Der phantastische Film: Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität 9783110237573, 9783110237566

This book investigates the narrated worlds of fantastic film and the methods of their narrative mediation. This includes

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German Pages 298 Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Definition des phantastischen Films
II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film
III. Der phantastische Diskurs
IV. Erzählte Welten im phantastischen Film
Schluss
Backmatter
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Der phantastische Film: Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität
 9783110237573, 9783110237566

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Claudia Pinkas Der phantastische Film

Narratologia Contributions to Narrative Theory

Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert

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De Gruyter

Claudia Pinkas

Der phantastische Film Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität

De Gruyter

ISBN 978-3-11-023756-6 e-ISBN 978-3-11-023757-3 ISSN 1612-8427 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort An dieser Stelle möchte ich all denen danken, die die Entstehung dieser Arbeit ermöglicht und unterstützt haben. In erster Linie gilt dies meinem Betreuer Prof. Dr. Andreas Böhn, der die Arbeit fachlich kompetent und mit viel Engagement begleitet hat und der mir darüber hinaus in Seminaren und Kolloquien an der Universität Karlsruhe stets Raum für die Diskussion meiner Fragen gegeben hat. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Annette Simonis für die Übernahme des Zweitgutachtens und ihre hilfreichen Hinweise und Anregungen, den Herausgebern der Narratologia, besonders Prof. Dr. Dr. h. c. Wolf Schmid, für die konstruktive Kritik und Befürwortung der Aufnahme der Arbeit in diese Reihe sowie der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg für ein zweijähriges Promotionsstipendium. Schließlich möchte ich mich vor allem auch bei all denen bedanken, die sich im Rahmen von Lehrveranstaltungen und in persönlichen Gesprächen mit meinen Thesen auseinandergesetzt haben, die die Arbeit Korrektur gelesen haben und die mich stets uneingeschränkt und liebevoll unterstützt haben. Die Arbeit wurde im Juli 2009 von der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe/des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) als Dissertation angenommen und erscheint nun in geringfügig überarbeiteter Form. Karlsruhe, im Juli 2010

Claudia Pinkas

Inhaltsverzeichnis Einleitung .....................................................................................................

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I. Definition des phantastischen Films................................................. 1. Terminologische Annäherung....................................................... 2. Forschungsüberblick....................................................................... 2.1. Medienontologische und motivzentrierte Definitionen .... 2.2. Narrativ-strukturelle Definitionen ...................................... 3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film ....... 3.1. Ambiguität ............................................................................... 3.1.1. Zur Mehrdeutigkeit von Bildern ............................... 3.1.2. Der narrative Ansatz .................................................. 3.1.3. Ambiguität im phantastischen Film ......................... 3.2. Fiktionalität und Wörtlichkeit ............................................. 3.2.1. Das Kriterium der Fiktionalität ................................. 3.2.2. Konsequenzen des bildhaften Sprachgebrauchs ... 3.2.3. Metaphern und Allegorien im phantastischen Film .. 4. Der narrative Modus des Phantastischen.................................... 4.1. Der strukturalistische Genrebegriff .................................... 4.2. Der Genrebegriff in der Filmwissenschaft ........................ 4.3. Das Phantastische als Modus des Erzählens .................... 4.4. Der realistische Erzählmodus und sein Verhältnis zum Phantastischen .............................................................. II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film .................................. 1. Der Film als Erzählmedium ......................................................... 1.1. Das Erzählte und das Erzählen .......................................... 1.2. Diegetische und mimetische Narration ............................. 1.3. Historische Phasen und Ansätze der Filmnarratologie ..... 2. Der filmische Diskurs..................................................................... 2.1. Instanzen des filmischen Erzählwerks................................ 2.2. Perspektive – Point-of-View – Fokalisierung .................... 2.3. Subjektivität im Film. Das Beispiel der Mind Game Movies 3. Die erzählte Welt im Film ............................................................. 3.1. Motivierung ............................................................................ 3.2. Stabile und instabile Welten..................................................

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VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Der phantastische Diskurs ................................................................. 1. Perspektive ....................................................................................... 1.1. Das Kippspiel mit narratorialer und figuraler Perspektive. Der Student von Prag ................................................................ 1.2. ›Falsche‹ Point-of-View-Shots. Vampyr ............................. 1.3. Subjektivierungsstrategien. The Blair Witch Project ............. 2. Die Struktur der Zeit ..................................................................... 2.1. Die Enthüllung des Geheimnisses und die Rekonstruktion der Vergangenheit. Orlacs Hände ................................. 2.2. Die Transformation der Zeit. Picnic at Hanging Rock ........ 3. Erzählebenen ................................................................................... 3.1. Rahmen- und Schachtelkonstruktionen. Das Cabinet des Dr. Caligari..................................................... 3.2. Narrative Endlosschleifen. Dead of Night ............................ IV. Erzählte Welten im phantastischen Film ......................................... 1. Grenzgänger und Schwellenfiguren ............................................. 1.1. Das Modell der fusion figures. Alraune .................................. 1.2. Das Modell der fission figures. Tierra ..................................... 2. Grenzgebiete und Räume des ›Dazwischen‹............................... 2.1. Mystische Reisen ins Unbekannte. Stalker ......................... 2.2. Transformation des Raums. Unheimliche Geschichten........... 3. Mediale Grenzüberschreitungen................................................... 3.1. Zur Wunschstruktur der Medien. Okkultismus und Spiritismus im Zeichen moderner Kommunikationstechnologien .......................... 3.2. Phantasmatische Repräsentationen von Buch und Schrift. El laberinto del fauno ................................................................ 3.3. Bildzauber, Simulakrum und Gedankenspiel. Abre los ojos .............................................................................. Schluss........................................................................................................... Filmverzeichnis............................................................................................ Literaturverzeichnis ....................................................................................

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Einleitung Ich habe eine gewaltige Phantasie. In meinen Kopf passen mehrere Welten. Und niemandem schadet das. (Ángel aus dem Film Tierra)

Ein Film rollt auf der Leinwand ab, eine Erzählung beginnt. Der Filmzuschauer wird Szene für Szene hineingezogen in eine ›zweite Realität‹, deren Gesetze denen der äußeren Realität nachempfunden sein können, in der aber auch völlig eigene Gesetze herrschen können. Filme sehen heißt, sich auf diese erzählte Welt einzulassen, das Auftreten eines Rick Blaine oder Scottie Ferguson mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu akzeptieren wie das von Geistern, Untoten, Feen, fliegenden Teppichen und sprechenden Zinnmännern. Voraussetzung für unser Verständnis einer erzählten Welt ist somit stets die Produktion von Annahmen hinsichtlich des in ihr zugrunde gelegten Realitätssystems, die Bildung von Hypothesen darüber, ob wir uns in einer ›realistischen‹, nach den vertrauten Gesetzen der Wirklichkeit funktionierenden Welt, oder aber in einer ›wunderbaren‹ Welt befinden. Im Fall des Phantastischen liegen die Dinge weniger einfach. Die erzählten Geschichten werden, auf schleichende Weise oder auch ganz unvermittelt, brüchig. Es geschehen Dinge, die die zuvor angenommenen Gesetzmäßigkeiten der erzählten Welt grundlegend in Frage stellen und die einen Zweifel darüber provozieren, mit welcher Art von Welt wir es hier zu tun haben. Das Spiegelbild eines Studenten tritt aus der Bildfläche und materialisiert sich als leibhaftiger Doppelgänger im Raum – ein übernatürliches Ereignis oder lediglich eine subjektive Projektion? Der Pointof-View des Erzählten entpuppt sich als der Blick aus den starren Augen eines Toten – Zeugnis einer Unsterblichkeit der Seele oder eine Traumvision? Figuren verschwinden in ihren eigenen Filmbildern, im einen Moment noch mit der Videokamera im Wald auf Hexenjagd, sind sie im nächsten Moment wie von der Bildfläche radiert, übrig bleiben nur einige Filmbänder – ein Werk okkulter Kräfte oder aber ein metareferentieller Hinweis auf die Verflüchtigung des Realen im Universum der technischen Bilder? Der Filmzuschauer ist unentschieden darüber, wie er die Ereignisse zu beurteilen hat, hinzu treten Probleme der Vermittlung des Erzählten:

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Einleitung

Unzuverlässige Erzählerinstanzen, mehrdeutige Perspektivierungen des Geschehens, Durchbrechungen und Auflösungen der raumzeitlichen Kontinuität sowie Verschachtelungen der Erzählebenen machen es schwierig, wenn nicht gar aussichtslos, über die narrative Präsentation des Geschehens zur (Re-)Konstruktion einer kohärenten, in sich geschlossenen und unzweideutigen Geschichte zu gelangen. Der Effekt eines solchen destabilisierenden Erzählens kann ein schleichendes Unbehagen sein, ein lustvoll empfundener Schauder, in jedem Fall aber setzt phantastisches Erzählen stets ein ›Kopfkino‹ in Gang, ein Verlangen, das Geschehen zu enträtseln – wobei die Unmöglichkeit, zu einer eindeutigen Lösung zu gelangen, gerade Teil des Vergnügens ist. Die instabilen, mehrdeutigen erzählten Welten des phantastischen Films sowie die Verfahren ihrer narrativen Präsentation bilden den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Ziel ist der Entwurf einer Narratologie des phantastischen Films auf den Ebenen histoire und discours, wobei der Fokus auf dem Umstand liegt, dass die phantastische Ambiguität nicht nur aus einer Mehrdeutigkeit der Ereignisse der erzählten Welt, sondern insbesondere auch aus einer bestimmten Form eines mehrdeutigen, destabilisierten Erzählerdiskurses hervorgeht. Phantastisches Erzählen, so die zentrale These, gründet stets auf einer Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen rationalen und irrationalen Erklärungsangeboten für die hier dargestellten, allem Anschein nach ›übernatürlichen‹ Ereignisse, wobei sich diese Unentscheidbarkeit sowohl auf der Ebene der Geschichte als auch des Diskurses entfaltet. Phantastisches Erzählen im Film präsentiert sich aus dieser Perspektive somit als ein spannungsvolles Wechselverhältnis zwischen Geschichte und Diskurs, zwischen der Evokation einer ins Wanken geratenen, mittels des rationalen Verstandes nicht mehr entzifferbaren fiktiven Welt und der Art und Weise ihrer Vermittlung. Mit dem hier vorgestellten Ansatz soll ein systematischer Transfer und eine Neuperspektivierung der von der Literaturwissenschaft entwickelten narrativ-strukturalistischen Phantastik-Theorie mit Blick auf das Medium Film geleistet werden und damit eine Lücke in der gegenwärtigen Forschungssituation geschlossen werden. So wurde der phantastische Film bislang ausnahmslos unter medienontologischen und motivzentrierten Gesichtspunkten betrachtet, ein narratologisch fundierter Theorieentwurf, der die von Tzvetan Todorov in seiner 1970 erschienenen, wegweisenden Studie Introduction à la littérature fantastique entwickelte, enggefasste PhantastikDefinition zum Ausgangspunkt einer intermedialen Auseinandersetzung mit phantastischem Erzählen im Film nimmt, steht derzeit noch aus. Ein zentrales Anliegen dieser Untersuchung ist es somit, das von Todorov entwickelte Phantastik-Modell erstmals systematisch für den fiktionalen Spielfilm zu adaptieren, wobei dieses Modell jedoch dahingehend zu er-

Einleitung

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weitern und zu modifizieren ist, dass es den speziellen Bedingungen des filmischen Erzählens gerecht wird. Die Ansätze der literaturwissenschaftlichen Phantastik-Theorie werden in der vorliegenden Arbeit somit weiterentwickelt und in den Dienst eines (film-)narratologischen Erkenntnisinteresses gestellt. Vor dem Hintergrund einer Diskussion allgemeiner Fragestellungen bezüglich der Instanzen des filmischen Erzählwerks, der Erzählperspektive sowie der Organisation raumzeitlicher Strukturen im Film wird dabei erstmals die Aufmerksamkeit gezielt auf die diskursiven Verfahren gelenkt, die im phantastischen Film zur Erzeugung von Ambiguität beitragen. Derartigen Diskurstechniken des Phantastischen kam in der Forschung bislang eine marginale Rolle zu, d. h., sie wurden entweder überhaupt nicht zur Diskussion gestellt oder fanden, wie beispielsweise in den Arbeiten von Tzvetan Todorov, Thomas Wörtche und Uwe Durst, eine stärker untergeordnete Behandlung und wurden in kein umfassendes erzähltheoretisches Modell integriert. Der narratologische Ansatz bietet hier insbesondere die Möglichkeit, über die mehrdeutigen und phantastischen Phänomene der erzählten Welt des Textes hinaus die phantastischen Qualitäten des filmischen Erzählaktes selbst sichtbar zu machen und gibt damit den Blick frei auf die Tatsache, dass es sich bei dem ›Phantastischen‹ im Film – ebensowenig wie bei dem vielzitierten ›filmischen Realismus‹ – nicht um eine dem Medium in irgendeiner Weise inhärente Qualität handelt, sondern um ein narratives Verfahren, das als solches eine strategische Anwendung typisierter Muster oder Strukturen im Hinblick auf bestimmte Darstellungs- und Wirkungsfunktionen betreibt. Phantastisches Erzählen definiert sich somit als eine Form der sprachlichen und/oder audiovisuellen narrativen Informationsvergabe, die auf eine Mehrdeutigkeit des Erzählten abzielt und die dafür verantwortlich ist, dass der Rezipient die fiktive Welt des Textes nicht als eine stabile, in sich geschlossene, kohärente und somit ›realistische‹ Welt wahrnimmt, sondern als eine instabile, brüchige, ambigue und damit in ihrer Grundstruktur ›phantastische‹ Welt. Im ersten Kapitel wird eine Definition des phantastischen Films entwickelt. Zu diesem Zweck werden zunächst verschiedene Forschungsansätze vorgestellt, die sich von der Frühzeit des Mediums bis in die Gegenwart mit dem Phantastischen im Film im weitesten Sinne auseinandergesetzt haben. Neben einer systematischen Aufarbeitung der deutschsprachigen Forschungsliteratur werden dabei auch englisch- und französischsprachige Arbeiten zum phantastischen Film berücksichtigt, zudem findet neben der Rezeption von im engeren Sinne wissenschaftlichen Publikationen eine Einbeziehung stärker populärwissenschaftlicher Darstellungen des phantastischen Films statt. Im Mittelpunkt des anschließenden theoretischen Teils des Kapitels steht die Entwicklung einer eigenen Definition des

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Einleitung

phantastischen Films auf der Basis der Todorov’schen Phantastik-Theorie, wobei das Augenmerk besonders auf die beiden obligatorisch zu erfüllenden Bedingungen des Phantastischen, die Ambiguität (Todorov selbst spricht von hésitation, ›Unschlüssigkeit‹) sowie die Fiktionalität und Wörtlichkeit des Textes, gerichtet ist. Während die phantastische Literatur für Todorov jedoch ein Genre bildet, argumentiert die vorliegende Arbeit in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Tendenzen der film- und literaturwissenschaftlichen Genretheorie dafür, das Phantastische besser als einen genre- und medienübergreifenden, narrativen Modus zu bestimmen, wobei der aus dem Englischen entlehnte Begriff des Erzählmodus’ (mode of narration) mit den verschiedenen literaturwissenschaftlichen Konzepten von ›Schreibweise‹ bzw. ›narrativer Struktur‹ korrespondiert. Das zweite Kapitel befasst sich mit Grundlagen narrativer Vermittlung im Film und gibt zunächst einen Überblick über Modelle des Narrativen sowie historische Phasen und Ansätze der Erzählforschung zum Film. Im Anschluss daran werden Aspekte des filmischen Diskurses erörtert, zu denen unter anderem die Instanzen des filmischen Erzählwerks, die Erzählperspektive (Point-of-View, Fokalisierung) sowie Verfahren der Erzeugung von Subjektivität gehören. Des Weiteren wird die Konstruktion der erzählten Welt im Film hinsichtlich der Aspekte der Motivierung sowie der Stabilität/Instabilität der Diegese beleuchtet, wobei diese beiden Aspekte speziell für eine Abgrenzung realistischer erzählter Welten von denen des Phantastischen von zentraler Bedeutung sind. Die Aufarbeitung dieser zentralen Problemfelder der Filmnarratologie als einem Forschungsgebiet, das insbesondere im deutschen Sprachraum noch relativ jung ist und stark heterogen behandelt wird, bildet dabei das theoretische und methodische Grundlagengerüst für die beiden folgenden, stärker anwendungsbezogenen und an konkreten Filmbeispielen orientierten Kapitel. Im dritten und vierten Kapitel werden zentrale Aspekte des phantastischen Diskurses sowie der erzählten Welten des Phantastischen untersucht. Anhand der Analyse ausgewählter Filmbeispiele, die einen Zeitraum von den Anfängen des narrativen fiktionalen Spielfilms bis zur Gegenwart umfassen und die dabei unterschiedliche nationale Kinematographien einbeziehen, werden die charakteristischen Merkmale phantastischen Erzählens im Film herausgearbeitet. Dabei werden insbesondere auch die vielfältigen Korrespondenzen zwischen den ambiguisierenden und destabilisierenden Verfahren des phantastischen Diskurses und den instabilen erzählten Welten des Phantastischen, die durch Brüche und Grenzüberschreitungen verschiedenster Art charakterisiert sind, aufgezeigt. So lassen sich auf der Ebene des filmischen discours verschiedene Techniken einer instabilen Narration ausmachen, zu denen beispielsweise die Konstruktion ambiguer Perspektiven, die Durchbrechung und Auflösung der zeitlichen

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Kontinuität, Rahmen- und Schachtelkonstruktionen sowie die Einführung unzuverlässiger Erzählerinstanzen gehören. Auf der Ebene der histoire findet sich analog dazu ein Arsenal ambivalenter, psychisch instabiler Figuren, die sich in einem Grenzbereich zwischen Wachen und Träumen, Normalität und Wahnsinn, Leben und Tod, Menschlichem und Künstlichem bewegen bzw. die den Anschein erwecken, dies zu tun. Des Weiteren sind die erzählten Welten des Phantastischen häufig durch eine Thematisierung von räumlichen Grenzen und Schwellen sowie deren Passierung charakterisiert, wobei die als Bewegung im Raum vollzogene Transgression zur ›anderen Seite‹ stets mit einer psychisch-mentalen Grenzüberschreitung der Protagonisten einhergeht bzw. potentiell als solche auflösbar ist. Schließlich werden auf der Ebene der erzählten Geschichte wiederkehrend auch mediale (Schein-)Welten, wie z. B. literarische und filmische Fiktionen, optische Phantasmagorien und Computersimulationen, zum Thema gemacht. Das Eintauchen in diese virtuellen Medienrealitäten kann dabei ebenfalls zu einer Verwischung und Auflösung von Grenzen führen und bei den Protagonisten der phantastischen Erzählungen zu fundamentalen Wahrnehmungs- und Realitätszweifeln führen. Phantastisches Erzählen ist, wie die vorliegende Arbeit zeigt, stets ein mehrdeutiges, instabiles Erzählen, das aus der Spannung zwischen Geschichte und Diskurs, zwischen dem ›Was‹ und dem ›Wie‹ der Erzählungen hervorgeht. Mit seiner unauflösbaren, als raffiniertes Kippspiel inszenierten Ambiguität widerlegt der phantastische Film dabei zugleich das dem filmischen Medium vielfach entgegengebrachte Vorurteil, dass Filme – insbesondere, wenn sie, wie der phantastische Film, die Grenzen des real Möglichen ausweiten und eine erklärte ›Lust am Geschichtenerzählen‹ entwickeln – zur Vermittlung eines subtilen, komplexen und mehrdeutigen Geschehens nicht bzw. weniger gut geeignet seien, als die Literatur. Der phantastische Film, so die Überzeugung der Autorin, lässt der Imagination des Rezipienten ebensoviel Spielraum wie vergleichbare Texte im Medium der Literatur und trägt über Lücken und Unbestimmtheitsstellen in der Narration dazu bei, die individuelle Einbildungskraft des Filmsehenden zu mobilisieren.

I. Definition des phantastischen Films 1. Terminologische Annäherung Wo die Welt des Kinos aber die diesseitige übertrifft, grenzt es an die Sphäre, die unbestreitbar nur des Kinos ist: die Phantastik. Technik vermag alles zu überwinden, alles zu ermöglichen.1

Das Medium Film galt Filmschaffenden sowie Zuschauern und Theoretikern von Beginn an als das ›Medium des Phantastischen‹ par excellence. Seit der Frühzeit der Kinematographie existiert neben dem Bestreben, die äußere Wirklichkeit möglichst unverfälscht, dokumentarisch-registrierend wiederzugeben eine fortwährende Faszination für die Möglichkeiten des Mediums, die Realität filmtechnisch zu verfremden, ihr eine zweite Dimension abzugewinnen und auf diese Weise nie gesehene, irreale und im weitesten Sinne ›phantastische‹ Welten auf der Kinoleinwand sichtbar zu machen. »Le fantastique surgit immédiatement de la plus réaliste des machines«, schreibt der französische Philosoph Edgar Morin, »et l’irréalité de Méliès se déploie aussi flagrante que le fut la réalité des frères Lumière. Au réalisme absolu (Lumière) répond l’irréalisme absolu (Méliès).«2 Und der französische Historiker und Mythenforscher Antoine Faivre konstatiert: Le cinéma est l’art qui se prête peut-être le mieux au fantastique. Il est né au moment où l’on remettait à l’honneur en littérature une série de légendes et de contes destinés à faire frémir: le XIXe siècle finissant n’est pas seulement l’apogée du naturalisme.3

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Carlo Mierendorff (1984 [1920]): Hätte ich das Kino! In: Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, hrsg. v. Fritz Güttinger, Frankfurt a. M. (Schriftreihe des Deutschen Filmmuseums Frankfurt), S. 384–399, S. 394. Edgar Morin (1956): Le cinéma ou l’homme imaginaire. Essai d’anthropologie sociologique, Paris [dt.: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung, Stuttgart 1958], S. 58. (»Das Phantastische bricht augenblicklich aus dem realistischsten aller Apparate hervor und der Irrealismus Méliès’ entfaltet sich ebenso offensichtlich wie der Realismus der Brüder Lumière. Dem absoluten Realismus (Lumière) entspricht der absolute Irrealismus (Méliès).« Übers. d. Verf.) Antoine [Tony] Faivre (1962): Le cinéma. L’art fantastique par excellence. In: ders.: Les vampires. Essai historique, critique et littéraire, Paris, S. 201–210, S. 201. (»Das Kino ist die Kunst, die sich vielleicht am besten für das Phantastische eignet. Es wurde zu dem Zeit-

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I. Definition des phantastischen Films

Von den frühen Filmstreifen, die in oft nur wenige Minuten dauernden Mini-Narrativen Traum- und Phantasieszenen visualisieren,4 über die phantastisch-expressionistischen Stummfilme der 1910er und 1920er Jahre, bis hin zu den postmodernen Mind Game Movies5 – stets hat sich das Medium Film in besonderem Maße den Themenbereichen des Irrealen und im weitesten Sinne ›Phantastischen‹ verschrieben und hat in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen des Übernatürlichen bei seinem Publikum Schrecken, Verwirrung, Ungläubigkeit sowie einen genüsslichen Zweifel evoziert. Im Verlauf der sich von der Stummfilmzeit bis weit in das 20. Jahrhundert erstreckenden filmästhetischen Debatte um realistische und non-realistische Tendenzen des Mediums haben Theoretiker im Film somit nicht nur ein Instrument der authentischen Wirklichkeitswiedergabe, sondern wiederholt auch einen wirkungsmächtigen Imaginationsund Illusionsapparat, der Phantasien und Träume in Wahrnehmungsbilder zu übersetzen vermag, erkannt.6 Diese medienontologische, den Film in eine ›realistische‹ (Lumière) und eine ›phantastische‹ (Méliès) Tendenz unterteilende Zugangsweise hat die Diskussion um den phantastischen Film bis in die Gegenwart im Wesentlichen geprägt. So geht die Mehrzahl der filmwissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema von einem weitgefassten, in der technischen und ästhetischen Natur des filmischen Mediums begründeten Phantastik-Verständnis aus und subsumiert unter dem Begriff ›phantastischer Film‹ alles das, was nicht in den Bereich eines in der Regel ebenso weitgefassten ›filmischen Realismus‹ fällt. Im Gegensatz zu realistischen Positionen, welche den ikonischen Charakter des Mediums in den Vordergrund rücken, wird das Medium Film dabei vorrangig unter dem Aspekt der Wirklichkeitsverfremdung gesehen: In einer radikalen Definition, so Vivian Sobchack, seien letztlich alle Filme »fantastische Filme«, da sie »Illusionen fabrizieren, die auf der Manipulation eines ursprünglichen filmischen Ereignisses durch verschiedene fotografische und Montage-Effekte basieren. So gese_____________

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punkt geboren, als man in der Literatur eine Reihe von Legenden und von Erzählungen zurückstellte, die dazu bestimmt waren, Schauder hervorzurufen: Das ausgehende XIX. Jahrhundert ist nicht nur der Höhepunkt des Naturalismus.« Übers. d. Verf.) Vgl. hierzu unter anderem die frühen Kurzfilme Let Me Dream Again (Großbritannien 1900, Regie: George Albert Smith), Rêve et réalité (Frankreich 1901, Regie: Ferdinand Zecca), The Dream of a Rarebit Friend (USA 1906, Regie: Edwin S. Porter), Le voyage dans la lune (Frankreich 1902, Regie: Georges Méliès) sowie Le rêve d’un fumeur d’opium (Frankreich 1908, Regie: Georges Méliès). Vgl. Kap. II.2.3. Vgl. hierzu exemplarisch Hugo Münsterbergs Schrift The Photoplay (1916). Die Ideen Münsterbergs wurden in den 1970er Jahren von Christian Metz in dessen Untersuchungen zur Verbindung von Traum und Kino sowie in den von Jean-Louis Baudry und Pascal Bonitzer entwickelten Apparatus- und Dispositiv-Theorien wieder aufgegriffen.

1. Terminologische Annäherung

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hen bilden die fantastischen Genres insbesondere eine Grundeigenschaft des Kinos ab.«7 Der ontologische Trickreichtum des Kinos, die Überwindung von Raum, Zeit und Kausalität durch Schnitt und Montage, erfährt diesem Ansatz zufolge im Phantastischen eine zusätzliche Steigerung durch den Einsatz aufwändiger Tricktechniken und Spezialeffekte, welche Illusionen erzeugen und Phantasie somit buchstäblich ›realisieren‹.8 Der phantastische Film, der in seiner Bemühung um eine Sichtbarmachung des Unsichtbaren ein gewaltiges Maß an filmtechnischer Experimentierfreudigkeit an den Tag lege und dabei an einer permanenten Weiterentwicklung und Erneuerung der kinematographischen Ausdrucksformen beteiligt sei, liefere somit stets auch wichtige Impulse für den sogenannten ›realistischen‹ Film. Der phantastische Film hat [...] immer auch Pionierfunktionen für den realistischen Film, die sich nicht nur auf die technischen Möglichkeiten beschränken, sondern auch eine Weiterentwicklung des Darstellungskodes des Films bedeuten. In dem Maße, in dem die Tricks des phantastischen Films in eine realistische Erzählweise des Films integriert werden, verliert der Film selber an ›Gespenstigkeit‹. Durch die Dialektik von phantastischem und realistischem Film entwickelt das Kino seine Sprache.9

Neben einem derartigen medienontologischen Verständnis des Phantastischen im Film dominieren Ansätze, die analog zu themen- und motivzentrierten Bestimmungen des Phantastischen in Literatur und Bildender Kunst unter dem Terminus ›phantastischer Film‹ einen Genreoberbegriff für verschiedene Filmgenres verstehen, in denen nonrealistische Themen und Motive eine zentrale Rolle spielen. Das Auftreten von übernatürlichen, wunderbaren Wesen – beispielsweise von Geistern, Vampiren, Monstern, künstlichen Menschen und unheimlichen Doppelgängern –, die Inszenierung von Metamorphosen und körperlichen Anomalien oder auch Transformationen von Raum und Zeit, um nur einige dieser motivischen Aspekte zu nennen, konstituieren diesem Ansatz zufolge das Phantastische im Film. So definiert die Brockhaus Enzyklopädie den Begriff phantastischer Film als »Bezeichnung für eine Filmgattung, die (in Anlehnung und Abgrenzung der Inhalte und Formen) auf Romantik, Märchen und Sage, aber auch Science-fiction und Horror [...] zurückzuführen ist.«10 Als charakteristisch für die Inhalte und Themen des phantastischen Films wird _____________ 7 8 9 10

Vivian Sobchack (1998b): Der fantastische Film. In: Geschichte des internationalen Films, hrsg. v. Geoffrey Novell-Smith, Stuttgart, S. 282–289, S. 282f. Ebd., S. 282. Georg Seeßlen/Claudius Weil (1980): Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films. Mit einer Filmografie von Peter Horn und einer Bibliografie von Jürgen Berger, Hamburg, S. 130. o. N. (1992): Art. ›phantastischer Film‹. In: Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, 19. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 17: Pes–Rac, Mannheim, S. 77f., S. 77.

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I. Definition des phantastischen Films

allgemein die »Phantastik mit ihren spielerischen, freier erfind- und gestaltbaren Elementen« genannt, als »Prototypen der Gattung« gelten unter anderem Le voyage dans la lune (Frankreich 1902, Regie: Georges Méliès), The Wizard of Oz (USA 1939, Regie: Victor Fleming) und Harvey (USA 1950, Regie: Henry Koster).11 Ähnlich äußert sich das Sachlexikon des Films, das unter dem Eintrag ›phantastischer Film‹ folgende Definition liefert: Der literarischen Gattungstheorie entlehnte Genrebezeichnung für alle Filme, in denen übernatürliche Vorgänge und Gestalten wesentliche Bestandteile sind. Der große Bereich des phantastischen Films setzt sich zusammen aus den Subgenres: 1) Horrorfilme [...]; 2) Science Fiction Filme [...]; und 3) Fantasy Filme [...].12

Einem maximalistischen13 Ansatz zufolge werden hier alle diejenigen Filme als phantastisch bezeichnet, in deren fiktionaler Realität sich rational nicht erklärbare, allem Anschein nach übernatürliche Dinge zutragen und die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. Der Begriff phantastischer Film dient dabei als ein weitgefasster Oberbegriff für verschiedene Filmgenres, die ausgehend von der Konzeption einer Normrealität ein Paralleluniversum eröffnen, welches entweder in die als realistisch gesetzte Welt einbricht (Horrorfilm) oder aber eine eskapistische Gegenwelt sowie Extrapolation derselben darstellt (Fantasy- und Science Fiction-Film).14 Ein derartiger Begriffsgebrauch als loser Deckmantel für die Genres des Horror-, Fantasy- und Science Fiction-Films hat sich insbesondere in den seit den 1980er Jahren erschienenen, großangelegten Filmgeschichten und Enzyklopädien des phantastischen Films etabliert, wobei die Genregrenzen jedoch diffus verlaufen und das Verhältnis des Phantastischen zu den genannten wunderbaren Filmgenres in der Regel nur unscharf definiert wird.15 Nähert man sich dem Begriff des Phantastischen (von griech. ƶơƵƴơƳƟơ, lat. phantasia) von einem stärker literatur- und kunstwissenschaftlichen Ansatz her, so findet sich auch hier eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen, die trotz der wiederholt geäußerten Kritik an der in diesem Forschungsbereich herrschenden »terminologische[n] Anarchie«16 offenbar _____________ 11 12 13 14 15

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Ebd., S. 77f. Fabienne Will (2007): Art. ›Phantastischer Film‹. In: Reclams Sachlexikon des Films, hrsg. v. Thomas Koebner, 2. akt. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 508–513, S. 508. Zur Differenzierung maximalistischer und minimalistischer Ansätze einer Bestimmung des Phantastischen vgl. Durst 2007, S. 29–47. Vgl. René Prédal (1970): Le cinéma fantastique, Paris, S. 8f. Vgl. hierzu exemplarisch Rolf Giesen (Hrsg.) (1984): Lexikon des phantastischen Films. Horror – Science-fiction – Fantasy, 2 Bde., Frankfurt a. M. et al.; Norbert Stresau/Heinrich Wimmer (1986ff.): Enzyklopädie des phantastischen Films. Filmlexikon, Personenlexikon, Themen, Aspekte – alles über Science-Fiction-, Fantasy-, Horror- und Phantastikfilme, Meitingen sowie Bryan Senn/John Johnson (1992): Fantastic Cinema Subject Guide. A Topical Index to 2500 Horror, Science Fiction and Fantasy Films, McFarland. Vgl. Durst 2007, S. 17–28, hier S. 22.

1. Terminologische Annäherung

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auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Auf einer allgemeinen Ebene stimmen die meisten Ansätze darin überein, das Phantastische als eine Abweichung von der Norm zu sehen, als eine Überschreitung der Grenzen des Vertrauten und Alltäglichen bzw. als einen ›Riss‹ im Gewebe der wissenschaftlichen Sicherheiten (»un accroc dans cette trame des certitudes scientifiques«),17 der bewirkt, dass die rationale Ordnung der Welt sich aufzulösen beginnt und Naturgesetze, die bislang als allgemein gültig und unverrückbar erachtet wurden, in Zweifel gezogen werden müssen. So bestimmt Louis Vax das Phantastische als den »unerklärlichen Einbruch des Übernatürlichen in die Natur« (»l’irruption inexplicable du surnaturel dans la nature«)18 und Roger Caillois liefert in seinem Buch Au cœur du fantastique folgende Definition: Tant le fantastique est rupture de l’ordre reconnu, irruption de l’inadmissible au sein de l’inaltérable légalité quotidienne […].19

Das Phantastische wird dabei explizit zum Modus des Wunderbaren, wie er sich beispielhaft in den Genres des Märchens und der Fantasy präsentiert, hin abgegrenzt: Während das Phantastische aus dem Spannungsverhältnis zweier prinzipiell unvereinbarer fiktiver Welten, einer von rationalen Gesetzmäßigkeiten bestimmten, realistisch gezeichneten Alltagswelt und einer irrationalen, wunderbaren Welt, entsteht, spielt sich das Wunderbare in einer homogenen, oftmals ort- und zeitlosen Sphäre ab, in der in a priori andere Gesetzmäßigkeiten gelten als in der außerfiktionalen Wirklichkeit und in der übernatürliche Ereignisse und Wesenheiten auftreten, ohne dass sich die Frage ihres Realitätsstatus oder ihrer Plausibilität überhaupt stelle. Um noch einmal Caillois zu zitieren: Le féerique est un univers merveilleux qui s’ajoute au monde réel sans lui porter atteinte ni en détruire la cohérence. Le fantastique, au contraire, manifeste un scandale, une déchirure, une irruption insolite, presque insupportable dans le monde réel.20

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18 19 20

Roger Caillois (1966): De la féerie à la science-fiction. L’image fantastique. In: ders.: Images, images... Essais sur le rôle et les pouvoirs de l’imagination, Paris, S. 13–59 [kürzere Erstfassung als Vorwort in: ders. (Hrsg.): Anthologie du fantastique, Paris 1958; dt.: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Phaïcon. Almanach der phantastischen Literatur, Bd. 1, hrsg. v. Rein A. Zondergeld, Frankfurt a. M. 1974, S. 44–83], S. 35. Louis Vax (1960): Kap. ›Le fantastique‹. In: ders.: L’art et la littérature fantastiques, Paris, S. 5–34 [dt. : Die Phantastik. In: Phaïcon. Almanach der phantastischen Literatur, Bd. 1, hrsg. v. Rein A. Zondergeld, Frankfurt a. M. 1974, S. 11–43], S. 5. Roger Caillois (1965): Au cœur du fantastique, Paris, S. 161. (»So ist das Phantastische ein Riss in der anerkannten Ordnung, Einbruch des Unzulässigen inmitten der unveränderlichen, alltäglichen Gesetzmäßigkeit.« Übers. d. Verf.) Caillois 1966, S. 14f. (»Das Märchen ist ein Reich des Wunderbaren, das eine Zugabe zu unserer Alltagswelt ist, ohne sie zu berühren oder ihren Zusammenhang zu zerstören. Das Phantastische dagegen offenbart ein Ärgernis, einen Riß, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt.« Caillois 1974, S. 45).

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I. Definition des phantastischen Films

Über diese verallgemeinernde Sichtweise hinaus divergieren die einzelnen Definitionsansätze jedoch stark. Neben den oben genannten themen- und motivzentrierten Ansätzen einer Bestimmung des Phantastischen in Literatur und Bildender Kunst (Praz 1930, Penzoldt 1952, Vax 1960, Caillois 1965 und 1966, Brittnacher 1994a),21 an die sich später auch die filmwissenschaftlichen Arbeiten mehrheitlich anlehnen, finden sich, zumeist aus der Disziplin der Literaturwissenschaft hervorgegangene, kulturwissenschaftliche und kulturanthropologische Ansätze, die den Schwerpunkt auf die in phantastischen Texten vollzogenen Grenzüberschreitungen und damit verbundene Initiations- und Passagenriten legen (Lachmann 2002, Simonis 2005, Brittnacher 2006)22 sowie sozial- und diskursgeschichtliche Ansätze, deren Hauptanliegen es ist, einzelne Blütephasen des Phantastischen innerhalb des jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Kontextes zu verorten und die dabei sowohl die eskapistischen als auch die subversiven Tendenzen des Phantastischen unterstreichen (Geyrhofer 1971, Fischer 1978/1998, Jackson 1981, Freund 1978 und 1999, Monleón 1990).23 Darüber hinaus existieren vereinzelt auch mediengeschichtliche Ansätze einer Bestimmung des Phantastischen sowie einer ›Literatur des Übernatürlichen‹ (supernatural fiction) im weiteren Sinne, welche den Blick auf die Zusammenhänge zwischen kollektiven Konstruktionen des Imaginären und der Entwicklung neuer Medientechnologien lenken und die den Einbruch des Übernatürlichen in die Literatur des ausgehenden 18. und _____________ 21

22

23

Mario Praz (1963): Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. Vom Autor durchgesehene Übersetzung aus dem Italienischen von Lisa Rüdiger, München [ital. Original: La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Florenz 1930]; Peter Penzoldt (1952): The Supernatural in Fiction, London [Reprint: New York, 1965]; Vax 1960; Caillois 1965 und 1966; Hans Richard Brittnacher (1994a): Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und Künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt a. M. Renate Lachmann (2002): Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a. M.; Annette Simonis (2005): Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres, Heidelberg; Hans Richard Brittnacher (2006): Gescheiterte Initiationen. Anthropologische Dimensionen der literarischen Phantastik. In: Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, hrsg. v. Clemens Ruthner et al., Tübingen, S. 15–29. Friedrich Geyrhofer (1972): Horror und Herrschaft. In: Theorie des Kinos. Ideologie der Traumfabrik, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M., S. 55–61; Jens-Malte Fischer (1978): Deutschsprachige Phantastik zwischen Décadence und Faschismus. In: Phaicon 3, 1978, S. 93–130 [Reprint in: ders.: Literatur zwischen Traum und Wirklichkeit, Wetzlar 1998 (Phantastische Bibliothek), S. 97–131]; Rosemary Jackson (1981): Fantasy. The Literature of Subversion, London; Winfried Freund (1978): Von der Aggression zur Angst. Zur Entwicklung der phantastischen Novellistik in Deutschland. In: Phaïcon. Almanach der phantastischen Literatur, Bd. 3, hrsg. v. Rein A. Zondergeld, Frankfurt a. M., S. 9–3 sowie ders. (1999): Deutsche Phantastik. Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart, München; José B. Monleón (1990): A Specter is Haunting Europe. A Sociohistorical Approach to the Fantastic, New Jersey.

1. Terminologische Annäherung

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19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der sich in diesem Zeitraum drastisch verändernden Medienrealitäten betrachten (Foucault 1964, Milner 1982, Clery 1995, Castle 1995, Dünne 2006).24 Wegweisend für die moderne Phantastik-Theorie und seit längerer Zeit ein Grenzstein, an dem keine ernstzunehmende Untersuchung zur Phantastik mehr vorbeikommt, ist Tzvetan Todorovs 1970 erschienene, strukturalistische Arbeit Introduction à la littérature fantastique. Todorov entwickelt hier ein Modell des Phantastischen, das sich radikal von den ihm vorangegangenen themen- und motivzentrierten Ansätzen unterscheidet, indem es anstelle eines mehr oder weniger gut begrenzbaren Themen- und Motivrepertoires die spezifische Erzählstruktur des phantastischen Textes zum Ausgangspunkt nimmt. Das Phantastische liegt Todorov zufolge in der ›Unschlüssigkeit‹ (hésitation) des impliziten Lesers25 hinsichtlich eines im Text dargestellten, allem Anschein nach übernatürlichen Ereignisses begründet, d. h. in einer Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen rationalen und wunderbaren Deutungsvarianten dieses Ereignisses. Eine derartige Unschlüssigkeit liegt etwa dann vor, wenn eine Geistererscheinung in einem Text sowohl als reales (und damit wunderbares) Ereignis gedeutet werden kann, als auch auf rational begründbare Ursachen, wie z. B. eine Wahrnehmungstäuschung oder einen inszenierten Betrug, zurückgeführt werden kann. Das Phantastische ergibt sich somit stets aus einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen, einander gegenseitig ausschließenden Lesarten der Ereignisse und hat damit einen fundamentalen Zweifel des impliziten Lesers über die Beschaffenheit der fiktiven Welt zur Folge. In seiner bekannt gewordenen Definition verkürzt Todorov dies auf folgende Formel: »Le fantastique c’est l’hésitation éprouvée par

_____________ 24

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Michel Foucault (1994 [1964]): Sans titre. Postface à Flaubert (G.) La tentation de SaintAntoine. Wieder abgedruckt als: Un ›fantastique‹ de bibliothèque [1967]. In: ders.: Dits et écrits 1954–1988, Bd. 1: 1954–1969, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Paris, S. 293– 325; Max Milner (1982): La fantasmagorie. Essai sur l’optique fantastique, Paris; Emma J. Clery (1995): The Rise of Supernatural Fiction, 1762–1800, Cambridge/New York; Terry Castle (1995): Phantasmagoria and the Metaphorics of Modern Reverie. In: dies.: The Female Thermometer. Eighteenth-Century Culture and the Invention of the Uncanny, New York/Oxford, S. 140–167; Jörg Dünne (2006): Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen. Mediale Räume in der phantastischen Literatur. In: Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, hrsg. v. Clemens Ruthner et al., Tübingen, S. 189–208. Todorov verwendet den Begriff des ›impliziten Lesers‹ um zu verdeutlichen, dass er hierbei nicht den konkreten, realen Leser im Blick hat, sondern »eine ›Funktion‹ des Lesens, die im Text impliziert ist.« (Todorov 1972, S. 31.) Zum Begriff des impliziten bzw. abstrakten Lesers sowie analog dazu des abstrakten Autors vgl. Kap. II.2.1.

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I. Definition des phantastischen Films

un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel.«26 Der strukturalistische Ansatz Tzvetan Todorovs wurde in der Folgezeit mehrfach aufgegriffen und weiterentwickelt, wobei an erster Stelle die Arbeiten Marianne Wünschs und Uwe Dursts zu nennen sind. Während Wünsch das Phantastische jedoch in Abhängigkeit eines real existierenden, epochenspezifischen Wirklichkeitsbegriffs bestimmt, geht Durst demgegenüber davon aus, dass die fiktionsexterne Wirklichkeit grundsätzlich nicht zur Bestimmung eines fiktionalen Textes herangezogen werden kann und definiert das Phantastische dementsprechend als den Widerstreit zweier innerliterarischer Realitätssysteme – eines regulären und eines wunderbaren Systems. Das Phantastische basiert auf einem Verfremdungsverfahren, das ein reguläres Realitätssystem durch ein zweites, wunderbares Realitätssystem in Frage stellt. Es ist somit exakt in der Spektrumsmitte lokalisierbar: Hier besteht eine Unschlüssigkeit, eine Ambivalenz, in der sich die Gesetze zweier Realitätssysteme überlagern, gegenseitig bekämpfen und ausschließen. [...] Die Phantastik bildet mithin einen Sonderfall innerhalb der Literatur, denn sie ist das einzige narrative Genre, das kein Realitätssystem besitzt.27

Gemeinsam ist beiden Ansätzen wiederum die Betonung der Narrativität als einer Grundvoraussetzung des Phantastischen: Insofern das Phantastische stets durch den Eintritt eines scheinbar übernatürlichen, unmöglichen Ereignisses in eine prinzipiell mögliche, fiktive Textwelt charakterisiert ist, ist es notwendigerweise auch auf diejenigen Medien und künstlerischen Ausdrucksformen beschränkt, die eine zeitliche Abfolge von Ereignissen darstellen, d. h. die eine Geschichte erzählen.28 Das Phantastische wird bei Wünsch somit als eine narrative Struktur bestimmt, die als solche in verschiedene Texttypen und Medien integriert werden kann. Im Anschluss an diese erste terminologische Annäherung an den Begriff des Phantastischen soll im Folgenden ein Überblick über die Forschungsgeschichte zum phantastischen Film gegeben werden und verschiedene Ansätze vorgestellt werden, die das Phantastische im Film aus _____________ 26 27

28

Todorov 1970, S. 29. (»Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.« Todorov 1972, S. 26.) Durst 2007, S. 116f. Als ›Realitätssystem‹ bezeichnet Durst »die Organisation der Gesetze, die innerhalb einer fiktiven Welt gelten«. (Ebd., S. 93.) Das Phantastische bestimmt er davon ausgehend als ein ›Nichtsystem‹, das sich genau in der Mitte des narrativen Spektrums, zwischen einer Normrealität (reguläres System) und einer Abweichungsrealität (wunderbares System), befindet. So heißt es bei Wünsch: »Wenn aber in jedem Falle die Manifestation eines ›Außer-/Übernatürlichen‹ ein ›Ereignis‹ darstellt, dann konstituiert das Fantastische immer eine narrative Struktur und kann außerhalb einer solchen nicht existieren.« Wünsch 1991, S. 16. Hervorheb. im Original. Vgl. auch Krah/Wünsch 2002, S. 802f.

1. Terminologische Annäherung

15

medienontologischer und motivzentrierter sowie aus narrativ-struktureller Perspektive bestimmen. Neben einer systematischen Aufarbeitung der deutschsprachigen Forschungsliteratur werden dabei insbesondere englischund französischsprachige Arbeiten zum phantastischen Film berücksichtigt, zudem findet neben der Rezeption der im engeren Sinne wissenschaftlichen Forschungsliteratur eine Einbeziehung einzelner populärwissenschaftlicher Darstellungen, Filmgeschichten und Enzyklopädien des phantastischen Films statt.

2. Forschungsüberblick An Literatur zum phantastischen Film besteht, zumindest aus quantitativer Sicht, kein Mangel: Zahlreiche großangelegte Enzyklopädien und Filmgeschichten, filmwissenschaftliche Monographien sowie eine Fülle von stärker populärkulturell ausgerichteten Buchpublikationen, Zeitschriften und Fanmagazinen zeugen von einem fortlaufenden Interesse an dem Thema. Als eine Bezeichnung für eine eigenständige Kategorie von Filmen taucht der Terminus phantastischer Film dabei seit den fünfziger Jahren, zunächst in Frankreich und in den USA auf, seit Anfang der achtziger Jahre wird er auch in Deutschland verstärkt als Oberbegriff für eine Gruppe non-mimetischer, fiktionaler Spielfilme, zumeist aus dem Bereich der Genres des Horror-, des Science Fiction- und des Fantasy-Films, verwendet. Im Gegensatz zu dieser relativ späten engeren Begriffsverwendung setzte die theoretische Auseinandersetzung mit dem Phantastischen als einer ontologischen und ästhetischen Grundkonstante des filmischen Mediums jedoch schon wesentlich früher ein: Im Rahmen der Debatte um die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten des Films waren bereits im frühen 20. Jahrhundert erste filmtheoretische Schriften entstanden, die das eigentliche Potential des neuen Mediums in einer Hinwendung zum Künstlerischen, Artifiziellen, Expressiven, Non-Mimetischen und damit im weitesten Sinne auch ›Phantastischen‹ sahen und die unter dem ästhetischen Eindruck der schwarzweißen, stummen Bildersprache des frühen Films dessen natürliche Affinität zu Themenbereichen des Irrealen und Geisterhaften betonten. Der Film, der das stehende Bild in Bewegung versetzt und dem ein breites Spektrum tricktechnischer Illusionen zur Verfügung steht, erscheint somit von Beginn an als ein ›Medium des Phantastischen‹, das die ungezügeltsten Imaginationen auf der Leinwand Wirklichkeit werden lassen kann und das zudem auf einen reichhaltigen Fundus wunderbarer Themen und Motive aus Literatur und Bildender Kunst zurückgreift und sich diesen einverleibt.

16

I. Definition des phantastischen Films

2.1. Medienontologische und motivzentrierte Definitionen Zu den ersten Theoretikern, die den Film als ein dem Wesen nach ›phantastisches‹ Medium beschrieben hatten, gehört der Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukács.29 In seinem Aufsatz Gedanken zu einer Ästhetik des Kino, der erstmals 1913 in der Frankfurter Zeitung erschienen war, vergleicht Lukács die bewegten Bilder des Films mit den ebenfalls auf lebendiger Bewegung basierenden Darstellungen des Theaters und kommt zu dem Schluss, dass das charakteristische Merkmal des neuen Mediums das »Fehlen der Gegenwart«,30 das Fehlen der leibhaftigen Präsenz der Darsteller ist. Dadurch, schreibt Lukács, werden die »Bilder des ›Kino‹« jedoch »keinesfalls weniger organisch und lebendig wie die der Bühne, sie erhalten nur ein Leben von völlig anderer Art; sie werden – mit einem Wort – phantastisch.«31 Anders als das Theater, das seine Wirkung primär aus dem Hier und Jetzt der handelnden Figuren bezieht, ist der Film durch eine ihm eigene Form der Ort- und Zeitlosigkeit charakterisiert, die es ihm ermöglicht, die Figuren mit ihrem Hintergrund verschmelzen zu lassen und die gesamte Umgebung der Natur sowie die tote Dingwelt in das narrative Geschehen miteinzubeziehen. Auf diese Weise gelingt dem filmischen Medium eine visuelle Umsetzung der Vorstellung von einer ›belebten‹ und ›beseelten‹ Natur, wie sie insbesondere in den phantastischen Erzählungen der Romantiker anzutreffen ist. Im Medium Film erkennt Lukács somit eine grundsätzliche Möglichkeit zur Weiterentwicklung der Darstellungsintentionen der romantisch-phantastischen Literatur: Im ›Kino‹ kann sich alles realisieren, was die Romantik vom Theater – vergebens – erhoffte: äußerste, ungehemmteste Beweglichkeit der Gestalten, das völlige Lebendigwerden des Hintergrundes, der Natur und des Interieurs, der Pflanzen und der Tiere; eine Lebendigkeit aber, die keineswegs an Inhalt und Grenzen des gewöhnlichen Lebens gebunden ist.32

Die von Lukács beschriebene ›phantastische Lebendigkeit‹ des Filmbildes ist wenig später auch ein zentrales Thema von Hugo Münsterbergs 1916 erschienener, filmästhetischer und wahrnehmungspsychologischer Studie The Photoplay, die vielfach als die erste Filmtheorie überhaupt gilt. Münsterberg widerlegt in dieser Studie zunächst die am frühen, oftmals als ›primi_____________ 29 30 31 32

In seinen späteren Arbeiten distanziert sich Lukács allerdings von dieser Sichtweise des Films und lehnt den Avantgardismus und die surrealistische Montage als Verfallsformen ab. Damit positioniert sich Lukács zunehmend auf der Seite eines ›filmischen Realismus‹. Georg Lukács (1984 [1913]): Gedanken zu einer Ästhetik des Kino. In: Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, hrsg. v. Fritz Güttinger, Frankfurt a. M. (Schriftreihe des Deutschen Filmmuseums Frankfurt), S. 195–200, S. 196. Hervorheb. im Original. Ebd. Ebd., S. 197.

2. Forschungsüberblick

17

tiv‹ erachteten Film belegten Vorurteile, Film reproduziere Realität. Zeitgenössische technische Innovationen der sogenannten moving pictures, wie beispielsweise Großaufnahmen, Ortswechsel, Zeitsprünge und Parallelmontagen sowie die sich ständig weiterentwickelnde Tricktechnik werden von ihm als Belege dafür angeführt, dass der Film eine komplett neue, eigenständige Kunstform darstellt – eine Kunstform, deren spezifisches Charakteristikum es ist, Träume zu realisieren und subjektive Imaginationen sichtbar zu machen: »Every dream becomes real, uncanny ghosts appear from nothing and disappear into nothing, mermaids swim through the waves, and little elves climb out of the Easter lilies«,33 so fasst er das Wahrnehmungserlebnis des neuen Mediums zusammen. Darüber hinaus sieht Münsterbergs rezeptionsorientierter Ansatz schließlich auch einen engen Zusammenhang zwischen filmtechnischen Verfahren und Vorgängen der individuellen Erinnerung und Imagination. Der Triumph des Films über Raum, Zeit und Kausalität, so Münsterberg, entspricht in wahrnehmungspsychologischer Hinsicht dem oftmals überraschenden, assoziativen und an keinerlei physikalische Gesetze gebundenen Agieren der menschlichen Vorstellungskraft, wie es in Tagträumen und Erinnerungsprozessen zum Ausdruck kommt. Die filmische Technik, die in der Lage ist, sich beliebig zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft hin- und herzubewegen, sekundenschnelle Ortswechsel durchzuführen und sich über jegliche Logik und Kausalität hinwegzusetzen, bildet Münsterberg zufolge somit weniger die Gesetze der äußeren Realität als die der menschlichen Wahrnehmung und des Bewusstseins ab. In the photoplay our imagination is projected on the screen. [...] The theater can picture only how the real occurrences might follow one another; the photoplay can overcome the interval of the future as well as the interval of the past and slip the day twenty years hence between this minute and the next. In short, it can act as our imagination acts. It has the mobility of our ideas which are not controlled by the physical necessity of outer events but by the psychological laws for the association of ideas. In our mind past and future become intertwined with the present. The photoplay obeys the laws of the mind rather than those of the outer world.34

Die hier zugrundeliegende Vorstellung des Kinos als einem Illusionsapparat, der Phantasien und Tagträume als Wahrnehmungsbilder auf der Leinwand realisiert, zieht sich durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch und kehrt so beispielsweise in den Schriften Hugo von Hofmannsthals (Der Ersatz für die Träume, 1921),35 Edgar Morins (Le cinéma ou l’homme ima_____________ 33 34 35

Hugo Münsterberg (2002 [1916]): The Photoplay. A Psychological Study. In: Hugo Münsterberg on Film. The Photoplay. A Psychological Study and Other Writings, hrsg. v. Allan Langdale, New York/London, S. 45–162, S. 60f. Ebd., S. 91. Hugo von Hofmannsthal (1978 [1921]): Der Ersatz für die Träume. In: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929, hrsg. v. Anton Kaes, Tübingen, S. 149–152.

18

I. Definition des phantastischen Films

ginaire, 1956)36 und Christian Metz’ (Le film de fiction et son spectateur, 1975)37 wieder. Neben den oben skizzierten Ansätzen einer ontologischen und ästhetischen Bestimmung des Films als einem ›Medium des Phantastischen‹ sind es vor allem zwei Arbeiten aus den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, die die Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des phantastischen Films entscheidend geprägt haben: Siegfried Kracauers 1947 in den USA veröffentlichte und erst mit über dreißigjähriger Verspätung auch in einer ungekürzten deutschen Fassung publizierte, sozialpsychologische Filmgeschichte From Caligari to Hitler38 und Lotte Eisners 1952 erstmals in französischer Sprache erschienene, an den kunsthistorischen Methoden der Stilkunde und Stilentwicklung orientierte Studie L’écran démoniaque.39 Beide Arbeiten richten den Fokus auf das Unheimliche, Alptraumhafte und Abgründige im Kino der Weimarer Republik und setzen sich dabei zentral auch mit dem frühen, im weitesten Sinne ›phantastischen‹ Film im Umkreis des deutschen Expressionismus auseinander. Hinsichtlich der Herangehensweise an ihren Untersuchungsgegenstand sowie ihrer Zielrichtung unterscheiden sich die beiden Arbeiten jedoch grundlegend. Das Hauptanliegen Kracauers ist es, den sozialen, politisch-ideologischen und mentalitätsgeschichtlichen Kontext zu umreißen, der in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg eine Stimmung der kollektiven Unsicherheit in Deutschland geschaffen hat, welche sich Kracauer zufolge schließlich im Massenmedium Film in einer verstärkten Hinwendung zu Themenbereichen des Unheimlichen und Phantastischen niedergeschlagen hat. Die Häufung von Schauergestalten und Schreckensvisionen in den Filmen der frühen Weimarer Republik spiegelt nach Kracauer eine kollektive Abkehr von einer rational nicht mehr durchschaubaren Realität wider, eine Flucht in das ›Reich der Seele‹, die schließlich zu einer selbstgewählten politischen Unmündigkeit der Deutschen und zur Machtergreifung Hitlers geführt hat. _____________ 36 37

38 39

Morin 1956. Christian Metz (1975a): Le film de fiction et son spectateur. Êtude métapsychologique. In: Communications, H. 23, Psychoanalyse et cinéma, 1975, S 108–123 [dt.: Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung. In: Psyche 48, 1994, S. 1004–1046; wieder abgedruckt in: ders.: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster 2000, S. 79–111]. Siegfried Kracauer (1979): Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. In: ders.: Schriften, Bd. 2, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M. [engl. Original: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film, Princeton 1947]. Lotte H. Eisner (1955): Dämonische Leinwand. Die Blütezeit des deutschen Films, Wiesbaden [frz. Original: L’écran démoniaque. Les influences de Max Reinhardt et de l’Expressionnisme, Paris 1952].

2. Forschungsüberblick

19

Indem jene [phantastisch-expressionistischen] Filme den Alltag meiden und eine phantastische, vom Ich selbstherrlich herausgesetzte Welt zeigen, regen sie zur Frage an, ob sich nicht das Phantastische auch und gerade im Alltag entdecken lasse. Sie werten dieses Problem nicht nur auf, sondern leiten dadurch unmittelbar zu seiner Lösung hin, daß sie den Menschen in einen imaginären Raum verpflanzen. Seiner Umgebung entrissen, befreit er sich vom Zwang konventioneller Bindungen, und wenn er sich wieder der äußeren Realität zuwendet, hat er die nötige Distanz zu ihr gewonnen [...].40

Während Kracauers Untersuchung von einem mentalitätsgeschichtlichen und sozialpsychologischen Interesse geleitet ist, nähert sich die 1933 von Berlin nach Paris emigrierte Kunsthistorikerin und Filmkritikerin Lotte Eisner dem Medium Film von einem kunstgeschichtlichen Ansatz her. In ihrer Studie zeigt sie auf, wie einzelne Künstler und Literaten, unter ihnen Caspar David Friedrich, Arnold Böcklin, Jean Paul, Novalis und E. T. A. Hoffmann, den visuellen Stil sowie die Themen- und Motivwahl des phantastisch-expressionistischen Stummfilms erheblich beeinflusst und damit für einen auffälligen Fortbestand der Romantik im Kino der frühen Weimarer Republik gesorgt hatten. Ähnlich wie Lukács gelangt sie dabei zu dem Schluss, »daß der phantastische deutsche Stummfilm dieser Zeit im Grunde oft nur als eine Art Weiterentwicklung romantischer Visionen erscheint und daß eine moderne Technik den Imaginationen einer Traumwelt lediglich neue plastische Form verliehen hat.«41 Mit der Zentrierung der Geschichten um ambivalente, doppelgesichtige Figuren sowie mit der Vorliebe für Verwandlungen und Vexierbildverzerrungen aller Art werde im phantastischen Film so die »halbreale Zwischenwelt« der Romantiker wiederbelebt. Es ist jene halbreale Zwischenwelt E. T. A. Hoffmanns, die in den phantastischen deutschen Filmen weiterlebte. Schon die Romantiker haben ihre Freude daran gehabt, ihre skurrilen Geschöpfe einer kompliziert hierarchischen Rangordnung einzufügen, der bürgerlich wohletablierten Gesellschaftsklasse und ihrem minuziösen Räderwerk Phantastisches und Unwahrscheinliches zu untermischen. Man weiß niemals so recht, ob einer dieser Honoratioren, die einen festumrißenen Beruf ausüben und offiziell einen pompösen Titel tragen, nicht zu gleicher Zeit ein den romantischen Gemütern so genehmes Doppelleben führt. Verstecken ein Stadtsekretär, ein Archivar, ein Titularbibliothekar oder gar ein Geheimrat hinter der Maske wohlanständiger Beamter ein paar Überreste von Zauberkünsten, die urplötzlich zum Vorschein kommen können?42

Die verstärkte Hinwendung zu schauerphantastischen Motiven führt Eisner schließlich ebenso wie Kracauer auf die »Mentalität« der Deutschen, _____________ 40 41 42

Kracauer 1979, S. 581. Vgl. hierzu insbesondere Kracauers berühmt gewordene, titelgebende Analyse des Films Das Cabinet des Dr. Caligari. Ebd., S. 67–83. Eisner 1955, S. 54. Ebd., S. 50.

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I. Definition des phantastischen Films

auf eine »den Deutschen eingeborene Zerrissenheit« zurück,43 welche sich insbesondere in diesen krisenhaften Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bemerkbar machte. Für Eisner ebenso wie für Kracauer ist der phantastische Film somit einerseits Ausdruck einer eskapistischen Weltflucht, einer Abwendung von den Problemen der Wirklichkeit, wobei diese (stark vereinfachende) Sichtweise auch die Implikation enthält, der phantastische Film sei reaktionär. Andererseits erkennt Eisner im phantastischen Film jedoch auch gesellschaftskritische und progressive Tendenzen: Ähnlich wie in der romantischen Literatur bilde in den phantastischexpressionistischen Filmen der frühen Weimarer Republik das ›Dämonische‹ einer Person oftmals ein Gegengewicht zum ›Bürgerlich-Soliden‹, würden mit der hier inszenierten Thematik des Doppelgängertums sowie den unheimlichen Metamorphosen der Figuren die Abgründe hinter der Maske bürgerlicher Wohlanständigkeit aufgedeckt. Der phantastische Film, so geht aus Eisners Ansatz hervor, besitzt somit stets auch eine Tendenz zur Erschütterung der bestehenden Ordnungen, eines Hinterfragens gängiger Verhaltensnormen und Etikette und birgt daher im Kern ein subversives Potential. Obwohl die Arbeiten von Eisner und Kracauer insgesamt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Rezeptions- und Forschungsgeschichte des phantastischen Films besessen haben, darf jedoch auch nicht übersehen werden, dass der Terminus ›phantastischer Film‹ hier noch nicht als Bezeichnung für eine eigenständige Kategorie von Filmen dient, sondern demgegenüber eine Art ›Zeitgeist-Phänomen‹ bzw. eine spezifische Tendenz des deutschen Kinos in den frühen Jahren der Weimarer Republik charakterisiert. Der Begriff des Phantastischen wird bei Kracauer und Eisner vorrangig als ein ästhetischer Begriff verwendet, wobei für sie das Phantastische, speziell mit Blick auf das Medium Film als einem populären Massenmedium, stets auch mit einer bestimmten Ideologie korreliert. Die Forschungsgeschichte des phantastischen Films als einer eigenständigen Filmform bzw. als einem ›Genre‹ setzte Ende der fünfziger Jahre, zunächst in Frankreich sowie kurze Zeit später in den USA, ein. Hier waren es zunächst Filmzeitschriften und kleinere Fanmagazine, die sich für das Thema zu interessieren begannen und die unter Oberbegriffen wie cinéma fantastique bzw. cinefantastic Kritiken und Analysen von Filmen aus dem Spektrum des Horror-, Science Fiction- und Fantasyfilms versammelten. Als erste Darstellung eines derartigen ›Genres‹ des phantastischen Films überhaupt gilt die im Juli/August 1957 erschienene, zwanzigste Nummer der französischen Zeitschrift Cinéma 57, die sich mit dem Untertitel Le fantastique auf dem Cover an diverse Fans und Liebha_____________ 43

Eisner 1955, S. 7.

2. Forschungsüberblick

21

ber von Horror-, Science Fiction- und Fantasyfilmen wendete und die unter anderem auch einen Artikel von Lotte Eisner enthält.44 Ein Jahr später kam die erste Ausgabe des populären US-Magazins Famous Monsters of Filmland (1958–1983) heraus, gefolgt von verschiedenen Zeitschriftengründungen in den sechziger und siebziger Jahren, von denen insbesondere die in vierundzwanzig Ausgaben von 1962 bis 1971 erschienene, französische Zeitschrift Midi-minuit fantastique zu nennen ist,45 das französische Magazin L’écran fantastique (seit 1970) sowie die US-amerikanische Zeitschrift Cinefantastique (1970–2000). Die erste Publikation in Buchform, die den phantastischen Film titelgebend untersucht, ist der 1958 erschienene Bildband Le fantastique au cinéma von Michel Laclos, der, ergänzt durch eine Einführung und eine Filmographie, auf über zweihundert Seiten Photographien aus verschiedenen Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Filmen zusammenträgt und kommentiert. In der kurzen Einführung des Bandes geht Laclos zunächst auf die Entstehung des Phantastischen als einer Gegenbewegung zum Rationalitätsprogramm der Aufklärung näher ein, im Anschluss daran gibt er einen weitreichenden Überblick über die Themen- und Motivvielfalt des phantastischen Films: [...] fantômes; zombis; vampires; loups-garous; sirènes; la gamme colorée des métamorphoses avec les femmes-oiseaux et les femmes panthères; Dieu et Diable [...]; le Ciel et l’Enfer, les anges sans distinction de sexe; les sorcières et leurs sabbats; les homoncules et les mandragores; le gigantisme humain ou animal comme le nanisme; l’invisibilité; la lévitation; la pétrification; la résurrection; la réincarnation [...]; le dédoublement de la personnalité; la voyance; la prémonition; l’hallucination (d’ordre religieux ou non) et autres phénomènes métapsychiques; l’onirisme, le Golem; les humanoïdes; les robots; la science-fiction enfin, avec le cortège de ses accessoires: fusées, soucoupes volantes, désintegrateurs portatifs, météores, planètes interdites, galaxies en folie, espaces interstellaires, etc., sans oublier, bien sûr, les bataillons de monstres de tous acabits, martiens ou vénusiens, bellicistes ou pacifistes [...], du règne animal, végétal ou même, oui, minéral.46

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Das Heft ist mittlerweile eine Sammlerrarität, sein Wert wird derzeit mit 1000 bis 1500 US$ angegeben. Die von Eric Losfeld herausgegebene Zeitschrift Midi-minuit fantastique, die in Fankreisen mittlerweile Kultstatus erlangt hat, hat sich erstmals gezielt mit den skandalträchtigen Themen von Gewalt und Erotik im phantastischen Film im weitesten Sinne auseinandergesetzt und hat zudem in verschiedenen Sonderausgaben speziellen Themen, wie beispielsweise die King Kong- und Dracula-Verfilmungen, behandelt. Vgl. Hierzu auch René Prédal (1977): Midi-minuit fantastique. Étude analytique et sémiologique, Nice. Michel Laclos (1958): Le fantastique au cinéma, Paris, S. IVf. (»[...] Phantome; Zombies; Vampire; Werwölfe; Sirenen; die bunte Palette der Metamorphosen mit den Vogel- und Katzenfrauen; Gott und Teufel [...]; Himmel und Hölle, die Engel ohne Geschlechtsunterschied; die Hexen und ihre Sabbate; Homunculi und Alraunen; der menschliche oder tierische Gigantismus sowie der Zwergwuchs; die Unsichtbarkeit; die Levitation; die Versteinerung; die Wiederauferstehung; die Reinkarnation [...]; die Verdopplung der Persönlich-

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I. Definition des phantastischen Films

Einen derartigen weitgefassten, themen- und motivzentrierten Ansatz einer Bestimmung des phantastischen Films vertritt auch Charles Pornon, dessen Band L’écran merveilleux. Le rêve et le fantastique dans le cinéma français 1959 erschien. Das Phantastische (le fantastique) wird von Pornon dabei als ein Teilbereich des Wunderbaren (le merveilleux) definiert, bzw. genauer als dessen unheimliche Variante, die an die archetypischen Urängste des Menschen appelliert. Dabei strebt Pornon jedoch keine scharfe Trennung zwischen dem Phantastischen und dem Wunderbaren an, sondern distanziert sich lediglich zu früheren, medienontologischen Ansätzen, die den Film als ein ›phantastisches Medium‹ per se betrachten: Im Gegensatz zu derartigen weitgefassten Ansätzen, schreibt Pornon, beabsichtige er nur diejenigen Filme zu seinem Untersuchungsgegenstand zu machen, »in denen sich die Magie [...] absichtlich im Traum, im Übernatürlichen, im Irrrealen oder im Surrealen entfaltet« (»dans lesquels la magie [...] s’exhale volontairement du rêve, du surnaturel, de l’irréalisme ou de la surréalité«).47 Seit Beginn der 1970er Jahre entstand eine Reihe von großangelegten, epochen- und motivgeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen zum phantastischen Film, allen voran René Prédals 1970 erschienenes, bis heute als Standardwerk des phantastischen Films rezipiertes Buch Le cinéma fantastique. Prédals Anliegen ist es, einen möglichst umfassenden Blick über die Einflüsse und Reichweite des phantastischen Films zu geben, wobei er sich ausdrücklich gegen eine definitorische Eingrenzung des Begriffs wehrt und, anstatt sich auf ein von ihm selbst nicht näher bestimmtes ›reines‹ Phantastisches (fantastique pur) zu beschränken, auch die Genres des Horrors und der Science Fiction in seine Untersuchung miteinbezieht. Il nous faut donc refuser de définir, c’est-à-dire de classer, de délimiter des champs clos: est fantastique tout ce qui dérange et souvent inquiète, tout ce qui se réfère au rêve plutôt qu’à la réalité, tout ce qui se défie de l’expérience, du raisonnement et de la logique, tout ce qui sort des sentiers battus de la science, qui croit sans voir et sans entendre, qui sent sans toucher, qui voit dans la nuit, prospecte l’inconscient, croit plus aux élans du cœur qu’aux déductions de l’intelligence, tout ce qui ne cherche pas à rassurer, à démontrer.48

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keit; die Hellseherei; die Vorahnung; die Halluzination (religiöser Art oder nicht) und andere metapsychische Phänomene; das Traumgebilde; der Golem; die Androiden; die Roboter; die Science Fiction schließlich, gefolgt von ihrem gesamten Zubehör: Raketen, fliegende Untertassen, tragbare Desintegratoren, Meteore, verbotene Planeten, wahnwitzige Galaxien, interstellare Räume, usw., ohne natürlich die Bataillone von Monstern sämtlicher Charakterisierungen zu vergessen, Marsianer oder Venusianer, Kriegshetzer oder Pazifisten [...], aus Herrschaften des Tier-, Pflanzen- und, ja, selbst des Mineralreichs.« Übers. d. Verf.) Charles Pornon (1959): L’écran merveilleux. Le rêve et le fantastique dans le cinéma français. Introduction de Marcel L’Herbier, Paris Ebd., S. 9. (Übers. d. Verf.) René Prédal (1970): Le cinéma fantastique, Paris, S. 8. (»Wir müssen es also ablehnen zu definieren, das heißt zu klassifizieren und uns auf ein eingezäumtes Feld zu begrenzen: Es ist alles das phantastisch, was verstört und oftmals beunruhigt, alles, was sich stärker auf

2. Forschungsüberblick

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Der Verdienst von Prédals Arbeit liegt im Wesentlichen in der Zusammenstellung einer Fülle von Informationen zu einzelnen Filmen aus dem Bereich von Horror, Science Fiction und Fantasy sowie in der Rekonstruktion einer durchgängigen Traditionslinie wunderbarer Filmformen und -genres, von Méliès und dem deutschen Expressionismus, über die US-amerikanischen Horror- und Science Fiction-Filme der 1930er und 1940er Jahre, bis hin zu den britischen Horror-Filmen der Firma Hammer Film Productions in den 1950er Jahren. Prédals Untersuchung hat damit einen entscheidenden Beitrag zu einer Nobilitierung der lange Zeit als minderwertig erachteten, wunderbaren Filmgenres geleistet; im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist sie jedoch lediglich von marginaler Bedeutung. Während Prédal den phantastischen Film mit Blick auf einzelne filmhistorische Epochen, verwandte bzw. untergeordnete Genres sowie Themen und Motive untersucht, distanziert sich Gérard Lenne in seiner ebenfalls 1970 erschienenen Studie Le cinéma fantastique et ses mythologies von einem derartigen Ansatz. Sein Ziel ist es demgegenüber, Strukturmerkmale des phantastischen Films herauszuarbeiten, die, unter Zurückweisung sämtlicher historischer und unmittelbar thematischer Kriterien, einzig und allein auf einer systematischen Analyse des Ursprungs und der Bedeutung einzelner Mythen für das Genre basieren.49 Dabei gelangt er zur Unterscheidung zweier großer Untergruppen bzw. ›Wege‹ des Phantastischen (»deux voies du ›fantastique‹«), die sich jeweils auf ein ihnen spezifisches Reservoir tradierter Mythen beziehen lassen: Die Gruppe von Filmen, in denen eine Gefahr von außen in die vertraute Welt des Menschen eindringt (»le danger vient d’ailleurs«) und die Gruppe von Filmen, in denen eine Gefahr vom Menschen selbst geschaffen wurde, indem dieser beispielsweise ein widernatürliches Wesen kreiert, welches sich anschließend gegen ihn wendet (»le danger vient de l’homme«).50 Diese beiden Wege des Phantastischen, die Lenne zufolge stets aufeinander bezogen sind und die sozusagen nur zwei Seiten derselben Medaille darstellen, werden exemplarisch anhand der Verfilmungen von Dracula und Frankenstein unter_____________

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den Traum als auf die Realität bezieht, alles, was der Erfahrung, der Vernunft und der Logik misstraut, alles, was die breitgetretenen Pfade der Wissenschaft verlässt, was glaubt ohne zu sehen und zu hören, was fühlt ohne zu berühren, was in der Nacht sieht und das Unbewusste erkundet, mehr an die Schwungkraft des Herzens als an die Schlussfolgerungen der Intelligenz glaubt, alles das, was nicht versucht zu beruhigen, zu beweisen.« Übers. d. Verf.) Gérard Lenne (1970): Le cinéma fantastique et ses mythologies, Paris [Reprint: Paris 1985], S. 61f., hier S. 63. Tzvetan Todorovs ebenfalls 1970 erschienene Introduction à la littérature fantastique, die gemeinhin als erster systematischer Ansatz einer Theorie des Phantastischen gewürdigt wird, konnte nach Aussagen Lennes in seiner eigenen Arbeit leider nicht mehr berücksichtigt werden. Lenne 1970, Anm. 1, S. 6. Ebd., S. 61f.

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I. Definition des phantastischen Films

sucht: Während in Dracula die Gefahr in Gestalt des Vampirs ›von außen‹ in die erzählte Welt als einer durch und durch bürgerlichen Alltagswelt eindringe, gehe demgegenüber in Frankenstein eine destruktive Energie vom Menschen selbst aus, indem dieser ein Monster erschafft, das die erzählte Welt gewissermaßen ›von innen‹ destabilisiere. Obwohl Lennes Arbeit sich in ihrem Bemühen um eine Systematisierung der Begriffe sowie in der Herausarbeitung spezifischer Strukturmerkmale des Phantastischen – Lenne selbst spricht, wie erwähnt, von zwei Wegen (›voies‹) bzw. Bewegungsrichtungen (›directions‹) des Phantastischen – deutlich von der Masse der filmwissenschaftlichen Publikationen zum phantastischen Film abhebt, führt auch sie letztlich nicht zu einer schärferen Definition des phantastischen Films und bietet keine systematische Grundlage zur Differenzierung zwischen dem Phantastischen und seinen angrenzenden Kategorien, wie demgegenüber das strukturalistische Modell Tzvetan Todorovs. Der von Lenne vorgestellte Ansatz, der seinen Ausgangspunkt von den ›großen Mythen‹ des Phantastischen nimmt, d. h. von imaginären Kreationen im kollektiven Bewusstsein, die auf rekurrierenden Themen und Motiven basieren, hat die filmwissenschaftliche Phantastik-Forschung dennoch nicht unerheblich beeinflusst und wurde unter anderem in den Arbeiten von Christian Oddos51 und Georg Seeßlen/Claudius Weil wieder aufgegriffen. Im Anschluss an die genannten Arbeiten aus den 1970er Jahren entstanden in Frankreich in den folgenden Jahrzehnten eine Fülle von Publikationen, die den Schwerpunkt auf filmhistorische Entwicklungen sowie die Zusammenstellung von umfangreichen Themen- und Motivkatalogen des phantastischen Films legen und die durchweg ein weitgefasstes, motivzentriertes Phantastik-Verständnis vertreten. Zu nennen sind hier unter anderem der aufwändig gestaltete, großformatige Bildband Le cinéma fantastique52 von Patrick Brion, der eine Überblicksdarstellung des US-amerikanischen Horror-, Science Fiction- und Fantasykinos im Zeitraum von 1924 bis 1968 liefert, Jean-Louis Leutrats Studie Vie des fantômes. Le fantastique au cinéma,53 die den phantastischen Film innerhalb surrealistischer und modernistischer Strömungen des Films verortet und die unter anderem Filme wie Un chien andalou und L’année dernière à Marienbad für das Genre des Phantastischen reklamiert, Alain Pelosatos Untersuchung Le cinéma fantastique,54 die eine Darstellung einzelner filmhistorischer Epochen, Schauspieler, Regis_____________ 51 52 53 54

Christian Oddos (1977): Le cinéma fantastique. Contribution à une analyse du fantastique à l’écran, Paris. Patrick Brion (1994): Le cinéma fantastique. Les grands classiques Américains: du Monde perdu à 2001: L'odyssée de l'espace, Paris. Jean-Louis Leutrat (1995): Vie des fantômes. Le fantastique au cinéma, Paris. Alain Pelosato (1998): Le cinéma fantastique, Pantin.

2. Forschungsüberblick

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seure und Hauptvertreter des phantastischen Films liefert, sowie der von Laurent Guido herausgegebene Sammelband Les peurs de Hollywood. Phobies sociales dans le cinéma fantastique américain,55 der, aufbauend auf den sozialpsychologischen Ansätzen Siegfried Kracauers und Susan Sontags,56 das USamerikanische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Kino als Ausdruck kollektiver gesellschaftlicher Ängste betrachtet. Blickt man auf die angloamerikanische Forschung zum phantastischen Film, so gestaltet sich die Situation hier ähnlich wie in Frankreich. Zu den ersten, stark populärwissenschaftlich orientierten Darstellungen des phantastischen Films gehört der von Chris Steinbrunner und Burt Goldblatt herausgegebene Bildband Cinema of the Fantastic,57 der Inhaltsangaben und Hintergrundinformationen zu sechzehn Filmen von Méliès’ Le voyage dans la lune bis zu Kubricks 2001 – A Space Odyssey liefert, sowie die beiden 1974 erschienenen Bildbände von David Annan Cinefantastic. Beyond the Dream Machine58 und Tom Hutchinson Horror and Fantasy in the Cinema.59 Während Annan das Phantastische im Film in eine reiche kulturgeschichtliche Tradition einbettet, die von den Monstern und Halbwesen der steinzeitlichen Höhlenmalereien, über antike und fernöstliche Mythen bis zu den Gothic Novels und Schauerromanen des 18. und 19. Jahrhunderts reicht, richtet Hutchinson die Aufmerksamkeit demgegenüber auf die kompensatorische und kathartische Funktion von Horror, Fantasy und Science Fiction, die er als ästhetische ›Ventile‹ einer Auseinandersetzung mit unbewussten und verdrängten Bereichen der menschlichen Psyche betrachtet. Das Phantastische, so die Essenz der beiden Bände, hat es immer schon gegeben, das Medium Film verleiht ihm lediglich eine neue Gestalt. Die Publikationen der folgenden Jahrzehnte schließen sich diesen Überlegungen weitgehend an, wobei genretheoretische und narratologische Fragestellungen grundsätzlich ausgeblendet werden.60 Eine Ausnahme bildet der von James Donald herausgegebene Sammelband Fantasy and the Ci_____________ 55 56 57 58 59 60

Laurent Guido (Hrsg.) (2006): Les peurs de Hollywood. Phobies sociales dans le cinéma fantastique américain, Lausanne. Susan Sontag (1966): The Imagination of Disaster. In: dies.: Against Interpretation and Other Essays, New York, S. 209–225 [dt.: Die Katastrophenphantasie. In: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. v. Mark W. Rien, München 1980, S. 232–247]. Chris Steinbrunner/Burt Goldblatt (1972): Cinema of the Fantastic, New York. David Annan (1974): Cinefantastic. Beyond the Dream Machine, London [Reprint: Cinema of Mystery and Fantasy, London 1984]. Tom Hutchinson (1974): Horror and Fantasy in the Cinema, London. Vgl. beispielsweise George Slusser, Eric S. Rabkin (Hrsg.) (1985): Shadows of the Magic Lamp. Fantasy and Science Fiction in Film, Southern Illinois; Alec Worley (2005): Empires of the Imagination. A Critical Survey of Fantasy Cinema from Georges Méliès to The Lord of The Rings. Mit einem Vorwort von Brian Sibley, McFarland.

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I. Definition des phantastischen Films

nema,61 der verschiedene Theorien und Forschungsbereiche wie Psychoanalyse, Postmoderne-Theorie, Cultural Studies sowie Gender- und Diskurstheorie vereint und der neben Ansätzen, die im weitesten Sinne dem Poststrukturalismus zuzuordnen sind, auch Ansätze einer stärker narrativstrukturell orientierten Betrachtung des phantastischen Films enthält. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang besonders Thomas Elsaessers Aufsatz zur sozialen Mobilität im phantastischen deutschen Stummfilm, in welchem Elsaesser eine sich durch das gesamte frühe phantastische Kino hindurchziehende textuelle Doppelstruktur von gesellschaftlicher Repressivität und einer Wiederkehr verdrängter Aggressionen in Form eines destruktiven Alter Egos der Protagonisten aufzeigt.62 Dabei verweist Elsaesser insbesondere auch auf die spezifische Struktur des phantastischen Diskurses, die er durch Instabilität, Mehrdeutigkeit und Exzess charakterisiert sieht und die sich damit klar von der Erzählstruktur der classical narration abgrenzt. [T]he fantastic film embodies the central characteristic of the German silent cinema, namely the virtual absence of narratives based on action suspense, the preference of composition over montage, the frequent time ellipses and the generally static impression which the films convey. [...] The manifest lack of unambiguous causal links between sequences becomes the very hall-mark of the German cinema [...].63

Was Elsaessers Ansatz insgesamt auszeichnet und für die vorliegende Arbeit interessant macht ist, dass er das Phantastische nicht auf seine soziale Funktion als Abbild oder Indiz einer hinter den textuellen Strukturen zu suchenden, gesellschaftlichen Wirklichkeit reduziert, sondern neben der historischen und sozialpolitischen Dimension stets die Autonomie des Textes gewahrt sieht. Während das Phantastische im französischen und im angloamerikanischen Sprachraum relativ früh als eigenständige filmische Kategorie betrachtet wurde, setzte eine Auseinandersetzung mit dem Begriff phantastischer Film in Deutschland erst Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre ein. Die ersten selbständigen Publikationen zum phantastischen Film sind hier der Band Liebe, Tod und Technik. Kino des Phantastischen 1933–1945 von Kraft Wetzel und Peter A. Hagemann, der den ideologischen Standort des phantastischen Films im Dritten Reich zu bestimmen sucht,64 der Band

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James Donald (Hrsg.) (1989): Fantasy and the Cinema, London. Thomas Elsaesser (1989): Social Mobility and the Fantastic. German Silent Cinema. In: Fantasy and the Cinema, hrsg. v. James Donald, London, S. 23–38. Ebd., S. 29. Kraft Wetzel/Peter A. Hagemann (1977): Liebe, Tod und Technik. Kino des Phantastischen 1933–1945, hrsg. v. der Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin.

2. Forschungsüberblick

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Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films65 von Georg Seeßlen und Claudius Weil, der in der Nachfolge Gérard Lennes die rekurrierenden Mythenstrukturen der Phantastik und des Horrorfilms untersucht,66 sowie Rolf Giesens soziologisch und motivgeschichtlich orientierte Darstellung Der Phantastische Film. Zur Soziologie von Horror, Science Fiction und Fantasy im Kino.67 Aus jüngerer Zeit ist insbesondere die Monographie von Matthias Hurst zu nennen, die sich auf einer allgemeinen Basis mit der Begriffsopposition von Rationalismus und Irrationalismus in den Medien Literatur, Film und Fernsehen auseinandersetzt und die einen weitgefassten, wirkungsästhetischen Phantastik-Begriff vertritt,68 sowie Mihaela Zaharias Untersuchung zur Phantastik in der verfilmten deutschsprachigen Literatur,69 die Einzelfilmanalysen zu phantastischen Literaturadaptionen im weitesten Sinne liefert, wobei theoretischen Fragestellungen zur Phantastik sowie zum Problemfeld der Literaturverfilmung jedoch relativ oberflächlich abgehandelt werden. Darüber hinaus entstanden seit den achtziger Jahren verschiedene Sammelbände, die das Phantastische allgemein als grenzüberschreitendes Phänomen charakterisieren und es als solches in verschiedenen kulturellen und medialen Kontexten – von der Literatur, über die Malerei, die Architektur, den Film, die Musik bis hin zur Werbung – untersuchen.70 _____________ 65 66

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Georg Seeßlen/Claudius Weil (1980): Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films. Mit einer Filmographie von Peter Horn und einer Bibliographie von Jürgen Berger, Hamburg. Das Genre des Horrorfilms wird bei Seeßlen/Weil zum einen über Mythen definiert, d. h. über sich wiederholende, stets um dieselben Themen kreisende Erzählungen, die als eine ästhetische Auseinandersetzung mit menschlichen Urängsten gedeutet werden. Im Zentrum einer derartigen Mythologie des Horrorfilms steht der »Mythos vom Halbwesen, also von einem Wesen, das halb Mensch, halb Tier oder halb lebendig, halb tot oder halb Mensch, halb Dämon ist« (Seeßlen/Weil 1980, S. 9). Den zweiten zentralen Bezugspunkt für ihre Genredefinition bildet die Phantastik, die Seeßlen/Weil zufolge sowohl durch eine eigenständige Bildsprache, als auch durch charakteristische Erzählverfahren, wie z. B. eine begrenzte Perspektive, die Nahsicht auf das Geschehen sowie zeitliche Non-Linearität, gekennzeichnet ist. Rolf Giesen (1980): Der Phantastische Film. Zur Soziologie von Horror, Science Fiction und Fantasy im Kino, Schondorf am Ammersee. Matthias Hurst, (2001): Im Spannungsfeld der Aufklärung. Von Schillers Geisterseher zur TV-Serie The X-Files. Rationalismus und Irrationalismus in Literatur, Film und Fernsehen 1789–1999, Heidelberg [zugl. Univ., Habil.-Schr., Heidelberg 2000]; vgl. insbes. S. 245–255. Mihaela Zaharia (2001): Die andere Wirklichkeit. Phantastik in der verfilmten deutschsprachigen Literatur, Bucureûti (GGR-Beiträge zur Germanistik, Bd. 8). Zu nennen sind hier insbesondere: Christian W. Tomsen/Jens Malte Fischer (Hrsg.) (1980): Phantastik in Literatur und Kunst, Darmstadt; Wolfram Buddecke/Jörg Hienger (Hrsg.) (1987): Phantastik in Literatur und Film. Ein internationales Symposion des Fachbereichs Germanistik der Gesamthochschule-Universität Kassel, Frankfurt a. M. et al. (Kasseler Arbeiten zur Sprache und Literatur, Bd. 17); Dieter Petzold (Hrsg.) (1996): Fantasy in Film und Literatur, Heidelberg (Anglistik & Englischunterricht 59); Hans Krah/

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I. Definition des phantastischen Films

Ein Sammelband aus jüngerer Zeit, der sich gezielt mit dem Medium Film als dem, wie hier behauptet, neuen »Leitmedium für die Fantastik«71 auseinandersetzt, ist der von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus herausgegebene Band Der fantastische Film. Geschichte und Funktion in der Mediengesellschaft. In der Einleitung des Bandes, der nach eigener Aussage »nicht weniger als einen nächsten Schritt in der Fantastikforschung tun [möchte]«,72 entfalten die Herausgeber zunächst eine herbe Kritik an der Todorov’schen Phantastik-Theorie: Den strukturalistischen Ansatz empfinden Jahraus/Neuhaus als »wissenschaftlich unbefriedigend« und werfen ihm vor, »sich an den Textstrukturen ab[zu]arbeiten«, womit letztlich eine »Arbeit an Symptomen, an der Oberfläche der phantastischen Literatur« betrieben würde.73 Demgegenüber beabsichtigen Jahraus/Neuhaus unter Rückbezug auf Renate Lachmanns kulturgeschichtlichen Ansatz »die Fantastik als ein Verfahren der Thematisierung und der Inszenierung, der Repräsentanz ebenso wie der Performanz von Kultur zu rekonstruieren.«74 Problematisch an ihrer Vorgehensweise ist dabei zum einen der völlige Verzicht auf eine definitorische Eingrenzung derjenigen Gruppe von Filmen, die als ›paradigmatisch‹ für unsere Gegenwartskultur angesehen wird _____________

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Claus-Michael Ort (Hrsg.) (2002): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – Realistische Imaginationen?, Kiel; Christine Ivanoviý/Jürgen Lehmann/ Markus May (Hrsg.) (2003): Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, Stuttgart/Weimar sowie Clemens Ruthner/Markus May/Ursula Reber (Hrsg.) (2006): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen. Der zuletzt genannte Band begrenzt sein Untersuchungsfeld zwar im Wesentlichen auf das Medium Literatur, bezieht in einzelnen Beiträgen jedoch auch medienwissenschaftliche Ansätze, die das Verhältnis von Bildender Kunst und Phantastik sowie das Verhältnis von Phantastik und Medialität überhaupt untersuchen, mit ein. Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (2005): Fantastik als Paradigma der Kultur. In: Der fantastische Film. Geschichte und Funktion in der Mediengesellschaft, hrsg. v. Oliver Jahraus/ Stefan Neuhaus, Würzburg, S. 7–12, S. 10. Ebd., S. 9 Ebd., S. 8. Als wissenschaftliche Theorie, die die einzelnen Elemente eines Textes in erster Linie als Manifestationen einer abstrakten, überzeitlichen Struktur betrachtet, sah sich der Strukturalismus wiederholt dem Vorwurf der Ahistorizität sowie der Vernachlässigung individueller Oberflächenphänomene eines Textes zugunsten der darunter liegenden Strukturen ausgesetzt. Die Kritik, die Jahraus/Neuhaus jedoch an Todorovs strukturalistischem Ansatz üben, ist nicht nur unberechtigt, sondern auch falsch: So wird Todorov unter anderem unterstellt, seine strukturale Analyse ginge »[...] in eine psychoanalytische Textinterpretation über, wenn er den Begriff der Angst einführt« und diesen zum Ausgangspunkt seiner weiteren Thesen mache. (Ebd.) Bekanntlich war es jedoch gerade Todorov selbst, der als erster darauf hingewiesen hat, dass die Angst des individuellen Lesers nicht zum Kriterium eines Genres gemacht werden kann: »Si l’on prend [...] que le sentiment de peur doive être trouvé chez le lecteur, il faudrait en déduire [...] que le genre d’un œuvre dépend du sangfroid de son lecteur.« (Todorov 1970, S. 40.) (»Wenn man [...] akzeptiert, daß man beim Leser das Gefühl der Angst feststellen können muß, dann muß man daraus folgern [...], daß die Gattung eines Werkes von der Nervenstärke seiner Leser abhängt.« Todorov 1972, S. 35.) Jahraus/Neuhaus 2005, S. 9.

2. Forschungsüberblick

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sowie einhergehend damit die unpräzise Verwendung der Begriffe Phantastik, Horror, Science Fiction und Fantasy. Zum anderen lässt der Band eine differenzierte Betrachtung der medialen Besonderheiten des Films in Abgrenzung zur Literatur vermissen, welche gerade auch im Hinblick auf die These, das filmische Medium besäße »spezifische Potenziale«75 zur Repräsentation des Phantastischen, wünschenswert wäre. Wie anhand dieses relativ ausführlichen, in Anbetracht des gänzlichen Fehlens einer derartigen Darstellung jedoch als notwendig erachteten Überblicks zur Forschungs- und Definitionsgeschichte des phantastischen Films deutlich wurde, geht die überwiegende Mehrzahl der Publikationen zu dem Thema von einem weitgefassten, medienontologischen und motivzentrierten Verständnis des Phantastischen aus. Die wenigen Arbeiten, die einen Versuch unternehmen, den narrativ-strukturellen Ansatz einer Theorie der phantastischen Literatur für das Medium des Films zu adaptieren – wobei es sich hier durchweg um Einzelaufsätze in Sammelbänden und Filmzeitschriften handelt und nicht um selbständige Publikationen –, lassen sich demgegenüber an einer Hand abzählen und sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. 2.2. Narrativ-strukturelle Definitionen Den ersten, hinsichtlich seines theoretischen Ansatzes wegweisenden Versuch einer narrativ-strukturellen Bestimmung des phantastischen Films unternimmt Mitte der 1970er Jahre Mark Nash in seiner Analyse von Carl Theodor Dreyers Film Vampyr. Der Traum des Allan Gray (Frankreich/ Deutschland 1932).76 Der Aufsatz, der im Rückgriff auf Konzepte der strukturalistischen Linguistik und Erzähltheorie einen frühen Beitrag zur Entwicklung systematischer Kategorien für die Beschreibung filmischen Erzählens leistet, hat in den einschlägigen Standardwerken zur Filmnarratologie wiederkehrend Beachtung gefunden77 – von der filmwissenschaftlichen Phantastik-Forschung dagegen wurde er bislang erstaunlicherweise komplett ignoriert. Aufbauend auf Tzvetan Todorovs Definition der phantastischen Literatur schlägt Nash hier zunächst ein analoges filmisches Genre des ›cinefantastic‹ vor, wobei er in Vampyr die beiden obligatorischen Bedingungen _____________ 75 76 77

Jahraus/Neuhaus 2005, S. 10. Mark Nash (1976): Vampyr and the Fantastic. In: Screen 17/3, S. 29–67. So bei Bordwell 1985, S. 22; Robert Stam/Robert Burgoyne/Sandy Flitterman-Lewis (Hrsg.) (1992): New Vocabularies in Film Semiotics. Structuralism, Post-Structuralism and Beyond, London/New York, S. 106 sowie Nick Lacey (2000): Narrative and Genre. Key Concepts in Media Studies, London, S. 112.

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für das Phantastische nach Todorov erfüllt sieht: Zum einen, so Nash, erzeuge die Erzählstruktur des Films eine konsequente Mehrdeutigkeit hinsichtlich der Frage, ob die unheimlichen, dem rationalen Verstand nach unmöglichen Ereignisse lediglich als Traum des Protagonisten zu deuten seien oder ob sie demgegenüber als reales Geschehen interpretiert werden müssen. Zum anderen ermögliche der Film keine allegorische oder poetische Lesart der Ereignisse im Sinne einer systematischen Doppelinterpretation – obschon der Film derartige Deutungsansätze, so beispielsweise die Deutung der Ereignisse als eine allegorische Suche nach Selbstidentität, wiederholt herausgefordert habe.78 Aufgrund seiner Mehrdeutigkeit sowie des Nicht-Vorhandenseins eines systematisch entschlüsselbaren, sekundären Bedeutungszusammenhangs sei Vampyr somit als ein Beispiel filmischer Phantastik im engeren, Todorov’schen Sinne anzusehen.79 Im Anschluss an diese Bestimmung von Vampyr als einem phantastischen Film analysiert Nash die spezifischen Bedingungen des Aussagens (énonciation) und der Aussage (énoncé), die in dem Film eine Situation der Mehrdeutigkeit erzeugen. Unter Rückgriff auf die von Émile Benveniste entwickelte und von Christian Metz für das Medium Film adaptierte Enunziations-Theorie80 der strukturalistischen Linguistik entwirft Nash ein Modell der Pronominalfunktionen, das zwischen filmischen Einstel_____________ 78 79

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Nash 1976, S. 33. Dieser Ansicht widerspricht Bordwell und sieht den Film als »somewhat unassimilable [...] to the fantastic genre« an, wobei er jedoch – in völligem Missverständnis der Todorov’schen Phantastik-Theorie – gerade die Mehrdeutigkeit sowie das offene Ende von Vampyr als Begründung für diese angebliche Nicht-Zugehörigkeit des Films zum Phantastischen anführt. David Bordwell (1981): Vampyr. In: ders.: The Films of Carl-Theodor Dreyer, Berkeley et al., S. 93–16, S. 95. Gewissermaßen in Ergänzung zu der Saussure’schen Unterscheidung von langue und parole differenziert der Linguist Émile Benveniste bei sprachlichen Äußerungen zwischen dem Akt des Aussagens (énonciation) und dem eigentlichen Text, der aus einer Aussage hervorgeht (énoncé). Die Enunziationstheorie befasst sich in erster Linie mit den von der énonciation hinterlassenen Spuren im énoncé, welche wiederum Rückschlüsse auf die Präsenz eines Erzählers erlauben: Sind ausgeprägte Erzählermarkierungen vorhanden, liegt der Typus des discours vor, fehlen derartige Markierungen und scheinen die Ereignisse sich ›wie von selbst‹ zu erzählen, so handelt es sich um den Typus der histoire. Das Enunziations-Modell Benvenistes wird von der Filmtheorie im Rahmen einer ideologiekritischen Auseinandersetzung mit dem klassischen Hollywood-Kino als einem Kino, das die Spuren seiner Produktion verwischt und dem Zuschauer eine Selbstgesteuertheit des Erzählvorgangs suggeriert, wieder aufgegriffen. In diesem Kontext ist auch Christian Metz’ Aussage zu sehen, ›der Film sei ein als histoire maskierter discours‹. Christian Metz (1975b): Histoire/discours. Note sur deux voyeurismes. In: Langue, discours, societé. Pour Emile Benveniste, hrsg. v. Julia Kristeva et al., Paris, S. 111–120. Die durch Benveniste geprägten, linguistischen Termini histoire und discours sind jedoch nicht mit den gleichnamigen narratologischen Termini, wie sie u. a. in den Erzähltheorien von Todorov und Genette erscheinen, zu verwechseln. Vgl. auch Kap. II.1.1.

2. Forschungsüberblick

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lungen (Shots)81 in der ersten Person und in der dritten Person sowie zwischen Einstellungen mit und ohne auktorialer Markierung differenziert. Subjektive Point-of-View-Shots (›ich‹) sowie deskriptive Shots (›er‹) ohne auktoriale Markierung ordnet er dem Typus der histoire zu, subjektive und deskriptive Shots, die auf die Präsenz eines Erzählers verweisen, dem Typus des discours. Die charakteristische Mehrdeutigkeit des Films, so Nash, gründe sich auf einem permanenten Wechselspiel zwischen subjektiven Point-of-View-Shots, die die Wahrnehmung der Hauptfigur wiedergeben, und solchen Shots, die zwar als subjektiver Point-of-View codiert sind, die jedoch keiner der Figuren innerhalb der Erzählung zugeordnet werden können und die Nash somit als ›falsche‹ Pronomen (»›false‹ pronouns«)82 bezeichnet. Der gezielte Einsatz derartiger ›falscher‹ Pronomen bildet Nash zufolge eines der wesentlichen Strukturmerkmale des phantastischen Erzählens Vampyr, insofern er eine Unschlüssigkeit darüber erzeugt, welches ›Ich‹ sich hinter einem subjektiven Point-of-View jeweils verbirgt. Das Spiel mit Pronominalfunktionen (»the play of pronoun functions«)83 identifiziert Nash somit als ein konstitutives Element phantastischen Erzählens im Film. Der Aufsatz Nashs hat zusammen mit anderen Arbeiten aus dem Umfeld der von Benveniste und Metz entwickelten Enunziationstheorie wichtige Impulse für die Entwicklung filmischer Erzählmodelle geliefert, wobei die hier vorgenommene Eins-zu-eins-Übertragung linguistischer Kategorien auf das Medium des Films insgesamt jedoch als problematisch gilt.84 Hinsichtlich seines Versuchs einer Adaption der Todorov’schen Phantastik-Theorie für das Medium Film sowie der Herausarbeitung spezifischer Diskurstechniken des phantastischen Erzählens im Film kommt Nashs Aufsatz jedoch uneingeschränkt eine Vorreiterrolle zu. _____________ 81

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Unter einer Einstellung (›Shot‹) wird allgemein ein kontinuierlich belichtetes, ungeschnittenes Stück Film verstanden, es handelt sich dabei um die kleinste textuelle Einheit des Films. Demgegenüber bezeichnet die ›Szene‹ eine narrative Einheit, d. h. mehrere Einstellungen, die durch Ort, Handlung oder anwesende Personen verbunden sind. Die ›Sequenz‹ schließlich bezieht sich auf eine Folge von Szenen, die durch inhaltlichen Zusammenhang gekennzeichnet sind. Nash 1976, S. 38. Ebd., S. 34. So hat insbesondere David Bordwell Kritik an Nashs methodischem Ansatz geübt und darauf hingewiesen, dass die grammatikalischen Kategorien der Person, des Tempus und des grammatikalischen Modus im Medium Film keine Entsprechung besitzen, womit auch keine Differenzierung zwischen einer filmischen Ich- und einer Er-Form des Erzählens möglich sei. Aufgrund des Fehlens einer deiktischen Markierung des Erzählten im Film sowie der im Vergleich zu rein verbal-sprachlichen Erzählungen tendentiell geringeren ›Mittelbarkeit‹ des Films sei der Versuch einer Übertragung der Enunziationstheorie auf das filmische Medium prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Bordwell 1985, S. 25.

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I. Definition des phantastischen Films

Mit deutlich geringerem systematischen Anspruch als Nash und auf einer stärker allgemeinen Ebene unterbreitet auch Jens-Malte Fischer in seinem 1978 erschienenen Aufsatz Phantastischer Film und phantastische Literatur den Vorschlag einer Adaption des Todorov’schen Phantastik-Konzepts für den Film. Fischer bemängelt hier zunächst den »desolaten Zustand der bisherigen Auseinandersetzung mit dem phantastischen Film«, dessen Darstellung innerhalb der Filmwissenschaft insgesamt durch ein erhebliches Theoriedefizit gekennzeichnet sei und der, ebenso wie der Science Fiction-Film, »permanent in Gefahr [sei], in der Bewußtlosigkeit der Fan-Zeitschriften zu verkommen.«85 Dementgegen möchte Fischer mit seinem Aufsatz einen Anstoß dazu geben, die literaturwissenschaftliche Diskussion des Phantastischen auch für das Medium des Films fruchtbar zu machen, wobei er die erklärte ›Strenge‹ des von Todorov entwickelten Phantastik-Begriffs als einen »gute[n] Widerpart zu den sich gelegentlich ins Nebelhaft-Unverbindliche verflüchtigenden Ansichten von Caillois, Castex, Vax u.a.« ansieht.86 Weniger streng geht Fischer anschließend jedoch in seiner eigenen Definition des phantastischen Films vor, wenn er sich diesbezüglich wie folgt äußert: Unter dem phantastischen Film verstehe ich einen Streifen, der konstitutiv mit den Mitteln des Märchenhaften, Unheimlichen und Wunderbaren arbeitet. Der Science-Fiction-Film [...] ist ein Sonderfall, den ich als wissenschaftliche Phantastik hier ausklammern möchte.87

Der Begriff ›phantastischer Film‹ wird, entgegen dem von Fischer eingangs unterbreiteten Vorschlag, somit auch hier letztendlich als ein weitgefasster Überbegriff verwendet, wobei Fischer ebenso wie Seeßlen/Weil den Horrorfilm als die wichtigste Subkategorie des phantastischen Films ansieht. Auf dieser weitgefassten, nicht scharf zwischen dem Wunderbaren und dem Phantastischen differenzierenden Phantastik-Definition baut im zweiten Teil des Aufsatzes schließlich auch Fischers Analyse von Roman Polanskis Film Rosemary’s Baby (USA 1968) auf, den er als ein prototypisches Beispiel filmischer Phantastik untersucht. Ein besonderes Augenmerk richtet Fischer dabei auf die Szene von Rosemarys angeblichem ›Traum‹ ihrer Vergewaltigung durch den Teufel, die mit dem entsetzten Schrei der Protagonistin »This is no dream, this is really happening!« endet. »Die Ambiguität zwischen Traum und Wirklichkeit, die Polanski mit _____________ 85

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Jens Malte Fischer (1983): Phantastischer Film und phantastische Literatur. Mit einem Exkurs über Rosemary’s Baby. In: ders.: Filmwissenschaft, Filmgeschichte. Studien zu Welles, Hitchcock, Polanski, Pasolini und Max Steiner, Tübingen, S. 69–106 [Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1978, H. 29, S. 11–39], S. 70. Ebd., S. 81. Ebd.

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diesem Szenenkomplex erreicht«, schreibt Fischer, »ist perfekt.«88 Durch subtile An- und Vorausdeutungen, psychoanalytisch konstruierte Traumkonstituenten sowie die erschreckend ›realistische‹ Inszenierung des Rituals des Satanskultes werde geschickt die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt, wobei die gesamte Palette filmischer Möglichkeiten einer Ambiguisierung des Dargestellten, von Slow Motion-Effekten, über Farbfilter, Überblendungen bis hin zu akustischen Effekten, zum Einsatz komme. Bis zum Schluss würde der Filmzuschauer somit konsequent im Unklaren darüber belassen, ob es sich bei den Geschehnissen des Films (im Sinne Todorovs) um PhantastischUnheimliches handelt, dem eine Schwangerschaftshysterie Rosemary’s zu Grunde liegt oder ob es sich ums Phantastisch-Wunderbare handelt, d. h. daß der Satan wirklich Rosemary geschwängert hat und daß ihre engste Umgebung einschließlich ihres treublickenden, jungenhaften Ehemannes und des väterlichgütigen Dr. Saperstine (der sie als Frauenarzt betreut) mit ihm im Bunde sind [...].89

Obschon Fischers Ausführungen hinsichtlich der Mehrdeutigkeit, die der Film Rosemary’s Baby über weite Strecken aufrecht erhält, fraglos Recht zu geben ist, darf jedoch auch nicht übersehen werden, dass am Ende des Films eine eindeutige Auflösung des Geschehens stattfindet: Bei ihrem angeblich totgeborenen Baby, so erfährt die Protagonistin, handelt es sich um eine Reinkarnation des Teufels, welche ihre scheinbar so fürsorglichen Nachbarn, eine Gruppe von Satanisten, in die Wege geleitet hatten. Mit dieser unzweifelhaften Anerkennung der Existenz des Übernatürlichen in Gestalt des ›Bösen‹ ist Rosemary’s Baby insgesamt der Todorov’schen Kategorie des Wunderbaren zuzurechnen – auch wenn, wie Fischer darlegt, dieses Böse sich hier unter der Maske einer geradezu grotesk wirkenden Alltäglichkeit präsentiert.90 Während Nash und Fischer ihre Überlegungen zum phantastischen Film im Wesentlichen auf der Grundlage der Todorov’schen PhantastikTheorie entwickeln, berufen sich die Arbeiten von Eckhard Pabst und Hans Krah zum Horror- bzw. Endzeitfilm,91 die sich im Rahmen der hier _____________ 88 89 90

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Ebd., S. 97. Ebd., S. 96. Eine differenzierte Neuanalyse von Rosemary’s Baby, die ebenfalls auf das strukturalistische Phantastik-Modell Todorovs zurückgreift und die Frage der Verunsicherung des impliziten Zuschauers bzw. der Destabilisierung in den Mittelpunkt rückt, findet sich in: Matthias Brütsch (2010): Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv, Marburg. Eckhard Pabst (1995): Das Monster als die genrekonstituierende Größe im Horrorfilm. In: Enzyklopädie des phantastischen Films, hrsg. v. Norbert Stresau/Heinrich Wimmer, Meitingen, S. 1–18; Hans Krah (2004): Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom ›Ende‹ in Literatur und Film 1945–1990, Kiel, zur Phantastik s. insbesondere S. 377–387.

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I. Definition des phantastischen Films

untersuchten Genres jeweils auch mit dem Begriff des phantastischen Films auseinandersetzen, zusätzlich auf Marianne Wünschs Modell der Grenzüberschreitung.92 Dem Ansatz Pabsts zufolge bildet die grenzüberschreitende Figur des Monsters, das in die gesetzte Normrealität des Textes eindringt und die herrschenden Ordnungen bedroht, das konstitutive Merkmal des Horrorfilms, welches sämtliche übrigen Genremerkmale determiniert. In Krahs Studie zum Endzeitfilm entspricht dieses grenzüberschreitende Ereignis dem Moment der Katastrophe als einem in der Zukunft situierten, globalen Apokalypseszenario. In beiden Fällen handelt es sich somit um das Auftreten eines außergewöhnlichen, die bestehenden Ordnungen fundamental in Frage stellenden Ereignisses, das in diesem Sinne eine Grenzüberschreitung darstellt. Unterschiedlich wird allerdings das Verhältnis des Phantastischen zu den jeweils untersuchten Genres bewertet: Während Pabst den Horrorfilm im Bereich des Phantastischen verortet, da das Monster hier aufgrund seiner bloßen Existenz im Normalfall bereits eines der »fundamental-ontologischen Basispostulate des Realitätsbegriffs« (Wünsch)93 verletze und damit »das phantastische Element der vorgestellten Welt«94 bilde, grenzt Krah den von ihm untersuchten Endzeitfilm scharf vom Phantastischen ab. Anders als das Phantastische verletze die Katastrophe keine fundamental-ontologischen Basisannahmen der Realität, im Gegenteil sei sie gerade »deren ›konsequentestes‹ Weiterdenken, deren Anwendung.«95 Das Genre des Endzeitfilms steht für Krah somit in Opposition zur Phantastik, in der Situierung des grenzüberschreitenden Ereignisses in der Zukunft sowie in dem Angebot pseudowissenschaftlicher Erklärungen für das Ereignis der Katastrophe sieht er dagegen eine Nähe zur Science Fiction begründet. An dem von Wünsch entwickelten Grenzüberschreitungs-Modell ist schließlich auch Olaf Schwarz’ Aufsatz Zur Funktionalität ›fantastischer‹ Elemente in den Filmen David Lynchs orientiert.96 Am Beispiel von Twin Peaks, Lost Highway und Eraserhead zeigt er auf, inwiefern den von der Normrealität abweichenden, mysteriösen und unerklärlichen Ereignissen hier ein ambiguer Status zukommt, insofern die Ereignisse auf den ersten Blick _____________ 92 93 94 95 96

Wünsch 1991, S. 14f. Das Grenzüberschreitungs-Modell Wünschs geht dabei auf die von Jurij M. Lotman entwickelte Raumsemantik sowie den von ihm präzisierten Begriff des grenzüberschreitenden ›Ereignisses‹ zurück. Vgl. hierzu auch Kap. IV.2. Ebd., S. 19. Hervorheb. im Original. »In aller Regel ist das Monster das phantastische Element der vorgestellten Welt oder aber ist das phantastische Element direkt dem Monster als Eigenschaft eingeschrieben.« Pabst 1995, S. 13. Krah 2004, S. 379. Olaf Schwarz (1998): ›The Owls Are Not What They Seem.‹ Zur Funktionalität ›fantastischer‹ Elemente in den Filmen David Lynchs. In: ›A Strange World‹. Das Universum des David Lynch, hrsg. v. Eckhard Pabst, Kiel, S. 47–68.

2. Forschungsüberblick

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zwar eine rationale, in der Regel eine psychologische Interpretation zu fordern scheinen, diese Lesart bei näherem Hinsehen jedoch nicht aufgeht. Die Eigenart der Filme Lynchs sieht Schwarz in einem permanenten »Oszillieren [...] zwischen unterschiedlichen Deutungsangeboten [...], die eine exklusiv verfahrende Interpretation der Filmtexte nicht nur erschweren, sondern im Grunde unmöglich machen [...].«97 Ein Grundproblem von Schwarz’ Ansatz besteht allerdings, ähnlich wie bei Pabst, darin, dass er das ›grenzüberschreitende Ereignis‹ zum zentralen Kriterium einer Zugehörigkeit eines Films zum Phantastischen macht. Daraus ergibt sich eine Phantastik-Definition, die nicht scharf zwischen dem Phantastischen und dem Wunderbaren differenziert und die als eine Konsequenz davon den Horrorfilm als eine Unterkategorie des phantastischen Films bestimmt.98 Soll das Grenzüberschreitungs-Modell für eine Definition des phantastischen Films in einem engergefassten Sinn herangezogen werden, so ist eine schärfere terminologische Differenzierung, die dem spezifischen Ambiguitätscharakter des Phantastischen Rechnung trägt, notwendig. Insgesamt, so bleibt an dieser Stelle festzuhalten, sind bislang kaum Versuche einer enggefassten, narrativ-strukturellen Modellierung des phantastischen Films unternommen worden. Die wenigen Ansätze, die sich dieser Aufgabe stellen, scheitern zumeist an einer unscharfen begrifflichen Differenzierung zwischen dem Phantastischen und dem Wunderbaren, wodurch der Begriff des Phantastischen hier weitgehend austauschbar mit den Begriffen Horror, Science Fiction und Fantasy wird. Darüber hinaus sind die genannten narrativ-strukturellen Ansätze einer Definition des phantastischen Films im Wesentlichen an den Phänomenen der erzählten Welt interessiert, eine Betrachtung der diskursiven Verfahren des phantastischen Films findet lediglich bei Nash sowie ansatzweise bei Elsaesser statt. Im Folgenden soll die von Tzvetan Todorov am Medium der Literatur entwickelte, narrativ-strukturelle Phantastik-Theorie somit erstmals systematisch für den fiktionalen Spielfilm adaptiert werden, wobei ein

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Ebd., S. 59. So geht Schwarz davon aus, »daß der Klasse des ›Wunderbaren‹ der ›Fantasy‹- und ›Märchen‹-Film zuzurechnen sind, der Klasse des ›Phantastischen‹ vor allem der ›Horror‹-Film sowie grundsätzlich alle diejenigen Filme, in denen realitätsinkompatible Phänomene auftreten und auch als solche intradiegetisch wahrgenommen, d. h. deutlich als von der textspezifischen Weltordnung abweichende markiert werden.« Ebd., S. 49f.

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I. Definition des phantastischen Films

besonderes Augenmerk wird auf die Audiovisualität des filmischen Mediums sowie auf die sich daraus ergebenden spezifischen Bedingungen der Erzeugung von Mehrdeutigkeit im Film gerichtet ist.

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film In seiner Introduction à la littérature fantastique nennt Todorov drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Text als phantastischer Text gelten kann: Zum einen muss ein Angebot verschiedener Erklärungsmöglichkeiten eines dem Anschein nach übernatürlichen Ereignisses bestehen, das eine Ambiguität des Textes sowie damit einhergehend eine Unschlüssigkeit des impliziten Lesers über die Beschaffenheit der fiktiven Welt zur Folge hat. Diese Unschlüssigkeit des Lesers, also der Zweifel darüber, ob die im Text vorgestellte Welt eine natürliche oder eine übernatürliche Welt ist, kann sich zudem auf eine Unschlüssigkeit der handelnden Figuren ausweiten, wobei diese zweite Bedingung jedoch optional ist und nicht notwendig erfüllt sein muss. Die dritte Bedingung für das Phantastische, so Todorov, ist der Ausschluss einer poetischen und allegorischen Lesbarkeit des Textes, d. h. die dargestellten Ereignisse müssen stets als fiktive, eine gedachte Wirklichkeit repräsentierende Ereignisse sowie wörtlich genommen werden. Das Phantastische setzt diesem Ansatz zufolge somit stets voraus, dass die Mehrdeutigkeit und potentielle Wunderbarkeit des Textes zum einen nicht auf eine generelle Referenzlosigkeit des Dargestellten zurückzuführen ist, wie sie insbesondere ein Kennzeichen poetischer, künstlerisch-abstrakter Werke ist, und zum anderen nicht auf einer systematisch konstruierbaren, sekundären Bedeutungsebene als ›uneigentlich‹ aufgelöst werden kann. Die beiden oben genannten obligatorischen Bedingungen für das Phantastische, die Todorov anhand des Mediums der Literatur entwickelt hat, sollen im Folgenden sowohl hinsichtlich der medialen Besonderheiten non-narrativer (Einzel-)Bilder als auch im Hinblick auf das narrative, audiovisuelle Medium des Films neu überdacht und auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden.

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film

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3.1. Ambiguität Die erste Bedingung, die erfüllt sein muss, damit ein Text der Kategorie des Phantastischen zuzurechnen ist, ist nach Todorov die Unschlüssigkeit (hésitation) des Lesers angesichts der Frage, ob die dargestellten Ereignisse einer rationalen Erklärung bedürfen oder ob sie in einen wunderbaren, die Existenz des Übernatürlichen anerkennenden und voraussetzenden Erklärungszusammenhang zu integrieren sind: »D’abord il faut que le texte oblige le lecteur [...] à hésiter entre une explication naturelle et une explication surnaturelle des événements évoqués.«99 Das Phantastische bewegt sich Todorov zufolge somit stets auf einem schmalen Grat zwischen einer Akzeptanz des Übernatürlichen und dessen rationaler Auflösung, beispielsweise als Traum, als eine durch psychische Krisen, Alkohol- oder Drogeneinfluss zustande gekommene Wahrnehmungsirritation oder auch als inszenierte Täuschung und Betrug am Auge des Betrachters. Darüber hinaus kann auch der Zufall als ein rationales Erklärungsmuster für ein scheinbar übernatürliches Geschehen fungieren: Die Welt des Übernatürlichen ist, wie Todorov zeigt, stets eine pandeterministische Welt, d. h. eine Welt, in der sämtliche Ereignisse vorherbestimmt sind und in Verbindung zueinander stehen und in welcher der Zufall somit per definitionem ausgeschlossen ist.100 Den Begriff der hésitation rückt Todorov in den Mittelpunkt seiner Phantastik-Theorie. Einen unvermischt phantastischen Text (le fantastique pur)101 erkennt Todorov dann, wenn der Status der phantastischen Elemente durchgehend ambigue bleibt und der Text dem Leser sowohl eine rationale als auch eine wunderbare Lesart der Ereignisse anbietet bzw. fortlaufend zwischen diesen beiden Lesarten hin- und herpendelt. Tritt jedoch der Fall ein, dass sich der Text bzw. der implizite Leser für eine der beiden Deutungsvarianten entscheidet, verlässt der Text den eigentlichen Bereich des Phantastischen und tritt in eine der benachbarten Textkategorien, in die des Unheimlichen (l’étrange) oder des Wunderbaren (le merveilleux), ein. Le fantastique occupe le temps de cette incertitude; dès qu’on choisit l’une ou l’autre réponse, on quitte le fantastique pour entrer dans un genre voisin, l’étrange

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Todorov 1970, S. 37. (»Zuerst einmal muß der Text den Leser [...] unschlüssig werden lassen angesichts der Frage, ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder übernatürlichen Erklärung bedürfen. Todorov 1972, S. 33.) 100 Ebd., S. 50. 101 Ebd., S. 49.

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I. Definition des phantastischen Films

ou le merveilleux. Le fantastique c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel.102

Das von Todorov entworfene Unschlüssigkeitsmodell ist das erste systematische Modell einer Bestimmung des Phantastischen, insofern es dem bis dahin weitgehend unscharfen und subjektiv geprägten Verständnis des Phantastischen erstmals präzise benennbare und am individuellen Text belegbare, strukturelle Kriterien entgegensetzt. Das Todorov’sche Modell wird aus diesem Grund auch in der vorliegenden Arbeit übernommen, allerdings mit einer Modifikation: Angesichts der Schwierigkeiten, die Todorovs Begriff der hésitation der Phantastik-Forschung bereitet und die daraus resultieren, dass ›Unschlüssigkeit‹ bei Todorov nicht nur eine textstrukturelle Eigenschaft bezeichnet, sondern darüber hinaus auch als eine auf den konkreten Leser ausgerichtete Rezeptionskategorie verstanden werden kann,103 soll von dem Begriff hier stärker Abstand genommen werden. Stattdessen wird der textzentrierte Begriff der Ambiguität als Ausgangspunkt einer Bestimmung des Phantastischen gewählt, wobei das von Shlomith Rimmon entwickelte, enggefasste Ambiguitäts-Konzept, das Ambiguität als Kippspiel mit gleichwertigen, einander gegenseitig ausschließenden Deutungsalternativen bestimmt, zugrunde gelegt wird. Der Begriff der ›Ambiguität‹ (von lat. ambiguus, zweifelhaft), der auf einer allgemeinen Ebene als die »Mehrdeutigkeit eines Textelements oder -aspekts [...] oder des Textganzen«104 gelten kann, wird in der Literaturwissenschaft stark uneinheitlich definiert. So vertreten beispielsweise William Empson, Roman Jakobson und Christoph Bode einen extrem weitgefassten Ambiguitätsbegriff und verstehen hierunter eine generelle Interpretationsoffenheit und Mehrdeutigkeit literarischer Texte. »I pro_____________ 102 Todorov 1970, S. 29. (»Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.« Todorov 1972, S. 26.) 103 Vgl. hierzu die entsprechende Diskussion bei Florian Marzin (1982): Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie, Frankfurt a. M., S. 57; Wörtche 1987, S. 47–49 sowie Durst 2007, S. 121–123. 104 Christoph Bode (1997): Art. ›Ambiguität‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons deutscher Literaturgeschichte, Bd. I: A–G, hrsg. v. Klaus Weimar, Berlin/New York, S. 67–70, S. 67. Von dieser literarischen Ambiguität auf Textebene ist wiederum eine linguistische Ambiguität zu unterscheiden, wie sie durch die Polysemie eines Lexems, Syntagmas oder Satzes sowie durch Homonymie entsteht. Im Gegensatz zur Ambiguität als einer Texteigenschaft wird der aus der Psychologie entlehnte Begriff der Ambivalenz schließlich vornehmlich verwendet, um die »widersprüchliche Anlage, Haltung oder Verhaltensweise einer fiktionalen oder dramatischen Figur zu bezeichnen« (ebd., S. 68), d. h. einen Widerstreit gegensätzlicher Gefühle, wie er sich z. B. im Begriff der ›Hassliebe‹ ausdrückt.

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film

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pose to use the word in an extended sense«, schreibt Empson, »and shall think relevant to my subject any verbal nuance, however slight, which gives room for alternative reactions to the same piece of language.«105 Unter Berufung auf Empson bestimmt auch Roman Jakobson Mehrdeutigkeit als »eine unabdingbare, unveräußerliche Folge jeder in sich selbst zentrierten Mitteilung, kurz eine Grundeigenschaft der Dichtung«.106 Ein ähnlich weitgefasstes Verständnis von Ambiguität vertritt schließlich auch Christoph Bode, der in der Nuanciertheit und Offenheit der Bedeutung ein grundlegendes Merkmal jeder Form von literarischer Kommunikation sieht: »Der literarische Text ist essentiell ambig, die uneigentliche Sprache der Dichtung immer mehrdeutig.«107 Ambiguität bezeichnet bei den genannten Autoren also eine generelle Eigenschaft von Literatur, ist Kennzeichen ihrer Literarizität. Im Gegensatz dazu hat die israelische Literaturwissenschaftlerin und Erzähltheoretikerin Shlomith Rimmon in ihrer Arbeit The Concept of Ambiguity – the Example of James am Beispiel des Erzählwerks Henry James’ ein enggefasstes Theoriemodell literarischer Ambiguität entwickelt, das den Fokus auf die binnentextuellen Verfahren der Erzeugung von Ambiguität als einem Doppelsystem einander gegenseitig ausschließender Deutungsmöglichkeiten in einem Text richtet. Ambiguität in literarischen Texten ist Rimmon zufolge vergleichbar mit dem wahrnehmungsphysiologischen Effekt sogenannter Kippbilder, insofern sie nicht lediglich auf dem gleichzeitigen Vorhandensein mehrerer Bedeutungen innerhalb eines Werkes gründet, sondern zudem eine Inkompatibilität der einzelnen Bedeutungsebenen vorausssetzt. Ähnlich wie bei optischen Kippfiguren, beispielsweise der bekannten Figur des Hasen und der Ente, sieht sich der Rezipient eines ambiguen Textes in einer Art Pattsituation, aus der es keinen Ausweg gibt: Er kann jeweils nur die eine oder die andere Sichtweise der Ereignisse akzeptieren, wobei der Text selbst keinerlei Hinweis auf die Präferenz der einen oder der anderen Lesarten gibt. Ein ambiguer Text erzeugt nach Rimmon somit stets eine unmögliche Situation für den Leser, indem er ihn mit verschiedenen Deutungsangeboten konfrontiert, die einander ge_____________ 105 William Empson (1984 [1930]): Seven Types of Ambiguity, London, S. 3. 106 Roman Jakobson (1979 [1960]): Linguistik und Poetik. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M., S. 83–121, S. 110f. Hervorheb. d. Verf. 107 Bode 1997, S. 67f. Vgl. ders. (1988): Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen [zugl. Univ. Diss, Kiel 1986], hier S. 71. Einen derartig weitgefassten Ambiguitätsbegriff legt auch Thomas Wörtche zugrunde, wenn er Ambiguität der Todorov’schen hésitation entgegenstellt und den Begriff somit nicht auf das Phantastische bezogen wissen will: »Die hésitation liegt eine Stufe tiefer. Sie trifft Aussagen über inner- bzw. binnentextuelle Relationen, die einer Klärung bedürfen, bevor in das eigentliche Geschäft des Interpretierens eingetreten werden kann.« Wörtche 1987, S. 159.

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I. Definition des phantastischen Films

genseitig ausschliessen: »›Ambiguity‹ is the ›conjunction‹ of mutual exclusives [...].«108 Diese Definition von Ambiguität soll im Folgenden auch als Grundlage einer Bestimmung des Phantastischen dienen, wobei das Phantastische insofern als eine Unterklasse bzw. als ein Sonderfall narrativer Ambiguität anzusehen ist, als die Bildung verschiedener, einander gegenseitig ausschließender Hypothesen hier stets auf die Unentscheidbarkeit zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Erklärung des Geschehens hinausläuft.109 Das Phantastische kreist stets um die Frage, ob die Ereignisse in einen natürlichen, d. h. kausalen, oder aber in einen übernatürlichen und somit finalen Erklärungszusammenhang einzubetten sind, ob sie also das Ergebnis einer Ursache-Wirkungs-Kette sind oder demgegenüber Bestandteil eines für den Helden vorherbestimmten Schicksals, einer Fügung oder eines Plans sind.110 In den Bereich der kausalen Erklärungsmöglichkeiten fallen dabei sowohl der inszenierte Betrug als auch nichtintentionale Ursachen, wie z. B. Wahrnehmungstäuschungen oder Koinzidenzen, eine finale Erklärung ergibt sich demgegenüber aus der Annahme einer pandeterministischen Vorherbestimmtheit bzw. eines Wirkens okkulter Kräfte in der erzählten Welt. Die unauflösbare Frage nach der Möglichkeit einer Existenz des Übernatürlichen innerhalb eines diegetischen Universums, das sich zunächst den Anschein gibt, ein gänzlich ›natürliches‹, von Ursache-Wirkungs-Relationen determiniertes Universum zu sein, sowie die sich daraus ergebende oszillative Pendelbewegung des Textes steht somit im Mittelpunkt des phantastischen Erzählens. Vom Sonderbereich des phantastischen Erzählens ist schließlich eine Form der narrativen Ambiguität abzugrenzen, wie sie vor allem im Kontext eines (post-)modernen Erzählens in den Medien Literatur und Film auszumachen ist und die, ebenso wie die Phantastik, ein Kippspiel mit gleichwertigen, einander gegenseitig ausschließenden Deutungsalternativen betreibt, ohne dieses jedoch auf die Frage nach der Existenz des Übernatürlichen zu beziehen. Zwar steht auch bei dieser Form des mehrdeutigen Erzählens der Zweifel an der Verbindlichkeit von fundamentalen Konzepten wie Wahrheit, Wirklichkeit und Identität im Mittelpunkt und es wird, ähnlich wie in der Phantastik, eine Perspektiven-Verwischung von objektiven und subjektiven, verzerrten oder auch die Innenwahrnehmung _____________ 108 Shlomith Rimmon (1977): The Concept of Ambiguity – the Example of James, Chicago/ London [zugl. Univ. Diss., London 1974], S. 13. Rimmon differenziert dabei zusätzlich zwischen verbaler Ambiguität, die die Ebene der sprachlichen Aussagen betrifft, und der eigentlichen narrativen Ambiguität, die eine Stufe darüber anzusiedeln ist. 109 Zur Diskussion des Phantastischen als einer Unterklasse narrativer Ambiguität vgl. auch ebd., S. 54f. 110 Vgl. hierzu bes. die Ausführungen zur ›Motivierung‹ der erzählten Welt in Kap. II.3.1.

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der Figuren wiedergebenden Perspektiven betrieben. Anstelle den Zweifel jedoch auf die realitätssystemischen Verhältnisse des Textes auszuweiten, wird Ambiguität hier als ein Spiel mit verschiedenen Denkmöglichkeiten innerhalb eines regulären, d. h. an der empirischen Wirklichkeit orientierten Realitätssystems inszeniert.111 Ein gutes Beispiel für ein derartiges ambigues Erzählen bietet der Film L’année dernière à Marienbad (Frankreich 1961, Regie: Alain Resnais), der trotz all seiner Mehrdeutigkeit und Unauflösbarkeit kein phantastischer Film ist: So werden zwar auch hier im Verlauf der Erzählung verschiedene, miteinander inkompatible Erklärungsmöglichkeiten für die dargestellten Ereignisse aufgeworfen, indem beispielsweise angedeutet wird, die Protagonisten würden lügen, litten unter Amnesie, seien verrückt oder trieben (aus purer Langeweile oder um ihre Verführungs- und Überredungskünste am anderen Geschlecht unter Beweis zu stellen) ein abgekartetes Spiel miteinander. Im Gegensatz zum phantastischen Erzählen erstreckt sich die Oszillation zwischen verschiedenen Deutungsangeboten hier jedoch nicht auf den Bereich des Irrationalen, d. h. es wird in keinem Moment die Möglichkeit ins Spiel gebracht, es könnten numinose, okkulte Kräfte am Werk sein, die die Ungereimtheiten der Erzählung bewirken. L’année dernière à Marienbad ist nach der hier zugrundegelegten Definition somit zwar ein Beispiel für narrative Ambiguität, jedoch nicht für einen phantastischen Film im engeren Sinne. Das Phantastische, so kann zusammenfassend festgehalten werden, ist stets durch eine (im Folgenden noch näher zu bestimmende) Ambiguität charakterisiert, wobei sich diese Ambiguität per definitionem immer auch auf den mehrdeutigen Status des dem Text zugrundegelegten Realitätssystems bezieht, d. h. auf eine im Text verankerte Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen natürlichen und übernatürlichen Erklärungsangeboten der Ereignisse.112 Eine derartige Distinktion zwischen allgemein ambiguen Texten und phantastischen Texten im engeren Sinne erweist sich allein schon deshalb als notwendig, da sich unter dem Begriff des Phantastischen ansonsten eine ungeheure Vielzahl stark heterogener Texte _____________ 111 Vgl. auch Durst 2007, Anm. 17, S. 185f. 112 Eine entgegengesetzte Meinung vertritt Christine Brooke-Rose, die davon ausgeht, das Kriterium des scheinbar übernatürlichen Ereignisses sei zu vernachlässigen und die sämtliche Texte, die widersprüchliche Lektüremöglichkeiten zulassen, dem Phantastischen zurechnet. Auf diese Weise gelangt Brooke-Rose zu der Schlussfolgerung, die phantastische Literatur sei im Grunde nur eine moderne Weiterentwicklung der mittelalterlichen Allegorie sowie eine historische Vorform moderner Formen ambiguen Erzählens, wie sie sich beispielsweise in den Texten von Alain Robbe-Grillet, Kurt Vonnegut und Joseph McElroy präsentieren: »[...] is not the pure fantastic, with its absolute ambiguity, a (historical) prefiguring of many modern (non-fantastic) texts which can be read on several and often paradoxically contradictory levels, and which would thus be all modern developments of medieval allegory?« Christine Brooke-Rose (1981): A Rhetoric of the Unreal. Studies in Narrative and Structure, Especially of the Fantastic, Cambridge, S. 71.

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I. Definition des phantastischen Films

subsumieren ließe, was, wie auch Uwe Durst anmerkt, eine »unvermeidliche Explosion des Begriffs«113 nach sich ziehen und dessen wissenschaftlichen Nutzen grundsätzlich in Frage stellen würde. 3.1.1. Zur Mehrdeutigkeit von Bildern Mit Blick auf das Medium Film als einem dominant auf der Basis visueller Zeichen Bedeutung produzierenden Zeichensystems stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern das von Rimmon entwickelte Ambiguitäts-Konzept auch auf den Bereich des stehenden (Einzel-)Bildes übertragbar ist, d. h. inwiefern auch Bilder eine oszillative Pendelbewegung zwischen verschiedenen Deutungsvarianten des Dargestellten entfalten können. Auf eine Form der Mehrdeutigkeit von Bildern wurde im vorangegangenen Kapitel bereits kurz eingegangen: Es handelt sich um die von Shlomith Rimmon zur Veranschaulichung ihres Ambiguitäts-Konzeptes herangezogenen Kippbilder, also Bilder, die so konstruiert sind, dass sie spontane, willkürliche oder auch unwillkürliche Wahrnehmungswechsel beim Betrachter auslösen und diesen dazu bringen, wechselweise zwei verschiedene Figuren in ein und demselben Bild zu erkennen. Diese Kippbilder, die mit visuellen Stimuli operieren, welche Prozesse der Wahrnehmungsorganisation gegeneinander in Konflikt setzen und dadurch eine eindeutige ›Lösung‹ im Sinne einer stabilen Wahrnehmung des Gesehenen verhindern, fallen jedoch in die Kategorie der optischen Wahrnehmungsphänomene und werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit daher nicht weiter untersucht.114 Von zentralem Interesse im Hinblick auf eine Analyse der ambiguitätserzeugenden Verfahren im phantastischen Film ist demgegenüber die Frage nach der Möglichkeit einer semantischen Mehrdeutigkeit von Bildern, d. h. nach der Möglichkeit eines Nebeneinanderbestehens mehrerer Interpretationsvarianten eines Bildes, die jeweils gleich stark in dem Abgebildeten angelegt sind, die einander jedoch prinzipiell ausschließen. Die spezifischen Formen und Verfahren der Erzeugung einer derartigen Mehrdeutigkeit im Bereich visueller Darstellungen sollen im Folgenden anhand einzelner Beispiele aus der Bildenden Kunst veranschaulicht werden. Johann Heinrich Füsslis Gemälde Der Nachtmahr (1799/91, 76,5 x 63,5 cm, Öl auf Leinwand, Frankfurter Goethe-Museum)115 wird von der Kunstge_____________ 113 Durst 2007, S. 67. 114 In Kap. I.3.1.3. werden optische Kippbilder allerdings zur Veranschaulichung verschiedener Typen von Ambiguität im Film noch einmal herangezogen. 115 Das Bild Der Nachtmahr existiert in verschiedenen Versionen, die von 1781 bis 1802 entstanden sind. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf die Version von 1790/91, die im Frankfurter Goethe-Museum ausgestellt ist.

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schichte traditionell als phantastische Malerei kategorisiert, wobei diese Zuordnung mit dem Einbruch des Unheimlichen und Übernatürlichen in die abgebildete Szenerie begründet wird: Das Gemälde zeigt eine schlafende weibliche Gestalt, die in einem langen weißen Nachthemd auf einem Bett ausgestreckt liegt, auf ihrer Brust sitzt, halb von der Dunkelheit des Zimmers verborgen, ein sogenannter Alb, ein koboldartiges Wesen mit spitzen Ohren und fellartiger Haut, und im Hintergrund ragt ein heller, geisterhafter Pferdekopf, eine »nächtliche Mähre [...] mit gläsernen Augen«,116 zwischen den Bettvorhängen hervor. Über diese unheimliche, allem Anschein nach übernatürliche Bildmotivik hinaus ließe sich jedoch überlegen, ob das Bild nicht auch in einem engergefassten, strukturellen Sinn als ›phantastische Malerei‹ zu bezeichnen wäre, insofern dem Betrachter hier eine rationale und eine wunderbare Deutungsvariante angeboten wird, ohne dass einer dieser Varianten ein präferierter Status zukommt. So können der Kobold und der Pferdekopf, die hier den in zweifacher Gestalt erscheinenden ›Nachtmahr‹ repräsentieren, zum einen als Traumgestalten gedeutet werden, d. h. als Wesen, die allein in der Vorstellungswelt der Schlafenden existieren. Das Realitätssystem des Bildes wäre damit ein reguläres System, die fiktive Welt des Bildes eine natürliche Welt. Zum anderen kann der Betrachter die abgebildeten Gestalten aber auch als real existierende Wesen deuten. Diesem Deutungsansatz zufolge wäre das Realitätssystem des Bildes ein wunderbares System, die fiktive Welt des Bildes eine übernatürliche Welt. Je nach eingenommenem Betrachterstandpunkt, d. h. je nachdem, ob die dargestellten Ereignisse der subjektiven Innenperspektive der Schlafenden oder einer mehr oder weniger objektiven Außenperspektive zugeordnet werden, vermittelt das Bild unterschiedliche Bildinhalte und kann somit als phantastische Malerei im engeren Sinn bezeichnet werden. Das angeführte Beispiel gehört zu den verhältnismäßig seltenen Beispielen aus der Bildenden Kunst, die im engeren Sinne als ambigue gelten können, insofern hier zwar eine Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen Deutungsvarianten des Bildes besteht, diese Varianten aufgrund der Gegenständlichkeit des Bildes jedoch präzise benannt werden können. Weitaus häufiger finden sich demgegenüber Bilder, in denen eine Mehrdeutigkeit aufgrund der tendenziellen Offenheit, der Abstraktivität und damit auch des mangelnden Referenzbezugs des Dargestellten zustande kommt, wobei in diesen Fällen strenggenommen nicht mehr von Ambiguität gesprochen werden kann.117 Ein Beispiel für diese Form der Offen_____________ 116 Wieland Schmied (1973): Zweihundert Jahre phantastische Malerei, Berlin, S. 109. Zur literarischen Herkunft und Interpretation des Motivs vgl. ebd. 117 Vgl. Rimmon 1977, S. 13. Rimmon differenziert zwischen offenen Texten und Kunstwerken, die durch formale Unbestimmtheit gekennzeichnet sind und die somit eine unendliche,

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heit und Unbestimmtheit bietet William Turners Bild Sunrise with Sea Monsters (1845, 91,5 x 122 cm, Öl auf Leinwand, Tate Gallery, London), das eine stark abstrahierte Seelandschaft in leuchtenden Gelb-, Orange- und Brauntönen darstellt.118 Anders als im Fall des Gemäldes von Füssli sind auf dem Bild von Turner die ›übernatürlichen Wesen‹ jedoch nicht konkret als solche benennbar, die abstrahierende, durch prä-impressionistische Farb- und Formauflösung charakterisierte Darstellungsweise lässt die Frage offen, ob es sich bei den ineinander verschlungenen, sich aufbäumenden Formen in der unteren Bildmitte tatsächlich um die im Titel angekündigten ›Seeungeheuer‹ oder nicht lediglich um sich am Ufer brechende, stürmische Wellen handelt. Die Unentscheidbarkeit zwischen einer rationalen und einer wunderbaren Deutung des Bildes wird hier somit ausschließlich über die Titelgebung erzeugt und ist in der visuellen Darstellung selbst nicht angelegt. Die Frage, ob es sich bei dem Gemälde Turners um phantastische Malerei im engeren Sinne handelt119 kann daher klar mit ›Nein‹ beantwortet werden: Die für das Phantastische charakteristische Ambiguität setzt stets eine Unentscheidbarkeit zwischen präzise benennbaren Bedeutungsalternativen voraus und kann nur auf der Grundlage gegenständlich-realistischer Darstellungskonventionen entstehen. Abstrahierende Darstellungen, die nur ansatzweise oder überhaupt keine Referenzen auf die Wirklichkeit aufweisen, sind vom Phantastischen dagegen grundsätzlich ausgeschlossen.120 Im Bereich der Bildenden Kunst, so kann vorläufig festgehalten werden, finden sich nur relativ wenige Beispiele für Werke, die im engeren Sinne als ambigue sowie, insofern sich diese Ambiguität auf die Unentscheidbarkeit zwischen einer rationalen und einer wunderbaren Deutungsvariante des Bildes erstreckt, als phantastisch gelten können. Wenn über_____________

prinzipiell unabschließbare Vielzahl von Bedeutungsalternativen beinhalten, und im engeren Sinn ambiguen Werken, die durch eine hochgradig bestimmte Form charakterisiert sind und bei denen die Mehrdeutigkeit sich somit auf die Unentscheidbarkeit zwischen zwei oppositionären Teilsystemen gründet: »An ambiguous work […] is characterized by a highly determined form, limiting the text’s plurality by its organization of the data in two opposed systems which leave little room for further ›play‹.« Ebd. 118 Ebenso wie Füsslis Nachtmahr erscheint auch Turners Sunrise with Sea Monsters in verschiedenen kunstgeschichtlichen Bänden zum Thema ›phantastische Malerei‹. Vgl. Schmied 1973, S. 65 (Abb.), S. 434f. sowie Jörg Kirchbaum, Rein A. Zondergeld (1977): DuMont’s kleines Lexikon der Phantastischen Malerei, Köln, S. 182 (Abb.), S. 248. 119 Vgl. hierzu auch Uwe Durst Diskussion des Bildes in der zweiten Auflage seiner Theorie der phantastischen Literatur. Durst geht hier generell davon aus, »daß es sich bei ›phantastischen‹ Momenten außerhalb der Epik um Phänomene handelt, die sich von denen der Literatur grundlegend unterscheiden, weshalb die Anwendung des Begriffs auf Werke der bildenden Kunst bzw. die Definition des Phantastischen als ästhetische Kategorie unzulässig scheint.« Durst 2007, S. 397f. 120 Vgl. auch Krah/Wünsch 2002, S. 804.

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haupt, so sind derartige Werke wohl am ehesten im Kontext der gegenständlichen Kunst der zweiten Hälfte des 18. sowie des 19. Jahrhunderts auszumachen, die dem Betrachter zwar konkret benennbare, wunderbare Gegenwelten zu eröffnen imstande ist, welche sich andererseits jedoch auch nicht mehr vollständig allegorisch dechiffrieren lassen und damit in ihrem Bedeutungsgehalt als ›uneigentlich‹ aufgelöst werden können.121 Zu den verschiedenen darstellungstechnischen und denkgeschichtlichen Voraussetzungen kommt schließlich auch die Schwierigkeit einer visuellen Codierung von Motiven, die eine phantastische Mehrdeutigkeit eines Bildes evozieren, die also dazu beitragen, dass die dargestellte Welt zugleich als eine natürliche und eine übernatürliche Welt gedeutet werden kann. Die phantastische Literatur kennt eine ganze Reihe derartiger Motive, so beispielsweise den Traum, den Wahnsinn, die durch Fieber oder Drogeneinfluss hervorgerufene Halluzination sowie die gesamte Palette der inszenierten Wahrnehmungstäuschungen und des Betrugs am Auge des Betrachters.122 Von allen diesen Motiven hat in der Bildenden Kunst jedoch nur das Traummotiv konventionalisierte und allgemein verständliche Darstellungscodes ausgebildet: Der Traum wird in der Malerei traditionell über eine schlafende Figur verbildlicht oder auch, für den Fall, dass der Träumende ›mit offenen Augen‹ träumt, über die Darstellung einer Schlafstätte, wie etwa eines Bettes, einer Liege, einer Strohmatte, einer Chaiselongue o. ä. Beispiele für derartige visuelle Gestaltungen des Traummotivs bieten neben dem oben angeführten Nachtmar Füsslis unter anderem Francisco de Goyas El sueño de la razón produce monstruos (1799, 15 x 21 cm, Radierung aus der Serie Los Caprichos, Blatt Nr. 43), Moritz von Schwinds Der Traum des Gefangenen (1836, 42 x 53 cm, Öl auf Malpappe, SchackGalerie, München) oder auch Pierre Puvis de Chavannes’ Le rêve (1883, 82 x 102 cm, Öl auf Leinwand, Musée d’Orsay, Paris), wobei zu überlegen wäre, ob die genannten Bilder nach den oben genannten Kriterien nicht auch als phantastische Bilder im engeren Sinne zu bezeichnen sind: So ist der Schlafende bzw. Träumende hier jeweils von verschiedenen (real unmöglichen oder doch zumindest unwahrscheinlichen) monströsen, grotesken sowie feenhaften Wesen umgeben, die ihn zu bedrohen scheinen oder auch als eine Verkörperung verborgener Sehnsüchte gedeutet werden können. Indem jedoch offen bleibt, ob es sich bei diesen wunderbaren Wesen um (in der Welt des Bildes) real existierende Wesen oder lediglich _____________ 121 Vgl. Krah/Wünsch 2002, S. 804. Den Beginn einer phantastischen Kunst datieren Krah/ Wünsch somit auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, ihr vorläufiges Ende sehen sie mit dem Aufkommen non-gegenständlicher Darstellungstechniken in der Moderne gekommen. 122 Vgl. hierzu Kap. II.3.1.

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um Trauminhalte handelt, wird die »Denkmöglichkeit zweier Welten«123 evoziert, das Bild wird prinzipiell ambigue.124 Während es sich bei dem Traummotiv um ein weitgehend konventionalisiertes Bildmotiv handelt, das als solches allgemein verständliche Darstellungscodes herausgebildet hat,125 sind Motive wie Wahnsinn, Fieber oder Halluzination in der Bildenden Kunst demgegenüber weitaus weniger konventionalisiert. Aus diesem Grund ist es hier äußerst schwierig, diese Motive zur Erzeugung einer ›doppelten Welt‹ zu nutzen und so beispielsweise eine Welt darzustellen, die gleichzeitig als schizophrene Halluzination und als real existierende, wunderbare Welt gedeutet werden kann. Im Vergleich zu narrativen Medien wie der Literatur und dem Film besitzen visuelle Darstellungen somit stark eingeschränkte Möglichkeiten der Erzeugung von Mehrdeutigkeit und sind damit auch für das Phantastische nur bedingt prädestiniert. 3.1.2. Der narrative Ansatz Bisher wurde Ambiguität allgemein als ein durch ein Kunstwerk – einen literarischen Text, einen Film oder auch ein Bild – erzeugtes Kippspiel bestimmt, d. h. als eine permanente Oszillation des Werkes zwischen gleichwertigen, einander gegenseitig ausschließenden Deutungsvarianten. Unter Zugrundelegung eines narrativen Ansatzes wird diese Definition von Shlomith Rimmon jedoch noch weiter präzisiert. Mit Blick auf die von den russischen Formalisten entwickelte Differenzierung zwischen fabula und sjužet,126 d. h. der Summe der Ereignisse in ihrem chronologischen und kausalen Zusammenhang einerseits, und der Reihenfolge der Ereignisse, wie sie im Text präsentiert werden, andererseits, entwickelt Rimmon so ihren Begriff der narrativen Ambiguität. Die Mehrdeutigkeit eines Textes führt sie dabei auf eine Koexistenz einander gegenseitig ausschließender fabulas zurück, die durch ein und dasselbe sjužet konstituiert werden: _____________ 123 Krah/Wünsch 2002, S. 804. 124 Eine Auflösung der auf der visuellen Ebene angelegten Ambiguität findet in den genannten Beispielen allerdings auf paratextueller Ebene über die Kennzeichnung des Dargestellten als ›Traum‹ in den jeweiligen Bildtiteln statt. 125 Vgl. hierzu auch verschiedene kunstgeschichtliche Studien zur Tradition des Motivs; z. B. Anne Meckel (1997): Schlaf und Traum in der Kunst. Der Traum als Sujet des Symbolismus im 19. Jahrhundert, Dresden; sowie speziell zum Traum in der phantastischen Malerei: Ursula Bode (1981): Kunst zwischen Traum und Alptraum. Phantastische Malerei im 19. Jahrhundert, Braunschweig. 126 Zur Bestimmung der Begriffe fabula/sjužet sowie der daraus entwickelten strukturalistischen Dichotomie histoire/discours vgl. Kap. II.1.1.

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We can even go further and define narrative ambiguity as the coexistence of mutually exclusive fabulas in one sjužet, a ›constructional homonymity‹ whereby the same surface sjužet derives from exclusively disjunctive fabulas.127

Narrative Ambiguität definiert Rimmon somit als ein Ungleichgewicht zwischen fabula und sjužet: Über die Form der narrativen Präsentation des Geschehens ist es dem Leser bzw. Filmzuschauer nicht möglich, eine in sich schlüssige, kohärente Geschichte zu (re-)konstruieren – das sjužet lässt sich nicht in eine fabula überführen.128 Stattdessen erlaubt das sjužet Rückschlüsse auf mehrere fabulas, die für sich genommen zwar durchaus Sinn ergeben, dabei jedoch miteinander unvereinbar sind. Einem derartigen Ansatz zufolge betrifft die Mehrdeutigkeit eines Textes konsequenterweise nicht nur die Ebene des Dargestellten, sondern ist insbesondere auch das Ergebnis bestimmter diskursiver Verfahren, also der Art und Weise, wie das Dargestellte präsentiert wird. Die Gestaltung des Verhältnisses zwischen verschiedenen Erzählinstanzen, die Perspektivierung des Erzählten ebenso wie dessen raumzeitliche Organisation tragen demzufolge in entscheidender Weise dazu bei, der erzählten Geschichte eine Mehrdeutigkeit zu verleihen. Auf das Phantastische bezogen lässt sich daraus schließlich folgende Definition ableiten: Eine phantastische Erzählung im engeren Sinne liegt dann vor, wenn die narrative Präsentation des Geschehens zu widersprüchlichen Annahmen hinsichtlich des ontologischen Status’ der erzählten Welt führt, wenn also unklar ist, ob es sich um eine nach den üblichen Annahmen über außertextuelle Realität ›realistische‹ Welt oder aber um eine ›wunderbare‹ Welt handelt. Oder anders formuliert: Das Phantastische ist die aus dem Diskurs der Erzählung resultierende Unentscheidbarkeit hinsichtlich des zugrundegelegten Realitätssystems der erzählten Welt. _____________ 127 Rimmon 1977, S. 41. 128 Die Möglichkeit einer Inkongruenz zwischen fabula und sjužet hat erstmals Jurij Tynjanov in seinem Aufsatz Über die Grundlagen des Films diskutiert. Tynjanov unterscheidet hier zwei verschiedene Typen von Erzählungen, die für ihn gewissermaßen einen Normtypus und einen abweichenden Typus verkörpern. Bei dem ersten, ›normalen‹ Typus liegt eine der fabula adäquate Entfaltung des sjužets vor, das sjužet erfüllt hier vorrangig den Zweck, dem Leser/ Filmzuschauer die Geschichte zu veranschaulichen, ihm also möglichst viele Hinweise und Hintergrundinformationen zu liefern, aus denen er eine kohärente Geschichte erschließen kann (Beispiel: klassische Abenteuererzählung). Bei dem zweiten, abweichenden Typus dagegen besteht eine Inkongruenz zwischen fabula und sjužet: Dem Erzählten fehlt die Geschichte als die ›Auflösung‹ der Ereignisse. »Die Fabel ist hier zu erraten, wobei Rätsel und Lösung lediglich die Entfaltung des Sujets motivieren […] Die Fabel fehlt; an ihre Stelle tritt die ›Suche nach der Fabel‹ als ihr Äquivalent, ihr Stellvertreter.« Jurij Tynjanov (2005): Über die Grundlagen des Films. In: Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, hrsg. v. Wolfgang Beilenhoff, Frankfurt a. M., S. 56–85, S. 77. [russ. Original: Ob osnovach kino. In: Poėtika kino, hrsg. v. Boris Ėjchenbaum, Moskva/Leningrad 1927, S. 55–85].

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Auf der Grundlage eines derartigen enggefassten, narrativen Konzepts von Ambiguität ist das Phantastische schließlich auf narrative Medien und Zeichensysteme beschränkt, d. h. auf Medien, die Veränderungen als eine zeitliche Folge von Ereignissen darstellen. Nur in denjenigen Medien, in denen auf diese Weise die Transformation einer Geschichte im Diskurs stattfindet, kann Ambiguität als Inkongruenz zwischen der erzählten Geschichte und der Art und Weise ihrer narrativen Vermittlung entstehen. In non-narrativen Medien wie dem Bild – womit das unbewegte, non-serielle Einzelbild gemeint ist –,129 ist es dagegen nicht möglich, im engeren Sinne ambigue und damit auch phantastische Strukturen auszumachen. Die oben dargelegte Korrelation des Phantastischen mit Narrativität findet sich zwar bereits in früheren Arbeiten zur Phantastik angesprochen, die Begründungen hierfür variieren jedoch und bleiben oftmals im Ansatz stecken. So charakterisiert beispielsweise Marianne Wünsch das Phantastische zwar explizit als eine narrative Struktur,130 äußert sich jedoch nicht näher zu den Kriterien für einen Ausschluss non-narrativer Medien vom Bereich des Phantastischen.131 Ähnlich vage ist in anderen Arbeiten von der ›Zeitgebundenheit‹ des Phantastischen die Rede sowie von der Notwendigkeit eines sukzessiven »Instabil-Werden[s]«132 der erzählten Welt, ohne dass diese Thesen jedoch weiter diskutiert würden. Mit dem hier vorgestellten Ambiguitäts-Begriff soll daher ein erster Versuch einer tragfähigen Begrenzung des Phantastischen auf narrative Medien unternommen werden, wobei das Augenmerk im Wesentlichen auf Literatur und Film als den beiden dominanten Erzählmedien unserer westlichen Kultur gerichtet ist, ebenso aber auch ein Phantastisches in anderen narrativen Medien, wie etwa im Comic, im Computerspiel oder in der Hyperfiktion, denkbar ist.

_____________ 129 Neueren erzähltheoretischen Ansätzen zufolge können zwar auch in Bildern narrative Strukturen ausgemacht werden, dies trifft jedoch lediglich auf serielle Bildtypen, wie z. B. die Glasmalerei und den Comic, zu. Vgl. Werner Wolf (2002): Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hrsg. v. Vera Nünning/Ansgar Nünning, Trier, S. 23–104. 130 Wünsch 1991, S. 14–17. 131 Bei Wünsch heißt es dazu: »Inwieweit es […] eine Fantastik in Skulptur und Malerei im selben Sinne wie in Literatur und Film geben kann, erörtere ich hier nicht; ich vermute, daß ein anderer Fantastik-Begriff als der, den man auf Literatur und Film anwendet, zugrunde liegt, wenn man von fantastischen Werken in diesen Kunstformen spricht.« Ebd., S. 16. 132 Jürgen Lehmann (2003): Phantastik als Schwellen- und Ambivalenzphänomen. In: Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, hrsg. v. Christine Ivanoviý et al., Stuttgart/Weimar, S. 25–39, S. 31.

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3.1.3. Ambiguität im phantastischen Film Im Anschluss an den kleinen Exkurs zu den spezifischen Bedingungen mehrdeutiger Darstellung in der Malerei sowie den Entwurf eines Konzepts von narrativer Ambiguität soll nun die Aufmerksamkeit auf den Film gelenkt werden und der Frage nachgegangen werden, welche Verfahren das filmische Medium zur Erzeugung von Mehrdeutigkeit kennt. Der in dieser Arbeit untersuchte fiktionale Spielfilm zeichnet sich zunächst einmal durch seine Narrativität aus, d. h. durch die Präsentation des Geschehens als zeitliche Sequenz und damit einhergehend durch die zweidimensionale Ausrichtung auf die beiden Ebenen histoire und discours. Zudem sind Spielfilme aufgrund der Ikonizität des filmischen Zeichenmaterials stets durch eine Konkretheit der Darstellung charakterisiert, womit der Fall einer durch Offenheit und Abstraktivität entstehenden Mehrdeutigkeit, die, wie in Kapitel I.3.1.1. am Beispiel abstrakter Malerei gezeigt wurde, jedoch nicht als Ambiguität im engeren Sinne gelten kann, hier grundsätzlich auszuschließen ist. Der narrative fiktionale Spielfilm ist stets gegenständlich und konkret, was bedeutet, dass die hier präsentierte, fiktive Welt zwar deutungsoffen sein kann, die einzelnen Deutungsalternativen dabei jedoch stets präzise benennbar sind. Aufgrund seiner Narrativität und Konkretheit erfüllt der fiktionale Spielfilm somit bereits die beiden grundlegenden Kriterien, um ambigue und damit auch im engeren Sinne phantastische Texte produzieren zu können. Schließlich handelt es sich beim Film aber auch um ein audiovisuelles Medium, d. h. anders als in der Literatur hat man es hier mit mehreren, unterschiedlichen Zeichensystemen und -codes zu tun, die ineinander greifen und aufeinander aufbauen: Bild und Schrift als visuelle Codes stehen im Film Sprache, Geräusch und Musik als auditiv-tonale Codes gegenüber. Der Film arbeitet mit drei verschiedenen Zeichensystemen – Sprache, Bild und Ton – als Trägern des Erzählten, wodurch eine ›Mehrstimmigkeit‹133 entsteht, die die Möglichkeiten des Erzählens grundlegend verändert. Das Ziel der folgenden Kapitel ist es daher, zu zeigen, inwiefern die auf verschiedenen Ebenen angelegten audiovisuellen Codierungen nicht nur das sinnliche Erleben steigern und dem Zuschauer das Erzählte in anschaulicher Weise vermitteln können, sondern in gerade umgekehrter Weise auch als Ausdruck und Träger von Mehrdeutigkeit fungieren können.

_____________ 133 Jens Eder (2009): Zur Spezifik audiovisuellen Erzählens. In: Probleme filmischen Erzählens, hrsg. v. Hannah Birr, Maike Sarah Reinerth, Jan-Noël Thon, Berlin et al., S. 7–31, S. 15.

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a) Bestimmtheit und Unbestimmtheit Im Vergleich von Literatur und Film wird traditionell die ›Bestimmtheit‹ als das spezifische Charakteristikum des Mediums Films hervorgehoben, womit in erster Linie die visuelle Bestimmtheit des Films gemeint ist: Während das Medium Literatur hinsichtlich der visuellen Aspekte der erzählten Welt gänzlich offen bleiben kann und so beispielsweise von einer Figur verallgemeinernd sagen kann, er sei »ein kleiner dürrer Mann [...], in einem Mantel von ganz seltsam bräunlicher Farbe«134 ohne im Folgenden weiter auf die Einzelheiten der sichtbaren Gestalt dieser Figur, wie beispielsweise Haarfarbe, Augenfarbe, Gesichtszüge, Kleidung usw., einzugehen, kann das Medium Film die Präsentation der visuellen Details nicht umgehen, es ist in dieser Hinsicht hochgradig bestimmt. Das Primat der Sichtbarkeit und damit einhergehend die visuelle Bestimmtheit des Films hat in der Vergangenheit wiederholt das Argument für eine vorschnelle und weitgehend undifferenzierte Kritik des filmischen Mediums geliefert, dem vorgeworfen wurde, es würde der individuellen Vorstellungskraft des Rezipienten so gut wie keinen Spielraum lassen und sei im Vergleich zur Literatur daher insgesamt weniger gut zum Erzählen komplexer, mehrschichtiger und mehrdeutiger Geschichten geeignet.135 Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Ausführungen Wolfgang Isers, der im Rahmen seiner Rezeptionsästhetik an dem für diese Zwecke immer wieder gerne herangezogenen Beispiel der Literaturverfilmung darlegt, die optisch wahrnehmbaren Bilder des Films hätten im Gegensatz zu den durch literarische Texten erzeugten Vorstellungsbildern einen »höheren Bestimmtheitsgrad«, wobei es gerade letzterer sei, den man »als Enttäuschung, wenn nicht gar als Verarmung« empfinde.136 Aufgrund ihrer optischen Genauigkeit und ihres Detailreichtums, so Iser, mangele es den Bildern des Films an einer Facettenhaftigkeit und Nuanciertheit der Be_____________ 134 E. T. A. Hoffmann (1996 [1815]): Die Abenteuer der Silvester-Nacht. In: ders.: Fantasieund Nachtstücke. Mit einem Nachwort von Gerhard Neumann, Zürich/Düsseldorf, S. 256– 283, S. 262. 135 Vgl. so etwa Siegfried Kracauer (1967): Kap. ›Zwischenspiel. Film und Roman‹. In: ders.: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M., S. 307–322 [engl. Original: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, New York 1960]; André Bazin (1975): Für ein ›unreines‹ Kino – Plädoyer für die Adaption. In: ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Mit einem Vorwort von Eric Rohmer und einem Nachwort von François Truffaut, hrsg. v. Hartmut Bitomsky et al., Köln, S. 45–67 [frz. Original: Pour un cinéma impure: Défense de l’adaption. In: Qu’est-ce que le cinéma? Bd. II : Le cinéma et les autres arts, Paris 1959]. 136 Wolfgang Iser (1975b): Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive. In: Rezeptionsästhetik, hrsg. v. Rainer Warning, München, S. 253–276, S. 262. Vgl. hierzu auch ders. (1975a): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Warning, S. 228–252.

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deutungen – welche andererseits wiederum charakteristisch für die optisch relativ undeutlichen Vorstellungsbilder, die beim Lesen literarischer Texte entstehen, sei. Die optische Genauigkeit des Filmbildes würde daher »nicht als Zuwachs oder gar als Verbesserung, sondern als Verarmung«137 empfunden. Aus der visuellen Bestimmtheit des Films, den Vorrang, den das konkrete ›Zeigen‹ hier vor der individuellen Imaginierung eines Geschehens zu besitzen scheint, leiten die Untersuchungen zum phantastischen Film schließlich mehrheitlich die Schlussfolgerung ab, das Medium Film sei zur Erzeugung von Ambiguität und damit zum phantastischen Erzählen im engeren Sinne weniger gut geeignet als die Literatur. So schreibt Ann Sirka: Wie in der Literatur muß Phantastik im Kino von einer Spannung des Zweifels und Nichtglauben-Könnens begleitet sein [...]. Ungleich der Literatur ist jedoch die Aufgabe des Filmregisseurs in vieler Hinsicht schwieriger als die des Schriftstellers. Er muß für die Zuschauer ganz konkret visualisieren, was der Autor in vielen Fällen nur anzutippen brauchte.138

Ebenso vertritt auch Anette Kaufmann die Meinung, im Film sei es im Gegensatz zur Literatur ungleich schwieriger, eine Situation der Mehrdeutigkeit und des phantastischen Zweifels zu schaffen: Bilder und Geräusche, vom Zuschauer aktuell und unmittelbar rezipiert, lassen zunächst wenig(er) Zweifel zu, denn der Zuschauer muss – anders als der Leser – auch seine eigene Wahrnehmung in Zweifel ziehen. Er muss die Bilder in Frage stellen und die sinnlich erfassten Vorgänge als Phantasie-Gebilde zurück in die Gedanken-Welt transferieren. Der fundamentale Zweifel am Realitäts-Gehalt bzw. der Zugehörigkeit der Bilder lässt sich im Film nur mit Schwierigkeiten aufrechterhalten [...].139

Und auch Elfriede Ledig geht von der Annahme aus, die visuelle Bestimmtheit des Films verhindere generell die Möglichkeit einer Relativierung des Gezeigten: Filme evozieren zwar [...] vielfältige Relativierungsmechanismen; das ›übernatürliche Ereignis‹ ist aber mit einer ›direkten‹ Signifikation korreliert, d. h. im Moment der Visualisierung ist ein Ereignis ›übernatürlich‹.140

_____________ 137 Ebd., S. 263. 138 Ann Sirka (1980): Überlegungen zum phantastischen Film am Beispiel von Stanley Kubricks A Clockwork Orange. In: Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. v. Christian W. Tomsen/Jens Malte Fischer, Darmstadt, S. 492–513, S. 494. 139 Anette Kaufmann (1987): Risse in der Film-Realität: Träume, Halluzinationen, Wahnvorstellungen. In: Phantastik in Literatur und Film. Ein internationales Symposion des Fachbereichs Germanistik der Gesamthochschule-Universität Kassel, hrsg. v. Wolfram Buddecke/Jörg Hienger, Frankfurt a. M. et al., S. 119–140, S. 121. 140 Elfriede Ledig (1989): Paul Wegeners Golem-Filme im Kontext fantastischer Literatur. Grundfragen zur Gattungsproblematik fantastischen Erzählens, München, S. 328f.

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Diese weit verbreitete, zumeist im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medium Film vertretene Auffassung, die für das Phantastische charakteristische Ambiguität sei mit filmischen Mitteln nur schwer zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, ist im Folgenden grundsätzlich zu revidieren. Zunächst einmal ist dem entgegenzusetzen, dass das Medium Film zwar hinsichtlich der visuellen Beschaffenheit der erzählten Welt hochgradig bestimmt ist, im Hinblick auf den gesamten Bereich des Mentalen, die Gedankenwelt der Figuren sowie deren gesamtes psychisches Innenleben, jedoch gänzlich unbestimmt bleiben kann. Während im Medium der Literatur den Gedanken und Gefühlen der Figuren im Allgemeinen sehr viel Platz eingeräumt wird – Formen modernistischen Erzählens wie die sogenannte Camera Eye-Technik einmal ausgenommen –, können im Film die Vorgänge ›in den Köpfen‹ der Figuren im Normalfall nur über Äußerlichkeiten wie den Gesichtsausdruck, das Gesagte oder Handlungen erschlossen werden.141 Diese Unbestimmtheit des Films im Bereich des Mentalen liefert zum einen starke Anreize zu einer Komplettierung der ›Leerstellen‹ des filmischen Textes, zum anderen kann sich daraus auch eine besonders differenzierte und nuancierte Darstellung mentaler Vorgänge ergeben. Ein gutes Beispiel hierfür liefert Michelangelo Antonionis Film L’avventura (Italien 1960), der dem Zuschauer so gut wie keine Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten gewährt und der über seine sparsam eingesetzten, wortkargen Dialoge nur selten einen Hinweis darauf gibt, was ›in den Köpfen‹ der Protagonisten vorgeht. Mittels eines raffinierten Spiels von Kameraeinstellungen und -perspektiven, ungewöhnlichen Raumkompositionen sowie langen, sich oft über das eigentliche Ende einer Szene hinausziehenden und gewissermaßen bei den Figuren ›verweilenden‹ Schnittfolgen werden Gedanken und Gefühle hier jedoch nach außen transportiert und als ›Seelenlandschaft‹ sichtbar gemacht. Im Film können diejenigen Vorgänge, die sich in den Köpfen der Figuren abspielen, schließlich jedoch nicht nur ausgeblendet, sondern im Gegenteil auch konkret sichtbar gemacht werden, wobei das dominant mit visuellem Zeichenmaterial arbeitende Medium Film abermals hochgradig unbestimmt hinsichtlich des Gezeigten bleiben kann: Der Film kennt keine Verben wie ›denken‹, ›erinnern‹ oder ›träumen‹ bzw. äquivalente filmische Denotationsverfahren, mittels derer mentale Prozesse präzise bestimmt werden können bzw. müssen. Dementsprechend können die Vorgänge in den Köpfen der Figuren im Film zwar als Bilder gezeigt werden, hinsichtlich ihres Realitätsstatus’ zugleich jedoch gänzlich unbestimmt be_____________ 141 Vgl. Seymour Chatman (1980 [1978]): Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca/London, S. 30.

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lassen werden. So ist das Medium Film nicht gezwungen, sich darauf festzulegen, ob es sich bei einer gezeigten Szene um real stattfindende Vorgänge handelt, oder aber demgegenüber lediglich um eine subjektive Projektion, also beispielsweise um Erinnerungen, Träume, Phantasien, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen der jeweiligen handelnden Figuren. Ebenso kann unbestimmt gelassen werden, ob es sich bei denjenigen Szenen, die klar als mentale Vorgänge markiert sind (d. h., die beispielsweise durch Überblendungen, Farbveränderungen, einen Wechsel der Lichtverhältnisse oder auch Musik einen Wechsel der Bewusstseinsebene anzeigen) um Erinnerungen handelt, also um Vorgänge, die auf realen Erlebnissen der Figuren basieren, oder aber um gänzlich irreale Traumund Phantasieszenen. Insofern das Medium Film flexibel zwischen den Vorgängen der Außenwelt und denen der subjektiven Innenwelten der Figuren hin- und herschalten kann sowie in der Lage ist, mentale Vorgänge darzustellen, ohne sich dabei sprachlich auf den Status der gezeigten Vorgänge (etwa durch einleitende Sätze wie »Er träumte...«, »Er erinnerte sich...« usw.) festlegen zu müssen, ist es hochgradig unbestimmt. b) Drei Beispiele für Ambiguität im phantastischen Film Als erstes Beispiel für einen Film, der sich konsequent in einer Grauzone der Ambiguität bewegt, soll George A. Romeros Film Martin (USA 1978) dienen, der zugleich ein Beispiel für einen phantastischen Film im engeren Sinne ist. Die Hauptfigur des Films, Martin, ist ein in einer US-amerikanischen Vorstadt aufwachsender Teenager, der davon überzeugt ist ein Vampir zu sein, dabei jedoch alle bekannten Vorurteile über Vampire gründlich widerlegt: Seine Opfer saugt er nicht mit spitzen Eckzähnen aus, sondern benutzt ein dafür eigens zusammengestelltes Set aus Betäubungsspritzen und Rasierklingen, Knoblauch und Kreuze scheut er ebensowenig wie das Tageslicht und auch ansonsten steht er allem Aberglauben äußerst skeptisch gegenüber – »Things only seem to be magic. There is no real magic... ever.«142 Lässt diese moderne und äußerst pragmatische Form des praktizierten Vampirismus bereits erste Zweifel darüber aufkommen, ob Martin tatsächlich ein Wesen mit übernatürlichen Kräften ist, so wird diese Ungewissheit im Folgenden durch wiederholte Einblicke in die subjektive Vorstellungswelt des Protagonisten noch verstärkt: Reale und mentale Bilder durchdringen einander in dem Film wechselseitig, wodurch es letztendlich unmöglich wird, eindeutig zu bestimmen, zu welchem Anteil _____________ 142 Martin (USA 1978, Regie: George A. Romero, DVD-Fassung Capelight Pictures 2005, 91 Min.), Min. 0:23:02.

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sich Martins Vampir-Eskapaden tatsächlich in der Realität abspielen und wieviel davon seiner blühenden Phantasie entspringt. Die Anfangssequenz des Films zeigt Martin auf der Reise nach Braddock, einem trostlosen Vorort der Industriestadt Pittsburgh/Pennsylvania, wo er nach dem Tod seines Vormunds künftig bei seinem Cousin Cuda und dessen Enkelin Christine wohnen wird. Auf seiner Reise bricht Martin nachts in ein Schlafwagenabteil des Zuges ein und überfällt dort eine junge Frau indem er ihr ein Betäubungsmittel injiziert und sie anschliessend vergewaltigt, während er ihr das Blut aus den Pulsadern saugt. In diese extrem brutale und explizite Vergewaltigungsszene, die wie der Großteil des Films in Farbe gedreht ist, sind einzelne Bruchstücke von ästhetisierenden Schwarzweiß-Aufnahmen montiert, die dieselbe junge Frau in einem langen weißen Nachthemd zeigen, die die Arme sehnsüchtigerwartungsvoll nach Martin ausstreckt (Abb. 1–8). Derartige Schwarzweiß-Szenen, die offensichtlich Vorgänge wiedergeben, die sich im Kopf des Protagonisten abspielen, werden im Folgenden immer wieder in den Handlungsverlauf hineinmontiert, so beispielsweise auch in der Szene der Ankunft Martins im Hause seines Cousins Cuda, eines rund sechzigjährigen, erzkatholischen rumänischen Auswanderers, der davon überzeugt ist, dass Martin ein Vampir ist und der nach eigener Aussage beabsichtigt, den jungen Mann zu exorzieren. So begrüßt Cuda Martin gleich bei dessen Ankunft mit den drohenden Worten: »Nosferatu! Vampire! First I will save your soul, then I will destroy you«, gefolgt von einem lapidaren »I will show you your room«.143 Während Martin noch durch die Räume des mit Kreuzen und Madonnenstatuen dekorierten Hauses wandert und von Cuda Instruktionen erhält (»You may come and go, but you will not take people from the city. If I hear of it, a single time, I will destroy you without salvation«) mischen sich in seine Wahrnehmung blitzlichtartig in Schwarzweiß gefilmte Gedankenbilder, die Szenen einer Exorzierung des offenbar um einige Jahre jüngeren Protagonisten durch einen katholischen Priester zeigen (Abb. 9–16).144 Auf ähnliche Weise erscheinen später Schwarzweiß-Szenen innerhalb des Handlungsverlaufs, in denen gezeigt wird, wie Martin durch die labyrinthischen Gänge einer Burg zum Schlafgemach eines jungen Mädchens eilt, das ihn sehnsüchtig erwartet, sowie Szenen, in denen Martin nachts in einem Dorf vor einem wütenden, fackeltragenden Mob flieht. Der Status dieser Schwarzweiß-Szenen, die stets in einem Analogieverhältnis zu den jeweiligen realen Lebensumständen Martins stehen, bleibt den gesamten Film hindurch jedoch konsequent mehrdeutig: Es wird an keiner Stelle geklärt, ob es sich bei diesen Szenen _____________ 143 Martin, Min. 0:14:24–0:14:52. 144 Ebd., Min. 0:15:52–0:17:06.

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film

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um plötzlich aufflammende Erinnerungen handelt, die auf realen Erlebnissen des Protagonisten basieren – was bedeuten würde, dass Martin, wie er selbst und Cuda glauben, tatsächlich ein 84-jähriger Vampir ist, der im vergangenen Jahrhundert auf einer transsilvanischen Burg gelebt hat – oder aber um gänzlich irreale Wunsch- bzw. Angstphantasien eines übersensiblen, sexuell gestörten Teenagers. Nicht nur diese Bilder aus der Erinnerungs- bzw. Vorstellungswelt des Protagonisten, sondern auch die zunächst allem Anschein nach äußerst ›realen‹ Sexualmorde bleiben letztendlich in einer Grauzone der Unbestimmtheit. Letztere sind zwar nicht explizit als mentale Vorgänge markiert, der extreme Kontrast zwischen diesen brutalen Szenen einerseits und den zärtlich-liebevollen Szenen von Martins schüchternem ersten ›richtigen‹ Liebesverhältnis mit der unglücklich verheirateten Mrs. Santini andererseits lässt jedoch die Frage aufkommen, inwiefern sich Martins Morde tatsächlich in der fiktiven Realität des Films abspielen. Hinzu kommt, dass Martins Morde allesamt gänzlich folgenlos bleiben und diese – sei es, weil Martin so geschickt alle Spuren verwischt, sei es, weil die Morde nie real stattgefunden haben – im Nachhinein nie von Dritten, beispielsweise von den Nachbarn oder den Medien, Erwähnung finden. Der einzige Tod, der in der Öffentlichkeit für breites Aufsehen sorgt, ist der Selbstmord Mrs. Santinis, die sich in ihrer Badewanne die Pulsadern aufschneidet, und an deren Tod Martin explizit keinerlei Schuld trägt. Auch das Ende des Films liefert schließlich keine Auflösung: In der Schlusssequenz wird gezeigt, wie Cuda den schlafenden Martin in seinem Bett überrascht, ihn mit einem Holzpflock pfählt und ihn anschließend im Garten begräbt. Ob mit diesem Akt allerdings ein blutsaugender Vampir aus der Welt geschafft wurde, ein mehrfacher Sexualmörder oder aber lediglich ein unschuldiger Teenager, der das Opfer eines religiösen Fanatikers wurde, bleibt völlig ungeklärt.145 Der Film oszilliert permanent zwischen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und lässt bis zum Schluss offen, ob die erzählte Welt des Films eine aus den Fugen geratene und abgründige, insgesamt jedoch ›natürliche‹ Welt ist oder aber eine ›übernatürliche‹ Welt, in der Vampire – wenn auch in einer etwas anderen Form, als die klischeehaften Darstellungen der Medien es suggerieren – existieren. _____________ 145 Vgl. hierzu auch Michael Grant (2004): James Whale’s Frankenstein. The Horror Film and the Symbolic Biology of the Cinematic Monster. In: Frankenstein. Creation and Monstrosity, hrsg. v. Stephen Bann, London, S. 113–135, S. 115: »Despite our access to his [Martins] ›subjectivity‹, we are excluded from his self-understanding. and we have no basis for deciding whether the action of his cousin, Cuda, in finally staking him, is justified. Martin is an indeterminate figure who, by virtue of his indeterminacy, is a monster, and is at the same time, as the film makes clear, a being created in his indeterminacy by purely cinematic means.«

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I. Definition des phantastischen Films

Abb. 1–8: Martin. Szene im Schlafwagenabteil

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film

Abb. 9–16: Martin. Szene der ›Exorzierung‹ im Haus des Onkels

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I. Definition des phantastischen Films

Wie anhand dieses Beispiels verdeutlicht wurde, kennt auch der fiktionale Spielfilm spezifische Verfahren zur Erzeugung von Ambiguität, die zum einen darin bestehen, dass der Realitätsstatus der gezeigten Szene unbestimmt gelassen wird, indem nicht geklärt wird, welche Art der Perspektive (Erzähler- vs. Figurenperspektive, Außensicht auf das Geschehen vs. mindscreen)146 dem Erzählten jeweils zugrunde liegt. Die Gestaltung der Erzählperspektive verhindert dabei eine stabile Konstruktion der erzählten Welt in dem Sinn, dass nicht bestimmt werden kann, wie eng der jeweilige Blick auf das Geschehen an den subjektiven Point-of-View der Figur gebunden ist – die erzählte Geschichte ›kippt‹ gewissermaßen zwischen verschiedenen Deutungsalternativen hin und her. Zum anderen kann Ambiguität im Film jedoch auch durch das Zurückhalten von Informationen entstehen, d. h. durch eine Beschränkung dessen, was David Bordwell unter der communicativeness eines Films versteht. So heißt es bei Bordwell: Although a narration has a particular range of knowledge available, the narration may or may not communicate all that information. [...] The degree of communicativeness can be juged by considering how willingly the narration shares the information to which its degree of knowledge entitles it.147

Eine derartige Beschränkung der Kommunikativität des Erzählten hat Bordwell zufolge stets einen doppelten Effekt: Zum einen wird der Zuschauer dazu verleitet, Hypothesen aufzustellen und so beispielsweise über die Vorvergangenheit der Erzählung, die Handlungsmotive der Figuren, ausgesparte Zeiträume usw. zu spekulieren. Zum anderen erzeugt sie beim Filmzuschauer stets auch den Schatten eines Zweifels über die prinzipielle Vertrauenswürdigkeit der Narration selbst: Je weniger ›mitteilsam‹ die Narration ist, als desto weniger vertrauenswürdig wird sie letztendlich empfunden.148 Dieser zweite Typus von Ambiguität, der durch einen Mangel an ›Mitteilsamkeit‹ der Narration entsteht, soll im Folgenden anhand eines weiteren Filmbeispiels verdeutlicht werden. Der Film The Blair Witch Project (USA 1999) der Regisseure Daniel Myrick und Eduardo Sánchez wurde bei seiner Erscheinung auch als »das erfolgreichste Hörspiel der Kinogeschichte«149 bezeichnet, womit der Umstand angesprochen wird, dass in dem Film nicht gerade viel zu sehen ist: Über weite Teile des Films tappen die Zuschauer nicht nur sprichwörtlich ›im Dunkeln‹ darüber, was sich nun eigentlich auf der Leinwand abspielt, _____________ 146 Auf verschiedene Typen der Erzählperspektive im Film wird ausführlich in Kap. II.2.2. eingegangen; zum Begriff des mindscreen vgl. Kap. II.2.2., Anm. 87 sowie Kap. II.2.3. 147 Bordwell 1985, S. 59. 148 Ebd., S. 60. 149 Harald Willenbrock/Volker Marquardt (1999): Die Hexer. In: Brand Eins 2, 1999, S. 138– 142, S. 140.

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film

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und sind bei der Bildung von Hypothesen auf die (in der Regel nicht wesentlich informativere) Geräuschkulisse und die Audiokommentare, auf undefinierbares Knacken und Rascheln im Wald, entfernte Tier- oder auch Menschenlaute sowie das ständige nervöse ›Geplapper‹ der drei Filmstudenten, angewiesen. Die dunklen, verwackelten und aufgrund des Nebels und des Feuchtigkeitsbeschlags an den Kameralinsen vielfach verschwommenen Filmaufnahmen tragen grundlegend zur Ambiguität des Films bei und erzeugen eine Atmosphäre der Ungewissheit, die elementare Urängste, wie zum Beispiel die Angst vor der Dunkelheit und dem SichVerirrt-Haben, heraufbeschwört. Der Film erzählt die Geschichte dreier Filmstudenten, die im Oktober 1994 in den Wäldern um Burkittsville/Maryland einen Dokumentarfilm über den Mythos der Hexe von Blair drehen. Während der Dreharbeiten kommt es zu mysteriösen Zwischenfällen, die dazu führen, dass sich die Studenten immer tiefer in den Wäldern verirren und schließlich alle drei für immer verschwinden. Ein Jahr später wird ihr Footage-Material unter einer tief im Wald liegenden, verlassenen Hütte vergraben gefunden. Der Film The Blair Witch Project ist somit eigentlich ein ›Doppelfilm‹ bestehend aus den Fragmenten eines Dokumentarfilms über den Mythos von der Hexe von Blair, die in Schwarzweiß und mit einer 16-mm-Filmkamera gedreht sind, und den Farbaufnahmen einer Hi8-Videokamera, mit der die Studenten den Verlauf der Dreharbeiten dokumentieren.150 Der pseudodokumentarische Charakter des Films – Barry K. Grant bezeichnet den Film auch als »a mockumentary about a failed documentary«151 – sowie die daraus hervorgehenden extremen Beschränkungen der audiovisuellen Informationsvergabe erzeugen Lücken und Unbestimmtheitsstellen in der Narration, die sowohl die Figuren als auch die Filmzuschauer zur permanenten Bildung, zum Verwerfen sowie zur Neubildung von Hypothesen veranlassen. Folgender Auszug aus dem Filmprotokoll veranschaulicht dies: Heather (in die Dunkelheit des Waldes hinein filmend): »Hello? Oh shit... It’s fucking freezing. There – I hear it...« Mike: »I don’t hear shit.« (Rascheln.) Heather: »Hear that?« (Entferntes Knallen im Wald.) Heather: »Shit! – Hello?«

_____________ 150 Vgl. Karl Nikolaus Renner (2002): The Blair Witch Project. Der Mythos von der Realität der Medien. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – Realistische Imaginationen? Hrsg. v. Hans Krah/Claus-Michael Ort, Kiel, S. 383–408, S. 385. 151 Barry Keith Grant (2007): The Blair Witch Project. In: The Cinema Book, hrsg. v. Pam Cook, London, S.365f., S. 365.

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I. Definition des phantastischen Films

(Schnitt auf Joshs 16mm-Kamera. Joshs Kamera macht einen 180-Grad-Schwenk und bekommt die Gestalt Heathers ins Bild, die filmend vor dem Zelt steht. – Schnitt zurück auf Heathers Hi-8-Videokamera.) Heather: »Ah fuck.« (Heather zittert vor Kälte und Anspannung, das Filmbild verwackelt.) Mike: »I think it’s just deer.« Heather: »It could be deer I guess. I don’t think it’s deer though man. It sounds exactly like that shit last night. It’s on all sides of us...« Mike: »It sounded just like a deer.« Josh: »It was a deer man.« Heather: »I don’t think it was a...« Mike: »It wasn’t like last night.« Heather: »Shh! Shh...« (Erneutes Knallen.) Mike: »Did you hear...?« Heather: »Yes! Fucking listen! Let’s get it on DAT, let’s get it on DAT!« Mike: »Okay, it’s on.« (Knallen und Rascheln dauert an.) Josh: »Jesus Christ! What the fuck is that?! Fuck!« Heather: »It’s not scared by our yelling. – That sounds like footsteps.« Mike (flüstert): »I know! That’s a fucking person!« Heather: »Mike, I’m not seeing shit on video. I’m going to leave the rest for DAT but I’m going to stay out with you here though.«152

Aufgrund der durch die Dunkelheit stark eingeschränkten Sicht, der unvertrauten und irreleitenden Geräuschkulisse des Waldes sowie ihrer durch Kälte, Übermüdung und Anspannung eingeschränkten rationalen Urteilsfähigkeit sehen sich die drei Filmstudenten außerstande, das audiovisuelle Zeichenmaterial, das sie umgibt, ›richtig‹ zu deuten. Ihre Interpretation der Ereignisse ›kippt‹ sozusagen ständig zwischen verschiedenen rationalen und irrationalen Deutungsalternativen hin und her und alle Versuche, das, was ihnen in der Dunkelheit des Waldes so große Angst einjagt, sichtbar zu machen und es zu objektivieren, indem sie es auf Film oder DAT bannen, scheitern. Die Unbestimmtheit dessen, was die drei Protagonisten im Wald sehen und hören, verhindert sowohl die Versprachlichung der Ereignisse – was sich insbesondere auch in den sich durch den gesamten Film ziehenden endlosen Tiraden von Flüchen und Vulgärausdrücken (»This is fucking crazy shit!« – »What the fuck is this blue jelly shit all over my shit?« usw.) ausdrückt –, als auch deren Beurteilung und Interpretation. Dazu Karl Nikolaus Renner: Unbestritten sind die Geräusche der Nacht vorhanden. Doch so lange man ihre Quelle nicht kennt, entziehen sie sich jeder Ordnung. Daher kann sie die Sprache nicht benennen und muss sich notdürftig mit unbestimmten Pronomen behelfen.

_____________ 152 The Blair Witch Project (USA 1999, Regie: Daniel Myrick, Eduardo Sánchez DVD-Fassung, Artisan Entertainment 1999, 86 Min.), Min. 0:29:2–0:31:27.

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Das Wissen, das sie in sich enthält, greift nicht mehr. Die drei können nicht erfassen, was sie da draußen hören und können damit auch nicht beurteilen, ob das alles harmlos ist oder nicht.153

Die Unschlüssigkeit der Figuren innerhalb der erzählten Welt hinsichtlich der Deutung des Geschehens findet sich eine Ebene darüber in der ambiguen Struktur der Erzählung selbst widergespiegelt: Bis zum Ende des Films bleibt völlig offen, ob den Ereignissen im Wald rationale Erklärungsmuster, z. B. psychologischer oder kriminalistischer Art, zugrunde liegen oder aber ob die unerklärlichen Geräusche und die archaischen, kultisch anmutenden Zeichen, auf die die Studenten im Wald stoßen – die mysteriösen Steinhaufen, die aus Ästen und Zweigen zusammengebundenen Figuren und Symbole, die ausgerissenen Haarbüschel und Zähne etc. – das Werk einer okkulten Macht, sprich einer Hexe, sind. Diese doppelte Interpretierbarkeit des Erzählten bleibt bis zum Schluss aufrechterhalten, wobei der Film The Blair Witch Project gerade auch die audiovisuellen Möglichkeiten, die das filmische Medium zur Erzeugung von Mehrdeutigkeit bereitstellt, nutzt: Durch die Begrenzung der audiovisuellen Informationsvergabe und die damit einhergehende eingeschränkte Kommunikativität der Narration wird in The Blair Witch Project eine Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen rationalen und irrationalen Deutungsvarianten der Ereignisse erzeugt – womit der Film schließlich zu einem weiteren Beispiel filmischer Phantastik wird. Neben diesen beiden Typen von Ambiguität im engergefassten Sinn, bei welchen eine Unentscheidbarkeit zwischen gänzlich verschiedenen Interpretationen des Dargestellten vorliegt, kann eine Mehrdeutigkeit des filmischen Textes schließlich auch durch die Konstruktion rekursiver und mise en abyme-artiger Strukturen154 entstehen, durch welche das Dargestellte auf sich selbst zurückläuft bzw. ›in den Abgrund einer endlosen Spiegelung‹ geworfen wird. Die Mehrdeutigkeit des Textes geht in diesem Fall nicht aus der Oszillation zwischen verschiedenen Lesarten oder auch Ansichten des Dargestellten hervor – die dargestellten Ereignisse an sich bleiben immer gleich. Vielmehr entsteht eine Mehrdeutigkeit hier aufgrund der Unmöglichkeit, den Ort des Erzählens zu bestimmen, d. h. die narrative sowie, im Fall des Phantastischen, auch die ontologische Ebene, auf welcher sich die erzählten Ereignisse abspielen. Ein Beispiel für diesen dritten Typus ambiguen Erzählens im Film bietet der Film Dead of Night (Großbritannien 1945, Regie: Alberto Cavalcanti, Charles Crichton u. a.), ein Episodenfilm mit Rahmenhandlung, in welchem Realität und (Alp-)Traum in Form einer narrativen Endlosschlei_____________ 153 Renner 2002, S. 396. 154 Zum Begriff der mise en abyme vgl. auch Kap. III.3.2.

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I. Definition des phantastischen Films

fe unauflöslich ineinander gewunden sind. Die Eröffnungsszene des Films zeigt die Ankunft des Architekten Walter Craig auf dem englischen Landsitz Pilgrim’s Farm, mit dessen Umbau er von dem Besitzer beauftragt wurde. Bei seiner Einfahrt in die kleine Allee, an deren Ende das Landhaus in Sicht kommt, überfällt Craig plötzlich der unbehagliche Eindruck eines Déjà-vu-Erlebnisses – er hält den Wagen an und reibt sich verwundert die Augen. Beim Betreten des Hauses verstärkt sich Craigs Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, schließlich zunehmend und als er im Wohnzimmer einem Kreis von Bekannten des Gutsbesitzers vorgestellt wird, wird ihm plötzlich bewusst, dass die gesamte Szenerie einschließlich sämtlicher anwesender Personen Bestandteil eines immer wiederkehrenden Traums ist – eines Traums, der sich am Ende in einen entsetzlichen Alptraum verkehrt. Dieser Traum, so erläutert Craig der versammelten Runde, bleibe nach dem Aufwachen jedoch nie länger als wenige Sekunden in seinem Bewusstsein und die Erinnerung an ihn kehre erst dann langsam wieder, wenn der Traum wieder von Neuem beginne. Craigs Schilderung seines Déjà-vu-Erlebnisses, das dadurch noch an Unheimlichkeit gewinnt, dass der Architekt die Ankunft eines weiteren, in der Gesellschaft unerwarteten Gastes bis ins Detail voraussagt, nehmen die anwesenden Figuren zum Anlass, sich reihum Erlebnisse zu erzählen, in welchen sie selbst mit unerklärbaren und scheinbar ›übernatürlichen‹ Begebenheiten konfrontiert waren. Nach dem Ende jeder Geschichte diskutieren sie jeweils die (Un-)Möglichkeit einer rationalen, wissenschaftlichen Deutung ihrer Erlebnisse, wobei der Psychiater Dr. van Straaten stets einen naturwissenschaftlichen Standpunkt vertritt, die übrigen Gäste dagegen stärker zu einem metaphysischen Denken neigen. »Hamlet was right, doctor«, bringt Craig die allgemeine Stimmung in der Runde schließlich auf den Punkt, »there are more things in heaven and earth than are dreamt of in your philosophy.«155 Nach dem Abschluss der letzten Binnenepisode kommt es, wie Craig es zu Anfang vorausgesagt hatte, zu einer alptraumartigen Zuspitzung des Handlungsverlaufs: Der Architekt, der mit einem Mal nicht mehr Herr seiner selbst zu sein scheint und wie eine fremdgesteuerte Marionette agiert, wird in der Dunkelheit eines Stromausfalls zum Mörder an dem Psychiater. Im Anschluss an diese Tat beginnt eine surreale Überschlagung der Erzählebenen, bei welcher die Erlebnisse der zuvor erzählten Binnenepisoden mit den (Traum-)Erlebnissen Craigs auf dem Landgut in der Art Freud’scher Tagesreste vermischt werden. Am Höhepunkt des Alptraums erwacht Craig schließlich schweißgebadet in seinem Bett. Das Telefon _____________ 155 Dead of Night (dt.: Traum ohne Ende, Großbritannien 1945, Regie: Alberto Cavalcanti, Charles Crichton u.a., DVD-Fassung Universal 2008, 99 Min.), Min. 0:50:55.

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neben dem Bett läutet, es ist der Besitzer von Pilgrim’s Farm, der den Architekten über das Wochenende zu sich einlädt, um mit ihm den Umbau seines Hauses zu besprechen. In einer exakten Verdopplung der Anfangssequenz sieht man Craig die kleine Allee entlangfahren, an deren Ende das Landgut in Sicht kommt. Beim Anblick des Hauses überfällt Craig plötzlich der unbehagliche Eindruck eines Déjà-vu-Erlebnisses – er hält den Wagen an und reibt sich verwundert die Augen… Mit dieser Erzählstruktur, bei welcher sich sozusagen ›die Katze in den Schwanz beißt‹ – wobei am Ende der Erzählung jedoch nicht exakt an den Anfang des Traums zurückgesprungen wird, sondern die Handlung eine Ebene darüber, d. h. potentiell in der Realität einsetzt – entwirft Dead of Night eine instabile und mehrdeutige erzählte Welt, in der die Bestimmung der Ebene des Erzählens (sowohl in narrativer als auch in ontologischer Hinsicht) unmöglich ist: Jedes weitere Erwachen könnte den Protagonisten in die Realität hineinführen – oder aber wiederum in einen neuen Traum, in welchem der vorangegangene lediglich eingeschachtelt war. c) Drei Typen von Ambiguität im Film Nachdem in dem vorangegangenen Unterkapitel einzelne Filmbeispiele eingehend dargestellt wurden, ist es nun Zeit für eine Systematisierung. Zur Veranschaulichung der verschiedenen Typen von Ambiguität im Film bieten sich dabei sogenannte Kippfiguren und unmögliche Objekte an, für die die englische Sprache auch den Überbegriff ambiguous patterns geprägt hat und die in der Wahrnehmungspsychologie eine zentrale Rolle bei der Beschreibung verschiedener Typen einer Strukturierung und Codierung von Wahrnehmungsmustern spielen.156 Unter Heranziehung derartiger wahrnehmungspsychologischer Modelle lassen sich aus den vorangegangenen Filmanalysen schließlich drei verschiedene Typen von Ambiguität im Film ableiten, die exemplarisch anhand der drei Figuren der Rubin’schen Vase/Gesichter, der Figur eines Quadrats und einem darunter liegenden Fünf- bzw. Sechseck sowie der sogenannten Penrose-Treppe (Abb. 17a, b und c) beschrieben werden können.

_____________ 156 Vgl. hierzu exemplarisch Emanuel Leeuwenberg/Hans Buffart (1984): An Outline of Coding Theory. Summary of Some Related Experiments. In: Modern Issues in Perception, hrsg. v. Hans-Georg Geissler et al., Amsterdam/New York, S. 25–47.

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Abb. 17: a) Rubin’sche Vase/Gesichter; b) Quadrat und Fünf-/ Sechseck; c) Penrose-Treppe

Im ersten Beispiel der Rubin’schen Vase/Gesichter (Abb. 17a) kommt die Mehrdeutigkeit dadurch zustande, dass der Betrachter sich nicht zwischen zwei gleichwertigen Figuren entscheiden kann, da die Frage des Verhältnisses von Objekt und Hintergrund ungeklärt bleibt. Der Betrachter kann sowohl eine weiße Vase auf schwarzem Grund als auch zwei schwarze Gesichter auf weißem Grund erkennen, wobei seine Wahrnehmung permanent zwischen diesen beiden Figuren hin- und herkippt. Diese Figur veranschaulicht den Typus filmischer Ambiguität, der zuvor anhand des Filmbeispiels Martin beschrieben wurde: Auch im Fall des Films Martin schwankt der Zuschauer zwischen verschiedenen Deutungsalternativen, insofern die einzelnen Szenen hier sowohl als ›objektive‹ Realität als auch als subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur bzw. als realitätsbezogene Erinnerungen der Figur oder aber als gänzlich irreale Wahn- und Wunschphantasien gedeutet werden können. Die Mehrdeutigkeit des Dargestellten beruht somit in beiden Fällen auf einer instabilen Perspektive und kann in Übernahme der Terminologie der Wahrnehmungspsychologie auch mit dem Begriff der ›perzeptuellen Ambiguität‹ erfasst werden.157 Im zweiten Beispiel des Quadrats und des darunter liegenden Fünfbzw. Sechsecks (Abb. 17b) kommt die Mehrdeutigkeit demgegenüber dadurch zustande, dass der Betrachter nicht genügend Informationen über die unter dem Quadrat liegende Form besitzt und er die abgebildete Figur daher wechselweise als ein Quadrat mit abgeschnittener Ecke, also als Fünfeck, oder aber als ein schrägliegendes, unregelmäßiges Sechseck konstruiert. Ambiguität entsteht hier also durch einen Mangel an Informationen über die physikalische Beschaffenheit des dargestellten Objekts: Der Betrachter versucht, die fehlenden Informationen im Prozess der Wahrnehmung zu ergänzen, scheitert jedoch bei dem Versuch einer stabilen Konstruktion des Objekts. Im Gegensatz zu dem vorangegangenen Beispiel, bei welchem die Mehrdeutigkeit auf der Grundlage zweier komplett be_____________ 157 Vgl. Leeuwenberg/Buffart 1984, S. 30f.

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kannter Muster entsteht, wird sie hier also gerade umgekehrt durch ein Informationsdefizit hinsichtlich des vorliegenden Musters hervorgerufen. Die Figur des Quadrats und des darunter liegenden Fünf- bzw. Sechsecks kann somit zur Veranschaulichung desjenigen Typus von Ambiguität dienen, wie er in dem Filmbeispiel The Blair Witch Project auftritt. So entsteht auch in dem Film The Blair Witch Project eine Mehrdeutigkeit des Erzählten vorrangig aufgrund der Begrenzung der audiovisuellen Informationsvergabe, d. h. durch Lücken und Unbestimmtheitsstellen in der Narration, die es (für den Filmzuschauer ebenso wie für die Protagonisten) unmöglich machen, zu einer eindeutigen Interpretation der Ereignisse zu gelangen. In der Wahrnehmungspsychologie wird dieser zweite Typus von Ambiguität, der aufgrund eines Informationsdefizits hinsichtlich der konkreten (physikalischen) Beschaffenheit eines Objekts entsteht, auch als ›physikalische Ambiguität‹ bezeichnet.158 Dieser zweite Typus einer durch ein Defizit an konkreten Informationen erzeugten Ambiguität ist jedoch nicht zu verwechseln mit der zuvor bereits angesprochenen Offenheit abstrakter Kunstwerke: In dem Film The Blair Witch Project kann zwar aufgrund des Informationsmangels bezüglich der dargestellten Welt keine Entscheidung zwischen den verschiedenen Deutungsalternativen getroffen werden, die einzelnen Deutungsalternativen (sprich: ›Es gibt Hexen‹ vs. ›Es gibt keine Hexen‹) sind dabei als solche jedoch konkret benennbar und gleichermaßen im Text verankert und belegbar. Demgegenüber sind abstrakte Kunstwerke, wie etwa Turners Gemälde Sunrise with Seamonsters, für eine potentiell unendliche Anzahl von Deutungsalternativen offen, wobei diese Deutungsalternativen jedoch, ähnlich wie bei den Tintenklecksen eines RohrschachTests, alle gleichermaßen ›unbeweisbar‹ sind.159 Bei dem dritten Beispiel, der sogenannten Penrose-Treppe (Abb. 20c), handelt es sich den Theorien der Wahrnehmungspsychologie zufolge schließlich nicht um einen Fall von Ambiguität im engeren Sinn, insofern hier keine »ambiguity of interpretations«160 vorliegt. Damit ist gemeint, dass der Betrachter sich hier nicht in der auswegslosen Situation der Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen gleichwertigen Mustern befindet – die Treppe, als welche er das abgebildete Objekt konstruiert, bleibt immer die gleiche. Eine Deutungsunmöglichkeit des Abgebildeten entsteht hier vielmehr dadurch, dass das visuelle System den Überblick über das Objekt als Ganzes verliert: Der Betrachter ist zwar durchaus in der Lage, einzelne Teile des Objektes – und zwar die einzelnen Stufen und bis zu _____________ 158 Ebd. 159 Vgl. auch Rimmon 1977, S. 19. 160 Leeuwenberg/Buffart 1984, S. 30.

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drei Seitenwände – für sich genommen als stabile Objekte zu konstruieren, bei dem Versuch, ein stabiles Bild von der gesamten Treppe zu bekommen, scheitert er jedoch. Auf diese Weise entsteht beim Betrachter der Eindruck, er könne die Stufen der Treppe endlos hinauf- bzw. hinuntersteigen, ohne jemals an ein Ziel zu gelangen, wobei es allerdings unmöglich ist, zu bestimmen, an welchem Punkt der Treppe man sich in Relation zum gesamten Objekt jeweils befindet. Die Figur der PenroseTreppe bildet schließlich eine Analogie zu dem dritten Filmbeispiel Dead of Night, insofern auch hier durch die Konstruktion einer Endlosschleife bzw. -spirale eine stabile Konstruktion der erzählten Welt als Ganzes unmöglich wird. Es versteht sich, dass aus fachfremden Disziplinen herangezogene Analogien generell mit einem gewissen Vorbehalt zu betrachten sind. Im Bewusstsein einer derartigen Begrenztheit der Übertragungsmöglichkeiten liefern die von der Wahrnehmungspsychologie untersuchten Kippfiguren und unmöglichen Objekte jedoch anschauliche Modelle einer Beschreibung der Konstruktion von Ambiguität im Film und geben wichtige Hinweise auf die Funktionsweise sowie Wirkungseffekte phantastischen Erzählens im Film. 3.2. Fiktionalität und Wörtlichkeit Die Ambiguität bzw. in Todorovs Terminologie die ›Unschlüssigkeit‹ hinsichtlich verschiedener rationaler und irrationaler Deutungsalternativen des Textes stellt nach Todorov die erste Bedingung dar, die erfüllt sein muss, damit ein Text der Kategorie des Phantastischen zuzuordnen ist. Die zweite obligatorische Bedingung für die Zuordnung eines Textes zum des Phantastischen ist nach Todorov der Ausschluss einer poetischen oder allegorischen Lesbarkeit: »tout fantastique est lié à la fiction et au sens littéral.«161 Diese zweite Bedingung, die Fiktionalität des Textes und die Wörtlichkeit der Bedeutung, soll im Folgenden einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. 3.2.1. Das Kriterium der Fiktionalität Zunächst einige Bemerkungen zum Verhältnis von Fiktion und Poesie. Tzvetan Todorov bestimmt die Fiktion über ihren repräsentativen, dar_____________ 161 Todorov 1970, S. 80. (»[...] alles Fantastische ist an die Fiktion und an die wörtliche Bedeutung gebunden.« Todorov 1972, S. 69.)

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stellenden und verweisenden Charakter, während er die Poesie demgegenüber durch eine weitgehende Verweigerung dieser Repräsentativität charakterisiert sieht. Jeder Satz eines poetischen Textes sei eine rein semantische Kombination von Wörtern, die Poesie besitze ihre Realität nur innerhalb des Textes selbst. [L]e charactère représentatif commande une partie de la littérature, qu’il est commode de désigner par le terme de fiction, cependant la poésie refuse cette aptitude à évoquer et représenter [...]. Ce n’est pas un hasard si, dans le premier cas, les termes employés couramment sont: personnages, action, atmosphère, cadre, etc., tous termes qui désignent aussi une réalité non textuelle. En revanche, lorsqu’il est question de poésie, on se trouve entraîné à parler de rimes, de rythme, de figures rhétoriques, etc.162

Das Phantastische, so leitet er daraus ab, kann nur in der Fiktion leben, ein poetischer Sprachgebrauch schließt die Existenz des Phantastischen prinzipiell aus.163 Diese Bedingung der Fiktionalität eines Textes, also die Notwendigkeit, dass die Worte eines Textes nicht ›für sich selbst‹ stehen, sondern auf eine fiktive Welt außerhalb ihrer selbst verweisen, führt Todorov anschließend an einem Beispiel aus Xenophons Memorabilien näher aus, in der vorliegenden Arbeit sollen einige Zeilen aus einem Gedicht von Clemens Brentano zur Veranschaulichung dienen: Wenn des Mondes still lindernde Thränen Lösen der Nächte verborgenes Weh; Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen Schiffen die Geister im himmlischen See.164

Versucht man als ein ›naiver‹ Leser diese Zeilen als einen fiktionalen Text zu deuten, so gelangt man zu der Überzeugung, dass sich in dem Text in der Tat einige äußerst wunderbare und übernatürliche Dinge zutragen – von den »Thränen des Mondes« ist so beispielsweise die Rede sowie von »Geistern«, die in »goldenen Kähnen« in einem »himmlischen See« schiffen. Ein mit den Konventionen poetischer Rede vertrauter Leser dagegen erkennt anhand von Reim, Metrum sowie kontextueller Signale (bei den zitierten Versen handelt es sich um den Teil eines Liedes, das die Figur der _____________ 162 Todorov 1970, S. 64. (»[D]er repräsentative Charakter ist für einen Teil der Literatur bestimmend, den man bequemerweise mit dem Terminus Fiktion bezeichnen kann, während die Poesie die Möglichkeit, zu evozieren und darzustellen, verwehrt [...]. Es ist kein Zufall, daß im ersten Fall häufig Termini wie ›handelnde Person‹, ›Handlung‹, ›Atmosphäre‹, ›Rahmen‹ usw. gebraucht werden – alles Begriffe, die auch noch eine Realität außerhalb von Texten bezeichnen. Entsprechend sieht man sich, wenn von Poesie die Rede ist, gehalten, von Reimen, von Rhythmus, von rhetorischen Figuren usw. zu sprechen.« Todorov 1972, S. 56. 163 Ebd., S. 65. 164 Clemens Brentano (1978): Godwi. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 16. Historischkritische Ausgabe, hrsg. v. Jürgen Behrens, Detlev Lüders und Wolfgang Frühwald, Stuttgart et al., S. 184f.

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Tilie in Brentanos Roman Godwi singt) sofort, dass hier ein poetischer Sprachgebrauch vorliegt, d. h. dass die angeführten Sätze nicht darauf abzielen, eine nach dem Muster der Realität gestaltete, fiktive Welt zu repräsentieren, sondern in erster Linie non-repräsentativ, d. h. als auf Rhythmus, Sprachklang und Assoziativität abzielende Sprachkonstrukte zu verstehen sind. Mit der Entwicklung der Begriffsopposition von Fiktion und Poesie liefert Todorov eine äußerst unkonventionelle Definition des Begriffs ›Poesie‹, der sowohl im französischen als auch im deutschen Sprachgebrauch üblicherweise nicht als Gegenbegriff zu ›Fiktion‹, sondern als Antonym zu ›Prosa‹ verwendet wird. In diesem Sinn kann ein poetischer Sprachgebrauch auch innerhalb fiktionaler literarischer Texte vorliegen (wie am Beispiel der oben zitierten, dem Roman Godwi entnommenen Gedichtzeilen deutlich wird), wohingegen Fiktionalität ein allgemeines Charakteristikum fiktionaler Texte in den Medien Literatur und Film ist. Im Hinblick auf das Medium Film, das keine Differenzierung zwischen Poesie und Prosa als einer Trennung zwischen gebundener und ungebundener Sprache kennt,165 findet der Begriff der Poesie schließlich lediglich als weitgefasster, ästhetischer Begriff Verwendung: ›Poetisch‹ bezeichnet bezogen auf das filmische Medium bestimmte ästhetische Qualitäten, den Stil oder auch die Atmosphäre eines Films, wie sich dies beispielsweise auch in dem Stilbegriff des poetischen Realismus als Bezeichnung für eine Anfang der 1930er Jahre in Frankreich entstandene Filmströmung ausdrückt. Für den von Todorov beschriebenen Gegensatz zwischen Texten, die eine fiktive Welt repräsentieren, und Texten, die eine derartige Repräsentativität verweigern, ist somit – speziell auch mit Blick auf das Medium Film – besser das Begriffspaar fiktional vs. non-fiktional zu verwenden. Im Film decken fiktionale Formen weitgehend den Bereich des traditionellen Spielfilms ab, wohingegen non-fiktionale Formen demgegenüber beispielsweise auf dem Gebiet des Dokumentar- und Experimentalfilms zu finden sind. Das Phantastische im Film, so die Schlussfolgerung aus den vorangegangenen Überlegungen, ist somit auf den Bereich des fiktionalen Films, bzw. genauer des fiktionalen, narrativen Spielfilms beschränkt. _____________ 165 Einen Ansatz zur Differenzierung zwischen einem ›poetischen‹ Film, welcher durch Sujetlosigkeit sowie durch die Akzentuierung technisch-formaler Momente gekennzeichnet ist, und einem ›prosaischen‹ Film unternimmt im frühen 20. Jahrhundert Viktor Šklovskij. Dieser Ansatz wurde aufgrund der generellen Problematik der Konzeption einer ›Filmsprache‹ jedoch nicht weiterverfolgt. Viktor Šklovskij (2005): Poesie und Prosa im Film. In: Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, hrsg. v. Wolfgang Beilenhoff, Frankfurt a. M., S. 130–133 [russ. Original: Poėzija i proza v kinematografii. In: Poėtika kino, hrsg. v. Boris Ėjchenbaum, Moskva/Leningrad 1927, S. 139–142].

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3.2.2. Konsequenzen des bildhaften Sprachgebrauchs Während das Kriterium der Fiktionalität als einer notwendigen Bedingung des Phantastischen relativ unproblematisch auch für den Film übernommen werden kann, gestaltet sich der von Todorov geforderte Ausschluss eines ›bildhaften‹,166 d. h. uneigentlichen Sprachgebrauchs bzw. das Kriterium der Wörtlichkeit schon schwieriger. Bei Todorov heißt es dazu: Il existe des récits qui contiennent des éléments surnaturels sans que le lecteur s’interroge jamais sur leur nature, sachant bien qu’il ne doit pas les prendre à la lettre. Si des animaux parlent, aucun doute ne nous vient: nous savons que les mots du texte sont à prendre dans un sens autre, que l’on appelle allégorique.167

Der Fall scheint zunächst einleuchtend: Sobald in einem Text ein bildhafter Sprachgebrauch vorliegt, kann den Ereignissen kein wunderbarer Status zugesprochen werden, da das Wunderbare des Textes hier durch die Existenz einer zweiten Bedeutungsebene als ungültig ausgewiesen wird. Bei den sprechenden Tieren aus George Orwells Animal Farm oder auch bei den ›Tränen des Mondes‹ aus dem Brentano-Gedicht stellt sich für den Leser überhaupt nicht die Frage, ob er es mit einem wunderbaren Ereignis zu tun hat, da er, als ein mit den Konventionen des poetischen Sprachgebrauchs vertrauter Leser, hierin das textuelle Verfahren der Allegorie bzw. eine Worttrope (Metapher) erkennt. Poetische Verfahren der Uneigentlichkeit, so Todorovs Schlussfolgerung, sind mit dem Phantastischen somit unvereinbar. Entgegen dieser Überzeugung macht Todorov selbst jedoch wenig später die Feststellung, dass in bestimmten Fällen sprachliche Bilder den eigentlichen Ursprung des Phantastischen bilden können, insofern sie einen doppelte Bedeutungskontext konstruieren, welcher dem Leser die wörtliche und die übertragene Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu gleichen Teilen vergegenwärtigt. In diesem Fall entstehe eine Mehrdeutigkeit dadurch, dass die Ereignisse zugleich wörtlich, als übernatürliches Geschehen, und bildlich, als sprachliche Trope, zu lesen sind: »Le premier trait relevé [du fantastique] est un certain emploi du discours figuré. Le _____________ 166 Der Terminus ›bildhaft‹ ist in diesem Zusammenhang allerdings selbst als Metapher zu verstehen. So ist in der Vergangenheit bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass ein bildhafter Sprachgebrauch nicht notwendigerweise zur Assoziation konkreter, visueller Vorstellungsbilder führt, Sprachlichkeit lässt sich nicht restlos in Bildlichkeit überführen. 167 Todorov 1970, S. 36. (»Es gibt Erzählungen, die Elemente des Übernatürlichen enthalten, ohne daß der Leser jemals über ihre Beschaffenheit im Zweifel wäre, weil er sehr wohl weiß, daß er sie nicht wörtlich zu nehmen hat. Wenn Tiere sprechen, so gibt es für uns keinen Zweifel, wir wissen, daß die Worte des Textes in einem anderen, allegorisch genannten Sinn zu nehmen sind.« Todorov 1972, S. 32.)

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surnaturel naît souvent de ce qu’on prend le sens figuré à la lettre.«168 Als Beispiel führt Todorov Prosper Mérimées Novelle La Vénus d’Ille an, in der die Aussage, die Venusstatue ›behexe‹ den Betrachter geradezu mit ihren großen weißen Augen sowohl als eine an sich triviale, bildhafte Redewendung als auch als eine wörtlich zu nehmende Vorausdeutung auf das später eintretende, scheinbar übernatürliche Ereignis der ›Statuenbelebung‹ gedeutet werden kann. Hier führt die Verwendung eines sprachlichen Bildes somit nicht zu einer Tilgung des Wunderbaren, sondern erzeugt im Gegenteil die potentielle Wunderbarkeit des Textes selbst, insofern der bildhafte Ausdruck zugleich eine Gültigkeit und Ungültigkeit des übernatürlichen Ereignisses impliziert. Die Konsequenzen, die ein bildhafter Sprachgebrauch für das Phantastische besitzt, werden bei Todorov somit äußerst widersprüchlich gewertet: Poetische Verfahren der Uneigentlichkeit werden einerseits als tödlich für das Phantastische angesehen, andererseits wird ihre grundlegende Fähigkeit zur Konstruktion eines doppelten Bedeutungszusammenhangs anerkannt, womit sie zu wichtigen Verfahren der Erzeugung einer phantastischen Mehrdeutigkeit werden. Todorov selbst hat diesen Widerspruch dadurch aufzulösen versucht, dass er von graduellen Unterschieden einer Abschwächung des Phantastischen durch einen bildhaften Sprachgebrauch ausgeht (womit seine Forderung nach einem Ausschluss der Möglichkeit einer allegorischen Lesbarkeit eines phantastischen Textes jedoch bereits im Ansatz fragwürdig wird). Er entwickelt dabei eine Skala von verschiedenen Typen von Allegorien, die sich von der offensichtliche Allegorie (»allégorie évidente«), bei welcher die wörtliche Bedeutung vollständig in der übertragenen aufgeht, über den subtileren Typus der indirekten Allegorie (»allégorie indirecte«), bis hin zum Typus der ›unschlüssigen‹ Allegorie (»allégorie ›hésitante‹«), bei welcher sich die Hinweise auf eine wörtliche und eine bildhafte Lesart der Ereignisse die Waage halten, erstreckt.169 Im Fall der ›unschlüssigen‹ Allegorie bleibt die Ambiguität des Textes vollständig erhalten, der Text selbst gibt dem Leser keinerlei Hinweise darauf, ob die Ereignisse im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne zu deuten sind: »Rien dans le texte n’indique le sens allégorique; néanmoins, ce sens reste _____________ 168 Todorov 1970, S. 82. (»Das erste auffällige Merkmal [des Phantastischen] ist ein bestimmter Gebrauch des bildlichen Diskurses. Das Übernatürliche entsteht oft daraus, daß man die übertragene Bedeutung wörtlich nimmt.« Todorov 1972, S. 70.) 169 Ebd., S. 69–79, insbes. S. 78f. Einen Sonderfall bildet in diesem Modell die sogenannte illusorische Allegorie (»allégorie illusoire«), die Todorov am Beispiel von Gogols Erzählung Die Nase expliziert. Todorov spricht hier Fälle an, in denen der Leser zwar ständig versucht ist, den Ereignissen eine allegorische Bedeutung zuzusprechen, diese Bedeutung vom Text selbst jedoch konsequent verweigert wird und der Leser somit wieder auf die wörtliche Bedeutungsebene zurückgeworfen wird. Ebd., S. 77f.

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possible.«170 Als Beispiele für diese Form der ›unschlüssigen‹ Allegorie führt Todorov E. T. A. Hoffmanns Geschichte vom verlornen Spiegelbilde und Edgar Allan Poes William Wilson an, zwei Doppelgängererzählungen, in denen auf wörtlicher Ebene dem außergewöhnlichen, rational nicht erklärbaren Ereignis des Verschwinden des Spiegelbildes (Hoffmann) bzw. dem Erscheinen eines dem Protagonisten bis aufs Haar gleichen Doppelgängers (Poe) verschiedene rationale Erklärungsansätze entgegengestellt werden. Darüber hinaus können die Ereignisse in beiden Fällen jedoch auch auf einer übertragenen Ebene gedeutet werden: Im Fall der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde kann der Verlust des Spiegelbildes auch als eine Allegorie des Verlusts der Persönlichkeit, des nach außen repräsentierten, gesellschaftlichen Ich sowie des »schimmernde[n] Traum-Ich«171 des Protagonisten, gelesen werden. Im Fall William Wilsons ist demgegenüber eine allegorische Deutung des Doppelgängers als eine Personifikation des schlechten Gewissens möglich. In beiden Fällen geht der Text in dieser allegorischen Deutung jedoch nicht auf, d. h. er gibt selbst keine Hinweise darauf, ob die allegorische Lesart hier jeweils zulässig ist. Todorov selbst geht also von verschiedenen Graden einer Abschwächung der phantastischen Ambiguität eines Textes durch einen bildhaften Sprachgebrauch aus. Aufbauend auf dessen Überlegungen plädiert im Anschluss daran auch Uwe Durst für eine nuanciertere Betrachtung des Kriteriums der Wörtlichkeit und führt verschiedene Fälle an, in denen die wörtliche Bedeutung eines bildhaften Ausdrucks zunehmend Gültigkeit erlangt und sich als wunderbares Ereignis im Text konkretisiert.172 Auch die vorliegende Arbeit geht schließlich von der Hypothese aus, dass ein bildhafter Sprachgebrauch, d. h. Worttropen (Metaphern) ebenso wie das den Gesamttext betreffende Verfahren der Allegorie, nicht notwendigerweise eine Zerstörung einer phantastischen Mehrdeutigkeit bewirken, sondern in speziellen Fällen eine Mehrdeutigkeit des Textes sogar befördern können. So bilden diejenigen Fälle, in denen der wörtliche (primäre) Be_____________ 170 Ebd., S. 74. (»Nichts im Text läßt auf eine allegorische Bedeutung schließen, dennoch ist sie nicht auszuschließen.« Todorov 1972, S. 64.) 171 E. T. A. Hoffmann (1996 [1815]): Die Abenteuer der Silvester-Nacht. In: ders.: Fantasieund Nachtstücke. Mit einem Nachwort von Gerhard Neumann, Zürich/Düsseldorf, S. 256–283, S. 276. Bei der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde handelt es sich somit genaugenommen um eine ›Doppelallegorie‹: Einerseits reflektiert der Verlust des Spiegelbildes hier den Verlust der sozialen Achtbarkeit des Protagonisten durch den Versuch, der Enge bürgerlicher Ehe- und Moralvorstellungen zu entkommen. Andererseits kommt der Verdacht auf, dass die überstürzte Rückkehr Erasmus Spiekhers in eben diese Enge sowie das leichtfertige Verschenken seines Spiegelbildes als sein »schimmernde[s] Traum-Ich« gleichbedeutend sein könnte mit einem Verrat der eigenen Sehnsüchte und Träume zugunsten eines bürgerlichen, geordneten Familienlebens. 172 Durst 2007, S. 356–367.

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deutungszusammenhang mehr oder weniger systematisch entschlüsselbar und in einen übertragenen (sekundären) Bedeutungszusammenhang überführbar ist, in denen also, wie in Orwells Animal Farm, die wörtliche Bedeutung lediglich als eine Art Vehikel für die durch sie transportierte, übertragene Bedeutung dient, nur eine Möglichkeit des Einsatzes sprachlicher Bildlichkeit. Daneben existieren jedoch verschiedene Fälle, in denen sich der primäre und der sekundäre Bedeutungszusammenhang die Waage halten, in denen also kein Verhältnis der Übersetzbarkeit, sondern der Äquivalenz (die moderne Metapherntheorie spricht hier auch von ›Interaktion‹) vorliegt. Die Funktionsweise sprachlicher Bildlichkeit hängt aus dieser Perspektive schließlich eng mit dem jeweiligen literaturwissenschaftlichen Verständnis dessen zusammen, was Bildlichkeit in einem Text überhaupt ist und was sie leisten kann. Diese verschiedenen Ansätze einer Konzeption von sprachlicher Bildlichkeit im Folgenden in einem kleinen Exkurs zur Funktionsweise von Metaphern näher ausgeführt werden. Exkurs: Die ›doppelte Bedeutung‹ von Metaphern Seit über Sprache nachgedacht wird, hat die Metapher immer wieder ein besonderes Interesse auf sich gezogen: Als »fremdartig« hatte sie bereits Aristoteles beschrieben, als etwas, »was nicht üblicher Ausdruck ist« und das, indem es prinzipiell unvereinbare Begriffe miteinander verknüpft, ein »Rätsel« erzeugt.173 Diese Rede von der Fremdheit, der Unkonventionalität sowie der rätselhaften Widersprüchlichkeit der Metapher hat sich bis in die moderne Metapherntheorie erhalten. So bestimmt Harald Weinrich die Metapher als einen Verstoß gegen die in einem Text aufgebaute Determinationserwartung, womit er den Umstand bezeichnet, dass ein metaphorischer Ausdruck stets den in einem Text geweckten Annahmen hinsichtlich eines bestimmten Bedeutungsumkreises, dem die verwendeten Begrifflichkeiten entstammen, widerspricht.174 Die Metapher, so lassen sich Weinrichs Ausführungen verkürzt formulieren, ist demnach ein fremdes Wort in einem Kontext.175 In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen Gerhard Kurz’, der die Metapher als einen punktuellen Bruch mit _____________ 173 Aristoteles (1982): Poetik. Übers. und hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart, Kap. 22, 1458a, S. 70–73. Vgl. hierzu auch Aristoteles’ vielzitierte Bestimmung der Metapher als »Übertragung eines fremden Wortes«, die bei Fuhrmann allerdings sehr frei mit »Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird« übersetzt wird. Ebd., Kap. 21, 1457b, S. 66f. 174 Harald Weinrich (1976a): Allgemeine Semantik der Metapher. In: ders.: Sprache in Texten, Stuttgart, S. 317–327, S. 319f. 175 Weinrich selbst definiert die Metapher als »ein Wort in einem konterdeterminierenden Kontext«. Weinrich 1976a, S. 320.

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sprachlichen Konventionen innerhalb eines Textes definiert bzw. als »eine Abweichung – nicht vom wörtlichen Gebrauch [...], sondern vom dominanten, prototypischen Gebrauch eines Wortes [...].«176 Und Max Black schließlich spricht vom »Geheimnis und Rätsel der Metapher« (»the secret and the mystery of metaphor«), das er darin begründet sieht, dass die Metapher zwei verschiedene Vorstellungen miteinander in Verbindung bringt, wobei jedoch stets ein »simultanes Bewusstsein« (»simultaneous awareness«) der beiden Vorstellungen gegeben ist.177 Die Metapher stellt diesen Anätzen zufolge also etwas Fremdes, Unkonventionelles dar, etwas, das in den alltäglichen Sprachgebrauch eindringt und eine Irritation erzeugt. Dabei sind Metaphern jedoch nicht, wie in den durch die antike Rhetorik begründeten Substitutionstheorien angenommen, als bloße sprachliche Ornamente anzusehen, die einen ›eigentlichen‹ Ausdruck durch einen ästhetisch ansprechenderen, damit jedoch ›uneigentlichen‹ Ausdruck ersetzen. Demgegenüber konstituiert sich, wie neuere Interaktionstheorien hervorheben, eine Metapher stets aus zwei verschiedenen Vorstellungen, Gegenständen oder Begriffen, die wechselseitig aufeinander projiziert werden bzw. die in der Art eines Filters jeweils den einen Gegenstand jeweils durch den anderen hindurchscheinen lassen.178 Bereits der Religionspsychologe Wilhelm Stählin, der sich in seinen Forschungen zentral mit der Problematik biblischer Metaphern auseinandergesetzt hat, hat diese Doppelstruktur der Metapher erkannt und in einem 1914 erschienen Aufsatz von einer »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung« gesprochen, welche die Metapher erzeugt: […] der metaphorische Ausdruck steht jedes Mal in einer gewissen Spannung mit dem Zusammenhang. Er stammt aus einem Gebiet, von dem hier nicht die Rede ist, und wird auf ein Gebiet angewendet, auf dem er nicht daheim ist. [...] Er ist ein Fremdkörper in dem Zusammenhang und kann mindestens als solcher zum Bewußtsein kommen. Diese ›eigentliche‹ Bedeutung kann aber auf keine andere Weise repräsentiert werden, als Wortbedeutungen überhaupt im Bewußtsein gegenwärtig sind: es kommen Merkmale zum Bewußtsein, Beziehungen tauchen auf, Beziehungsgegenstände fallen ein, Gefühlswerte klingen an, und vor allem: es wird eine Sphäre bewußt, in die der Gegenstand hineingehört. Gleichzeitig aber bin ich durch den Zusammenhang gezwungen, ein anderes Stoffgebiet, eine andere Sphäre ins Auge zu fassen. [...] Es ist eine eigentümliche Bewußtseinslage, die hierdurch

_____________ 176 Gerhard Kurz (2004): Metapher, Allegorie, Symbol, 5. durchges. Aufl., Göttingen, S. 18. 177 Max Black (1962): Metaphor. In: ders.: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithaca/New York, S. 25–47, S. 39 und S. 46. 178 Vgl. hierzu Ivor Armstrong Richards (1936): Kap. 5: ›Metaphor‹. In: ders.: The Philosophy of Rhetoric, New York/London, S. 89–114, S. 96. Richards nennt diese beiden Vorstellungen ›tenor‹ und ›vehicle‹, im Anschluss an Weinrich werden sie in der deutschen Terminologie auch als ›Bildspender‹ und ›Bildempfänger‹ bezeichnet. Harald Weinrich (1976b): Semantik der kühnen Metapher. In: ders.: Sprache in Texten, Stuttgart, S. 295–316. Zu den Begriffen ›Projektion‹ und ›Filter‹ vgl. Black 1962, S. 41.

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entsteht, und ich glaube sie zutreffend als die ›Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung‹ kennzeichnen zu können.179

Mit der Formulierung »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung« ist eine wesentliche Eigenart der Metapher angesprochen, die darin besteht, dass die Metapher zwei Bedeutungen simultan realisiert, wobei sie sich permanent in einen Widerspruch verwickelt: Die Metapher trifft eine Aussage und nimmt diese zugleich wieder zurück. Wenn man so beispielsweise von einer Person sagt sie ›tanze wie der Teufel‹, dann will man damit nicht zum Ausdruck bringen, dass die jeweilige Person ›der Teufel‹ persönlich ist, sondern lediglich ein sehr guter, wilder, exzessiver, eben ›teuflischer‹ Tänzer – und unterstellt ihr damit in gewisser Weise eben doch (zumindest was das Tanzen betrifft) ein ›Teufel‹ zu sein. Aus dieser Simultaneität von Gültigkeit und Nicht-Gültigkeit ergibt sich schließlich der »oszillierende, schweifende, etwas unbestimmte Charakter« der Metapher, den Kurz als »ein Resultat der Verstehensbewegung, die sie Gang setzt« deutet.180 In eine ähnliche Richtung geht die Metaphernkonzeption Harald Weinrichs, der davon ausgeht, dass eine Metapher stets einen Widerspruch enthält, der sich besonders dann enthüllt, wenn sie beim Wort genommen wird.181 Je ›kühner‹ die Metapher ist, d. h. je kleiner die Bildspanne zwischen Bildspender und Bildempfänger, desto stärker erzwingt sie die Aufmerksamkeit für diesen Widerspruch, erweckt Irritationen und lässt dem Leser keine Ruhe. »Es gibt also«, schreibt Weinrich, »bei den sprachlichen ›Bildern‹ ebenso wie bei den optischen Bildern so etwas wie ›optische Täuschung‹. Die Sprache täuscht uns hier, und wir lassen uns willig täuschen.«182 Diese Bemerkungen zur Funktionsweise von Metaphern sollen vorerst genügen um zu zeigen, dass das sprachliche Verfahren der Bildung und des Verstehens von Metaphern gewisse Ähnlichkeiten zum textstrukturellen Verfahren der Erzeugung von (phantastischer) Ambiguität aufweist: Was die Metapher auf der Ebene von Teilbereichen eines Textes bewirkt, erzeugt die Struktur des Phantastischen auf der Ebene des Textganzen. Die Struktur der Metapher hat, ähnlich wie die Struktur des phantastischen Erzählens, eine permanente Oszillation zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen zur Folge und erzeugt auf diese Weise eine Irritation und Unschlüssigkeit des impliziten Lesers. Die Konsequenzen, die ein bildhafter, uneigentlicher Sprachgebrauch für das Phantastische besitzen kann, sind also völlig unterschiedlich, je nachdem ob das sprachliche Bild vollständig in einen sekundären, übertragenen Bedeutungszusammenhang _____________ 179 Wilhelm Stählin (1914): Zur Psychologie und Statistik der Metaphern. In: Archiv für die gesamte Psychologie 31, 1914, H. 3/4, S. 297–425, S. 321f. Hervorheb. im Original. 180 Kurz 2004, S. 25. 181 Weinrich 1976b, S. 306. 182 Ebd., S. 328.

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aufzulösen ist oder ob demgegenüber der primäre und der sekundäre Bedeutungszusammenhang nebeneinander bestehen und um ihre Gültigkeit konkurrieren. 3.2.3. Metaphern und Allegorien im phantastischen Film Abschließend ist an dieser Stelle nun noch die Funktionsweise von Metaphern und Allegorien im phantastischen Film zu erörtern, wobei sich zunächst die Frage stellt, ob das audiovisuelle Medium Film analog zur Sprache überhaupt Metaphern kennt bzw. wenn ja, welche spezifischen Darstellungs- und Wirkungsfunktionen metaphorische Prozesse im Film besitzen. Vorwegnehmend ist zu bemerken, dass die Frage nach der Filmmetapher in der Filmwissenschaft äußerst widersprüchlich diskutiert wird: Filmische Metaphern, so der allgemeine Tenor, basieren auf grundsätzlich anderen Voraussetzungen als sprachliche Metaphern, so dass zu überlegen ist, ob der Begriff der Filmmetapher letztendlich nicht selbst eine Metapher ist. Anschaulich dargelegt hat dies bereits Rudolf Arnheim: [D]er Schriftsteller kann für noch so realistische Beschreibungen Metaphern verwenden, weil nämlich der Anschauungsgehalt eines solchen bildlichen Ausdrucks nicht in die Handlungssituation selbst mit eingeht. Schreibt der Dichter: ›Sie ging durch den Saal leichtfüßig wie eine Gazelle‹, so wird der Leser niemals zu der störenden Vorstellung kommen, daß außer dem Mädchen noch unmotivierterweise eine Gazelle durch den Saal laufe. Will aber der Filmkünstler dasselbe sagen, so muß die Gazelle leibhaftig mit ins Bild – in welcher Sphäre sollte sie denn sonst auftreten! Das Wort gibt dem Dichter die Möglichkeit an die Hand, zugleich Tatsachen zu beschreiben und gedanklich-abstrakte Verbindungen zu knüpfen. Bild und Ton aber ist ein Gestaltungsmaterial von so viel stärkerem sinnlichen Gehalt, daß man Dinge, die nur begrifflich, nicht einer realen Situation nach zusammengehören, nicht zusammen zeigen kann.183

Der Einwand Arnheims gegen den Begriff der filmischen Metapher ist insofern berechtigt als im Film, anders als im Sprachsystem, die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat nicht auf Konvention beruht: Die dominant ikonischen Zeichen des Films funktionieren demgegenüber mittels einer Analogiebildung zwischen Signifikant und Signifikat. Ikonische Zeichen können jedoch, wie Anke-Marie Lohmeier zeigt, keine uneigentliche Bedeutung besitzen in dem Sinn, dass dem Signifikanten hier ein Signifikat zugewiesen wird, das ihm üblicherweise nicht zukommt:

_____________ 183 Rudolf Arnheim (1974 [1932]): Film als Kunst, Frankfurt a. M., S. 297.

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[D]ie uneigentliche Bedeutung eines Bildes [vermag] seine eigentliche Bedeutung offensichtlich nicht auszulöschen oder zu verdrängen [...], weil das abgebildete Ding als eigentliches im Bild immer gegenwärtig bleibt.184

In ähnlicher Weise sieht auch Trevor Whittock die in der Ikonizität begründete Konkretheit des filmischen Bildes als Grund dafür an, dass es diesen nur selten gelingt, eine abstrakte oder allgemeine Bedeutung anzunehmen: »Their ontological plentitude binds them to their referents, making it difficult for them, to be assigned a conventional or symbolic purport.«185 Filmische Bilder, so Whittocks Folgerung, sind stets in einem stärker eigentlichen Sinn zu verstehen als die abstrakten Zeichen der Sprache, jedes filmische Bild besitzt mehr oder weniger denselben Status an Eigentlichkeit und Gültigkeit. Während im filmischen Einzelbild als einem konkreten, gegenständlichen Bild somit prinzipiell keine uneigentliche Bedeutung verankert sein kann,186 besitzt der Film demgegenüber die Möglichkeit, mittels Montage verschiedener Einstellungen uneigentliche Bedeutungszusammenhänge zu realisieren. So montiert beispielsweise Sergej Eisenstein in seinem Film ǞǿǭȄǷǭ (dt.: Streik, UdSSR 1924) Szenen der Niederschießung von Arbeitern durch die zaristische Armee und Szenen des Schlachtens von Rindern im Schlachthof ineinander und in der berühmten Eröffnungsszene von Charlie Chaplins Modern Times (USA 1936) wird eine Schafherde gezeigt, gefolgt von einer Szene, in welcher Menschenmassen in einer Großstadt auf dem Weg zur Arbeit aus einem U-Bahnschacht herausströmen. Hier werden die sprachlichen Bilder des ›Abschlachtens‹ von Menschen im Krieg bzw. des menschlichen ›Herdentriebs‹ mittels Montage als filmische Metaphern realisiert. Das Verfahren der Montage ermöglicht somit eine Verknüpfung zweier prinzipiell nicht zusammengehörender Vorstellungen bzw. Gegenstände, die, insofern sie von einem impliziten Filmzuschauer als eine Einheit wahrgenommen werden und zur Konstruktion eines über _____________ 184 Anke-Marie Lohmeier (1996): Kap. ›Uneigentliche Rede im Film‹. In: Hermeneutische Theorie des Films, Tübingen (Medien in Forschung und Unterricht 42), S. 299–363, hier S. 300. 185 Trevor Whittock (1990): Metaphor and Film, Cambridge, S. 24. 186 Im Blick auf stärker abstrakter Bilder und Kunstwerke lassen sich demgegenüber jedoch Beispiele finden, die das Strukturprinzip der Metapher als Verbindung zweier nicht zusammengehörender Vorstellungen bzw. Gegenstände innerhalb eines Werkes realisieren. Man denke so etwa an Pablo Picassos Ready-made Tête de taureau (dt.: Stierkopf, 1942, Musée National Picasso, Paris), das aus dem Sattel und der Lenkstange eines Fahrrads den Schädel und die Hörner eines Stieres entstehen lässt. Auf diese Weise werden in der Skulptur der Gegenstand ›Stier‹ (für Picasso ein Symbol des Widerstands) und der Gegenstand ›Fahrrad‹ (das ›friedliche‹ Fortbewegungsmittel der Zivilisten und einfachen Leute im besetzten Paris unter den Nationalsozialisten) zu einer Metapher verknüpft. Vgl. hierzu auch Virgil C. Aldrich, der ähnliche Beispiele für visuelle Metaphern, unter anderem auch aus dem Werk Picassos, anführt. Virgil C. Aldrich (1996): Visuelle Metapher. In: Theorie der Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, 2. erg. Aufl., Darmstadt, S. 142–159.

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die primäre Bedeutungsebene hinausgehenden, sekundären Bedeutungszusammenhangs einladen, als ›filmische Metaphern‹ anzusehen sind.187 Neben der Montage, die, wie auch Roman Jakobson herausstellt,188 sicherlich das wichtigste Verfahren filmischer Metaphorik darstellt, können des Weiteren Techniken wie Überblendung, Morphing, Digital Compositing, Computeranimation u. a. dazu eingesetzt werden, uneigentliche Bedeutungszusammenhänge im Film zu realisieren. So verweist Noël Carrol auf eine Szene aus Fritz Langs Film Metropolis (Deutschland 1927), in welcher sich die große Maschine in der unterirdischen Arbeiterstadt mittels eines Überblendungsverfahrens in einen menschenverschlingenden Moloch verwandelt: Die Treppe wird zur Zunge des Molochs, die Öffnung am Ende der Treppe bildet dessen aufgerissenen Rachen. Dabei bleibt die Maschine jedoch die gesamte Zeit als solche erkennbar, Monster und Maschine sind im selben Bild kopräsent.189 Obschon auch im Film somit eine Verknüpfung zweier nicht zusammengehörender Gegenstände zu einer visuellen Einheit stattfinden kann, die als solche von Filmzuschauer in einem uneigentlichen Sinn interpretiert wird, ist der Begriff der ›Filmmetapher‹ aus den oben dargelegten Gründen jedoch nicht ganz unproblematisch. So stellt sich beispielsweise auch die Frage, wie eigenständig filmische Metaphern sind und ob es sich dabei im Regelfall nicht lediglich um visuelle Realisierungen sprachlicher Metaphern handelt. Eine derartige Abhängigkeit filmischer Metaphern vom Medium Sprache hat insbesondere Boris Ejchenbaum postuliert: »Die Filmmetapher«, schreibt Ejchenbaum, »ist möglich nur vorbehaltlich der Unterstützung durch eine Sprachmetapher. Der Zuschauer kann sie _____________ 187 Vgl. hierzu auch Carrols Definition der Filmmetapher in: Noël Carrol (1996b): A Note on Film Metaphor. In: ders.: Theorizing the Moving Image, Cambridge, S. 212–223, S. 215f. und S. 218. 188 In seinem Aufsatz Der Doppelcharakter der Sprache sowie in einem späteren Interview befasst sich Jakobson auch mit filmischen Metaphern, wobei er zwischen metonymischen und metaphorischen Montageverfahren differenziert. In der Frühzeit des Kinos, als der Film erstmals begonnen hatte, sich von den Theatertraditionen zu lösen, so Jakobson, seien die Filme noch stark metonymisch organisiert gewesen, wie sich am Beispiel der Filme von David W. Griffith, die durch die Einführung technischer Neuerungen wie Winkel-, Perspektivund Brennweitenveränderung geprägt sind, unschwer erkennen lasse. In der Folgezeit, als das Kino sich als selbstständiger behauptet hatte, sei es dann auch möglich gewesen, Elemente einzuführen, die komplexer sind und eine ausgedehntere Neuorganisation des filmischen Materials erfordern. Auf diese Weise entstand im Film ein metaphorischer Montagestil, als dessen Vertreter Jakobson unter anderem Eisenstein, Chaplin, Kurosawa und Resnais benennt. Roman Jakobson (1996 [1956]): Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik. In: Theorie der Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, 2. erg. Aufl., Darmstadt, S. 163–174, S. 170; ders. (1978): Entretien sur le cinéma avec Adriano Aprà et Luigi Faccini. In: Cinéma. Théorie, lectures, hrsg. v. Dominique Noguez, 2. überarb. und akt. Aufl., Paris, S. 61–68, S. 62. 189 Ebd., S. 212.

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nur dann verstehen, wenn in seinem sprachlichen Paradigma ein korrespondierender metaphorischer Ausdruck existiert.«190 In Fortführung von Ejchenbaums Überlegungen spricht Carrol auch von verbal images, deren Aufgabe unter anderem darin besteht, den ›toten‹, d. h. lexikalisierten sprachlichen Metaphern eine konkrete visuelle Form zu verleihen und sie auf diese Weise neu zu beleben.191 Wie ist nun das Verhältnis derartiger filmischer Metaphern zum Phantastischen einzuschätzen? Zunächst einmal ist festzustellen, dass im Medium Film ebenso wie in der Literatur die Deutung eines unerklärlichen, rational nicht möglichen Ereignisses als Metapher eine Tilgung der potentiellen Wunderbarkeit des Textes zur Folge hat. Das Wunderbare setzt stets eine Referenz auf ein eigentliches Geschehen in der fiktiven Welt der Erzählung voraus, auf dem Gebiet der Uneigentlichkeit kann es nicht bestehen. So ist ein mit den Konventionen filmischer Darstellung vertrauter, non-naiver Filmzuschauer sich dessen bewusst, dass die zuvor erwähnte Szene aus Metropolis als eine filmische Metapher zu deuten ist, die ihm als solche ein bestimmtes Interpretationsschema in der Art ›Maschinen sind menschenfressende Ungeheuer‹ suggeriert. Mit der Deutung dieser Szene als Metapher wird das potentiell wunderbare Ereignis, nämlich die Transformation einer Maschine in ein Monster, jedoch als ungültig aufgelöst: Die Verbindung physikalisch nicht zusammengehörender Elemente wird hier als eine rein metaphorische Verknüpfung identifiziert. In umgekehrter Weise setzen dagegen die verschiedenen wunderbaren Filmgenres, wie beispielsweise der Horror- und der Science Fiction-Film, voraus, dass eine Verbindung disparater Elemente zu einer visuellen Einheit stets wörtlich genommen wird. So ist die Verbindung von Mensch und Insekt in David Cronenbergs The Fly (Kanada/USA 1986) oder auch von Mensch und biologischer Computerspielkonsole in dessen Film eXistenZ (Kanada/Großbritannien 1999) zunächst in einem gänzlich wörtlichen, eigentlichen Sinn zu verstehen, d. h. sie ist auf der primären Bedeutungsebene des Textes als ein real stattfindendes und damit wunderbares Ereignis zu interpretieren – obschon es dem Zuschauer selbstverständlich freigestellt ist, hierin auch eine ›tiefere‹, übertragene Bedeutung zu erkennen. Die im Text verankerte Interpretierbarkeit eines scheinbar wunderbaren Ereignisses als Metapher führt somit auch im Medium Film zur Tilgung des Wunderbaren. Andererseits lassen sich auch im Bereich des fik_____________ 190 Boris Ėjchenbaum (2005): Probleme der Filmstilistik. In: Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, hrsg. v. Wolfgang Beilenhoff, Frankfurt a. M., S. 20– 55, S. 52 [russ. Original: Problemy kino-stilistiki. In: Poėtika kino, hrsg. v. Boris Ėjchenbaum, Moskva/Leningrad 1927, S. 13–52]. 191 Noël Carrol (1996a): Kap. ›Language and Cinema: Preliminary Notes for a Theory of Verbal Images‹. In: ders.: Theorizing the Moving Image, Cambridge, S. 187–211, S. 204.

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film

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tionalen Spielfilms zahlreiche Beispiele für Fälle finden, in sich die wörtliche und die übertragene Deutung eines scheinbar wunderbaren Ereignisses die Waage halten, in denen also nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob das Wunderbare als reales Ereignis anzuerkennen oder demgegenüber als filmische Metapher aufzulösen ist. Die Funktionsweise einer derartigen ambiguen (Un-)Eigentlichkeit, für welche Todorov auch den Begriff der ›unschlüssigen‹ Allegorie geprägt hat, soll im Folgenden anhand eines Filmbeispiels veranschaulicht werden. Der Film Harvey (USA 1950, dt. Mein Freund Harvey) des Regisseurs Henry Koster bietet ein prototypisches Beispiel für einen phantastischen Film, der eine sprachliche Metapher filmisch realisiert: Die gesamte Filmidee basiert im Grunde auf der bildhaften Redewendung, eine Person sehe ›weiße Kaninchen‹, d. h. sie sei nicht ganz richtig im Kopf, habe zuviel Alkohol getrunken o. ä. Aus der Metapher des ›weiße-Kaninchen-Sehens‹, die im Anschluss an Lewis Carrolls Roman Alice’s Adventures in Wonderland stets auch in enger Verbindung mit einem Eintritt in das Reich des Wunderbaren und der Imagination steht,192 entwickelt der Film ein Spiel mit verschiedenen Bedeutungsebenen und spinnt ein Netz von komödiantischen Verwicklungen, wobei das Geschehen jedoch bis zum Schluss konsequent mehrdeutig bleibt und sowohl wörtlich als auch in einem übertragenen Sinn zu lesen ist. Im Mittelpunkt der Filmhandlung steht der gutmütige, stets freundliche Junggeselle Elwood P. Dowd, der seit einiger Zeit eine sonderbare Freundschaft pflegt: Ein sechs Fuß großer, weißer Hase namens Harvey leistet Elwood bei seinen Unternehmungen Gesellschaft, begleitet ihn auf Spaziergänge und – was der trinkfreudige Elwood besonders schätzt – zieht mit ihm gemeinsam durch die Pubs der Stadt. Dabei ist Harvey für sämtliche Personen außer für Elwood selbst jedoch unsichtbar, weshalb Elwoods Schwester Veta und ihrer Tochter Myrtle Mae davon überzeugt sind, ihr Verwandter habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Im Anschluss an eine Teeparty im Hause der Dowds, die durch das Auftauchen Elwoods und seines unsichtbaren Freundes gründlich missrät, befindet Veta, dass es nun endgültig Zeit ist, ihren Bruder in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Aufgrund einer Verwechslung wird sie von dem zuständigen Arzt jedoch selbst für verrückt gehalten und in eine Zelle gesteckt. Nach einigen Verstrickungen des Handlungsverlaufs, die unter anderem zum Geständnis des Anstaltsdirektors Dr. Chumley führen, er selbst könne den weißen Hasen sehen, gelingt es Elwood, gemeinsam mit seiner Familie und seinem unsichtbaren Freund die Klinik zu verlassen. Im _____________ 192 Das Motiv wird beispielsweise auch in dem Film The Matrix (USA 1999, Regie: Andy Wachowski/Larry Wachowski) wieder aufgegriffen, wobei der Satz »Follow the white rabbit« hier jedoch in gerade umgekehrter Weise den Weg aus der Illusion in die Realität weist.

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I. Definition des phantastischen Films

Schlussbild sieht man in einer hollywoodtypischen Realisierung der Bildformel des happy horizon Veta, Myrtle Mae und Elwood sowie – über den Arm, den Elwood um seine Taille gelegt hat, als Figur angedeutet – den unsichtbaren Hasen Harvey gegen den Abendhorizont wandern. In dem Film Harvey werden verschiedene wörtliche und übertragene Deutungsvarianten der Ereignisse ineinander verwoben, ohne dass der Film sich für eine dieser Varianten ganz entscheidet. So dominieren zu Beginn zunächst die Hinweise auf eine wörtliche, rational-psychologische Lesart des Geschehens: Elwood, so die Ansicht seiner Familienangehörigen, sei »the biggest screwball in town« 193 und am besten in einer psychiatrischen Klinik aufgehoben. Im Verlauf der Filmhandlung erweist sich diese Deutung jedoch zunehmend als unzureichend, wohingegen sich nun die Hinweise auf eine zweite, wunderbare Deutungsvariante häufen. Harvey, so erklärt Elwood, habe sich ihm als ein ›Pooka‹ vorgestellt, worunter, wie aus einem Lexikoneintrag hervorgeht, ein keltisches Fabelwesen von enormer Größe zu verstehen ist, das nur für bestimmte Menschen sichtbar ist und das eine Vorliebe für Rumtöpfe (»rumpots«) sowie für Verrückte (»crackpots«) hat. Diese wunderbare Lesart wird jedoch sofort wieder durchbrochen und in ein metafiktionales Spiel mit verschiedenen Erzählebenen überführt, indem das Lexikon den Leser plötzlich direkt ›anredet‹ und ihn nach seinem Befinden fragt.194 Die hier erstmals ins Spiel gebrachte, dritte Deutungsvariante des unsichtbaren Hasens als eine Allegorie der Poesie und der Fiktion wird später auch durch die Szene gestützt, in der sich Elwoods Schwester mit Dr. Chumley über das Portraitgemälde ihres Bruders unterhält (Abb. 19). So kommentiert Veta das große Ölbild, auf dem sich Elwood gemeinsam mit seinem Freund Harvey hat abbilden lassen, wie folgt: Veta (zu Dr. Chumley): »I took a course in art last winter. I learnt the difference between a fine oil painting, and a mechanical thing, like a photograph. The photograph shows only the reality. The painting shows not only the reality, but the dream behind it. It’s our dreams, doctor, that carry us on.«195

Der Hinweis auf die ›Träume‹, die ›hinter der Realität‹ stehen, kann dabei wörtlich auf das Ölgemälde bezogen werden, auf welchem der sechs Fuß große weiße Hase Harvey hinter der Figur Elwoods steht – das sprachliche _____________ 193 Harvey (USA 1950, Regie: Henry Coster, DVD-Fassung Universal 2007, 102 Min.), Min. 0:04:49–0:04:56. 194 Wilson, ein Pfleger im Sanatorium, liest aus einem Lexikon vor: »P O O K A – Pooka – from old Celtic mythology – a fairy spirit in animal form – always very large. The pooka appears here and there – now and then – to this one and that one – a benign but mischievous creature – very fond of rumpots, crackpots, and how are you, Mr. Wilson? – How are you, Mr. Wilson? Who in the encyclopedia wants to know?« Ebd., Min. 0:44:00–0:44:55. 195 Ebd., Min. 0:55:43–0:56:01.

3. Adaption der Phantastik-Theorie Todorovs für den Film

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Bild wird visuell als Ölbild konkretisiert. In ähnlicher Weise werden den gesamten Film hindurch metaphorische Ausdrücke und Redewendungen ›beim Wort‹ genommen und in die fiktive Realität des Films überführt, wobei ihr wörtlicher (d. h. wunderbarer) und ihr übertragener Sinngehalt zu gleichen Teilen nebeneinander bestehen. Beispielhaft zeigt sich dies in der Szene, in welcher Elwood dem Anstaltsdirektor die Fähigkeit Harveys schildert, die Zeit anhalten zu können, wobei das englischsprachige Idiom ›a face that would stop a clock‹, das allgemein zur Bezeichnung eines extrem hässlichen Gesichtes dient, hier wörtlich als übernatürliche Begabung des Hasen realisiert wird: »You’ve heard the expression ›his face would stop a clock‹? Well, Harvey can look at your clock... and stop it.«196 Über derartige Sprachspiele konkretisiert sich einerseits das Wunderbare im Text, andererseits wird es zugleich auch wieder zurückgenommen, indem der filmische Text hier eine Offenlegung seines Fiktionalitätscharakter betreibt und sich selbst als künstlerische Konstruktion entlarvt. Das außergewöhnliche und scheinbar wunderbare Geschehen in Harvey bleibt bis zum Schluss konsequent ambigue. Während der Film so einerseits im Verlauf der Handlung immer stärker auf eine allegorisierende Lesart drängt, findet andererseits eine zunehmende Stärkung des Wunderbaren statt, insofern sich die Hinweise auf die materielle Existenz des Hasen gegen Ende des Films häufen: Türen gehen wie von Geisterhand auf und zu, die große Hollywoodschaukel, in welcher Harvey angeblich sitzt, schwingt sanft hin und her, und schließlich öffnet und schließt sich das schmiedeeiserne Tor des Sanatoriums wie von selbst als der unsichtbare Hase in die Nacht hinaustritt. Die unauflösbare Mehrdeutigkeit sämtlicher Ereignisse – die Hollywoodschaukel könnte auch der Wind bewegt haben und das elektrisch betriebene Gittertor könnte auch vom Pförtner geöffnet worden sein – wird dabei an verschiedenen Stellen explizit zum Thema gemacht: Durch wiederholte Anspielungen auf die Vielseitigkeit und den ›Facettenreichtum‹ des weißen Hasen (»Harvey has several very interesting facettes«, »He’s very versatile«)197 wird gewissermaßen das narrative Strickmuster des Films offengelegt. Am Beispiel des Films Harvey wurde gezeigt, dass metaphorisierende und allegorisierende Darstellungsverfahren im Film ebenso wie in der Literatur äußerst widersprüchliche Konsequenzen für das Phantastische besitzen können. So können derartige Verfahren einerseits zur Tilgung eines potentiell Wunderbaren führen, andererseits können sie aber auch

_____________ 196 Ebd., Min. 1:19:43–1:20:02. 197 Ebd., Min. 1:19:37 und Min. 1:19:07.

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Abb. 18: Harvey. Eröffnungsszene – »After You!«

Abb. 19: Harvey. Das Portrait

4. Der narrative Modus des Phantastischen

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als Initiatoren einer phantastischen Mehrdeutigkeit fungieren, indem die wörtliche, d. h. die wunderbare, und die übertragene Bedeutung zu gleichen Teilen im Text präsent sind und nicht ineinander auflösbar sind. Die (Un-)Eigentlichkeit eines sprachlichen Ausdrucks, einer Filmszene oder eines literarischen bzw. filmischen Textes erzeugt in diesem Fall eine »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung«198 und bildet somit ein wichtiges Verfahren eines mehrdeutigen, phantastischen Erzählens.

4. Der narrative Modus des Phantastischen Eine der grundlegenden, immer wieder diskutierten Fragen der PhantastikForschung ist die, ob das Phantastische als literarisches bzw. filmisches Genre199 zu bestimmen ist, oder demgegenüber als narrativer Modus, als Struktur oder auch als Schreibweise, die sich in verschiedenen Genres und Medien konkretisieren kann. So geht Tzvetan Todorov in seiner Introduction à la littérature fantastique davon aus, bei dem Phantastischen handle es sich um ein literarisches Genre, das eine Klasse von Texten auf der Basis deduktiv-systematisch zu bestimmender Merkmale zusammenfasst und das von den benachbarten, ebenfalls systematisch konstruierbaren Genres des Unheimlichen (l’étrange) und des Wunderbaren (le merveilleux) abzugrenzen ist. »L’expression ›littérature fantastique‹«, so Todorovs grundlegende Hypothese, »se réfère à une variété de la littérature ou, comme on dit communément, à un genre littéraire.«200 Diesem Ansatz schließen sich Christine Brooke-Rose und Uwe Durst weitgehen an,201 wobei Durst noch genauer _____________ 198 Stählin 1914, S. 322. Hervorheb. im Original. 199 Der Begriff des Genres wird in der vorliegenden Arbeit synonym zum Begriff der Gattung verwendet, wobei dem Genre-Begriff als dem international stärker verbreiteten (vgl. engl./frz. ›genre‹, ital. ›genere‹) sowie speziell in der Filmwissenschaft auch im deutschen Sprachgebrauch etablierten Begriff der Vorzug gegeben wird. 200 Todorov 1970, S. 7. (»Der Ausdruck ›fantastische Literatur‹ bezieht sich auf eine Variante der Literatur oder, wie man gewöhnlich sagt, auf eine literarische Gattung.« Todorov 1972, S. 7.) 201 Unter Berücksichtigung der Problematik, dass dem enggefassten Genreverständnis Todorovs zufolge nur eine sehr kleine Gruppe von Texten im engeren Sinne der phantastischen Literatur zuzurechnen ist, merkt Brooke-Rose jedoch an, dass im Fall des Phantastischen weniger von einem festumrissenen ›Genre‹ auszugehen sei, als demgegenüber von einem ›Element‹, das auch in einzelne Teile eines Textes integrierbar ist: »[T]he pure fantastic is not so much an evanescent genre as an evanescent element; the hesitation as to the supernatural can last a short or a long moment and disappear with an explanation.« Christine Brooke-Rose (1981): Historical Genres/Theoretical Genres. Todorov on the Fantastic. In: dies.: A Rhetoric of the Unreal. Studies in Narrative and Structure, Especially of the Fantastic, Cambridge [Erstveröffentlichung in: New Literary History, Bd. 8, H. 1 (1976), S. 145–158], S. 55–71, S. 63f. Hervorheb. im Original.

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zwischen der ›phantastischen Literatur‹ bzw. der ›Phantastik‹ als einem literarischen Genre einerseits und dem ›Phantastischen‹ als einer narrativen Struktur andererseits differenziert und somit zu folgender Definition gelangt: »Die phantastische Literatur ist das Genre, in welchem die [...] Struktur des Phantastischen dominant ist.«202 Während die oben genannten Ansätze das Phantastische bzw. die Phantastik als ein systematisch konstruierbares Genre im Sinne einer festumrissenen Kategorie von Texten betrachten, hat bereits im 19. Jahrhundert der Schriftsteller Walter Scott den Begriff »fantastic mode of writing«203 geprägt und damit eine strukturelle oder auch ›kompositorische‹ Eigenschaft von Texten benannt, die innerhalb des weitgefassten Bereichs einer Literatur des Übernatürlichen anzusiedeln sind. In der deutschsprachigen Literatur, so schreibt Scott 1827 in seinem Aufsatz On the Supernatural in Fictious Composition; and particularly on the Works of Ernst Theodore William Hoffmann, habe sich in jüngster Zeit ein neuartiger Kompositionsstil (»style of composition«)204 herausgebildet, der in dieser Form wahrscheinlich kaum in einem anderen Land bzw. in einer anderen Sprache hätte entstehen können und den er als die wildeste und ungezähmteste Spielart einer supernatural fiction charakterisiert: This may be called the fantastic mode of writing, – in which the most wild and unbounded license is given to an irregular fancy, and all species of combination, however ludicrous, or however shocking, are attempted and executed without scruple. In the other modes of treating the supernatural, even that mystic region is subjected to some laws, however slight; and fancy, in wandering through it, is regulated by some probabilities in the wildest flight. Not so in the fantastic style of composition, which has no restraint save that which it may ultimately find in the exhausted imagination of the author.205

Die Begriffsprägung »fantastic mode of writing«, die Scott in erster Linie mit Blick auf die Erzählungen E. T. A. Hoffmanns entwickelt, wird im 20. Jahrhundert von Rosemary Jackson und Nancy Traill übernommen206 sowie von Remo Ceserani, der sie als »modo di scrittura fantastico« ins Italienische übersetzt.207 In der deutschsprachigen Phantastik-Forschung _____________ 202 Durst 2007, S. 26. 203 Walter Scott (1968 [1827]): On the Supernatural in Fictious Composition; and particularly on the Works of Ernst Theodore William Hoffmann. In: ders.: On Novelists and Fiction, hrsg. v. Joan Williams, London, S. 312–353, S. 325. Hervorheb. im Original. 204 Ebd., S. 325. Hervorheb. im Original. 205 Ebd. 206 Rosemary Jackson (1981): Fantasy. The Literature of Subversion, London, insbes. Kap. 2, ›The Fantastic as a Mode‹, S. 13–60; Nancy H. Traill (1996): Possible Worlds of the Fantastic. The Rise of the Paranormal in Literature, Toronto et al., S. 11–20. 207 Remo Ceserani (1984): Genre Theory, Literary History, and the Fantastic. In: Literary Theory and Criticism. Presented to René Wellek in Honor of his Eightieth Birthday, hrsg. v. Joseph P. Strelka, Bern et al., S. 121–138; ders.: (1996): Il fantastico, Bologna.

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ist es allen voran Marianne Wünsch, die sich dafür eingesetzt hat, das Phantastische nicht als Genre (bzw. in Wünschs Terminologie als literarische Gattung) zu betrachten, sondern als eine genre- und medienübergreifende narrative Struktur, wobei ihre Begriffsdefinition von Struktur mit dem aus dem Englischen entlehnten Begriff des narrativen Modus korrespondiert: »[…] das ›Fantastische‹«, so Wünsch, »ist nicht als Texttyp, sondern es ist als eine vom Texttyp unabhängige Struktur, die als Element in verschiedene Texttypen und Medien integriert werden kann, einzuführen.« Und weiter: »Die Klassenbildung ›fantastische Literatur‹ ist dann keine elementare, sondern eine abgeleitete Größe: sie bezeichnet die Texte, in denen das Fantastische dominant ist.«208 In eine ähnliche Richtung wie der Ansatz Wünschs gehen die Überlegungen von Monika Schmitz-Emans, die das Phantastische ebenfalls nicht als Genre, sondern als narrative Struktur versteht, insofern der Begriff für sie weniger ein Qualitätsmerkmal von Texten bezeichnet als demgegenüber als »Sammelname für ein Ensemble von Wirkungen« fungiert, »welche diese Texte erzielen oder doch erzielen können.«209 Schließlich reiht sich auch der Ansatz Renate Lachmanns in die oben genannten Bestimmungen des Phantastischen ein, wobei es ihrer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchung der phantastischen Literatur jedoch explizit nicht um eine systematisierende und genretheoretische Bestimmung des Phantastischen geht, sondern um »Fragen der Genese des Phantastischen und dessen semantische Leistung in narrativen Texten unterschiedlicher literarhistorischer Herkunft, um eine Schreibweise, einen ›Modus des Schreibens‹.«210 Dabei gilt Lachmanns Aufmerksamkeit insbesondere auch den formalen Koalitionen, die Phantastische mit anderen Schreibweisen wie dem Komischen, dem Karnevalesken, dem Utopischen oder auch dem Paradoxen eingehen kann.211 Diese beiden entgegengesetzten Positionen einer Bestimmung des Phantastischen werden im Folgenden zunächst mit Bezug auf das relativ spezielle, strukturalistische Genreverständnis Tzvetan Todorovs und anschließend mit Blick auf das stärker historisierende Genrekonzept, das die überwiegende Mehrheit der film- und literaturwissenschaftlichen Forschung zugrunde legt, diskutiert. Schließlich wird dafür argumentiert, dass unter Zugrundelegung des in der gegenwärtigen Forschung gebräuchlichen historisch orientierten Genreverständnisses das Phantastische besser als ein narrativer Modus zu bestimmen ist. _____________ 208 Wünsch 1991, S. 13. Hervorheb. im Original. 209 Monika Schmitz-Emans (1995): Phantastische Literatur. Ein denkwürdiger Problemfall. In: Neohelicon 22, H. 2, S. 53–116, S. 93. 210 Lachmann 2002, S. 12f. Hervorheb. d. Verf. 211 Ebd., S. 13–24.

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4.1. Der strukturalistische Genrebegriff Die gesamte Diskussion um die Bestimmung des Phantastischen als einem Genre oder demgegenüber als einem Modus, einer narrativen Struktur oder auch einer Schreibweise beruht im Grunde auf einem sehr speziellen, strukturalistischen Verständnis Todorovs bezüglich dessen, was unter einem literarischen Genre zu verstehen ist. So fassen Todorov sowie im Anschluss daran auch Brooke-Rose und Durst literarische Genres als überzeitliche, konstante Kategorien auf, die rein mittels deduktiv-systematischer Verfahren zu bilden sind und die unabhängig von realhistorischen Textklassifizierungen existieren. Todorovs systematischem Genreverständnis zufolge sind somit Genres denkbar, die erst rückblickend für eine bestimmte Gruppe von Texten gebildet werden und die im kommunikativen Austausch der jeweiligen Epoche über diese Texte keine Rolle gespielt haben, sowie Genres, die im Extremfall überhaupt keine real existierenden historischen Vertreter besitzen und denen möglicherweise (aber nicht zwingend) zukünftige Werke angehören.212 Die Kategorie Genre existiert bei Todorov somit unabhängig von der historischen Wirklichkeit, als eine überzeitliche Konstante bezeichnet sie lediglich einen bestimmten Grad der Verallgemeinerung von Merkmalen zwischen einer niedrigstmöglichen Abstraktionsstufe, auf der jeder Text ein eigenes Genre repräsentiert, und einer höchstmöglichen Abstraktionsstufe, auf der sämtliche jemals entstandenen und denkbaren Texte einem gemeinsamen Genre zugeordnet werden können. In seinem 1968 in dem Sammelband Qu’est-ce que le structuralisme? erschienenen Aufsatz Poétique gelangt Todorov daher zu dem Schluss: Le genre n’offre pas de réalité en dehors de la réflexion théorique; il suppose toujours qu’on fait abstraction de plusieurs traits divergents, jugés peu importants, en faveur d’autres traits, eux identiques, et qui sont dominants dans la structure de l’œuvre.213

_____________ 212 Diesen systematisch konstruierten Genres (›genres théoriques‹), die rein aus theoretischen Überlegungen abzuleiten sind, stellt Todorov diejenigen Genres gegenüber, die sich aus der Beobachtung der literarischen Wirklichkeit ergeben bzw. die als Begriffskonventionen aus realgeschichtlichen Entwicklungen hervorgegangen sind (›genres historiques‹). Die historischen Genres sieht er dabei jedoch lediglich als eine Untergruppe der theoretischen Genres an. Todorov 1970, S. 18f. 213 Tzvetan Todorov (1968): Poétique. In: Qu’est-ce que le structuralisme? Hrsg. v. Oswald Ducrot et al., Paris, S. 97–166, S. 154. (»Außerhalb der theoretischen Reflexion hat die Gattung keine Realität; sie setzt immer voraus, daß man von vielen divergierenden Zügen, die geringgeschätzt werden, abstrahiert zugunsten anderer, identischer Züge, die in der Struktur des Werks dominieren.« Tzvetan Todorov [1981]: Poetik. In: Einführung in den Strukturalismus, hrsg. v. François Wahl, Frankfurt a. M., S. 105–168, S. 165.)

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Auf der Basis eines derartigen strukturalistischen Genreverständnisses ist es grundsätzlich nicht abwegig, das Phantastische als ein ›Genre‹ zu betrachten, d. h. als einen theoretischen Idealtypus, der sich in der historischen Realität in einzelnen, wenn auch nur in äußerst wenigen Texten in Reinform manifestiert. Auf der anderen Seite drängt sich die Frage auf, wie tragfähig ein Genrekonzept, das gänzlich ahistorisch verfährt und das kein Interesse daran zeigt, die systematisch gebildeten Kategorien auch an den realhistorischen Gegebenheiten zu erproben, letztlich ist. Fraglos handelt es sich bei Genres stets um theoretische Konstrukte, als solche werden diese jedoch immer auch dazu gebildet, um bestimmte realhistorische Sachverhalte zu beschreiben und sind in konkrete, historische Kommunikationskontexte eingebunden. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus ist die neuere literaturwissenschaftlichen Genretheorie somit mehrheitlich dazu übergegangen, Genres als »historisch institutionalisierte Textsorte[n]«214 zu bestimmen und hat die Aufmerksamkeit verstärkt auf die »kommunikative Funktion der generischen Strukturen«215 gelenkt. Die Abkehr von einem verabsolutierenden, deduktiv-systematischen Genreverständnis ist dabei jedoch, wie Klaus Hempfer gezeigt hat, nicht gleichzusetzen mit einem rein induktiven Vorgehen, welches im Extremfall nur diejenigen Texte zu einem Genre zusammenfasst, die zu ihrem historischen Entstehungszeitpunkt unter einem gemeinsamen Genreoberbegriff subsumiert wurden. Vielmehr ist eine »dialektische Vermittlung von Induktion und Deduktion« anzustreben, indem [...] die Gattungsbestimmung einerseits nicht mehr oder weniger axiomatisch gesetzt, sondern aufgrund empirisch vorgegebener Textgruppenbildungen erstellt wird, die dann aber ihrerseits eine Neuinterpretation dieser ›Gegebenheiten‹ erlaubt, insofern sie es z. B. ermöglicht, bestimmte Texte aus dem zunächst approximativ konstituierten Korpus auszuschließen, weil sich diese nicht in der gleichen Weise strukturieren lassen, wie die Mehrzahl der anderen, oder aber umgekehrt zunächst nicht berücksichtigte Werke einzubeziehen, weil sie dem gleichen Modell gehorchen.216

Das heißt also, dass die systematische Konstruktion eines Genres realhistorische Sachverhalte, wie z. B. historische Genrebezeichnungen, Referenzen eines Werks zu anderen Werken, die poetologische Reflexion der Zeit etc., nicht unberücksichtigt lassen kann. Ebensowenig wie Genres rein historisch, ohne die Heranziehung systematischer Kategorien bestimmt werden können, können sie rein systematisch, sozusagen auf ei_____________ 214 Harald Fricke (1981): Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München, S. 133. 215 Hempfer 1973, S. 132. 216 Ebd., S. 136.

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nem ›unbeschriebenen Blatt Papier‹ und ohne Blick auf die historische Realität entworfen werden. Eine verabsolutierende deduktiv-systematische Genredefinition im Sinne Todorovs ist daher, wie auch der Filmwissenschaftler Rick Altman bemerkt, letztendlich ›utopisch‹, da es keinen Ort außerhalb der Geschichte gibt, von dem aus eine solche Definition vorgenommen werden könnte.217 4.2. Der Genrebegriff in der Filmwissenschaft Im Gegensatz zu dem von Todorov vertretenen systematischen Genreverständnis, das lediglich im Bereich der Literaturwissenschaft und auch hier nur bei genretheoretischen Ansätzen, die dem Strukturalismus nahestehen, auf Zustimmung gestoßen ist, geht der große Teil der filmwissenschaftlichen Genretheorie von einem stärker historischen, an konkreten Kommunikationskontexten orientierten Genrekonzept aus. Filmische Genres, so der allgemeine Tenor, sind historisch variable Kategorien, die sich hinsichtlich motivisch-ikonographischer und/oder struktureller Merkmale bestimmen lassen und die im soziokulturellen Zusammenhang einer Epoche als Kommunikationsmittel zwischen Produzenten und Rezipienten fungieren.218 Über filmische Genrebezeichnungen werden dabei sowohl Erwartungshaltungen der Zuschauer angesprochen und gesteuert als auch Verständnisleistungen hinsichtlich der Narration garantiert, indem die Ereignisse in einem Film nicht nur durch den Wunsch nach mimetischer Abbildung der sozialen und kulturellen Wirklichkeit (sociocultural versimilitude), sondern auch durch Genrekonventionen (generic versimilitude) motiviert sind.219 So erscheint es beispielsweise in einem Musical als _____________ 217 »In spite of the repeated pronouncements of Todorov and others, there is no place outside of history from which purely ›theoretical‹ definitions of genre might be made. In substituting his so-called ›theoretical‹ definition of the fantastic for a series of historical categories (fairy tale, ghost story, gothic novel, etc.), Todorov is only substituting a current historical understanding of literature (heavily dependent on contemporary fashions of psychoanalysis and formal analysis) for a former historical definition of literature (referring instead to literature’s mimetic function and thus dependent on content paradigms). [...] ›Theoretical‹, when it is opposed to ›historical‹, defines a utopian space, a ›no place‹ from which critics may seemingly justify blindness to their own historicity.« Rick Altman (1999): Film/Genre, London, S. 9. Hervorheb. im Original. 218 Vgl. auch Nils Borstnar/Eckhard Pabst/Hans Jürgen Wulff (2002): Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz, S. 51. 219 Im Anschluss an Todorovs Ausführungen zur genrebedingten ›Wahrscheinlichkeit‹ bestimmter Ereignisse (Todorov 1968, S. 147–152, Kap. ›Le vraisemblable‹) hat sich in der Filmwissenschaft eine Differenzierung zwischen einer sociocultural versimilitude und einer generic versimilitude eingebürgert, wobei erstere die Relation zwischen der fiktionalen Welt des Textes und dem, was die Rezipienten für wahrscheinlich halten, bezeichnet, während letztere sich

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durchaus nicht unwahrscheinlich, dass die Figuren unvermittelt und an allen nur denkbaren Orten Gesangseinlagen zum Besten geben, in einem Actionfilm ist zu erwarten, dass der Held es selbst noch mit den lebensbedrohlichsten Verletzungen mit seinen Gegnern aufnimmt (und diese besiegt) und in einem Horrorfilm ist es gänzlich plausibel, dass das unter Aufbietung sämtlicher Kräfte getötete Monster sich am Ende noch einmal erhebt, um zu einem letzten Angriffsschlag gegen die Protagonisten auszuholen. In allen diesen Fällen schafft das Genre einen Rahmen, der die Ereignisse wahrscheinlich oder doch zumindest nicht gänzlich unplausibel erscheinen lässt, indem auf dem Zuschauer vertraute Konventionen hinsichtlich der genretypischen Beschaffenheit der fiktiven Welt zurückgegriffen wird. Neben dieser stärker rezeptionsorientierten Sichtweise hat sich in der Filmwissenschaft ein weiterer Ansatz etabliert, der die Entstehung filmischer Genres vorrangig im Zusammenhang zur Entwicklung standardisierter Produktionsweisen und Vermarktungsstrategien sieht, wie sich diese in den USA bereits seit den 1910er Jahren herausgebildet haben. Aus dieser Sicht ist die Entstehung filmischer Genres insbesondere mit dem Phänomen Hollywood verknüpft: Ebenso wie das hier entstehende Studio- und Starsystem diente auch die Etablierung von Genrebegriffen und konventionen dem ›Labeling‹ der Filme und damit ihrer besseren Vermarktung. Diese engen Relationen zwischen der Herausbildung filmischer Genres und Standards der Filmproduktion hat in jüngerer Zeit insbesondere Steve Neale in seinem Buch Genre and Hollywood untersucht, wobei er die kommerzialisierte, industrielle Produktionsweise Hollywoods als verantwortlich nicht nur für einzelne Genrebildungen, sondern für die Existenz filmischer Genres als solche ansieht. Der Begriff Genre ist Neale zufolge im filmischen Kontext nicht einfach ein neutraler Begriff, der eine bestimmte Klasse oder einen Typus von Filmen bezeichnet, sondern er tendiert dazu, fast ausschließlich mit Hollywood und mit kommerzieller Massenkultur im Allgemeinen assoziiert zu werden: »genre [...] tends to be associated almost exclusively with Hollywood and with mass-oriented commercial culture in general.«220 Ein bemerkenswerter Umstand in diesem Zusammenhang ist, dass trotz der zunehmenden Individualisierung und Personengebundenheit des filmischen Schaffens im Zuge der AuteurBewegung seit den 1950er Jahren sowie der im Rahmen der PostmoderneDiskussion immer wieder hervorgehobenen Dekonstruktion und Auflösung von Genrekonventionen die traditionellen Hollywoodgenres, wie beispielsweise das Genre des Piratenfilms oder auch der Screwball_____________ auf die Relation zwischen dem Text und den Konventionen des jeweiligen filmischen Genres bezieht. Vgl. Steve Neale (2000): Genre and Hollywood, London/New York, S. 31–39. 220 Ebd., S. 2.

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Komödie, bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren haben und in immer neuen Varianten in den Kinos erscheinen. Rick Altman nennt insgesamt vier Aspekte filmischer Genres, die zugleich filmwissenschaftliche Forschungsansätze der Auseinandersetzung mit dem Genrebegriff widerspiegeln: 1. »genre as blueprint«, als eine Art ›Blaupause‹ oder ›Formel‹, die der industriellen Produktion vorausgeht und dieser bestimmte Vorgaben liefert; 2. »genre as structure«, als formale Struktur, die durch den individuellen Film realisiert wird; 3. »genre as label«, als Etikettierung, welche die Entscheidungen bezüglich der Vermarktung eines Films steuert; sowie 4. »genre as contract«, als ein kommunikativer Vertrag zwischen dem Genrefilm und seinem Publikum.221 Im Rahmen eines derartigen historisch-kommunikativen Genreverständnisses kann der phantastische Film jedoch kaum als ein Genre gelten: Weder handelt es sich dabei um ein filmhistorisch etabliertes, standardisiertes Muster der Filmproduktion, noch um eine Art ›Label‹ oder ›Etikett‹, das – wie im Gegensatz dazu beispielsweise die Genrebegriffe Horror, Fantasy und Science Fiction – im engeren Sinne eine Gruppenzugehörigkeit einzelner Filme signalisiert und somit einen Orientierungs- und Wiedererkennungseffekt beim Rezipienten bewirkt. Versteht man ›Genre‹ im Sinne Rick Altmans, Francesco Casettis und anderer zeitgenössischer Filmwissenschaftler als »Instrument des Aushandelns von Bedeutungen oder als Instrument zur Verständigung über Bedeutungen«,222 d. h. als eine historisch geformte und variable Kategorie, über die Filmindustrie, filmischer Text und Zuschauer in einen kommunikativen Kontrakt miteinander treten und dabei zu einer zumindest annähernden Übereinkunft darüber gelangen, was der jeweilige Film aussagt oder zeigt, so wird man für das Phantastische bzw. den phantastischen Film eine andere Kategorie finden müssen. 4.3. Das Phantastische als Modus des Erzählens Während speziell die angloamerikanische Film- und Literaturwissenschaft unter ›Genre‹ im Allgemeinen eine historisch variable Kategorie versteht, hat sie demgegenüber den Begriff des (narrativen) ›Modus‹ (mode of narration)223 geprägt, um stärker überzeitliche Konstanten der Textkonstitution _____________ 221 Altman 1999, S. 14. Hervorheb. im Original. 222 Francesco Casetti (2001) Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag. In: montage/av 10,2, S. 155–173, S. 155. Hervorheb. im Original. 223 Der aus dem Englischen entlehnte Begriff des (narrativen) Modus in Abgrenzung zum Begriff des Genre ist jedoch scharf zu trennen vom Begriff des grammatikalischen Modus (Indikativ, Konjunktiv und Imperativ) sowie vom Gebrauch des Modus-Begriffs als einer Kategorie des narrativen Diskurses, wie er beispielsweise in den Erzähltheorien von Franz

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zu bezeichnen, die Bausteine von Genres bilden können, die selbst jedoch keine Genres sind. So differenziert der Literaturwissenschaftler Alastair Fowler in seiner Genretheorie zwischen genres und modes, wobei er mit dem Begriff des Modus’ transhistorische Strukturen erfasst, die gewissermaßen Destillate konkreter Textphänomene bilden und die die historisch variablen Genres überdauern.224 Als Beispiele für Modi führt Fowler unter anderem das Komische, das Tragische und das Satirische an und legt dar, inwiefern diese Modus-Begriffe in adjektivischer Verwendung ein jeweiliges Genre im wörtlichen Sinne ›modulieren‹ können.225 In die Filmwissenschaft hat schließlich David Bordwell den Begriff des Modus eingeführt und geht dabei, ähnlich wie Fowler, von dessen überzeitlicher Konstanz sowie von dessen genreübergreifenden Charakter aus: A genre varies significantly between periods and social formations; a mode tends to be more fundamental, less transient and more pervasive. In this spirit, I will consider modes of narration to transcendent genres, schools, and entire national cinemas.226

Analog zu dieser Differenzierung zwischen Genre und Modus hat in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft erstmals Klaus Hempfer eine präzise Differenzierung zwischen literarischer ›Gattung‹ (in der vorliegenden Arbeit äquivalent gebraucht zu Genre) und ›Schreibweise‹ vorgenommen. Den Begriff der Schreibweise führt Hempfer dabei für überzeitliche Konstanten, wie z. B. das Narrative, das Dramatische und das Satirische, ein, unter Gattungen versteht er demgegenüber historisch konkrete Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen, wie z. B. die Verssatire, den Roman, die Novelle, das Epos usw.227 Der Terminus technicus Schreibweise bezeichnet bei Hempfer somit eine »gruppenbildende Struktur, die das Gemeinsame an sonst unterschiedlichen historischen Gattungen meint«,228 wobei Gattungen aus der Transformation bzw. Überlagerung einer oder _____________

224 225 226

227 228

K. Stanzel, Tzvetan Todorov und Gérard Genette erscheint. In letzterer Verwendung bezieht sich der Begriff des Modus auf die Distanz bzw. den Grad der Mittelbarkeit des Erzählten sowie (ausschließlich bei Genette) zusätzlich auf die Fokalisierung. Alastair Fowler (1982): Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes, Oxford [Reprint: 2002], S. 111. Ebd., S. 106f. und S. 191–212. Bordwell 1985, S. 150. Im Gegensatz zu Hempfer (s. u.) wird der Modus-Begriff bei Bordwell, ebenso wie bei Fowler, jedoch nicht in einem streng systematischen Sinn verwendet; laut Bordwell und Fowler sind auch Modi letztendlich, wenn auch im Vergleich zum Genre längerfristigen, historischen Transformationen unterworfen. Von einer derartigen historisierenden Sichtweise distanziert sich die vorliegende Arbeit und bestimmt Modi als systematisch beschreibbare, transhistorische Strukturen. Hempfer 1973, S. 27. Klaus W. Hempfer (2003): Art. ›Schreibweise‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons deutscher Literaturgeschichte, Bd. III: P–Z, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin/New York, S. 391–393, S. 391.

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mehrerer dieser Grundstrukturen hervorgehen können. Zu differenzieren ist dabei zwischen primären Schreibweisen, wie z. B. dem Dramatischen und dem Narrativen, die an eine bestimmte Sprech- bzw. Kommunikationssituation gebunden sind, und sekundären Schreibweisen, wie z. B. dem Komischen, dem Satirischen und dem Parodistischen, die hiervon unabhängig sind.229 Schreibweisen sind dem Ansatz Hempfers zufolge somit transhistorische Invarianten, die sich in verschiedenen historisch variablen Gattungen konkretisieren können. Dabei sind Schreibweisen und Gattungen jedoch nicht auseinander ableitbar: Es ist weder vorausgesetzt, dass Gattungen stets auf bestimmte Schreibweisen zurückgeführt werden können, noch dass Schreibweisen sich zwangsläufig in bestimmten Gattungen verfestigen – so kann beispielsweise prinzipiell jede literarische Gattung parodiert werden, ohne dass die Schreibweise der Parodie dabei an bestimmte Gattungen gebunden ist.230 Zudem können Gattungen auf einer oder mehreren Schreibweisen basieren, wie z. B. die Komödie.231 Wie Rüdiger Zymner in der Diskussion von Hempfers Ansatz gezeigt hat, ist schließlich auch davon auszugehen, dass längst nicht alle möglichen Schreibweisen systematisch erfasst und beschrieben wurden: Neben den bereits angeführten Schreibweisen des Komischen, des Satirischen und des Parodistischen werden bei Zymner so etwa das Manieristische, das Groteske, das Pornographische und das Phantastische genannt, wobei prinzipiell weitere Schreibweisen denkbar sind.232 Das Hempfer’sche Schreibweisen-Konzept wurde insbesondere von Theodor Verweyen und Gunther Witting wieder aufgegriffen und am Beispiel der Parodie und der Kontrafaktur weiterentwickelt. Ein besonderer Akzent ihrer Arbeiten liegt dabei auf der Charakterisierung von Schreibweisen als medienübergreifenden Strukturen, d. h. als Strukturen, die nicht an die Literatur bzw. das Medium Sprache gebunden sind, sondern die in gänzlich verschiedenen Medien und Kunstformen auftreten können.233 Das Konzept der genre- und medienübergreifenden Schreibweisen als transhistorischen Strukturen, die sich in einzelnen historischen Genres konkretisieren können, dabei jedoch nicht an bestimmte Genres gebunden _____________ 229 230 231 232

Vgl. Hempfer 1973, S. 187; ders. 2003, S. 391. Vgl. Hempfer 2003, S. 392f. Ebd., S. 393. Rüdiger Zymner (2003a): Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn, S. 186; ders. (2003b): Phantastische Sozialisation. In: Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, hrsg. v. Christine Ivanoviý et al., Stuttgart/Weimar, S. 299–314. 233 Theodor Verweyen/Gunther Witting (1979): Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt; dies. (1987): Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat, Konstanz.

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sind, wird in der vorliegenden Arbeit übernommen und zu einer Bestimmung des Phantastischen herangezogen. Dabei wird jedoch, speziell Blick auf das Medium Film, dem aus der englischsprachigen Literatur- und Filmwissenschaft entlehnten neutraleren Begriff des Modus der Vorzug gegeben: So können in Anlehnung an den Begriff der literarischen Schreibweise zwar Begriffsbildungen wie ›Malweise‹ oder, bezogen auf die Musik, auch ›Kompositions‹- und ›Vortragsweise‹ vorgenommen werden,234 hinsichtlich des filmischen Mediums lässt sich jedoch schlecht von einer ›Filmweise‹ sprechen. Nicht viel glücklicher sind Begriffsbildungen wie etwa ›filmische Schreibweise‹, da sie suggerieren, dass der Prozess der Herstellung von Filmen (zumindest annäherungsweise) mit der schreibenden Produktion literarischer Texte gleichzusetzen ist. Unter Rückgriff auf den neutraleren Modus-Begriff wird das Phantastische daher als narrativer Modus bestimmt, d. h. als ein erzählerisches Strukturprinzip, das in Texte unterschiedlichster historischer Epochen, Medien und Genretraditionen integriert werden kann und das sich zudem mit anderen Modi bzw. Erzählstrukturen verbinden kann.235 Von einem phantastischen Film (sowie von phantastischer Literatur etc.) soll schließlich jedoch nur dann die Rede sein, wenn die Struktur des Phantastischen dominant ist, d. h. wenn die Ambiguität hinsichtlich einer rationalen und einer irrationalen Erklärung des Geschehens ein konstitutives Element der Erzählung bildet und bis zum Schluss aufrechterhalten wird.236 Unter dieser Prämisse sind beispielsweise Alfred Hitchcocks Filme Rebecca (USA 1940) und Vertigo (USA 1958), Nicolas Roegs Don’t Look Now (USA 1973; dt.: Wenn die Gondeln Trauer tragen) oder auch Stanley Kubricks The Shining (USA 1980) keine phantastischen Filme im engeren Sinne, obwohl sie in Teilen durchaus Elemente des Phantastischen integrieren und sowohl auf der Ebene der erzählten Welt als auch durch die Art und Weise der Vermittlung des Erzählten zumindest eine temporäre Deutungsoffenheit des Textes erzeugen. Wie im Folgenden zu zeigen ist, besteht das charakteristische Merkmal des phantastischen Erzählmodus in der Erzeugung einer Instabilität, die sich sowohl auf die Ebene des Erzählten (histoire) als auch auf die Ebene des Erzählens (discours) erstreckt. Während das Phantastische so einerseits auf der Ebene der erzählten Geschichte eine instabile Welt konstruiert, in _____________ 234 Vgl. Zymner 2003a, S. 181. 235 So werden beispielsweise die in der vorliegenden Arbeit behandelten Filme Dead of Night und Martin traditionell dem Genre des Horrorfilms zugeordnet, sind zugleich jedoch auch phantastische Filme im engeren Sinne; in Filmen wie La nuit fantastique, The Ghost and Mrs. Muir und Harvey dagegen verbindet sich der Modus des Phantastischen dagegen mit dem Modus der Komödie. 236 Vgl. hierzu auch Wünsch 1991, S. 13.

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welcher Grenzverwischungen und -überschreitungen jeglicher Art an der Tagesordnung sind, zieht andererseits der Diskurs der Geschichte selbst ›den Boden unter den Füßen weg‹, indem er einen fundamentalen Zweifel hinsichtlich der ›richtigen‹ Lesart des Geschehens aufkommen lässt und die (Re-)Konstruktion mehrerer, einander gegenseitig ausschließender Versionen der Geschichte möglich macht. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch auf einen grundsätzlichen Fehlschluss zu verweisen, dem Rosemary Jackson in ihrer Bestimmung des Phantastischen als einem narrativen Modus unterliegt. In ihrer Arbeit Fantasy. The Literature of Subversion widmet Jackson unter der Überschrift »The Fantastic as a Mode« dem phantastischen Erzählen ein längeres Theoriekapitel, in welchem sie zwischen drei verschiedenen Erzählmodi differenziert: 1. dem realistischen bzw. mimetischen Erzählmodus (›the mimetic‹), für den sie beispielhaft den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts anführt und den sie durch einen extra- und heterodiegetischen, omnipräsenten und ›allwissenden‹ Erzähler charakterisiert sieht; 2. dem wunderbaren Modus (›the marvellous‹), der sich für sie in seiner Reinform im Märchen und in der Fantasy konkretisiert und dessen herausragendes Merkmal sie ebenfalls in der Einführung eines extra- und heterodiegetischen Erzählers sieht und 3. dem phantastischen Modus (›the fantastic‹), den Jackson als einen kombinierten Modus bestimmt, der aus einer Verbindung des mimetischen und des wunderbaren Modus hervorgeht und der bei ihr vorrangig durch einen intra- und homodiegetischen Erzähler mit begrenzter Perspektive charakterisiert wird. Fantastic narratives confound elements of both the marvellous and the mimetic. They assert that what they are telling is real – relying upon all the conventions of realistic fiction to do so – and then they proceed to break that assumption of realism by introducing what – within those terms – is manifestly unreal. They pull the reader from the apparent familiarity and security of the known and everyday world into something more strange, into a world whose improbabilities are closer to the realm normally associated with the marvellous. The narrator is no clearer than the protagonist about what is going on, nor about interpretation; the status of what is being seen and recorded as ›real‹ is constantly in question. This instability of narrative is at the centre of the fantastic as a mode.237

Die ›Instabilität der Erzählung‹ gilt somit auch bei Jackson als Hauptcharakteristikum des Modus’ des Phantastischen, wobei diese Instabilität hier jedoch auf die Kombination zweier verschiedener Erzählmodi, des mimetischen und des wunderbaren Modus, zurückgeführt wird. Dieser Ansatz ist insofern widersprüchlich, als er Diegese und Narration vermischt, d. h. nicht zwischen der erzählten Welt und dem Akt, der diese hervorbringt, differenziert: Auf der Ebene der erzählten Welt (Diegese) treffen im Phan_____________ 237 Jackson 1981, S. 34. Hervorheb. d. Verf.

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tastischen realistische und wunderbare Elemente aufeinander, insofern hier Ereignisse eintreten, die sowohl natürlichen als auch übernatürlichen Ursprungs sein können und deren ontologischer Status somit mehrdeutig ist. In der erzählten Welt des Phantastischen kommt es also stets zu einer Kollision grundsätzlich verschiedener Realitätssysteme, eines realistischen/mimetischen und eines wunderbaren Systems. Was jedoch das Erzählen der Ereignisse betrifft, so ähneln sich der mimetische und der wunderbare Modus, insofern sie beide einem extra- und heterodiegetischen, omnipräsenten Erzähler den Vorrang geben, dessen Perspektive durch ›Übersicht‹ gekennzeichnet ist und der somit den Eindruck von Kohärenz und Stabilität der erzählten Welt erzeugt. Der Modus des Phantastischen hingegen, so die Grundthese dieser Arbeit, ist durch narrative Verfahren der Destabilisierung charakterisiert, die insgesamt eine ›Brüchigkeit‹ und Deutungsoffenheit des Erzählten zur Folge haben. Der Modus des Phantastischen, so kann zusammenfassend festgehalten werden, entsteht aus der Interferenz und Konkurrenz zweier unterschiedlicher Realitätssysteme der erzählten Welt, nicht aus der Vermischung zweier narrativer Modi. 4.4. Der realistische Erzählmodus und sein Verhältnis zum Phantastischen Abschließend sind an dieser Stelle noch einige Überlegungen zum Verhältnis des Phantastischen zum klassischen realistischen Erzählmodus anzustellen, wie er mit Blick auf das Medium Film insbesondere von David Bordwell in zahlreichen Arbeiten untersucht wurde.238 Unter dem classical narration mode versteht Bordwell eine Erzählweise, die ihre prototypische Ausprägung im klassischen Hollywood-Erzählkino der Jahre 1917 bis 1960 gefunden hat und die nicht zuletzt dank der weltweiten Dominanz von Hollywood in fast allen Kinokulturen präsent ist. Die Charakteristika dieses Erzählmodus’, dessen narrative Techniken stark an der realistischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts orientiert sind und der ebenso wie sein literarisches Äquivalent auf die Ausbildung von Verfahren abzielt, die eine Kohärenz und Stabilität der fiktiven Welt evozieren, sollen im Folgenden skizziert und zum Modus des phantastischen Erzählens hin abgegrenzt werden. _____________ 238 David Bordwell/Janet Staiger/Kristin Thompson (Hrsg.) (1985): The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960, London/New York; Bordwell 1985, S. 156–204 (Kap. ›Classical Narration. The Hollywood Example‹); ders.: (1986): Classical Hollywood Cinema. Narrational Principles and Procedures. In: Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, hrsg. v. Philip Rosen, New York, S. 17–34.

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Sucht man das Phantastische im Film greifbar zu machen und zu definieren, so stellt sich zunächst die grundlegende Frage, was ›Realismus‹ bezogen auf das filmische Medium bedeutet. Ist damit eine neutral-registrierende, unverzerrte Abbildung von Wirklichkeit gemeint, gewissermaßen eine sinnliche »Errettung der physischen Realität«,239 wie sie Siegfried Kracauer und andere Vertreter realistischer Positionen der Filmtheorie gefordert hatten? Oder bedeutet Realismus eine Orientierung am naturwissenschaftlichen Weltbild und ist damit also der Versuch gemeint, filmische Erzählungen so zu konzipieren, dass sie der empirischen Wirklichkeitsauffassung des Publikums entsprechen? Oder, so drängt sich schließlich die Frage auf, werden nicht beide zuvor genannten Konzeptionen des Begriffs Realismus obsolet, wenn man in Betracht zieht, dass erstens das filmische Medium Realität niemals unverstellt abbildet und (beispielsweise durch die Wahl des gezeigten Realitätsausschnitts, die gewählte Einstellungsgröße, Kameraperspektive etc.) immer schon eine Interpretation bzw., wenn man so will, Manipulation der reproduzierten Realität betreibt, und dass zweitens die fiktionsexterne Wirklichkeit generell kein Maßstab für fiktionales Erzählen sein kann? Fiktionale Texte bilden, wie dies Roman Jakobson, Roland Barthes u. a. herausgestellt haben, stets eigengesetzliche Systeme, die als solche naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten nicht reproduzieren können – und dies auch überhaupt nicht beabsichtigen.240 Ein tragfähiger Realismus-Begriff, so lässt sich daraus folgern, ergibt sich nur dann, wenn man Realismus als Verfahren betrachtet, als eine künstlerische bzw. literarische oder filmische Konvention, die mit bestimmten ›Realismus-Effekten‹ (effets de réel) operiert, wobei die Auffassung darüber, was ›realistisch‹ ist, auch historischen Veränderungen unterworfen ist.241 Ein an der außerfiktionalen Wirklichkeit orientierter Realismusbegriff gerät demgegenüber sehr schnell an seine Grenzen, da er die Eigengesetz_____________ 239 Siegfried Kracauer (1985 [1964]): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. [engl. Original: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, New York, 1960], S. 389–392. 240 Roman Jakobson (1988 [1921]): Über den Realismus in der Kunst. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hrsg. u. eingel. v. Jurij Striedter, München, S. 373–391; Roland Barthes (1968): L’effet de réel. In: Communications 11, S. 84–89. 241 Vgl. hierzu insbes. Durst 2007, S. 69–92, S. 104–116, S. 124f. u. passim. Durst argumentiert in seiner Theorie der phantastischen Literatur besonders stark dafür, dass Realismus (und darauf aufbauend auch das Phantastische) als künstlerisches Verfahren bzw. Konvention anzusehen ist, die nicht anhand fiktionsexterner, naturwissenschaftlicher Fakten oder Gesetzmäßigkeiten bemessen werden kann. Als eine veränderbare Konvention zeigt Realismus nicht die ›Wirklichkeit‹, mit zunehmender Ikonizität der Darstellung in der Bildenden Kunst werden so z. B. die entsprechenden Gemälde nicht ›wirklicher‹. Darüber hinaus ist der Begriff der ›Wirklichkeit‹ selbst relativ, der individuelle Wirklichkeitsbegriff ist stets von kulturellen, religiös-weltanschaulichen u.a. Parametern abhängig.

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lichkeit fiktionalen Erzählens verkennt und darüber hinaus die Existenz einer allgemeingültigen, objektiven Wirklichkeit postuliert, die in dieser Form nicht haltbar ist. Mit Bezug auf das Medium Film hat erstmals Christian Metz in seinem Aufsatz A propos de l’impression de réalité du cinéma (1965) verschiedene Aspekte des Realismus-Begriffs sowie des Zustandekommens eines Realitätseindrucks beim Filmzuschauer diskutiert.242 Metz unterscheidet hier einerseits zwischen der Realitätswirkung des Films, die hervorgerufen wird durch die »Realität des Materials« und andererseits der »Realitätswirkung hervorgerufen durch die Diegese, durch das fiktive Universum, durch das ›Dargestellte‹«.243 Die Frage nach der Realität des Materials betrifft den ikonischen Charakter von Filmen als photographischen Abbildern von Wirklichkeit, denen mittels der kinematographischen Apparatur das Moment der Bewegung hinzugefügt wurde. Die Frage nach der Realitätswirkung hervorgerufen durch die Diegese zielt dagegen auf bestimmte narrative Verfahren, die filmische Erzählungen anwenden, um den Eindruck einer ›realistischen‹ Abfolge von Ereignissen im Sinne einer der Wirklichkeitswahrnehmung nachempfundenen Kontinuität zu erzeugen. Die Realität des filmischen Materials, die genaue Wiedergabe des Audiovisuellen sowie die Präsenz der Bewegung, hat Metz zufolge nur einen äußerst geringen Anteil am Zustandekommen des Realitätseindrucks im Kino – wenn dem so wäre, müssten beispielsweise Theateraufführungen stets ›realistischer‹ erscheinen als Spielfilme. Das filmische Material erfüllt lediglich die Funktion, dem Filmzuschauer reiche und detaillierte Informationen über die diegetische Welt zu geben und somit »Realitätsindizien« zu liefern, die der Film »in Bilder legt«.244 Das Geheimnis der realistischen Wirkung eines Films sieht Metz demgegenüber darin begründet, dass die reproduzierten Realitätspartikel in ein diegetisches Universum transformiert werden, welches durch die Art und Weise der Präsentation des Flusses der Bilder dem Zuschauer den Eindruck einer ›lebensechten Dynamik‹, einer Wirklichkeitsillusion vermittelt. Die von Metz angerissenen Überlegungen zur Entstehung des Realitätseindrucks im Kino hat David Bordwell weiterentwickelt und zu einem System narrativer Codes ausgebaut, das die Grundlage des von ihm untersuchten realistischen Erzählmodus des klassischen Hollywoodfilms bildet. Das herausragendste Merkmal dieses sogenannten classical narration mode ist zunächst die Homogenität und Stabilität der fiktiven Welt, die vorrangig dadurch entsteht, dass das Erzählte stets auf eine eindeutige Auflösung zu_____________ 242 Christian Metz (1965): A propos de l’impression de réalité du cinéma. In: Cahiers du Cinéma 166/167, S. 75–82. [Wieder abgedruckt als Kap. ›Zum Realitätseindruck im Kino‹, in: ders. 1972, S. 20–34.] 243 Metz 1972, S. 33. Hervorheb. im Original. 244 Ebd., S. 34. Hervorheb. im Original.

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strebt: Nach einem anfänglichen Gleichgewichtszustand der erzählten Welt, einer temporären Störung dieses Gleichgewichts sowie dem Kampf um die Wiedereinsetzung der stabilitätsgarantierenden Ordnungen der Diegese, ist am Ende des Films stets ein stabiler Gleichgewichtszustand wiederhergestellt.245 Beispielhaft demonstriert sich dieses Streben nach einer harmonischen Rundung und Geschlossenheit des Erzählten in dem für Hollywoodfilme typischen Happy End, durch welches sämtliche offenen Fragen und Probleme gewissermaßen ›in Nichts‹ aufgelöst werden und dem es mittels konventionalisierter Bildformeln wie des sogenannten kiss off oder des happy horizon darüber hinaus auch gelingen kann, eventuelle dramaturgische Schwächen des Schlusses zu übertünchen. Ein weiteres Charakteristikum des klassischen realistischen Erzählmodus ist die Dominanz eines nonfokalisierten Erzählens, d. h. das Vorherrschen der Perspektive der ›Kamera‹ als dem fiktiven, extradiegetischen Erzähler des Films, sowie eine hochgradige Kommunikativität der Narration.246 Durch wechselnde Kameraperspektiven innerhalb einer Szene sowie durch wechselnde Schnitte zwischen verschiedenen Lokalitäten und Zeitpunkten des Geschehens entsteht hier der Eindruck einer spatialen sowie (in geringerem Maße) temporalen Omnipräsenz des Erzählers, d. h. einer ›Übersicht‹ über das Geschehen. Zwar finden sich auch im klassischen Hollywoodfilm fokalisiert erzählte Passagen, in denen die extradiegetische ›Kamera‹ die Perspektive einer Figur innerhalb der erzählten Welt einnimmt, diese subjektiven Point-of-View-Shots sind jedoch stets klar markiert und in einen stärker objektivierenden Kontext eingebunden (»The camera seems always to include character subjectivity within a broader and definite objectivity.«)247 Darüber hinaus wird im realistischen Modus im Normalfall die zeitliche Chronologie eingehalten, durch Flashbacks oder Flashforwards entstehende Zeitsprünge sind hier eher selten. Der realistische Modus zielt somit stets auf eine stark verdeckte, transparente bzw. ›unsichtbare‹ Narration, die dem Zuschauer den Eindruck vermittelt, als erzählten sich die Ereignisse gewissermaßen ›von selbst‹. Begründet wird diese Transparenz und zeitliche Linearität insbesondere durch ein Streben nach Kontinuität, welches ein weiteres fundamentales Kennzeichen des realistischen Erzählmodus bildet. Kontinuität meint dabei zum einen bestimmte Schnittregeln, die befolgt werden müssen, um den Eindruck eines nahtlosen Anschlusses einer Einstellung an die nächste _____________ 245 Die klassische Plotstruktur konstituiert sich Bordwell zufolge aus vier Elementen: »an undisturbed stage, the disturbance, the struggle, and the elimination of the disturbance«. Bordwell 1985, S. 157. 246 Bei Bordwell wird dies missverständlich als ›allwissende Narration‹ (»omniscient narration«) bezeichnet. Vgl. hierzu auch Kap. II.2.2. 247 Bordwell 1986, S. 25.

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zu erzeugen (continuity editing), zum anderen bezieht sich der Begriff auf filmtechnische Verfahren, die dazu dienen, Bruchstellen in der Narration zu glätten und Übergänge zwischen den einzelnen Einstellungen und Sequenzen zu verwischen. Beispiele sind visuelle Überblendungstechniken wie der Fade-In/Out und die Wischblende sowie die Verknüpfung verschiedenartiger Szenen durch Ton und Musik (sound bridge). Zu den kontinuitätserzeugenden Verfahren gehören schließlich auch sogenannte dialogue hooks, Dialogpassagen am Ende einer Szene, die die nächste Szene vorwegnehmen.248 Als ein zentrales Merkmal des klassischen realistischen Erzählmodus gilt schließlich auch das Streben nach Kohärenz, worunter die Erzeugung einer raumzeitlichen Zusammengehörigkeit der einzelnen Handlungselemente sowie die Erzeugung kausaler Zusammenhänge zu verstehen ist, d. h. eine Nachvollziehbarkeit von Ursache-Wirkungs-Relationen sowie eine psychologische Motiviertheit der Figurenhandlungen. Zu den kohärenzstiftenden Verfahren gehört darüber hinaus insbesondere eine bestimmte Form der narrativen Informationsvergabe, welche dem Filmzuschauer im Erzählverlauf nach und nach sämtliche Fakten liefert, die er zur Rekonstruktion der Geschichte benötigt und die temporale Lücken sowie die Abwesenheit von Ursachen nach Möglichkeit vermeidet bzw. diese nachträglich füllt.249 Zusammenfassend lässt sich der realistische Erzählmodus, wie er exemplarisch durch das klassische Hollywood-Erzählkino repräsentiert wird, mit den Stichworten Homogenität und Stabilität der erzählten Welt, nonfokalisierte Narration, Kontinuität und Kohärenz umreißen. Es handelt sich hierbei somit um einen Modus des Erzählens, der danach bestrebt ist, dem Zuschauer ein in sich stimmiges und geschlossenens diegetisches Universum zu präsentieren und eine unzweideutige Auflösung der Narration zu garantieren: The classical Hollywood film presents psychologically defined individuals who struggle to solve a clear-cut problem or to attain specific goals. In the course of this struggle, the characters enter into conflict with others or with external circumstances. The story ends with a decisive victory or defeat, a resolution of the problem and a clear achievement or nonachievement of the goals.250

_____________ 248 Ein sogenannte dialogue hook entsteht z. B. dadurch, dass eine Figur die Frage stellt »Sollen wir einen Kaffee trinken gehen?«, worauf in der nächsten Sequenz eine Einstellung auf ein Café zu sehen ist. 249 Zwar kann auch der realistische Modus dem Filmzuschauer ›Fallen‹ stellen, doch werden derartige Täuschungsmanöver stets aufgelöst und die Lücken in der Narration gefüllt. Vgl. hierzu Bordwell: »The priority of causality within an integral fabula world commits classical narration to unambiguous presentation. [...] Of course, the narration can set traps for us, [...] but the hoax is revealed immediately and unequivocally.« Bordwell 1985, S. 162. 250 Bordwell 1986, S. 30.

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Mit seinem Streben nach Geschlossenheit und Auflösung sowie der Zentrierung um Figuren, die als psychologisch (weitgehend) konstante Identitäten entworfen werden, kann der classical narration mode dabei auch als Ausdruck und Konsolidierung einer Ideologie gelesen werden, die einen optimistischen Glauben an die Selbstbestimmtheit des Individuums und die Bezwingbarkeit des eigenen Glücks vertritt und die eine Affirmation bestehender Werte und Normen betreibt. Die Welt des realistisch erzählten Hollywoodfilms kennt keine ›Risse‹ und Einbrüche des Irrationalen, ebensowenig wie eine pandeterministische Vorherbestimmtheit des Geschehens – das Schicksal der Figuren wird hier nicht von dunklen, unergründlichen Mächten gelenkt, sondern liegt letzten Endes in deren eigener Hand. Auf der Ebene des narrativen Diskurses entsprechen dieser Transparenz der fiktiven Welt und der Selbstbestimmtheit der Figuren der objektivierende, sich einen ›Überblick‹ verschaffende Point-of-View sowie die Zukunftsorientiertheit der Narration, die hier durch vorwärtsgerichtete ›Suspense‹-Hypothesen angetrieben wird251 – anstatt, wie im Modus des phantastischen Erzählens, durch eine ins ungewisse Dunkel der Vergangenheit zurückblickende furchterfüllte Neugier. Die vorangegangenen Ausführungen legen die Hypothese nahe, dass die Interessen des von Bordwell beschriebenen classical narration mode denen des (in den folgenden Kapiteln genauer zu bestimmenden) Modus’ des phantastischen Erzählens diametral entgegengesetzt sind: Während der realistisch erzählte Hollywoodfilm danach bestrebt ist, Brüche in der Narration zu glätten und den Eindruck einer Homogenität und Stabilität der erzählten Welt zu erwecken, zeichnet sich das phantastische Erzählkino, wie es sich in den 1910er und 1920er Jahren zunächst im Umkreis des deutschen phantastisch-expressionistischen Films herausgebildet hat, insbesondere durch seine Ambiguität, seine »offen zur Schau getragene Doppelbödigkeit« sowie damit verbundene »Momente der Grenzüberschreitung« aus.252 Wie Thomas Elsaesser herausgestellt hat, weist das frühe phantastische Erzählkino der Weimarer Republik somit Merkmale auf, die in signifikanter Opposition zu den Merkmalen des realistisch erzählten Hollywoodfilms stehen. Im Kontrast zum ›unsichtbaren‹ Erzählprozeß im Hollywoodkino werden in den Filmen des Weimarer Kinos Autorität, Ursprung und Kontrolle des Erzählaktes ständig in den Vordergrund gerückt, und das auf eine Weise, die im internationalen Kino der Stummfilmzeit nahezu einzigartig ist. Die Überfülle in sich verschlungener Erzählungen, Rahmenhandlungen, Rückblenden, verschachtelter Konstruktionen und übereinander gelagerter Erzählstimmen erscheint als Anzeichen für jene grundlegende Andersartigkeit, die den deutschen Stummfilm als ein histo-

_____________ 251 Vgl. Bordwell 1986, S. 30. 252 Elsaesser 1999, S. 20.

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risch spezifisches Phänomen heraushebt. Weshalb die Filme diese formalerzählerischen Komplikationen aufweisen, ist bisher kaum diskutiert worden. Sie sind jedoch gerade das Geheimnis der Faszinationskraft auf die Kritiker: Denn die Indirektheit der Erzählungen ermutigt zu allen möglichen Spekulationen und frustriert zugleich jede definitive Interpretation. Damit macht sie die Filme resistent gegen eben jene Versuchung, zu der sie zunächst einladen: die Versuchung, ihre Referentialität festzunageln.253

Was Elsaesser hier speziell für den frühen phantastischen Film konstatiert, soll im Folgenden als Leitfaden einer generellen Auseinandersetzung mit phantastischem Erzählen im Film dienen. Der phantastische Erzählmodus, so die noch genauer zu überprüfende Hypothese, inszeniert stets eine instabile, mehrdeutige erzählte Welt, die die prinzipielle Subjektivität der individuellen Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung zum Ausdruck bringt und die Durchlässigkeit scheinbar festgefügter Grenzen – z. B. von Normalität und Wahnsinn, Wachzustand und Traum, Realität und Virtualität – sichtbar macht. Im Hinblick auf die narrative Vermittlung des Erzählten ist dabei insbesondere nach den Verfahren zu fragen, die zur Erzeugung von Ambiguität beitragen, die dem Rezipienten also ›Fallen‹ stellen und dazu führen, dass die Präsentation der Ereignisse sich in einem Netz von unauflösbaren Widersprüchen verwickelt. Phantastisches – ebenso wie realistisches – Erzählen präsentiert sich aus diesem Ansatz heraus schließlich dezidiert als narratives Verfahren, d. h. als eine spezifische Form der Konstruktion und Präsentation einer fiktiven Welt im Hinblick auf bestimmte Darstellungseffekte und Wirkungsfunktionen.

_____________ 253 Ebd., S. 72.

II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film 1. Der Film als Erzählmedium Inwiefern weist das Medium Film Merkmale des Narrativen auf? Welche Funktion kommt der Instanz des filmischen Erzählers zu und wie lassen sich die einzelnen Instanzen des filmischen Erzählwerks in einem Modell der Kommunikationsebenen systematisieren? Welche Typen der Perspektivierung bzw. Fokalisierung können im Film zu unterschieden werden? Welche Verfahren kennt das filmische Medium zur Erzeugung von Subjektivität? Mit derartigen Fragestellungen setzt sich das vorliegende Kapitel auseinander. Dabei sollen sowohl in den verschiedenen Erzähltheorien oftmals widersprüchlich definierte Begriffe, wie zum Beispiel der Begriff der Erzählperspektive, geklärt werden als auch grundlegende Aspekte narrativer Vermittlung im Film im Vergleich zu anderen, vorrangig literarischen Formen des Erzählens skizziert werden. Erzählen ist nicht auf den Bereich des Mediums Literatur oder allgemein die Sprache beschränkt, sondern tritt in einer Vielzahl von Medien, Texttypen und Genres in Erscheinung. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben sich Menschen Geschichten erzählt, das Erzählen beginnt mit der Geschichte der Menschheit und ist gewissermaßen eine conditio humana, eine anthropologische Konstante schlechthin. Dementsprechend weit ist das Spektrum der möglichen erzählten Geschichten: Es reicht von sogenannten Alltagserzählungen, Mini-Narrativen, mit deren Hilfe wir die Wahrnehmung unserer Umwelt strukturieren und dadurch beispielsweise Handlungsoptionen sowie Gefahrensituationen kalkulieren, über Geschichten, die wir tagtäglich durch die Massenmedien vermittelt bekommen, bis hin zu stärker konventionalisierten Formen des Erzählens, beispielsweise in den Medien Literatur und Film. Als Träger der Erzählung können dabei verschiedene mediale Ausdrucksformen fungieren: Die mündliche oder die geschriebene Sprache, die Geste, wie beispielsweise im Tanz oder in der Pantomime, sowie das stehende oder bewegte Bild, wie beispielsweise im Film, im Comic oder auch in der Glasmalerei.1 Einem derartig weitgefassten Verständnis des Narrativen zufolge sind die spezifischen Merk_____________ 1

Vgl. Roland Barthes (1988): Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M., S. 102–143, S. 102.

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male des Erzählens somit nicht auf literarische Erzähltexte beschränkt: Unter dem Begriff Erzählung können vielmehr sämtliche verbalen sowie non-verbalen Ausdrucksformen versammelt werden, die mittels einer Abfolge von Zeichen, dem Text, eine Abfolge von Ereignissen, eine Geschichte, repräsentieren.2 Sucht man den Begriff genauer zu definieren, so kann man nach Gérard Genette zwischen drei verschiedenen Bedeutungen von Erzählung (récit) unterscheiden: Erstens dem Diskurs (discours) als Text oder Äußerung der Erzählung, zweitens der Geschichte (histoire) als der Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand des Diskurses ausmachen, und drittens der Narration (narration) als dem Akt des Erzählens durch den Erzähler.3 Üblicherweise werden in der Erzählforschung jedoch nur die ersten beiden Aspekte, die das Produkt des narrativen Akts bilden, betrachtet und einander binär gegenübergestellt. Die so entstehende Opposition von Geschichte (frz. histoire, engl. story) und Diskurs (frz. discours, engl. discourse) sowie die hieran gekoppelte temporale Dualität von erzählter Zeit als der Zeit der Geschichte und Erzählzeit als der Zeit, die für die Darstellung benötigt wird, gilt als das fundamentale Charakteristikum des Narrativen und dient zur Abgrenzung potentiell narrativer Medien wie der Literatur und dem Film von non-narrativen Medien wie dem statischen Einzelbild. Erzählen als die Darstellung einer Zustandsveränderung ist schließlich auch nicht notwendigerweise an das Kriterium der Fiktionalität gebunden: Neben narrativen fiktionalen Texttypen und -genres, wie z. B. Romanen oder Spielfilmen, existieren vielfältige Formen narrativer non-fiktionaler Texte, so etwa die bereits erwähnten Alltagserzählungen, historische Texte, juristische, medizinische und psychologische Fallstudien, Autobiographien, Reiseberichte, Reportagen usw. Unbestritten ist, dass das Medium Film, genauer gesagt der fiktionale narrative Spielfilm, das Erzählen am Vorbild der Literatur gelernt hat. Entstanden in dem weitläufigen Geflecht von Modernisierung, Industrialisierung, Ökonomisierung, Urbanisierung sowie einer Dynamisierung aller _____________ 2

3

Den narrativen Texten, die eine Zustandsveränderung präsentieren und die somit durch eine temporale Struktur gekennzeichnet sind, werden im Allgemeinen deskriptive Texte, die statische Situationen zeigen, gegenübergestellt. Die Grenzen zwischen diesen beiden Textmodi sind jedoch nicht immer scharf umrissen: So enthalten narrative Texte stets auch deskriptive Passagen, umgekehrt können deskriptive Texte auch narrative Passagen enthalten. Gérard Genette (1998): Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hrsg. v. Jochen Vogt, 2. Aufl., München [frz. Original: Discours du récit. In: Figures III, Paris 1972, S. 71–273; Nouveau discours du récit, Paris 1983], S. 15. Den narrativen Text oder discours versteht er dabei als als ›Erzählung‹ (récit) im eigentlichen Sinne und gelangt somit zu der Unterscheidung von récit, histoire und narration als drei Ebenen narrativer Konstitution. Ebd., S. 16. Vgl. Kap. II.1.1.

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

Lebensbereiche, demonstriert der Film schon bald den souveränen Umgang mit einer großen Anzahl von Figuren, Schauplätzen und Ereignissen, wie ihn zuvor der realistische Roman des 19. Jahrhunderts bereits hinreichend erprobt hatte. Der Film erweist sich damit einerseits als ein gelehriger Schüler der Literatur und als ein »legitimer Erbe der literarischen Erzähltradition des 19. Jahrhunderts«,4 andererseits kann die »Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Films«5 konzipiert werden, insofern das literarische Erzählen des 19. Jahrhunderts zentrale Wirkungsaspekte des neuen Mediums vorweggenommen hatte. Mit ihrer »Plastizität«, ihrer »wunderbare[n] Bildhaftigkeit« und ihrer »optische[n] Wirkung«,6 schreibt Sergej Eisenstein in seinem berühmten Aufsatz Dickens, Griffith und wir, hatten die Romane eines Charles Dickens der Wirkungsästhetik des Films in entscheidenden Aspekten vorweggegriffen und damit auch den Nährboden für die Entwicklung filmischer Erzähltechniken bereitet. In Anbetracht dieses tiefgreifenden Wechselverhältnisses von Literatur und Film scheint es letztlich nur angemessen, die von der Literaturwissenschaft entwickelten Modelle des Narrativen auch zur Beschreibung und Analyse filmischen Erzählens heranzuziehen – selbstverständlich ohne dabei die medienspezifischen Besonderheiten der beiden Medien aus dem Blick zu verlieren. Darüber hinaus kann die Analyse spezifisch filmischer Erzählverfahren schließlich auch einen tieferen Einblick in allgemeine Prinzipien und Techniken des Erzählens gewähren, welche im 20. und 21. Jahrhundert eine zunehmende Komplexität erlangt haben und die sich nicht mehr nur exklusiv anhand eines einzelnen Mediums betrachten lassen, sondern die vielfältigen intermedialen Konkurrenzen und Interferenzen unterworfen sind. 1.1. Das Erzählte und das Erzählen Die Filmnarratologie betrachtet den Film als ein ›Erzählmedium‹ und zu ihren zentralen Anliegen gehört die Entwicklung von Modellen, die den filmischen Erzähltext abstrahieren und ihn in seine narrativen Konstituenten zerlegen. Dabei greifen die meisten Forschungsansätze auf ein von der Literaturwissenschaft entwickeltes binäres Modell zurück, das auf dem fundamentalen Gegensatz zwischen dem Erzählten (›Was‹) und dem Erzählen (›Wie‹) basiert und das somit die Geschichte und die Form ihrer Darstellung einander gegenüberstellt. Dieses Modell, das in seinen Grund_____________ 4 5 6

Joachim Paech (1997): Literatur und Film, 2. überarb. Aufl., Stuttgart/Weimar, S. 48. Ebd., S. 45–63. Sergej Eisenstein (1962 [1941]): Dickens, Griffith und wir. In: ders.: Gesammelte Aufsätze I, Bd. 2, übertragen aus dem Russischen von Lothar Fahlbusch, Zürich, S.60–136, S.74.

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zügen bis auf Aristoteles zurückzuführen ist,7 hat in seiner Ausarbeitung und Weiterentwicklung durch die Formalisten und Strukturalisten im 20. Jahrhundert eine weite Verbreitung gefunden und ist zum Ausgangspunkt zahlreicher (film-)narratologischer Modelle geworden. Im Folgenden wird kurz auf die formalistischen und strukturalistischen Traditionen des Modells eingegangen, anschließend wird das von David Bordwell für den narrativen Spielfilm entwickelte, dreiteilige Erzählmodell mit den Komponenten fabula, sjužet und ›Stil‹ vorgestellt und diskutiert. Die Unterscheidung zwischen dem ›Was‹ und dem ›Wie‹ eines Erzähltextes wurde erstmals von den russischen Formalisten anhand des Begriffspaars fabula vs. sjužet präzisiert und zu einer Theorie des Narrativen ausgebaut. In seiner Theorie der Literatur (1925) definiert Boris Tomaševskij die fabula als »die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausal-temporalen Verknüpfung«, das sjužet bestimmt er demgegenüber als »die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen«.8 Das sjužet ist Tomaševskij zufolge somit das Resultat der Umstellung und Reorganisation der durch die fabula vorgegebenen Motive aus einer bestimmten Perspektive. Unter dem Gesichtspunkt der artistischen Gestaltung wird die fabula bei den Formalisten darüber hinaus häufig auch als die ›Rohfassung‹ einer Geschichte angesehen, während das sjužet als die konkrete, medienspezifische und künstlerische Realisation der jeweiligen Geschichte gilt: »Als Fabel«, so Tomaševskij, »kann auch ein tatsächliches, nicht vom Autor erfundenes Ereignis fungieren. Das Sujet dagegen ist eine durch und durch künstlerische Konstruktion.«9 Die französischen Strukturalisten haben dieses Konzept übernommen und weiterentwickelt. In Les catégories du récit littéraire (1966) hat zunächst Tzvetan Todorov das Begriffspaar der Formalisten aufgegriffen und es mit histoire und discours übersetzt, wobei er sich bei der Namensgebung an einer Unterscheidung des französischen Linguisten Émile Benveniste orientiert.10 Todorov geht davon aus, dass ein literarisches Werk stets zwei _____________ 7

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9 10

Aristoteles hat in seiner Poetik erstmals zwischen der Geschichte als dem Substrat der Geschehnisse und dem mýthos als der »Nachahmung von Handlung« und »Zusammensetzung der Geschehnisse« im konkreten Erzählverlauf differenziert. (Aristoteles 1982, Poetik, Kap. 6, 1450a, S. 18f.) Aristoteles bezieht sich hier allerdings noch nicht auf narrative Texte, sondern wendet diese Unterscheidung auf dramatische Texte respektive die Tragödie an. Boris Tomaševskij (1985): Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Auflage, hrsg. und eingeleitet von Klaus-Dieter Seemann. Aus dem Russischen übersetzt von Ulrich Werner, Wiesbaden [russ. Original: Teorija literatury. Poėtika, Moskva/Leningrad 1925/ 61931], S. 218. Ebd. Die durch Benveniste geprägten, linguistischen Termini histoire und discours sind jedoch nicht mit den gleichnamigen narratologischen Termini zu verwechseln. Im ersten Fall handelt es sich um zwei verschiedene Typen des Aussagens, die als solche potentiell austauschbar sind und die also Instanzen ein und derselben Aussage darstellen. Im zweiten Fall handelt

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

Seiten besitzt, die Geschichte (histoire) und den Diskurs (discours). Das Kennzeichen der Geschichte ist es, eine bestimmte Realität zu evozieren, der Diskurs ist demgegenüber durch die Art der Vermittlung der Ereignisse durch den Erzähler bestimmt: Au niveau le plus général, l’œuvre littéraire a deux aspects; elle est en même temps une histoire et un discours. Elle est histoire, dans ce sens qu’elle évoque une certaine réalité, des événements qui se seraient passés, des personnages qui, de ce point de vue, se confondent avec ceux de la vie réelle. Cette même histoire aurait pu nous être rapportée par d’autres moyens; par un film, par exemple; on aurait pu l’apprendre par le récit oral d’un témoin, sans qu’elle soit incarnée dans un livre. Mais l’œuvre est en même temps discours: il existe un narrateur qui relate l’histoire et il y a en face de lui un lecteur qui en perçoit. A ce niveau ce ne sont pas les événements rapportés qui comptent mais la façon dont le narrateur nous les a faits connaître.11

In seinem Discours du récit (1972) sowie der dazu als Postskriptum verfassten Studie Nouveau discours du récit (1983) erweitert Gérard Genette die histoire-discours-Dichotomie um Aspekt des produzierenden Akts der Narration und geht in seinem Modell von drei Ebenen der Erzählung aus, die er mit den Begriffen récit (auch discours), histoire und narration erfasst.12 Genettes Interesse gilt dabei, wie aus den Titeln seiner Arbeiten hervorgeht, im Wesentlichen dem narrativen Diskurs, der sich ihm zufolge aus fünf Kategorien zusammensetzt: Ordnung (ordre), Dauer (durée), Frequenz (fréquence), Modus (mode) und Stimme (voix), wobei die ersten drei Kategorien das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit betreffen, insgesamt also der Kategorie der Zeit (temps) zuzurechnen sind. Ein grundsätzliches Problem von Genettes Terminologie besteht darin, dass er den Begriff récit doppeldeutig verwendet und darunter zum einen im engeren Sinne den _____________

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es sich demgegenüber um zwei verschiedene Ebenen der Narration, die als solche nicht austauschbar sind, sondern einander ergänzen und bedingen. Benvenistes Unterscheidung zielt also auf einen linguistisch erfassbaren Unterschied innerhalb der von Todorov geprägten narratologischen Kategorie des discours. Tzvetan Todorov (1966): Les catégories du récit littéraire. In: Communications 8, S. 125– 151, S. 126. (»Auf der allgemeinsten Ebene hat das literarische Werk zwei Seiten: es ist zugleich Geschichte und Diskurs. Es ist Geschichte, weil es eine bestimmte Realität evoziert, Geschehnisse, die geschehen sein könnten, Personen, die von diesem Gesichtspunkt aus mit Personen des wirklichen Lebens ineinander verschwimmen. Dieselbe Geschichte hätte uns mit anderen Mitteln berichtet werden können z. B. in einem Film; sie hätte uns im mündlichen Bericht eines Zeugen, ohne daß sie zu einem Buch gemacht worden wäre, übermittelt werden können. Aber das Werk ist zugleich Diskurs; es gibt einen Erzähler, der die Geschichte berichtet, auf der anderen Seite gibt es einen Leser, der sie aufnimmt. Auf dieser Ebene zählen nicht die berichteten Geschehnisse, sondern die Weise, in der der Erzähler sie uns vermittelt.« Todorov [1972]: Die Kategorien der literarischen Erzählung. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, hrsg. von Heinz Blumensath, Köln, S. 263– 294, S. 264f.) Genette 1998, S. 15f. Vgl. Kap. II.1., Anm. 3.

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narrativen Diskurs (discours) und zum anderen im weiteren Sinne einen Oberbegriff für (mündliche und schriftliche) Erzählungen versteht. Darüber hinaus ist gegen sein dreiteiliges Modell eingewendet worden, dass der Begriff der narration sich auf einer anderen Ebene befinde, als die Begriffe récit/discours und histoire: Ersterer bezeichne den Prozess einer Aussage, letztere das Produkt einer Aktivität. Damit differenziere Genette, ebenso wie Todorov und die Formalisten, im Grunde nur zwischen zwei Ebenen des Erzählens.13 Obschon das dualistische Modell des Narrativen durchaus nicht ohne Kritik geblieben ist,14 bildet es im 20. Jahrhundert ein dominantes Modell der Erzählforschung und wurde bereits früh auch für das filmische Erzählen übernommen. So hatten zunächst die russischen Formalisten ihre Differenzierung zwischen fabula und sjužet auf den Film übertragen, später waren es u. a. Christian Metz und Seymour Chatman, die die histoire-discours-Dichotomie der Strukturalisten für das filmische Medium adaptiert hatten (vgl. Kap. II.1.3.). In seinem Buch Narration in the Fiction Film (1985) hat schließlich auch der Filmwissenschaftler David Bordwell die formalistische Begriffsopposition fabula vs. sjužet wieder aufgenommen und sie in seine (neo-)formalistisch-kognitive Erzähltheorie integriert. Das dualistische Modell der Formalisten wird bei Bordwell dabei um eine dritte Ebene, den sogenannten ›Stil‹ (style) erweitert, wobei sich Bordwell auf einen Aufsatz Jurij Tynjanovs bezieht, in welchem dieser erstmals darauf hingewiesen hat, dass die Verfahren des sjužet-Aufbaus eng mit dem Stil eines Films verknüpft sind.15 Unter Stil versteht Tynjanov ein System von Verfahren, das die spezifische mediale Manifestation einer Geschichte steuert, im Fall des Films also »die Gesetze der filmischen Konstruktion [die] alle Elemente verwandeln, die man als gemeinsame, in allen Kunstformen und allen ihren Gattungen gleichermaßen anwendbare Elemente ansah.«16 Auf ähnliche Weise bestimmt auch Bordwell den Stil eines Films als diejenigen Verfahren, die unmittelbar an die Materialität des filmischen _____________ 13 14

15 16

Mieke Bal (1977): Narratologie. Les instances du récit. Essais sur la singnification narrative dans quatre romans modernes, Paris, S. 6. So hat unter anderem Wolf Schmid auf die Unzulänglichkeiten des Zwei-Ebenen-Modells sowie der verschiedenen Drei-Ebenen-Modelle narrativer Konstitution verwiesen, die ihm zufolge daraus resultieren, dass die Begriffe histoire und discours bzw. fabula und sjužet jeweils eine zweiwertige Bedeutung besitzen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, schlägt Schmid ein Modell mit vier Ebenen vor, das zwischen dem Geschehen, der Geschichte, der Erzählung und der Präsentation der Erzählung differenziert. Die ersten beiden Ebenen lassen sich dabei auf den Begriff der histoire beziehen, die letzten beiden Ebenen bezeichnen die zwei Aspekte des discours. Wolf Schmid (2008): Elemente der Narratologie. 2. verb. Auflage, Berlin/New York, S. 251–284. Tynjanov 2005, bes. S. 75–83. Ebd., S. 75.

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Mediums gebunden sind und die technische Parameter, wie z. B. Einstellungsgröße, Kameraperspektive und -bewegung, Beleuchtung, Kadrierung, mise en scène, Schnitt und Montage sowie Bild-Ton-Verbindungen, umfassen. Stil wird bei Bordwell somit als der systematische Gebrauch der filmtechnischen Mittel (»the film’s systematic use of cinematic devices«)17 definiert, wobei dem Stil als der Gesamtheit der technischen Verfahren die dramaturgischen Verfahren des sjužet-Aufbaus gegenübergestellt werden: »The syuzhet [sjužet] embodies the film as a ›dramaturgical‹ process; style embodies it as a ›technical‹ one.« 18 Während bei Tynjanov Stil insgesamt als ein Aspekt des sjužets betrachtet wird – und zwar als der Aspekt der Manifestation der Geschichte in einem bestimmten Medium im Gegensatz zur medienunspezifischen Anordnung und Verknüpfung des Materials –, siedelt Bordwell fabula, sjužet und Stil jeweils auf drei verschiedenen Ebenen seines Erzählmodells an. Diese Vorgehensweise ist nicht ganz unproblematisch, da man zum einen dafür argumentieren kann, dass Stil im Sinne Bordwells genaugenommen das ›Wie‹ einer Erzählung betrifft und somit, ähnlich wie bei Tynjanov, besser als ein Bestandteil des Diskurses zu bestimmen ist. Zum anderen verliert Bordwells dreiteiliges Modell das spezifische Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und Diskurs aus dem Blick, das mit der hieran geknüpften Dualität von erzählter Zeit (›Zeit der Geschichte‹) und Erzählzeit (›Zeit des Diskurses‹) immer auch die charakteristische Zeitlichkeit des Erzählten zum Ausdruck bringt. Das Zwei-Ebenen-Modell des Narrativen wird bei Bordwell um eine dritte Ebene technischer Parameter erweitert, die als solche jedoch kein Spezifikum des Narrativen als Präsentation einer temporalen Struktur bzw. einer Zustandsveränderung darstellen, sondern die, beispielsweise in Form von Lichtgebung, Farbwahl, Perspektive etc., auch ein Merkmal non-narrativer Medien wie der Malerei und der Photographie sind. 1.2. Diegetische und mimetische Narration Das Hauptargument, mit welchem dem Medium Film in der Vergangenheit wiederholt seine Qualität als Erzählmedium abgesprochen wurde, ist die vermeintliche mangelnde ›Mittelbarkeit‹ des Films, d. h. der Vorrang, den das Zeigen und Nachahmen von Handlung im Film vor dem eigentlichen Erzählen zu besitzen scheint. So treten im fiktionalen Spielfilm, anders als in der Erzählliteratur, nur selten explizite, sicht- und hörbare Erzähler_____________ 17 18

Bordwell 1985, S. 49. Ebd., S. 50.

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instanzen in Erscheinung, die eine distanzierte, möglicherweise auch kommentierende Haltung zu den Geschehnissen einnehmen und die damit eine Vermittlung des Erzählten im Sinne der klassischen, vorstrukturalistischen Erzähltheorie leisten.19 Dagegen nähert sich der Film insofern der Unmittelbarkeit des Theaters an, als auch hier das Zeigen von Handlung im Vordergrund steht, d. h. eine scheinbar direkte und unvermittelte Präsentation der Ereignisse stattfindet. Die Vorstellung von der mangelnden Mittelbarkeit und damit einhergehend dem eingeschränkten narrativen Potential des Films ist grundsätzlich darauf zurückzuführen, dass literarische und filmische Erzähltexte auf verschiedenen semiotischen Systemen basieren: Während literarische Texte mit arbiträren, d. h. durch eine konventionalisierten Beziehung zwischen signifiant und signifié charakterisierten, sprachlichen Zeichen operieren, handelt es sich bei den audiovisuellen Zeichen des Films um ikonische Zeichen, bei welchen signifiant und signifié in einem Analogieverhältnis zueinander stehen.20 Diese unterschiedliche Beschaffenheit des sprachlichen und des filmischen Zeichenmaterials hat zur Folge, dass das sprachlich Erzählte stärker als etwas ›jenseits der erzählten Ereignisse selbst Liegendes‹, gewissermaßen in das Medium der Sprache Übersetztes erscheint, während demgegenüber das filmisch Erzählte stärker als ein ›authentisches‹, sinnliches Duplikat der erzählten Ereignisse wahrgenommen wird. So schreibt Anke-Marie Lohmeier: Der Rezipient, so will es die filmische Fiktion, sieht und hört mit den ›Augen‹ und ›Ohren‹ des fiktiven Erzählers nicht die ›Wiedererzählung‹ eines (anderswo und zu anderer Zeit vorgefallenen) Geschehens, auch nicht dessen ›Nachahmung‹, sondern dieses Geschehen selbst, dessen Duplikat zwar, aber ein Duplikat seiner authentischen sinnlichen Erscheinung, nicht eine diese sinnliche Erscheinung in ein abstraktes Medium, die Sprache, transformierende ›Übersetzung‹.21

Das filmisch Erzählte ist – insofern der Erzählvorgang nicht mittels sprachlicher, sondern mittels audiovisueller Zeichen stattfindet – stets »im Erzählvorgang selbst präsent«22 und erweckt dadurch den Anschein, dass es sich hier um ›unvermitteltes‹, nicht durch die Instanz eines Erzählers geformtes und dargelegtes Geschehen handelt. Um dieser medialen Besonderheit des filmischen Erzählens gerecht zu werden, hat es sich in der Filmwissenschaft eingebürgert, zwischen diege_____________ 19 20 21 22

Vgl. beispielsweise Käthe Friedmans Arbeit Die Rolle des Erzählers in der Epik (1910) sowie Franz K. Stanzels Die typischen Erzählsituationen im Roman (1955). Für das filmische Zeichen hat James Monaco daher den Begriff des »KurzschlußZeichen[s]« geprägt, worunter er ein Zeichen versteht, bei welchem Signifikant und Signifikat in einem direkten Ähnlichkeitsverhältnis zueinander stehen. Monaco 1995, S. 158. Anke-Marie Lohmeier (1996): Hermeneutische Theorie des Films, Tübingen (Medien in Forschung und Unterricht 42), S. 38. Ebd., S. 38.

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tischer und mimetischer Narration zu differenzieren, d. h. zwischen einem im engeren Sinne erzählenden und einem zeigenden oder nachahmenden Erzählen.23 Der Begriff diegetische Narration bezieht sich dabei auf die sprachliche Vermittlung von Ereignissen durch extra- oder intradiegetische Erzählerinstanzen, z. B. in Form von eingeschobenen Zwischentiteln, Dialogen und Voice-over. Dieser Form des verbalsprachlichen und schriftlichen Erzählens im engeren Sinn wird schließlich die mimetische Narration als zeigendes Erzählen gegenübergestellt, d. h. die anschauliche Vorführung der Ereignisse mittels Bildern, Geräuschen und Musik durch die extradiegetische Instanz der ›Kamera‹.24 In seinem Aufsatz Narration and Monstration in the Cinema (1987) differenziert auch André Gaudreault zwischen zwei Formen des Erzählens im Film, für welche er die Begriffe narration und monstration geprägt hat.25 Gaudreault zufolge ist das filmische Medium durch eine Übereinanderlagerung – in Anlehnung an das filmtechnische Verfahren der Doppelbelichtung spricht er von »superimposition«26 – von erzählender (narration) und zeigender (monstration) Vermittlung des Erzählten gekennzeichnet: Insofern der Film auf der Ebene der einzelnen Einstellung einerseits die Illusion erzeugt, dass sich die Ereignisse gewissermaßen ›von selbst‹ und ohne das Zutun einer Erzählinstanz erzählen, kann man hier von monstration sprechen; insofern der Film andererseits die Möglichkeit besitzt, durch Schnitt und Montage das temporale Kontinuum des Geschehens aufzubrechen und beliebig zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hin- und herzuwechseln, liegt hier die Form der narration, d. h. ein stärker ›vermitteltes‹, die Intervention des Erzählers deutlich machendes Erzählen vor. Durch monstration, so Gaudreault, erhalten die Ereignisse ihre sinnliche Präsenz, durch narration dagegen kann der Fluss der Zeit durchbrochen werden, können die Ereignisse (z. B. mittels Ellipsen, Flashbacks und Flashforwards) nach Belieben an- und umgeordnet werden.

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Diese Differenzierung zwischen zwei Formen des Erzählens geht bis auf Platon zurück, der im dritten Buch seines Dialoges Der Staat (Politeia) zwischen der ›reinen Erzählung‹ (haplê diêgêsis), bei welcher der Dichter selbst redet, und der ›nachahmenden Erzählung‹ (mimêsis), bei welcher der Dichter seine Figuren reden lässt, unterscheidet. Im 19. und 20. Jahrhundert haben Henry James und Percy Lubbock diese Differenzierung erneut aufgegriffen und als Begriffsopposition telling vs. showing in die englischsprachige Erzähltheorie eingeführt. Vgl. hierzu auch Genette 1998, S. 115–132, bes. S. 116. Zur Bestimmung der ›Kamera‹ als dem fiktiven Erzähler des Films vgl. Kap. II.2.1. André Gaudreault (1987): Narration and Monstration in the Cinema. In: The Journal of Film and Video 39, S. 29–36, S. 33. Vgl. ders.: (1999): Du littéraire au filmique. Système du récit. Mit einem Vorwort von Paul Ricœur, 3. durchges., korrig. und erg. Aufl., Paris. Ebd., S. 34.

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It is because the monstrator [...] klings so closely to the immediacy of the ›representation‹ that it is incapable of opening up this gap in the temporal continuum. [...] Only the narrator can sweep us along on its flying carpet through time.27

Während die in der filmwissenschaftlichen Erzählforschung allgemein übliche Differenzierung zwischen diegetischer und mimetischer Narration auf die verschiedenen medialen Träger der Erzählung (Sprache vs. Bild/ Ton) verweist, bezieht sich Gaudreaults Begriffspaar narration und monstration demgegenüber auf eine Binnendifferenzierung innerhalb der Erzählform der mimetischen Narration: So betont Gaudreault zu Recht, dass die Ereignisse im Film nicht nur durch das bewegte Bild der Einzeleinstellung vermittelt werden – wozu beispielsweise die Kadrierung, die Wahl der Perspektive, die Lichtgestaltung sowie die mise en scène als räumliche Anordnung der Figuren und Objekte gehören –, sondern insbesondere auch durch Schnitt und Montage, d. h. durch die Selektion, Rekombination und temporale Anordnung des filmischen Materials. Die von Gaudreault eingeführten Begriffe narration und monstration verweisen somit auf eine Doppelfunktion des fiktiven Erzählers bzw. der ›Kamera‹ als der extradiegetischen, übergeordneten Vermittlungsinstanz des Films (s. Kap. II.2.1.), demgegenüber zielen die Begriffe diegetische und mimetische Narration auf die unterschiedlichen medialen Vermittlungsmöglichkeiten im Film. Letztere sind schließlich auch der Grund für die ›Mehrstimmigkeit‹28 und die potentiell hochgradige Komplexität audiovisueller Erzählungen, die beispielsweise immer dann deutlich wird, wenn Bild und Ton Dissonanzen aufweisen und unterschiedlich semantisch codiert sind oder auch dann, wenn zwischen einem verbalsprachlichen Voice-over-Diskurs und dem visuellen Diskurs der ›Kamera‹ Widersprüche auftreten und somit die Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Erzählinstanzen in Frage gestellt wird. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden an Mittelbarkeit bzw. mimetischer Qualität des Erzählten besonders in der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung nicht nur auf Zustimmung gestoßen ist. So hat Gérard Genette bemerkt, dass die Differenzierung zwischen diegetischer und mimetischer Narration im Medium der Sprache grundsätzlich problematisch ist, da Sprache ja niemals ›zeigen‹ oder ›nachahmen‹ kann, sondern nur »möglichst detailliert, präzis oder ›lebendig‹ erzählen [kann].«29 Genette geht davon aus, dass sprachlich-literarische Texte lediglich eine Mimesis-Illusion erzeugen können, da Sprache stets bezeichnet und nur die Illusion einer unmittel_____________ 27 28 29

Gaudreault 1987, S. 32. Eder 2009, S. 15. Genette 1998, S. 117.

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baren Nähe bzw. von anschaulicher Nachahmung erweckt.30 Neben derartig kritischen Stimmen findet sich jedoch auch in der Literaturwissenschaft eine Reihe von Befürwortern des Konzepts (Henry James, Percy Lubbock, Friedrich Spielhagen u. a.), bei denen das Begriffspaar vorrangig in den Dienst einer Aufwertung des Strebens nach Anschaulichkeit und sinnlicher Erlebnisqualität sprachlich-literarischer Erzählungen gestellt wird. Darüber hinaus hat die Diskussion der Begriffsopposition mimetische vs. diegetische Narration schließlich vor allem auch die generelle Aufmerksamkeit für die Besonderheiten des Erzählens in Medien wie dem Film, dem Drama, dem narrativen Ballett, dem Comic etc. geschärft und hat nicht unwesentlich zu einer transmedialen Erweiterung des Verständnisses des Narrativen beigetragen. In Ergänzung der vorangegangenen, stärker allgemeinen Betrachtungen des Films als einem dominanten Erzählmedium unserer westlichen Kultur wird im letzten Teil dieses Unterkapitels ein kurzer Überblick über einzelne historische Phasen der Filmnarratologie gegeben und es werden verschiedene strukturalistische und (neo-)formalistisch-kognitive Ansätze vorgestellt, die sich mit dem filmischen Erzählen auseinandersetzen. 1.3. Historische Phasen und Ansätze der Filmnarratologie Die Filmnarratologie ist ein verhältnismäßig junges Forschungsgebiet, das sich im engeren Sinne seit den 1980er Jahren ausgehend von einem Kreis von Filmwissenschaftlern an der University of Wisconsin/Madison, der sogenannten ›Wisconsin School‹, in Abgrenzung zu semiotischen und psychoanalytischen Ansätzen der Filmtheorie etabliert hat. Die Anfänge der Erzählforschung zum Film reichen jedoch bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück: Die ersten Theoretiker, die sich mit filmnarratologischen Fragestellungen befasst haben, waren die russischen Formalisten, unter ihnen bekannte Filmtheoretiker wie Boris Ėjchenbaum, Jurij Tynjanov und Viktor Šklovskij. Die (neo-)formalistischen und kognitiv orientierten Filmtheorien seit den 1980er Jahren bauen auf ihren Konzepten auf und entwickeln sie weiter, wobei es ihnen nicht allein um die Frage geht, wie Film funktioniert, sondern auch um die kognitiven und emotionalen Effekte, die er im Zuschauer auszulösen vermag. _____________ 30

Gegen diese Ansicht wehrt sich der Filmwissenschaftler Robert Burgoyne, der mit dem Argument, eine medienübergreifende Theorie des Narrativen entwerfen zu wollen, die Dualität von monstration und narration als charakteristisch für sämtliche, auch sprachliche Erzählungen erachtet. Robert Burgoyne (1990): The Cinematic Narrator. The Logics and Pragmatics of Impersonal Narration. In: Journal of Film and Video 42/1, S. 3–16, S. 14.

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Die Erzählforschung zum Film im 20. Jahrhundert lässt sich grob vereinfachend drei historische Phasen unterteilen: eine erste formalistische Phase (von 1916 bis etwa 1930), eine zweite semiotisch-strukturalistische Phase (von 1968 bis etwa 1980) und eine dritte (neo-)formalistisch-kognitive Phase (seit etwa 1980), wobei den Theorien der letztgenannten Phase wiederum neuere strukturalistische Ansätze gegenüberstehen. Die erste Phase wird begründet durch die Filmtheorie des russischen Formalismus und ist geprägt durch den intensiven Austausch zwischen der Filmtheorie der Formalisten und ihrer nahezu zeitgleich entwickelten Literaturtheorie. Im Zentrum steht der Entwurf einer ›Poetik des Films‹, wobei zentrale Punkte die Frage nach dem sprachlichen Status des Films, die Anwendung der fabula-sjužet-Dichotomie auf das filmische Erzählen sowie die Frage nach den Gesetzen der sjužet-Konstruktion im Film sind. Das Forschungsinteresse der Formalisten konzentriert sich somit nicht nur exklusiv auf das Medium der Sprache bzw. die Literatur, sondern ist von Beginn an auf eine transmediale Erweiterung des Begriffs des Narrativen ausgerichtet. Eine der wichtigsten Veröffentlichungen dieser ersten Phase stellt der 1927 erschienene Band Poėtika kino dar, der u. a. Aufsätze von Ėjchenbaum, Tynjanov, Kazanskij, Šklovskij, Mukaőovský, Jakobson und Piotrovskij enthält, und der einen wichtigen Wegstein in der Geschichte der (Erzähl-)Theorie des Films markiert.31 Nachdem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und begleitend zur Filmpraxis des italienischen Neorealismus eine Abkehr von formalistischen Positionen sowie eine verstärkte Befürwortung eines ›filmischen Realismus‹ (Bazin, Kracauer) stattgefunden hatte, ist seit dem Ende der 1960er Jahre eine neue Schärfung des Bewusstseins für die wirklichkeitskonstruierenden und encodierenden Eigenschaften des filmischen Mediums zu beobachten. Der Film wird nun vorrangig als Zeichensystem bzw. als eine Art ›Sprache‹ gesehen, die durch konventionalisierte Codes strukturiert ist. So heißt es bei Umberto Eco: Der Film erscheint uns nicht mehr wie die wunderbare Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern als eine Sprache, die eine andere vorherbestehende Sprache spricht, von denen sich beide mit ihren Konventionssystemen gegenseitig beeinflussen.32

Diese zweite, in die Bewegungen des französischen Strukturalismus und der Semiotik eingebundene Phase der Erzählforschung zum Film ist durch eine Orientierung an der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie (Bre_____________ 31

32

Boris Ėjchenbaum (Hrsg.) (1927): Poėtika kino, Moskva/Leningrad. Die Aufsätze aus dem Band sowie zahlreiche Vorarbeiten, Kritiken und Diskussionsbeiträge finden sich, zum Großteil in deutscher Erstübersetzung, abgedruckt in: Wolfgang Beilenhoff (Hrsg.) (2005): Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, Frankfurt a. M. Umberto Eco (1994/1972): Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe, übersetzt von Jürgen Trabant, München, S. 255 [ital. Original: La struttura assente, 1968].

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mond, Greimas, Todorov, Barthes, Genette u. a.) gekennzeichnet und ist darüber hinaus vom linguististic turn sowie der Lacan’schen Psychoanalyse inspiriert. Als beispielhaft für diese Phase können Christian Metz’ Essais sur la signification au cinéma (1968) gelten, in welchen Metz das Wechselspiel von Film(-narration) und Subjekt analysiert und dieses psychoanalytisch, in Anlehnung an Freud und Lacan, interpretiert. Im zweiten Kapitel der Essais, welches noch am stärksten von einem (film-)narratologischen Interesse getragen ist, entwickelt Metz fünf konstitutive Merkmale, die jeder Erzählung eigen sind und die er am Beispiel des narrativen, fiktionalen Spielfilms illustriert. Als erstes Merkmal nennt Metz hier die »Abgeschlossenheit« der Erzählung: Eine Erzählung hat stets einen Anfang und ein Ende – selbst wenn, wie Metz am Beispiel des Films Dead of Night verdeutlicht, die Geschichte eine »Schraube ohne Ende« erzeugt, d. h. wenn das Ende den Anfang wieder aufnimmt, so ist die Erzählung als eine Folge von Schriftzeichen oder Bildern jedoch stets abgeschlossen.33 Zweitens, so Metz, ist »die Erzählung eine zeitliche Sequenz« und birgt damit eine Unterscheidung zwischen der »Zeit der erzählten Geschichte« und der »Zeit des Erzählens selbst«. Diese Dualität bezieht sich jedoch nicht nur auf die Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sondern gibt zudem einen entscheidenden Hinweis darauf, »daß eine der Funktionen der Erzählung darin besteht, eine Zeit in eine andere zu prägen [...].«34 Drittens ist »jede Narration eine Rede«, womit Metz die Aufmerksamkeit auf die Instanz des fiktiven Erzählers lenkt: »Was eine Rede von der übrigen Welt trennt und was sie gleichzeitig der ›realen‹ Welt gegenüberstellt, ist die Tatsache, daß eine Rede zwangsläufig von jemandem gehalten wird [...].«35 Die Existenz einer wie auch immer gearteten fiktiven Erzählerinstanz, eines grand imagier, der gewissermaßen in einem Album vorgeschriebener Bilder blättert und der dem fiktiven Leser/Zuschauer die erzählte Welt eröffnet, bildet für Metz somit ein konstitutives Merkmal von Erzählungen. Als viertes Merkmal nennt Metz anschließend die »Irrealisation der erzählten Sache«,36 wobei er sich nicht nur auf fiktionale (auf wunderbare ebenso wie auf realistische) Erzählungen bezieht, sondern explizit auch auf non-fiktionale Erzählungen, also auf Erzählungen von historischen Ereignissen, Alltags_____________ 33

34 35 36

Christian Metz (1972): Semiologie des Films. Kap. 2: »Bemerkungen zu einer Phänomenologie des Narrativen«. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Koch, München, S. 35–50, S. 37 [frz. Original: Essais sur la signification au cinéma, Paris 1968]. Hervorheb. hier und im Folgenden im Original. Ebd., S. 38. Ebd., S. 40. Der Begriff ›Rede‹ ist Metz zufolge dabei nicht gleichzusetzen mit Sprache. Rede meint stattdessen »eine Äußerung oder eine Folge von Äußerungen […], [die] zwangsläufig auf ein Subjekt der Aussage verweist.« Ebd., S. 41. Ebd., S. 42.

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erzählungen etc. Alle diese Formen von Erzählungen, so Metz, sind von einer Irrealität geprägt, die sich aus der fehlenden Präsenz des Erzählten ergibt, »vollkommen real ist nur das hic et nunc«.37 Fünftens schließlich ist eine Erzählung »eine Menge von Ereignissen«,38 die in einer Sequenz angeordnet sind und die das Korrelat des narrativen Akts bilden. Auf der Basis dieser fünf konstitutiven Merkmale gelangt Metz zu folgender Definition des Narrativen: »Eine abgeschlossene Rede, die eine zeitliche Sequenz von Ereignissen irrealisiert.«39 Auch wenn sich Metz’ Essais insgesamt aufgrund ihrer Nähe zur Lacan’schen Psychoanalyse vom Bereich der klassischen Narratologie bereits wieder entfernen, so kommt ihnen dennoch das Verdienst zu, den Begriff des Erzählens in der Filmtheorie etabliert und den Boden für die weitere Auseinandersetzung mit dem filmischem Erzählen geebnet zu haben. Eine stärkere Anlehnung der Filmwissenschaft an die klassische, literaturwissenschaftliche Erzählforschung, besonders des Formalismus und des Strukturalismus, ist schließlich seit dem Ende der 1970er Jahre zu beobachten. An erster Stelle ist hier Seymour Chatmans Arbeit Story and Discourse (1978) zu nennen, die ein umfassendes Modell des Erzählens im Film und anderen Medien entwirft und die dabei explizit in der Tradition der literaturwissenschaftlichen, besonders der strukturalistischen Erzähltheorie steht. Aufbauend auf den Ansätzen Todorovs, Genettes, Barthes’, Bremonds u. a. übernimmt Chatman die Begriffsopposition histoire und discours für den Film, welche er als story und discourse übersetzt. Auf der Ebene der Geschichte (story) unterscheidet er dabei zwischen Ereignissen (events) und Existenzen (existents), wobei er die Ereignisse wiederum in Handlungen (actions) und Geschehnisse (happenings), die Existenzen in Figuren (characters) und Raum (setting) unterteilt. Auf der Ebene des Diskurs (discourse) differenziert Chatman demgegenüber zwischen der Struktur der narrativen Vermittlung einerseits, d. h. der Verknüpfung der einzelnen narrativen statements als den (medienunabhängigen) Grundelementen des Diskurses, und der (medienspezifischen) Manifestation des Diskurses andererseits, welche z. B. in verbaler, filmischer, tänzerischer oder pantomimischer Form erfolgen kann.40 Der Hauptverdienst von Chatmans Arbeit besteht zweifellos in der Erweiterung eines enggefassten, sprach- und literaturzentrierten Verständnisses des Narrativen auf den Film und andere Medien, wobei die Tatsache, dass ein und dieselbe Geschichte jeweils in verschiedenen Medien aktualisiert werden kann, für ihn das stärkste Argument dafür bildet, dass _____________ 37 38 39 40

Metz 1972, S. 43. Ebd., S. 45. Ebd., S. 50. Chatman 1980, vgl. auch die Schaubilder auf S. 19 und S. 26.

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narrative Strukturen medienunabhängig sind.41 Darüber hinaus zeichnet sich sein Ansatz dadurch aus, dass er Erzählen als einen kommunikativen Akt begreift, der zwei Parteien, einen Sender und einen Empfänger, beinhaltet. Aus diesem Ansatz heraus entwickelt Chatman ein Sender-Empfänger-Modell narrativer Kommunikation, bei welchem sich auf der Seite des Senders der reale Autor (real author), der implizite Autor (implied author) sowie optional ein Erzähler (narrator) befinden, auf der Seite des Empfängers dagegen der reale Rezipient (real reader), der implizite Rezipient (implied reader) sowie optional eine fiktive Leserfigur (narratee).42 Der noch in Story and Discourse vertretene Gedanke einer Optionalität des fiktiven Erzählers, d. h. die Annahme einer Existenz von »›non-narrated‹ narratives« als Erzählungen, die ohne Erzählerinstanz auskommen, wird von Chatman in seiner 1990 erschienenen Arbeit Coming to Terms grundsätzlich revidiert. Mit Bezug auf das Medium Film führt er hier den Begriff des cinematic narrator ein, der analog zum Erzähler traditioneller Prägung im Roman eine fakultative Instanz filmischer Erzählungen darstellt und der auch dann vorhanden ist, wenn er sich nicht explizit, z. B. durch Voice-over-Kommentare oder Zwischentitel, zu erkennen gibt.43 Chatman wendet sich damit erklärtermaßen gegen kognitive Ansätze der Filmnarratologie, die dem Konstrukt eines übergeordneten Filmerzählers insgesamt äußerst kritisch gegenüberstehen und die einen Erzähler im Film sowie weitere narrative Instanzen nur dann annehmen, wenn diese vom Rezipienten (re-)konstruiert werden. Im Unterschied zur inter- und transmedialen Ausrichtung der Erzähltheorie Chatmans, die stets auch um einen Vergleich der Medien Literatur und Film bemüht ist, sind die Theoretiker der dritten, (neo-)formalistischkognitiven Phase der Erzählforschung zum Film schließlich vorrangig am _____________ 41

42 43

Chatman zitiert hier Claude Bremond: »La structure [d’une histoire] est indépendante des techniques qui la prennent en charge. Elle se laisse transporter de l’une à l’autre sans rien perdre de ses propriétés essentielles: le sujet d’un conte peut servir d’argument pour un ballet, celui d’un roman peut être porté à la scène ou à l’écran, on peut raconter un film à ceux qui ne l’ont pas vu. Ce sont des mots qu’on lit, ce sont des images qu’on voit, ce sont des gestes qu’on déchiffre, mais a travers eux, c’est une histoire qu’on suit, et ce peut être la même histoire.« Claude Bremond (1964) : Le message narratif, S. 4. Bei Chatman heißt es dazu: »This transportability of the story ist he strongest reason for arguing that narratives are indeed structures independent of any medium.« Chatman 1980, S. 20. Ebd., S. 147–151, vgl. auch das Schaubild auf S. 151. Den cinematic narrator bestimmt Chatman als den »overall agent that does the showing [of a film]«. Seymour Chatman (1990): Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca/London, Kap. 8: »The Cinematic Narrator«, S. 124–138, hier S. 134. Als »composite of a large and complex variety of communication devices« (ebd.) umfasst der cinematic narrator dabei sämtliche Komponenten des auditiven und des visuellen Kanals: Geräusche, Stimmen und Musik ebenso wie die Bildgestaltung inklusive Beleuchtung, Farbe, Kamera (Kameraeinstellung, -winkel und -bewegung), mise en scène, Schnitt und Montage.

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Medium Film bzw. am filmischen Erzählen interessiert. Unter Rückbezug auf die Filmtheorie der russischen Formalisten übernehmen sie die Begriffsopposition fabula und sjužet für den Film sowie das Interesse der Formalisten an den Konstruktionsleistungen, die der Zuschauer vollbringen muss, um einen Film zu ›enträtseln‹. Das Wahrnehmen und Verstehen von Filmen, schreibt so bereits Boris Ėjchenbaum in seinem 1927 erschienenen Aufsatz Probleme der Filmstilistik, fordere vom Zuschauer eine spezielle »Technik des Enträtselns«, die (Re-)Konstruktion eines Geschehens, die stets im »Prozeß der inneren Rede des Zuschauers« stattfinde.44 Der Filmzuschauer habe daher »eine komplizierte Gehirntätigkeit zu leisten, die im Alltagsgebrauch fast vollkommen fehlt [...]. Ununterbrochen muß er eine Kette von Einstellungen zusammensetzen, weil er sonst überhaupt nichts versteht.«45 Der (neo-)formalistische, an den Theorien der Kognitionswissenschaft orientierte Zweig der Erzählforschung zum Film, zu dessenen wichtigsten Standardwerken David Bordwells Narration in the Fiction Film (1985) und Edward Branigans Narrative Comprehension and Film (1992) gehören, baut auf diesen Überlegungen auf und entwickelt sie weiter. Die Grundannahme dieses Ansatzes besagt, dass der Zuschauer den Film als solchen erst im Akt der Konstruktion erschafft, aus dem Rohmaterial des sjužet entsteht erst infolge der aktiven Tätigkeit des Filmzuschauers die fabula. Narrativität basiert demzufolge nicht, wie in den klassischen Erzähltheorien, auf einer Kommunikation zwischen verschiedenen Sende- und Empfängerinstanzen, sondern ist primär als perzeptuelle Aktivität der Datenorganisation durch den Rezipienten anzusehen: [...] narrative is a perceptual activity that organizes data into a special pattern which represents and explains experience. More specifically, narrative is a way of organizing spatial and temporal data into a cause-effect chain of events with a beginning, middle, and end that embodies a judgment about the nature of the events as well as demonstrates how it is possible to know, and hence to narrate, the events.46

Der Rezipient ist für die kognitiven Filmnarratologen demnach kein passiver Beobachter, sondern ist aktiv an der Bedeutungskonstitution von Filmen beteiligt. »In the fiction film,« so David Bordwell, »narration is the process whereby the film’s syuzhet and style interact in the course of cueing and channeling the spectator’s construction of the fabula.«47 Ein wichtiges Stichwort liefert in diesem Zusammenhang der Begriff des ›Cueing‹: Der Film besteht für die kognitiven Filmnarratologen aus audiovisuellen Hinweisen, sogenann_____________ 44 45 46 47

Ėjchenbaum 2005, S. 29f. Ebd., S. 29. Edward Branigan (1992): Narrative Comprehension and Film, London/New York, S. 3. Hervorheb. im Original. Bordwell 1985, S. 53. Hervorheb. im Original.

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ten ›Cues‹, die der Zuschauer aktiv wahrnimmt und die er zur Bildung von Hypothesen benutzt. Dabei kann zwischen bottom-up- und top-down-Prozessen der Wahrnehmung unterschieden werden, d. h. zwischen Prozessen, bei denen neues Datenmaterial in Sekundenbruchteilen aufgenommen und organisiert wird (bottom-up), und Prozessen, bei denen über einen längeren Zeitraum abstrakte Wissensstrukturen aktualisiert werden und das Datenmaterial gemäß Vorwissen und Erwartungen des Zuschauers auf alternative Weise umorganisiert wird (top-down).48 Aus den Cues, die das sjužet dem Filmzuschauer nacheinander liefert, konstruiert dieser schließlich die Geschichte (fabula), wobei das narrative Wissen,49 das sich der Rezipient eines Films im Verlauf seiner Mediensozialisation erworben hat, eine wichtige Rolle für das Verständnis des jeweiligen filmischen Textes spielt. Die kognitiven Filmtheorien stehen den klassischen Sender-Empfänger-Modellen narrativer Kommunikation insgesamt äußerst skeptisch gegenüber50 und lehnen Konzepte wie das des impliziten (abstrakten) Autors sowie des fiktiven Erzählers als einer fakultativen, übergeordneten Vermittlungsinstanz generell ab. So argumentiert David Bordwell gegen die Idee eines implied author als einem »unsichtbaren Puppenspieler« und einer »allmächtigen Kunstfigur, die hinter jedem Werk steht« und bezeichnet die Annahme eines filmischen Erzählers als eine »anthropomorphisierende Fiktion«.51 To give every film a narrator or implied author is to indulge in an anthropomorphic fiction. [...] I suggest, however, that narration is better understood as the organization of a set of cues for the construction of a story. This presupposes a perceiver, but not any sender of a message. This scheme allows for the possibility that the narrational process may sometimes mimic the communication situation more or less fully. A text’s narration may emit cues that suggest a narrator, or a ›narratee‹, or it may not. […] Far better, I think, to give the narrational process the power to signal under certain circumstances that the spectator should construct a narrator. When this occurs, we must recall that this narrator is the product of specific orga-

_____________ 48 49

50

51

Vgl. Branigan 1992, S. 37–39. Unter narrativem Wissen versteht der Filmwissenschaftler und Kognitionspsychologe Peter Ohler allgemeine und unspezifische Wissensstrukturen wie z. B. das Wissen um typische Plots, Protagonistenrollen, Handlungssettings und Handlungssequenzen im Rahmen typischer Genres. Narratives Wissen ist Ohler zufolge über funktionale Korrespondenzen sowohl mit generellem Weltwissen als auch mit Wissen um filmische Darbietungsformen verknüpft. Peter Ohler (1994): Kognitive Filmpsychologie. Verarbeitung und mentale Repräsentation narrativer Filme, Münster, bes. S. 34–37. Vgl. auch Kristin Thompson: »Der Neoformalismus lehnt ein Kommunikationsmodell für die Kunst ab. In einem derartigen Modell unterscheidet man im allgemeinen zwischen drei Komponenten: Sender, Medium und Empfänger.« Und weiter: »Der Neoformalismus betrachtet die Zuschauer nicht als passive [Empfänger-]›Subjekte‹ […], sondern die Zuschauer sind weitgehend aktiv und tragen damit wesentlich zur letztendlichen Wirkung eines Werkes bei.« Kristin Thompson (1995): Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden. In: montage/av 4,1, S. 23–62, S. 27 und S. 45. Bordwell 1985, S. 62.

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nizational principles, historical factors, and viewers’ mental sets. Contrary to what the communication model implies, this sort of narrator does not create the narration; the narration, appealing to historical norms of viewing, creates the narrator.52

Bordwells Ansatz ist dabei jedoch nicht ohne Widersprüche: Während er sich einerseits vehement gegen Sender-Empfänger-Modelle narrativer Kommunikation sowie gegen die Annahme eines fiktiven Erzählers wehrt, gibt er andererseits mit Blick auf das sogenannte Art Cinema zu verstehen, dass die selbstreflexive Markiertheit des Erzählten hier auf die realen Filmemacher als übergeordnete Erzählinstanz verweise. Im Art Cinema, so Bordwell, trete der reale Autor bzw. Filmemacher als Urheber des Werks hervor, der eine bestimmte Botschaft kommunizieren möchte oder einer persönlichen Vision Ausdruck zu geben sucht. [...] I argued that there was no good reason to identify the narrational process with a fictive narrator. In the art cinema, however, the overt self-consciousness of the narration is often paralleled by an extratextual emphasis on the filmmaker as source. Within the art cinema’s mode of production and reception, the concept of the author has a formal function it did not possess in the Hollywood studio system.53

Dem von Bordwell vertretenen Gedanken, dass von der Existenz eines Erzählers in einem narrativen Text nur dann auszugehen ist, wenn dieser vom Rezipienten als solcher rekonstruiert wird, widersprechen wiederum neuere strukturalistische Ansätze (Burgoyne 1990, Chatman 1990), die betonen, dass die Annahme einer fiktiven Erzählerinstanz als sinnstiftendem Zentrum der Erzählung eine logische Notwendigkeit darstellt und unabhängig von den produktionsästhetischen Verfahren und Intentionen des realen Autors ist. Ähnlich wie David Bordwell hegt schließlich auch sein Schüler Edward Branigan generelle Zweifel an der Adäquatheit von Sender-Empfänger-Modellen narrativer Kommunikation und möchte Narrativität als Produkt des Leseakts verstanden wissen bzw. »as an act of problem-solving by the reader«.54 Dabei versucht er jedoch insofern zwischen der Position Bordwells und der der strukturalistischen Filmnarratologen zu vermitteln, als er von einer Hierarchie möglicher Narrationsebenen in audiovisuellen Medien ausgeht, die stets vorhanden sind, aber nicht in jedem Fall tatsächlich ausgefüllt sein müssen.55 Branigan unterscheidet insgesamt acht Ebenen des Erzählens und der Fokalisierung im Film, denen er auf Sender-Seite (1) die realen Filmemacher (historical author), (2) einen möglichen außerfiktionalen Erzähler (extrafictional narrator), (3) einen möglichen extradiegetischen Erzähler (nondiegetic narrator) und (4) einen möglichen intradiegeti_____________ 52 53 54 55

Bordwell 1985, S. 62. Hervorheb. im Original. Ebd., S. 211. Hervorheb. im Original. Branigan 1992, S. 110f. Ebd., Kap. 4: ›Levels of narration‹, S. 86–124.

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schen Erzähler (diegetic narrator) zuordnet. Diese fakultativen und optionalen Erzählerinstanzen vermitteln das Figurenhandeln, das wiederum (5) non-fokalisiert, (6) extern fokalisiert, (7) intern fokalisiert (Oberfläche) oder (8) intern fokalisiert (Tiefe) sein kann. Branigans Modell zufolge sind in einem Film somit nur die Ebene der realen Filmemacher sowie die Ebene des Figurenhandelns notwendig ausgefüllt, alle weiteren narrativen Instanzen sind optional und nur dann vorhanden, wenn sie vom Rezipienten über Hinweise (z. B. Voice-over-Kommentare, wertende Montagen oder das explizite Auftreten intradiegetischer Erzählerfiguren) konstruiert werden. Obschon Branigans Vorschlag der Optionalität einzelner Instanzen des filmischen Erzählwerks durchaus Vorteile besitzt,56 soll sein Ansatz hier nicht weiterverfolgt werden, sondern es soll demgegenüber von einem traditionellen, an literaturwissenschaftlichen Erzählmodellen orientierten Verständnis narrativer Kommunikation ausgegangen werden. Dieses Vorgehen begründet sich in erster Linie dadurch, dass die vorliegende Arbeit – ebenso wie die Arbeiten Chatmans, Burgoynes und anderer an der strukturalistischen Literaturtheorie orientierter Filmnarratologen – stark von einem inter- und transmedialen Erkenntnisinteresse geleitet ist und dementsprechend von der Annahme ausgeht, dass literarisches und filmisches Erzählen nicht als isolierte Phänomene zu betrachten sind. Daraus ergibt sich ein Ansatz, der eine prinzipielle Vergleichbarkeit literarischer und filmischer Modelle der narrativen Kommunikation postuliert und der somit konsequenterweise auch dem filmischen Medium einen fiktiven, extradiegetischen Erzähler als fakultative Vermittlungsinstanz zugesteht.

_____________ 56

Einer der Hauptvorteile von Branigans Modell ist sicherlich die Anschaulichkeit: Die Instanz des fiktiven Erzählers, die sich im Film äußerst selten im Medium der Sprache artikuliert und die daher hier nur schwer greifbar und als ›Stimme‹ im Text festzumachen ist, erscheint bei Branigan nicht als ein notwendiges, logisches Konstrukt, sondern wird demgegenüber nur dann angenommen, wenn sie explizit durch Hinweise im Text markiert ist.

2. Der filmische Diskurs

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2. Der filmische Diskurs 2.1. Instanzen des filmischen Erzählwerks Während (neo-)formalistisch-kognitive Filmnarratologen erzählende Instanzen in einem Film nur dann annehmen, wenn diese vom Zuschauer als solche (re-)konstruiert werden, erachten literaturwissenschaftlich geschulte, an der Erzähltheorie des Strukturalismus orientierte Filmnarratologen das Konstrukt eines ›Filmerzählers‹ demgegenüber als eine logische Notwendigkeit. Dieser fiktive, extradiegetische Erzähler im Film, der als eine übergeordnete Instanz die Verantwortung für die Präsentation der erzählten Welt übernimmt, hat unter verschiedenen Namen Eingang in die Diskussion gefunden: als grande imagier (Metz), intrinsic narrator (Black) oder auch cinematic narrator (Burgoyne, Chatman). Im Folgenden soll in Anlehnung an das von Wolf Schmid entworfene Kommunikationsmodell literarischer Texte, das von Sabine Schlickers für den Film adaptiert wurde,57 dem Begriff des fiktiven Erzählers/›Kamera‹ der Vorzug gegeben werden, wobei ›Kamera‹ allerdings hochmetaphorisch zu verstehen ist und daher in Anführungszeichen gesetzt wird. In Übernahme der genannten Modelle der Kommunikationsebenen in literarischen und filmischen Texte sind hierarchisch verschiedene Ebenen zu unterscheiden: die extratextuelle Welt, das literarische bzw. filmische Werk, die dargestellte Welt, die erzählte Welt sowie optional eine oder mehrere zitierte Welt(en). Diesen Ebenen sind jeweils wiederum auf Senderseite die Instanzen des konkreten Autors/Regisseurs, des abstrakten Autors/Regisseurs, des fiktiven Erzählers/›Kamera‹ sowie der Figuren zugeordnet, wobei die Figuren wiederum auch als Erzähler, d. h. als Sendeinstanzen auftreten können. Auf Empfängerseite befinden sich demgegenüber der konkrete Leser/Zuschauer, der abstrakte Leser/Zuschauer, der fiktive Leser/Zuschauer so_____________ 57

Wolf Schmid (1986): Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs, 2. Aufl. mit einem Nachwort (»Eine Antwort an die Kritiker«), Amsterdam [Erstauflage 1973]; vgl. ders. 2008. Das Modell von Schmid wird bei Schlickers auf filmische Erzähltexte übertragen. Sabine Schlickers (1997): Verfilmtes Erzählen. Narratologisch-komparative Untersuchung zu El beso de la mujer araña (Manuel Puig/Héctor Babenco) und Crónica de una muerte anunciada (Gabriel García Márquez/Francesco Rosi), Frankfurt a. M.; vgl. dies. (2009): Focalization, Ocularization and Auricularization in Film and Literature. In: Point of View, Perspective, and Focalization: Modeling Mediation in Narrative, hrsg. v. Peter Hühn/Wolf Schmid/ Jörg Schönert, Berlin/New York (Narratologia 17), S. 243–258. Mit leichten Änderungen wird das Modell auch von Markus Kuhn übernommen, vgl. Markus Kuhn (2009): Film Narratology. Who Tells? Who Shows? Who Focalizes? Narrative Mediation in Self-Reflexive Films. In: Point of View, Perspective, and Focalization: Modeling Mediation in Narrative, hrsg. v. von Peter Hühn/Wolf Schmid/Jörg Schönert, Berlin/New York (Narratologia 17), S. 259–278.

122

II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

wie Figuren, die wiederum als Rezipienten in der erzählten Welt erscheinen können.

Literarisches/ filmisches Werk Dargestellte Welt Erzählte Welt kA/R aA/R fE/›K‹

F1

Zitierte Welt(en)

F2

fL/Z

aL/Z kL/Z

Legende:

kA/R aA/R fE/›K‹ F1, F2 fL/Z aL/Z kL/Z

= = = = = = =

konkreter Autor/Regisseur abstrakter Autor/Regisseur fiktiver Erzähler/›Kamera‹ Figuren fiktiver Leser/Zuschauer abstrakter Leser/Zuschauer konkreter Leser/Zuschauer

Abb. 20: Modell der Kommunikationsebenen (nach Schmid 2008, S. 44)

Der konkrete Autor/Regisseur ist auf der Ebene der extratextuellen Welt angesiedelt, als realhistorischer Urheber ist er kein Bestandteil des von ihm geschaffenen literarischen bzw. filmischen Werks. Bezogen auf das Medium Film ist aufgrund der kollektiven Produktionsweise unter dem konkreten Autor/Regisseur jedoch nicht nur der Regisseur als Einzelperson zu verstehen, sondern die Gesamtheit der Personen, die in irgendeiner Weise an der Entstehung des Werks beteiligt waren, also Regisseur(e), Regieassistenten, Produzenten, Drehbuchautoren, Kameramänner, Tontechniker, Cutter, Darsteller etc. Besonders anschaulich demonstriert sich die kollektive Produktionsweise mit Blick auf kommerzielle Produktionen, wie z. B. den Hollywood-Blockbuster-Film, demgegenüber könnte man im Hinblick

2. Der filmische Diskurs

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auf den sogenannten Autorenfilm auch dafür plädieren, dass dieser stärker von der individuellen ›Handschrift‹ eines Regisseurs geprägt ist58 – nichtsdestotrotz ist auch beim Autorenfilm der Regisseur nicht der alleinverantwortliche Urheber des Werks. Das Pendant zum konkreten Autor/ Regisseur bildet auf der Empfängerseite des Modells der konkrete Leser/Zuschauer, wobei es sich um die Menge aller möglichen Rezipienten zu allen möglichen historischen Zeitpunkten handelt. Die nächste Ebene des Erzählmodells wird durch den abstrakten (impliziten) Autor/Regisseur repräsentiert, einer abstrakten, stimmenlosen Sendeinstanz, die durch Spuren im Text auf den konkreten Autor/Regisseur verweist und die vom Rezipienten erschlossen werden muss. Der abstrakte Autor/Regisseur existiert im Werk nur virtuell, d. h. er ist anders als der fiktive Erzähler keine absichtsvoll erfundene Schöpfung des konkreten Autors, sondern das »Korrelat aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes«.59 Die (Re-)Konstruktion des abstrakten Autors/Regisseurs liefert Hinweise auf die ästhetische Konzeption sowie das Werte- und Normensystem eines Werks und bietet somit einen zentralen Anhaltspunkt bei der Beschreibung von erzählerischer Unzuverlässigkeit, d. h. von Fällen, in denen eine Dissoziierung des Erzählers vom Wertehorizont des Werks stattfindet. Dass ein Erzähler lügt kann entweder durch widersprüchliche Aussagen der einzelnen erzählenden Instanzen (z. B. durch einen Widerspruch zwischen dem Voice-over-Diskurs einer Erzählerfigur und dem visuellen Diskurs der ›Kamera‹) erschlossen werden, oder aber, für den Fall, dass die ›Kamera‹ selbst lügt, durch das Aufscheinen einer Diskrepanz zwischen dem Wertesystem des ›Kamera‹-Erzählers und dem des abstrakten Autors/Regisseurs.60 Dem abstrakten Autor/Regisseur ist auf der Empfängerseite des Modells schließlich der abstrakte Leser/Zuschauer gegenübergestellt, hierbei handelt es sich um das im Text enthaltene Bild des Lesers. Auch diese Instanz ist, ebenso wie der abstrakte Autor/Regisseur, eine (Re-)Konstruktion des konkreten Lesers/Zuschauers – und nicht etwa das Bild, das sich der konkrete Autor vom konkreten Leser macht.61 _____________ 58

59 60

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So führt Branigan in dem von ihm verwendeten Beispiel Alfred Hitchcock als den realhistorischen Autor (historical author) von Filmen wie Vertigo, The Wrong Man etc. an (Branigan 1992, S. 88), ebenso spricht Bordwell von Jean-Luc Godard als dem Autor und übergeordneten Erzähler seiner Filme (Bordwell 1985, S. 210, S. 324 und passim). Schmid 2008, S. 59. Ein Beispiel hierfür bietet der Film A Beautiful Mind (USA 2001, Regie: Ron Howard) in dem das, was die ›Kamera‹ dem fiktiven Zuschauer zunächst als die fiktive Realität präsentiert, durch subtile Hinweise nach und nach als schizophrene Halluzination der Hauptfigur aufgelöst wird. So erscheinen die wissenschaftlichen Formeln und Berechnungen des hochbegabten Mathematikers John Nash bereits zu Beginn des Films oftmals wie ein wirres, geisteskrankes Gekritzel – was sie, wie sich später herausstellt, in Wirklichkeit auch sind. Vgl. Wolf 2008, S. 64.

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

Auf der nächsten Ebene, der extradiegetischen Ebene dargestellten Welt, ist der fiktive Erzähler bzw. die ›Kamera‹ angesiedelt, sie ist verantwortlich für die Präsentation der erzählten Welt, d. h. für sämtliche Signifikanten der Bild-, Ton- und Sprachebene: »[D]ie ›Kamera‹ eröffnet – analog zum literarischen Erzähler – dem Adressaten die fiktionale [Anm.: die fiktive] Welt.«62 Dabei erfüllt die ›Kamera‹ als fiktiver Erzähler des Films eine Doppelfunktion, insofern sie sowohl die monstration, d. h. das ›Zeigen‹ auf der Ebene der einzelnen Einstellung, als auch die narration, d. h. die Verknüpfung der Einstellungen mittels Schnitt und Montage, übernimmt (vgl. Kap. II.1.2.).63 Im Hinblick auf die Selbstpräsentation der ›Kamera‹ kann man zudem zwischen einer expliziten Darstellung, bei welcher sich der fiktive ›Kamera‹-Erzähler – z. B. über Voice-over-Kommentare, Zwischentitel oder auch wertende Montagen – zu erkennen gibt, und einer impliziten Darstellung differenzieren, wobei im Medium Film die implizite Darstellung bei Weitem dominiert. Darüber hinaus kann in Übernahme der Terminologie Genettes zwischen einer hetero- und einer homodiegetischen ›Kamera‹ unterschieden werden, d. h. zwischen einer ›Kamera‹, die außerhalb des von ihr vermittelten Geschehens steht und einer ›Kamera‹, die in das Geschehen involviert ist, die also zugleich als erzählende und als erzählte Instanz auftritt. Dieser letztere Fall ist jedoch relativ selten und beschränkt sich auf hochgradig selbstreflexive Filme wie etwa Jean-Luc Godards Le Mépris (Frankreich 1963), in dem die ›Kamera‹ zugleich als Erzähler und als Objekt in der erzählten Welt auftritt: Im Vorspann von Le Mépris wird eine Filmkamera gezeigt, die auf das Auge des fiktiven Zuschauers (also auf die Kamera, die man gerade nicht sieht) schwenkt, womit sich der fiktive Zuschauer und die gezeigte Kamera bzw. die ›Kamera‹ als Erzähler und die Kamera als Objekt der erzählten Welt ›Auge in Auge‹ gegenüberstehen. Als der Adressat des fiktiven Erzählers/›Kamera‹ ist, wie ebenfalls anhand des obigen Beispiels verdeutlicht werden kann, der _____________ 62 63

Schlickers 1997, S. 77. Während das hier vorgestellte Modell diejenigen Verfahren der Signifikation, die den Bereich der post production betreffen, vorrangig also Schnitt und Montage, als Teil der Doppelfunktion der ›Kamera‹ betrachtet, plädiert Schlickers dafür, diese Verfahren der Instanz des abstrakten Autors/Regisseurs zuzuschreiben. Dazu Schlickers: »Es handelt sich hier um eine Nachbehandlung des filmischen Materials, durch das ein Sinnpotential verwirklicht wird, zu dem die ›Kamera‹ als Erzählerinstanz wie auch die Figuren keinen Zugang haben. Die Montage, also die narrative Anordnung und Präsentation der Segmente und Sequenzen im Diskurs, ist der Kapiteleinteilung und Segmentierung im literarischen Erzähltext vergleichbar, die dem impliziten Autor zuzuschreiben ist.« (Schlickers 1997, S. 78.) Dies ist insofern widersprüchlich, als auch Schlickers davon ausgeht, dass der abstrakte (implizite) Autor/ Regisseur »keine eigene Stimme hat und daher einen Erzähler einsetzen muß, um sich artikulieren zu können« (ebd., S. 77) – als eine stimmenlose Instanz kann er jedoch nicht gleichzeitig für die Zusammenstellung, Anordnung und Präsentation des Erzählten sowie dessen Bewertung (z. B. durch wertende Montagen) zuständig sein.

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fiktive Leser/Zuschauer zu bestimmen, hierbei handelt es sich um diejenige Instanz, an die sich der Erzähler (z. B. durch Anredeformeln oder auch durch eine visuelle Adressierung mittels der ›Kamera‹) richtet. Auf der intradiegetischen Ebene der erzählten Welt angesiedelt sind schließlich die Figuren, wobei auch diese wiederum als Erzähler auftreten können und somit für die Präsentation einer oder mehrerer zitierter Welt(en) verantwortlich sein können. Ebenso wie die extradiegetische ›Kamera‹ kann auch für derartige intradiegetische Erzähler eine Differenzierung zwischen hetero- und homodiegetischen Erzählern vorgenommen werden, d. h. zwischen Erzählern, die eine Geschichte erzählen, in der sie selbst nicht vorkommen und Erzählern, die ihre eigene Geschichte erzählen. Ein Beispiel für einen intra- und heterodiegetischen Erzähler bietet der Film Kiss of the Spider Woman (USA/Brasilien 1985, Regie: Hector Babenco), in welchem der homosexuelle Luis Molina seinem Gefängniszellengenossen Valentin Arregui die Handlung alter Filme, insbesondere eines deutschen Liebesfilms aus der Nazi-Zeit, erzählt. Ein intra- und homodiegetischer Erzähler tritt demgegenüber in dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari auf, in welchem ein junger Mann namens Francis die merkwürdigen Erlebnisse, die ihm widerfahren sind, einem Mitinsassen in einer Irrenanstalt erzählt. Intradiegetische Erzählerfiguren können schließlich, wie in den oben angeführten Beispielen, sowohl sichtbar in einem Kreis von Zuhörern auftreten als auch in Form eines Voice-over-Erzählers, dessen Stimme aus dem Off das Geschehen kommentiert. Ein Beispiel für einen homodiegetischen Voice-over-Erzähler liefert David Finchers Fight Club (USA 1999), der medias in res mit einer Szene beginnt, in welcher die Figur des Tyler Durden (gespielt von Brad Pitt) dem namenlosen Ich-Erzähler (gespielt von Edward Norton) eine Pistole in den Mund hält und ihn fragt, ob er noch einige letzte Worte zu sagen habe. Über diese Szene gelagert ist der Voice-over-Kommentar des Ich-Erzählers, der sein unverständliches Genuschel mit den Worten »With a gun barrel between your teeth, you speak only in vowels« kommentiert. In solchen Fällen wird besonders deutlich, das der homodiegetische Erzähler stets in zwei Instanzen zerfällt, und zwar in erzählendes Ich (Erzähler) und erzähltes Ich (Figur), wobei seine Zuordnung zur extra- bzw. intradiegetischen Ebene jeweils wechselt. Von solchen Fällen eines homodiegetischen Voice-over-Erzählers sind schließlich Fälle abzugrenzen, in denen der Voice-over-Erzähler in der Geschichte selbst nicht als Figur vorkommt. Ein derartiger extra- und heterodiegetischer Voice-over-Erzähler, der das filmische Geschehen als körperlose Stimme aus der Distanz kommentiert, tritt beispielsweise in Lola rennt (Deutschland 1998, Regie: Tom Tykwer) auf: Hier ist die videoclipartige Eröffnungsszene, in welcher zu rhythmischer Technomusik Bilder von Menschenmassen im Schnellvorlauf ineinandergeschnitten sind, von der

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

Stimme eines Voice-over-Erzählers überlagert, der in beschwörerischraunendem Tonfall existenzielle Fragen nach dem Ursprung und Sein des Menschen aufwirft. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass filmische ebenso wie literarische Erzählinstanzen auf verschiedenen Ebenen des Erzählwerks angesiedelt sein können, wobei die extradiegetische ›Kamera‹ als der fiktive Erzähler des Films eine logisch notwendige Instanz darstellt, die Existenz intradiegetischer Erzählerinstanzen hingegen optional ist. Im Gegensatz zu literarischen Texten, die in ihren Ausdrucksmöglichkeiten (weitestgehend) auf das Medium Sprache beschränkt sind, stehen der ›Kamera‹ als dem fiktiven Erzähler des Films jedoch sowohl Sprache als auch Bild/ Ton zur Vermittlung des Erzählten zur Verfügung – das filmisch Erzählte ist also stets ›mehrstimmig‹. Dabei können Sprache und Bild/Ton einander sowohl ergänzen und im Extremfall paraphrasieren als auch auseinanderlaufen und einander widersprechen, wodurch komplexe semantische Strukturen entstehen können. Obschon, wie verschiedentlich betont wurde, die sprachlichen und die audiovisuellen Ausdrucksmöglichkeiten der ›Kamera‹ zwar prinzipiell gleichrangig sind und keinesfalls von einem ›Primat des Bildes‹ im Film auszugehen ist,64 ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass das audiovisuell vermittelte Geschehen im Allgemeinen einen höheren Grad an Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit beansprucht, als verbal- und schriftsprachlich vermittelte Informationen. Vereinfacht gesagt: Das, was man ›mit eigenen Augen und Ohren‹ wahrnimmt zieht man zunächst weniger in Zweifel als das, was man sprachlich (über Dritte) vermittelt bekommt. Auf diesem naiven Vertrauen in die Autorität des audiovisuellen Diskurses der ›Kamera‹ beruht schließlich auch der Überraschungseffekt der sogenannten Mind Game Movies, auf die in Kap. II.2.3. näher eingegangen wird. 2.2. Perspektive – Point-of-View – Fokalisierung Zu den zentralen Fragen der Erzähltheorie gehört nicht nur die Frage nach dem Erzähler als derjenigen Instanz, die für die Vermittlung des Erzählten verantwortlich ist, sondern auch aus welcher Perspektive65 die Er_____________ 64 65

Vgl. auch Kuhn 2009, S. 264. Dem in der deutschsprachigen Erzähltheorie dominierenden Begriff der (Erzähl-)Perspektive als der Beziehung zwischen dem Erzähler und der erzählten Geschichte entspricht der englische Begriff des Point-of-View, der von Henry James in seinem Essay The Art of Fiction (1884) eingeführt wurde. Der abstraktere Begriff der Fokalisierung (focalisation) wurde später von Gérard Genette geprägt um den visuellen Implikationen von Point-of-View und verwandter Begriffe zu entgehen (vgl. Genette 1998, S. 134).

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eignisse dargestellt werden. So kann der Erzähler entweder aus seiner eigenen Perspektive erzählen oder aber eine figurale Perspektive übernehmen,66 wobei seine Darstellung der Ereignisse wiederum mehr oder weniger eng an den subjektiven Point-of-View einer der Figuren gekoppelt sein kann. Auf diese Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen dem Erzähler und der jeweiligen Perspektive auf das Geschehen hat zuerst Gérard Genette verwiesen und zwischen dem Aspekt der ›Stimme‹ (voix), den er mit der Frage »qui parle?« erfasst, und dem Aspekt der ›Fokalisierung‹ (focalisation), nach dem er mit »qui voit?« bzw. »qui perçoit?« fragt, unterschieden.67 In die Kategorie der Stimme fallen dabei alle diejenigen Elemente des narrativen Diskurses, die die Instanz des Erzählers betreffen bzw. die »Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat«.68 Demgegenüber wird die Regulierung der narrativen Information mittels der Fokalisierung zusammen mit der Frage nach der Distanz als dem Grad der Mittelbarkeit des Erzählten in der Kategorie des Modus (mode) zusammengefasst. Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen der Erzählerstimme und der Fokalisierung ist im Hinblick auf das Medium Film besonders augenfällig, da, anders als im Roman und in der mündlichen Erzählung, Begriffe wie ›Perspektive‹ und ›Point-of-View‹ hier nicht nur metaphorische Verwendung finden, sondern der Filmzuschauer die Ereignisse im entsprechenden Fall tatsächlich aus dem Blickwinkel der jeweiligen Figur ›sieht‹. Anders als der Leser eines Romans, der letztendlich nur die Buchstaben auf dem Papier zu sehen bekommt, kann der Filmzuschauer durch bestimmte Kameraeinstellungen und Schnittfolgen den optischen Point-ofView einer Figur einnehmen, d. h. er kann die Welt sozusagen ›mit den Augen der Figur‹ sehen – und kann dementsprechend auch subjektiven Wahrnehmungsbeschränkungen und -verzerrungen der jeweiligen Figur unterworfen sein. Mit dem Begriff der Fokalisierung bezeichnet Genette den »Modus der Informationsregulierung, der auf der Wahl (oder Nicht-Wahl) eines ein_____________ 66

67 68

In Abgrenzung zu dreiteiligen Modellen, die von der Existenz einer ›neutralen‹ Erzählperspektive ausgehen, schlägt Wolf Schmid ein binäres Modell mit der Opposition narratoriale vs. figurale Perspektive vor: »Die Binarität resultiert daraus, dass das Erzählwerk in ein und demselben Textsegment zwei wahrnehmende, wertende, sprechende und handelnde Instanzen darstellen kann, zwei bedeutungserzeugende Zentren: den Erzähler und die Figur. Tertium non datur.« (Schmid 2008, S. 137.) Die vorliegende Arbeit operiert zwar mit einer an Genette angelehnten Dreiteilung, wie zu zeigen ist, können in dem hier vorgeschlagenen Modell die Typen der externen und internen Fokalisierung im Film jedoch als Übernahme einer figuralen Perspektive durch den Erzähler gelten und der nonfokalisierten Narration als narratorialer Perspektive gegenübergestellt werden. Genette 1998, S. 132–134 und S. 235f. Ebd., S. 152.

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

schränkenden ›Blickwinkels‹ beruht«.69 Je nach Stärke dieser Einschränkung (wobei auf die Kriterien, die Genette hier für ›Einschränkung‹ ansetzt, noch zurückzukommen sein wird) differenziert er anschließend zwischen drei Typen der Fokalisierung, die er mit den Begriffen NullFokalisierung (focalisation zéro), interne Fokalisierung (focalisation interne) und externe Fokalisierung (focalisation externe) erfasst. Eine Null-Fokalisierung liegt dann vor, wenn der Erzähler »mehr weiß als die Figur, oder genauer, wo er mehr sagt, als irgendeine der Figuren weiß«,70 sie entspricht in älteren Theorien der erzählerischen ›Allwissenheit‹. Eine interne Fokalisierung liegt demgegenüber dann vor, wenn »der Erzähler […] nicht mehr [sagt], als die Figur weiß«,71 sie entspricht der Erzählung mit subjektivem Point-ofView. Den Begriff der externen Fokalisierung reserviert Genette schließlich für die Fälle, in denen »der Erzähler […] weniger [sagt], als die Figur weiß«,72 dies entspricht der ›objektiven‹ oder ›behavioristischen‹ Erzählung. Genette gelangt somit zu folgendem Schema: focalisation zéro: focalisation interne: focalisation externe:

Erzähler > Figur Erzähler = Figur Erzähler < Figur

In neueren Erzähltheorien ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Genette in seiner Typologie zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte vermischt: den Aspekt des ›Wissens‹ als dem Grad der Beschränkung der narrativen Informationsvergabe durch den Erzähler und den Aspekt des ›Sehens‹ als dem Blickwinkel, den der Erzähler gegenüber den von ihm erzählten Ereignissen einnimmt (wobei letzterer im Medium der Literatur, wie zuvor bemerkt, eine rein metaphorische Verwendung findet).73 Um diesem Unterschied Rechenschaft zu tragen, soll daher im Folgenden mit Blick auf das Medium Film zwischen der Art der narrativen Informationsvergabe, d. h. dem durch den Erzähler vermittelten ›Wissen‹ oder nach Bordwell auch der communicativeness der Narration,74 und der Art der Foka-

_____________ 69 70

71 72 73 74

Genette 1998, S. 132. Ebd., S. 134. Der Begriff des ›Wissens‹ bezieht sich bei Genette somit wohlgemerkt auf dasjenige Wissen, dass der fiktive Erzähler dem fiktiven Zuschauer vermittelt – nicht auf das, was der Erzähler selbst ›weiß‹. Der fiktive Erzähler auf der Ebene der dargestellten Welt ›weiß‹ prinzipiell alles, durch Unwissenheit können sich nur Erzählerfiguren auf der nächsten, hierarchisch darunterliegenden Ebene der erzählten Welt auszeichnen. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu auch Schmid 2008, S. 119–121. Bordwell 1985, S. 59. Vgl. auch Kap. I.3.1.3.

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lisierung im engeren Sinne als dem optischen und perzeptiven Point-ofView differenziert werden.75 a) Narrative Informationsvergabe Die Art und Weise der narrativen Informationsvergabe kann in filmischen ebenso wie in literarischen Erzähltexten von einem hohen bis zu einem geringen Grad an Kommunikativität des Erzählten reichen. Ersterer liegt dann vor, wenn der fiktive Erzähler den fiktiven Leser/Zuschauer stets mit genau den Informationen versorgt, die dieser benötigt, um die Geschichte zu (re-)konstruieren und ihm darüber hinaus möglicherweise Einblick in Sachverhalte verschafft, die nicht unmittelbar für das Verständnis der Geschichte notwendig sind. Ein derartiger hoher Grad an Kommunikativität der Narration liegt im Film z. B. dann vor, wenn die extradiegetische ›Kamera‹ einen Mörder im Versteck zeigt, von dem das Opfer als intradiegetische Figur (noch) nichts weiß. Auch Formen der verbalsprachliche Kommunikation sind in diesem Zusammenhang zu nennen, sie dienen in besonderer Weise der Wissensvermittlung. Einen überaus hohen Grad an verbalsprachlicher Kommunikativität bietet so beispielsweise Woody Allens Film Vicky Cristina Barcelona (USA/Spanien 2008), der einen extradiegetischen Voice-over-Erzähler einführt, der die Handlungen von Vicky, Christina und den anderen Figuren bis ins kleinste Detail kommentiert. Aufgrund der hohen Redundanz der Informationen, die sich daraus ergibt, dass der verbalsprachliche Diskurs das audiovisuelle Geschehen nicht nur ergänzt und kommentiert, sondern über weite Strecken auch paraphrasiert, war der Voice-over-Erzähler beim Publikum nicht unumstrittenen und wurde vielfach als ›überflüssig‹ abgewertet – Gegenstimmen sahen hierin wiederum einen besonderen Effekt der Ironisierung des Geschehens. Ein geringer Grad an Kommunikativität der Narration liegt im Film schließlich im Fall einer mehr oder weniger starken Beschränkung der au_____________ 75

Eine andere Differenzierung nimmt Sabine Schlickers vor, die die drei Genette’schen Typen der focalisation lediglich auf das ›Wissen‹ des Erzählers bezieht, für die Bereiche des ›Sehens‹ und des ›Hörens‹ im Film dagegen die von François Jost geprägten Begriffe ocularisation und auricularisation übernimmt. Ocularisation und auricularisation werden bei ihr jeweils wiederum in zwei verschiedene Typen (zéro und interne) untergliedert. Auf diese Weise gelangt sie zu insgesamt zwölf kombinierbaren Typen von focalisation, ocularisation und auricularisation im Film, wobei diese Anzahl noch zu erweitern ist, wenn man miteinbezieht, dass die ocularisation als der optisch-perzeptive Point-of-View nur in den seltensten Fällen aus einer einzigen Einstellung hervorgeht, sondern üblicherweise über Point-of-ViewSequenzen, die auf zwei oder mehr Einstellungen basieren, konstruiert wird. Vgl. Schlickers 1997, bes. S. 145–158; dies. 2009.

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

diovisuellen Informationsvergabe durch die ›Kamera‹ vor, d. h. wenn beispielsweise aufgrund eines dunklen, verwackelten und unscharfen Bildes, nicht-identifizierbarer Geräusche o. ä. für den impliziten Zuschauer nicht ersichtlich ist, was sich im jeweiligen Moment auf der Leinwand abspielt (dies wurde in Kap. I.3.1.3. am Beispiel des Films The Blair Witch Project erläutert). Des Weiteren können dem Zuschauer auch durch intradiegetische Erzählerfiguren Informationen vorenthalten werden, was – ebenso wie bei der Instanz der ›Kamera‹ – bis hin zu einer gezielten Vermittlung von Falschinformationen, also der ›Lüge‹, reichen kann. Die Kommunikativität der jeweiligen Erzählerinstanz trägt insgesamt stark zur Wahrnehmung der erzählten Welt als einer stabilen, homogenen und durchschaubaren Welt oder aber gegenteilig als einer instabilen, heterogenen und undurchschaubaren Welt bei. Dabei ist die Art der narrativen Informationsvergabe durch den Erzähler jedoch scharf zu trennen von dem, was im Folgenden unter (filmischer) Fokalisierung im engeren Sinn verstanden werden soll, und zwar dem ›Sehen‹ und ›Hören‹ bzw. der visuellen und auditiven Perspektive des Erzählers auf die erzählte Welt. b) Die visuelle Perspektive Während literaturwissenschaftliche Narratologen verschiedentlich dafür plädiert haben, den Begriff der Perspektive weiter zu fassen und, anstatt ihn allzu eng an die Metapher des ›Blicks‹ zu knüpfen, auch ideologische, raumzeitliche, sprachliche u. a. Parameter miteinzubeziehen,76 möchte die vorliegende Arbeit aus Gründen der Vereinfachung lediglich den Aspekt der perzeptiven Perspektive betrachten, welche im Film zugleich mit der optischen Wahrnehmung der erzählten Welt durch die Erzählerinstanz zusammenfällt und die daher hier besonders leicht zu lokalisieren und anderen Parametern der Perspektive abzugrenzen ist. Nach Schmid bildet die perzeptive Perspektive den wichtigsten Faktor der Wahrnehmung des Geschehens bzw. das »Prisma, durch das das Geschehen wahrgenommen wird«.77 Sie kann mit Fragen wie »Mit wessen Augen blickt der Erzähler auf die Welt?« oder »Wer ist für die Auswahl dieser und nicht anderer Momente des Geschehens verantwortlich?« erfasst werden78 und zielt somit auf denjenigen _____________ 76

77 78

Vgl. hierzu auch Schmid 2008. Im Hinblick auf die literarische Erzählperspektive differenziert Schmid zwischen den Parametern der perzeptiven, ideologischen, räumlichen, zeitlichen und sprachlichen Perspektive, die in dieser Reihenfolge auch ihre jeweilige Relevanz für die Konstitution der Perspektive im literarischen Werk abbilden (Schmid 2008, S. 130–137). Ebd., S. 136. Schmid 2008, S. 136.

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Aspekt, der in der Erzähltheorie oftmals mit Perspektive überhaupt gleichgesetzt wird. In Anlehnung an die Terminologie Genettes soll im Folgenden ein Vorschlag für eine Unterscheidung zwischen drei übergeordneten Typen der Perspektive bzw. Fokalisierung im Film gemacht werden, die sich, anders als bei Genette, jedoch nicht aus dem ›Wissen‹ als dem Grad der Begrenzung der narrativen Informationsvergabe ergibt, sondern daraus, wie stark der Point-of-View der ›Kamera‹ als dem fiktiven Erzähler des Films jeweils an den subjektiven Point-of-View einer der Figuren der erzählten Welt gebunden ist. Der Vorschlag orientiert sich dabei an der in der englischsprachigen Filmwissenschaft üblichen Differenzierung zwischen nonfocalized narration, external focalization und internal focalization,79 die jeweils die Stärke der Bindung der Erzählperspektive an den subjektiven Point-ofView einer Figur abbildet. Gefragt wird hier also danach, inwiefern die ›Kamera‹-Perspektive als narratoriale Perspektive die Darstellung des Erzählten bestimmt, oder aber eine figurale Perspektive eingenommen wird (vgl. Kap. II, Anm. 66). Die vorliegende Arbeit gelangt somit zu den drei Typen 1. nonfokalisierte Narration, 2. externe Fokalisierung und 3. interne Fokalisierung im Film, wobei bei Typ zwei und drei die Perspektive des Erzählers jeweils (mehr oder weniger stark) an den subjektiven Point-of-View einer Figur gebunden ist und sich diese beiden Typen somit auch unter dem Oberbegriff der figuralen Perspektive zusammenfassen lassen. Der Typus der nonfokalisierten Narration80 in der hier vorgeschlagenen Definition liegt stets dann vor, wenn die Erzählperspektive nicht an eine Figur gebunden ist, d. h. wenn die ›Kamera‹ als der fiktive Erzähler des Films aus ihrer eigenen, narratorialen Perspektive erzählt. Dabei kann, je nachdem ob sich die ›Kamera‹ als Erzähler zu gibt oder nicht, wiederum zwischen zwei Untertypen differenziert werden, und zwar einer nonfokalisierten Narration mit und ohne auktorialer Markierung. Letztere liegt im narrativen Spielfilm beispielsweise bei einem klassischen establishing shot vor, d. h. bei einer Kameraeinstellung, die einen panoramaartigen Überblick über das Geschehen gibt, wobei aus dieser Einstellung wiederum einleitende Sequenzen hervorgehen können, in denen nach dem Prinzip des continuity editing zwischen verschiedenen Schauplätzen (z. B. vom Außen- zum Innenraum) hin- und hergeschnitten wird. Die Ereignisse werden dabei _____________ 79 80

Vgl. auch Branigan 1992. In der Vergangenheit wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Genettes Begriff der NullFokalisierung (focalisation zéro) missverständlich ist, da Erzählen zwangsläufig immer fokalisiert ist – ein Erzählen ohne Perspektive gibt es nicht. Ähnlichen Vorwürfen soll hier entgegengehalten werden, dass der Begriff ›nonfokalisiert‹ sich auf die Bindung der Erzählperspektive an die Perspektive einer Figur bezieht, die in diesem Fall nicht vorhanden bzw. gleich ›Null‹ ist.

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von der ›Kamera‹ so präsentiert, als ob sie sich scheinbar ›von selbst‹ erzählen: »les evenements semblent se raconter eux-memes«,81 wie Benveniste es darlegt. Eine derartige Selbstgesteuertheit des Erzählvorgangs bildet insbesondere ein zentrales Merkmal des klassischen Hollywoodfilms und wird hier oftmals auch als ›unsichtbare Narration‹ bezeichnet. Eine nonfokalisierte Narration mit auktorialer Markierung liegt demgegenüber dann vor, wenn sich der fiktive Erzähler bzw. die ›Kamera‹ in den Erzählvorgang einschreibt. Am auffälligsten ist dies sicherlich im Fall eines extraund heterodiegetischen Voice-over-Erzählers, der, wie beispielsweise in Lola rennt, das filmische Geschehen als körperlose Stimme aus der Distanz kommentiert, sowie bei schriftlichen Adressierungen des fiktiven Zuschauers. Eine auktoriale Markiertheit des Erzählten liegt aber beispielsweise auch bei dem Verfahren der ›motivierten Kamera‹ vor, d. h. bei einer scheinbaren Verselbständigung des ›Kamera‹-Blicks,82 bei wertenden Montagen sowie bei Stilmitteln, die dem weiten Bereich der Selbstreflexivität zugeordnet werden können, wie z. B. verdoppelte Leinwände, Spiegel, Film(e) im Film etc.83 Ein derartig markiertes, hoch selbstreflexives Erzählverhalten finden sich besonders häufig in den Filmen der Nouvelle Vague und anderer modernistischer Strömungen, die sich durch diese Bewusstmachung des Erzählvorgangs auch explizit von der ›unsichtbaren Narration‹ des klassischen Hollywoodkinos abgrenzen. Die externe Fokalisierung bildet nach der hier vorgestellten Begriffsdefinition zusammen mit einem nonfokalisierten Erzählen die häufigste Form der Fokalisierung im Film. Sie wird filmtechnisch durch den Blick ›über die Schulter‹ (over one shoulder) der handelnden Figur realisiert, wodurch der Blick auf das Geschehen zwar an den subjektiven Point-of-View der Figur gekoppelt ist, die Figur selbst dabei jedoch stets mit im Bild zu sehen ist. Die literaturwissenschaftliche Bezeichnung ›neutrale‹ Erzählperspektive84 sowie die Metapher der Camera Eye-Technik sind hier insofern irreführend, _____________ 81 82

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Émile Benveniste (1966): Problèmes de linguistique générale, Paris, S. 237–250 (»Les relations de temps dans le verbe français«), hier S. 241. Ein Beispiel für das Verfahren der ›motivierten Kamera‹ bietet Jean-Luc Godards Film Vivre sa vie (Frankreich 1962, dt. Die Geschichte der Nana S.). Zu Beginn wird hier eine Szene gezeigt, in welcher Nana und ihr Ex-Freund Paul sich in einer Bar unterhalten, wobei das Paar an einem Flippertisch steht und die Kamera schräg links hinter ihnen positioniert ist. Mitten in der Unterhaltung schweift die Kamera plötzlich nach links von dem Paar ab und ›blickt‹ aus dem Fenster auf das Geschehen auf der Straße. Zum Beispiel einer motivierten Kamerafahrt durch ein Glasfenster vgl. Edward Branigans Analyse des Films Hangover Square in: Branigan 1992, S. 125–140, hier S. 137. Vgl. hierzu auch Christian Metz (1997): Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films. Münster [frz. Orig.: L’Énonciation impersonnelle ou le site du film, 1991]. Bei Genette impliziert der Begriff focalisation externe eine Neutralität des Erzählten und wird auf die Fälle bezogen, in denen »der Held vor unseren Augen handelt, ohne daß uns je Einblick in seine Gefühle oder Gedanken gewährt wurde«. Genette 1998, S. 135.

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als der Filmzuschauer durch eine externe Fokalisierung durchaus nahe an die Figuren herangeführt werden kann und der ›Blick über die Schulter‹ im Film nicht zwangsläufig als ein sachlich-neutraler, unbeteiligter Blick auf das Geschehen interpretiert wird. Bei der externen Fokalisierung übernimmt der fiktive Erzähler annäherungsweise die Perspektive einer Figur, weshalb man auch dafür argumentierten kann, das dieser Typus auf übergeordneter Ebene einer figuralen Perspektive entspricht. Von einer internen Fokalisierung im Film soll schließlich stets dann die Rede sein, wenn die ›Kamera‹ den optischen Point-of-View einer der Figuren der erzählten Welt Eins-zu-eins übernimmt, wenn also entweder die Technik der subjektiven Kamera (Point-of-View-Shot) oder aber ein sogenannter mindscreen85 in Form eines Flashbacks, einer Traumsequenz oder ähnlichen Formen der Präsentation mentaler Prozesse vorliegt. Bei dem ersten Verfahren wird dem fiktiven Zuschauer über einen Point-of-View-Shot der Eindruck vermittelt, dass das dargestellte Geschehen ›mit den Augen der Figur‹ zu sehen ist. Der klassische Point-of-ViewShot besteht, wie Edward Branigan gezeigt hat, üblicherweise aus zwei direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen (es handelt sich hier also genau genommen um eine Point-of-View-Sequenz): Die erste Einstellung etabliert einen Punkt im Raum, beispielsweise durch das Zeigen einer Figur, von dem aus ein außerhalb des Bildes gelegenes Objekt anvisiert wird; die zweite Einstellung (die oftmals auch als der eigentliche Point-of-ViewShot bezeichnet wird) zeigt das, was die Figur betrachtet, aus dem Blickwinkel der Figur gefilmt.86 Noch detaillierter lassen sich die Elemente der Point-of-View-Sequenz nach Branigan wie folgt untergliedern: 1. die Etablierung eines Orientierungspunktes im Raum (point); 2. der Blick auf ein Objekt im Off (glance); 3. der Übergang zwischen Einstellung A und B, der die Herstellung einer zeitlichen Kontinuität leistet (transition); 4. die Wiedereinnahme des Ursprungspunktes von Element 1, durch welche räumliche Kontinuität vermittelt wird (from point); 5. das Zeigen des in Element 2 anvisierten Objekts (object); sowie 6. die Präsenz einer Figur oder eines _____________ 85

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Der Begriff des mindscreen wurde von Bruce Kawin geprägt. Bruce Kawin (1978): Mindscreen. Bergman, Godard and First-Person Film, Princeton. Kawin lehnt sich bei seiner Begriffsbildung (allerdings nicht explizit) an den von Roger Fowler 1977 in die Literaturwissenschaft eingeführten Terminus mindstyle (›Mentalstil‹) an, der Besonderheiten der Sprachstilgebung bezeichnet, die sich aus dem eingeschränkten oder verschobenen Wahrnehmungshorizont des Ich-Erzählers ergeben. Vgl. Roger Fowler (1977): Discourse Structure and Mind-Style. In: ders.: Linguistics and the Novel, London, S. 103–113. Zum Begriff des mindscreen vgl. bes. Kap. II.2.3. Edward Branigan (1984): Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin/New York/Amsterdam [zugl.: Madison, Univ. Diss., 1979], Kap. 5: ›The Point-of-View Shot‹, S. 103–121. Eine terminologische Ungenauigkeit des Modells von Branigan besteht darin, dass er den Begriff ›Point-of-View-Shot‹ für eine Sequenz verwendet, die eigentlich aus zwei Einstellungen (›Shots‹) besteht.

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›Bewusstseins‹87 (character), auf welche Ort und Zeit der ersten fünf Elemente bezogen sind. Im konventionellen fiktionalen Spielfilm alternieren solche subjektiven Point-of-View-Sequenzen üblicherweise mit anderen, als stärker objektiv empfundenen Typen der Fokalisierung – eine konsequent durchgehaltene interne Fokalisierung wird im Film gewöhnlich als starke Beschränkung empfunden und findet sich hier nur selten.88 Während die Point-of-View-Sequenz den subjektiven Blick einer Figur auf die Außenwelt wiedergibt – wobei dieser Blick durchaus auch Wahrnehmungsbeschränkungen unterworfen sein kann, z. B. dann, wenn durch eine schwankende subjektive Kamera der Gang eines Betrunkenen imitiert wird –, zeigt der sogenannte mindscreen die ›Innenwelt‹ einer Figur. Die Technik des mindscreen, bei welchem subjektive mentale Prozesse wie z. B. Erinnerungen, Träume, Phantasien oder auch Wahnvorstellungen visualisiert werden, unterscheidet sich von der subjektiven Kamera dadurch, dass die jeweilige Figur hier in der Regel mit im Bild zu sehen ist – der SichErinnernde, Träumende o. ä. betrachtet sich selbst ›von Außen‹.89 Diese Form der selbstbetrachtenden Außenperspektive ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Außenbetrachtung der Figur durch den fiktiven Erzähler, d. h. es liegt hier nicht etwa eine nonfokalisierte Narration vor, son_____________ 87

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Branigan weist darauf hin, dass der Point-of-View-Shot genau genommen keiner Figur bedarf, sondern nur einer Art ›Präsenz‹ oder eines ›Bewusstseins‹, das hier jeweils am Werk ist. Als Beispiel nennt er Roger Vadims Film Et mourir de plaisir (Frankreich/Italien 1960), in welchem die Voice-over-Erzählung der Ich-Erzählerin sowie die im Bild sichtbaren, wogenden Vorhänge den Blick eines unsichtbaren Gespenstes suggerieren. Dieses narrative Verfahren der Erzeugung einer Blickstruktur ohne Anwesenheit eines lebendigen Subjekts ›aus Fleisch und Blut‹, dem der jeweilige Blick zugeordnet werden kann, ist ein typisches Verfahren des phantastischen Films und wird in Kap. III.1.2. (››Falsche‹ Point-of-ViewShots‹) eingehend diskutiert. So hat Edward Branigan in seiner Analyse von Robert Montgomerys Film The Lady in the Lake (USA 1947), der als berühmtestes Beispiel eines fehlgeschlagenen Versuchs, mittels einer durchgehenden subjektiven Kamera Subjektivität zu erzeugen, gilt, darauf verwiesen, dass ein konsequent durchgehaltener, subjektiver Point-of-View die erzählerischen Möglichkeiten des Films stark limitiert. Subjektivität im Sinne eines Einblicks in die individuelle Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren wird Branigan zufolge im Medium des Films weniger durch einen starren, subjektiven Point-of-View der jeweils betroffenen Figur erzielt, als vielmehr durch ein breites Spektrum narrativer Ebenen (»levels of narration«) sowie durch einen flexiblen Wechsel zwischen verschiedenen Fokalisierungstypen, die die jeweilige Figur aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten: »Levels of narration in this view [...] become a mechanism for providing the spectator with the possibility of multiple, fluid identifications with a character by providing additional contexts (Others) against which to know the character.« Branigan 1992, S. 157f. Den Umstand, dass eine solche Außen- und Selbstbetrachtung der Figur nicht als implausibel empfunden wird begründet Wilson damit, dass es sich dabei einerseits um ein konventionalisiertes filmtechnisches Verfahren handelt und zum anderen damit, dass auch in realen Träumen der Point-of-View des Träumenden zumeist vage und unbestimmt bleibt. George Wilson (2006). Transparency and Twist in Narrative Fiction Film. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 64/1, S. 81–95, S. 87.

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dern demgegenüber eine – wenn auch oftmals nicht eindeutig markierte – interne Fokalisierung.90 Die konventionalisierteste Form des mindscreen ist die Flashback- oder Traumsequenz, die z. B. durch den Übergang von Farbe zu Schwarzweiß, durch Überblendungsverfahren, durch eine spannungserzeugende Musik oder auch durch eine Großaufnahme auf das Gesicht der sich erinnernden bzw. träumenden Figur eingeleitet wird. Daneben finden sich jedoch, besonders im zeitgenössischen Film, zunehmend unmarkierte mindscreens, bei denen sich die scheinbar ›objektive‹ Perspektive der extradiegetischen ›Kamera‹ erst im Nachhinein als die subjektive Perspektive einer der Figuren innerhalb der Erzählung entpuppt und die ein zentrales Verfahren des phantastischen Erzählens sowie des Genres der Mind Game Movies bilden (vgl. Kap. II.2.3.). c) Die auditive Perspektive Bislang wurde der Begriff der Perspektive bzw. Fokalisierung lediglich auf das ›Sehen‹ bezogen, d. h. auf den (visuellen) ›Blick‹ des Erzählers auf die erzählte Welt. Im Film als einem audiovisuellen Medium kommt jedoch noch ein zweiter zentraler Aspekt hinzu, und zwar die auditive Perspektive als die Art und Weise der Filterung der akustischen Informationen durch den Erzähler. Analog zur vorangegangenen Differenzierung zwischen narratorialer und figuraler Perspektive kann auch hier unterschieden werden zwischen dem Typus, bei welchem die extradiegetische ›Kamera‹ die Töne und Geräusche aus ihrer eigenen, narratorialen Perspektive präsentiert – offensichtlich ist dies z. B. bei Stimmen und Geräuschen aus dem Off, extradiegetischer Musik etc. – und dem Typus, bei welchem die ›Kamera‹ sich der akustischen Perspektive einer der Figuren innerhalb der erzählten Welt annähert bzw. diese wiedergibt.91 Ein Beispiel für den letztgenannten Typus bietet eine Szene aus Martin Scorseses Film Raging Bull (USA 1980), in welcher der Ton plötzlich dumpf wird, nachdem der Protagonist in einem Boxkampf einen Schlag aufs Ohr bekommen hat. Ein ähnliches Beispiel für eine figurale auditive Perspektive findet sich in dem Film La nuit fantastique (Frankreich 1942, Regie: Marcel L’Herbier): Hier erklingen die Stimmen einer Tischgesellschaft in einem mondänen Pariser Restaurant für den eintretenden Protagonisten verzerrt und in Slow Motion, was in dem Film dahingehend zu deuten ist, dass der Protagonist entweder träumt oder aber mit einer übernatürlichen Erscheinung kon_____________ 90 91

Vgl. auch Schlickers 1997, S. 148f. Diese beiden Typen des auditiven Point-of-View werden bei Schlickers in Anlehnung an Jost als auricularisation zéro und als auricularisation interne bezeichnet, wobei die auricularisation interne wiederum in zwei Untertypen unterteilt werden kann. Schlickers 1997, bes. S. 149f.

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frontiert ist. In beiden Fällen entspricht die auditive Perspektive des Erzählers der der Figuren innerhalb der erzählten Welt, d. h. ihrer subjektiven Wahrnehmung von Stimmen und Geräuschen. Insgesamt ist die auditive Perspektive jedoch wesentlich schwieriger zu bestimmen als die visuelle, was generell darauf zurückzuführen ist, dass das menschliche Gehör weniger differenziert ist, als das Auge.92 Hinzu kommt, dass das Medium Film zwar verschiedene Techniken der Markierung einer figurenbezogenen visuellen Perspektive entwickelt hat (so z. B. die Point-of-View-Sequenz oder die konventionalisierte, mittels eindeutiger Übergänge markierte Flashback- bzw. Traum-Sequenz), der Übergang zur subjektiven auditiven Perspektive einer Figur hingegen jedoch stets nur aus dem Gesamtkontext erschlossen werden kann. 2.3. Subjektivität im Film. Das Beispiel der Mind Game Movies Das Thema Subjektivität im Film hat in jüngerer Zeit zunehmend die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Als ein Phänomen, das nicht mehr nur abseits des Mainstreamkinos gelegene Produktionen kennzeichnet, sondern das gerade auch im aktuellen, postklassischen Hollywoodkino verstärkt in Erscheinung tritt, hat sich die Darstellung subjektiver Wahrnehmungsund Gedankenwelten dabei zum zentralen Charakteristikum einer neuen Filmform entwickelt, die seit Mitte der 1990er Jahre entstanden ist und für die die Filmwissenschaft die Bezeichnung ›Mind Game Movies‹ oder auch ›Gedankenspielfilme‹ geprägt hat.93 Diese sogenannten Mind Game Mo_____________ 92 93

Vgl. auch ebd., S. 150. Die Begriffsbildungen ›Mind Game Movies‹ und ›Gedankenspielfilm‹ gehen auf Thomas Elsaesser zurück, der dabei u. a. an den Begriff des ›Mindfuck Film‹ anknüpft, wie er vor allem im Internet innerhalb von Fangemeinden sowie unter Filmkritikern kursiert. Thomas Elsaesser (2009): Film als Möglichkeitsform: Vom ›post-mortem‹-Kino zu mindgame movies. In: ders.: Hollywood heute, Berlin, S. 237–263; Thomas Elsaesser/Malte Hagener (2007): Kap. ›Geist und Gehirn‹. In: dies.: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg, S. 189– 215. Zum Phänomen der Mind Game Movies vgl. auch James R. Aubrey (2002): ›Reality Games‹ in Postmodern Anglophone Cinema: The Magus, The Game, The Matrix, Being John Malkovich. In: Beyond Borders: Re-Defining Generic and Ontological Boundaries, hrsg. v. Ramón Plo-Alastrué/María Jesus Martínez-Alfara, Heidelberg, S. 17–29; Jonathan Eig (2003): A beautiful mind(fuck). Hollywood structures of identity. In: Jump Cut. A re-view of contemporary media 46. Online unter: http://www.ejumpcut.org/archive/jc46.2003/ eig.mindfilms/index.html (letzter Zugriff: 15.07.2010); Alexander Geimer (2006): Der mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre. Ästhetisches Irritationspotenzial und dessen subjektive Aneignung untersucht anhand des Films The Others. In: Jump Cut Magazin. Kritiken und Analysen zum Film. Online unter: http://www.jump-cut.de/mindfuck1.html (letzter Zugriff: 15.07.2010); David Bordwell (2006): Kap. ›Subjective Stories and Network Narratives‹. In: ders.: The Way Hollywood Tells It. Story and Style in Modern Movies, Berkeley et al., S. 72–103, S. 80f.; Pepita Hesselberth/Laura Schuster (2008): Into the Mind and Out to

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vies stehen dem phantastischen Erzählen besonders nahe, insofern auch sie das Spiel mit der Ungewissheit hinsichtlich des Wahrheits- und Realitätsgehalts des Erzählten ins Zentrum rücken und den Filmzuschauer (zumindest temporär) darüber im Unklaren belassen, ob dem dargestellten Geschehen eine ›objektive‹, das Geschehen wahrheitsgetreu wiedergebende Perspektive zugrunde liegt, oder ob es sich demgegenüber nicht um die subjektive, möglicherweise stark verzerrte Wahrnehmungsperspektive einer der Figuren handelt. Der Wirkungseffekt der Mind Game Movies besteht somit in einer gezielten Irreführung des Zuschauers hinsichtlich des ontologischen Status’ des Erzählten, indem offen bleibt, ob die Ereignisse der fiktiven Realität des Films zuzuordnen sind, oder ob es sich demgegenüber um subjektiv gefärbte Wahrnehmungen bzw. einen ›Film im Kopf‹ des Protagonisten handelt. Ein spezifisches Charakteristikum der Mind Game Movies besteht somit auch Thomas Elsaesser zufolge in der besonderen Betonung des ›Geistes‹ und der ›mentalen Welt‹: Sie [die Mind Game Movies] zeigen Hauptfiguren, deren psychischer Zustand extrem, instabil oder pathologisch ist, doch anstatt als Fallstudien präsentiert zu werden, wird ihre Art des Sehens, Reagierens und Interagierens mit anderen Figuren, kurz: ihr ›in-der-Welt-sein‹ als normal oder plausibel dargestellt. Die Filme treiben also auch ›Spiele‹ mit der Realitätswahrnehmung des Publikums (und nicht nur der Protagonisten): Sie zwingen zur Entscheidung zwischen scheinbar gleichermaßen gültigen, aber in letzter Konsequenz inkompatiblen ›Realitäten‹ oder ›Multiversen‹ […].94

Aufgrund der engen Verwandtschaft zwischen dem phantastischen Erzählen und der Erzählstruktur der Mind Game Movies, die sich unter anderem darin spiegelt, dass ein früher phantastischer Film wie Das Cabinet des Dr. Caligari wiederkehrend als der wichtigste Vorläufer der neuen Filmform angeführt wird,95 soll im Folgenden zunächst kurz auf die zentralen Strukturmerkmale der Mind Game Movies eingegangen und diese zum Phantastischen hin abgegrenzt werden. Anschließend werden stärker allgemeine Aspekte filmischer Subjektivität beleuchtet und mit zentralen Diskurstechniken des Phantastischen in Verbindung gebracht. Das Strukturprinzip der Mind Game Movies, für die exemplarisch Filme wie Lost Highway (USA/Frankreich 1997, Regie: David Lynch), Fight Club (USA 1999, Regie: David Fincher), eXistenZ (Kanada/Großbritannien 1999, Regie: David Cronenberg), Memento (USA 2000, Regie: Christopher Nolan), A Beautiful Mind (USA 2001, Regie: Ron Howard) Spider (Kanada _____________

94 95

the World: Memory Anxiety in the Mind-Game Film. In: Mind the Screen. Media Concepts According to Thomas Elsaesser, hrsg. v. Jaap Kooijman/Patricia Pisters/Wanda Strauven, Amsterdam, S. 96–111; Warren Buckland (2009): Introduction: Puzzle Plots. In: ders. (Hrsg.): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema, Malden/Oxford, S. 1–12. Elsaesser 2009, S. 238f. Vgl. Bordwell 2006, S. 81; Elsaesser 2009, S. 244.

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2004, Regie: David Cronenberg), November (USA 2004, Regie: Greg Harrison), Adoration (Kanada 2008, Regie: Atom Egoyan) oder auch Shutter Island (USA 2010, Regie: Martin Scorsese) angeführt werden können, besteht darin, den Zuschauer in die Gedankenwelt des in aller Regel psychisch labilen, mental derangierten Helden hineinzuziehen und ihn an seiner subjektiven Weltsicht partizipieren zu lassen. Dadurch, dass die subjektiven Bild- und Blickwelten der Protagonisten hier jedoch nicht mehr in Form klassischer Point-of-View-Sequenzen eingeführt werden, d. h. nicht mehr durch die Etablierung eines Referenzpunktes in der Außenwelt ›gerahmt‹ sind,96 führen die Mind Game Movies den Zuschauer gezielt auf eine falsche Fährte: Der Blick auf die erzählte Welt, der vom fiktiven Zuschauer zunächst als der ›objektive‹ Point-of-View der extradiegetischen ›Kamera‹ interpretiert wird, stellt sich in einem unvermittelten Plot Twist als die subjektive Perspektive der handelnden Figur bzw. als Einblick in deren subjektive Phantasie- und Gedankenwelt heraus. Im Extremfall, beispielsweise in den Filmen Lost Highway und eXistenZ, lässt sich das Geflecht der unterschiedlichen Perspektiven und Erzählebenen schließlich überhaupt nicht mehr auflösen, die Ununterscheidbarkeit zwischen ›objektiver‹ Realität und subjektiver Halluzination (Lost Highway) bzw. zwischen Realität und Virtualität (eXistenZ) bleibt bis zum Schluss aufrechterhalten. Die postklassischen Mind Game Movies, die mit verschiedenen Strategien einer Subjektivierung des Erzählten operieren und die auf diese Weise eine Mehrdeutigkeit hinsichtlich des Wahrheits- und Realitätsgehalts des Dargestellten erzeugen, integrieren somit fundamentale Strukturprinzipien des phantastischen Erzählens. Die Einführung unzuverlässiger, psychisch labiler bis vollkommen verrückter intradiegetischer Erzähler, die Einnahme einer subjektiv gefärbten bzw. verzerrten Figurenperspektive sowie das unvermittelte Hineinschalten der Narration in die subjektive Gedankenwelt der Figuren (mindscreen) tragen in beiden Fällen zu einer Destabilisierung und Auflösung der vertrauten Ordnungen der erzählten Welt bei. Dabei ist der Begriff des Mind Game zunächst jedoch weitgefasster als der Begriff des Phantastischen: Phantastisches Erzählen setzt notwendigerweise stets eine Unentscheidbarkeit zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Welt voraus, bei der filmischen Erzählform der Mind Game Movies kann sich diese Unentscheidbarkeit demgegenüber auch auf zwei gänzlich natürliche und lediglich hinsichtlich ihres Realitätsstatus’ differierende Welten beziehen.97 Unter dem Aspekt der _____________ 96 97

Zur Struktur der klassischen Point-of-View-Sequenz vgl. Branigan 1984, S. 103–121 sowie Kap. II.2.2. der vorliegenden Arbeit. Beispiele hierfür bieten Filme wie A Beautiful Mind und Shutter Island, in denen sich keinerlei übernatürliche Ereignisse zutragen: Die Verwicklung der Protagonisten in die Machenschaften des US-amerikanischen Geheimdienstes (die am Ende jeweils als schizophrene

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Medialität hingegen ist umgekehrt der Begriff des Phantastischen als der weitergefasstere Begriff anzusehen: Während phantastisches Erzählen, wie in Kapitel I.4.3. dargelegt wurde, als ein narrativer Modus zu bestimmen ist, der in verschiedene Genres und Erzählmedien integrierbar ist, erscheint die Erzählform der Mind Game Movies demgegenüber als ein speziell auf das Medium Film begrenztes Phänomen. Darüber hinaus ist zu überlegen, ob die Filmform der Mind Game Movies – entgegen der Überzeugung Elsaessers – nicht im engeren Sinne als ein historisches ›Genre‹ zu betrachten ist, das sich seit der Mitte der 1990er Jahre im Rahmen des postklassischen Hollywoodkinos herausgebildet hat und für das der Begriff Mind Game als eine Art Label in der Kommunikation mit dem Filmzuschauer fungiert.98 Eine präzise Analyse und definitorische Eingrenzung des Phänomens der Mind Game Movies würde den Kontext der vorliegenden Arbeit weit übersteigen. Offensichtlich ist jedoch, dass die Erzählstruktur dieser neuen Filmform in einem engen Verhältnis zum phantastischen Erzählen steht: So kreisen Mind Game Movies einerseits stets um Themen wie Wahrnehmung, Bewusstsein, Erinnerung und Identität, also insgesamt Themen, die die Beziehung des Selbst zur Welt regeln und die bei Todorov mit Blick auf die Phantastik auch als ›Ich-Themen‹ (»les thèmes du je«) bezeichnet werden. Andererseits findet sich hier, wie zuvor bereits angesprochen, ein stark subjektivierendes Erzählen, das mit unzuverlässigen, intradiegetischen Erzählerinstanzen, ungewöhnlichen Blickkonstruktionen sowie in der Regel unmarkierten, subjektiven figuralen Perspektiven und mindscreens arbeitet, die den fiktiven Zuschauer unvermittelt in die Wahrnehmungsund Gedankenwelt der Figur hineinschalten. Als die wichtigste Schnittstelle zwischen dem phantastischen Erzählen und der Erzählstruktur der Mind Game Movies kann somit der Begriff der ›Subjektivität‹ gelten, der im Folgenden genauer in den Blick genommen werden soll. Subjektivität im Film kann allgemein definiert werden als Verfahren, das die Herkunft des Erzählten, sprich die visuelle oder, im Fall einer Voice-over-Narration, die verbalsprachliche Präsentation der Ereignisse einer Figur in der fiktiven Welt der Erzählung zuschreibt. »Subjectivity, by definition«, so Branigan, »depends on equating origin with character.«99 Einem derartigen engergefassten Verständnis von Subjektivität zufolge fallen hierunter im Wesentlichen drei Techniken, die vielfach auch mit _____________ 98 99

Wahnvorstellung aufgelöst wird) ist zwar äußerst abenteuerlich und außergewöhnlich, dabei jedoch durchaus realitätskonform. Vgl. hierzu die Definition von Genre in Kap. I.4.2. Branigan 1984, S. 44.

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dem Begriff der filmischen ›Ich-Erzählung‹100 assoziiert werden: der Voice-over-Kommentar einer intradiegetischen Erzählerfigur, der Pointof-View-Shot bzw. das Verfahren der subjektiven Kamera sowie mindscreens, also die Darstellung mentaler Prozesse wie z. B. subjektiver Phantasien, Erinnerungen, Wahnvorstellungen etc. Einem erweiterten Begriffsverständnis zufolge können demgegenüber jedoch sämtliche Verfahren, die den Filmzuschauer möglichst nahe an die handelnde Figur heranführen, ohne dabei gänzlich deren subjektiven Point-of-View einnehmen zu müssen, unter dem Begriff der Subjektivität gefasst werden. So wurde im vorangegangenen Kapitel bereits darauf verwiesen, dass ein konsequent durchgehaltener subjektiver Point-of-View im Film in der Regel als starke Beschränkung empfunden wird und der Eindruck eines unvermittelten Einblicks in die Gedanken- und Gefühlswelt der jeweiligen Figur weniger durch eine starre subjektive Kamera als demgegenüber durch einen flexiblen Wechsel zwischen verschiedenen Fokalisierungstypen, welche die Figur gewissermaßen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, zustande kommt. In diesem Zusammenhang spielt insbesondere die Technik der Großaufnahme (Close-up) eine wichtige Rolle, die, indem sie die jeweilige Figur aus nächster Nähe ins Bild rückt, eine starke Subjektivierung und Emotionalisierung des Geschehens bewirken kann. Beispielhaft stellt sich dies in Jean-Luc Godards Film Vivre sa vie (Frankreich 1962) dar, der eine intensive Studie des Gesichts der Hauptfigur sowie dessen verschiedener Ausdrucksformen betreibt und der dem Zuschauer auf diese Weise die Heldin auf der Leinwand sprichwörtlich ›nahe‹ bringt.101 Darüber hinaus kann jedoch auch die parteiliche, bedingungslose Konzentration auf eine Figur zum Eindruck unvermittelter Subjektivität im Film beitragen, wie sich dies unter anderem an Alfred Hitchcocks Film Rebecca (USA 1940) zeigt: Fast alle Handlungen finden hier in der Gegenwart der weiblichen Hauptfigur statt, sind auf sie bezogen oder leiten ihren Sinn aus der Bedeutung her, die sie für sie haben.102 _____________ 100 Vgl. Christine N. Brinckmann (1997): Ichfilm und Ichroman. In: dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration, Zürich, S. 83–112; Lohmeier 1996, Kap. »Die Ich-Erzählsituation im Film«, S. 196–198 u. a. Generell sollten die literaturwissenschaftlichen Termini ›Ich-‹ und ›Er-Erzählung‹ mit Blick auf das Medium Film jedoch besser vermieden werden. So hat unter anderem David Bordwell darauf verwiesen, dass die grammatikalische Kategorie der Person im Film kein Äquivalent besitzt und somit prinzipiell auch keine Differenzierung zwischen einer filmischen ›Ich-‹ und einer ›Er-Form‹ des Erzählens möglich ist. Bordwell 1984, S. 23f. 101 Wie Anke-Marie Lohmeier zeigt, ist die intime Nähe, in die sich der fiktive (›Kamera‹-) Erzähler bei Großaufnahmen zu den Figuren begibt, jedoch nicht notwendig Ausdruck einer solidarisierenden und sympathisierenden Haltung der jeweiligen Figur gegenüber, sondern kann ebenso auch einen entlarvenden Effekt besitzen. Lohmeier 1996, S. 75. 102 Brinckmann 1997, S. 104.

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Obschon der Film fast durchgehend aus narratorialer Perspektive erzählt ist, wird die Hauptfigur durch diese intensive Fixierung auf sie in gewisser Weise als das bedeutungserzeugende Zentrum der Erzählung empfunden. Das Spektrum der filmischen Möglichkeiten zur Erzeugung von Subjektivität in einem weitgefassten Sinn ist mit den oben genannten Verfahren sicherlich noch lange nicht erschöpft. Im Folgenden soll, unter Rückbezug auf die von Kawin entwickelte Typologie103 sowie die diesbezüglichen Ausführungen bei Branigan und Wilson,104 jedoch von einem engergefassten Konzept filmischer Subjektivität ausgegangen werden, welches lediglich den Voice-over-Kommentar einer intradiegetischen Erzählerfigur sowie eine fokalisierte Darstellung des Geschehens unter diesem Begriff fasst. Nach Kawin kann dabei insgesamt zwischen drei verschiedenen Typen von Subjektivität im Film differenziert werden, die sich jeweils auf die verbalsprachlichen Aussagen (»to present what a character says«), die optische Wahrnehmung (»to show what the character sees«/»the physical eye«) sowie die Gedanken (»to show what he thinks«/»the mind’s eye«) einer Figur beziehen.105 Der erste Typus von Subjektivität im Film betrifft die Darstellung dessen, was die Figur sagt und bezieht sich somit in erster Linie auf Voiceover-Kommentare einer Erzählerfigur, die selbst Teil der Diegese ist. Ein Beispiel hierfür liefert abermals Hitchcocks Film Rebecca, der mit dem traumverlorenen, aus dem Off gesprochenen Satz der Protagonistin »Last night I dreamt I went to Manderley again...«106 sowie einer parallel dazu gezeigten Kamerafahrt auf die Ruine eines altherrschaftlichen Landsitzes beginnt. Die Präsentation dessen, was eine Figur sagt (»to present what a character says«) kann dabei nicht nur in verbalsprachlicher sondern auch in schriftsprachlicher Form erfolgen. So wird in dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari (Deutschland 1920, Regie: Robert Wiene) eine Erzählerfigur eingeführt, deren Erzählerbericht mit folgendem Zwischentitel eingeleitet _____________ 103 Kawin 1978. 104 Branigan 1984, Wilson 2006. Während Kawin sowohl die Filterung der Erzählperspektive durch den Blick einer Figur (Point-of-View-Shot, mindscreen) als auch Voice-over-Kommentare einer intradiegetischen Erzählerfigur unter dem Begriff der Subjektivität fasst, erkennt Branigan nur im Point-of-View-Shot und im mindscreen subjektivierende Darstellungsverfahren. Ein noch enger gefasstes Verständnis von filmischer Subjektivität vertritt Georg Wilson, der davon ausgeht, dass der ›normale‹, wahrheitsgetreue Point-of-View-Shot (»veridical point-of-view shot«) im Grunde nicht ›subjektiver‹ sei als eine unfokalisierte Präsentation des Geschehens und der unter Subjektivität lediglich diejenigen Verfahren fasst, bei denen der Point-of-View-Shot subjektiv gefärbt ist (»subjectively inflected point-of-view shot«) oder gänzlich subjektiv ist (»subjectively saturated point-of-view shot«), d. h. wenn ein sogenannter mindscreen vorliegt. 105 Kawin 1978, S. 7 und S. 10. 106 Rebecca (USA 1940, Regie: Alfred Hitchcock, DVD-Fassung Eurovideo, 126 Min.), Min. 0:01:40.

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wird: »Das ist meine Braut... Was ich mit dieser erlebt habe, ist noch viel seltener, als das, was Sie erlebt haben... Ich will es Ihnen erzählen...«107 Schließlich ist, wie sich ebenfalls am Cabinet des Dr. Caligari verdeutlichen lässt, das, was die Figur ›sagt‹ auch keinesfalls immer verlässlich: So stellt sich am Schluss des Caligari-Films heraus, dass der Protagonist Francis verrückt ist und die gesamte von ihm vorgetragene Binnenerzählung nur eine Wahnphantasie war, an der er den fiktiven Zuschauer durch seinen Erzählerbericht hat partizipieren lassen. Der zweite Typus von Subjektivität im Film betrifft die Darstellung dessen, was die Figur sieht, also im Wesentlichen die subjektive Kamera bzw. den Point-of-View-Shot.108 Noch genauer kann dabei differenziert werden zwischen einem ›wahrheitsgemäßen‹ Point-of-View-Shot, der eine subjektive, jedoch weitgehend normale Wahrnehmung impliziert und dem sogenannten perception shot (Branigan), bei welchem der optische Point-ofView mit einem Zustand der Wahrnehmungsverzerrung, wie z. B. Betrunkenheit, Fieber, Schwindelgefühl, Halluzination, Drogenrausch etc., korreliert und der somit Wahrnehmungszustände wiedergibt, die deutlich von der gewohnten Alltagswahrnehmung abweichen.109 Filmtechnisch werden derartige perception shots unter anderem durch unscharfe und verwackelte Bilder, Einstellungsgrößen und Kadrierungen mit eingeschränktem Sichtfeld, schnelle Kamerabewegungen und erhöhte Schnittfrequenzen (visuelle Ebene) sowie durch subjektiven Ton, d. h. durch gedämpften, verzerrten oder auch in gespenstischer Weise gänzlich ausfallenden Ton (auditive Ebene) realisiert.110 Neben diesen beiden Formen der klassischen Point-of-View-ShotMontage existiert jedoch noch ein weiteres Verfahren, das zu der Annahme beiträgt, das dargestellte Geschehen sei subjektiv gefärbt – obschon der optische Point-of-View in diesem Fall keiner der Figuren zugeordnet werden kann.111 Ein solcher subjektivitätsverstärkender Faktor ist der Blick durch ein Hindernis, z. B. durch ein Fenster, durch ein Schlüsselloch, durch das Innere eines halboffenstehenden Schrankes, durch die Verästelungen eines Gebüschs hindurch etc., wobei ein derartiges eingeschränktes Blickfeld stets eine Instanz vermuten lässt, aus deren Perspektive das Gesche_____________ 107 Zwischentitel aus: Das Cabinet des Dr. Caligari (Deutschland 1920, Regie: Robert Wiene, VHS-Fassung, S/w, stumm, 79 Min.), Min. 0:03:00. 108 Vgl. Kap. II.2.2. 109 Georg Wilson bezeichnet diese beiden Formen des Point-of-View-Shots auch als »veridical point-of-view shot« und »subjectively inflected point-of-view shot«. Wilson 2006. 110 Vgl. auch Matthias Hurst (2001b): Mittelbarkeit, Perspektive, Subjektivität. Über das narrative Potential des Spielfilms. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, hrsg. v. Jörg Helbig, Heidelberg, S. 233–251, S. 244. 111 Bei Wilson wird diese Form des ›unpersönlichen‹ Point-of-View-Shots unter dem Begriff des »impersonal subjectively inflected shot« besprochen. Wilson 2006, S. 87f.

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hen fokalisiert ist. Diese Technik wird besonders häufig im Genre des Horrorfilms angewendet, wo sie dem Zuschauer das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Bedrohung durch eine unsichtbare Blickmacht vermitteln soll: Die Vorstellung eines Voyeurs, der sich (noch) nicht zu erkennen gibt und dessen Blicken die Handlungsträger ausgeliefert sind, ist hier eines der effektivsten Mittel der Spannungssteigerung. Beispielhaft umgesetzt findet sich dieses Verfahren in dem Film El habitante incierto (engl.: The Uncertain Guest, Spanien 2004, Regie: Guillem Morales), der dem fiktiven Zuschauer durch eine beschränkte und stellenweise ›blockierte‹ Sicht auf das Geschehen einen versteckten Beobachter suggeriert, aus dessen subjektiver Perspektive das Geschehen dargestellt ist. So enthält der Film unter anderem eine längere Sequenz, in welcher der Protagonist Félix nach einer Möglichkeit sucht, in eine benachbarte Villa einzudringen, während ihn die ›Kamera‹ dabei vom Inneren des Hauses aus gewissermaßen ›verfolgt‹ und ihn durch die Fenster hindurchblickend ›beobachtet‹. Der Blick der ›Kamera‹ durch die Sprossenfenster der Villa sowie die wiederkehrenden Unterbrechungen der Sicht auf den Eindringling, die durch eine Kamerafahrt von einem Fenster zum nächsten zustande kommt, impliziert für den Filmzuschauer unwillkürlich ein Subjekt, dem dieser eingeschränkte, langsam durch das Haus ›wandernde‹ Blick zuzuordnen ist. Diese Annahme eines versteckten Voyeurs stellt sich im Nachhinein jedoch als ein Fehlschluss heraus: Niemand hat Félix vom Inneren des Hauses aus beobachtet, die vermeintliche Observierung des Eindringlings ist rückwirkend stattdessen als ein raffinierter Hinweis auf dessen psychisch labilen Zustand und seinen paranoiden Verfolgungswahn zu deuten. Der dritte Typus filmischer Subjektivität bezieht sich schließlich auf die Darstellung dessen, was die Figur denkt bzw. auf die Visualisierung derjenigen Vorgänge, die sich im Kopf der Figur abspielen. Für diesen dritten Typus filmischer Subjektivität hat Kawin den Begriff mindscreen geprägt112 und versteht darunter ein filmisches Erzählverfahren, das im Gegensatz zur optischen Wahrnehmung einer Figur deren innere Wahrnehmung (»the field of the mind’s eye«) wiedergibt: »A mindscreen is a visual (and sometimes aural) field that presents itself as the product of a mind, and that is often associated with systemic reflexivity, or self-conscoiusness.«113 Im Gegensatz zum Point-of-View-Shot ist bei derartigen mindscreens die Figur üblicherweise mit im Bild zu sehen, die denkenden, träumenden, halluzinierenden etc. Protagonisten sind Teil des Geschehens und nehmen sich selbst von Außen wahr. Ein berühmtes Beispiel hierfür liefert die von Salvador Dalí gestaltete Traumsequenz in Alfred Hitch_____________ 112 Vgl. Kap. II.2.2., Anm. 86. 113 Kawin 1978, S. xi.

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cocks Spellbound (USA 1945), in welcher die Figur des John Ballantine, gespielt von Gregory Peck, durch seine eigene bizarre Traumwelt stolpert. Je nach Stärke des Realitätsbezugs kann die Visualisierung mentaler Prozesse schließlich wiederum in zwei unterschiedliche Typen unterteilt werden: So können mindscreens einerseits in Form einer Flashbacksequenz die Erinnerung der Figur an ein reales Geschehen wiedergeben – wobei auch hier eine subjektive Färbung der Erinnerungen bzw. eine ›lügende Kamera‹ möglich ist –114 andererseits können sie auf gänzlich irrealen Phantasien der Figuren basieren, die in keinerlei Verbindung zur fiktiven Realität des Films stehen. Wie zuvor bereits gezeigt wurde, besteht eine Besonderheit des filmischen Erzählens darin, dass mindscreens zwar durch konventionalisierte Übergänge markiert sein können, dies jedoch sein nicht müssen,115 womit den jeweiligen Filmen stets ein besonderer Überraschungseffekt gelingt. Derartige Effekte wurden bereits in der Frühzeit des Films eingesetzt, so z. B. in den nur wenige Minuten dauernden Filmstreifen Let Me Dream Again (Großbritannien 1900, Regie: George Albert Smith) und Rêve et réalité (Frankreich 1901, Regie: Ferdinand Zecca), die beide mit einem Mind GameTrick spielen: Die hier präsentierten männlichen Wunschphantasien, nämlich der Flirt mit einem jungen Mädchen in einer Bar, stellen sich in einem unerwarteten Plot Twist am Ende des Films jeweils als Traum heraus – die Protagonisten erwachen zu ihrem Schrecken (und zur Belustigung des Zuschauers) neben ihren Ehefrauen im häuslichen Ehebett. Eine besonders differenzierte und subtile Anwendung finden unmarkierte mindscreens sowie die übrigen genannten Möglichkeiten einer Erzeugung filmischer Subjektivität schließlich im modernen Autorenfilm seit dem Ende der 1950er Jahre (Bergman, Buñuel, Fellini, Antonioni u. a.) sowie im zeitgenössischen postklassischen Film im Umkreis des Hollywoodkinos (Lynch, Cronenberg, Fincher, Nolan u. a.), wo sie zu einer Mehrschichtigkeit und Mehrdeutigkeit und damit insgesamt zu einer erheblichen Komplexitätssteigerung des Erzählens beitragen. Ausblickend kann an dieser Stelle schließlich bereits die These formuliert werden, dass die oben genannten Subjektivierungsstrategien allesamt auch fundamentale Diskurstechniken des phantastischen Erzählens im Film bilden: Durch subjektiv verzerrte audiovisuelle Perspektiven, ›lügende Kameras‹ bzw. unmarkierte mindscreens oder auch explizit aufscheinende Widersprüche von Sprache und Bild/Ton kann eine unauflösbare Mehrdeutigkeit hinsichtlich des Wahrheits- und Realitätsgehalts der dargestellten _____________ 114 Beispiele hierfür bieten die ambiguen ›Erinnerungen‹ in Romeros Martin (vgl. Kap. I.3.1.3.) sowie der ›lügende‹ Flashback in Hitchcocks Stage Fright (USA 1950). 115 Wilson bezeichnet dies als »unmarked subjective inflection«. Wilson 2006, S. 89f.

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Ereignisse produziert werden und den potentiell übernatürlichen Ereignissen ihr absoluter Gültigkeitsanspruch verweigert werden. Der Begriff der Subjektivität, so ist anzunehmen, kann somit als ein Schlüsselbegriff des phantastischen Erzählens im Film gelten – in Kap. III. wird dies anhand konkreter Filmbeispiele untersucht.

3. Die erzählte Welt im Film 3.1. Motivierung Spielfilme produzieren erzählte Welten, indem sie dem Filmzuschauer über eine Abfolge audiovisueller Zeichen auf einer zweidimensionalen Projektionsfläche ein ›filmisches Universum‹ (Souriau) als ein Ensemble von Figuren, Schauplätzen, Handlungen und Ereignissen mit jeweils ihm eigenen raumzeitlichen und kausalen Gesetzmäßigkeiten eröffnen. Anders als im Medium Literatur sind diese erzählten Welten im Film jedoch hochgradig bestimmt: Während der Leser einer literarischen Erzählung die Unbestimmtheitsstellen eines Textes, etwa hinsichtlich des Aussehens und der Kleidung der Figuren, der Anordnung der Räume eines Hauses, landschaftlicher Details etc., in seiner Imagination ausfüllen muss, sind im Film die visuellen Aspekte der erzählten Welt durch und durch determiniert. So kreiert beim Lesen von Henry James’ The Turn of the Screw jeder Leser sein eigenes Bild des alten englischen Landsitzes, auf dem die junge Ich-Erzählerin ihre neue Stelle als Erzieherin antritt, in Jack Claytons Verfilmung des Romans The Innocents (USA 1961) hingegen ist das optische Erscheinungsbild der erzählten Welt für sämtliche Rezipienten gleich. Während die erzählten Welten in Literatur und Film sich hinsichtlich ihres Grades an visueller Bestimmtheit grundsätzlich unterscheiden, ist beiden Formen von Erzählungen der Aufbau der Handlung durch Ereignisse oder auch Motive gemeinsam. Nach Boris Tomaševskij bilden die Motive die kleinsten elementaren Einheiten der Handlung, sie liegen stets in einer bestimmten Verknüpfung vor und treten innerhalb eines Genres in unveränderter Gestalt auf. Als typische Motive nennt Tomaševskij thematische Einheiten wie »Der Abend brach an«, »Der Held starb« oder »Ein Brief traf ein«,116 den Begriff ›Motiv‹ versteht er also, anders als die Stoff- und Motivforschung, nicht im Sinne narrativ tradierter, stofflicher Einheiten, die als solche immer wieder aufgegriffen und in neue Zusammenhänge integriert werden, sondern im Sinne eines elementaren Ereignisses in einem Text. Im Hinblick auf ihre Funktion für die Handlung _____________ 116 Tomaševskij 1985, S. 218.

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kann nach Tomaševskij dabei zwischen statischen und dynamischen Motiven differenziert werden: Zu den statischen Motiven gehören beispielsweise Landschafts- und Ortsbeschreibungen sowie Figurencharakterisierungen, dynamische Motive sind demgegenüber in erster Linie die Figurenhandlungen, also die »Taten der Helden«.117 Es versteht sich, dass im Medium Film als einem primär auf optische Bewegung ausgerichteten Medium den dynamischen Motiven ein besonderer Stellenwert zukommt: So dominieren im klassischen Hollywood-Erzählkino neben weitläufigen, panoramatischen Landschaftsdarstellungen, wie etwa im Genre des Westerns, und psychologischen Charakterstudien, wie etwa in den Dramen Hitchcocks, insbesondere handlungs- und actionorientierte Szenen, die ihr Tempo und ihre Dynamik durch die Bewegung der Personen und Objekte vor der Kamera, die Bewegung der Kamera selbst sowie durch Schnitt und Montage entfalten. Eine Etablierung solcher dynamischer Motive, die jeweils genrespezifische Ausprägungen erfahren, hat seit der Frühzeit des Films stattgefunden: Von der rasanten Verfolgungsjagd in The Great Train Robbery (USA 1903, Regie: Edwin S. Porter), über Charles Chaplins action pantomime, Fred Astaires action dance – eine Form des Tanzes, die sich unvermittelt und an jedem beliebigen Ort, etwa in einem Lokal, auf der Straße, auf einem Schiff, in der Dunkelkammer eines Photolabors etc., entfalten kann –, bis hin zu den spektakulären Actionszenen im modernen Hollywood-Kino mit Helden à la Bruce Willis, Jean-Claude Van Damme, Bruce Lee und Jackie Chan – stets kam im Medium Film den dynamischen, dem Moment der Bewegung verpflichteten Motiven ein besonderer Status zu. »[D]ie Einführung jedes einzelnen Motivs bzw. jedes Motivkomplexes«, schreibt Tomaševskij, muss »gerechtfertigt (motiviert) sein.«118 Das heißt, das Auftauchen eines bestimmten Motivs im Text muss nicht nur unter zeitlich-chronologischen Aspekten plausibel sein, sondern es muss auch in einen übergeordneten Erklärungszusammenhang der erzählten Welt einzuordnen sein und somit in die Sinnstruktur des Geschehens eingepasst werden. Eine Geschichte im engeren Sinne liegt erst dann vor, wenn die Ereignisse nicht grundlos wie aus dem Nichts aufeinander folgen, sondern wenn sie motiviert sind. Nach Matias Martinez können auf der Ebene der erzählten Welt dabei zwei Arten der Motivierung unterschieden werden, die er mit den Bezeichnungen kausale und finale Motivierung erfasst. Eine kausale Motivierung liegt dann vor, wenn ein UrsacheWirkungs-Zusammenhang besteht, d. h. wenn die Ereignisse als Folge psychologischer Beweggründe sowie daraus hervorgehender absichtsvoller Handlungen der Figuren oder auch als Folge nicht-intentionaler Ursachen, _____________ 117 Tomaševskij 1985, S. 221. 118 Vgl. ebd., Kap. ›Motivierung‹, S. 227–237, hier S. 227.

3. Die erzählte Welt im Film

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wie zum Beispiel Zufälle oder Naturereignisse, erklärbar sind. Mit dem Begriff der finalen Motivierung wird demgegenüber eine planvolle Verknüpfung der Ereignisse bezeichnet, die auf das Wirken einer numinosen, metaphysischen Macht in der erzählten Welt zurückgeht. Die Ereignisse haben hier somit einen Sinn und ein Ziel, scheinbare Zufälle und freie Willlensentscheidungen enthüllen sich als Bestandteil einer schicksalhaften Determinierung des Helden.119 Im Anschluss an diese stärker allgemeinen Ausführungen zur Erzeugung von Motivierung als sinnstiftender Kohärenz innerhalb einer erzählten Welt sind an dieser Stelle noch einige Bemerkungen zur speziellen Motivationsstruktur der erzählten Welten des Phantastischen zu machen. Eine Besonderheit des phantastischen Erzählens besteht darin, dass hier nicht mit Sicherheit entschieden werden kann, ob eine kausale oder finale Motivierung der Ereignisse vorliegt, d. h. das Geschehen ist zugleich kausal, als rational erklärbares Ereignis, und final, im Sinne eines Wirkens übernatürlicher Kräfte in der erzählten Welt, motiviert. Auf diese doppelte Motivationsstruktur des Phantastischen hat bereits Tomaševskij verwiesen: »Interessant ist«, schreibt er, »daß [...] phantastische Erzählungen [...] die Fabel gewöhnlich doppelt interpretieren: Man kann sie als reales und zugleich als phantastisches [nach Todorov: wunderbares] Ereignis verstehen.«120 Eine zentrale Rolle bei der Konstruktion dieser doppelten Motivationsstruktur, so Tomaševskij, spielen wiederum bestimmte Motive, die eine Mehrdeutigkeit der fabula erzeugen und zu denen er »Traum, Fieber, visuelle und sonstige Sinnestäuschungen«121 zählt. Die Erzählstruktur des Phantastischen nähert sich damit schließlich auch dem von Martinez untersuchten narrativen Typus der ›doppelten Welt‹ an, insofern man es in beiden Fällen mit einer erzählten Welt zu tun hat, »die durch eine paradoxe Motivationsstruktur konstruiert wird« und die somit durch »ontologische Zweideutigkeit« gekennzeichnet ist.122 Die _____________ 119 Matias Martinez (1996): Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen/Zürich [zugl.: Univ. Diss., Göttingen 1993]; ders. (2000): Art. ›Motivierung‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2: H–O, hrsg. v. Harald Fricke, Berlin/New York, S. 643–646. Von der kausalen und finalen Motivierung auf der Ebene der erzählten Geschichte (fabula) grenzt Martinez schließlich die kompositorische Motivierung ab, welche die funktionale Stellung der einzelnen Motive im Rahmen der Komposition des Textes betrifft und demzufolge auf sjužet-Ebene anzusiedeln ist. 120 Tomaševskij 1985, S. 232. 121 Ebd., S. 233. 122 Martinez 1996, S. 34 und S. 36. Den Unterschied zwischen den beiden Erzähltypen sieht Martinez im Wesentlichen darin begründet, dass im Phantastischen die finale Motivation klar als ›übernatürlich‹ markiert ist, während sie beim Typus der ›doppelten Welt‹ auch »Ausdruck der harmonischen Einrichtung der erzählten Welt« sein kann, wie Martinez am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Zusammenhang der Dinge verdeutlicht, in

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

Lenkung der Ereignisse durch dunkle, magisch-okkulte Kräfte, die Allgegenwart von unsichtbaren Gespenstern, Vampiren, Hexen, Alraunen und unheimlichen Doppelgängern sowie die Existenz eines schicksalhaften, kosmischen Zusammenwirkens allen Geschehens, eines – um ein Zitat aus E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels aufzugreifen – »geheimen Fadens [...] der sich durch unser Leben zieht«,123 wird im Phantastischen zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen und es wird mit dem Gedanken gespielt, dass die Dinge, die in der Welt geschehen, nicht nur von augenscheinlichen und nachprüfbaren Ursachen abhängen, sondern tieferen, rational nicht ergründbaren Ursachen und Wirkungszusammenhängen unterworfen sind. Neben den von Tomaševskij genannten Motiven Fieber, Traum und Halluzination, die allesamt dem Bereich psychischer Grenzerfahrungen zuzuordnen sind und die somit stärker figurenbezogene Aspekte der erzählten Welt betreffen, spielen schließlich insbesondere auch räumliche Grenzen und deren Transgression sowie Grenzverwischungen und -überschreitungen, die mit verschiedenen Formen medialer Inszenierung in Verbindung zu bringen sind, eine zentrale Rolle bei der Konstruktion der doppelten Motivationsstruktur phantastischen Geschehens. Wie in Kap. IV. ausführlich dargestellt wird, kann das Moment der Grenzüberschreitung somit als das prägende Ereignis und Leitmotiv des phantastischen Erzählens identifiziert werden, das sich auf der Ebene der histoire speziell in den Kategorien Figur und Raum sowie in der Thematisierung virtueller Medienrealitäten konkretisiert. 3.2. Stabile und instabile Welten Die Motivierung als ein Teilaspekt der Handlung ist nur ein Bestandteil dessen, was man allgemein unter der erzählten Welt (Diegese) als der Gesamtheit des raumzeitlichen Universums eines Textes versteht. Der Ter_____________

welcher sich ein vermeintlicher ›roter Faden‹ leitmotivisch durch das Leben des Protagonisten zieht. (Ebd., S. 36.) Diese Differenzierung erscheint jedoch wenig plausibel: So kann die Annahme eines ›Übernatürlichen‹ (supernaturalis) als einer über die sichtbare Welt der Dinge hinausgehenden, ›höheren‹ Wirklichkeit sowohl in einem naiven Gespensterglauben als auch in Form der pantheistischen Vorstellung einer beseelten Natur, in der sämtliche Ereignisse miteinander verknüpft sind und einem finalen Zweck unterliegen, ihren Ausdruck finden. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind gerade die modernen phantastischen Filme (z. B. Abre los ojos, Tierra) dadurch charakterisiert, dass hier keine dunklen, magisch-okkulten Kräfte am Werk sind, sondern dass demgegenüber die Möglichkeit einer Lenkung des Helden durch numinose Schicksalsmächte (verborgene Drahtzieher, ›Engel‹ o. ä.) in Betracht gezogen wird. 123 E. T. A. Hoffmann (1963): Die Elixiere des Teufels. In: ders.: Poetische Werke in sechs Bänden, Bd. 2, Berlin, S. 9.

3. Die erzählte Welt im Film

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minus Diegese (frz. diégèse) wurde von dem französischen Filmwissenschaftler Etienne Souriau geprägt und zur Bezeichnung des »filmischen Universums« als der »Gesamtheit von Wesen, Dingen, Tatsachen, Ereignissen, Phänomenen und Inhalten in einem raum-zeitlichen Rahmen« verwendet.124 Die Diegese als der Raum, in dem sich die Geschichte eines Films abspielt und der in der Kommunikation zwischen dem Autor, dem Text und dem Rezipienten der Erzählung konstruiert wird, wird bei Souriau somit klar getrennt vom Raum der Leinwand, der alle sichtbaren Erscheinungen auf der zweidimensionalen, rechteckigen Projektionsfläche des Films umfasst: Der ›diegetische‹ (diégètique) Raum bezieht sich auf das Universum eines Textes, auf die Welt, die der Text eröffnet und deren Gesetze und Logiken er konstruiert; der ›leinwandliche‹ (écranique) Raum bezieht sich demgegenüber »auf alle Licht- und Schattenspiele, Anordnungen, Formen und Bewegungen, welche auf der Leinwand während der Projektion beobachtet werden [...].«125 In der Filmwissenschaft spielt Souriaus Diegese-Begriff vor allem auch hinsichtlich der Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Ton und Musik eine wichtige Rolle: Als extradiegetisch wird beispielsweise eine von nicht sichtbaren Musikinstrumenten gespielte Hintergrundmusik bezeichnet, intradiegetisch sind demgegenüber alle Arten von Ton und Musik, die aus im Filmbild sichtbaren Quellen stammen. In die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie wurde der Terminus Diegese schließlich von Gérard Genette übernommen und hier allgemein als das »raumzeitliche Universum der Erzählung«126 bestimmt. Erzählte Welten kann man in verschiedenen Typen unterteilen: In homogene und heterogene Welten, mögliche und unmögliche Welten, stabile und instabile Welten.127 Welche Art von Welt ein Text evoziert, ist dabei abhängig vom jeweiligen Genre und narrativen Modus bzw. in Umkehrung dieses Verhältnisses wirkt sich der Typus der erzählten Welt jeweils auf die Genre- bzw. Moduszugehörigkeit eines Textes aus. Ein an den Konventionen realistischen Erzählens orientierter Hollywood-Western wie Stagecoach (USA 1939, Regie: John Ford) etabliert so beispielsweise eine mögliche und stabile Welt: Auch wenn die Protagonisten hier temporär einen (aus ihrer Sicht) an den Rändern der zivilisierten Welt gelegenen, ordnungs- und gesetzeslosen Raum durchqueren, so wird das Realitäts_____________ 124 Etienne Souriau (1997): Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie. In: montage a/v 6, H. 2, S. 140–157, S. 141 [frz. Original: La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie. In: Revue internationale de Filmologie, H. 7–8, S. 231–240]. Souriaus Verwendung des Begriffs ist jedoch nicht zu verwechseln mit Platons Bestimmung von diêgêsis als dichterischer Rede und als einem Gegenbegriff zu mimêsis (vgl. Kap. II.2.1.). 125 Ebd., S. 157. 126 Genette 1998, S. 313. 127 Vgl. auch Martinez/Scheffel 2007, S. 123–134.

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II. Grundlagen narrativer Vermittlung im Film

system des Films doch in keinem Moment in Frage gestellt. Am Schluss des Films, mit der Ankunft der Reisegesellschaft an ihrem Ziel, der Stadt Lordsburg, sind schließlich auch die bürgerlichen Normen und Gesetze wiederhergestellt. Im Gegensatz zu Stagecoach erschafft ein Märchenfilm wie La belle et la bête (Frankreich 1946, Regie: Jean Cocteau) eine physikalisch unmögliche Welt, in der Zauberschlösser, magische Spiegel und Metamorphosen von Dingen und Menschen an der Tagesordnung sind. Ebenso wie in in Stagecoach wird dem Zuschauer jedoch auch in La belle et la bête eine stabile Welt präsentiert, in der das Wunderbare von Beginn an ein integraler Bestandteil ist und das als solcher auch nicht angezweifelt wird. Zudem hat es der Zuschauer in beiden Fällen mit homogenen Welten zu tun, denen jeweils ein ausschließlich realistisches bzw. wunderbares Realitätssystem zugrundeliegt. Während ein Western wie Stagecoach und ein Märchenfilm wie La belle et la bête jeweils eine homogene erzählte Welt etablieren, liegt einem Musical wie Funny Face (USA 1957, Regie: Stanley Donen) eine heterogene Welt zugrunde, insofern hier eine Vermischung des realistischen Realitätssystems mit non-realistischen bzw. non-mimetischen, generisch motivierten Elementen in Form von Gesangs- und Tanzeinlagen stattfindet. Dennoch handelt es sich, wie in den übrigen bisher genannten Beispielen, auch in Funny Face um eine grundsätzlich stabile Welt: Die Vermischung realistischer und non-realistischer Elemente erzeugt für den mit den entsprechenden Genrekonventionen vertrauten Zuschauer keinerlei Mehrdeutigkeit, sondern ist im Gegenteil notwendiger Bestandteil dieses speziellen Typus’ einer erzählten Welt. Es geht, vereinfacht gesagt, in einem Musical überhaupt nicht um die Frage, ob die erzählte Welt eine realistische oder wunderbare Welt ist, die Heterogenität der erzählten Welt bildet hier die Grundvoraussetzung für genretypisches Erzählen. Grundsätzlich anders präsentiert sich demgegenüber der Fall eines Films wie L’année dernière à Marienbad, der eine homogene, zugleich jedoch instabile Welt entwirft: In dem Film geschehen keinerlei übernatürliche Dinge, das Realismus-Postulat wird an keiner Stelle verletzt – dennoch handelt es sich um eine instabile Welt, in der die Mehrdeutigkeit der dargestellten Ereignisse bis zum Schluss nicht aufgelöst wird. Von den genannten Typen erzählter Welten unterscheiden sich die erzählten Welten des phantastischen Films schließlich dadurch, dass es sich hier sowohl um heterogene als auch um instabile Welten handelt. In einem Film wie The Blair Witch Project bildet die Vermischung realistischer und wunderbarer Elemente den eigentlichen Schlüssel zum System der erzählten Welt des Films, wobei die erzählte Welt hier weder dem Typus der physikalisch möglichen noch der unmöglichen Welt eindeutig zuzuordnen ist.

3. Die erzählte Welt im Film

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Während stabilen Welten somit ein konstantes Set von Regeln und Gesetzen zugrundeliegt, lässt sich ein derartiges Regelset in instabilen Welten nicht ausmachen. Mit dem Terminus stabile Welt ist dabei, wie zuvor am Beispiel von Stagecoach bereits angedeutet, jedoch keinesfalls eine statische bzw. unveränderliche Welt gemeint: Stabilität meint demgegenüber die Fähigkeit des Systems der erzählten Welt, nach einer temporären Störung wieder in sein ursprüngliches Gleichgewicht zurückzukehren, womit hier eine Erzählstruktur nach dem Muster Gleichgewicht – Störung des Gleichgewichts – Kampf um die Wiederherstellung/ Wiederherstellung des Gleichgewichts vorliegt.128 Demgegenüber sind instabile Welten durch eine kontinuierliche und unabgeschlossene Pendelbewegung zwischen einem temporären Gleichgewicht und einem Ungleichgewicht charakterisiert.129 Mit dem Begriffspaar homogene vs. heterogene Welt soll also kenntlich gemacht werden, dass eine erzählte Welt entweder ein homogenes (realistisches oder wunderbares) Realitätssystem oder aber ein heterogenes, aus realistischen und non-realistischen bzw. wunderbaren Elementen zusammengesetztes Realitätssystem entwirft. Das Begriffspaar stabile vs. instabile Welt bezieht sich demgegenüber auf die Haltung, die der Erzählerdiskurs der erzählten Welt gegenüber einnimmt, d. h. also ob er danach bestrebt ist, temporäre Ungleichgewichtszustände und Widersprüche aufzulösen oder ob, wie im phantastischen Film, die Instabilität und Mehrdeutigkeit zum eigentlichen Ziel der Erzählung gemacht wird.

_____________ 128 Bordwell 1986, S. 19. 129 Vgl. hierzu auch Durst 2007, S. 146.

III. Der phantastische Diskurs 1. Perspektive Nachdem sich die beiden vorangegangenen Kapitel stärker theoretischen Fragestellungen zugewendet haben, werden in diesem Kapitel einzelne Aspekte des phantastischen Diskurses anhand konkreter Filmbeispiele untersucht. Im Mittelpunkt steht dabei zunächst die Analyse der Erzählperspektive im phantastischen Film, d. h. die Frage, wie stark der Pointof-View der ›Kamera‹ im Einzelfall an den subjektiven Point-of-View der handelnden Figur gebunden ist und ob dementsprechend die Perspektive des fiktiven Erzählers oder die einer Figur dominiert. Zu zeigen ist, inwiefern durch eine Begrenzung der audiovisuellen Perspektive die dargestellten, potentiell ›übernatürlichen‹ Ereignisse eine Mehrdeutigkeit erhalten und auf diese Weise die für das Phantastische charakteristische hésitation (Todorov) entstehen kann. Eines der Hauptstrukturmerkmale des phantastischen Diskurses ist, wie die literaturwissenschaftliche Phantastik-Forschung wiederholt betont hat, ein intra- und homodiegetischer Erzähler mit einer begrenzten, subjektiven Perspektive. Ein extra- und heterodiegetischer, omnipräsenter und ›allwissender‹ Erzähler, der einen vollständigen Überblick über das Geschehen besitzt und der den fiktiven Leser souverän mit den Informationen versorgt, die dieser zur (Re-)Konstruktion der Geschichte benötigt, ist mit dem Phantastischen prinzipiell unvereinbar – nur ein Erzähler, der die Ereignisse aus dem subjektiven Blickwinkel der handelnden Figur und mit deren begrenztem Wissensstand präsentiert, kann den für das Phantastische charakteristischen Zweifel evozieren. So heißt es bei Tzvetan Todorov: Dans les histoires fantastiques, le narrateur dit habituellement ›je‹: c’est un fait empirique que l’on peut vérifier facilement. Le Diable amoureux, le Manuscrit trouvé à Saragosse, Aurélia, les contes de Gautier, ceux de Poe, la Vénus d’Ille, Inès de la Sierras, les nouvelles de Maupassant, certains récits de Hoffmann: toutes ces œuvres se conforment à la règle. Le exceptions sont presque toujours des textes, qui, de plusieurs autres points de vue, s’éloignent du fantastique.1

_____________ 1

Todorov 1970, S. 87–89, hier S. 87. (»In fantastischen Geschichten sagt der Erzähler gewöhnlich ›ich‹ [›je‹]. Le Diable amoureux, Die Abenteuer in der Sierra Morena, Aurélia, Gautiers Erzählungen, die Poes [Anm. d. Verf.: Kürzungen in der dt. Übers.], einige von E. T. A.

1. Perspektive

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Todorov selbst nennt zwei Gründe, weshalb in phantastischen Erzählungen ein homodiegetischer Erzähler, der ›Ich‹ sagt und der als Figur in seiner Erzählung präsent ist, einem heterodiegetischen (›Er‹-)Erzähler vorzuziehen ist. Der erste Grund ist der, dass an der Rede eines heterodiegetischen Erzählers im Allgemeinen kein Zweifel aufkommt: Wenn ein an der Geschichte unbeteiligter und distanzierter, heterodiegetischer Erzähler übernatürliche Begebenheiten, wie etwa die Existenz von Wunderlampen und fliegenden Teppichen, schildert, so werden diese vom Leser grundsätzlich als gegeben hingenommen – womit man sich im Bereich des Wunderbaren (le merveilleux) befindet. Der zweite Grund liegt Todorov zufolge in dem Umstand, dass die Verwendung der ersten Person dem Leser die Identifikation mit der handelnden Figur erleichtert und somit aus der Unschlüssigkeit der handelnden Figur eine Unschlüssigkeit des impliziten Lesers (hésitation) entstehen kann.2 Unter Rückbezug auf Todorov geht auch Thomas Wörtche in seiner Arbeit zu phantastischen Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink ausführlicher auf die Beziehung des Erzählers zur erzählten Geschichte sowie die Art der gewählten Perspektive ein. Am Beispiel von Hanns Heinz Ewers’ Roman Der Geisterseher zeigt er auf, dass das Phantastische vielfach durch eine »kalkulierte und rigorose Destabilisierung von Erzählinstanzen«3 sowie durch eine »Perspektiven-Verwischung«4 gekennzeichnet ist. Durch den ständigen Wechsel und Widerspruch der Erzählperspektiven sowie die Inszenierung von z. T. bewusst ›falsch‹ konstruierten, inkohärenten Perspektiven5 wird im Phantastischen die übergeordnete Instanz des fiktiven Erzählers destabilisiert und somit die Verlässlichkeit derjenigen Instanz, die als einzige verbindliche Aussagen über den ontologischen Status der erzählten Welt zu treffen vermag, in Frage gestellt. Diese Technik der Perspektiven-Verwischung ist Wörtche zufolge dabei jedoch scharf zu trennen von einer multiperspektivischen Sicht auf das Geschehen, wie sie etwa für den Roman der Moderne charakteristisch ist: Das Phantastische zielt gerade nicht auf eine facettenreiche Darstellung der Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln, sondern demgegenüber auf die Erzeugung von Unbestimmtheit, Unschlüssigkeit und Mehrdeutigkeit. _____________ 2

3 4 5

Hoffmann – all diese Werke unterwerfen sich der Regel. Die Ausnahme bilden fast nur Texte, die sich, in mehrfacher Hinsicht, vom Fantastischen entfernen.« Todorov 1972, S. 78f.) »En deuxième [...] la première personne ›racontante‹ est celle qui permet le plus aisément l’identification du lecteur au personnage, puisque, comme on sait, le pronom ›je‹ appartient à tous. [...] Ainsi pénètret-on de la manière la plus directe possible dans l’univers fantastique.« Todorov 1970, S. 88f. Wörtche 1987, Kap. ›Die Rolle der Erzählinstanz‹, S. 134–160, hier S. 159. Ebd., S. 151. Ebd., S. 154–156. Zu ›falschen‹ Point-of-View-Shots im phantastischen Film vgl. Kap. III.1.2.

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III. Der phantastische Diskurs

In seiner Theorie der phantastischen Literatur hat sich schließlich auch Uwe Durst mit dem Aspekt der Erzählerstimme und -perspektive in der phantastischen Literatur auseinandergesetzt und gelangt dabei zu folgendem Fazit: Je begrenzter die Perspektive ist, desto geringer sind die Schwierigkeiten, den Erzähler zu destabilisieren und den phantastischen Zweifel hervorzurufen, weil es immer Geschehnisse und Zusammenhänge geben kann, die sich seiner Perspektive entziehen. [...] Im Falle einer allwissenden Erzählinstanz ist das Phantastische unmöglich.6

Ebenso wie Wörtche geht auch Durst davon aus, dass die Einnahme einer begrenzten, subjektiven Perspektive sowie die Relativierung und gegenseitige In-Frage-Stellung verschiedener Erzählinstanzen ein zentrales Verfahren der Erzeugung einer phantastischen Mehrdeutigkeit ist. Dabei widerspricht er jedoch Todorovs These, dass nur ein homodiegetischer Erzähler einen Zweifel hinsichtlich des ontologischen Status’ der von ihm geschilderten, scheinbar übernatürlichen Ereignisse aufkommen lassen kann. So verweist Durst auf Roland Topors Roman Le locataire chimérique (der 1976 unter dem Titel Le locataire von Roman Polanski auch verfilmt wurde) sowie auf Nathaniel Hawthornes Erzählung Young Goodman Brown, die beide mit einem heterodiegetischen Erzähler operieren, wobei die Gemeinsamkeiten zu den von Todorov genannten phantastischen ›Ich‹Erzählungen wiederum darin bestehen, dass auch hier ein fokalisiertes Erzählen, bei welchem der Erzähler dem Helden keinen Augenblick von der Seite weicht und diesem gewissermaßen ›über die Schulter‹ blickt, dominiert. Der besondere Effekt solcher Texte besteht Durst zufolge »in der Enttäuschung jenes traditionellen Vertrauens, das man in die kohärenzstiftende Potenz eines Er-Erzählers setzt, die die eines Ich-Erzählers […] durchaus übersteigt.«7 Wie stellt sich die Situation nun im Film dar? Zunächst einmal muss vermerkt werden, dass die Begriffe ›Ich‹- und ›Er‹-Erzählung mit Bezug auf das filmische Medium gänzlich metaphorisch und als narratologische Kategorien inadäquat sind (wobei, wie Genette gezeigt hat, auch in literarischen Erzählungen genau genommen keine Wahl zwischen den _____________ 6

7

Durst 2007, S. 189. Ebenso wie Wörtche bezieht sich auch Durst nicht auf die Erzähltheorie Genettes, sondern orientiert sich demgegenüber am Modell Petersens, das mit der Unterscheidung zwischen verschiedenen Erzählformen (Ich-/Er-Form), Erzählverhalten (auktorial, personal, neutral) und Erzählperspektiven (Innen-/Außenperspektive) wiederum auf Stanzels typologischem Modell der Erzählsituationen aufbaut. (Jürgen H. Petersen [1993]: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart/Weimar.) Wie Genette gezeigt hat, sind die hier verwendeten Formulierungen ›Ich-/Er-Erzählung‹ bzw. ›Erzählung in der ersten/dritten Person‹ sowie der Begriff des ›allwissenden Erzählers‹ jedoch grundsätzlich problematisch und nur mit Vorbehalt als narratologische Kategorien zu verwenden. Durst 2007, S. 188.

1. Perspektive

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zwei grammatischen Formen ›Ich‹ und ›Er‹, sondern zwischen zwei narrativen Einstellungen des Erzählers stattfindet).8 Die von Todorov für das Phantastische postulierte ›Identifikation‹ des abstrakten Lesers mit der handelnden Figur über das Pronomen ›Ich‹ ist hier somit von vorneherein auszuschließen. Anders sieht es wiederum mit der für die phantastische Literatur konstatierten Einnahme einer subjektiven Figurenperspektive sowie mit den von Wörtche dargelegten Perspektiven-Verwischungen aus: Auch im phantastischen Film dominiert im Allgemeinen ein fokalisiertes Erzählen, bei dem die ›Kamera‹-Perspektive eng an die Perspektive der handelnden Figur gebunden ist, und auch hier wird vielfach mit der Ungewissheit hinsichtlich der Frage, aus wessen Perspektive die Ereignisse erzählt sind, gespielt. So wird in Filmen wie Der Student von Prag, Das Cabinet des Dr. Caligari, Orlacs Hände, Vampyr, Dead of Night, The Ghost and Mrs Muir, Harvey, Le locataire, Martin, Lost Highway, Tierra und Abre los ojos im Verlauf der Handlung nach und nach die Möglichkeit ins Spiel gebracht, dass den dargestellten Ereignisse nicht, wie der Zuschauer zunächst meinen möchte, die weitestgehend objektive Perspektive der ›Kamera‹ zugrunde liegt, sondern die subjektiv verzerrte Perspektive der jeweiligen Hauptfigur. Indem sich die genannten Filmbeispiele durchweg nicht auf einen eingenommenen Betrachterstandpunkt festlegen lassen bzw. ein ›Kippspiel‹ mit verschiedenen möglichen Perspektivierungen des Geschehens betreiben, ist auch der Wahrheits- und Realitätsgehalt des Erzählten nicht eindeutig zu bestimmen – die potentiell übernatürlichen Ereignisse verbleiben in einem Schwebezustand der Ambiguität. Eine Besonderheit des filmischen Mediums besteht schließlich darin, dass der Wechsel von der Außensicht des Erzählers zu einem mindscreen als einer mentalen Selbstbetrachtung der Figur ›von außen‹ nicht durch Signale im Text angezeigt sein muss. Da der Film ohne sprachliche Überleitungsformeln wie »Ich erinnerte mich…«, »Ich träumte…«, »Vor meinen Augen entstand ein Bild …« etc. auskommt, die in literarischen Texten üblicherweise einen Wechsel zu einem mindscreen anzeigen,9 kann hier auf äußerst subtile Weise zwischen verschiedenen Perspektivierungen des Geschehens hin- und hergeschaltet werden. Dieses Diskursverfahren eines ›Kippspiels‹ mit narratorialer und figuraler Perspektive soll im Folgenden am Beispiel des Films Der Student von Prag veranschaulicht werden. _____________ 8 9

Genette 1998, S. 175. Allerdings finden sich auch in der Literatur Beispiele für unmarkierte mindscreens, so etwa Leo Perutz’ Roman Zwischen Neun und Neun (1918), in welchem sich die gesamte Handlung am Schluss als die Halluzination eines Sterbenden erweist.

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III. Der phantastische Diskurs

1.1. Das Kippspiel mit narratorialer und figuraler Perspektive. Der Student von Prag Die Möglichkeiten des Rollfilms sind völlig unbegrenzt. Erlauben Sie also einem Dichter, einmal aus den Grenzen des Wirklichen – des heute Wirklichen – hinauszutreten und sich in das Land des Phantastischen zu begeben, – des heute noch Phantastischen – das vielleicht morgen schon greifbare Wirklichkeit ist!10

Der Film Der Student von Prag (Deutschland 1913, Regie: Stellan Rye) wird in der Forschungsliteratur traditionell als phantastischer, wenn nicht als der erste phantastische Film überhaupt rezipiert, wobei sowohl das wunderbare Themen- und Motivmaterial, das sich um einen Teufelspakt, einen unerwarteten Geldsegen sowie das Erscheinen eines unheimlichen Doppelgängers zentriert, als auch die innovative, die Grenzen des real Möglichen sprengende Tricktechnik als Begründung für eine derartige Einschätzung dienen.11 Der Film, der nach einer Idee von Paul Wegener und nach einem Drehbuch von Hanns Heinz Ewers entstanden ist und der auf eine lange Tradition literarischer Doppelgängererzählungen – von Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl (1814), über E. T. A. Hoffmanns Geschichte vom verlornen Spiegelbilde aus den Abenteuern der Silvester-Nacht (1815), Edgar Allan Poes William Wilson (1839), Fjodor Dostojevskijs Dvojnik (dt.: Der Doppelgänger, 1846), bis hin zu Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1891) – zurückblickt, gilt nicht nur als der »erste deutsche Kunstfilm«,12 sondern bildet, so der allgemeine Konsens der Phantastik-Forschung, auch den Ursprung dessen, »was man das filmische Konzept des Phantastischen nennen kann.«13 _____________ 10 11

12 13

Hanns Heinz Ewers (1911): Die Wunder des Rollfilms. In: B. Z. am Mittag, Nr. 2, 03.01.1911, o. S., Hervorheb. im Original. Zit. n.: Helmut H. Diederichs (1985): Der Student von Prag. Einführung und Protokoll, hrsg. v. Robert Fischer, Stuttgart, S. 13. Vgl. hierzu Wolfgang Martynkewicz (2005): Von der Fremdheit des Ichs. Das Doppelgängermotiv in Der Student von Prag (1913). In: Jahraus/Neuhaus, S. 19–40; Kristin Thompson (2002): »Am Anfang war ...« Über einige Verbindungen zwischen deutschen fantastischen Filmen der 10er und 20er Jahre. In: Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne, hrsg. v. Thomas Elsaesser/Michael Wedel, München (Edition Text + Kritik), S. 134–154, S. 135f.; Marianne Wünsch (2000): Phantastik in der Literatur der frühen Moderne. In: Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus, 1890-1918, hrsg. v. York-Gothart Mix, München/Wien, S. 175–191, S. 177 sowie Winfried Freund (1999): ›Dämonische Leinwand.‹ Der frühe phantastische Film. In: ders.: Deutsche Phantastik. Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart, München, S. 241–249, S. 242. Diederichs 1985, S. 5. Freund 1999, S. 242.

1. Perspektive

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Auffällig an dem Film sind zunächst einmal die vielfältigen literarischen Einflüsse, die sich neben motivischen Übernahmen aus dem weiteren Bereich der romantisch-phantastischen Literatur sowie der Integration von literarischen Zitaten auch in der Adaption einer bestimmten Form des literarischen Erzählens, das im Gegensatz zu einem frühen ›Kino der Attraktionen‹14 nun ein dominant illusionsförderndes, lineares und zeitbestimmtes Erzählen ist, dokumentieren. Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung des narrativen fiktionalen Spielfilms, die um 1910 zunächst in den USA (D. W. Griffith) und in Frankreich (film d’art) eingesetzt hatte, begann man mit dem Student von Prag erstmals auch in Deutschland gezielt den Umgang mit älteren Erzähltraditionen zu erproben und auf diese Weise ein Selbstverständnis des Films als einer eigenständigen Kunstform herauszubilden. So schreibt Joachim Paech: Mit dem Film Der Student von Prag […] hat 1913 auch in Deutschland die Geschichte des künstlerisch ambitionierten Films begonnen. Es war zwar keine literarische Vorlage, deren ›Verfilmung‹ erst diesen Film zum ›Kunstfilm‹ gemacht hätte, aber doch romantisches Erzählen, das wesentlich literarisch tradiert ist und zumal in Deutschland durch eine ausgeprägte Ikonographie ergänzt wird.15

Die Annäherung an Formen des literarischen Erzählens hatte dem Film nicht nur eine ästhetische Legitimation verschafft und ihm zu seiner Anerkennung als ›Kunstfilm‹ verholfen, sondern hatte darüber hinaus auch einen Spielraum für die Entwicklung spezifisch filmischer Darstellungsmittel eröffnet. An erster Stelle sind hier die tricktechnisch virtuos inszenierten Doppelgängeraufnahmen zu nennen, die mittels einer Teilung der Bildfläche und einer anschließenden Mehrfachbelichtung des Filmmaterials entstanden und die einer Aussage Paul Wegeners zufolge erstmalig eine Möglichkeit boten, »E. Th. A. Hoffmanns Phantasien des Doppelgängers oder Spiegelbildes in Wirklichkeit zu zeigen und damit Wirkungen zu erzielen, die in keiner anderen Kunst zu erreichen wären.«16 Die für die damalige Zeit sensationellen Doppelgängertricks waren es schließlich auch, die den größten Eindruck auf das zeitgenössische Publikum gemacht hatten und die eine Attribuierung des Films als ›phantastisch‹ herausgefordert hatten: »Menschen schrieen im Parkett auf […] und wagten nicht, auf die Leinwand zu sehen, da sie dort zweimal leibhaftig dieselbe Gestalt sahen. Unmögliches war in diesem Film fotografische Wirklichkeit _____________ 14 15 16

Tom Gunning (1986): The Cinema of Attraction. Early Film, its Spectator and the AvantGarde. In: Wide Angle (Special Issue: Narrative/Nonnarrative) 8, H. 3/4, S. 63–70. Paech 1997, S. 103. Paul Wegener (1984 [1916]): Neue Kinoziele. In: Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, hrsg. v. Fritz Güttinger, Frankfurt a. M., S. 341–350, S. 347f. Wegener selbst gibt an, die Idee zu dem Film sei ihm bei der Betrachtung von sogenannten ›Scherzphotographien‹ gekommen, auf denen mittels einer Doppelbelichtung zweimal dieselbe Person abgebildet ist.

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III. Der phantastische Diskurs

geworden«,17 schreibt ein Kritiker über die Wirkung des Doppelgängereffekts bei der Uraufführung des Films am 22. August 1913 im Mozartsaal in Berlin. Neben dem wunderbaren Themen- und Motivmaterial sowie den tricktechnischen Innovationen, die allgemein als die ›phantastischen‹ Elemente des Films herausgestellt werden, wurde schließlich wiederkehrend auch der besondere Effekt betont, der durch den Dreh an Originalschauplätzen und damit einhergehend die äußerst ›realistische‹ Atmosphäre des Films entsteht. Die Außenaufnahmen im historischen Teil von Prag – im Alchimistengässchen, auf dem Hradÿin, im Palais Fürstenberg und auf dem jüdischen Friedhof – sowie in der ländlichen Umgebung der Stadt erzeugen Heide Schlüpmann zufolge eine realistische Folie, auf der die unheimlichen und übernatürlichen Elemente erst ihre besondere Wirkung entfalten können: »The film’s real charm lies in it’s opening up of reality, making us receptive to the uncanny.«18 Der hier skizzierten allgemeinen Einschätzung des Student von Prag als einem frühen Beispiel filmischer Phantastik schließt sich die vorliegende Arbeit an, wobei – und hierin liegt der entscheidende Unterschied zu den vorangegangenen Ansätzen – der Fokus jedoch nicht auf die wunderbaren Motive oder die in einem rein metaphorischen Sinne als ›phantastisch‹ zu verstehende Tricktechnik gerichtet ist, sondern auf die ambigue Erzählstruktur des Films, d. h. die im filmischen Text verankerte Unentscheidbarkeit zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Motivierung des Geschehens. Das ausschlaggebende Kriterium für eine Zuordnung des Student von Prag zum engeren Bereich des phantastischen Films bildet somit die Mehrdeutigkeit hinsichtlich der Existenz eines Übernatürlichen, die im Wesentlichen auf einem oszillativen Wechsel der Erzählperspektive zwischen einer weitestgehend objektiven (narratorialen) und einer subjektiven (figuralen) Perspektive basiert. Der Student von Prag erzählt die Geschichte des mittellosen, von der besseren Gesellschaft ausgeschlossenen Studenten Balduin, dem wie durch ein Wunder ein Geldsegen zuteil wird: Der fahrende Trickkünstler Scapinelli kauft dem Studenten sein Spiegelbild für 100 000 Goldgulden ab. Der anschließende soziale Aufstieg Balduins und seine beginnende Romanze mit der Comtesse von Schwarzenberg wird jedoch überschattet von dem wiederkehrenden, unerwarteten Auftauchen seines verkauften _____________ 17 18

Zit. n.: Peter Drexler (1994): Geheimnisvolle Welten. Der Student von Prag (1913). In: Fischer Filmgeschichte, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum etablierten Medium (1895–1924), hrsg. v. Werner Faulstich/Helmut Korte, Frankfurt a. M., S. 219–232, S. 224. Heide Schlüpmann (1986): The first German art film: Rye’s The Student of Prague (1913). In: German Film and Literature. Adaptions and Transformations, hrsg. v. Eric Rentschler, New York, S. 9–24, S. 21.

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Spiegelbildes, das nicht einfach verschwunden ist, sondern eine konkrete Gestalt angenommen hat und nun beginnt, den Studenten auf seinen Unternehmungen zu verfolgen – bald taucht es bei einer Abendgesellschaft auf dem gräflichen Schloss auf, bald bei einem nächtlichen Treffen mit der Comtesse auf dem jüdischen Friedhof von Prag. Im Verlauf der Filmhandlung wird die zunächst nur passiv in der Bildfläche verharrende Doppelgängergestalt dabei zunehmend bedrohlicher und aggressiver und beginnt, in Balduins Leben zu intervenieren: Bei einem anstehenden Duell des Studenten mit dem Vetter der Comtesse ist der Doppelgänger als erster anwesend und entgegen Balduins Versprechen an den alten Grafen, das Duell nicht zu einem tödlichen Ausgang kommen zu lassen, bringt der Doppelgänger den Gegner an Balduins Stelle um. Balduin, der sich nun nicht mehr auf dem gräflichen Schloss blicken lassen kann, sinkt zunehmend in der Gesellschaft ab und versucht sein Unglück beim Trinken und Spielen zu vergessen. Doch auch hier spürt ihn der ›Andere‹ auf und fordert ihn zu einem Kartenspiel auf Leben und Tod heraus. Balduin verliert und wird in einem rasanten Showdown durch die nächtlichen Gassen Prags gejagt – »Wie von Furien gepeitscht flieht Balduin den ihn verfolgenden Dämon«,19 doch stets ist ihm der Doppelgänger einen Schritt voraus. Als selbst die eigenen vier Wände ihm keinen Schutz mehr bieten, sieht sich Balduin schließlich gezwungen den Kampf mit seinem unheimlichen Alter ego aufzunehmen, der Pistolenschuss, den der Student in seiner Verzweiflung auf seinen Gegner abfeuert, tötet jedoch ihn selbst. Im Schlussbild sieht man, in einer Übersetzung der Schlussverse aus Alfred de Mussets Gedicht La nuit de décembre, den Doppelgänger mit zusammengekniffenen Lippen und weitaufgerissenen, starren Augen unter den herabhängenden Ästen einer Trauerweide neben einem Grabstein sitzen, auf dem die Inschrift »Hier ruht Balduin« zu lesen ist (Abb. 22).20 _____________ 19 20

Zwischentitel aus: Der Student von Prag (Deutschland 1913, Regie: Stellan Rye, vom ZDF restaurierte und vertonte Fassung, TV-Erstausstrahlung: 06.07.1975, 85 Min.), Min. 1:13:09. Der Student von Prag, Min. 1:23:12-1:23:50. Dieses Schlussbild, ebenso wie die als Zwischentitel insgesamt an drei Stellen eingeschobenen Verse aus Alfred de Mussets Gedicht La nuit de décembre, finden sich jedoch nur in der hier verwendeten ZDF-Fassung von 1975. Die insgesamt von 85 auf 41 Minuten gekürzte und nachträglich mit englischen Zwischentiteln versehene US-amerikanische DVD-Fassung The Student of Prague (2004, Alpha Video), endet dagegen mit der in der ZDF-Fassung vorletzten Sequenz des Films, in welcher Scapinelli den Vertrag über dem tot am Boden liegenden Studenten zerreißt und die Schnipsel kichernd auf ihn herabregnen lässt. Mit dieser und anderen grundlegenden Änderungen (z. B. wird Scapinelli in den englischen Zwischentiteln explizit als »Sorcerer« eingeführt, während er in der deutschen Fassung weitgehend unbestimmt als »Abenteurer« bezeichnet wird) ist die US-amerikanische Fassung des Films deutlich weniger ›phantastisch‹ als die vom ZDF restaurierte, deutsche Fassung. Sicherlich auch mit Blick auf eine internationale Vermarktung dieses Stummfilmklassikers wurde in der US-amerikanischen Version eine eindeutig wunderbare Lesart sowie ein geschlossenes Ende vorgezogen.

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III. Der phantastische Diskurs

Abb. 21: Der Student von Prag. Die erste Begegnung mit dem Doppelgänger

Abb. 22: Der Student von Prag. Schlussbild des Films

1. Perspektive

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Der Student von Prag ist nach der hier zugrunde gelegten Definition ein phantastischer Film im engeren Sinne, da die Ambiguität der Erzählung aus der Koexistenz und Konkurrenz einer übernatürlichen (wunderbaren) und einer natürlichen (rational-psychologischen) Lesart des Geschehens hervorgeht. So kann der Film einerseits als unheimliches Doppelgängermärchen gelesen werden, in welchem übernatürliche Mächte – hier personifiziert in der Figur des Trickkünstlers Scapinelli, einer hoffmannesken Gestalt mit Spitzbart und einem hohen, schwarzen Zylinder – eine Verdopplung Balduins herbeiführen und den Aufstieg sowie den anschließenden Untergang des Studenten erwirken. In diese wunderbare Lesart des Films fügen sich verschiedene unheimliche und irrationale Elemente ein, so z. B. die nach dem Modell des klassischen Teufelspaktmotivs gestaltete Vertragsunterzeichnung, das scheinbar unerschöpfliche Geldsäckel, aus dem Scapinelli seine Goldstücke auf den Tisch in Balduins Studentenbude regnen lässt, die magische Verselbständigung von Balduins Spiegelbild oder auch die düstere Prophezeiung der Zigeunerin Lyduschka, die der Comtesse das kommende Unheil voraussagt. Andererseits kann der Film ebensogut als psychologische Fallgeschichte einer fortschreitenden multiplen Persönlichkeitsstörung betrachtet werden, in welcher das verzerrte Selbstbild des Protagonisten sowie dessen manisch-depressive Veranlagung den Ausgangspunkt für eine Persönlichkeitsspaltung bilden: Balduins launisches Verhalten, seine selbstverliebten Spiegelfechtereien vor dem großen Wandspiegel in seiner Studentenbude (»Mein Gegner ist mein Spiegelbild!«)21 sowie seine parallel dazu bestehenden Minderwertigkeitskomplexe, die insbesondere im Umgang mit sozial höhergestellten Personen sichtbar werden, lassen auf eine derartige Deutung schließen. In seiner Studie Der Doppelgänger (1914) hatte bereits Otto Rank, ein enger Mitarbeiter und persönlicher Sekretär Sigmund Freuds, auf diese psychologische Deutungsmöglichkeit des Films verwiesen und in diesem Zusammenhang auch die enge Verwandtschaft des Doppelgängermotivs mit dem Narzissmythos herausgestellt.22 Wieder _____________ 21 22

Zwischentitel aus: Der Student von Prag, Min. 0:15:13. »Der Narziß steht seinem Ich ambivalent gegenüber, etwas in ihm scheint sich gegen die ausschließliche Selbstliebe zu sträuben und die Abwehrform gegen den Narzißmus äußert sich zunächst in zweierlei Weise: In Furcht und Abscheu vor dem eigenen Spiegelbild, [...] oder, wie in der Mehrzahl der Fälle, im Verlust des Schatten- respektive Spiegelbildes, der aber, wie die Verfolgungen zeigen, gar kein Verlust ist, sondern im Gegenteil eine Verstärkung, Verselbständigung, ein Übermächtigwerden, das eben wieder nur das überstarke Interesse am eigenen Ich erweist. So erklärt sich der scheinbare Widerspruch, daß der Verlust des Schatten- oder Spiegelbildes als Verfolgung durch dasselbe dargestellt werden kann [...].« Otto Rank (1980 [1914]): Der Doppelgänger. In: Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus ›Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften‹ (1912–1937), hrsg. v. Jens Malte Fischer, Tübingen, S. 104-188, S. 174f.

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III. Der phantastische Diskurs

aufgegriffen wird dieser psychologische Ansatz von Siegfried Kracauer, bei dem die wunderbare Deutungsvariante des Films allerdings völlig ausgeblendet wird und der die gesamte äußere Handlung »bloß [als] ein Trugbild« ansieht, »das die Ereignisse, die in Balduins Seele vorgehen, reflektiert.«23 Wie besonders gut am Beispiel dieser unterschiedlichen Interpretationen des Films in der Forschungsliteratur deutlich wird, ist der Film Der Student von Prag ein ambiguer und im engeren Sinne phantastischer Film, da die Präsentation des Geschehens hier in der Art einer optischen Kippfigur zwischen den Möglichkeiten einer ›objektiven‹ Präsentation aus der Sicht des fiktiven Erzählers (wunderbare Deutungsvariante) und einer subjektiv gefärbten bzw. verzerrten Präsentation aus der Sicht der Hauptfigur (rational-psychologische Deutungsvariante) oszilliert. Beide Deutungsvarianten ergeben Sinn und sind am Text belegbar, schließen einander jedoch grundsätzlich aus. Das narrative Verfahren, dessen sich Der Student von Prag dabei bedient, ist ein (zunächst) scheinbar nonfokalisiertes Erzählen, das dem Filmzuschauer suggeriert, die Ereignisse würden ihm von der ›objektiven‹, neutral-registrierenden extradiegetischen Instanz der ›Kamera‹ präsentiert. Im Verlauf der Filmhandlung kommen jedoch zunehmend Zweifel darüber auf, ob das dargestellte Geschehen nicht möglicherweise die subjektive Innenwahrnehmung der Hauptfigur, des Studenten Balduin, wiedergibt und somit als sogenannter mindscreen bzw. als subjektive Projektion aufzulösen ist. Eine Schlüsselszene bildet in diesem Zusammenhang die Szene, in der der unheimliche Doppelgänger Balduin zum ersten Mal erscheint: Während einer Abendgesellschaft auf dem gräflichen Schloss treten Balduin und die Comtesse aus dem Tanzsaal in die Säulengalerie hinaus, wo Balduin der Comtesse seine Liebe gesteht. Die Comtesse wird jedoch schon bald von ihrem hinzutretenden Vetter in die Gesellschaft zurückgeführt und Balduin bleibt allein zurück. Gedankenverloren und Selbstgespräche führend wandert er durch die Säulengalerie, da nimmt er plötzlich eine Gestalt wahr, die ihm bis aufs Haar gleicht und die ihn auf der steinernen Brüstung sitzend stumm anstarrt (Abb. 21). Balduin erschrickt und kann sich die Erscheinung nicht erklären: »Wache ich – träume ich – Wer bist du –?«, geben die Zwischentitel seine Gedanken wieder.24 Kurz darauf löst sich der Doppelgänger mittels eines Überblendungstricks langsam in Luft auf, Balduin streckt noch die Hände nach der Gestalt aus, greift jedoch ins Leere. Der Student reibt sich die Augen, hat selbst Zweifel an dem, was er da soeben gesehen hat – und ver_____________ 23 24

Kracauer 1979, S. 37. Zwischentitel aus: Der Student von Prag, Min. 0:36:26–0:36:33.

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schweigt das Erlebnis gegenüber einigen Bekannten, die sich ihm im fröhlichen Gespräch nähern, dann auch lieber. Ähnlich wie in literarischen Texten der Phantastik wird auch in dieser Schlüsselszene aus dem Student von Prag mittels Techniken der Modalisation eine Situation der Wahrnehmungsunsicherheit geschaffen: Über Mimik und Gestik (z. B. die weitaufgerissenen Augen des Protagonisten, das An-den-Kopf-Greifen, das ungläubige Reiben der Augen etc.) sowie das mittels einer speziellen Kameratechnik inszenierte, langsame Fade-out der Doppelgängergestalt wird hier der Eindruck einer subjektiv verzerrten Wahrnehmung vermittelt. Bereits mit dem ersten Erscheinen des Doppelgängers (sieht man von der stärker wunderbar gefärbten Szene der Entwendung des Spiegelbildes durch Scapinelli ab) findet somit eine konsequente Verwischung der Grenzen zwischen Wach- und Traumzustand, zwischen Normalität und Wahnsinn statt, wodurch beim Filmzuschauer schließlich der Verdacht aufkommt, das ganze Geschehen spiele sich lediglich ›im Kopf‹ der offensichtlich einsamen, psychisch labilen Hauptfigur ab. Zu dieser Möglichkeit einer rational-psychologischen Lesart des Films tragen schließlich auch die insgesamt an drei Stellen – am Beginn, am Ende sowie nach der Friedhofsszene – in die Filmhandlung eingeschobenen Verse aus Alfred de Mussets melancholischem Doppelgängergedicht La nuit de décembre (1835) bei, in welchem sich der ›fremde Bruder‹ des lyrischen Ichs als die personifizierte Einsamkeit zu erkennen gibt: »Ami, je suis la solitude«, heißt es so am Schluss des OriginalGedichts.25 In dem Film Der Student von Prag wird in einer deutschsprachigen Übersetzung allerdings nur die erste Strophe des insgesamt zweistrophigen Gedichts von Musset zitiert – womit eine psychologische Deutung des Dopelgängers als Ergebnis einer multiplen Persönlichkeitsstörung, bzw. eine stärker allegorisierende Deutung desselben als Personifikation der Einsamkeit, zwar möglich gemacht wird, dieser Lesart im Film jedoch kein präferierter Status zukommt.

_____________ 25

Alfred de Musset (1960 [1835]): La nuit de décembre. In: ders.: Poésies Nouvelles. Dichtungen. Französisch mit deutscher Übertragung von Friedrich Schäfer, Heidelberg, S. 72–85.

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III. Der phantastische Diskurs

1.2. ›Falsche‹ Point-of-View-Shots. Vampyr Imagine that we are sitting in an ordinary room. Suddenly we are told that there is a corpse behind the door. In an instant the room we are sitting in is completely altered; everything in it has taken on another look; the light, the atmosphere have changed, though they are physically the same. This is because we have changed, and the objects are as we conceive them. That is the effect I want to get in my film.26

Der Film Vampyr. Der Traum des Allan Gray (Frankreich/Deutschland 1932) des dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer, dessen Drehbuch frei nach Erzählungen aus der Sammlung In a Glass Darkly27 von Joseph Sheridan Le Fanu entstanden ist, gehört sicherlich zu den befremdlichsten und am schwersten zugänglichen phantastischen Filmen, die in dieser Arbeit untersucht werden. Der Hauptgrund für diese Uneingängigkeit ist in der unkonventionellen Erzähltechnik zu suchen, die konsequent mit den Regeln des classical storytelling bricht, indem sie an die Stelle der Entfaltung einer stringenten Handlungsdramaturgie eine stärker assoziativ-traumhafte Verknüpfung der Ereignisse setzt und mittels unorthodoxer Schnitt- und Montageverfahren sowohl eine Ungewissheit bezüglich der räumlichen und kausalen Relationen zwischen den einzelnen Szenen als auch bezüglich des von der ›Kamera‹ eingenommenen Point-of-View erzeugt. Ähnlich wie der Film Der Student von Prag erschafft auch Vampyr auf diese Weise eine halbreale Zwischenwelt, die weder als fiktive Realität noch als subjektive Traumwelt des Protagonisten eindeutig auflösbar ist und die permanent zwischen der Wahrnehmungsmöglichkeit als ›objektive‹ Realität und als subjektive Imagination oszilliert. »Es wird nie klar«, schreibt Marcus Stiglegger, »inwieweit wir hier Grays subjektives Erleben vorgeführt bekommen, oder ganz objektiv seine Reise durch eine Welt der ›grauen Menschen der Ungewißheit‹ [...] bezeugt wird.«28 Einen ähnlichen _____________ 26 27

28

Carl Theodor Dreyer in einem Gespräch über Vampyr. Zit. n.: Ebbe Neergaard (1950): Carl Dreyer. A Film Director’s Work, London, S. 27. Hervorheb. im Original. Der Titel von Le Fanus Erzählsammlung, auf den auch im Vorspann von Vampyr Bezug genommen wird, geht auf den vielzitierten Bibelspruch »For now we see through a glass, darkly« (1. Korinther 13, Vers 12) zurück und liefert damit bereits einen ersten Hinweis auf die Thematik des Sehens und des Blicks sowie auf die eingeschränkten, subjektiven Perspektiven, mit denen der Film Vampyr operiert. Marcus Stiggleger (2006): Ein Traum in einem Traum. Carl Theodor Dreyers Vampyr – Der Traum des Allan Gray (1932). In: Der Vampirfilm. Klassiker des Genres in Einzelinterpretationen, hrsg. v. Stefan Keppler/Michael Will, Würzburg, S. 73–84, S. 74.

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Interpretationsansatz vertritt auch der Filmkritiker Tony Rayns, wenn er seiner Analyse von Vampyr folgende Schlüsselfrage voranstellt: »Are all these things projections of his [Allan Grays] fantasy or are these things really happening? In other words: Whose consciousness is in play here?«29 Die Frage, aus wessen Perspektive wir die Ereignisse als Filmzuschauer vermittelt bekommen, wird den gesamten Film hindurch nicht aufgelöst, stattdessen operiert der Film durchgehend mit einem doppelten Bedeutungskontext, innerhalb dessen Wachende zugleich als Träumende, Menschen zugleich als Schatten und Lebende zugleich als Tote erscheinen. Dies ist das Phantasie-Erlebnis des jungen Allan Gray, der sich in die Studien des Teufelskultus und Vampyr-Aberglaubens versenkte. Die Beschäftigung mit den Wahnideen vergangener Jahrhunderte machte ihn zu einem Träumer und Phantasten, dem die Grenze zwischen Wirklichkeit und Übernatürlichem verlorenging...30

Mit diesem Worten, die in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund erscheinen, auf welchem langsam ein semitransparentes Spinnennetz eingeblendet wird, beginnt der Film Vampyr. Das Spinnennetz als ein Symbol der Verstrickung und des Gefangenseins ergänzt dabei den schriftlichen Hinweis darauf, dass man es bei der Hauptfigur Allan Gray mit einem »Träumer und Phantasten« zu tun hat, dem die Fähigkeit, zwischen Realität und Illusion unterscheiden zu können, abhanden gekommen ist und der sich als ein Grenzgänger zwischen der von physikalischen Gesetzesmäßigkeiten beherrschten Welt und einer von dunklen, übernatürlichen Kräften durchdrungenen Welt bewegt. Bereits der Name ›Gray‹, der Assoziationen an das englische Wort ›grey‹ weckt, liefert ein Indiz auf das Wesen des Protagonisten als einer Grenz- oder Schwellenfigur. Fortgeführt wird diese Metaphorik in der Ausleuchtung und Farbgebung der einzelnen Szenen, welche größtenteils in ein diffuses, milchiges Licht getaucht sind und in denen die Figuren und Objekte somit ›Grau in Grau‹ erscheinen. Das Verlorensein des Protagonisten zwischen zwei Welten spiegelt sich schließlich insbesondere in der ambiguen Erzählstruktur des Films wider, die eine klare Grenzziehung zwischen Realität und Traum bzw. Phantasie verweigert und die auch über die explizite Markierung der Ereignisse als »Traum« im Untertitel31 sowie als »Phantasie-Erlebnis« in dem hier zitierten Zwischentitel nicht eindeutig auflösbar ist – zum einen, da gleich mehrere _____________ 29 30 31

Tony Rayns (2008): Commentary. Audiokommentar zu Carl Theodor Dreyers Vampyr (DVD-Fassung Eureka 2008), Min. 0:08:36–0:08:46. Zwischentitel aus: Vampyr. Der Traum des Allan Gray (Frankreich/Deutschland 1932, Regie: Carl Theodor Dreyer, DVD-Fassung Eureka 2008), Min. 0:02:20. Der deutsche Untertitel Der Traum des Allan Gray ist hier allerdings wesentlich expliziter als die zur gleichen Zeit entstandenen französischen und englischen Untertitel, in denen statt vom ›Traum‹ vom ›seltsamen Abenteuer‹ (»l’étrange aventure« bzw. »the strange adventure«) des Protagonisten die Rede ist.

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III. Der phantastische Diskurs

›Träume‹ des Protagonisten ineinandergeschachtelt sind, zum anderen, da die Übergänge zwischen den verschiedenen Bewusstseinszuständen, insbesondere, was den ersten ›Traum‹ der Begegnung Grays mit dem Schlossherrn betrifft, nicht immer klar als solche identifizierbar sind. »Le ›rêveur suprême‹«, so Jacques Aumont, »n’est pas plus une personne que ne le sont la narration, le récit, le film.«32 Es gibt in Vampyr keine Figur, die das Geschehen träumt, ebensowenig, wie der gesamte Film als Traum interpretiert werden kann. Vielmehr ist die Narration so strukturiert, dass der Filmzuschauer selbst zu einem (Wach-)Träumenden wird, der sich in der ambiguen Zone zwischen Realität und Irrealität verliert. Der Film Vampyr erzählt die Geschichte Allan Grays, der auf einer seiner ziellosen Wanderungen in das kleine französische Dörfchen Courtempierre gelangt. Er mietet sich in einem Gasthof ein, wo er nachts eine merkwürdige Begegnung macht: Ein älterer Herr dringt in sein verschlossenes Schlafzimmer ein, teilt ihm eindringlich mit »Sie darf nicht sterben!« und hinterlässt ihm ein kleines Päckchen mit der Aufschrift »Zu öffnen nach meinem Tode«.33 Gray, dem eine innere Stimme gebietet, diesem Ruf einer »Menschenseele in Todesnot«34 zu folgen, macht sich auf den Weg und wandert traumverloren durch die helle Mondnacht. Er gelangt zu einer verfallenen Mühle, wo er verschiedene schattenhafte Gestalten beobachtet und auf den Dorfarzt von Courtempierre trifft, der sich hier offenbar eine Zufluchtsstätte eingerichtet hat. Er wandert weiter durch einen Park und gelangt schließlich zu einem einsamen Château, auf dem, wie er später erfährt, der Herr, der ihm zuvor im Gasthof erschienen war, mit seinen beiden Töchtern lebt. Eine Einstellung auf das Innere des Châteaus zeigt, dass eine der beiden Töchter, Léone, an einer seltsamen Krankheit leidet: Das Mädchen ist bettlägerig und wird von einer Nonne gepflegt. Während Gray neugierig von Außen durch die verbleiten, gotischen Fenster in die Räume des Châteaus blickt, hört er plötzlich einen Schuss – eine der Schattengestalten von der alten Mühle hat den Schlossherrn angeschossen. Von einem alten Diener erhält Gray Einlass ins Château, dem schwer Verwundeten ist jedoch nicht mehr zu helfen und er stirbt kurze Zeit später. Gray macht die Bekanntschaft von Gisèle, der anderen Tochter des Schlossherrn, und gemeinsam warten die beiden im Salon auf die Ankunft der Polizei. Gray kommt nun endlich dazu, das Päckchen, das ihm der Verstorbene hinterlassen hat, zu öffnen und findet ein Buch mit dem Titel »Die seltsame Geschichte der Vampyre« vor. Er _____________ 32 33 34

Jacques Aumont (1993): Vampyr de Carl Th. Dreyer, Crisnée (Editions Yellow Now, Long métrage 17), S. 27. (»Der ›übergeordnete Träumer‹ ist nicht mehr eine Person, als es die Narration, die Erzählung, der Film sind.« Übers. d. Verf.) Vampyr, Min. 0:06:55–0:09:49. Ebd., Min. 0:10:15.

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beginnt zu lesen und vertieft sich immer mehr in die Berichte über Untote, die in hellen Vollmondnächten ihren Gräbern entsteigen, um Kindern und jungen Menschen das Blut auszusaugen, und die sich angeblich lebende Menschen sowie die Schatten hingerichteter Verbrecher zu ihren Gehilfen machen. Während Gray noch in seine Lektüre vertieft ist, verschwindet unterdessen die kranke Léone aus ihrem Schlafzimmer und wandert im Nachthemd durch den Park, wo sie erneut Opfer der alten Vampirin wird, die sie vermutlich bereits seit Längerem in ihrer Gewalt hat. Die ohnmächtige Léone wird zurück ins Schloss getragen und der bald darauf eintreffende Dorfarzt diagnostiziert, dass dem Mädchen aufgrund seines verschlechterten Zustandes nur noch eine Bluttransfusion helfen kann. Allan bietet sich als Spender an, verfällt im Anschluss an die Blutabnahme jedoch in eine Art Delirium, in welchem er eine Skeletthand, die ein Giftfläschchen hält, halluziniert. Er wird von dem alten Diener wachgerüttelt und gemeinsam können sie in letzter Sekunde den Selbstmord Léones, den Gray im Traum vorausgesehen hatte, verhindern. Der Dorfarzt, so können sich die beiden nun zusammenreimen, agiert als Komplize der Vampirin, er war es, der der Kranken ein Giftfläschchen in die Hände gespielt hat, um durch einen Selbstmord ihre Seele für immer der Finsternis zu überantworten. Als sich der Arzt entlarvt sieht, flieht er aus dem Château und entführt auf seiner Flucht Gisèle. Der immer noch geschwächte Gray verfolgt die beiden, verliert in dem weiten Park jedoch ihre Spur und döst auf einer Parkbank ein. Während er langsam in den Traum hinübergleitet, löst sich sein träumendes Ich von seinem ›realen‹, schlafenden Ich ab (was filmisch mittels eines Überblendungstricks realisiert wird) und nimmt die Suche nach dem Arzt und Gisèle wieder auf. Grays semitransparentes Traum-Ich gelangt zu einer kleinen Kapelle, wo er zu seinem Schrecken sich selbst als Toten mit weit geöffneten Augen in einem Sarg erkennt und kurz darauf die gefesselte Gisèle in einer Nebenkammer findet. Als sich der Dorfarzt und sein einbeiniger Gehilfe, den Gray zuvor bereits als eine der Schattengestalten in der Mühle gesehen hatte, der Kapelle nähern, versteckt sich Grays Traum-Ich unter einer Bodenklappe und der subjektive Point-of-View des Träumenden wechselt nun über in den subjektiven Point-of-View des Toten: Mit seinen weitaufgerissenen, erstarrten Augen ›sieht‹ Grays drittes, totes Ich, wie sein Sarg von Außen verschraubt wird, durch eine verglaste Öffnung am Kopfende des Sarges nimmt er die Gesichter des Einbeinigen und der alte Vampirin wahr, die sich über den Sarg beugen und sieht, wie das Wachs einer Kerze, die auf der Verglasung abgestellt wird, langsam auf das Glas hinabtropft. Anschließend wohnt der Tote seinem eigenen Leichenzug bei – Wolken, Baumkronen und der Turm der kleinen Kapelle schieben sich in sein Blickfeld, während im Hintergrund Glockenläuten zu hören ist.

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III. Der phantastische Diskurs

Schließlich löst sich der gespenstische Totenzug plötzlich in Nichts auf und im selben Moment wacht der ›reale‹ Gray auf der Parkbank wieder auf. Er macht sich auf den Weg zum Friedhof, wo er den alten Diener aus dem Château damit beschäftigt findet, eine Gruft zu öffnen, in welcher die Vampirin, die man inzwischen als die einst ortsansässige Marguerite Chopin identifiziert hat, begraben liegt. Gray hilft ihm und gemeinsam pfählen sie die Untote. Im selben Moment fällt der Fluch von Léone ab, das Mädchen richtet sich in ihrem Bett auf und sagt: »Ich fühle mich stark. Meine Seele ist frei.«35 Im Anschluss an die Vernichtung der Vampirin zieht ein gewaltiger Sturm herauf. Vor den Fenstern der verfallenen Mühle, in die sich der Dorfarzt und sein einbeiniger Gehilfe zurückgezogen haben, erscheint im Blitzlicht plötzlich überdimensional groß das anklagende Gesicht des toten Schlossherrn. Der Einbeinige stirbt bei einem rätselhaften Unfall auf der Treppe und der Dorfarzt flüchtet sich in das Mühlwerk, wo er durch Zufall in einer kleinen Kammer eingeschlossen wird. Wie von Geisterhand setzt sich mit einem Mal das Räderwerk der Mühle ins Getriebe und es beginnt, tonnenweise Mehlstaub auf den Arzt herabzuregnen. Während der Dorfarzt langsam in einem weißen Mehlberg erstickt, gelingt es Gray unterdessen, die gefangene Gisèle, die er zuvor in seinem Traum in der Kapelle gesehen hatte, zu befreien. Das Paar flüchtet sich in einen kleinen Kahn und treibt im frühen Morgennebel ziellos auf dem breiten Fluss umher, der das Dörfchen Courtempierre passiert. Mit Anbruch des Morgens gelangen sie an ein Ufer und betreten einen sonnendurchfluteten Park. In diesem Augenblick stehen die Zahnräder der Mühle still. Die wohl herausragendste narrative Besonderheit von Vampyr ist die Gestaltung der ambiguen Erzählperspektiven, die im Regelfall weder als ›objektiver‹ Point-of-View der ›Kamera‹ noch als subjektiver Point-ofView der Hauptfigur eindeutig zu bestimmen sind. So scheint der Pointof-View zunächst weitgehend an die Hauptfigur Allan Gray gebunden und dessen eingeschränkte Sicht auf das Geschehen wiederzugeben – immer wieder ist der Blick der ›Kamera‹ durch Dunkelheit, Nebel, Fenster mit halbdurchsichtigen Milchglasscheiben, Vergitterungen, Jalousien oder sonstige optische Hindernisse getrübt. Jacques Aumont charakterisiert diese begrenzte Perspektive folgendermaßen: Le héros voit mal. Sans cesse un brouillard, des épaisseurs d’air, ou plus prosaïquement des vitres embuées ou translucides, s’interposent entre son œil et ce qu’il regarde. [...] Même les vitres transparentes sont grillées, et lorsqu’il n’y a ni brume

_____________ 35

Vampyr, Min. 01:02:38–01:02:57.

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ni grillage, les apparitions sont rapides, les points de vue, incomplets ou incompréhensibles. La vision, toujours, est empêchée ou bloquée.36

Die infolge des Blicks durch verschiedene Hindernisse entstehende begrenzte Perspektive, die wiederkehrende Markiertheit der Erzählperspektive als subjektiver Point-of-View sowie die nahezu ausschließliche Zentrierung der Narration um die Hauptfigur Allan Gray tragen insgesamt zu der Annahme bei, dass das dargestellte Geschehen in erster Linie intern fokalisiert ist, d. h. dass es die subjektive Sicht der Hauptfigur wiedergibt. Diese Annahme stellt sich im Verlauf der Erzählung jedoch als Trugschluss heraus: So erweisen sich die vermeintlich subjektiven Point-ofView-Shots wiederkehrend als ›falsch‹ konstruiert und es werden Szenen gezeigt, in denen die Figur das als subjektiven Point-of-View markierte Geschehen aus ihrem Blickwinkel optisch überhaupt nicht wahrnehmen kann. Ein Beispiel hierfür bietet gleich zu Beginn des Films die Szene der Ankunft Allan Grays im Gasthof von Courtempierre: In Form einer klassischen Point-of-View-Sequenz sieht man hier zunächst die Figur Grays durch ein Fenster in die Küche des Gasthofs und anschließend hinauf zum Dach des Gebäudes blicken. In der darauffolgenden Einstellung schweift der Kamerablick über die Dächer, was aufgrund der vorhergegangenen Einstellung zwangsläufig als der subjektive Blick Grays interpretiert wird. Unvermittelt schwenkt die ›Kamera‹, d. h. Grays vermeintlich ›subjektiver‹ Blick, daraufhin jedoch vom Dach die Hauswand hinunter, ein Fenster gelangt ins Bild und aus dem Off-Space betritt Gray selbst die Szene und nähert sich der Fensterscheibe (Abb. 23–30).37 Die Inszenierung derartiger ›falscher‹ Point-of-View-Shots, bei denen die blickende Figur plötzlich selbst in der Einstellung und damit paradoxerweise in ihrem eigenen Blickfeld erscheint, sowie von Point-of-ViewShots, bei denen eine subjektive Wahrnehmung des Geschehens vom optischen Betrachterstandpunkt der Figur überhaupt nicht möglich ist, sind ein wiederkehrender narrativer Trick von Vampyr. Ein Beispiel hierfür bietet auch die Szene des ersten Erscheinens des Dorfarztes im oberen Stockwerk der alten Mühle: Der Blick auf den Arzt, der langsam eine enge, gewundene Treppe hinabsteigt, wird vom Zuschauer zunächst als der subjektive Blick Allan Grays interpretiert, wobei sich kurz darauf jedoch herausstellt, dass dieser von seinem Beobachterstandpunkt den _____________ 36

37

Aumont 1993, S. 19. (»Der Held sieht schlecht. Unaufhörlich legen sich ein Nebel, eine Dicke der Luft oder, etwas prosaischer, beschlagene oder lichtdurchlässige Scheiben zwischen sein Auge und das, was er betrachtet. [...] Sogar die transparenten Fensterscheiben sind vergittert und wenn es weder Nebel gibt noch Maschendraht, sind die Erscheinungen flüchtig, die Perspektiven unvollständig oder unverständlich. Die Sicht ist immer verhindert oder blockiert.« Übers. d. Verf.) Vampyr, Min. 0:03:07–0:03:30.

170

III. Der phantastische Diskurs

Arzt überhaupt nicht gesehen haben kann.38 Ein weiteres Beispiel bietet die Szene, in der Gray und Gisèle beobachten, wie die ohnmächtige Léone von der Nonne und dem alten Diener durch die Räume des Châteaus getragen wird und in welcher sich der scheinbar subjektive Point-of-View wiederum als ›falsch‹ herausstellt, insofern die beiden Beobachter der Szene unvermittelt in ihr eigenes Blickfeld geraten.39 Durch derartig unkonventionelle Montageverfahren findet zum einen eine Destabilisierung des diegetischen Raums der Erzählung statt: Die Konstruktion scheinbar ›falscher‹ und unmöglicher Perspektiven lässt den Raum der fiktiven Welt als heterogen und unüberschaubar erscheinen und trägt insgesamt zum Eindruck der räumlichen Verlorenheit und Desorientiertheit des Protagonisten bei. Zum anderen werfen die ›falschen‹ Pointof-View-Shots jedoch auch die Frage auf, wer – wenn nicht die sichtbaren Figuren in der fiktiven Welt der Erzählung – das Geschehen von einem versteckten Beobachterposten aus observiert, d. h. wessen subjektiver Blick es ist, der dem Zuschauer hier präsentiert wird. In seinem Aufsatz ›Vampyr‹ and the Fantastic gelangt Mark Nash zu der Hypothese, dass sich in diesen Szenen ein extra- und heterodiegetischer Erzähler in den narrativen Diskurs einschreibt, der die Ereignisse aus der Distanz kommentiert.40 Diese Hypothese, mit der Nash offenbar beabsichtigt, eine gewisse Modernität für das Phantastische zu reklamieren, indem er in den ›falschen‹ Point-of-View-Shots eine illusionsstörende und selbstreflexive Tendenz zu erkennen glaubt, erscheint jedoch grundsätzlich fragwürdig: Das Phantastische nimmt, wie auch Todorov, Wörtche und Durst gezeigt haben, von derartigen distanzierenden Verfahren generell Abstand – auktoriale Markierungen des Erzählten, die einen unpersönlichen, ubiquitären und ›allwissenden‹ Erzähler voraussetzen, kennt das Phantastische grundsätzlich nicht. Zudem gibt Nashs Aufsatz keine Antwort auf die Frage, welche Funktionen derartigen Erzählerkommentaren in dem genannten Kontext zukommen könnten, d. h. was die Intention einer Adressierung des fiktiven Zuschauers sein könnte und was diese über die erzählte Welt auszusagen bestrebt wäre. Mit Blick auf die tendenziell wunderbare Thematik des Films erscheint es insgesamt somit als wesentlich naheliegender, die ›falschen‹ Point-ofView-Shots, die auf keine der sichtbaren Figuren aus ›Fleisch und Blut‹ in der Erzählung zu beziehen sind, hier als Andeutungen der Präsenz eines ›Übernatürlichen‹ zu lesen, d. h. als subtile Hinweise auf die Existenz unsichtbarer, möglicherweise übernatürlicher Beobachter (Geister, Untoter, _____________ 38 39 40

Vampyr, Min. 0:16:03–0:16:54. Ebd., Min. 0:32:45–0:33:15. Nash 1976, S. 35.

1. Perspektive

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Vampire o. ä.), die das Geschehen aus dem Raum des Off-Screen observieren. So schreibt auch Philippe Parrain die entpersonalisierten, subjektiven Blicke in Vampyr nicht einem extradiegetischen Erzähler zu, sondern unsichtbaren Phantomen, deren Existenz innerhalb der Diegese jedoch nicht nachweisbar, sondern nur spürbar ist: [L]es fantômes ne sont pas sur l’écran; [...] ils se glissent, invisibles et indécelables, entre les personnages et les objets; et, surtout, c’est leur point de vue qui est imposé au spectateur par l’intermédiaire de la caméra.41

Durch die Einbeziehung des Off-Screen-Raums in das auf der Leinwand sichtbare Geschehen sowie die gleichzeitige Ungewissheit bezüglich dessen, was sich in diesem Off-Screen-Raum verbirgt, werden die erzählten Ereignisse unvermittelt in ein anderes Licht gerückt: Die gesamte Atmosphäre der Szenerie verändert sich, indem die Möglichkeit der Existenz eines unsichtbaren, möglicherweise übernatürlichen Beobachters suggeriert wird. Genau dieser Effekt einer Veränderung und imaginativen Erwieterung des Blickfeldes ist es dabei, den der Regisseur Dreyer nach eigener Aussage mit seinem Film Vampyr angestrebt hat.42 Schließlich gibt auch der Film selbst explizite Hinweise darauf, dass ein Austausch von Blicken bzw. ein wechselseitiges Beobachten und Beobachtet-Werden sich hier nicht, wie in konventionellen Erzählungen, lediglich zwischen lebenden Subjekten aus Fleisch und Blut abspielt, sondern dass ebenso auch tote Materie, wie z. B. ein Totenschädel oder die toten Augen einer Leiche, zum Träger von Blickstrukturen werden kann. So enthält der Film zu Beginn eine Szene, in der die alte Vampirin Marguerite Chopin dem Dorfarzt ein Giftfläschchen überreicht, wobei die Konstruktion der Point-of-View-Sequenz hier suggeriert, dass das Geschehen von einem sich im Raum befindlichen Totenschädel ›beobachtet‹ wird. Ein ähnliches Verfahren wird in der Szene angewendet, in welcher der offenbar träumende Protagonist sich zunächst selbst als Leiche in einem Sarg findet und anschließend das Geschehen als Toter aus dem Sarg heraus ›beobachtet‹. Im Wechsel mit Einstellungen, die den toten Gray in seinem Sarg zeigen, sind in diese Szene subjektive Point-of-View-Shots hineinmontiert, die den Blick Grays aus dem Sarg heraus wiedergeben sowie eine längere Kamerafahrt, die den Zug zum Friedhof aus dessen Perspektive zeigt (Abb. 31–36). Dieses unheimliche Verfahren der Inszenierung des Point-of-View eines Toten, das in der Literatur unter anderem von _____________ 41

42

Philippe Parrain (1967): Dreyer, cadres et mouvements, Paris (Études cinématographiques 53–56), S. 66. (»Die Phantome sind nicht auf der Leinwand; [...] sie gleiten unsichtbar und nicht nachweisbar zwischen den Figuren und den Objekten hindurch; und insbesondere ist es ihr Point-of-View, der dem Zuschauer vermittelt durch die Kamera auferlegt wird.« Übers. d. Verf.) Vgl. hierzu das Eingangszitat des vorliegenden Kapitels.

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III. Der phantastische Diskurs

Abb. 23–30: Vampyr. Szene der Ankunft Grays im Gasthof von Courtempierre

1. Perspektive

Abb. 31–36: Vampyr. Szene in der Kapelle und Weg zum Friedhof

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174

III. Der phantastische Diskurs

William Faulkner in seinem Roman As I Lay Dying (1930) sowie in jüngerer Zeit von Alice Sebold in ihrem Roman The Lovely Bones (2002) adaptiert wurde,43 hat in der Rezeption des Films vielfach die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So hat unter anderem Roland Barthes den ›falschen‹ Point-of-View des Toten in Vampyr als modernistisches Verfahren eines unmöglichen Erzählens identifiziert, das eine Verweigerung der Repräsentativität des Erzählten bis an die äußerste Grenze treibt: Dans Vampyr de Dreyer [...] la caméra se promène de la maison au cimetière et capte ce que voit le mort: tel est le point limite où la représentation est déjouée: le spectateur ne peut plus occuper aucune place, car il ne peut identifier son œil aux yeux fermés [sic!] du mort; le tableau est sans départ, sans appui, c’est une béance.44

Sicherlich ist Barthes und anderen Filmtheoretikern Recht zu geben, wenn sie dem in Vampyr angewendeten Kunstgriff, eine Geschichte aus der unmöglichen Perspektive eines Toten zu erzählen, einen modernistischen, tendenziell selbstbezüglichen Charakter zuschreiben.45 Dabei sollte jedoch auch die Tatsache nicht in den Hintergrund gedrängt werden, dass es sich hier in erster Instanz um ein erzählerisches Verfahren handelt, dass einen Diskurs über das Unheimliche und Irreale eröffnet, ohne dass sich der Text dabei präzise auf einen Standpunkt festzulegen genötigt sieht. Die ›falschen‹ Point-of-View-Shots, die in Vampyr mittels einer äußerst durchdachten, unkonventionellen Kameraführung und Montagetechnik realisiert werden, ermöglichen es zuallererst, existenzielle Fragen nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele sowie nach der Possibilität einer jenseitigen Welt aufzuwerfen, ohne dass dieses ›Andere‹ dabei jedoch konkret greifbar und benennbar ist. Um noch einmal Jacques Aumont zu zitieren: Les cadrages aberrants, les mouvements immotivés, les obstacles visuels, les fauxraccords, sont alors autant de formes explicites de la présence de l’irréel, ou plus exactement, de la rencontre du réel et de l’irréel. Il s’agit de mettre deux mondes

_____________ 43 44

45

Auch im Film wurde dieses Verfahren aufgegriffen. Vgl. hierzu Stigglegger 2006, S. 82. Roland Barthes (1978): Diderot, Brecht, Eisenstein. In: Cinéma. Théorie, lectures, hrsg. v. Dominique Noguez, 2. überarb. und akt. Aufl., Paris [Erstveröffentlichung in: Reuve d’Esthétique 26, 1973], S. 185–191, S. 191. Hervorheb. im Original. (»In Dreyers Vampyr wandert die Kamera vom Haus zum Friedhof und hält fest, was der Tote sieht. Dies ist der äußerste Grenzpunkt einer Vereitelung der Repräsentation: Der Betrachter kann keinen Standpunkt mehr einnehmen, da sein Auge sich nicht mit den geschlossenen [sic!] Augen des Toten identifizieren kann; die Szene hat keinen Ausgangspunkt, keine Stütze, sie klafft offen.« Übers. d. Verf.) Vgl. hierzu auch Michael Grant (2003): The ›Real‹ and the Abominations of Hell. CarlTheodor Dreyer’s Vampyr (1931) and Lucio Fulci’s E tu vivrai nel terrore – L'aldilà (The Beyond, 1981). In: Kinoeye. New Perspectives on Film 3, H. 2,3 [Online unter: http://www. kinoeye. org/03/02/grant02.php, letzter Zugriff: 15.07.2010].

1. Perspektive

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en rapport, mais d’un point de vue indécidable, qui n’appartienne jamais franchement à l’un ni à l’autre de ces deux mondes.46

Das Spiel mit scheinbar ›falsch‹ konstruierten, subjektiven Point-of-ViewShots, das den Film Vampyr über weite Strecken rätselhaft und ambigue macht, kann somit insgesamt als ein phantastisches Verfahren par exemple gelten und findet sich in vielen Filmen, die dem engeren Bereich des Phantastischen zugerechnet werden können, wieder. Ein Beispiel hierfür bietet auch der Film ǞǿǭǸǷDzǽ (dt. Stalker, UdSSR 1979, Regie: Andrej Tarkowskij), in welchem in einer Schlüsselszene ein subjektiver Blick durch ein Hindernis inszeniert wird, der keiner der Figuren in der Erzählung zugeordnet werden kann und der somit die Anwesenheit eines versteckten, möglicherweise auch übernatürlichen Beobachters suggeriert. So gibt es hier eine Szene, in der die drei Hauptfiguren auf ihrem Weg durch die ›Zone‹ – einem von der Außenwelt abgeriegelten, angeblich durch Außerirdische ›verseuchten‹ Sperrgebiet – von einer Stimme aus dem Off mit den Worten »Halt, keine Bewegung!« gestoppt werden. Während die drei Männer noch darüber rätseln, wessen Stimme es war, die sie in dieser menschenverlassenen Einöde vernommen haben, zoomt die Kamera von der Gruppe zurück und nimmt einen Beobachterposten in einem verfallenen Bunker ein, von welchem aus einen der Männer, der der Gruppe vorausgegangen war, durch eine Maueröffnung fokussiert (Abb. 37). Der Blick durch ein Hindernis in Verbindung mit der nichtidentifizierbaren Voice-over-Stimme suggeriert hier einen oder mehrere unsichtbare Beobachter (möglicherweise eine Militärpatrouille, möglicherweise aber auch die im Verlauf der Erzählung immer wieder ins Spiel gebrachten Außerirdischen), ohne dass dieser Verdacht gänzlich bestätigt werden kann. Im Verlauf der Erzählung wird nicht aufgelöst, ob die Figuren tatsächlich aus dem Dunkel des Bunkers heraus observiert und angesprochen wurden, oder ob es sich dabei nicht lediglich um eine Wahrnehmungstäuschung gehandelt hat. Eine ähnliche Szene, die einen scheinbar ›falsch‹ konstruierten Pointof-View-Shot enthält, findet sich in dem Film Picnic at Hanging Rock (Australien 1975, Regie: Peter Weir), der die Geschichte des spurlosen Verschwindens dreier Schülerinnen eines Mädcheninternats auf dem Felsmassiv Hanging Rock erzählt. Während ihrer Wanderung durch die Wildnis werden die Mädchen hier in mehreren Einstellungen aus dem Dunkel des Felsens _____________ 46

Aumont 1993, S. 23. (»Die normwidrigen Kadrierungen, die unmotivierten Bewegungen, die Hindernisse der Sicht, die falschen Anschlüsse, sind nun so viel wie explizite Formen einer Präsenz des Irrealen, oder genauer, einer Begegnung des Realen mit dem Irrealen. Es geht darum, zwei Welten miteinander in Beziehung zu setzen, aber aus einem Blickwinkel der Unentscheidbarkeit, der weder der einen noch der anderen dieser beiden Welten offen angehört.« Übers. d. Verf.)

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III. Der phantastische Diskurs

Abb. 37: Stalker. Point-of-View-Shot aus dem Inneren des Bunkers

Abb. 38: Picnic at Hanging Rock. Point-of-View-Shot aus dem Inneren des Felsens

1. Perspektive

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heraus gefilmt, wodurch der Eindruck einer Art ›Präsenz‹ entsteht, die sich in dem Felsen verbirgt, ohne dass diese Präsenz jedoch näher benannt werden kann (Abb. 38). Das Verfahren der Erzeugung einer Blickstruktur ohne Anwesenheit eines lebendigen Subjekts, dem der jeweilige Blick zugeordnet werden kann, findet sich schließlich auch in dem Film Et mourir de plaisir (Frankreich/ Italien 1960, Regie: Roger Vadim) realisiert, einer modernen Vampirgeschichte, die eine freie Adaption von Joseph Sheridan Le Fanus Erzählung Carmilla darstellt. Der Voice-over-Diskurs der extradiegetischen Erzählerin des Films, die angibt, eine fünfhundert Jahre alte Vampirin zu sein, wird hier durch verschiedene subjektive Point-of-View-Shots er-gänzt, die den Blick aus den Augen der Vampirin wiedergeben, ohne dass diese jedoch selbst jemals sichtbar im Bild erscheint. Auf diese Weise belässt der Film den Zuschauer konsequent im Unklaren darüber, ob die Vampirin Millarca tatsächlich existiert – oder ob es sich dabei nicht lediglich um eine Stimme im Kopf der weiblichen Hauptfigur Carmilla handelt, die, angeregt von verschiedenen tragischen Familienhistorien sowie von ihrem eigenen unglücklichen Liebesschicksal, sich die schaurig-schöne Vampirgeschichte zusammenfabuliert. 1.3. Subjektivierungsstrategien. The Blair Witch Project Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, ist phantastisches Erzählen im Film in der Regel ein stark fokalisiertes Erzählen, das durch die enge Bindung des Point-of-View der ›Kamera‹ an den subjektiven Point-of-View der handelnden Figuren gekennzeichnet ist und das den hier dargestellten Ereignissen auf diese Weise den Anschein von Fragwürdigkeit und Mehrdeutigkeit verleiht. Ein solches fokalisiertes Erzählen findet sich exemplarisch auch in dem Film The Blair Witch Project (USA 1999, Regie: Daniel Myrick, Eduardo Sánchez) realisiert,47 wobei eine Besonderheit des Films in der pseudo-dokumentarischen Erzählform besteht, bei welcher die Figuren in der erzählten Welt die primäre Narration der Ereignisse übernehmen. In The Blair Witch Project tritt die ›Kamera‹ als fiktiver Erzähler weitgehend zurück zugunsten von drei intra- und homodiegetischen Erzählern,48 die, ausgerüstet mit zwei Filmkameras und einem DAT-Gerät, ihre eigene Geschichte unter Zugrundelegung ihres jeweiligen subjektiven Point-of-View erzählen. Anders als in den zuvor unter_____________ 47 48

Zu The Blair Witch Project vgl. auch Kap. I.3.1.3. Eine explizite Erzählfunktion übernimmt die ›Kamera‹ allerdings in den eingeblendeten Zwischentiteln im Vor- und Abspann sowie (stärker implizit) hinsichtlich der Anordnung und Präsentation des Erzählten durch Schnitt und Montage.

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III. Der phantastische Diskurs

suchten Filmen Der Student von Prag, Vampyr oder auch Martin findet hier somit kein permanenter Wechsel zwischen einer narratorialen und einer figuralen Perspektive bzw. eine Perspektiven-Verwischung statt – das (Binnen-)Geschehen ist durchgehend aus der Perspektive der drei Hauptfiguren fokalisiert. Ein spannungsvoller Kontrast zwischen Objektivität und Subjektivität ergibt sich demgegenüber aus dem Umstand, dass technische Apparate, sprich Filmkameras und Tonbandgeräte, hier zur Vermittlung des Erzählten eingesetzt werden. Die Präsentation der Ereignisse erscheint dadurch einerseits als besonders ›objektiv‹ und ›wirklichkeitsgetreu‹ – der fiktive Zuschauer sieht und hört genau das, was die Figuren sehen und hören, nicht mehr und nicht weniger. Zum anderen hat das Dazwischenschalten des Apparats der Kamera zwischen die Figuren und die fiktive Realität des Films jedoch auch eine veränderte und verzerrte Wahrnehmung der Realität zur Folge, was in dem Film gleich in mehreren Szenen reflektiert wird. So kommt es zwischen Heather und Mike zu einem heftigen Streit darüber, dass Heather trotz ihrer lebensbedrohlichen Situation des Verirrt-Seins im Wald weiterhin darauf besteht, sämtliche Ereignisse mit ihrer Kamera zu dokumentieren. Der Streit eskaliert darin, dass Mike Heather die Filmkamera aus der Hand schlägt. Anschließend kommt folgender Dialog zwischen den Figuren zustande: Josh (der Heathers Kamera vom Boden aufgehoben und sie filmend auf Heather gerichtet hat): »I see why you like this video camera so much.« Heather: »You do?« Josh: »It’s not quite reality.« Mike: »Reality says we’ve gotta move!« Josh: »No, but its totally like filtered reality man. It’s like you can pretend everything is not quite the way it is.« 49

Die hier angesprochene ›Filterung‹ der Realität durch den technischen Apparat der Kamera wird von den Figuren im Film zugleich als Verzerrung der Realität und als Schutz vor derselben wahrgenommen. In narratologischer Hinsicht bildet diese Form der subjektiv verzerrten Wahrnehmung dabei einen Sonderfall, der klar von dem in Kapitel II.2.3. beschriebenen Verfahren des perception shot50 abzugrenzen ist: In The Blair Witch Project hat man es nicht mit einer Präsentation außergewöhnlicher, von der normalen Alltagswahrnehmung abweichender Wahrnehmungszustände zu tun, d. h. die ›Kamera‹ versucht hier nicht, mittels technischer Effekte wie Unschärfe, Überblendung etc. eine subjektiv verzerrte Wahrnehmung der Figuren zu imitieren. Demgegenüber trägt der technische Apparat der Filmkamera selbst zu einer Verzerrung des Gesehenen bei, _____________ 49 50

The Blair Witch Project, Min. 0:48:07-0:48:30. Vgl. Branigan 1984, S. 80f.

1. Perspektive

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indem er sich als ein Filter zwischen die wahrgenommenen Ereignisse und das Auge des Betrachters schiebt. Die pseudo-dokumentarische Erzählform erzeugt in The Blair Witch Project insgesamt somit gerade nicht den Eindruck von Verbindlichkeit, Glaubwürdigkeit und Objektivität, welcher im Allgemeinen das Ziel eines dokumentarischen Erzählens ist. Zum einen, so erfährt der fiktive Filmzuschauer, verzerrt die Kamera die subjektive Wahrnehmung der Protagonisten, indem sie das Abgebildete technischen Parametern unterwirft. Zum anderen trägt die Verlagerung des Point-of-View von der extradiegetischen Instanz der ›Kamera‹ auf die Figuren innerhalb der fiktiven Welt der Erzählung zu einer intensiven Subjektivierung und Emotionalisierung des Geschehens bei. Die Einnahme einer distanzierten Haltung zu den Ereignissen ist den Figuren selbst nicht möglich, stattdessen wird das Geschehen aus nächster Nähe aufgezeichnet und ad hoc kommentiert. In diesem Zusammenhang spielen insbesondere auch die von den Figuren verwendeten mobilen Filmkameras – eine 16-mm-Filmkamera, mit der die Schwarzweiß-Aufnahmen des Films gedreht werden und eine Hi8-Videokamera, mit der die Farbaufnahmen zustande kommen – eine wichtige Rolle: Die Technik der Handkamera suggeriert hier den Eindruck eines direkten Involviert-Seins in das Geschehen und bringt darüber hinaus bestimmte formale Beschränkungen mit sich, die die Grundlage für die Mehrdeutigkeit des Erzählten bilden.51 Beispiele für derartige formale Eigenarten der Handkameratechnik sind u. a. unscharfe, verwackelte Einstellungen, hektische Zooms und Reißschwenks auf unerwartete Ereignisse und Objekte, die außerhalb des aktuellen Blickfelds erscheinen, sowie die dominante Verwendung halbnaher und naher Einstellungsgrößen, wodurch das Blickfeld des fiktiven Zuschauers beschränkt und ein kalkuliertes Informationsdefizit hergestellt wird.52 Eine besondere Subjektivierung und Emotionalisierung erfährt das Geschehen schließlich in einer der Schlüsselszenen am Ende des Films, in welcher sich Heather ihre Videokamera vor das Gesicht hält und sich mit einem Bekenntnis an die Nachwelt wendet. In ihrer Rede, die an die Mütter ihrer beiden Freunde sowie an ihre eigenen Eltern gerichtet ist, gesteht sie, dass ihre auswegslose Situation im Wald allein ihre Schuld sei und bittet um Verzeihung. Ihr Gesicht ist während dieses Bekenntnisses mit _____________ 51 52

Vgl. Kap. I.3.1.3. Vgl. Lohmeier 1996, S. 72. Lohmeier verweist darauf, dass die Totale dem Zuschauer stets eine gewisse Freiheit in der Wahrnehmungstätigkeit verleiht, demgegenüber schränken sich mit zunehmender Verkleinerung des Bildausschnitts auch die Entscheidungsfähigkeiten des Zuschauers ein. Der kleine Bildausschnitt ist daher in bestimmten Fällen besonders gut geeignet, die narrative Informationsvergabe zu begrenzen und dem Zuschauer Wissen vorzuenthalten – als ein bekanntes Beispiel hierfür nennt Lohmeier den Kamerablick auf die Hände oder Füße des Täters im Kriminalfilm.

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III. Der phantastische Diskurs

Tränen überströmt, ihre Nase läuft unaufhörlich und immer wieder gleitet ihr Blick nervös zur Seite (Abb. 39). »What was that?« flüstert sie plötzlich erschrocken und beginnt zu hyperventilieren. Die Szene endet mit dem Zusammenbruch Heathers, ihre letzten Worte »I’m going to die out here« lösen sich in unverständliches Schluchzen auf.53 In dem Film The Blair Witch Project hat die Einführung intra- und homodiegetischer Erzählinstanzen, aus deren subjektiver Perspektive die Ereignisse präsentiert werden, insgesamt zur Folge, dass der Wahrheitsgehalt sämtlicher Informationen offen bleibt: »Der Film kennt keine Instanz, deren Ansichten die verbindliche Wahrheit wäre«,54 schreibt so auch Renner. In dem Film tritt – abgesehen von den Zwischentiteln am Beginn und am Schluss – an keiner Stelle ein distanzierter, unpersönlicher und ›allwissender‹ Erzähler in Erscheinung, der in der Lage wäre, die Realitätsfragmente, die die Figuren mittels ihrer Kameras und Tonbandgeräte aufzeichnen, zu einem bedeutungsvollen Ganzen zu fügen. Somit verfehlen auch die technischen Apparate gänzlich ihr Ziel, die Existenz eines ›Übernatürlichen‹ zu verifizieren bzw. diese zu dementieren: Die Filmkameras und Tonbandgeräte sind nur in der Lage, das audiovisuelle Zeichenmaterial des Waldes aufzunehmen und zu speichern. Sie können ihm jedoch, ebensowenig wie die Figuren, keinerlei Bedeutung zuschreiben – und können damit auch keine gültigen und verbindlichen Aussagen über die ›Realität‹ treffen.

Abb. 39: The Blair Witch Project. Heathers Bekenntnis

_____________ 53 54

The Blair Witch Project, Min. 01:07:09–01:09:17. Renner 2002, S. 395.

2. Die Struktur der Zeit

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2. Die Struktur der Zeit Während dem Aspekt der Erzählperspektive in den literaturwissenschaftlichen Phantastik-Theorien von Todorov, Wörtche und Durst zumindest am Rande eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt wurde, blieb der Aspekt der Zeit in der Phantastik-Forschung bislang gänzlich unberücksichtigt. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist es daher zu untersuchen, inwiefern auch die temporale Anordnung und Strukturierung der Ereignisse im phantastischen Film charakteristische Besonderheiten aufweist bzw. inwiefern sich auch diesbezüglich spezifische Verfahren ausmachen lassen, die zu einer Ambiguisierung und Destabilisierung des Erzählten beitragen. »Es scheint geradezu selbstverständlich zu sein, daß die Gegenwart die einzige direkte Zeit des kinematographischen Bildes ist«,55 schreibt Gilles Deleuze. Während die verbalsprachliche Erzählung über das Tempus der Verbform stets anzeigt, ob sich ein Ereignis in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft abspielt, besitzt der Film keine Möglichkeit, den Zeitpunkt des Erzählten innerhalb der einzelnen Einstellung präzise zu markieren. Das filmische Bild kann nicht konjugiert werden, es bleibt stets seiner eigenen Gegenwart verhaftet. Nichtsdestotrotz sind Filme ebenso wie literarische Erzählungen in der Lage, durch eine Verknüpfung der einzelnen Einstellungen mittels Schnitt und Montage zeitliche Vorgänge darzustellen – hierin begründet sich Metz zufolge eigentlich erst ihre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen.56 Die »zweifach zeitliche Sequenz« (Metz)57 des Films, d. h. die Dualität von erzählter Zeit als der Zeitspanne, die die Geschichte umfasst, und Erzählzeit als der Zeitspanne, die zum Erzählen der Geschichte benötigt wird (und die im zeitbasierten Medium Film präzise mittels des Timecodes von DVD- und Videorekordern messbar ist), erlaubt es dem filmischen Medium, die einzelnen Ereignisse bzw. zeitlichen Segmente in einer Folge anzuordnen und Handlung zu strukturieren und bildet somit das entscheidende Kriterium von Narrativität. Im Medium Film kann ebenso wie in literarischen Erzähltexten zwischen den drei von Genette entwickelten temporalen Kategorien Ordnung, _____________ 55 56

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Gilles Deleuze (1997b): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. [frz. Original: Cinéma 2. L’image-temps, Paris 1985], S. 53. Deleuze hat diese Differenz an den beiden Begriffen ›Bewegungs-Bild‹ und ›Zeit-Bild‹ festgemacht: Während das Bewegungs-Bild einzig und allein in der Gegenwart besteht, ermöglicht es die Montage, zeitliche Vorgänge zu veranschaulichen und somit ein indirektes Bild der Zeit zu liefern. Darüber hinaus erkennt Deleuze im modernen Kino schließlich auch direkte Zeit-Bilder, in welchen die Gegenwart mit einer Vergangenheit und einer Zukunft koexistiert und die »in eine Vergangenheit und in eine Zukunft ein[tauchen], für die die Gegenwart nur noch eine äußerste, niemals gegebene Grenze ist.« Ebd., S. 57. Metz 1972, S. 38.

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III. Der phantastische Diskurs

Dauer und Frequenz differenziert werden.58 Dabei sind jedoch verschiedene Besonderheiten des Umgangs des filmischen Mediums mit dem Faktor Zeit zu berücksichtigen, die eine Eins-zu-eins-Adaption der literaturwissenschaftlichen Kategorien für den Film problematisch machen und auf die im Folgenden daher kurz eingegangen werden soll. Die Genette’sche Kategorie der Ordnung betrifft die Reihenfolge der Ereignisse: Das Geschehen kann entweder chronologisch erzählt sein oder aber es kann narrative Anachronien aufweisen, wobei diese Abweichungen von der temporalen Chronologie – Genette spricht von einer »Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der Erzählung«59 – wiederum durch Analepsen (Flashbacks) und Prolepsen (Flashforwards) zustande kommen können. Als Markierung für temporale Anachronien kann im Film einerseits ein sogenanntes recounting dienen, bei welchem die Figuren über Voice-over oder im direkten Dialog zu vergangenen (seltener: späteren) Ereignissen überleiten, andererseits kann ein Durchbrechen der zeitlichen Chronologie jedoch auch durch ein direktes enactment stattfinden, so beispielsweise durch Überblendungen, musikalische Überleitungen oder Montagesequenzen, welche sich rasch drehende Uhrzeiger, wirbelnde Kalenderblätter o. ä. zeigen.60 Anzumerken ist hier allerdings, dass es dem Film aufgrund der oben angesprochenen fehlenden Tempusmarkierungen generell schwerer fällt als der Literatur, die zeitliche Chronologie der Ereignisse zu durchbrechen, ohne den Zuschauer dabei in die Irre zu führen. Der klassische Film ist daher weitgehend linear-chronologisch erzählt und auf Suspense-Effekte ausgerichtet, insofern er über Andeutungen in der Gegenwart des Erzählten auf zukünftiges Geschehen schließen lässt.61 Erst in der Moderne und Postmoderne finden sich verstärkt Tendenzen eines achronologischen und nonlinearen Erzählens im Film, wobei die hierdurch beim Zuschauer entstehenden Irritationseffekte in der Regel bewusst in Kauf genommen oder sogar provoziert werden.62 Die Dauer betrifft das Verhältnis der Geschwindigkeit zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sie wird häufig auch unter dem Begriff des Erzähltempos gefasst. Im Einzelnen kann dabei zwischen fünf Grundfor_____________ 58 59 60 61

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Vgl. Genette 1998, S. 21–114. Für den Film haben dieses Modell u. a. Chatman (Chatman 1980, S. 63–79) und Bordwell (Bordwell 1985, S. 77–88 ) übernommen. Genette 1998, S. 23. Bordwell 1985, S. 77f. Die Differenzierung zwischen filmischen enactment und recounting geht auf Chatman (Chatman 1980, S. 32) zurück. Bordwell merkt hierzu an: »Adhering closely to fabula order focuses the viewer’s attention on upcoming events – the suspense effect that is characteristic of most narrative films. This helps the viewer to form clear-cut hypotheses about the future [...].« Bordwell 1985, S. 78. Vgl. hierzu auch die einzelnen Aufsätze aus dem Band: Christine Rüffert et al. (Hrsg.) (2004): Zeitsprünge. Wie Filme Geschichte(n) erzählen, Berlin.

2. Die Struktur der Zeit

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men der Erzähldauer unterschieden werden, die in Anlehnung an Genette und Chatman mit den Begriffen Summary (zeitraffendes bzw. summarisches Erzählen), Ellipse (Zeitsprung), Szene (zeitdeckendes Erzählen), Dehnung (zeitdehnendes Erzählen) und Pause bezeichnet werden können.63 Die wohl gängigste Erzählgeschwindigkeit des Films ist, wie Chatman gezeigt hat, die Szene, die die Inkorporation des dramatischen Prinzips in die Narration bildet und bei welcher erzählte Zeit und Erzählzeit einander entsprechen. Beispiele hierfür sind klassische Dialogszenen oder auch die Abbildung von Handlung. Ein weiteres gängiges Verfahren des Films zur Strukturierung zeitlicher Vorgänge sind Ellipsen, also Zeitsprünge bzw. »Lücken« oder auch »Risse im Zeitkontinuum«,64 welche sich zunächst aus der prinzipiellen Notwendigkeit einer Selektion des Erzählten herleiten, die darüber hinaus jedoch auch einer Erhöhung der Spannung dienen können oder – für den Fall dass die zeitliche Auslassung nicht als solche gekennzeichnet ist – zu einer Ambiguisierung des Dargestellten beitragen können. Unterschieden werden kann dabei zum einen zwischen bestimmten und unbestimmten Ellipsen, d. h. Ellipsen, bei welchen die Dauer des ausgesparten Zeitraums angegeben wird und solchen, bei denen die Dauer der Auslassung unbestimmt ist. Zum anderen lässt sich zwischen expliziten und impliziten Ellipsen differenzieren, d. h. temporalen Auslassungen, die entweder (bestimmt oder unbestimmt) gekennzeichnet sind und solchen, die keine derartige Kennzeichnung aufweisen und bei welchen das Fehlen des entsprechenden Zeitabschnitts somit nur aus dem Kontext heraus erschlossen werden kann. Derartige implizite Ellipsen, die als ein narratives Verfahren besonders häufig in solchen Texten zu finden sind, die sich auch auf thematischer Ebene mit der Verschiebung und dem Verlust von Zeitwahrnehmung, mit Erinnerungslücken, Amnesie etc. befassen, besitzen stets eine äußerst beunruhigende Wirkung, indem sie Fragen darüber provozieren, welche – womöglich entsetzlichen und traumatischen – Ereignisse sich in dem ausgesparten Zeitraum zugetragen haben. Implizite Ellipsen, so kann an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden, tragen stets zu einer Destabilisierung des Erzählten bei und sollen daher im Folgenden mit Bezug auf das phantastische Erzählen auch besonders in den Blick genommen werden. Während Szenen und Ellipsen die beiden gängigsten Verfahren der Gestaltung des filmischen Erzähltempos bilden, ist der Fall eines summarischen Erzählens sowie einer zeitlichen Dehnung der Ereignisse im _____________ 63 64

Genette 1998, S. 67f., Chatman 1980, S. 67–78, hier S. 68. Während Genette nur von vier narrativen Tempi (Summary, Pause, Ellipse und Szene) ausgeht, führt Chatman demgegenüber als fünfte Erzählgeschwindigkeit die Dehnung (Stretch) an. Genette 1998, S. 34.

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III. Der phantastische Diskurs

Film dagegen wesentlich seltener zu finden. Ein Beispiel für ein sogenanntes Summary ist so etwa die Eröffnungssequenz von Citizen Kane (USA 1941, Regie: Orson Welles), in welcher im Stil einer Wochenschausendung eine Zusammenfassung des Lebens des Protagonisten gegeben wird.65 Ein Beispiel für eine zeitliche Dehnung ist demgegenüber die Traumsequenz in Spellbound (USA 1945, Regie: Alfred Hitchcock), die in dem Film über mehrere Minuten ausgedehnt wird, die im realen Leben aber nur wenige Sekunden dauern würde. Die Pause schließlich, bei welcher die erzählte Zeit gänzlich stillsteht und nur Erzählzeit verfließt – was in der Literatur z. B. in deskriptiven Passagen der Fall ist – ist im narrativen Film prinzipiell undenkbar: Die erzählte Zeit verfließt hier so lange, wie die Kamera läuft bzw. Bilder auf die Leinwand projiziert werden.66 Die Frequenz als die dritte temporale Kategorie bezieht sich schließlich auf die Wiederholungsbeziehungen zwischen dem Erzählen und dem Erzählten. Genette differenziert hier zwischen der singulativen Erzählweise (ein einmaliges Ereignis wird einmal erzählt), der repetitiven Erzählweise (ein einmaliges Ereignis wird mehrmals, z. B. von verschiedenen Erzählerfiguren, erzählt) und der iterativen Erzählweise (wiederholte Ereignisse werden zusammengefasst und einmal erzählt).67 Während sich singulatives und repetitives Erzählen auch im Film problemlos nachweisen lassen, ist die iterative Erzählweise, die wiederholte Ereignisse zu einer narrativen Aussage zusammengefasst und somit das erzählt, was immer wieder (regelmäßig, rituell, täglich, jeden Sonntag etc.) passiert, jedoch ein spezifisch verbalsprachliches Verfahren und kann im Film in ihrer extremen Form nicht realisiert werden. Denkbar sind im Film höchstens Montagesequenzen, die immer gleiche Alltagsrituale und sich wiederholende Ereignisse in einzelnen Szenen ausschnitthaft aneinanderreihen, wobei hier jedoch mehrere ähnliche Szenen gezeigt werden müssen, um den Eindruck einer regelmäßigen Wiederholung zu erwecken. Die Tatsache, dass das filmische Medium fiktive Welten erschaffen und Geschichten erzählen kann, beruht also insgesamt auf dessen Fähigkeit, zeitliche Vorgänge zu gestalten, die im Akt der Rezeption als solche rekonstruierbar sind und die dem Zuschauer somit das Bewusstsein eines temporalen Nacheinanders der einzelnen Ereignisse vermitteln. Der realistisch erzählte Film führt den Zuschauer dabei im Allgemeinen am ›roten Faden‹ der Chronologie entlang, indem er das lineare Voranschreiten der _____________ 65 66

67

Chatman 1980, S. 69. Ebd., S. 74. Zu überlegen wäre, ob im Film gezeigte panoramatische Landschaftsaufnahmen nicht im gewissen Sinne deskriptive Passagen darstellen und somit eine ›Pause‹ in der Narration erzeugen, oder ob demgegenüber, wie Chatman argumentieren würde, auch in solchen Szenen erzählte Zeit verfließt. Genette 1998, S. 81–114.

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Zeit sowie die Irreversibilität des Zeitpfeils weitgehend abbildet und nur selten Experimente hinsichtlich der Ordnung, der Erzähldauer sowie der Wiederholungsbeziehungen zwischen einzelnen Teilen der Erzählung wagt. Im realistischen Modus (classical narration) wird die temporale Anordnung der Ereignisse somit ganz in den Dienst einer möglichst lückenlosen und kohärenten Vermittlung des Geschehens gestellt. Der phantastische Film hingegen, so ist zu vermuten, weist andere Merkmale der Zeitstruktur auf. Inwiefern eine Destabilisierung und Auflösung der temporalen Ordnung sowie die Inszenierung von Zeitsprüngen und Zeitschleifen hier zur Erzeugung von Mehrdeutigkeit beiträgt, soll im Folgenden anhand der beiden Filme Orlacs Hände (Österreich 1924, Regie: Robert Wiene) und Picnic at Hanging Rock (Australien 1975, Regie: Peter Weir) untersucht werden. 2.1. Die Enthüllung des Geheimnisses und die Rekonstruktion der Vergangenheit. Orlacs Hände Der in Wien gedrehte, 1924 uraufgeführte Film Orlacs Hände, der im Anschluss an den Film Das Cabinet des Dr. Caligari das zweite gemeinsame Projekt des Regisseurs Robert Wiene mit dem Schauspieler Conrad Veidt darstellt, erzählt die Geschichte des berühmten Konzertpianisten Paul Orlac, der durch ein tragisches Zugunglück beide Hände verliert. Orlacs Frau, die weiß, dass ihrem Mann das Klavierspielen mehr bedeutet als sein eigenes Leben, fleht den behandelnden Arzt an, alles zu tun, um die Hände ihres Mannes zu retten. Daraufhin entschließt sich dieser sich zu einem ungeheuerlichen Experiment: Er näht dem verstümmelten Pianisten die Hände eines in derselben Nacht hingerichteten Raubmörders an. Als Paul Orlac im Krankenhaus aufwacht scheint es zunächst, als habe er die Operation gut überstanden und könne bald gesund entlassen werden. Doch mit der Zeit wächst in ihm die Ahnung, dass sich unter den Bandagen, die seine Hände verhüllen, ein entsetzliches Geheimnis verbirgt. Während eines Besuchs seiner Frau erscheint ihm plötzlich der Kopf eines Unbekannten, der hämisch lachend auf seine dick verbundenen Hände blickt und in der Nacht vor seiner Entlassung findet er nach einem Alptraum einen anonym verfassten Brief auf seiner Bettdecke vor, der ihm mitteilt, dass seine Hände nach dem Unfall nicht mehr zu retten gewesen waren und dass ihm stattdessen die Hände des hingerichteten Raubmörders Vasseur angenäht wurden. Diese Mitteilung entsetzt Orlac so sehr, dass er beschließt, dass seine Hände, die so viel Böses angerichtet haben, nie wieder einen Menschen berühren dürfen. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus will der gewohnte Friede im Hause Orlac nicht mehr einkehren. Paul Orlac verhält sich merk-

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würdig distanziert seiner Frau gegenüber, das Klavierspielen muss er aufgeben und selbst seine Handschrift scheint zittrig und nicht mehr die alte zu sein. Die Situation spitzt sich zu, als Orlacs Hände ein sonderbares Eigenleben gewinnen und ihn seine Frau eines Tages dabei ertappt, wie er in Raserei versucht, einen imaginären Gegner zu erdolchen. Zu den Sorgen um den Geisteszustand ihres Mannes quälen Frau Orlac nun auch noch finanzielle Nöte: Da ihr Mann seit seinem Unfall nicht mehr in der Lage ist, als Konzertpianist aufzutreten, sieht sie sich gezwungen, dessen Vater aufzusuchen und ihn um Geld zu bitten. Der Vater Orlacs, ein verbitterter alter Mann, der einsam in einer riesigen Villa haust, weist sie jedoch schroff mit den Worten ab, dass er seinen Sohn hasst und ihn lieber zugrunde gehen sähe, als ihm Geld zu geben. Nachdem Paul Orlac von seiner weinenden Frau von diesem Vorfall erfährt, beschließt er noch am selben Abend mit seinem Vater zu reden. Als Paul Orlac die nächtliche Villa betritt, scheint diese völlig menschenleer, nicht einmal den alten Diener seines Vaters trifft er an. Im Wohnzimmer findet er seinen Vater tot auf dem Boden liegen, erstochen mit eben jenem Dolch, mit dem der Raubmörder Vasseur seine Opfer umzubringen pflegte. Orlac, in der festen Überzeugung, sein Vater sei von einem Unbekannten ermordet worden, ruft die Kriminalpolizei zur Aufdeckung des Falles herbei – zu seinem Entsetzen müssen die Kriminalbeamten jedoch feststellt, dass sich überall am Tatort die Fingerabdrücke des vor Jahren hingerichteten Raubmörders Vasseur befinden und auch die Nachricht, mit welcher der alte Diener aus dem Haus gelockt wurde, wurde in Vasseurs Handschrift verfasst. Während die Polizei noch vor einem Rätsel steht, flieht Orlac, der sich nun selbst als der Mörder seines Vaters entlarvt sieht, aus der Villa. Auf der nächtlichen Straße begegnet er dem Unbekannten wieder, der ihn seit seinem Unfall im Wachen und in seinen Träumen verfolgt und der ihm bei dieser Begegnung mitteilt, dass er selbst und kein anderer der Raubmörder Vasseur sei, dem man nach seiner Hinrichtung den abgetrennten Kopf wieder angenäht habe. »Dasselbe Experiment, das Professor Serral mit ihren Händen gemacht hat«, enthüllt ihm der Unbekannte grinsend, »hat sein Assistent mit meinem Kopf gemacht...«68 Als Wiedergutmachung für seine abgetrennten Hände – der Raubmörder präsentiert zum Schrecken Orlacs zwei schwere, glänzende Metallprothesen – fordert er eine Million aus dem Erbe von Orlacs Vater. Nach dieser nächtlichen Begegnung erleidet Paul Orlac einen Nervenzusammenbruch und befürchtet, er sei wahnsinnig geworden. In seiner Verzweiflung erzählt er den gesamten Vorfall seiner Frau, die ihn dazu _____________ 68

Zwischentitel aus: Orlacs Hände (Österreich 1924, Regie: Robert Wiene, von ARTE restaurierte Fassung, Musik: Henning Lohner, TV-Erstausstrahlung: 11.01.2001), Min. 1:18:41.

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überredet, sich dem Staatsanwalt zu stellen. Paul Orlac wird daraufhin vor Gericht als Mörder verurteilt. In einem rahmenartigen Epilog nimmt die Erzählung schließlich eine überraschende Wendung: Hier wird von der Kriminalpolizei ein zweites nächtliches Treffen zwischen Paul Orlac und dem Unbekannten arrangiert, bei welchem die Übergabe der Million an den unheimlichen Erpresser stattfinden soll. Bei diesem zweiten Treffen wird der Unbekannte von der Polizei als ein lange gesuchter Betrüger entlarvt, der die Fingerabdrücke Vasseurs gefälscht und in dessen Namen selbst die Morde begangen hat. Am Ende des Films blickt Orlac erleichtert auf seine zuvor so verhassten Hände und schließt mit den Worten: »Wenn Vasseur unschuldig war... dann sind meine Hände rein ...« 69 Der Film Orlacs Hände bietet mit der Unauflösbarkeit von ineinander verwobenen wunderbar-phantastischen, psychopathologischen und kriminalistischen Erklärungsangeboten ein geradezu klassisches Beispiel phantastischen Erzählens im Film.70 Die ambigue Erzählstruktur des Films erzeugt einen grundsätzlichen Zweifel darüber, ob Orlacs Visionen als reale Geistererscheinungen zu deuten sind, oder ob der nach seinem Unfall psychisch extrem labile Pianist verrückt geworden ist und im Wahn sogar den eigenen Vater getötet hat. Damit einher geht das ambigue Motiv der künstlichen Hände, das den Grenzbereich zwischen MenschlichLebendigem und Künstlich-Totem markiert und das – ähnlich wie das Motiv des künstlich erzeugten Menschen in dem Film Alraune oder auch das Motiv der künstlich implantierten Erinnerungen in Abre los ojos – auf die Grenzen- und Schrankenlosigkeit einer unverantwortlichen Wissenschaft verweist. Der rahmende Epilog verleiht dem phantastischen Schauermärchen schließlich eine überraschende ›Auflösung‹: Die unheimlich-düsteren Elemente werden hier gebrochen und stattdessen die Faszination von Schauspiel, Scheinhaftigkeit und Illusionismus in den Vordergrund gerückt. Die Entlarvung des vermeintlich von den Toten zurückgekehrten Raubmörders Vasseur als trickreicher Betrüger, der Orlac und die Polizei hinters Licht geführt hat und dem man nun seine Requisiten – falsche Armprothesen sowie eine aufgeklebte, falsche Narbe am Hals – abnimmt, verwandelt die Erzählung in eine Meta-Erzählung über das Kino selbst.71 Diese überraschende Auflösung des Erzählten stellt sich bei näherer Betrachtung jedoch lediglich als eine Pseudo-Auflösung dar: Mit der Feststellung der ›Reinheit‹ von Orlacs Händen, so Ursula von Keitz, »ist noch _____________ 69 70 71

Ebd., Min. 1:36:43. Vgl. auch Krah/Wünsch 2002, S. 811. Vgl. auch Elsaesser 1999, S. 78.

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III. Der phantastische Diskurs

kein Systemsprung vollzogen, keine Erkenntnis gewonnen, dass er sich das Andere an sich als Anderes in sich nur eingebildet hat.«72 Der unvermittelte Plot Twist am Ende des Films überspielt die zuvor aufgeworfene, drängende Frage, ob Orlacs transplantierte Hände bloße Werkzeuge sind, die sich, wie der behandelnde Arzt ihm wiederholt versichert, früher oder später seinem Willen unterwerfen werden (»Der Geist regiert die Hand«),73 oder ob Orlac mit seinen künstlich angenähten, fremden Händen ein identitätsgefährdendes ›Anderes‹ in sich trägt, dessen Herkunft ungewiss ist und das als solches nicht kontrollierbar ist. Hierzu noch einmal Keitz: Orlacs Hände lässt offen, ob es ein Körpergedächtnis gibt, das sich in die Gliedmaßen einschreibt, und ob den Händen als hoch spezialisierten Organen dabei eine besondere Bedeutung zukommt – eine Bedeutung, die sie als Extremitäten besonders eigenständig handelnd macht. Der im Unheimlichen wurzelnde Film bietet keine somatische Lektüre für den Zustand des Fragmentiertseins und die daraus resultierenden Fantasien an.74

Der Epilog, der der Geschichte ein unvermitteltes, stark konstruiert wirkendes Happy End verleiht, vermag es somit insgesamt nicht, die zuvor aufgeworfenen Probleme und Widersprüche vollständig zu beseitigen. Das durch unwahrscheinliche Koinzidenzen motivierte Ende des Films erreicht keine Wiederherstellung und Re-Stabilisierung der alten Ordnungen – das Erzählte verbleibt in einem Schwebezustand der Ambiguität. Mit Einführung einer psychisch instabilen, von permanenten Wahrnehmungs- und Realitätszweifeln geplagten Hauptfigur, aus deren Perspektive das Geschehen über weite Strecken fokalisiert ist, sowie einer Verrätselung des Erzählten durch eine Verschachtelung der Erzählebenen (mit welcher sich Kapitel III.3. noch eingehend befassen wird) weist der Film Orlacs Hände narrative Besonderheiten auf, die an dieser Stelle bereits als charakteristische Merkmale phantastischen Erzählens im Film eingestuft werden können. Wie gestaltet sich nun aber die Strukturierung der Zeit bzw. lassen sich auch hier spezifische Techniken einer Destabilisierung und Ambiguisierung des Erzählten ausmachen? Auffällig an dem Film Orlacs Hände ist zunächst einmal die nahezu obsessive Thematisierung des Faktors Zeit, was die folgenden, dem Anfang des Films in nahezu lückenloser Reihenfolge entnommenen Zwischentitel verdeutlichen: »Liebste! Noch eine Nacht und ein Tag und dann bin ich wieder bei Dir....« – »Gnädige Frau, es ist 9 Uhr und der Zug kommt erst um 11« – »Es ist halb sechs Herr Professor, um 6 Uhr wird Vasseur hingerichtet und 8 Minuten später bringt

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Ursula von Keitz (2005): Prothese und Transplantat. Orlacs Hände und die KörperfragmentTopik nach dem Ersten Weltkrieg. In: Unheimlich anders. Doppelgänger, Monster, Schattenwesen im Kino, hrsg. v. Christine Rüffert et al., Berlin, S. 53–68, S. 62. Orlacs Hände, Min. 0:21:50. Keitz 2005, S. 66f.

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der Wagen den Körper in die Klinik« – »Nur noch eine kurze Zeit, dann kommst Du heim« – »Morgen, morgen kommt er!« – »Die letzte Nacht« – »Wie lange noch?« – »Noch eine halbe Stunde... Nein, nur 30 Minuten« – »Wie lange noch?« 75

Die präzisen Zeitangaben in den Zwischentiteln sowie die wiederholten Vorwegnahmen künftigen Geschehens können hier als Versuche gewertet werden, eine zeitliche Fixierung der Ereignisse in der Zukunft zu bewirken und damit eine temporale Ordnung innerhalb der erzählten Welt des Films zu etablieren. Im Verlauf der Erzählung erweist sich diese Ordnung jedoch zunehmend als trügerisch und instabil: So werden die Zukunftspläne der Protagonisten immer wieder durchkreuzt und das sehnsüchtige Warten Frau Orlacs auf die Rückkehr ihres Mannes – zunächst von seiner Konzerttournee, anschließend aus dem Krankenhaus –, das durch retardierende Momente im Erzählprozess fast schon qualvoll in die Länge gezogen wird, bringt nie die erhoffte Erfüllung. Die ungewissen Vorausdeutungen der Protagonisten etablieren dabei stets auch zeitliche Schwellen und spiegeln verschiedene ›Bewusstseinszustände des Übergangs‹ wie z. B. Warten, Ahnung, Sehnsucht, Hoffnung, Neugierde oder Angst wieder.76 Neben der antizipatorischen Vorwegnahme künftiger Ereignisse, die tendenziell zu einer Auflösung der Chronologie beiträgt, indem sie eine imaginierte Zukunft in die Gegenwart projiziert, stellt ein stark elliptisches Erzählen, das eine Unklarheit über die Dauer der erzählten Vorgänge sowie Auslassungen im zeitlichen Kontinuum bewirkt, ein auffälliges Merkmal der Zeitstruktur in Orlacs Hände dar. Durch den abrupten Abbruch von Handlungssträngen sowie die fehlende Überbrückung der ausgesparten Zeiträume entsteht wiederholt der Eindruck von Lücken bzw. Rissen im temporalen Gefüge, die hier abermals der Illustration psychischer Zustände des Übergangs dienen – so beispielsweise des Zustands der Bewusstlosigkeit sowie vorübergehenden Amnesie des Protagonisten direkt nach seinem Unfall oder auch des Zustands der Hysterie sowie des lückenhaften Erinnerungsvermögens in der Szene, in der Orlac den Mord an seinem Vater entdeckt. Die letztgenannte Szene ist hinsichtlich des Umgangs des Films mit dem Moment der Zeit besonders aufschlussreich: So scheint der nächtliche Besuch Paul Orlacs in der Villa seines Vaters zunächst direkt an die vorangegangene Szene des Gesprächs mit seiner Frau anzuschließen, in welcher Orlac den Beschluss fasst, seinen Vater zur Rede zu stellen und ihn um Geld zu bitten. Erst im Verlauf der Szene kommt der Verdacht auf, dass Orlac die Villa bereits zu einem früheren, _____________ 75 76

Orlacs Hände, Min. 0:09:35–0:29:58. Vgl. hierzu auch Lehmann: »Nirgendwo werden bestimmte Bewusstseinszustände des Übergangs wie Ahnung, Sehnsucht, Neugierde oder Angst so differenziert akzentuiert wie in der [phantastischen] Erzählprosa, also die Angst vor etwas, die Sehnsucht nach etwas, die Ahnung von etwas Unbestimmten.« Lehmann 2003, in: Ivanoviý et al., S. 32.

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III. Der phantastische Diskurs

im Film nicht gezeigten und von ihm selbst in seiner Erinnerung verdrängten Zeitpunkt betreten haben und seinen eigenen Vater umgebracht haben könnte.77 Durch eine Auslassung der signifikanten Momente des Films – weder die Hinrichtung Vasseurs, noch die Transplantation der Hände, noch der Mord an Orlacs Vater werden gezeigt – wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten gerade auf diese chronologischen Lücken gelenkt und eine quälende Ungewissheit hinsichtlich der Entsetzlichkeit der sich hier zugetragenen Ereignisse evoziert. Der Lückenhaftigkeit der Zeitstruktur, die einhergeht mit einer permanenten Ungewissheit des Protagonisten über Ereignisse, die in der Vergangenheit zurückliegen, setzt der Film schließlich das Moment der Enthüllung entgegen, die Aufklärung eines Geheimnisses, welches seinen Ursprung außerhalb der erzählten Geschichte besitzt und das im Verlauf derselben erst mühsam rekonstruiert werden muss. Dieses Aufdecken der Vorgänge aus dem ›Unerzählten‹, ›Vor-Geschichtenhaften‹ hat bereits Ernst Bloch in seinem Aufsatz Philosophische Ansicht des Detektivromans beschrieben und als das zentrale Merkmal der Kriminal- und Detektiverzählung herausgestellt: Dieses dritte Kennzeichen [neben der »Spannung des Ratens« und dem Moment des »Entlarvenden, Aufdeckenden«] ist das charakteristischste der Detektivgeschichte und macht sie, sogar weit vom Detektiv, unverwechselbar. Vor ihrem ersten Wort, vor dem ersten Kapitel geschah etwas, niemand weiß es, scheinbar auch der Erzähler nicht. [...] In allen anderen Erzählformen entwickeln sich die Taten wie Untaten vor einem durchaus anwesenden Leser, hier dagegen ist er bei einer Untat, einer den Tag scheuenden, obzwar besonders fertig ins Haus gelieferten, nicht dabei gewesen, sie liegt im Rücken der Geschichte, muß ans Licht gebracht werden und dieses Herausbringende ist selber und allein das Thema.78

Die Struktur der Detektiverzählung, welche nach Bloch die einzige Erzählform darstellt, die bereits »mit der Leiche ins Haus fällt«,79 ähnelt insofern der Struktur des phantastischen Erzählens, als auch hier Vergangenheit zu rekonstruieren und ein Mysterium ›ans Licht‹ zu bringen ist. Während die klassische Detektiverzählung dabei jedoch auf die Auflösung des Falls und die Entlarvung des Täters als dem Höhepunkt der Handlung hinstrebt, bleiben in phantastischen Erzählungen die Ursachen für die unheimlichen Ereignisse letztendlich im Dunkeln und nicht selten führt der Versuch einer Rekonstruktion der Vergangenheit hier zu einer zusätzlichen Verkomplizierungen und Verstrickung der rätselhaften, numinosen Begebenheiten. So bringt auch in dem Film Orlacs Hände die Enthüllung _____________ 77 78 79

Orlacs Hände, Min. 1:06:21–1:13:40. Ernst Bloch (1965): Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9: Literarische Aufsätze, Frankfurt a. M., S. 242–263, S. 247. Ebd., S. 254.

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des Geheimnisses der Hände des Pianisten nicht die erwünschte Aufklärung, sondern bildet eigentlich erst den Ausgangspunkt einer Kette von ungeklärten Fragen. Eine der Schlüsselszenen des Films stellt hier die Szene dar, in welcher Paul Orlac die Bandagen von seinen frisch operierten Händen abgenommen werden (Abb. 40–47). In dieser Szene, in der bezeichnenderweise das einzige Mal im gesamten Film helles Tageslicht scheint, sieht man Paul Orlac auf dem Balkon seines Krankenhauszimmers in einem Liegestuhl sitzen und auf seine dick verbundenen Hände blicken. Als sein behandelnder Arzt, Professor Serral, hinzutritt, dreht er sich um und fragt ängstlich: »Sagen sie mir, was ist unter diesen Tüchern...?? Welch ein Geheimnis verbergen sie?«,80 worauf ihm dieser väterlich-gönnerhaft antwortet: »Nun, dann wollen wir in Gottes Namen das Geheimnis enthüllen.«81 Die im Anschluss an diesen Dialog folgende ›Enthüllung‹ der einbandagierten Hände des Pianisten bringt hier jedoch nicht die erhoffte Aufklärung, sondern bildet eigentlich erst den Ausgangspunkt eines tiefgreifenden, psychischen Konflikts des Protagonisten und setzt eine Kette von unheimlichen, irrationalen Ereignissen in Gang, dessen Höhepunkt das Erscheinen des vermeintlich toten Raubmörders darstellt. Als ein vorläufiges Fazit kann festgehalten werden, dass das Spiel mit Wissen und Nicht-Wissen, mit einem fortlaufenden Ent- und Verhüllen eines der Erzählung zugrunde liegenden Geheimnisses, charakteristisch für viele phantastische Filme ist. In Filmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari, Orlacs Hände, Alraune, Picnic at Hanging Rock, Lost Highway, Twin Peaks oder auch Abre los ojos bildet jeweils ein ›Unerzähltes‹ den Ausgangspunkt der Narration, das durch die investigativen Bemühungen der Protagonisten, teils auch explizit durch den Einsatz polizeilich-kriminalistischer Verfahren, aufzuklären ist, wobei der Versuch einer Enthüllung des ›Geheimnisses‹ der Erzählung hier stets auch zu einem Versuch der Rekonstruktion von Zeit wird.82 Anders als im klassischen Detektiv- und Kriminalfilm führen im phantastischen Film die Bemühungen um Aufklärung jedoch nicht zum Erfolg: Den in aller Regel psychisch extrem labilen Protagonisten gelingt es aufgrund von Ohnmacht, Amnesie, Erinnerungslücken und ähnlichen Zuständen, die eine subjektive Verschiebung und einen Verlust von Zeitwahrnehmung implizieren, nicht, des im Dunkel der Vergangenheit zurückliegenden Geschehens habhaft zu werden. In erzähltechnischer Hin_____________ 80 81 82

Ebd., Min. 0:20:10. Ebd., Min. 0:20:14. Zur Zeitstruktur in Orlacs Hände und Das Cabinet des Dr. Caligari vgl. auch Elsaesser 1999, S. 73 und S. 78f. Elsaesser stellt hier Risse und Verdopplungen im Zeit-Raum-Gefüge ebenso wie ein stark elliptisches Erzählen als charakteristisch für das phantastisch-expressionistische Kino heraus.

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III. Der phantastische Diskurs

Abb. 40–47: Orlacs Hände. Die Enthüllung des Geheimnisses

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sicht entsprechen diese psychischen Devianzen dabei insbesondere einem stark elliptischen Erzählen, dass durch unmarkierte zeitliche Auslassungen den Eindruck von ›Lücken‹ und ›Rissen‹ im Zeitkontinuum entstehen lässt und das somit eine prinzipielle Instabilität der temporalen Ordnung der erzählten Welt zur Folge hat. 2.2. Die Transformation der Zeit. Picnic at Hanging Rock All that we see or seem Is but a dream within a dream.83 Waiting a million years – just for us...84

Der Film Picnic at Hanging Rock (Australien 1975), der unter der Regie von Peter Weir nach dem gleichnamigen Roman von Joan Lindsay entstanden ist, drängt sich für eine Analyse der Zeitstruktur des phantastischen zählens geradezu auf: Der halluzinatorische, mesmerisierende Rhythmus des Films in Verbindung mit den hitzeflirrenden, wie stillgestellten Landschaftsaufnahmen, den weichgezeichneten Frauenportraits sowie der sphärischen Panflötenmusik lullt den Filmzuschauer ein und erschafft eine Atmosphäre der Traumhaftigkeit und Zeitlverlorenheit. Der von zyklischer Wiederkehr geprägten Zeit der Natur stellt der Film dabei eine nahezu obsessive Thematisierung von Uhren, Zeitmessgeräten und zeitlichen Indexen in jeder erdenklichen Form entgegen, die als Repräsentanten des unaufhörlichen, linearen Fortschreitens der Zeit in den Räumen der menschlichen Zivilisation fungieren und die damit auch einen Schlüsselhinweis auf die unüberwindliche Kluft zwischen dem mythisch-poetischen Zeitbild des urzeitlichen, in weiten Teilen unerforschten australischen Kontinents und dem von zeitlicher Planung, Regulierung und Kontrolle bestimmten Lebensrhythmus der europäischen Siedler in Australien liefern.85 _____________ 83

84 85

Edgar Allan Poe (1966 [1849]): A Dream Within A Dream. In: ders.: Complete Tales and Poems, Ljubljana, S. 867. Hervorheb. Im Original. Das Poe-Zitat wird zu Beginn des Films Picnic at Hanging Rock als Voice-over einer Mädchenstimme über Bilder vom Felsmassiv Hanging Rock sowie vom Garten des Mädcheninternats gelegt. Picnic at Hanging Rock (Australien 1975, Regie: Peter Weir, DVD-Fassung Arthaus 2005, Director’s Cut), Min. 0:11:33. Aaron J. Gurjewitsch unterscheidet in seinem Buch Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen zwischen einer ›linearen‹ und einer ›zyklischen‹ Zeit: »Die Kombination von linearer Zeitwahrnehmung und zyklischer, mythisch-poetischer, die ›träumerische Zusammenziehung der Zeit‹ (Thomas Mann) kann man in verschiedenen Formen im Verlauf der gesamten Geschichte beobachten.« Aaron J. Gurjewitsch (1997): Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München, S. 32. Diese Nähe der zyklischen Zeit zum Mythos und zur Poesie belegen auch Autoren wie Claude-Levi Strauß, Mircea Eliade oder C. G. Jung.

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III. Der phantastische Diskurs

On Saturday 14th February 1900 a party of schoolgirls from Appleyard College picnicked at Hanging Rock, near Mt. Macedon in the state of Victoria. During the afternoon several members of the party disappeared without trace... 86

Mit der hier zitierten, einleitenden Texttafel beginnt der Film und eröffnet auf diese Weise, ähnlich wie The Blair Witch Project, die scheinbar authentische Geschichte eines mysteriösen Verschwindens: Am Valentinstag des Jahres 1900, so die erläuternden Texte am Beginn und am Ende des Films, sind drei Schülerinnen und eine ihrer Lehrerinnen spurlos im australischen Busch verloren gegangen, ihr Verschwinden konnte trotz jahrelanger Suche bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärt werden.87 Ausgehend von den Ereignissen dieses Tages zeichnet der Film ein Portrait der australischen Gesellschaft der Viktorianischen Epoche und zeigt die Instabilität und Brüchigkeit dieser Gesellschaft im Kontakt mit dem ›Anderen‹, Unberechenbaren und Unkontrollierbaren, symbolisch verbildlicht im schleichenden Niedergang des Mikrokosmos einer Erziehungsanstalt im Anschluss an mysteriösen Vorfälle auf dem Felsmassiv Hanging Rock, auf. Die ersten Szenen führen den Filmzuschauer in das streng geführte Mädcheninternat Appleyard College, das anlässlich des Feiertages einen Ausflug zum Hanging Rock, einer rund drei Stunden vom College entfernt gelegenen, vulkanischen Felsformation unternimmt. Die ausgelassene Stimmung auf der Fahrt in den Busch weicht mit der Ankunft an ihrem Picknickplatz sowie der zunehmenden Mittagshitze einer trägen Languidität der Ausflügler: In den tableauartigen Szenen des Picknicks wird gezeigt, wie die Mädchen im Schatten der Bäume dösen, einander Gedichte vorlesen, in Kunstbänden blättern und mit dem Vergrößerungsglas Blumen betrachten. Der Eindruck einer wie stillgestellten Zeit in diesen Szenen, welche durch vielfältige Zitate der Malerei des europäischen und insbesondere des australischen Impressionismus88 den Charakter von Tableaux vivants gewinnen, wird durch die Bemerkungen des Kutschers Mr. Hussey sowie der Mathematiklehrerin Miss McCraw verstärkt, ihre Uhren seien seltsamerweise beide um Punkt zwölf Uhr stehengeblieben, was die pragmatische Miss McCraw mit den Worten »It must be something magnetic«89 kommentiert. Wenig später machen sich drei der Mädchen – die ätherische, blonde Miranda, die dunkellockige Irma und die ernste, bebrillte Marion – auf, um die Gegend zu erkunden, gefolgt von Edith, einem etwas naiven, pummeligen Mädchen. Ihre Französischlehrerin, Mademoi_____________ 86 87 88 89

Picnic at Hanging Rock, Min. 0:00:00–0:00:18. Die Ereignisse sind jedoch rein fiktiv und haben, außer in Lindsays Roman, nie stattgefunden. Vgl. hierzu Jonathan Rayner (2006): Picnic at Hanging Rock (1975/1998). In: ders.: The Films of Peter Weir, London, S. 59–88, S. 70f. Picnic at Hanging Rock, Min. 0:18:44.

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selle De Poitiers, winkt ihnen zum Abschied zu und bemerkt, Miranda ähnle einem Engel Botticellis. Bei ihrem Aufstieg in das Felsmassiv werden die Mädchen von dem jungen Engländer Michael Fitzhubert, der mit seinem Onkel und seiner Tante ebenfalls zu einem Picknick unterwegs ist, sowie von Albert, dem Dienstboten der Fitzhuberts, beobachtet. Dies ist das letzte Mal, dass drei der Mädchen gesehen werden: Während Edith zurückbleibt, steigen Miranda, Irma und Marion immer höher und höher in das Felsmassiv hinauf und verschwinden schließlich für immer in der Wildnis. Die nächtliche Rückkehr der Ausflügler ins College kreiert einen Ausnahmezustand: Die Verspätung der Mädchen, das Fehlen der drei Schülerinnen und, wie sich nun herausstellt, auch der Lehrerin Miss McCraw sowie die generelle Unerklärbarkeit der ganzen Vorfälle (»Nobody knows, what happened« – »We were all asleep«)90 erschüttern den streng geregelten Takt des Anstaltslebens in seinen Grundfesten. Das verstockte Schweigen Ediths und ihre Beteuerungen, sich an nichts erinnern zu können, außer daran, dass sie kurz nach dem Verschwinden der Mädchen eine rote Wolke gesehen habe und dass Miss McCraw unschicklicherweise nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet den Berg hinaufgestiegen sei, tragen eher zur Verdunkelung als zu einer Aufklärung der Vorfälle bei. Früh am nächsten Morgen startet die Polizei eine großangelegte Suchaktion nach den Vermissten, bei welcher auch Bluthunde eingesetzt werden – jedoch ohne jeden Erfolg. Als nach einer Woche immer noch keine Spur der Mädchen in Sicht ist, stellt die Polizei die Suche ein. In dem nahegelegenen Ort Woodend hat sich die Nachricht von dem mysteriösen Verschwinden der Mädchen auf Hanging Rock inzwischen verbreitet, die Bürger beginnen zu tratschen und ihre eigenen Theorien zu entwickeln. Die Möglichkeit eines Sexualverbrechens scheint auf, wird jedoch durch den Befund des Arztes wiederlegt, dass die zurückgekehrte, pummelige Edith »quite intact«91 sei. Auch der junge Engländer Michael Fitzhubert, dem das Bild Mirandas seit ihrer Begegnung am Valentinstag nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist, kann sich mit der Ungewissheit der Situation nicht abfinden und beschließt, auf eigene Faust nach den Mädchen zu suchen. Von dem Dienstboten Albert lässt er sich nach Hanging Rock begleiten und campiert nachts alleine auf dem Felsen. In der Mittagshitze des zweiten Tages fällt er auf seiner Suche nach den Vermissten in einen deliriumsähnlichen Zustand, in welchem er die Stimmen der Mädchen hört und ihre früheren Gespräche vom Valentinstag – bei denen er selbst jedoch nicht anwesend war und die er auch sonst in keiner Weise _____________ 90 91

Ebd., Min. 0:37:13–0:37:28. Ebd., Min. 0:40:34.

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III. Der phantastische Diskurs

erzählt bekommen haben könnte – belauscht. Albert, der begonnen hat, sich Sorgen um Michael zu machen, folgt ihm auf den Berg nach und findet ihn vollkommen erschöpft und in einer Art Fiebertrance nahe dem Gipfel des Felsens. Michaels verschmutzte Hand ist fest um ein Stück weiße Spitze geklammert, das, wie sich später herausstellt, ein Stück vom Kleid Irmas ist. Mit Hilfe des Stofffetzens gelingt es schließlich, zumindest eines der vermissten Mädchen ausfindig zu machen: Irma ist bewusstlos, aber sie lebt und hat erstaunlicherweise bis auf einige Kratzer an den Händen und Prellungen am Kopf keine größeren Verletzungen davongetragen. Als Irma gesundheitlich wiederhergestellt ist, wird auch sie von der Polizei und den Ärzten befragt, kann sich jedoch, ebenso wie zuvor Edith, an überhaupt nichts erinnern – »I remember nothing, nothing...« 92 beteuert sie immer wieder schluchzend in den Armen ihrer Französischlehrerin. Das Dienstmädchen des Internats bemerkt, dass unter den Kleidern Irmas vom Tage des Picknicks das Korsett fehlt, aber ebenso wie die rote Wolke und der unschickliche Aufzug von Miss McCraw führt auch diese vermeintliche Spur ins Leere. Unterdessen hat ein schleichender Niedergang des College eingesetzt. Die Leiterin des College, Mrs. Appleyard, hat mit gravierenden finanziellen Problemen zu kämpfen, da nach den Vorfällen auf Hanging Rock immer mehr Eltern ihre Töchter aus der Anstalt abmelden und darüber hinaus seit Monaten die unbezahlten Schulgebühren des Waisenmädchens Sara ausstehen. Zudem fällt es den Lehrkräften immer schwerer, die gewohnte Disziplin aufrechtzuerhalten. Unter den verbliebenen Mädchen in der Anstalt hat sich eine Art stiller Massenhysterie breitgemacht, die bei einem Besuch Irmas während einer Gymnastikstunde zu einer Eskalation führt: Kreischend fallen die Mädchen über Irma her und bedrängen sie mit Fragen und nur mit Mühe kann Mademoiselle de Poiters sie wieder zur Ruhe bringen. Man findet die Waise Sara an eine Wand der Turnhalle gefesselt (angeblich um ihre schlechte Haltung zu korrigieren), die verantwortliche Lehrerin reicht daraufhin ihre Kündigung ein. Die Lage spitzt sich zu, als Mrs. Appleyard, die bereits seit längerer Zeit zu trinken begonnen hat, Sara aufgrund des unbezahlten Schulgelds kaltherzig aus dem Internat wirft, woraufhin sich das verzweifelte Mädchen vom Dach des Schulgebäudes stürzt. Wenige Tage später wird Mrs. Appleyard selbst tot am Fuße des Felsmassivs von Hanging Rock gefunden, die genauen Umstände ihres Todes bleiben ungeklärt. Die Schlusssequenz des Films nimmt das Tableau des Picknicks vom Anfang wieder auf und taucht den Zuschauer erneut in die unbeschwerte Zeitlosigkeit des Sommernachmittags hinein. In der letzten Szene des Films _____________ 92

Picnic at Hanging Rock, Min. 1:21:20.

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ist Miranda zu sehen, die sich bei ihrem Aufbruch zur Exkursion auf den Felsen noch ein letztes Mal winkend zu ihrer Französischlehrerin umdreht. Die narrative Struktur des Films ist dominiert von den Momenten der Unabgeschlossenheit und der Unaufgelöstheit. Bezeichnend hierfür ist in erster Linie das spurlose Verschwinden der Mädchen und ihrer Lehrerin, das verschiedene merkwürdige Begleitumstände aufweist und das bis zum Schluss nicht rational aufgeklärt werden kann: Weder finden sich konkrete Hinweise auf einen Kidnapper oder Sexualverbrecher, noch lässt das sonderbare, wie hypnotisierte Verhalten der Verschollenen darauf schließen, dass es sich hier um einen gewöhnlichen Unfall in den Bergen handelt. »So much masculine intellect«, lamentiert Mrs. Appleyard über den Verlust der Mathematikleherin Greta McCraw in einem ihrer alkoholisierten Monologe, »how could she allow herself to be spirited away?«93 Eine derartige übernatürliche Erklärung der Vorfälle nimmt auch im Kopf des jungen Michael zunehmend Gestalt an, der in seiner schwärmerischen Idealisierung der ätherischen Miranda wiederkehrend Zeichen für die Verwandlung des Mädchens in einen Schwan findet. Diese irrationalen Erklärungsansätze bleiben jedoch skizzenhaft neben den rationalen Erklärungsmöglichkeiten bestehen und werden im Film nicht weiter ausgeführt – das Geschehen bleibt konsequent ambigue. Auf einer zweiten, übertragenen Bedeutungsebene impliziert das Verschwinden der Mädchen schließlich auch einen geistigen und sexuellen Befreiungsakt,94 eine allegorische Reise in ein spirituelles, vom Rhythmus der Natur beherrschtes, ursprüngliches Australien. Dabei ist der Film jedoch auch in einem derartigen Interpretationsansatz nicht eindeutig auflösbar: Der ausgeprägte Referentialitätscharakter des Films, der darin gipfelt, dass die erzählerische Fiktion hier mittels der Integration von scheinbar faktischem Material, wie z. B. Zeitungsberichten und Polizeireports, als dokumentierte Realität präsentiert wird, lässt darauf schließen, dass die Ereignisse zunächst in einem ganz konkreten Sinn, ›wörtlich‹ zu nehmen sind – eine Reduktion der Deutungsvielfalt des filmischen Textes auf eine Lesart als reine Allegorie ist im Film selbst nicht angelegt. Neben dem Verschwinden der Mädchen demonstriert sich die Unaufgelöstheit der Erzählung schließlich auch noch auf verschiedenen anderen Ebenen, so beispielsweise in dem Handlungsstrang um das Waisenmädchen Sara, von der sich herausstellt, dass sie die Schwester Alberts, des Dienstboten der Fitzhuberts, ist, ohne dass die Geschwister im Verlauf des Films jedoch zueinander finden. In der Nacht ihres Selbstmords erscheint Sara ihrem Bruder allerdings im Traum und _____________ 93 94

Ebd., Min. 1:36:56–1:37:05. Vgl. hierzu insbesondere Don Shiach (1993): Picnic at Hanging Rock. In: ders.: The Films of Peter Weir. Visions of Alternativ Realities, London, S. 37–56.

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III. Der phantastische Diskurs

verabschiedet sich von ihm – ein weiteres ungeklärtes Rätsel, das der Film dem Zuschauer aufgibt. Unaufgelöst ist letztendlich auch der Tod Mrs. Appleyards, der sowohl als Unfall oder auch als Selbstmord deutbar ist. Die konsequente Mehrdeutigkeit sowie die desorientierende Wirkung auf den Zuschauer – Adrian Martin spricht von einer »shifting, disorientating relationship with the audience«95 – macht Picnic at Hanging Rock zu einem prototypischen Beispiel phantastischen Erzählens im Film. Aus narratologischer Sicht lässt sich der Effekt der Desorientierung dabei in erster Linie auf den Umgang des Films mit dem Faktor Zeit, d. h. auf die Gestaltung der temporalen Struktur der Erzählung zurückführen: Hinsichtlich aller drei Genette’scher Kategorien der Ordnung, Dauer und Frequenz des Erzählten weist der Film narrative Besonderheiten auf, die zum Eindruck eines subjektiven Sich-Verlierens der Protagonisten in der Zeit sowie zu einer Transformation und Auflösung zeitlicher Strukturen beitragen. Mit Blick auf die Kategorie der Ordnung findet sich zunächst eine Tendenz zur Durchbrechung des natürlichen, linearen Flusses der Zeit durch antizipatorische Vorwegnahmen der Zukunft sowie Rückblicke auf vergangenes Geschehen. So bewahrheitet sich zum einen Mirandas Vorausdeutung auf ihr Verschwinden (»I won’t be here much longer«),96 wodurch ihr, wie dies ihre Freundin und glühende Bewunderin Sara später auch explizit tut, gewissermaßen eine prophetische Kenntnis der Zukunft zugeschrieben wird: »Miranda knows lots of things other people don’t know. Secrets. She knew she wouldn’t come back« ,97 äußert sich Sara gegenüber Mademoiselle de Poitiers einmal beiläufig. Zum anderen findet durch wiederholte Flashbacks eine Einschreibung der Vergangenheit in die Gegenwart statt, was sich besonders auffällig in der Szene demonstriert, in der Michael bei seiner zweiten Exkursion zum Hanging Rock die Gespräche der Mädchen vom Valentinstag hört. Durch diese Durchbrechung der temporalen Ordnung findet insgesamt eine Verstärkung des wunderbaren Charakters der Ereignisse statt, indem die naturgegebene, menschliche Beschränkung des Wissens auf Ereignisse der Gegenwart sowie einer selbsterlebten Vergangenheit aufgehoben scheint. Bezüglich der Dauer des Geschehens sind vor allem die an impressionistische Gemälde erinnernden Szenen des Picknicks sowie die Szenen des Aufstiegs der Mädchen zum Felsmassiv und ihres Schlafs auf dem Felsen bemerkenswert (Abb. 48–55). Die Zeit scheint in diesen Szenen einerseits wie stillgestellt zu sein: Dass es sich bei den Einstellungen auf die Schlafenden nicht um Standbilder handelt, ist nur an Details, wie etwa einer _____________ 95 96 97

Adrian Martin (1980): Fantasy. In: The New Australian Cinema, hrsg. v. Scott Murray, Melbourne, S. 97–111, S. 102. Picnic at Hanging Rock, Min. 0:05:40. Ebd., Min. 1:24:52–1:25:11.

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krabbelnden Fliege auf dem nackten Fuß eines Mädchens oder einer Echse, die am Arm Mirandas vorbei durch das Bild huscht, erkennbar. Andererseits wird durch das Verfahren der Zeitlupe im Wechsel mit einer extremen Zeitraffung der Eindruck einer zeitlichen Dauer der Ereignisse erzeugt, der von der ›normalen‹ Zeitwahrnehmung stark abweicht: So sind in die in Zeitlupe dargestellten Szenen des Aufstiegs der Mädchen zum Gipfel des Berges, des verträumten Blicks Mirandas in die Sonne sowie des Tanzes Irmas auf einem Felsplateau wiederholt Zeitrafferaufnahmen, wie z. B. das Gewimmel von Ameisen auf einem Stück Torte und am Felsen vorbeifliegende Wolkenfetzen, geschnitten. Dieser alternierende Wechsel zwischen einer extremen Dehnung und Raffung des Geschehens, der einhergeht mit einem Wechsel zwischen einer sanften Panflötenmusik und einem aus dem Felsen hervordringenden, fernen, unterirdischen Grollen, kreiert einen eigentümlichen Rhythmus des Films, der auf den Filmzuschauer seduktiv und beunruhigend zugleich wirkt. Eine dritte Besonderheit der Zeitstruktur des Films ist schließlich ein stark repetitives Erzählen, das die temporale Kategorie der Frequenz, d. h. die zeitlichen Wiederholungsbeziehungen zwischen den Ereignissen, betrifft. So werden in Picnic at Hanging Rock die Ereignisse des 14. Februar 1900 dem Zuschauer nicht nur singulativ in Form der monstration durch die ›Kamera‹ präsentiert, sondern darüber hinaus im Rahmen von Polizeibefragungen, Arztgesprächen, Diskussionen zwischen den Beteiligten etc. wiederkehrend aufgerollt und von verschiedenen Erzählerfiguren aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt. Auf diese Weise kreist das gesamte Geschehen unablässig um die Ereignisse des Valentinstags des Jahres 1900: Die Beteiligten können die Vergangenheit nicht abschütteln und sind gewissermaßen in einer ›Zeitschleife‹ gefangen, wobei dieses Bild des Gefangenseins in einer Schleife der endlosen Wiederholung in auch mit den psychologischen Momenten der Schuld und der Verdrängung in Verbindung zu bringen ist. Am Ende kehrt sich die Struktur der zeitlichen Wiederholung schließlich ins Wunderbare, indem die Szenen des Picknicks vom Anfang wieder aufgenommen und die Toten auf diese Weise gleichsam ›wiederbelebt‹ werden. In Picnic at Hanging Rock treffen ein lineares und ein zyklisches, mythisch-poetisches Zeitkonzept aufeinander, wodurch ein Riss sowohl im temporalen Gefüge der Narration als auch im Realitätssystem der erzählten Welt des Films entsteht. In den strengen Alltagsrhythmus der Erziehungsanstalt, versinnbildlicht in dem unaufhörlichen Ticken der großen Standuhr in Mrs. Appleyards Büro sowie in den über das gesamte Internatsgebäude verteilten Uhren und Zeitindexen (Abb. 57–58), brechen die Ereignisse auf dem Felsen von Hanging Rock als unkontrollierbares Geschehen ein, das scheinbar von Kräften, die älter sind als der Mensch,

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III. Der phantastische Diskurs

Abb. 48–55: Picnic at Hanging Rock. Exkursion und Schlaf der Mädchen auf dem Felsen

2. Die Struktur der Zeit

Abb. 56–58: Picnic at Hanging Rock. Uhren und Zeitindexe

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III. Der phantastische Diskurs

ins Rollen gebracht wurde und das dazu führt, dass der gleichmäßige Takt des Lebens im Internat aus den Fugen gerät. Einen ersten Hinweis auf diesen Riss in der Zeit liefert eine Szene am Beginn des Picknicks: Um genau zwölf Uhr, so bemerken Mr. Hussey und Miss Mc Craw verblüfft, sind ihrer beider Taschenuhren stehengeblieben (Abb. 56). Und auf die Frage Mademoiselle de Poiters’, ob Miranda ihre hübsche Diamantuhr trage und ihnen die Uhrzeit nennen könnte, antwortet diese: »Don’t wear it anymore. Can’t stand the ticking above my heart.«98 Miranda wird in dieser und in den folgenden Szenen zunehmend zu einer Agentin der zyklischen, mythisch-poetischen Zeit des Felsens: Nicht nur besitzt sie scheinbar prophetische Fähigkeiten, sondern sie entzieht sich auch der Kontrolle des von den Menschen geschaffenen, linearen Zeitrhythmus’ und vertritt ein pandeterministisches Weltbild, das von der Kreislaufhaftigkeit und schicksalhaften Vorherbestimmtheit sämtlichen Geschehens ausgeht: »Everything begins and ends at exactly the right time and place«,99 bemerkt sie so im Gespräch mit den anderen Mädchen auf dem Felsen. Auf discours-Ebene wird das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, miteinander unvereinbarer Zeitkonzepte schließlich durch einen permanenten Wechsel zwischen einer mit normaler Geschwindigkeit verlaufenden, linear-chronologischen Zeit und einer durch extreme Dehnungen und Raffungen transformierten, achronologischen, sich wiederholenden Zeit verbildlicht. Auf diese Weise entsteht ein eigentümlicher, hypnotischer Rhythmus des Films, der, wie der Regisseur Peter Weir bemerkt, den Zuschauer einlullen und ihn offen für das Unaufgelöste, Mehrdeutige der Erzählung machen soll. 100

_____________ 98 Picnic at Hanging Rock, Min. 0:18:23–0:18:27. 99 Ebd., Min. 0:30:33–0:30:42. 100 Vgl. hierzu auch eine Aussage des Regisseurs Peter Weir: »It did seem to me [...] the only way to approach it was to work in the style of a European film with the slower rhythms, with the lack of exciting developments that lead you to an expectation of a solution, but to try to develop within this approach something approaching the hypnotic, that is the rhythm of the film world lull you into another state and you would begin to go with the film and drop your expectations.« Peter Weir in einem Interview mit Jonathan Rayner, Juni 1993. In: Rayner 2006, S. 61.

3. Erzählebenen

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3. Erzählebenen In Ergänzung der vorausgegangenen Kapitel zur Perspektive und zur Zeitstruktur des Erzählten widmet sich das vorliegende Kapitel abschliessend der Einführung intradiegetischer Erzählinstanzen sowie der damit verbundenen Eröffnung hierarchisch verschiedener Erzählebenen im phantastischen Film. Untersucht werden hier somit Aspekte derjenigen Kategorie des narrativen Diskurses, die Gérard Genette unter dem Begriff der Stimme (voix) fasst und nach der er mit »qui parle?« fragt. Wie in Kap. II.1.2. angesprochen, sind im Medium Film die Ereignisse jedoch selten rein sprachlich (z. B. über Voice-over, Zwischentitel oder die mündliche Rede einer intradiegetischen Erzählerfigur) vermittelt. Weitaus häufiger findet sich dagegen der Fall eines zeigenden bzw. mimetischen Erzählens, bei welchem die Ereignisse dem fiktiven Zuschauer von der ›Kamera‹ so präsentiert werden, als ob sie sich ›von selbst‹ erzählen. Daraus ist zu schließen, dass der ›Stimme‹ des Erzählers im engeren, nichtmetaphorischen Sinn im phantastischen Film grundsätzlich ein anderer Stellenwert zukommt als in der phantastischen Literatur: Die »kalkulierte und rigorose Destablisierung von Erzählinstanzen« (Wörtche)101 betrifft hier weniger den verbal- bzw. schriftsprachlichen Diskurs des Erzählers (z. B. sprachliche Verfahren der Modalisation, ›Zerrüttungen‹ der Grammatik etc.), sondern ist demgegenüber ein Resultat der ›Mehrstimmigkeit‹ des filmischen Textes, d. h. des Zusammenspiels von Sprache/Schrift, Bild und Ton, sowie binnenfiktional der mehrstimmigen Präsentation des Geschehens durch verschiedene Erzählinstanzen.102 Die Funktion des Erzählers in der phantastischen Literatur sowie dessen sprachliche Selbstpräsentation ist besonders in den Arbeiten von Wörtche und Durst eingehend untersucht worden.103 In der phantastischen Literatur, so ihre Schlussfolgerung, tritt der Erzähler vielfach als ein destabilisierter, psychisch derangierter Erzähler in Erscheinung, der von permanenten Wahrnehmungszweifeln geplagt ist und der nicht in der Lage ist bzw. auch gar nicht den Willen hat, dem Leser gegenüber eine Verlässlichkeit des von ihm Geschilderten zu behaupten. »Insofern der _____________ 101 Wörtche 1987, S. 159. 102 Besonders ausgeprägt findet sich eine derartige Mehrstimmigkeit im frühen phantastischen Film. So treten hier vielfach intradiegetische Erzähler als schriftliche, zumeist anonyme Verfasser von Chroniken, Abhandlungen, Tagebüchern, Manuskripten, Briefen etc. auf, deren Erzählerberichte in Form von Zwischentiteln in die Filmhandlung integriert werden und die den visuellen Diskurs der ›Kamera‹ auf diese Weise ergänzen. Die Einführung derartiger intradiegetischer Erzählinstanzen eröffnet hier jeweils eine neue Erzählebene und trägt zu einer Verschachtelung und Verkomplizierung der Narration bei. 103 Vgl. Wörtche 1987, Kap. ›Die Rolle der Erzählinstanz‹, S. 134-160 sowie Durst 2007, Kap. ›Der destabilisierte Erzähler‹, S. 185-201.

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III. Der phantastische Diskurs

Erzähler traditionell eine Instanz der Objektivität darstellt, die die Ereignisse der erzählten Welt garantiert«, so Durst, »bildet seine Zerrüttung die inszenatorische Grundlage der phantastischen Literatur [...].«104 Wie bereits Todorov gezeigt hat, kann eine derartige Destabilisierung des Erzählers dabei zunächst über das Verfahren der Modalisation erfolgen: Durch Wendungen wie »Es war mir als ob...«, »Es hatte den Anschein…«, »War ich eingeschlafen und hatte alles nur geträumt...?« wird eine Unsicherheit des Sprechers hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der von ihm getroffenen Aussage angezeigt und den potentiell übernatürlichen Ereignissen somit ihr absoluter Gültigkeitsanspruch verwehrt.105 Bei Wörtche werden diese Modalisationen auch als ›Als-ob‹-Konstruktionen bezeichnet und als ein typisches Verfahren zur Erzeugung von Indifferenz und Mehrdeutigkeit auf stilistischer Ebene des Textes identifiziert.106 Des Weiteren kann, wie bei Wörtche zumindest angedeutet wird, auch die Einführung eines unzuverlässigen Erzählers (unreliable narrator) zu einer phantastischen Unschlüssigkeit beitragen. Ein Erzähler, der sich permanent in Widersprüche verwickelt, der sich dem Verdacht der Lügenhaftigkeit ausgesetzt sieht oder, für den Fall, dass man es nicht mit einer absichtsvollen Lüge zu tun hat, mutmaßlich einer optischen Täuschung, einem Irrtum, dem Wahnsinn o. ä. verfallen ist, ruft einen fundamentalen Zweifel an den von ihm dargestellten Ereignissen hervor.107 Solche unzuverlässigen Erzähler können, ähnlich wie beim Verfahren der Modalisation, auf stilistischer Ebene durch eine »zerrüttete Grammatik«108 hervortreten, d. h. durch einen von der Norm abweichenden Sprachstil, der hier als Spiegel der zerrütteten, gestörten Psyche des Sprechers anzusehen ist. Das eigentlich charakteristische Merkmal eines unreliable narrator besteht jedoch in der Dissoziierung des fiktiven Erzählers vom Wertehorizont des Werks: Durch das Aufscheinen einer Diskrepanz zwischen dem, was der fiktive Erzähler dem fiktiven Leser/Zuschauer zu vermitteln versucht, und einer zweiten Version des Geschehens, die lediglich aus Andeutungen im Kontext zu erschließen ist, wird der fiktive Erzähler im Verlauf der Erzählung so Schritt für Schritt als ein unreliable narrator entlarvt.109 Für den Fall, dass die Unzuverlässigkeit des Erzählers am Ende _____________ 104 Durst 2007, S. 185. 105 Vgl. Todorov 1970, S. 42f. Eine Modalisation liegt Todorov zufolge dann vor, wenn durch bestimmte einführende Wendungen die Beziehung zwischen dem Subjekt des Aussagens und der Aussage modifiziert wird, ohne dass sich dabei der Sinn des Satzes ändert. 106 Wörtche 1987, S. 102. 107 Zum unzuverlässigen Erzähler in der phantastischen Literatur, der bei Wörtche allerdings nicht explizit unter dieser Bezeichnung geführt wird, vgl. ebd., S. 180–184. 108 Ebd., S. 184; vgl. Durst 2007, S. 191. 109 Vgl. auch Nünning 1998, S. 6.

3. Erzählebenen

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der Erzählung jedoch nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, d. h. der Erzähler nicht klar als Wahnsinniger, Lügner o. ä. entlarvt wird, hat man es hier mit einem potentiell phantastischen Verfahren zu tun. Schließlich kann, wie Wörtche am Beispiel von Jan Potockis Le manuscrit trouvé à Saragosse und Hanns Heinz Ewers’ Geisterseher-Roman demonstriert, auch die Technik der Rahmenerzählung bzw. eine mehr oder weniger komplexe Verschachtelung der Erzählebenen eine Mehrdeutigkeit des Dargestellten zur Folge haben. Bei Wörtche heißt es dazu: »Bei einer so komplizierten Schachtelung wie in der Handschrift von Saragossa […] wird die Verlässlichkeit bzw. Unverlässlichkeit des Erzählens, ungeachtet des aufklärerischen Wahrheitspostulats, nachgerade thematisiert.«110 Damit spricht Wörtche sicherlich kein klassisches Merkmal der Rahmenerzählung an: Die Funktionen der Rahmenerzählung, so der Konsens der literaturwissenschaftlichen Rahmenerzählforschung, belaufen sich im Allgemeinen auf eine Stabilisierung des Erzählten und können so von einer integrierenden und strukturierenden Funktion des Rahmens (Sammelfunktion), über eine Authentifizierung des Erzählten, die Inszenenierung von Erzählmotiven bis hin zu ästhetischen Funktionen wie Similaritätsund Kontrastwirkungen oder einer Thematisierung von Selbstreferentialität reichen.111 Erst in jüngerer Zeit hat Werner Wolf in zwei Aufsätzen darauf verwiesen, dass die Konstruktion eines Erzählrahmens auch eine gegenteilige Funktion besitzen kann und, wie er am Beispiel von Henry James’ The Turn of the Screw und Joseph Conrads Heart of Darkness verdeutlicht, auf eine Mehrdeutigkeit und Interpretationsoffenheit der eingebetteten Binnenerzählung hinweisen kann.112 Darüber hinaus können Rahmen- und Schachtelkonstruktionen in bestimmten Fällen schließlich auch selbst zu einer Destabilisierung und des Erzählten beitragen, indem durch derartige Konstruktionen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Realität und Traum oder auch Realität und Virtualität verwischt werden und auf diese Weise eine Demontage der narrativen sowie der ontologischen Ordnungen des Erzählten betrieben wird. Solche destabilisierenden und ›verfremdeten‹ Rahmungen – Werner Wolf spricht auch von »defamiliarized framings« –,113 die unter anderem rekursive und meta_____________ 110 Wörtche 1987, S. 144, Anm. 80. Vgl. auch ders., S. 148. 111 Vgl. Andreas Jäggi (1994): Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage, Bern, S. 57f. und S. 111–147; Werner Wolf (2006a): Framing Borders in Frame Stories. In: Framing Borders in Literature and Other Media, hrsg. v. Werner Wolf/Walter Bernhart, Amsterdam/New York, S. 179–206. 112 Wolf 2006a, hier S. 196; ders. (2006b): Defamiliarized Initial Framings in Fiction. In: Framing Borders in Literature and Other Media, hrsg. v. Werner Wolf/Walter Bernhart, Amsterdam/New York, S. 295–328. 113 Wolf 2006a, S. 196.

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III. Der phantastische Diskurs

leptische Rahmungen umfassen, sollen im Folgenden am Beispiel der Filme Das Cabinet des Dr. Caligari und Dead of Night untersucht werden. 3.1. Rahmen- und Schachtelkonstruktionen. Das Cabinet des Dr. Caligari The atmosphere of the picture had to breathe an air of unreality. Nothing in this film project was to resemble photographed reality. The painters explained it must be an expression of inner experience, looming up into a fantastic world of horror, of frenzied murder and death.114

Der Film Das Cabinet des Dr. Caligari, der 1919 unter der Regie von Robert Wiene nach einem Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz gedreht und 1920 in Berlin uraufgeführt wurde, gilt als ein Schlüsselwerk der Filmgeschichte und als der wichtigste Vertreter des deutschen expressionistischen Stummfilms. Mit seinen schrägen Linien und verzerrten Perspektiven, den deformierten Bauten sowie den schweren, oft überdimensional hohen Schatten hat der Film den visuellen Stil der zeitgenössischen Produktionen entscheidend beeinflusst und wurde zu einem »Katalysator des Zeitgeists« sowie zum »Maßstab für Expressionismus im Kino« schlechthin.115 Ein signifikantes Detail, das in der Rezeptionsgeschichte des Films zumeist unerwähnt bleibt, ist dabei jedoch der Umstand, dass der ›expressionistische‹ Stil des Films ursprünglich keinesfalls geplant war: So hatte der Drehbuchautor Hans Janowitz nach eigener Aussage beabsichtigt, die Szenerie im Stil der phantastischen Zeichnungen Alfred Kubins zu gestalten, welche für ihn eine der wichtigsten Inspirationsquellen beim Verfassen des Filmskripts dargestellt hatten. Aufgrund der Unkenntnis von Kubins Werk von Seiten der Produktionsfirma wurde der Wunsch nach ›kubinischen Bildern‹ jedoch als Wunsch nach ›kubistischen Bildern‹ missverstanden und diese wiederum mit der Stilrichtung des Expressionismus, _____________ 114 Hans Janowitz (1990): Caligari – The Story of a Famous Story (Excerpts). In: The Cabinet of Dr. Caligari. Texts, Contexts, Histories, hrsg. v. Mike Budd, London, S. 221–239, S. 236. 115 Elsaesser 1999, S. 57. Zum expressionistischen Stil des Films ist viel geschrieben worden, die Diskussion soll an dieser Stelle daher nicht noch einmal aufgerollt werden. Stattdessen ist exemplarisch auf folgende Arbeiten zu verweisen: Eisner 1955, insbes. Kap. 2: ›Die Geburt der expressionistischen Filmkunst. Das Kabinett des Dr. Caligari (1919) – Genuine (1920)‹, S. 11–21; Kracauer 1979, insbes. Kap. 5: ›Caligari‹, S. 67–83; Viktor Žmegaÿ (1970): Exkurs über den Film im Umkreis des Expressionismus. In: Sprache im technischen Zeitalter, H. 35, S. 243–257; David Robinson (1997): Das Cabinet des Dr. Caligari, London; Elsaesser 1999, insbes. Kap. I.2. ›Verhandlungen mit Caligari‹, S. 57–96.

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die zu jener Zeit den Kubismus bereits abgelöst hatte, in Verbindung gebracht.116 Diese Anekdote möchte die vorliegende Arbeit zum Ausgangspunkt eines neuen Blicks auf Das Cabinet des Dr. Caligari nehmen und eine Auseinandersetzung mit dem Film unter dem in der Forschungsliteratur bislang eher seltener berücksichtigten Gesichtspunkt des Phantastischen betreiben. Neben der unheimlichen und übernatürlichen Thematik des Films gilt ein besonderes Augenmerk dabei der Form der Narration, deren auffälligstes Merkmal die Rahmenstruktur bzw. die Verschachtelung des Erzählten durch die Einführung einer Vielzahl verschiedener, einander widersprechender Erzählerinstanzen ist, und die die Grundlage für die Doppeldeutigkeit des Films bildet. Der Film Das Cabinet des Dr. Caligari spielt in einem fiktiven norddeutschen Städtchen, vor dessen Toren seit Kurzem ein Jahrmarkt Einzug gehalten hat. Hauptattraktion ist der Schausteller Caligari und sein weissagendes Medium, der Somnambule Cesare, der sein gesamtes Leben in ununterbrochenem Schlaf verbracht hat und der von den hypnotischen Kräften seines Meisters wie eine Marionette gesteuert wird. »Cesare«, so die Ankündigung Caligaris, »kennt alle Geheimnisse… Cesare kennt die Vergangenheit und sieht in die Zukunft... Überzeugen Sie sich selbst… Treten Sie heran!«117 Unter den neugierigen Schaulustigen, die sich in Caligaris Schreckenskabinett die Zukunft voraussagen lassen, befinden sich eines Abends auch Francis und Alan, zwei befreundete Studenten, die beide in Jane, eine Arzttochter, verliebt sind. Der sensible Alan wird durch das Spektakel auf der Bühne in Caligaris Zelt stark erregt und trotz der Versuche seines Freundes, ihn zurückzuhalten, drängt er sich durch das Publikum nach vorne und stellt dem Somnambulen die Frage »Wie lange werde ich leben?«118 Mit starrem, geistesabwesendem Blick, die schwarzummalten Augen in eine leere Ferne gerichtet, spricht Cesare daraufhin die düstere Prophezeiung aus: »Bis zum Morgengrauen…«119 Die Voraussage des Somnambulen bewahrheitet sich und am nächsten Morgen erfährt Francis, dass Alan nachts in seinem Schlafzimmer mit einem Dolch erstochen wurde. Der Student ist damit bereits das zweite Opfer einer mysteriösen Mordserie, die seit dem Einzug des Jahrmarkts das kleine Städtchen in Atem hält: Erst wenige Tage zuvor war der Stadtsekretär, der mit der Ausstellung der Gewerbelizenzen der Jahrmarktbudenbetreiber betraut war, ermordet aufgefunden worden. Angesichts der offenkundigen Ratlosigkeit der Polizei beschließt Francis, den Ereignissen _____________ 116 Janowitz, in: Budd 1990, S. 222f. 117 Zwischentitel aus: Das Cabinet des Dr. Caligari (Deutschland 1920, Regie: Robert Wiene, VHS-Fassung, S/w, stumm, 79 Min.), Min. 0:20:48. 118 Ebd., Min. 0:22:07. 119 Ebd., Min. 0:22.26.

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selbst auf den Grund zu gehen und Nachforschungen über den geheimnisvollen Caligari anzustellen. »Ich will nicht ruhen, bis ich die furchtbaren Dinge, die ringsum geschehen, begreife«,120 teilt er den Polizeibeamten mit und eröffnet so den detektivischen Plot. In der Nacht beschattet Francis den Wohnwagen des Schaustellers. Ihm entgeht jedoch, dass der Somnambule den Wohnwagen heimlich verlassen hat und sich nun auf dem Weg zur Villa befindet, in welcher Jane und ihr Vater, der Medizinalrat Dr. Olsen, leben. In einem tranceähnlichen Zustand dringt Cesare dort in das Zimmer Janes ein und nähert sich dem schlafenden Mädchen mit einem spitzen Dolch. Als Jane aufwacht und zu schreien beginnt, zerrt er sie aus ihrem Bett und trägt sie über die spitzen, verwinkelten Dächer der Stadt hinweg, über eine Brücke und hinaus auf ein Feld. Dort wird Cesare von dem zwischenzeitlich erwachten Vater Janes und dessen Dienerschaft eingeholt. Vollkommen erschöpft lässt der Somnambule das entführte Mädchen fallen und taumelt mit weit von sich gestreckten Armen an knochigen, windschiefen Bäumen vorbei einen kleinen Weg entlang – bis er schließlich wie eine Marionette, deren Fäden man unvermittelt durchtrennt hat, am Wegrand zusammenbricht. Im Anschluss an die nächtlichen Ereignisse erwirkt Francis die polizeiliche Durchsuchung von Caligaris Wohnwagen. Dabei fördern die Polizeibeamten eine Puppe zutage, die Cesare zum Verwechseln ähnlich sieht und die der Schausteller in der sargähnlichen Kiste, in der Cesare üblicherweise schläft, aufbewahrt hat. Nachdem nun immer klarer wird, dass der Somnambule auf Caligaris Anweisungen hin die Morde verübt hat, während Caligari die Puppe zum Zwecke eines Täuschungsmanövers in dessen Schlafstätte verwahrt hat, scheint der Fall sich seiner Auflösung zu nähern. Der Jahrmarktsschausteller, der sich als Mörder entlarvt sieht, ergreift die Flucht und Francis nimmt seine Verfolgung auf. Die Spur Caligaris führt den Studenten aus der kleinen Stadt hinaus, über Felder und schließlich auf das Gelände einer vor den Toren der Stadt gelegenen Irrenanstalt. Dort macht Francis die überraschende Entdeckung, dass Caligari neben seiner Beschäftigung auf dem Jahrmarkt zugleich den Posten des Direktors der Anstalt innehat. Bei einer Durchsuchung seines Büros findet Francis mit Unterstützung der übrigen Anstaltsärzte drei Bücher, die Aufschluss über die Vorvergangenheit und die psychologischen Hintergründe der Ereignisse geben: Bei dem ersten Buch handelt es sich um eine wissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel Somnambulismus – »Sein Specialstudium«,121 wie einer der Ärzte bemerkt. Das zweite Buch, eine alte Chronik, erzählt die Geschichte eines Hypnotiseurs namens _____________ 120 Das Cabinet des Dr. Caligari, Min. 0:29:57. 121 Ebd., Min. 1:00:59.

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Dr. Caligari, der Anfang des 18. Jahrhunderts mit seinem Medium Cesare durch verschiedene Städte Oberitaliens gezogen war und die dortige Bevölkerung durch minutiös geplante Morde, die er von dem schlafwandelnden Medium ausführen ließ, in Atem gehalten hatte. Bei dem dritten Buch schließlich handelt es sich um das Tagebuch des Anstaltsdirektors, welches Auskunft über dessen psychische Krankheitsgeschichte gibt. Der Direktor, so erfahren die Lesenden, war von der Zwangsvorstellung besessen, er müsse »Caligari werden«122 und nach dem Vorbild des historischen Caligari einen Somnambulen als Mordinstrument missbrauchen, um dessen »psychiatrische[s] Geheimnis«123 zu ergründen. Der demaskierte, im Wahnsinn rasende Anstaltsdirektor wird daraufhin von mehreren Pflegern in einer Zwangsjacke abgeführt. In der Rahmenhandlung wird die gesamte Geschichte schließlich in einer zweiten, umgekehrten Version erzählt. Hier wird Francis selbst als Patient der psychiatrischen Klinik gezeigt, der einem Mitinsassen auf einer Parkbank von seinen Erinnerungen an seltsame und unerklärbare Ereignisse aus seinem Leben berichtet, die dadurch ausgelöst werden, dass er im Garten seine angebliche Verlobte Jane vorbeigehen sieht. Bei dem gesamten Geschehen der Binnengeschichte, so die Implikation der Rahmenhandlung, handelt es sich lediglich um die subjektive Projektion eines offensichtlich selbst wahnsinnigen Erzählers. Einen Höhepunkt erreicht die Szene in der Irrenanstalt schließlich, als der Anstaltsdirektor persönlich auf der Bildfläche erscheint und Francis ihn in Raserei attackiert. In einer Verdopplung der Schlussszene der Binnengeschichte wird Francis daraufhin in einer Zwangsjacke abgeführt, der Anstaltsdirektor präsentiert sich demgegenüber in der Rolle des mitfühlenden, um seine Patienten besorgten Arztes, der eine baldige Heilung Francis’ in Aussicht stellt: »Endlich begreife ich seinen Wahn«, sinniert er, während er seine runde Brille abnimmt, »er hält mich für jenen mystischen Caligari..! Und nun kenne ich auch den Weg zu seiner Gesundung.«124 Daraufhin schließt sich eine Irisblende langsam um den Kopf des Direktors, bis die Szene am Ende in völliges Schwarz getaucht ist. Der Film Das Cabinet des Dr. Caligari bildet zusammen mit Filmen wie Der Student von Prag, Orlacs Hände oder auch den noch ausführlicher zu besprechenden Filmen Alraune und Unheimliche Geschichten (vgl. Kap. IV.) ein prototypisches Beispiel phantastisches Erzählens im frühen Film. Das Hin- und Herpendeln zwischen verschiedenen übernatürlichen, psychopathologischen und kriminalistischen Erklärungsangeboten, die Einfüh_____________ 122 Ebd., Min. 1:06:57. 123 Ebd., Min. 1:05:20-1:06:01. 124 Ebd., Min. 1:19:11.

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III. Der phantastische Diskurs

rung ambivalenter, doppelgesichtiger Figuren – welche hier nicht nur an den erzählten Ereignissen beteiligt sind, sondern die zudem auch deren Narration übernehmen – sowie die visuelle Verzerrung und Deformation des filmischen Raums erzeugen eine instabile erzählte Welt, die weder klar als reale noch als irreale Welt klassifiziert werden kann. Im Hinblick auf die narrative Präsentation des Dargestellten ist es schließlich vor allem die Verdopplung und Verschachtelung des Erzählten durch die Konstruktion einer Rahmenhandlung, die eine Destabilisierung und Ambiguisierung der Erzählten bewirkt und die Das Cabinet des Dr. Caligari zu einem charakteristischen Vertreter des phantastischen Erzählens im frühen Film macht.125 Alter Mann: »Es gibt Geister... Überall sind sie um uns her... mich haben sie von Haus und Herd, von Weib und Kind getrieben...« Francis: »Das ist meine Braut… Was ich mit dieser erlebt habe, ist noch viel seltener, als das, was Sie erlebt haben... Ich will es Ihnen erzählen.« 126

Mit diesem Dialog, der sich auf einer Parkbank zwischen einem alten Mann und dem Erzähler der Binnengeschichte, Francis, entfaltet, beginnt der Film Das Cabinet des Dr. Caligari und stimmt den Zuschauer damit zunächst auf ein potentiell übernatürliches Geschehen ein: Von ›Geistern‹ ist die Rede und es ist eine junge Frau – Jane – zu sehen, die in einem langen weißen Kleid mit einem abwesenden Gesichtsausdruck, als wäre sie ›nicht von dieser Welt‹, an den beiden Männern im Park vorbeiwandelt (Abb. 59). Derartige Hinweise auf ein übernatürliches Geschehen tauchen in der daraufhin einsetzenden Binnenerzählung besonders in dem Handlungsstrang um den Somnambulen Cesare wieder auf: Cesare, so erfährt der Zuschauer, besitzt prophetische Fähigkeiten, die darauf zurückzuführen sind, dass er die meiste Zeit in einer anderen, jenseitigen Welt lebt und nur für Augenblicke aus seiner ›Totenstarre‹, aus seiner ›dunklen Nacht‹ erwachen kann.127 Neben diesen unheimlichen und übernatürlichen Erzählelementen tritt in der Binnenhandlung zunehmend ein kriminalistisches Element in den Vordergrund. Francis, der Erzähler der Binnengeschichte, schlüpft hier nach und nach in die Rolle des Detektivs, der um eine Aufklärung der mysteriösen Mordfälle, die in dem Städtchen Holstenwall geschehen, bemüht ist, wobei er als Erzähler zugleich die Aufgabe übernimmt, ein verbrecherisches Geschehen aus dem ›Vor-Geschichtenhaften‹ und ›Unerzählten‹ ans Licht zu bringen.128 Zur Aufklärung des Falles – der sich nun allerdings von einem kriminalistischen immer mehr zu einem _____________ 125 Vgl. hierzu auch Elsaesser und Thompson, die in der Struktur der Rahmenerzählung das charakteristischste Merkmal des phantastisch-expressionistischen Films der 1910er und 1920er Jahre sehen. Elsaesser 1999, S. 76; Thompson 2002, S. 143. 126 Das Cabinet des Dr. Caligari, Min. 0:01:59-0:03:32. 127 Ebd., Min. 0:15:18-0:18:50. 128 Bloch 1965, S. 247.

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psychologischen Fall wandelt – tragen wiederum zwei eingeschobene Binnenerzählungen bei (Abb. 60): Eine von einem unbekannten Autor verfasste Chronik aus dem 18. Jahrhundert, welche Francis und die Anstaltsärzte im Büro des Anstaltsdirektors finden, sowie das Tagebuch des Direktors, dessen Inhalt teils in Schriftform, also ›in der Feder‹ des Direktors, teils in Form eines visuellen Flashbacks wiedergegeben wird. Am Schluss des Films springt die Handlung schließlich auf die höchste Erzählebene zurück und greift den Erzählstrang der Rahmenhandlung vom Beginn wieder auf – allerdings unter einem gänzlich differenten Vorzeichen: Anstelle einer wunderbaren, das Übernatürliche akzeptierenden und integrierenden Welt, in der Geister zwischen den Lebenden im Park umherwandeln, wird dem Filmzuschauer nun eine Welt von Verrückten präsentiert, die jeweils in ihren eigenen illusionären Wahnwelten gefangen sind und von denen der Erzähler der Binnengeschichte einer zu sein scheint. In dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari findet sich eine Vielzahl verschachtelter und einander widersprechender Erzählerdiskurse, die das Geschehen in unterschiedlichen Versionen präsentieren und die somit eine multiple Lesbarkeit des Films ermöglichen. So schreibt Thomas Elsaesser: Angesichts der vielen Erzähler oder Erzählinstanzen stellt sich die Frage, ob diese Figuren dem Zuschauer ein Gefühl der Sicherheit geben, ob man ihnen trauen kann oder ob sie die Geschichte nicht lediglich komplizieren, indem sie ihr eine weitere Ebene der Ungewißheit hinzufügen. […] Die Bezeichnung ›Rahmen‹ könnte eine stabilisierende Funktion nahelegen, als ob er die Aufgabe habe, den Exzeß des Textes zu beherrschen; doch paradoxerweise kompliziert auch er die Narration noch zusätzlich.129

Der rahmende Schluss, der der Erzählung einen unvermittelten Plot Twist verleiht, vermag es ähnlich wie der Rahmenepilog in Orlacs Hände nicht, die Erzählung aufzulösen und eine Geschlossenheit der Narration zu erwirken. Obwohl der Logik des Erzählten zufolge das in der Rahmenhandlung dargestellte Geschehen als die fiktive ›Realität‹ anzusehen ist, kommt durch die Enthüllung, dass die gesamten vorangegangenen Ereignisse der Binnenerzählung eben gerade nicht real stattgefunden, sondern sich lediglich ›im Kopf‹ des offensichtlich verrückten Protagonisten abgespielt haben, ein fundamentaler Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des Erzählten auf. Sobald ein derartiger Zweifel jedoch einmal evoziert ist, ist er nicht mehr ohne Weiteres aus dem Weg zu räumen. »Wenn uns ein Film einmal an der Nase herumgeführt und sich die vermeintliche Realität als Täuschung herausgestellt hat, gibt es keine Gewissheit mehr […].«130 _____________ 129 Elsaesser 1999, S. 76. 130 Simon Spiegel (2007): Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des ScienceFiction-Films, Marburg, S. 164. Bei Spiegel bezieht sich diese Bemerkung auf zeitgenössische Mind Game Movies wie eXistenZ, Vanilla Sky und Total Recall.

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III. Der phantastische Diskurs

Abb. 59: Das Cabinet des Dr. Caligari. Szene im Park der Irrenanstalt

Abb. 60: Das Cabinet des Dr. Caligari. Szene im Büro des Anstaltsdirektors

3. Erzählebenen

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In dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari trägt die Rahmenhandlung somit nicht wie in konventionellen Erzählungen zu einer Beglaubigung und Stabilisierung des Erzählten bei, sondern sie besitzt im Gegenteil eine destabilisierende Funktion. Der Schlussteil des Erzählrahmens, der ein irritierendes Echo und eine Verkehrung des Endes von Francis’ Binnenerzählung darstellt, erzeugt lediglich eine Pseudo-Auflösung, das scheinbar wiederhergestellte Gleichgewicht der erzählten Welt ist trügerisch und instabil.131 Die Rahmenkonstruktion des Cabinet des Dr. Caligari hat filmhistorische Berühmtheit erlangt und wurde im Anschluss an Siegfried Kracauers Buch From Caligari to Hitler zum Angelpunkt einer vieldiskutierten Streitfrage. So legt Kracauer in seiner Analyse des Films dar, dass die beiden Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Janowitz die Erzählung ursprünglich ohne die Rahmenhandlung konzipiert hatten und dass diese erst nachträglich vom Regisseur Robert Wiene hinzugefügt worden sei.132 Mit ihrer Originalversion der Geschichte, so Kracauer, hatten die Autoren eine Brandmarkung einer wahnwitzigen Autoritätssucht, wie sie die deutsche Regierung im Ersten Weltkrieg prototypisch repräsentiert hatte, bezweckt. Mit Blick auf den sozialpolitischen Kontext stehe die Demaskierung des wahnsinnigen Anstaltsdirektors somit sinnbildlich für die Entlarvung eines autoritären Staatsapparates, der – ebenso wie der Schausteller Caligari sein Publikum – die Massen hypnotisiert und sie zu mörderischen Gewalttaten aufgehetzt hatte. Durch die Hinzufügung der Rahmenhandlung jedoch würde dieser revolutionäre Grundgedanke des Films vollständig zurückgenommen und es fände stattdessen eine Anerkennung und Bestätigung von Autorität und Herrschsucht statt: Während die Originalhandlung den der Autoritätssucht innewohnenden Wahnsinn aufdeckte, verherrlichte Wienes Caligari die Autorität als solche und bezichtigte ihre Widersacher des Wahnsinns. Ein revolutionärer Film wurde so in einen konformistischen Film umgewandelt [...].133

_____________ 131 Vgl. hierzu auch Mike Budd (1990): The Moments of Caligari. In: The Cabinet of Dr. Caligari. Texts, Contexts, Histories, hrsg. v. Mike Budd, London, S. 7–119, S. 11. 132 Kracauer 1979, S. 73. Kracauer beruft sich hier auf ein 1941 im New Yorker Exil veröffentlichtes Manuskript des Drehbuchautors Hans Janowitz, das in Auszügen erstmals 1990 in englischer Sprache wieder abgedruckt wurde. 133 Ebd. Interessanterweise äußert sich der Drehbuchautor Hans Janowitz weitaus weniger radikal zu der nachträglichen Hinzufügung der Rahmenhandlung. So erklärt zwar auch er, dass er selbst und Carl Mayer über die Hinzufügung der Rahmenhandlung zunächst äußerst aufgebracht waren, bemerkt anschließend jedoch, dass der Erzählrahmen der Faszination, die die Erzählung beim Publikum auslöste, anscheinend keinen Abbruch getan habe. »We saw that the ›box-within-a-box‹ framework, which he [Robert Wiene] had thought of, had been used. Mayer was raging and I, too, did not withhold my contempt for the impertinent blunderers who had put our drama into a ›box‹ that obscured its clarity. […] This dramatic somersault, hazardous as it was, did not interfere with the gripping fas-

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III. Der phantastische Diskurs

Dem Interpretationsansatz Kracauers zufolge hätte die konventionellere Form der Narration somit den revolutionären Grundgedanken des Films besser zum Ausdruck gebracht – die experimentelle Verschachtelung dagegen bewirkt seiner Ansicht nach dagegen eine Verschleierung und Verkehrung der Aussage des Films. Der Ansatz Kracauers, der schließlich auch zu seiner Lesart des CaligariFilms als einem sogenannten ›Tyrannenfilm‹ und Vorboten der Schrecken des Nationalsozialismus geführt hat, ist an dieser Stelle grundsätzlich zu hinterfragen. So ist zunächst auffällig, dass die Rahmenhandlung den Protagonisten Francis zwar als Insassen einer psychiatrischen Anstalt zeigt, dabei jedoch an keiner Stelle des Films dargelegt wird, seit wann und warum sich Francis in der Anstalt befindet. Dem abstrakten Zuschauer wird auf diese Weise der Gedanke nahegelegt, dass sich womöglich doch ein Funken Wahrheit in Francis’ Geschichte befindet bzw. dass es gerade die von ihm berichteten Ereignisse der Ermordung seines besten Freundes durch einen Wahnsinnigen waren, die ihn aufgrund ihrer Unfassbarkeit und Entsetzlichkeit in den Wahnsinn getrieben haben. In diesem Zusammenhang ist auch zu überlegen, ob der Film mit seinem Übergang zur Rahmenhandlung nicht einen elliptischen Zeitsprung vollzogen und dem Zuschauer Informationen unterschlagen haben könnte – so beispielsweise die Information, dass der verrückte Anstaltsdirektor aufgrund seiner hohen Stellung am Ende nicht etwa doch aus seiner Zelle entlassen wurde und, um sich zu rächen, nun Francis in der Öffentlichkeit als verrückt darstellt. Was mit diesen Überlegungen insgesamt gezeigt werden soll ist, dass Das Cabinet des Dr. Caligari trotz seiner scheinbaren ›Auflösung‹ am Ende ein hochgradig mehrdeutiger Film ist: Die sich über das Leitmotiv des Wahnsinns vollziehende Demontage der Ordnungen der erzählten Welt sowie die Abwesenheit von narrativen Metainstanzen, die allgemein verbindliche und verlässliche Aussagen bezüglich der Ereignisse treffen könnten, eröffnen einen Raum für verschiedenste Spekulationen und tragen so zu einer multiplen Lesbarkeit des Films bei. Über diese binnentextuellen Aspekte hinaus kann man schließlich auch argumentieren, dass das eigentlich Faszinierende – und wenn man so will das ›Revolutionäre‹ – des Films gerade in dessen konsequenter Dekonstruktion der Regeln der classical narration besteht, insofern die Erzählstruktur des Films gerade nicht auf die Erzeugung von Homogenität, Stabilität und Kohärenz abzielt, sondern demgegenüber Widersprüche erzeugt und ›Fallen‹ für den Zuschauer auslegt, in denen sie sich _____________ cination aroused in the audience by the story of our invention, the tragedy of a psychiatrist gone mad by misuse of his mental powers; nothing could interfere with that fascination, because once the mood of an audience has reached such a state of tenseness, no blunder is foolish enough to break that fascination.« Janowitz, in: Budd 1990, S. 237f.

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letztlich selbst verfängt. So bemerkt auch Mike Budd in einer kritischen Hinterfagung von Kracauers Interpretation des Films: Is a story of the overthrow of irrational authority necessarily more revolutionary (or even transgressive or disturbing) than one in which that story is revealed (ambivalently) as insane? This is so only when the authority, stability, and omniscience of classical narrative are taken for granted [...].134

Folgt man diesem Ansatz, so besteht das progressive und potentiell kritische Moment des Films schließlich weniger in der (wie ursprünglich intendierten) Entlarvung der autoritären Macht Caligaris, als demgegenüber in der ›Entlarvung‹ und Demontage der Autorität des klassischen narrativen Diskurses. 3.2. Narrative Endlosschleifen. Dead of Night Während es sich bei dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari insgesamt um eine gerahmte Einzelerzählung handelt – wenn auch die Binnengeschichte durch den Einschub schriftlicher Dokumente hier zusätzliche Verschachtelungen erfährt –, liegt bei dem Film Dead of Night (dt. Traum ohne Ende, Großbritannien 1945) der Regisseure Alberto Cavalcanti, Charles Crichton u. a. eine Episodenstruktur bzw. die Form des gerahmten Erzählzyklus vor.135 In die Rahmenhandlung des Films, der vielfach als ein Klassiker des Horrorfilmgenres und als eine der qualitativ hochwertigeren britischen Produktionen noch vor dem Boom der Massenproduktionen der Firma Hammer Film Productions in den 1950er Jahren gilt, sind insgesamt fünf Binnenepisoden eingeflochten, die im Film von jeweils unterschiedlichen Figuren erzählt werden und denen auch die Arbeit unterschiedlicher Autoren und Regisseure zugrunde liegt. Der Film integriert dabei, wie im Folgenden gezeigt wird, in prototypischer Weise Strukturen des phantastischen Erzählens, insofern die einzelnen Erzählebenen dergestalt verzahnt sind, dass der ontologische Status des Erzählten nicht mehr zu bestimmen ist – Wirkliches und Unwirkliches, Reales und (Alp-)Traumhaftes, naturwissenschaftlich Erklärbares und Metaphysisches sind in der Art einer »Schraube ohne Ende« (Ch. Metz)136 unauflösbar ineinandergewunden. Die Binnenepisoden von Dead of Night sind – mit Ausnahme der vierten, gänzlich humoristischen und wunderbaren Episode um einen vom Golfspiel besessenen Geist – für sich genommen bereits phantastische Erzählungen im engeren Sinne, insofern die hier dargestellten Ereig_____________ 134 Budd 1990, S. 29. 135 Zu Dead of Night vgl. auch Kap. I.3.1.3. 136 Metz 1972, S. 37.

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III. Der phantastische Diskurs

nisse konsequent zwischen einer rational-psychologischen und einer wunderbaren Deutungsmöglichkeit hin- und herpendeln und weder von den Figuren der Rahmenhandlung noch vom Zuschauer eindeutig aufgelöst werden können. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Geschichte des Rennfahrers Hugh Grainger, der aufgrund einer mysteriösen Warnung aus dem Jenseits einem tödlichen Busunglück entgeht, um die Geschichte der jungen Sally, die beim Versteckspiel auf einer Weihnachtsfeier dem Geist eines ermordeten kleinen Jungen begegnet, um die Geschichte Joan Cortlands, die ihrem Ehemann einen antiken Spiegel schenkt, in welchem dieser ein fremdes Zimmer erblickt und daraufhin beinahe in den Wahnsinn und zum Mord an seiner Frau getrieben wird sowie um die Geschichte des Psychiaters Dr. van Straaten, der von einem Fall erzählt, bei dem die Puppe eines Bauchredners sich verselbständigt und die Kontrolle über ihren Besitzer gewonnen hat. In Anlehnung an literarische Traditionen der Rahmenerzählung – man denke etwa an Johann Wolfgang von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, E. T. A. Hoffmanns SerapionsBrüder oder auch Henry James’ The Turn of the Screw – wird auch in dem Film Dead of Night in der Rahmenhandlung eine mündliche Erzählsituation geschaffen, innerhalb derer verschiedene gruselige, potentiell übernatürliche Geschichten vorgetragen werden, die, zumindest wie im Fall der Erzählungen von Goethe und Hoffmann, anschließend für lebhaften Diskussionsstoff in der Runde sorgen. Während die Binnenepisoden somit bereits für sich genommen die charakteristische Ambiguität des Phantastischen aufweisen, wird diese Ambiguität in der Rahmenhandlung schließlich noch auf die Spitze getrieben. Erzählt wird hier die Geschichte des Architekten Walter Craig, der mit einem unheimlichen Déjà-vu-Erlebnis konfrontiert ist, welches er sich rational nicht zu erklären vermag. Zwischen Craig und dem Psychiater Dr. van Straaten, einem aufgeklärten Vertreter der Wissenschaft, entwickelt sich daraufhin folgender Dialog: Walter Craig: »I’ve seen you in my dreams. Sounds like a sentimental song, doesn’t it? I’ve dreamt about you over and over again, Doctor.« Dr. van Straaten: »That hardly turns you into a mental case. After all, recurring dreams are quite common.« Walter Craig: »But how did I come to dream about you? I’ve never set eyes on you in my life.« Dr. van Straaten: »It’s very likely you’ve seen my photograph in the papers. That’s why my face seems familiar to you.« Walter Craig: »I don’t think so. And even if it were, is that any reason why I should keep on dreaming about you? After all, you don’t mean anything to me.« Dr. van Straaten: »Hm. Well, maybe an association of ideas. I may be linked with something that means a great deal to you.« Walter Craig: »Such as?« Dr. van Straaten: »I should have to psychoanalyze you to find that out.«

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Walter Craig: »But it doesn’t end there. You see, everybody in this room is part of my dream. Everybody.«137

Die Unschlüssigkeit darüber, ob Craigs Déjà-vu-Erlebnis tatsächlich auf so simple Weise rational zu erklären ist, wie es die Erläuterungen Dr. van Straatens nahelegen, wird nach dem Ende der ersten Binnenepisode, der Geschichte des Rennfahrers Hugh Graingers, noch verstärkt. So ist Craig im Anschluss an die Erzählung Graingers mehr und mehr davon überzeugt, dass auch sein wiederkehrender Traum kein bloßer Zufall ist, sondern als eine Warnung für ihn gedacht ist, das Landhaus schnellstmöglich zu verlassen. Durch die Verwendung korrespondierender Motive in der Rahmen- und Binnenhandlung entsteht hier ein Wechselverhältnis zwischen den beiden Erzählebenen bzw. ein »Spiel mit Parallelhandlungen«,138 wobei die eingelagerte Binnenerzählung die Funktion übernimmt, die Ereignisse der Rahmenhandlung zu illustrieren und sie in ein bestimmtes Licht zu rücken. Dieses Spiel mit der wechselseitigen Durchdringung der verschiedenen Erzählebenen wird im weiteren Verlauf der Erzählung noch gesteigert, wenn es nach dem Ende der letzten Binnenepisode zu einem »narrativen Kurzschluss« (Wolf)139 zwischen den einzelnen Erzählebenen kommt und Bruchstücke der Binnenepisoden in der Art Freud’scher Tagesreste in die Ereignisse der Rahmenhandlung hineinmontiert werden. Zugleich findet mit der hier stattfindenden Überschlagung und Kontamination getrennter Erzählebenen eine unvermittelte Wendung des Geschehens statt, insofern nun offensichtlich wird, dass sämtliche bisherigen Ereignisse der Rahmenhandlung nicht wie ursprünglich angenommen auf der Ebene der fiktiven Realität anzusiedeln sind, sondern lediglich Bestandteil eines Alptraums sind – aus welchem der Protagonist schließlich auch schweißgebadet in seinem Bett erwacht.140 Die wechselseitige Durchdringung der verschiedenen narrativen sowie ontologischen Ebenen in Dead of Night erzeugt eine grundsätzliche Instabilität der erzählten Welt des Films, insofern sie die Frage aufwirft, auf welcher Stufe sich die Erzählung jeweils befindet bzw. auf welcher Stufe _____________ 137 Dead of Night (dt.: Traum ohne Ende, Großbritannien 1945, Regie: Alberto Cavalcanti, Charles Crichton u. a., DVD-Fassung Universal 2008, 99 Min.), Min. 0:05:06-0:05:50. 138 Jäggi 1994, S. 58. Vgl. ebd., S. 118f. 139 Werner Wolf (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen [Zugl. Univ., Habil.-Schr., München 1991], S. 356–372. 140 Dieser sogenannte ›Mind Game-Effekt‹ (vgl. Kap. II.2.3.) ist allerdings nicht zu verwechseln mit der narrativen Metalepse (Genette 1998, S. 167–169), bei welcher es zu einem paradoxen Überschreiten der Grenze zwischen den verschiedenen Erzählebenen kommt. Im Fall von Dead of Night wird die Hierarchie der Erzählebenen nicht wirklich durchbrochen, es stellt sich lediglich heraus, dass die Ereignisse auf einer anderen Erzählebene anzusiedeln sind, als ursprünglich angenommen.

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die fiktive Realität der Erzählung letztlich anzusiedeln ist. Durch das Wiederaufgreifen des Anfangs am Ende der Erzählung entsteht eine potentiell endlose Zirkel- bzw. Spiralbewegung, die – ähnlich der Figur der Penrose’schen Treppe – die (Re-)Konstruktion der Geschichte als Ganzes unmöglich macht.141 Die am Beispiel von Dead of Night verdeutlichte Destabilisierung und Ambiguisierung des filmischen Textes durch rekursive und mise en abymeartige142 Strukturen findet sich besonders in modernen und postmodernen phantastischen Filmen wieder, so beispielsweise in Alejandro Amenábars Abre los ojos oder auch in David Lynchs Lost Highway, wobei hier wiederum zwischen zwei verschiedenen Formen einer narrativen Rekursion zu differenzieren ist: Während Dead of Night und Abre los ojos zwar als narrative Endlosspiralen konstruiert sind, in sich jedoch keine Paradoxien bergen – es ist zumindest nach logischen Kriterien denkbar, dass jeweils ein Traum in den anderen geschachtelt ist –, ist Lost Highway demgegenüber in der Art einer in sich verdrehten Endlosschleife bzw. eines sogenannten Möbiusbandes143 konstruiert. Die Nachricht »Dick Laurent is dead«, die der Held hier am Beginn durch seine Haussprechanlage empfängt, mit welcher er zu diesem Zeitpunkt jedoch noch überhaupt nichts anfangen kann, stellt sich am Ende als eine von ihm selbst gesprochene Botschaft heraus, womit sowohl das Kausalitätsprinzip als auch die nach dem vorwärts gerichteten Zeitpfeil organisierte temporale Ordnung der Erzählung durchbrochen wird. In Lost Highway entsteht somit die paradoxe Situation, dass der Sender einer Botschaft zugleich ihr Empfänger ist, d. h. die hierarchisch angeordneten Erzählebenen sind hier möbiusbandartig _____________ 141 Vgl. Kap. I.3.1.3. 142 Der Terminus mise en abyme wird in der Literaturwissenschaft äußerst widersprüchlich definiert. Nach Werner Wolf ist unter der mise en abyme allgemein eine Homologie bzw. Ähnlichkeit zwischen Erzählelementen von Rahmen- und Binnenerzählung (›Spiegelung‹) zu verstehen, von welcher wiederum Sonderformen wie die mise en cadre und die mise en reflet/ mise en série abgegrenzt werden können. (Werner Wolf [2001]: Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst. Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ›mise en cadre‹ und ›mise en reflet/série‹. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, hrsg. v. Jörg Helbig, Heidelberg, S. 49–84.) Eine engergefasste Definition des Begriffs vertreten demgegenüber Martinez/Scheffel, die die mise en abyme als eine Sonderform der narrativen Metalepse bestimmen, bei welcher eine »paradoxe Konstruktion zweier einander wechselseitig enthaltender Erzählungen« vorliegt, »bei denen Erzähler und erzählte Figur nicht mehr voneinander zu trennen sind und der Ort des Erzählten letztlich nicht mehr zu bestimmen ist […].« (Martinez/Scheffel 2007, S. 80.) Während die mise en abyme nach Wolf somit ein relativ geläufiges Verfahren darstellt, bezeichnet der Begriff bei Martinez/Scheffel eine Extremform der paradoxen Verschachtelung verschiedener Erzählebenen. 143 Vgl. Georg Seeßlen (1997): Lost Highway. Ein endloses geflochtenes Band. In: Filmbulletin 2, H. 211, o. S. [Online unter: http://www.filmzentrale.com/rezis/losthighwaygs.htm, letzter Zugriff: 15.07.2010.]

3. Erzählebenen

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gegen sich selbst gekehrt.144 Solche paradoxen narrativen Strukturen sind allerdings bereits im Grenzbereich des phantastischen Erzählens anzusiedeln, da sie dazu neigen, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Fiktionalitätscharakter des Textes zu lenken und damit tendenziell in den Bereich einer illusionsstörenden Metafiktion fallen.145 Eine derartige metafiktionale Selbstkommentierung eines Textes ist jedoch mit dem Phantastischen prinzipiell unvereinbar: Wie in Kap. I.3.2.1. gezeigt wurde, gehört zu den Grundvoraussetzungen des Phantastischen die Evokation einer fiktiven Welt, die dem Leser/Filmzuschauer während der Dauer des Rezeptionsaktes die Illusion vermittelt, dass es sich hier – bei einem gleichzeitigen latenten Bewusstsein der Scheinhaftigkeit der fiktiven Welt – um eine ›reale‹, tatsächlich existierende Welt handelt.146 Lediglich in denjenigen Grenzfällen (zu denen im Übrigen auch Lost Highway zählt), in denen die metafiktionalen Elemente des Textes stärker verdeckt und implizit zutage treten, führen diese nicht zur Zerstörung der ästhetischen Illusion als einem »Schein des Erlebens von Wirklichkeit«147 und damit auch nicht zu einer Zerstörung der phantastischen hésitation hinsichtlich des übernatürlichen Charakters der dargestellten Ereignisse.

_____________ 144 Vgl. Steincke 2007, Kap. ›Die Möbius-Band-Struktur von Lost Highway‹, S. 160–165, hier S. 163. 145 Wie Monika Fludernik darlegt, entsteht Metafiktionalität nicht nur aus metanarrativen Erzählerkommentaren, sondern auch aus anderen Erzählstrategien, zu denen vor allem die »Plotkonstruktionen der unendlichen Schleife (Möbiusstreifen); der in sich geschachtelten, unendlichen Erzählrahmung (Babuschka-Modell); die Figur der Metalepse, also der Transgression von Erzählebenen […]; sowie auch die Über- oder Unterbetonung des Plots« gehören. (Fludernik 2006, S. 77.) Den Effekt, den ein solches ›Erzählen über das Erzählen‹ erzeugt, kann auf einer Skala von ›illusionsfördernd‹ bis ›illusionsstörend‹ verortet werden. Vgl. hierzu auch Wolf 1993. 146 Zum Begriff der ästhetischen Illusion vgl. Wolf 1993. 147 Ebd. 1993, S. 31.

IV. Erzählte Welten im phantastischen Film Nachdem im vorangegangenen Kapitel zentrale Aspekte des phantastischen Diskurses untersucht wurden, wendet sich das vorliegende Kapitel den erzählten Welten im phantastischen Film zu, d. h. den Ereignissen (events) und Existenzen (existents), die das diegetische Universum konstituieren.1 Im Mittelpunkt stehen dabei die Kategorien der Figur, des Raums sowie das grenzüberschreitende Ereignis der Inszenierung virtueller Medienrealitäten, die alle drei elementare Kategorien der erzählten Welten des Phantastischen bilden, insofern in ihnen besonders deutlich die für das Phantastische charakteristischen Grenzen, Schwellen und Grenzüberschreitungen zum Ausdruck kommen. Das Eindringen eines potentiell Außer- oder Übernatürlichen in die erzählte Welt des Textes kann sich so zum einen in Gestalt doppelgesichtiger, ambivalenter Figuren konkretisieren, d. h. von Figuren, die zwischen ontologisch verschiedenen Bereichen wie Leben und Tod, Realität und Traum, Normalität und Wahnsinn, Natürlichem und Künstlichem, Menschlichem und Dämonischem usw. oszillieren und die somit den Anschein erwecken, dass sie in mehreren Welten (und damit letztlich in keiner) beheimatet sind. Derartige Figuren präsentieren sich nach außen stets als ›Unbehauste‹, als Grenz- oder auch Schwellenfiguren und sind zudem vielfach durch eine innere, psychische Labilität charakterisiert. Zum anderen werden in den erzählten Welten des Phantastischen wiederkehrend räumliche Grenzen und Schwellen zum Thema gemacht, die Bereiche des Diesseitigen und des Jenseitigen, des Alltäglichen und des Wunderbaren voneinander trennen und deren Passierung für die Helden sowohl Gefahren als auch Verheißungen birgt. Schließlich sind phantastische Erzählungen besonders häufig auch durch eine Inszenierung medialer Scheinwelten charakterisiert, die als fiktive Lesewelten, als optische Illusionen oder auch als computergenerierte, virtuelle Realitäten ihrerseits wiederum Grenzverwischungen in Form von Wahrnehmungs- und Realitätszweifeln bzw. -verlusten erzeugen. Geschichte und Diskurs stehen im Modus des phantastischen Erzählens somit stets in einem spannungsvollen Wechselverhältnis: Analog zu einer Destabilisierung des phantastischen Textes auf _____________ 1

Vgl. Chatman 1980. Die Existenzen (existents) werden bei Chatman wiederum in die Kategorien Figur (character) und Raum (setting) unterteilt.

1. Grenzgänger und Schwellenfiguren

221

discours-Ebene (vgl. Kap. III.) trägt die Modellierung der ambivalenten Figuren, der instabilen Räume der erzählten Welt sowie die Thematisierung von Wahrnehmungs- und Realitätszweifeln, die durch mediale Fiktionen und Simulationen zustande kommen, zu einer Mehrdeutigkeit und Instabilität der histoire bei.

1. Grenzgänger und Schwellenfiguren Neben den Kategorien der Thematik, der Handlung, des Raums und der zeitlichen Situierung bildet die Figur mit ihrer handlungsprogressiven und bedeutungskonstituierenden Funktion einen zentralen Bestandteil der erzählten Welt eines Textes. Stärker noch als die übrigen Elemente der Diegese erzeugen Figuren eine Leser- bzw. Zuschauerbindung und tragen zur ästhetischen Illusionsbildung bei, insofern ihre (mehr oder weniger detaillierte) Charakterisierung2 die Grundlage dafür bildet, dass im Akt der Rezeption aus Sätzen und Textabschnitten bzw. Filmszenen Personenvorstellungen entstehen können.3 Fiktiven Gestalten kann es auf diese Weise bisweilen sogar gelingen, ein Eigenleben zu entwickeln, das, wie sich an Figuren wie Sherlock Holmes oder Rick Blaine aus dem Film Casablanca zeigen lässt, über den Horizont des Textes selbst hinausreichen und als fiktionales Modell auf die Realität übergreifen kann.4 Schließlich besitzen Figuren in narrativen Texten einen besonders starken Wiedererkennungswert und eine hohe Konstanz, die dafür sorgen, dass sie von allen Bestandteilen eines Textes Medientransfers noch am unbeschadetsten überdauern: »Figurenensembles und Teile des Settings«, schreibt Fotis Jannidis, »sind noch die stabilsten Elemente, wenn Bücher verfilmt werden oder an einen erfolgreichen Spielfilm eine TV-Serie angeschlossen wird.«5 Ungeachtet dieser zentralen Rolle, die Figuren hinsichtlich der Konstruktion erzählter Welten zukommt, ist ihnen in der klassischen, strukturalistisch orientierten Erzählforschung bislang ein eher marginaler Status eingeräumt worden. Grund dafür ist in erster Linie die – durchaus berechtigte – Skepsis des Strukturalismus gegenüber älteren, naiv psycholo_____________ 2

3 4 5

Unter Charakterisierung sind nach Fotis Jannidis allgemein »alle Verfahren im discours« zu verstehen, »die irgendwelche Informationen an eine Figur binden.« Fotis Jannidis (2004): Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/New York (Narratologia 3), S. 208. Vgl. Herbert Grabes (1978): Wie aus Sätzen Personen werden ... Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica 10, S. 405–428. Vgl. Umberto Eco (1994): Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, übersetzt von Burkhart Kroeber, München [engl./italien. Original: Six Walks in the Fictional Woods/Sei passeggiate nei boschi narrativi, Cambridge 1994], S. 166–168, hier S. 168. Jannidis 2004, S. 1.

222

IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

gisierenden und anthropomorphisierenden Figurenkonzeptionen, die Figuren in fiktionalen Texten im Allgemeinen so behandelt hatten, als seien sie reale Personen. Demgegenüber traten die strukturalistischen Ansätze seit den 1960er und 1970er Jahren (Greimas, Barthes u. a.) verstärkt dafür ein, Figuren als ›Aktanten‹ zu betrachten, d. h. als rein funktionale Elemente im Rahmen einer übergeordneten Struktur.6 Diese Unterordnung der Figur unter die Gesamtstruktur des Textes sowie das verstärkte Interesse des Strukturalismus an den dicours-Aspekten des Textes hat dazu geführt, dass sich bislang noch kein einheitliches Forschungsfeld zum Thema Figur herausgebildet hat. Erst in jüngerer Zeit finden sich sowohl von literatur- als auch von filmwissenschaftlicher Seite verstärkt Bemühungen, die disparaten und verstreuten Ansätze zum Problem der Figur zu vereinen und in ein umfassendes Modell zur Figurenanalyse in narrativen Texten zu integrieren.7 Während die strukturalistisch orientierte Erzählforschung in den letzten Jahrzehnten tendentiell ein eher geringes Interesse am Thema Figur gezeigt hat, standen Figuren seit jeher im Mittelpunkt der PhantastikForschung. Namen wie Faust, Graf Dracula, Frankenstein, Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Alice und Carmilla werden im Zusammenhang mit phantastischem Erzählen im weitesten Sinne immer wieder genannt, darüber hinaus gelten abstrakte Figurenkategorien wie etwa das Gespenst und der Vampir,8 der künstliche Mensch – prototypisch verbildlicht in den »phantastischen Figurationen« des Golem und der Alraune –,9 der Werwolf,10 die _____________ 6

7 8 9 10

An erster Stelle ist hier das Aktantenmodell von A. J. Greimas zu nennen, das auf Vladimir Propps Morphologie des Märchens (1928) aufbaut und das den wohl wichtigsten theoretischen Beitrag des Strukturalismus zum Problemfeld der Figur geleistet hat. Greimas geht insgesamt von sechs Aktanten aus, nach denen sich sämtliche Figuren kategorisieren lassen: Subjekt (Held), Objekt (begehrtes Objekt/gesuchte Person), Adressant (Auftraggeber), Adressat (derjenige, der den Auftrag erhält), Adjuvant (Helfer) und Opponent (Gegenspieler). Algirdas Julien Greimas (1971): Strukturale Semantik, Braunschweig [frz. Original: Sémantique structurale, Paris 1966]. Ein grundsätzliches Problem des Aktantenmodells besteht darin, dass es sich hierbei um ein stark schematisiertes Modell handelt, das zwar auf die Romane des 18. und 19. Jahrhunderts, die zumeist relativ klar umrissene Figuren besitzen, durchaus anwendbar ist, das jedoch hinsichtlich der Romane des 20. Jahrhunderts, die mit einer Vielzahl unterschiedlicher Figuren und Figurentypen arbeiten, schnell an seine Grenzen stößt. Vgl. auch Jannidis 2004, S. 101; Silke Lahn/Jan Christoph Meister (2008): Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart/Weimar, S. 244f. Zu nennen sind hier insbesondere Jannidis 2004 sowie Jens Eder (2008): Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg [zugl. Hamburg, Univ. Diss. 2002]. Caillois 1966, S. 14 und S. 20. Winfried Freund (1978): Von der Aggression zur Angst. Zur Entwicklung der phantastischen Novellistik in Deutschland. In: Phaïcon. Almanach der phantastischen Literatur, Bd. 3, hrsg. v. Rein A. Zondergeld, Frankfurt a. M., S. 9–31, S. 27. Vax 1960, S. 24f.

1. Grenzgänger und Schwellenfiguren

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Nixe und die Wasserfrau11 sowie der unheimliche Doppelgänger12 als charakteristische Textelemente des Phantastischen. Einen der umfangreichsten und spezifiziertesten Themenkataloge der phantastischen Literatur hat Roger Caillois zusammengestellt, wobei dieser Katalog, der im Folgenden ausschnitthaft wiedergegeben wird, bezeichnenderweise in erster Linie Figuren bzw. Figurenkategorien enthält: Le pacte avec le démon: le modèle est Faust [...] L’âme en peine qui exige pour son repos qu’une certaine action soit accomplie [...] Le spectre condamné à une course désordonnée et éternelle [...] Les vampires [...] La statue, le mannequin, l’armure, l’automate, qui soudain s’animent et acquièrent une redoutable indépendance [...] La femme-fantôme, issue de l’au-delà, séductrice et mortelle [...].13

Die starke Konzentration der Phantastik-Forschung auf den Aspekt der Figur ist auf die weit verbreitete Annahme zurückzuführen, dass das Themenund Figurenrepertoire des Phantastischen relativ begrenzt ist und auf einer Rekombination immer gleicher Elemente basiert. So hat Michel Foucault in seinem Aufsatz Un ›fantastique‹ de bibliothèque (1964/1967) am Beispiel von Gustave Flauberts Roman La tentation de Saint-Antoine dargelegt, dass die non-mimetischen, im weitesten Sinne phantastischen Texte mit ihren exzentrischen, normwidrigen Figuren, ihren Chimären, Sphinxen, Monstren und Schattenwesen, ihren Ideenreichtum und ihr imaginatives Potential weniger aus den individuellen Tagträumen und Phantasien ihrer Autoren schöpfen, sondern demgegenüber auf eine ›Bibliothek des Phantastischen‹ zurückgreifen, d. h. auf ein intertextuelles und intermediales Gewebe bereits existierender, einander versatzstückartig zitierender und immer wieder reaktualisierender Texte.14 Das Phantastische stellt dem Ansatz von Foucault zufolge somit weniger die Erfindung von etwas Neuem, Nie-Dagewesenen dar, sondern beruht in erster Linie auf einer Rekombination vorgefundener, non-realistischer und wunderbarer Elemente: L’imaginaire ne se constitue pas contre le réel pour le nier ou le compenser; il s’étend entre les signes, de livre à livre, dans l’interstice des redites et des com-

_____________ 11

12 13

14

Monika Schmitz-Emans (2003): Undines späte Schwester. Über Nixen und Wasserfrauen in der modernen Literatur und Kunst. In: Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, hrsg. v. Christine Ivanoviý et al., Stuttgart/ Weimar, S. 239–274. Vgl. Wünsch 1991, S. 228; Lehmann 2003, in: Ivanoviý et al., S. 30. Caillois 1966, S. 36–38. Hervorheb. im Original. (»Der Teufelspakt: das Vorbild ist Faust […] Die Seele in Not, die, damit sie zur Ruhe kommt, verlangt, daß eine gewisse Handlung vollbracht wird […] Das Gespenst, das zu einer wilden, ewigen Fahrt verdammt ist […] Die Vampire […] Die Statue, die Puppe, die Rüstung oder der Automat, die sich plötzlich beleben und eine gefährliche Unabhängigkeit erreichen […] Die Phantomfrau, die aus dem Jenseits kommt und eine tödliche Verführung ausstrahlt […].« Caillois 1978, S. 63f.) Michel Foucault (1994 [1964]): Sans Titre. Postface à Flaubert (G.) La Tentation de SaintAntoine. Wieder abgedruckt als: Un ›fantastique‹ de bibliothèque [1967]. In: ders.: Dits et écrits 1954–1988, Bd. 1: 1954–1969, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Paris, S. 293–325.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

mentaires; il naît et se forme dans l’entre-deux des textes. C’est un phénomène de bibliothèque.15

Ähnlich wie Foucault gehen auch Louis Vax und Roger Caillois davon aus, dass die Themen und Figuren des Phantastischen letztendlich immer dieselben sind und sich in mehr oder weniger stark abgewandelter Form wiederholen: »Comme si l’auteur devait chaque fois puiser dans une même série de personnages-types, les placer dans des situations peu variables […]«,16 heißt es bei Caillois und Vax vergleicht das Themenmaterial des Phantastischen mit den Jung’schen Archetypen als Urfiguren menschlicher Vorstellungsmuster.17 Obschon diese Beobachtungen durchaus nicht falsch sind – letztendlich zeichnen sich Texte, die einer gemeinsamen Textkategorie angehören stets auch durch wiederkehrende semantische Elemente und somit auch durch ähnliche Figurentypen und -konstellationen aus – liegen die Schwierigkeiten eines solchen Ansatzes, der versucht, das Phantastische mittels der Erstellung mehr oder weniger umfangreicher Themen- und Figurenkataloge zu erfassen, auf der Hand. So ist in der Vergangenheit mehrfach darauf hingewiesen worden, dass derartige Katalogisierungen in den meisten Fällen unvollständig bleiben, insofern ihnen, wie dies auch bei Vax und Caillois der Fall ist, deskriptive, nicht nach streng logischen Kriterien gebildete Kategorien zugrunde liegen: Wie begrenzt das Figurenrepertoire des Phantastischen auch immer sein mag, so ist es dennoch prinzipiell unmöglich, sämtliche hier erscheinende Figuren und Figurentypen zu erfassen.18 Eine weitaus größere Schwierigkeit einer derartigen Figurenkonzeption des Phantastischen besteht jedoch darin, dass die oben angeführten Figuren des Gespenstes, des Vampirs, des unheimlichen Doppelgängers, des Golems, der Alraune, des Werwolfs, der Meerjungfrau usw. im engeren Sinne allesamt nicht als ›phantastische‹, sondern als ›wunderbare‹ Figuren zu klassifizieren sind, insofern es sich hier unzweifelhaft um übernatürliche, nicht-menschliche bzw. übermenschliche Wesen handelt, welche in der Realität keine Entsprechung besitzen. Das manifeste Erscheinen einer derartigen wunderbaren Figur in einem Text – so beispielsweise der Auftritt des Vampirs in F. W. Murnaus Nosferatu oder das Erscheinen des Golem in Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam – hat somit stets _____________ 15

16 17 18

Ebd., S. 297f. (»Das Imaginäre konstituiert sich nicht in Absetzung vom Realen, um dieses zu negieren oder zu kompensieren; es erstreckt sich zwischen den Zeichen, von Buch zu Buch, im Zwischenraum des nochmals Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich im Zwischen-den-Texten. Es ist ein Phänomen der Bibliothek.« Übers. d. Verf.) Caillois 1966, S. 57. (»Als hätte der Erzähler immer wieder aus einer Reihe von typisierten Personen [Figuren] wählen müssen, um sie in die sich wenig voneinander unterscheidenden Situationen zu versetzen […].« Caillois 1978, S. 80f.) Vax 1960, S. 24. Vgl. Todorov 1970, S. 86–96 sowie Durst 2007, S. 206.

1. Grenzgänger und Schwellenfiguren

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zur Folge, dass das Realitätssystem des Textes eindeutig als wunderbares System bestimmbar ist, lediglich in den Fällen, in denen der wunderbare Status der Figur unbestimmt bleibt, in denen also nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob es sich bei der jeweiligen Figur um ein übernatürliches, nicht-menschliches bzw. übermenschliches Wesen handelt, ist die Voraussetzung für eine phantastische Ambiguität des Textes gegeben. Anstelle, wie dies Todorov und Durst getan haben, von einer prinzipiellen Ununterscheidbarkeit wunderbarer und phantastischer Themen und Figuren auszugehen,19 rückt die vorliegende Arbeit daher die Stabilität der Figureninformation als Unterscheidungskriterium in den Mittelpunkt: Wird eine Figur im Verlauf einer Erzählung als stabile Figur präsentiert, der rekurrent und unzweideutig außer- bzw. übermenschliche Qualitäten zugeschrieben werden, so ist davon auszugehen, dass es sich hier um eine wunderbare Figur handelt. In den Fällen jedoch, in denen ein instabiles Figurenprofil vorliegt, in denen also entweder der ontologische Status der jeweiligen Figur unbestimmt bleibt oder man es zwar mit durchaus menschlichen Protagonisten zu tun hat, die sich jedoch – beabsichtigt oder gänzlich unbeabsichtigt – einen Zugang zum Bereich des Außerbzw. Übernatürlichen zu verschaffen scheinen bzw. mit diesem konfrontiert werden, liegen typische phantastische Figurenkonzeptionen vor. Solche Grenz-, Schwellen- oder auch, in einem übertragenen Sinn, ›Kippfiguren‹20 sind oftmals als in sich zerrissene, träumerisch-melancholische bis psychopathologische Figuren angelegt, die sich nach außen hin durch eine ambivalente Charakterisierung auszeichnen und dem fiktiven Leser/Filmzuschauer somit ein instabiles, mehrdeutiges Figurenprofil bieten und die sich darüber hinaus häufig ihrer Identität selbst nicht sicher sind und die von permanenten Wahrnehmungs- und Realitätszweifeln geplagt werden. Beispiele für derartige ambivalente, phantastische Figuren bieten der Pro_____________ 19

20

Sowohl Todorov als auch Durst halten eine Differenzierung zwischen phantastischen und wunderbaren Themen nicht für nötig bzw. für unmöglich, mit der Begründung, dass jeweils nur die Reaktion auf den Eintritt eines wunderbaren Ereignisses, wie es z. B. das Erscheinen eines wunderbaren Wesens darstellt, zählt (Todorov 1970, S. 109; Durst 2007, S. 235). Das Problem einer derartig undifferenzierten Vereinnahmung wunderbarer Themen und Figuren für das Phantastische besteht darin, dass auf diese Weise die Unterschiede zwischen dem phantastischen Erzählen und Genres wie Horror, Fantasy und Science Fiction verwischt werden, was letztendlich weg von einer minimalistischen Phantastik-Definition führt. In der Wahrnehmungspsychologie wird unter einer Kippfigur eine multistabile optische Figur verstanden, die beim Betrachter spontane Gestalt- bzw. Wahrnehmungswechsel auslöst. Typische Beispiele für Kippfiguren sind etwa die bekannte Figur des Hasen und der Ente oder auch die Figur My Wife and My Mother-In-Law (1915), die dem Betrachter wechselweise eine alte Frau mit krummer Nase und eine junge Frau im Pelzmantel zeigt. In einem übertragenen Sinn wird der Begriff hier für Figuren verwendet, deren ontologischer Status unbestimmt ist, die also zwischen verschiedenen Existenzformen hin- und herkippen.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

tagonist Martin aus George A. Romeros gleichnamigem Film Martin sowie die Figur der Carmilla aus Roger Vadims Film Et mourir et plaisir, bei denen jeweils unbestimmt bleibt, ob es sich hier um echte Vampire handelt, die mit übermenschlichen Kräften ausgestattet und unsterblich sind und die sich vom Blut ihrer Mitmenschen ernähren, oder aber lediglich um überspannte, unglückliche und psychisch labile Persönlichkeiten mit einer überreichen Phantasie. Als weiteres Beispiel kann die Protagonistin aus Henrik Galeens Film Alraune genannt werden, die aufgrund ihrer von einem bizarren mittelalterlichen Aberglauben inspirierten, künstlichen Zeugung in vitro, davon überzeugt ist, keinen rechtmäßigen Platz in der menschlichen Gesellschaft zu besitzen und der im Verlauf der Erzählung sowohl menschliche als auch potentiell übermenschliche, dämonische Züge zugeschrieben werden (vgl. Kap. IV.1.1). Einen Grenzgänger stellt auch der Protagonist Allan Gray aus Dreyers Vampyr dar, der in dem Film explizit als ›Träumer‹ und ›Phantast‹ charakterisiert wird und der sich in einer Grauzone zwischen einer nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten funktionierenden Alltagsrealität und einem von magisch-okkulten Kräften beherrschten Traum- und Schattenreich bewegt, in welchem er auf verschiedene Doppelgänger seiner Person trifft. Auch der Protagonist César aus Amenábars Abre los ojos oszilliert zwischen den Bereichen Realität und Traum und vereint in seiner Person dabei sowohl einen reichen Schönling als auch ein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes Monster, wobei er sich letztendlich selbst nicht mehr sicher ist, welcher dieser beiden Teile seiner Persönlichkeit die ›Maske‹ und welcher sein ›wahres Ich‹ darstellt. Als eine Schwellenfigur ist schließlich auch der Protagonist Ángel aus Medems Tierra angelegt, der von sich behauptet, ›halb Mensch und halb Engel‹ zu sein und der den gesamten Film hindurch von einem mysteriösen Doppelgänger begleitet wird (vgl. Kap. IV.1.2) – unzählige weitere Beispiele ließen sich finden. Was macht nun diese im engeren Sinne phantastischen Figuren im Kern aus, d. h. welche narrativen Modelle liegen ihnen zugrunde? Zunächst einmal ist zu bemerken, dass eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen den oben genannten phantastischen Figuren und den wunderbaren Figuren des Horror-, Science Fiction- und Fantasygenres darin besteht, dass sie häufig durch eine Fusion disparater Elemente entstehen, z. B. von Menschlichem und Tierischem, Technischem und Biologischem, Totem und Lebendigem, Natürlichem und Künstlichem etc., wobei anders als in den wunderbaren Genres im Modus des phantastischen Erzählens diese Fusion jedoch nur andeutungsweise vollzogen und nie gänzlich explizit gemacht wird: Die Verschmelzung von Mensch und Insekt in Cronenbergs The Fly ist eine offensive Form des ›Body Horror‹, die Fusion von Mensch und Monster in Amenábars Abre los ojos dagegen ist we-

1. Grenzgänger und Schwellenfiguren

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sentlich subtiler inszeniert und bewegt sich auf einem schmalen Grad zwischen objektiver fiktionaler Realität und subjektiv verzerrter Selbstsicht des Protagonisten. Neben der Fusion disparater Elemente liegt den Figuren in phantastischen Erzählungen häufig ein zweites narratives Modell zugrunde, das sich am ehesten mit dem Begriff der Dissoziation beschreiben lässt: Gespaltene Persönlichkeiten und gestörte Identitäten, Doppelgängertum, Formen der Besessenheit und Besitzergreifung sowie Fragmentierungen des Körpers können als wiederkehrende Elemente phantastischen Erzählens identifiziert werden.21 Mit diesen beiden Modellen wunderbarer und phantastischer Figurenkonzeption, der Fusion (fusion) und der Dissoziation (fission), hat sich Noël Carroll in seinem Aufsatz Nightmare and the Horror Film. The Symbolic Biology of Fantastic Beings (1981) ausführlich befasst, wobei er die von ihm untersuchten ›fantastic beings‹ als symbolische Formationen erachtet, welche miteinander in Konflikt geratende Haltungen und Ideologien hinsichtlich Themen wie Sexualität, Identität und Aggressivität organisieren und sie als Figuren konkretisieren, die auf den Rezipienten zugleich anziehend als auch abstoßend wirken. The fantastic beings of horror films can be seen as symbolic formations that organize conflicting themes into figures that are simultaneously attractive and repulsive. Two major symbolic structures appear most prominent in this regard: fusion, in which the conflicting themes are yoked together in one, spatio-temporally unified figure; and fission, in which the conflicting themes are distributed – over space, over time – among more than one figure.22

Ähnlich wie die von Carroll untersuchten Figuren und Figurentypen des Horrorfilms sind schließlich auch die im engeren Sinne phantastischen Figuren oftmals so angelegt, dass sie beim Leser bzw. Filmzuschauer widerstreitende Affekte von Attraktion und Repulsion auslösen und dazu tendieren, ihn in ein Netz ambivalenter Gefühle eines delightful horror zu verwickeln. Die diesen Figuren zugrunde liegenden narrativen Modelle der Fusion und der Dissoziation sollen im Folgenden anhand der Filme Alraune und Tierra näher untersucht werden.

_____________ 21 22

Vgl. auch Wünsch 1991, S. 228. Noël Carroll (1981): Nightmare and the Horror Film. The Symbolic Biology of Fantastic Beings. In: Film Quarterly 34, H. 3, S. 16–25, S. 19. Carroll geht allerdings von einem erweiterten Verständnis des Phantastischen aus, das unter ›fantastic beings‹ in erster Linie wunderbare Figuren wie z. B. Graf Dracula oder Frankensteins Monster versteht.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

1.1. Das Modell der fusion figures. Alraune Wie willst du leugnen, liebe Freundin, daß es Wesen gibt – keine Menschen, keine Tiere – seltsame Wesen, die aus der verruchten Lust absurder Gedanken entsprangen?23

In dem Film Alraune (Deutschland 1928), der unter der Regie von Henrik Galeen und nach dem gleichnamigen Roman von Hanns Heinz Ewers entstanden ist, ist das Thema des mittelalterlichen Alraune-Aberglaubens mit dem modernen Wissenschaftsdiskurs der künstlichen Befruchtung in vitro verknüpft. Die Protagonistin des Films, eine junge Frau, der ihr Erzeuger den Namen ›Alraune‹ verliehen hat, präsentiert sich dabei nicht als künstlicher Mensch im traditionellen Sinn, d. h. als wunderbares Wesen, das aus vormals toter Materie durch einen magisch-biologischen oder auch einen rein mechanischen Schöpfungsprozess zum Leben erweckt wurde,24 sondern oszilliert zwischen menschlichem Wesen und ›Kunstprodukt‹, zwischen den Bereichen des Natürlichen und des ›Unnatürlichen‹, wobei sie in ihrer Person sowohl menschliche als auch dämonische, potentiell übermenschliche Züge vereint. Dabei bleibt das Alraune-Motiv im Film ebenso wie in der Romanvorlage konsequent mehrdeutig und lässt sowohl eine wörtliche als auch eine bildhaft-metaphorische Lesart zu, womit der Film Alraune, ebenso wie die Romanvorlage, dem engeren Bereich des phantastischen Erzählens zuzuordnen ist.25 Im frühen Mittelalter entstand die Alraune-Sage. Alraune, nach der Sage eine Wurzel, formte sich zu einem menschlichen Wesen. Nachts, bei Vollmond zog man aus, um die Wurzel auszugraben. Wenn die Uhr 12 schlug, sollte man unter

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25

Hanns Heinz Ewers (1998 [1911]): Alraune. Die Geschichte eines lebenden Wesens, Düsseldorf, S. 9. Einen guten Überblick über die Literatur- und Kulturgeschichte des Motivs des künstlichen Menschen bieten Klaus Völker (Hrsg.) (1971): Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen, München; Rudolf Drux (Hrsg) (1988): Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimow, Stuttgart sowie Manfred Geier (1999): Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos – Literatur – Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg. Zur genderorientierten Problematik des künstlichen Menschen in Literatur, Film und anderen Medien vgl. Eva Kormann/Anke Gilleir/Angelika Schlimmer (Hrsg.) (2006): Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden, Amsterdam et al. Diesem Ansatz widerspricht allerdings Thomas Wörtche mit der Begründung, dass in Ewers Alraune abgesehen »von dem ›kleinen Wunder‹ der künstlichen Befruchtung […] keine Merkmale dafür zu finden [sind], daß es sich um einen phantastischen Text handelt.« Wörtche 1987, S. 80–92, hier S. 87. Den impliziten Zusammenhang zwischen den potentiell übernatürlichen, glück- und verderbenbringenden Kräften der Protagonistin und der Alraune-Sage, welcher ein Schlüsselelement des Textes bildet, vernachlässigt er dabei gänzlich.

1. Grenzgänger und Schwellenfiguren

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dem Galgen mit dem Spaten in die Erde stechen. Die Alraunewurzel sollte mit ihrer Zauberkraft den Menschen Glück bringen – aber auch Leiden und Qualen dem, der sie an sich nahm.26

Mit diesem Zwischentitel, der die spukhafte Szenerie einer vollmondnächtlichen Galgenstätte kommentiert, beginnt der Film Alraune und etabliert damit gleich zu Anfang ein unheimliches, potentiell übernatürliches Element in der Erzählung. Anschließend wechselt der Schauplatz zur Villa Professor Jakob ten Brinkens, einer »weltberühmte[n] Kapazität der Kreuzung von Erbanlagen«,27 der seinen Wissenschaftskollegen in einer längeren Ansprache von den Plänen für sein neuestes Experiment berichtet: Bei seinen Forschungen, so Ten Brinken, sei er auf die Alraune-Sage gestoßen, welche besagt, dass der letzte Tropfen des Samens eines am Galgen Gehenkten sogenannte ›Alraunen‹, Wurzeln mit menschenähnlichen Zügen erzeugt. Sein Ziel sei es nun, »den alten Aberglauben wissenschaftlich [zu] erforschen«28 und dabei das Verhältnis von ererbten Anlagen und Umwelteinflüssen auf den Charakter und das Empfinden eines Menschen zu untersuchen. Den Warnungen seines Neffen Franz Braun29 zum Trotz wagt er das frevelhafte Experiment: Alraune wird mittels künstlicher Befruchtung aus dem Samen eines hingerichteten Mörders und der Eizelle einer Prostituierten gezeugt und von dieser geboren. Schon früh zeigen sich bei dem jungen Mädchen Züge zur Grausamkeit und Gefühlskälte sowie ein nahezu unstillbarer Lebenshunger und die Fähigkeit, andere Menschen zu manipulieren. Mit Hilfe eines jungen Mannes, Wölfchen, gelingt es ihr aus dem Klosterinternat Sacre Cœur, in das sie Ten Brinken zu ihrer Erziehung übergeben hatte, zu fliehen und erst nach monatelangen Nachforschungen findet der Professor sie bei einem Wanderzirkus wieder. Ten Brinken beschließt, von nun an selbst für Alraune zu sorgen und nimmt das Mädchen auf längere Reisen nach Südeuropa mit, wo sie mit ihren Verführungskünsten sämtlichen jungen Männern der guten Gesellschaft den Kopf verdreht. Während die junge Frau einerseits durch ihre extrovertierte, charmante Art auffällt, machen sich bei ihr zugleich jedoch auch innere Konflikte und Identitätszweifel bemerkbar, die besonders deutlich in der Szene hervortreten, in der sie sich beim Anprobieren eines Abendkleides gemeinsam mit Ten Brinken in einem großen Wandspiegel betrachtet und feststellt, dass sie keinerlei physische Ähnlichkeit zu ihrem ›Vater‹ erkennen kann. Aus dem gestoh_____________ 26 27 28 29

Zwischentitel aus: Alraune (Deutschland 1928, Regie: Henrik Galeen, VHS-Fassung, S/w, stumm, unvertont, 97 Min.), Min. 0:01:03-0:01:47. Ebd., Min. 0:02:05. Ebd., Min. 0:02:33. In Ewers’ Romanvorlage heißt die Figur ›Frank‹ Braun; anders als im Film ist die Figur des Neffen hier außerdem der eigentliche Initiator des Experiments.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

lenen Tagebuch des Professors erfährt sie schließlich von den außergewöhnlichen Umständen ihrer Zeugung – voller Abscheu und Selbstekel beschließt Alraune, sich an Ten Brinken zu rächen. Mit ihren Auftritten als lasziv-erotischer Vamp verstrickt sie den alternden Mann in der Folgezeit immer mehr in ein zerstörerisches Netz aus Begierde und Abweisung bis dieser, halb wahnsinnig vor Leidenschaft, schließlich erkennen muss, dass er den Geistern, welche er gerufen hat, nicht mehr Herr werden kann. Über Nacht verliert Ten Brinken zudem sein gesamtes Vermögen durch missglückte Börsenspekulationen und versucht sich beim Roulettespiel, wo er in Alraunes Beisein zunächst unablässig gewinnt, mit einem Schlag jedoch wieder alles verliert, als sie sich vom Spieltisch entfernt. In derselben Nacht kommt es zu einer letzten heftigen Auseinandersetzung zwischen Alraune und Ten Brinken, nachdem sie verkündet, dass sie ihn verlassen werde und Ten Brinken daraufhin versucht, sie umzubringen. Der Neffe Ten Brinkens, der seit längerer Zeit in Alraune verliebt ist, kann in letzter Minute dazwischengehen und gemeinsam verlassen die beiden schließlich den Professor.30 Ten Brinken jedoch verfällt seelisch und finanziell ruiniert »der Hölle der Einsamkeit und des Wahnsinns«.31 Der Film, der ebenso wie die Romanvorlage bis zum Schluss offen lässt, ob es sich bei der Titelheldin um ein dämonisches, übernatürliches Wesen handelt, oder lediglich um eine selbstbewusste, emanzipierte junge Frau, die sich mit den Rollenvorgaben und Restriktionen der bürgerlichen Gesellschaft nicht abfinden will, rückt wie viele phantastische Filme eine sogenannte fusion figure (Carroll) in den Mittelpunkt, die in sich disparate Eigenschaften wie Natürliches vs. Künstliches, Menschliches vs. Dämonisches, Weiblich-Verführerisches vs. Männlich-Berechnendes vereint, wobei das narrative Modell der ›Fusion‹ hier gewissermaßen wörtlich in Form des genetischen Experiments, das den Ausgangspunkt der Erzählung bildet, realisiert ist. Mit dem Thema der künstlichen Befruchtung, die je nach Betrachterstandpunkt entweder als eine von Menschenhand durchgeführte Nachahmung natürlicher Prozesse oder aber als ein Eingriff in die Natur und damit eine Überschreitung moralisch-ethischer Tabugrenzen betrachtet werden kann, artikuliert sich unter dem Deckmantel des UnheimlichPhantastischen dabei auch ein progressives, wissenschaftskritisches Element, das dadurch verstärkt wird, dass der Film Alraune weniger auf spektakuläre visuelle Effekte setzt – der Akt der künstlichen Befruchtung in vitro, um den es hier geht, wird selbst nicht gezeigt – und den Fokus statt_____________ 30 31

Anders als der Film besitzt die Romanvorlage kein Happy End: Alraune fällt hier im Mondlicht schlafwandelnd von einem Dachfirst, nachdem Frank Braun ihren Namen ruft. Alraune, Min. 1:07:03.

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dessen auf die psychologischen Folgen richtet, die der manipulative Eingriff in die Natur für die Identität des ›künstlich‹ erschaffenen Individuums besitzt. Die innere Zerrissenheit und die krisenhaften Identitätszweifel der Protagonistin werden dabei wiederkehrend mittels Schatten und Spiegelbildern visualisiert, durch die die Gestalt der Hauptfigur zweifach in den Raum hinein projiziert wird und damit gewissermaßen ›doppelt‹ erscheint. Besonders auffällig zeigt sich dies in der Szene, in der Alraune von den ungewöhnlichen Umständen ihrer Zeugung erfährt: Nachdem sie ihre heimliche Lektüre im Tagebuch des Professors beendet hat, bleibt sie einen Moment fassungslos über dem aufgeschlagenen Buch sitzen – »Welch eine Schande... Ein Experiment aus der Laune eines zynischen Wissenschaftlers – ein Kind des Lasters und des Verbrechens. Wo ist mein Platz unter den Menschen?«,32 geben die Zwischentitel ihren inneren Monolog wieder. Anschließend wankt sie in ihr Schlafzimmer, wobei ihre Figur einen überdimensional hohen, scherenschnittartigen Schatten an die Wand wirft. 1.2. Das Modell der fission figures. Tierra Ich bin ein komplexes Wesen. Ich bin halb Mensch und halb Engel, das heißt ich bin halb lebendig und halb gestorben.33

Die im vorangegangenen Kapitel angesprochenen emotionalen Konflikte und Identitätszweifel der Protagonistin aus dem Film Alraune verweisen bereits auf ein zweites Modell der Konstruktion wunderbarer und phantastischer Figuren, das Noël Carroll mit dem Begriff der Dissoziation oder auch Spaltung (fission) erfasst hat. Wie Carroll darlegt, beruht diese Spaltung dabei stets auf einer konflikthaften Anlage der Identität, Sexualität oder auch Aggressivität einer Figur, wobei sich, anders als in non-phantastischen Erzählungen, im Modus des phantastischen und wunderbaren Erzählens diese Konflikte materialisieren und zu einer manifesten Aufspaltung der Persönlichkeit in verschiedene Entitäten führen, die jeweils für eine Facette des Konflikts stehen.34 Das zentrale Figurenmodell in diesem Zusammenhang bildet das Modell des unheimlichen Doppelgängers, welches die ursprünglich magisch fundierte, seit dem 19. Jahrhundert besonders auch unter psychologischem Gesichtspunkt betrachtete Vorstellung, _____________ 32 33 34

Alraune, Min. 1:02:55. Tierra (Spanien 1996, Regie: Julio Medem, DVD-Fassung flax film GmbH 2006, 118 Min.), Min. 01:21:40. Carroll 1981, S. 21.

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dass die Persönlichkeit des Menschen gespalten ist und jedermann ein zweites Ich in sich trägt, als leibhaftige Begegnung mit dem eigenen Selbst konkretisiert. »Wo die Selbstbegegnung einer Person in der nicht-fantastischen Literatur nur metaphorisch stattfinden kann«, schreibt auch Marianne Wünsch, »ereignet sie sich in der Fantastik wörtlich als Begegnung mit einem Doppelgänger.«35 Dieses narrative Modell der fission figures findet sich exemplarisch in dem Film Tierra (Spanien 1996) des baskischen Regisseurs Julio Medem realisiert. Der Protagonist des Films, Ángel, ist von Beruf Schädlingsbekämpfer, ein ›Exterminator‹ – Medem spielt hier auf den Titel von Luis Buñuels surreal-existentialistischen Film El ángel exterminador an –, der den Auftrag erhalten hat, in einer kargen, nordspanischen Weinbauregion die Asseln zu vernichten, welche dem dort angebauten Wein einen erdigen Geschmack verleihen. Auf seiner Fahrt in das Weinbaugebiet führt Ángel, der sich selbst als »komplexes Wesen« bezeichnet, das »halb Mensch und halb Engel« ist,36 ein Zwiegespräch mit einer körperlosen Stimme aus dem Universum, die sich teils als extradiegetischer Voice-over-Erzähler der Geschichte, teils als innere Stimme in Ángels Kopf präsentiert und auf die Ángel selbst gegenüber Dritten später stets als seinen ›Engel‹ referiert. Das Thema dieses Gesprächs ist der Tod sowie die nahezu unerträgliche Existenzangst, die das menschliche Dasein wie ein ständiges Hintergrundgeräusch begleitet, die jedoch, so versichert der Engel, im Grunde völlig unberechtigt sei, da der Tod nichts Schlimmes sei. Im Anschluss an dieses Gespräch passiert Ángel ein Feld, auf dem ein Schäfer kurz zuvor vom Blitz erschlagen wurde, mit dem Schäfer starben vier seiner Lämmer, die quadratisch um den Toten herum gruppiert sind (Abb. 63). Als sich Ángel über die verkohlte Leiche beugt, kommt der Schäfer für wenige Augenblicke noch einmal zu sich und berichtet ihm von dem fernen Ort, an dem er gerade war. »Dich hat ein Blitz getroffen, trotzdem bist du ins Leben zurückgekehrt – phantastisch!«, meint Ángel, »einen Sekundenbruchteil warst du an eine Wolke angeschlossen.«37 Dann stirbt der Schäfer ein zweites Mal. In dem kleinen Ort seiner neuen Arbeitsstätte angekommen macht Ángel bald die Bekanntschaft zweier äußerst unterschiedlicher Frauen, in die er sich beide verliebt. Die blonde Ángela ist sanft, liebenswert und scheint eine Art Seelenverwandte Ángels zu sein. Sie ist mit Patricio verheiratet, einem ungehobelten Macho, dessen Lieblingsbeschäftigung die Wildschweinjagd ist und der seine Frau mit der wesentlich jüngeren Mari _____________ 35 36 37

Wünsch 1991, S. 238. Vgl. Tierra, Min. 0:03:23, Min. 0:45:32, Min. 01:21:40 und passim. Ebd., Min. 0:07:33–0:07:42.

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betrügt. Die rothaarige Mari dagegen, die meistens in schwarzer Lederkleidung auf einem Motorrad unterwegs ist oder aber in der Höhlenbar ihres Bruders Alberto Billard spielt, ist das genaue Gegenteil von Ángela – wild, aufreizend und sexhungrig macht sie alle Männer im Dorf einschließlich Ángel verrückt, jagt ihm dabei zugleich jedoch stets auch etwas Angst ein. Hin- und hergerissen zwischen diesen beiden unterschiedlichen Frauen gerät Ángel in der Folgezeit immer häufiger mit Patricio aneinander, der in ihm einen Rivalen sowohl in Bezug auf seine Ehefrau als auch auf seine Geliebte erkennt und der aufgrund von Gerüchten im Ort davon überzeugt ist, dass Ángel verrückt ist und in ein Irrenhaus gehört. Zu einer dramatischen Zuspitzung der Ereignisse kommt es schließlich während einer Treibjagd auf Wildschweine, bei welcher Ángel Patricio – versehentlich oder absichtlich, das kann er später selbst nicht so genau sagen – anschießt, woraufhin Patricio seinerseits sein Gewehr auf Ángel richtet und droht, ihn umzubringen. In dieser lebensbedrohlichen Situation erscheint der Engel Ángels erstmals als leibhaftiger Doppelgänger und spricht Ángel energisch Mut zu, woraufhin sich die beiden gemeinsam von dem Schauplatz entfernen. Ángels emotionale und sexuelle Konfliktsituation scheint mit einem Schlag gelöst, als ein weiteres Gewitter über die Weinregion hereinbricht und ein Blitz den Bauern Patricio auf seinem Traktor erschlägt. Die verwitwete Ángela ebenso wie Mari zeigen daraufhin beide ihr Interesse an Ángel – was diesen jedoch in ein erneutes Dilemma führt. Unfähig, sich zwischen den beiden Frauen zu entscheiden, trägt er seine widerstreitenden Gefühle in ständigen Diskussionen mit seinem Doppelgänger aus, der immer stärker Partei für Ángela ergreift und eines Abends in Albertos Bar versucht, Ángela zu verführen, während Ángel erregt zuschaut und sich gleichzeitig von der im Hintergrund Billard spielenden Mari angezogen fühlt (Abb. 64–73). Schlussendlich ist es gerade Ángels konflikthafte Zerrissenheit, die eine überraschende Lösung und ein ›doppeltes‹ Happy End herbeiführt: Der Doppelgänger Ángels zieht zu der sanften Ángela und ihrer kleinen Tochter aufs Land, Ángel selbst dagegen fährt gemeinsam mit der wilden Mari ans Meer. Der Film Tierra zeigt wie die meisten der hier behandelten phantastischen Filme eine ambivalente, in sich gespaltene Hauptfigur, wobei das Motiv der Spaltung sowie die daraus entstehenden Dualität Ángels gleich zu Beginn des Films visuell in Szene gesetzt wird: Während eines heftigen Gewitters schlägt ein Blitz in einen einsamen Baum auf einem Feld ein und spaltet diesen in zwei Teile (Abb. 61). Der geteilte Baum als Bild für die innere Zerrissenheit Ángels symbolisiert zugleich dessen Verbindung mit dem Himmel bzw. dem Kosmos und der Erde, indem er durch seine Wurzeln einerseits in das Erdreich eindringt und zum anderen durch seine

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Abb. 61–63: Tierra. Ankunft Ángels in den Weinbergen

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Abb. 64–73: Tierra. Ángel und sein Doppelgänger zwischen Ángela und Mari

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Krone in den Himmel hinaufragt. Diese Dualität von Mensch und Engel, Kosmos und Erde, Geist und Körper, Liebe und Sexualität etc. durchzieht den Film leitmotivisch und findet ihren Ausdruck insbesondere auch in den entgegengesetzten Charakteren Ángelas und Maris, die symbolisch jeweils für den lichtdurchfluteten Himmel und die rote, harte Erde stehen (der Name ›Ángela‹ geht auf das lateinische Wort angelus für Bote/Engel, zurück und akzentuiert ein christliches Element, der Name ›Mari‹ dagegen bezeichnet in der baskischen Mythologie die Göttin der Erde, die in einer Höhle unter dem Erdreich lebt).38 Eine phantastische Mehrdeutigkeit entsteht in dem Film dabei insofern, als sich die Erzählung konsequent zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Realität und Überirdischem bewegt und die Figur des Ángel einerseits als teils menschliches, teils übermenschliches Wesen zeigt, das in Kontakt mit einer anderen, spirituellen und jenseitigen Welt steht, und andererseits andeutet, dass er wegen der ›Stimmen in seinem Kopf‹ bereits früher einmal in einer psychiatrischen Anstalt behandelt wurde und somit potentiell verrückt ist.39 Surreale und im weiteren Sinne phantastische Elemente erhält der Film darüber hinaus auch auf visueller Ebene, so insbesondere in den bizarren Ausräucherungsszenen, in welchen Ángel und seine Arbeitertruppe in weißen Schutzanzügen die roten Weinfelder durchqueren und dabei Assoziationen an Erforscher eines unbekannten Planeten wecken. Auch die extreme Kamerafahrt von der Totalen auf die unkartographierten Weiten des Alls hin zu der Großaufnahme der Assel im Weinfeld zu Beginn des Films, die das menschliche Wahrnehmungsvermögen – welches, wie Ángel betont, stets nur die Dinge »auf der Höhe unserer Augen, auf halbem Weg zwischen den Sternen und den Atomen«40 zu erfassen vermag – weit übersteigt, bildet ein irreales und wunderbares Element des Films und führt dem Betrachter eine Art metaphysischer Reise zu den Randgebieten der menschlichen Existenz vor. _____________ 38

39

40

Die Figur der Mari bildet die Hauptfigur in dem Skript Mari en la tierra, das Julio Medem 1987 verfasst hat und das die Legende einer nymphomanischen, baskischen Elfe erzählt, die Reisenden nachstellt und sie in ihre Höhle lockt, wo sie sie einer Reihe von sexuellen Foltern unterzieht. Aus diesem Skript ist später das Drehbuch zu Tierra hervorgegangen. Rob Stone (2007): Julio Medem, Manchester/New York, S. 100. Eine einseitig psychologisch-rationale Sichtweise des Films vertritt demgegenüber Sandra Strigl, die davon ausgeht, dass »das in sich geschlossene Universum von Tierra nur in Ángels Vorstellung existiert und sich der Film in seinem Unbewussten abspielt.« Sandra Strigl (2007): Traumreisende. Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem, Bielefeld, S. 63. Diesem Ansatz widerspricht u. a. das ambigue Ende des Films, das sowohl im übertragenen Sinn als auch wörtlich – der Engel und Ángel gehen von nun an buchstäblich ›getrennte Wege‹ – gedeutet werden kann. Tierra, Min. 0:59:22.

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Die Vermischung disparater Elemente (fusion) einerseits sowie Persönlichkeitsspaltungen und dissoziative Identitätskrisen (fission) andererseits, so kann zusammenfassend festgehalten werden, bilden zwei grundlegende Modelle der Konstruktion wunderbarer und phantastischer Figuren wobei im Modus des phantastischen Erzählens diese Fusion bzw. Spaltung jedoch stets mehrdeutig ist und sowohl in einem übertragenen Sinn als psychische Konstitution als auch wörtlich als übernatürliches Ereignis gedeutet werden kann. In Tierra erzeugt die Verdopplung und Spiegelung sämtlicher Schlüsselelemente darüber hinaus eine fundamentale Destabilisierung der erzählten Welt des Textes, die sowohl in der Instabilität der Persönlichkeit Ángels als auch in der Doppeldeutigkeit und Instabilität des Leitmotivs der Erde (span. tierra) zum Ausdruck kommt: Während der Titel des Films – der zu Beginn übrigens gleich zweimal eingeblendet wird – zunächst die Vorstellung von festem Halt und Grund hervorruft, erweist sich der Erdboden der Weinregion im Verlauf der Erzählung zunehmend als unbeständig und instabil, da von ihm gesagt wird, dass er durch die unterirdischen Gänge der Asseln ausgehöhlt sei und sich unter den Füßen seiner Bewohner bewege.41 Auf discours-Ebene konkretisiert sich dieses Moment der Instabilität schließlich hauptsächlich in der durch die Persönlichkeitsspaltung der Hauptfigur motivierten, doppelten subjektiven Erzählperspektive, die permanent zwischen der Sicht Ángels und der seines Engels oszilliert. Auf diese Weise werden dem Zuschauer einerseits die Doppelgängererscheinungen aus der subjektiven Perspektive Ángels präsentiert, andererseits wird durch die Erzeugung subjektiver Point-of-View-Strukturen ohne Anwesenheit eines Subjekts, dem der jeweilige ›Blick‹ zugeordnet werden kann, sowie durch den häufigen Einsatz einer Handkamera eine permanente Beobachtung und Verfolgung Ángels durch seinen Engel suggeriert.

_____________ 41

Das Motiv der Löcher im Boden sowie eine instabile, durch ›Lücken‹ und ›Löcher‹ charakterisierte Form der Narration kehrt in vielen Filmen Julio Medems wieder und erscheint beispielsweise auch in dem Film Lucía y el sexo (Spanien 2001). So ist hier einerseits der Grund und Boden der Insel, auf welcher sich die Geschichte abspielt, löchrig und porös; andererseits enthält die Narration selbst ›Löcher‹, d. h. Sprünge zwischen den einzelnen Zeit- und Erzählebenen, durch welche es der Protagoinstin ermöglicht wird, am Ende der Geschichte in deren Mitte zurückzukehren und den Verlauf der Ereignisse zu ändern.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

2. Grenzgebiete und Räume des ›Dazwischen‹ Erzählte Welten werden nicht nur durch Figuren, sondern insbesondere auch durch Räume als der Gesamtheit von Schauplätzen – Landschaften, urbanen Architekturen, Interieurs etc. – sowie den sich in ihnen befindlichen Objekten strukturiert. Der Kategorie des Raums kommt im Medium Film als einem audiovisuellen Medium dabei eine grundlegende Bedeutung zu, die die Rolle, welche die Konstruktion von Schauplätzen und räumlichen Relationen im Medium der Literatur spielt, sogar noch übertrifft. So zeichnet sich der Raum im Film zum einen durch seine visuelle Repräsentation aus und ist als zweidimensionales Abbild eines realen, vorfilmischen Raums hochgradig bestimmt, während er in der Literatur demgegenüber weitaus abstrakter bzw. ein rein mentales Konstrukt bleibt. Im Film hat man es somit stets mit konkreten Räumen zu tun, die als solche im Regelfall ›auf einen Blick‹ vom Betrachter erschlossen werden können,42 demgegenüber geben literarische Texte zumeist Raumeindrücke oder die Wahrnehmung des Raums wieder und weniger den Raum an sich.43 Zum anderen bildet die narrative Organisation des Raums mittels Schnitt und Montage ein Spezifikum des Films, das im Medium der Literatur in dieser Form keine Entsprechung besitzt: Im Film ist der Raum nicht nur eine Kategorie der erzählten Welt, sondern bildet neben der narrativen Präsentation, der Perspektivierung sowie der temporalen Anordnung des Erzählten auch einen elementaren Bestandteil des Diskurses des fiktiven Erzählers/›Kamera‹.44 Wie David Bordwell gezeigt hat, demonstriert sich, anders als in der Literatur, eine Allgegenwart und ›Allwissenheit‹ des fiktiven Erzählers im Film schließlich auch weniger über ein souveränes Verfügen über die Zeit – der klassische Hollywoodfilm ist weitgehend linear-chronologisch konstruiert –, sondern stattdessen über eine spatiale Omnipräsenz, d. h. über wechselnde räumliche Perspektiven, die

_____________ 42

43 44

Angesprochen ist hier zunächst die Möglichkeit einer visuellen Erschließung des Raums als instantane Wahrnehmung seiner Oberfächentopographie. Auf narrativer Ebene hingegen bildet die Erzeugung räumlicher Kohärenz und Kontinuität im Wesentlichen ein Merkmal des classical narration mode, wobei es vielfältige davon abweichende Erzählmuster gibt, die, wie etwa das Phantastische, mit einer gezielten Verrätselung und Ambiguisierung des Raums spielen. Vgl. Chatman 1980, S. 96f. und S. 101; Lahn/Meister 2008, S. 247. Vgl. hierzu Gunning: »Spatial articulations are less defined in literature than in film. They represent an element of the filmic narrator that has no direct equivalent in Genette’s treatment of literary narrative discourse.« Tom Gunning (1991): Theory and History: Narrative Discourse and the Narrator System. In: ders.: D. W. Griffith and the Origins of American Narrative Film. The Early Years at Biograph, Illinois, S. 10–30, S. 20.

2. Grenzgebiete und Räume des ›Dazwischen‹

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durch Schnitte innerhalb einer Szene sowie durch Schnitte zwischen wechselnden Lokalitäten verschiedener Szenen entstehen.45 Neben dem oben angesprochenen topographischen Raum als einem zweidimensionalen Abbild eines dreidimensionalen, vorfilmischen Raums, das durch den Blick der Kamera entsteht, sowie dem narrativen Raum als dem durch die Abfolge der Bildsegmente erzeugten Erzählraum der Geschichte46 ist noch ein weiterer zentraler Aspekt des Raums im Film zu nennen, der als der semantische Raum einer Erzählung bestimmt werden kann. Mit diesem Begriff soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es in literarischen und filmischen Erzählungen im Grunde keine neutralen Räume gibt, der erzählte Raum ist immer schon in irgendeiner Form mit Bedeutung aufgeladen, d. h. semantisiert. Einen derartigen Ansatz vertritt insbesondere Juri M. Lotman, demzufolge narrative Texte stets durch räumliche Ordnungen organisiert sind, die die Grundlage für die Bedeutungskonstitution des Textes bilden und um die herum auch nicht-räumliche Merkmale eines Textes aufgebaut werden.47 Das wichtigste Merkmal des Raums ist nach Lotman dabei die Grenze, die den Raum in zwei disjunkte Teilräume unterteilt48 und die auf diese Wiese eine Gliederung des Raums in topologische Gegensatzpaare wie ›innen vs. außen‹, ›oben vs. unten‹, ›zentral vs. peripher‹, ›nah vs. fern‹ etc. erzeugt, welche wiederum mit konkreten topographischen Raumstellen wie ›Haus‹, ›Wald‹, ›Stadt‹, ›Berg‹, ›Tal‹ etc. in Verbindung gebracht werden können. Diesen komplementären Raumordnungen eines Textes entsprechen schließlich stets soziokulturell fundierte Bedeutungszuweisungen und moralische Wertungen von Räumen, also beispielsweise ›gut vs. böse‹, ›heilig vs. profan‹, ›eigen vs. fremd‹, ›privat vs. öffentlich‹, welche jedoch keine fixen Konstanten bilden, sondern je nach Kontext variieren bzw. für unterschiedliche Helden jeweils unterschiedlich ausfallen können:49 So kann der Raum der Stadt sowohl positiv als auch negativ besetzt sein, das Haus sowohl Geborgenheit als auch Gefangenheit symbolisieren etc. _____________ 45 46 47

48 49

Bordwell 1986, S. 24. Zur narrativen Raumkonstitution im Film vgl. auch Stephen Heath (1981): Kap. 2: ›Narrative Space‹. In: ders.: Questions of Cinema, Bloomington, S. 19–75. Jurij M. Lotman (1972): Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München [russ. Original: Struktura chudozestvennogo teksta, Moskva 1970], S. 300–401. Als unentbehrliche Elemente der narrativen Grundstruktur eines Textes nennt Lotman: »1. ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall [...] für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. der Held als Handlungsträger.« Ebd., S. 341. Ebd., S. 327. Ebd., S. 328f.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

Im Modus des phantastischen Erzählens, das auf einer Zwei-WeltenStruktur sowie einem damit verknüpften Aufeinandertreffen zweier miteinander unvereinbarer Realitätssysteme basiert, erhalten die oben beschriebenen topologischen, topographischen und semantischen Untergliederungen des Raums ein besonderes Gewicht. Die Inszenierung räumlicher Grenzen und Schwellen sowie das Passieren derselben bildet eine Grundkonstante phantastischen Erzählens, wobei die hier stattfindenden Grenzüberschreitungen – der sprichwörtliche ›Fall in das Kaninchenloch‹, die Transgression zur ›anderen Seite‹ – jedoch stets in einer Grauzone zwischen Realem und Imaginärem angesiedelt sind und sich teils als konkrete räumliche Bewegung, teils als mentaler Entwicklungsprozess der handelnden Figuren präsentieren. Wie Annette Simonis gezeigt hat, sind die Raummodelle der Phantastik dabei schlüssig im Rückgriff auf kulturanthropologische Konzepte von Passagenriten zu beschreiben, wie sie erstmals von dem französischen Ethnologen Arnold van Gennep in seinem Buch Les rites de passage (1909) dargestellt und insbesondere von dem schottischen Ethnologen und Anthropologen Victor Turner weiterentwickelt wurden.50 Anhand zahlreicher literarischer Beispiele legt Simonis dar, inwiefern Passagenriten, die in einem realgeschichtlichen, magischreligiösen Kontext die Funktion erfüllen, den Übergang des Initianden von einem Lebensabschnitt in den anderen zu ermöglichen indem sie ihn aus der profanen Alltagswelt in eine Sphäre des Sakralen hinübergeleiten, in phantastischen Erzähltexten den Weg des Protagonisten bei seinem Übergang von einer Welt in die andere strukturieren, wobei der Passierung räumlicher Grenzen und Schwellen sowie den damit verbundenen Ritualen der Trennung, des Übergangs und der Verwandlung stets auch ein mentaler Entwicklungsprozess der handelnden Figuren korrespondiert. Das Modell der Grenzüberschreitung und der Passagenriten identifiziert Simonis somit als ein »gattungsprägendes und formatives Element«51 der Phantastik, welches auf innerliterarischer Ebene Entwicklungsprozesse der Figuren indiziert und das darüber hinaus die besondere kultursoziologische Bedeutung der phantastischen Literatur sichtbar macht.52 Eine Konkretisierung erfährt das von Simonis beschriebene Grenzüberschreitungs-Modell in phantastischen Erzähltexten schließlich häufig im Motiv der mystischen Reise als einem gleichermaßen räumlich-real wie mental vollzogenen Aufbruch des Protagonisten ins ›Andere‹, Unbekannte und Transrationale, wobei dieses Unbekannte sowohl Verheißungen als auch _____________ 50 51 52

Simonis 2005, S. 48–59 und passim. Ebd., S. 180. Ebd.

2. Grenzgebiete und Räume des ›Dazwischen‹

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Gefahren für den Helden bergen kann und in der Regel nur auf Um- und Irrwegen bzw. vielfach auch überhaupt nicht zu erreichen ist. 2.1. Mystische Reisen ins Unbekannte. Stalker In den Filmen des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij bildet das Motiv der mystischen Reise eine leitmotivische Grundkonstante, die in unterschiedlichsten Variationen wiederkehrt: Der Junge Iwan aus Iwans Kindheit durchstreift eine lunare Kriegslandschaft, der Ikonenmaler in Andrej Rubljow verlässt sein Kloster und begibt sich auf eine Wanderschaft, welche sich zu einem passionsartigen Leidensweg entwickelt, der Psychologe Kris Kelvin aus Solaris reist zu einem geheimnisvollen Planeten, der Protagonist Alexej aus Der Spiegel begibt sich auf eine Reise in seine Erinnerung und in Stalker schließlich durchqueren drei Männer eine mysteriöse, apokalyptische ›Zone‹, in welcher sich Gerüchten zufolge Wunder ereignen. Eine besondere Akzentuierung erfahren dabei auch die Räume und Schauplätze selbst, die vielfach als Randgebiete, Niemandsländer und Räume des ›Dazwischen‹ ausgewiesen sind und die neben räumlichen Schwellen und Grenzen stets auch zeitliche Übergänge erfahrbar machen: Die kargen Innenräume, in denen der Putz von den Wänden blättert, die dachlosen Kathedralen, die verfallenen Industrielandschaften, die sich die Natur zurückzuerobern begonnen hat, die menschenleeren, vom Wirken des Regens und des Windes gekennzeichneten Ruinen usw. prägen sich tief im Gedächtnis des Betrachters ein und sind wiederholt als VanitasAllegorien, als Chronotope oder, bezogen auf die sich in ihnen bewegenden Figuren, auch als ›Seelenlandschaften‹ gedeutet worden.53 In dem Film Stalker (russ. Originaltitel: ǞǿǭǸǷDzǽ, UdSSR 1979), der als einziger der genannten Filme Tarkowskijs als phantastischer Film im engeren Sinn gelten kann, wird das Passieren von Grenzen, Schwellen und Übergängen zu einem strukturbildenden Moment. Erzählt wird die Geschichte dreier Männer, die durch eine endzeitliche Landschaft, die sogenannte ›Zone‹ reisen, in welcher Gerüchten zufolge vor Jahren ein Meteorit niedergegangen ist und die seitdem als militärisches Sperrgebiet für die Menschen unzugänglich gemacht wurde. Diese mysteriöse Zone, eine »Ausgeburt der Überzivilisation«,54 wie es heißt, eine »Botschaft an die Menschheit […] oder ein Geschenk«,55 ist Gefahr und Verheißung zu_____________ 53 54 55

Vgl. Hans-Dieter Jünger (1995): Kunst der Zeit und des Erinnerns. Andrej Tarkowskijs Konzept des Films, Ostfildern, S. 70–74. Stalker (russ. Originaltitel: ǞǿǭǸǷDzǽ, UdSSR 1979, Regie: Andrej Tarkowskij, DVD-Fassung, Icestorm Entertainment 2003, 154 Min.), Min. 0:13:04. Ebd., Min. 0:44:29.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

gleich: Menschen verschwinden in ihr und kehren nie wieder zurück, mutierte Kinder werden seit ihrem Erscheinen geboren – aber es soll sich in ihrer Mitte auch ein Zimmer befinden, das jedem, der es betritt, die Erfüllung seiner Wünsche gewährt. Die drei Reisenden, die sich nur mit äußerster Vorsicht in der Zone fortbewegen können, da diese ein eigendynamisches System zu bilden scheint, das den Wanderern immer wieder Fallen stellt, werden jeweils von ganz unterschiedlichen Motiven angetrieben: Der Stalker, der Anführer der kleinen Gruppe, ist eine Art Kundschafter, der es als seine Berufung ansieht, Menschen in die Zone zu führen, der jedoch selbst nie das geheimnisvolle Zimmer in ihrem Inneren betreten hat. Als ehemaliger Häftling und gesellschaftlicher Außenseiter lebt er mit seiner Frau und seiner verkrüppelten Tochter, die von ihm stets nur ›das Äffchen‹ genannt wird, in der Nähe eines Atommeilers. Für den Stalker ist »überall das Gefängnis«,56 wirklich frei fühlt er sich nur in der menschenleeren Naturlandschaft der Zone. Seine beiden Mitreisenden sind ein zynischer, alkoholkranker Schriftsteller, der sich von der Reise neue Inspiration erhofft, sowie ein Wissenschaftler, der davon träumt, durch die Erforschung des unbekannten Territoriums den Nobelpreis zu erhalten. Alle drei Figuren, insbesondere jedoch der Stalker, sind als Schwellenfiguren angelegt, als einsame, resignierte Charaktere, die sich freiwillig an die Ränder der Gesellschaft zurückgezogen haben, die vom Schicksal ›Gezeichnete‹, dabei zugleich jedoch auch ›Ausgezeichnete‹ sind. Mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten repräsentieren die drei Männer schließlich auch drei verschiedene Eckpfeiler der menschlichen Existenz: Der Stalker symbolisiert den Glauben und die Religion, der Schriftsteller steht stellvertretend für das künstlerische Prinzip, das in seiner Person allerdings bereits eine degenerative Stufe des Skeptizismus und Zynismus erreicht hat, und der Wissenschaftler repräsentiert das Prinzip der Rationalität, das bei ihm jedoch ansatzweise in eine blinde Wissenschaftsgläubigkeit und in einen, wie es der Schriftsteller nennt, »kriechenden Empirismus«57 umgeschlagen ist. Glaube, Kunst und Wissenschaft, so lässt sich das ambigue Ende des Films aus diesem Blickwinkel interpretieren, liefern nur ansatzweise Konzepte für einen Umgang mit dem Unerklärlichen, potentiell Übernatürlichen und Wunderbaren und stoßen in Konfrontation mit diesem früher oder später stets an ihre Grenzen. Neben diesen stärker figurenbezogenen Aspekten bildet insbesondere die räumliche Strukturierung mit ihrer Staffelung von Grenzen und Schwellen, welche immer neue Herausforderungen und Prüfungen für die _____________ 56 57

Stalker, Min. 0:10:41. Ebd., Min. 1:05:40.

2. Grenzgebiete und Räume des ›Dazwischen‹

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Protagonisten bereithalten, ein signifikantes Merkmal der erzählten Welt des Films. Die mystische Reise ins Unbekannte, Transrationale, die verschiedene Formen von Grenzüberschreitungen sowie damit einhergehend den Vollzug sogenannter Passagenriten (rites de passage)58 notwendig macht, entwickelt sich für die Protagonisten im Verlauf der Erzählung dabei zunehmend zu einer Reise in das eigene, unbekannte Selbst, die Bewegung im Raum korrespondiert mit einem inneren Veränderungsprozess, gewissermaßen einer geistig-seelischen Wanderung der Protagonisten durch verschiedene Seinssphären.59 Die erste Grenzüberschreitung, die der Film thematisiert, ist das Eindringen in die Zone, welches sich für die Reisenden zu einem lebensbedrohlichen Wagnis entwickelt: Unter Beschuss des Militärs müssen die drei Männer die Sicherheitsabsperrungen passieren, was ihnen dadurch gelingt, dass sie sich mit ihrem Fahrzeug an einen Eisenbahnwaggon hängen, der durch ein kurzzeitig geöffnetes Tor in die Zone einfährt. Im Anschluss an diese abenteuerliche Episode folgt eine lange Fahrt auf einer Draisine, die die drei Reisenden immer tiefer in die menschenleere Einöde der Zone hineinführt und die durch das monotone Rattern der Räder auf den Eisenbahnschienen ein beruhigendes, nahezu meditatives Element enthält. Kurz bevor die drei Männer ihr erstes Ziel erreichen, eine kleine Anhöhe, von der aus man ein darunter liegendes Sumpfland überblickt und auf der sich Reste einer gescheiterten Zivilisation befinden – schrägstehende Telegraphenmasten, die Assoziationen an Kreuze wecken, sowie ein zertrampelter Blumengarten –, wechselt das Filmbild, das zuvor die gesamte Zeit schwarzweiß war, plötzlich in ein farbiges Bild über und kündigt damit den Übergang in einen neuen Bereich an (Abb. 74). Mit dieser ersten Grenzüberschreitung, dem Eintritt in die geheimnisvolle Naturlandschaft der Zone, sind zudem verschiedene Trennungshandlungen verbunden, die, ähnlich wie die von Van Gennep beschriebenen rites de séparation, eine Lösung der Protagonisten von der ›alten Welt‹ erfordern: Der Schriftsteller muss, wie Stalker fordert, von nun an dem Alkohol ent_____________ 58

59

Arnold van Gennep (1986 [1909]): Übergangsriten. Les rites de passage. Aus dem Französischen von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a. M. Van Gennep differenziert zwischen drei Phasen ritueller Abfolgen, die Übergänge von einem Zustand oder einem kosmischen bzw. sozialen Raum in einen anderen begleiten und die jeweils mit verschiedenen Formen von Übergangsriten (rites de passage) verbunden sind. Die erste Phase des Übergangs beinhaltet sogenannte Trennungsriten (rites de séparation), die zweite Phase sogenannte Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (rites de marge) und die dritte Phase den rituellen Zyklus abschließende Angliederungsriten (rites d’agrégation). Zum Motiv der mystischen Reise bei Tarkowskij als einer Transgression verschiedener Seinssphären vgl. auch Marius Schmatloch (2003): Andrej Tarkowskijs Filme in philosophischer Betrachtung, Sankt Augustin (Filmstudien 23) [zugl. Univ., Diss. Mainz, 2002], S. 207–224.

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sagen und der Professor wird, obwohl er sich letztlich nicht daran hält, mehrfach dazu aufgefordert, seinen Rucksack zurückzulassen und wie die beiden anderen Männer ohne Gepäck zu reisen. Nach einer beschwerlichen Wanderung durch das Sumpfland, das wie die übrigen Gebiete der Zone ein instabiles Territorium voller Fallen ist und in welchem sich die Männer nur fortbewegen können, indem sie zur Prüfung des Weges Schraubenmuttern auswerfen, erreichen sie schließlich ein verfallenes Gebäude, in dessen Inneren sich das wunscherfüllende Zimmer befindet. Sie durchwaten einen Tunnel, eine Art ›Geburtskanal‹, durch welchen rauschende Wassermassen fließen und der unpassenderweise den Namen ›trockener Tunnel‹ trägt und lassen sich anschließend in der Nähe einer gekachelten Wand zu einer Rast nieder. An dieser Schwelle zwischen dem Außenraum der Natur und dem Innenraum der Gebäuderuine strecken sich die Männer erschöpft auf der Erde aus, halb auf festem Grund und Boden, halb im Brackwasser des Sumpflandes liegend gleiten sie in ihren Gesprächen immer mehr in eine Art Halbschlaf und schließlich in einen traumähnlichen Zustand hinüber, in welchem sich Zeit und Raum aufzulösen scheinen. Die Männer sind dabei aus unterschiedlichen Positionen gefilmt, teils mit dem Gesicht nach oben, zur Seite oder zur Erde gewandt liegend, im Hintergrund erklingt sphärische Musik sowie eine sanfte Frauenstimme, die mit amüsiertem Unterton die Verse 6.12– 6.17 aus der Johannes-Apokalypse rezitiert und die Farbigkeit des Filmbildes wechselt unablässig zwischen satten Bunt- und monochromen Sepiatönen. Wie aus dem Nichts erscheint ein schwarzer Hund und schließt sich Stalker in der Art eines Totemtiers an (Abb. 75). Diese Szene, die Tarkowskij in seinem Tagebuch selbst als ›der Traum‹ bezeichnet hat,60 markiert einen weiteren Übergang – den Übergang vom Außen- in den Innenbereich –, wobei dem räumlichen Überschreiten der Schwelle in das Gebäude eine Art spiritueller Schwellenerfahrung, ein Zwischenzustand zwischen Wachen und Träumen, zwischen den Elementen der festen Erde und des fließenden Wassers vorausgeht. Im Inneren des Gebäudes müssen die drei Männer eine Reihe weiterer Grenzen und Schwellen passieren, wobei das Durchqueren der einzelnen Schwellenräume jeweils mit einer Prüfung der Initianden verbunden ist: Da ist zunächst der sogenannte ›Fleischwolf‹, eine »schreckliche Röhre«, die ein unabschätzbares Gefahrenpotential birgt und in der laut Aussage des Stalkers schon »so viele umgekommen« sind,61 dann der ›überflutete Raum‹, der durchwatet werden muss, das ›Sandzimmer‹, eine öde Wüsten_____________ 60 61

Zit. n. Vida T. Johnson/Graham Petrie (1994): The Films of Andrei Tarkovsky. A Visual Fugue, Bloomington, S. 152. Stalker, Min. 1:46:16.

2. Grenzgebiete und Räume des ›Dazwischen‹

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landschaft, über welche schwarze Raben hinwegziehen und die in ihrer endlosen Weite paradoxerweise zugleich einen begrenzten Innenraum bildet, das ›Telefonzimmer‹, das einen unerwarteten Kontakt mit der Außenwelt ermöglicht und schließlich der höhlenartige Vorraum, der sich vor dem eigentlichen ›Zimmer‹ der Wunscherfüllung befindet. In diesem letzten Raum, an der Schwelle zum Ziel ihrer Reise und, wie Stalker betont, im »wichtigste[n] Moment ihres Lebens«62 bleiben die Protagonisten schließlich stecken: Nachdem sie sämtliche Gefahren überwunden haben und knapp bis an ihr Ziel vorgedrungen sind, können sich der Professor und der Schriftsteller mit einem Mal nicht mehr entschließen, die letzte Schwelle in die ›andere Welt‹ zu übertreten – der Professor, da er sich der Gefahren einer Gewährung seiner Wünsche bewusst ist und an seiner eigenen moralischen Integrität zweifelt, der Schriftsteller, da er die Hoffnung verloren hat und nicht mehr genügend geistige Kraft besitzt, um an die wunderbaren und glückbringenden Qualitäten des Zimmers zu glauben.63 An der Grenze zwischen der einen und der anderen Welt, in einem ambivalenten Zustand zwischen der Erwartung des Kommenden und einer gleichzeitigen lähmenden Angst vor dem Unbekannten, bleiben die Protagonisten gewissermaßen in der Van Gennep’schen Übergangsphase der Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (rites de marge) gefangen und können den letzten Schritt in die dritte Phase der den rituellen Zyklus abschließenden Angliederungsriten (rites d’agrégation) nicht vollziehen. In dieser ausweglosen Situation, in welcher sie weder nach vorne noch zurück können, lassen sich die drei Männer schließlich gemeinsam auf dem Boden des Vorraums nieder, eine tiefe Stille umgibt sie und nur das Plätschern des von den Wänden tropfenden Regenwassers ist zu hören – »ein Tableau der Versöhnung, ja brüderlicher Solidarität«,64 wie Klaus Kreimeier _____________ 62 63

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Stalker, Min. 1:58:06. Vgl. hierzu auch Tarkowskij: »Ich möchte daran erinnern, daß das Ziel der Menschen, die sich in diesem Film auf ihre Reise in die ›Zone‹ machen, ein Zimmer ist, in dem sich ihre geheimsten Wünsche erfüllen sollen. […] Als dann unsere Helden an ihr Ziel gelangen, nachdem sie viel erlebt und viel über sich nachgedacht haben, da können sie sich nicht mehr dazu entschließen, die Grenze dieses Zimmers, zu dem sie sich unter Lebensgefahr aufgemacht hatten, auch wirklich zu überschreiten. Sie sind sich plötzlich bewußt geworden, daß ihr innerer moralischer Zustand letztlich geradezu tragisch unvollkommen war. Sie haben in sich nicht genügend geistige Kräfte gefunden, um an sich selbst zu glauben. Ihre Kraft reichte lediglich dazu, einen Blick in sich selbst zu werfen. Und der ließ sie zutiefst erschrecken!« Andrej Tarkowskij (2000): Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Aus dem Russischen von Hans-Joachim Schlegel, Berlin, S. 201. Klaus Kreimeier (1987): Stalker. In: Andrej Tarkowskij, hrsg. v. Peter W. Jansen/Wolfram Schütte in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek, Reihe Film, Bd. 39, München/Wien, S. 137-153, S. 148.

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Abb. 74–76: Stalker. Grenzen, Schwellen und Passagenriten

2. Grenzgebiete und Räume des ›Dazwischen‹

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schreibt, zugleich aber auch ein Bild einer »gescheiterten Initiation«,65 wie sie für viele phantastische Texte charakteristisch ist (Abb. 76). So hat bereits Hans Richard Brittnacher darauf aufmerksam gemacht, dass in der phantastischen Literatur »der chaotische, destruktive oder halluzinogene Zustand der zweiten Phase, der rites de marge auf Dauer gestellt [zu sein scheint]«, und die Helden der Geschichten vielfach »in Übergangsphasen eingeschlossen bleiben«.66 Die Helden der phantastischen Erzählungen verharren in der Regel in einem Zustand räumlicher und mentaler Labilität, sie haben die Normrealität bereits hinter sich gelassen, können jedoch nicht zur Welt des Wunderbaren, d. h. zu einer Akzeptanz des Außer- und Übernatürlichen durchdringen. [Die] bedauernswerten Protagonisten [der phantastischen Literatur] haben Visionen und hören Stimmen, kämpfen mit Monstern und Dämonen, sie lösen sich auf und verlieren den Verstand. Aber all dies, was üblicherweise der Preis für die rituelle Neugeburt ist, ist in der phantastischen Literatur bereits der Endzweck. Der Initiant vermag sich aus der zweiten Phase der Ent-Rückung, des Exzesses, nicht mehr zu lösen, der Ausweg in die Normalität der dritten Phase ist ihm versperrt.67

In dem Film Stalker entspricht der gescheiterten Initiation der Protagonisten, ihrer nur halb vollzogenen Reise ins Wunderbare, Trans- und Irrationale, schließlich auch das ambigue Ende des Films, das offen lässt, ob im Bereich der Zone tatsächlich außer- bzw. übernatürliche Kräfte regieren, oder ob sämtliche merkwürdigen Begebenheiten, die sich in ihr zutragen und die scheinbar mit ihrer Existenz zusammenhängen, letztlich rational erklärbar sind. So sieht man in der Schlussszene des Films Stalkers angeblich mutierte Tochter, die ohne Beine geboren wurde und die mit ihrem bunt bedruckten Kopftuch an eine russische Matrjoschka erinnert, an einem Tisch sitzen und in einem Gedichtband lesen, eine leise flüsternde Frauenstimme spricht die Verse eines Gedichtes von Fjodor Tjutschew aus dem Off: »Ich liebe deine Augen,/Meine Freundin,/Ihr helles Flammenspiel/Wenn du sie/Unerwartet hebst/Und wie ein/Blitz vom Himmel in deine Runde schaust.«68 In der märchenhaften Atmosphäre dieser Szene, in der Staubpartikel wie Schneeflocken durchs Zimmer tanzen, wandern mit einem Mal drei Wassergläser über den Tisch, deren Bewegung durch den konzentrierten Blick des Mädchens ausgelöst zu sein scheint und von denen eines schließlich laut am Boden zerschellt. Kurze _____________ 65 66 67 68

Hans Richard Brittnacher (2006): Gescheiterte Initiationen. Anthropologische Dimensionen der literarischen Phantastik. In: Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, hrsg. v. Clemens Ruthner et al., Tübingen, S. 15–29. Ebd., S. 24. Ebd. Stalker, Min. 2:30:40, dt. Übers. des Gedichts von Hans-Joachim Schlegel. In: Tarkowskij 2000, Abb. ›Einstellung zu dem Gedicht von Fjodor Tjutschew‹, Abbildungsteil, o. S.

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Zeit später hört man, wie eine Eisenbahn das Haus passiert. Diese Szene, die in Verbindung zur Anfangsszene des Films steht, in welcher das laut ratternde Vorbeifahren eines Zuges die Erschütterung eines Wasserglases auf dem Nachttisch der schlafenden Familie ausgelöst hatte, bleibt konsequent ambigue: Die Bewegung der Gläser kann sowohl auf mögliche telekinetische Kräfte des Mädchens, als auch auf die – in dieser Szene allerdings verspätet einsetzenden – Vibrationen des Zuges zurückgeführt werden. Am Ende löst sich die gesamte Szene in einer Toncollage aus dem rhythmischen Rattern des Zuges und den verzerrten Klängen aus Beethovens Ode An die Freude auf. 2.2. Transformation des Raums. Unheimliche Geschichten Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde, ist Raum im Modus des phantastischen Erzählens stets durch Grenzen konturiert, deren Überschreitung in der Regel eine Herausforderung oder Prüfung des Helden beinhaltet und die den Vollzug bestimmter Rituale des Übergangs erforderlich machen. Ein besonderes Gewicht kommt dabei den sogenannten Schwellenräumen zu, d. h. Räumen, die sich zwischen zwei Welten befinden und die weder der einen, noch der anderen Welt ganz angehören. Solche potentiell phantastischen Räume sind stets instabil und transformierbar, weisen, wie etwa in den Filmen Julio Medems, ›Löcher‹ und ›Hohlräume‹ auf oder bilden, wie in Tarkowskijs Stalker, eigendynamische Systeme, die den Protagonisten ›Fallen‹ stellen und die nur auf Um- bzw. Irrwegen passierbar sind. So charakterisiert der Stalker an einer Schlüsselstelle des Films die Zone wie folgt: Die Zone, das ist ein sehr kompliziertes System. Man könnte sagen: Fallen. Das überlebt niemand. Ich weiß nicht, was hier geschieht, wenn hier kein Mensch ist. Aber es braucht nur einer aufzutauchen, schon gerät alles in Bewegung. Frühere Fallen verschwinden, neue entstehen. Gefahr, bloße Stellen werden unpassierbar. Der Weg wird bald einfach und leicht, bald über alle Maßen kompliziert. Das ist die Zone. Fast könnte man den Eindruck haben, sie sei launisch. Aber sie ist so, wie wir sie selbst durch unseren Zustand gemacht haben.69

Der instabile und transformierbare, sich von einem Augenblick zum anderen verändernde Raum der Zone, in welchem es »kein Geradeaus«70 gibt und in dem der direkte Weg niemals der kürzeste ist, spiegelt dabei auch den mentalen Zustand dessen wieder, der ihn durchquert, die labyrinthische Verschlungenheit und Unübersichtlichkeit des Raums geht einher _____________ 69 70

Stalker, Min. 0:58.52–0:59:48. Ebd., Min. 1:05:36.

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mit einer Verkomplizierung des Denkens und einer geistigen Orientierungs- bzw. Obdachlosigkeit der Helden. Eine Faszination für die Auflösung vertrauter Raumkonzepte sowie für eine dynamische Transformierbarkeit des Raums findet sich schließlich bereits im frühen phantastischen Film, so zum Beispiel in der Episode Die Erscheinung aus Richard Oswalds fünfteiligem Episodenfilm Unheimliche Geschichten (Deutschland 1919), die auf der gleichnamigen Novelle von Anselma Heine basiert.71 Thema der Erzählung ist die mysteriöse Verwandlung eines Hotelzimmers sowie das Verschwinden einer jungen Frau aus diesem Zimmer, wobei weitgehend in der Schwebe belassen wird, ob die Frau aufgrund einer von einer Ostasienreise eingeschleppten, mutmaßlichen Pestinfektion gestorben und die Leiche vom Hotelpersonal heimlich beiseite geschafft worden war, oder aber, ob der psychisch extrem labile Protagonist der Erzählung sich die Begegnung mit der geheimnisvollen Unbekannten lediglich eingebildet und diese überhaupt nie existiert hat. In Richard Oswalds Filmepisode wird daraus ein raffiniert inszeniertes Spiel mit einer »Verrätselung des Raumes«,72 welches hier vor allem zur Erzeugung subtiler Horroreffekte genutzt wird: So lösen die ständigen Transformationen des Hotelzimmers mit der Zimmernummer 117 – von einer eleganten Suite am Tag der Ankunft des Paares, hin zu einem unwirklichen, unbewohnten Raum, vermutlich Schauplatz eines qualvollen Todes der jungen Frau, nachts beim flackernden Licht eines Streichholzes und schließlich wiederum zu einem sauber eingerichteten, unpersönlichen Gästezimmer am nächsten Morgen – ein tiefgreifendes Entsetzen bei dem männlichen Protagonisten der Erzählung aus und versetzen diesen in einen permanenten Zustand des Wahrnehmungs- und Realitätszweifels. Wie anhand der oben dargelegten Filmbeispiele deutlich wurde, sind die Räume der Phantastik stets durch Grenzen konturiert, die erzählte Welt ist untergliedert in Bereiche des Innen und des Außen, des Nahen und des Fernen, des Bekannten und des Unbekannten, des Heimeligen und des Unheimlichen, des Profanen und des Sakralen, des Weltlichen und des Überweltlichen, des Diesseitigen und des Jenseitigen etc., wobei diesen topologischen Merkmalen wiederum konkrete topographische Raumstellen entsprechen, die semantisch besetzt sind. Eine besondere Akzentu_____________ 71 72

Anselma Heine (1912): Die Erscheinung. Novelle, Berlin. Jürgen Kasten (2005): Dramatische Instinkte und das Spektakel der Aufklärung. Richard Oswalds Filme der 10er-Jahre. In: Richard Oswald. Kino zwischen Spektakel, Aufklärung und Unterhaltung, hrsg. v. Jürgen Kasten, Arnim Loacker, Wien, S. 15–139, S. 68. Rätselhafte, unheimliche Räume hatten den Regisseur Richard Oswald auch in seinen früheren Filmen schon interessiert, so etwa in dem dritten Teil der Serie Der Hund von Baskerville (1915), die den fast programmatisch anmutenden Titel Das Unheimliche Zimmer trägt und der Detektivfilm-Serie Das Unheimliche Haus. Vgl. ebd.

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ierung erfahren in diesem Zusammenhang Schwellenräume und Räume des ›Dazwischen‹, die, wie Van Genepp darlegt, besondere Zonen der Sakralität bilden: Jeder, der diese Zonen durchquert, »befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten.«73 In der Phantastik präsentieren sich derartige Schwellenräume schließlich vielfach als transformierbare, unzugängliche und labyrinthische Räume, als verbotene Territorien, die an den Rändern der vertrauten Welt liegen, als Gebiete, die unzulässige ›Lücken‹ oder ›Taschen‹ aufweisen74 oder auch als Räume, die sich zwischen zwei Zimmerwänden oder Stockwerken befinden und die somit gewissermaßen ›Nicht-Orte‹ bilden.75 Die Instabilität, Transformierbarkeit und Unzugänglichkeit des Raums korreliert dabei generell mit einer Krisenhaftigkeit der subjektiven Selbst- und Wirklichkeitswahrnehmung der Protagonisten, wodurch die Räume der Phantastik oftmals auch einen Status als ›Seelenräume‹ erlangen.

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Van Gennep 1986 [1909], S. 27. Vgl. Caillois 1966, S. 40 (dt.: Caillois 1974, S. 67). Erinnert sei hier etwa an den ›floor 7½‹ aus dem Film Being John Malkovich oder auch das in amerikanischen Hochhäusern oftmals fehlende, berühmte ›dreizehnte Stockwerk‹ als einem symbolischen Nicht-Ort. Auch der Film El laberinto del fauno enthält einen solchen NichtOrt: Durch eine mit Kreide auf die Wand eingezeichnete Tür gelangt die Protagonistin hier in einen Raum, der sich zwischen den Wänden ihres Wohnhauses befindet.

3. Mediale Grenzüberschreitungen

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3. Mediale Grenzüberschreitungen Die für das phantastische Erzählen charakteristischen Grenzüberschreitungen konkretisieren sich nicht nur als Bewegung im Raum, sondern umfassen auch Grenzverwischungen und -überschreitungen, die auf medialem Wege produziert werden, so etwa Verwischungen von Realität und Fiktion, von Objekt und Abbild, von Authentischem und Virtuellem. Die wiederkehrende Thematisierung von im weitesten Sinne ›technischen‹ Medien76 in der Phantastik steht dabei in engem Zusammenhang zu einer fortschreitenden medialen Durchdringung und Verzeichnung der Welt sowie den damit veränderten Wahrnehmungsweisen, die, wie Winfried Freund bemerkt, »in der Gegenwart ein generell phantastisches Klima [fördern], ein Bewußtsein der Auflösung ordnender Kategorien und der verschwimmenden Konturen, des Aufgehens im Heterogenen und Diffusen.«77 Angefangen bei der Entwicklung des Buchs zum Massenmedium um 1800, die dazu geführt hat, dass sich erstmals einer breiten Leserschaft neue Imaginationsräume erschlossen und die dabei nicht zufällig auch mit einem gesteigerten Interesse an wunderbaren und übernatürlichen Lesestoffen einherging,78 bis hin zur Möglichkeit einer Erschaffung virtueller Realitäten durch die digitalen Medien im 20. und 21. Jahrhundert war der Prozess der Medialisierung und Virtualisierung der Welt stets von einer Auflösung von Grenzen begleitet, die sowohl zur Schaffung neuartiger Erlebnishorizonte, als auch zu Erfahrungen der Entfremdung und der Desorientierung geführt hat. 3.1. Zur Wunschstruktur der Medien. Okkultismus und Spiritismus im Zeichen moderner Kommunikationstechnologien Medientechnische Innovationen haben die menschliche Phantasie stets beflügelt und wurden mit Wunschkonstellationen und impliziten Utopien in Verbindung gebracht. Wunschvorstellungen wie etwa die Überwindung _____________ 76

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Der Begriff technische Medien ist mehrdeutig. In einer engergefassten Definition bezeichnet er zunächst lediglich diejenigen Medien, die ein technisch reproduziertes Abbild der Wirklichkeit erzeugen, welches in einer Analogiebeziehung zum reproduzierten Gegenstand steht. Die Ära der technischen Medien beginnt demzufolge mit der Erfindung der Photographie. Einer erweiterten, vom griechischen Wort téchne abgeleiteten Definition zufolge sind unter technischen Medien dagegen sämtliche manuell und industriell hergestellten Informations- und Kommunikationsträger zu verstehen, also beispielsweise Handschriften, gedruckte Bücher, Bilder, Grafiken, Photographien, Schallplatten, Filme, Telefone, Fernseher und computerbasierte Medien. Freund 1999, S. 226. Vgl. Emma J. Clery (1995): The Rise of Supernatural Fiction, 1762–1800, Cambridge.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

von Raum und Zeit, das Vordringen in Bereiche jenseits der Grenzen des Sichtbaren oder auch die Möglichkeit einer täuschend echten Nachbildung imaginärer Wirklichkeiten haben die Entwicklung der modernen Speicher-, Übertragungs- und Kommunikationstechnologien nicht unerheblich vorangetrieben und sind in engem Zusammenhang zu den realhistorischen Nutzungsmöglichkeiten von Radio, Fernsehen, Mikrophotographie, Computer etc. zu sehen.79 Gleichzeitig war das Aufkommen und die Verbreitung der modernen Massenmedien seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts – vom massenmedial produzierten Buch, über die optisch-technischen Medien, den Film bis hin zu den modernen digitalen Medien – immer auch von Versuchen begleitet, mittels der neuen Techniken in bislang unerforschte Bereiche des Jenseitigen, Transrationalen vorzudringen und auf diese Weise eine Erweiterung der Grenzen der menschlichen Wahrnehmung zu bewirken. Derartige Versuche einer ›Sichtbarmachung des Unsichtbaren‹, wie sie sich beispielhaft anhand der im 19. Jahrhundert aufkommenden Mode der Geisterphotographie oder auch in dem Diskurs um die Einsatzmöglichkeiten moderner Röntgen- und Strahlentechniken dokumentieren,80 ebenso wie das Schaffen neuer Imaginationsräume durch die Massenmedien Literatur und Film81 haben ihren Niederschlag schließlich auch in den fiktionalen Texten der Phantastik gefunden. So präsentieren sich die Geister und Phantome der phantastischen Erzählungen den Protagonisten vielfach in Spiegeln, Teleskopen und anderen optischen Instrumenten, werden mit Hilfe magischer Bücher und geheimnisvoller Schriftzeichen herbeibeschworen, stellen sich im Anschluss an die einsame Lektüre schaurig-schöner Gespenstergeschichten ein, erweisen sich als durch Laterna magica-Projektionen zustande gekommene, optische Illusionen oder benutzen gar einen Fernseh- oder Computerbildschirm, um die Welt des Jenseitigen zu verlassen und in die sinnlich greifbare Realität einzudringen. Die Thematisierung technischer Medien und deren Inszenierungen, so die Grundthese des vorliegenden Kapitels, bildet, neben den _____________ 79

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Zu den verschiedenen Medienutopien, die an die Erfindung und Entwicklung des Computers geknüpft sind, vgl. Hartmut Winkler (1997): Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg. Zu den impliziten Wunschkonstellationen des Fernsehens vgl. auch Andreas Böhn/Andreas Seidler (2008): Mediengeschichte. Eine Einführung, Tübingen, S. 125–128. Vgl. hierzu auch Sabine Haupt/Ulrich Stadler (Hrsg.) (2006): Das Unsichtbare sehen. Bildzauber, optische Medien und Literatur, Wien/New York; Bernd Stiegler (2006): Kap. 3: ›Die Photographie des Unsichtbaren: Moment-, Geister- und Röntgenphotographie‹. In: ders.: Theoriegeschichte der Photographie, München, S. 87–136 sowie Beate Rabe (2000): Für eine Dämonologie der Fotografie. In: Fotografie und Realität. Fallstudien zu einem ungeklärten Verhältnis, hrsg. v. Julia Schmitt et al., Opladen, S. 89–122. Vgl. hierzu insbes. Friedrich Kittler (1987): Aufschreibesysteme 1800/1900, 2. erw. u. korr. Aufl., München.

3. Mediale Grenzüberschreitungen

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zuvor angesprochenen Aspekten der Figur und des Raums, somit ein grundlegendes Charakteristikum der erzählten Welten des Phantastischen. Darüber hinaus fungieren auch die hier thematisierten Medien und Medieninszenierungen als Kristallisationspunkte phantastischer Grenzüberschreitungen, insofern sie im wörtlichen Sinne eine ›Vermittlung‹ zwischen der Welt des Alltäglichen und des Wunderbaren, des Konkreten und des Zeichenhaften leisten und damit sowohl präferierte Orte phantasmatischer Erscheinungen als auch spaltbreite Öffnungen in die ›andere Welt‹ bilden. »Medien liefern immer schon Gespenstererscheinungen«,82 bemerkt Friedrich Kittler und verweist damit auf eine Interdependenz zwischen der Herausbildung kommunikationstechnischer Verfahren und Konstruktionen des Imaginären, die nicht zuletzt auch in der Rede von den Medien als gleichsam ›magischen Kanälen‹83 zum Ausdruck kommt und die zunächst einmal begriffsetymologisch begründbar ist. So hat der Terminus ›Medium‹ erst im 20. Jahrhundert seine dominant technische Bedeutung erhalten, zuvor bezeichnete er, wie sich einem Artikel aus Meyers Konversations-Lexikon von 1888 entnehmen lässt, neben allgemein »Mitte, Mittel, etwas Vermittelndes« speziell »in der spiritistischen Weltanschauung jemand, der mit einem Magnetiseur oder der Geisterwelt in Rapport steht«,84 und war somit im Wesentlichen an den Gedanken einer menschvermittelten Übertragung von Nachrichten aus der Geister- und Götterwelt geknüpft. Diese spiritistische Bedeutungsvariante liegt auch dem 1861 erschienenen Buch der Medien Allan Kardecs zugrunde, einer der meistrezipierten Lehrbuchsammlungen des modernen Spiritismus, deren Hauptthema die Möglichkeiten der Kommunikation zu den Geistern von Verstorbenen ist. »Zur Hervorbringung übernatürlicher Erscheinungen«, schreibt Kardec hier, »ist die Mitwirkung einer oder mehrerer Personen, die mit besonderer Fähigkeit begabt sind, erforderlich, die man als Medien bezeichnet.«85 Derartige Medien gibt es Kardec zufolge ebenso viele wie Manifestationsformen von Geistern, zu den häufigsten gehören Medien für physische Wirkungen, sensitive oder eindrucksfähige Medien, hörende, sprechende, sehende, somnambule, heilende, schreibende oder psychographische und pneumatographische Medien für direkte Schrift.86 _____________ 82 83 84 85 86

Friedrich Kittler (1986): Grammophon, Film, Typewriter, Berlin, S. 22. So lautet der (nicht besonders glücklich gewählte) deutschsprachige Titel von Marshall McLuhans Understanding Media. Art. ›Medium‹. In: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, Bd. 11, hrsg. vom Bibliographischen Institut Leipzig, 4. gänzlich umgearb. Aufl., Leipzig/Wien 1885–1892, S. 401. Allan Kardec (1977): Das Buch der Medien, Wiesbaden [frz. Original: Le livre des médiums, Paris 1861], S. 53. Ebd., S. 134.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

Die moderne Medienwissenschaft hat wiederholt auf diese spiritistischen und metaphysischen Traditionen ihres Untersuchungsgegenstands verwiesen und das Faszinosum eines Vordringens ins ›Jenseits der Zeichen‹ als willkommenen Aufhänger für ihre theoretischen Entwürfe genutzt:87 Nicht nur die spiritistischen Menschmedien, so geben diese – nicht immer ganz ernst gemeinten – Ausführungen zu verstehen, sondern auch die sich seit dem 19. Jahrhundert in zunehmend kürzeren Zeitabständen präsentierenden, modernen technischen Medien scheinen eine besondere Affinität zu Geisterspuk, Phantomgebilden und Jenseitsvisionen aller Art zu besitzen. Vom medial versierten Klopfgeist, der sich das Kommunikationsprinzip des modernen Telegraphen zunutze macht, über sogenannte Geisterphotographien, die ätherische Wesen auf lichtempfindliche Platten bannen, bis hin zu hochgerüsteten, digitalen Mobiltelephonen, die ihrem Besitzer durch Aufleuchten des Displays paranormale Aktivitäten in seiner Umgebung anzeigen88 – kaum ein Bereich der modernen Medien- und Kommunikationstechnologien ist von Entwürfen und Projektionen des Imaginären und Übersinnlichen ausgeschlossen geblieben. Die verborgenen Analogien zwischen subjektiven Wunschphantasien und der Entwicklung der modernen Massenmedien wurden schließlich nicht erst von der zeitgenössischen Medienwissenschaft aufgedeckt und zur Sprache gebracht: Bereits im frühen 20. Jahrhundert hatte man, unter dem Eindruck eines beschleunigten medialen Wandels sowie im Zuge einer allgemeinen, modeartigen Hinwendung zu Okkultismus und Spiritismus, auf derartige Zusammenhänge verwiesen. So schreibt Franz Marc in einem unveröffentlichten Vortragsmanuskript aus dem Jahr 1914: Alle okkultistischen Phänomene haben in der Form, in der sie sich uns heute zeigen, ein äußerliches Analogon, das man die materialistische Form immaterieller Ideen nennen könnte. […] Ist nicht unser Telegraphenapparat eine Mechanisierung der berühmten Klopftöne? Oder die drahtlose Telegraphie ein Exempel der Telepathie? Die Grammophonplatte scheint experimentell zu beweisen, daß die

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Vgl. Kittler 1986, S. 20–25; Paul Virilio (1986): Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas, München/ Wien, S. 8 und S. 51–54; Jochen Hörisch (2004): Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, Frankfurt a. M., S. 256–259; Georg Christoph Tholen (2005): Medium, Medien. In: Grundbegriffe der Medientheorie, hrsg. v. Alexander Roesler/Bernd Stiegler, Stuttgart, S. 150–172, S. 152; Moritz Baßler (Hrsg.) (2005): Gespenster. Erscheinungen, Medien, Theorien, Würzburg, S. 11. Der sogenannte Ghost Detector wurde von den US-amerikanischen Firmen Wiretown und Future Platforms im Auftrag der Mystery Show Most Haunted des Senders Discovery Channel entwickelt. Es handelt sich dabei um eine Java-Applikation, die Schwankungen im elektromagnetischen Feld in der Umgebung des Telephons analysiert und diese, entsprechend ihrer jeweiligen Stärke, als übernatürliche Präsenzen auf dem Handydisplay darstellt. Vgl. http://www.travelchannel.com/TV_Shows/Most_Haunted/ci.Paranormal_activity_is_eve rywhere..show?vgnextfmt=show&idLink=136a737e84a57 (letzter Zugriff : 30.06.2009).

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Verstorbenen noch zu uns reden können. Das Okkulte gewinnt heute infolge dieser experimentellen Analogien eine ganz neue Bedeutung, die man früher, in Religionszeiten nicht kannte. Wer sollte so blind sein, diese merkwürdigen Zusammenhänge der geistigen Ideen mit dem physikalischen Experiment, des Innerlichen mit dem Äußerlichen zu leugnen?89

Auch am Ende der 1920er Jahre ist diese wechselseitige Affinität von Technik und Magie, von physikalischem Experiment und unerlaubter Schwarzer Kunst, ein Thema. So zieht der mit der populären Massen- und Medienkultur seiner Zeit bestens vertraute Philosoph und Schriftsteller Ernst Bloch in seinem Essay Die Angst des Ingenieurs eine durchgehende Traditionslinie von den sagenumwobenen, frühneuzeitlichen Gelehrten wie Roger Bacon, Albertus Magnus, Johannes Faustus und Rabbi Löw, über die Hoffmann’schen Scharlatane und Physik-Zauberer à la Spalanzani, bis hin zu den Erfindern und Ingenieuren des 19. und 20. Jahrhunderts, wie sie prototypisch durch die Person Thomas Alva Edisons repräsentiert werden, und führt diese als Belege für die vielfältigen Überschneidungen und Verflechtungen von technisch-rationaler und magisch-irrationler Weltauffassung an. »Je nüchterner und fortgeschrittener die Technik«, bemerkt Bloch, »desto rätselhafter kreuzte sie sich sogar mit dem alten Tabureich von Dämpfen, überirdischer Geschwindigkeit, Golem-Roboters, blauen Blitzen.«90 Und weiter heißt es: Vieles, was die alten Zaubermärchen versprochen hatten, hat die modernste Technik gehalten: das Radio bringt ferne Stimmen in einen Raum, wo gar niemand spricht; ja ein Fernsehen wird denkbar, das, mitten im nüchternsten Weltbild, das Reich des magisch herbringenden Spiegels schneidet. Völlig zusammenhanglos zur bestehenden Abstraktheit der Konstruktion, doch ebenso unwiderstehlich tauchen so gewisse alte Magie-Räume im Grund der Technik wieder auf […].91

Hätte Bloch seinen Essay fünfzehn Jahre später verfasst, hätte er es sicher nicht versäumt, in seiner Aufzählung den Computer zu ergänzen, der in der Anfangsphase seiner Entwicklung Mitte der 1940er Jahre ebenfalls Anlass zu visionären, dabei rückblickend jedoch durchaus nicht abwegigen Spekulationen gegeben hatte und der vielfach als eine Wunsch- und Wundermaschine rezipiert wurde.92 So bemerkt Vilém Flusser noch Mitte der _____________ 89

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Franz Marc (1989 [1914]): Zur Kritik der Vergangenheit. Manuskript für einen Vortrag. In: Franz Marc. Briefe, Schriften und Aufzeichnungen, hrsg. v. Günter Meißner, 2. erw. Ausgabe, Leipzig/Weimar, S. 119. Wieder abgedruckt in: Linda D. Henderson/Veit Loers (Hrsg.) (1995): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900–1915. Katalog Schirn-Kunsthalle Frankfurt a. M., S. 274–276, S. 275f. Ernst Bloch (1977 [1929]): Die Angst des Ingenieurs. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9: Literarische Aufsätze, Frankfurt a. M., S. 347–358, S. 353. Ebd., S. 354. Hervorheb. im Original. Vgl. hierzu insbesondere Vannevar Bushs prophetischen Essay As We May Think von 1945, in welchem der Ingenieur und Computerwissenschaftler nicht nur Internet, Hypertext und elektronische Spracherkennung vorwegnimmt, sondern auch eine datenverarbei-

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1980er Jahre: »Jene Generation, welche noch nicht mit Computertastaturen großgeworden ist, kann an ihnen noch dieses Gespenstische, Magische erleben. Während meine Fingerspitzen wählend über die Tastatur meiner Schreibmaschine tasten, um den vorliegenden Text zu schreiben, vollbringe ich ein Wunder.«93 Vor dem Hintergrund dieses kleinen Exkurses zur Verbreitung und zur Wirkungskraft medialer Utopien wird im Folgenden näher auf die Inszenierung medialer Scheinwelten im phantastischen Film eingegangen. Dabei zeigt sich, dass, ähnlich wie hinsichtlich der zuvor angesprochenen Modellierung der Figuren und Räume des phantastischen Films, auch das Thema der medialen Fiktionen, Illusionen und Simulationen in der Phantastik eng mit dem Moment der Grenzüberschreitung verknüpft ist: Das Sich-Verlieren in geheimnisvollen Büchern und Manuskripten, die verblüffende und beunruhigende Lebendigkeit eines gemalten Portraits oder einer Photographie, die gespenstische Wirkungskraft einer Filmprojektion, welche dem Zuschauer im dunklen Kinosaal unheimliche Doppel- und Widergänger seiner selbst präsentiert, oder auch der zutiefst verwirrende Effekt, der sich beim Betreten einer Virtuellen Realität einstellt, erzeugen je auf ihre eigene Art den Eindruck eines ›Risses‹ (Caillois) im Gewebe der Wirklichkeit und bewirken eine plötzliche oder auch schleichende Verwandlung des Vertrauten, Alltäglichen in ein Fremdes, Außergewöhnliches und nicht selten auch Unheimliches. Die medial veränderten Wahrnehmungsweisen, im Zuge derer die Grenzen zwischen Objekt und Zeichen, zwischen dem Authentischen und dem Virtuellen verfließen, bilden somit die Grundlage einer spezifischen Form von phantastischer ›Schwellenerfahrung‹ und erzeugen einen mehrdeutigen Zustand des Schwebens der Protagonisten zwischen zwei Welten. 3.2. Phantasmatische Repräsentationen von Buch und Schrift. El laberinto del fauno Eines der Hauptcharakteristika phantastischen Erzählens im Film, das besonders in der Frühzeit des Mediums mit aller Deutlichkeit hervortritt, ist die Omnipräsenz des Schriftlichen, das permanente Eindringen gedruckter und handschriftlich produzierter Texte, Schriftzeichen und Symbole _____________

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tende Maschine beschreibt, die logische Probleme lösen und kreativ denken kann, sowie Edmund Berkeleys Buch Giant Brains, or Machines That Think von 1949, in dem ein simples Modell eines ›mechanischen Gehirns‹ und Vorläufer des Personal Computers erläutert wird. Vilém Flusser (1985): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen, S. 29.

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in das Universum der filmischen Bilder.94 Mit überraschender Konstanz werden in dem noch jungen Medium des Films so die traditionellen Medien Buch und Schrift zu zentralen Handlungsträgern gemacht: Geschichten von geheimnisvollen, verstaubten Folianten werden erzählt, die den Protagonisten unvermittelt in die Hände fallen, in alten Chroniken wird geblättert, Briefe, Manuskripte, Tagebücher und vertragliche Dokumente werden studiert und immer wieder werden Bibliotheken, Antiquariate und Schreibstuben zum Schauplatz des filmischen Geschehens gemacht. Beispiele hierfür bieten unter anderem der Episodenfilm Unheimliche Geschichten, dessen einleitender Erzählrahmen den Titel »Phantastisches Vorspiel beim Antiquariat« trägt und in welchem die drei Hauptfiguren in alten Büchern stöbern, der Film Der Student von Prag, in dem ein schriftlicher Vertrag mit dem Teufel den Ausgangs- sowie den Endpunkt der Erzählung markiert, die Filme Das Cabinet des Dr. Caligari und Alraune, in denen Tagebuchaufzeichnungen und eine alte Chronik Aufschluss über im Dunkel der Vergangenheit zurückliegendes Geschehen geben sowie der Film Vampyr, der – noch am Übergang zum Tonfilm – wiederholt Seiten aus einem mysteriösen Vampirbuch in den Handlungsverlauf integriert, wobei der Schrifttext die Ereignisse der ersten Erzählebene überhaupt erst deutbar macht.95 Die wiederkehrende Thematisierung der Medien Buch und Schrift im frühen phantastischen Film ergibt sich dabei zunächst aus der Erzählsituation des Stummfilms: Der ›stumme‹, nicht verbalsprachlich codierte Film nutzt die in den Handlungsverlauf integrierten Schriftmedien zu einer Strukturierung des Erzählten und zur Vermittlung von zusätzlichen Informationen über die Zwischentitel hinaus. Neben dieser Funktion als mediale Träger entfalten die in den Erzählungen thematisierten Schriftmedien jedoch auch eine spezifische ästhetische Qualität. Bücher, Briefe, Manuskripte, Memoiren und Schrifttücke aller Art bilden in der Phantastik nicht nur Träger von Botschaften und neutrale Vermittler von Wissen, sondern erscheinen selbst als geheimnisvolle, gefährliche und gleichermaßen begehrenswerte Objekte, die mit besonderen Kräften aus_____________ 94

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Eine nahezu obsessive Thematisierung von Buch und Schrift erscheint jedoch nicht erst im Medium Film, sondern ist zuvor bereits ein Charakteristikum der phantastischen Literatur. So hat Annette Simonis sich eingehend mit den ›phantasmagorischen Schreibübungen‹ in E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf auseinandergesetzt (Simonis 2005, S. 131–137) und anhand von H. P. Lovecrafts The Shadow Out of Time die Bibliothek als ›zentrale Raummetapher‹ der Phantastik charakterisiert (ebd., S. 244–250) und Renate Lachmann hat die ›Phantasmatik von Schrift und Buchstabe‹ am Beispiel von Texten von Gogol, Dostojevskij und Hawthorne untersucht (Lachmann 2002, S. 195–237). Des weiteren sind in diesem Zusammenhang auch Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam, F.W. Murnaus Nosferatu, Fritz Langs Der müde Tod sowie Paul Lenis Das Wachsfigurenkabinett zu nennen, die den Bereich des Phantastischen im engeren Sinn jedoch bereits wieder verlassen und der Todorov’schen Kategorie des Wunderbaren bzw. im Fall des Wachsfigurenkabinetts des Unheimlichen zuzuordnen sind.

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gestattet sind und die die Überschreitung der Grenze in eine ›andere Welt‹ ermöglichen. In dieser letzteren Funktion spielt die Inszenierung der Medien Buch und Schrift schließlich nicht nur im frühen phantastischen Film eine herausragende Rolle, sondern bildet ein Merkmal, das sich bis in den modernen und postmodernen phantastischen Film der Gegenwart hinein verfolgen lässt und das, wie sich anhand des Films El laberinto del fauno exemplarisch zeigen lässt, hier nichts von seiner ursprünglichen Faszination verloren hat. In dem Film El laberinto del fauno (Mexiko/Spanien/USA 2006) des mexikanischen Regisseurs Guillermo del Toro kommt den Medien Buch und Schrift eine Schlüsselrolle zu. Der Akt des Lesens wird hier gleichbedeutend mit dem Eindringen der jugendlichen Protagonistin in ein wunderbares Paralleluniversum, das von Feen, Monstern und mythologischen Fabelwesen bevölkert ist, das dabei jedoch nie gänzlich als imaginäre Scheinwelt aufzulösen ist, sondern das, auf seine eigene, flüchtige Weise, einen Platz neben der äußeren Realität behauptet und vielfach mit dieser verknüpft ist. Schauplatz der äußeren Handlung ist eine Bergregion in Nordspanien, wo sich nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges und dem Sieg des Franco-Regimes bewaffnete Partisanengruppen fortgesetzt Kämpfe mit den Faschisten liefern. In dieses Gebiet reist die dreizehnjährige Ofelia gemeinsam mit ihrer hochschwangeren Mutter, um dort künftig bei ihrem Stiefvater, einem Hauptmann der franquistischen Armee zu leben. Dem brutalen und despotischen Capitán Vidal ist das büchervernarrte, verträumte Mädchen von Anfang an ein Dorn im Auge, er zeigt nur Interesse an seinem ungeborenen Sohn, der ihm noch wichtiger ist als seine Ehefrau. In dieser wenig glücklichen Lage flüchtet sich Ofelia immer tiefer in eine mythologisch-märchenhafte Gegenwelt, in welcher sie kein normalsterbliches Wesen ist, sondern eine Prinzessin, die Tochter des Königs der unterirdischen Welt. Bald nach ihrer Ankunft entdeckt sie so im Wald die Ruinen eines Labyrinths und macht dort die Bekanntschaft eines Pans (in der spanischen Originalfassung ist es ein Faun), der ihr mitteilt, ihr richtiger Vater warte in seinem unterirdischen Königreich auf sie. »Überall auf der Welt«, so erklärt der Pan, »gab Euer wirklicher Vater den Befehl, die Tore zu öffnen, um Eure Rückkehr zu ermöglichen. Das hier«, sagt er indem er mit einer weit ausholenden Geste auf das Labyrinth deutet, »ist das letzte von allen.«96 Von dem Pan erhält Ofelia anschließend ein Buch mit leeren Seiten, das sie dazu anleitet, drei Prüfungen zu absolvieren, deren Bestehen die Voraussetzung für ihre Rückkehr in die unterirdische Welt bildet. _____________ 96

El laberinto del fauno (Mexiko/Spanien/USA 2006, Regie: Guillermo del Toro, DVD-Fassung Senator Film 2007, 115 Min.), Min. 0:22:18.

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Während draußen in der ›wirklichen‹ Welt die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den republikanischen Rebellen weitergehen und Capitán Vidal die gefangenen Widerständler mit sadistischer Grausamkeit foltert, macht sich Ofelia daran, die drei Prüfungen zu absolvieren, die ihr eine geheimnisvolle, selbstschreibende Schrift, mit der sich die leeren Seiten des Buches zu füllen beginnen, vorgibt. So muss sie zunächst einen goldenen Schlüssel aus den Gedärmen einer Riesenkröte hervorholen, anschließend wird ihr aufgetragen, mit diesem Schlüssel im Zimmer eines blinden, kinderfressenden Monsters ein Kästchen zu öffnen, in welchem sich ein Dolch befindet. Die letzte Prüfung führt sie schließlich erneut zurück in das vollmondnächtliche Labyrinth, wo sie auf Aufforderung des Pans ihren neugeborenen Bruder mit dem Dolch töten soll, um ihren Status als Prinzessin wiederzuerlangen. Das Mädchen verweigert dem Pan jedoch den Gehorsam und wird daraufhin von Capitán Vidal, der ihr ins Labyrinth gefolgt ist, erschossen. Die letzten Szenen zeigen wechselweise Einstellungen auf das Gesicht der schwer atmenden, sterbenden Ofelia (die zugleich auch die Eingangssequenz des Films bilden) und Szenen, die ihren Eintritt in die unterirdische Welt zeigen, wo ihr ihr Vater mitteilt, sie habe die letzte Prüfung bestanden, indem sie sich geweigert habe, das Blut eines Unschuldigen zu vergießen. Dabei bleibt jedoch offen, ob Ofelia im Tod die Transgression in die andere Welt tatsächlich vollzieht, oder ob es sich bei diesen Szenen lediglich um die Halluzination einer Sterbenden handelt – der Status des wunderbaren Paralleluniversums mitsamt dem gehörnten, bocksfüßigen Waldgeist, dem König der unterirdischen Welt, den Feen, Monstern und übrigen Fabelwesen bleibt konsequent ambigue. Eine zentrale Rolle spielen in El laberinto del fauno die verschiedenen Öffnungen in die wunderbare Welt, die hier mit besonderer Sorgfalt und großem Detailreichtum in Szene gesetzt werden: Da ist zunächst das Labyrinth als ein geheimnisvoller und unzugänglicher Ort, das ebenso wie der in ihm lebende Pan verschiedene Facetten besitzt und das für denjenigen, der es betritt, sowohl ein schützendes Versteck als auch eine Hinrichtungsstätte sein kann. Ein weiteres wichtiges Erzählelement bildet eine mit Kreide auf die Wand eingezeichnete Tür, die an jeder beliebigen Stelle des Hauses den Weg in Räume, die sich zwischen den Wänden befinden, freigibt. Die wichtigste Öffnung in die andere Welt stellen jedoch die Bücher Ofelias dar, an die sich das Mädchen in ausweglosen Situationen sprichwörtlich ›klammert‹ (Abb. 77), in denen sie sich in Feengeschichten verliert und die ihr nicht zuletzt den Weg weisen und ihr sagen, was sie zu tun hat (Abb. 78–79). Das Motiv des Buchs mit den leeren Seiten sowie das Motiv der selbstschreibenden Schrift können dabei einerseits als Hinweise darauf gedeutet werden, dass es sich bei der wunderbaren Welt lediglich um eine Phantasiewelt handelt, die Ofelias Kopf entspringt.

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Abb. 77–79: El laberinto de fauno. Buch und Schrift als Medien der Grenzüberschreitung

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Andererseits besitzt diese scheinbare Phantasiewelt durchaus Einfluss auf die Realität und ist mit dieser auf vielfältige Weise verknüpft: Während Ofelia in der wunderbaren Welt so die Aufgabe erhält, den goldenen Schlüssel zu beschaffen, dreht sich in der wirklichen Welt alles um die Beschaffung des Schlüssels zum Lebensmittellager des Capitáns, von dem das Dienstmädchen Mercedes heimlich eine Kopie für die Widerständler anfertigen lässt. Als Ofelias Mutter beinahe eine Fehlgeburt erleidet, füllen sich die Seiten des Buches statt mit magischen Schriftzeichen plötzlich mit Blutlachen, eine Besserung ihres Zustands verschafft jedoch eine Alraunwurzel, die Ofelia aus dem Labyrinth mitbringt. Und während Capitán Vidal auf grausame Weise einen gefangenen Rebellen foltert, beißt in der wunderbaren Parallelwelt das blinde, kinderfressende Monster – eine Hommage an Goyas Gemälde Saturn, einen seiner Söhne verschlingend – einer Fee den Kopf ab. Schließlich bildet insbesondere Ofelias mutige Verweigerung eines blinden Gehorsams gegenüber dem Pan sowie ihr selbstloses Opfer am Ende des Films eine Parallele zu den Ereignissen der äußeren Welt, dem Kampf der Widerständler gegen die Faschisten. Die reale und die wunderbare Welt sind in El laberinto del fauno somit eng ineinander verwoben, ohne dass letztere dabei gänzlich in der ersten aufzulösen wäre. In einem Artikel aus der Zeitschrift Der Spiegel heißt es dazu: Anders als ihre Vorbilder Dorothy und Alice muss Ofelia nicht in andere Dimensionen vordringen, um in ihre Phantasiewelt zu gelangen. Die Übergänge zwischen der Realität des spanischen Bürgerkriegs und dem zauberhaften Reich, in dem der schelmische Naturgott Pan […] auf eine verschollene Prinzessin wartet und Tinkerbell-ähnliche Feen als Insekten-Scouts tarnt, sind fließend, so dass sich die realen Ereignisse auch in der vermeintlichen Traumwelt spiegeln.97

Das unauflösbare Nebeneinander der beiden Welten sowie der ambigue Status, der dem Medium Buch und dem Akt des Lesens in diesem Zusammenhang zukommt, verleiht dem Film trotz aller düsteren, brutalen und tragischen Elemente (welche ihn dezidiert auch zu einem Erwachsenenfilm machen) schließlich eine gewisse Portion Optimismus: Das Buch mit den leeren Seiten fungiert hier nicht lediglich als Medium einer eskapistischen Flucht ins Irreale und Imaginäre, sondern es könnte tatsächlich den Weg in eine ›andere Welt‹ aufzeigen und Informationen bereitstellen, die zu einer Veränderung der Situation in der diesseitigen Welt beitragen können. Der Film erzählt von der Möglichkeit eines Nebeneinanders zweier Welten, wobei der Realitätsstatus, den man der wunderbaren Welt zubilligt letztendlich davon abhängt, welchen Status man Phantasie und Mythologie überhaupt zuzubilligen gewillt ist. _____________ 97

Andreas Borcholte (2007): Pan’s Labyrinth. Der Traum vom Faun. In: Der Spiegel, 22.02.2007. Online unter: http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,467842,00.html, letzter Zugriff: 30.06.2009.

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3.3. Bildzauber, Simulakrum und Gedankenspiel. Abre los ojos Früher gab es eine besondere Klasse von allegorischen und ein wenig diabolischen Gegenständen: Spiegel, Bilder, Kunstwerke (Begriffe?) – Simulakren, die jedoch als solche manifest und durchschaubar waren (man verwechselte die Vorlage nicht mit der Imitation) […] Heute, wo das Reale und das Imaginäre zu einer gemeinsamen operationalen Totalität verschmolzen sind, herrscht die ästhetische Faszination überall […].98 Tausend Dinge täuschen das Auge.99

Optische Phänomene, die die Täuschbarkeit des menschlichen Auges demonstrieren, sowie sich verwandelnde und verselbständigende, ›magische‹ Bilder besitzen in der phantastischen Literatur eine lange Tradition. Hierzu gehören beispielsweise Portraitgemälde, die den Blick des Betrachters erwidern, die einen biologischen Alterungsprozess der abgebildeten Person bezeugen oder die gar aus ihrem Rahmen steigen und eine reale Gestalt annehmen ebenso wie die verschiedensten Formen magischer Schattenund Spiegelbilder.100 Von dem trügerischen Laterna magica-Spektakel in Friedrich Schillers Der Geisterseher,101 über die Manifestation ätherischer Frauengestalten in Spiegeln, Teleskopen und anderen optischen Instrumenten in den Erzählungen E. T. A. Hoffmanns, die furchteinflößende Ahnung eines unsichtbaren Wesens in Guy de Maupassants Le Horla, bis hin zu den sich verwandelnden und verselbständigenden Portraitgemälden in Joseph Sheridan Le Fanus Schalken, the Painter, Edgar Allan Poes The Oval Portrait und Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray – stets haben Bilder, die mehr sind als nur eine zeichenhafte Reproduktion der Wirklichkeit _____________ 98

Jean Baudrillard (1991): Der symbolische Tausch und der Tod, München, S. 118 [frz. Original: L’échange symbolique et la mort, Paris 1976]. 99 Guy de Maupassant (1921): Der Horla. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7: Novellen, hrsg. v. Egon Fleischel, frei übertr. v. Georg Freiherrn von Ompteda, Berlin, S. 1–44 [frz. Original: Le Horla. In: ders.: Le Horla (et autres nouvelles), Paris, 1887], S. 37. 100 Magische Portraits erscheinen bereits vielfach in der englischen Gothic novel und im Schauerroman, so beispielsweise in Horace Walpoles The Castle of Otranto und in Ann Radcliffes The Mysteries of Udolpho. Zur Repräsentation optisch-technischer Medien und deren Bildwelten in der phantastischen Literatur vgl. auch Max Milner (1982): La Fantasmagorie. Essai sur l’optique fantastique, Paris. 101 Vgl. auch Monika Schmitz-Emans (2007): Die Zauberlaterne als Darstellungsmedium. Über Bildgenese und Weltkonstruktion in Schillers Geisterseher. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, hrsg. v. Walter Hinderer, Würzburg, S. 375–399.

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und die die Möglichkeit eines Unbekannten, Noch-Nie-Gesehenen hinter der Welt des Sichtbaren aufscheinen lassen, eine zentrale Rolle in der phantastischen Literatur gespielt. Auch der phantastische Film hat sich dieses Motivs angenommen und es unter dem Eindruck der sich verändernden Medien- und Kommunikationstechnologien weiterentwickelt. Bereits in dem Stummfilm Hoffmanns Erzählungen (Deutschland 1916, Regie: Richard Oswald) wird so ein früher Vorläufer eines animierten 3-DModells eingeführt: Die Projektion einer kleinen Puppe, die sich um ihre eigene Achse dreht und sich vor dem Zuschauer verbeugt, soll dem Protagonisten Hoffmann hier einen kleinen Vorgeschmack auf die Reize der ›echten‹ Olympia geben. In ihrer modernen Variante erscheinen magische Bilder vielfach auch als Fernseh-, Video- und Computerbilder, so beispielsweise in David Lynchs Lost Highway, in dem sich das Unheimliche und potentiell Übernatürliche über mysteriöse Videobänder in das Leben der Hauptfigur Fred Madison drängt. Weitere Beispiele einer stärker unzweideutigen und auf die narrativen Konventionen des Horrorfilmgenres zurückgreifenden Inszenierung magischer Bilder bieten die Filme Poltergeist (USA 1982, Regie: Tobe Hooper) und Ringu (Japan 1998, Regie: Hideo Nakata), in denen die Geister von Verstorbenen über ein Fernsehgerät mit der Außenwelt kommunizieren und die Protagonisten dabei in den Apparat hineinziehen bzw. selbst aus diesem herauskriechen. Eine vorläufig letzte Stufe der Täuschbarkeit der menschlichen Wahrnehmung ist schließlich mit der theoretischen Möglichkeit einer Erzeugung computergenerierter, virtueller Bildwelten erreicht, welche direkt in das neuronale System eingespeist werden und die auf diese Weise an keinem Punkt mehr von der Realität zu unterscheiden sind. In solch eine verwirrende, virtuelle Bildwelt gerät auch der Protagonist César aus dem Film Abre los ojos, wobei die Vermischung zwischen Realität und (Alp-)Traum, zwischen Authentischem und Virtuellem hier bis ans Äußerste getrieben wird und so letztendlich auf die philosophische Frage nach der generellen Vertrauenswürdigkeit der subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung sowie den Möglichkeiten einer manipulativen Kontrolle unseres Wissens von der Außenwelt hinausläuft. Der Film Abre los ojos (Spanien/Frankreich/Italien 1997) des spanischen Regisseurs Alejandro Amenábar entfaltet auf zwei Zeitebenen die Geschichte Césars, eines fünfundzwanzigjährigen, gutaussehenden Yuppies, der in der Großstadt Madrid lebt. In der Vergangenheit führte César als einziger Erbe des elterlichen Vermögens ein sorgenfreies Leben, er besaß mehrere Autos und rühmte sich, noch nie mit derselben Frau zweimal geschlafen zu haben. In der Gegenwart befindet sich César in einer psychiatrischen Strafanstalt, da er wegen des Mordes an einer jungen Frau angeklagt ist. Er trägt eine gummiartige Maske, die die Entstellungen seines

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Gesichts verbergen soll, welche er bei einem Autounfall erlitten hat. Er wirkt verstört und kauert auf dem Fußboden seiner Zelle, da dieser, wie er behauptet, noch das einzige sei, was ihm »echt erscheint«, alles andere sei »eine Lüge«.102 Aus längeren Gesprächen mit dem Psychiater Antonio, der vor Gericht für César aussagen soll, erfährt der Zuschauer nach und nach in Form von Flashbacks und eingeschobenen Traumsequenzen von den Umständen, die zu Césars jetziger Situation geführt haben, wobei die Ereignisse der Vergangenheit non-linear und fragmentarisch erzählt werden und sich das Geschehen für den Zuschauer ebenso wie für den Protagonisten erst schrittweise puzzleartig zusammenfügt. In der Eröffnungsszene des Films (Abb. 80–87) hört man, bei zunächst noch schwarzer Leinwand, ein als Wecker dienendes Tonband mit einer monotonen Frauenstimme, die wiederholt »Öffne die Augen« (»Abre los ojos«) sagt.103 Ein Bett wird langsam eingeblendet und der Zuschauer verfolgt Césars morgendliche Routine: den verschlafenen Blick in den Badezimmerspiegel, das Duschen, Anziehen und schließlich die Fahrt mit dem Auto in die Stadt. Dieses scheinbar alltägliche erste ›Erwachen‹ Césars stellt sich im weiteren Verlauf der Filmhandlung jedoch als der Beginn eines Alptraums heraus: Dem jungen Mann wird mit einem Mal bewusst, dass er vollkommen allein in der Millionenstadt Madrid ist – es ist zehn Uhr morgens und die Boulevards der Gran Vía, der größten Einkaufsstraße der Stadt, sind völlig menschenleer. An dieser Stelle zoomt die Kamera aus dem Bild zurück und gibt den Blick auf die verlassene Straße und die Häuserschluchten der Wolkenkratzer frei, zwischen denen Césars winzige Figur gänzlich verloren wirkt. »Öffne die Augen.«104 Abermals ist das bekannte Weckergeräusch zu hören und die Anfangsszene wiederholt sich in nahezu exakt der gleichen Weise noch einmal. César erwacht – diesmal allerdings neben einer jungen Frau, die später als Nuria eingeführt wird –, macht sich vor dem Badezimmerspiegel zurecht und fährt mit dem Auto in die Stadt, wo er sich mit seinem Freund Pelayo zum Squashspiel trifft. In dieser ersten Szene offenbart sich bereits das narrative Strickmuster des Films: Realität und Traumgeschehen werden unablässig miteinander vermischt, wobei das systematische Fehlen von Anfangsmarkierungen der Traumszenen, wie etwa Überblendungen, Weichzeichner oder auch akustischer Effekte, dazu führt, dass diese stets erst rückwirkend als solche _____________ 102 Abre los ojos (Spanien/Frankreich/Italien 1997, Regie: Alejandro Amenábar, DVD-Fassung TV Movie Edition 2005, 114 Min.), Min. 0:11:06. 103 Ebd. Min. 0:01:05. 104 Ebd., Min. 0:03:35.

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entschlüsselt werden können.105 Dabei kann sich, wie in der Anfangsszene, die vermeintliche Realität entweder als Alptraum entpuppen oder aber rückblickend als wunscherfüllender Traum präsentieren, aus welchem das Erwachen in der Realität eine schmerzhafte Erfahrung ist – so etwa auch in der Szene, in der César feststellen muss, dass er das Treffen im Park mit Sofía lediglich geträumt hat und ihm beim Erwachen sein entstelltes Gesicht im Spiegel entgegenblickt (Abb. 88). Die permanenten unmarkierten Wechsel zwischen externer und interner Fokalisierung, zwischen dem objektiven Blick der Kamera auf die Außenwelt und dem subjektiven ›Kopfkino‹ des Protagonisten tragen dabei zu einer Destabilisierung und Ambiguisierung des Erzählten bei, welche im Verlauf der Filmhandlung dadurch gesteigert wird, dass zusätzlich zu den fehlenden Anfangsmarkierungen nun auch noch die Endmarkierungen der Traumszenen und subjektiven Projektionen fehlen. In die Vergangenheit zurückblickend berichtet der Film zunächst von der Geburtstagsparty Césars, auf welcher Nuria, seine flüchtige erotische Bekanntschaft vom Beginn des Films, uneingeladen erscheint und ihm nachstellt. Um seine hartnäckige Verehrerin loszuwerden, startet César unverblümte Annäherungsversuche bei Sofía, einer Freundin Pelayos, die dieser auf die Party mitgebracht hat. Die beiden verbringen die Nacht in Sofías Wohnung, doch als er am nächsten Morgen auf die Straße tritt, muss César feststellen, dass Nuria ihm selbst hierhin gefolgt ist. Er steigt in den roten Sportwagen der jungen Frau und fährt mit ihr aus der Stadt heraus und eine Landstraße entlang, wo diese unter Einfluss von Drogen und außer sich vor Eifersucht und Wut mit Vollgas gegen eine Leitplanke rast. Im Gegensatz zu Nuria überlebt César den Unfall zwar, doch sein einst so sympathisches Gesicht ist zu einer grauenvollen Fratze entstellt. Mit seinem Vermögen begibt er sich bei den besten Ärzten in Behandlung, doch selbst diese können ihm nicht helfen – die medizinischen Möglichkeiten seien noch nicht so weit fortgeschritten, teilt man ihm achselzuckend mit. César zieht sich daraufhin immer mehr von der Welt zurück und traut sich schließlich nur noch mit einer Gesichtsmaske unter die Menschen. Den Tiefpunkt seines ›Abstiegs in die Hölle‹ bildet ein Wiedersehen mit Sofía und seinem alten Freund Pelayo in einer Diskothek, das zu einem kläglichen Desaster wird – César betrinkt sich aus Frust und Verzweiflung und bricht nachts auf offener Straße zusammen. _____________ 105 Vgl. hierzu auch Helbigs Besprechung von Vanilla Sky (USA 2001, Regie: Cameron Crowe), dem US-amerikanischen Remake von Abre los ojos. Jörg Helbig (2006): »Open Your Eyes!« Zur (Un-)Unterscheidbarkeit filmischer Repräsentationen von Realität und Traum am Beispiel von David Finchers The Game und Cameron Crowes Vanilla Sky. In: »Camera doesn’t lie«. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film, hrsg. v. Jörg Helbig, Trier, S. 169–188.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

Abb. 80–87: Abre los ojos. Der Alptraum in der Eröffnungsszene

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Abb. 88–90: Abre los ojos. Realität und virtuelle Scheinwelt

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Als er am nächsten Morgen aufwacht, hört er zum dritten Mal die wohlbekannten Worte: »Öffne die Augen.«106 Er erhebt den Kopf vom Rinnstein und sieht zu seinem Entsetzen zuerst das Gesicht Nurias über sich gebeugt. Doch mit einem Mal ist es Sofía, die sich zu ihm herabkniet und ihm sagt, dass sie ihn liebt (Abb. 89). Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass die Ärzte inzwischen eine Möglichkeit gefunden haben, Césars deformiertes, vernarbtes Gesicht zu rekonstruieren und ihm seine alte Gestalt wiederzugeben. César kann sein Glück kaum fassen, wie er später im Gespräch mit Antonio darlegt, kommt ihm das Ganze jedoch auch etwas merkwürdig vor: Innerhalb einer Woche hatte sich mein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Am Abend liege ich noch betrunken auf der Straße und will sterben und am nächsten Morgen fangen meine Träume an, wahr zu werden – wie im Kino. Sofía liebte mich und die Ärzte hatten eine Wunderheilung gefunden. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie kam mir das verdächtig vor.107

César beginnt ein neues Leben, mit einem neuen Gesicht und seiner Traumfrau Sofía an seiner Seite. Doch das scheinbare Glück weist zunehmend seine Schattenseiten auf: Wiederholt wird César von entsetzlichen Alpträumen geplagt und eines Nachts sieht er im Spiegel plötzlich sein altes, vom Unfall entstelltes Gesicht wieder. Schweißgebadet wacht er aus diesem Alptraum auf und schließt die neben ihm schlafende Sofía in die Arme, wobei er zu seinem Entsetzen jedoch feststellen muss, dass die Frau, die neben ihm im Bett liegt, Nuria ist. Überzeugt davon, dass Nuria den Autounfall überlebt hat und sich nun wieder in sein Leben drängt, schlägt er sie und zeigt sie bei der Polizei an, wo man seine verworrene Geschichte allerdings nicht ernst nimmt. In einer Bar trifft er auf einen mysteriösen älteren Herrn, dessen Gesicht ihm vage aus dem Fernsehen bekannt vorkommt, und der ihm sagt, er solle sich beruhigen, seine Ängste überwinden und die Kontrolle wiedergewinnen. »Und was wäre, wenn ich dir sage, dass du alles nur geträumt hast?«,108 meint der geheimnisvolle Fremde. César weist diese Möglichkeit energisch zurück, woraufhin sein Gesprächspartner einwendet: »Träume werden einem erst bewusst, nachdem man aufgewacht ist.«109 Wie zur Bestätigung dieser Aussage herrscht auf den Wunsch Césars, alle um ihn herum sollen ruhig sein, mit einem Mal völlige Totenstille in der Bar, die gesamte Szenerie scheint wie eingefroren – wäre es tatsächlich möglich, dass alles nur ein Traum ist? Im Anschluss an dieses merkwürdige Erlebnis in der Bar tritt jedoch keine Besserung von Césars Zustand ein. Die Verwandlungen seines Gesichts im Spiegel _____________ 106 107 108 109

Abre los ojos, Min. 0:53:51. Ebd., Min. 0:59:23. Ebd., Min. 1:14:11. Ebd., Min. 1:14:30.

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setzen sich fort, ebenso wie die Transformationen von Sofía in Nuria. Selbst Zeichnungen und Photographien sind von diesen Gestaltsverwandlungen betroffen – auf demselben Bild erscheint einmal Sofía und einmal Nuria. César erleidet einen psychischen Zusammenbruch und völlig von Sinnen erstickt er eines Nachts während des Geschlechtsverkehrs Sofía/ Nuria mit einem Kissen. An dieser Stelle hat der Erzählerbericht der Vergangenheit die Gegenwart eingeholt. César befindet sich in seiner Zelle in der Strafanstalt und der Psychiater Antonio forscht nach möglichen Gründen für die rätselhaften, rational nicht erklärbaren Ereignisse, wobei die gesamte Palette möglicher Motivierungen110 eines phantastischen Geschehens durchgespielt wird: So ist Antonio zunächst fest davon überzeugt, César leide unter Wahnvorstellungen und unter einer extremen Verzerrung seines Selbstbildes (er selbst ist die gesamte Zeit davon überzeugt, dass sich unter Césars Maske ein völlig normales Gesicht verbirgt und sieht aus seiner subjektiven Perspektive später auch nichts anderes), als nächstes unterstellt er ihm, Drogen genommen zu haben, dann räumt er die Möglichkeit ein, es könne sich um eine Verschwörung handeln, die die Geschäftspartner Césars inszeniert haben um an sein Vermögen zu gelangen und letzten Endes ist er schließlich davon überzeugt, dass alles nur ein abgekartetes Spiel der Medien ist bzw. dass es sich um eine Inszenierung mit versteckter Kamera handelt. Neben diesen rationalen Deutungsmöglichkeiten drängt sich jedoch zunehmend eine wunderbare, Science Fiction-artige Erklärung des Geschehens in den Vordergrund: Über eine Fernsehsendung sowie eine Internetseite findet César heraus, dass es sich bei dem mysteriösen Herrn in der Bar um Serge Duvernois, den Repräsentanten der Kryonik-Firma Life Extensions handelt, deren Geschäftsidee darauf basiert, tote Körper bis zu einer möglichen Wiederbelebung in der Zukunft einzufrieren und deren Akronym ›L.E.‹ César zuvor bereits mehrfach im Traum erschienen war. Gemeinsam mit Antonio stattet er der Firma einen Besuch ab, wo er auf dem Dach des Gebäudes auf Duvernois trifft, der ihm das gesamte Geschehen schließlich enthüllt: Nach der Nacht in der Diskothek, so Duvernois, hatte César Sofía nie wiedergesehen und sein Gesicht konnte von den Ärzten nie mehr rekonstruiert werden. Stattdessen hatte er einen Vertrag mit Life Extensions unterzeichnet und anschließend mittels Tabletten Selbstmord begangen. Nachdem er hundertfünfzig Jahre lang eingefroren war, sei es schließlich möglich gewesen, ihn wiederzubeleben und ihn in eine virtuelle Realität zu versetzen, für welche Personen und Schauplätze seines realen Lebens die Kulisse gebildet hatten und in der er, sofern er sich von seinen Ängsten hätte lösen _____________ 110 Zum Begriff der ›Motivierung‹ vgl. Kap. II.3.1.

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IV. Erzählte Welten im phantastischen Film

können, seine schönsten Wunschträume hätte leben können. Der Morgen seines Erwachens auf dem Bürgersteig war dabei als Anschlussstelle zwischen seinem realen und seinem virtuellen Leben genutzt worden und um einen nahtlosen Übergang zu ermöglichen, wurden sämtliche Erinnerungen an die Vertragsunterzeichnung und seinen Selbstmord aus seinem Gedächtnis gelöscht. Schließlich stellt Duvernois César vor die Wahl, ob er weiterhin in der virtuellen Realität des Jahres 1997 leben möchte oder aber in einer für ihn fernen Gegenwart im Jahr 2145. César entscheidet sich für letzteres, wünscht sich jedoch, Sofía noch ein letztes Mal zu sehen (Abb. 90). Anschließend springt er vom Dach des Hochhauses und erwirkt damit das Ende des ›Traums‹. Das Schlussbild des Films ist wie das Anfangsbild in völliges Schwarz getaucht. Eine Frauenstimme redet beruhigend auf César ein: »Ganz ruhig, ganz ruhig. Öffne die Augen…«111 Der Film Abre los ojos entwirft ein phantastisches Universum unheimlicher Bild- und Blickwelten, wobei die Irrealität und Trugbildhaftigkeit der visuellen Wahrnehmung eine besondere Brisanz dadurch erhält, dass es virtuelle Bilder sind, um die es sich in dem Film dreht.112 »Die Irrealität«, um ein Zitat von Baudrillard aufzugreifen, »ist nicht mehr die eines Traums oder Phantasmas, eines Diesseits oder Jenseits, es ist die Irrealität einer halluzinierenden Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst.«113 Die computergenerierten (Gedanken-)Bilder, denen César ausgeliefert ist, bilden eine exakte Reproduktion des Realen, nämlich der Personen und Schauplätze seiner Vergangenheit, und befinden sich damit auf einer völlig neuen Stufe der Täuschbarkeit und manipulativen Kontrollierbarkeit der subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung, die die Möglichkeiten einer Irreleitung des Subjekts durch magische Spiegel, Zauberlaternen, wie lebensecht wirkende Gemälde, Photographien usw. noch übertrifft. Die Strukturen der Verdop_____________ 111 Abre los ojos, Min. 1:50:33. 112 Die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Bilder hat den Regisseur Amenábar auch in anderen Filmen interessiert. So befassen sich die Filme Himenóptero (Spanien 1992) und Tésis (Spanien 1996) beide mit den Themen des Voyeurismus und des ohnmächtigen Ausgeliefertseins des Individuums im Strom der medial erzeugten Bilder, in The Others (Spanien/Frankreich/USA 2001) dagegen erschaffen sich die Protagonisten ihre eigenen Bilderhöllen, welche sich am Schluss als eine Art post mortem-Projektion herausstellen. In einem Interview mit dem spanischen Filmwissenschaftler Carlos F. Heredero äußert sich Amenábar dazu wie folgt: »Das Audiovisuelle ist unserer Generation angeboren. Wir sind mit dem Fernsehen aufgewachsen, und um uns herum gab es immer und überall Bilder. Aufgrund unseres Bilderkonsums haben wir eine deutlich von der Technik bestimmte, visuelle Sprache wiedererschaffen, während diese Sprache für unsere Vorgängergeneration mehr von Literatur und Dialog geprägt war.« Alejandro Amenábar in einem Interview mit Carlos F. Heredero. Zit. n.: Carmen Peña Ardid (2004): Zeit und Identität. Die postrealistische Ästhetik von Alejandro Amenábar. In: Zeitsprünge. Wie Filme Geschichte(n) erzählen, hrsg. v. Christine Rüffert et al., Berlin, S. 126–140, S. 132. 113 Baudrillard 1991, S. 114. Hervorheb. im Original.

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plung, die den gesamten Film durchziehen und die sich beispielsweise im Motiv der Maske und des Spiegelbildes sowie in den doppelten Frauen- und Vaterfiguren konkretisieren, betreffen, wie der Zuschauer am Ende des Films erfährt, in oberster Instanz die doppelte Natur der Bilder selbst, die Verschmelzung der Wahrnehmungsbilder der äußeren Realität mit ihren Simulakren. Der Effekt dieser »schwindelerregenden realistischen Simulation«114 ist der Untergang des Protagonisten in der Welt der Zeichen, sein Absturz in einen von Angst und Zweifel beherrschten, labilen Zustand, in welchem er seine Wahrnehmungen zwar nicht als Traum verwerfen, diese zugleich aber auch nicht als Realität akzeptieren kann. »Le réel objectif remis en cause, l’identité du sujet est, par voie de conséquence, mise, elle aussi, en question. Les limites du réel étant instables [...]«,115 fasst Pascale Thibaudeau diesen Zustand der äußersten Labilität und Ungewissheit zusammen. Abre los ojos ist ein essentiell ambiguer und phantastischer Film – obschon der betonte ›Erklärungswille‹,116 den die Erzählung am Schluss an den Tag legt und der das virtuelle Täuschungsmanöver als solches bis ins Detail durchschaubar macht, dem zunächst zu widersprechen scheint. Die unheimlichen und rational nicht erklärbaren Ereignisse des Films – die wiederkehrenden Transformationen der beiden Frauengestalten, die Metamorphosen von Césars Gesicht ebenso wie der Auftritt Duvernois’ als geheimer, omnipotenter Drahtzieher im Hintergrund, als deus ex machina oder auch als der Teufel persönlich –, so erfährt der Zuschauer, waren letzten Endes nichts weiter als von César selbst in Auftrag gegebene, aufwändig programmierte, virtuelle Trugbilder. Nach dem Strukturprinzip der Detektiverzählung wird das Geschehen so rückwirkend aufgeschlüsselt und der unbemerkte Zeitsprung von hundertfünfzig Jahren, den die Geschichte vollzieht, als ein gleichsam nach den Regeln des continuity editing vollzogener, nahtloser Anschlussschnitt entlarvt. Akzeptiert man diese Erklärung, so präsentiert sich die erzählte Welt des Films als eine wunderbare Welt, als eine Welt, in welcher der Wunsch nach Unsterblichkeit, ewiger Jugend und der Möglichkeit einer Realisierung individueller Träume Wirklichkeit geworden ist. Die alptraumhaften Zerrbilder, mit denen César zu kämpfen hatte, präsentieren sich dabei lediglich als anfangsbedingte _____________ 114 Baudrillard 1991, S. 114. 115 Pascale Thibaudeau (2007): Réalités virtuelles et destins manipulés à travers Ouvre les yeux d’Alejandro Amenábar et Nadie conoce a nadie (Jeu de rôles) de Mateo Gili. In: Le Cinéma d’Alejandro Amenábar, hrsg. v. Nancy Berthier, Toulouse, S. 79–99, S. 83. (»Die objektive Realität bleibt anzweifelbar, die Identität des Subjekts ist als eine Folge davon ebenfalls in Frage gestellt. Die Grenzen der Realität sind instabil […].« Übers. d. Verf.) 116 Vgl. Ardid 2004, S. 131.

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Schwierigkeiten einer neuen Technologie, leicht zu behebende Bugs im Softwaredesign des virtuellen Systems. Doch ist dieser Auflösung ins Wunderbare tatsächlich so ohne Weiteres zu trauen? Haben die Ereignisse uns (und den Protagonisten) nicht zuvor bereits mehrfach hinters Licht geführt und hat uns die Erzählung nicht bereits gründlich über die Natur der Bilder getäuscht? Wie können wir (und wie kann César) wissen, ob das letzte Erwachen tatsächlich ein Erwachen in der ›wirklichen‹ Welt ist? Und wie zuverlässig sind in diesem Zusammenhang schließlich die Informationen, die wir von Duvernois erhalten – einer virtuellen, programmierten Figur, die lediglich in Césars Kopf existiert und die somit ontologisch und narrativ als eine untergeordnete Instanz auftritt? Wie sich zeigt, ist die scheinbare Auflösung des Films nicht so unproblematisch, wie zunächst angenommen: Sobald das Thema des Realitätszweifels einmal ins Spiel gebracht und die Möglichkeit einer manipulativen Kontrolle des Wissens von der Außenwelt aufgeworfen ist, gibt es keine Gewissheit mehr. Dem Held der Erzählung, schreibt so auch Simon Spiegel, »kann es zwar gelingen, seine (virtuelle) Welt zu verlassen und in die (vermeintlich) reale zu gelangen, doch sind damit nicht alle Zweifel beseitigt. Hat sich die Welt einmal als künstliche entpuppt, ist der kartesianische Zweifel einmal geweckt, lässt er sich nicht mehr so leicht besänftigen.«117 Die Ununterscheidbarkeit von Realität und virtueller Simulation in Abre los ojos hat zur Folge, dass der ontologische Status der erzählten Welt fundamental ins Wanken gerät – und auch das Erzählen selbst wird schließlich zu einem Drahtseilakt, bei welchem die narrative Autorität und die Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Erzählinstanzen gegeneinander ausgespielt werden. Der Film legt noch eine andere, rationale Lesart nahe. Mit Blick auf die zirkuläre Struktur der Erzählung, das doppelte Erwachen des Protagonisten am Beginn und am Ende, sowie das den Film leitmotivisch durchziehende Thema des Traums kann auch die gesamte Filmhandlung als Traum gedeutet werden, aus welchem der Protagonist am Schluss (und nun tatsächlich ein letztes Mal) erwacht. Doch auch diese Erklärung erscheint letztendlich unbefriedigend, insofern sie das ausgetüftelte Konglomerat aus realistischen und wunderbaren Erzählelementen, das dem Zuschauer auch mit einem klaren ›Wiedergewinn der Lust am Geschichtenerzählen‹118 präsentiert wird, in den Bereich des Irrealen verweist und das gesamte Geschehen auf eine bloße Einbildung reduziert. Interessanter, schreibt so auch die spanische Literatur- und Filmwissenschaftlerin Car_____________ 117 Spiegel 2007, S. 258. Spiegel bezieht sich hier auf Mind Game Movies (bei ihm auch als ›VR-Filme‹ bezeichnet) wie Welt am Draht, Total Recall, The 13th Floor, The Matrix, eXistenZ, Vanilla Sky u. a. 118 Vgl. Ardid 2004, S. 130.

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men Peña Ardid, ist es sicherlich, »das Filmgeschehen als wirkliches Geschehen zu akzeptieren, sein Angebot, eine psychologische Intrige, eingebettet in ein realistisches Universum, das zwischen Fantastik und Science-Fiction oszilliert, anzunehmen und seine narrative Logik anzuerkennen.«119 Aus dieser Perspektive präsentiert sich Abre los ojos als ein mehrdeutiger, im engeren Sinne phantastischer Film, der nach dem Strukturprinzip der Mind Game Movies mit einer komplexen Verschachtelung verschiedener Realitäts- und Bewusstseinsebenen spielt, wobei die einzelnen Ebenen von Wirklichkeit und Traum bzw. Simulation potentiell endlos ineinander reproduziert werden. Mit seiner mise en abyme-artigen Struktur, bei welcher jede Welt in einer noch grösseren eingeschachtelt und in dieser gespiegelt sein kann, thematisiert der Film Abre los ojos schließlich auch die Paradoxien seiner eigenen Medialität: Der Titel des Films »Öffne die Augen« ist so einerseits als Aufforderung zu verstehen, Platons Höhle, den »schwarzen Bauch des [Kino-]Saales«120 mitsamt seinen ›magischen‹ Bildern zu verlassen, und wirft andererseits die Frage auf, inwiefern es dem Individuum gegenwärtig überhaupt noch möglich ist, sich dem Zauber der medialen Bildwelten zu entziehen, in einer Welt, in der die Grenzen von Bild und Abbild, von Realität und Simulakrum längst diffus geworden sind.

_____________ 119 Ebd., S. 134. 120 Christian Metz (1994): Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung. In: Psyche 48, S. 1004–1046, S. 1021.

Schluss Der phantastische Film präsentiert sich als ein ubiquitäres Phänomen, das verschiedene filmhistorische Epochen und nationale Kinematographien durchdringt und das darüber hinaus in zahlreichen großangelegten Enzyklopädien, Filmgeschichten, wissenschaftlichen Publikationen sowie populären Zeitschriften und Fanmagazinen Beachtung gefunden hat. Zugleich handelt es sich dabei jedoch auch um einen extrem unscharfen, stark heterogen definierten Begriff, der in seiner bisherigen Form als wissenschaftliche Arbeitsgrundlage nicht tauglich war. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag dazu, den Begriff phantastischer Film zu einem operationablen Terminus für die Phantastik-Forschung zu machen und ihn in ein umfassendes Modell filmischen Erzählens zu integrieren. Gezeigt hat sich, dass ein tragfähiges Phantastik-Modell nur als narratologisches Modell mit einer Ausrichtung auf die beiden Ebenen histoire und discours konzipiert werden kann. Phantastisches Erzählen, so das Ergebnis dieser Untersuchung, basiert stets auf Strategien einer Destabilisierung und Ambiguisierung des Erzählten, die sowohl die Form der narrativen Informationsvergabe als auch die Modellierung von Figuren, Räumen und Ereignissen als den drei elementaren Kategorien der erzählten Welt betreffen. Die Erzählstruktur des Phantastischen ist somit als ein Kippspiel mit einander gegenseitig ausschließenden, rationalen und irrationalen Varianten der erzählten Geschichten zu beschreiben, wobei dieses unentschiedene Oszillieren zwischen gleichwertigen Deutungsalternativen die Ereignisse und Phänomene der erzählten Welt ebenso betrifft wie den narrativen Akt, der diese konstituiert. Der entscheidende Verdienst des aus den Theorien des Strukturalismus hervorgegangenen, narratologischen Ansatzes besteht darin, die dynamische Einheit des Textes sichtbar zu machen und, in Überwindung der überholten Form-Inhalt-Dichotomie, Erzählungen als ganzheitliche Konstrukte, als Totalität zu betrachten.1 Während sich die narratologische Perspektive insgesamt als zukunftsträchtig und ausbaufähig erwiesen hat, sind die in der Vergangenheit vielfach unternommenen Versuche, den phantastischen Film ausschließlich mit Blick auf dessen thematisches und motivisches Material zu bestimmen, dagegen regelmäßig fehlgeschlagen. Zum einen, da derartigen Ansät_____________ 1

Vgl. auch Todorov 1970, S. 100.

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zen stets eine reduktionistische Sichtweise des phantastischen Erzählens als rein semantisches Phänomen zugrunde liegt und die ebenso signifikanten Verfahren des phantastischen Diskurses, welche überhaupt erst eine Produktion von Bedeutung ermöglichen, indem sie festlegen, was wie zur erzählten Geschichte wird, gänzlich vernachlässigt werden. Zum anderen zeichnen sich die themen- und motivzentrierten Ansätze im Allgemeinen durch eine non-abstraktive, non-systematische Vorgehensweise aus und betreiben demgegenüber eine (letztendlich immer unvollständig bleibende) Aneinanderreihung einzelner Aspekte des thematischen Materials. Zur Überwindung dieser Problematik wurde im Rahmen des narrativ-strukturellen Ansatzes daher ein Konzept entwickelt, das weniger an den konkreten Themen des Phantastischen interessiert ist, sondern das demgegenüber die Aufmerksamkeit auf die allgemeinen Strukturprinzipien der Ambiguität und Instabilität lenkt, welche sowohl den Ereignissen und Phänomenen der erzählten Welt als auch den Verfahren des phantastischen Diskurses innewohnen. Schließlich hat sich auch gezeigt, dass der Versuch einer weitgefassten, medienontologischen Konzeption des phantastischen Films, der das Augenmerk auf die wirklichkeitsverfremdenden und illusionsfördernden Eigenschaften der filmischen Technik richtet, generell zum Scheitern verurteilt ist. Wie sich insbesondere auch mit Blick auf die sich durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurchziehenden, letztendlich jedoch fruchtlos gebliebenen medienontologischen Debatten um das ›Wesen‹ des Films bezeugt, ist das filmische Medium kein essentiell ›phantastisches‹ Medium, ebensowenig wie sich in der kinematographischen Technik eine besondere Affinität zum ›Realismus‹ begründen lässt. Realismus und Phantastik werden nur dann zu aussagekräftigen Begriffen, wenn man sie als narrative Verfahren bzw. narrative Modi konzipiert, die nicht mit Blick auf die außerfiktionale Wirklichkeit, sondern jeweils nur binnenfiktional und in Relation zueinander bestimmbar sind. Von diesem Standpunkt präsentiert sich die Darstellungs- und Wirkungsintention phantastischen Erzählens im Film als ein Gegenprogramm zum realistischen Erzählen in der Tradition des klassischen Hollywood-Kinos: Während der sogenannte classical narration mode darauf abzielt, Brüche in der Narration zu glätten und den Eindruck zu erwecken, als erzählen sich die jeweiligen Geschichten ›von selbst‹, zeichnet sich der phantastische Erzählmodus dadurch aus, dass er keinerlei Interesse an einer derartigen Unsichtbarmachung seiner Verfahren zeigt. Anstelle ein diegetisches Universum zu entfalten, das durch die Prinzipien der Homogenität, Kausalität und Kohärenz geprägt ist, präsentiert der phantastische Film dem Zuschauer eine heterogene und instabile erzählte Welt, die durch die Art und Weise der narrativen Informationsvergabe über unzuverlässige und destabilisierte Erzählinstanzen sowie die

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Einnahme einer eng an den subjektiven Point-of-View der handelnden Figuren gebundenen, begrenzten Perspektive stets auch die generelle Subjektivität der individuellen Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung zum Ausdruck bringt. Der phantastische Film vermittelt keine Stabilität zwischen Ich und Welt. Er fragt nach den Bedingungen für Wahrnehmung, Bewusstsein und Identität und zeigt die Durchlässigkeit scheinbar festgefügter Grenzen von Wirklichkeit und Imagination, Wachzustand und Traum, Normalität und Wahnsinn auf. Er erzeugt eine Deutungsoffenheit des Erzählten und provoziert eine Irritation und Unschlüssigkeit beim impliziten Filmzuschauer. Er führt damit nicht zuletzt den filmischen ›Realismus‹ als Verfahren vor.

Filmverzeichnis Das Filmverzeichnis ist alphabetisch nach Originaltiteln geordnet, daneben finden sich jeweils Angaben zum deutschen Verleihtitel, Produktionsland und Erscheinungsjahr sowie den Mitwirkenden nach Regie, Drehbuch, Kamera und Darstellern. Zudem wurden Details zur verwendeten Fassung und Länge angegeben. Abre los ojos (dt.: Öffne die Augen), Spanien/Frankreich/Italien 1997 Regie: Alejandro Amenábar Drehbuch: Alejandro Amenábar/Matéo Gil Kamera: Hans Burmann Darsteller: Eduardo Noriega (César), Penélope Cruz (Sofía), Najwa Nimri (Nuria), Fele Martínez (Pelayo), Chete Lera (Antonio), Gérard Barray (Duvernois) u. a. Fassung: DVD-Fassung TV Movie Edition 2005, 114 Min. Alraune, Deutschland 1928 Regie: Henrik Galeen Drehbuch: Henrik Galeen, nach dem gleichnamigen Roman von Hanns Heinz Ewers Kamera: Franz Planer Darsteller: Brigitte Helm (Alraune), Paul Wegener (Professor ten Brinken), Ivan Petrovich (Ten Brinkens Neffe, Frank Braun), Mia Pankau (Dirne), Wolfgang Zilzer (Wölfchen), Louis Ralph (Zauberkünstler) u. a. Fassung: VHS-Fassung, S/w, stumm, unvertont, 97 Min. Birds, The (dt.: Die Vögel), USA 1963 Regie: Alfred Hitchcock Drehbuch: Evan Hunter, nach der gleichnamigen Erzählung von Daphne Du Maurier Kamera: Robert Burks Darsteller: Tippi Hedren (Melanie Daniels), Rod Taylor (Mitch Brenner), Jessica Tandy (Lydia Brenner), Veronica Cartwright (Cathy Brenner), Suzanne Pleshette (Annie Hayworth), Ethel Griffies (Mrs. Bundy, Ornithologin), Charles McGraw (Sebastian Sholes, Fischer) u. a. Fassung: DVD-Fassung Universal 2001, 115 Min. Blair Witch Project, The (dt.: Blair Witch Project), USA 1999 Regie: Daniel Myrick, Eduardo Sánchez Drehbuch: Daniel Myrick, Eduardo Sánchez Kamera: Neal Fredericks Darsteller: Heather Donahue (Heather Donahue), Joshua Leonard (Joshua ›Josh‹ Leonard), Michael C. Williams (Michael ›Mike‹ Willliams), Sandra Sánchez (Kellnerin), Patricia DeCou (Mary Brown) u. a. Fassung: DVD-Fassung, Artisan Entertainment 1999, 86 Min.

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Cabinet des Dr. Caligari, Das, Deutschland 1920 Regie: Robert Wiene Drehbuch: Carl Mayer, Hans Janowitz Kamera: Willy Hameister Darsteller: Werner Krauss (Dr. Caligari), Conrad Veidt (Cesare), Friedrich Fehér (Francis), Lil Dagover (Jane), Hans Heinrich von Twardowski, (Alan), Rudolf Lettinger (Medizinalrat Dr. Olsen) Fassung: VHS-Fassung, S/w, stumm, 79 Min. CtaǘǗep (dt.: Stalker), UdSSR 1979 Regie: Andrej Tarkovskij Drehbuch: Arkadi und Boris Strugatzki, nach Motiven ihrer Novelle Piknik na obotschine (dt. Picknick am Wegesrand) Kamera: Alexander Knjashinski Darsteller: Alexander Kajdanowski (Stalker), Nikolai Grinko (Professor), Anatoli Solonizyn (Schriftsteller), Alissa Frejndlich (Stalkers Frau), Natasha Abramova (das ›Äffchen‹, Stalkers Tochter) u. a. Fassung: DVD-Fassung, Icestorm Entertainment 2003, 154 Min. Dead of Night (dt.: Traum ohne Ende), Großbritannien 1945 Regie: Alberto Cavalcanti, Charles Crichton u. a. Drehbuch: John V. Baines, Angus MacPhail; nach Erzählungen von H. G. Wells, E. F. Benson u. a. Kamera: Jack Parker, Stan Pavey, Douglas Slocombe Darsteller: Mervyn Johns (Walter Craig), Roland Culver (Eliot Foley) Mary Merrall (Mrs. Foley), Googie Withers (Joan Cortland), Frederick Valk (Dr. van Straaten), Anthony Baird (Hugh Grainger), Sally Ann Howes (Sally O’Hara) u. a. Fassung: DVD-Fassung Universal 2008, 99 Min. Et mourir de plaisir (dt.: Und vor Lust zu sterben, engl. Blood and Roses), Frankreich/Italien 1960 Regie: Roger Vadim Drehbuch: Claude Brulé, Claude Martin; frei nach der Erzählung Carmilla von Joseph Sheridan Le Fanu Kamera: Claude Renoir Darsteller: Mel Ferrer (Leopoldo von Karnstein), Annette Vadim-Stroyberg (Carmilla von Karnstein), Elsa Martinelli (Georgia Monteverdi), Rene-Jean Chauffard (Dr. Verari), Marc Allégret (Richter Monteverdi), Alberto Bonucci (Carlo Ruggieri), Serge Marquand (Guiseppe) Fassung: Englischsprachige VHS-Fassung, Paramount 1998, 74 Min. Ghost and Mrs. Muir, The (dt.: Ein Gespenst auf Freiersfüßen), USA 1947 Regie: Joseph L. Mankiewicz Drehbuch: Philip Dunne, nach dem Roman The Ghost and Mrs. Muir von R. A. Dick (Pseudonym von Josephine A. C. Leslie) Kamera: Charles Lang Darsteller: Gene Tierney (Lucy Muir), Rex Harrison (Captain Daniel Gregg), Natalie Wood (Anna Muir als Kind), Vanessa Brown (Anna Muir als Erwachsene), Edna Best (Martha), Robert Coote (Mr. Coombe) u. a. Fassung: DVD-Fassung, 20th Century Fox 2003, 104 Min.

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Harvey (dt.: Mein Freund Harvey), USA 1950 Regie: Henry Koster Drehbuch: Mary Chase, Oscar Brodney; nach einem Theaterstück von Mary Chase Kamera: William Daniels Darsteller: James Stewart (Elwood P. Dowd), Josephine Hull (Veta Louise Simmons), Victoria Horne (Myrtle Mae Simmons), Peggy Dow (Miss Kelly), Charles Drake (Dr. Sanderson), Cecil Kellaway (Dr. Chumley), Jesse White (Wilson) u. a. Fassung: DVD-Fassung Universal 2007, 102 Min. Hoffmanns Erzählungen, Deutschland 1916 Regie: Richard Oswald Drehbuch: Fritz Friedmann-Frederich, Richard Oswald; frei nach der Oper Les contes d’Hoffmann von Jacques Offenbach und Motiven aus Erzählungen E. T. A. Hoffmanns Kamera: Ernst Krohn Darsteller: Kurt Wolowsky (junger Hoffmann), Erich Kaiser-Titz (E. T. A. Hoffmann), Max Ruhbeck (Onkel), Paula Ronay (Tante), Werner Kraus (Conte Dapertutto), Friedrich Kühne (Coppelius), Lupu Pick (Spalanzani), Ernst Ludwig (Rath Crespel), Ruth Oswald (Antonia), Andreas v. Horn (Dr. Mirakel), Alice Scheel-Hechy (Olympia), Thea Sandten (Giulietta), Louis Neher (Schlemihl) u. a. Fassung: VHS-Fassung des Bundesarchiv-Filmarchiv, S/w, stumm, unvertont, 67 Min. Innocents, The (dt.: Schloss des Schreckens), USA 1961 Regie: Jack Clayton Drehbuch: John Mortimer, nach der Erzählung The Turn of the Screw von Henry James Kamera: Freddie Francis Darsteller: Deborah Kerr (Miss Giddens), Michael Redgrave (Onkel), Martin Stephens (Miles), Pamela Franklin (Flora), Megs Jenkins (Mrs. Grose), Peter Wyngard (Peter Quint), Clytie Jessop (Miss Jessel) u. a. Fassung: DVD-Fassung des British Film Institute (BFI) 2006, 96 Min. Laberinto del fauno, El (dt.: Pans Labyrinth), Mexiko/Spanien/USA 2006 Regie: Guillermo del Toro Drehbuch: Guillermo del Toro Kamera: Guillermo Navarro Darsteller: Ivana Baquero (Ofelia), Ariadna Gil (Carmen Vidal), Sergi López (Capitán Vidal), Maribel Verdú (Mercedes), Doug Jones (Fauno/ Pan), Álex Angulo (Doctor Ferreiro), Roger Casamajor (Pedro) u. a. Fassung: DVD-Fassung Senator Film 2007, 115 Min. Locataire, Le (dt.: Der Mieter), Frankreich 1976 Regie: Roman Polanski Drehbuch: Gérard Brach, Roman Polanski, nach dem Roman Le locataire chimérique von Roland Topor Kamera: Sven Nykvist Darsteller: Roman Polanski (Trelkovsky), Isabelle Adjani (Stella), Melvyn Douglas (Monsieur Zy), Jo Van Fleet (Madame Dioz), Bernard Fresson (Scope), Lila Kedrova (Madame Gaderian), Claude Dauphin (Mann beim Unfall), Claude Piéplu (Nachbar), Rufus (Georges Badar), Shelley Winters (Concierge) u. a. Fassung: DVD-Fassung, Paramount 2004, 120 Min. Lost Highway, USA/Frankreich 1997 Regie: David Lynch Drehbuch: David Lynch, Barry Gifford

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Filmverzeichnis Kamera: Peter Deming Darsteller: Bill Pullman (Fred Madison), Patricia Arquette (Renée Madison/Alice Wakefield), Balthazar Getty (Pete Raymond Dayton), Robert Blake (Mystery Man), Robert Loggia (Mr. Eddy/Dick Laurent) u. a. Fassung: DVD-Fassung SZ-Cinemathek 2005, 135 Min.

Martin, USA 1977 Regie: George A. Romero Drehbuch: George A. Romero Kamera: Michael Gornick Darsteller: John Amplas (Martin Madahas), Lincoln Maazel (Tada Cuda), Christine Forrest (Christina), Elyane Nadeau (Mrs. Santini), Tom Savini (Arthur) u. a. Fassung: DVD-Fassung Capelight Pictures 2005, 91 Min. Nuit fantastique, La (engl.: Fantastic Night), Frankreich 1942 Regie: Marcel L’Herbier Drehbuch: Marcel L’Herbier, Louis Chavance, Maurice Henry Kamera: Pierre Montazel Darsteller: Fernand Gravey (Denis), Micheline Presle (Irène), Saturnin Fabre (Professor Thalès), Charles Granval (Adalbert), Bernard Blier (Lucien), Marcel Lévesque (Tellier), Christiane Nère (Nina), Jean Parédès (Cadet), Michel Vitold (Boris) u. a. Fassung: VHS-Fassung, Vanguard Cinema 2000, S/w, 91 Min. Orlacs Hände, Österreich 1924 Regie: Robert Wiene Drehbuch: Ludwig Nerz, nach der Novelle Les Mains d’Orlac von Maurice Renard Kamera: Günther Krampf, Hans Androschin Darsteller: Conrad Veidt (Paul Orlac), Alexandra Sorina (Yvonne Orlac), Carmen Cartellieri (Dientstmädchen Regine), Fritz Strassny (Vater), Paul Askonas (Diener), Fritz Kortner (Nera) u. a. Fassung: VHS-Fassung, restauriert von ARTE, Musik: Henning Lohner, 2000 (TVErstausstrahlung: 11.01.2001), S/w, stumm, c. a. 100 Min. Picnic at Hanging Rock (dt.: Picknick am Valentinstag), Australien 1975 Regie: Peter Weir Drehbuch: Cliff Green, nach dem Roman von Joan Lindsay Kamera: Russell Boyd, John Seale Darsteller: Anne-Louise Lambert (Miranda), Margaret Nelson (Sara), Karen Robson (Irma), Jane Vallis (Marion), Christine Schuler (Edith), Rachel Roberts (Mrs. Appleyard), Vivean Gray (Greta McCraw), Helen Morse (Mademoiselle De Poitiers), Dominic Guard (Michael Fitzhubert), Albert alias ›Bertie‹ (John Jarratt), Tony Llewellyn-Jones (Tom) u. a. Fassung: DVD-Fassung Arthaus 2005 (Director’s Cut), 103 Min. Student von Prag, Der, Deutschland 1913 Regie: Stellan Rye Drehbuch: Hanns Heinz Ewers Kamera: Guido Seeber Darsteller: Paul Wegener (Balduin, der ›Andere‹), John Gottowt (Scapinelli), Lyda Salmonova (Lyduschka), Grete Berger (Comtesse Margit), Lothar Körner (Graf Schwarzenberg), Fritz Weidemann (Baron) u. a. Fassung: VHS-Fassung, restauriert und vertont vom ZDF (TV-Erstausstrahlung: 06.07. 1975), S/w, stumm, 85 Min.

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Tierra, Spanien 1996 Regie: Julio Medem Drehbuch: Julio Medem Kamera: Javier Aguirresarobe Darsteller: Carmelo Gómez (Ángel Bengoelxeo), Emma Suárez (Ángela), Karra Elejalde (Patricio), Silke/Hornillos Klein (Mari), Nancho Novo (Alberto), Txema Blasco (Tomás), Ane Sánchez (Ángelas Tochter) u. a. Fassung: DVD-Fassung flax film GmbH 2006, 118 Min. Unheimliche Geschichten, Deutschland 1919 Regie: Richard Oswald Drehbuch: Robert Liebmann/Richard Oswald, nach den Erzählungen Die Erscheinung von Anselma Heine, Die Hand von Robert Liebmann, The Black Cat von Edgar Allan Poe, The Suicide Club von Robert Louis Stevenson und Der Spuk von Richard Oswald Kamera: Karl Hoffmann Darsteller: Conrad Veidt (Tod, Fremder u. a.), Reinhold Schünzel (Teufel, Mann u. a.), Anita Berber (Dirne, geschiedene Ehefrau u. a.) Fassung: VHS-Fassung des Deutschen Filminstitut (DIF), S/w, stumm, 99 Min. Vampyr. Der Traum des Allan Gray, Frankreich/Deutschland 1932 Regie: Carl Theodor Dreyer Drehbuch: Christen Jul, Carl Theodor Dreyer; frei nach den Erzählungen Carmilla und The Room in Le Dargon Volant aus der Erzählsammlung In a Glass Darkly von Joseph Sheridan Le Fanu Kamera: Rudolph Maté Darsteller: Julian West (Allan Gray), Maurice Schutz (Schlossherr), Rena Mandel (Gisèle), Sybille Schmitz (Léone), Jan Hieronimko (Dorfarzt), Henriette Gérard (alte Frau vom Friedhof); Albert Bras (alter Diener) u. a Fassung: DVD-Fassung Eureka 2008, S/w, 72 Min.

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