatte: Sein Leib, dunkel und dicht,111 verlangte nach aller­ lei sinnlichen Dingen wie Speise, Trank und Fortpflanzung; doch sein Leib war ihm nicht umsonst gegeben worden, und die Verbindung mit ihm war nicht ohne Nutzen. Er mußte auf ihn achten und seine Bedürfnisse befriedigen, auch wenn er damit nur etwas ähnliches tat wie die übrigen Tiere. Die Aufgaben, die ihm oblagen, gliederten sich also in drei Gruppen: Erstens die Handlungen, durch die er den vernunft107 losen Tieren glich. | Zweitens die Handlungen, mit denen er die Himmelskörper nachahmte. Und drittens die Handlungen, durch die er dem Notwendig-Seienden ähnlich wurde.112 Die erste Angleichung war notwendig, weil er einen dunklen Leib hatte, mit einzelnen Gliedern und verschiedenen Vermögen und Trieben. Die zweite Angleichung war notwendig, weil er einen lebendigen Geist hatte, dessen Sitz das Herz war und der das Lebensprinzip des ganzen Körpers und seiner Vermögen war. Die dritte Angleichung war notwendig, weil er eben er war, das heißt, weil er diese Wesenheit war, durch die er das Notwendig-Seiende erkannt hatte. Er hatte bereits verstanden, daß sein Glück und sein Triumph über das Elend einzig und allein in der kontinuierlichen Schau dieses Notwendig-Seienden lagen, in der Art und Weise, daß er sich auch nicht für einen Augenblick von Ihm abwandte. Nun besann er sich, auf welche Weise es ihm möglich sein würde, diese Kontinuität zu erlangen, und kam zum Schluß, daß er diese drei genannten Gruppen der Angleichung vollziehen mußte. Durch die erste Art der Angleichung konnte er diese Schau 108 nicht erlangen, | sondern sie lenkte vielmehr von ihr ab und behinderte den Weg zu ihr, denn sie bestand aus dem Umgang mit den Sinnendingen, und alle Sinnendinge waren Schleier, die jener Schau entgegenwirkten. Diese Angleichung wurde nur zur Erhaltung des tierhaften Geistes gebraucht, durch den

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die zweite Angleichung an die Himmelskörper erst vollzogen werden konnte; deshalb war sie notwendig, obwohl sie mit jenen Nachteilen versehen war. Die zweite Art der Angleichung erlaubte ihm, einen großen Anteil an jener kontinuierlichen Schau zu erlangen; doch auch sie war nicht ungetrübt. – Denn wer eine solche Art der Schau vollzieht, ist sich trotzdem noch seiner selbst bewußt  113 und richtet seine Aufmerksamkeit auf sich selbst, wie später deutlich werden wird. Erst durch die dritte Art der Angleichung vollzieht sich die unvermischte Schau und die reine Versenkung in das Notwendig-Seiende ohne irgendeine Ablenkung. Wem eine solche Schau zuteil wird, dem widerfährt das völlige Verschwinden seines wesentlichen Selbsts, die Auflösung und das Entwerden 114 und gleichzeitig auch das aller anderen Wesenheiten, seien es viele oder wenige. Es bleibt einzig die Wesenheit des Einen, des Wahren, des Notwendig-Seienden – erhaben, groß und mächtig ist Er. | Als ihm klar geworden war, daß sein letztendliches Ziel 109 in dieser dritten Angleichung bestand, die ihm jedoch nur nach langandauerndem Ausüben und Vollziehen der zweiten Angleichung gelingen würde, wobei er während dieses Zeitraums auch auf die erste Angleichung angewiesen war – mit dem Wissen, daß diese erste Angleichung eine notwendige Voraussetzung war, die essentiell hinderlich und nur akzidentiell förderlich war –, da auferlegte er sich, von dieser ersten Angleichung nur gerade soviel, wie es die Notwendigkeit verlangte, umzusetzen; also genau soviel, wie es zur Erhaltung des tierhaften Geistes mindestens brauchte. Er befand, daß für die Erhaltung des tierhaften Geistes zwei Dinge notwendig waren: Als erstes etwas, das ihn innerlich versorgte und ihm Nachschub lieferte für das, was er verbrauchte, nämlich Nahrung; und als zweites etwas, das ihm äußerlich Schutz bot und ihn vor irgendwelchen Schäden durch Kälte, Hitze, Regen, Sonnen­brand, gefährliche Tiere und dergleichen bewahrte.

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Er merkte, daß er, wenn er von dem, was er davon brauchte, blindlings nahm, wie es sich gerade ergab, der Maßlosigkeit verfallen wäre und vielleicht mehr als nur genug genommen 110 hätte, | wodurch er, ohne es zu merken, sich selbst zuwider gehandelt hätte. Er sah ein, daß es das Klügste war, sich selbst bestimmte Grenzen zu setzen, die er nicht überschreiten sollte, und bestimmte Mengen, über die er nicht hinausgehen sollte. Es war ihm klar, daß sich diese Bedingungen auf die Gattung von dem, wovon er sich ernährte, auf die Menge und auf die zeitlichen Abstände dazwischen beziehen mußten. Anschließend betrachtete er zuerst die Gattungen von dem, wovon er sich ernährte, und sah, daß es drei Klassen gab: erstens die Pflanzen, die noch nicht vollständig entwickelt und noch nicht bis zu ihrer letztendlichen Vollkommenheit gelangt waren, also die verschiedenen eßbaren Sorten von grünem Gemüse. Zweitens die Früchte von Pflanzen, die voll und ganz entwickelt waren und schon Samen trugen, aus denen wiederum Pflanzen derselben Art sprießen sollten, also die verschiedenen Sorten von trockenen und wässrigen Früchten. Und drittens die Tiere, die man essen konnte, wozu sowohl Land- als auch Meerestiere gehörten. Es stand für ihn fest, daß alle diese Gattungen das Werk jenes Notwendig-Seienden waren, von dem ihm klar geworden war, daß sein Glück darin lag, Ihm nahe zu sein und die Angleichung an Ihn zu erstreben. Das Verzehren dieser Ge111 schöpfe, | das ihnen ihre Vollendung verunmöglichen und sie von ihrem vorbestimmten Ziel abbringen würde, bedeutete, dem Werk des Schöpfers zuwiderzuhandeln; dieses Zuwiderhandeln wäre aber der Suche nach Seiner Nähe und der Angleichung an Ihn entgegengesetzt gewesen. Er sah ein, daß es das Richtige gewesen wäre, wenn er sich voll und ganz der Nahrung hätte enthalten können. Doch dies war ihm nicht möglich, denn wenn er sich ihrer gänzlich enthalten hätte, hätte dies seinen ganzen Körper ins Verderben gestürzt, was

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einen weitaus schlimmeren Verstoß gegenüber seinem Schöpfer bedeutet hätte als der erste, denn er selbst war würdiger als jene anderen Dinge, deren Verzehr ihm den Lebensunterhalt sicherte. So wählte er das geringere der beiden Übel und erlaubte sich den leichteren der beiden Verstöße. Er beschloß, von diesen Gattungen, wenn sie spärlich vorhanden waren, nur gemäß einem noch festzulegenden Maß das zu nehmen, was ihm leicht erreichbar war. Wenn es von ihnen allen genug gab, so oblag es ihm, festzulegen und auszuwählen, wieviel er davon nehmen konnte, ohne sich dem Werk des Schöpfers in größerem Maße zu widersetzen; also beispielsweise das Fleisch von Früchten, die schon voll ausgereift und deren Samen keim­ fähig waren, | unter der Bedingung, jene Samen mit Vorsicht 112 zu behandeln und sie nicht zu essen oder zu zerstören und sie auch nicht an einem Ort fortzuwerfen, der für Pflanzen nicht geeignet war, wie etwa felsiger Grund oder salziger Boden und ähnliches. Wenn es ihm nicht gelang, Früchte mit eßbarem Fleisch zu finden, wie Äpfel, Birnen, Pflaumen und dergleichen, dann mußte er entweder solche nehmen, von denen man nur den Kern selbst essen konnte, wie Nüsse und Kastanien, oder dann grünes Gemüse, das noch nicht vollkommen ausgewachsen war. Dabei machte er es sich zur Bedingung, daß er nur solches nahm, das in großer Zahl vorhanden war und sich kräftig vermehrte, und weiter, daß er es nicht mit den Wurzeln ausriß oder die Samen zerstörte. Wenn es an besagtem mangelte, dann durfte er auch Tiere oder deren Eier zu sich nehmen, unter der Bedingung, daß er diejenigen Tiere auswählte, von denen es am meisten gab, damit er nicht eine ganze Art vollständig ausrottete. Dies alles nahm er sich vor in bezug auf die Gattungen, von denen er sich ernährte.114 b Hinsichtlich der Menge beschloß er, daß es genügte, wenn sein Hungergefühl gestillt wurde, und er nicht mehr nehmen sollte. Hinsichtlich der Dauer, die zwischen den Mahlzeiten liegen sollte, | hielt er es für das Beste, wenn er sein Bedürfnis 113

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nach Nahrung einmal gestillt hatte, es dabei bewenden zu lassen und nichts Weiteres zu sich zu nehmen, bis er eine Schwäche spürte, durch die er bei den im folgenden noch zu erwähnenden Handlungen, welche die zweite Angleichung verlangte, unterbrochen wurde. Was an äußerlichem Schutz notwendig war zur Erhaltung des tierhaften Geistes, bereitete ihm keine große Schwierigkeit, denn er war mit Tierhäuten bekleidet und hatte eine Behausung, die ihm Schutz vor äußeren Einflüssen bot. Damit gab er sich zufrieden und hielt sich nicht weiter damit auf. Bei seiner Nahrung achtete er jedoch streng darauf, die Regeln, die er sich – wie soeben erläutert – zurechtgelegt hatte, zu befolgen. Darauf nahm er sich die zweite Aufgabe vor, nämlich sich den Himmelskörpern anzugleichen, ihrem Beispiel zu folgen und sich ihre Eigenschaften anzueignen. Er studierte ihre Merkmale und fand, daß sie sich in drei Klassen gliederten: Erstens ihre Merkmale in bezug auf die unter ihnen liegende Welt des Entstehens und Vergehens, also die Erwärmung, die sie ihr essentiell zukommen ließen, und die Erkaltung, die sie ihr akzidentiell zukommen ließen, weiter das Licht, die Ver114 dünnung, die Verdichtung und alles übrige, | wodurch der Welt die Disposition gegeben wurde, damit die geistigen Formen vom notwendig seienden Urheber her über sie ausströmen konnten.115 – Zweitens die Merkmale, die ihnen hinsichtlich ihres eigenen Wesens zukamen, also daß sie durchscheinend, leuchtend, rein und frei von Trübung und sonstigem Übel waren und daß sie sich bewegten, indem sie sich entweder um ihren eigenen oder einen fremden Mittelpunkt drehten. – Drittens die Merkmale, die ihnen in bezug auf das Notwendig-Seiende zukamen, also daß sie Ihn immerwährend betrachteten, sich nie von Ihm abwandten, nach Ihm Verlangen empfanden, gemäß Seinem Urteil verfuhren, sich der Erfüllung Seines Willens unterordneten und sich einzig durch Sein Gebot und Seine Gewalt bewegten.116

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Folglich begann er sein Bemühen darauf zu richten, sich ­ihnen in jeder dieser drei Klassen anzugleichen. Seine Angleichung an die Himmelskörper gemäß der ersten Klasse von Merkmalen bestand darin, daß er es sich zur Pflicht machte, wann immer er ein Tier oder ein Gewächs sah, das einen Mangel, ein Gebrechen, einen Schaden oder eine Behinderung hatte, die er beheben konnte, dies auch sofort zu tun. Fiel sein Blick auf eine Pflanze, die durch irgendein Hindernis nicht von der Sonne beschienen, von einer anderen Pflanze störend umklammert wurde oder beinahe durch allzu großen Durst verdorrt wäre, dann beseitigte er, sofern dies machbar war, jenes Hindernis, | befreite sie von der störenden Pflanze – jedoch 115 ohne dieser selbst irgendeinen Schaden zuzufügen – oder trug Sorge, daß sie begossen wurde, so gut es ihm möglich war. Fiel sein Blick auf ein Tier, das von einem Raubtier verfolgt wurde, in einer Schlinge hängengeblieben war, einen Dorn eingefangen hatte, von Durst oder Hunger gequält wurde oder dem etwas Schädliches ins Auge oder ins Ohr gelangt war, dann machte er es sich zur Aufgabe, all das eifrigst zu beheben und gab ihm zu essen und zu trinken. Stieß er auf ein Gewässer, das Pflanzen oder Tieren als Tränke diente, dessen Lauf aber durch ein Hindernis wie einen hineingefallenen Felsbrocken oder Schutt behindert wurde, dann beseitigte er dies alles. Unentwegt widmete er sich voll und ganz dieser Art der Angleichung, bis er darin den höchsten Grad erreichte. Seine Angleichung an die Himmelskörper gemäß der zweiten Klasse von Merkmalen bestand darin, daß er sich stetige Sauberkeit zur Pflicht machte; er entfernte Schmutz und Dreck von seinem Körper, wusch sich häufig mit Wasser, reinigte seine Nägel, seine Zähne und die Stellen seines Körpers, wo sich Schmutz sammeln konnte, | parfümierte sie so gut 116 er konnte mit duftenden Pflanzen und ätherischen Ölen und bemühte sich, seine Bekleidung rein und wohlriechend zu erhalten, so daß er schließlich erstrahlte vor Schönheit, Pracht,

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Reinlichkeit und Wohlgeruch. Weiter vollführte er die verschiedensten Kreisbewegungen; bald ging er auf der Insel umher, umrundete sie der Küste entlang und durchstreifte ihre Gefilde, bald umkreiste er in bestimmten Umläufen seine Behausung oder einen Felsen, entweder in normalem Gang oder in schnellem Schritt, und bald drehte er sich um sich selbst, bis er die Besinnung verlor.117 Seine Angleichung an die Himmelskörper gemäß der dritten Klasse von Merkmalen bestand darin, daß er seine Gedanken fest auf das Notwendig-Seiende zu richten pflegte und dabei jede Verbindung zu den sinnlich wahrnehmbaren Dingen abbrach, indem er die Augen schloß, die Ohren verstopfte und sich bemühte, der Vorstellungskraft keine Beachtung zu schenken. Er versuchte, so gut er konnte, an Ihn allein zu denken und Ihm nichts anderes beizugesellen; dabei behalf er sich damit, daß er sich immer schneller und schneller um sich selbst zu drehen begann, bis ihm das sinnlich Wahrnehmbare nicht mehr gegenwärtig war und die Vorstellung mitsamt den anderen Vermögen, die auf die körperlichen Werkzeuge angewie117 sen waren, | erlahmte, während die Wirkung seines vom Körper unabhängigen Wesens stärker wurde; so waren seine Gedanken für einige Augenblicke 118 ungetrübt, und er gelangte zur Schau des Notwendig-Seienden. Doch alsbald erstarkten die körperlichen Kräfte wieder, verdarben seinen mystischen Zustand, warfen ihn zurück in die tiefsten Tiefen (Q   95:5), und er war wieder am gleichen Punkt wie zuvor. Wenn ihn eine Schwäche überkam, die ihn bei der Umsetzung seines Vorhabens unterbrach, dann nahm er in Übereinstimmung mit den oben erwähnten Regeln etwas Nahrung zu sich und widmete sich danach wieder der Angleichung an die Himmelskörper, entsprechend den erwähnten drei Klassen. Dieser Aufgabe ging er längere Zeit unermüdlich nach, wobei er und seine körperlichen Kräfte sich gegenseitig bekämpften und mit­einan­ der stritten. In den Momenten, in denen er die Oberhand ge-

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wann und seine Gedanken ungetrübt waren, leuchteten vor ihm einige der Zustände auf, wie sie diejenigen Leute erleben, welche jene dritte Angleichung vollziehen.119 Da begann er mit dem Streben nach der dritten Angleichung und trachtete danach, sie zu erlangen. Er nahm sich also die Attribute des Notwendig-Seienden vor, wobei ihm, | bevor er 118 zur Tat schritt, aus seinen wissenschaftlichen Betrachtungen bereits klargeworden war, daß es zwei Gruppen von Attributen gab: Einerseits positive Attribute wie Wissen, Macht, Weisheit und andererseits negative Attribute wie Sein Enthobensein von der Körperlichkeit, von allen körperlichen Attributen und Begleitbestimmungen und was mit diesen – sei es auch nur entfernt – zusammenhing.120 Dieses Enthobensein bedingte auch, daß die positiven Attribute keinerlei körperlichen Attribute – zu denen auch die Vielheit zählte – umfaßten; so stellte Sein Wesen auf Grund dieser positiven Merkmale keine Vielheit dar, sondern alle diese bezogen sich auf ein einziges Moment – nämlich Sein wahres Wesen. Also begann er sich zu fragen, wie er sich Ihm gemäß jeder dieser beiden Gruppen angleichen sollte. Von den positiven Attributen wußte er, daß sie sich alle auf Sein wahres Wesen bezogen und jegliche Vielheit ausschlossen, denn die Vielheit war ein Attribut von Körpern; zudem war Sein Wissen um Sein wahres Wesen kein zusätzliches Moment über Sein Wesen hinaus, sondern Sein Wesen war eben gerade Sein Wissen um Sein Wesen, und Sein Wissen um Sein Wesen war Sein Wesen.121 Daraus wurde ihm klar, daß wenn es ihm möglich war, Wissen um Sein Wesen zu erlangen, dieses Wissen um Sein Wesen somit kein zusätzliches Moment über Sein Wesen hinaus war; sondern es war mit Ihm identisch. So sah er ein, daß die Angleichung an Ihn gemäß den positiven Attributen darin bestand, daß er nur Wissen um Ihn allein besaß, ohne Ihm körperliche Attribute beizugesellen; | und so 119 verfuhr er dann auch.

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Die negativen Attribute bezogen sich alle auf Sein Enthobensein von der Körperlichkeit. Er begann deshalb, sich selbst aller Merkmale der Körperlichkeit zu entledigen. Zwar war es ihm schon im Laufe seiner früheren Übungen, durch die er die Angleichung an die Himmelskörper angestrebt hatte, gelungen, viele davon abzulegen, doch es verblieben ihm immer noch zahlreiche, wie etwa die Kreiselbewegung – und Bewegung gehört ja im besonderen zu den körperlichen Attributen. Aber auch die Sorge um die Bedürfnisse der Tiere und Pflanzen, das Mitleid mit ihnen und die Bemühung zur Beseitigung ihrer Behinderungen gehörten zu den körperlichen Attributen, denn er konnte dieser Sachverhalte erst gewahr werden mittels eines Vermögens, das selbst körperlich war, und sich für ihre Belange einsetzen konnte er ebenfalls nur durch ein körperliches Vermögen. Also begann er, sich auch noch all dieser Dinge zu entledigen, denn sie waren allesamt mit dem Zustand, den er nun erstrebte, unvereinbar. Fortan tat er nicht anderes, als mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen still in der Tiefe seiner Höhle zu verharren,122 abgewandt von sämtlichen sinnlich wahrnehmbaren Dingen und körperlichen Vermögen, während seine Aufmerksamkeit und sein Denken einzig und allein auf das Notwendig-Seiende gerichtet waren, ohne jede Beigesellung. Sobald sich in seiner Vorstellung irgendein anderer Einfall regte, so 120 verbannte er ihn mit aller Kraft aus seiner Vorstellung. | Diesen Übungen unterwarf er sich und verfuhr längere Zeit auf diese Weise, so daß mehrere Tage vergehen konnten, an denen er weder etwas zu sich nahm noch irgendeine Bewegung machte. Im Verlauf seiner angestrengten Bemühung konnte es geschehen, daß alles außer seinem wesentlichen Selbst aus seinem Gedenken und seinen Gedanken verschwand; daß genau dieses auch im Augenblick seiner Versenkung in die Schau des wahren Notwendig-Seienden nicht verschwand, bekümmerte ihn, wußte er doch, daß dies eine Trübung der reinen

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Schau und eine Beigesellung eines weiteren Gegenstandes bei der Schau darstellte. Also fuhr er fort mit seinem Streben nach dem Entwerden von sich selbst und nach der absoluten Reinheit in der Schau des Wahrhaftigen, bis es ihm schließlich gelang: Aus seinem Bewußtsein und seinem Denken verschwanden Himmel und Erde und alles, was dazwischen war (Q 32:4), sämtliche geistigen Formen und körperlichen Vermögen und sämtliche immateriellen Kräfte – also die Wesenheiten, die das wahrhaftige Seiende erkennen. Seine eigene Wesenheit löste sich auf in der Menge dieser Wesenheiten, und alles wurde zu Nichts, schwand dahin und wurde zu Staub, der sich über­ all ausbreitet (Q 56:6). Nichts blieb außer dem Einen, Wahren, Beständig-Seienden, der mit Seinen Worten, die jedoch kein zusätzliches Moment über Sein Wesen hinaus waren, sprach: Wer hat heute die Herrschaft? Der eine, allgewaltige Gott (Q 40: 16).123 | Nun verstand er Seine Rede und erhörte Seinen Ruf; 121 daß er keine Sprache verstand und nicht sprechen konnte, hinderte ihn nicht daran, es zu verstehen. Er versenkte sich in jenen Zustand und schaute, was noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz je vernommen hat.124 – So hänge auch du dein Herz nicht an die Beschreibung ­einer Sache, die kein Herz eines Menschen je vernommen hat. Denn viele Dinge, die das Herz des Menschen vernimmt, sind schwer zu beschreiben; wieviel mehr erst das, was kein Herz je vernehmen kann und was nicht seiner Welt oder seinem Rang angehört. Mit »Herz« meine ich hier nicht das körperliche Herz und auch nicht den Geist in seinem Innern, sondern die Form jenes Geistes, die mit ihren Kräften in den Körper des Menschen ausströmt.125 Zu jedem dieser drei sagt man Herz – doch jene Sache zu vernehmen ist für alle drei unmöglich. Sprachlich ausgedrückt werden kann nur das Vernehmbare, und wer nach einem sprachlichen Ausdruck für jenen Zustand verlangt, der verlangt etwas Unmögliches. Er ist mit dem vergleichbar, der den Geschmack der Farben qua Farben

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kosten will und behauptet, schwarz zum Beispiel sei süß oder sauer. 122 | Dennoch wollen wir dich nicht ohne Hinweise zurücklassen, mit denen wir andeuten, welche Wunder er an diesem Standort 1 26 geschaut hat; allerdings werden wir es mittels Gleichnissen sagen und nicht, indem wir ans Tor der Wahrheit schlagen.127 Denn es gibt keinen Weg, um die Einzelheiten dieses Zustandes 1 28 zu ergründen, außer ihn selbst zu erreichen. So horche nun mit dem Gehör deines Herzens und schaue mit dem Blick deines Intellekts, worauf ich dich hinweise; vielleicht wirst du darin einen Wegweiser finden, der dich auf den rechten Weg führt – aber nur unter der Bedingung, daß du von mir zur gegebenen Zeit nicht verlangst, daß ich dir ausführlichere Erklärungen als das, was ich diesen Blättern anvertraut habe, geben soll. Denn der Spielraum ist eng, und etwas mit Worten auszudrücken, das nicht dafür geeignet ist, in Worte gefaßt zu werden, ist gefährlich. Also sage ich: Nach dem Entwerden von seinem wesentlichen Selbst und von sämtlichen Wesenheiten, als er in der Welt des Seins nichts anders sah als den Einen, Beständigen und schaute, was er eben schaute, dann aber zurückkehrte und nach seinem Erwachen aus jenem Zustand, welcher der Trunkenheit glich, die anderen Dinge wieder erblickte, da verfiel er auf den Gedanken, daß er kein vom Wesen des Wahrhaf123 tigen verschiedenes Wesen hatte. | Sein wahres Wesen war das Wesen des Wahrhaftigen, und das, was er zuerst für sein vom Wesen des Wahrhaftigen verschiedenes Wesen gehalten hatte, war in Realität gar nichts, sondern es war nichts da ­außer dem Wesen des Wahrhaftigen. – Dies ist vergleichbar mit dem Licht der Sonne, das auf feste Körper fällt und dann an ihnen erscheint. Obwohl es dem Körper zugeschrieben wird, an dem es erscheint, ist es doch in Realität nichts anderes als das Licht der Sonne, und wenn jener Körper nicht mehr da ist, dann ist auch sein Licht nicht mehr da, während das Licht der Sonne

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unverändert da bleibt; es wird weder verringert während der Anwesenheit jenes Körpers, noch nimmt es zu während seiner Abwesenheit. Ist ein Körper da, der zur Aufnahme jenes Lichtes tauglich ist, dann nimmt er es auf; ist kein Körper vorhanden, dann findet keine Aufnahme statt, und es ereignet sich auch nichts an ihm. In dieser Annahme wurde er noch bestärkt, weil ihm klar schien, daß das Wesen des Wahrhaftigen – mächtig und erhaben ist Er – in keiner Hinsicht der Vielheit unterworfen war und daß Sein Wissen um Sein Wesen eben Sein Wesen war; daraus schien ihm zu folgen, daß sich bei jedem, bei dem sich das Wissen um Sein Wesen verwirklichte, damit auch Sein Wesen verwirklichte, und da sich bei ihm selbst dieses Wissen verwirklicht hatte, hatte sich bei ihm auch Sein Wesen verwirklicht. Dieses Wesen verwirklichte Sich nur bei Sich Selbst, ja Seine Verwirklichung selbst war Sein Wesen; | folglich war 124 er selbst dieses Wesen, und ebenso auch sämtliche immateriellen Wesenheiten, die dieses Wahrhaftige Wesen erkannten, welche er selbst zuerst für viele verschiedene gehalten hatte, die ihm aber nun durch diese Annahme zu einem einzigen Ding wurden. Beinahe hätte sich dieser Irrtum in seiner Seele festgesetzt, wenn ihm Gott in Seiner Barmherzigkeit nicht beigestanden und ihn wieder auf den rechten Weg geführt hätte; daher wußte er, daß sein Irrtum ausgelöst worden war durch Reste der Dunkelheit der Körper und Trübheit der sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Das Viele, das Wenige, das Eine, die Einzahl, die Mehrzahl, die Vereinigung und die Trennung waren alles Attribute von Körpern; aber jene immateriellen Wesenheiten, welche das Wesen des Wahrhaftigen – mächtig und erhaben ist Er – erkannten, waren auf Grund ihrer Materielosigkeit weder vieles noch eines zu nennen, denn die Vielheit ist eine Folge des Unterschiedenseins der Wesenheiten unter­ einander, und Einheit gab es nur durch Verbindung. – Doch

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all das kann man nur verstehen mittels zusammengesetzter und mit Materie vermengter begriff licher Momente. Überhaupt ist es sehr schwierig, über dieses Thema zu sprechen, denn wenn du von diesen immateriellen Wesenheiten – wie wir es getan haben – in der Mehrzahl sprichst, so erweckt das 125 den Eindruck, | sie würden unter den Begriff der Vielheit fallen, während sie doch frei von Vielheit sind; und wenn du von ihnen in der Einzahl sprichst, dann erweckt das den Eindruck des Begriffs der Vereinigung, wo doch auch das bei ihnen undenkbar ist. Ich komme mir vor wie jemand, dem eine von diesen Fledermäusen 129 begegnet, deren Augen von der Sonne verdunkelt werden, die sich in den Ketten ihres Wahnsinns windet und ruft: »Jetzt hast du es zu weit getrieben mit deiner Spitzfindigkeit, soweit, daß du die natürliche Anlage zum Gebrauch des Verstandes verloren und das Urteil des gesunden Menschenverstandes verworfen hast; es gehört doch zu den Regeln des Verstandes, daß etwas entweder eines oder vieles ist!«  130 Doch sie soll ihren Eifer mäßigen und ihre verstörte Zunge zügeln; sie soll erst einmal sich selbst gegenüber mißtrauisch sein und über die niedere, sinnlich wahrnehmbare Welt, der sie selbst verhaftet ist, nachdenken. So, wie auch Hayy ibn Yaqzān über sie nachdachte und, als er sie betrachtete und sie ihm bald als unfaßbare und unbegrenzte Vielheit erschien, bald als Einheit, unschlüssig war und sich nicht dafür entscheiden konnte, 126 | eine der beiden Alternativen der anderen vorzuziehen. Nun, die sinnlich wahrnehmbare Welt ist das Reich von Mehrzahl und Einzahl – und nur in ihr ist die wahre Bedeutung dieser beiden Begriffe zu verstehen –, von Trennung und Verbindung, von räumlicher Kontinuität und Distinktion, von Übereinstimmung und Verschiedenheit. Was sollte er demnach über die göttliche Welt denken, von der »Ganzes« oder »Teil« nicht ausgesagt werden können und über die man mit keinem der gebräuchlichen, hörbaren Ausdrücke sprechen kann, ohne

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daß dadurch eine falsche Vorstellung entsteht, die der Realität widerspricht. Daher erkennt sie nur derjenige, der sie schaut, und nur demjenigen, der bis zu ihr gelangt, wird ihre wahre Realität zur Gewißheit. Was ihren Vorwurf: »  …  daß du die natürliche Anlage zum Gebrauch des Verstandes verloren und das Urteil des gesunden Menschenverstandes verworfen hast« betrifft, so gestehen wir ihr das zu und entlassen sie mit ihrem Verstand und ihren Verstandesjüngern, denn der Verstand, von dem sie und ihresgleichen reden, ist bloß das rationale Vermögen, das die in­divi­ duellen, sinnlich wahrnehmbaren seienden Dinge prüft und daraus den Allgemeinbegriff ableitet, und die Verstandesjünger, die sie meint, sind diejenigen, die in dieser Art und Weise ihre Betrachtungen vollziehen.131 Aber der Bereich, von dem wir sprechen, steht über all dem; wer nichts außer den sinnlich wahrnehmbaren Dingen und den dazugehörigen Allgemeinbegriffen kennt, der soll seine Ohren verstopfen und zurückkehren zu seinen eigenen Leuten, die nur über das, was vom diesseitigen Leben äußerlich sichtbar ist, Bescheid wissen, aber auf das Jenseits achten sie nicht (Q 30:7). | Wenn du aber zu denen gehörst, die mit derartigen Hin- 127 weisen und Andeutungen auf die göttliche Welt zufrieden sind, und du unsere Worte nicht im Sinne ihres gewöhnlichen Wortlautes zu verstehen trachtest, dann fügen wir noch etwas hinzu von dem, was Hayy ibn Yaqzān an dem bereits erwähnten Standort der Leute der Aufrichtigkeit geschaut hat: Nach der reinen Versenkung, dem vollkommenen Entwerden und dem wahren Erreichen schaute er nämlich eine immaterielle Wesenheit, die der höchsten Himmelssphäre angehörte, hinter der es keinen weiteren Körper gab. Sie war nicht das Wesen des Einen, Wahrhaftigen, noch war sie die Himmelssphäre selbst; aber sie war auch nicht etwas von diesen beiden Verschiedenes. Sie war wie das Bild der Sonne, das in einem blanken Spiegel erschien, doch das Bild war weder die Sonne

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noch der Spiegel; aber es war auch nicht etwas von diesen beiden Verschiedenes.132 Er sah die immaterielle Wesenheit dieser Sphäre in Vollendung, Pracht und Schönheit – zu mächtig, um mit Worten beschrieben und zu fein, um in Buchstaben und Laute gefaßt zu werden. Er sah sie in einem Zustand von äußerstem Genuß, Zufriedenheit, Glückseligkeit und Freude bei der Schau des Wesens des Wahrhaftigen – groß ist Seine Erhabenheit. | Ebenso schaute er noch eine weitere materielose Wesen- 128 heit, die der darauffolgenden Sphäre – nämlich der Fixsternsphäre – angehörte, die weder die Wesenheit des Einen, Wahrhaftigen noch die immaterielle Wesenheit der obersten Sphäre, noch diese Sphäre selbst war, und trotzdem war sie nicht etwas von diesen Verschiedenes; so, wie wenn sie das Bild der Sonne gewesen wäre, das in einem Spiegel erschien, in welchem sich das Bild eines anderen, der Sonne direkt zugewandten Spiegels reflektierte. Auch bei dieser Wesenheit sah er Pracht, Schönheit und Genuß, wie er es schon bei der obersten Sphäre gesehen hatte. Desgleichen schaute er noch eine weitere immaterielle Wesenheit, die der darauffolgenden Sphäre – nämlich der SaturnSphäre – angehörte, die nicht mit den Wesenheiten, die er zuvor geschaut hatte, identisch war, aber sie war auch nicht etwas von ihnen Verschiedenes; so, wie wenn sie das Bild der Sonne gewesen wäre, das in einem Spiegel erschien, in welchem sich das Bild eines anderen Spiegels reflektierte, in welchem sich wiederum das Bild eines anderen, der Sonne direkt zugewandten Spiegels reflektierte. Auch bei dieser Wesenheit sah er Pracht und Genuß, wie er es schon zuvor gesehen hatte. Und so schaute er auch alle weiteren immateriellen Wesenheiten, die einer jeden Himmelssphäre angehörten, | die nicht 129 mit den Wesenheiten, die er zuvor erschaut hatte, identisch waren, und doch waren sie nicht etwas von ihnen Verschiedenes; so, wie wenn sie das Bild der Sonne gewesen wären, das von

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einem Spiegel zum andern reflektiert wurde, in einer Rang­ ordnung, die dem Aufbau der Himmelssphären entsprach. Bei jeder von diesen Wesenheiten sah er Schönheit, Pracht, Genuß und Freude, wie sie noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz je erfahren hat, bis er schließlich die Welt des Entstehens und Vergehens erreichte, also alles das, was von der Mondsphäre umschlossen wurde. Auch hier erschaute er eine immaterielle Wesenheit, die nicht identisch war mit den Wesenheiten, die er zuvor erschaut hatte, und doch war sie nicht etwas von ihnen Verschiedenes. Diese Wesenheit hatte siebzigtausend Gesichter, von denen jedes siebzigtausend Münder hatte, und in jedem Mund waren siebzigtausend Zungen, mit denen dieser Mund das Wesen des Einen Wahrhaftigen unablässig lobpreiste, verherrlichte und rühmte.133 Auch bei dieser Wesenheit, die ihm der Vielheit unterworfen zu sein schien, ohne wirklich vieles zu sein, sah er Vollendung und Genuß, wie er es schon zuvor gesehen hatte; so, wie wenn diese Wesenheit das Bild der Sonne gewesen wäre, das in einer gekräuselten Wasseroberfläche erschien, in welcher 130 sich das Bild des letzten Spiegels reflektierte, | wobei die Reihe der Reflexionen, die über die erwähnte Anordnung bis zu diesem letzten Spiegel gelangten, von jenem Spiegel ausging, welcher der Sonne selbst direkt zugewandt war. Dann erschaute er eine immaterielle Wesenheit, die ihm selbst gehörte. – Hätte man die Wesenheit mit den siebzigtausend Gesichtern aufgliedern können, würden wir sagen, daß seine Wesenheit ein Teil jener Wesenheit gewesen wäre. Wenn sie nicht entstanden wäre, nachdem sie zuvor nicht da war, würden wir sagen, daß sie mit jener Wesenheit identisch wäre. Und wäre sie nicht seinem Körper zu eigen geworden bei dessen Entstehung, dann würden wir sagen, daß sie gar nicht entstanden sei. Auf dieser Stufe erschaute er Wesenheiten wie seine eigene Wesenheit, die zu Leibern gehörten, von denen einige zuerst

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da waren, dann aber dahinschwanden, während andere jetzt noch mit diesem zusammen da waren. Sie waren einer beinahe unendlichen Vielheit unterworfen, wenn man Vielheit von ihnen hätte aussagen können; und sie alle waren auch eines, wenn man Einheit von ihnen hätte aussagen können. Bei seiner eigenen Wesenheit und jenen Wesenheiten, die sich mit ihm auf derselben Stufe befanden, sah er unbegrenzte Schönheit, Pracht und Genuß, wie es kein Auge gesehen, kein Ohr ge­ hört und keines Menschen Herz je erfahren hat ; dies ist jeder Beschreibung entzogen und unbegreifbar, außer für diejenigen, die erreicht haben und über Erkenntnis verfügen. | Er sah viele immaterielle Wesenheiten, die wie verrostete, 131 verschmutzte Spiegel waren, die den blanken Spiegeln, in denen sich das Bild der Sonne abzeichnete, den Rücken zukehrten und sich von ihnen abwandten. Bei diesen Wesenheiten sah er Häßlichkeit und Unvollkommenheit, wie er es niemals erwartet hätte; er sah sie in nie endenden Schmerzen und unaufhörlichem Kummer, umgeben mit einer Hülle von Qual (nach Q 18:29) und verbrannt durch das Feuer der Trennung, wie von Sägeblättern hin und hergerissen zwischen Verzweiflung und Verzückung. Neben diesen geplagten Wesenheiten schaute er dort auch noch weitere Wesenheiten, die auftauchten und später wieder dahinschwanden, die sich zusammenfügten und wieder auflösten. Er richtete seine Aufmerksamkeit fest auf sie und betrachtete sie genau; dabei sah er gewaltiges Entsetzen und großes Unglück, effizientes Erschaffen und intensives Vollenden, Gleichmachen und Einhauchen, Hervorbringen und Auflösen. Doch kaum hatte er seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, da kehrten seine Sinne zurück, und er erwachte aus diesem Zustand, der einer Ohnmacht ähnlich war.134 Sein Fuß rutschte ab von diesem Standort, die sinnlich wahrnehmbare Welt tauchte vor ihm auf, und die göttliche Welt verschwand. – Diese beiden können nämlich nicht in ein und demselben Zustand miteinander vereint sein, | denn das 132

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Jenseits und das Diesseits sind wie zwei Konkubinen: Wenn du eine der beiden zufriedenstellst, so erzürnst du die andere. Vielleicht sagst du jetzt: »Aus dem, was du über diese Schau erzählt hast, scheint hervorzugehen, daß die immateriellen Wesenheiten, falls sie zu immerwährenden, unvergänglichen Körpern wie etwa den Himmelssphären gehören, ebenfalls immerwährend sind; falls die Wesenheiten aber zu vergänglichen Körpern gehören, wie etwa den vernunftbegabten Lebewesen, dann gehen auch sie zugrunde, verschwinden und lösen sich in nichts auf, so wie du es in deinem Gleichnis mit den reflektierenden Spiegeln dargestellt hast: Das Abbild besteht nur solange, wie auch die Spiegel bestehen; mit dem Zu­grunde­gehen des Spiegels geht folglich auch das Abbild zugrunde und verschwindet.« Darauf entgegne ich dir: Wie schnell hast du doch unsere Vereinbarung vergessen und dich von der Verbindlichkeit befreit. Habe ich dir nicht zuvor dargelegt, daß hier der Spielraum, um Worte zu finden, sehr eng ist und daß die Ausdrücke jedenfalls etwas anderes als die Wahrheit suggerieren? Zu jener falschen Annahme wurdest du nämlich nur dadurch verleitet, daß du das Gleichnis und das durch das Gleichnis Dargestellte in jeder Hinsicht gleichgesetzt hast; das ist etwas, das man schon in normalen Weisen des Sprechens nicht tun soll, wie133 viel weniger erst hier! | Die Sonne, ihr Licht, ihr Abbild und ihre Gestalt, die Spiegel und die darin realisierten Abbilder sind alles Dinge, die nicht von Körpern abtrennbar sind und nur durch sie und in ihnen Bestand haben; deshalb bedürfen sie der Körper in ihrem Sein und gehen bei deren Untergang mit ihnen zusammen unter. Die göttlichen Wesenheiten und souveränen Geister hingegen sind absolut frei und in höchstem Maße enthoben von den Körpern und ihren Begleitbestimmungen; sie haben zu ihnen weder eine Verbindung, noch stehen sie in irgendeiner Abhängigkeit zu ihnen. In bezug auf sie ist es gleichgültig, ob die Körper untergehen oder bestehen, ob

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sie sind oder nicht sind. Ihre Verbundenheit und Abhängigkeit beziehen sich einzig und allein auf die eine, wahrhaftige, notwendig seiende Wesenheit, die ihr Ursprung, ihr Prinzip, ihre Ursache und ihr Schöpfer ist, welcher ihnen Dauer verleiht und ihnen bleibendes Leben und Ewigkeit gewährt; sie brauchen die Körper nicht, sondern die Körper brauchen sie, und könnte es geschehen, daß sie nicht mehr da sind, dann wären auch die Körper nicht mehr da, denn die Wesenheiten sind ihr Prinzip. Könnte es geschehen, daß die Wesenheit des Wahrhaftigen – viel zu erhaben und zu heilig ist Er zu so etwas – nicht mehr da wäre, dann wären auch alle diese Wesenheiten, die Körper und die gesamte sinnliche Welt nicht mehr da, und es bliebe überhaupt nichts mehr, denn alles ist untereinander verbunden. Obwohl die sinnlich wahrnehmbare Welt der göttlichen Welt nachfolgt wie ein Schatten | und die göttliche Welt nicht auf 134 sie angewiesen und absolut frei ist, so ist es doch unmöglich, ihr Nichtsein anzunehmen, denn sie folgt der göttlichen Welt nach, und so besteht ihre Vergänglichkeit darin, daß sie sich verändert, und nicht, daß sie überhaupt nicht mehr da ist. Darüber spricht das Heilige Buch dort, wo es heißt, daß die Berge sich bewegen (Q 81  : 3) und wie zerzauste Wolle (Q 101  : 5) werden und die Menschen wie Motten (101:4), wenn die Sonne und der Mond von Dunkelheit eingehüllt (Q 81  : 1) werden und die Meere über die Ufer treten (Q 82  : 3) an einem Tag, da die Erde gegen eine andere eingetauscht wird und ebenso die Himmel (Q 14  : 48). So viele Hinweise kann ich dir in diesem Moment geben über das, was Hayy ibn Yaqzān an jenem erhabenen Standort geschaut hat. Erbitte nicht von mir, dem in Form von gesprochenen Worten noch mehr hinzuzufügen, denn das ist so gut wie unmöglich.

[ viii. Die Begegnung zwischen Hayy ibn Yaqzān, Absāl und Salāmān ] Doch nun will ich dir noch den Schluß seiner Geschichte erzählen: Als er nach seiner Reise wieder in die sinnlich wahrnehmbare Welt zurückkehrte, empfand er Widerwillen gegen die Mühen des niederen, diesseitigen Lebens, und sein Verlangen nach dem höheren Leben wurde immer heftiger. Er machte sich daran, die Rückkehr zu jenem Standort anzustreben, in der Art und Weise, wie er es schon beim ersten Mal getan hatte, bis er ihn mit geringerer Anstrengung als zuvor erreichte und auch länger als beim ersten Mal dort verweilen konnte. Darauf kehrte er in die Welt der Sinneswahrneh135 mung zurück | und nahm seine Bemühungen, seinen Standort zu erreichen, sogleich wieder auf; wiederum fiel es ihm etwas leichter als beim ersten und beim zweiten Mal, und er konnte nochmals länger dort verweilen. So kam es, daß ihm das Erreichen dieses erhabenen Standortes immer leichter und leichter fiel und das Verweilen dort von Mal zu Mal länger dauerte, bis er schließlich in der Lage war, ihn zu erreichen, wann immer er wollte, und sich nicht eher von ihm löste, bis er es wollte. Fortan hielt er sich ununterbrochen an jenem Standort auf und wandte sich nur für die notwendigen körperlichen Bedürfnisse von ihm ab, die jedoch schon so zurückgegangen waren, daß sie kaum noch hätten geringer werden können; dabei hegte er den Wunsch, daß Gott – mächtig und erhaben ist Er – ihn ganz von der Last seines Körpers, der ihn jeweils zum Verlassen seines Standortes zwang, befreien möge, damit er sich ununterbrochen seinem Genuß hingeben könnte und befreit würde von den Schmerzen, die er empfand, wenn er sich für

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die notwendigen körperlichen Bedürfnisse von seinem Standort abkehren mußte. In diesem Zustand verblieb er, bis er den siebten Siebenjahres-Abschnitt seines Lebens überschritten hatte und fünfzig Jahre alt wurde. Zu jenem Zeitpunkt ereignete sich die Begegnung mit Absāl; was sich alles zwischen diesen beiden zutrug, werde ich anschließend nun – so Gott will – noch berichten. Man erzählt, daß sich auf einer Insel in der Nähe jener Insel, | auf der Hayy ibn Yaqzān gemäß einem der beiden Berichte 136 über die Art und Weise seines Ursprungs zur Welt kam, eine Religionsgemeinschaft mit einer wahren Religion niedergelassen hatte, die von einem der früheren Propheten – Gott segne sie – gestiftet worden war. Es war eine Religion, welche die tatsächlichen Sachverhalte nachbildete und ausdrückte durch die Verwendung von Gleichnissen, die den Leuten eine Vorstellung jener Sachverhalte vermittelten und deren Umrisse in ihren Seelen einprägten – ganz so wie es für gewöhnlich auch bei einer Rede, die sich an die breite Masse richtet, der Fall ist. Jene Religion breitete sich auf der Insel immer weiter aus, gewann stärkeren Einfluß und trat mehr und mehr in Erscheinung, bis sich auch der König der Insel zu ihr bekannte und seine Leute dazu brachte, sie anzunehmen. Auch Absāl und Salāmān, zwei vorzügliche junge Männer mit guter Gesinnung, die auf jener Insel aufgewachsen waren, lernten diese Religion kennen und traten ihr mit vollster Überzeugung bei; sie verpflichteten sich, alle ihre Gesetze zu befolgen, widmeten sich eifrig dem Vollzug der durch sie vorgeschriebenen Handlungen und unterstützten sich gegenseitig dabei. Von Zeit zu Zeit beschäftigten sie sich mit den in jener religiösen Satzung vorkommenden Ausdrücken zur Beschreibung von Gott – mächtig und erhaben ist Er – und seinen Engeln, von Auferstehung, Lohn und Strafe. Von den beiden war Absāl derjenige, der sich mehr in den inneren Sinn vertiefte, | stärker nach den geistigen Bedeutungen suchte und 137

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eher der allegorischen Auslegung zugeneigt war. Salāmān dagegen hielt sich mehr an den äußeren Sinn, war zurückhaltender gegenüber der allegorischen Auslegung und lehnte die freie Urteilsbildung nach eigenem Ermessen und die Meditation ab.135 Aber beide praktizierten beflissen die äußerlichen Verrichtungen, die Gewissenserforschung und das Bekämpfen der Leidenschaft.136 In jener Satzung gab es einerseits Grundsätze, die zu Einsamkeit und Zurückgezogenheit aufriefen und zu verstehen gaben, daß darin die Erlösung und das Heil liegen würde, aber andererseits auch Grundsätze, die zu sozialem Leben und gesellschaftlichem Umgang aufforderten. Absāl entschied sich für die Suche nach Einsamkeit und legte mehr Gewicht auf die Grundsätze zu ihren Gunsten, weil er eine natürliche Veranlagung zu fortgesetztem Nachdenken, anhaltender Belehrung und Versenkung in die wahren Bedeutungen besaß, und er hoffte, dies am ehesten in der Zurückgezogenheit erreichen zu können. Salāmān entschied sich für den gesellschaftlichen Umgang und legte mehr Gewicht auf die Grundsätze zu dessen Gunsten, weil er auf Grund seiner natürlichen Veranlagung zurückschreckte vor langem Nachdenken und freier Urteilsbildung nach eigenem Ermessen. Der gesellschaftliche Umgang war für ihn ein Mittel, um böse Einflüsterungen zu bannen, widrige Gedanken zu verscheuchen und Zuflucht zu finden vor satanischen Versuchungen. So war ihre unterschiedliche Auffassung in diesen Fragen der Grund, daß sie sich voneinander trennten. 138 | Absāl hatte schon einmal von jener Insel gehört, auf der Hayy ibn Yaqzān – wie man erzählt – entstanden war, und von ihrer Fruchtbarkeit, den Annehmlichkeiten und dem ausgeglichenen Klima erfahren und daß es dem, der es wünschte, möglich war, auf ihr ein Leben in Einsamkeit zu führen. Er beschloß also, dorthin zu reisen und auf ihr den Rest seines Lebens in Abgeschiedenheit von den Menschen zu verbringen.

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Er nahm sein ganzes Vermögen, heuerte mit einem Teil davon ein Schiff, das ihn auf jene Insel bringen sollte, und verteilte den Rest unter den Bedürftigen; er verabschiedete sich von seinem Gefährten und stach in See. Die Seeleute fuhren ihn bis zu jener Insel, setzten ihn an deren Küste ab und ließen ihn alleine zurück. So blieb Absāl auf jener Insel, um Gott – mächtig und erhaben ist Er – anzubeten, zu verherrlichen, zu verehren und Seiner schönsten Namen und Seiner erhabenen Attribute zu gedenken, ohne daß seine Andacht unterbrochen und seine Gedanken getrübt wurden. Wenn er Nahrung brauchte, nahm er von den Früchten oder dem Wild der Insel soviel als nötig war, um seinen Hunger zu stillen. In diesem Zustand lebte er eine Zeitlang und genoß die vollkommene Glückseligkeit und größte Vertrautheit in der Zwiesprache mit seinem Herrn; ­jeden Tag wurden ihm Seine Wohltaten, die Vorzüglichkeit ­Seiner Gaben und Seine Erleichterung beim Stillen seiner Bedürfnisse und seines Hungers zuteil, die seinen Glauben noch stärker werden ließen und sein Herz erfreuten. | Zu jener Zeit befand sich Hayy ibn Yaqzān in tiefer Ver- 139 senkung in seine erhabenen Standorte und verließ seine Höhle nur einmal in der Woche, um ein wenig Nahrung, die sich ihm darbot, zu sich zu nehmen. Deshalb entdeckte ihn Absāl auch nicht gleich auf Anhieb; vielmehr durchstreifte er die Gefilde jener Insel und ging auf ihr umher, ohne irgendwo einen Menschen zu sehen oder auch nur eine Spur zu erblicken. Dadurch wurde seine Zufriedenheit noch größer, und sein Herz weitete sich, denn er hatte sich ja entschlossen, vollständige Einsamkeit und Zurückgezogenheit zu suchen. Doch eines Tages geschah es, daß Hayy ibn Yaqzān auf der Suche nach Nahrung gerade zu dem Zeitpunkt seine Höhle verlassen hatte, als Absāl ebenfalls an diesem Ort vorbeikam, so daß sie einander erblickten. Absāl seinerseits hegte keinen Zweifel, daß dies ein frommer Eremit war, der auf der Suche nach Zurückgezogenheit auf jene Insel gekommen war, so wie

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er selbst ja auch; aber er fürchtete, daß er, wenn er ihm ent­ gegen­treten und mit ihm Bekanntschaft schließen würde, damit seinen mystischen Zustand verderben und ihn von der Erfüllung seiner Hoffnung abhalten würde. Hayy ibn Yaqzān andererseits hatte überhaupt keine Ahnung, was er war, | denn er 140 sah nicht aus wie irgendeines von den Tieren, die ihm bis dahin unter die Augen gekommen waren; weil Absāl ein schwarzes Gewand aus Wolle und Fell trug, dachte er, es handle sich dabei um eine natürliche Bekleidung, und blieb einen Moment verwundert stehen. Aus Furcht, ihn in seinem Zustand zu stören, drehte sich Absāl um und ergriff die Flucht. Doch Hayy ibn Yaqzān rannte ihm nach, denn es lag in seiner Natur, das wahre Wesen aller Dinge zu erforschen.137 Aber als er merkte, wie dieser immer schneller floh, blieb er hinter ihm zurück und versteckte sich vor ihm, so daß Absāl glaubte, er habe von ihm abgelassen und sich von jenem Ort entfernt. Darauf widmete sich Absāl wieder dem Gebet, der Rezitation, der Anrufung, dem Weinen, dem Flehen und dem Klagen, bis er ganz und gar davon eingenommen war. Ohne daß Absāl etwas merkte, begann nun Hayy ibn Yaq­ zān, sich ihm Schritt für Schritt anzunähern, bis er nahe genug bei ihm war, um seine Rezitation und Lobpreisung zu hören und sein demütiges Verhalten und sein Weinen zu beobachten; dazu hörte er eine schöne Stimme und aneinandergereihte Silben, wie er sie noch nie zuvor von einem Tier gehört hatte. Er betrachtete Absāls Züge und seine Proportionen und merkte, daß sie seiner eigenen Form entsprachen; es wurde ihm auch klar, daß sein Gewand keine natürliche Körperbedeckung war, sondern ein übergezogenes Kleidungsstück wie seine eigene Bekleidung. | Da er seine Demut, sein Flehen und sein Wei- 141 nen wahrnahm, zweifelte er nicht mehr daran, daß er zu denjenigen Wesen gehörte, die über die Erkenntnis des Wahrhaftigen verfügten; so fühlte er sich zu ihm hingezogen, und er wollte wissen, was mit ihm los war und was die Ursache seines

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Weinens war. Er näherte sich ihm immer mehr, bis Absāl ihn schließlich bemerkte und schnell davonlief, worauf Hayy ibn Yaqzān ihn verfolgte, bis er ihn eingeholt hatte dank der Kraft und der Leistungsfähigkeit, die ihm Gott nicht nur in bezug auf die Wissenschaft sondern auch auf den Körper mitgegeben hatte. Er packte ihn und hielt ihn fest, so daß er nicht mehr entkommen konnte. Als Absāl ihn von nahem sah – wie er mit pelzigen Tierhäuten bekleidet war und seine langen Haare einen großen Teil seines Körpers bedeckten – und gemerkt hatte, wie schnell sein Lauf und wie stark sein Griff war, da fürchtete er sich sehr und begann, ihm gut zuzureden und ihn milde zu stimmen mit Worten, die Hayy ibn Yaqzān jedoch nicht verstand und von denen er keine Ahnung hatte, was sie bedeuteten; einzig Anzeichen von Furcht vermochte er darin zu erkennen. Also versuchte er, mit Lauten, die er von verschiedenen Tieren gelernt hatte, sein Vertrauen zu gewinnen; er strich mit der Hand über seinen Kopf, berührte sanft seinen Körper, schaute ihn nett an und ließ ihn erkennen, daß er ihm freundlich und wohlwollend gesinnt war, bis sich Absāls Erregung gelegt hatte und er begriff, daß er ihm nicht scha142 den wollte. | Da Absāl früher aus Liebe zur Wissenschaft der Textauslegung sehr viele Sprachen gelernt hatte und diese gut beherrschte, begann er, Hayy ibn Yaqzān anzusprechen und probierte, in jeder Sprache, die er kannte, näheres über ihn zu erfahren. Er versuchte, sich verständlich zu machen, doch es gelang ihm nicht, und Hayy ibn Yaqzān wunderte sich bloß über das, was er zu hören bekam, ohne zu ahnen, was es bedeutete – doch schien es ihm ein Zeichen von Freundlichkeit und Zustimmung zu sein. So wunderte sich jeder der beiden über sein Gegenüber. Absāl hatte noch einen Rest Proviant bei sich, den er von der bewohnten Insel mitgenommen hatte, und hielt ihn Hayy ibn Yaqzān hin, der jedoch keine Ahnung hatte, was es war, weil er so etwas noch nie zuvor gesehen hatte. Also nahm Absāl

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e­ inen Bissen davon und machte ihm Zeichen, daß er auch essen solle. Hayy ibn Yaqzān dachte an die Regeln zur Nahrungsaufnahme, die er sich auferlegt hatte; von dem, was ihm angeboten wurde, wußte er nicht, woher es kam. Was war es? Durfte er es zu sich nehmen oder nicht? Daher weigerte er sich zu essen; aber Absāl fuhr fort, ihn zu bitten und ihm gut zuzureden. Da Hayy ibn Yaqzān schon eine große Zuneigung zu ihm entwickelt hatte, fürchtete er, ihn mit der fortgesetzten Weigerung zu betrüben, nahm die Speise an und aß davon. | Doch als er 143 davon gekostet hatte und es ihm schmeckte, erschien es ihm als Unrecht, daß er die sich auferlegten Ernährungsregeln gebrochen hatte, und er bereute, was er getan hatte. Er wollte den Kontakt zu Absāl abbrechen und sich wieder seiner eigenen Sache – der Versenkung in den erhabenen Standort – zuwenden. Aber es gelang ihm nicht sogleich, die Schau zu vollziehen. Da beschloß er, sich solange bei Absāl in der Welt der Sinneswahrnehmung aufzuhalten, bis er verstehen würde, was es mit ihm wirklich auf sich hatte, damit er das Interesse an ihm verlieren würde und sich danach wieder ohne irgendeine Ablenkung an seinen Standort begeben könnte. Also blieb er in der Gesellschaft Absāls. Als Absāl merkte, daß er überhaupt nicht reden konnte, gab ihm dies die Sicherheit, daß er seiner Religion keinerlei Schaden zufügen würde, und er wünschte, ihn Sprache, Wissenschaft und Religion zu lehren, um dadurch großen Lohn und Anerkennung bei Gott zu erlangen. Absāl begann, ihm das Sprechen beizubringen, indem er zunächst für ihn auf die vorhandenen Gegenstände zeigte und dabei ihre Namen aussprach; das wiederholte er mit ihm und brachte ihn dazu, die Namen nachzusprechen und während des Aussprechens gleichzeitig darauf zu zeigen, bis er ihn alle Namen gelehrt hatte.138 Schritt für Schritt brachte er ihn dann voran, so daß er in kürzester Zeit richtig sprechen konnte. Da begann Absāl, ihm Fragen über seine Person zu stellen | und von wo er auf 144

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jene Insel gekommen wäre, worauf Hayy ibn Yaqzān erwiderte, daß er nicht wüßte, woher er stammte und wer sein Vater oder seine Mutter sei, außer der Gazelle, die ihn aufgezogen hatte. Er berichtete ihm alles über sich und wie er die Stufen der Erkenntnis emporgestiegen war, bis er schließlich auf die Stufe des Erreichens gelangte. Er beschrieb Absāl jene Wahrheiten und die von der Welt der Sinneswahrnehmung abgetrennten Wesenheiten, die über die Erkenntnis des Wesens des Wahrhaftigen – mächtig und erhaben ist Er – verfügten; er beschrieb ihm weiter das Wesen des Wahrhaftigen – groß und erhaben ist Er – mit den schönsten Attributen, und er beschrieb ihm aufgrund von dem, was er bei seinem eigenen Erreichen geschaut hatte – soweit es sich überhaupt beschreiben ließ –, die Genüsse derjenigen, die erreicht haben, und die Qualen der­ jenigen, die durch einen Schleier getrennt sind. Aus all dem gewann Absāl die zweifelsfreie Gewißheit, daß alles, was in seiner Satzung über Gott – mächtig und erhaben ist Er –, seine Engel, seine Offenbarungsbücher, seine Propheten, den Jüngsten Tag, das Paradies und das Höllenfeuer enthalten war, nur Gleichnisse waren für das, was Hayy ibn Yaqzān geschaut hatte. Da öffnete sich der Blick seines Herzens, und das Feuer seines verständigen Gemüts flammte auf. Die Überlieferung und die Erkenntnisse des Intellekts stimmten nun für ihn überein,139 und die Methoden der allegorischen Interpretation wurden ihm vertraut. Es gab für ihn in der religiösen Satzung kein Problem mehr, das ihm nicht klar wurde, keine verschlossene Stelle, die sich nicht öffnete und keine Dunkelheit, die nicht erleuchtet wurde. Er wurde zu einem 145 mit einem verständigen Herzen (Q 12:111). | Er betrachtete Hayy ibn Yaqzān mit Hochachtung und Respekt und realisierte, daß er zu den Freunden Gottes gehörte, die keine Angst zu haben brauchen, und sie werden nicht traurig sein (Q 2:38). Er beschloß, sich in seinen Dienst zu stellten, ihm nachzueifern und seinen Anweisungen zu folgen bei allen von der religiösen Satzung

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vorgeschriebenen Handlungen, die für ihn relevant waren und die er in seiner Religionsgemeinschaft erlernt hatte. Hayy ibn Yaqzān begann nun seinerseits, ihn über sich und alles, was ihn betraf, auszufragen. Absāl berichtete ihm von seiner Insel und ihren Bewohnern, wie sie gelebt hatten, bevor sie diese Religion kennengelernt hatten und wie sie nun lebten, da diese Religion sie erreicht hatte. Er gab ihm eine Beschreibung der göttlichen Welt, des Paradieses, des Höllenfeuers, der Erweckung, der Auferstehung, der Versammlung, der Abrechnung, der Waage und der Brücke, die alle in seiner Satzung vorkamen.140 Hayy ibn Yaqzān verstand alles und erkannte darin keinen Widerspruch zu dem, was er an seinem erhabenen Standort geschaut hatte. Er wußte, daß derjenige, der dies beschrieben und verkündet hatte, eine zutreffende Beschreibung gegeben und wahr gesprochen hatte, also ein Gesandter seines Herrn war. Deshalb glaubte er an ihn, bestätigte seine Wahrhaftigkeit und legte Zeugnis für seine Gesandtschaft ab. Danach fragte er nach den Verpflichtungen und Verrichtungen des religiösen Lebens, worauf Absāl ihm vom Gebet, der Almosensteuer, dem Fasten, der Pilgerfahrt und was es dergleichen mehr an äußerlichen Werken gab berichtete.141 | Er ak- 146 zeptierte all das, machte es sich zur Pflicht und begann, es zu befolgen, aus Gehorsam gegenüber dem Befehl von ihm, dessen Worte für ihn höchste Glaubwürdigkeit hatten.142 Aber es gab auch zwei Dinge, über die er sich wunderte und deren tieferen Sinn er nicht verstand. Erstens: Warum drückte dieser Gesandte das meiste, das er den Leuten über die göttliche Welt verkündete, in Gleichnissen aus und vermied die unverhüllte Wahrheit, so daß die Leute einem ausgeprägten Anthropomorphismus 143 verfielen und vom Wesen des Wahrhaftigen Dinge annahmen, von denen Er doch frei und enthoben war; und ebenso verhielt es sich auch in bezug auf Lohn und Strafe am Jüngsten Tag. Zweitens: Warum hatte der Gesandte sich darauf beschränkt, nur genau jene Verpflichtungen

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und Verrichtungen des religiösen Lebens festzulegen, und damit erlaubt, daß man Vermögen anhäufte und sich der Völlerei hingab, so daß sich die Leute der Beschäftigung mit unnützem Zeug und der Abkehr vom Wahrhaftigen hingaben; seiner Meinung nach sollte man nur zu sich nehmen, was zum Leben wirklich nötig war, und materieller Besitz hatte für ihn erst 147 recht keine Bedeutung. | Er dachte an die Regeln der religiösen Satzung in bezug auf Vermögensangelegenheiten wie Almosensteuer und ihre Verteilung, Handel, Wucher, Strafen für die Übertretung eines göttlichen Gebotes und Strafen für andere Vergehen, wunderte sich dann über all das, hielt es für überflüssig und sagte sich schließlich: »Wenn doch die M ­ enschen zu einem wahren Verständnis der Sache gelangten, dann würden sie sich gewiß von all diesem nichtigen Zeug abwenden und sich auf die Wahrheit richten. Sie hätten all diese Regeln nicht nötig, und kein einziger besäße ein Privatvermögen, weswegen man von ihm eine Almosensteuer verlangte; man würde keine Hände wegen eines Diebstahls abhacken, und niemand müßte wegen eines begangenen Raubes sterben«. Zu dieser Annahme wurde er verleitet, weil er meinte, alle anderen Menschen hätten auch eine überlegene natürliche Veranlagung, ein durchdringendes Denkvermögen und eine standhafte Seele. Er hatte keine Ahnung, wie groß ihre Dummheit, ihre Unvollkommenheit, ihre Unüberlegtheit und ihr Wankelmut waren; sie waren genauso stumpfsinnig wie Vieh – nein, sie irren noch eher vom Weg ab! (Q 25:44) Da er großes Mitleid für die Menschen empfand und den Wunsch hatte, ihnen das Heil zu bringen, kam der Wunsch in ihm auf, zu ihnen zu gehen, um ihnen die Wahrheit offenzu148 legen und zu erklären. | Darüber besprach er sich mit seinem Gefährten Absāl und fragte ihn, ob es Mittel und Wege gebe, zu ihnen zu gelangen. Doch Absāl unterrichtete ihn darüber, wie mangelhaft ihre Veranlagung und wie groß ihre Abkehr von Gottes Befehl war. Dies konnte er jedoch nicht begreifen

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und hielt weiter an seiner Hoffnung fest. Da wünschte sich auch Absāl, daß Gott durch ihn eine Gruppe von Leuten aus seiner Bekanntschaft, die nach dem rechten Weg suchten und der Erlösung näher waren als andere, rechtleiten möge, und er unterstützte ihn in seiner Absicht. Sie beschlossen, Tag und Nacht an der Küste des Meeres zu verharren, ohne sich zu entfernen; vielleicht würde Gott ihnen die Möglichkeit geben überzusetzen. So warteten sie dort und flehten im Gebet zu Gott – mächtig und erhaben ist Er –, Er möge ihrer Sache ­einen guten Verlauf bescheren. Der Ratschluß Gottes – mächtig und erhaben ist Er – ließ ein Schiff auf dem Meer von seinem Kurs abkommen, | und 149 Winde und Wogen trieben es an die Küste jener Insel. Als es sich dem Festland näherte, sahen die Seeleute die beiden Männer am Ufer und hielten auf sie zu. Absāl richtete das Wort an sie und bat, mitgenommen zu werden; diese waren damit einverstanden und ließen sie an Bord kommen. Nun sandte Gott ihnen einen günstigen Wind, der das Schiff in kürzester Zeit zur erhofften Insel brachte, wo sie von Bord gingen und sich in die Stadt begaben. Sogleich versammelten sich um sie die Gefährten Absāls, der diesen berichtete, was es mit Hayy ibn Yaqzān für eine Bewandtnis hatte. Bald war er von einer dichten Menge von Leuten umgeben, die ihm ihre Hochachtung erwiesen; sie drängten sich um ihn und brachten ihre Ver­ ehrung und ihre Bewunderung für ihn zum Ausdruck. Absāl ließ ihn wissen, daß diese Gruppe aus den Verständigsten und Klugsten aller Leute bestand; sollte er nicht in der Lage sein, sie zu unterweisen, dann noch um vieles weniger die breite Masse. | Oberhaupt und Anführer jener Insel war Absāls 150 Freund Salāmān, der den Umgang mit der Gesellschaft befürwortete und die Zurückgezogenheit ablehnte. Hayy ibn Yaqzān begann also, sie zu unterweisen und ihnen die Geheimnisse der Weisheit zu enthüllen; doch sobald er auch nur ein kleines Stück über den äußeren Wortsinn hin-

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ausging und etwas beschrieb, das nicht mit ihrem Vorverständnis übereinstimmte, begannen sie sich vor ihm zu verschließen; ihre Seelen wichen vor dem, was er ihnen vorbrachte, angewidert zurück und in ihren Herzen ärgerten sie sich über ihn. Nach außen hingegen machten sie ihm aus Höflichkeit eine freundliche Miene, weil er ein Fremder unter ihnen war, sowie aus Rücksicht gegenüber ihrem Freund Absāl. Tag und Nacht fuhr Hayy ibn Yaqzān fort in der Absicht, sie für sich zu gewinnen und ihnen im geheimen wie öffentlich die Wahrheit zu erklären. Doch damit vergrößerte er nur ihre Ablehnung und ihre Abneigung, obwohl sie sonst eigentlich das Gute liebten und nach der Wahrheit trachteten. Aber aufgrund der Mangelhaftigkeit ihrer Veranlagung erstrebten sie die Wahrheit nicht mit der ihr angemessenen Methode, erreichten sie nicht mit 151 Hilfe der erforderlichen ernsthaften Untersuchung | und fanden zu ihr auch nicht den richtigen Zugang. Sondern sie wollten zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, indem sie den Traditionariern  144 folgten. Da gab er den Glauben auf, daß er sie bekehren könnte, und verlor die Hoffnung, daß sie von ihm etwas annehmen würden. Im folgenden untersuchte er die Klassen der Leute und merkte, daß jede Gruppe sich über das freute, was sie bei sich hatte und ihre persönliche Neigung zu ihrem Gott gemacht hatte (nach Q 23  :  5 3 und Q 25  :  45); sie hatten ihre Leidenschaften zum Gegenstand ihres Gottesdienstes gemacht und gingen zugrunde beim Zusammenraffen von weltlichem, unbrauchbarem Zeug; die Sucht, mehr zu haben, lenkte sie ab, bis sie die Gräber besuch­ ten (nach Q  102  :  1–2). Ermahnung nützte nichts bei ihnen, gutes Zureden hatte keine Wirkung, und durch Diskutieren wurden sie nur noch dickköpfiger. Es gab für sie keinen Weg, um zur Weisheit zu gelangen, und sie besaßen von ihr nicht einmal einen Bruchteil; sie versinken in Dummheit, und was sie er­ worben haben, hat sich über ihre Herzen gelegt (Q 83  :  14). Gott hat ihnen das Herz und das Gehör versiegelt, und ihr Gesicht ist

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verhüllt. Sie haben dereinst eine gewaltige Strafe zu erwarten! (Q 2  : 7) Er sah ein, daß eine Hülle von Qual sie umschlossen (nach Q  18: 29) und die Finsternis der Verhüllung sich über sie gelegt hatte; außer ein paar wenigen klammerten sich alle in Dingen, welche die Religion betrafen, an das Diesseits, und die Verrichtungen der Religion, | mochten sie auch leicht und einfach 152 sein, warfen sie achtlos hinter sich und verkauften sie für einen geringen Preis (nach Q 3:187). Handel und Verkauf lenkten sie davon ab, Gottes – groß ist Er – zu gedenken, und sie fürch­ teten nicht den Tag, an dem die Herzen und die Blicke gewendet werden (nach Q 24:37). Daraus wurde ihm mit uneingeschränkter Gewißheit klar, daß es nicht möglich war, mit ihnen auf unverhüllte Weise zu sprechen. Ihnen mehr als eben dieses Maß an Verrichtungen zuzumuten konnte nicht gelingen. Der Nutzen, den der größte Teil der Masse aus der Satzung ziehen konnte, betraf das diesseitige Leben und bestand einzig darin, den Alltag zu regeln, damit niemand einen anderen in dessen persönlichen Angelegenheiten ungerecht behandelte. Nur die allerwenigsten würden die jenseitige Glückseligkeit erlangen. Derjenige aber, der das Jenseits haben möchte und sich mit dem entsprechenden Eifer darum bemüht, der ist ein Gläubiger (nach Q 17  : 19). Aber wer aufsässig war und das diesseitige Leben be­ vorzugte, dessen Zuflucht wird das Höllenfeuer sein (Q 79:37–39). Was ist mühsamer und was ist armseliger, als wenn man die Taten eines Menschen betrachtet, vom Moment seines Erwachens bis zum Zeitpunkt seines Zubettgehens, und nichts findet | als sein Streben nach niederen, sinnlichen Dingen wie: 153 Geld anzuhäufen, Genuß zu erleben, der Leidenschaft zu frönen, Zorn auszutoben, Ruhm zu erwerben, ein religiöses Werk zu vollbringen, nur um sich selbst zu schmücken oder den eigenen Hals zu retten. All das ist wie Finsternis über Finsternis in einem abgrundtiefen Meer (Q 24:40), und es gibt keinen unter euch, der nicht dorthin gelangen wird. Das ist für deinen Herrn entschie­

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den und beschlossen (Q 19:71). Nachdem er verstanden hatte, wie es um die Menschen stand und daß die meisten von ihnen mit den vernunftlosen Tieren vergleichbar waren, wußte er, daß die ganze Weisheit, die Rechtleitung und der Erfolg bereits in den Verkündigungen der Propheten und den Vorschriften der Satzung enthalten war. Etwas anderes als das war unmöglich, und es konnte dem auch nichts mehr hinzugefügt werden. Für jede Aufgabe gibt es die entsprechenden Menschen, und jeder kann das am besten, wozu er geschaffen wurde, gemäß dem Brauch Gottes, wie er schon früher war, und du wirst am Brauch Gottes keine Veränderung feststellen (Q 48  : 32). Er ging zu Salāmān und seinen Gefährten, entschuldigte sich bei ihnen für das, was er ihnen gesagt hatte, sagte sich ihnen gegenüber davon los und gab ihnen zu verstehen, daß er denke wie sie und auch den selben Leitlinien folge. Er riet ihnen, in ihrer gewohnten Weise an den Regeln der religiösen Satzung und den auf das Äußerliche bezogenen Handlungen festzuhalten, sich so wenig wie möglich in Dinge, die nicht ihre Sache waren, zu vertiefen, den schwerverständlichen Stellen in den heiligen Texten Glauben zu schenken und sie ohne 154 Vorbehalte anzuerkennen. | Sie sollten häretische Neuerungen und nach eigenem Gutdünken gefaßte Meinungen meiden und statt dessen dem Vorbild der frommen Vorfahren nacheifern, ohne sich auf neuartige Veränderungen einzulassen. Er forderte sie auf, nicht in der Art der gemeinen Masse die religiöse Satzung zu vernachlässigen und sich den weltlichen Dingen hinzugeben, und mit großem Nachdruck warnte er sie vor den Folgen. Denn er und sein Freund Absāl wußten nun beide, daß diese Leute, die zwar willens, aber letztlich doch nicht hinreichend befähigt waren, ihr Heil nur auf diesem Weg finden konnten. Würde man sie von dort, wo sie sich befanden, auf die Ebene der spekulativen Erkenntnis erheben, würden ihre althergebrachten Ansichten Schaden erleiden, und es wäre ihnen erst recht nicht mehr möglich, auf die Stufe der Glückseligen

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zu gelangen. Sie würden orientierungslos hin und her treiben, dem Niedergang preisgegeben, und schließlich ein schlimmes Ende finden. Wenn sie aber bis an ihr Lebensende so, wie sie es gewohnt waren, weiterlebten, dann würden sie gerettet und zu denen gehören, die auf der rechten Seite sitzen. – Die Voran­ gehenden sind die Vorangehenden. Sie sind es, die Gott nahestehen (Q 56  : 27 und 10–11). Darauf verabschiedeten sich die beiden von ihnen, gingen fort und warteten ergeben auf eine Möglichkeit, um auf ihre Insel zurückzukehren, bis Gott – mächtig und erhaben ist Er – ihnen eine günstige Gelegenheit zur Überfahrt gewährte. Dort angekommen, versuchte Hayy ibn Yaqzān in gleicher Weise wie zuvor, sich an jenen erhabenen Standort zu versetzen, bis es ihm schließlich gelang, und Absāl tat es ihm gleich, bis er ebensoweit kam – oder jedenfalls beinahe. | Und 155 so verehrten sie Gott auf jener Insel bis an ihr Lebensende.

[ ix. Schlußwort des Autors ] Dies ist also – möge dir Gott mit Seinem Geist beistehen – die Geschichte von Hayy ibn Yaqzān, Absāl und Salāmān. Sie enthält Worte, die noch in keinem Buch zu finden und in keiner gewöhnlichen Rede zu hören sind. Es handelt sich dabei um ein verborgenes Wissen, das nur Leute, die über Gotteserkenntnis verfügen, begreifen können und das nur denen, die in Unkenntnis Gottes leben, verborgen bleibt. Damit sind wir allerdings vom Weg unserer frommen Vorfahren abgewichen, die darauf bedacht waren, es geheim zu halten und möglichst wenig davon preiszugeben. Was uns dazu bewogen hat, dieses Geheimnis zu enthüllen und den Schleier zu lüften, sind die in letzter Zeit aufgetauchten verdorbenen Ansichten, mit denen sich die sogenannten Philosophen unserer Tage hervorgetan und diese so bekannt gemacht haben, daß sie sich in vielen Ländern verbreiten und allgemeinen Schaden anrichten konnten.145 Aus Furcht, daß die Schwachen, die den Glauben an die Autorität der Propheten zugunsten der Autorität von Dummköpfen verworfen haben, glauben könnten, jene Ansichten seien die vor den Unbefugten verborgen gehaltenen Geheim156 nisse, | und diese deshalb nur noch stärker lieben und ver­ehren würden, beschlossen wir, ihnen einen kurzen Blick auf das Geheimnis der Geheimnisse zu gewähren, um sie für die ernsthafte Suche nach der Wahrheit zu gewinnen und von jenem anderen Weg abzubringen. Dennoch haben wir die Geheimnisse, die wir diesen wenigen Blättern anvertraut haben, mit einem dünnen Schleier versehen, der sich durch den, der dazu bestimmt ist, schnell entfernen läßt, aber für den, der nicht würdig ist, ihn zu passieren, undurchdringbar dicht bleibt.

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Meine Brüder, die diesen Text lesen werden, bitte ich, mich für die Nachlässigkeit in meinen Erklärungen und die fehlende Strenge in meinen Beweisen zu entschuldigen; der Grund dafür liegt einzig und allein darin, daß ich in Höhen aufgestiegen bin, die dem Blick entschwinden, und versucht habe, dies in Worten annähernd wiederzugeben, um einen Anreiz zu schaffen und das Verlangen zu wecken, sich auf den Weg zu machen. Gott bitte ich um Nachsicht und Vergebung und daß er uns Klarheit schenken möge durch die Erkenntnis von Ihm, | denn Er ist wohltätig und edel. Friede sei mit dir, mein Bru- 157 der, dem beizustehen eine Pflicht ist, sowie Gottes Segen und Sein Erbarmen.

A N M E R K U N GE N DE S H E R AU S GE BE R S 1  Zur Orientalischen Weisheit ( hikma mašriqiyya) siehe Einlei­

tung S.   x xx–x xxii; zur Bevorzugung der Lesung »orientalisch« (mašriqiyya) entgegen dem linguistisch nicht haltbaren Vorschlag L. Gauthiers »illuminativ« (mušriqiyya) siehe C.   A. Nallino 1925, S.  4 49–453. 2  Nach Ibn Sīnā: Šifā’, Mantiq, Madial, S.   10 / engl. Übers. des ganzen Abschnittes in: D. Gutas 1988, S.   50–54. Anders als L.  Gauthier lese ich S.  4, Z.   2 (mit D. Gutas 1994, S.   224  f.): wa a‘ lama und mafmafa. Zu Ibn Sīnā siehe Einleitung S.   x xix– ­x x xix. 3  Zur besonderen Bedeutung des Terminus »Zustand« ( hāl ) in der Sufik vgl. Einleitung S.   lvi, sowie R.   Gramlich 1976, S.   273– 280 und Art. Hāl in EI², Bd.  I II , S.   83  b  ff. 4  Dieser vielzitierte Satz stammt von dem bedeutenden frühen Mystiker Abū Yazīd (Bāyazīd) Taifūr ibn ‘Īsā al-Bistāmī (gest.  874), der für solche theopathischen Aussprüche (šatahāt) besondere Berühmtheit erlangt hat. Zu ihm siehe A. Schimmel 1995, S.   7 8–84 und Art. Abū Yazīd al-Bistāmī in EI2 Bd.  I , S.   162 a  ff. 5  Der Ausspruch »Ich bin die (absolute) Wahrheit« (anā alhaqq) stammt vom berühmten Mystiker al-Hallāf (gest.  922); zu ihm siehe Einleitung S.   l iv f., A.   Schimmel 1995, S.   100–119 und Art.   al-Hallādj in EI2 Bd.  I II , S.   99. 6  Diese Äußerung wird meist auf den populären Mystiker Abū Sa‘īd ibn Abī al-Iair (gest.   1049) zurückgeführt; zu Abū Sa‘īd und den verschiedenen Überlieferungen dieses Ausspruches siehe: F.   Meier 1976, S.   87. 7  Zu Gazālī siehe Einleitung S.   x l–xlviii. 8  Aus Gazālī: Munqie, S.  40 / dt. Übers. S.  47. Diesen Vers hat Gazāli vom arabischen Dichter Ibn al-Mu‘tazz (861–908) übernommen. Bei Ibn al-Mu‘tazz wird damit allerdings ein erotisches Erlebnis geschildert (siehe Ibn al-Mu‘tazz: Dīwān, S.   247). Es ist in der islamischen Mystik durchaus üblich, das Verhältnis des

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Anmerkungen des Herausgebers

­ ystikers zu Gott in Begriffen der Liebestheorie zu beschreiben; M vgl. Einleitung S.   l iv, lviii.  9  Gemeint ist Ibn Bāffas Traktat: Ittisāl al-‘aql bi-l-insān (Die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen). Zu Ibn Bāffa siehe Einleitung S.   l i–liii. 10  Nach Ibn Bāffa: Ittisāl, S.   172 / span. Übers. S.  46  f. 11  Die theoretische (betrachtende, spekulative) Wissenschaft (‘ ilm nazarī) und die diskursiv-rationale Forschung bzw. Untersuchung (bahu fikrī) bilden – wie Ibn Tufail weiter unten erklärt – auch die Grundlage für seinen eigenen Weg zur Erkenntnis; diese beiden werden bei ihm aber gefolgt von der Schau (mušāhada) und dem Schmecken (eauq), durch welche sich ihm erst die eigentliche Wahrheit erschließt (siehe infra S.   13  f.). Zum Ausdruck na­ zar (theoretische Betrachtung), der recht genau dem griechischen Ausdruck ϑεωρία entspricht, siehe J. van Ess 1966, S.   238–241 und Art. Nazar in EI² Bd.  V II , S.   1050  a  ff. ­ ufik 12  Zur speziellen Bedeutung der Schau (mušāhada) für die S vgl. Einleitung S.   lvii. 13  Zu diesem Vermögen (quwwa) vgl. infra Anm.   65. 14  Zur Bedeutung von eauq (Geschmack, Schmecken) bei Gazālī und in der Mystik siehe Einleitung S.   x lv. 15  Mit dem Verb nabbaha (aufmerksam machen, ermahnen; Infinitiv: tanbīh) macht Ibn Tufail eine Anspielung auf den Titel des Werkes, aus dem die folgende Passage stammt: al-Išārāt ­wa-t-tanhīhāt (Die Andeutungen und Anweisungen). 16  Nach Ibn Sina: Išārāt Bd.  I V, S.   86–88 / engl. Übers. S.   86  f. / frz. Übers. S.  493  f. Der Text ist reich an Ausdrücken, die eine spezielle sufische Bedeutung besitzen: Der Begriff Bereitwilligkeit (irāda) steht für die Entschlossenheit des Novizen, den mystischen Weg zu beschreiten, und wird in einer abgeleiteten Form zum gängigen Ausdruck zur Bezeichnung des Novizen (murād). Die asketische Übung (riyāda) ist das allgemeine Befolgen der sufischen Regeln. Der mystische Augenblick oder der Nu (waqt) bedeutet das Jetzt des mystischen Gotteserlebnisses oder auch den Zeitpunkt bzw. den Moment, in welchem dem Sufi ein bestimmter mystischer Zustand verliehen wird (vgl. R. Gramlich 1976, S.   351– 365). Die Stille (sakīna) ist ursprünglich ein koranischer Termi-

Anmerkungen des Herausgebers

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nus und meint die Anwesenheit Gottes (vgl. Art. Sakīna in EI² Bd.  V III , S.   888b); bei den Mystikern wird sie als inneres Licht verstanden, welches das Herz erleuchtet und läutert (vgl. P. Nwyia 1970, S.   301  f.). Das vertraute Zusammensein (suhba) wird insbesondere für die intime Zwiesprache zwischen dem Novizen und seinem Meister verwendet, bezieht sich hier jedoch auf die Erfahrung der göttlichen Nähe (vgl. A. Schimmel 1995, S.   517). Bezeichnend an Ibn Tufails Darstellung ist, daß er zur Beschreibung der mystischen Zustände ausschließlich Ibn Sīnā zitiert, jedoch keines der gängigen Sufi-Lehrbücher (zu diesen vgl. A. Schimmel 1995, S.   129  f.), da es ihm ebendarum geht, bei Ibn Sīnā eine sufische Tendenz aufzuspüren. 17  Nach Ibn Sina: al-Išārāt Bd.  I V, S.   91–93 / engl. Übers. S.   87  f. / frz. Übers. S.  495  f. Ibn Sīnā spricht hier von Erreichen (wusūl), jedoch nicht von Verbindung (ittisāl) oder gar Vereinigung (itti­hād); Ibn Tufail folgt in seiner Terminologie der Vorgabe Ibn Sīnās (vgl. Einleitung S.   lviiif. sowie infra S.   89  f. und 106). 18  Das ist eine Unterstellung Ibn Tufails, denn im vierten Band der Išārāt, aus dem das zitierte Stück stammt, spielt eauq als Erkenntnisinstanz (ganz anders als dann später bei Gazālī) keine Rolle, ebensowenig in den anderen Hauptwerken Ibn Sīnās. Eine einzige Ausnahme bildet die Schlußpassage einer kleinen, ­unter dem Namen Ibn Sīnās überlieferten Schrift über die rationale Seele, in welcher die auf rationale Forschung gründende Weisheit ( hikma bahuiyya) der Weisheit, die auf intuitiver Erfahrung bzw. Schmecken beruht ( hikma eauqiyya), gegenübergestellt wird (vgl. Gutas 1988, S.   7 7  f.). 19  Einen ganz ähnlichen Vergleich mit einem Blinden bringt auch Gazālī: Munqie, S.  4 2 / dt. Übers. S.   50. Zur natürlichen Veranlagung (fitra) vgl. Art. Fitra in EI² Bd.  I I , S.   931 und J. van Ess 1975, S.   101–114; zum treffsicheren Gedanken bzw. Einfall ( iātir) vgl. J. van Ess 1966, S.   330–332. 20  Arab.: wilāya (dt.: die Vertrautheit, insbesondere mit Gott); diejenigen, die diesen Status genießen, tragen die Bezeichnung awliyā’ (dt.: die Freunde Gottes). Die Sufis werden daher auch gern mit dem Namen awliyā’ bezeichnet, der im Deutschen (leicht ungenau) meist mit »die Heiligen« wiedergegeben wird (für eine

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Anmerkungen des Herausgebers

detaillierte terminologische Betrachtung zur Bedeutung von ­wi­lā­ya und der Abgrenzung zu walāya siehe al-Hufwīrī: Kašf almai­fūb, S.   210  f.). 21  Nach Ibn Bāffa: Ittisāl, S.172  f. / span. Übers. 47. 22  Die von Ibn Tufail hier dargestellte Position lehnt sich an Ibn Sīnās Konzeption der Intuition ( hads) an, also der Fähigkeit, den Mittelterm eines Syllogismus zu finden. Diese Fähigkeit kann bei einem Menschen in ganz seltenen Fällen so stark sein, daß er unverzüglich und ohne belehrt zu werden zur Erkenntnis gelangt (vgl. D. Gutas 1998 und 1988, S.   159–176). 23  Vgl. dazu Ibn Bāffa: Ittisāl, S.   171 / span. Übers. S.  46. 24  Die Bezeichnung »roter Schwefel« wurde in der Alchemie als Name für den »Stein der Weisen« verwendet, mit dessen Hilfe man Gold herzustellen hoffte; als etwas, das verzweifelt gesucht, aber nicht gefunden werden kann, fand der »rote Schwefel« in dieser Bedeutung daher Eingang in zahlreiche Redewendungen dieser Art (vgl. Art. Kibrīt in EI² Bd.  V, S.   88  b  ff.). 25  Zur grundlegenden Bedeutung der religiösen Satzung im Islam, der Scharia (šarī‘a), vgl. Art. al-Sharī‘a in EI² Bd.   I X , S.   321  a  ff. 26  Arab.: falsafa; mit diesem aus dem Griechischen abgeleiteten Terminus wird im Islam die Philosophie in der Tradition der griechischen Antike bezeichnet, manchmal wird dafür aber auch das genuin arabische und allgemeinere hikma (wörtl: Weisheit) verwendet. Vgl. dazu Art. Falsafa in EI² Bd.  I I , S.   769  b  ff. und Art.   Hikma in EI² Bd.  I II , S.   377  b  ff. 27  Zu den mathematischen Wissenschaften zählen: Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. 28  Zitat von Abū al-Walīd al-Waqqāšī (1017–1095). Zu ihm siehe Einleitung S.   l i und Art. al-Wak. k. āshī in EI² Bd.  X I , S.   103b. Zum Zitat und seiner Verwendung bei Ibn as-Sīd al-Batalyūsī (1052– 1127) siehe A.   Elamrani-Jamal 1996. Obwohl die von Ibn Tufail hier gegebene Darstellung des Verlaufs der Wissenschaftsgeschichte in al-Andalus sehr knapp und recht tendenziös ist, ist sie doch im wesentlichen nicht unzutreffend (vgl. dazu Einlei­ tung S.   x lix  f.). 29  Tatsächlich handelt es sich bei Ibn Bāffas Buch über die Seele

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um einen unvollendeten Kommentar zu Aristoteles’ De anima. Zu den Richtlinien des Einsiedlers und seinem möglichen Einfluß auf Ibn Tufail siehe Einleitung S.   x lix–lif. 30  Nach Ibn Bāffa: Ittisāl, S.   172 / span. Übers. S.  46. 31  Ebd. S.   173 / span. Übers. 47. 32  Mit der Anspielung auf »unsere Zeitgenossen« könnte Ibn Rušd gemeint sein; vgl. dazu Einleitung S.   l x x. 33  Arab.: Al-milla al-fādila, womit wohl Fārābīs Kitāb al-milla (Das Buch der Religion) gemeint ist; siehe dort S.  45 / frz. Übers. S.   121 (vgl. aber auch Fārābī: Perfect State, S.   270–275, wo ausdrücklich zwischen den unwissenden (fāhil) oder irregeführten (dāll) Menschen, deren Seelen sich zu Nichts auflösen, und den bewußt verwerflich Handelnden (fāsiq), deren Seelen auf ewig gepeinigt werden, unterschieden wird). 34  Arab.: as-Siyāsa al-madaniyya; siehe dort S.   83 / dt. Übers. S.   66 (zu Fārābīs Haltung betreffend das Schicksal der Seelen nach dem Tod siehe auch H. A. Davidson 1992, S.   53–58). 35  Arab.: Šarh kitāb al-ailāq. Dieses Werk Fārābīs ist nicht erhalten. 36  Auch Ibn Bāffa und Ibn Rušd kommen auf diese Stelle aus Fārābīs nicht erhaltenem Kommentar zur Nikomachischen Ethik zu sprechen; ob die beiden das Werk tatsächlich noch selbst in der Hand hatten, ist aber fraglich (siehe dazu H. A. Davidson 1992, S.   7 1–73). 37  Die Behauptung, daß die Bestimmung oder das Schicksal aller Menschen ins Nichtsein führe (masīr al-kull ilā al-‘adam), ist deshalb besonders verwerflich, weil sie die Auferstehung am Jüngsten Tag leugnet und konträr zu der im Koran mehrfach auftretenden Aussage ist, das Schicksal der Menschen führe letztendlich zu Gott: wa ilā Allāhi al-masīr (Q  24  :  4 2). 38  Ausführlich erörtert al-Fārābī die Vorstellungskraft (quwwa mutaiayyila oder iayāl) in Perfect State, S.   210–227; zur Definition der Prophetie (nubuwwa) dort S.   224  f. Tatsächlich bestimmt al-Fārābī die Prophetie als von der Vorstellungskraft ausgehend, aber nicht in dem Sinne, daß der Prophet sich seine Prophezeihungen einfach einbildet, wie die Ausführungen von Ibn Tufail nahelegen, sondern, indem der aktive Intellekt direkt auf die Vor-

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Anmerkungen des Herausgebers

stellungskraft einwirkt und sie inspiriert (vgl. H. A. Davidson 1992, S.   58–62). 39  Siehe dazu Einleitung S.   x xvii–x xix. 40  Vgl. supra S.   3 und Anm.   2. Daß »die eigentliche Wahrheit eine andere sei«, sagt Ibn Sīnā an jener Stelle allerdings nicht; es handelt sich vielmehr um einen Zusatz Ibn Tufails, mit dem er seinen eigenen Interpretationsvorschlag, was unter Ibn Sīnās Orien­ talischer Weisheit zu verstehen sei, plausibel machen will (vgl. dazu D. Gutas 1994, S.   230–232). 41  Entsprechend dem Gebrauch in der arabischen Literatur­ theorie kann das »Zusammenschnüren« und das »Auflösen« nebst einem allgemeinen Gegensatz (bald das eine, bald dessen Gegenteil behaupten) auch die getarnte, symbolhafte (verschnürte) bzw. die klare, unverhüllte (aufgelöste) Ausdrucksweise bezeichnen, die Ibn Tufail bei Gazālī konstatiert (vgl. dazu D. Gutas 1994, S.   234). 42  Arab.: Tahāfut al-falāsifa; zu diesem Werk Gazālīs siehe Ein­ leitung S.   x lii–xlvii. 43  Nach Gazālī: Mīzān al-‘amal, S.   195  f. / dt. Übers. S.   94 f.; Gazālī erklärt dort, daß sowohl die Philosophen als auch die Sufis, abgesehen von einigen Unterschieden, die gleichen Meinungen vertreten würden. Im Zentrum stehe dabei die Lehre, die Menschen könnten nicht erst im Jenseits, sondern schon während ihres irdischen Lebens die Glückseligkeit erlangen, und zwar gemäß der Auffassung der Mystiker durch die sufische Praxis, oder aber entsprechend der Meinung der Philosophen durch die intellektive Erkenntnis. 44  Siehe Gazālī: Munqie, S.   35–40 / dt. Übers. S.  40–48. Zum Inhalt dieses Werkes siehe Einleitung S.   x l–xlii. 45  Siehe Gazālī: Mīzān al-‘amal, S.  409 / dt. Übers. S. 238. 46  Zur natürlichen Veranlagung (fitra) vgl. supra S.   6, Anm.   19. 47  Siehe Gazālī: Fawāhir al-Qur’ān, S.  43 / engl. Übers. S.  4 4. 48  Arab.: al-Ma‘ārif al-‘aqliyya; zu diesem Werk siehe M. Bouyges 1959, S.   37. 49  Arab.: al-Nafi wa at-taswiya wa masā’il mafmū‘a; der bekanntere Titel dieses Werkes lautet: al-Madnūn as-sagīr (Die kleine eso­ terische Schrift); zu diesem Werk siehe M. Bouyges 1959, S.   53–55. 50  Arab.: al-Maqsad al-asnā fī šarh ma‘ānī asmā’ Allāh al-husnā.

Anmerkungen des Herausgebers

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In diesem Werk entwickelt Gazālī eine Theorie zum Verständnis der Namen Gottes. Zum nicht als esoterisch zu verstehenden Charakter dieser Schrift siehe dort S.   59 und 69  f. / engl. Übers. S.  47 und 57. 51  Arab.: Miškāt al-anwār  ; zu diesem Werk Gazālīs siehe Ein­ leitung S.   x lvii. 52  Nach Miškāt, S.   91 / dt. Übers. S.   62  f. / engl. Übers. S.   51. Auf den letzten Seiten dieses Werks macht Gazālī eine kryptische Andeutung über ein Wesen, das er al-mutā‘ (der, dem gehorcht wird) nennt und das sich durch ein Attribut auszeichne, das nicht mit der reinen, absoluten Einheit vereinbar sei. Ob unter diesem mutā‘ in neuplatonischer Manier eine vermittelnde Hypostase zwischen Gott und der geschaffenen Welt, ein Demiurg, oder der engelhafte Beweger der Himmelssphären zu verstehen ist, wurde in der Forschung verschieden beantwortet und bleibt umstritten (vgl. die Zusammenfassung der Diskussion in D.   Buchman 1998, ­S.    x xviii–xxxi). 53  A ls einer dieser »Späteren« könnte Ibn Rušd gemeint sein, der seinen Rivalen Gazālī kritisierte, weil dieser die Annahme eines von Gott emanierten ersten Bewegers von den Philosophen übernommen habe, während er doch sonst deren Emanationslehre verurteile (siehe Ibn Rušd: al-Kašf ‘an manāhif al-adilla, S.   183 f. / dt.   Ü bers. S.   130  f.). 54  Unter dem »Wissen der Enthüllung« (‘ ilm al-mukāšafa) verstand Gazālī alles in bezug auf Gott und das Jenseits, von dem er glaubte, daß er es für ein breites Publikum nicht in allgemein verständlicher Form niederschreiben konnte (vgl. H. Lazarus-Yafeh 1975, S.   357–363). 55  Ein arabisches Sprichwort in Reimprosa (saf‘). 56  Die Stellenangaben der Koranzitate (Q) werden jeweils direkt im Text angegeben; die Übersetzung der Koranstellen orientiert sich an der Übersetzung von R. Paret 1979. 57  Eine philosophisch interessante, wenn auch nicht immer unproblematische Interpretation von Ibn Tufails Vorwort unternimmt D. Mallet 1997. Eine kurz gefaßte, recht spitze Analyse von Ibn Tufails Ausführungen zu Fārābī, Ibn Sīnā, Ibn Bāffa und Gazālī gibt M. Mahdi 1990, S.   87–103.

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Anmerkungen des Herausgebers

58  Die schon in der Antike gängige Einteilung der Welt in sie-

ben Klimazonen wurde auch von den islamischen Geographen übernommen (siehe Art. Ik. mlīm in EI² Bd.  I II , S.   1076  b  ff.); zwischen der ersten Zone ganz im Süden und der siebten ganz im Norden gelegen, wurde die mittlere vierte Zone, die in etwa die mediterranen Breitengrade umfaßt, gewöhnlich als die Ausgeglichenste bezeichnet. 59  Die wesentliche (essentielle) Eigenschaft der Sonne ist keine der vier elementaren Grundqualitäten (heiß, kalt, feucht, trocken), sondern die wesentliche Eigenschaft der Sonne ist die Helligkeit (vgl. dazu Ibn Sīnā: ar-Risāla fī al-‘ išq, S.   24 / engl. Übers. S.   226). 60  Eine der wenigen Stellen, an denen Ibn Rušd namentlich seinen Kollegen (socius) Ibn Tufail erwähnt, dürfte sich auf diese Passage beziehen (siehe Ibn Rušd: Expositio media Aristotelis Me­ teorologicorum, f.  4 41 r) 61  Arab.: tābūt; die Wortwahl dieser Passage ist angelehnt an die im Koran erwähnte Geschichte von Moses, der auf den Befehl Gottes hin ebenfalls in einer Kiste (tābūt) auf dem Wasser ausgesetzt wurde (vgl. Q  20  :  39). Zu dieser Episode aus der koranischen Moses-Geschichte vgl. auch H. Speyer 1931, S.   241–245. 62  Arab.: tamaiiadat; ein unübersetzbares Wortspiel, da dieses Verb sowohl »in Bewegung geraten« als auch »in den Wehen liegen, gebären, hervorbringen« bedeuten kann. 63  Der Ausdruck »Geist« (rūh) wird hier in seiner koranischen Bedeutung »göttlicher Lebenshauch« eingeführt (vgl. Art. Nafs in EI² Bd.  V II , S.   880  a  ff.). 64  Diese ursprünglich biblische Stelle (siehe Genesis 1:27 und 5: 1) wurde später auch dem Propheten Muhammad in den Mund gelegt und als Hadīu in die islamische Tradition aufgenommen (siehe: A. J. Wensinck 1936–88 Bd.  I I , S.   7 1a bzw. Bd.  I II , S.438). Während die Stelle in der Bibel eindeutig war (»Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn«), wollte man später bei der arabischen Fassung das Possesiv­ pronomen »sein« gelegentlich nicht auf Gott, sondern auf den Menschen beziehen, um so einen möglichen Anthropomorphismus zu vermeiden. Siehe dazu und allgemein zur Wirkung dieser

Anmerkungen des Herausgebers

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Stelle in der islamischen Theologie die ausführliche Besprechung bei J. van Ess 1991–97 Bd.  I V, S.   377–383. 65  Mit dieser Erklärung der Prophetie steht Ibn Tufail in der Tradition Ibn Sīnās, der anders als Fārābī die Prophetie nicht der Vorstellungskraft, sondern einem eigenen »heiligen Vermögen« (quwwa qudsiyya) zuschrieb, durch das es einigen auserlesenen Menschen möglich ist, direkt und unmittelbar die Intelligibilia vom aktiven Intellekt zu beziehen (vgl. D. Gutas 1998 und H.   A.   Davidson 1992, S.   116–123). Im Gegensatz zu Ibn Sīnā ist es bei Ibn Tufail jedoch direkt Gott und nicht der aktive Intellekt, von dem die intelligiblen Formen ausgehen. 66  Diese Reihenfolge der Entstehung (Herz, Gehirn, Leber) wird so bereits von al-Fārābī beschrieben (siehe R. Walzer 1985, S.   186  f.), der damit Aristoteles folgt (De gen. an. II 4, 740a 5–13 und II 6, 743  b 25–31). Auch die Unterteilung des Gehirns in drei Ventrikel und die Lokalisierung verschiedener Vermögen darin findet sich bei al-Fārābī (siehe R. Walzer 1985, S.   178–181, und die Verweise auf die antike Tradition S.   396); die Lokalisierung wird allerdings erst bei Ibn Sīnā ausführlicher entwickelt und – unter dem Einfluß Galens – mit einer Theorie der fünf inneren Sinne kombiniert: Gemeinsinn (hiss muštarak, sensus communis) und Vorstellungskraft (iayāl, imaginatio) im vordersten Ventrikel, Denkkraft (mufakkira, cogitativa) und Urteilskraft (wāhima, aestimativa) im mittleren, und schließlich das Gedächtnis ( hāfiza, memoria) im hin­tersten Ventrikel (siehe dazu auch G. Strohmaier 1988). 67  Der Hintergrund dieser Schilderung einer spontanen Entstehung (generatio spontanea) ist sehr vielfältig (vgl. dazu den detaillierten Aufsatz von R. Kruk 1990 und allgem. D.  N. Hasse 2007). Bereits Aristoteles erwähnt eine solche spontane Entstehung von Lebewesen aus Erde und Wasser (Aristoteles: De Gen. Animal. III 11, 761 a  12–763 b  16), aller­dings nur bei Pflanzen und niederen Tieren wie Würmern oder Schalentieren; dies wird dann so auch in den islamischen Bereich übernommen, etwa bei Ibn Sīnā (anNafāt, S.   157  f. / engl. Übers. S.   24  f.). Für den von Ibn Rušd gegen Ibn Sīnā erhobenen Vorwurf, dieser habe auch die Entstehung von Menschen aus nichts als Erde für möglich gehalten (Ibn Rušd: Tafsīr ma ba‘ d at-tabī‘a Bd.  I , S.  46  f. / lat. Übers. S.   7 7), findet man

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in Ibn Sīnās naturphilosophischen Schriften keine Entsprechung; eine mögliche Quelle für Ibn Rušds Feststellung könnte allenfalls in einer der von Tūsī überlieferten Versionen der Salāmān-AbsālGeschichte zu finden sein (vgl. Einleitung S.   x x xvii). Von großem Interesse war die elternlose Entstehung bzw. Hervorbringung von menschlichen Lebewesen besonders in den Geheimwissenschaften bzw. der Alchemie (vgl. dazu P. Kraus 1943 Bd.  I I , S.   121 n.  3 und F. Rex 1975, S.   58). Auf der anderen Seite wird aber auch schon im Koran darauf hingewiesen, daß der Mensch aus Ton geschaffen wurde (Q  23  :  14–14 und 15:26). Davon ausgehend beschreibt Gazālī, wenn er den Gottesnamen »Schöpfer« (al-Iāliq) und »Former« (al-Musawwir) erklären will, die Entstehung des Menschen geschehe, indem sich Erde mit Wasser in einem ausgewogenen Verhältnis mische und anschließend im nötigen Maß erwärmt werde; auf diese Weise werde dem Menschen durch die Macht Gottes seine Form (sūra) verliehen (Gazālī: alMaqsad al-asnā, S.   80  f. / engl. Übers. 68  f.). 68  Die Überlegung, daß der Mensch auf alle Organe – selbst auf den Kopf – verzichten könnte, aber keinesfalls auf das Herz, macht auch schon Ibn Sīnā: ar-Risāla al-adhawiyya, S.   1 43 / ital. Übers. ebd. S.   1 42. 69  An dieser Stelle führt Ibn Tufail die aristotelischen Kategorien (vgl. Aristoteles: Cat. 1  b  25–2  a  10 und Art. al-Mak. ūlāt in EI² Bd.  V I , S.   203  b) anhand der entsprechenden Fragen ein: Was ist es? (Wesen, Quiddität) / Wie ist es? (Qualität) / Wodurch war es mit dem Körper verbunden? (Relation) / Wohin war es gegangen? (Ort) / Wo hindurch entwich es? (Lage). Die Liste ist unvollständig, da nur fünf der ursprünglich zehn Kategorien erwähnt werden; allerdings ist die Aufzählung bei Aristoteles selbst vielfach auch nicht komplett. Die letzte Frage nach der Ursache stammt aus einem anderen Kontext; zusammen mit der Frage nach dem »Was ist es?« gehört sie zu den vier Weisen des wissenschaftlichen Fragens, die Aristoteles in der Zweiten Analytik erörtert (vgl. Aristoteles: Anal. post. II 1, 89 b  23). 70  Eine Anspielung auf die Geschichte von Kain und Abel im Koran (Q     5  :  27–32), wo Gott einen Raben schickt, der am Boden scharrt, um Kain zu zeigen, wie er seinen toten Bruder vergraben

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soll (vgl. zum weiteren Kontext dieser Episode auch H.   Speyer 1931, S.   86). 71  Arab.: fawāhir, sg. fauhar (dt.: Juwel, Substanz); die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks fauhar bietet Ibn Tufail an dieser Stelle die Möglichkeit, den philosophischen Terminus »Substanz« sehr elegant einzuführen: Da die Himmelskörper tatsächlich wie Juwelen funkeln und leuchten, steht hier beim erstmaligen Auftreten des Ausdrucks seine alltägliche Bedeutung im Vordergrund, während er dann im folgenden jeweils terminologisch in seiner philosophischen Bedeutung (Substanz) zu verstehen ist. 72  A n dieser Stelle wird der Ausdruck rūh nun nicht mehr in seiner koranischen Bedeutung verwendet, sondern in medizinischbiologischer. Er verweist auf die antiken Vorstellungen des Pneumas (πνεῦμα, spiritus) und beruht auf einer Tradition, die über Ibn Sīnā bis zur antiken griechischen Medizin zurückreicht, in welcher dem Pneuma eine wichtige Funktion als lebenserhaltendes Prinzip zukam. Im Gegensatz zur unkörperlichen Seele verstand man das Pneuma als etwas von stofflicher Natur, manchmal auch als Zwischenglied zwischen Stofflichem und Unstofflichem. Das Pneuma wurde durch die eingeatmete Luft gespiesen und verteilte sich mit dem Blut im ganzen Körper. Nach gängiger Auffassung ging das vitale Pneuma vom Herz und das psychische Pneuma vom Gehirn aus (vgl. Art. Geist: II. Pneuma in HWPh Bd.  I II , S.   157–162). Auch Ibn Sīnā verstand diesen pneumatischen Geist als feinstofflichen Körper (fism latīf), der das Substrat für die verschiedenen Vermögen des Körpers bildete (vgl. Ibn Sīnā: an-Nafs, S.   262–269 / franz. Übers. S.   186–191). 73  Zum Vorrang des Herzes in der Anatomie des Körpers vgl. Einleitung S.   l xiii f. 74  Zur philosophischen Bedeutung des arabischen Ausdruckes eāt (Wesen, Wesenheit, Essenz; auch: das eigentliche Selbst, se ipse) siehe A.-M. Goichon 1938, S.   134–139. 75  Nachdem die Art (nau‘ – griech.: εἶδος, lat.: species) schon oben eher intuitiv eingeführt wurde, erarbeitet sich Hayy den abstrakteren Begriff der Gattung (fins – griech.: γένος, lat.: genus) durch Überlegung anhand eines bildhaften Vergleichs (zum Terminus »Gattung« vgl. Art. Djins in EI² Bd.  I I , S.   505  b  ff.).

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Anmerkungen des Herausgebers

76  Zum natürlichen Ort der Elemente vgl. schon Aristoteles:

Physik IV 1, 208b. 77  Der mehrdeutige arabische Ausdruck ma‘nā (dt.: Sinn, Bedeutung, Idee, Begriff, Gedanke; lat.: intentio, notio) kann kaum adäquat übersetzt werden. In manchen Fällen deckt sich seine Bedeutung mit ma‘qūl (engl.: concept, idea; lat.: intelligibile, intellec­ tum; griech.: νοητὸν, νόημα, λόγος). In der Grammatik stehen einander die Termini lafz (Wortlaut) und ma‘nā für die Unterscheidung zwischen der phonetischen und der semantischen Seite eines Wortes gegenüber, während sich in der Poetik und Rhetorik ma‘nā zur Bezeichnung eines gedanklichen Motivs etabliert hat (vgl. Art. Ma‘nā in EI² Bd.  V I , S.   346 a  ff.; zur Verwendung in der Philosophie siehe A.-M. Goichon 1938, S.   253–255). Für die vorliegende Übersetzung wurde zumeist »(begriffliches) Moment« als Übersetzung für ma‘nā gewählt (vgl. den Übersetzungs-Vorschlag von J. van Ess 1991–97 Bd.  I II , S.   76); der leicht unbestimmte Charakter des deutschen »Moment« entspricht dabei in gewisser Weise dem ebenfalls vieldeutigen ma‘nā. Zudem erhielt »Moment« in der deutschsprachigen Philosophie (neben seiner früheren, rein zeitlich-physikalischen Bedeutung) vor allem seit Hegel ebenfalls eine »begriffliche« Färbung (vgl. Art. Moment – 4. Das logische Moment in HWPh Bd.  V I , S.   102–108). 78  Zur philosophischen Bedeutung des hier zumeist mit »Realität« wiedergegebenen arabischen Ausdrucks haqīqa (auch: Wahrheit, Wirklichkeit) siehe A.-M. Goichon 1938, S.   82–84 und Art.  Hak.īk. a in EI² Bd.  I II , S.   75 a  ff. 79  In der arabischen Philosophie entspricht sūra, pl.   suwar (Bild, Abbild, Form, Figur, Gestalt) weitgehend dem aristotelischen Begriff der Form (griech.: μορϕὴ, εἶδος; lat. forma); vgl. Art. Form und Materie (Stoff) in HWPh Bd.  I I , S.   977–999 und infra Anm.   87. 80  Zur Bestimmung der tierhaften Seele (nafs hayawāniyya, lat.: anima sensitiva) und der pflanzenhaften Seele (nafs nabātiyya, lat.: anima vegetativa) vgl. etwa Ibn Sīnā: an-Nafāt II 6, S.   157– 163 / engl. Übers. S.   24–29 sowie den Kommentar dort S.   70–77. 81  Mit »Natur« (tabī‘a) sind also die physikalischen Grundqualitäten gemeint, die für einen Körper konstitutiv sind; insbe-

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sondere von der Theologie wurde die Annahme von eigenständig wirkenden Naturen zumeist abgelehnt (vgl. dazu Art. Tabī‘a in EI² Bd.  X , S.   25 a  ff.). 82  Anders als der tierhafte und der pflanzenhafte Geist, die das stoff liche Lebensprinzip des Körpers bilden, ist die Seele (nafs) die immaterielle Form des Lebewesens; zur Definition der Seele bei Ibn Sīnā und den Bezügen zur antiken Philosophie siehe auch s­ upra Anm.   80; zu Hayys Natur- und Seelenlehre siehe auch T. Kukkonen 2011. 83  Vgl. dazu die medizinische Lehrbuch-Definition bei Ibn Sīnā: »Ernährung besteht aus dem Aufnehmen, Festhalten, Angleichen und Einverleiben von Nahrung sowie der Ausscheidung von Abfallstoffen« (Qānūn Bd.  I , 1/1/5 S.   9 / engl. Übers. S.  48). 84  Daß sich die Elemente (Feuer, Luft, Wasser, Erde) ineinander umwandeln können, schreibt schon Aristoteles: De gener. et corr.  I I 4, 331 a  7  –  b  36. 85  Dies entspricht der klassischen Definition des Körpers, wie sie schon von Aristoteles vorgegeben und von der islamischen Philosophie übernommen wurde (vgl. dazu Aristoteles: Met. V 13, 1020 a  7 und Art. Djism in EI² Bd.  I I , S.   533 b  ff.). 86  Die hier gegebene Veranschaulichung anhand einer Lehm­ kugel lehnt sich an einen Absatz aus Ibn Sīnās Metaphysik an, wo am Beispiel eines verformbaren Klumpens Wachs der Körper, die Körperlichkeit und die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien, Form und Materie, untersucht werden (Šifā’, Ilāhiyyāt II 2, S.   64– 71 / franz. Übers. Bd.  I , S.   136–141). 87  Zur Wiedergabe des aristotelischen Fachbegriffes »Materie« (griech.: ὕλη, lat.: materia) wurde im Arabischen sowohl das Lehnwort hayūlā als auch das arabische mādda (wörtl.: Material, Stoff) verwendet. Die frühe Variante tīn (mit der Grundbedeutung »Lehm«, v. a. bei Kindī) wurde später kaum noch verwendet. Vgl. dazu Art. Hayūlā in EI² Bd.  I II , S.   328 a  ff.; Art. Materie in HWPh Bd.  V, S.   870  ff. und supra Anm.   79. 88  Bei diesem Ausspruch des Propheten Muhammad handelt es sich eigentlich um ein hadīu qudsī, also um eine Äußerung, die Gott selbst zugeschrieben wird (vgl. A. J. Wensinck 1936 Bd.  I I , S.   540 und W. A. Graham 1977, S.   173) und die sich insbesondere

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bei den Sufis großer Beliebtheit erfreute (vgl. dazu H.   R itter 1955, S.   559). 89  Auch diese Koranstelle findet sich häufig in sufischen Kontexten. Ursprünglich bezieht sie sich auf die Schlacht bei Badr, bei der die Muslime einen Sieg errungen hatten, der unmittelbar auf das Einwirken Gottes zurückgeführt wurde; vgl. zur Auslegung dieser Stelle auch Gazālī: Maqsad, S.   59 / engl. Übers. S.  47. 90  Vgl. zu diesem Beweis Ibn Sīnā: an-Nafāt, S.   120–129 und auch schon Kindī: Fī al-falsafa al-ūlā, S.   1 14–116 / engl. Übers. S.   68–70 / franz. Übers. S.   28–30. Den Beweis für die Endlichkeit der Welt führt auch schon Aristoteles: De caelo I 5–7, 271  b 1   ff. 91  Suhail ist der ganz im Süden sichtbare Stern Canopus; als Farqadān (wörtlich: die zwei Kälber) werden zwei helle Sterne (β und γ) im Kleinen Bären bezeichnet. 92  Die Vorstellung einer Entsprechung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos (al-‘ālam al-akbar) war schon im Altertum weit verbreitet und in vielen Wissenschaftszweigen (Philosophie, Medizin, Astronomie, Hermetik) von großer Bedeutung (vgl. S.   Diwald 1975, S.   130–132); auch im Islam wurden die Makrokosmos  /  M ikrokosmos-Spekulationen wichtig und spielten insbesondere im Werk der Lauteren Brüder von Basra (Iiwān as-Safā) eine zentrale Rolle (vgl. S.   H. Nasr 1993, S.   66–74 und Einleitung S.   l), und sogar Gazālī bediente sich dieser Metapher, indem er die Welt und deren Teile mit einem Individuum und dessen Gliedern vergleicht (Maqsad, S.   81  f. / engl. Übers. S.   69  f.). Zur Bedeutung der Mikro- und Makrokosmos-Thematik in der islamischen Mystik siehe etwa F.   Meier 1957, S.   67–75. 93  Zur »theologischen« Argumentation gegen die Ewigkeit der Welt vgl. H. A. Davidson 1987, S.   117–153; zum »in der Zeit Entstandenen« ( hādiu, pl. hawādiu) und den damit zusammenhängenden Überlegungen in der islamischen Theologie im Rahmen der Frage nach der Existenz Gottes und dem Ursprung der Welt vgl. D.   Gimaret 1990, S.   219–234. 94  Zur »philosophischen« Argumentation gegen die Geschaffenheit der Welt vgl. H. A. Davidson 1987, S.  49–85. 95  Zur Enthobenheit oder Transzendenz Gottes (tanzīh) vgl. Art. Tashbīh wa Tanzīh in EI² Bd.  X , S.   341  b  ff.

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96  Der Beweis, daß in einem begrenzten Körper keine unend-

liche Kraft sein kann, findet sich schon bei Aristoteles: Physica V III 10, 266  b  25 (vgl. zur Rezeption dieses Beweises in Antike und Mittel­a lter auch H. Davidson 1987, S.   89–92, 244–249 und 409–411).  97  Mit seiner vermittelnden Position, die sowohl aus der ersten wie aus der zweiten Position die gleichen Konsequenzen zieht, macht Ibn Tufail auch hier wieder deutlich, daß ihm an einer harmonisierenden, auf Ausgleich (zwischen der philosophischen und der theologischen Seite, vertreten durch die »Kontrahenten« Ibn Sīnā und Gazālī, vgl. Einleitung S.   x lvii–xlviii) bedachten Haltung gelegen ist.  98  Zur Differenzierung zwischen zeitlicher und begriff licher Priorität vgl. schon Aristoteles: Met. V, 1018  b 9   ff.  99  Vgl. dazu den von Ibn Tufail im Vorwort zitierten Absatz aus Ibn Sīnās Išārāt, supra S.   5 und Anm.   16. 100  Zur Definition des Tons siehe Ibn Sīnā: De an. II 5, S.   81–90/ franz. Übers. 56–62; vgl. auch die entsprechende Stelle bei Aristoteles: De an. II 8, 419  b 4   ff. 101  Vgl. zu diesem Abschnitt Aristoteles: De an. III 4, 429  a  16: »Ähnlich, wie sich das Wahrnehmungsfähige zum Wahrnehmbaren verhält, so muß sich der Intellekt zum Intelligiblen verhalten.« 102  Das wahre Wesen ( haqīqat ae-eāt) des Menschen ist das, womit er das Notwendig-Seiende erfaßt; es wird hier von Ibn Tufail nicht explizit benannt; aber es wird sich wenig später zeigen (vgl. infra S.   77), daß damit die Instanz gemeint ist, die von den Philosophen üblicherweise als Intellekt (‘aql) bezeichnet wird. Damit steht Ibn Tufail natürlich in der Tradition der an­ tiken Philo­sophie, die den Menschen auch schon als vernünftiges Lebe­wesen (ζῷον λογικόν, animal rationale) definiert hatte. Indem Gott als eigentlicher Erkenntnisgegenstand des Intellekts in diese Definition des Menschen mit einbezogen wird, erhält sie einen theologischen Aspekt. Gott ist also für den Menschen wesentlich erkennbar bzw. erfahrbar, allerdings ist diese Erkenntnis  / Erfahrung nicht vollumfänglich sprachlich faßbar, wie Ibn Tufail wiederholt betont (vgl. infra S.   89–91). Ebenso schwingt hier aber auch der Einfluß Gazālīs mit, der seinerseits das Herz

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(qalb) als das wahre Wesen des Menschen bestimmt und darunter die erfassende, erkennende und wissende Instanz im Menschen versteht, wobei die höchste und vollkommenste Erkenntnis diejenige von Gott und Seinen Attributen ist (Gazālī: Ihyā’ III 1, Kap.   2 und 5, S.   3  f. und  7 / dt. Übers. S.   59–70 und 90); vgl. dazu aber auch infra S.   87 und Anm.   125. Zum Verständnis von Gott als das Notwendig-Seiende, mit dem Ibn Tufail in der Tradition Ibn Sīnās steht, vgl. Einleitung, S.   x x xii–x x xiv. 103  Die Termini bi-l-quwwa (wörtlich: dem Vermögen nach) und bi-l-fi‘ l (wörtlich: in der Tat) entsprechen der aristotelischen Unterscheidung aktuell – potentiell (griech.: δυνάμει – ἐνεργείᾳ; lat. potentialiter – actualiter). Vgl. Art K.   uwwa in EI² Bd.  V, S.   576 a  ff. und Art. Akt  /  Potenz in HWPh Bd.  I. S.   134–142. 104  Diese Überlegungen über das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod folgen im großen und ganzen Ibn Sīnā (vgl. H. A. Davidson 1992, S.   106–116), allerdings mit einer deutlichen sufischen Färbung. 105  So nach Avicenna und Aristoteles, gegen Galen, siehe Ein­ leitung S.   l xiii f. 106  Zur Tatsache, daß die Himmelskörper keinen Gegensätzen unterworfen sind, vgl. etwa Fārābī: Perfect State, S.   120  f. 107  Gemäß der antiken kosmologischen Vorstellung sind die vier Elemente in der sublunaren Welt gemäß ihrem natürlichen Ort in folgender Weise angeordnet: Zuunterst die Erde, danach das Wasser, dann die Luft und zuoberst das Feuer (vgl. Aristoteles: Meteor. I 4, De caelo II 4, IV 1 und supra Anm.   76). 108  Eine Überlegung ganz ähnlicher Art, ebenfalls in bezug auf die keinen Gegensätzen unterworfenen Himmelskörper, macht Ibn Sīnā in: Nagāt, S.   191  f. / engl. Übers. S.   67  f. 109  Dieser edlere Teil als Instanz der Gotteserkenntnis ist das, was von den Philosophen Intellekt (‘aql), von Gazālī aber Herz (qalb) genannt wird. Das Verhältnis zwischen Seele und Intellekt bestimmt Ibn Sīnā – im Rahmen der Unterteilung der Substanzen in Körper, Materie, Form, Seele und Intellekt – wie folgt: »Jede Substanz (fawhar) ist entweder ein Körper (fism) oder kein Körper. Wenn sie kein Körper ist, dann ist sie entweder Teil eines Körpers oder aber kein Teil eines Körpers und damit ganz vom

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Körper abgetrennt. Wenn sie Teil eines Körpers ist, dann ist sie entweder seine Form oder aber seine Materie. Wenn sie hingegen abgetrennt und überhaupt kein Teil eines Körpers ist, dann hat sie entweder eine bestimmte Verbindung zu den Vorgängen im Körper im Sinne eines Bewegungsprinzips und wird Seele (nafs) genannt, oder aber sie ist ganz und gar unabhängig von Materie und wird Intellekt (‘aql) genannt.« (aus Ibn Sīnā: Šifā’, Ilāhiyyāt II 1, S.   60 / franz. Übers. Bd.  I , S.   133). 110  Diese gleichsetzende Bestimmung der menschlichen Erkenntnisinstanz als Erkennendes (‘ārif), Erkanntes (ma‘rūf) und Erkenntnis (ma‘rifa) bzw. Wissendes (‘ālim), Gewußtes (ma‘ lūm) und Wissen (‘ ilm) findet sich in ähnlicher Form schon bei Aristoteles (De an. III 5 430  a  1–5), der für den Bereich des Immateriellen das Denkende (τὸ νοοῦν) mit seinem Gegenstand (τὸ νοούμενον) zusammenfallen läßt (vgl. auch Plotin, Enneaden, V I 6, 15). Später charakterisiert auch al-Fārābī im Anschluß an seine antiken Quellen den menschlichen Intellekt in gleicher Weise (As-siyāsa al-madaniyya, S.   35 / dt. Übers. S.   7), während Ibn Sīnā jedoch Vorbehalte gegen diese Auffassung geltend macht (etwa in alIšārāt Bd.  I II , S.   267–271 / frz.  Ü bers. 441–448). Auf Grund dieser Reflexion des Erkennens auf sich selbst kann der menschliche Intellekt tatsächlich in gewisser Weise als »göttlich« (ilāhī) bezeichnet werden, da auch Gott zugleich Denken, Denkendes und Gedachtes ist (vgl. infra S.   85 und Anm.   121); doch während dies bei Gott essentiell und immer aktuell der Fall ist, so ist es beim menschlichen Intellekt bloß eine akzidentielle und gerade keine wesentliche Eigenschaft. 111  Im Gegensatz zu den hell und klar leuchtenden Himmelskörpern ist der materielle Körper dunkel und dicht; und insbesondere im Neuplatonismus galt die Materie als dunkel (vgl. R.  Walzer 1985, S.  479). 112  Die Angleichung an Gott, so gut es einem möglich ist, (ὁμοίωσις ϑεῷ κατὰ τὸ δυνατόν) wurde schon von Platon als eine der Hauptaufgaben der Philosophie bestimmt (Theaet. 176  b und Rep. 613  b) und wurde dann später als eine der sechs klassischen Definitionen von Philosophie gehandelt, die uns in den spätantiken Aristoteles-Kommentaren begegnen (vgl. P. Schult-

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hess 1996, S.   34–38). Diese Definitionen gelangten dann auch früh in die islamische Philosophie, wo wir sie etwa schon bei Kindī (vgl. D. Gimaret 1976, S.   35 und 56–61) und den Lauteren Brüdern von Basra (vgl. S.   Diwald 1975, S.   510  f.) finden, wobei es bei Kindī keine eigentliche Angleichung (tašabbuh) an Gott selbst ist, sondern an Seine Handlungen (af ‘āl). 113  Oder: »[…], dessen Intellekt hat trotzdem immer noch sein eigenes Wesen zum Gegenstand.« 114  Zur Bedeutung des Terminus »Entwerden« (fanā’) in der Mystik siehe Einleitung S.   l iv sowie A.   Schimmel 1995, S.   206– 213, R. Gramlich 1976, S.   313–335 und Art. Bak. ā’ wa-Fanā’ in EI² Bd I, S.   951a. 114 b  Zu Hayys Ernährungs-Regeln, seiner Tier-Ethik und Ökologie hier und in den folgenden Abschnitten siehe P. Adamson 2016. 115  An dieser Stelle zeigt sich deutlich die ambivalente Haltung Ibn Tufails gegenüber den neuplatonischen Elementen in der islamischen Philosophie. Einerseits wird mit dem »Ausströmen« (faid) ein charakteristisch neuplatonischer Terminus verwendet, andererseits läßt Ibn Tufail aber die geistigen Formen (suwar rūhāniyya) direkt von Gott her in die Welt gelangen und nicht in Form eines stufenweisen Emanationsprozesses über die kosmischen Wesenheiten; doch sind die kosmischen Sphären auch nicht unbeteiligt, denn es sind die Himmelskörper, die der Welt erst die Disposition zur Aufnahme dieser Formen verleihen. 116  Zu den Himmelskörpern und dem Verlangen (tašawwuq), das sie nach Gott empfinden, vgl. etwa Fārābī: Perfect State, S.   118  f. und Ibn Sīnā: Šifā’, Ilāhiyyāt I X 2–3, S.   381–401 / franz. Übers. Bd.  I I, S.   119–136; zu den antiken, insbesondere neuplatonischen Wurzeln dieser Vorstelllung siehe S.   Diwald 1975, S.   293. Anders als Fārābī und Ibn Sīnā, die beide dabei auch den sehr starken Begriff »Liebe« (‘ išq) verwenden, begnügt sich Ibn Tufail entsprechend seiner Reserviertheit gegenüber erotischen Konnotationen mit dem schwächeren »Verlangen« (vgl. dazu auch Einlei­ tung S.   lviii). 117  Während das immer schneller werdende Drehen um sich selbst eine Anspielung auf den Tanz der Sufis enthält (vgl. Einlei­

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tung S.   lvii; allgemein zum Tanz der Sufis siehe etwa F. Meier 1954), so erinnert das Umrunden von Hütte oder Felsen an den islamischen Brauch des tawāf, also das rituelle Umrunden der Ka‘ba in Mekka, das einen festen Bestandteil der muslimischen Pilgerfahrt ( haff) darstellt; vgl. Art. Tawāf in EI² Bd.  X , S.   376a. 118  Der Augenblick oder Nu (waqt) gehört ebenfalls zum sufischen Fachvokabular (vgl. supra Anm.   16). 119  Eine Analyse der hier geschilderten Angleichung an die Himmelskörper und etliche Hinweise auf deren Hintergründe und Vorläufer gibt der Aufsatz von R. Brague 1997. 120  Zu den Attributen Gottes, die hier in positive Attribute (sifāt al-iubāt) und negative Attribute (sifāt as-salb) unterteilt werden, siehe Art. Sifa in EI² Bd.  I X , S.   551  a  ff. Während in der Islamischen Theologie vor allem zwischen Wesens-Attributen (sifāt ae-eāt) und Handlungs-Attributen (sifāt al-fi‘ l) Gottes unterschieden wird (vgl. D. Gimaret 1990, S.   235–245), steht in der Philosophie die Unterscheidung zwischen positiven (īfābiyya) und negativen (salbiyya) Attributen im Vordergrund (siehe Ibn Sīnā: Šifā’, Ilāhiyyāt V III 7, S.   362–370 / franz. Übers. Bd.  I I , S.   101–107). 121  Auch für Fārābī und Ibn Sīnā ist Gott wesentlich Denken, Denkendes und Gedachtes (vgl. Einleitung S.   x xiii und Ibn Sīnā: Šifā’, Ilāhiyyāt V III 6, S.   355–362 / frz. Übers. Bd.  I I , S.   94–100). 122  Auch der Prophet Muhammad soll seine erste Offenbarung erhalten haben, als er sich in eine Höhle beim Berg Hirā’ in der Nähe von Mekka zurückgezogen hatte (vgl. W. M. Watt 1953, S.  4 4). 123  Dieselbe Koran-Stelle zitiert auch al-Gazālī in Miškāt alanwār, S.   56 / dt. Übers. S.   23. 124  Diese ursprünglich aus dem Neuen Testament stammende Stelle (1. Kor.   2,9) wurde dann auch dem Propheten Muhammad in den Mund gelegt und in die islamischen Traditionssammlungen aufgenommen (vgl. A. J. Wensinck 1936–88 Bd.  I V, S.  431). 125  Ibn Tufails Definition des Herzens (qalb) als Form des Geistes (sūrat al-rūh) ist hier beinahe identisch mit der Definition Gazālīs im Munqie, S.  45 / dt. Übers. S.   55: »Ich meine mit Herz (qalb) die Realität seines (sc. des Menschen) Geistes ( haqīqat rūhihī)«, wobei Gazālī noch erklärend hinzufügt, »daß dies der

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Sitz der Gotteserkenntnis (mahall ma‘rifat Allāh) ist«; damit distanziert sich Ibn Tufail aber auch (zumindest terminologisch) von Gazālī, indem er dem »Herzen« die ihm von Gazālī zugewiesene Funktion als Instanz der Gotteserkenntnis (vgl. supra Anm.   102 und infra Anm.   136) abspricht; somit bleibt nach Ibn Tufail einzig dem wahren Wesen ( haqīqat ae-eāt) des Menschen die Fähigkeit vergönnt, Gott zu erkennen (vgl. supra S.   7 7 und Anm.   109). 126  Zu Funktion und Bedeutung des Terminus »Standort« (maqām) in der Sufik siehe Einleitung S.   lvi und die Verweise supra Anm.   3. 127  Das Wortspiel des arabischen Originals kann im Deutschen nicht adäquat wiedergegeben werden: das Verb daraba, das dem Ausdruck darb al-maual (dt.: ein Sprichwort verwenden; in einem Gleichnis sprechen) zugrunde liegt, hat die Grundbedeutung »schlagen« und steht hier dem »Klopfen« (qara‘a) ans Tor der Wahrheit gegenüber. 128  Zum mystischen Zustand ( hāl ) vgl. supra Anm.   3. 129  Die Fledermaus, von der man glaubte, daß ihre Augen die Sehkraft verlieren, wenn sie dem Sonnenlicht ausgesetzt sind, diente schon Aristoteles als Bild, um die Unfähigkeit zur Erkenntnis bestimmter Sachverhalte zu umschreiben (Metaphysik II 1, 993b). Aber auch Gazālī gebraucht diesen Vergleich gern, wenn es um die Leistungsfähigkeit des menschlichen Intellekts geht: »Das Licht des Intellekts (‘aql) ist eine Gnadengabe Gottes, die Er nur den wenigsten von denen, die Ihm nahestehen, zukommen läßt, während der größte Teil der Menschheit mit Unfähigkeit und Nachlässigkeit geschlagen ist, so daß sie wegen dieser Unfähigkeit die deduktiven Beweisführungen gar nicht erfassen können, genauso wie der Gesichtssinn der Fledermäuse das Licht der Sonne nicht erfaßt.« (al-Iqtisād fī al-i‘tiqād, S.   9 / span. Übers. S.   38 sowie ausführlich Ihyā’ IV 6, Kap.  9 / dt. Übers. S.   678 ff.). 130  Die drei Wendungen garīzat al-‘uqalā’ (die natürliche Anlage zum Gebrauch des Verstandes; wörtl.: die natürliche Anlage derer, die den Verstand gebrauchen), hukm al-ma‘qūl (das Urteil des gesunden Menschenverstandes) und ahkām al-‘aql (die Regeln des Verstandes) enthalten alle einen vom Wort ‘aql (Intellekt, Vernunft, Verstand, Denken) abgeleiteten Ausdruck. Im Sinne der im

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nächsten Abschnitt folgenden Auslegung des Ausrufs der Fledermaus wird ‘aql schon hier – die Deutung vorwegnehmend – jeweils mit »Verstand« wiedergegeben. 131  Die hier beschriebene rein rationale Erkenntnis basiert also lediglich auf logischen Operationen, die mittels der von den konkreten Dingen abstrahierten Allgemeinbegriffe (kulliyāt) funktionieren. 132  Mit dieser Beschreibung »nicht das Wesen selbst, aber auch nicht etwas Verschiedenes« nimmt Ibn Tufail eine Formulierung auf, die in der islamischen Theologie (kalām) schon früh zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und seinen Attributen verwendet wurde (vgl. al-Aš‘arī, Maqālāt al-islāmiyyīn, S.   169  f.). 133  Die gleichen Worte, mit denen Ibn Tufail hier die unterste der kosmischen Wesenheiten charakterisiert, werden auch von Gazālī verwendet, um einen Engel zu beschreiben (Miškāt, S.   52 / dt. Übers. S.   19). 134  In dieser Schilderung von Hayy ibn Yaqzāns ekstatischer Schau sind mehrere Elemente unterschiedlichen Ursprungs miteinander verwoben. Die Grundlage bildet die mittelalterliche Kosmologie mit den verschiedenen Himmelssphären, denen je eine immaterielle Wesenheit zugeordnet ist, die allerdings von Ibn Tufail nicht mehr als Intellekte bezeichnet werden und hier auch keine explizite epistemologische oder kosmologische Funktion mehr haben (vgl. Einleitung S.   x xiii–xxv sowie das Schema auf S.   x xii). Damit verknüpft wird die Licht-Metapher, die schon bei Aristoteles und im Neuplatonismus Verwendung fand (vgl. Aristoteles: De an. III 5, 430  a  15 und H. A. Davidson 1992, S.   130– 132) und später in der arabischen Philosophie weit verbreitet war (vgl. etwa Fārābī: Perfect State, S.   198–203). Mit dem Licht verbunden ist auch die Metapher des polierten Spiegels (vgl. Plotin: Enneaden, I 4.10), die im Islam ebenfalls sehr beliebt war und in Ibn Tufails Vorwort innerhalb eines Zitates aus Ibn Sīnā gleich zu Beginn schon eingeführt wurde (vgl. supra S.   5). Von besonders großer Bedeutung ist die Licht-Metapher bei Gazālī, bei dem wir auch das Bild eines Systems verschiedener Spiegel finden, die nacheinander den von einer Quelle ausgehenden Lichtstrahl reflektieren, bis dieser schließlich auf den Boden fällt (vgl. Gazālī:

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Miškāt, S.   53 / dt. Übers. S.   19 / engl. Übers. S.   13  f. und H. Lazarus-Yafeh 1975, S.   312–320). Ein ähnlicher Vergleich begegnet uns dann auch bei Ibn Bāffa, der, um die verschiedenen Stufen der Erkenntnis zu symbolisieren, das Licht der Sonne in einem Spiegel, aber dann auch auf einer Wasseroberfläche reflektieren läßt (vgl. Ibn Baffa: Ittisāl, S.  167 / span. Übers. S.   39 und A. Altmann 1969, S.   86  f.). Koranischen Ursprungs (Q  83  :   14) ist der Rost, der den Spiegel des Herzens bedeckt und »blind« macht. Insbesondere in der Sufik wird deshalb vom »Polieren des Herzens« gesprochen (vgl. J.  van Ess 1961, S.   65  f.). Auch dieses Bild wird wiederum von Gazālī aufgegriffen, wenn er zur Erklärung des Erkenntnisprozesses das erkennende »Herz« mit einem Spiegel und die erkannte Wahrheit mit dem Bild im Spiegel vergleicht; dabei kann ein Grund für die Fehlerhaftikeit einer Erkenntnis der auf dem Spiegel sitzende Rost sein (Ihyā’ III 1, Kap.   7, S.   10–13 / dt.  Ü bers. 103–119). Die Schilderung der vielen Wesenheiten auf der untersten Ebene schließlich greift die oben (vgl. supra S.  46  f.) gemachten Überlegungen zum Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod wieder auf. 135  Zur Gegenüberstellung der äußeren, exoterischen und der inneren, esoterischen Auslegung (zāhir, bātin) vgl. Art. al-Zāhir wa ’l-Bātin in EI² Bd.   X I , S.   389 a  ff. 136  Das Bekämpfen der Leidenschaft und die Gewissenserforschung (muhāsabat an-nafs) gehören beide zu den Praktiken des frommen Muslims (vgl. dazu Einleitung S.   l iv). 137  Das »wahre Wesen der Dinge« ( haqā’iq al-’ašyā’) zu erforschen und zu verstehen, so gut es dem Menschen nur möglich ist, ist gemäß Ibn Sīnā eigentliches Ziel und Zweck der Philosophie (Šifā’, Mantiq, Madial, S.   12). 138  Das Problem, daß Hayy bis jetzt alle seine Überlegungen vollzog, ohne eine Sprache sprechen zu können, wird von Ibn Tufail umgangen (immerhin beherrscht Hayy die »Sprache« der Gazellen und der übrigen Tiere; vgl. Übersetzung S.   26). Im Hintergrund von Ibn Tufails Darstellung steht die antike Semiotik, die auf Aristoteles (De Int. 16  a  2–8) zurückgeht und auch in die islamische Philosophie übernommen wurde: Die gesprochenen Wortlaute sind auf Konvention beruhende Zeichen für die Ein-

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drücke in der Seele, d. h. die Gedanken; die Schriftzeichen wiederum sind konventionelle Zeichen für die Wortlaute. Die Gedanken andererseits sind naturgegebene Abbilder der Dinge und für alle die gleichen, während die Wortlaute und die Schrift­ zeichen dagegen nicht bei allen Menschen die gleichen sind. 139  In einem geschickten Wortspiel bringt hier Ibn Tufail zum Ausdruck, daß die Erkenntnisse des Intellekts (ma‘qūl) und der Überlieferung (manqūl) für den wahrhaft Erkennenden miteinander übereinstimmen. Die gleiche Formulierung wählt dann auch Ibn Rušd in seinem Fasl al-maqāl (S.   1 4 /  dt.   Ü bers. S.   21 f.; vgl. dazu Einleitung S.   l x x f.). Zum Verhältnis zwischen intellektueller Erkenntnis und Überlieferung aus der Sicht der Theologie vgl. etwa J. van Ess 1966, S.  406–417. 140  Mit diesen Begriffen werden im Koran und in der Tradition die Ereignisse des Jüngsten Gerichts beschrieben, bei dem über den Einzug ins Paradies oder die Bestrafung im Höllenfeuer entschieden wird (vgl. Art. Djanna in EI² Bd.  I I , S.  4 47  a  ff. und Art.   Djahannam in EI² Bd.  I I , S.   381  b  ff.). Nach Erweckung und Auferstehung der Toten werden diese vor Gott versammelt (vgl. Art.   K.iyāma in EI² Bd.  V, S.   235  b  ff.). Hier wird von Gott das Abwägen der Taten eines jeden Menschen und die Abrechnung vollzogen (vgl. Art. Hisāb in EI² Bd.  I II, S.  465  a  ff.); zum Inventar des Jüngsten Tages gehört auch eine Brücke über das Höllenfeuer, die so breit wie ein Haar und scharf wie eine Klinge ist, die nur die Gerechten überqueren können, während die Sünder in die Tiefe stürzen (vgl. Art. Sirāt in EI² Bd.  I X , S.   670  b  ff.). 141  In dieser Beschreibung der Religion Absāls sind unschwer die Grundzüge des Islams zu erkennen: Zusammen mit dem Einheitsbekenntnis (tauhīd) bilden das Gebet (salāt), die Almosensteuer (zakāt), das Fasten (saum) und die Pilgerfahrt ( haff) die »fünf Säulen« des Islams (vgl. dazu A. Schimmel 1990, S.   32–41). 142  Gemeint ist der erwähnte Gesandte. 143  Zum Problem des Anthropomorphismus (tafsīm bzw. tašbīh) im Islam vgl. Art. Tashbīh wa Tanzīh in EI² Bd.  X , S.   341  ff. 144  Wörtl.: Männer (rifāl); damit sind die Leute gemeint, welche die Aussprüche des Propheten Muhammad gesammelt und überliefert haben; siehe Art. ‘Ilm al-Ridjāl in EI² Bd.  I II , S.   1150 b  ff.

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145  Auf wen Ibn Tufail mit dieser Andeutung anspielt, ist nicht

eindeutig geklärt: Der Abschnitt wurde schon als Kritik an Ibn Bāffa (L. Gauthier 1936, S.   113), an den ekstatischen Äußerungen der Mystiker (L. E. Goodman 1972, S.   238), an Gazālī und seiner philosophiekritischen Haltung (D. Mallet 1997, S.   18) oder allgemein an den Religionsgelehrten, die sich mit Philosophie befaßten (F. Griffel 2000, S.  4 15), verstanden.

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