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German Pages 391 Year 2006
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Band 44
Der nationale Strafrechtsanwender unter dem Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts Eine Systematisierung der Einflüsse des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts und der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im deutschen materiellen Strafrecht
Von
Andreas Jens
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ANDREAS JENS
Der nationale Strafrechtsanwender unter dem Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter
Band 44
Der nationale Strafrechtsanwender unter dem Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts Eine Systematisierung der Einflüsse des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts und der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im deutschen materiellen Strafrecht
Von
Andreas Jens
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0945-2435 ISBN 3-428-12154-6 978-3-428-12154-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2004 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hamburg in leicht veränderter Form als Dissertation angenommen. Schrifttum und Rechtsprechung konnten bis Oktober 2004 Berücksichtigung finden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Rainer Keller für die mir bei der Themenauswahl und -bearbeitung eingeräumte akademische Freiheit sowie seine motivierende Unterstützung zur rechten Zeit. Dieser Rahmen sowie seine weiterführenden Hinweise bildeten die wesentliche Grundlage für das Gelingen der Arbeit. Herrn Prof. Dr. Michael Köhler danke ich sehr herzlich für die zügige Erstellung des Zweitvotums. Darüber hinaus möchte ich der Vielzahl von Menschen danken, die mich während meiner Promotionszeit begleitet und jeder auf seine Art unterstützt und motiviert haben. Hervorzuheben sind dabei meine Eltern und Gitta, die mir auf meinem privaten und beruflichen Weg stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden, den Rücken freigehalten und mich in meinen Entscheidungen stets bedingungslos unterstützt und bestärkt haben. Hamburg, im April 2006
Andreas Jens
Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Teil Der Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Kriminalstrafrecht
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A. Autonomie der Rechtsordnung und unmittelbare Anwendbarkeit . . . . . . I. Entstehung und Inhalt des Prinzips der unmittelbaren Anwendbarkeit. . . II. Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 30 30
B. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel . . I. Die Kollisionsregel: Ursprung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Position des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Position des BVerfG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geltungs- oder Anwendungsvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen
33 33 33 35 36 37 38
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit dem nationalen Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rein nationales Kriminalstrafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kollisionen zwischen Strafrecht und Primärrecht am Beispiel der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kollisionen zwischen Strafrecht und dem sekundären Gemeinschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis: Kollisionsebenen mit rein nationalem Strafrecht – Gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Deutsches Kriminalstrafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . 1. Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorgaben des Sekundärrechts für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kollisionslagen im Bereich des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sonderfall: Primär- und sekundärrechtliche Verweisungen auf nationale Straftatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung: Kollisionsebenen mit dem deutschen Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 42 42 158 168 169 171 207 213 227 234
10
Inhaltsübersicht
D. Ergebnis: Anwendungsvorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Kriminalstrafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Teil Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Kriminalstrafrechts A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ursprung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . 1. Berücksichtigung im Rahmen nationaler Auslegungsmethoden . . . . . . 2. Gemeinschaftsrechtliche Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zum Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . III. Besonderheiten der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geltung des Prinzips im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grenzen im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis: Uneingeschränkte Geltung des Prinzips im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Anwendung deutscher Strafnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung deutscher Primärnormen . . . . . 1. Einbeziehung gemeinschaftlicher Rechtsgüter und Interessen durch Auslegung im Lichte des Art. 10 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffliche Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonderfall: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung generalklauselartiger Tatbestandsmerkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung von strafblankettausfüllenden Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Rahmen der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rein nationales Strafrecht – Obergrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nationales Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung sonstiger Vorschriften des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Versuchsstrafbarkeit im Lichte des Art. 10 EG interpretiert . . . . . . . . . 2. Strafbarkeit juristischer Personen infolge einer Interpretation im Lichte des Art. 10 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Rahmen des Intertemporalen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verbotsirrtümer i. S. d. § 17 StGB im gemeinschaftsrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238 239 239 240 250 278 279 279 281 289 290 291 291 306 313 325 335 336 338 340 341 342 343 348
C. Ergebnis: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Kriminalstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Inhaltsübersicht
11
3. Teil Kritische Würdigung der gefundenen Ergebnisse und Schlussbetrachtung
354
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Verzeichnis der zitierten Entscheidungen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Teil Der Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Kriminalstrafrecht
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A. Autonomie der Rechtsordnung und unmittelbare Anwendbarkeit . . . . . . I. Entstehung und Inhalt des Prinzips der unmittelbaren Anwendbarkeit. . . II. Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel . . I. Die Kollisionsregel: Ursprung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Position des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Position des BVerfG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geltungs- oder Anwendungsvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen
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C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit dem nationalen Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 I. Rein nationales Kriminalstrafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Kollisionen zwischen Strafrecht und Primärrecht am Beispiel der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Die Entwicklung einer eigenen Dogmatik der Grundfreiheiten vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . 43 aa) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 (1) Räumlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 (2) Personeller Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 (3) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 bb) Beeinträchtigung des Schutzbereichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 (1) Herkömmliches Verständnis der Grundfreiheiten: Entwicklung vom Diskriminierungs- zum Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 (2) Konsequenzen der freiheitsrechtlichen Interpretation und Lösungsansätze in der Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 (3) Eigener Ansatz: Rückführung auf ein Diskriminierungsverbot anhand der gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsmethoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
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Inhaltsverzeichnis (a) Grammatikalische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Systematisch-teleologische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . (aa) Grundfreiheitlicher Zweck der Marktöffnung . . . (bb) Systematische Begrenzung aus der Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Systematische Begrenzung aus der Kompetenzausübungsregel der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . (dd) Systematische Begrenzung aus Art. 5 III EG . . . (d) Zwischenergebnis: Geltung als Gleichheitsrechte . . . . (4) Inhalt des grundfreiheitlichen Gleichheitsrechts: Ermittlung einer Diskriminierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Adressat des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Bildung eines Vergleichspaares und Feststellung einer Ungleichbehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Verbotene Differenzierungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Kausale Verknüpfung zwischen Ungleichbehandlung und Differenzierungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Ergebnis: Die Grundfreiheiten als Begründungsverbote . . cc) Rechtfertigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Gemeinschaftsgrundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Das Verbot willkürlicher Diskriminierungen, Art. 30 S. 2 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung der eigenen grundfreiheitlichen Dogmatik b) Strafrechtliche Beispiele aus der EuGH-Rechtsprechung vor der entwickelten Kollisionssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kollisionen des primären Gemeinschaftsrechts mit der tatbestandlichen Verhaltensnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kollisionserhebliche Fragen zur Definition des potentiell kollidierenden nationalen Tatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die sog. Akzessorietät des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . (b) Das Schicksal von Sanktionsnormen im Falle der Unanwendbarkeit der zugrunde liegenden Primärnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Unanwendbarkeit durch Einordnung als Rechtfertigungsgrund im Strafrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Zusammenfassung kriminalstrafrechtlicher Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Warenverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 58 58 58 60 62 64 65 66 66 67 67 68 70 70 70 73 73 74 77 78 78 79 79 79
80 82 84 85 85 89
Inhaltsverzeichnis (c) Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Arbeitnehmerfreizügigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Kapitalverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Exkurs: Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Zusammenfassung der Beispielsanalyse . . . . . . . . . . . . bb) Kollisionen des primären Gemeinschaftsrechts mit der Sanktionsseite der nationalen Strafnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Rechtsprechung des EuGH zu den Sanktionen . . . . . . (2) Die Gleichheitsrechte des Gemeinschaftsrechts als Maßstab mitgliedstaatlicher Sanktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ursprung und Inhalt der gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten . . . (bb) Das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG. . . . (a) Anwendungsbereich des Vertrages . . . . . . . . . (b) Persönlicher Anwendungsbereich und Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Der Diskriminierungsbegriff des Art. 12 EG (d) Absolutes oder relatives Diskriminierungsverbot – die Möglichkeit der Rechtfertigung (cc) Der allgemeine Gleichheitssatz des EuGH . . . . . (b) Das Verhältnis der Gleichheitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Gleichheitsrechtlicher Maßstab der Sanktionen . . . . . . (aa) Satzger: Allgemeiner Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Heise: Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG. . (cc) Eigener Ansatz: Die gleichheitsrechtlichen Grundfreiheitsgehalte als vorrangiger Maßstab der Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Maßstab der Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Satzger: Reduzierte Maßstäblichkeit durch reduzierte Grundfreiheitsrelevanz der mitgliedstaatlichen Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Heise: Verhältnismäßigkeit kein Maßstab, da mitgliedstaatliche Sanktionen nicht grundfreiheitsrelevant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Eigener Ansatz: Grundfreiheitsrelevanz der Sanktionen und daher Maßstäblichkeit der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch die deutschen Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Eingriff durch die Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Eingriff durch die Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 91 94 96 97 99 99 101 108 108 108 109 109 111 112 113 117 117 120 120 130
132 133
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141 145 146 152
16
Inhaltsverzeichnis (c) Eingriff durch die Ausweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Eingriff durch Nebenstrafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Ergebnis: Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kollisionen zwischen Strafrecht und dem sekundären Gemeinschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kollisionen der mitgliedstaatlichen Primärnorm mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unmittelbar anwendbare Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kollisionen der Sanktionsseite mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis: Kollisionsebenen mit rein nationalem Strafrecht – Gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Deutsches Kriminalstrafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . 1. Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gemeinschaftsrechtliche Mindesterfordernisse mitgliedstaatlicher Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die mitgliedstaatliche Sanktionierungsbefugnis als Voraussetzung der Entwicklung von Mindesterfordernissen (2) Das Postulat gemeinschaftsrechtlicher Mindesterfordernisse sowie der Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ursprung und Inhalt der gerichtlich entwickelten Mindesterfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Vorbehalt gemeinschaftsrechtlicher Sanktionen oder die Existenz eines Verweises auf das nationale Recht. . . . (2) Die Mindesterfordernisse: wirksam, verhältnismäßig und abschreckend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gleichbehandlungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Berechtigung der gerichtlich entwickelten Mindesterfordernisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Keine Kompetenzanmaßung der Gemeinschaft im strafrechtlichen Bereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Das Verhältnis der Mindesterfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Ergebnis: Die gemeinschaftsrechtlichen Mindesterfordernisse des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen mitgliedstaatlicher Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153 156 156 158 161 161 162 167 168 169 171 171 172 172 174 176 177 179 184 186 187 188 193 196 198 200
Inhaltsverzeichnis
2.
3.
4.
5.
bb) Gleichstellungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wettbewerbsverfälschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung des primärrechtlichen Maßstabs für Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgaben des Sekundärrechts für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kompetenz zu sekundärrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Primärnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kompetenz zu sekundärrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Sanktionsseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorgaben in Verordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorgaben in Harmonisierungsrichtlinien – die sog. strafrechtlichen Anweisungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollisionslagen im Bereich des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kollisionen mit der Primärnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Idealfall: Gemeinschaftsrechtliche Verhaltensnorm wird bewehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erweiterung der Strafbarkeit: Verdeckt wird eine zusätzliche nationale Primärnorm bewehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verkürzte Strafbarkeit: Widerspruch zu den gemeinschaftsrechtlichen Mindesterfordernissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung der Kollisionskonstellationen mit der Primärnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kollisionen mit der Sanktionsseite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Keine Kollisionen mit den Mindesterfordernissen aus Art. 10 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kollisionen mit den Obergrenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderfall: Primär- und sekundärrechtliche Verweisungen auf nationale Straftatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Primärrechtliche Verweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sekundärrechtliche Verweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einordnung der Verweisungen in das System für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Kollisionsebenen mit dem deutschen Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 203 204 205 207 207 208 208 209 213 214 214 214 216 223 224 224 225 227 227 231 233 234
D. Ergebnis: Anwendungsvorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
18
Inhaltsverzeichnis 2. Teil Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Kriminalstrafrechts
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ursprung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . 1. Berücksichtigung im Rahmen nationaler Auslegungsmethoden . . . . . . a) Grammatikalische Interpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Teleologische Interpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis des nationalen Methodenkanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinschaftsrechtliche Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt und Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht . . . . . . b) Gemeinschaftsrechtliche Grenzen der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die mitgliedstaatliche Kompetenzordnung als gemeinschaftsrechtliche Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts als gemeinschaftsrechtliche Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonderfall: Gemeinschaftsrechtskonforme Analogie . . . . . . . . . dd) Ergebnis der gemeinschaftsrechtlichen Grenzen: Praktische Konkordanz primärrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis zwischen nationalen Auslegungsmethoden und dem gemeinschaftsrechtlichen Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Differenzierung zwischen Pflicht und Befugnis zu gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht . . . . . . . . . II. Verhältnis zum Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . III. Besonderheiten der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geltung des Prinzips im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grenzen im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis: Uneingeschränkte Geltung des Prinzips im Kriminalstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Anwendung deutscher Strafnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung deutscher Primärnormen . . . . . 1. Einbeziehung gemeinschaftlicher Rechtsgüter und Interessen durch Auslegung im Lichte des Art. 10 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, § 113 StGB . . . . . . . . . . . b) Amtsanmaßung, § 132 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238 239 239 240 241 241 246 249 250 250 251 255 258 263 266 267 269 273 277 278 279 279 281 289 290 291 291 295 296
Inhaltsverzeichnis c) Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen, § 132 a StGB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verwahrungsbruch, § 133 I 1. Alt. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Siegelbruch, § 136 II StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Aussagedelikte, §§ 153 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Geheimnisschutz – Interpretation im Lichte des Art. 194 I UA 2 EAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Urkundsdelikte, §§ 267 ff., 348 StGB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffliche Akzessorietät. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonderfall: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung generalklauselartiger Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fahrlässigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der Sorgfaltspflichten im Lichte der Grundfreiheiten am Beispiel des Lebensmittelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Relevanz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Hinblick auf sorgfaltspflichtkonkretisierende Sondernormen . . (1) Die Wirkungsweise deutscher Sondernormen . . . . . . . . . . . (2) Die Existenz und Bedeutung gemeinschaftsrechtlicher Sondernormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Normative Wirkung unmittelbar anwendbarer gemeinschaftsrechtlicher Sondernormen . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Bedeutung nicht unmittelbar anwendbarer Richtlinienbestimmungen für ungeschriebene Sorgfaltspflichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Richtlinienkonforme Auslegung umsetzender nationaler Sondernormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Grenzen gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung im Hinblick auf Fahrlässigkeitsdelikte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung von strafblankettausfüllenden Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht als Ausfüllungsnorm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationales Recht als Ausfüllungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Lebensmittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Lebensmittelrechtliches Irreführungsverbot und das europäische Verbraucherleitbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Lebensmittelrecht, freier Warenverkehr und europäisches Verbraucherleitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Jugendarbeitsschutzvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kinderarbeitsverbot gem. §§ 58 V, VI i. V. m. § 58 I Nr. 1 JArbSchG und Betriebspraktika. . . . . . . . . . . .
19
298 298 299 299 302 303 306 313 313
314 317 317 318 318
319 321 323 324 325 325 327 327 327 329 332 332
20
Inhaltsverzeichnis (2) Kinderarbeitsverbot gem. §§ 58 V, VI i. V. m. § 58 I Nr. 1 JArbSchG und Familienbetriebe . . . . . . . . . . . II. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Rahmen der Strafzumessung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rein nationales Strafrecht – Obergrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nationales Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen für die Strafzumessung beim Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinschaftsrechtliche Mindestanforderungen für die Strafzumessung beim Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft . . . . . . . . III. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung sonstiger Vorschriften des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Versuchsstrafbarkeit im Lichte des Art. 10 EG interpretiert . . . . . . . . . 2. Strafbarkeit juristischer Personen infolge einer Interpretation im Lichte des Art. 10 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Rahmen des Intertemporalen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verbotsirrtümer i. S. d. § 17 StGB im gemeinschaftsrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333 335 336 338 338 339 340 341 342 343 348
C. Ergebnis: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Kriminalstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
3. Teil Kritische Würdigung der gefundenen Ergebnisse und Schlussbetrachtung
354
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Verzeichnis der zitierten Entscheidungen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Einführung Das Strafrecht umfasst die Grundnormen der gesetzlichen Selbstbestimmung eines im Staat organisierten Volkes1 und stellt sich aufgrund seiner Eingriffsintensität und der stigmatisierenden Wirkung als Bastion und unmittelbarer Reflex nationaler Souveränität dar. Es fußt auf historischen, sozio-kulturellen, traditionellen und religiösen Eigenheiten und ist daher Ausdruck nationaler Identität2. Solche und ähnliche Stellungnahmen beleuchten eine besondere Stellung des Strafrechts in den nationalen Rechtsordnungen. Leider diente diese Betrachtung in der Vergangenheit häufig als Rechtfertigung dafür, dass nationale Strafrechtler nur zögernd begannen, sich mit den Einflüssen auseinander zu setzen, die das Recht der Europäischen Gemeinschaften3 auf das nationale Strafrecht ausübt. Die in den Anfangsjahren in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften bestehende Unkenntnis4 oder sogar Ablehnung gegenüber supranationalen5 Einflüssen weicht zunehmend dem Be1
Köhler, Mangakis-FS, 751. Vgl. Bruns, S. 89; Ebel/Kunig, Jura 1998, 621; Gärditz, wistra 1999, 293, 294; Klip, NStZ 2000, 626, 629; Johannes, RTDE 1971, 315, 323; Pagliaro, in: Bausteine, 379, 382 f.; Sieber, in: Delmas-Marty, Corpus Juris, 1, 2; Tiedemann, GA 1969, 321, 330; Oppermann, Rn. 698; Wattenberg, StV 2000, 95, 102 f. 3 Der Begriff der „Europäischen Gemeinschaften“ meint die aus den Gründungsverträgen hervorgegangenen drei Gemeinschaften, nämlich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, heute als Europäische Gemeinschaft (EG) bezeichnet, die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) sowie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Der Fokus der nachfolgenden Untersuchung liegt auf dem Recht der EG, die nachfolgend in Abgrenzung zu den übrigen Gemeinschaften als „Europäische Gemeinschaft“, ihr Recht als „Gemeinschaftsrecht“ bezeichnet werden wird. Das Recht der Europäischen Union (EU), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie anderer völkerrechtlicher Verträge genießt nicht die Qualität der sog. Supranationalität und bleibt an dieser Stelle unberücksichtigt, es sei denn, es zeitigt Auswirkungen im Gemeinschaftsrecht und ist insoweit von Bedeutung. 4 Beachtlich ist die Feststellung von Cuerda Riezu, in: Bausteine, S. 367: „Als Spanien im Jahre 1985 den Europäischen Gemeinschaften beitrat, gingen wir Strafrechtslehrer zunächst davon aus, das Gemeinschaftsrecht werde das Strafrecht in keiner Weise beeinflussen und die Auseinandersetzung obliege den Handels-, Zivil-, Verwaltungs- oder Finanzrechtswissenschaften.“; vgl. auch Tiedemann, NJW 1993, 23: „Das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht war über mehrere Jahrzehnte von gegenseitigem Desinteresse gekennzeichnet.“; Zieschang, ZStW 113 (2001), 255 „marginale Bedeutung“. 2
22
Einführung
wusstsein existierender gemeinschaftsrechtlicher Einwirkungen auf das nationale Strafrecht. So wird konstatiert: „Das Strafrecht stellt keinen Hort der nationalen Souveränität dar, welcher ein von den Einwirkungen des Europarechts abgeschottetes Dasein führt.“6
Trotz dieser Erkenntnis begegnen nationale Strafrechtsanwender dem Europäischen Gemeinschaftsrecht weiterhin mit zurückhaltender Skepsis, weil weder Inhalt und Reichweite der supranationalen Vorgaben im Strafrecht noch die den Rechtsanwendern zur Verfügung stehenden Umsetzungsinstrumente des Anwendungsvorrangs und der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung diesbezüglich hinreichend kommuniziert sind. Infolge jener Unsicherheit zieht man sich in dem sensiblen Bereich des Strafrechts regelmäßig auf den Ausgangspunkt nationaler Souveränität und die besonderen Gewährleistungen der nationalen Strafrechtsordnung zurück. Eine breite wissenschaftliche, geschweige denn öffentliche, vor allem auch transnationale7 Auseinandersetzung wird dadurch im Keim erstickt. „Von gelungener rechtlicher Integration kann (aber) erst dann gesprochen werden, wenn nationale Juristen Rechtsnormen des Gemeinschaftsrechts ebenso selbstverständlich und sicher anwenden wie die Vorschriften der überkommenen nationalen Rechtsordnung.“8
Jenem Defizit widmet sich die nachfolgende Untersuchung und versteht sich als Plädoyer für eine vorbehaltlose Auseinandersetzung mit den von den nationalen Strafrechtsanwendern zu beachtenden Einflüssen des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Strafrecht meint in diesem Kontext das deutsche materielle9 Kriminalstrafrecht, das nach deutschem Verständnis10 vom Recht der Ordnungswid5 Für den Begriff der Supranationalität existiert keine anerkannte juristische Definition. Im gemeinschaftsrechtlichen Kontext wird er verwendet, um die Merkmale zusammenzufassen, die in ihrer Intensität und Kumulation die Besonderheit der Gemeinschaft gegenüber „herkömmlichen“ internationalen Organisationen ausmachen, vgl. Streinz, Rn. 115 ff. 6 Vgl. Jung, StV 1990, 509; Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 30 f.: „An analysis of the case law of the Court of Justice of the EC [. . .] shows that the sovereignty involved – at least if taken in an absolute sense – has become an illusion.“. 7 Vgl. Baker, Crim.L.R. 1998, 361, 380 der konstatiert, im Strafrecht existiere eine „prevailing air of apathy to Community law“. 8 Nettesheim, AöR 119 (1994), 261. 9 Das mitgliedstaatliche Strafprozessrecht erfährt an dieser Stelle keine Berücksichtigung, vgl. dazu umfassend insbesondere Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, Berlin 2000; Johannes, ZStW 83 (1971), 531, 546 ff.; Nelles, ZStW 109 (1997), 727 ff.; Schomburg, NJW 1999, 540 ff.; Sieber, ZRP 2000, 186, 189 ff. 10 Die Definition dient an dieser Stelle lediglich einer Begrenzung des zu untersuchenden deutschen Rechtsbereichs, was es rechtfertigt, eine deutsche und keine gemeinschaftsrechtliche Begriffsbestimmung zugrunde zu legen. Sie verkennt nicht,
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rigkeiten abzugrenzen ist, die mit einer Geldbuße bedroht sind11. Demnach ergibt sich folgender formal zu bestimmender Untersuchungsgegenstand: Kriminalstrafrecht umfasst diejenigen Rechtsnormen, die als Sanktion eine Strafe, also eine als solche bezeichnete Geld- oder Freiheitsstrafe vorsehen12. An einigen Stellen wird über diese Begrenzung hinaus aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung auch auf die sog. Maßregeln der Besserung und Sicherung, Nebenstrafen sowie das nach deutschem Verständnis verwaltungsrechtliche Instrument der Ausweisung einzugehen sein. Ziel der Analyse ist es, der supranationalen Einflussnahme im nationalen Kriminalstrafrecht eine gesteigerte Transparenz und damit zusätzliche Akzeptanz zu verleihen. Dazu sollen die wesentlichen, von den nationalen Strafrechtsanwendern zu beachtenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) entwickelt, systematisiert und auf ihre Berechtigung untersucht werden. Konzentriert sich die Analyse somit auf die von den Rechtsanwendern zu beachtenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, so wird es darauf ankommen, auch deren Umsetzung mittels der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsanwendungsprinzipien des Anwendungsvorrangs und der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht zu illustrieren und diesen Instrumenten eine Kontur zu verleihen. Ausgangspunkt der Untersuchung bildet dabei stets das Europäische Gemeinschaftsrecht – zunächst ungeachtet nationaler strafrechtlicher Vorbehalte. Erst im Anschluss sind die Konsequenzen jener gemeinschaftsrechtlichen Betrachtung im nationalen Strafrecht aufzuzeigen und kritisch zu überprüfen. Diese vorbehaltlose Auseinandersetzung mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht verhindert vorschnell postulierte Sonderbehandlungen des Strafrechts, die möglicherweise weder erforderlich noch gemeinschaftsrechtlich haltbar sind. Die für den Anwender des deutschen materiellen Kriminalstrafrechts erheblichen Einflüsse des Europäischen Gemeinschaftsrechts lassen sich einleitend grob nach der Intensität systematisieren. Zum einen könnte sog. Gemeinschaftsstrafrecht existieren, d.h. supranationale Kriminalstrafnormen, die unmittelbar und unabhängig vom Tätigwerden nationaler Gesetzgebungsinstanzen in den Mitgliedstaaten zur Anwendung gelangten. Strafrechtliche Verurteilungen ließen sich allein auf diese supranationalen Strafdass eine solche nationale Definition keine Auswirkung auf das gemeinschaftsrechtliche Begriffsverständnis haben kann, und dass die Einordnungen in anderen Mitgliedstaaten differieren. 11 Vgl. § 1 OWiG; § 35 Abs. 2 OWiG sieht zudem vor, dass i. d. R. Verwaltungsbehörden solche verhängen, während Strafen nur vom Richter verhängt werden. 12 Roxin, AT I, S. 1 ff.
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normen stützen und entgegenstehendes nationales Recht wäre unanwendbar. Der Fokus der nachfolgenden Untersuchung soll indes auf dem subtileren Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch Europäisierung des deutschen Kriminalstrafrechts liegen. Dennoch ist einleitend kurz die Existenz supranationaler Kriminalstrafnormen zu erörtern, denen schließlich von den nationalen Rechtsanwendern mittels der unmittelbaren Anwendbarkeit, dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts sowie der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zur Wirksamkeit verholfen werden müsste. Supranationales Kriminalstrafrecht könnte zum einen bereits in den Gründungsverträgen existieren, zum anderen ist die Frage zu prüfen, ob die Gemeinschaftsorgane befugt sind, derartiges gemeinschaftsrechtliches Kriminalstrafrecht mittels einer Verordnung13 zu schaffen14. Evident ist, dass die Beantwortung der Frage nach der Existenz supranationalen Strafrechts sich nicht von der nationalen Begrifflichkeit der „Strafe“ leiten lassen darf. Schließlich handelt es sich um gemeinschaftsrechtliche Begrifflichkeiten, die gemeinschaftsrechtlich zu interpretieren sind15, so dass auch die gemeinschaftlichen Sanktionen nicht aufgrund ihrer Begrifflichkeiten einzuordnen sind. Insoweit ist dann eine materielle Betrachtungsweise anzulegen und zu prüfen, ob die supranationalen Sanktionen dem deutschen Kriminalstrafrecht vergleichbar sind. Entscheidend ist dabei zunächst der repressive und nicht bloß restitutive oder präventive Charakter16. Letztere Funktionen können den repressiven Charakter der Strafe bloß ergänzen. Zusätzlich bedarf es aber zur Einordnung als dem deutschen Kriminalstrafrecht vergleichbar eines Mindestmaßes an sozialethischer Missbilligung, einer „symbolisch missbilligenden Zurückweisung“17. Eine Untersuchung der in den Gründungsverträgen vorgesehenen 13
Richtlinien sind untaugliches Mittel zur Schaffung supranationaler Straftatbestände, da sie nur ausnahmsweise unmittelbare Wirkung entfalten. Diese Wirkung kommt ihnen aber jedenfalls dann nicht zu, wenn sie den Rechtsunterworfenen belasten. Dies ist bei der Strafrechtsetzung regelmäßig der Fall, vgl. EuGH, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 „Pretore di Salò“. Zur Ausnahme der geringeren Belastung noch unten 1. Teil C. I. 2. a) bb). 14 Von dieser Strafrechtssetzungskompetenz ist die Frage zu trennen, inwieweit der Gemeinschaftsgesetzgeber befugt ist, dem nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung des nationalen Strafrechts Vorgaben zu machen. Zu dieser sog. Anweisungskompetenz mittels Richtlinie bzw. richtlinienartigen Verordnungen noch unten 1. Teil C. II. 2. 15 Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 63 ff. 16 Repressiven Charakter weist aber auch das Strafrecht im weiteren Sinne auf. Neben dem Kriminalstrafrecht gehören in Deutschland das OWiG, prozessrechtliche Ordnungsmittel (z. B. §§ 51, 70 Abs. 1, 77 StPO) und Disziplinarmaßnahmen im öffentlichen Dienstrecht (z. B. §§ 18, 54 WDO) zum Strafrecht i. w. S., vgl. umfassend auch zur Rechtslage in anderen Mitgliedstaaten Böse, S. 37 ff. Gegenstand dieser Untersuchung ist allein das Kriminalstrafrecht.
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Sanktionen anhand dieser Kriterien ergibt, dass den meisten existierenden Sanktionen des primären Gemeinschaftsrechts bereits der repressive Charakter fehlt, jedenfalls durch sie aber kein sozialethischer Tadel zum Ausdruck gebracht wird, so dass sie nicht dem hier untersuchten Kriminalstrafrecht zuzuordnen sind18. Es bleibt zu eruieren, ob den Gemeinschaftsorganen die Kompetenz zusteht, mittels Verordnung Gemeinschaftsstrafrecht zu schaffen. Der bloße Hinweis, die Mitgliedstaaten hätten diese Kompetenz nicht übertragen wollen19, kann hier bereits aufgrund der dargestellten terminologischen Probleme kaum weiter führen20. Zudem werden der Gemeinschaft derartige Rechtsbereiche nicht insgesamt übertragen. Es findet vielmehr eine punktuelle Übertragung von Hoheitsgewalt statt, bei der die einzelnen Ermächtigungsgrundlagen auf ihre Reichweite zu überprüfen sind21. Die kriminalstrafrechtliche Rechtsetzungskompetenz bildet insoweit keine Ausnahme. Untersucht man die einzelnen Kompetenzbestimmungen des Vertrages, so zeigt sich, dass die Gemeinschaft nicht die Kompetenz besitzt, Kriminalstrafrecht zu setzen22. Die Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaften 17 Walther, ZStW 111 (1999), 123 ff.; vgl. zum Ganzen und zu weiteren Kriterien eingehend Böse, S. 35 ff., der aber zutreffend herausstellt, dass auch die Ordnungswidrigkeit einen gewissen sozialethischen Tadel zum Ausdruck bringt, so dass im Grenzbereich die Unterschiede nur gradueller Natur sind (S. 39 f.); vgl. auch Heitzer, S. 6 ff.; Satzger, S. 58 ff. 18 Die Rechtsnatur der einzelnen gemeinschaftsrechtlichen Sanktionen ist immer noch heftig umstritten, was aber z. T. bereits in der (fehlenden) Definition des Kriminalstrafrechts wurzelt, vgl. umfassend Böse, S. 137 ff.; Heitzer, S. 47 ff.; Satzger, S. 80 ff.; Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 31; Tsolka, S. 52 ff. 19 Vgl. Gröblinghoff, S. 1; Dannecker, Jura 1998, 79, 80; Dieblich, S. 239 f. verweist zum Beleg auf die nur punktuelle Nennung in einigen wenigen Normen des Primärrechts und schließt daraus auf die fehlende Kompetenz; Köhler, MangakisFS, 751, 760; Oehler, Baumann-FS, 561; kritisch Pache, EuR 28 (1993), 173, 179 f.: Dem Argument komme angesichts der dynamischen Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung keine gewichtige Bedeutung mehr zu. 20 Aus diesem Grunde ist auch die Aussage des EuGH, in der Rs. C-240/90, Slg. 1992, I-5383 „Deutschland ./. Kommission“ er habe über die „Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts“ aufgrund der Tatsache, dass der Leistungsausschluss keine Strafsanktion darstelle, nicht zu entscheiden, nur von beschränkter Aussagekraft. 21 Heitzer, S. 134; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 107; Satzger, S. 98. 22 So auch die ganz h. M.: Bleckmann, Stree/Wessels-FS, 107, 108; Bruns, S. 88 ff.; Cuerda Riezu, in: Bausteine, 367, 368; Dieblich, S. 236; Gärditz, wistra 1999, 293; Grasso, S. 80 ff.; Gröblinghoff, S. 1; Jung, StV 1990, 509, 511; ders., Crim.L.R. 1993, 237, 241; Köhler, Mangakis-FS, 751, 753 ff.; Möhrenschlager, in: Dannecker, Subventionsbetrug, 162, 163; Oehler, Baumann-FS, 561; ders., Jescheck-FS, Bd. 2, 1399, 1409; ders., Internationales Strafrecht, S. 548; Oppermann, Rn. 698; Pabsch, S. 138, 178 f.; Pescatore, EuR 5 (1970), 307, 315; Prieß/Spitzer, EuZW 1994, 297, 300; Satzger, S. 143; Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 31; Sieber,
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eröffnen nicht die Möglichkeit, repressive Sanktionen zu erlassen, die einen sozialethischen Tadel zum Ausdruck bringen. Stehen sie grammatikalisch interpretiert z. T. einer Setzung von Rechtsnormen solchen Charakters zwar nicht entgegen23, so sehen sie derartige Strafnormen auch nicht ausdrücklich vor. Der Wortlaut ist offen, so dass das übrige Primärrecht, insbesondere die allgemeinen Rechtsgrundsätze, im Wege der Schaffung einer praktischen Konkordanz bei der Bestimmung des Inhalts der Einzelermächtigungen heranzuziehen ist. Angesichts der Eingriffsintensität kriminalstrafrechtlicher Normen erfordert der gemeinschaftsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz24, der auch die Kompetenznormen erfasst, dass die Möglichkeit, Kriminalstrafrecht zu setzen, in den Ermächtigungsnormen zumindest anklingt25. Die vertraglichen Einzelermächtigungen, insbesondere Formulierungen, die alle „erforderlichen“ oder „notwendigen“ Maßnahmen zulassen, genügen dieser Anforderung nicht. Im Ergebnis lässt sich also festhalten, dass weder supranationales Kriminalstrafrecht im Primärrecht existiert noch zukünftig sekundärrechtlich zur Entstehung gelangen wird26. Die nachfolgende Untersuchung konzentriert sich dagegen, wie bereits ausgeführt, auf die Europäisierung bereits existierenden deutschen Kriminalstrafrechts. Die Darstellung gliedert sich, bestimmt durch die Instrumente, die dem Strafrechtsanwender zur Verfügung stehen, in zwei Teile. Während in einem ersten Teil die europäisierenden Effekte des Vorrangs ZStW 103 (1991), 957, 969; ders., Bausteine, 349, 356; Spannowsky, JZ 1992, 1160, 1165; Stoffers, JA 1994, 131 f.; ders., EuZW 1994, 304, 305; Thomas, NJW 1991, 2233, 2234; Tiedemann, NJW 1979, 1852; ders., NJW 1990, 2226, 2231 f.; ders., EuZW 1990, 100; ders.; Wirtschaftsstrafrecht, Bd. 2, S. 216; ders., NJW 1993, 23 f.; ders., Oehler-FS, 1415; Vogel, JZ 1995, 331, 332; ders., in: Dannecker, Subventionsbetrug, 170, 173; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 779; Zuleeg, in: Sieber, Europäische Einigung, 41, 43; so auch der BGHSt 25, 190, 193 f.; 27, 181, 182; 41, 127, 131 f.; einschränkend Heitzer, S. 164 f., allein die Freiheitsstrafe sei ausgeschlossen; a. A. Appel, in: Dannecker, Lebensmittelstrafrecht, 165, 183; Pache, S. 341 f., der aufgrund des Demokratiedefizits aber eine Selbstbeschränkung der Gemeinschaften fordert; Böse, S. 55 ff., der keinen grundsätzlichen Ausschluss erkennt, jedoch konstatiert, Kriminalstrafrecht werde die Ausnahme bleiben. 23 Umfassend Böse, S. 78; Dannecker, Jura 1998, 79, 80; Pache, S. 336; Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 969. 24 EuGH, Rs. 117/83, Slg. 1984, 3291 „Könecke“. 25 So bereits Satzger, S. 115 ff., der zudem überzeugend Argumente aus Art. 23 I 3 GG i. V. m. Art. 79 III GG (S. 110 ff.), einem gemeinschaftsrechtlichen Parlamentsvorbehalt (S. 121 ff.) sowie Art. 280 IV 1 EG (S. 138 ff.) ablehnt und auf den entgegenstehenden Willen der vertragsschließenden Parteien hinweist (S. 136 ff.); i. E. ähnlich Köhler, Mangakis-FS, 751, 760 f. 26 Die Möglichkeit, kompetenzwidrig Rechtsakte zu erlassen, die im Gemeinschaftsrecht bis zur Nichtigerklärung durch den EuGH gültig sind, vgl. Art. 231 EG, wird dabei nicht verkannt. Sie muss aber bei dieser Prognose außer Acht bleiben.
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des Gemeinschaftsrechts untersucht werden, widmet sich der zweite Abschnitt der Analyse der Auswirkungen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht. Ausgangspunkt beider Kapitel wird die Entwicklung des Inhalts des jeweils untersuchten Prinzips sein, bevor die Europäisierung mittels einiger wichtiger Gemeinschaftsgewährleistungen illustriert und kritisch überprüft werden wird. Besondere Bedeutung kam in der Rechtsprechung des EuGH zum Einfluss auf das nationale Kriminalstrafrecht den Grundfreiheiten, Art. 10 EG und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu, die sich deshalb für eine exemplarische Darstellung der Einflüsse des Primärrechts anbieten. Daneben erlangt aber gerade auch das sekundäre, d.h. das von den Gemeinschaftsorganen erlassene Recht, große Bedeutung im nationalen Strafrecht, so dass auch dieser Einfluss zu systematisieren und inhaltlich zu präzisieren sein wird. Letztlich ist bereits an dieser Stelle auf die besonderen Formen der Europäisierung des nationalen Kriminalstrafrechts durch primär- und sekundärrechtliche Verweisungen auf nationale Kriminalstraftatbestände sowie gemeinschaftsrechtlich beeinflusste nationale Blankettstraftatbestände hinzuweisen, die in der Analyse Berücksichtigung finden werden.
1. Teil
Der Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Kriminalstrafrecht Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist eine sog. Kollisionsregel wie sie dem Grunde nach aus dem nationalen Recht vertraut ist1. Einer Kollisionsregel bedarf es, wenn ein Sachverhalt mindestens zwei entscheidungserheblich auf den konkreten Fall anzuwendenden Regelungsregimen unterliegt, und diese einander widersprechende Lösungen bereithalten. Ein solcher Kollisionsfall lässt sich mit einem Bild aus der Mengenlehre illustrieren. Danach stellt eine Kollisionslage die Schnittmenge zweier Regelungsregime dar. Für die in diese Schnittmenge fallenden Sachverhalte halten beide Rechtsordnungen einander widersprechende Lösungen bereit. Die Anwendung einer Regelung schließt die Anwendbarkeit der anderen Norm aus. In einem solchen Falle greift die Kollisionsregel ein und bestimmt, welche der beiden dem Grunde nach anwendbaren Normen tatsächlich auf den konkreten Fall Anwendung finden soll. Auf das Gemeinschaftsrecht bezogen kann ein solcher Kollisionsfall mit deutschem Recht nur dann auftreten, wenn gemeinschaftsrechtliche Normen in den Mitgliedstaaten gelten, von den rechtsanwendenden Stellen entscheidungserheblich anzuwenden sind und die Gemeinschaftsnormen dem nationalen Recht derart widersprechen, dass einem Regelungsregime der Vorrang einzuräumen ist. Nun sind aber verschiedene Rechtsfolgen durch Kollisionsnormen denkbar. Bezüglich des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gilt es insbesondere die Frage zu klären, ob diese Kollisionsregel einen Geltungsvorrang – vergleichbar dem des Verfassungsrechts – anordnet, mit der Folge, dass die Norm für alle Fälle ungültig wird. Bevor indes auf diese Rechtsfolgenfrage eingegangen werden kann, sollen Entwicklung, Inhalt und die Voraussetzungen des gemeinschaftsrechtlichen Vorrangprinzips nachgezeichnet werden.
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Genannt sei hier zum Beispiel die sog. „lex posterior“-Regel.
A. Autonomie der Rechtsordnung und unmittelbare Anwendbarkeit
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A. Autonomie der Rechtsordnung und unmittelbare Anwendbarkeit Die Normen des EG-Vertrags sowie das durch die Gemeinschaftsorgane erlassene Recht können einerseits Regelungsaufträge oder -ermächtigungen an die Mitgliedstaaten enthalten. Solche Normen gelten zwar seit ihrem InKraft-Treten in den Mitgliedstaaten, sind aber dennoch für die innerstaatlichen Stellen jedenfalls unterhalb der Rechtssetzungsebene und deshalb für den Gemeinschaftsbürger grundsätzlich ohne Belang; sie sind nicht anwendbar. Erst eine Umsetzung dieser Regelungsaufträge durch den nationalen Gesetzgeber schafft nationales Recht, welches in der Lage ist, Rechte und Pflichten der Bürger zu begründen, die durch nationale Behörden und Gerichte zu beachten sind und auf die sich der Bürger berufen kann2. In diesem Fall kann allein das nationale Umsetzungsrecht mit dem übrigen nationalen Recht kollidieren, was dann eine Frage nationaler Kollisionsregeln ist. Unterlässt der nationale Gesetzgeber die Durchführung jenes Regelungsauftrags, so verstößt er zwar gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Pflichten, das mitgliedstaatliche Recht bleibt aber unverändert. Die nationalen Rechtsanwendungsorgane, d.h. Gerichte und Behörden müssen weiterhin das nationale Recht anwenden3, auch wenn dieses gemeinschaftsrechtswidrig ist4. Anders stellt sich die Situation dar, wenn Gemeinschaftsnormen „unmittelbare Anwendbarkeit“5 genießen. Dann sind sie von nationalen Behörden und Gerichten zu beachten und anzuwenden. Die Gemeinschaftsbürger können sich vor den nationalen Stellen auf die gewährten Rechte berufen. Mit dieser Wirkung ist dann auch die Möglichkeit entscheidungserheblich anzuwendender gemeinschaftsrechtlicher Regelungen eröffnet, deren Gehalt dem nationalen Recht widersprechen könnte. Damit steht fest, dass Kollisionen zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsnormen voraussetzen6. Nachfolgend sollen deshalb kurz die Ur2
Vgl. Geiger, Art. 5 Rn. 11; Jarass, DVBl. 1995, 954, 955. Vgl. Art. 20 III GG. 4 Es droht dann dem Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtumsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, vgl. Art. 226, 227 EG, welches aber allein auf Feststellung gerichtet ist, vgl. Art. 228 EG, die nationale Gesetzgebung also nie ersetzen kann. 5 Das Prinzip wird häufig auch als „unmittelbare Wirkung“ sowie irreführend als „unmittelbare Geltung“ bezeichnet. 6 Anders die Ansicht vom sog. legal review, wonach das Vorrangprinzip auch für nicht unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht gilt, allerdings mangels Regelungsalternative nur kassatorische Wirkung habe; so z. B.: Langenfeld, DÖV 1992, 955, 963; dies., in: Siedentopf, Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 173, 181; Weber, Rechtsfragen, S. 74 f., 103 ff.; ders., OLG Oldenburg-FS, 3
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
sprünge der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts beleuchtet werden, bevor auf die Voraussetzungen eingegangen wird, unter denen die verschiedenen Normen des Gemeinschaftsrechts unmittelbare Anwendbarkeit genießen.
I. Entstehung und Inhalt des Prinzips der unmittelbaren Anwendbarkeit Bereits in dem leading case Van Gend & Loos7 stellte der EuGH mit seinem Urteil vom 5. Februar 1963 klar, dass das Gemeinschaftsrecht unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar sein kann: „Aus alledem ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen.“
Ausgehend von der Annahme, die vertragsschließenden Staaten hätten eine neue „autonome“8 Rechtsordnung geschaffen, entschied der EuGH also, dass das Gemeinschaftsrecht – anders als im Völkerrecht – ohne jeglichen Transformationsakt in den Mitgliedstaaten wirksam wird, denn Rechtssubjekte seien neben den Staaten auch Einzelne, denen das Gemeinschaftsrecht Pflichten auferlegen, aber auch Rechte verleihen kann, auf die sie sich dann zwangsweise auch vor den rechtsanwendenden Stellen berufen können müssen. Damit greift die Wirkung des Gemeinschaftsrechts aber über eine bloße Geltung hinaus. Es ist der unmittelbaren Anwendbarkeit fähig.
II. Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit Das Gemeinschaftsrecht kennt zum einen das sog. Primärrecht, welches die Gründungsverträge, d.h. EG- sowie EAG-Vertrag, einschließlich Anlagen, Anhängen und Protokollen sowie deren spätere Ergänzungen und Änderungen umfasst9. Daneben existiert das durch die Organe erlassene, sog. sekundäre Gemeinschaftsrecht. Art. 249 II, III und IV EG nennen als förmliche Rechtsakte Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen 699, 701 ff.; Bach, JZ 1990, 1108, 1113; Timmermanns, CMLR 16 (1979), 533, 549 f. 7 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 „van Gend & Loos“. 8 Vgl. die klarstellende Formulierung in EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1270 „Costa ./. Enel“: „aus einer autonomen Rechtsquelle fließende(s) Recht“.
A. Autonomie der Rechtsordnung und unmittelbare Anwendbarkeit
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und Stellungnahmen10. Die einzelnen Normen unterscheiden sich durch die Adressaten und den Regelungsgehalt und genießen deshalb auch unter verschiedenen Voraussetzungen unmittelbare Anwendbarkeit. Am deutlichsten geht aus Art. 249 II EG hervor, dass dem Rechtsakt der Verordnung „allgemeine Geltung“ zukommt. Sie ist „in allen ihren Teilen verbindlich“ und gilt „unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“. Die Verordnung gilt damit nicht nur ohne weiteres vom Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens, sondern ist von den innerstaatlichen Behörden und Gerichten zu beachten. Aus ihr erwachsen Rechte und Pflichten für die Rechtsunterworfenen. Verordnungen sind unmittelbar anwendbar11. Dagegen ist das Primärrecht nur unter bestimmten vom EuGH12 entwickelten Voraussetzungen unmittelbar anwendbar. Zunächst muss die in Frage stehende Vorschrift rechtlich vollkommen, d.h. hinreichend genau formuliert und keiner weiteren Konkretisierung bedürftig sein. Außerdem setzt die unmittelbare Anwendbarkeit die inhaltliche Unbedingtheit voraus. Insbesondere darf die Norm nicht von weiteren Vollzugsmaßnahmen der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten abhängig sein. Schließlich muss die Norm den Mitgliedstaaten Handlungs- oder Unterlassungspflichten auferlegen, ohne diesen dabei einen Ermessensspielraum zu gewähren. Kompliziertester Rechtsakt der Gemeinschaft und in ihrer rechtlichen Bedeutung nach wie vor umstritten, ist die Richtlinie. Zunächst scheint der Wortlaut des Art. 249 III EG die unmittelbare Anwendbarkeit auszuschließen, denn danach sind Richtlinien nur für und nicht in jedem Mitgliedstaat, an den sie gerichtet sind, verbindlich. Daraus könnte man folgern, sie enthielten nur Regelungsaufträge an die Mitgliedstaaten bzw. deren Rechtssetzungsorgane. Dem trat der EuGH entgegen und leitete aus dem Gedanken 9 Der EGKS-Vertrag ist gem. Art. 97 EGKS am 23.07.2002 ausgelaufen. Auch den allgemeinen Rechtsgrundsätzen kommt nach hier vertretener Ansicht der Rang des Primärrechts zu. 10 Darüber hinaus können die Gemeinschaftsorgane auch andere Handlungsformen wählen, denen jedoch weder Verbindlichkeit noch Förmlichkeit zukommt. Entscheidend für die Bestimmung, welche Art von Rechtsakt vorliegt, ist eine materielle Betrachtungsweise, vgl. Magiera, Jura 1989, 595, 598. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Verordnungen und Richtlinien. Die verbindlichen Entscheidungen sowie die übrigen unverbindlichen Rechtsakte bleiben weitgehend unbeachtet. 11 Vgl. EuGH, Rs. 43/71, Slg. 1971, 1039 „Politi“. Entscheidend ist jedoch auch hier nicht die bloß formale Bezeichnung, sondern eine materielle Betrachtung, so dass die Möglichkeit besteht, dass Verordnungen richtlinienartige Regelungen aufweisen, denen nur unter bestimmten Voraussetzungen eine unmittelbare Anwendbarkeit zukommt, dazu sogleich. 12 St. Rspr. seit EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 26 „Van Gend & Loos“; Rs. 57/65, Slg. 1966, 257 „Lütticke“.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
des „effet utile“ eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien ab. Die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts wäre beeinträchtigt, wenn der Eintritt der Rechtswirkungen einer Richtlinie allein davon abhinge, dass die Mitgliedstaaten ihrer Umsetzungsverpflichtung nachkommen13. Zudem solle ein Mitgliedstaat, der gegen seine Umsetzungsverpflichtung verstoßen hat, nicht durch sein gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten profitieren, indem er dem Einzelnen, der sich auf ein in der Richtlinie gewährtes Recht beruft, die fehlende Umsetzung entgegenhalten könne. Daher sei eine Richtlinie dann unmittelbar anwendbar, wenn die genannte Umsetzungsfrist abgelaufen ist, ohne dass der Mitgliedstaat die Richtlinie korrekt umgesetzt hat, diese hinreichend genau formuliert ist und sie dem einzelnen gegenüber den Mitgliedstaaten Rechte verleiht14. Der Gerichtshof stützt seine Argumentation folglich neben dem Effektivitätsgrundsatz auf einen Sanktionsgedanken bzw. den Rechtsgrundsatz des venire contra factum proprium. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien im umgekehrt vertikalen Verhältnis, d.h. zu Lasten des Rechtsunterworfenen lehnt der EuGH in ständiger Rechtsprechung ab15. Diesbezüglich könnte auch weder der Sanktionsgedanke noch das Verbot widersprüchlichen Verhaltens fruchtbar gemacht werden16. Neben der „subjektiven“ Durchgriffswirkung stellte der EuGH später eine „objektive“ unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien und staatengerichteten Entscheidungen fest, wenn sie gerade die rechtsanwendenden Stellen in den Mitgliedstaaten binden sollen und die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit vorliegen, sie nur den Individuen keine Rechte verleihen sollen17. Die Behörden und Gerichte seien als Organe der Mitgliedstaaten, an welche diese Richtlinien gerichtet sind, an diese Rechtsakte gebunden und hätten sie als vorrangiges Gemeinschaftsrecht unmittelbar anzuwenden18. 13
EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, 1348 „van Duyn ./. Home Office“. EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629, 1642 „Ratti“; Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, 71 „Becker“; Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839, 1870 „Fratelli Costanzo“; Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325 „Marks & Spencer“. 15 EuGH, Rs. 152/84, Slg. 1986, 723, 749 „Marshall I“; Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3986 „Kolpinghuis Nijmegen“. 16 Vgl. Scherzberg, Jura 1993, 225, 227; Jarass, NJW 1991, 2665, 2667 m. w. N.; vgl. auch die dortigen Ausführungen zu den Problemen und Streitständen hinsichtlich der „horizontalen Direktwirkung“ von Richtlinien sowie den „Richtlinien mit Doppelwirkung“; diesbezüglich auch Gundel, EuZW 2001, 143 ff.; Pieper, DVBl. 1990, 684 ff. 17 Vom EuGH in der Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 „Großkrotzenburg“ entwickelt; vgl. dazu Ruffert, in: Callies/Ruffert, Art. 249 EG Rn. 93 ff.; Pechstein, EWS 1996, 261 ff.; Epiney, DVBl. 1996, 409, 413 ff.; Klein, Everling-FS, Bd. I, 641 ff. 14
B. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel
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B. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel Wurde nun festgestellt, dass Gemeinschaftsrecht unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbar anwendbar sein kann, so ist in dieser Möglichkeit das Problem angelegt, dass sowohl gemeinschaftsrechtliche als auch nationale Regelungen im konkreten Fall entscheidungserheblich anwendbar seien, jedoch einander widersprechende Regelungen enthalten können. Schließt dann die Anwendung der nationalen Gewährleistung das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht aus und umgekehrt19, steht des Weiteren fest, dass nur eine der kollidierenden Normen im konkreten Fall zur Anwendung gelangen kann. Daraus ergibt sich die Frage, zugunsten welcher Gewährleistung solche Kollisionslagen zu lösen sind.
I. Die Kollisionsregel: Ursprung und Inhalt Weder das EG-Recht20 noch das deutsche Recht enthält eine ausdrückliche Kollisionsnorm für Kollisionen zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht. Die Ansichten zur Frage, welcher Norm der Vorrang einzuräumen ist, unterscheiden sich im Ausgangspunkt, der Reichweite und der Rechtsfolge. Die Darstellung beschränkt sich auf die wesentlichen Grundpositionen des EuGH und des BVerfG21. 1. Position des EuGH Der EuGH ist nur zur Wahrung des EG-Rechts berufen22, so dass er eine Lösung des Kollisionsproblems einzig aus dem Gemeinschaftsrecht entwickeln konnte. Bereits in der Rs. Costa ./. Enel erkannte er einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber jeglichem nationalen Recht an und entnahm diese Kollisionsregel konsequenterweise dem Gemeinschaftsrecht als 18 Im Gegensatz dazu findet bei der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationales Recht Anwendung, vgl. Ruffert, in: Callies/Ruffert, Art. 249 EG Rn. 111 m. w. N. 19 Vgl. zu diesem engen Kollisionsbegriff Komendera, S. 35; Huthmacher, S. 123 f. 20 Jarass, DVBl. 1995, 954, 958. 21 Vgl. zu diesen und weiteren vertretenen Ansichten zur Frage des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts die zusammenfassende Darstellung bei Streinz, Europarecht Rn. 180 ff. m. w. N. 22 Gem. Art. 220 EG sichert der Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
autonomer Rechtsquelle. Er führte in jener für die weitere Entwicklung des Gemeinschaftsrechts grundlegenden Passage aus: „[. . .] der EWG-Vertrag (hat) eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem In-Kraft-Treten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränität beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist. Diese Aufnahmen der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, dass es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Solche Maßnahmen stehen der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung daher nicht entgegen. Denn es würde eine Gefahr für die Verwirklichung der in Art. 5 II (jetzt: Art. 10 II EG) aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Art. 7 (jetzt: Art. 12 I EG) widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. Die Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft eingegangen sind, wären keine unbedingten mehr, sondern nur noch eventuelle, wenn sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signaturstaaten in Frage gestellt werden könnten [. . .]. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird auch durch Art. 189 (jetzt: Art. 249 EG) bestätigt; ihm zufolge ist die Verordnung ‚verbindlich‘ und ‚gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat‘. Diese Bestimmung, die durch nichts eingeschränkt wird, wäre ohne Bedeutung, wenn die Mitgliedstaaten sie durch Gesetzgebungsakte, die den gemeinschaftsrechtlichen Normen vorgingen, einseitig ihrer Wirksamkeit berauben könnten. Aus alledem folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsordnung fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Die Staaten haben somit dadurch, dass sie nach Maßgabe der Bestimmungen des Vertrages Rechte und Pflichten, die bis dahin ihren inneren Rechtsordnungen unterworfen waren, der Regelung durch die Gemeinschaftsrechtsordnung vorbehalten haben, eine endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte bewirkt, die durch spätere, einseitige, mit dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann.“23
B. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel
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Im Ergebnis gründet sich der Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht auf deren wesentliche Strukturprinzipien, nämlich der Autonomie der Rechtsordnung, dem Loyalitätsprinzip, dem effet utile und der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung als Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft24. Dem Gemeinschaftsrecht kommt danach Vorrang vor jeglichem nationalen Recht, also auch vor nationalem Verfassungsrecht25 zu. 2. Position des BVerfG Ein Großteil deutscher Rechtsanwender folgt dagegen der Ansicht des BVerfG. Danach sind hinsichtlich der Vorrangfrage zunächst Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht und einfachen Gesetzen einerseits sowie zwischen Gemeinschaftsrecht und Verfassungsrecht andererseits zu unterscheiden. Das BVerfG begründet den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber einfachen Gesetzen in ständiger Rechtsprechung mit einer ungeschriebenen Kollisionsnorm des primären Gemeinschaftsrechts, der das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag nach Art. 59 II GG i. V. m. Art. 24 I GG bzw. heute Art. 23 I 2 GG den innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Das BVerfG formuliert: „Denn durch die Ratifizierung des EWG-Vertrages [. . .] ist in Übereinstimmung mit Art. 24 I GG eine eigenständige Rechtsordnung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entstanden, die in die innerstaatliche Rechtsordnung hineinwirkt und von den deutschen Gerichten anzuwenden ist [. . .]. Art. 24 I GG besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, dass die Hoheitsakte ihrer Organe [. . .] vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind. Von dieser Rechtslage ausgehend, müssen [. . .] die deutschen Gerichte auch solche Rechtsvorschriften anwenden, die zwar einer eigenständigen außerstaatlichen Hoheitsgewalt zuzurechnen sind, aber dennoch aufgrund ihrer Auslegung durch den EuGH im innerstaatlichen Raum unmittelbare Wirkung entfalten und entgegenstehendes nationales Recht verdrängen.“26 23 St. Rspr. seit EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 ff. „Costa ./. Enel“; Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 „Internationale Handelsgesellschaft“; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 „Simmenthal II“; Rs. 249/85, Slg. 1987, 2345 „Albako“; Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433 „Factortame“. 24 Vgl. dazu Wegener, in: Callies/Ruffert, Art. 220 EG Rn. 18 ff. 25 Klargestellt in EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 „Internationale Handelsgesellschaft“; seitdem std. Rspr., vgl. nur EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433 „Factortame“; zustimmend ein Teil der deutschen Literatur, insbesondere aufgrund der sog. Gesamtakttheorie, vgl. grundlegend Ipsen, 2/26; Hesse, Rn. 105 f.; Nicolaysen, § 2 I, III.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Einschränkungen postuliert das BVerfG27 dagegen hinsichtlich der Kollision mit dem Grundgesetz. Diese Ansicht erklärt sich vor dem Hintergrund, dass er Art. 24 I GG bzw. heute Art. 23 I GG i. V. m. den deutschen Zustimmungsgesetzen als verfassungsrechtliche Grundlage für die Öffnung der deutschen Rechtsordnung für das Gemeinschaftsrecht und damit auch die gemeinschaftsrechtliche Kollisionsregel des Vorrangs ansieht. Die Bedeutung des Art. 23 I GG erschöpft sich danach nicht in dem einmaligen Akt der Öffnung zugunsten der autonomen Gemeinschaftsrechtsordnung28. Vielmehr bewirke Art. 23 I GG eine stete verfassungsrechtliche Rechtfertigung gemeinschaftsrechtlicher Wirkungen im deutschen Recht. Die Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Einwirkungen und somit auch des Vorrangs findet deshalb seine Grenze in der Reichweite dieser verfassungsrechtlichen Ermächtigung. Nunmehr regelt Art. 23 I S. 3 GG ausdrücklich29, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den Grenzen des Art. 79 III GG möglich ist, der eine Grundgesetzänderung aber verbietet, sobald „die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“. Wo genau die Grenzen dieser Integrationsermächtigung liegen, ist auch innerhalb dieser Ansicht umstritten30. Bereits an dieser Stelle ist aber darauf hinzuweisen, dass angesichts des mittlerweile erreichten Grundrechtsstandards auf Gemeinschaftsebene sowie der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EG-Vertrag nicht zu erwarten ist, dass den verfassungsrechtlichen Vorbehalten große praktische Bedeutung zukommen wird31.
II. Rechtsfolgen Wurde jedenfalls ein grundsätzlicher Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht ermittelt, so stellt sich im Anschluss die Frage nach der Konsequenz für das kollidierende nationale Recht32. 26
Seit BVerfGE 31, 145, 173 f. Vgl. den Gang der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung primär zum Verhältnis sekundären Gemeinschaftsrechts zu den Grundrechten: BVerfGE 22, 293; BVerfGE 37, 271 „Solange I“; BVerfGE 52, 187 „Vielleicht-Beschluß“; BVerfG, NJW 1983, 1258 „Mittlerweile-Beschluß“; BVerfGE 73, 339 „Solange II“; BVerfGE 89, 155 „Maastricht“. 28 So die sog. Gesamtakttheorie, vgl. Ipsen, 2/26; Hesse, Rn. 105 f.; Nicolaysen, § 2 I, III. 29 Auch früher wurde die Grenze des Art. 24 GG in Anlehnung an Art. 79 III GG bestimmt. 30 Bleckmann, Europarecht Rn. 1084; Nettesheim, Grabitz-GS, 447, 454 ff.; Pieroth/Schlink, Rn. 190 f.; Schweitzer, Rn. 70 ff.; Streinz, Europarecht Rn. 202 ff. 31 Oppermann, Rn. 624; Schwarze, JZ 1999, 637, 640. 32 Die Kollisionsregel des Anwendungsvorrangs betrifft einzig Kollisionen mit nationalem Recht. Primärrechtswidriges sekundäres Gemeinschaftsrecht unterliegt 27
B. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel
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1. Geltungs- oder Anwendungsvorrang Während früher versucht wurde, aus der Pflicht zur Unterlassung gemeinschaftsschädlichen Verhaltens (Art. 10 II EG)33 oder wegen einer Kompetenzüberschreitung der Mitgliedstaaten aus dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens34 die Nichtigkeit des kollidierenden nationalen Rechts herzuleiten, lehnt die ganz herrschende Meinung35 diese Lehre vom Geltungsvorrang zutreffend ab. Vielmehr ist von einem dem deutschen Recht unbekannten, sog. Anwendungsvorrang auszugehen, wonach mitgliedstaatliche Behörden und Gerichte verpflichtet sind, entgegenstehende innerstaatliche Normen im Kollisionsfall lediglich außer Anwendung zu lassen. Die Gültigkeit der nationalen Norm bleibt dabei unberührt, so dass sie auf rein innerstaatliche Sachverhalte anwendbar bleibt36 und für den Fall, dass das Gemeinschaftsrecht außer Kraft tritt, in vollem Umfang wieder auflebt. Der Geltungsanspruch des nationalen Rechts wird also nur so weit zurückgedrängt, wie dies zur Erreichung der Ziele der Gemeinschaft unbedingt erforderlich ist37. Entscheidendes Argument für diesen bloßen Anwendungsvorrang, der geeignet ist, die einheitliche Geltung und Anwendung des EGRechts sicherzustellen, ist die Kompetenzüberschreitung der EG, die mit einer Anordnung der Nichtigkeit auch für rein innerstaatliche Sachverhalte einhergehen würde. Zudem erfordert eine solche Nichtigkeitsfolge ein normhierarchisches Verhältnis, welches aufgrund der Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung hier gerade fehlt38. Im Ergebnis ist daher von eidagegen der Vermutung der Gültigkeit und genießt unter den dargestellten Voraussetzungen Vorrang vor nationalem Recht bis der EuGH den Verstoß feststellt, vgl. Art. 231 EG. Bereits aus dem Monopol des EuGH folgt, dass mitgliedstaatliche Gerichte sekundäres Gemeinschaftsrecht nicht deshalb verwerfen bzw. nicht anwenden können, weil es nach ihrer Ansicht primärrechtswidrig ist. Etwas anderes gilt nur im Falle schwerer, offensichtlicher Fehler, die vom Gemeinschaftsrecht nicht toleriert werden können. 33 Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 98 ff. 34 Emrich, S. 132. 35 Ehlers, DVBl 1991, 605 ff.; Jarass, DVBl 1995, 954, 958 f.; v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 41; Streinz, Europarecht Rn. 200 f.; Ipsen, 10/55; Oppermann, Rn. 634; BVerfGE 31, 145, 174; 75, 223, 244; BVerwGE 87, 154, 158 ff.; unklar noch EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 „Simmenthal II“; aber EUGH, Rs. 237/82, Slg. 1984, 483 „Jongeneel Kaas“; Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 ff. „Fratelli Costanzo“; Rs. C-184/89, Slg. 1991, I-297, 321 „Nimz“; verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 „IN.CO.GE“. 36 Vgl. BGH, NJW 1990, 108. 37 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 179 unter Hinweis auf die faktischen Anpassungszwänge. 38 Vgl. zu diesen und weiteren Argumenten v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf, Art. 1 EGV Rn. 41.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
nem bloßen Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auszugehen39. Dieser Vorrang gilt auch dann, wenn das nationale Recht später erlassen wurde. Die sog. „lex posterior“-Regel, wonach späteres das vorhergehende Recht verdrängt, gilt hier nicht40. Hinzuweisen ist schließlich auf den Umstand, dass der EuGH die Gemeinschaftsnorm in einer Weise interpretiert, wie sie von Anfang an hätte ausgelegt werden müssen41. Diese ex tunc-Wirkung findet ihre Grenze aber in den gemeinschaftlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Das Vertrauen des Betroffenen auf den Fortbestand der nationalen Regelung ist jedoch nur dann schutzwürdig, wenn die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit für ihn nicht voraussehbar war. Der EuGH beschränkte aus diesem Grunde die Wirkung seiner Bosman-Entscheidung42, soweit schutzwürdiges Vertrauen bestand, auf die Zukunft. 2. Keine Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen Beschreibt der dargestellte Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts die Rechtsfolge im Falle der Kollision des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Recht, so wird z. T. versucht, bei der Kollisionsvoraussetzung anzusetzen, um die Rechtsfolge des Anwendungsvorrangs aufzuweichen und so unliebsame Folgen einer weitreichenden Ausdehnung gemeinschaftsrechtlicher Gewährleistungen, insbesondere der Grundfreiheiten quasi durch die Hintertür zu korrigieren, indem zwischen direkten und indirekten Kollisionen unterschieden wird43. 39 Mittelbare Folge dieses bloßen Anwendungsvorrangs ist die Verpflichtung des nationalen Gesetzgebers, kollidierendes nationales Recht gemeinschaftsrechtskonform zu ändern. Die bloße Nichtanwendung reicht angesichts drohender Unklarheit des rechtlich Gebotenen nicht, vgl. EuGH, Rs. 167/73, Slg. 1974, 359, 374 „Französische Schiffsbesatzungen“; Rs. 74/88, Slg. 1988, 2139, 2148 f. „Kommission ./. Deutschland“; Rs. 104/86, Slg. 1988, 1799, 1817 „Kommission ./. Italien“; Rs. C-160/99, Slg. 2000, I-6137, 6151 „Kommission ./. Frankreich“; Nieto Martin, S. 286; einschränkend in Bezug auf sog. indirekten Kollisionen, bei denen eine solche Anpassungspflicht nur bei regelmäßigem und erheblichem Konflikt geboten sein soll v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 41. Zur Existenz solcher Kollisionen sogleich. 40 Dies ergibt sich bereits aus EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1271 „Costa ./. Enel“. 41 Vgl. EuGH, Rs. 24/86, Slg. 1988, 379 „Blaizot ./. Universität Lüttich u. a.“. 42 EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 „Bosman“. 43 Vgl. grundlegend Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen, Köln 1985; Komendera, Normenkonflikt zwischen EWG- und BRD-Recht – insbesondere indirekte Kollisionen, Heidelberg 1974; v. Bogdandy/ Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 36.
B. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel
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So führt Satzger44 im strafrechtlichen Kontext aus, die Kollisionsregel des Anwendungsvorrangs sei im Bereich der direkten Kollisionen entwickelt worden, so dass sie nur dort uneingeschränkte Geltung beanspruchen könne. Eine direkte Kollision liege vor, wenn sich Normen widersprächen, die demselben Sachgebiet angehörten. Daneben bestünden sog. indirekte Kollisionen, wenn die Gemeinschaftsnorm und die nationale Norm zwar anderen Regelungsbereichen entstammten und andere Ziele verfolgten, eine uneingeschränkte Anwendbarkeit des nationalen Rechts jedoch trotzdem die einheitliche und ganzheitliche Geltung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts einschränkte. Anders als bei direkten Kollisionen sei hier aber eine Einschränkung des Vorrangprinzips angezeigt. Die Gemeinschaft sei nur insoweit zur Rechtsetzung befugt, als die Verträge ihr eine Kompetenz zuwiesen, i.Ü. sei sie auf eine Kooperation mit den Mitgliedstaaten und deren nationalem Recht angewiesen, so z. B. beim Verwaltungsvollzug. Sei nun aber die Gemeinschaft auf die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen angewiesen, so dürfe das Vorrangprinzip nicht uneingeschränkt gelten, vielmehr bedürfe es einer flexiblen und einzelfallbezogenen Lösung einer jeden indirekten Kollision, die die jeweiligen Interessen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten in Ausgleich bringt. In die erforderliche komplexe Abwägung sei auf der einen Seite die mitgliedstaatliche Gestaltungsautonomie, auf der anderen Seite das Gemeinschaftsinteresse an der Wirksamkeit ihrer Bestimmung einzustellen. Eine wesentliche Leitlinie für den Abwägungsvorgang müsse im Zusammenhang mit Strafvorschriften dabei das strafrechtsspezifische Schonungsgebot sowie der damit eng verknüpfte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sein45.
Bereits einleitend wurde dargestellt, dass es sich bei der eingeführten Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen um einen zielorientierten Kunstgriff handelt. Es wird versucht, insbesondere die Folgen ausgedehnter grundfreiheitlicher Gewährleistungen subtil zu korrigieren. Dogmatisch nicht vertretbar setzt man dabei nicht bei den Grundfreiheiten selbst, sondern bei dem fundamentalen grundfreiheitlichen Prinzip des Anwendungsvorrangs an und spricht ihm für den völlig unbestimmten Bereich der indirekten Kollisionen46 jegliche Relevanz ab. Das grundlegende Prinzip des Anwendungsvorrangs verlöre damit jegliche Kontur und Vorhersehbarkeit mit unabsehbaren Folgen für die Gemeinschaftsrechtsordnung und damit die Gemeinschaft selbst. Bereits die Behauptung die Kollisionsregel sei im Bereich der direkten Kollisionen entwickelt worden, so dass sie auch nur dort uneingeschränkte Geltung beanspruchen könne, gründet sich auf die verfehlte Annahme, es sei zwischen direkten und indirekten Kollisionen zu differenzieren. Die Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen stellt eine vom Ergebnis geleitete Fiktion dar. 44
Satzger, S. 478 ff. Satzger, S. 499. 46 Vgl. Satzger, S. 487, der selbst erkennt: „Die Abgrenzung, ob eine direkte oder eine indirekte Kollision vorliegt, kann Schwierigkeiten bereiten.“ 45
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Der Kollisionsbegriff ist einer Aufweichung nicht zugänglich, sondern beschreibt den Widerspruch zweier Regelungsregime, der eine Lösung zugunsten einer Norm erfordert. Entweder ein solcher Widerspruch wird festgestellt oder er fehlt. Eine Fallgruppe dazwischen, die man als indirekte Kollisionen bezeichnen könnte, existiert nicht. Sind z. B. die Grundfreiheiten vom EuGH so weit gefasst worden, dass sie auch bloß mittelbare und potentielle Behinderungen verbieten, kann jede thematisch auch noch so entfernte Regelung konfligieren. Im Gemeinschaftsrecht kommt es eben nicht auf die Zuordnung zu abstrakt definierten Sachbereichen, sondern auf den Effekt auf das Gemeinschaftsrecht an. Damit zeigt sich, dass bloße Wirksamkeitsbeeinträchtigungen gerade keine besondere Kollisionsform darstellen, die einer modifizierten Lösung bedürften, sondern einzig Folge des vom EuGH weit interpretierten Regelungsgehalts der Grundfreiheiten sind. Je weiter dieser Gewährleistungsgehalt, also die „Menge Gemeinschaftsrecht“ reicht, desto größer ist die Schnittmenge mit dem nationalen Recht, die um der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft willen des Anwendungsvorrangs bedarf. Führt Satzger neben der unsicheren Einordnung zu einem Sachbereich im Falle indirekter Kollisionen noch eine weitere Abwägung ein, begibt er die Kollisionsbehandlung jeglicher Konturierung und Vorhersehbarkeit. Der Billigkeit wird Tür und Tor geöffnet. Der von ihm ins Feld geführte Schonungsgrundsatz sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip bewirken insoweit keine Konturierung.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit dem nationalen Kriminalstrafrecht Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Kollisionssystematik kann nunmehr die vorrangige Frage untersucht werden, inwieweit das Gemeinschaftsrecht mit dem nationalen, in diesem Kontext also dem deutschen materiellen Kriminalstrafrecht kollidieren kann. Nur im Kollisionsfalle bedarf es überhaupt einer Kollisionsregel. Greift man das Bild der Mengenlehre auf, so wird evident, dass die Größe der Schnittmenge, also die Anzahl der Kollisionen und damit die Relevanz der Kollisionsregel von der Reichweite der sich potentiell widersprechenden Gewährleistungen abhängt. Will der nationale Strafrechtsanwender daher nicht Gefahr laufen, Widersprüche zu fingieren und die Kollisionsregel insoweit unbegründet heranziehen, hat er sich als erste Prämisse eingehend mit dem Inhalt der nationalen sowie der gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistungen auseinander zu setzen und diese zu definieren. Erst im Anschluss an die Feststellung möglicher Kollisionen bedarf es überhaupt der Untersuchung, ob das Prinzip des Anwendungsvorrangs auch hinsichtlich des materiellen Kriminalstrafrechts uneingeschränkte Gel-
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht
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tung beanspruchen kann, oder es in diesem Bereich einer Modifikation der zuvor entwickelten allgemeinen Kollisionssystematik bedarf. Allgemein sind Normwidersprüche zwischen nationalem Strafrecht und Gemeinschaftsrecht in verschiedenen Gestaltungen denkbar, die vom Regelungsgehalt des Gemeinschaftsrechts bestimmt werden. So kann das Gemeinschaftsrecht absolute Vorgaben enthalten, so dass jegliche nationale Abweichung einen Widerspruch auslöst. Daneben ist die Etablierung flexibler Vorgaben denkbar, nämlich die Normierung von Mindesterfordernissen einerseits, so dass allein deren Unterschreiten einen Widerspruch begründet sowie von Obergrenzen andererseits, die nur im Falle des Überschreitens verletzt werden. Diese Differenzierung der gemeinschaftlichen Vorgaben prägt die folgende Analyse, so dass rein nationales Strafrecht von sog. Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft zu scheiden ist47. Diese Unterscheidung ist Ausdruck einer divergierenden Interessenlage der Gemeinschaft, die unterschiedliche Vorgaben zur Folge hat. Rein national ist das Strafrecht in diesem Sinne, wenn und soweit die Schutzrichtung des Straftatbestands allein auf ein rein nationales Rechtsgut oder ein rein nationales Interesse gerichtet ist. Die Gemeinschaft besitzt in diesem Bereich kein eigenes Interesse am Schutz innerstaatlicher Rechtsgüter oder mitgliedstaatlicher Interessen. Bereits aus dieser allgemeinen Vorüberlegung folgt, dass das Gemeinschaftsrecht insoweit keine Mindestvorgaben enthalten wird. Es kann hier einzig um die genaue Definition gemeinschaftsrechtlicher Obergrenzen gehen. Andererseits wurde einleitend festgestellt, dass den Gemeinschaftsorganen keine Kompetenz zur Setzung von supranationalem Kriminalstrafrecht zukommt. Dennoch kann es um der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts willen erforderlich sein, gemeinschaftsrechtliche Rechtsgüter und Interessen mittels kriminalstrafrechtlicher Normen zu bewehren, so dass sich das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Kriminalstrafrecht bedienen muss. Das deutsche Kriminalstrafrecht stünde dann im Dienste der Gemeinschaft. Kriminalstrafrecht wird deshalb nachfolgend als im Dienste der Gemeinschaft stehend bezeichnet, wenn es von vornherein bezweckt, ein Rechtsgut oder Interesse der Gemeinschaft zu schützen und/oder mit ihm inhaltlich ein gemeinschaftsrechtlicher Handlungs- oder Unterlassungsbefehl verwirklicht wird. Hier hat die Gemeinschaft also ein eigenes Interesse am Schutz der Rechtsgüter bzw. der Durchsetzung ihrer Normen, so dass neben die Obergrenzen Mindesterfordernisse treten könnten, deren Existenz und Inhalt es nachzuweisen gilt. Richten sich die Vorgaben gerade in dieser dienenden Funktion des Kriminalstrafrechts auf den ersten Blick primär an den Straf47
Vgl. zu dieser Unterscheidung bereits Gröblinghoff, S. 9; Satzger, S. 295.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
gesetzgeber, so wird zu zeigen sein, dass sie auch für den Strafrechtsanwender von Bedeutung sind.
I. Rein nationales Kriminalstrafrecht Der klassische Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Recht ist der einer Obergrenze. Dies hängt mit dem Umstand zusammen, dass das Gemeinschaftsrecht auf den ersten Blick durch den Grundgedanken des Binnenmarkts determiniert ist und deshalb Freiheitsgewährleistungen, also Abwehrrechte gegen nationalstaatliche Beschränkungen enthält. Es etabliert Vorgaben, ob und inwieweit Beschränkungen zulässig sind. So verstanden fungiert das Gemeinschaftsrecht als Obergrenze. Derartige Maximalvorgaben können sowohl dem Primärrecht als auch dem Sekundärrecht entstammen. In beiden Fällen kommt es entsprechend der allgemeinen Kollisionssystematik entscheidend auf eine saubere Bestimmung der Gewährleistungsgehalte durch den Strafrechtsanwender an. Die nachfolgende Darstellung bemüht sich deshalb im Wege der Systematisierung den Inhalt und damit die Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen sowie nationalen Gewährleistungen zu erhellen. Diese Strukturierung wird zeigen, dass sich die Rechtsprechung des EuGH auch im Bereich des Kriminalstrafrechts in das gemeinschaftsrechtliche System einordnen lässt, und es gerade keiner Sonderbehandlung des Kriminalstrafrechts unter dem Gemeinschaftsrecht bedarf. 1. Kollisionen zwischen Strafrecht und Primärrecht am Beispiel der Grundfreiheiten Betrachtet man das primäre Gemeinschaftsrecht, so ergingen wesentliche Entscheidungen im Bereich des Kriminalstrafrechts zu den Grundfreiheiten48, denen angesichts ihrer Individualgewährleistungen zudem eine hervorgehobene Bedeutung zukommt. Ihr Gewährleistungsinhalt ist rechtlich vollkommen, unbedingt und oktroyiert den Mitgliedstaaten Pflichten. Die Grundfreiheiten genießen damit unmittelbare Anwendbarkeit in den Mitgliedstaaten49 und sind somit grundsätzlich geeignet, Kollisionen mit nationalem Recht, also auch dem Kriminalstrafrecht auszulösen. Die folgende Analyse beschränkt sich um der Übersichtlichkeit willen daher im Wesent48 Hinzuweisen ist z. B. auf die beiden für die Dogmatik der Grundfreiheiten grundlegenden Entscheidungen in EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 „Staatsanwaltschaft gegen Benoit und Gustave Dassonville“ und Verb. Rs. C-267 u. C-268/91, Slg. 1993, I-6097 „Strafverfahren gegen Bernard Keck und Daniel Mithouard“, die aus nationalen Strafverfahren hervorgingen und auf die später noch genauer einzugehen sein wird. 49 Vgl. stellvertretend für die allgemeine Meinung Streinz, Europarecht Rn. 705.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht
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lichen auf grundfreiheitliche Beispiele50. Die Grundzüge dieser Kollisionsanalyse lassen sich aber unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten auf das übrige unmittelbar anwendbare Primärrecht übertragen. Im Einklang mit dem Erfordernis, die potentiell kollidierenden Regelungsgehalte genau zu definieren, soll nachfolgend versucht werden, eine gemeinsame Dogmatik der Gewährleistungsgehalte der Grundfreiheiten auf der Basis der EuGH-Rechtsprechung zu ermitteln. Die Auswirkung dieser Dogmatik insgesamt, aber insbesondere auch im Bereich des Kriminalstrafrechts soll dabei analysiert und gegebenenfalls einer eigenen Lösung zugeführt werden. Während es sich z. T. bereits bei der Entwicklung einer gemeinsamen Dogmatik anbietet, auf strafrechtliche Beispiele einzugehen, gebietet gerade die Interdependenz von Schutzbereich und Rechtfertigung sowie Verhältnismäßigkeitsprinzip, Beispiele, die diesen Bereich betreffen, erst im Anschluss an die Entwicklung einer eigenen Dogmatik kritisch zu würdigen. a) Die Entwicklung einer eigenen Dogmatik der Grundfreiheiten vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH Prüft der EuGH regelmäßig nur, ob eine „Verletzung“ der Grundfreiheit vorliegt, so ist dies für eine Dogmatisierung der Grundfreiheitsprüfung wenig hilfreich und führt zu Unklarheiten hinsichtlich des Gewährleistungsinhalts der Freiheiten. Dem hier verfolgten Ansatz erscheint es daher angemessen, eine in der Literatur weit verbreitete und aus der deutschen Grundrechtsprüfung bekannte dreigliedrige Prüfung durchzuführen. Dabei ist zunächst positiv der Schutzbereich der Grundfreiheit zu definieren, welcher den gegen staatliche Eingriffe geschützten Lebensbereich meint51. Ermittelt man auf zweiter Stufe eine Beeinträchtigung dieses Schutzbereichs, in dem Sinne, dass ein vom Schutzbereich erfasstes Verhalten verwehrt wird, so zeigt bereits diese Definition die Interdependenz der Begriffe. Im Ausgangspunkt gilt daher, je weiter der Schutz reicht, desto mehr Handeln erscheint als Eingriff und umgekehrt. Für die weitere Betrachtung ist daher stets zu berücksichtigen, dass aus einem weiten Schutzbereich regelmäßig auch ein weitreichender Rechtfertigungszwang der nationalen Regelungen folgt. Wichtig erscheint, bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass viele Interpreten versuchen, einen solchen, zunächst weitreichenden Gewährleistungsgehalt durch das Einfügen zusätzlicher Kriterien zu korrigie50 An einigen Stellen wird aber exemplarisch auf Kollisionen mit anderen gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistungen eingegangen, um die Übertragbarkeit der Grundsätze zu illustrieren. 51 So für die deutsche Grundrechtsdogmatik: Pieroth/Schlink, Rn. 212.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
ren. Es steht zu vermuten, dass der Leser dabei weitgehend bewusst im Unklaren gelassen wird, um zu verschleiern, dass es bei jenen Eingrenzungsversuchen regelmäßig darum geht, dem Rechtfertigungszwang und einer unliebsamen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu entgehen. Ob bei diesem Vorgehen auf der Schutzbereichs- oder Eingriffsebene angesetzt wird, ist angesichts der wechselseitigen Abhängigkeit der Begriffe unerheblich. Der Entwicklung klarer, vorhersehbarer Grundfreiheitsgehalte als Voraussetzung überzeugender Kollisionsbestimmungen sind solche Versuche, insbesondere wenn sie die wahre Absicht verschleiern, indes eher abträglich. Gelangt man trotz der dargestellten zielorientierten Kunstgriffe zu einer Beeinträchtigung des Schutzbereichs, so stellt sich die Frage, ob ein solcher Eingriff zu rechtfertigen ist. An dieser Stelle werden dann die Grundfreiheit und das die Beeinträchtigung motivierende nationale Schutzgut zunächst abstrakt gegenübergestellt, um dann auf der Ebene der Schranken-Schranken im Rahmen der Verhältnismäßigkeit konkret gegeneinander abgewogen zu werden. aa) Schutzbereich (1) Räumlicher Schutzbereich Art. 299 EG beschränkt die räumliche Geltung52 des Vertrages grundsätzlich auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten. Im Übrigen bedarf es eines hinreichend engen Bezuges zum Gebiet der Gemeinschaft, z. B. dadurch dass ein Rechtsverhältnis zumindest teilweise den Vorschriften eines Mitgliedstaates unterliegt53. Mögen auch alle übrigen Voraussetzungen der Grundfreiheit gegeben sein, fehlt es an der Eröffnung dieses räumlichen Schutzbereichs, kann sich der Rechtsunterworfene im konkreten Fall nicht auf die Grundfreiheit berufen, so dass bereits deshalb keine Kollision zum nationalen Kriminalstrafrecht entstehen kann, welche einer Lösung über den Anwendungsvorrang bedürfte. (2) Personeller Schutzbereich Die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 ff. EG sowie Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit (Art. 43 ff. und 49 ff. EG) knüpfen den per52 Ausführlich Brechmann, in: Callies/Ruffert, Art. 39 EG Rn. 7; Randelzhofer/ Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 7 ff.; Lackhoff, S. 198 ff. 53 EuGH, Rs. C-214/94, Slg. 1996, I-2253 „Boukhalfa ./. Bundesrepublik Deutschland“, wo es um eine belgische Staatsangehörige in der deutschen Botschaft in Algier (Algerien) ging; vgl. auch Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 „Walrave“.
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sonellen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zumindest dem Grunde nach an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union. Während diese Voraussetzung für die Dienst- und Niederlassungsfreiheit bereits aus dem Wortlaut der Art. 43 und 49 EG folgt, hat der EuGH dieses Verständnis auf Art. 39 EG übertragen. In der Rs. Awoyemi54 lehnte der Gerichtshof die Überprüfung einer strafrechtlichen Sanktion wegen Verletzung der Umtauschpflicht von Führerscheinen bereits deshalb ab, weil Nigerianer sich als Drittstaatsangehörige nicht auf die vertraglich garantierte Freizügigkeit berufen können. Die nationale Strafnorm konnte in jenem Fall daher nicht mit der Grundfreiheit kollidieren, weil der Rechtsunterworfene sich bereits in personeller Hinsicht nicht auf Art. 39 EG berufen konnte. Einer Kollisionsnorm bedurfte es nicht. Problematisch ist aber der personelle Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit. Zwar normiert Art. 23 II EG, dass Art. 28 EG auf Waren Anwendung findet, die aus den Mitgliedstaaten stammen55 sowie auf diejenigen aus dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Gem. Art. 24 EG gelten als im freien Verkehr befindlich, diejenigen Drittstaatswaren, für die in dem betreffenden Mitgliedstaat die EinfuhrFörmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind. Dies ist jedoch eine Frage des sachlichen Schutzbereichs. Eine den anderen Grundfreiheiten entsprechende ausdrückliche Beschränkung des personellen Schutzbereichs existiert nicht, so dass auch Drittstaatler, die mit Waren i. S. d. Art. 23 II EG, z. B. bei Montage des Produkts handeln, von der Warenverkehrsfreiheit erfasst werden. Damit gelangen Elemente der Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit in den Gewährleistungsgehalt des Art. 28 EG, die ohne die begleitenden Personenverkehrsfreiheiten oft nicht effektiv ausgeübt werden könnten56. Dem vergleichbar hängt die Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 56 I EG nicht von der Staatsangehörigkeit der Begünstigten oder der Ansässigkeit in einem Mitgliedstaat ab. Es genügt eine innergemeinschaftliche Kapitalverschiebung als Bezugspunkt57. 54 EuGH, Rs. C-230/97, Slg. 1998, I-6781 „Strafverfahren gegen Ibiyinka Awoyemi“; so die ganz h. M., vgl. Wölker, in: GTE, Vorbem. zu den Art. 48 bis 59 EGV Rn. 41; Dauses, Handbuch, D I Rn. 17. 55 Vgl. die Ursprungsregeln in Art. 22–27 VO 2913/92 v. 12.10.1992, ABl. 1992 Nr. L 302/1. 56 In diesem Sinne die h. M.: Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Handbuch, B.I. Rn. 118; Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 296 f.; Jarass, EuR 30 (1995), 202, 208; ders., EuR 35 (2000), 705, 708; dagegen: Kingreen/Störmer EuR 33 (1998), 263, 274 ff. Beschränkung auf Unionsbürger unter Hinweis auf Art. 310 EG und die Konvergenz der Grundfreiheiten.
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Drittstaatsangehörige können zudem Rechte von Familienangehörigen ableiten, die Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats sind58. Zu beachten sind außerdem die Rechte, die Angehörigen von Drittstaaten aufgrund von sog. Assoziierungsabkommen nach Art. 310 EG verliehen werden. Hinzuweisen ist noch auf Art. 48, 55 EG, die die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auf Gesellschaften59 erstrecken. Für die Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit gilt dies nach obigen Ausführungen ohnehin. Zu Art. 39 EG führt der EuGH aus, der Norm sei „kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass sich nicht auch andere Personen, insbesondere Arbeitgeber, auf sie berufen könnten“60, was mit dem Wortlaut allerdings nur schwer vereinbar ist. (3) Sachlicher Schutzbereich Hinsichtlich des sachlichen Schutzbereichs besteht weitgehende Einigkeit insoweit, dass rein innerstaatliche Sachverhalte bereits nicht vom Anwendungsbereich der Grundfreiheiten erfasst sind. Die Grundfreiheiten sind Instrumente zur Verwirklichung des Binnenmarktes, dessen Zielrichtung auf die Herstellung der Marktfreiheit geht. Diese ist durch den in Art. 14 II EG beschriebenen Grenzbezug gekennzeichnet und bezweckt daher die Abschaffung aller grenzübertrittsspezifischen Behinderungen61. In der Rs. Vera Ann Saunders62 wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die durch ein englisches Gericht wegen Diebstahls gegen eine englische Staatsangehörige verhängte Auflage, sich für einen gewissen Zeitraum nach Nordirland zu begeben und nicht nach England oder Wales zurückzukehren, gegen Art. 48 EWG (jetzt: Art. 39 EG) verstößt. Der Gerichtshof entschied: „Verhängt eine Behörde oder ein Gericht eines Mitgliedstaats gegen einen Arbeitnehmer, der Angehöriger dieses Mitgliedstaats ist, im Rahmen einer im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Strafsanktion aufgrund von in dem Hoheitsgebiet dieses Staats begangener Straftaten Maßnahmen, die das Recht des Betroffenen, 57
Vgl. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Art. 56 EGV Rn. 73. Vgl. dazu insbesondere die VO 1612/68. 59 Legaldefinition in Art. 48 II EG. 60 EuGH, Rs. C-350/96, Slg. 1998, I-2521, 2545 „Clean Car Autoservice“. 61 Vgl. zu den spezifischen Problemen und der weiterführenden Bedeutung jenes Kriteriums noch unten 1. Teil C. I. 1. a) bb) (3) u. (4). In diesem Kontext vgl. die ganz h. M.: Hoffmann, S. 41 ff. m. w. N.; a. A.: Epiney, in: Callies/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 33; Lackhoff, S. 90 ff.; Nachbaur, Niederlassungsfreiheit, S. 122 ff.: Art. 14 II EG fordere einen „grenzenlosen Markt“, so dass Grenzüberschreitung kein Tatbestandsmerkmal der Freiheiten mehr sein könne. 62 EuGH, Rs. 175/78, Slg. 1979, 1129, 1135 „Saunders“; vgl. auch Rs. 52/79, Slg. 1980, 833 „Strafverfahren gegen Marc J.V.C. Debauve u. a.“. 58
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sich im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats frei zu bewegen, aufheben oder einschränken, so handelt es sich um einen rein internen, dem Anwendungsbereich der Vorschriften des Vertrages über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht zugehörigen Sachverhalt.“
Dem zu beurteilenden Sachverhalt fehlte jeglicher transnationaler Gehalt, so dass der EuGH das nationale Recht nicht an den Grundfreiheiten maß, die im Hinblick auf solche internen Sachverhalte keine Aussagen enthalten und damit sachlich nicht anwendbar waren. Dieses Ergebnis wurde in der Rs. Aubertin63 bestätigt und entschieden, dass eine strafbedrohte Verhaltensnorm, die die Ausübung des Friseurberufs ohne Diplom verbietet, nicht in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages fällt, soweit sie nur Franzosen betrifft, die sich nicht in einer „gemeinschaftsrechtlichen Situation“ befinden. Die Grundfreiheiten schützen jedoch nicht die gesamte grenzüberschreitende wirtschaftliche Handlungsfreiheit, sondern jeweils nur bestimmte Ausschnitte, die durch die sachlichen Vorgaben im Vertragstext bestimmt werden. So werden der Handel und Vertrieb von Waren, die Erbringung von entgeltlichen Dienstleistungen, die Niederlassung, die Aufnahme oder die Ausübung einer Erwerbstätigkeit sowie die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft gewährleistet64. Die Bedeutung der Bindung an wirtschaftliche Tätigkeiten hat aber deutlich an Relevanz eingebüßt, denn zum einen erkannte die Rechtsprechung die sog. passiven Freiheiten an, wonach z. B. die Dienstleistungsfreiheit auch das Recht einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben65. Im Ergebnis sind damit auch Touristen erfasst, da völlige wirtschaftliche Neutralität nach der Einreise kaum denkbar ist. Zudem hat die Unionsbürgerschaft (Art. 17 EG) zu einer erheblichen Ausweitung der gemeinschaftlichen Berechtigungen geführt. Herauszustellen sind dabei die Reisefreiheit und das Aufenthaltsrecht unabhängig von einer wirtschaftlichen Betätigung, jedoch vorbehaltlich besonderer Bestimmungen66 (Art. 18 EG) und das Wahlrecht (Art. 19 EG). Dennoch behalten die wirtschaftlich bestimmten Differenzierungen ihre Bedeutung, zum einen, soweit es nicht nur um die Aufenthalts- und Bewegungsfreiheit, sondern die wirtschaftliche Betätigung geht, zum anderen, 63
EuGH, Rs. C-29-35/94, Slg. 1995, I-301 „Aubertin“. Ausführlich zu den einzelnen Inhalten der Begriffe Streinz, Europarecht Rn. 711 ff. 65 Vgl. EuGH, Rs. 286/82 u. 26/83, Slg. 1984, 377 „Luisi und Carbone“; Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“; Rs. C-45/93, Slg. 1994, I-911, 918 ff. „Kommission ./. Spanien“. 66 Wichtig ist z. B. der Vorbehalt der Nichtabhängigkeit von Sozialhilfe, Art. 1 I RL 90/364 über das Aufenthaltsrecht, v. 28. Juni 1990, ABlEG Nr. L 180/26. 64
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weil die Rechtsposition der durch Berufstätigkeit begründeten Aufenthaltsberechtigung geringeren Vorbehalten unterliegt67. Letztlich sind bereits auf der Tatbestandsebene die sog. Bereichsausnahmen der Art. 39 IV EG für die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ und Art. 45 EG (ggf. i. V. m. Art. 55 EG) „für Tätigkeiten, die dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind“ zu beachten68. Die Verortung an dieser Stelle ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, der die Nichtanwendung der Grundfreiheiten anordnet. Daneben begründet sie sich aus der absoluten Geltung, d.h. sie sind anders als die Rechtfertigungsgründe keiner Abwägung mit anderen Rechtsgütern zugänglich. Zudem wurden sie systematisch von den Rechtfertigungsgründen getrennt69, so dass sie der Tatbestandsebene zuzuordnen sind. bb) Beeinträchtigung des Schutzbereichs Nach der Definition der schutzbereichsrelevanten Lebenssachverhalte, kann sich auf zweiter Stufe der beeinträchtigenden Maßnahme zugewandt werden. Fraglich ist, welche Qualität z. B. eine mitgliedstaatliche Strafnorm aufweisen muss, um als Beeinträchtigung des grundfreiheitlichen Schutzbereichs angesehen werden zu können. (1) Herkömmliches Verständnis der Grundfreiheiten: Entwicklung vom Diskriminierungs- zum Beschränkungsverbot Wie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG lassen auch die vier Grundfreiheiten bereits aus dem Wortlaut ein Diskriminierungsverbot bzw. genauer ein Gebot der Inländerbehandlung erkennen70. Verboten sind dabei zunächst offene71 Diskriminierungen, d.h. solche die bereits tatbestandlich an die Staatsangehörigkeit anknüpfen72. Darüber hinaus existieren auch sog. versteckte73 Diskriminierungen, nämlich Beschränkungen, die zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, aber ausschließlich 67
Vgl. Streinz, Europarecht Rn. 655. Vgl. zum Inhalt der Begrifflichkeiten umfassend Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 39 EGV Rn. 216 ff. und Art. 45 EGV Rn. 6 ff. jeweils m. w. N. 69 Vgl. zur Einordnung auf der Tatbestandsebene Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 46; Streinz, Europarecht Rn. 697; a. A. Zuordnung zur Rechtfertigungsebene: Jarass, EuR 30 (1995), 202, 221 f.; ders., EuR 35 (2000), 705, 716 f. 70 Vgl. Art. 30 S. 2, 39 II, 43 II, 50 III, 58 III EG. Die Begriffe werden nachfolgend synonym gebraucht. 71 Häufig auch als „direkte“ Diskriminierung bezeichnet. 72 Vgl. EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 ff. „Walrave“. 68
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oder vorwiegend Ausländer benachteiligen74. Damit das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot nicht leer läuft, gilt ein materieller Maßstab. Es wird mithin ein horizontaler Vergleich zwischen inländischem und grenzüberschreitendem Sachverhalt vorgenommen und geprüft, ob diese vergleichbar und ggf. gefundene Ungleichbehandlungen rechtfertigungsfähig sind. Die Rechtswidrigkeit einer Maßnahme ergibt sich also nicht aus der Intensität einer Belastung, sondern aus der Ungleichheit ihrer Auferlegung75. Über jenes Gebot der Inländergleichbehandlung hinaus gelangte der EuGH aber zu der Überzeugung, dass auch unterschiedslose, d.h. nicht zwischen In- und Ausländern bzw. in- und ausländischen Waren differenzierende Maßnahmen den freien Waren- und Personenverkehr erheblich erschweren oder gar unmöglich machen können. Dementsprechend sah er sich veranlasst, den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten auf jene Belastungen auszuweiten. Diese Rechtsprechung nahm ihren Ausgangspunkt in der Rs. Staatsanwaltschaft gegen Benoit und Gustave Dassonville76. In einem belgischen Strafverfahren wurde Händlern vorgeworfen, gegen belgisches Recht verstoßen zu haben, weil sie einen Posten bereits in Frankreich im freien Verkehr befindlichen Posten Scotch Whisky nach Belgien eingeführt hatten, ohne im Besitz einer Ursprungsbezeichnung der britischen Behörden gewesen zu sein. Das Tribunal de première instance legte dem EuGH Fragen zur Vereinbarkeit dieser belgischen Anforderung mit der Warenverkehrsfreiheit vor. Der EuGH entschied in seiner grundlegenden Passage: „Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen.“77
Gegenstand dieser Rechtssache war bei genauer Betrachtung zwar eine materiell diskriminierende Regelung78, doch wurde die Entscheidung all73 Häufig auch als „verdeckte“, „materielle“, „faktische“, „verschleierte“ oder „indirekte“ Diskriminierung bezeichnet. 74 Vgl. zum Begriff z. B. Bleckmann, Europarecht Rn. 1744 m. w. N. 75 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 39. 76 EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 „Staatsanwaltschaft gegen Benoit und Gustave Dassonville“. 77 EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837, 852 „Staatsanwaltschaft gegen Benoit und Gustave Dassonville“. 78 Vgl. die komparativen Ausführungen in EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837, 853 „Staatsanwaltschaft gegen Benoit und Gustave Dassonville“: „Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn ein Mitgliedstaat den Nachweis des Ursprungs eines Erzeugnisses an Formalitäten knüpft, denen ohne ernstliche Schwierigkeiten zu genügen praktisch allein die Direktimporteure in der Lage sind.“
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gemein als Hinwendung des EuGH zu einem freiheitsrechtlichen Verständnis der Warenverkehrsfreiheit als allgemeines Beschränkungsverbot gedeutet, welches auch unterschiedslos geltende Maßnahmen erfasst79. Bereits die Rs. Van Binsbergen80 kann als Übertragung dieser Grundsätze auf die Dienstleistungsfreiheit angesehen werden81, so dass auch Art. 49 EG über diskriminierende Maßnahmen hinaus alle „Beschränkungen, die in anderer Weise geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu unterbinden oder zu beschränken“, verbietet. Auch für den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird dieses weite Verständnis jedenfalls seit der Rs. Bosman82 von der h. M. vertreten83. Desgleichen habe der EuGH84 in mehreren Urteilen nicht diskriminierende Maßnahmen an der Niederlassungsfreiheit gemessen, so dass jedenfalls dem Grunde nach auch in dieser Gewährleistung ein allgemeines Beschränkungsverbot erblickt wird85. Die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit war bereits seit dem Vertrag von Maastricht textlich neutral formuliert und verbot alle Beschränkungen. Jedenfalls seit dem Amsterdamer Vertrag knüpfen auch die anderen Grundfreiheiten nicht mehr ausdrücklich an Diskriminierungen an86. Als Folge dieses freiheitsrechtlichen Verständnisses, mit dem sich der EuGH die Möglichkeit eröffnete, sämtliche nationalen Maßnahmen an den Grundfreiheiten zu überprüfen, sah er sich zunehmend mit Regelungen konfrontiert, die nicht im mindesten einen Bezug zum innergemeinschaftlichen Verkehr der Produkte bzw. der Produktionsfaktoren aufwiesen. Die Grundfreiheiten gerieten damit in die Gefahr, in Freiheitsbereiche vorzudringen, die originär den nationalen Grundrechten vorbehalten waren. Es folgte des79 Vgl. Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Rn. 744; Schweitzer/Hummer, Rn. 1116; Streinz, Europarecht Rn. 731. 80 EuGH, Rs. 33/74, Slg. 1974, 1299 „van Binsbergen“. 81 So die h. M.: Ehlers, NVwZ 1990, 810, 811; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 49/50 EGV Rn. 54; Kort, JZ 1996, 132, 135; Hakenberg, in: Lenz, Art. 60 EG Rn. 19, 27 ff.; Schweitzer/Hummer, Rn. 1192; Streinz, Europarecht Rn. 671; Speyer, EuZW 1991, 588, 589 f. 82 EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 „Bosman“. 83 Brechmann, in: Callies/Ruffert, Art. 39 EG Rn. 48; Fischer, Europarecht, § 15 Rn. 14; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 39 EGV Rn. 164; Schweitzer/ Hummer, Rn. 1158; Streinz, Europarecht Rn. 671. 84 EuGH, Rs. 71/76, Slg. 1977, 765 „Thieffry“; Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357 „Vlassopoulou“; Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 „Gebhard“; Rs. C-250/95, Slg. 1997, I-2471 „Futura Participations“. 85 Ebenso die h. M.: Fischer, Europarecht, § 16 Rn. 12 ff.; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 43 EGV Rn. 83; Schweitzer/Hummer, Rn. 1175; Streinz, Europarecht Rn. 671. 86 Inhaltlich ist mit dieser Feststellung indes noch nichts gewonnen, denn es gilt, auch den gemeinschaftsrechtlichen Begriff der „Beschränkung“ zu interpretieren.
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halb eine Vielzahl von Urteilen, in denen der Gerichtshof unter Heranziehung verschiedenster, z. T. widersprüchlicher Kriterien das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung tatbestandlich ablehnte87. Zunehmend wurde Kritik und der Ruf nach grundsätzlicher Klarstellung laut, so dass der EuGH in seinem Urteil in der Rs. Strafverfahren gegen Bernard Keck und Daniel Mithouard 88 ausführte: „[. . .] die Wirtschaftsteilnehmer (berufen sich) immer häufiger auf Art. 30 EWGVertrag (Art. 28 EG) [. . .], um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist, [. . .] Demgegenüber ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne (des Urteils in der Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 ‚Dassonville‘) unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen nämlich erfüllt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut.“
Der EuGH reagierte mit dieser Entscheidung auf die Kritik und die Unsicherheiten infolge seiner Dassonville-Rechtsprechung und reduzierte den Gewährleistungsgehalt der Warenverkehrsfreiheit jedenfalls für Verkaufsmodalitäten wieder auf ein Diskriminierungsverbot. Stand dies für die Warenverkehrsfreiheit seit der Keck-Entscheidung fest, so sprach bereits die Konvergenz der Grundfreiheiten für eine Übertragung dieser Reduzierung auf die übrigen Grundfreiheiten89. Folgerichtig sah der EuGH auch bei den anderen Grundfreiheiten bestimmte Bereiche als bereits nicht durch den Anwendungsbereich erfasst an90. Allgemein wird die Rechtsprechung aber 87 Vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 EGV Rn. 27; GA Tesauro, in: EuGH, Rs. C-292/92, Slg. 1993, I-6787, 6800 „Hünermund“. 88 EuGH, verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91, Slg. 1993, I-6097 „Strafverfahren gegen Bernard Keck und Daniel Mithouard“; seitdem st. Rspr. 89 Everling, Knobbe-Keuk-GS, S. 607, 621; vor dem Keck-Urteil sprach die Konvergenz noch für ein umfassendes Beschränkungsverbot, vgl. Behrens, EuR 27 (1992), 145, 148 ff. 90 Beachtlich sind allerdings die von der Keck-Rechtsprechung divergierenden Begründungen: EuGH, Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141, 1176 ff. „Alpine Investments“ (Dienstleistungsfreiheit); Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, 5070 „Bosman“
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trotz dargestellter Einschränkungen dahingehend interpretiert, dass der EuGH die Grundfreiheiten grundsätzlich weiterhin als allgemeine Beschränkungsverbote versteht91. Es erscheint aber unabdingbar bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof seinen Diskriminierungsbegriff regelmäßig nicht offen legt92 und seine Rechtsprechung schon deshalb kaum einer sicheren Interpretation zugänglich ist. Viele seiner Urteile, die zum Beleg für die Geltung eines Beschränkungsverbots angeführt werden, wären auch über ein gleichheitsrechtliches Verständnis angemessen zu lösen gewesen93. (2) Konsequenzen der freiheitsrechtlichen Interpretation und Lösungsansätze in der Literatur Basierte der gleichheitsrechtliche Ausgangspunkt immer auf horizontalen Vergleichen zu den innerstaatlichen Sachverhalten, so vollzog die Einbeziehung unterschiedsloser Maßnahmen einen Wandel der Grundfreiheiten zu Freiheitsgewährleistungen. Es wird nunmehr lediglich vertikal die Betroffenheit eines Rechtssubjekts durch die staatliche Maßnahme geprüft, während der horizontale Vergleich zu den innerstaatlichen Sachverhalten aufgegeben wurde. Der Eingriff hängt damit nur von der Intensität einer mitgliedstaatlichen Maßnahme ab, nicht dagegen von der Frage, ob Inländer der gleichen Belastung unterliegen. Es wird die sachliche Rechtfertigung, insbesondere die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs, gelöst von einem nationalen Vergleichstatbestand erörtert. Unterlässt man aber jenen Vergleich, so führt dies zur Ausdehnung der sog. Inländerdiskriminierungen, da die Grundfreiheiten nur den grenzüberschreitend Tätigen begünstigen, obwohl er sich bereits in der gleichen Lage befinden kann wie ein Inländer. Die ausgedehnte Funktion der Grundfreiheiten als Freiheitsrechte führt damit unter dem Deckmantel der Beseitigung von Wettbewerbsbeeinträchtigungen zu Wettbewerbsnachteilen der Inländer. EG-Ausländer werden ohne sachliche Berechtigung zum Nachteil der Inländer begünstigt. Darüber hinaus wären sämtliche mitgliedstaatliche Normen des nationalen Wirtschaftsrechts, aber auch andere Bereiche wie das Sozial-, Steuerrecht geeignet, sobald ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt, potentiell den Handel zu beeinträchtigen. Damit geräten letztlich auch die bewehren(Freizügigkeit); Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835, 2860 „Pfeiffer“ (Niederlassungsfreiheit). 91 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-126/91, Slg. 1993, I-2361, 2388 „Yves Rocher“ zum deutschen Verbot der Preisgegenüberstellung aus § 6e UWG. 92 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 94. 93 Vgl. dazu Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 40 ff.
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den Strafnormen unabhängig von der Frage, ob sie EG-Ausländer benachteiligen oder nicht, in den Einflussbereich der Grundfreiheiten. Es existiert schließlich keine Bereichsausnahme des Kriminalstrafrechts, welche dem Gemeinschaftsrecht eine Einflussnahme auf diesem Gebiet verwehrte. In der Konsequenz hätte der Gerichtshof sogar über die angemessene Höhe der Freiheitsstrafe für Mord zu judizieren, wenn die Straftat in einer grenzüberschreitenden Situation begangen werden würde. Ein derart weitreichendes Verständnis wird, soweit ersichtlich, von niemandem vertreten94. Weitgehende Einigkeit besteht deshalb, dass nicht jegliche staatliche Maßnahme, welche die Wahrnehmung der Freiheiten potentiell behindert, am Beschränkungsverbot zu messen ist, da ein unumschränkt geltendes Beschränkungsverbot sämtliche mitgliedstaatlichen Vorschriften erfassen und unter einen gemeinschaftlichen Rechtfertigungszwang setzen könnte95. Die Literatur versucht, allerdings dem Grunde nach an einem Beschränkungsverbot festhaltend, in Anlehnung an die Keck-Rechtsprechung in Teilbereichen eine Reduzierung der Grundfreiheiten voranzutreiben. Dabei wurde eine Vielzahl von unterschiedlichen Kriterien96 eingeführt, so dass eine abschließende Darstellung an dieser Stelle nicht möglich und angesichts der Unübersichtlichkeit wenig ertragreich erscheint. Die nachfolgende Aufzählung beschränkt sich deshalb auf die am häufigsten anzutreffenden Eingrenzungsversuche97. Die Vorgehensweise Satzgers98, der auf zweiter Stufe ansetzt und den Geltungsbereich des Vorrangprinzips durch die Differenzierung direkte/indirekte Kollision reduziert, ohne sich zuvor hinreichend mit der Prämisse einer Kollision und der damit einhergehenden vorausgesetzten Definition der potentiell kollidierenden Gewährleistungen auseinandergesetzt zu haben, wurde bereits als dogmatisch nicht vertretbarer, zielorientierter und unbestimmter Kunstgriff abgelehnt. Die herrschende Meinung in der Literatur setzt dagegen zumindest dogmatisch vertretbar bei der Definition der potentiell kollidierenden Grundfreiheiten an und reduziert deren Gewährleistungsgehalte. So unterscheiden viele Autoren in Anlehnung an die Terminologie in der Keck-Entscheidung 94
Satzger, S. 318. Jarass, EuR 35 (2000), 705, 711; Roth, Knobbe-Keuk-GS, 729, 736 ff.; Everling, Knobbe-Keuk-GS, 607, 619 ff.; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 87 m. w. N. und Rn. 91; a. A. gegen derartige Versuche der Einschränkung: v. Wilmowsky, EuR 31 (1996), 362 ff.; Lackhoff, S. 392, 442, 443, der eine Rechtfertigungslösung befürwortet. 96 Vgl. dazu z. B. Lackhoff, S. 392–442 m. w. N. 97 Auf weitere Kriterien wird später hinsichtlich einzelner Kollisionskonstellationen noch einzugehen sein. 98 Satzger, S. 478 ff. 95
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nach produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen99, während andere Interpreten solche nationalen Maßnahmen nicht an den Grundfreiheiten messen wollen, deren Auswirkungen bloß mittelbarer oder ungewisser Natur seien100. Die Unterscheidung produkt-/vertriebsbezogene Regelung kann nur von begrenzter Tauglichkeit sein, haftet sie doch zu sehr an einer formalen Abgrenzung. So hat auch der EuGH in späteren Entscheidungen dieser Differenzierung lediglich indizielle Bedeutung beigemessen. Das Kriterium mittelbarer Relevanz widerspricht der Dassonville-Formel, die gerade auch mittelbare Behinderungen als grundfreiheitsrelevant einordnet. Interessante Gesichtspunkte berührt dagegen die in der Literatur häufig anzutreffende Unterscheidung zwischen Produkt- und Faktormobilität101. Bei der Waren- und Dienstleistungsfreiheit102 ginge es um die Mobilität des Produkts, während Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit die Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit quasi als Vorstufe betreffen103. Aufgrund dieser Differenzierung wird eine unterschiedliche Reichweite in dem Sinne postuliert, dass für die Produktmobilität grundsätzlich ein umfassendes Beschränkungsverbot gelten soll, während hinsichtlich der Faktormobilität zu differenzieren sei. Derjenige, der sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlasse, gerate potentiell mit allen mitgliedstaatlichen Normen in Kontakt. Wolle man aber alle Vorschriften an Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit messen, erhielten die Grundfreiheiten den Gehalt umfassender Freiheitsrechte. Das Problem der umgekehrten Diskriminierungen weitete sich aus und der Differenzierung zwischen internen und grenzüberschreitenden Sachverhalten fehlte jegliche Berechtigung. Die freiheitsrechtliche Sicht der Grundfreiheiten erweise sich hier als Bumerang: Sie bewirke gerade keine Rechtsvereinheitlichung, sondern Ungleichbehandlungen. Der Niederlassungswillige treffe nämlich eine Standortwahl, welche in den Mitgliedstaaten frei sein solle, so dass alle diese Entscheidung beeinträchtigenden Regelungen einem umfassenden Beschränkungsverbot unterlägen. Darüber hinaus habe der Niederlassungswillige aber die Standortmodalitäten in seine wirtschaftliche Kalkulation einbezogen und als günstig bewertet, so dass diese nicht als Behinderung für die Faktormobilität angesehen werden könnten. Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zielten darauf ab, die Integration einer Person in eine andere mitgliedstaatliche Rechtsordnung zu ermöglichen und zu erleichtern, nicht aber die in diesem 99
Vgl. zum Ursprung, Gehalt und Problemen dieser Unterscheidung Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 EGV Rn. 18 ff. 100 Vgl. stellvertretend Reich, ZIP 1993, 1815, 1817. 101 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 103 ff. 102 Zur Einordnung als produktbezogenes Recht Troberg, in: GTE, Vorbem. Art. 59 bis 66 Rn. 20. 103 Vgl. Jarass, EuR 30 (1995), 202, 205; Streinz, Europarecht Rn. 698.
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Sinne integrierte Person dauerhaft zu privilegieren104. Werde diese Integration durch freie Standortwahl gewährleistet, genüge im Übrigen aber grundsätzlich die Inländergleichbehandlung. Denn anders als bei grenzüberschreitend erbrachten Dienstleistungen [oder Warenaustausch] habe es der auf Dauer im Aufenthaltsstaat Ansässige nicht mit potentiell unterschiedlichen Regelungen des Herkunfts- und des Empfangsstaates zu tun, die wegen doppelter Anforderungen ein Gebrauchmachen von der Grundfreiheit illusorisch machen könnten. Ihm sei es eher zuzumuten, sich der Rechtsordnung des Aufenthaltsstaats anzupassen105. Zutreffend werden die zunehmenden Inländerdiskriminierungen als problematische Folge der freiheitsrechtlichen Lesart herausgestellt. Der daraus gezogene Schluss unterschiedlicher grundfreiheitlicher Gewährleistungsgehalte überzeugt jedoch nicht. Er gründet sich auf die Annahme, wiederkehrend grenzüberschreitende Personen oder Produkte kämen im Gegensatz zu dauerhaft eingegliederten Personen nicht mit allen Regelungen in den Mitgliedstaaten in Kontakt. Diese Kategorisierung mag für eine Vielzahl von Sachverhalten zutreffen, nicht jedoch für alle. Sobald wiederkehrende Grenzgänger die Grenze bildlich gesprochen überschritten haben, befinden sie sich in der gleichen Situation wie Inländer oder diejenigen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat integrieren. Auch Produkte können dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat vertrieben werden und kommen potentiell mit allen Normen der Rechtsordnung in Kontakt. Eine Lösung, die nach Art der Grundfreiheit differenziert, ist deshalb untauglich. Dennoch lassen sich aus den vorstehenden Ausführungen wichtige Erkenntnisse für den Inhalt der Grundfreiheiten gewinnen. Kerngehalt jener Überlegungen ist nämlich die Marktöffnung. Aus dieser Überlegung darf nun aber nicht der Schluss gezogen werden, die Grundfreiheiten müssten gegenüber Regelungen, die den Zugang zum inländischen Markt behindern, als allgemeine Beschränkungsverbote gelten. Im Übrigen genügten Diskriminierungsverbote106. Diese Folgerung haftet zu sehr an der Grundannahme, auch unterschiedslose Maßnahmen könnten zu einer missbilligten Marktabschottung führen, so dass es zumindest in Teilbereichen eines freiheitsrechtlichen Verständnisses bedürfe. Wird dann versucht, den freiheitsrechtlichen Grundfreiheitsbereich durch das Kriterium der Marktzugangs104
Streinz, Europarecht Rn. 672a. Instruktiv Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 86 ff.; Streinz, Europarecht Rn. 678; Nettesheim, NVwZ 1996, 342, 344; Roth, Knobbe-Keuk-GS, 729, 737 f. 106 So aber Becker, EuR 29 (1994), 162, 172 ff.; Reuthal, WRP 1997, 1154, 1158; Roth, Knobbe-Keuk-GS, 729, 737 f.; EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, 5070 „Bosman“ und GA Lenz Anm. 205 ff.; Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141, 1178 „Alpine Investments“; Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013, 6051 „Dior“; Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835, 2860 „Pfeiffer“; kritisch: Lackhoff, S. 427; v. Wilmowsky, EuR 31 (1996), 362, 368 ff. 105
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regelung zu begrenzen, so ist damit nichts gewonnen. Die Schwierigkeiten werden durch das zusätzliche Kriterium lediglich verlagert. Potentiell sind nämlich alle Regelungen zugangsrelevant, so dass diese Ansicht wiederum auf das konturlose Kriterium der spezifisch den Marktzugang behindernden Regelung107 zurückgreifen muss. (3) Eigener Ansatz: Rückführung auf ein Diskriminierungsverbot anhand der gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsmethoden Die zentrale Schwäche aller freiheitsrechtlichen Reduzierungsversuche ist der Versuch, die Blüten einer freiheitsrechtlichen Interpretation einzelfallorientiert zu korrigieren. Die Vertreter jener Lesart sehen sich deshalb stetig mit neuen Problemstellungen konfrontiert, während die Wurzel jener Schwierigkeiten, nämlich der Wandel der Grundfreiheiten vom Gleichheitszum Freiheitsrecht unangetastet bleibt. So wird die These, auch unterschiedslos wirkende mitgliedstaatliche Maßnahmen könnten zu der missbilligten Marktabschottung führen, nicht hinterfragt. Bereits an anderer Stelle wurde aber auf den Umstand hingewiesen, dass viele der EuGH-Entscheidungen, welche als Beleg zur Geltung eines Beschränkungsverbots angeführt werden, im Wege sauberer Argumentation auch über einen gleichheitsrechtlichen Ansatz zu lösen gewesen wären108. Jene Urteile, bei denen dies nicht möglich ist, sehen sich auch von den Vertretern eines freiheitsrechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten erheblicher Kritik und Eingrenzungsversuchen durch die Literatur ausgesetzt. Schließlich wohnt auch den Lösungsansätzen der Literatur im Kern regelmäßig eine komparative Betrachtung inne. Aus diesem Grunde erscheint es angezeigt, den vollzogenen Wandel vom Freiheits- zum Gleichheitsrecht auf seine sachliche Rechtfertigung zu überprüfen bzw. zu eruieren, ob nicht vielmehr eine Rückführung der Grundfreiheiten auf ihre ursprüngliche Funktion als Gleichheitsrechte geboten ist. Um der einheitlichen Anwendung der Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten willen können die gemeinschaftsrechtlichen Begriffe keiner Definition durch mitgliedstaatliche Auslegungsregeln unterliegen. Will man unterschiedliche Grundfreiheitsgehalte vermeiden, bedarf es daher einer gemeinschaftsrechtlichen Begriffsbestimmung. Fraglich erscheint deshalb, welche Auslegungsmethoden bei der Entwicklung der Grundfreiheitsgehalte Geltung beanspruchen. Aus dem deutschen Recht sind Text, Kontext, Entstehung und Zweck sowie die Zweifelsregelungen der verfassungsrechts- und völker107 So auch Streinz, Europarecht Rn. 681; Everling, Knobbe-Keuk-GS, 607, 620 f.; Roth, Knobbe-Keuk-GS, 729, 737 f. 108 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 72.
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rechtskonformen Auslegung bekannt, welche Elemente der vorgenannten Grundmethoden vereinen, jedoch nie über deren gesteckten Rahmen hinausreichen können. Jegliche Auslegung ist eng mit dem geschichtlichen und geistigen Hintergrund einer Rechtsordnung oder eines Rechtskreises109 verknüpft, so dass es keinesfalls selbstverständlich erscheint, dass der gemeinschaftliche dem deutschen Methodenkanon entspricht. Schließlich handelt es sich beim Gemeinschaftsrecht um eine aus autonomer Rechtsquelle fließende, eigenständige Rechtsordnung. Der EuGH als maßgebliches Organ110 der gemeinschaftlichen Rechtsfindung rekurriert bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts jedoch auf die aus den kontinentaleuropäischen Rechtskreisen bekannten Auslegungsmethoden, die er durch EG-spezifische Kriterien anreichert und modifiziert111. Demnach kann bei der Ermittlung des grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehalts zumindest dem Grunde nach vom bekannten nationalen Methodenkanon ausgegangen werden. (a) Grammatikalische Auslegung Ausgangspunkt und Grenze einer jedweden Interpretation ist der Text der einschlägigen Bestimmung. Die grammatikalische Auslegung spielt aufgrund der unterschiedlichen sprachlichen Fassungen der Mitgliedstaaten im Gemeinschaftsrecht jedoch eine vergleichsweise geringe Rolle. Der EuGH ermittelt durch Vergleich112 der sprachlichen Fassungen eine gemeinschaftsrechtliche Wortbedeutung, die aber immer noch einen Anhaltspunkt im Vertragstext findet113. Betrachtet man die einzelnen Grundfreiheiten, so ergibt bereits die deutsche Fassung ein indifferentes Bild, denn verbietet Art. 39 II EG seinem Wortlaut nach nur die auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung, so findet sich in dessen Absatz 3 eine Bezugnahme auf „Beschränkungen“. Auch die übrigen Grundfreiheitstexte verbieten „Beschränkungen“. Bei der grammatikalischen Interpretation geht es um die Ermittlung der Wortbedeutung aus sich selbst heraus. Isoliert betrachtet ergibt sich aus der Formulierung „Beschränkung“ aber weder eine Bedeutung im Sinne eines freiheitsrechtlichen noch eines gleichheitsrechtlichen Verständnisses. 109
Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 789. Vgl. Art. 220 EG. 111 Vgl. Bach, JZ 1990, 1108, 1112; Bleckmann, Europarecht Rn. 539 ff. m. w. N.; ders., NJW 1982, 1177 ff.; Lutter, JZ 1992, 593, 598; Streinz, Europarecht Rn. 498; Nicolaysen, S. 48 f. 112 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999, 2010 „Bouchereau“. 113 Bleckmann, Europarecht Rn. 541; Lutter, JZ 1992, 593, 599. 110
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(b) Historische Auslegung Angesichts der fehlenden Veröffentlichung der Gesetzesmaterialien zu den Gründungsverträgen ist die historische Interpretation im primären Gemeinschaftsrecht ohne Bedeutung. (c) Systematisch-teleologische Auslegung Auch im europäischen Gemeinschaftsrecht ist die am Normzweck orientierte Auslegung von erheblicher Relevanz. So nimmt der EuGH in vielen Entscheidungen auf die in der Präambel, den Art. 2, 3 und 4 EG sowie in Einzelbestimmungen genannten Ziele Bezug. Zu beachten ist indes, dass eine solche Auslegung die Gefahr eines dem Normtext entrückten, rein zielorientierten Verständnisses birgt. Doch muss auch die teleologische Auslegung normtextorientiert bleiben, will sie nicht als normgelöste Wertung oder Abwägung erscheinen114. Zu beachten ist auch, dass sich ein Verständnis des Normzwecks ohnehin, wenn auch subtil, aus einem Zusammenwirken von Wortlaut und Systematik ergibt, so dass allgemeine Zielbestimmungen wie die des Gemeinsamen Marktes oder des Binnenmarktes zwar ein wichtiges Indiz bilden, sich aber nicht von Wortlaut oder Systematik der Einzelgewährleistungen lösen können. (aa) Grundfreiheitlicher Zweck der Marktöffnung Die Grundfreiheiten dienen durch die Überwindung territorial begrenzter nationaler Rechtsordnungen der Schaffung eines gemeineuropäischen Binnenmarktes115, Art. 14 II EG. Ein Raum ohne Binnengrenzen führt volkswirtschaftlich betrachtet zur Wohlfahrtssteigerung in den betroffenen Volkswirtschaften durch optimale Allokation der Ressourcen116. Daraus folgt zunächst, dass sie auf die Herstellung der Marktgleichheit117 in dem Sinne gerichtet sind, dass der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr auf dem mitgliedstaatlichen Teilmarkt gegenüber dem innerstaatlichen nicht nachteilig behandelt werden darf. Das Ziel der Marktgleichheit ist aber durch das der Marktfreiheit zu ergänzen. Eine optimale Allokation der Ressourcen wird nur ermöglicht, wenn das Kriterium des Grenzübertritts für die Entscheidung, in welchem Mitgliedstaat eine Ware oder Person am Wirt114
Müller, Juristische Methodik, S. 208. Dazu bereits EuGH, Rs. 78/70, Slg. 1971, 487 „Deutsche Grammophon“. 116 In diesem Sinne bereits oben, vgl. auch Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 EGV Rn. 8; Troberg, in: Grabitz/Hilf, Art. 52 EGV Rn. 38. 117 Vgl. Hoffmann, S. 41 ff. m. w. N.; Roth, Knobbe-Keuk-GS, 729, 737. 115
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schaftsverkehr teilnimmt, unerheblich ist. Die grenzüberschreitend tätigen Wirtschaftsteilnehmer müssen unter den gleichen Voraussetzungen auf den mitgliedstaatlichen Teilmarkt gelangen wie die inländischen Anbieter. Aus diesen Zielvorgaben folgt das zutreffende Verständnis der Grundfreiheiten als Marktöffnungsrechte sowie die Geltung von Diskriminierungsverboten. Vermieden werden soll eine Abschottung der nationalen Teilmärkte bzw. eine Aufsplitterung des Gemeinsamen Marktes118. Eine völlige Marktöffnung in dem Sinne, dass den Marktteilnehmern der ungehinderte Zugang zu allen Teilmärkten gewährt wäre und sämtliche transnationale Kosten entfielen, wäre aber nur durch Markthomogenität zu erreichen119. Solange es in einem Wirtschaftsraum nebeneinander bestehende Rechtsordnungen gibt, ist das Ziel eines vollkommenen, rechtsvereinheitlichten Binnenmarkts nicht erreichbar120. Der herrschenden freiheitsrechtlichen Lesart ist insoweit zuzustimmen, dass auch unterschiedslos anwendbare Maßnahmen den innergemeinschaftlichen Verkehr behindern. Jede Anpassung an unterschiedliche Regelungsregime verursacht einen Zeit- und Kostenaufwand und somit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber innerstaatlich aktiven Marktteilnehmern. Binnenmarktrelevanz kann deshalb keiner Regelung abgesprochen werden. Auch die h. M. nimmt insoweit noch einen unausgesprochenen Vergleich zwischen nationalem und transnationalem Sachverhalt vor, denn erhöhte Kosten bilden einen Wettbewerbsnachteil verglichen mit rein nationalen Marktteilnehmern und schotten so den Markt ab. Der nachfolgende Schluss von der Existenz unterschiedslos anwendbarer marktaufsplitternder Maßnahmen auf die Notwendigkeit, die Grundfreiheiten als Freiheitsrechte zu interpretieren, überzeugt dagegen nicht. Mit jenem Schritt gibt man den Vergleich zu innerstaatlichen Sachverhalten und damit die Marktöffnungsfunktion auf. Freiheitsrechte treffen Aussagen über die angemessene Intensität der mitgliedstaatlichen Maßnahme. Die Grundfreiheiten lösen sich freiheitsrechtlich interpretiert von ihrer ursprünglichen Funktion der Marktintegration und konterkarieren diese sogar, indem sie Grenzgänger privilegieren und somit Ungleichbehandlungen zum Nachteil der Inländer schaffen. Die entwickelte Marktöffnungsfunktion gebietet eine Interpretation der Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte. Nur wenn die formal unterschiedslos anwendbaren mitgliedstaatlichen Maßnahmen den grenzüberschreitenden Verkehr behindern, ihm also eine ungleiche Belastung auferlegen, bedarf es der grundfreiheitlichen Kontrolle. Es gilt deshalb, rein formale durch mate118
Zu diesem Kriterium bereits GA van Gerven, in: EuGH, Rs. 145/88, Slg. 1989, 3851, 3876 „Torfaen“; White, CMLR 26 (1989), 235, 242 ff. 119 Steindorff, ZHR 158 (1994), 149, 160. 120 Vgl. Wesser, S. 35 ff.
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rielle Diskriminierungsprüfungen zu ergänzen. Die nachfolgend zu entwickelnde materielle Vergleichsprüfung muss die Funktion der Grundfreiheiten als Marktöffnungsrechte zum Ausgangspunkt nehmen. Gleichzeitig ist jedoch zu beachten, dass jede Anpassung an andere Rechtsordnungen zusätzliche Kosten hervorruft, die den Marktzugang behindern. Auch gleichheitsrechtlich betrachtet wären zunächst sämtliche mitgliedstaatliche Maßnahmen allein deshalb grundfreiheitsrelevant, weil sie dem Marktteilnehmer andere bzw. zusätzliche Regelungen oktroyieren. Das Binnenmarktziel ist indes nicht isoliert zu betrachten, sondern in den systematischen Kontext des Vertrages einzubinden und wird durch diesen begrenzt. (bb) Systematische Begrenzung aus der Kompetenzverteilung Dieses funktionale Verständnis der Grundfreiheiten als Marktöffnungsrechte wird durch eine systematische Auslegung, welche die zu interpretierende Norm in den vertraglichen Kontext stellt, gestützt. Im EG-Vertrag ist dabei insbesondere das institutionelle System und das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten von Bedeutung. So folgt bereits allgemein aus der nur partiellen Übertragung121 von Kompetenzen auf die Gemeinschaft und verbliebenen mitgliedstaatlichen Kompetenzen122 ein Fortbestehen der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Die Mitgliedstaaten haben die Kompetenz zur Übertragung weiterer Zuständigkeiten behalten und gewähren in ihrem nationalen Bereich eigenen Grundrechtsschutz. Wenn die Grundfreiheiten nun aber quasi als Motor der Integration der nationalen Märkte fungieren, indem sie in den mitgliedstaatlichen Bereich hineinwirken, verdrängen sie die nationale Regelung. Zu beachten ist aber, dass die Grundfreiheiten ihre Berechtigung gerade aus der Existenz heterogener Regelungsregime ableiten. Die Existenz unterschiedlicher Rechtsordnungen ist anders formuliert Geltungsgrund der Grundfreiheiten123. Sie reagieren auf die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen, ohne diese aufheben zu dürfen, wollen sie sich nicht ihrer eigenen Existenzberechtigung berauben. Jede Auslegung der Grundfreiheiten hat daneben das vertikale Kompetenzgefüge zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zu beachten. Je extensiver die Gemeinschaftsgewährleistungen durch den EuGH interpre121
Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 I EG. So existiert auch nur in wenigen Bereichen eine ausschließliche Kompetenz, regelmäßig besteht dagegen eine konkurrierende Kompetenz. 123 Vgl. zur Instrumentalisierung der Grundfreiheiten zur Etablierung einer Gemeinschaftsrechtsordnung in den Anfangsjahren der Gemeinschaft Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 25. 122
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tiert werden, desto weiter findet eine Verschiebung zugunsten des gemeinschaftlichen Einflusses statt. Außerdem werden nationale politische Entscheidungen im Falle grenzüberschreitender Sachverhalte durch judikatorische Wertungen verdrängt. Folglich geht mit der Gefahr einer vertikalen Kompetenzverschiebung von der mitgliedstaatlichen auf die Gemeinschaftsebene eine Verdrängung demokratisch legitimierter Entscheidungen in Form des nationalen Gesetzes durch richterliche Entscheidungen einher und damit eine Verschiebung zum Nachteil der nationalen Legislative124. Wendet man dagegen ein, die EuGH-Entscheidung bewirke doch gerade nicht die Nichtigkeit des gemeinschaftswidrigen Gesetzes, sondern nur dessen Unanwendbarkeit in gemeinschaftlich relevanten Fällen – das Schicksal der Norm im Hinblick auf inländische Sachverhalte bliebe den Mitgliedstaaten vorbehalten –, so übersieht dies die faktischen politischen und wirtschaftlichen Zwänge, bestehende Inländerdiskriminierungen zu beseitigen. In diesem Gefolge kann dann ein systematischer Zusammenhang nationaler Normen zur Novellierung eines ganzen Bereichs führen. Im Ergebnis unterscheidet sich dann die Wirkung eines Urteils kaum noch von legislatorischer Rechtsangleichung durch Richtlinien. Kompetenziell beachtlich ist weiterhin der Umstand, dass die Herstellung des Binnenmarktes horizontal betrachtet neben den Grundfreiheiten auch dem Gemeinschaftsgesetzgeber obliegt, Art. 14 I EG. Je extensiver der EuGH aber die Grundfreiheiten auslegt, desto geringer wird das Bedürfnis nach Rechtsangleichung und desto stärker verschiebt sich die Grenzlinie zwischen den Art. 94, 95 EG und den Grundfreiheiten125. Zu berücksichtigen ist daher auch das gemeinschaftsrechtliche Kompetenzgefüge zwischen den Organen, wobei die Rechtsprechung schon aufgrund ihrer nur fallweisen Aktivität kaum in der Lage sein dürfte, angemessene Wirtschaftsbedingungen zu schaffen126. Eine solche Verschiebung des institutionellen Gefüges hat auf Gemeinschaftsebene aber auch immer Auswirkungen auf die vertikale Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaat. Besitzen die Mitgliedstaaten nämlich durch die Präsenz ihrer Regierungsvertreter im Rat als dem maßgebenden Legislativorgan der Gemeinschaft die Möglichkeit, das Handeln der Gemeinschaft substantiell zu prägen, so wird dieser Einfluss und damit der der Mitgliedstaaten durch eine Verschiebung zugunsten des Gerichtshofes erheblich reduziert. Es droht eine Aushöhlung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. 124
Zu beachten ist indes, dass dieses Argument primär den EuGH als Organ der Rechtsfortbildung betrifft. Er hat jedoch stets die Grenze zur Vertragsänderung zu achten und bewegt sich im insoweit im mitgliedstaatlich legitimierten Raum. 125 Vgl. Schwartz, v. d. Groeben-FS, 333, 356. 126 Roth, Knobbe-Keuk-GS, 729, 736 f.; Nachbaur, Niederlassungsfreiheit, S. 165 ff.
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Materielle Abgrenzungskriterien zur Funktionsermittlung der Grundfreiheiten lassen sich aus den genannten Kompetenzverhältnissen nicht ableiten. Einzig die Tatsache der Begrenztheit der grundfreiheitlichen Integrationsfunktion steht fest. Die richterliche Interpretation darf nicht über das gesetzlich bestimmte Maß hinausgehen sowie mitgliedstaatliche und Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers nicht beseitigen. im Übrigen gilt es bei jeder Interpretation der Grundfreiheiten die kompetenziellen Auswirkungen zu beachten, sofern diese nicht ohnehin bereits motivierender Impuls waren. (cc) Systematische Begrenzung aus der Kompetenzausübungsregel der Subsidiarität Konkretere Anhaltspunkte für die Interpretation der Grundfreiheiten könnte indes die Kompetenzausübungsregel des Art. 5 II EG, das sog. Subsidiaritätsprinzip, enthalten. Kompetenzausübungsregeln betreffen die Ausübung bestehender Kompetenzen, setzen diese also bereits voraus. Art. 5 II EG bestimmt: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“
Verfolgt man das Ziel, diese Vorgabe bei der Ermittlung der Reichweite der Grundfreiheiten fruchtbar zu machen, müsste zunächst der EuGH bei der Interpretation der Grundfreiheiten an diese Maxime gebunden sein. Dies ist umstritten. Ein Teil der Literatur lehnt eine solche Bindung ab. Auslegung sei kein Tätigwerden der Gemeinschaft. Bei der Bestimmung der Reichweite der Grundfreiheiten ginge es nicht um Kompetenzabgrenzungen, sondern um die Konkretisierung des Umfangs grenzüberschreitender wirtschaftlicher Handlungsfreiheiten127. Darüber hinaus wird eingewandt, der EuGH besäße die ausschließliche Kompetenz für die ihm zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten, so dass Art. 5 II EG bereits tatbestandlich nicht vorliege128. Diese Argumente überzeugen nicht. Weder der Wortlaut noch die systematische Stellung legen eine derartige begrenzte Anwendbarkeit auf die Rechtsetzung nahe, denn Art. 5 II EG spricht von der „Gemeinschaft“. 127
Müller-Graff, ZHR 159 (1995), 34, 73 ff.; Zuleeg, in: Nörr/Oppermann, 185,
204. 128
204.
Müller-Graff, ZHR 159 (1995), 34, 74; Zuleeg, in: Nörr/Oppermann, 185,
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Diese handelt durch ihre Organe, wozu auch der Gerichtshof zählt, vgl. Art. 7 I EG. Systematisch befindet sich das Subsidiaritätsprinzip unter den für die gesamte Gemeinschaft verbindlichen allgemeinen Grundsätzen und beschränkt sich nicht etwa auf die Rechtsetzung, sondern gilt auch für die Rechtsanwendung. Tätigwerden i. S. d. Art. 5 II EG meint demzufolge Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Vorstehend wurden die kompetenziellen Auswirkungen einer jeden Grundfreiheitsinterpretation dargelegt. Kompetenzabgrenzungen sind vielfach sogar deren Impuls. Zum Argument ausschließlicher Zuständigkeit ist festzustellen, dass es hier nicht um die Frage geht, ob ein mitgliedstaatliches Gericht die Interpretation ausführen könnte. Nur hinsichtlich dieser Frage verfängt aber das Argument. Es geht vielmehr um die materiellen Maßstäbe, die bei der Interpretation von Vertragsnormen Beachtung finden müssen. Art. 5 II EG gehört zum EG-Vertrag, zu dessen Wahrung der EuGH nach Art. 220 EG berufen ist. Die Außerachtlassung könnte zu einer oben beschriebenen mittelbaren Harmonisierung durch den Gerichtshof führen, zu der der Rat wegen Art. 5 II EG nicht befugt wäre. Im Ergebnis hat der EuGH daher das Subsidiaritätsprinzip bei der Norminterpretation zu beachten129. Im Anschluss stellt sich nun aber die Frage, welche inhaltlichen Vorgaben in bezug auf die Reichweite der Grundfreiheiten fruchtbar gemacht werden können. Das Subsidiaritätsprinzip postuliert zunächst das Primat der Zuständigkeit der kleinsten Einheit, denn die Gemeinschaft wird nur tätig, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können“. Übertragen auf die Definition der Grundfreiheiten bedeutet das, dass ihr Anwendungsbereich erst dort beginnen kann, wo nationale Maßnahmen keine Regelung mehr treffen können130. Sämtliche mitgliedstaatliche Rechtsordnungen schützen die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung nationaler und grenzüberschreitend tätiger Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen. Zwar differiert dieser Schutz von Rechtsordnung zu Rechtsordnung, doch folgt aus dem Subsidiaritätsprinzip und dabei insbesondere aus dem Vorrang der kleinsten Einheit, dass die Grundfreiheiten nicht dazu dienen können, diese Unterschiede zu nivellieren oder zu modifizieren. Vielmehr können sie im Einklang mit Art. 5 II EG den Schutz nur in dem Sinne ergänzen, dass sie dort eingreifen, wo mitgliedstaatliche Regelungen nicht zur Anwendung kom129 Vgl. Borchardt, Grabitz-GS, 29, 33; Everling, Doehring-FS, 179, 195 ff.; ders., Stern-FS, 1227, 1232; ders., DB 1990, 1853, 1858; v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3b a. F. EGV Rn. 26; Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1, 12 f. 130 Zu beachten ist dabei allerdings die nationale Möglichkeit, Bereiche nicht zu regeln, obwohl dies möglich wäre. Dieses bewusste gesetzgeberische Unterlassen hat auch das Gemeinschaftsrecht zu akzeptieren.
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men können. Dies betrifft aber einzig transnationale Sachverhalte. Nur dort entstehen den grenzüberschreitend tätigen Marktteilnehmern Nachteile gegenüber rein nationalen Anbietern, die durch die nationalen Grundrechte nicht zu beseitigen sind. Die nationalen Regeln gelten nämlich auch für Inländer und sind deshalb nicht durch den nationalen Gleichheitssatz des Aufnahmestaats angreifbar. Daneben entfalten die nationalen Freiheitsverbürgungen keinen Schutz, weil die transnational nachteiligen Regelungen im Hinblick auf ihr Ziel regelmäßig verhältnismäßige Eingriffe darstellen. Die Grundfreiheiten dürfen nicht über jenen transnationalen Anwendungsbereich hinausgreifen, sind diesbezüglich aber um der Marktintegration willen gleichermaßen unabdingbar. Folgt man diesem Verständnis, so bewirken die Grundfreiheiten eine Öffnung der nationalen Märkte für grenzüberschreitend Anbietende durch Abbau von Wettbewerbsnachteilen. Auf dem mitgliedstaatlichen Markt angelangt, also quasi nach Grenzübertritt, besteht aber kein Anspruch auf Errichtung der Heimatrechtsordnung. Gelangt der Marktteilnehmer erst einmal auf den Aufnahmemarkt, so befindet er sich in der gleichen Situation wie ein Inländer und unterliegt, dem Primat der kleinsten Einheit entsprechend, dem Schutz des nationalen Regimes. Die Grundfreiheiten sind den nationalen Grundrechten nicht vergleichbar, enthalten keine Freiheitsgewährleistungen, sondern setzen bedingt durch unterschiedliche Rechtsordnungen eben auch nur in transnationalen Sachverhalten an. Durch diese Trennung grenzüberschreitender von rein nationalen Sachverhalten enthalten beide Regelungsregime, der EG-Vertrag und die nationale Rechtsordnung, klare Konturen und Funktionen. Friktionen nationaler und transnationaler Gewährleistungen werden vermieden. Es entsteht ein lückenloser Schutz, welcher die Effektivität der Grundfreiheiten gewährleistet und die quasi-föderale Struktur der Gemeinschaft mit ihren differierenden Wirtschaftsordnungen achtet. (dd) Systematische Begrenzung aus Art. 5 III EG Schließlich ist zu erwägen, ob Art. 5 III EG materielle Kriterien zur Auslegung der Grundfreiheiten enthält: „Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus.“
Entgegen einer gewichtigen Literaturansicht131 normiert Art. 5 III EG nicht das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinzip, sondern ist der Kompetenzordnung zuzuordnen und beschreibt das „Wie“ des Handelns der Ge131 So z. B. v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3b a. F. EGV Rn. 46 m. w. N.
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meinschaft, während Art. 5 II EG die Vorfrage nach dem „Ob“ behandelt132. Zwar nennt der EG-Vertrag auch an anderen Stellen nur Teilgebote, aus deren Normierung dann auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschlossen wird, doch steht das Postulat systematisch betrachtet in einem Artikel, der mit „Subsidiarität“ überschrieben ist. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein selbständiger allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, der neben und nicht als Teil des Subsidiaritätsprinzips zur Geltung zu bringen ist. Einer Interpretation des Art. 5 III EG im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips steht zudem entgegen, dass die Proportionalität seit langem in der gemeinschaftlichen Rechtsprechung als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt ist, so dass eine deklaratorische Normierung – zudem bloß eines insoweit unklaren Teilgebots – im Rahmen des Subsidiaritätsartikels unwahrscheinlich erscheint. Zudem stellt sich die Frage, warum nur das Verhältnismäßigkeitsprinzip und nicht auch andere bedeutsame Rechtsgrundsätze Eingang fanden. Knüpft seine Aussage dann aber notwendigerweise an die Vorentscheidung des Art. 5 II EG an, so bestätigt sein Gehalt das zuvor gefundene Ergebnis, liefert bei der Bestimmung der Grundfreiheitsgehalte aber keine zusätzlichen Anhaltspunkte. (d) Zwischenergebnis: Geltung als Gleichheitsrechte Funktional konsequent erscheint allein die Rückbesinnung auf einen horizontalen Vergleich zwischen grenzüberschreitenden und rein innerstaatlichen Sachverhalten. Ähnlich fordert Jarass, die Anforderungen der praktischen Wirksamkeit zu begrenzen, sofern die fragliche Regelung in entsprechenden innerstaatlichen Konflikten ebenfalls zum Tragen kommt. Dogmatisch solle dem Diskriminierungsverbot, also dem Verbot, die Durchsetzung von EG-Recht nicht weniger leistungsfähig auszugestalten als die Durchsetzung von nationalem Recht, ein höheres Gewicht zu Lasten des Wirksamkeitsgebots eingeräumt werden133.
Diese Stellungnahme weist in die richtige Richtung, doch bedarf es keiner Einschränkung der Wirksamkeit, wenn man bereits dem Gegenstand, dem zur Wirksamkeit verholfen werden soll, wie hier vertreten, lediglich den Charakter eines Gleichheitsrechts einräumt134. Dann wirken Wirksam132
Vgl. Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 107 ff.; Jarass, EuGRZ 1994, 209, 214. 133 Jarass, DVBl. 1995, 954, 960. 134 So auch Jarass, EuR 30 (1995), 202, 216; Kingreen/Sörmer, EuR 33 (1998), 263, 287 f.; Marenco, CDE 20 (1984), 291 ff.; Marenco/Banks, ELR 15 (1990), 224, 239; Schroeder, EuGRZ 1994, 373, 380.
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keitsgebot und grundfreiheitliche Gehalte nicht gegeneinander, sondern in die gleiche Richtung in dem Sinne, dass das Gemeinschaftsrecht umfassende Wirksamkeit des Gleichheitsrechts fordert. Diese Rückführung auf ein komparatives Verständnis fließt aus der grundfreiheitlichen Funktion als Marktöffnungsrecht, welches aber durch das Gebot der Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten begrenzt wird, das im Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 II, III EG seinen positivrechtlichen Ausdruck gefunden hat. Ein solches Verständnis trägt dem vertikalen Kompetenzgefüge insgesamt und der Zuständigkeitsverteilung auf horizontaler Ebene zwischen Gerichtshof und Rat Rechnung. Zudem wird durch Aufspaltung der Sachverhalte in transnationale und nationale Vorgänge den jeweiligen Rechtsordnungen eine scharfe Kontur verliehen, wodurch Friktionen, Ausnahmen und Wertungswidersprüche durch die sog. Inländerdiskriminierung, zu denen insbesondere ein freiheitliches Verständnis führt, zumindest reduziert. Ein umfassender Schutz der Gemeinschaftsbürger ist trotz dieses reduzierten Verständnisses der Grundfreiheiten gewährleistet, denn gegenüber nationalen Maßnahmen, denen der grenzüberschreitende Bezug fehlt, entfalten die nationalen Wirtschaftsordnungen Schutz – gerade auch zugunsten der EG-Ausländer. Die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane unterliegen dem Regime der Gemeinschaftsgrundrechte. Die Grundfreiheiten können und sollen die vollständige Integration der nationalen Märkte nicht herbeiführen. Strebte man eine solche Markthomogenität an, so ist der Gemeinschaft eine umfassende Gesetzgebungskompetenz für das Wirtschafts- und Sozialleben zu übertragen135. Die Entscheidung dazu obliegt allein den Mitgliedstaaten im Rahmen einer Vertragsänderung. Bis dahin muss der Binnenmarkt unvollkommen bleiben. (4) Inhalt des grundfreiheitlichen Gleichheitsrechts: Ermittlung einer Diskriminierung Bevor die Auswirkungen dieser Rückführung auf strafrechtliche Fragestellungen analysiert werden können, ist das gleichheitsrechtliche Verständnis zu konkretisieren und eine gleichheitsrechtliche Dogmatik unter Einbeziehung des gefundenen Kriteriums der Marktöffnung zu entwickeln. (a) Adressat des Gleichheitssatzes Wichtig ist zunächst festzustellen, dass der Gleichheitssatz immer nur einen einzigen Mitgliedstaat als Adressat hat. Damit scheidet die Berufung auf fehlende entsprechende Belastungen im Heimatstaat aus. Solche Belas135
Behrens, EuR 27 (1992), 145, 162; Classen, EWS 1995, 97, 105.
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tungen sind zwingende Folge der fortbestehenden nationalen Rechtsordnungen, die wiederum Geltungsgrund der Grundfreiheiten sind. (b) Bildung eines Vergleichspaares und Feststellung einer Ungleichbehandlung Jede Ermittlung einer Ungleichbehandlung muss mit der Bildung der Vergleichsgruppen beginnen. Während die eine von demjenigen bestimmt wird, der sich auf den Gleichheitssatz beruft, wird die andere Vergleichsgruppe erst unter der Bestimmung eines gemeinsamen Bezugspunkts im Einzelfall umfassend und abschließend sichtbar. Die zu vergleichenden Sachverhalte müssen weiterhin Unterschiede aufweisen, da das Gleichheitsrecht ansonsten leer liefe. Die Unterschiede dürfen jedoch nicht derart gravierend sein, dass die Sachverhalte nicht mehr vergleichbar sind. Evident wird damit die Bedeutung, aber auch die Schwierigkeit der Bestimmung des gemeinsamen Bezugspunktes. In der Rs. Schindler136 hatte die Kommission beispielsweise darauf hingewiesen, dass die gleichzeitige Veranstaltung mehrerer kleiner Lotterien durch eine Person, der Veranstaltung einer großen Lotterie gleichkomme, so dass das Werbeverbot für große Lotterien mit diesen zu vergleichen gewesen wäre. Der EuGH erkannte jedoch wesentliche Unterschiede zur rechtmäßigen Veranstaltung vieler kleiner Lotterien, so dass er mangels einer nationalen Vergleichsgruppe – in Großbritannien existierte zu jener Zeit keine vergleichbare große Lotterie – eine Ungleichbehandlung ablehnte137. Hätte der EuGH nicht unter dem Gesichtspunkt der Größe verglichen, sondern unter dem des gewerbsmäßig betriebenen Glücksspiels, wären die Sachverhalte vergleichbar gewesen und eine Ungleichbehandlung hätte vorgelegen. Besteht national bereits kein Markt, so fehlt es an der segmentierenden Kraft des Verbots. Im Anschluss an die Bildung dieser Vergleichsgruppen ist dann zu prüfen, ob durch die nationale Maßnahme der Grundfreiheitsberechtigte unter dem gemeinsamen Bezugspunkt stärker belastet wird als die Vergleichsgruppe. (c) Verbotene Differenzierungskriterien Ergibt die vorstehende Prüfung eine Ungleichbehandlung zum Nachteil des Grundfreiheitsberechtigten, ist zu ermitteln, ob sich der Gesetzgeber eines verbotenen Differenzierungskriteriums bedient hat. Die Grundfreiheiten 136 137
EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039, 1094 „Schindler“. Vgl. die Kritik z. B. bei Schroeder, EuGRZ 1994, 373, 376 f.
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verbieten in ihrer Funktion als Marktzugangsrechte schließlich nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur solche aufgrund bestimmter verbotener Differenzierungskriterien. Zunächst ist natürlich jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit als offene Diskriminierung verboten. Offene Ungleichbehandlungen existieren aber kaum noch. Die wahre Bedrohung des gemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehrs beruht vielmehr auf den versteckten Ungleichbehandlungen, die zwar nicht ausdrücklich diskriminieren, dennoch Anforderungen etablieren, die faktisch zum gleichen Ergebnis einer Schlechterstellung führen. Der Definition dieses materiellen Teilgehalts der Grundfreiheiten kommt erhebliche Bedeutung zu, hat doch gerade die Vernachlässigung dieser Gewährleistung wesentlich zur Entwicklung eines freiheitsrechtlichen Verständnisses beigetragen. Aus der Funktion der Grundfreiheiten als Marktöffnungsrecht ergab sich, dass die Grundfreiheiten eine Behinderung der grenzüberschreitend aktiven Wirtschaftsteilnehmer zu unterbleiben hat. Andererseits wurde dargestellt, dass nahezu jede Regelung dem grenzüberschreitend Tätigen eine zusätzliche Belastung allein aufgrund der Tatsache auferlegt, dass er sich auf ein zusätzliches oder abweichendes Regelungsregime einstellen muss, mit dem der Inländer bereits vertraut ist. Er erleidet dadurch im Vergleich zu inländischen Marktteilnehmern eine Benachteiligung. Die Grundfreiheiten sollen jedoch nicht dazu dienen, das heimatstaatliche Recht im Aufnahmestaat zu etablieren. Heterogene Rechtsordnungen werden von den Grundfreiheiten schließlich vorausgesetzt. Die Grundfreiheiten sollen nur den Marktzugang ermöglichen, während aus Art. 5 II EG und dem Primat der Zuständigkeit der kleinsten Einheit folgte, dass nach dem Grenzübertritt allein die Modalitäten des Aufnahmestaats maßgeblich sind. Damit lassen sich grundfreiheitsrelevante Regelungen, die eine Abschottung des innerstaatlichen Marktes und damit eine marktaufsplitternde Wirkung erzielen, von grundfreiheitsirrelevanten Maßnahmen scheiden, die das Verhalten der Wirtschaftteilnehmer regeln, nachdem diesen bereits Zugang zum ausländischen Markt gewährt wurde. Somit ist die Feststellung der marktsegmentierenden Wirkung zentrale Frage bei der Feststellung, ob eine grundfreiheitlich relevante Ungleichbehandlung vorliegt. Marktsegmentierende Kraft besitzt eine mitgliedstaatliche Maßnahme dann, wenn sie durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt veranlasst ist.
(d) Kausale Verknüpfung zwischen Ungleichbehandlung und Differenzierungskriterium Die komparativ interpretierte Grundfreiheit setzt zusammenfassend voraus, dass eine Marktsegmentierung durch Ungleichbehandlung unter Ver-
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wendung eines verbotenen Differenzierungskriteriums der Staatsangehörigkeit oder des Grenzübertritts vorliegt. Bereits diese Formulierung erhellt, dass es einer Verknüpfung zwischen dem verbotenen Differenzierungskriterium und der Ungleichbehandlung bedarf, will man die Grundfreiheiten nicht auf den Schutz vor jeglichen Ungleichbehandlungen ausweiten und auf diesem Wege nationale Gleichheitssätze obsolet werden lassen. Die Prüfung einer naturwissenschaftlichen Kausalität im Sinne des conditio sine qua nonKriteriums griffe an dieser Stelle aber zu kurz, denn sobald eine Regelung typischerweise Ausländer, daneben aber auch einige Inländer träfe, läge dieses Kriterium nicht vor, und das Gleichheitsrecht liefe für die Vielzahl faktischer Ungleichbehandlungen leer bzw. ließe sich leicht umgehen. Deshalb ist ein Verständnis der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote angezeigt, bei dem das gefundene Differenzierungskriterium zu bewerten ist. Danach liegt eine nach den Grundfreiheiten verbotene Diskriminierung vor, wenn die Ungleichbehandlung nur durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt nachvollziehbar zu erklären ist. Entscheidend ist nicht das formale Kriterium, sondern der materielle Gehalt, so dass auch typischerweise Ausländer belastende Merkmale Berücksichtigung finden. Erscheint eine Begründung der nationalen Regelung unabhängig der verbotenen Kriterien als nachvollziehbar, so hat die Ungleichbehandlung vor den Grundfreiheiten selbst dann Bestand, wenn sie mehr Aus- als Inländer trifft138. Sie dient dann nicht der Marktabschottung und ist keine grundfreiheitlich missbilligte Diskriminierung. Damit finden Gesetzesbegründungen, -zwecke und eine Bewertung im Sinne der Nachvollziehbarkeit der Differenzierung Eingang in die Kausalitätsprüfung. Positiv formuliert erfährt die Prüfung auf diesem Wege eine gewisse, praktisch erforderliche Flexibilisierung. Kritisch betrachtet stellt jener Vergleich die Frage, ob die Differenzierung nachvollziehbar ist und damit, ob die Norm tatsächlich die angegebenen Zwecke verfolgt. Fragt man nach Zwecken, handelt es sich um Wertungen die grundsätzlich der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind. Dies ist ein vertrautes Problem eines jeden Gleichheitssatzes, versteckte Diskriminierungen aufzudecken. Jede materielle gleichheitsrechtliche Betrachtung kommt nicht umhin, zu bewerten, ob das in Rede stehende Differenzierungskriterium tatsächlich die Triebfeder der Ungleichbehandlung ist oder ob hinter dem vordergründigen Kriterium ein missbilligter Zweck steht. Rechtfertigungsprüfungen greifen zudem weiter, wenn in einem umfassenderen Sinne erörtert wird, ob die eingreifende Maßnahme in ihrer Intensität billigenswerten Zwecken dient. Die festgestellte Unschärfe lässt sich nicht vermeiden und darf jedenfalls nicht als Rechtfertigung für einen Übergang auf die freiheitsrechtliche Ebene dienen. 138
Vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 453 für Art. 3 II u. III GG.
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(5) Ergebnis: Die Grundfreiheiten als Begründungsverbote Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der EuGH und die h. M. die Grundfreiheiten grundsätzlich einem freiheitsrechtlichen Verständnis folgen. Lediglich in einigen unzureichend bestimmten und deshalb vielfach willkürlich anmutenden Bereichen wird ausgehend von der Keck-Entscheidung der Gewährleistungsgehalt wieder auf ein Diskriminierungsverbot zurückgenommen. Eine gerichtliche Klärung der genauen Konturen steht noch aus. Es darf indes bezweifelt werden, dass sie auf einer freiheitsrechtlichen Grundlage überhaupt zu leisten bzw. gewollt ist. Der Gerichtshof müsste seine flexible, zielorientierte Rechtsprechung aufgeben. Demgegenüber wird hier eine Rückführung des Gewährleistungsinhalts auf ein Diskriminierungsverbot, im Sinne eines Begründungsverbots vertreten. Danach sind mitgliedstaatliche Maßnahmen nur an den Grundfreiheiten zu messen, wenn ein horizontaler Vergleich mit innerstaatlichen Sachverhalten eine Ungleichbehandlung zum Nachteil der Grundfreiheitsberechtigten ergibt, die sich nicht anders als durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt nachvollziehbar begründen lässt139. cc) Rechtfertigung Ergab die vorstehende Prüfung, dass der Schutzbereich der Grundfreiheit beeinträchtigt ist, so stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung. Auf dieser Stufe findet ein Ausgleich zwischen dem durch die Grundfreiheit geschützten und dem den mitgliedstaatlichen Eingriff motivierenden Rechtsgut statt. (1) Schranken Im Gemeinschaftsrecht existieren zum einen geschriebene Rechtfertigungsgründe140 zum anderen ausgehend von der sog. Cassis de Dijon-Entscheidung141 des EuGH immanente Schranken: 139 Für ein solches gleichheitsrechtliches Verständnis plädieren auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 115 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 33 (1998), 263, 287 f.; Marenco, CDE 20 (1984), 291 ff.; Marenco/Banks, ELR 15 (1990), 224, 239; Schroeder, EuGRZ 1994, 373, 380. 140 Art. 30, 39 III, 46 I ggf. i. V. m. Art. 55 und Art. 58 I; zu den einzelnen Voraussetzungen vgl. Streinz, Europarecht Rn. 693 und 734 ff. m. w. N. 141 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 „Cassis de Dijon“; vgl. zur Übertragung dieser Schranke auf die anderen Grundfreiheiten und zur Frage der Einordnung als Tatbestandseinschränkung oder Rechtfertigungsgrund die Nachweise bei Gundel, Jura 2001, 79; Jarass, EuR 35 (2000), 705, 719.
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„In Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung [. . .] (müssen) Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, [. . .] hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.“
Die Entscheidung des EuGH kann allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Sie erging im Gefolge der weiten Dassonville-Formel, deren Inhalt, wie beschrieben, allgemein dahingehend verstanden wurde, dass nunmehr auch unterschiedslos geltende Maßnahmen an den Grundfreiheiten zu messen waren, was dem EuGH die Überprüfung einer Vielzahl von nationalen Regelungen ermöglichte. Daneben postulierte er aber in ständiger Rechtsprechung, dass die geschriebenen Rechtfertigungsgründe als Ausnahmeregelungen eng zu interpretieren seien142. Es existierte somit eine weitreichende grundfreiheitliche Relevanz nationaler Maßnahmen, die jedoch nicht mit einer entsprechend weit reichenden Rechtfertigungsmöglichkeit korrespondierte143. Vor diesem Hintergrund etablierte der Gerichtshof die immanenten Schranken. Fraglich ist deshalb, ob diesen trotz des hier vertretenen reduzierten Gewährleistungsgehalts, wonach unterschiedslos geltende Maßnahmen nicht mehr grundfreiheitsrelevant sind, noch eine Bedeutung zukommen kann oder ob sie infolge der Rückführung auf ein Diskriminierungsverbot obsolet geworden sind. Während offene und versteckte Diskriminierungen nämlich unzweifelhaft über die geschriebenen Rechtfertigungsgründe zu rechtfertigen sind, ist umstritten, ob insoweit auch die Cassis-Kriterien rechtfertigen können. Nach der restriktivsten Meinung vermögen die Cassis-Kriterien nur, unterschiedslos geltende Maßnahmen zu rechtfertigen144 und wären in der Konsequenz der hier vertretenen Reduzierung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten daher ohne Bedeutung. Eine Rechtfertigung wäre nur über die ausdrücklichen, abschließend aufgezählten und eng zu interpretierenden Rechtfertigungsgründe möglich. Begründet wird dies zum einen durch einen Hinweis auf einige EuGH-Entscheidungen145. Zum anderen stelle sich die Schaffung zusätzlicher Rechtfertigungsgründe als eine Prämierung der Mit142 Z. B. EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, 1350 „van Duyn“; Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219, 1231 „Rutili“; Rs. 113/80, Slg. 1981, 1625, 1638 „Kommission ./. Irland“; Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11, 30 „Strafverfahren gegen Donatella Calfa“. 143 Streinz, Europarecht Rn. 693, 699; Schweitzer/Hummer, Rn. 1135. 144 Emmert, S. 330, 336; Hirsch, ZEuS 1999, 503, 510; Schweitzer/Hummer, Rn. 1137, 1139; Müller-Graff, in: GTE, Art. 30 EGV Rn. 196. 145 EuGH, Rs. 229/83, Slg. 1985, 1, 35 „Leclerc“; Rs. C-10/90, Slg. 1991, I-1119, 1141 „Masgio“; Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3955, 3976 f. „Svensson“; Rs. C-224/97, Slg. 1999, I-2517, 2536 „Ciola“.
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gliedstaaten für die Herbeiführung einer Ungleichbehandlung durch verschleierten Protektionismus dar. Für den Betroffenen sei es gleichgültig, ob er durch offene oder versteckte Ungleichbehandlung Wettbewerbsnachteile erleide, so dass Diskriminierungen, gleich, ob offen oder versteckt, nie über diese Schranke zu rechtfertigen seien. Dagegen wird überzeugend argumentiert, diese Argumentation entzöge der Cassis-Rechtsprechung selbst die Grundlage, die ihren Ausgang von einer versteckt diskriminierenden Regelung nahm146. Der EuGH habe zudem in diversen anderen Entscheidungen147 solche Maßnahmen an der immanenten Schranke gemessen. Obiges Prämierungsargument überzeugt ohnehin nur, wenn man mit einem anderen Teil der Literatur hinsichtlich der Diskriminierungen auf der Rechtfertigungsebene differenziert, indem man zwar versteckten, nicht aber offenen Diskriminierungen eine Rechtfertigung über die Cassis-Kriterien offeriert148. Für eine solche Differenzierung wird angeführt, im Wortlaut der Art. 30 und 46 I EG klinge die Bewertung der Vertragsgeber an, direkte Diskriminierungen seien besonders schädlich für die Verwirklichung der Grundfreiheiten und deshalb nur einer Rechtfertigung unter den eng umschriebenen und zu interpretierenden Voraussetzungen der Art. 30, 39 III, 46 I (ggf. i. V. m. Art. 55) und 58 I EG zugänglich. Auch diese Ansicht vermag indes nicht zu überzeugen. Eine Bezugnahme149 auf die inkonsistente Rechtsprechung des EuGH führt nicht weiter, weil der Gerichtshof seinen Diskriminierungsbegriff nicht offenbart, so dass diese Diskussion auf unsicheren Deutungen fußt. Die vorgeschlagene Differenzierung übersieht den einheitlichen, funktional ermittelten materiellen Diskriminierungsbegriff des EG-Vertrages, so dass eine Aufspaltung auf der Rechtfertigungsebene nicht überzeugt. Eine Berufung auf die Entscheidung der Vertragsgeber im Sinne einer historischen Auslegung kann schon deshalb nicht überzeugen, weil die Materialien unveröffentlicht blieben und ein solcher Schluss daher kaum möglich erscheint. Im Ergebnis müssen sowohl offene als auch verdeckte Diskriminierungen über die immanenten 146
Gundel, Jura 2001, 79, 82 f. Z. B. EuGH, Rs. C-111/91, Slg. 1993, I-817, 844 „Kommission ./. Luxemburg“; Rs. C-272/92, Slg. 1993, I-5185, 5207 „Spotti“; Rs. C-350/96, Slg. 1998, I-2521, 2549 f. „Clean Car Autoservice“. 148 Oppermann, Rn. 1299 f.; Roth, Knobbe-Keuk-GS, 729, 730 f.; Randelzhofer/ Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 140; Gundel, Jura 2001, 79, 82 m. w. N. 149 Vgl. die Nachweise bei Novak, DB 1997, 2589, 2592; Roth, WRP 2000, 979, 983 f.; Jarass, EuR 35 (2000), 705, 719; Weiß, EuZW 1999, 493, 494 f.; Hakenberg, Grundzüge des europäischen Wirtschaftsrechts, S. 99. 147
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Schranken zu rechtfertigen sein150, um das ungerechtfertigte Ungleichgewicht zu beseitigen, das der EuGH durch eine flexible und weitreichende Interpretation auf der Schutzbereichsseite unter restriktiver Auslegung der Rechtfertigungsgründe geschaffen hat. (2) Schranken-Schranken (a) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip Zentrale Bedeutung in der Rechtfertigungsprüfung kommt der SchrankenSchranke des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu, da es einen schonenden und flexiblen Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter im Einzelfall herbeizuführen vermag. In der Rechtsprechung des Gerichtshofes hat sich eine dem deutschen Recht151 vergleichbare dreigliedrige Verhältnismäßigkeitsprüfung etabliert152. Dabei überprüft der EuGH in der Geeignetheit, ob die Maßnahme geeignet ist, dem abstrakt durch die Schranken legitimierten Ziel zu dienen, ohne es jedoch vollständig erreichen zu müssen153. Der Schwerpunkt der gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt dann regelmäßig bei der Erforderlichkeit, in der untersucht wird, ob das Ziel nicht durch eine weniger beeinträchtigende Maßnahme ebenso wirksam erreicht werden kann154. Auf dieser Stufe der Grundfreiheitsprüfung findet auch die dogmatisch korrekte Verortung des Herkunftslandsprinzips statt. Danach kann jedes Produkt, welches den Regelungen seines Herkunftslandes entspricht, frei im Binnenmarkt zirkulieren und jede Person in allen Mitgliedstaaten tätig werden, soweit sie hierzu über die erforderlichen Befähigungsnachweise ihres Herkunftslandes verfügt155. Die Erforderlichkeitsprüfung schließt häufig den letzten Schritt der Angemessenheit mit ein, der eine Abwägung zwischen der Intensität der Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels und dem Schutzgewinn für das entgegenstehende 150 Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 EGV Rn. 20; Jarass, EuR 35 (2000), 705, 719; Roth, WRP 2000, 979, 983 f.; Weiß, EuZW 1999, 493, 494 f. 151 Vgl. nur BVerfGE 65, 1, 54; 70, 278, 286; Moench, NJW 1982, 2689, 2692. 152 Vgl. EuGH, Rs. 205/84, Slg. 1986, 3755 „Kommission ./. Deutschland“; Pernice, in: Grabitz/Hilf, Art. 164 EGV Rn. 101; Geiger, Art. 36 Rn. 13; Jarass, EuR 30 (1995), 202, 225 f.; Pache, NVwZ 1999, 1033, 1035 f.; Schilling, EuR 29 (1994), 50, 53. 153 EuGH, Rs. 52/79, Slg. 1980, 833 „Debauve“. 154 EuGH, Rs. C-106/91, Slg. 1992, I-3351, 3384 f. „Ramrath“. 155 Behrens, EuR 27 (1992), 145, 156 ff.; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/ Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 99; Hoffmann, S. 61 ff.; Steindorff, ZHR 150 (1986), 687, 689.
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Rechtsgut erfordert156. Dieses Element wird ohnehin nur äußerst zurückhaltend geprüft157. (b) Die Gemeinschaftsgrundrechte Fraglich ist, ob darüber hinaus noch eine Überprüfung der mitgliedstaatlichen Maßnahme in Ausübung eines Rechtfertigungsgrundes anhand der Gemeinschaftsgrundrechte stattzufinden hat. Unstrittig war bereits frühzeitig die Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts158. Vorliegend geht es aber nicht um gemeinschaftliche Maßnahmen, sprich Handeln der Organe, sondern um die Frage, inwieweit grundfreiheitlich relevante mitgliedstaatliche Maßnahmen dem Regime der gemeinschaftlichen Rechtsgrundsätze unterworfen sind. Ungeachtet der Tatsache, dass die Bindungswirkung im Einzelnen noch sehr unklar und umstritten ist159, lassen sich die Ansichten auf zwei wesentliche Grundpositionen zurückführen. Die h. M. geht mit dem EuGH von einer direkten Bindungswirkung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts in zwei Fallgestaltungen aus, in denen „der Anwendungsbereich des EG-Rechts eröffnet ist“160. Zum einen sollen sie die Mitgliedstaaten dort unmittelbar binden, wo die Mitgliedstaaten zur Umsetzung oder zum Vollzug primär- oder sekundärrechtlicher, ausdrücklicher oder konkludenter gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben tätig werden. In diesem Bereich sei das gesamte Gemeinschaftsrecht zu beachten161. 156
Müller-Graf, in: GTE, Art. 36 Rn. 157. Vgl. ausführlich Pollak, S. 121 ff. 158 Vgl. Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 826; Kingreen, JuS 2000, 857, 864; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996), 200 f.; Bleckmann, Europarecht Rn. 117; Schweitzer/Hummer, Rn. 790; Streinz, Europarecht Rn. 367; GA Gulmann, in: EuGH, Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955, 971 „Bostock“. 159 Vgl. Kingreen, JuS 2000, 857, 864 f.; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996), 200, 207 ff.; Bleckmann, Europarecht Rn. 614. 160 EuGH, Rs. 60/84, Slg. 1985, 2605 „Cinéthèque“; Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719 „Demirel“; Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685 „Society for the Protection of Unborn Children Ireland“; Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909 „Strafverfahren gegen JeanLouis Maurin“; Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629 „Friedrich Kremzow ./. Republik Österreich“; Rs. C-309/95, Slg. 1997, I-7493 „Annibaldi ./. Sindaco del Comune di Guidonia und Presidente Regione Lazio“. 161 Vgl. zur Bindung der Mitgliedstaaten an Gemeinschaftsgrundrechte bei Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 „Wachauf“; Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955 „Bostock“; Rs. C-36/94, Slg. 1995, I-3573 „Siesse“; Rs. C-107/97, Slg. I-3367 „Strafverfahren gegen Rombi u. a.“; Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Handbuch, B.I Rn. 116; Borchardt, in: Lenz, Art. 220 EG Rn. 35; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 96 ff., S. 163 f.; Pernice, in: Grabitz/Hilf, Art. 164 EGV Rn. 45; Rengeling, S. 189 ff.; Schweitzer/Hummer, Rn. 790, 806. 157
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Daneben bänden die gemeinschaftlichen Prinzipien die Mitgliedstaaten dann direkt, wenn eine mitgliedstaatliche Regelung die gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Rechte beschränke, aber in Durchführung einer ausdrücklichen oder immanenten Schranke erlassen werde. Die Rechtfertigungstatbestände sowie die immanenten Schranken162 seien „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen“163. Nach anderer Ansicht können die allgemeinen Rechtsgrundsätze die mitgliedstaatlichen Maßnahmen nur mittelbar begrenzen, nämlich indem sie im Rahmen systematischer Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften, also auch der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsgründe herangezogen werden. Zu einer Erweiterung ihrer Bindungswirkung, in dem Sinne, dass mitgliedstaatliche Maßnahmen direkt am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu überprüfen wären und eine doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfände, dürfe dies jedoch nicht führen. Die Mitgliedstaaten würden im Falle grundfreiheitlicher Rechtfertigungsmöglichkeiten gerade aus dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entlassen164. Schützten die Mitgliedstaaten in Ausübung einer ausdrücklichen oder immanenten Schranke legitime nationale Interessen, so seien deren Rechtsakte allein von ihnen zu verantworten. Die nationalen Regelungen unterlägen ihrer Hoheit165.
Allein die letztgenannte Auffassung überzeugt. Eine Übertragung des Gedankens der „Verfassungsmäßigkeit im Übrigen“ einer beeinträchtigenden Norm aus dem deutschen Recht, worauf die Ansicht der h. M. hinausläuft, ist nicht möglich. Dies erfordert ein normhierarchisches Verhältnis und eine umfassende Bindung der nationalen Maßnahmen166, die aber hier gerade in Frage steht. Auch an einer Höherrangigkeit der Grundrechte gegenüber den gemeinschaftlichen Rechtfertigungsgründen und einer daraus abzuleitenden Durchdringung fehlt es. Die primärrechtlichen Regelungen sind systematisch zwar im Sinne praktischer Konkordanz, nicht aber determiniert durch die Grundrechte auszulegen. Ein solches Verständnis trägt auch der Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht Rechnung. Die Geltung allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher Prinzipien ist zwingende Folge der Übertragung von Kompetenzen. Die Gemeinschaftsgrundrechte haben selbst aber keine kompetenzerweiternde Funktion. Sie binden in erster Linie gemeinschaftliches Handeln zur Vermeidung eines rechtsstaatlichen Vakuums, welches angesichts fehlender Bindung der Gemeinschafts162 Vgl. zur Ausdehnung auf diese Schranken EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, 3717 „Familiapress“. 163 EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 „ERT“; Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007 „Stichting Colletieve Antennevoorziening Gouda ./. Commissariaat voor de Media“; Ahlt, S. 36; Giegerich, JuS 1997, 426, 431; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996), 200, 213 ff. 164 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 164 ff.; ders., JuS 2000, 857, 864 f.; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 142. 165 Vgl. Ruffert, EuGRZ 1995, 518, 528. 166 Im deutschen Recht, Art. 1 III GG.
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organe an nationale Grundrechte drohte und müssen dann eingreifen, wenn mitgliedstaatliches Handeln gemeinschaftsrechtlich determiniert ist. Mit dieser Forderung ist aber gleichzeitig auch die Grenze der Bindungswirkung beschrieben, denn soll nicht das gesamte nationale Recht durch sie determiniert werden, können die Gemeinschaftsgrundsätze nur in normkonkretisierender Weise eingreifen, indem sie zur systematischen Auslegung gemeinschaftlicher Verpflichtungen herangezogen werden. Sie enthalten selbst keine direkt verpflichtenden Vorgaben für mitgliedstaatliche Maßnahmen167. In der beschriebenen Konstellation droht auch kein rechtsstaatliches Vakuum, weil die Mitgliedstaaten in das Regime nationaler Grundrechte entlassen werden. Die Rechtfertigungsgründe eröffnen Möglichkeiten, sie entfalten keine Verpflichtungen. Unterschiede zwischen den verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen werden bewusst hingenommen und sind gegebenenfalls durch den Gemeinschaftsgesetzgeber zu beseitigen168. Eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts169 ist nur hinsichtlich bestehender Vorgaben des Gemeinschaftsrechts angezeigt. Im Ergebnis sind die Mitgliedstaaten, sofern sie Ausnahmetatbestände wahrnehmen, daher nicht direkt an die Gemeinschaftsgrundrechte in dem Sinne gebunden, dass sie diese nicht übermäßig beeinträchtigen dürften. Die Gemeinschaftsgrundrechte entfalten nur insoweit Rechtswirkungen, als im Wege systematischer Auslegung sicherzustellen ist, dass sie nicht mit den Aussagen der Grundfreiheiten bzw. ihrer Rechtfertigungsgründe kollidieren. Sie können deshalb im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wege praktischer Konkordanz Berücksichtigung finden. Zusätzliche Schranken-Schranken mit der Folge einer direkten Überprüfung der mitgliedstaatlichen Maßnahmen und einer zweiten Verhältnismäßigkeitsprüfung stellte indes eine Ausweitung ihres Gewährleistungsgehalts dar, der in der derzeitigen Gemeinschaftsrechtsordnung nicht angelegt ist.
167 In diesem Sinne zur Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte: Randelzhofer/ Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 142; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 168; ders., JuS 2000, 857, 865. 168 Vgl. GA Gulmann, in: EuGH, Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955, 972 „Bostock“, wonach die Mitgliedstaaten zwar die Milchquotenregelung durchführten, aber die Verordnungen keine Verpflichtung hinsichtlich einer Entschädigung vorsahen, so dass den Mitgliedstaaten insoweit Ermessen zukam und die Interessenabwägung nationalem Recht überlassen blieb. 169 Vgl. zu diesem Argument Bleckmann, Europarecht Rn. 615; Satzger, S. 182.
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(c) Das Verbot willkürlicher Diskriminierungen, Art. 30 S. 2 EG Abschließend könnte auch noch das Verbot willkürlicher Diskriminierungen des Art. 30 S. 2 EG eine Schranke der mitgliedstaatlichen Beeinträchtigung darstellen. Während z. T. vertreten wird, Art. 30 S. 2 EG sei nur Interpretationshilfe des Art. 30 S. 1 EG, die insbesondere die Verhältnismäßigkeit beeinflusst170, kommt dem Verbot willkürlicher Diskriminierung eigenständige Bedeutung im Sinne einer Schranken-Schranke zu. Beide Prüfungen haben bereits unterschiedliche Ausgangspunkte. Bei der Rechtfertigungsprüfung geht es um den Ausgleich nationaler Ziele mit den Grundfreiheiten, so dass sich die Prüfung der Erforderlichkeit im Verhältnismäßigkeitsprinzip konsequent auf ein potentiell milderes Mittel zur Erreichung dieser nationalen Ziele, d.h. auf einen fiktiven Sachverhalt, bezieht. Betrachtet man demgegenüber das Willkürverbot, so fragt dies nicht nach nationalen Interessen, sondern nur ob die Ungleichbehandlung realen Unterschieden zwischen den Sachverhalten angemessen Rechnung trägt. Im Art. 30 S. 2 EG findet folglich ein Vergleich mit existierenden Sachverhalten statt. Bringt die Ungleichbehandlung dagegen keine real existierenden Unterschiede zum Ausdruck, liegt eine willkürliche Diskriminierung vor, die zwar über Art. 30 S. 1 EG zu rechtfertigen und verhältnismäßig sein kann, doch bringt Art. 30 S. 2 EG zum Ausdruck, dass willkürliche Diskriminierungen nie im Gemeinwohlinteresse liegen. Er etabliert folglich eine absolute SchrankenSchranke171. Fraglich ist schließlich, ob dieser im Art. 30 S. 2 EG zum Ausdruck kommende Gedanke auch für die übrigen Grundfreiheiten gelten muss. Der EuGH betrachtet die besonderen Diskriminierungsverbote als Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der als lex generalis aber stets die Interpretation der speziellen Gewährleistungen mitbestimmt. Der allgemeine Gleichheitssatz normiert nach allgemeiner Ansicht ein Willkürverbot, so dass Art. 30 S. 2 EG systematisch betrachtet lediglich als deklaratorische Normierung des allen Diskriminierungsverboten innewohnenden allgemeinen Willkürverbots anzusehen ist. Letztlich sprechen auch ein einheitliches Diskriminierungsverständnis sowie die Konvergenz der Grundfreiheiten für die Existenz des Willkürverbots als Schranken-Schranke der Grundfreiheiten.
170
Geiger, Art. 36 Rn. 16. Wie hier wohl auch die h. M.: Ahlt, S. 95; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 30 EGV Rn. 9; Müller-Graf, in: GTE, Art. 36 Rn. 163; vgl. auch EuGH, verb. Rs. C-1 u. 176/90, Slg. 1991, I-4151 „Aragonesa de Publicidad“. 171
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dd) Zusammenfassung der eigenen grundfreiheitlichen Dogmatik Vorstehende Untersuchung konnte zeigen, dass es funktionell geboten ist, sich von der freiheitsrechtlichen Interpretation der Grundfreiheiten, wie sie der EuGH und die h. M. vertreten, zu lösen und stattdessen ein eigenes gleichheitsrechtliches Verständnis zu verfolgen. „The non-discrimination principle is central to any market philosophy.“172
Diese Grundfreiheitsdogmatik findet auch ihre Grundlage in den Vertragsbestimmungen. Im Ergebnis ist eine Ungleichbehandlung durch eine mitgliedstaatliche Maßnahme, die nachvollziehbar allein durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt zu begründen ist, gemeinschaftsrechtlich nur dann zulässig, wenn sie über die ausdrücklichen oder die immanenten Schranken zu rechtfertigen ist und nicht gegen die Schranken-Schranken der Verhältnismäßigkeit und des Willkürverbots verstößt. Analysiert man vor diesem Hintergrund die Rechtsprechung des EuGH im strafrechtlichen Bereich, so wird zu zeigen sein, dass einzig eine solche Neuorientierung hinsichtlich des Gewährleistungsgehalts der Grundfreiheiten in der Lage ist, überzeugende und widerspruchsfreie Lösungen herbeizuführen. b) Strafrechtliche Beispiele aus der EuGH-Rechtsprechung vor der entwickelten Kollisionssystematik Die vorstehenden Ausführungen betrafen einzig die Definition bzw. Systematisierung der Menge „Gemeinschaftsrecht“. Der nationale Strafrechtsanwender darf jedoch keinesfalls bei jenem ersten Teil der angestrebten Kollisionsanalyse verharren. Die Schnittmenge, d.h. die Relevanz der Kollisionsregel wird in gleichem Maße von der Reichweite des potentiell kollidierenden nationalen Kriminalstrafrechts beeinflusst. Beide Bestandteile der nationalen Kriminalstrafnormen, der Tatbestand und die Kriminalstrafe als Rechtsfolge, enthalten Verhaltensnormen. Eine Kollisionsanalyse hat deshalb davon auszugehen, dass grundsätzlich beide Normbestandteile als mitgliedstaatliche Maßnahmen für sich genommen in der Lage sein könnten, den gemeinschaftsrechtlichen Gehalten, insbesondere den Grundfreiheiten, zu widersprechen. Damit ist die Systematik der nachfolgenden Kollisionsanalyse vorgegeben. Zunächst sollen Kollisionen des primären Gemeinschaftsrechts mit der tatbestandlichen Verhaltensnorm und im Anschluss Kollisionen des Primärrechts mit der Sanktionsseite der nationalen Strafnorm erörtert werden. Einleitend werden dabei einige grundlegende strukturierende Ausführungen zum jeweils analysierten nationalen Normbestandteil zu treffen sein. 172
Chalmers, ELR 19 (1994), 385, 397.
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aa) Kollisionen des primären Gemeinschaftsrechts mit der tatbestandlichen Verhaltensnorm Die erste denkbare Kollisionskonstellation beschreibt den potentiellen Widerspruch der Grundfreiheiten, die den Wirtschaftsteilnehmern als Rechtssubjekten des EG-Vertrags173 die zuvor definierten Freiheiten gewähren und den tatbestandlichen Ge- oder Verboten. (1) Kollisionserhebliche Fragen zur Definition des potentiell kollidierenden nationalen Tatbestands (a) Die sog. Akzessorietät des Strafrechts Der Tatbestand der nationalen Kriminalstrafnorm könnte nur dann den grundfreiheitlichen Gewährleistungen widersprechen, wenn er einen eigenen Normbefehl enthielte und die Bewertung eines Sachverhalts in dem Sinne vornähme, dass eine Einordnung als Recht oder Unrecht unabhängig vom übrigen Recht stattfände. Nur in diesem Fall entstünde eine Kollision mit den Voraussetzungen der Kriminalstrafnorm. Eine solche Funktion kriminalstrafrechtlicher Tatbestände widerspräche aber sowohl dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung174 als auch der ultima ratio-Funktion des Strafrechts175, denn Strafnormen würden spezifisch strafrechtliches Unrecht schaffen, das neben das außerstrafrechtliche Unrecht träte. Es entstünde eine sog. Normbefehlsverdopplung, was dazu führen könnte, dass ein Verhalten im Sinne des Strafrechts, nicht aber des übrigen Rechts, rechtswidrig ist. Richtigerweise bewertet eine außerstrafrechtliche Verhaltensnorm, die sog. Primärnorm, was Recht und was Unrecht ist. Das Strafrecht knüpft an diese außerstrafrechtliche Teilrechtsordnung an, indem es eine Auswahl aus dem Kreis rechtlich missbilligter Verhaltensweisen trifft. Strafrecht schafft demnach kein Unrecht, sondern findet es nur vor und dient so nicht der Bewertung, sondern allein der Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen176. Das Strafrecht ist also die sekundäre Rechtsordnung, die in einem Korres173 Zu dieser Stellung als Rechtssubjekte des Vertrages bereits EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 „Van Gend & Loos“. 174 Demnach sind Normwidersprüche zu vermeiden. Vgl. dazu insbesondere Felix, S. 314 sowie Breuer, JZ 1994, 1077, 1083; Rogall, GA 1995, 299, 308 m. w. N. 175 Vgl. BVerfGE 88, 203, 258, wonach das Strafrecht nur dann eingreifen dürfe, „wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.“. 176 Vgl. bereits Binding, Die Normen und ihre Übertretung, S. 4 ff., 82, 96, 152 f.; Maurach/Zipf, AT 1, § 2 Rn. 26.
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pondenzverhältnis zu den primären Verhaltensnormen steht, weshalb Widersprüche grundsätzlich ausgeschlossen sind177. Ein Verstoß gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm ist deshalb unabdingbare Voraussetzung jeder Bestrafung. Legt man diese sog. Akzessorietät des Strafrechts178 zugrunde, so geraten nicht die Tatbestandsvoraussetzungen in Konflikt mit dem Gemeinschaftsrecht, sondern allein die bewertende außerstrafrechtliche Primärnorm, so dass auch nur sie direkt vom Vorrang erfasst werden kann179. (b) Das Schicksal von Sanktionsnormen im Falle der Unanwendbarkeit der zugrunde liegenden Primärnorm Der Anwendungsvorrang verhilft zwar der unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsnorm zur Wirksamkeit im nationalen Recht. Er kann jedoch nicht bewirken, dass die im nationalen Bereich anwendbare gemeinschaftsrechtliche Primärnorm, derart an die Stelle der verdrängten nationalen Primärnorm träte, dass die nationale Sanktionsnorm nunmehr die gemeinschaftsrechtliche Primärnorm bewehrte180. Einer solchen Wirkung stünde nicht zuletzt das gemeinschaftsrechtlich als allgemeiner Rechtsgrundsatz etablierte Bestimmtheitsgebot entgegen, bewehrte doch die Strafnorm vordergründig eine andere Verhaltensnorm181. 177 Normspaltungen aufgrund besonderer rechtsstaatlicher Gewährleistungen im Bereich des Strafrechts, insbesondere des strafrechtlichen Analogieverbots des Art. 103 II GG sind hinzunehmen. 178 Vgl. dazu umfassend Satzger, S. 219 ff. m. w. N., der zutreffend darauf verweist, dass dieser Begriff nicht vollends zutrifft, weil nur eine begrenzte Abhängigkeit in eine Richtung besteht. Strafrecht wählt schließlich die besonders verwerflichen Verstöße aus, woraus die Möglichkeit folgen muss, Begriffe autonom zu definieren, zusätzliche Voraussetzungen einzuführen und besondere strafrechtliche Gewährleistungen zu achten. 179 Tiedemann, NJW 1993, 23, 24 bezeichnet den Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Strafrecht deshalb in diesem Bereich als „indirekt“, weil er nicht die vom Strafrecht angedrohten oder die vom Strafrichter verhängten Sanktionen, sondern die wirtschaftsrechtlichen Gebote und Verbote betreffe, welche die Sanktion (und der Straftatbestand als Beschreibung der Normverletzung) voraussetze. 180 Allerdings könnte aus Art. 10 EG bzw. sekundärrechtlichen Konkretisierungen die Pflicht folgen, die nunmehr anwendbare gemeinschaftsrechtliche Primärnorm strafrechtlich zu bewehren. Diese Pflicht richtet sich dann aber an den nationalen Strafgesetzgeber, es sei denn, die Vorgaben der Primärnorm wären im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der ursprünglichen nationalen Verhaltensnorm zu erzielen. Dann läge aber bereits keine Kollision vor. Zum Ganzen noch unten 1. Teil C. II. 181 M. E. entfallen diese Probleme der Bestimmtheit auch im Falle sog. dynamischer Verweisungen nicht, die zwar auf die jeweils geltende Fassung Bezug nehmen, was aber nicht die Inkorporierung vorrangiger, deutsches Recht verdrängender
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Damit steht fest, dass die Strafnorm im Falle der Kollision der von ihr bewehrten Primärnorm mit dem Gemeinschaftsrecht für die gemeinschaftsrechtlich relevanten Fälle182 jeden Sinn verliert. Eine Aussage über Recht und Unrecht trifft sie angesichts der festgestellten Akzessorietät gerade nicht. Satzger versucht, eine Parallele zur Verfassungswidrigkeit deutscher nachkonstitutioneller Gesetze fruchtbar zu machen und führt aus: „Wird aber die Primärnorm nicht angewandt, so wird die Strafnorm ihres wesentlichen Teils entkleidet. Ohne eine Aussage über die Voraussetzungen der Strafbarkeit verliert sie jeden Sinn. Auch sie kann daher auf den konkreten Fall nicht angewandt werden und wird insofern – vermittelt über die Primärnorm – vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts erfasst. Aus der Nichtigkeit einzelner Vorschriften eines Gesetzes folgt die Nichtigkeit des ganzen Gesetzes, [. . .] Da nach diesen Kriterien die Nichtigkeit einer Primärnorm zwangsläufig die akzessorische Strafvorschrift erfassen würde, kann für die Unanwendbarkeit nichts anderes gelten.“183
Obgleich eine solche Situation der Unanwendbarkeit von Primärnormen dem deutschen Recht unbekannt ist, kann sicher nicht bestritten werden, dass sich die erzielten Effekte im jeweils zu betrachtenden Fall ähneln. Dennoch sollten derartige Parallelen mangels Vergleichbarkeit der Grundlagen unterbleiben. Zum einen handelt es sich bei der Gemeinschaftsrechtsordnung um eine autonome Rechtsordnung, die nicht in einem normhierarchischen, determinierenden Verhältnis zum nationalen Recht steht. Zum anderen ist sie der deutschen Verfassung auch materiell derzeit jedenfalls noch nicht vergleichbar. Einer Parallele im deutschen Recht bedarf es schließlich gar nicht. Auch im Übrigen, d.h. soweit es nicht um akzessorisches Recht geht, kennt die deutsche Rechtsordnung keinen Anwendungsvorrang. Trotzdem wird dieser durch das Gemeinschaftsrecht kompetenziell sinnvoll begründet. Verlangt daher die Gemeinschaftsnorm den Vorrang vor einer Primärnorm, so ergibt sich bereits aus der Akzessorietät des Strafrechts, dass gemeinschaftsrechtlich davon auch die Sanktionsnorm erfasst wird. Bliebe die deutsche Strafnorm nämlich bestehen, so erhielte sie eine gemeinschaftswidrige Primärnorm aufrecht. Dies ist nicht möglich. Der Anwendungsvorrang erfasst im Falle der Kollision des Gemeinschaftsrechts mit einer nationalen Primärnorm als notwendigen Annex auch die bewehrende Sanktionsnorm184. Gemeinschaftsnormen erfasst. Ähnlich Satzger, S. 210 ff.: solche Verweisungen seien bereits aufgrund der schwierigen Rechtsfindung im Bereich des Kriminalstrafrechts nur im Falle geringer Strafdrohung und nur in solchen Gebieten zulässig, in denen die Rechtsunterworfenen mit dem steten Rechtswandel vertraut sind. 182 Im Übrigen, d.h. für rein nationale Fälle enthält das Gemeinschaftsrecht keine Vorgaben, so dass weder die Primärnorm noch die Sanktionsnorm betroffen ist. 183 Satzger, S. 489 unter Hinweis auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Schicksal verfassungswidriger nachkonstitutioneller Gesetze.
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(c) Unanwendbarkeit durch Einordnung als Rechtfertigungsgrund im Strafrecht? Vor dem Hintergrund der Akzessorietät des Strafrechts ist auf den Versuch einiger Autoren hinzuweisen, die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit nationaler Strafnormen durch Einordnung als Rechtfertigungsgrund herbeizuführen. Auf der Grundlage des italienischen Rechts, insbesondere Art. 51 codice penale wird vertreten, das Verhalten bleibe tatbestandsmäßig. Es entfalle allein die Rechtswidrigkeit, allerdings auch nur soweit das Gemeinschaftsrecht subjektive Rechte gewähre. Im Übrigen fehle es infolge des Anwendungsvorrangs bereits an der Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens185.
Es stellt sich die Frage, ob eine solche Lösung im deutschen Recht gangbar wäre. Gemeinschaftsrechtlich ist dies jedenfalls nicht ausgeschlossen, solange dem Gemeinschaftsrecht umfassende Wirksamkeit zukommt, indem das widersprechende mitgliedstaatliche Recht unangewendet bleibt. Wie diese Unanwendbarkeit in der nationalen Dogmatik erzielt wird, bleibt dem nationalen Recht überlassen. Die Lösung stützt sich auf die sowohl der deutschen als auch der italienischen Rechtsordnung vertrauten Annahme der Einheit der Rechtsordnung. Das Strafrecht darf nichts pönalisieren, was andernorts erlaubt wird186. An dieser Grundannahme setzt die Kritik der Einordnung als Rechtfertigungsgrund an, denn bestimme die Gemeinschaftsrechtsordnung, dass ein bestimmtes Verhalten gemeinschaftsrechtlich erlaubt ist, so ließe sich hier gerade nicht mit der Einheit der Rechtsordnung argumentieren. Es handele sich schließlich um eine autonome Rechtsordnung, und die deutsche Rechtsordnung enthalte einen eigenen Rechtswidrigkeitsbegriff187. Vollends überzeugen kann jene Argumentation indes nicht, schließlich sind die vielfältigen engen Verzahnungen der Rechtsordnungen zu beachten. Insbesondere im Falle der unmittelbaren Anwendbarkeit – und nur um diese Fälle geht es hier – hat der nationale Rechtsanwender das Gemeinschaftsrecht entscheidungserheblich anzuwenden. Die Rechtsprechung des EuGH kann 184 Der EuGH formuliert: „. . . die Mitgliedstaaten dürfen wegen der Nichtbeachtung einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Vorschrift keine Sanktion verhängen.“, Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495 „Sagulo“; vgl. bereits Rs. 82/71, Slg. 1972, 119 „SAIL“; Rs. 88/77, Slg. 1978, 473, 492 „Schonenberg“; Rs. 269/80, Slg. 1981, 3079, 3094 „Thymen“. 185 Vgl. Baker, Crim.L.R. 1998, 361, 366; Grasso, S. 287 ff.; Pedrazzi, in: Unversità di Parma, Droit communitaire, 49, 57 f.; Smith/Hogan, S. 263; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 781. 186 Dies drückt auch die zuvor dargestellte Akzessorietät des Strafrechts aus. 187 Satzger, S. 508.
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jedenfalls nicht zum Beleg jener Einordnung als Rechtfertigungsgrund bemüht werden188. Es handelt sich bei der Frage, wie jene Rechtsfolge der Unanwendbarkeit im nationalen Recht erzielt werden kann, um eine rein nationale Fragestellung. Das Gemeinschaftsrecht, als Gegenstand der EuGH-Rechtsprechung, kann naturgemäß keine Aussage zum Problem treffen, wie sich diese Umsetzungsfrage bruchlos in das nationale Strafrecht einordnen lässt. Überzeugend wird zudem darauf hingewiesen, dass die Aufspaltung, je nachdem, ob das Gemeinschaftsrecht ein subjektives Recht gewährt, sachlich kaum tragfähig erscheint und die einheitliche Vorrangwirkung künstlich aufspaltet189. Entscheidendes Argument gegen die Einordnung als Rechtfertigungsgrund ist aber, wie oben bereits angedeutet, die Funktion des Gemeinschaftsrechts vor dem Hintergrund der Akzessorietät des Strafrechts. Nieto Martin stellt fest, angesichts der Wertungen des Gemeinschaftsrechts erlange der Straftatbestand ohnehin keine Bedeutung, so dass es von vornherein überflüssig erscheine, ein Urteil über die Tatbestandsmäßigkeit nach nationalem Recht zu treffen190.
Auf den ersten Blick könnte diese Argumentation in die Irre führen, besagt sie doch, vereinfacht gesprochen, wenn das nationale Recht ohnehin bedeutungslos ist, dann muss sich der nationale Rechtsanwender, sobald das Gemeinschaftsrecht eine Regelungsanordnung trifft, nicht mehr mit den nationalen Primärnormen auseinandersetzen. Behandelt man aber die Rechtsfolge des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, so hat man sich, gleich welche Lösung man vertritt, stets mit der Tatbestandsmäßigkeit beider Regelungsregime auseinandergesetzt. Ansonsten könnte man keine Kollision feststellen, die der Vorrang aber voraussetzt. Man kann im Angesicht der Rechtsfolge nicht die Voraussetzungen außer Acht lassen. Doch könnte mit der Formulierung „angesichts der Wertungen des Gemeinschaftsrechts erlange der Straftatbestand ohnehin keine Bedeutung“ die Funktion des Gemeinschaftsrechts angesprochen sein, welche sich von der nationaler Rechtfertigungsgründe grundlegend unterscheidet. Betrachtet man die Funktion der Rechtfertigungsprüfung nach deutschem Verständnis, das auf der Grundlage eines dreistufigen Deliktsaufbaus191 fußt, so akzep188 So aber Pedrazzi, in: Unversità di Parma, Droit communitaire, 49, 58 ff.; Grasso, S. 288 f. 189 So auch Satzger, S. 508, der aber in der von ihm vertretenen Aufspaltung der Vorrangwirkung, abhängig von der Einordnung als direkte oder indirekte Kollision, kein Problem erblickt. 190 Nieto Martin, S. 291; zustimmend Satzger, S. 510. 191 A. A. die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, vgl. z. B. Arthur Kaufmann, JZ 1954, 653; ders., Lackner-FS, 185 ff.; Schaffstein, MDR 1951, 196 ff.; Schünemann, GA 1985, 341, 347.
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tieren die Rechtfertigungsgründe nach deutschem Recht dem Grunde nach weiterhin die abstrakten Wertungen der außerstrafrechtlichen Primärordnungen. Sie tragen lediglich besonderen Sachverhaltskonstellationen Rechnung, in denen dem Rechtsunterworfenen ausnahmsweise ein Verstoß zugebilligt wird. Der grundsätzliche Werteverstoß bleibt jedoch bestehen. Das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes setzt damit stets einen Tabubruch voraus und erfordert dann eine einzelfallbezogene Abwägung sowie ein subjektives Rechtfertigungselement. Gänzlich anders stellt sich die Situation im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht dar. Die Rechtsnormen des Gemeinschaftsrechts treffen antizipierte und vertypte Abwägungen für den Regelfall, ohne auf die Situation und die Beweggründe des Einzelnen Rücksicht zu nehmen. Sie bewerten bereits auf erster Stufe, was rechtmäßig sein soll und stehen daher auf einer Ebene mit den nationalen Primärordnungen. Verhält sich der Rechtsunterworfene folglich im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht, so verstößt er nicht gegen ein wertmäßiges Tabu. Anders als bei den Rechtfertigungsgründen stellt sich deshalb einzig die typische Kollisionsfrage, welche der bewertenden Verhaltensnormen auf den konkreten Fall anzuwenden ist. Aus der Akzessorietät des Strafrechts fließt ein weiteres Argument. Knüpfen strafrechtliche Normen an außerstrafrechtliche Wertungen an, und kann deshalb nur jene Primärordnung in Kollision mit dem Gemeinschaftsrecht treten, so widerspräche die Einordnung des Gemeinschaftsrechts als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund dieser Funktion. Außerhalb des Strafrechts müsste die Primärnorm aufgrund des Vorrangs unanwendbar sein. Das Verhalten wäre folglich erlaubt und dem Rechtsunterworfenen könnte kein Werteverstoß vorgeworfen werden, so dass man, löste man strafrechtlich über die Einordnung als Rechtfertigungsgrund, durch die Hintertür zunächst doch ein spezifisch strafrechtliches Unwerturteil schüfe. Allein der Umstand, dass dies dann auf zweiter Stufe korrigiert würde, beseitigt indes nicht den gemeinschaftsrechtswidrigen tatbestandlichen Appell. Es entstünden nationale Normwidersprüche. Die Einordnung des Anwendungsvorrangs im strafrechtlichen Deliktsaufbau als Rechtfertigungsgrund ist im deutschen Recht nicht möglich. (d) Zusammenfassung kriminalstrafrechtlicher Besonderheiten Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Strafrecht, also auch der Ausschnitt des Kriminalstrafrechts, eine akzessorische Rechtsordnung darstellt. Einzig die außerstrafrechtlichen Primärnormen treffen die Bewertungen, was Recht und was Unrecht ist, die strafrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen enthalten eine solche Aussage dagegen nicht. Deshalb sind allein diese Primärnormen in der Lage, Kollisionen mit gemeinschaftsrechtlichen
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Gewährleistungen auszulösen. Aus dieser Akzessorietät folgt dann aber ebenso zwingend, dass widersprechende nationale Primärnormen tatbestandlich nicht anwendbar sind. Der Anwendungsvorrang erfasst als Annex ebenso die Sanktionsnorm. Der Weg, die Unanwendbarkeit über eine Einordnung als Rechtfertigungsgrund zu erzielen, ist im deutschen Kriminalstrafrecht weder erforderlich noch möglich. (2) Beispiele (a) Warenverkehrsfreiheit Ein Verstoß der nationalen Verhaltensnorm gegen die Warenverkehrsfreiheit wurde in der Rs. Strafverfahren gegen Ditlev Bluhme192 vorgetragen. Dem Bienenzüchter Bluhme wurde darin vorgeworfen, unter Verstoß gegen die dänische Verordnung über die Bienenzucht auf Laeso193 (Nr. 528, vom 24. Juni 1993), Bienen gehalten zu haben, die nicht der Unterart Apis mellifera mellifera (braune Laeso-Biene) angehörten. Der dänische Kriminalret Fredrikshavn legte dem EuGH vor. Dieser erblickte in dem Einfuhrverbot des § 6 der dänischen Verordnung eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung i. S. d. Dassonville-Formel194, denn „[. . .] ein allgemeines Verbot [. . .], nach Laeso [. . .] Zuchtbienen einzuführen, (verbietet) auch deren Einfuhr aus anderen Mitgliedstaaten und ist damit geeignet, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern. Sie stellt somit eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung dar.“
Der freiheitsrechtlich interpretierte Gewährleistungsgehalt des Art. 28 EG war damit verletzt. Dabei reichte es aus, dass die Einfuhrverbote lediglich auf einen Teil des mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiets beschränkt wurden. Das Verbot beziehe sich auf Eigenschaften der Bienen und sei daher als produktbezogene Regelung auch nicht bloße Verkaufsmodalität i. S. d. KeckRechtsprechung195. Somit kam es auf die Möglichkeit einer Rechtfertigung des mitgliedstaatlichen Verbots an. Einige mitgliedstaatliche Regierungen wiesen aufgrund der ihrer Ansicht nach unterschiedslosen Anwendbarkeit196 192 EuGH, Rs. C-67/97, Slg. 1998, I-8033 „Strafverfahren gegen Ditlev Bluhme“; vgl. auch Rs. C-162/97, Slg. 1998, I-7477 „Strafverfahren gegen Gunnar Nilsson u. a.“; Rs. C-448/98, Slg. 2001, I-10663 „Strafverfahren gegen Jean-Pierre Guimont“. 193 Nr. 528 vom 24.06.1993. 194 EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 „Dassonville“. 195 EuGH, verb. Rs. C-267 u. C-268/91, Slg. 1993, I-6097 „Keck“; Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 „Familiapress“. 196 Vgl. die Stellungnahmen der Regierungen Italiens, Norwegens und Dänemarks, die Regelung sei nicht diskriminierend, wiedergegeben im Schlussantrag des
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der Regelung auf die Rechtfertigungsmöglichkeit über die immanenten Schranken197 hin und erblickten zwingende Erfordernisse im Umweltschutz bzw. der biologischen Vielfalt. Der EuGH ging indes nicht auf diese Möglichkeit ein und wandte sich sogleich der Rechtfertigung nach Art. 30 EG zu. Er sah durch das Ziel der Erhaltung der biologischen Vielfalt das Leben der Tiere geschützt, weshalb eine Rechtfertigung über diese ausdrückliche Schranke möglich sei. Schließlich genüge die dänische Regelung im Hinblick auf das verfolgte Schutzziel auch dem Gebot der Verhältnismäßigkeit, so dass der Gerichtshof keinen Verstoß der Primärnorm gegen das Gemeinschaftsrecht feststellte, und die nationale Strafnorm Anwendung finden konnte. Unterzieht man dieses Urteil einer kritischen Prüfung anhand der gleichheitsrechtlichen Lesart, so offenbart auch diese Betrachtung die bereits angedeuteten Probleme. Erforderlich ist nämlich die Ermittlung einer Ungleichbehandlung durch die Bildung zweier Vergleichsgruppen unter einem gemeinsamen Bezugspunkt. Dabei wird die Bedeutung der Bestimmung dieses Bezugspunktes evident. Stellt man nämlich auf die Züchter der braunen Laeso-Biene ab, so trifft das Verbot inländische wie grenzüberschreitend tätige Züchter gleichermaßen. Es existiert kein Markt. Eine marktsegmentierende Kraft wäre nicht feststellbar und die dänische Verordnung nicht grundfreiheitsrelevant. Es zeigt sich somit, dass jeglicher Vergleich noch gewisse Unterschiede der Vergleichsgruppen voraussetzt. Je enger man den Bezugspunkt wählt, desto eher läuft man Gefahr, das Diskriminierungsverbot leer laufen zu lassen. Zutreffenderweise wird hier der allgemeinere Bezugspunkt der Bienenzüchter zu wählen sein. Verbietet der Gesetzgeber den Import anderer als der braunen Laeso-Biene und trifft dieses Verbot ausländische Bienenzüchter, weil nur in Dänemark die Zucht der braunen LaesoBiene deutlich überwiegt, so läge eine Ungleichbehandlung zum Nachteil ausländischer Züchter vor198. Es stellt sich dann die Frage, ob die Differenzierung zwischen der braunen Laeso-Biene und anderen Bienenvölkern nachvollziehbar sachlich zu begründen ist. Ist dies der Fall, so liegt keine Diskriminierung anhand der verbotenen Kriterien der Staatsangehörigkeit GA Fenelly in dieser Rs. 67/97, Slg. 1998, I-8033, 8040 „Strafverfahren gegen Ditlev Bluhme“. 197 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 „Cassis de Dijon“; Rs. C-39/90, Slg. 1991, I-3069 „Denkavit“; Rs. C-448/98, Slg. 2001, I-10663 „Strafverfahren gegen JeanPierre Guimont“. 198 Vgl. EuGH, Rs. C-391/92, Slg. 1995, I-1621, 1642 ff. „Kommission ./. Griechenland“ im Hinblick auf eine Verkaufsbeschränkung für verarbeitete Milchprodukte auf Apotheken, die nur ausländische Produkte traf, weil in Griechenland keine verarbeitete Milch für Säuglinge hergestellt wurde; zustimmend Ebenroth, Piper-FS, 133, 145 f.
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oder des Grenzübertritts vor. Die Prüfung der sachlichen Berechtigung illustriert gleichzeitig die Nähe zur Rechtfertigungsprüfung. Betraf die vorgestellte Entscheidung noch die Frage der Maßnahmen gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung, also den klassischen Fall protektionistischer, grundfreiheitlich relevanter Maßnahmen, so war der Gerichtshof in der Rs. Grilli199 mit einer Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Ausfuhrbeschränkung i. S. d. Art. 29 EG befasst. Der italienische Staatsangehörige Herr Marco Grilli wollte im August 2000 einen PKW aus Deutschland nach Italien überführen und installierte zu jenem Zweck bei Übernahme ein italienisches Überführungskennzeichen. Vor der österreichischen Grenze wurde er von der deutschen Polizei kontrolliert. Die Staatsanwaltschaft leitete gegen Herrn Grilli ein Strafverfahren wegen Kennzeichenmissbrauchs gem. § 22 I Nr. 1, II StVG sowie § 18 i. V. m. § 69 a II Nr. 3 StVZO ein, weil es nicht zulässig sei, einen in Deutschland erworbenen PKW mit italienischen Überführungskennzeichen zu versehen und sodann auf öffentlichen Straßen in Deutschland zu führen. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens legte das Bayerische Oberste Landesgericht folgende Frage vor: „Ist Artikel 29 EG dahin gehend auszulegen, dass diese Vorschrift einer innerstaatlichen Regelung entgegensteht, die es unter Strafe stellt, dass ein Staatsangehöriger der Italienischen Republik, der dort ein von der zuständigen Verwaltungsbehörde zugeteiltes Überführungskennzeichen erhält, dieses Kennzeichen an einem in der Bundesrepublik Deutschland zum Verkauf angebotenen Fahrzeug anbringt und anschließend dieses Fahrzeug von der Bundesrepublik Deutschland auf öffentlichen Straßen in die Italienische Republik verbringt?“
Es ging mithin auch hier um die Grundfreiheitskonformität der Primärnorm200, wobei der EuGH klarstellte, dass die Grundfreiheit hinsichtlich der Ausfuhrbeschränkungen auch seiner Ansicht nach lediglich ein Verbot der Ungleichbehandlung enthält: „Dabei ist zu berücksichtigen, dass Artikel 29 EG im Unterschied zu Artikel 28 EG, der mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie solche Beschränkungen betrifft, nur die nationalen Maßnahmen verbietet, die eine unterschiedliche Behandlung der zur Ausfuhr bestimmten Erzeugnisse und der innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats vermarkteten Erzeugnisse vorsehen.“201
[. . .] 199
EuGH, Rs. C-12/02, Slg. 2003, I-11585 „Strafverfahren gegen Marco Grilli“. Der EuGH deutete die Vorlagefrage zudem als Frage nach der Verhältnismäßigkeit der vorgesehenen Sanktionen. Dazu noch unten 1. Teil C. I. 1. b) bb) (3). 201 EuGH, Rs. C-12/02, Slg. 2003, I-11585 Rn. 42 „Strafverfahren gegen Marco Grilli“; bereits EuGH, Rs. 15/79, Slg. 1979, 3409 „Groenveld“. 200
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„Somit ist auf den ersten Teil der Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 29 EG einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen wie Freiheits- oder Geldstrafe verbietet, ein in dem erstgenannten Mitgliedstaat gekauftes Fahrzeug, das mit Überführungskennzeichen versehen ist, die zur Ausfuhr des Fahrzeugs in den anderen Mitgliedstaat von dessen zuständigen Behörden zugeteilt worden sind, in diesen anderen Mitgliedstaat zu überführen, wenn diese Regelung zu einer Beschränkung der Ausfuhrströme führen kann, unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel eines Mitgliedstaats und seinen Außenhandel schafft sowie den inländischen Handel zum Nachteil des Handels eines anderen Mitgliedstaats begünstigt, soweit die Regelung nicht nach Artikel 30 EG gerechtfertigt werden kann. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist.“202
Der EuGH wahrt mit dieser Entscheidung seine Kompetenz, indem er trotz weitergehender Vorlagefrage bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts verharrt und den gleichheitsrechtlichen Gehalt konkretisiert. Eine weitere Entscheidung des EuGH203 auf der Grundlage eines englischen Strafverfahrens kann die gleichheitsrechtliche Prüfung illustrieren. Mehrere Kaufleute waren einerseits des illegalen Imports von KrügerrandGoldmünzen und des Exports im vereinigten Königreich geprägter Münzen aus Silberlegierungen angeklagt. Während die Krügerrand-Münzen und z. T. auch diejenigen aus Silberlegierungen zu jener Zeit noch gesetzliches Zahlungsmittel in Großbritannien waren, so dass bereits der sachliche Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit nicht eröffnet war, stellte der EuGH in Bezug auf die übrigen Münzen aus Silberlegierung, die nicht mehr Zahlungsmittel waren, klar, dass diese als Waren i. S. d. Art. 28, 29 EG einzuordnen sind. Knüpft ein Verbot an den Export, d.h. an den Grenzübertritt an, so behandelt es diese transnationalen Sachverhalte nachteilig, so dass der Schutzbereich des Art. 29 EG eröffnet war und ein Rechtfertigungszwang bestand. Das münzrechtliche Exportverbot zum Schutz vor Einschmelzung in einem anderen Mitgliedstaat sah der Gerichtshof aber aus Gründen der öffentlichen Ordnung gem. Art. 30 EG als gerechtfertigt an. Dementsprechend verstieß weder die Primärnorm noch dadurch vermittelt die britische Sanktionsvorschrift gegen EG-Recht und konnte angewendet werden.
202 EuGH, Rs. C-12/02, Slg. 2003, I-11585 Rn. 48 „Strafverfahren gegen Marco Grilli“. 203 EuGH, Rs. 7/78, Slg. 1978, 2247 „Thompson“.
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(b) Dienstleistungsfreiheit Im dem bereits angesprochenen Fall „Schindler204“ setzte sich der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren mit der Vereinbarkeit des britischen Lotterieverbots mit der Dienstleistungsfreiheit auseinander. Die Brüder Schindler versandten Anmeldeformulare und Werbematerial für eine Ausspielung der Süddeutschen Klassenlotterie aus den Niederlanden an britische Staatsangehörige. Diese wurden von Her Majesty’s Customs and Excise mit der Begründung beschlagnahmt, dass sie unter Verstoß gegen Section 1 Ziffer ii des Revenue Act 1898 in Verbindung mit Section 2 des Lotteries and Amusement Act 1976 eingeführt worden waren. Der EuGH entschied, dass das Versenden von Werbematerialien nicht einem Selbstzweck diene, vielmehr im Dienste der Lotterie stehe. Daher sei sachlich nicht die Warenverkehrsfreiheit, sondern die Dienstleistungsfreiheit anwendbar, weil die Veranstaltung einer Lotterie Dienstleistung205 im Sinne des Vertrages sei. Im Anschluss betrieb der EuGH erheblichen Aufwand, um die unterschiedslose Geltung der Regelung festzustellen. Wohl um die Maßnahme an den immanenten Schranken messen zu können, erkannte er gravierende Unterschiede zwischen der im Königreich praktizierten Veranstaltung vieler kleiner Lotterien durch eine Person im Gegensatz zu einer großen206. Infolge eines unter dem Bezugspunkt großer Lotterien fehlenden vergleichbaren englischen Sachverhalts wurde eine Ungleichbehandlung daher verneint und sich mit einer Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses auseinander gesetzt. Diese erblickt der Gerichtshof in dem Ziel, Straftaten zu verhindern und dem Schutz vor negativen persönlichen und sozialen Folgen. Letztlich überprüft der EuGH, ob Beschränkungen bis hin zu einem Verbot auch verhältnismäßig sind. Den Mitgliedstaaten stehe bei dieser Beurteilung ein weites Ermessen zu, welches aber auch durch ein diskriminierungslos wirkendes Verbot nicht überschritten werde. Bereits an anderer Stelle wurde auf den Umstand hingewiesen, dass gemeinsamer Bezugspunkt eigentlich das „gewerbsmäßig betriebene Glücksspiel“ gewesen, die britischen Lotterien somit vergleichbare Sachverhalte und das Verbot sowie die Beschlagnahme diskriminierend gewesen wären207. Es kann nur vermutet werden, dass der EuGH hier der beschränkten 204
EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039 „Schindler“. Zum Begriff ausführlich Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 49/50 EGV Rn. 23 ff. m. w. N. 206 Zu jener Zeit existierte in England keine große Lotterie. 207 Vgl. die Ausführungen der Kommission in dieser Rs., Slg. 1994, I-1039, 1094 „Schindler“ und die Kritik von Schroeder, EuGRZ 1994, 373, 376 f.; Voßkuhle, VerwArch 87 (1996), 395, 418 f. 205
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Rechtfertigungsmöglichkeit über die nach seiner Rechtsprechung eng zu interpretierenden ausdrücklichen Schranken entgehen wollte. Ein derartiges Problem entsteht nach hier vertretener Ansicht nicht, werden doch die immanenten Schranken auch zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen herangezogen. Vergleicht man den deutschen Straftatbestand des § 287 I, II StGB, der einen Verstoß gegen den Erlaubnisvorbehalt bei Durchführung einer Lotterie unter Strafe stellt, unter freiheitsrechtlichem Ansatz, so kann dieser als milderes Mittel erst recht nicht mit der Dienstleistungsfreiheit kollidieren. § 287 I, II StGB bzw. die zugrundeliegende Primärnorm bliebe vom Anwendungsvorrang unberührt. Unter gleichheitsrechtlichem Blickwinkel läge bereits keine gesetzliche Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte vor, so dass der Tatbestand nicht grundfreiheitsrelevant wäre. Fragen des Wettverbots waren Gegenstand der erst kürzlich ergangenen Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren in der Rs. Gambelli u. a.208. Herrn Gambelli u. a. wurde zur Last gelegt, widerrechtlich Wetten organisiert und dazu Zentren etabliert zu haben, was nach italienischem Recht dem Staat vorbehalten ist, so dass ein Betrug zu Lasten des Staates vorgelegen hätte. Er war dabei durch Einrichtung von Datenübermittlungszentren als Vermittler für die im Vereinigten Königreich eingetragene und lizenzierte Gesellschaft Stanley tätig, die via Internet Wetten anbot. Es wurden Fragen nach der Vereinbarkeit des italienischen Gesetzes Nr. 401/89 mit der Niederlassungsfreiheit sowie der Dienstleistungsfreiheit vorgelegt. Der EuGH befand, dass beide Gemeinschaftsbestimmungen verletzt sein konnten. Art. 43 EG könne dadurch beeinträchtigt sein, dass es die nationale Konzessionspraxis ausländischen Gesellschaften praktisch unmöglich mache, Konzessionen zu erlangen209. Art. 49 EG könne dadurch verletzt sein, dass innerstaatliche Vermittler bei der Erleichterung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen via Internet behindert werden. Es liege kein rein innerstaatlicher Sachverhalt vor210. Der EuGH gibt dann unter Wahrung seiner Kompetenz lediglich Vorgaben zur Auslegung ausdrücklicher und immanenter Schranken und weist dabei auf die o. g. Rs. Schindler hin. Bemerkenswert sind dann aber seine Ausführungen zu den angedrohten Strafen: „Schließlich dürfen die durch die italienischen Rechtsvorschriften auferlegten Beschränkungen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihnen ver208
EuGH, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13031„Strafverfahren gegen Piergiorgio Gambelli u. a.“ 209 Vgl. EuGH, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13031 Rn. 48 „Strafverfahren gegen Piergiorgio Gambelli u. a.“. 210 Vgl. EuGH, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13031 Rn. 58 „Strafverfahren gegen Piergiorgio Gambelli u. a.“.
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folgten Zieles erforderlich ist. Insoweit wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob die Strafe, die gegen jede Person, die von ihrem Wohnort in Italien aus über das Internet mit einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Buchmacher Wetten durchführt, verhängt wird, nicht vor allem deshalb eine [. . .] unverhältnismäßige Sanktion darstellt, weil zur Teilnahme an Wetten ermuntert wird, sofern sie im Zusammenhang mit Spielen stattfindet, die von zugelassenen nationalen Einrichtungen organisiert werden.“211
Mit jener Stellungnahme missachtet der Gerichtshof die gebotene geschiedene Beurteilung von Primär- und Sekundärnorm, denn bereits die Primärnorm hat den beschriebenen Lenkungseffekt, so dass zu prüfen gewesen wäre, ob jene Verhaltensanordnung angesichts dieses Effekts überhaupt noch geeignet ist, unter dem Gesichtspunkt sozialer Gemeininteressen gerechtfertigt zu werden. Im Falle der Bejahung könnte es sich zudem noch um eine willkürliche Diskriminierung handeln. Die Eingriffsqualität der Sanktion ist dagegen geschieden zu beurteilen212. (c) Niederlassungsfreiheit Natürlich bestehen weiterhin problematische Grenzfälle bei der Bestimmung der Reichweite der Grundfreiheiten, die sich auch durch eine gleichheitsrechtliche Lesart nur schwer lösen lassen. Angesprochen sind z. B. die Grenzfälle europaweiter Vermarktungskonzepte. Die daraus folgenden Schwierigkeiten lassen sich hervorragend an der Rs. Pfeiffer213 zur Niederlassungsfreiheit illustrieren, die zwar nicht strafrechtlichen Inhalts war, dennoch eine Verbotsnorm zum Gegenstand hatte, die ohne weiteres eine strafrechtliche Primärnorm darstellen könnte. Unterschiede bestehen insoweit nicht, so dass die Rechtssache als Beispiel für das Erfordernis und die Probleme einer genauen Definition der grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehalte bei der Ermittlung von Kollisionen mit nationalen Primärnormen dienen kann. In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es um die Gemeinschaftsrechtmäßigkeit des § 9 des österreichischen UWG, wonach die Führung einer Unternehmensbezeichnung verboten werden konnte, die geeignet ist, Verwechslungen mit Namen, Firmen oder besonderen Bezeichnungen hervorzurufen, deren sich ein anderer befugter Weise bedient. Eine Tochtergesellschaft der deutschen Firma Tengelmann trat nun auf dem österreichischen Markt in einer Form auf, die nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ein 211
EuGH, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13031 Rn. 72 „Strafverfahren gegen Piergiorgio Gambelli u. a.“. 212 Dazu noch unten 1. Teil C. I. 1. b) bb). 213 EuGH, Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835 „Pfeiffer“.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Unterlassungsgebot nach österreichischem Recht erlaubt hätte. Fraglich war die Vereinbarkeit mit Art. 28 und 43 EG. Der Gerichtshof maß die Regelung primär an der Niederlassungsfreiheit und sah den sachlichen Anwendungsbereich als erfüllt an: „Ein Verbot wie das von der Klägerin beantragte benachteiligt Unternehmen, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, in dem sie rechtmäßig eine Geschäftsbezeichnung verwenden, und die daran interessiert sind, diese auch außerhalb dieses Mitgliedstaats zu benutzen. Das Verbot ist nämlich geeignet, die Durchführung einer gemeinschaftsweit einheitlichen Werbekonzeption durch diese Unternehmen zu beeinträchtigen, da es sie dazu zwingen kann, das Erscheinungsbild ihrer Geschäfte je nach dem Ort der Niederlassung unterschiedlich zu gestalten.“
Diese EuGH-Formulierung stützt sich auf eine Argumentation komparativen Charakters, indem sie die Benachteiligung grenzüberschreitend tätiger Unternehmen herausstellt. Im Ergebnis war die Regelung aber durch zwingende Gründe des Gemeinwohls zum Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums i. S. d. Art. 30 S. 1 EG gerechtfertigt, da sie auch dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügte. Auch eine kriminalstrafrechtliche Sanktion hätte folglich auf diese Primärnorm gestützt werden können, stand aber nicht in Frage. Generalanwalt Mischo lehnt eine diskriminierende Wirkung dagegen ab. In Bezug auf die Niederlassungsfreiheit stellt er lapidar fest, es gäbe keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Vorschrift in der Praxis so angewandt werde, dass ausländische Unternehmen gegenüber inländischen benachteiligt werden. Die in Rede stehende Norm betreffe Verkaufsmodalitäten, da sie sich auf die Unternehmensbezeichnung und nicht auf die von dem Unternehmen vertriebenen Waren beziehe214 und enthalte keine das Ob und das Wie der Niederlassung unmittelbar betreffende Regelung215. Es folgen dann geradezu als klassisch zu bezeichnende Ausführungen zur begrenzten Reichweite der Grundfreiheit: „Es wäre nämlich unerträglich, wenn die Mitgliedstaaten nationale Rechtsvorschriften aller Art [. . .] als zwingendes Erfordernis rechtfertigen müssten, [. . .]. Eine nationale Regelung bedarf nur dann einer Rechtfertigung [. . .], wenn sie in einem hinreichend engen Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit steht. Ebenso wie die Kommission bin ich der Auffassung, dass dies bei § 9 Absatz 1 UWG nicht der Fall ist.“216 214
GA Mischo, in: EuGH, Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835, 2843 f. „Pfeiffer“ bzgl. Art. 28 EG. 215 GA Mischo, in: EuGH, Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835, 2847 „Pfeiffer“ bzgl. Art. 43 EG. 216 GA Mischo, in: EuGH, Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835, 2848 „Pfeiffer“ bzgl. Art. 43 EG.
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Wie bereits einleitend festgestellt, stellt sich hier das Problem transnationaler Vermarktungsstrategien, das insbesondere aus den Rs. Yves Rocher217 und Mars218 vertraut ist. Diese Fallgruppe vermag nochmals zu illustrieren, dass die von GA Mischo verfolgte Differenzierung nach Produktbezogenheit einerseits und Vertriebsmodalitäten andererseits bei der Begrenzung des Gewährleistungsgehalts untauglich ist. Der Firmenname kann gerade nicht als sog. Software bezeichnet werden, die man von der produktbezogenen Hardware abgrenzen könnte219. Bei der Niederlassungsfreiheit geht es um die Etablierung der selbständigen Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat. Hard- und Software des Produkts der selbständigen Arbeit lassen sich kaum trennen. Ware, Werbung und Vertriebsmethoden bilden häufig einen einheitlichen Komplex220. Auf einem durch medialen Auftritt geprägten Markt mutet eine Trennung von Soft- und Hardware künstlich an. Die Firma könnte daher sogar als Bestandteil des Produktes Tengelmann angesehen werden, das zentral hergestellt, aber in verschiedenen Mitgliedstaaten vertrieben wird221. Die Argumentation des GA Mischo vernachlässigt zudem den komparativen Aspekt, den der EuGH in den Vordergrund rückt. Diskriminiert eine Regelung, so kommt es auch nach h. M. für die Einordnung als grundfreiheitsrelevant gar nicht mehr auf die Produkt- oder Vertriebsbezogenheit an – sie ist stets grundfreiheitsrelevant. Bei der Ermittlung einer Diskriminierung ergibt sich aber das Problem, dass nahezu jede nationale Regelung faktisch zusätzliche Hemmnisse für die transnationale Vergleichsgruppe zur Folge hat, weil in der Gemeinschaft verschiedene nationale Rechtsordnungen existieren, an die sich der Rechts217 EuGH, Rs. C-126/91, Slg. 1993, I-2361 „Yves Rocher“: „Der für einen Unternehmer bestehende Zwang, sich entweder für die einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlicher Systeme der Werbung und Absatzförderung zu bedienen oder ein System, das er für besonders wirkungsvoll hält, aufzugeben, kann selbst dann ein Einfuhrhindernis darstellen, wenn eine solche Regelung unterschiedslos für inländische und für eingeführte Erzeugnisse gilt.“ 218 EuGH, Rs. C-470/93, Slg. 1995, I-1923 „Mars“: „[. . .] ein Verbot, das sich gegen das Inverkehrbringen von Erzeugnissen in einem Mitgliedstaat richte, die die gleichen Werbeaufdrucke trügen wie diejenigen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig verwendet würden, auch wenn es unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelte, geeignet sei, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern“ und „[. . .] den Importeur dazu zwingen, die Ausstattung seiner Erzeugnisse je nach dem Ort des Inverkehrbringens unterschiedlich zu gestalten und demgemäss die zusätzlichen Verpackungs- und Werbekosten zu tragen.“ 219 Vgl. zu diesen Begrifflichkeiten Lüder, EuZW 1996, 615, 620. 220 Roth, Großfeld-FS, 929, 949 f. 221 Eine gewisse Nähe zur Warenverkehrsfreiheit ist hier unverkennbar, in der ein Produkt in einem Mitgliedstaat hergestellt wird, aber auch in anderen vertrieben werden soll. Sobald hier die Produktgestaltung geregelt wird, handelt es sich nicht mehr um eine Vertriebsmodalität und nach h. M. gilt das Beschränkungsverbot.
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unterworfene anzupassen hat. Die bloßen Anpassungskosten sind indes Folge weiterhin bestehender und von den Grundfreiheiten vorausgesetzter Rechtsordnungen. Diese föderalen Kosten sind deshalb hinzunehmen, d.h. nicht grundfreiheitsrelevant. Auszugehen hat die Lösung vom Grundfall der Niederlassungsfreiheit, die den diskriminierungsfreien Wechsel von einer Rechtsordnung in die andere und damit eine Öffnung der Teilmärkte garantiert. Nachteile erleidet ein Grenzgänger durch § 9 UWG nicht. Liegt der Grenzübertritt hinter ihm, so hat er sich nur noch mit der neuen Rechtsordnung auseinander zu setzen. Der vorliegende Sachverhalt stellt sich aber ein wenig anders dar, weil Tengelmann eine Tochtergesellschaft in einem anderen, d.h. zusätzlichen Mitgliedstaat etablieren will. Das Unternehmen muss deshalb mehreren Rechtsordnungen genügen, deren Regelungen in der Person von Tengelmann kumulieren. Dem grenzüberschreitend Anbietenden entstehen im Vergleich zum rein inländisch Tätigen zusätzliche Kosten, was eine Ungleichbehandlung hervorruft und seinen Marktzugang erschwert. Zweifelhaft erscheint jedoch, ob sich diese allein durch die Staatsangehörigkeit bzw. den Grenzübertritt nachvollziehbar begründen lässt. Ein Unternehmen, welches in die österreichische Rechtsordnung wechselt, wird schließlich nicht diskriminiert. Allein Unternehmen, die wie Tengelmann quasi aus dem Ursprungsstaat durch die Gründung eines Tochterunternehmens in die andere Rechtsordnung hineinwirken, werden dadurch belastet, dass sie nicht in allen Mitgliedstaaten eine einheitliche Vermarktungsstrategie verfolgen können. Die Belastung folgt nicht aus der an die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt anknüpfenden Regelung, sondern aus dem Umstand, dass Tengelmann verschiedene Rechtsordnungen durch sein Verhalten in sich vereint, deren Nivellierung nicht Aufgabe der Grundfreiheiten ist. Die Grundfreiheiten bezwecken nicht die Marktöffnung um jeden Preis und setzen verschiedene Rechtsordnungen voraus. Im Ergebnis ist § 9 UWG mangels verbotener Diskriminierung nicht grundfreiheitsrelevant. (d) Arbeitnehmerfreizügigkeit Als geradezu klassisch können die Fälle im Recht der Freizügigkeit nach Art. 39 EG bezeichnet werden, in denen es um die Anerkennung von ausländischen Befähigungsnachweisen ging. In der Rs. Strafverfahren gegen Michel Choquet222 war der EuGH mit der deutschen Pflicht befasst, bei einem längeren als einjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik den nationa222 Vgl. EuGH, Rs. 16/78, Slg. 1978, 2293 „Choquet“; vgl. zu den Befähigungsnachweisen auch Rs. 71/76, Slg. 1977, 765 ff. „Thieffry“; Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097 „Heylens“; Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357 „Vlassopoulou“; Rs. C-104/91, Slg. 1992, I-3003 „Aguirre Borrell“.
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len Führerschein zu erwerben. Die Nichtanerkennung der Befähigungsnachweise des Herkunftsstaats und damit einhergehend die Pflicht zum Neuerwerb verursacht zusätzliche finanzielle Belastungen. Zudem könnten sprachliche Barrieren existieren und faktisch zu einer Abschottung des nationalen Marktes für solche Personen führen, die im Ausland ihren Führerschein erworben haben. Diese Pflicht trifft alle Marktteilnehmer, die ihren Führerschein im Ausland erworben haben, also regelmäßig Ausländer. Der EuGH muss dann zur Feststellung einer Diskriminierung223 das Differenzierungskriterium des Erwerbsortes bewerten und feststellen, ob es sachlichen Gründen dient oder Ausländer diskriminiert. Deshalb folgen bereits auf Schutzbereichsebene rechtfertigungsnahe Erwägungen: „Ein derartiges Verlangen kann jedoch als eine mittelbare Beeinträchtigung der Ausübung des Freizügigkeitsrechts [. . .] als unvereinbar mit dem Vertrag angesehen werden, falls sich herausstellen sollte, dass die Voraussetzungen, die in innerstaatlichen Bestimmungen gegenüber dem Inhaber einer von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis aufgestellt sind, vernünftigerweise nicht mit den Bedürfnissen der Sicherheit des Straßenverkehrs in Verbindung gebracht werden können. Dies könnte unter Umständen dann der Fall sein, wenn eine Prüfung für die Fahrzeugklassen, die der Betreffende führen möchte, nur unnötig wiederholt würde [. . .]“
Die freiheitsrechtliche Lesart käme ohne Probleme zu einer Erschwerung des Grenzübertritts und hätte eine Gleichwertigkeitsprüfung als milderes Mittel im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu erwägen. In diesem Rahmen fingiert das sog. Herkunftslandsprinzip eine Binnenmarkthomogenität. Nur falls diese ergibt, dass der im Ausland erworbene Nachweis nicht den im Aufnahmestaat erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht, wäre eine Wiederholung verhältnismäßig. Jegliche mitgliedstaatliche Sanktionsnorm, die eine Primärnorm bewehrt, die z. B. das Fahren ohne Führerschein verbietet und dabei auch Personen erfasste, die in anderen Mitgliedstaaten gleichwertige Nachweise erworben haben, wäre demnach vermittelt über die Primärnorm unanwendbar. Das deutsche Recht sieht im § 2 XI 2 StVG dementsprechend lediglich eine Registrierungspflicht für Inhaber einer in einem anderen Mitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis vor, die ihren ordentlichen Wohnsitz nach Deutschland verlegt haben.
223 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde zu jener Zeit auch vom EuGH noch als Diskriminierungsverbot interpretiert. Jedenfalls seit EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 „Bosman“ interpretiert er auch jene Grundfreiheit als Beschränkungsverbot.
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(e) Kapitalverkehrsfreiheit Die Rs. Sanz de Lera u. a.224 betraf die Vorschriften der Kapitalverkehrsfreiheit. Der in Spanien wohnende spanische Staatsangehörige Sanz de Lera wurde in Frankreich angehalten, als er am Steuer seines Wagens auf dem Weg nach Genf (Schweiz) war. Er versicherte, nichts anmelden zu müssen. Die französischen Beamten entdeckten Banknoten im Werte von 19.600.000 PTA. Nach Art. 4 Absatz 1 des königlichen Dekrets Nr. 1816 war die Transaktion von Banknoten, deren Wert 1.000.000 PTA pro Person und Reise übersteigt, anzumelden und wenn der Wert 5.000.000 PTA pro Person und Reise übersteigt, durch die Verwaltung zu genehmigen. Der Verstoß war im spanischen Gesetz Nr. 40 mit Strafe bedroht. Das mitgliedstaatliche Gericht legte u. a. die Frage vor, ob die Anmelde-, die Genehmigungspflicht sowie der Umstand, dass eine Nichterfüllung dieser Voraussetzungen mit strafrechtlichen Sanktionen verknüpft ist, die den Freiheitsentzug einschließen können, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Der EuGH urteilte, hier sei der Kapitalverkehr mit Drittländern betroffen, der durch Art. 73 b EGV (jetzt: Art. 56 EG) liberalisiert worden sei. Dennoch bleibe gem. Art. 73 d I b EGV (jetzt: Art. 58 I b EG) das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, insbesondere „unerlässliche Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind“. Aus dem Urteil Bordessa225 ginge hervor, dass durch Art 73 d I b EGV auch „[. . .] Maßnahmen zur Sicherstellung der Wirksamkeit der Steueraufsicht und zur Bekämpfung rechtswidriger Tätigkeiten, wie der Steuerhinterziehung, der Geldwäsche, des Drogenhandels und des Terrorismus [. . .] erfasst werden.“226
Zwar wird vom EuGH die diskriminierende Wirkung nicht ausdrücklich herausgestellt, doch knüpft das Erfordernis einer Ausfuhrgenehmigung an den Grenzübertritt an und stellt eine Ungleichbehandlung zu rein internen Sachverhalten dar. Diese Maßnahme ist sowohl nach gleichheitsrechtlicher wie auch nach freiheitsrechtlicher Lesart an den Grundfreiheiten zu messen. Es stellt sich mithin nach beiden Interpretationen die Frage, ob ein Anmelde- oder Genehmigungserfordernis um der zuvor genannten Ziele willen erforderlich ist. 224
EuGH, verb. Rs. C-163/94, C-165/94 u. C-250/94, Slg. 1995, I-4821 „Sanz de Lera“. 225 EuGH, verb. Rs. C-358/93 u. C-416/93, Slg. 1995, I-361 „Bordessa“ zur Kollision mit unmittelbar anwendbaren Richtlinien. 226 EuGH, verb. Rs. C-163/94, C-165/94 u. C-250/94, Slg. 1995, I-4821, 4837 „Sanz de Lera“.
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„Wie der Gerichtshof im Urteil Bordessa u. a. in Randnummer 24 bereits festgestellt hat, hat die Genehmigungspflicht die Wirkung, dass sie die Devisenausfuhr aussetzt und in jedem einzelnen Fall von der Zustimmung durch die Verwaltung, die besonders zu beantragen ist, abhängig macht. Ein solches Erfordernis stellt daher die Ausübung des freien Kapitalverkehrs letztlich in das Ermessen der Verwaltung und kann diese Freiheit illusorisch werden lassen.“227
Insbesondere sei ein sachgerechtes Anmeldesystem für Geldtransaktionen milderes Mittel, weil es nicht zur Aussetzung der Transaktion führte und dennoch den nationalen Stellen die nötige Kenntnis und Prüfungsmöglichkeit eröffne. Der spanische Staatsbürger konnte daher aufgrund des Vorrangs der primärrechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit vor der durch die nationale Primärnorm statuierten Genehmigungspflicht nicht bestraft werden. Dagegen widersprach die Pflicht zur vorherigen Anmeldung nicht den Normen der Kapitalverkehrsfreiheit, so dass ein Verstoß durchaus mit einer strafrechtlichen Sanktion hätte bewehrt werden können228. (f) Exkurs: Wettbewerbsrecht Oben beschriebene Akzessorietät des Strafrechts und die Folge der Nichtigkeit von Strafnormen, die auf gemeinschaftsrechtswidrigen Primärnormen beruhen, lässt sich auch außerhalb der Grundfreiheiten z. B. im Wettbewerbsrecht beobachten. Ausgangspunkt der Rs. Corbeau229 war ein belgisches Strafverfahren gegen Paul Corbeau, einen Lütticher Gewerbetreibenden, der beschuldigt wurde, gegen die belgischen Gesetze über den Postdienst und über die Bildung der „Régie des postes“ verstoßen zu haben. Die juristische Person „Régie des postes“ besaß das ausschließliche Recht, Postsendungen zu sammeln, zu befördern und zu verteilen. Der Verstoß gegen diese Regelungen war mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht. Der Angeklagte Corbeau offerierte im Bereich Lüttich, Postsendungen beim Absender abzuholen und diese vor dem Mittag des nächsten Tages an den Empfänger auszuliefern. Sendungen, die an einen Empfänger außerhalb des Gebiets adressiert waren, holte er lediglich ab und verschickte diese per Post. 227 EuGH, verb. Rs. C-163/94, C-165/94 u. C-250/94, Slg. 1995, I-4821, 4838 „Sanz de Lera“. 228 Die spanische Regierung wies indes darauf hin, dass nur ein Genehmigungssystem es zulasse, eine Zuwiderhandlung als Straftat zu qualifizieren. Der EuGH stellte daraufhin klar, dass dies indes nicht die Aufrechterhaltung gemeinschaftswidriger Maßnahmen rechtfertige, vgl. EuGH, verb. Rs. C-163/94, C-165/94 u. C-250/94, Slg. 1995, I-4821, 4838 „Sanz de Lera“. 229 EuGH, Rs. C-320/91, Slg. 1993, I-2533 „Corbeau“.
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Der EuGH sah den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 90 EGV (jetzt: Art. 86 EG) eröffnet, da die Régie des postes ein Unternehmen sei, dem ausschließliche Rechte gewährt worden seien. Nach Art. 90 Abs. 1 EGV gelten grundsätzlich die allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln auch für solche Unternehmen, so dass diesen Regeln widersprechende mitgliedstaatliche Maßnahmen grundsätzlich untersagt sind. Eine Ausnahme gilt allerdings nach Art. 90 Abs. 2 EGV, wonach für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, die allgemeinen Wettbewerbsregeln nur gelten, soweit deren Anwendung nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Daraus ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten Unternehmen, welche Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse wahrnehmen, ausschließliche Rechte verleihen dürfen, die den Wettbewerbsregeln entgegenstehen oder einen solchen sogar ausschließen, soweit dies erforderlich ist, um die Erfüllung der Dienstleistungen von besonderem wirtschaftlichen Interesse sicherzustellen. Die von der Régie des postes wahrgenommenen Dienstleistungen seien unbestreitbar solche allgemeinen wirtschaftlichen Interesses. Art. 90 Abs. 2 EGV gewähre die Möglichkeit des Wettbewerbsausschlusses aber eben auch nur, soweit dies erforderlich sei, um die besonderen Aufgaben im Allgemeininteresse zu erfüllen, „und zwar unter wirtschaftlich tragbaren Bedingungen.“ Die Sicherstellung wirtschaftlich tragbarer Bedingungen erfordere einen Ausgleich zwischen rentablen und unrentablen Bereichen, der eine Einschränkung des Wettbewerbs in wirtschaftlich rentablen Bereichen rechtfertige. „Der Ausschluss des Wettbewerbs ist jedoch dann nicht gerechtfertigt, wenn es sich um spezifische, von den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse trennbare Dienstleistungen handele, die den besonderen Bedürfnissen von Wirtschaftsteilnehmern entsprechen und bestimmte zusätzliche Leistungen verlangen, die der herkömmliche Postdienst nicht anbietet [. . .], und das wirtschaftliche Gleichgewicht der vom Inhaber des ausschließlichen Rechts übernommenen Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nicht in Frage stellen.“230
Es oblag dem mitgliedstaatlichen Gericht, festzustellen, ob die nationalen Regelungen zur Erhaltung des wirtschaftlichen Gleichgewichts der „Régie des postes“ erforderlich waren. Andernfalls verstieße der Wettbewerbsausschluss gegen Art. 90 Abs. 2 EGV, so dass eine strafrechtliche Sanktionierung ausschiede. Im Übrigen wäre eine Sanktionierung zulässig.
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EuGH, Rs. C-320/91, Slg. 1993, I-2533, 2569 „Corbeau“.
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(g) Zusammenfassung der Beispielsanalyse Die vorstehenden Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH konnten exemplifizieren, dass strafbewehrte Primärnormen keiner gesonderten Behandlung durch das Gemeinschaftsrecht unterliegen, die Existenz oder Nichtexistenz nationaler Strafbarkeit vielmehr von der Reichweite und Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Normen abhängt. Bereits aus diesem Grunde ist es von grundlegender Bedeutung, dass sich nationale Strafrechtsanwender den gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen nicht verschließen, sondern sich eingehend mit dem Gemeinschaftsrecht im jeweils in Rede stehenden Bereich auseinander setzen. Erschwerend wirkt dabei die mangelnde Transparenz der Reichweite der Grundfreiheiten infolge der vielfältigen freiheitsrechtlichen Korrekturversuche. Auch die vorstehende Beispielsanalyse kann daher als Argument für eine Rückbesinnung auf den gleichheitsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten herangezogen werden. Schließlich wurde evident, dass die Vielzahl der Fälle, in denen der EuGH eine Grundfreiheitsrelevanz erkannte, auch über ein gleichheitsrechtliches Verständnis zu lösen gewesen wäre. Dies hängt nicht zuletzt mit dem Umstand zusammen, dass auch mit den freiheitsrechtlichen Kriterien im Ergebnis regelmäßig eine Marktsegmentierung überprüft wird. Diese Betrachtung enthält ein komparatives Element, welches es konsequent zu verfolgen gilt. Besteht dagegen nicht die Möglichkeit, mitgliedstaatliche Maßnahmen im Wege einer gleichheitsrechtlichen Betrachtung zu überprüfen, so dürfte es sich dabei regelmäßig um diejenigen Fälle handeln, die auch vor einer freiheitsrechtlichen Interpretation erhebliche Kritik erführen. bb) Kollisionen des primären Gemeinschaftsrechts mit der Sanktionsseite der nationalen Strafnorm Die zuvor behandelten Beispiele betrafen Kollisionen des primären Gemeinschaftsrechts mit den außerstrafrechtlichen Primärnormen. Eine weitere denkbare Kollisionskonstellation beschreibt den Widerspruch der mitgliedstaatlich angeordneten Rechtsfolge, im vorliegenden Kontext also der kriminalstrafrechtlichen Sanktion, mit dem primären Gemeinschaftsrecht. Gegen die Existenz solcher Kollisionskonstellationen könnte auf den ersten Blick die gefundene Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten sprechen, wonach den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Wahl der ihnen sachgerecht erscheinenden Sanktionen verbleibt231. Aus diesem Um231 EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137 „Amsterdam Bulb“; Rs. 240/81, Slg. 1982, 3699 „Einberger“; Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“; Rs. C-210/91, Slg. 1992, I-6735 „Kommission ./. Griechenland“.
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stand könnte man schließen, dass das Gemeinschaftsrecht im Hinblick auf die Sanktionierung keine Vorgaben enthält. Widersprüche könnten nicht entstehen. Der EuGH unterscheidet jedoch streng zwischen Wahrnehmungszuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Ausübung dieser nationalen Zuständigkeiten: „Zwar fallen das Strafrecht und das Strafprozessrecht grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten; daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass dieser Rechtsbereich nicht vom Gemeinschaftsrecht berührt würde.“232
In den Bereichen ausschließlicher Wahrnehmungszuständigkeit ist nicht ausgeschlossen, dass der Ausübung dieser Befugnisse gemeinschaftsrechtliche Grenzen gesetzt sind233. Auch das Recht strafrechtlicher Sanktionen ist deshalb nicht von vornherein dem Einfluss des EG-Rechts entzogen. Die Reichweite grundfreiheitlicher Gehalte hängt insbesondere nicht von der Frage ab, welche nationalen Regelungen an ihnen gemessen werden. Nach hier vertretener Ansicht enthalten sie auch hinsichtlich potentiell kollidierender kriminalstrafrechtlicher Sanktionen abweichend vom EuGH allein gleichheitsrechtliche Vorgaben. Nochmals ist der Umstand zu betonen, dass nachfolgend lediglich Kollisionsmöglichkeiten mit der Rechtsfolgenseite rein nationaler Strafnormen geprüft werden sollen, so dass es auch hier mangels eigenen Interesses der Gemeinschaft nur um die Bestimmung gemeinschaftsrechtlicher Obergrenzen des Primärrechts gehen kann, nicht hingegen um verpflichtende Mindestanforderungen. Entsprechend der bisher verfolgten Kollisionssystematik gilt es auch an dieser Stelle, den potentiell kollidierenden nationalen Normbereich, also das Recht der kriminalstrafrechtlichen Sanktionen genau zu definieren bzw. zu strukturieren. Hinsichtlich der Strafbarkeitsvoraussetzungen wurde festgestellt, dass sie lediglich an eine außerstrafrechtliche Primärordnung anknüpfen, keine eigene Bewertung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit eines Verhaltens vornehmen und deshalb nicht selbst mit den gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistungen in Konflikt treten können. Dagegen bestehen im Recht der Sanktionen sogar mehrere Ebenen der Bewertung, deren Besonderheiten vorab Beachtung verdienen. Entfaltet die wirtschaftsrechtliche Primärordnung von ihrem In-Kraft-Treten an eine Verhaltensnorm, die von dem Einzelnen in der konkreten Situation zu beachten ist und ihm dabei den Grundfreiheiten widersprechende Ge- oder Verbote oktroyieren kann, wer232 EuGH, Rs. C-226/97, Slg. I-3711 Rn. 19 „Strafverfahren gegen Johannes Martinus Lemmens“; vgl. auch Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“; Rs. 203/80, Slg. 1981, 2595, 2618 „Casati“. 233 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 14 unter Hinweis auf zahlreiche Entscheidungen, insbesondere im strafrechtlichen Kontext Rn. 46 unter Hinweis auf die Bindung an die Grundfreiheiten.
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den Sanktionen, die ihrerseits zwar Verhaltensbefehle234 enthalten, zunächst nur angedroht. Der Verhaltensbefehl steht unter der Prämisse eines Primärnormverstoßes. Bereits die gesetzgeberische Entscheidung der Androhung einer Kriminalstrafe stellt aber ein mitgliedstaatliches Handeln dar, welches wie jede mitgliedstaatliche Maßnahme gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zu beachten hat und deshalb insbesondere auf seine grundfreiheitliche Relevanz zu untersuchen ist. Auf zweiter Stufe werden Sanktionen im Falle eines Primärrechtsverstoßes verhängt. Das Gericht konkretisiert die abstrakt angedrohte Strafe zu einer Verhaltensnorm im Einzelfall, welche bestimmte Geoder Verbote entfaltet. Konsequenterweise unterliegt auch diese zweite Stufe mitgliedstaatlichen Handelns dem Maßstab des Gemeinschaftsrechts. Nachfolgend wird deshalb zu eruieren sein, ob die gesetzgeberische Androhung sowie die gerichtliche Verhängung einer nationalen Kriminalstrafe in der Lage ist, die Ausübung einer Grundfreiheit zu behindern. Der EuGH setzte sich in zahlreichen Entscheidungen mit der Gemeinschaftsrechtmäßigkeit mitgliedstaatlicher Sanktionen auseinander. Die Darstellung und Analyse jener Rechtsprechung bildet den Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung. Im Anschluss werden die gefundenen Maßstäbe in die gemeinschaftsrechtliche, insbesondere die grundfreiheitliche Dogmatik einzuordnen sein. (1) Die Rechtsprechung des EuGH zu den Sanktionen Bereits in der Rs. Watson235 ging der EuGH auf die gemeinschaftsrechtliche Relevanz mitgliedstaatlicher Sanktionen ein. Der Gerichtshof hatte sich dabei mit einer italienischen Strafnorm auseinander zu setzen, wonach Ausländer, die sich nicht innerhalb von 3 Tagen bei der örtlichen Polizeibehörde ausgewiesen und Aufenthaltsanzeige erstattet hatten, mit Freiheitsoder Geldstrafe sowie Ausweisung bestraft werden konnten. Der EuGH führte zu den Sanktionen aus: „Unter den Sanktionen [. . .] ist die Ausweisung der durch das Gemeinschaftsrecht geschützten Personen zweifellos mit den Vertragsbestimmungen unvereinbar, da – wie der Gerichtshof bereits in anderen Fällen betont hat – mit einer solchen Maßnahme das durch den Vertrag verliehene und garantierte Recht selbst verneint wird. 234
Z. B. das Gebot einer Geldzahlung oder das Verbot, die Haftanstalt zu verlassen usw. 235 EuGH, Rs. 118/75, Slg. 1976, 1185 „Watson“; ähnlich bereits in Rs. 48/75, Slg. 1976, 497 „Royer“, wonach die Mitgliedstaaten die Missachtung nationaler ausländerpolizeilicher Vorschriften mit den geeigneten und zur Durchsetzung dieser Vorschriften erforderlichen Sanktionen belegen dürfen, soweit diese nicht in der Entfernung aus dem Hoheitsgebiet bestehen.
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Was die anderen Sanktionen wie die Geld- und die Freiheitsstrafe betrifft, so dürfen die nationalen Behörden die Nichteinhaltung der Bestimmungen, nach denen Ausländer ihre Anwesenheit anzuzeigen haben, zwar mit Sanktionen belegen, die denen vergleichbar sind, die wegen gleichwertiger strafbarer Handlungen gegen Inländer verhängt werden, doch ist es nicht gerechtfertigt, an diesen Verstoß eine Sanktion zu knüpfen, die so außer Verhältnis zur Schwere der Tat steht, dass sie sich als eine Behinderung der Freizügigkeit erweist.“
Aus dieser grundlegenden Entscheidung zu den Sanktionen lassen sich mehrere Aussagen isolieren. So stellt der EuGH zunächst die Unzulässigkeit der Ausweisung als die Freizügigkeit negierende Maßnahme dar. Dagegen seien andere Sanktionen wie die Geld- und Freiheitsstrafe im Ausgangspunkt zwar zulässig, vorausgesetzt, die Sanktionen entsprechen dem Gebot der Inländerbehandlung und stehen nicht so außer Verhältnis zur Schwere der Tat, dass sie sich als Freizügigkeitsbehinderung erweisen. Die gefundenen Maßstäbe wurden auch in den Ausführungen zur Rs. Sagulo236 angewendet, die ebenfalls den Bereich der Freizügigkeit betraf. Regte das vorlegende Gericht noch die Unvereinbarkeit der ausländerrechtlichen Sanktionen mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 7 I EWG (jetzt: Art. 12 EG) an, weil „ein Inländer bei einem Verstoß gegen vergleichbare Rechtsvorschriften lediglich den beträchtlich leichteren Sanktionen unterliegt, die für bloße Ordnungswidrigkeiten gelten“237, wies der EuGH darauf hin: „[. . .], dass der allgemeine Grundsatz des Artikel 7 nur vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen des Vertrages gelten kann. Zu diesen besonderen Bestimmungen zählen auch die in Artikel 49 (jetzt: Art. 40 EG) für die fortschreitende Herstellung der Freizügigkeit vorgesehenen Verordnungen und Richtlinien und unter diesen die Richtlinie Nr. 68/360. Soweit diese Richtlinie den Angehörigen eines Mitgliedstaats [. . .] besondere Pflichten [. . .] auferlegt, können die hiervon betroffenen Personen nicht einfach den Angehörigen des Aufenthaltsstaats gleichgestellt werden.“
Insbesondere der letzte Halbsatz sowie das Verhältnis zwischen allgemeinem Diskriminierungsverbot zu Art. 49 EGV (jetzt: Art. 40 EG) unterstreicht, dass der EuGH hier ein Gebot der Inländerbehandlung prüft und die Ungleichheit der Sachverhalte herausstellt: „Es bestehen deshalb keine Einwände dagegen, dass diese Personen anderen Strafvorschriften unterliegen, als sie für Inländer gelten [. . .]. Diese Folgerung drängt sich umso mehr auf, als manche Mitgliedstaaten ihren eigenen Angehörigen keine derartige Pflicht auferlegen, so dass in diesen Ländern jeder Vergleichsmaßstab fehlen würde. In Ermangelung eines Bezugskriteriums, das im vorliegenden Falle auf den in Artikel 7 des Vertrages aufgestellten Grundsatz der Inländer236 237
EuGH, Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495 „Sagulo“. Vgl. diese Deutung des EuGH, Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495, 1505 f. „Sagulo“.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 103 behandlung gestützt werden könnte, ist jedoch festzustellen, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, in vernünftigen Grenzen Verstöße [. . .] zu ahnden, [. . .], aber derartige Sanktionen keinesfalls so schwer sein dürfen, dass sie zum Hindernis für die im Vertrag vorgesehene Einreise- oder Aufenthaltsfreiheit würden. Insoweit ist nicht auszuschließen, dass die in allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Strafen in Anbetracht der Zielsetzung derartiger Vorschriften den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts nicht gerecht werden, das auf der Freizügigkeit der Personen und – abgesehen von besonderen Ausnahmen – auf der generellen Anwendung des Grundsatzes der Inländerbehandlung beruht.“ „[. . .] die verhängte Sanktion (darf) jedoch nicht außer Verhältnis zu der Art des begangenen Verstoßes stehen [. . .].“
Die Entscheidung bezieht sich, für die zu jener Zeit geltende Lesart der Freizügigkeit konsequent, allein auf einen Verstoß gegen das Gebot der Inländerbehandlung. Ein solcher sei auch durch die Sanktionen nicht auszuschließen. Infolge der mangelnden Vergleichbarkeit unter einem gemeinsamen Bezugspunkt, welche durch alle Gleichheitssätze vorausgesetzt wird, konnte bzw. wollte der EuGH Vorgaben nur insoweit treffen, dass die Mitgliedstaaten trotzdem gemeinschaftsrechtlich in der Wahl ihrer Sanktionen nicht vollends frei sind. Vielmehr seien vernünftige Grenzen einzuhalten, in dem Sinne, dass die verhängte Sanktion nicht außer Verhältnis zu der Art des begangenen Verstoßes stehen darf. Letztlich fordert der EuGH auf der Basis eines gleichheitsrechtlichen Ansatzes nichts anderes als die Einfügung in das kohärente nationale Sanktionensystem, wobei die Verhältnismäßigkeit einen Rahmen bildet, der von den nationalen Behörden zu konkretisieren ist. Die Verhältnismäßigkeit dient in dieser Funktion der Herstellung der Gleichbehandlung. In der Folgerechtsprechung zur Freizügigkeit wurde diese Rechtsprechung bestätigt und z. B. in der Rs. Pieck festgestellt, dass die Verhängung von Freiheitsstrafen für die Nichteinholung von Aufenthaltserlaubnissen die Kohärenz des nationalen Sanktionensystems missachtete: „Was andere Sanktionen, wie Geld- oder Freiheitsstrafen anbelangt, so dürfen die innerstaatlichen Stellen zwar für Verstöße gegen Vorschriften über die Aufenthaltserlaubnis Sanktionen verhängen, die denen entsprechen, die bei geringfügigen Vergehen von Inländern gelten; es wäre jedoch unzulässig, hieran eine Sanktion zu knüpfen, die gegenüber der Schwere des Vergehens so unverhältnismäßig wäre, dass sie zum Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer würde. Dies wäre insbesondere der Fall, wenn eine derartige Sanktion auch Freiheitsstrafen umfassen würde.“238
Bereits die Kompetenz des Gerichts zur Feststellung, Freiheitsstrafen bildeten aufgrund ihrer Unverhältnismäßigkeit ein Hindernis für die Freizügig238 EuGH, Rs. 157/79, Slg. 1980, 2171, 2187 „Strafverfahren gegen Stanislaus Pieck“.
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keit, erscheint zweifelhaft. Schließlich war der EuGH nur zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts berufen. Daneben war diese Entscheidung allein auf die in Frage stehende Primärnorm und den unausgesprochenen Vergleich zu rein nationalen Sachverhalten ausgerichtet. Dieser Kontext und die Einbindung in die gleichheitsrechtliche Dogmatik wurde jedoch infolge der Erweiterung der Grundfreiheiten auf Beschränkungsverbote und die unkritische Übernahme dieser Passage durch die Folgerechtsprechung239 verwässert bzw. ging verloren. Illustriert wird diese These z. B. durch eine Formulierung in der Rs. Cowan, in der Herr Ian William Cowan als Tourist und deshalb als Träger der sog. passiven Dienstleistungsfreiheit betroffen war. „[. . .], dass für das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht, in das die streitige nationale Rechtsvorschrift aufgenommen wurde, zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig sind, dass das Gemeinschaftsrecht jedoch nach ständiger Rechtsprechung dieser Zuständigkeit Schranken setzt: Derartige Rechtsvorschriften dürfen weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken.“240
Diese Grundfreiheit wurde zu jener Zeit bereits als Freiheitsrecht interpretiert241, so dass der EuGH den Zusammenhang zwischen Grundfreiheitsbeschränkung und Feststellung einer Diskriminierung aufgeben konnte. Folglich konnten auch unterschiedslos geltende Sanktionen in die Grundfreiheiten eingreifen, so dass nunmehr die Intensität des Eingriffs gelöst von einem Vergleich zu rein innerstaatlichen Sachverhalten überprüft werden konnte. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip kommt dann aber in völlig anderer Funktion zur Anwendung, nämlich nicht mehr zur Erhaltung der Kohärenz des nationalen Sanktionensystems, sondern als Maßstab, ob die Intensität des Eingriffs die verhängte bzw. angedrohte Sanktion rechtfertigt. Die horizontale Prüfung wandelt sich zu einer vertikalen. Eine solche unkritische Übertragung der Rechtsprechung auf Sanktionen im Bereich der Niederlassungsfreiheit scheint der EuGH zunächst auch in dem Vertragsverletzungsverfahren Kommission ./. Deutschland vorzunehmen: 239 Bestätigt in Rs. C-265/88, Slg. 1989, 4209 „Strafverfahren gegen Lothar Messner“; Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663 „Kraus“; insbesondere auch nach Erweiterung der Freizügigkeit auf ein Beschränkungsverbot durch EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 „Bosman“; Rs. C-193/94, Slg. 1996, I-929 „Skanavi“; Rs. C-378/97, Slg. 1999, I-6207 „Strafverfahren gegen Wijsenbeek“. 240 EuGH, Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“; Rs. C-255/00, Slg. 2002, I-8003 „Grundig Italiana“; Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3525 „Steffensen“. 241 Seit EuGH, Rs. 33/74, Slg. 1974, 1299 „van Binsbergen“.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 105 „Falls diese Verpflichtung nicht eingehalten wird, dürfen die innerstaatlichen Stellen Sanktionen verhängen, die denen entsprechen, die bei geringfügigen Vergehen von Inländern – wie Verstößen gegen die Ausweispflicht – gelten; Voraussetzung ist allerdings, dass keine unverhältnismäßige Sanktion vorgesehen wird, die ein Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schaffen würde.“242
Zöge man diese Urteilspassage isoliert heran, unterlägen auch unterschiedslos anwendbare Sanktionen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Die nachfolgenden Ausführungen in derselben Rechtssache scheinen dagegen die Tendenz erkennen zu lassen, die Verhältnismäßigkeit wieder in den gleichheitsrechtlichen Kontext einzubinden: „Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48, 52 und 59 EG [. . .] verstoßen hat, dass sie Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten [. . .] bei vergleichbaren Verstößen [. . .] in unverhältnismäßiger Weise anders behandelt als deutsche Staatsangehörige.“243
Erachtet man diese Ausführungen des EuGH als maßgebend, so folgt aus der Unverhältnismäßigkeit die Ungleichbehandlung. Der EuGH maß die Sanktion dann letztlich allein an einem Gleichheitsrecht. Die gerichtlichen Feststellungen zu den Sanktionen im Bereich der Warenverkehrsfreiheit bestätigen die dargestellte Ambivalenz. Zum Teil legen sie die Aufgabe der gleichheitsrechtlichen Einbindung nahe: „Außerdem dürfen [. . .] keine Sanktionen verhängt werden, die zu dem Verstoß angesichts der bloßen Ordnungsfunktion der verletzten Norm außer Verhältnis stehen. [. . .] Allgemein ist jede administrative oder strafrechtliche Maßnahme, die über den Rahmen dessen hinausgeht, was für den Einfuhrmitgliedstaat unbedingt erforderlich ist, um angemessen vollständige und richtige Erkenntnisse über die besonderen handelspolitischen Maßnahmen unterliegenden Warenströme zu erhalten, als vom Vertrag verbotene Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen. Jedoch fiele ein solches Verlangen (die Angabe des Ursprungslandes) unter das Verbot des Artikels 30 EWG-Vertrag (jetzt: Art. 28 EG), [. . .] wenn bei Unterlassung oder Unrichtigkeit dieser Angabe Sanktionen verhängt würden, die zu einem Verstoß gegen eine bloße Ordnungsvorschrift außer Verhältnis stehen.“244
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EuGH, Rs. C-24/97, Slg. 1998, I-2133, 2145 „Kommission ./. Deutschland“ unter Hinweis auf EuGH, Rs. C-265/88, Slg. 1989, 4209 „Strafverfahren gegen Lothar Messner“. 243 EuGH, Rs. C-24/97, Slg. 1998, I-2133 „Kommission ./. Deutschland“. 244 EuGH, Rs. 41/76, Slg. 1976, 1921, 1938 „Donckerwolcke“. Ergänzung in Klammern stammt vom Verfasser.
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Danach verstießen auch unterschiedslos geltende unverhältnismäßige Sanktionen gegen die Warenverkehrsfreiheit. Andererseits wird in einem nachfolgenden Fall wiederum ein Vergleich vorgenommen: „[. . .] fiele ein solches Verlangen unter das Verbot des Artikels 30 (jetzt: Art. 28 EG), [. . .] wenn bei Unterlassung oder Unrichtigkeit der Angabe (des Ursprungslandes) Sanktionen verhängt würden, die zu der Art des Verstoßes außer Verhältnis stehen. Insbesondere dürfen [. . .] vorgesehene strafrechtliche Sanktionen nur unter Berücksichtigung des Umstandes verhängt werden, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um verbotene Einfuhren handelt. Demgemäß ist zu antworten, dass die Angabe Italiens als Ursprung spanischer, aus Italien nach Frankreich eingeführter Trauben zwar gegebenenfalls zu strafrechtlichen Sanktionen wegen falscher Erklärungen führen kann, dass es jedoch unverhältnismäßig wäre, unterschiedslos die strafrechtlichen Sanktionen zu verhängen, die für falsche Erklärungen mit dem Ziel verbotener Einfuhren vorgesehen sind.“245
Ging es in dem zu beurteilenden Sachverhalt um rechtmäßige Einfuhren, darf die Sanktion nicht derjenigen entsprechen, die das nationale Recht für unrechtmäßige Einfuhren etabliert. Mit dieser Betrachtung zieht sich der EuGH also wieder auf eine gleichheitsrechtliche Betrachtung zurück, denn verkürzt formuliert verbietet er die Gleichbehandlung von Ungleichem. Ein weiterer Beleg für die Praxis der Rechtsprechung, die Verhältnismäßigkeit in eine gleichheitsrechtliche Prüfung zu integrieren, lässt sich einer Entscheidung zum steuerlichen Diskriminierungsverbot des Art. 95 EWG-Vertrag (jetzt: Art. 90 EG) entnehmen: „Insoweit ist festzustellen, dass sich die beiden in Rede stehenden Arten von Verstößen durch verschiedene Umstände unterscheiden, [. . .]. Diese Unterschiede bringen es namentlich mit sich, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, beide Kategorien von Verstößen ein und derselben Regelung zu unterwerfen. Diese Unterschiede können jedoch einen offensichtlich unverhältnismäßigen Unterschied in der Strenge der für die beiden Kategorien von Verstößen vorgesehenen Sanktionen nicht rechtfertigen.“246
Die Verhältnismäßigkeit beschreibt damit den in der strafrechtlichen Sanktionierung wiederzugebenden Unterschied der Sachverhalte. Letztlich finden sich auch in der Rechtsprechung zur Kapitalverkehrsfreiheit die vertrauten Ausführungen zu den Sanktionen, so z. B. in der Rs. Casati247: 245 EuGH, Rs. 179/78, Slg. 1979, 1147, 1157 „Rivoira“ Ergänzungen in Klammern stammen vom Verfasser; vgl. auch Rs. 65/79, Slg. 1980, 1345 „Chatain“; Rs. C-387/93, Slg. 1995, I-4663 „Banchero“. 246 EuGH, Rs. 299/86, Slg. 1988, 1213 „Drexl“. 247 EuGH, Rs. 203/80, Slg. 1981, 2595 „Strafverfahren gegen Guerrino Casati“.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 107 „Die administrativen oder strafrechtlichen Maßnahmen dürfen nicht über den Rahmen des unbedingt Erforderlichen hinausgehen, die Kontrollmodalitäten dürfen nicht so beschaffen sein, dass sie die vom Vertrag gewollte Freiheit einschränken, und es darf daran keine Sanktion geknüpft sein, die so außer Verhältnis zur Schwere der Tat steht, dass sie sich als eine Behinderung der Freiheit erweist.“248
Zusammenfassend ergibt die exemplarische Darstellung der EuGH-Entscheidungen ein indifferentes Bild, weil der Ausgangspunkt jener Rechtsprechung in den Rs. Watson und Sagulo nicht hinreichend geachtet wurde. Zu jener Zeit war der EuGH gezwungen, wollte er die Grundfreiheitsrelevanz der mitgliedstaatlichen Sanktionen feststellen, eine Ungleichbehandlung herauszuarbeiten. Fehlte dabei ein gemeinsamer Bezugspunkt, plädierte er für eine kohärente Einfügung in das nationale Sanktionensystem unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Diese gleichheitsrechtliche Einbindung wurde nicht in allen Urteilen evident und in der Folgerechtsprechung – sei es bewusst oder unbewusst – zum Teil aufgegeben. Durch die Ausdehnung der Grundfreiheiten auf Beschränkungsverbote war es nicht mehr erforderlich, durch die Ermittlung einer Ungleichbehandlung die Grundfreiheitsrelevanz festzustellen. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gelangt damit in vollkommen anderer Funktion im Rahmen einer vertikalen Prüfung der Intensität der mitgliedstaatlichen Maßnahme zur Anwendung. Trotzdem scheinen auch nach dieser Rechtsprechung das Gebot der Inländerbehandlung einerseits und zum anderen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als konstant herangezogene Maßstäbe festzustehen. Unklar und zu überprüfen ist deshalb die Berechtigung des EuGH, diese Prinzipien als Maßstab der Sanktionen heranzuziehen. Angesichts der dargestellten originären Einbindung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in die rein gleichheitsrechtlichen Grundfreiheiten erscheint es angezeigt, zunächst zu prüfen, ob die Heranziehung eines Gleichheitsrechts durch die aktuelle Rechtsprechung gerechtfertigt ist und gegebenenfalls woraus dieser Maßstab nach heutigem Recht folgt. Dabei wird sowohl die herrschende freiheitsrechtliche Lesart der Grundfreiheiten als auch die hier vertretene rein gleichheitsrechtliche Interpretation zu berücksichtigen sein. Vor diesem Ergebnis wird dann das gemeinschaftsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip auf seine Maßstäblichkeit im Bereich des Sanktionenrechts analysiert werden.
248 Vgl. die Formulierungen in EuGH, verb. Rs. 286/82 u. 26/83, Slg. 1984, 377 „Luisi und Carbone“; Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 „Griechischer Maisskandal“; bestätigt in Rs. C-210/91, Slg. 1992, I-6735 „Kommission ./. Griechenland“.
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(2) Die Gleichheitsrechte des Gemeinschaftsrechts als Maßstab mitgliedstaatlicher Sanktionen Der EuGH unterwirft die mitgliedstaatlichen Sanktionen einem gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot. Die Berechtigung dieser EuGHRechtsprechung, der Inhalt dieser gemeinschaftsrechtlichen „Kollisionsmenge“ und damit auch die Anzahl lösungsbedürftiger Kollisionen wird aber nur offenbar, wenn das einschlägige gemeinschaftsrechtliche Gleichheitsrecht feststeht. (a) Ursprung und Inhalt der gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsrechte Das Gemeinschaftsrecht enthält mehrere Gleichbehandlungsgebote. Zum einen normieren die Grundfreiheiten zumindest auch gleichheitsrechtliche Gewährleistungen. Daneben kodifiziert Art. 12 EG ein allgemeines Diskriminierungsverbot. Letztlich wurde auch auf der Ebene der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts der sog. allgemeine Gleichheitssatz entwickelt. Verfolgt man aber die Frage, welche dieser Gewährleistungen für den mitgliedstaatlichen Verhaltensbefehl der Sanktion maßstäblich ist, so setzt die Beantwortung dieser Frage die Kenntnis mithin die Definition der Gewährleistungsgehalte der einzelnen gemeinschaftlichen Gleichbehandlungsgebote voraus. (aa) Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten Für die Grundfreiheiten vertritt der Verfasser ein rein gleichheitsrechtliches Verständnis in dem Sinne, dass ein Vergleich zwischen rein internem und grenzüberschreitendem Sachverhalt vorzunehmen ist. Wird dabei eine Ungleichbehandlung festgestellt, die sich nur durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt schlüssig begründen lässt, so ist im Falle wirtschaftlicher Betätigung der Anwendungsbereich einer Grundfreiheit eröffnet. Trotz der Aufgabe eines horizontalen Vergleichs und der Weiterentwicklung der Grundfreiheiten über ein Gebot der Inländerbehandlung hinaus zum allgemeinen Beschränkungsverbot durch die h. M., sind offene und versteckte Diskriminierungen natürlich auch weiterhin vom Anwendungsbereich erfasst. Unklarheiten entstehen dadurch, dass der Diskriminierungsbegriff regelmäßig nicht offenbart bzw. stillschweigend ein formaler Begriff zugrunde gelegt wird und versteckte Diskriminierungen deshalb teilweise bereits auf freiheitsrechtlicher Ebene gelöst werden. Allgemein gilt schließlich, je enger man den Kreis verbotener Differenzierungskriterien zieht, desto öfter muss man Belastungen auf der Freiheitsebene verarbeiten.
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Im Ergebnis besteht hinsichtlich der Ungleichbehandlungen auf Schutzbereichs- bzw. Eingriffsebene deshalb kein Unterschied zum hier vertretenen rein gleichheitsrechtlichen Ansatz. Die Grundfreiheiten enthalten nach allen Ansichten zumindest auch ein Gebot der Inländerbehandlung. (bb) Das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG Neben den grundfreiheitlichen Geboten der Inländerbehandlung existiert das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG, wonach „unbeschadet besonderer Bestimmungen im Anwendungsbereich dieses Vertrages jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“ ist. Es richtet sich unmittelbar an die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten und ist unmittelbar anwendbar249. (a) Anwendungsbereich des Vertrages Art. 12 EG verbietet Diskriminierungen nur im Anwendungsbereich des Vertrages. Schließlich sind nur bestimmte Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft übertragen worden, so dass nicht alle staatlichen Maßnahmen an Art. 12 EG zu messen sind. Wie dieser Anwendungsbereich zu bestimmen ist, ist umstritten. Die Rechtsprechung bestimmt die Reichweite überzeugend unter Berufung auf den „gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts“, wobei die Relevanz bzgl. der tatsächlichen Verwirklichung der Grundfreiheiten und der effektiven Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben Beachtung erfährt. Sie lässt regelmäßig „Berührungspunkte“ genügen250. Maßgebend müssen allein die Rechtswirkungen der Vertragsvorschriften und des Sekundärrechts251 – also die ausgeübte Kompetenz im Einzelfall sein252. 249
Vgl. z. B. EuGH, Rs. 293/83, Slg. 1985, 593 „Gravier“; verb. Rs. C-92 u. C-326/92, Slg. 1993, I-5145 „Phil Collins“; Fischer, Europarecht, § 12 Rn. 2; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV Rn. 2; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 5, 38; Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 14. 250 EuGH, Rs. 293/83, Slg. 1985, 593, 612 „Gravier“; Rs. C-357/89, Slg. 1992, I-1027 „Raulin“; Rs. 39/86, Slg. 1986, 3161 „Lair ./. Universität Hannover“; Rs. C-109/92, Slg. 1993, I-6447 „Wirth“; Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“ mit dem Problem der extensiven Geltung infolge der passiven Dienstleistungsfreiheit, z. B. für Touristen. 251 Als Anwendungsfall sind mitgliedstaatliche Maßnahmen immer dann an Art. 12 EG zu messen, wenn die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht umsetzen oder vollziehen. 252 Vgl. Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 12; i. E. ähnlich Epiney, in: Callies/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 22.
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Ein solches Verständnis vermag gerade auch mit dem Stand der Integration mitzuhalten253, vermeidet aber ein Hinausgreifen. Die Rechtswirkungen der Grundfreiheiten erfuhren angesichts der extensiven sog. Dassonville-Formel erhebliche Ausdehnung, denn danach weisen auch potentielle und mittelbare Erschwerungen Grundfreiheitsrelevanz auf. Die Einschränkungsversuche seitens der Rechtsprechung für solche Umfeldregelungen berührten die grundfreiheitliche Rechtswirkung in diesem Sinne nicht, bezogen sie sich doch auf den freiheitsrechtlichen Gewährleistungsgehalt254. Auch die mitgliedstaatlichen Umfeldregelungen weisen demnach „Berührungspunkte“ mit dem Gemeinschaftsrecht auf, so dass neben dem grundfreiheitlichen auch stets das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG255 betroffen ist. Die darüber hinausgreifende Einbeziehung abstrakt bestehender Kompetenzbereiche256 in den Begriff des Anwendungsbereichs des Vertrages i. S. d. Art. 12 EG vermag dagegen nicht zu überzeugen, sind sie doch nur schwer definierbar und bestimmen gerade nicht den gegenwärtigen, sondern den zukünftig möglichen Anwendungsbereich257. Zunehmende Bedeutung gewinnt der Art. 12 EG durch die in Art. 18 I EG gewährte Freizügigkeit für Unionsbürger (Art. 17 EG). Diese können sofern sie von ihrem Recht Gebrauch machen und sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat bewegen oder aufhalten, gem. Art. 17 II, 18 EG i. V. m. Art. 12 EG grundsätzlich nicht nachteilig gegenüber den Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt werden258. Ausgenommen sind lediglich noch rein innerstaatliche Sachverhalte259 bzw. Bereiche die vertraglich ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgeschlossen wurden, vgl. z. B. Art. 19 EG in Bezug auf das Wahlrecht. Daraus folgt dann, dass derjenige Unionsbürger, der Gemeinschaftsgrenzen überschreitet, hinsichtlich nahezu aller Rechtsnormen einem rein inländischen Sachverhalt gleichzustellen ist. 253
Unverständlich daher die Bedenken von Epiney, in: Callies/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 22, deren Ergebnis sich kaum unterscheidet. 254 Vgl. zu den Eingrenzungsversuchen im gleichheitsrechtlichen Bereich exemplarisch Schöne, RIW 1989, 450, 453; Stein, EuGRZ 1979, 448, 449. 255 Zum Verhältnis der Gleichheitsrechte noch unten 1. Teil C. I. 1. b) bb) (2) (b). 256 Dafür v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 38. 257 I. E. so auch Zuleeg, in: GTE, Art. 6 a. F. Rn. 12. 258 EuGH, Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 „Bickel“; Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 „Sala“; Rs. C-184/99, Slg. I-6193 „Grzelczyk“; Borchardt, NJW 2000, 2057, 2058; Epiney, NVwZ 1999, 1076; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 39 EGV Rn. 137; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 12. 259 EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629 „Friedrich Kremzow ./. Republik Österreich“; a. A. Epiney, in: Callies/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 33 ff.; dies., Umgekehrte Diskriminierungen, S. 205, insbes. S. 215 ff., die eine Erfassung der sog. Inländerdiskriminierung vertritt.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 111
Im Ergebnis bestimmt deshalb nicht mehr die Anknüpfung an die grundfreiheitlichen Gehalte die Reichweite des allgemeinen Diskriminierungsverbots. Dies gilt über Art. 17 II, 18 EG i. V. m. Art. 12 EG umfassender. Es gilt nunmehr lediglich, die gleichheitsrechtlichen Gewährleistungen, insbesondere im Hinblick auf etwaige Rechtfertigungsmöglichkeiten, in ein stimmiges Verhältnis zu bringen260. (b) Persönlicher Anwendungsbereich und Adressat Hinsichtlich der subjektiv Berechtigten261 ergibt sich grammatikalisch interpretiert zunächst keine Einschränkung. Doch lässt sich an dieser Stelle das zuvor zum Anwendungsbereich des Vertrages gefundene Ergebnis fruchtbar machen. Maßgeblich für dessen Bestimmung sind die Rechtswirkungen der einzelnen Vorschriften des Vertrags und der darauf gegründeten Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane. Erforderlich ist, dass es sich um Bereiche handelt, die zumindest punktuell gemeinschaftlich geregelt sind oder „Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt“262. Der so definierte Anwendungsbereich des Vertrages ist für Inländer nur eröffnet, soweit sie sich in einer Lage befinden, die der eines EG-Ausländers vergleichbar ist263. Sowohl bei der Inländerdiskriminierung als auch bei den sog. Meistbegünstigungsfällen handelt es sich um rein interne bzw. gemeinschaftsrechtlich irrelevante Sachverhalte. Sind Drittstaatsangehörige ebenso nicht bereits durch den Wortlaut ausgeschlossen, so folgt auch hier eine Lösung über den Anwendungsbereich. Sie befinden sich nur dann im Anwendungsbereich des Vertrages, wenn ihnen eine gemeinschaftliche Rechtsposition verliehen wird264. Verpflichtete des Art. 12 EG sind die Mitgliedstaaten, die Gemeinschaft und auch Private265. Irrelevant ist dagegen die unterschiedliche Behandlung 260
Dazu noch unten 1. Teil C. I. 1. b) bb) (2) (b). Vgl. zur grundsätzlichen Berechtigung juristischer Personen EuGH, verb. Rs. C-92/92 u. C-326/92, Slg. 1993, I-5145 „Phil Collins“; Epiney, in: Callies/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 43; Rossi, EuR 35 (2000), 197, 200 f.; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 17. 262 EuGH, verb. Rs. 35 u. 36/82, Slg. 1982, 3723 „Morson“; EuGH, Rs. 293/83, Slg. 1985, 593, 612 „Gravier“; Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“. 263 EuGH, Rs. C-112/91, Slg. 1993, I-429 „Werner“. 264 Auch der EuGH löst über den Anwendungsbereich, vgl. EuGH, Rs. 44/84, Slg. 1986, 29, 84 „Hurd ./. Jones“; vgl. auch Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 174; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 35; enger wohl Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 19 ff.: erforderlich sei, dass eine Vorschrift auf Herstellung der Inländerbehandlung für Drittstaatsangehörige abziele. 265 Vgl. dazu v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 28 ff. 261
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
außerhalb der Hoheitsgewalt des jeweiligen Mitgliedstaates266. Auch Art. 12 EG lässt sich damit nicht zum Abbau von Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten der Union instrumentalisieren; hierfür ist der Erlass von harmonisierendem Sekundärrecht notwendig267. (g) Der Diskriminierungsbegriff des Art. 12 EG Aus dem Wortlaut des Art. 12 EG, wonach lediglich Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten sind, könnte man folgern, der Norm liege ein formaler Diskriminierungsbegriff zugrunde, so dass nur offene Diskriminierungen verboten wären. Schon um des effet utile eines solchen Grundprinzips der Gemeinschaft willen ergibt sich aber, dass „jede“, mithin auch versteckte Diskriminierungen verboten sind268. Der Diskriminierungsbegriff enthält auch hier zwei Elemente. Einerseits bedarf es einer Ungleichbehandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte sowie daneben der Benachteiligung des Betroffenen. Art. 12 EG untersagt aber nur Differenzierungen durch das Kriterium der Staatsangehörigkeit. Knüpft eine Regelung an das Kriterium der Staatsangehörigkeit an, so liegt im Falle der Benachteiligung des Berechtigten problemlos eine offene Diskriminierung vor. Bei der Ermittlung versteckter Diskriminierungen begegnet man dagegen, ähnlich den Grundfreiheiten, Schwierigkeiten. Versteckte Diskriminierungen knüpfen formell an andere Merkmale als das der Staatsangehörigkeit an, doch führt diese Unterscheidung tatsächlich zum gleichen Ergebnis269. Grundsätzlich kann jedes Differenzierungskriterium zu einer mittelbaren Diskriminierung führen. Verbietet Art. 12 EG jedoch nur Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, so ist das ermittelte Differenzierungskriterium rechtlich zu bewerten. Es stellt sich die Frage, ob es durch die Staatsangehörigkeit ersetzt werden könnte und im Wesentlichen der gleiche Regelungserfolg erzielt werden würde270. Nur dann entfaltet es die von Art. 12 EG verpönten protektionistischen bzw. inländerbevorzugenden Wir266
EuGH, Rs. C-379/92, Slg. 1994, I-3453 „Strafverfahren gegen M. Peralta“. Epiney, in: Callies/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 5; Fastenrath, JZ 1987, 170, 171; Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 7. 268 Allgemeine Meinung: EuGH, Rs. 152/73, Slg. 1974, 153, 164 f. „Sotgiu“; Rs. 22/80, Slg. 1980, 3427, 3436 „Boussac“; Rs. C-175/88, Slg. 1990, I-1789, 1792 „Biehl“; Rs. C-398/92, Slg. 1994, I-467, 474, 479 „Mund & Fester“; Bleckmann, Europarecht Rn. 1744; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 103 ff.; Fischer, Europarecht, § 12 Rn. 4; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 12, 15; Schweitzer/Hummer, Rn. 1056. 269 EuGH, Rs. 152/73, Slg. 1974, 153, 164 „Sotgiu“; Rs. 22/80, Slg. 1980, 3427, 3436 „Boussac“. 270 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 12 ff. 267
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kungen271. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist dies nicht der Fall, wenn es sachlichen Unterschieden der Lage angemessen Rechnung trägt272. In diesem Fall dient die Unterscheidung, obwohl sie möglicherweise verstärkt Ausländer trifft, der Berücksichtigung der mit ausländischen Sachverhalten verbundenen Komplikationen und ist deshalb begründet273. In der Bewertung der formellen Kriterien liegt nun das zentrale Problem, gerät man doch in die Gefahr, Erwägungen, die der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind, in den Tatbestand zu ziehen und auf diesem Wege subtil bereits eine Rechtfertigungsprüfung durchzuführen. Beide Fragen sind in der praktischen Prüfung nur schwer zu trennen. So ist tatbestandlich zur Ermittlung einer Diskriminierung zu fragen, ob sachliche Gründe die unterschiedliche Behandlung „rechtfertigen“, ob sie die Unterschiede widerspiegeln. Es findet ein horizontaler Vergleich zum national existierenden Sachverhalt statt. Dagegen betrifft die Rechtfertigungsebene, zunächst ungeachtet anderer nationaler Sachverhalte, die Frage, ob die nationale Maßnahme aufgrund höherrangiger Interessen ausnahmsweise hinzunehmen ist. Dort geht es also um abstrakte „vertikale“ Erwägungen in einem weiteren Sinne. (d) Absolutes oder relatives Diskriminierungsverbot – die Möglichkeit der Rechtfertigung Ob Art. 12 EG als relatives Diskriminierungsverbot zu interpretieren ist, mit der Folge, dass die Möglichkeit der Rechtfertigung bestünde oder es sich im Gegenteil um ein absolutes Diskriminierungsverbot handelt, ist umstritten. Dieser Streit wurzelt in der Deutung der Rechtsprechung des EuGH. Auch der Gerichtshof ist mit dem dargestellten Problem der Trennung von Tatbestands- und Rechtfertigungsebene konfrontiert274 und prüft regelmäßig, ob die differenzierte Behandlung vergleichbarer Sachverhalte „sachlich gerechtfertigt“ ist275. 271
Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 42. EuGH, Rs. 152/73, Slg. 1974, 153, 165 „Sotgiu“; Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 „Cordorniu“; Rs. C-398/92, Slg. 1994, I-467 „Mund & Fester“. 273 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 18. 274 Dies mag erklären, warum der EuGH Diskriminierungen im grundfreiheitlichen Bereich nur ungenau herausarbeitet, entscheidet dies doch ohnehin nur in Bezug auf Umfeldregelungen über die gemeinschaftsrechtliche Relevanz. Deshalb finden sich dort die dargestellten Probleme. Vgl. EuGH, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-225, 259 „Schumacker“ (Steuern), andererseits die Kritik, dies seien Rechtfertigungserwägungen: Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 230 m. w. N., die Ansätze in der Rechtsprechung sehen, dies auf die Rechtfertigungsebene zu verlagern. 275 Für materielle Diskriminierungen: EuGH, Rs. C-398/92, Slg. 1994, I-467 „Mund & Fester“; aber auch für formelle Diskriminierungen: EuGH, Rs. 147/79, 272
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Trotz dieser Formulierungen wird Art. 12 EG zum Teil als ein absolutes Verbot der Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit interpretiert, so dass sowohl offene als auch versteckte Diskriminierungen nicht zu rechtfertigen sind. Art. 12 EG lasse gerade keine Ausnahmen für Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit zu. Dafür spreche auch der telos, könnten doch in einem gemeinsamen Markt Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit von vornherein nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden. Die Bezugnahme der Rechtsprechung auf die sachlichen Gründe betreffe die Feststellung materieller Diskriminierungen, lasse aber den Charakter als absolutes Verbot unberührt276. Demgegenüber verstehen andere Autoren Art. 12 EG als relatives Verbot277. Zu beachten sei nämlich, dass auch das Wort Diskriminierung der Auslegung bedarf und man darunter im Völkerrecht wie im nationalen Recht im Gegensatz zur „unterschiedlichen Behandlung“ nur die willkürliche Unterscheidung versteht278. Auch in den Mitgliedstaaten und in der EMRK werde der Gleichheitssatz in diesem Sinne verstanden279. Art. 12 EG sei eine besondere Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes, der aber als Willkürverbot ausgestaltet sei, so dass jegliche sachliche Gründe, sofern sie dem Vertrag nicht widersprächen, eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten280. Für ein relatives Verständnis wird zudem die Rechtsprechung angeführt. Der EuGH habe sowohl bezüglich offener Diskriminierungen281 als auch bezüglich versteckter282 eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung aus sachlichen Gründen erwogen. Letztlich wird auch ein differenzierender Ansatz vertreten. Danach gilt jedenfalls hinsichtlich der offenen Diskriminierungen ein absolutes Verbot. Bei materiellen Diskriminierungen sei dagegen eine Rechtfertigung durch Slg. 1980, 3005 „Hochstrass“; Rs. C-323/95, Slg. 1997, I-1711 „Hayes ./. Kronenberger“. 276 In diesem Sinne Bungert, EWS 1993, 315, 325; Feige, S. 44 ff.; Hauschka, NVwZ 1990, 1155 f.; Mohn, S. 10; Reitmaier, S. 36 ff.; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 52 ff.; Steindorff, Der Gleichheitssatz, S. 2; Zerr, S. 8, 12 ff.; i. E. auch v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 18, 23, 25. 277 Bleckmann, Europarecht Rn. 1742; Epiney, in: Callies/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 42; dies., Umgekehrte Diskriminierungen, S. 94 ff.; Ehlers, NVwZ 1990, 810, 811; GA Mayras, in: EuGH, Rs. 147/79, Slg. 1980, 3005, 3024 „Hochstrass“; Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 3; Kleier, RIW 1988, 623, 628; Rossi, EuR 35 (2000), 197, 212 ff.; Schöne, RIW 1989, 450, 453. 278 Bleckmann, Europarecht Rn. 1743. 279 Bleckmann, Europarecht Rn. 1743. 280 So der EuGH ausdrücklich in Rs. 147/79, Slg. 1980, 3005 „Hochstrass“. 281 EuGH, Rs. C-323/95, Slg. 1997, I-1711 „Hayes ./. Kronenberger“; Rs. C-122/96, Slg. 1997, I-5325 „Saldanha“. 282 EuGH, Rs. C-398/92, Slg. 1994, I-467, 479 „Mund & Fester“.
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objektive Gründe möglich, so dass diesbezüglich eine relative Lesart Anwendung findet283. Die Differenzierungslösung entbehrt jeglicher sachlichen Rechtfertigung. Formale und materielle Diskriminierungen sind Ausprägungen von Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit. Sie basieren folglich auf identischen Erwägungen und werden unter denselben Tatbestand subsumiert. Dient die Einbeziehung doch dem effet utile des Art. 12 EG, überzeugt eine Differenzierung im Hinblick auf die Rechtfertigungsmöglichkeiten nicht. Eine Lösung muss auch hier vom Wortlaut der Vorschrift ausgehen. Dieser statuiert absolut das Verbot „jeder“ Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, so dass dieser Wortlaut für ein absolutes Verständnis spricht284. Der Vertrag sieht zumindest ausdrücklich keine Rechtfertigungsmöglichkeit vor. Systematisch erlangt dieses Argument zusätzliches Gewicht, wenn man die punktuelle Normierung ausdrücklicher Schranken im Bereich der Grundfreiheiten berücksichtigt. Gerade jenes Argument kehrt sich aber gegen seine Vertreter, wenn man beachtet, dass von der Rechtsprechung sog. immanente Schranken entwickelt wurden, die z. T. zwar als Tatbestandseinschränkung interpretiert werden, letztlich aber nichts anderes als Rechtfertigungsgründe darstellen285. Die punktuelle Normierung lässt sich zudem mit der bezweckten Beschränkung von Rechtfertigungsmöglichkeiten im grundfreiheitlichen Bereich im Gegensatz zu Willkürverboten erklären. Auch das Argument, allein eine Interpretation als absolutes Verbot entspreche der herausragenden Bedeutung der „Überwindung des Fremdenstatus“286 für einen funktionierenden Binnenmarkt287, überzeugt nicht. Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit können eben auch dort durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein, was jedenfalls die ausdrücklichen Schranken der Grundfreiheiten zum Ausdruck bringen, die nach allen Ansichten gerade eine Rechtfertigungsmöglichkeit für solche Maßnahmen vorsehen. Lässt die beiderseits instrumentalisierte Rechtsprechung, insbesondere auch die Rs. Saldanha288, an dieser Stelle wiederum keinen sicheren Schluss auf das gerichtliche Verständnis zu, so kann den283
v. Borries, EuZW 1994, 474, 475. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 23. 285 Zu dieser Einordnung oben 1. Teil C. I. 1. a) cc) (1) (b). Die beschränkte Anwendbarkeit dieser Rechtfertigungsgründe auf unterschiedslos wirkende oder bloß versteckt diskriminierende Maßnahmen wurden ebenso als nicht überzeugend abgelehnt. 286 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 1. 287 Vgl. zur Bedeutung GA Jacobs, in: EuGH, verb. Rs. C-92 u. C-326/92, Slg. 1993, I-5145 „Phil Collins“. 288 EuGH, Rs. C-122/96, Slg. 1997, I-5325 „Saldanha“; vgl. die Kritik an der Ansicht, die daraus eine relative Lesart folgert Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 54. 284
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noch allein eine relative Lesart überzeugen. Neben den oben angeführten Argumenten spricht systematisch für eine solche Interpretation, dass gerade die Grundfreiheiten einer fortschreitenden Integration der Märkte dienen und deshalb den Berechtigten weitreichende Rechte einräumen sollen. Dann ist aber nicht einzusehen, warum diskriminierende mitgliedstaatliche Maßnahmen, die in den Regelungsbereich dieser integrativen Rechte fallen, durch die Schranken zu rechtfertigen wären, die grundfreiheitlich irrelevanten Maßnahmen, welche über Art. 17 II EG dem Art. 12 EG unterliegen, dagegen absolut diskriminierungsfrei sein müssten. Fiele der Sachverhalt dann in den Gewährleistungsbereich einer Grundfreiheit könnte sich dies für den einzelnen nachteilig auswirken289. Ein solches gleichheitsrechtliches System überzeugt nicht. Rechtspolitisch beachtenswert erscheint letztlich die Tatsache, dass Art. 12 EG durch die Art. 17, 18 EG immer stärker in originär mitgliedstaatliche Bereiche hineinwirkt, was eine den nationalen Gleichheitssätzen vergleichbare Interpretation zumindest wünschenswert erscheinen lässt. Die mitgliedstaatlichen Gleichheitssätze werden als Willkürverbote interpretiert290. Spricht der EuGH weitgehend von „Rechtfertigung“291, mag er dabei teilweise zwar die tatbestandliche Ermittlung einer materiellen Diskriminierung meinen. Dies schließt die Koexistenz von Rechtfertigungsgründen auf zweiter Stufe aber nicht aus, so dass die Rechtsprechung im Einklang mit der hier vertretenen relativen Lesart steht. Ist auf der Tatbestandsebene zwar ein horizontal angemessenes Verhältnis zu prüfen, meint dies nur ein Widerspiegeln der Unterschiede zwischen den Sachverhalten. Sind dagegen auf der Rechtfertigungsebene sachliche Gründe zu nennen, kann hier das Verhältnismäßigkeitsprinzip in seiner Funktion als Scharnier zur Lösung vertikaler Konflikte zwischen Hoheitsgewalt und dem Betroffenen eingreifen und im Wege einer umfassenden Abwägung einen Ausgleich herbeiführen292. Nachfolgend wird daher eine relative Lesart vertreten, die den Mitgliedstaaten sowohl im Falle formeller als auch materieller Diskriminierungen die Möglichkeit einer Rechtfertigung zugesteht.
289 Vgl. zum Verhältnis der Gleichheitssätze und dem Wort „unbeschadet“ im Art. 12 EG noch unten 1. Teil C. I. 1. b) bb) (2) (b). 290 Bleckmann, Europarecht Rn. 1743. 291 Vgl. dazu die Formulierungen in EuGH, Rs. 147/79, Slg. 1980, 3005, 3019 „Hochstrass“; Rs. 106/83, Slg. 1984, 4209 „Sermide“; Rs. 167/88, Slg. 1989, 1653 „AGPB“; Rs. C-398/92, Slg. 1994, I-467 „Mund & Fester“. 292 Vgl. EuGH, Rs. 13/63, Slg. 1963, 357, 384 „Italien ./. Kommission“; Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, 1687 „Johnston ./. Chief Constable“; Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47 „Schöning-Kougebetopoulou“; Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 „Bickel“.
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(cc) Der allgemeine Gleichheitssatz des EuGH Neben diesen ausdrücklich im EG-Vertrag verorteten Diskriminierungsverboten hat der EuGH293 einen allgemeinen Gleichheitssatz aus dem Gemeinschaftsrecht erschlossen294. Dieser umfasst im Gegensatz zu obigen Diskriminierungsverboten, die an bestimmte verbotene Differenzierungskriterien anknüpfen, das Verbot jeglicher willkürlicher Differenzierung unter allen Anknüpfungspunkten295. Allerdings bindet er als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts direkt nur die Gemeinschaftsorgane und dient damit vordringlich der Kontrolle des Sekundärrechts296. Für die Mitgliedstaaten entfaltet er nur im Rahmen systematischer Auslegung determinierender Vorgaben des Gemeinschaftsrechts mittelbare Relevanz297. (b) Das Verhältnis der Gleichheitssätze Beim allgemeinen Gleichheitssatz handelt es sich um die lex generalis, die nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl durch die spezifischen Inhalte der einzelnen Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten als auch durch Art. 12 EG „besondere Ausformungen“ erhalten hat298. Der allgemeine Gleichheitssatz wird daher für Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit durch den spezielleren Art. 12 EG und die Grundfreiheiten verdrängt299. Zu klären bleibt das Verhältnis zwischen Art. 12 EG und den Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten. So soll Art. 12 EG nur „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages“ Anwendung finden. „Unbeschadet“ bedeutet dabei vorbehaltlich300. Der EuGH schließt aus dieser Formulierung in ständiger Rechtsprechung, Art. 12 EG sei nur in den Fällen zu prüfen, für die der Vertrag kein besonderes Diskriminierungsverbot ent293 EuGH, Rs. 125/77, Slg. 1978, 1991 „Koninklijke Scholten-Honig“; Rs. 265/78, Slg. 1980, 617 „Ferwerda“; verb. Rs. 201 u. 202/85, Slg. 1986, 3477, 3507 „Klensch“. 294 Bleckmann, Europarecht Rn. 1779; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht I, S. 610; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 6; Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 21. 295 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 6. 296 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 7. 297 Zur Bindungswirkung der allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Mitgliedstaaten, vgl. Kingreen, Jus 2000, 857, 864 ff. sowie bereits oben in diesem Teil C. I. 1. a) cc) (2) (b). 298 EuGH, Rs. 147/79, Slg. 1980, 3005, 3024 f. „Hochstrass“. 299 Vgl. Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 21. 300 EuGH, Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495, 1506 „Sagulo“.
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hält301. Er interpretiert die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten als Ausprägung des Art. 12 I EG302. Dem steht weder ein Verständnis der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote noch als besondere Diskriminierungsverbote entgegen, da sie nach allen Ansichten – zumindest auch – offene und versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbieten. Stehen grundfreiheitlich relevante Diskriminierungen in Frage, kann Art. 12 EG keine Anwendung finden, so z. B. wenn Art. 39 III EG Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit ausnahmsweise zulässt303. Dem widerspricht es nicht, wenn Art. 12 EG als allgemeines „Strukturprinzip der Gemeinschaft“304 unterstützend zur Interpretation der speziellen Diskriminierungsverbote herangezogen wird305. Findet Art. 12 EG folglich keine Anwendung, wenn die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote eingreifen, so hängt das Verhältnis der Gleichheitsrechte davon ab, welche Diskriminierungen grundfreiheitsrelevant sind306. Neben der dogmatischen Frage der Abgrenzung der einzelnen Gewährleistungsgehalte besitzt diese Prüfung auch praktische Relevanz, ist doch die Rechtsprechung hinsichtlich der Frage, ob die immanenten Schranken der Grundfreiheiten auch für verdeckte Diskriminierungen gelten, nicht ganz eindeutig. Verneint man dies, sind die grundfreiheitlichen Rechtfertigungsmöglichkeiten gegenüber denen eines relativ verstandenen Art. 12 EG deutlich reduziert. Angesichts obigen Ergebnisses, dass die immanenten Schranken für sämtliche Diskriminierungen gelten, also „zwin301
EuGH, Rs. 39/86, Slg. 1988, 3161 „Lair ./. Universität Hannover“; Rs. 197/86, Slg. 1988, 3205 „Brown ./. Secretary of State for Scotland“; Rs. C-10/90, Slg. 1991, I-1119, 1138 „Masgio“; Rs. C-213/90, Slg. 1991, I-3507 „Asti“; Rs. C-332/90, Slg. 1992, I-341, 356 „Steen ./. Deutsche Bundespost“; Rs. C-379/92, Slg. 1994, I-3453 „Strafverfahren gegen M. Peralta“; Rs. C-419/92, Slg. 1994, I-505, 520 „Scholz“; Rs. C-18/93, Slg. 1994, I-1783 „Corsica Ferries“; Rs. C-334/94, Slg. 1996, I-1307, 1339 „Kommission ./. Frankreich“; Rs. C-336/96, Slg. 1998, I-2793 „Gilly“; Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 19. 302 Vgl. EuGH, Rs. C-112/91, Slg. 1993, I-429 „Werner“: „[. . .] wird die Durchführung des in Art. 7 EWG-Vertrag niedergelegten Grundsatzes für das Niederlassungsrecht in Art. 52 gewährleistet.“ 303 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 55 m.w.N; vgl. auch Fischer, Europarecht, § 12 Rn. 10; Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 19 unter Hinweis auf EuGH, Rs. 13/76, Slg. 1976, 1333, 1339 „Donà ./. Mantero“; Rs. C-179/90, Slg. 1991, I-5889, 5927 „Merci convenzionali porto di Genova“. 304 Zuleeg, in: GTE, Art. 6 Rn. 1. 305 Vgl. EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 „Walrave“; Rs. 175/78, Slg. 1979, 1129, 1134 „Saunders“; Rs. C-45/93, Slg. 1994, I-911, 920 „Kommission ./. Spanien“; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV a. F. Rn. 1, 56; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 5, 7, 11. 306 Bereits oben wurde auf den Umstand hingewiesen, dass dieser Prüfung angesichts der Art. 17 II, 18 EG i. V. m. Art. 12 EG kaum noch Bedeutung im Hinblick auf die Frage zukommt, ob gemeinschaftsrechtliche Gleichheitsrechte gelten.
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gende Gründe des Allgemeininteresses“ Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten rechtfertigen können, käme auch diesem Unterschied deutlich reduzierte Bedeutung zu. Beide Gewährleistungen sehen damit relativ offene Rechtfertigungsmöglichkeiten vor, die dem Verhältnismäßigkeitsgebot unterliegen und sich lediglich graduell307 unterscheiden. Die reduzierte Rechtfertigungsmöglichkeit der Grundfreiheiten überzeugt vor der integrativen Bedeutung dieser Gewährleistungen. Zum Teil wird versucht, dem Art. 12 EG einen erweiterten Anwendungsbereich neben den Grundfreiheiten zu eröffnen: „Der EuGH machte vielmehr deutlich, dass der für Art. 12 Abs. 1 EGV erforderliche Anwendungsbereich des Vertrages auch dann eröffnet sein kann, wenn die Grundfreiheiten zwar berührt, aber nicht konkret tatbestandlich einschlägig sind, und erfasst damit solche nationale Bestimmungen, die sich in ihrer Zielrichtung nicht gegen eine bestimmte Grundfreiheit richten, sondern allgemein und unspezifisch die Ausübung der Grundfreiheiten behindern können.“308
Man begegnet also wieder Eingrenzungsversuchen der Grundfreiheiten im Bereich der sog. Umfeldregelungen. Mögen sie im freiheitsrechtlichen Bereich zwar inhaltlich nicht überzeugen, so ist dort zumindest ihr Motiv mit der Begrenzung der Grundfreiheitsrelevanz für unterschiedslos geltende Maßnahmen zu billigen. An dieser Stelle soll nun die gleichheitsrechtliche Überprüfung künstlich aufgeteilt werden, obwohl dies nicht im Wortlaut angelegt ist, und es an der funktionellen Notwendigkeit einer solchen Eingrenzung fehlt. Die Gefahr einer Ausdehnung auf Bereiche, die nicht im Entferntesten einen Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen, besteht nicht. Den gemeinschaftsrechtlichen Bezug schafft die marktaufsplitternde Diskriminierung anhand der Staatsangehörigkeit. Deshalb nahm der EuGH den grundfreiheitlichen Gehalt in der Rs. Keck309 auch nur hinsichtlich unterschiedsloser Maßnahmen zurück. Das Reduzierungsmotiv ist also gerade nicht auf die vorliegende Abgrenzungsfrage übertragbar. Art. 12 EG behält in Abgrenzung zu den Grundfreiheiten seinen Anwendungsbereich, sofern die Grundfreiheiten sachlich nicht einschlägig sind und ist im Übrigen Strukturvorgabe310. Angesichts der erheblichen Ausweitung der Grundfrei307 Für Art. 12 EG genügen bereits „sachliche Gründe“, während die Grundfreiheiten insoweit strenger „zwingende Gründe des Allgemeinwohls“ erfordern. 308 Streinz, Europarecht Rn. 668. 309 EuGH, verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91, Slg. 1993, I-6097 „Keck“. 310 Eher pragmatisch Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 39 EGV Rn. 137: „Die größere Übersichtlichkeit (spricht) dafür, Diskriminierungen, die die Träger der Freiheiten erleiden, den Freiheiten und nicht Art. 12 EGV zuzuordnen. Anderenfalls wäre die Abgrenzung zwischen Art. 12 EGV und den Freiheiten durch die schwierige Unterscheidung zwischen Diskriminierungen, die die Tätigkeit und solchen, die nur das Umfeld betreffen, mit Unsicherheiten behaftet.“ Ergänzung in Klammern stammt vom Verfasser.
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heiten auf die passiven Gewährleistungsgehalte wird die Bedeutung des Art. 12 EG natürlich deutlich reduziert. Insbesondere ist nahezu jeder, der sich als Tourist in einen anderen Mitgliedstaat begibt, Dienstleistungsempfänger und damit Träger der passiven Dienstleistungsfreiheit311. Diskriminierungen sind dann an Art. 49 ff. EG zu messen. (c) Gleichheitsrechtlicher Maßstab der Sanktionen Vor dem entwickelten gleichheitsrechtlichen System des Gemeinschaftsrechts können nun die gerichtlich herangezogenen Maßstäbe auf ihre Berechtigung überprüft werden. Im Unterschied zu anderen Versuchen dieser Art, findet eine Auseinandersetzung mit allen möglicherweise maßgeblichen Gleichheitsrechten des Gemeinschaftsrechts statt. Allein unter Beachtung des Verhältnisses jener Gleichheitsrechte offenbart sich die „Menge Gemeinschaftsrecht“, so dass deutlich wird, mit welchem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsrecht die mitgliedstaatlichen Kriminalstrafen in Kollision treten können. (aa) Satzger: Allgemeiner Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung Satzger meint, das in der Rechtsprechung zu den Sanktionen herangezogene Gebot der Gleichbehandlung sei ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts312. Dennoch lehnt er eine Übertragung der Grundsätze zur Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze ab: „Es geht hier nicht um die [. . .] Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gebunden sind. Dies wäre hier im Übrigen u. U. zu verneinen, weil wir uns nicht notwendigerweise im Anwendungsbereich des EGVertrags befinden. Vielmehr geht es hier um die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, dessen integraler Bestandteil auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind.“313
Diese Ansicht trifft nicht zu. Misst Satzger die mitgliedstaatlichen Sanktionen an dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung, so muss es für seine Lösung um die Frage der Verbindlichkeit gehen. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts beschreibt nichts anderes als die Frage, inwieweit nationale Maßnahmen derartige Vorgaben zu achten haben. Darum geht es hier. Wollte man dagegen, wie Satzger suggeriert, allgemein durch Auslegung den Regelungsgehalt des Gemeinschaftsrechts bestimmen, indem man die 311 312 313
EuGH, Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“. Satzger, S. 307. Satzger, S. 308 (Fn. 1410).
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allgemeinen Rechtsgrundsätze isoliert, d.h. nicht vermittelt über anderes Gemeinschaftsrecht heranzöge, um die gemeinschaftsrechtliche Billigung nationaler Zuständigkeiten zu ermitteln, so überdehnte dies den Regelungsgehalt der allgemeinen Rechtsgrundsätze. Subtil entwickelte man eine umfassende Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Eine solche Interpretation unterwürfe sämtliches nationales Recht der Kontrolle der allgemeinen Rechtsgrundsätze und liefe auf eine der deutschen Ermessenskontrolle vergleichbare Prüfung hinaus, welche aber ein normhierarchisches Verhältnis voraussetzt, woran es hinsichtlich des Gemeinschaftsrechts, vor allem aber auch hinsichtlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze gerade fehlt. Natürlich darf das nationale Recht allgemeine Rechtsgrundsätze nicht völlig außer Acht lassen, bedarf doch insbesondere das nationale Kriminalstrafrecht aufgrund seiner besonderen Eingriffsintensität rechtsstaatlicher Kontrolle. Dieser Schutz der Rechtsunterworfenen vor mitgliedstaatlichem Handeln obliegt grundsätzlich aber den nationalen Verfassungen. So fließt das Verhältnismäßigkeitsprinzip nach deutschem Recht aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG. Bewegen wir uns aber in einem Bereich gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, wie sie z. B. die Grundfreiheiten entfalten, so erstreckt sich die Vorrangwirkung im Kollisionsfalle jedenfalls grundsätzlich314 auch auf diese verfassungsrechtlichen Garantien, was in Abwesenheit gemeinschaftsrechtlicher Gewährleistungen zu einem rechtsstaatlichen Defizit in solchen Fällen führen könnte315. Die gemeinschaftlichen Rechtsgrundsätze müssen daher, determiniert durch dieses Spannungsverhältnis jedenfalls zwischen nationalem und gemeinschaftlichem Schutz, Bindungswirkung entfalten316. Für die Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind nach h. M. deshalb die zwei bereits angesprochenen Fallgestaltungen weitgehend anerkannt. Zum einen besteht eine Bindung im 314 Vgl. die Einschränkungen des BVerfG hinsichtlich des Vorrangs vor Verfassungsrecht: BVerfGE 37, 271, 279, die aber bisher nicht zum Tragen kamen und angesichts der verstärkten Entwicklung rechtsstaatlicher Grundsätze auf Gemeinschaftsrechtsebene wohl auch nicht zum Tragen kommen werden. 315 Vgl. EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 „Internationale Handelsgesellschaft“; Bleckmann, Europarecht Rn. 614; Streinz, Europarecht Rn. 368; Kingreen, JuS 2000, 857, 858. 316 Gem. Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwar im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen (Art. 49 der Charta) für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union, was zum einen den Vollzug von Sekundärrecht, zum anderen aber auch die Beachtung primärrechtlicher Vorgaben, z. B. bei zulässigen Beschränkungsmaßnahmen gegenüber Grundfreiheiten, betrifft. Die rechtliche Verbindlichkeit dieser Charta ist aber noch durch ein Verfahren gem. Art. 48 EUV herbeizuführen.
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Falle von Durchführungskonstellationen und zum anderen, in der hier erheblichen Konstellation, wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen die Grundfreiheiten beeinträchtigen, sich aber auf einen gemeinschaftlichen Rechtfertigungsgrund berufen können. Diese Möglichkeit der Rechtfertigung existiert dann nur im Einklang mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen317. Eine darüber hinausgreifende Bindungswirkung, wie Satzger sie subtil einzuführen scheint, existiert nicht. Doch auch seine Prüfung greift nur auf den ersten Blick über die dargestellte Maßstäblichkeit hinaus. Bei genauer Betrachtung zeigt sich vielmehr, dass auch er eine verschleierte, unsystematische Grundfreiheitsprüfung durchführt und damit die Grenzen mitgliedstaatlicher Bindung an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gerade bestätigt. Dieser Widerspruch soll nachfolgend illustriert werden und als Beleg dafür dienen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze stets nur im Rahmen der anerkannten Konstellationen einen Maßstab bilden und gerade deshalb nicht das für die mitgliedstaatlichen Sanktionen maßgebliche Gleichheitsrecht darstellen können. Satzger meint, die angedrohte wie die verhängte Sanktion318 könne zum einen durch das Strafmaß zum anderen durch die Natur der Sanktion die Grundfreiheiten beeinträchtigen. Während der Eingriff durch das Strafmaß eine Verletzung durch die Sanktionshöhe beschreibt, meint die Beeinträchtigung durch die Natur der Sanktion die mit jeder Sanktion verbundene Beschränkung individueller Rechtspositionen319. Wendet man sich dem Eingriff durch die Sanktionshöhe zu, so sei zwischen zwei Fallgruppen zu unterscheiden, der Sanktionierung von Verstößen gegen gemeinschaftsrechtlich gebilligte Kontrollen und administrative Pflichten in den Mitgliedstaaten320 einerseits und der Sanktionshöhe für Verstöße gegen Normen der Mitgliedstaaten, die durch gemeinschaftsrechtliche Ausnahmetatbestände gedeckt sind321 andererseits. Hinsichtlich der ersten Fallgruppe stellt er heraus, dass der Gerichtshof mit der Verhältnismäßigkeit und dem Diskriminierungsverbot die allgemeinen Rechts317 Von einer „Bindung“ im engeren Sinne kann allerdings entgegen der h. M. nicht gesprochen werden, suggeriert sie doch das direkte Unterworfensein. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze bilden für mitgliedstaatliches Handeln nach hier vertretener Ansicht aber nur einen mittelbaren Maßstab. Es ist lediglich im Wege praktischer Konkordanz sicherzustellen, dass sie den verbindlichen Grundfreiheiten nicht widersprechen. Dazu bereits oben in diesem Teil C. I. 1. a) cc) (2) (b). 318 Vgl. Satzger, S. 300 ff. zu den angedrohten Sanktionen. Hinsichtlich der Verhängung von Sanktionen nimmt er in seinem Kapitel zum „Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsanwendung“ Bezug auf seine Ausführungen zur Bindung des Gesetzgebers, also die Einflüsse auf die angedrohten Sanktionen, vgl. Satzger, S. 510 ff. 319 Satzger, S. 300, 317. 320 Vgl. die Überschrift in Satzger, S. 301 und die nachfolgenden Ausführungen. 321 Vgl. die Überschrift in Satzger, S. 312 und die nachfolgenden Ausführungen.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 123 grundsätze des Gemeinschaftsrechts zur Kontrolle heranzieht. Im Gegensatz zur zweiten Fallgruppe übe der Mitgliedstaat hier aber souveräne Rechte aus, die jedoch gemeinschaftlich geregelte Materien berührten, indem die Modalitäten der Ausübung der Grundfreiheiten bestimmt werden würden. Jedenfalls die Primärnormen, die das Ge- oder Verbot enthielten, könnten die unmittelbar anwendbaren Freiheiten beschneiden, weshalb das Gemeinschaftsrecht Grenzen ziehe. Dies gelte aber nicht nur in der zweiten Fallgruppe, sondern gerade auch in dem Fall, in dem den Mitgliedstaaten Zuständigkeiten verblieben seien, die eng mit der Ausübung der Freiheiten verbunden sind322. Auch in diesem Bereich zurückbehaltener Zuständigkeiten sei durch Auslegung des gesamten Gemeinschaftsrechts zu ermitteln, inwieweit mitgliedstaatliche Primärnormen gebilligt werden. Dabei sei das gesamte Gemeinschaftsrecht, einschließlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verhältnismäßigkeits- und Gleichbehandlungsgebots, zu berücksichtigen. Beträfen diese Ausführungen noch die Primärnorm, so folge hinsichtlich der angedrohten Straffolge, dass diese Rückschlüsse auf die – wahren – vom nationalen Gesetzgeber in der Primärnorm aufgestellten Strafbarkeitsvoraussetzungen zulasse. Führe dies dazu, dass der Sache nach eine Primärnorm zugrundegelegt wird, die so nicht dem Gemeinschaftsrecht entspricht, sei die Sanktion gemeinschaftsrechtlich unzulässig323. Dagegen sei in der zweiten Fallgruppe der Anwendungsbereich des EG-Rechts bereits durch den grundfreiheitsbeschränkenden Charakter der Verhaltensvorschrift eröffnet. Die Sanktionsdrohung erhalte ihre Rechtfertigung auch hier aber nur über die Primärnorm, d.h. nur insoweit, als die Sanktion allein durch die Verletzung der gemeinschaftsrechtskonformen Primärnorm veranlasst ist und ausschließlich der Erreichung der Ziele der Primärnorm dient324. Daneben könne eine Beeinträchtigung bereits durch die Natur der Sanktion, also den sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehl, begründet werden: „Wenn die Grundfreiheiten also nicht nur reflexartig beschnitten werden, sondern deren Verwirklichung aufgrund der Natur der zu verhängenden Strafe gerade unmöglich gemacht wird und auch werden soll, so steht der Schonungsgrundsatz einer Beeinflussung der Wahl der Sanktionsart durch das EG-Recht nicht grundsätzlich entgegen: [. . .] Daraus folgt, dass zumindest denjenigen Sanktionen, deren primärer Zweck es ist, die Grundfreiheiten zu beschneiden, weil gerade die Ausübung dieser Freiheiten aus Sicht des Mitgliedstaats als schädlich angesehen wird und deshalb verhindert werden soll, gemeinschaftsrechtliche Schranken gezogen werden müssen.“325
Satzgers Ausführungen sind vor dem von ihm vertretenen freiheitsrechtlichen Verständnis zu analysieren, spiegeln sie doch gerade die Probleme 322 Satzger, S. 308 unter Hinweis auf GA Trabucchi, in: EuGH, Rs. 118/75, Slg. 1976, 1185, 1208 „Watson“. 323 Satzger, S. 309. 324 Satzger, S. 314 f. im Hinblick auf Fälle, in denen die Primärnorm durch immanente Schranken gerechtfertigt ist und S. 316 im Hinblick auf Fälle, in denen die Primärnorm durch die ausdrücklichen Schranken gerechtfertigt ist. 325 Satzger, S. 319.
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dieser weitreichenden Interpretation der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote wider. Betrachtet man etwaige Beeinträchtigungen durch die Höhe der Sanktion, so handele es sich bei der ersten der Fallgruppen um Primärnormen, welche die Modalitäten der Ausübung der Grundfreiheiten bestimmten und sie deshalb beschneiden könnten. Mit dieser These gesteht Satzger die Grundfreiheitsrelevanz solcher Primärnormen, welche das Umfeld regeln, bereits ein. Auf der nächsten Stufe wäre nach freiheitsrechtlicher Interpretation systematisch sauber zu erörtern gewesen, ob ein Kriterium einschlägig ist, welches im Zuge der Keck-Rechtsprechung dazu dient, den Gewährleistungsgehalt für bestimmte Fälle wieder auf ein Diskriminierungsverbot zu reduzieren. Satzger meint wohl, die mitgliedstaatlichen Maßnahmen müssten „eng mit der Regelung der Ausübung der Grundfreiheiten verbunden“ sein326. Ist dies der Fall oder liegt, was Satzger unterschlägt, eine diskriminierende Maßnahme vor, so ist die Grundfreiheit beeinträchtigt und eine Rechtfertigung über die jeweils anwendbaren Schranken zu prüfen. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze beschränken jene Rechtfertigungsmöglichkeiten. Satzgers „billigende Funktion“ überzeugt nur in diesem grundfreiheitlichen Kontext, den seine Prüfung aber nicht offenbart. Bereits diese Systematisierung belegt, dass Satzger eine unstrukturierte Grundfreiheitsprüfung vornimmt. Diese These wird bestätigt, wenn man die von ihm nachfolgend etablierten „Grenzen der Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Schranken“ betrachtet327. Danach gelten die gemeinschaftsrechtlichen Schranken des Verhältnismäßigkeitsprinzips bzw. des Gleichbehandlungsgebots nicht, wenn rein innerstaatliche Sachverhalte vorliegen, Drittstaatsangehörige betroffen sind oder der sachliche Anwendungsbereich wegen „Keck“ nicht eröffnet ist. Sämtliche genannte Grenzen stellen Elemente der oben dargestellten Grundfreiheitsprüfung dar. Insbesondere seine „Keck“-Grenze zeigt explizit, dass auch er erkennt, dass mit seinen Termini formuliert „indirekte Kollisionen“ mit den Grundfreiheiten 326
Satzger, S. 308 unter Hinweis auf GA Trabucchi, in: EuGH, Rs. 118/75, Slg. 1976, 1185, 1208 „Watson“. Diese Vorgehensweise über eine Reduzierung der Gewährleistungsgehalte steht aber nicht im Einklang mit seiner hinsichtlich der Primärnormen vertretenen Lösung. Dort reduziert er die Anwendbarkeit der Kollisionsregel durch Einführung der Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen. Normen, die „eng mit der Ausübung der Freiheiten verbunden sind“ und deshalb geeignet sind, diese zu beeinträchtigen, bilden typische Fälle indirekter Kollisionen. Seiner Lösung folgend hätte Satzger deshalb über eine Abwägung im Einzelfall lösen müssen. Vgl. die Kritik an jener Abwägungslösung als bloße vom Ziel geleitete Verlagerung und Verschleierung des Problems, oben 1. Teil B. II. 2. 327 Satzger, S. 310 ff., wobei „Schranken“ die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verhältnismäßigkeitsprinzip und des Gleichbehandlungsgebots meinen, vgl. seinen Hinweis auf GA Trabucchi auf S. 307 (Fn. 1407).
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in Rede stehen. Seine entwickelten Grenzen sind zudem unsauber, denn „Keck“ bewirkt einzig die Reduzierung der freiheitsrechtlichen Gehalte. Damit gelangen zwar die allgemeinen Rechtsgrundsätze für unterschiedslose Verkaufsmodalitäten nicht mehr zur Anwendung, doch scheint er das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot zu übersehen, das auch für solche Umfeldregelungen gilt. Klingt dies zwar in der Definition328 an, so suggeriert die Etablierung dieser Rechtsprechung als „Grenze der Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Grenzen“, dass weder das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch das Diskriminierungsverbot für solche mitgliedstaatlichen Umfeldregelungen gilt. Dass jene Annahme nicht zutrifft, wird zumindest nicht hinreichend deutlich. Für die erste von Satzgers Fallgruppen konnte somit im Wege der Strukturierung seiner Prüfung belegt werden, dass die These, es ginge hier nicht um die Reichweite der Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze, nicht zutrifft. Schließlich führt auch er, wenn auch unsystematisch und unvollständig, eine Grundfreiheitsprüfung durch, erörtert also einen Anwendungsfall mitgliedstaatlicher Bindung. Aus diesem Ergebnis folgt dann bereits, dass auch seine zweite These nicht zutrifft, die andere, von ihm geschieden behandelte Fallgruppe, unterscheide sich darin, dass der Anwendungsbereich des EG-Rechts bereits durch den grundfreiheitsbeschränkenden Charakter der Verhaltensvorschrift eröffnet ist329. War es auch in dem zuvor behandelten Bereich unabdingbar einen Eingriff in die grundfreiheitlichen Gewährleistungen festzustellen, so besteht zwischen den Fallgruppen kein Unterschied und seiner Differenzierung fehlt jede Grundlage. Im Ergebnis prüft Satzger folglich im Rahmen der anerkannten Bindungswirkung der allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Mitgliedstaaten, indem er stets eine Grundfreiheitsbeeinträchtigung voraussetzt. Etabliert er, wenngleich verdeckt, die Prämisse des Eingriffs in eine Grundfreiheit, so folgt aus dieser zutreffenden Annahme jedoch zwingend, dass – gleich, welche seiner Fallgruppen man betrachtet – der allgemeine Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung nie den Maßstab für die rein mitgliedstaatlichen Sanktionen bilden kann. Nach allen Ansichten enthalten die Grundfreiheiten jedenfalls auch das Gebot der Inländerbehandlung, welches den allgemeinen 328
Satzger, S. 312 nimmt insoweit Bezug auf die Formulierung in der Rs. Keck, wonach Verkaufsmodalitäten nicht unter den Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung fallen, wenn sie „für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“ 329 Satzger, S. 313.
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Gleichheitssatz als lex specialis verdrängt330. Maßstab der kriminalstrafrechtlichen Sanktionen wären die Grundfreiheiten. Nach Ansicht Satzgers beträfen jene Ausführungen zur Grundfreiheitsrelevanz des Kriminalstrafrechts jedoch nur die Primärnormen. Hinsichtlich der Möglichkeit, die Grundfreiheiten durch die Sanktionshöhe zu beeinträchtigen, führt er dagegen aus: „Erst wenn man sich den Zusammenhang zwischen Primärnorm und der angedrohten Sanktion vor Augen führt, wird die notwendige gemeinschaftsrechtliche Relevanz auch der Strafdrohung deutlich: Die angedrohte Straffolge kann nämlich Rückschlüsse auf die – wahren – vom nationalen Gesetzgeber in der Primärnorm aufgestellten Strafbarkeitsvoraussetzungen zulassen. [. . .] Führt dies dazu, dass der Sache nach eine Primärnorm zugrunde gelegt wird, die so nicht dem Gemeinschaftsrecht entspricht, ist die Sanktion gemeinschaftsrechtlich unzulässig. [. . .] Da nun aber – wie gesehen – die Voraussetzungen der Strafbarkeit gemeinschaftsrechtlichen Grenzen unterliegen, dürfen diese – durch Rückwirkung der Sanktionshöhe auf die Primärnorm – nicht unterlaufen werden. Dies bedeutet, dass immer dann, wenn die Höhe der angedrohten Sanktion zeigt, dass letztlich nicht die formale Primärnorm bewehrt wird, sondern ihr ein strengeres Ver- bzw. Gebot zugrunde liegt, das den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nicht entspricht, auch die Sanktion als solche zur Gemeinschaftswidrigkeit der Sanktionsregelung führt. Nur über diesen Umweg erklärt sich, warum der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Diskriminierungsverbot letztlich auch als Maßstab für die Sanktionshöhe heranzuziehen sind.“331
Mit jener Stellungnahme begrenzt Satzger die Möglichkeit der Grundfreiheitsbeeinträchtigung durch die Sanktionshöhe auf die Fälle einer Rückwirkung der Sanktion auf die Primärnorm. Nur im Rahmen und vermittelt über die veränderte Primärnorm könne die Sanktionshöhe grundfreiheitsrelevant und im Rahmen seiner Prüfung an den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu messen sein. Er überprüft letztlich einzig die veränderte Primärnorm an den Grundfreiheiten, während die Möglichkeit spezifischer durch die Sanktionshöhe ausgelöster Ungleichbehandlungen unbeachtet bleibt. Jedenfalls ohne weitere Begründung ist dieses Ergebnis nicht vertretbar. Satzger verkennt, dass die Grundfreiheitsbeeinträchtigung nicht in der Höhe oder Natur der 330 Auch die weiteren Begründungsversuche Satzgers für die These, Maßstab sei der allgemeine Gleichheitssatz, gehen damit fehl. Die Formulierung in EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 „Gebhard“ erklärt sich aus dem Umstand, dass die immanente Schranke nach dieser Rechtsprechung nur für nicht diskriminierende Maßnahmen gelten soll, vgl. Satzger S. 314. Auch die ausdrücklichen Schranken werden nicht durch „das Diskriminierungsverbot“ begrenzt, vgl. Satzger, S. 316. Auch er muss anerkennen, dass die ordre-public-Klauseln auch diskriminierende Maßnahmen rechtfertigen können. Einzig die „willkürliche Ungleichbehandlung“ ist verboten. 331 Satzger, S. 309 f.
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Sanktion liegt332, sondern in der Ungleichbehandlung durch eine mitgliedstaatliche Sanktionierungsmaßnahme. Bereits einleitend wurde ausgeführt, dass sowohl die gesetzgeberische Androhung als auch die gerichtliche Verhängung potentiell grundfreiheitlich relevante hoheitliche Maßnahmen darstellen. Eine gemeinschaftsrechtliche Bereichsausnahme besteht schließlich nicht. Die grundfreiheitlich missbilligte Diskriminierung kann sich dabei zwar in der unterschiedlichen Höhe oder der unterschiedlichen Natur der Sanktion äußern, der Eingriff liegt jedoch allein in der ausländerbelastenden Ungleichbehandlung. Die Diskriminierung ist auch nach freiheitsrechtlicher Lesart bereits auf der Eingriffsebene der Grundfreiheitsprüfung zu erörtern, so dass die mitgliedstaatliche Sanktionierung im Ausgangspunkt wie jede andere mitgliedstaatliche Maßnahme dem Regime des Gemeinschaftsrechts unterliegt. Die Ansicht Satzgers ist deshalb abzulehnen. Fraglich ist jedoch, ob zumindest die These des Rückschlusses von der Sanktionshöhe auf die tatsächlich strafrechtlich bewehrte Primärnorm, also die Möglichkeit mittelbarer Grundfreiheitsrelevanz der Sanktion zutrifft. Diese Frage soll beispielhaft anhand der oben bereits angesprochenen Rs. Sagulo333 untersucht werden. Zum besseren Verständnis ist zunächst der Sachverhalt nochmals in Erinnerung zu rufen. Eine EG-Ausländerin wurde nach § 47 Absatz 1 Nr. 2 des damaligen Ausländergesetzes334 bestraft, weil sie sich fahrlässig ohne Pass und ohne Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hatte. Der EuGH ist im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nur zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts berufen und musste es deshalb zur Wahrung seiner Kompetenz bei der Feststellung belassen, dass das Recht auf Freizügigkeit unmittelbar aus Art. 39 EG und dessen Durchführungsvorschriften folgt. Die vorgesehene mitgliedstaatliche Aufenthaltserlaubnis kann mithin nur deklaratorischen Charakters sein. EG-Ausländern darf nicht die Einholung einer konstitutiven Erlaubnis abverlangt werden. Satzger legt seinen Ausführungen ein vergleichbares Beispiel zugrunde und meint, durch die Bestrafung gem. § 47 I Nr. 2 AuslG a. F. ließe sich auf ein solches gemeinschaftswidriges Gebot schließen, eine konstitutive Erlaubnis einzuholen335. Zwingend ist diese Annahme indes nicht, denn seine Behauptung ließe sich auch umkehren, indem man konstatierte, die übrigen Ausländer würden bloß wegen Fehlens einer deklaratorischen Erlaubnis bestraft. Auch könnte die fehlende Schaffung einer besonderen 332 Zu dieser Differenzierung unter freiheitsrechtlichem Blickwinkel für die unterschiedslos geltenden mitgliedstaatlichen Sanktionierungsmaßnahmen sogleich. 333 EuGH, Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495 „Sagulo“. 334 Vom 28.04.1965, abgedruckt im BGBl. 1965 I, S. 353. 335 Satzger, S. 309.
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Sanktionsnorm für EG-Ausländer eine bewusste Gleichstellung des Gesetzgebers durch Unterlassen darstellen. Er hätte dann einen Verstoß gegen die Einholungspflicht einer konstitutiven und einer deklaratorischen Erlaubnis als gleichwertig angesehen. Korrekt ist es daher mit dem EuGH zunächst gemeinschaftsrechtlich zu ermitteln, welcher Aufenthaltserlaubnis ein EG-Ausländer bedarf. Entsprechend fand der Gerichtshof, dass lediglich deklaratorische Erlaubnisse gemeinschaftsrechtmäßig seien. Natürlich darf der EG-Ausländer dann auch nicht wegen Fehlens einer konstitutiven bestraft werden, weil dann infolge der strafrechtlichen Akzessorietät eine gemeinschaftswidrige Primärnorm gälte. Nachfolgend hatte der nationale Rechtsanwender – die Interpretation des nationalen Rechts obliegt schließlich allein ihm – durch Auslegung den Inhalt des Begriffs der „Aufenthaltserlaubnis“ in § 47 I Nr. 2 AuslG a. F. zu ermitteln und dabei insbesondere die Frage zu klären, ob jener Begriff eine konstitutive, eine deklaratorische oder gar beide Formen der Erlaubnis meinte. Dabei ist eine alle nationale Auslegungsmethoden umfassende Interpretation erforderlich. Wie die Kommission in dieser Rechtssache zutreffend ausführte, war der Begriff der Aufenthaltserlaubnis insofern nicht aussagekräftig336. Normsystematisch könnte die Höhe der Sanktion im Vergleich zu anderen Vorschriften des Ausländergesetzes einen Anhaltspunkt zur Auslegung bieten. Anders als die Ausführungen Satzgers suggerieren, bildet die Sanktionshöhe in diesem Kontext zwar ein Auslegungsindiz, lässt isoliert betrachtet aber keinen zwingenden Schluss auf den Inhalt der Primärnorm zu. Im Gegenteil wird sich regelmäßig eine bewusste Gleichstellung des Gesetzgebers nicht ausschließen und somit nicht mit hinreichender Sicherheit auf den Inhalt schließen lassen. Der von Satzger beschriebene Rückschluss aufgrund der Höhe der Sanktion ist damit als einfacher Anwendungsfall systematischer Auslegung als Bestandteil der interpretatorischen Ermittlung der bewehrten Primärnorm entlarvt, bietet keine zusätzlichen Erkenntnisse und dürfte isoliert angewendet kaum zu sicheren Erkenntnissen über den Inhalt der Primärnorm führen. Zutreffend ist dagegen die Grundannahme, dass nicht die formale, sondern die materiell durch das Strafrecht bewehrte nationale Primärnorm an den Grundfreiheiten zu messen ist. Zur Kollisionsermittlung ist eben nicht nur die Gemeinschaftsrechtsgewährleistung, sondern auch das potentiell kollidierende nationale Recht zu definieren, welches dann an den Grundfreiheiten zu messen ist. Führte also eine alle Interpretationsmethoden um336
Vgl. die Erklärungen der Kommission in dieser Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495, 1499 und die Schlussanträge des GA Reischl, S. 1512, der über das Gebot der Inländergleichbehandlung löst.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 129
fassende Auslegung zu einer Verhaltensanforderung, die zum Gemeinschaftsrecht in Widerspruch steht, so wäre die Strafnorm vermittelt über die durch Interpretation gefundene, gemeinschaftswidrige Primärnorm unanwendbar. Nochmals sei herausgestellt, dass damit keine spezifischen gemeinschaftsrechtlichen Implikationen hinsichtlich der Sanktion gefunden wurden, greift doch auch in diesem Falle einzig die Primärnorm in die Grundfreiheiten ein. Auch für die nach Ansicht Satzgers geschieden zu beurteilenden Eingriffe durch die Natur der Sanktion, also die mit jeder Sanktion verbundene Beeinträchtigung individueller Rechtspositionen337, kann nicht der allgemeine Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung den Maßstab bilden. Selbst Satzger erkennt diesbezüglich die Möglichkeit einer Grundfreiheitsbeeinträchtigung an und versucht, die Anwendbarkeit der allgemeinen Rechtsgrundsätze, also auch des seiner Ansicht nach maßgeblichen allgemeinen Gleichheitssatzes, zu vermeiden, indem er die Grundfreiheitsgehalte durch die Einführung eines Finalitätskriteriums reduziert: „Wenn die Grundfreiheiten also nicht nur reflexartig beschnitten werden, sondern deren Verwirklichung aufgrund der Natur der zu verhängenden Strafe gerade unmöglich gemacht wird und auch werden soll, so steht der Schonungsgrundsatz einer Beeinflussung der Wahl der Sanktionsart durch das EG-Recht nicht grundsätzlich entgegen: [. . .] Daraus folgt, dass zumindest denjenigen Sanktionen, deren primärer Zweck es ist, die Grundfreiheiten zu beschneiden, weil gerade die Ausübung dieser Freiheiten aus Sicht des Mitgliedstaats als schädlich angesehen wird und deshalb verhindert werden soll, gemeinschaftsrechtliche Schranken gezogen werden müssen.“338
Auf die Inkonsequenz dieses Vorgehens im Hinblick auf die eigentlich von ihm vertretene Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen. Satzger scheint beliebig, je nach Fallgestaltung das passende Kriterium einführen zu wollen, um die Grundfreiheitsgehalte zu reduzieren. War es bei der Sanktionshöhe noch das Erfordernis der engen Verbundenheit der modifizierten Primärnorm mit der Ausübung der Grundfreiheiten, so soll hier der Zweck einer Grundfreiheitsbeschränkung maßgebend sein. Mit einem derartigen Vorgehen begibt man die Grundfreiheiten jeglicher Kontur. Eine Systematik ist nicht mehr erkennbar, und die gemeinschaftsrechtlichen Einflüsse erwecken den Anschein der Beliebigkeit. Postuliert Satzger in allen Fallgestaltungen eine Reduzierung der grundfreiheitlichen Gehalte, wenn die Sanktionshöhe nur vermittelt über die Rückwirkung auf die Primärnorm, die Natur der Sanktion nur im Falle 337 338
Satzger, S. 317. Satzger, S. 319.
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zweckgerichteter Beeinträchtigung an den Grundfreiheiten zu messen sein soll, so resultiert dies aus der Verkennung des gleichheitsrechtlichen Regelungsgehalts der Grundfreiheiten, der auch nach freiheitsrechtlicher Lesart erhalten bleibt. Seine Lösung ist von der unausgesprochenen Befürchtung gekennzeichnet, die Anerkennung einer Grundfreiheitsrelevanz der mitgliedstaatlichen Sanktionen führe dazu, dass freiheitsrechtlich interpretiert alle, also auch die unterschiedslos geltenden Sanktionen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts unterlägen. Dabei strebt er weniger die Vermeidung gleichheitsrechtlicher Prüfungen an, vielmehr drohen gemeinschaftsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfungen unterschiedslos geltender nationaler Sanktionen. Dieses unliebsame Ergebnis sucht er zu vermeiden, indem er den allgemeinen Rechtsgrundsatz statt der Grundfreiheiten als Maßstab der Sanktionen heranzieht. Dabei ist er jedoch gezwungen, den Umstand zu verschleiern, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze nur nach Feststellung einer Grundfreiheitsbeeinträchtigung den Maßstab bilden können. Der allgemeine Gleichheitssatz kann deshalb nicht der vom EuGH zur Überprüfung der Sanktionen herangezogene Maßstab sein. Greifen die grundfreiheitlichen Gleichheitsrechte ein, verdrängen sie den allgemeinen Gleichheitssatz aufgrund Spezialität. Sind sie dagegen nicht einschlägig, kann auch der allgemeine Rechtsgrundsatz nicht eingreifen, setzt er doch bindende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts voraus. (bb) Heise: Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG Legen die bisherigen Ausführungen eine Bindung der Sanktionen an die grundfreiheitlichen Gleichheitsrechte nahe, so wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass daneben Art. 12 EG existiert, dessen Anwendungsbereich infolge der Einführung der Art. 17, 18 EG eine erhebliche Ausdehnung erfahren hat. Heise vertritt ausgehend von einer freiheitsrechtlichen Lesart der Grundfreiheiten eine Bindung der mitgliedstaatlichen Sanktionen an Art. 12 EG, den er als Willkürverbot interpretiert. „Übertragen auf das Strafrecht beinhalten diese Grundsätze das Verbot, Handlungen, die einen Gemeinschaftsrechtsbezug aufweisen, also etwa im Zusammenhang mit der Warenverkehrsfreiheit oder der Freizügigkeit der Arbeitnehmer stehen, strafrechtlich ungleich zu behandeln und damit im Verhältnis zu vergleichbaren Verhaltensweisen mit rein nationalem Bezug zu benachteiligen. Dies betrifft einerseits die strafrechtlichen Verhaltensnormen, andererseits aber auch die an diese geknüpften strafrechtlichen Sanktionen. [. . .] Zwar gilt auch für derartige Fälle, dass das Recht der strafrechtlichen Sanktionen ausschließlich dem Bereich des Strafrechts zuzuordnen ist, für das die EG keine Zuständigkeiten besitzt, doch besteht zum gemeinschaftsrechtlichen Diskriminie-
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 131 rungsverbot anders als beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein direkter Bezug. [. . .] strafrechtliche Sanktionsregeln (können) durchaus eine diskriminierende Wirkung entfalten, die gemeinschaftsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist. Da sich die Mitgliedstaaten den Vorgaben des Diskriminierungsverbots nicht entziehen dürfen, indem sie die Ungleichbehandlung im Bereich des Strafrechts ansiedeln, kommen [. . .] im Strafrecht dem Europäischen Gemeinschaftsrecht direkte Auswirkungen auf die Höhe der strafrechtlichen Sanktion zu.“339
Mit seiner Bemerkung, zum Diskriminierungsverbot bestehe im Gegensatz zum Verhältnismäßigkeitsprinzip ein direkter Bezug, erkennt er im Ergebnis zutreffend den divergierenden Ursprung dieser Maßstäbe. Während das Verhältnismäßigkeitsprinzip allgemeiner Rechtsgrundsatz ist und daher nur vermittelt über andere Normen Relevanz für mitgliedstaatliche Sanktionen entfalten kann, handelt es sich bei Art. 12 EG um eine die Mitgliedstaaten unmittelbar bindende Vorgabe, die in der Lage ist, Widersprüche, d.h. Kollisionen auszulösen. Heise setzt sich jedoch nicht mit den speziellen grundfreiheitlichen Diskriminierungsverboten auseinander und scheint diese sogar zu übersehen. Er ist der Ansicht, sobald Handlungen mit Gemeinschaftsrechtsbezug strafrechtlich bewehrt seien, bilde Art. 12 EG den Maßstab. Solch ein Gemeinschaftsrechtsbezug liege dann vor, wenn die mit Strafe bedrohten Handlungen im Zusammenhang mit einer Grundfreiheit stünden. Warum allerdings der Zusammenhang der Primärnorm mit der Grundfreiheit für die Überprüfung der strafrechtlichen Sanktionen am Maßstab des Art. 12 EG erforderlich sein soll, bleibt unklar, erkennt er doch später, dass die diskriminierende Wirkung auch von den Sanktionen ausgehen könne. Widerspräche dann eine Sanktion den gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistungen, so könnte diese Kollision doch nicht allein deshalb ignoriert werden, weil die Primärnorm nicht im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten stünde. Auch die Frage, warum Art. 12 EG den Maßstab bilden soll, obwohl ein Zusammenhang mit den Grundfreiheiten besteht, bleibt offen. Das Verhältnis zu den grundfreiheitlichen Gleichheitsrechten sowie den Inhalt des erforderlichen Zusammenhangs erörtert er nicht. Sein Begründungsversuch mit der Bezugnahme auf bestehende mitgliedstaatliche Zuständigkeiten illustriert wiederum das Bemühen der herrschenden freiheitsrechtlichen Lesart, die Grundfreiheitsrelevanz der Sanktionen zu ignorieren. Dies erklärt auch den Rückzug auf Art. 12 EG. Dass der Hinweis auf Zuständigkeiten allein nicht genügen kann und schließlich auch nach Ansicht Heises nicht durchgreift, wurde bereits dargelegt. Es ist stets zwischen Wahrnehmungs- und Ausübungszuständigkeit zu unterscheiden. Im Übrigen schließt er dogmatisch nicht überzeugend aus den drohenden negativen Folgen im Falle des Fehlens eines gleichheitsrechtlichen Maßstabs auf dessen Existenz. 339
Heise, S. 29 ff.
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(cc) Eigener Ansatz: Die gleichheitsrechtlichen Grundfreiheitsgehalte als vorrangiger Maßstab der Sanktionen Im Ergebnis ging es bei dem vom EuGH angelegten gleichheitsrechtlichen Maßstab bezüglich der Sanktionen zu keiner Zeit um den allgemeinen Gleichheitssatz. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze binden die Mitgliedstaaten nur vermittelt über bindendes Gemeinschaftsrecht im Wege systematischer Auslegung. Diese verbindlichen Vorgaben folgen vor allem aus den grundfreiheitlichen Gleichheitsrechten, aber auch aus Art. 12 EG, der nunmehr durch die Einführung der Art. 17, 18 EG nahezu umfassend gilt. Im Falle einer Ungleichbehandlung durch die verbotenen Kriterien liegt damit bereits eine Beeinträchtigung dieser speziellen Gewährleistungen vor, ohne dass es dann noch auf den allgemeinen Gleichheitssatz ankäme; dieser wird verdrängt. Es stellt sich damit allein die Frage des Verhältnisses zwischen Art. 12 EG und den grundfreiheitlichen Gleichheitsrechten. Beide Diskriminierungsverbote verbieten offene und verdeckte Ungleichbehandlungen anhand der Staatsangehörigkeit, wobei die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote in ihrem Anwendungsbereich spezieller sind. Befindet sich ein Berechtigter in einer grundfreiheitlich relevanten Situation, in der er aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder des Grenzübertritts benachteiligt wird, so verdrängen die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote das allgemeine des Art. 12 EG. Angesichts der erheblichen Ausdehnung der sachlichen Anwendungsbereiche der grundfreiheitlichen Gewährleistungen durch die Anerkennung der sog. passiven Freiheiten ist davon auszugehen, dass dem Art. 12 EG deutlich reduzierte Relevanz zukommen dürfte. Der vorrangige gleichheitsrechtliche Maßstab für die mitgliedstaatlichen Kriminalstrafen fließt daher aus den Grundfreiheiten. Bei der Ermittlung einer grundfreiheitlich relevanten Diskriminierung kommt es entscheidend darauf an, ob der für Ausländer angedrohte340 oder verhängte sanktionenrechtliche Verhaltensbefehl eine Benachteiligung gegenüber rein nationalen Sachverhalten darstellt, die sich nur durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt nachvollziehbar begründen lässt. Es sind die angedrohten oder verhängten Verhaltensbefehle zu vergleichen. Eine Ungleichbehandlung kann zum Beispiel daraus folgen, dass gegen Ausländer ein sanktionenrechtlicher Verhaltensbefehl anderen Inhalts angedroht wird, als gegen Inländer, wodurch der Ausländer benachteiligt 340 Zur Frage, ob auch die bloße Androhung der Kriminalstrafen Grundfreiheitsrelevanz aufweist, gleich unter 1. Teil C. I. 1. b) bb) (3), da insbesondere die Vertreter einer freiheitsrechtlichen Interpretation jene Besonderheit instrumentalisieren, um die Grundfreiheitsrelevanz und damit die Maßstäblichkeit der Verhältnismäßigkeit zu leugnen.
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wird. Zum Beispiel könnten Ausländer mit Freiheitsstrafe bedroht werden, während im Falle des gleichen Verstoßes Inländer nur Geld zu zahlen haben. Der Eingriff liegt in der aus dem Vergleich der sanktionenrechtlichen Befehle ermittelten Ungleichbehandlung. Der Ausländer wird durch das Verbot, die Haftanstalt zu verlassen, stärker in der Teilnahme am Wirtschaftsverkehr behindert als der Inländer, der bloß Geld zahlen muss. Auch aus dem Vergleich der Sanktionshöhen kann eine Ungleichbehandlung zum Nachteil der Ausländer folgen. So z. B. wenn gegen Inländer maximal 1 Jahr Freiheitsstrafe angedroht wird, gegen Ausländer dagegen 5 Jahre. Die Beeinträchtigung der Grundfreiheit liegt aber auch hier in der aus dem Vergleich der sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehle geschlossenen Ungleichbehandlung. Die Feststellung der Benachteiligung ist dabei stets auch eine Aussage über die Eingriffsintensität der Sanktion, jedoch im Vergleich zum innerstaatlichen Sachverhalt, nicht über die Angemessenheit in Bezug zur bewehrten Primärnorm. In dieser komparativen Einbindung liegt der grundlegende Unterschied zum Freiheitsrecht. Ein Vergleich der sanktionenrechtlichen Befehle lässt sich jedoch nur unter Berücksichtigung der Primärnorm anstellen und setzt eine Bewertung der durch den sanktionenrechtlichen Befehl angedrohten bzw. ausgelösten Eingriffe nach Art der betroffenen Rechtsgüter und Intensität des Eingriffs voraus. Betrachtet man z. B. den sanktionenrechtlichen Befehl für einen Ausländer, die Haftanstalt 1 Jahr nicht zu verlassen, so gilt es in der gleichheitsrechtlichen Dogmatik eine Vergleichsgruppe unter einem gemeinsamen Bezugspunkt zu bilden. Die Frage lautet dann nämlich, wie werden Inländer in einer vergleichbaren rechtlichen Situation beurteilt. Damit erlangt die Primärnorm Bedeutung bei der Ermittlung eines gemeinsamen Bezugspunkts, unter dem die vergleichbaren Situationen umfassend und abschließend sichtbar werden. Die Prüfung konkretisiert sich dergestalt, dass zu fragen ist, wie ein Inländer bei einem vergleichbaren Primärnormverstoß beurteilt werden würde. Bevor indes die Fähigkeit der verschiedenen Sanktionen des deutschen Strafrechts überprüft wird, Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder des Art. 12 EG auszulösen, soll nachfolgend zunächst der Ursprung und die Berechtigung des zweiten durch die Rechtsprechung hinsichtlich der Sanktionen etablierten Kriteriums der Verhältnismäßigkeit untersucht werden.
(3) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Maßstab der Sanktionen Der Europäische Gerichtshof stellte, wie gesehen, in einer Vielzahl seiner Entscheidungen fest, eine unverhältnismäßige Strafe könne eine Gefahr für die Verwirklichung der Grundfreiheiten bewirken. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob und wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip in dieser Konstella-
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tion Anwendung finden kann. Einigkeit besteht insoweit, dass es sich bei dem vom EuGH als Maßstab für die mitgliedstaatlichen Sanktionen herangezogenen Verhältnismäßigkeitsprinzip um den allgemeinen Rechtsgrundsatz der Proportionalität handelt341. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind nach hier vertretener Ansicht nicht geeignet, die Mitgliedstaaten unmittelbar zu binden, sondern nehmen nur im Wege systematischer Auslegung bestehender gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben Einfluss auf den Inhalt dieser Vorgaben. Sie binden die Mitgliedstaaten deshalb bloß mittelbar und in diesem Kontext einzig erheblich, wenn die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten beschränken, sich dabei aber auf eine Rechtfertigung berufen können. Jene Rechtfertigungsmöglichkeit steht dann unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Diese beschränkte Bindung diente hinsichtlich des allgemeinen Gleichheitssatzes noch dazu, zu belegen, dass dieser allgemeine Rechtsgrundsatz gerade nicht Maßstab der Sanktionen sein kann, weil die vorausgesetzte Grundfreiheitsrelevanz zur Verdrängung des allgemeinen durch die speziellen grundfreiheitlichen Gleichbehandlungsgebote führt. Dagegen existiert keine Regelung die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verdrängen würde. Aus der Feststellung einer Grundfreiheitsrelevanz sei es durch eine diskriminierende oder im Falle einer freiheitsrechtlichen Lesart auch durch unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Sanktionen folgt vielmehr ein Rechtfertigungszwang. Die Rechtfertigungsmöglichkeit wird dann im Wege systematischer Auslegung durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, also insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt. Mithin folgt hier aus der Grundfreiheitsrelevanz gerade die Möglichkeit, die mitgliedstaatliche Sanktion am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu erörtern. Entsprechend der begrenzten Bindungswirkung stellte der EuGH in der Rs. Strafverfahren gegen Ibiyinka Awoyemi342 klar, dass eine Überprüfung mitgliedstaatlicher Sanktionen am Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Falle fehlender Grundfreiheitsrelevanz ausgeschlossen ist. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob derjenige, der – wie der nigerianische Staatsangehörige Awoyemi – seinen von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein, wie damals geboten, nicht binnen Jahresfrist in einen nationalen umtauschte, im Falle des Führens eines KfZ dem Fahren ohne Fahrerlaubnis gleichgestellt und deshalb mit Geld- oder Freiheitsstrafe bestraft werden konnte. Der Gerichtshof entschied: „Mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung bleiben die Mitgliedstaaten daher befugt, Verstöße gegen diese Verpflichtung mit Sanktionen zu belegen [. . .]. 341 GA Trabucchi, in: EuGH, Rs. 118/75, Slg. 1976, 1185, 1209 „Watson“; ihm folgend Satzger, S. 307; vgl. auch Heise, S. 19. 342 EuGH, Rs. C-230/97, Slg. 1998, I-6781 „Strafverfahren gegen Ibiyinka Awoyemi“.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 135 Zwar dürfen die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung angesichts der Auswirkung, die das Recht zum Führen eines Kraftfahrzeugs auf die tatsächliche Ausübung eines selbständigen oder unselbständigen Berufes, insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu bestimmten Tätigkeiten oder Ämtern hat, auf diesem Gebiet keine zur Schwere der Zuwiderhandlung außer Verhältnis stehende Strafe verhängen, die ein Hindernis für die Freizügigkeit schaffen würde [. . .] Auf diese Rechtsprechung kann sich eine Person wie Herr Awoyemi jedoch nicht berufen. Aus den Gründen des Urteils Skanavi und Chryssanthakopoulos ergibt sich nämlich, dass die Beschränkung der Befugnis der Mitgliedstaaten, für den Fall eines Verstoßes gegen die Verpflichtung zum Umtausch des Führerscheins Strafen vorzusehen, auf der durch den Vertrag eingeführten Freizügigkeit beruht.“
Ist die Grundfreiheit also bereits nicht betroffen, weil Herr Awoyemi als nigerianischer Staatsangehöriger nicht Träger jener Grundfreiheit ist, kann die nationale Sanktion nicht mit der Grundfreiheit kollidieren, so dass auch das gemeinschaftliche Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht den Maßstab der mitgliedstaatlichen Sanktion bilden kann. (a) Satzger: Reduzierte Maßstäblichkeit durch reduzierte Grundfreiheitsrelevanz der mitgliedstaatlichen Sanktionen Satzger343 versucht dagegen, die Maßstäblichkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips weiter zu reduzieren. Wie bei dem allgemeinen Gleichheitssatz handele es sich auch bei dem Verhältnismäßigkeitsprinzip um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts. Die Systematisierung seiner Ausführungen erhellte, dass auch Satzger eine Bindungswirkung nur im Falle einer Grundfreiheitsbeeinträchtigung anerkennt. Diese Möglichkeit einer Grundfreiheitsbeeinträchtigung reduziert er jedoch hinsichtlich der Sanktionshöhe auf die Rückwirkung auf eine eng mit der Grundfreiheitsausübung verbundene Primärnorm, hinsichtlich der Natur der Sanktion auf zweckgerichtete Eingriffe durch diese. Insoweit kann auf die oben formulierte Kritik verwiesen werden. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass auch nach freiheitsrechtlicher Lesart, selbst wenn man die unterschiedslos anwendbaren Sanktionen betrachtet, der Eingriff nie in der Sanktionshöhe liegen kann. Der Widerspruch zu den grundfreiheitlichen Gewährleistungen wird stets durch den sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehl, also mit Satzger formuliert durch die Natur der Sanktion ausgelöst, während die Frage der Sanktionshöhe ein Aspekt im Rahmen der Verhältnismäßigkeit darstellt, die jedoch als Schranken-Schranke einen Eingriff bereits voraussetzt und lediglich zwischen kollidierenden Rechten vermittelt. 343
Satzger, S. 307 ff.
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(b) Heise: Verhältnismäßigkeit kein Maßstab, da mitgliedstaatliche Sanktionen nicht grundfreiheitsrelevant Bei der Erörterung des gleichheitsrechtlichen Maßstabs für die Sanktionen ignorierte Heise aufgrund des seiner Ansicht nach einschlägigen Art. 12 EG noch die grundfreiheitlichen Gewährleistungen. Handelt es sich aber beim allgemeinen Grundsatz der Proportionalität auch seiner Ansicht nach um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, so ist auch Heise an dieser Stelle mit der Frage der Verbindlichkeit jener Gewährleistungen für die mitgliedstaatlichen Sanktionierungsmaßnahmen konfrontiert. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip könne seiner Ansicht nach nur dann einen Maßstab für die mitgliedstaatlichen Sanktionen bilden, wenn „Auswirkungen“ auf die Grundfreiheiten vorliegen344. Dieser Prämisse ist im Einklang mit der vorstehend vertretenen Lösung zu folgen, soweit „Auswirkung“ einen Eingriff in den grundfreiheitlichen Schutzbereich meint. Nur in diesem Fall entsteht ein Rechtfertigungszwang, der durch die Verhältnismäßigkeit begrenzt wird. Im Gegensatz zu Art. 12 EG, welcher einen direkten Bezug zu den Sanktionen aufweise, fehle es nach Ansicht Heises jedoch an einer solchen Auswirkung der Sanktionen auf die Grundfreiheiten. Der EuGH verhalte sich daher kompetenzwidrig, wenn er über die Verhältnismäßigkeit der Sanktionen judiziere. Zum Beleg wählte auch Heise bereits einen der Rückwirkung auf die Primärnorm vergleichbaren Ansatz, wenn er die Verschärfung der Grundfreiheitsbeeinträchtigung durch die Primärnorm infolge der unverhältnismäßigen Höhe der Sanktion ablehnt. Er rekurriert diesbezüglich auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu den Grundrechten: „Allerdings taucht in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts in keinem Fall die Überlegung auf, die Androhung bzw. Verhängung der strafrechtlichen Sanktion könne wegen ihrer unverhältnismäßigen Höhe den durch das ihr zugrundeliegende Ge- oder Verbot vorgenommenen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen verschärfen. Soweit es um die Verfassungsmäßigkeit strafrechtlicher Sanktionen geht, werden lediglich die unmittelbar mit diesen selbst verbundenen Eingriffe – im Falle der Geldstrafe also der Eingriff in das Eigentumsrecht (Art. 14 GG), im Falle der Freiheitsstrafe der Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) – in Rechnung gestellt. Der Gedanke, dass eine unverhältnismäßige Sanktion den mit jedem strafrechtlichen Ge- oder Verbot ver344 Heise, S. 23: „Dennoch verdient die Auffassung des EuGH, eine unverhältnismäßige Strafe begründe eine Gefahr für die Verwirklichung der im EG-Vertrag normierten Freiheiten, besondere Aufmerksamkeit. Diesen Bezug herzustellen, ist für den EuGH von elementarer Bedeutung. Nur wenn er davon ausgeht, dass die angedrohten Sanktionen Auswirkungen auf das Gemeinschaftsrecht und insbesondere auf die gemeinschaftsrechtlichen Freiheiten haben können, hat er die Kompetenz, über diese zu judizieren.“
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 137 bundenen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) in verfassungswidriger Weise verschärfe, findet dagegen keine Erwähnung.“345 Der EuGH differenziere dagegen nicht hinreichend zwischen dem strafrechtlichen Ge- oder Verbot und der mit dieser verbundenen Sanktion. Die jeweiligen Grundrechtseingriffe enthielten unterschiedliche Stoßrichtungen. „Jedes staatliche Ge- oder Verbot [. . .] beeinträchtigt [. . .] zumindest sein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit. [. . .] Häufig sind diese Ge- oder Verbote für den Fall der Zuwiderhandlung mit einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen oder strafrechtlichen Sanktion verknüpft. Je schärfer die angedrohte Sanktion ausfällt, desto geringer ist in der Regel die Bereitschaft des einzelnen, sich über die Vorschrift hinwegzusetzen. Dies stellt jedoch ein lediglich psychologisches Moment dar, der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit verändert sich dadurch nicht: Ein bestimmtes Verhalten bleibt ge- oder verboten.“346
Zutreffend erkennt Heise, dass mit dem außerstrafrechtlichen Ge- oder Verbot und der sanktionenrechtlichen Verhaltensnorm zwei verschiedene Regelungsanordnungen existieren. Diese wiesen eine unterschiedliche „Stoßrichtung“ auf, so dass sie unabhängig voneinander zu beurteilen seien. Seine Überprüfung der Grundfreiheitsrelevanz, verharrt dann aber bei der Primärnorm, wenn er deren unveränderten Charakter herausstellt und konstatiert, insbesondere das bloß psychologische Moment der Strafdrohung verändere das bedrohte Ge- oder Verbot nicht. Seinen Ausführungen ist insoweit zuzustimmen, als man die aus Satzgers Ausführungen entwickelte Prämisse beachtet, dass stets unter Heranziehung sämtlicher nationaler Auslegungsmethoden die materiell bewehrte Primärnorm zu ermitteln ist. An Heises These ändert dies jedoch nichts, denn die beschriebene interpretatorische Ermittlung dient der Findung der Norm wie sie das Strafrecht vorfindet und sanktioniert. Eine Veränderung findet durch die Sanktionierung nicht statt. Die interessante Frage, ob die zweite der von ihm gefundenen Verhaltensnormen mit divergierender „Stoßrichtung“ grundfreiheitsrelevant ist und damit eine spezifische Kollision des sanktionenrechtlichen Ge- oder Verbots mit den Grundfreiheiten auszulösen vermag, behandelt Heise347 nicht. Ausgehend vom Regelungsgehalt der deutschen Grundrechte erwägt er nicht einmal die Grundfreiheitsrelevanz dieses Verhaltensbefehls. Die Sanktionen enthielten zwar eigene Verhaltensnormen, während die Primärnorm aber z. B. in die allgemeine Handlungsfreiheit eingriffe, enthielten die Sanktionen Eingriffe in die Freiheit der Person oder das Eigentum. Stillschweigend folgert er daraus, dass den Sanktionen auch gemein345
Heise, S. 24. Heise, S. 25. 347 Satzger erkennt insoweit zumindest die Möglichkeit zweckgerichteter Eingriffe in die Grundfreiheiten durch die Natur der Sanktion an, vgl. Satzger, S. 317, 512. 346
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schaftsrechtlich eine andere „Stoßrichtung“ zukommen müsse, die nicht grundfreiheitsrelevant sei. Überzeugt dieses Ergebnis zwar in Bezug auf die Grundrechte, so ist es nicht auf die Grundfreiheiten übertragbar. Ähnlich der bereits festgestellten Wechselwirkung von Eingriff und Schutzbereich hängt die Stoßrichtung der Eingriffe vom Gewährleistungsgehalt der betroffenen Rechte ab. Je enger diese definiert und gegeneinander abgegrenzt sind, desto mehr Stoßrichtungen werden sich ergeben. Setzt die Betrachtung Heises insoweit eine Vergleichbarkeit der Gewährleistungsbereiche voraus, so ist gerade daran zu zweifeln. Zum einen sind die deutschen Grundrechte thematisch anders strukturiert. Dies wird offenkundig, wenn man die unterschiedliche Systematik beider Normbereiche betrachtet. Den deutschen Grundrechtsträgern stehen nach deutschem Recht im Ausgangspunkt eine Vielzahl thematisch diversifizierter Grundrechte zu, die in ein sinnvolles Abgrenzungsverhältnis zueinander gebracht werden müssen. Die eingreifende Maßnahme bestimmt, welches Grundrecht den Maßstab bildet. Die Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten hängt dagegen weniger von der thematischen Grundlage der potentiell beschränkenden Maßnahme ab. Dem grenzüberschreitend Tätigen stehen eben nicht verschiedene, thematisch abzugrenzende Grundfreiheiten zu, sondern regelmäßig nur eine. Welche Grundfreiheit den Maßstab bildet, hängt hier von der ausgeübten grenzüberschreitenden Tätigkeit des Berechtigten und gerade nicht von der hoheitlichen Maßnahme ab. Wollte man analog der nationalen Systematik nur solche mitgliedstaatliche Regelungen verbieten, die diese Tätigkeit thematisch betreffen, so unterlägen Verhaltensnormen, die nicht in jenes Sachgebiet fielen, anders als bei den Grundrechten, keiner anderen speziellen Gewährleistung oder einem Auffangrecht. Da aber auch Regelungen, die nach grundrechtlichem Verständnis nicht dem spezifischen Bereich zuzuordnen wären, die Ausübung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit und damit das Binnenmarktziel behindern können, greift der thematische Anwendungsbereich der Grundfreiheiten insofern weiter als die Grundrechte. Nimmt man dieses Ergebnis zur Kenntnis, so zeigt sich, dass die von Heise beschriebenen, sich aus der Abgrenzung der Grundrechte ergebenden, unterschiedlichen Stoßrichtungen und daraus folgend die Anwendbarkeit unterschiedlicher Grundrechte, nicht auf die Grundfreiheiten übertragbar sind. Die Grundfreiheiten verlangen, dass auch Regelungen, die thematisch auf den ersten Blick nichts mit der freien Wahl des Arbeitsplatzes oder der Ausübung des Berufs zu tun haben, am Maßstab dieser Grundfreiheit zu messen sind, sobald sie deren Ausübung faktisch behindern. Folgt die unterschiedliche Stoßrichtung bei den Grundfreiheiten aus deren Diversifikation, fehlt eine solche Vielfältigkeit der Gewährleistungen bei den Grundfreiheiten, so dass hier nur eine Stoßrichtung existiert, die determiniert durch die jeweilige grenzüberschreitende Tätigkeit an der einschlä-
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gigen Grundfreiheit zu messen ist. Illustriert wird dieser Unterschied in den Gewährleistungen, wenn man beachtet, dass rein national die behindernde Maßnahme, gleich welcher Träger betroffen ist, stets am gleichen Grundrecht zu messen ist, während transnational die Einschlägigkeit einer Grundfreiheit von der Tätigkeit des Trägers abhängt. Übertragen auf die sanktionenrechtlichen Verhaltensnormen bedeutet dies, dass die national andere Stoßrichtung, transnational von der Grundfreiheit erfasst wird. Andererseits weist die zweite von Heise gefundene „Stoßrichtung“ des sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehls die Besonderheit auf, dass sie zunächst nur gesetzlich angedroht wird. Anders als die wirtschaftsrechtlichen Primärnormen oktroyieren die Kriminalstrafen nicht vom Zeitpunkt ihres gesetzlichen In-Kraft-Tretens konkrete Verhaltensnormen, die der Rechtsunterworfene zu beachten hätte. Erst das Gericht konkretisiert die angedrohte abstrakte Sanktion im Falle eines Primärrechtsverstoßes zu einer den einzelnen Grundfreiheitsberechtigten treffenden Pflicht. Zuvor kommt jener angedrohten Sanktion bloße Präventionswirkung zu, die Heise vor dem von ihm angestellten Vergleich zu den deutschen Grundrechten konsequent als „lediglich psychologisches Moment“ einordnet und feststellt, es liege in der Hand des Betroffenen, die angedrohte Sanktion durch „gesetzestreues“ Verhalten abzuwenden. Ein Eingriff in ein deutsches Grundrecht liegt nämlich erst vor, wenn staatliches Handeln dem einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich (faktisch, informal), mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt348. Grundrechte erfordern demnach ein Unmöglichmachen, so dass nicht bereits die angedrohte Geld- oder Freiheitsstrafe einen Eingriff in die Art. 2 II, 14 GG darstellen, sondern erst deren Verhängung im Einzelfall. Konnte zuvor illustriert werden, dass gemeinschaftsrechtlich nur die grundfreiheitliche Stoßrichtung existiert, so stellt sich die Frage, ob die Grundfreiheiten eine den nationalen Grundrechten vergleichbare Substanzverletzung erfordern. Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung dem Grunde nach von einem Beschränkungsverbot aus und versteht unter Beschränkungen alle Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können349. Anders als die deutschen Grundrechte besteht der Zweck der Grundfreiheiten nicht allein darin bestehende Freiheitssphären abzusichern. Die Grundfreiheiten sind im Wesentlichen Instrumente zur Verwirklichung des Binnenmarktes350. 348
Pieroth/Schlink, Rn. 259 m. w. N. und Hinweise auf die anderen zu den Grundfreiheiten vertretenen Eingriffsdefinitionen. 349 EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 „Gebhard“. 350 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 3.
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Ihr Gewährleistungsgehalt ist aufgrund dieser Funktion stark wirtschaftlich determiniert und zukunftsorientiert. So zeichnet sich die Gemeinschaft insgesamt durch ihre „Finalstruktur“ aus, als zielbezogenes Gemeinwesen, das sein Handeln und seine Kompetenzen gleichsam evolutiv an einem noch zu verwirklichenden Ziel, der Errichtung und dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, orientiert351. Eine Regelung ist deshalb bereits dann als Belastung zu qualifizieren, wenn sie potentiell geeignet ist, den Gebrauch der durch die Grundfreiheiten gewährleisteten Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung zu erschweren. Die Belastung muss also noch nicht eingetreten sein352. Der grundfreiheitliche Schutz setzt damit vor dem der Grundrechte an und betrifft auch wirtschaftliche Prognoseentscheidungen und Risikoabwägungen. Unternehmerische Entscheidungen orientieren sich beispielsweise im Bereich der Produkthaftung eben auch an hohen nationalen Strafdrohungen. Dies ist zwar nicht der einzige Aspekt, der dabei eine Rolle spielen wird, denn die unternehmerische Entscheidung müsste auch eine Verfolgungswahrscheinlichkeit, die Transparenz wirtschaftsrechtlicher Normen und damit einhergehend die Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes prüfen. Daneben spielten allgemein das Prozessrecht, wie z. B. Beweisregeln und sonstige Umweltbedingungen eine Rolle. Eine abschließende Aufzählung aller Faktoren ist an dieser Stelle weder möglich noch notwendig. Fest steht, dass auch die angedrohte sanktionenrechtliche Verhaltensnorm als entscheidungsrelevante Größe bestehen bleibt. Nun ist auch die Erfassung von angedrohten Sanktionen als grundfreiheitsrelevant Folge der „Trichterfunktion“ der sog. Dassonville-Formel des EuGH, wodurch sämtliche nationale Regelungen in den Einflussbereich der Grundfreiheiten geraten. Bereits einleitend wurde darauf hingewiesen, dass deshalb gerade aus freiheitsrechtlicher Sicht versucht wird, an dieser potentiellen Relevanz anzusetzen und ein Filterkriterium einzuführen, welches in der Lage ist, die nationalen Sanktionsnormen auszusieben. Beim angedrohten Strafmaß handelt es sich um Beschränkungen durch potentielle Auswirkungen, für die verschiedene Filter in der Diskussion stehen. So hat der EuGH einen Effekt solcher Maßnahmen auf den innergemeinschaftlichen Handel dann abgelehnt, wenn die Auswirkungen ungewissen bzw. hypothetischen Charakters oder zu mittelbarer Bedeutung für den innergemeinschaftlichen Handel waren353. Erblickten einige Verfasser darin einen Beleg 351 Vgl. zur Finalität zudem Müller-Graf, in: Dauses, Handbuch, A. I. Rn. 58 ff.; Schmidt-Aßmann, DVBl 1993, 924, 930 f.; Schoch, JZ 1995, 109, 115 f.; Steinberger, VVDStRL 50 (1991), 9, 18 ff.; kritisch: Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 96 ff. 352 Müller-Graf, in: GTE, Art. 30 Rn. 48. 353 EuGH, Rs. C-69/88, Slg. 1990, I-583, 594, 597 „Krantz“; auch nach Keck: Rs. C-93/92, Slg. 1994, I-3453 „Peralta“.
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für die Einführung eines Spürbarkeitskriteriums354, wird dies überwiegend abgelehnt355. In der Textfassung gibt es keine Anhaltspunkte für eine derartige Eingrenzung. Der Grad der Beeinträchtigung ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erörtern, und das Kriterium ist praktisch kaum handhabbar. Andere Verfasser ordnen diese Eingrenzungsversuche als Beweislastregel ein. Danach muss die Eignung zur Behinderung substantiierbar sein; rein hypothetische oder ungewisse Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel sind daher keine Belastungen356. Zwar ließen die dargestellten Kriterien – positiv formuliert – angesichts ihrer Flexibilität eine Ablehnung der grundfreiheitlichen Relevanz zu, doch finden sie keinen Anhalt in der textlichen Fassung. Die Tatsache, dass der EuGH sich durch keines der Eingrenzungskriterien gezwungen sieht, die grundfreiheitliche Relevanz der Sanktionen abzulehnen, beleuchtet die Beliebigkeit mit der unterschiedslos anwendbare nationale Maßnahmen an den Grundfreiheiten überprüft werden. Zu einer scharfen Konturierung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten trägt diese Praxis jedenfalls nicht bei. Im Gegenteil offenbaren sich an dieser Stelle die erheblichen Unsicherheiten, die von Kriterien wie „mittelbar“, „ungewiss“ usw. ausgehen. Fest steht, dass auch bloß angedrohte Sanktionen im Falle einer diskriminierenden Wirkung am Maßstab der Grundfreiheiten und damit letztlich auch am Prinzip der Proportionalität zu messen sind. (c) Eigener Ansatz: Grundfreiheitsrelevanz der Sanktionen und daher Maßstäblichkeit der Verhältnismäßigkeit Weder die Lösung Satzgers, mittels zusätzlicher Kriterien die Grundfreiheitsrelevanz der Sanktionen zu reduzieren, um so nur eingeschränkt die Verhältnismäßigkeit überprüfen zu müssen noch Heises Ablehnung jeglicher Grundfreiheitsrelevanz durch einen Vergleich zu den Grundrechten konnte überzeugen. Sowohl die angedrohte wie die verhängte sanktionenrechtliche Verhaltensnorm weist auf der Grundlage einer gleichheitsrechtlichen als auch einer freiheitsrechtlichen Interpretation im Ausgangspunkt Grundfreiheitsrelevanz auf. Freiheitsrechtlich stünde zwar der Weg über eine Redu354 Dafür plädieren u. a. Fezer, JZ 1994, 317, 324; Jestaedt/Kästle, EWS 1994, 26, 28; Mortelmans, CMLR 28 (1991), 115, 128 u. 135; Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1, 56 f.; Sack, WRP 1998, 103, 116 ff. 355 EuGH, Rs. 16/83, Slg. 1984, 1299, 1326 „Prantl“; verb. Rs. 177 u. 178/82, Slg. 1984, 1797, 1812 „Van den Haar“; Rs. C-126/91, Slg. 1993, I-2361, 2390 „Yves Rocher“; Becker, EuR 29 (1994), 162, 170; ders., JA 1997, 65, 71; Kort, JZ 1996, 132, 137 f.; Müller-Graf, in: GTE, Art. 30 Rn. 59; Schilling, EuR 29 (1994), 50, 60 f. 356 Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 EGV Rn. 15.
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zierung der Gewährleistungsgehalte offen. Kreiert die freiheitsrechtliche Interpretation jedoch für jede Konstellation neue Kriterien, die eine Grundfreiheitsrelevanz ausschließen sollen, so muss ein solches zielorientiertes Vorgehen zwangsläufig dem Vorwurf der Willkür und der mangelnden Vorhersehbarkeit ausgesetzt sein. Die freiheitsrechtlichen Lösungsversuche erinnern an den Kampf gegen die sagenhafte Hydra, während die komparative Interpretation an der Wurzel des Übels ansetzt. Sämtliche unterschiedslos geltenden nationalen Sanktionsnormen, d.h. auch solche die zwar als zusätzliche zu beachtende Vorgabe zu Umstellungskosten des Grenzgängers führen, aber nicht durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt begründet sind, wären von vornherein irrelevant, ohne dass es diffuser Reduzierungskriterien bedürfte. Sie dürften die deutliche Überzahl bilden. Liegt dagegen eine Ungleichbehandlung vor, ist eine gemeinschaftsrechtliche Überprüfung zwingend geboten. Dies bestätigen auch die erst kürzlich in der Rs: Grilli357 getroffenen Ausführungen des EuGH zur Maßstäblichkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips für die strafrechtlichen Sanktionen: „Was zweitens die Verhältnismäßigkeit der strafrechtlichen Sanktionen angeht, die in der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung vorgesehen sind, so ist festzustellen, dass sich die Frage der Verhältnismäßigkeit nicht stellt, sollte diese Regelung nicht gegen Artikel 29 EG verstoßen. Sollte eine Regelung wie die des Ausgangsverfahrens gegen Art. 29 EG verstoßen, so sind die in ihr vorgesehenen Sanktionen unanwendbar, so dass die Frage ihrer Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Schwere des Verstoßes nicht untersucht zu werden braucht.“358
Während der erste Satz dieser Passage die Überprüfung der Sekundärnorm am Art. 29 EG beschreibt, meint „Regelung“ im zweiten Satz eine grundfreiheitswidrige Primärnorm, welche die Unanwendbarkeit der Sekundärnorm vermittelt, so dass es dann keiner Überprüfung der Sanktionen an den Grundfreiheiten und somit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip mehr bedarf. Gelangt das Verhältnismäßigkeitsprinzip mithin allein in diesem grundfreiheitlichen Kontext zur Anwendung, so unterscheiden sich die freiheitsrechtliche und die gleichheitsrechtliche Interpretation im Hinblick auf diskriminierende mitgliedstaatliche Sanktionen nicht. Ließe sich eine solche Ungleichbehandlung zum Nachteil der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten oder aufgrund des Grenzübertritts feststellen, so läge nach beiden Ansichten eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten vor. Dieses Ergebnis erhellt nun auch das Verhältnis zwischen den herangezogenen Maßstäben der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit. Die Frage einer Ungleichbehandlung ist sowohl nach gleichheitsrechtlicher als 357
EuGH, Rs. C-12/02, Slg. 2003, I-11585 „Strafverfahren gegen Marco Grilli“. EuGH, Rs. C-12/02, Slg. 2003, I-11585 Rn. 49 „Strafverfahren gegen Marco Grilli“. 358
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auch nach freiheitsrechtlicher Interpretation bereits bei der Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten erheblich und damit Voraussetzung des Eingreifens des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Schranken-Schranken. Dagegen lässt Satzger sich von einigen irreführenden Stellungnahmen des EuGH359 leiten, wenn er verfehlt vertritt, das Diskriminierungsverbot entfalte nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Relevanz: „Der EuGH prüft die beiden Prinzipien jedoch letztlich nicht unabhängig voneinander. Vielmehr erlangt das Gleichbehandlungsgebot nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Bedeutung, wenn – nach Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Sanktion zur Zielerreichung – die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn in Frage steht. Die innerstaatlichen Sanktionen (für vergleichbare Verstöße) dienen dabei als Maßstab für eine angemessene Bestrafung.“360
Diese Reduzierung des Gleichbehandlungsgebots auf eine reine Interpretationsmaxime für die Verhältnismäßigkeit vertauscht basierend auf einer ungenügenden Feststellung der rechtlichen Ursprünge die Reihenfolge. Insbesondere der letzte Satz offenbart, dass es sich auch bei der Prüfung Satzgers einzig um die Erörterung des Diskriminierungsverbots handelt, setzt er doch die transnationalen Sachverhalte in ein horizontales Verhältnis zu existierenden innerstaatlichen Sachverhalten. Mit jenem Vorgehen bewegt er sich im Einklang mit den Stellungnahmen des EuGH. Diese erwecken zwar den Anschein, Maßstab sei eigentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, doch wurden jene Ausführungen bereits in den zur Zeit der Ursprünge jener Rechtsprechung geltenden gleichheitsrechtlichen Grundfreiheitsmaßstab eingeordnet und herausgestellt, dass der EuGH lediglich verlangt, dass das Verhältnis der Sanktionen dem der Sachverhaltsunterschiede entsprechen soll. Mangels Bezugspunktes verlangte er mit der Wahrung des Verhältnisses zwischen Art des Vergehens und Strenge der Sanktion eine Einordnung in das kohärente nationale Sanktionensystem. In diesem gleichheitsrechtlichen Kontext meint die Verhältnismäßigkeit jedoch nicht das allgemeine Prinzip. Dies dient als Scharnier zum angemessenen Ausgleich zwischen dem eingriffsmotivierenden nationalen Schutzgut und der Grundfreiheit und kann erst nach, nicht dagegen zur Feststellung einer Ungleichbehandlung herangezogen werden. Postuliert der Gerichtshof dagegen die Gewährleistung einer Gleichbehandlung mit rein nationalen Sachverhalten, so kann 359
Z. B. EuGH, Rs. 179/78, Slg. 1979, 1147 „Rivoira“: „[. . .], dass es jedoch unverhältnismäßig wäre, unterschiedslos die strafrechtlichen Sanktionen zu verhängen, die für falsche Erklärungen mit dem Ziel verbotener Einfuhren vorgesehen sind“. 360 Satzger, S. 305 unter Hinweis auf ähnliche Ausführungen von Grasso, S. 336 ff.; Nieto Martin, S. 299 sowie zum Zusammenhang zwischen Ungleichbehandlung und Unverhältnismäßigkeit GA La Pergola, in: EuGH, Rs. C-389/95, Slg. 1997, I-2719 „Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis“.
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diese doch nur erzielt werden, wenn an die verglichenen Sachverhalte identische Maßstäbe angelegt werden. Rein nationale Sachverhalte unterliegen aber einzig dem nationalen Verhältnismäßigkeitsprinzip. Im Ergebnis ist die Rechtsprechung deshalb als Hinweis auf die gleichen anzuwendenden nationalen Maßstäbe, also das nationale Verhältnismäßigkeitsprinzip zu interpretieren. Dient diese Rechtsprechung der Konturierung des gleichheitsrechtlichen Maßstabs, so bewegt sich der EuGH damit auf der Grenze seiner Kompetenz. Die Überprüfung kann deshalb nur äußerst groben Charakters sein. Gemeinschaftsrechtlicher Maßstab bleibt das Gleichheitsrecht, so dass auch nur dessen Vorgaben maßgeblich sind. Die Einschätzung, wie ein Verhalten strafrechtlich zu bewerten ist, verbleibt bei den nationalen Gremien. Nur wenn feststellbar wäre, dass in grenzüberschreitenden Sachverhalten andere nationale Maßstäbe angelegt werden würden als in rein nationalen, könnte auf eine Ungleichbehandlung geschlossen werden. Bereits GA Trabucchi plädierte in der Rs. Watson für größte Zurückhaltung: „Für das gleiche Verhalten können von Staat zu Staat verschiedene Strafrahmen vorgesehen werden, da der Strafrahmen davon abhängt, wie der nationale Gesetzgeber die Erfordernisse der Prävention einschätzt, die er den besonderen Verhältnissen und Notwendigkeiten der inländischen Gesellschaft anzupassen sucht. [. . .] Ich würde es wirklich für unklug, um nicht zu sagen vermessen, halten in dieser Hinsicht die Bewertungen eines nationalen Gesetzgebers durch andere ersetzen zu wollen; was den vorliegenden Fall angeht, genügt es zu bemerken, dass die Strafen zwar hart sind, aber gewiss nicht zwischen den Personengruppen diskriminieren, auf die sie anwendbar sind. [. . .] Wir wissen nicht, ob nicht in Italien besondere Notwendigkeiten bestehen, die es rechtfertigen, für die Verletzung dieser Meldepflicht strengere Strafen als die in anderen Staaten [. . .] vorgesehenen anzudrohen. Ein Urteil hierüber würde die Kenntnis einer Reihe von Daten voraussetzen, über die wir nicht verfügen und die angemessen zu bewerten wir überdies in Ausübung der Befugnisse, die uns im vorliegenden Verfahren zustehen, kaum in der Lage wären.“361
Während Satzger diese Ausführungen zum Beleg seines strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatzes instrumentalisiert362 und feststellt, der EuGH habe diese Mahnung unausgesprochen berücksichtigt, wenn er das Krite361 GA Trabucchi, in: EuGH, Rs. 118/75, Slg. 1976, 1185, 1209 f. „Watson“; vgl. auch GA La Pergola, in: EuGH, Rs. C-389/95, Slg. 1997, I-2719, 2739 „Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis“, der auf Ausführungen in diesem Schlussantrag verweist. 362 Satzger, S. 325 f. Dem „strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz“ zufolge sind „übermäßige Eingriffe in die nationalen Strafrechtssysteme zu vermeiden“ und die Einflussnahme auf die nationalen Strafrechtsordnungen dem „besonderen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit“ zu unterwerfen. „Nur soweit es für die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft unumgänglich ist und wenn keine Bereiche des nationalen Strafrechts betroffen sind, die zum „identitätsbildenden Kern“ der Materie gehören, können massive Eingriffe in die nationalen Strafrechtssysteme zulässig sein. Im
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rium der Verhältnismäßigkeit zwar nenne, die Anwendung auf den konkreten Sachverhalt – über den der EuGH ja im Rahmen des Vorlageverfahrens ohnehin nicht zu entscheiden habe – jedoch dem nationalen Gericht überlasse, stellt dies keine strafrechtliche Besonderheit dar. Zutreffend führt Satzger nämlich aus, der EuGH sei gar nicht befugt, im Vorlageverfahren über den konkreten Sachverhalt zu entscheiden. Er judiziert nur über das Gemeinschaftsrecht und legt dieses aus, woraus der Umstand folgt, dass er dann den Mitgliedstaaten lediglich Auslegungshinweise für die gemeinschaftlichen Rahmenbegriffe an die Hand geben kann. Die Anwendung auf den nationalen Sachverhalt obliegt dem nationalen Gericht. Eine Überreglementierung durch die Gemeinschaft ist deshalb durch den gefundenen Einfluss gemeinschaftsrechtlicher Gleichbehandlungsgebote nicht zu befürchten. Erforderlich ist nur, dass sich die Sanktionierung des transnationalen Sachverhaltes in das nationale Strafrechtssystem bruchlos einordnen lässt. Dieses Ergebnis unterstützt die Kohärenz des nationalen Sanktionensystems. Auch die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen bleiben bestehen, da das Diskriminierungsverbot immer nur auf Regelungen eines Hoheitsträgers Anwendung findet. (4) Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch die deutschen Sanktionen Vorstehend gelang eine Systematisierung der gerichtlich entwickelten Maßstäbe dergestalt, dass es bereits auf der Eingriffsebene der Ermittlung einer Diskriminierung bedarf und die Verhältnismäßigkeit erst im Rahmen der sog. Schranken-Schranken einen Maßstab bilden kann, also eine Grundfreiheitsbeeinträchtigung voraussetzt. Vor diesem Hintergrund können nun die Sanktionen des deutschen Strafrechts auf ihre Grundfreiheitsrelevanz untersucht werden. Dem StGB liegt ein dualistisches Reaktionssystem zugrunde. Zum einen existieren die Hauptstrafen (Geld- und Freiheitsstrafe), welche durch die Nebenstrafe des Fahrverbots ergänzt werden. Während die Strafen durch das Schuldprinzip begrenzt werden, existieren daneben die sog. Maßregeln der Besserung und Sicherung, welche als präventive Maßnahmen an die Sozialgefährlichkeit des Täters anknüpfen363. Beide Formen mitgliedstaatlicher Maßnahmen entfalten, spezifische Ge- oder Verbote, die auch gegenüber Ausländern zur Anwendung gelangen können und deshalb auf ihre potentielle Grundfreiheitsrelevanz zu untersuchen sind. Übrigen ist in jedem Einzelfall eine Abwägung unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes größtmöglicher Schonung anzustellen.“, vgl. Satzger, S. 166 ff. 363 Lackner/Kühl, § 61 Rn. 2. Diese Maßnahmen werden angesichts ihrer Nähe zum Kriminalstrafrecht erörtert, obwohl ihnen bloß präventiver, nicht jedoch repressiver Charakter zukommt.
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(a) Eingriff durch die Freiheitsstrafe Die Verhängung einer Freiheitsstrafe hat für den Rechtsunterworfenen die Folge, dass ihm untersagt wird, die Justizvollzugsanstalt für die Dauer der Freiheitsstrafe zu verlassen. Derjenige, der in einer gemeinschaftsrechtlich relevanten Situation zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, könnte vor einer freiheitsrechtlichen Lesart der Grundfreiheiten folglich einwenden, ihm sei in jener Zeit z. B. die Ausübung seiner Freizügigkeit unmöglich364. In den oben dargestellten Entscheidungen des EuGH finden sich Formulierungen, die es zu analysieren gilt. „Was die anderen Sanktionen wie die Geld- und Freiheitsstrafe betrifft, so dürfen die nationalen Behörden die Nichteinhaltung der Bestimmungen, nach denen Ausländer ihre Anwesenheit anzuzeigen haben, zwar mit Sanktionen belegen, die denen vergleichbar sind, die wegen gleichwertiger strafbarer Handlungen gegen Inländer verhängt werden, doch ist es nicht gerechtfertigt, an diesen Verstoß eine Sanktion zu knüpfen, die so außer Verhältnis zur Schwere der Tat steht, dass sie sich als eine Behinderung der Freizügigkeit erweist.“365
Diese Entscheidung in der Rs. Watson wurde bereits in die damalige Interpretation der Freizügigkeit als Gleichheitsrecht eingeordnet. Die Verhängung der Freiheitsstrafe durch mitgliedstaatliche Gerichte war also nur deshalb zulässig, weil sie nicht per se diskriminierender Natur war. Allerdings wird gleichzeitig die Prämisse der Inländergleichbehandlung etabliert. Die Formulierung, die Sanktion dürfe nicht außer Verhältnis zur Schwere der Tat stehen, wurde deshalb dahingehend interpretiert, dass die Sanktion sich mangels eines gemeinsamen Bezugspunktes in das mitgliedstaatliche Sanktionensystem bruchlos einordnen lassen soll. Nur unter Missachtung dieser gleichheitsrechtlichen Einbindung des Verhältnismäßigkeitsprinzips lässt sich dieses Urteil für eine spezifisch freiheitsrechtliche Kontrolle instrumentalisieren, bei der allein die Intensität eines Eingriffs maßgeblich wäre. Folge jener Interpretation wäre die Unterwerfung sämtlicher verhängter Freiheitsstrafen unabhängig von einer diskriminierenden Wirkung unter die Grundfreiheiten. Bezog sich der Sachverhalt noch auf einen gemeinschaftsrechtlich durchdrungenen Bereich, so müsste die Grundfreiheitsrelevanz konsequenterweise auch in Sachverhalten anerkannt werden, in denen die verletzte Primärnorm nicht im entferntesten einen Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweist366, geht doch der Eingriff vom sanktionsrechtlichen Verbot, die Haftanstalt zu verlassen, aus und nicht von der bewehrten Primärnorm. Auf die Grundfreiheitsrelevanz der Primärnorm kann es an dieser Stelle also nicht mehr ankommen. So wäre z. B. die Verhältnismäßigkeit der 364 365 366
Vgl. dazu Nieto Martin, S. 298; Grasso, S. 324. EuGH, Rs. 118/75, Slg. 1976, 1185 „Watson“. Vgl. Satzger, S. 317.
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lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes eine gemeinschaftsrechtlich relevante Frage, wenn der Delinquent zu jener Zeit seine Grundfreiheiten wahrnahm. Diese, auch von der h. M. unerwünschten, nahezu grenzenlosen Effekte, versucht man, mit den mittlerweile vertrauten, aber bereits an anderer Stelle als willkürlich und unbestimmt entlarvten Korrekturen zu beseitigen. Verstärkt werden die Probleme der h. M. an dieser Stelle durch den Umstand, dass sich die Verhängung einer Freiheitsstrafe wohl nur noch schwerlich als Umfeldregelung in der Tradition der sog. Verkaufsmodalitäten der Keck-Rechtsprechung einordnen lässt. Schließlich betrifft sie nicht mehr bloß mittelbar oder potentiell den innergemeinschaftlichen Handel, so dass sich eine Reduzierung des Gewährleistungsgehalts auf diesem Wege erzielen ließe. Die Verhaltensnorm verbietet vielmehr konkret die Ausübung grenzüberschreitenden Handels durch das Verbot die Haftanstalt zu verlassen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich dann auch, warum Satzger hier nicht seiner Systematik entsprechend von sog. indirekten Kollisionen ausgehen kann, bei denen er über eine Abwägung zur Anwendung oder Nichtanwendung der Vorrangregel gelangt. Vielmehr versucht er, mit bekannten zweifelhaften Argumenten die grundfreiheitliche Irrelevanz zu begründen: „Zum anderen sind die Auswirkungen auf die Grundfreiheiten der Verurteilten lediglich unselbständige Folgen oder ‚Reflexe‘ der Freiheitsstrafe, deren Primärzweck die Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Delinquenten aus repressiven und präventiven Gründen darstellt. Die Kompetenz, freiheitsentziehende Maßnahmen anzudrohen und zu vollziehen, sollte den Mitgliedstaaten durch Abschluss der Gründungsverträge, schon im Hinblick auf die Kompetenzverteilung im kriminalstrafrechtlichen Bereich, sicher nicht entzogen werden. [. . .] Festzuhalten gilt es daher zunächst, dass Beschneidungen der Grundfreiheiten, die sich als bloße ‚regelmäßige Begleiterscheinung‘ der Verhängung einer Strafe ergeben, nicht dem Anwendungsbereich des EG-Vertrags unterfallen und daher auch nicht den Voraussetzungen der Ausnahmevorschriften des Vertrages entsprechen müssen.“367 „Wenn die Grundfreiheiten also nicht nur reflexartig beschnitten werden, sondern deren Verwirklichung aufgrund der Natur der zu verhängenden Strafe gerade unmöglich gemacht wird und auch werden soll, so steht der Schonungsgrundsatz einer Beeinflussung der Wahl der Sanktionsart durch das EG-Recht nicht grundsätzlich entgegen: Die Natur der Sanktion greift dann derart massiv in Grundprinzipien der Gemeinschaft ein, dass eine EG-rechtliche Kontrolle nicht von vornherein unverhältnismäßig erscheint. Daraus folgt, dass zumindest denjenigen Sanktionen, deren primärer Zweck es ist, die Grundfreiheiten zu beschneiden, weil gerade die Ausübung dieser Freiheiten aus Sicht des Mitgliedstaats als schädlich angesehen wird und deshalb verhindert werden soll, gemeinschaftsrechtliche Schranken gezogen werden müssen. Diese strafrechtlichen Reaktionsmittel, die nach ihrem Zweck direkt und unmittelbar, also zielgerichtet in eine Grundfreiheit eingreifen, liegen somit jenseits der den Mitgliedstaaten zurückbehaltenen 367
Satzger, S. 318.
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Zuständigkeit und außerhalb des vom Schonungsgrundsatz erfassten Kernbereichs nationaler Identität.“368
Das Argument der Kompetenzverteilung ist dem Leser mittlerweile vertraut, wird es doch immer dann bemüht, wenn die Interpreten mit Kollisionen konfrontiert werden, die freiheitsrechtlich zwar zu erfassen wären, eine grundfreiheitliche Kontrolle aber nicht opportun erscheint. Dementsprechend konnte es stets und so auch hier unter Hinweis auf die zu treffende Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Ausübungszuständigkeit entkräftet werden. Auch den im nationalen Kompetenzbereich verbliebenen Zuständigkeiten werden durch das Gemeinschaftsrecht Grenzen in dem Sinne gezogen, dass die nationale Wahrnehmung dieser Zuständigkeiten nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen darf369. Um die Bestimmung der Gemeinschaftsgewährleistungen geht es hier. Der Interpret sieht sich wiederum mit den Blüten einer freiheitsrechtlichen Lesart belastet, die zu einer Reduzierung des Gewährleistungsgehalts durch Einführung zusätzlicher Kriterien zwingen. Satzger entscheidet sich hier ergebnisorientiert für das Kriterium des Zwecks der Sanktion. Es gelingt ihm nicht, dieses auf eine rationale Basis zu stellen, zieht er doch diffuse Behauptungen wie die Auswirkungen auf die Grundfreiheiten seien „unselbständige Folgen“, „Reflexe“ oder „regelmäßige Begleiterscheinungen“ heran, denen kaum argumentative Überzeugungskraft beizumessen ist. Darüber hinaus offenbart eine Formulierung wie „die Natur der Sanktion greift dann derart massiv in Grundprinzipien der Gemeinschaft ein“ die argumentative Not des Verfassers hinsichtlich des vertretenen Ergebnisses. Mit solchen Wendungen verlässt er die rationale Basis und versucht, Unsicherheiten durch schlagwortartige Bekräftigungen zu verdecken. Auch hinsichtlich des Inhalts des Finalitätskriteriums ist erhebliche Kritik angebracht. Zwar lassen sich einige Entscheidungen des EuGH370 noch in dem Sinne deuten, dass bei der Eingriffsbestimmung der Zweck einer mitgliedstaatlichen Maßnahme von Belang sein könnte, doch stammen diese Entscheidungen aus der Zeit vor Keck371. Das Kriterium wurde in der Folgerechtsprechung nicht weiter verfolgt. 368 Satzger, S. 319 unter Hinweis auf Grasso, S. 324; GA Warner, in: EuGH, Rs. 175/78, Slg. 1979, 1129, 1144 „Saunders“. Gleiches gelte für die freiheitsentziehenden Maßregeln, Satzger, S. 321. 369 Verfehlt ist daher auch der Versuch der Begrenzung der Grundfreiheitsrelevanz durch Tiedemann, NJW 1993, 23, 25: „In diesem Sinne können vor allem zu hohe Strafdrohungen und Strafaussprüche unverhältnismäßig sein, also dem gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip widersprechen, weil sie die [. . .] Grundfreiheiten auszuhöhlen drohen oder den freien Warenverkehr beeinträchtigen. Allerdings setzt dies voraus, dass es sich um Rechtsgebiete handelt, die der Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers unterfallen.“ 370 So evtl. EuGH, verb. Rs. 60 u. 61/84, Slg. 1985, 2605, 2626 „Cinéthèque“. 371 EuGH, verb. Rs. C-267 u. C-268/91, Slg. 1993, I-6097 „Keck“.
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Nach ständiger Rechtsprechung reicht vielmehr die objektive Eignung. Dieses Verständnis steht auch im Einklang mit dem Wortlaut der Grundfreiheiten, finden sich doch keine Anhaltspunkte für eine Interpretation, welche die Finalität zum Erfordernis erklärt. Der Begriff der „Belastung“ würde aufgeweicht werden, weil der nationale Gesetzgeber immer Regelungsziele finden und vorgeben wird, die außerhalb einer Benachteiligung liegen372. Verstärkt werden diese Bedenken dadurch, dass der Wille eines Verpflichteten, etwa der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber häufig schwierig zu ermitteln ist373. Der Umstand, dass Satzger „bloße Reflexe“ oder „regelmäßige Begleiterscheinungen“ als Gegenbegriffe verwendet und solche ausschließen möchte, deutet auf ein Verständnis der Finalität in einem objektiven Sinne. Finalität beschreibt dann die spezifische Relation zwischen der Handlung des Mitgliedstaats und der Beeinträchtigung, in dem Sinne, dass die Beeinträchtigung bereits in der mitgliedstaatlichen Handlung angelegt ist. Vergleichbar verlangt das BVerfG für Regelungen, die nicht unmittelbar die berufliche Tätigkeit zum Gegenstand haben einen engen Zusammenhang durch eine objektiv berufsregelnde Tendenz374. Auch hinsichtlich dieses engeren Verständnisses gelten aber die oben dargelegten Bedenken. So ist eine solche Tendenz objektiv kaum überzeugend festzulegen375 und wäre dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt. Auch das Recht der Sanktionen muss sich an den vorgegebenen gemeinschaftsrechtlichen Strukturen messen lassen und unterliegt keiner Sonderbehandlung wegen vorgeblich besonders „massiver Eingriffe in die Grundprinzipien“. Die Entwicklung eines strafrechtlichen „Schonungsgrundsatzes“ weicht die grundfreiheitliche Dogmatik zugunsten eines strafrechtlichen Souveränitätsdenkens auf und suggeriert eine nicht existierende Sonderrolle des Strafrechts, wenn auch im Mantel des soft law. Wendet man aber die gefundenen Strukturen der Grundfreiheitsprüfung auf die durch die Natur der Sanktionen entfalteten Ge- oder Verbote an, so stellt sich die Frage nach legitimen Zielen erst auf der Rechtfertigungsebene376. Zieht man diese Prüfung vor, indem man fragt, ob eine gemeinschaftliche Freiheit auch unmöglich gemacht werden soll, so hat man bereits entschieden, dass die Maßnahme grundfreiheitsrelevant ist. Auf diesem Wege wird der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten unzulässig auf gezielt gemeinschaftsfeindliche Handlungen verkürzt, um unerwünschte Verhältnismäßigkeitsprüfungen zu vermeiden. Auch an dieser Stelle ist die 372
Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 84 unter Hinweis auf BVerfGE 85, 191, 206 und die Aufgabe eines solchen Kriteriums in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 3 III GG. 373 Lackhoff, S. 436. 374 BVerfGE 70, 191, 214; 82, 209, 224. 375 Lackhoff, S. 436 f. 376 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 84.
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Argumentation weniger sachlich begründet als vom Ziel geleitet. Selbst wenn man zweifelhafte Kriterien in die Grundfreiheitsdogmatik einführen wollte, so sollte man, um der Konturierung der Grundfreiheiten willen, die grundfreiheitliche Relevanz vor einer freiheitlichen Lesart zunächst offen legen, bevor man auf etwaige Rücknahmen der Gehalte eingeht. Zudem wird versäumt klarzustellen, dass jegliche Rücknahmen sich nur auf die freiheitsrechtlichen Gehalte beziehen, während das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten weiterhin umfassend gilt. Wollte Satzger, wie es scheint, dagegen auch das gemeinschaftliche Diskriminierungsverbot nur im Falle zweckgerichteter Eingriffe als Maßstab anlegen, so überzeugt dies keinesfalls. Einzig diskutabel erscheint die Frage, ob hier tatsächlich die Grundfreiheiten oder Art. 12 EG eingreifen377. Satzger378 zieht zum Beleg seiner Ansicht weiterhin die Rs. Kremzow heran. Die dortigen Ausführungen des EuGH betreffen aber gerade keine straf- oder sanktionenrechtliche Besonderheit, lassen sich vielmehr in die hier gefundene grundfreiheitliche Dogmatik einordnen. Der österreichische Staatsbürger Herr Kremzow wurde wegen Mordes in Österreich an einem österreichischen Staatsbürger zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, also eine gemeinschaftsexterne Institution, sah jedoch in diesem strafrechtlichen Verfahren das Recht des Herrn Kremzow, sich „selbst zu verteidigen“, als verletzt an. Dieser strengte daraufhin einen Schadensersatzprozess vor den österreichischen Zivilgerichten an, weil seine Haft nicht als rechtmäßige Haft nach Verurteilung im Sinne des Art. 5 I a der EMRK angesehen werden könne, so dass ihm nach Art. 5 V EMRK Schadensersatz zustehe. Sowohl das Landesgericht als auch das Oberlandesgericht Wien wiesen die Klage ab. Des Weiteren wurde auch ein Antrag auf Strafherabsetzung abgelehnt. Im Rahmen einer nachfolgenden außerordentlichen Revision sah sich das vorlegende Gericht mit einer Entscheidung über das Grundrecht der persönlichen Freiheit konfrontiert, welches Grundlage und Voraussetzung der Ausübung aller anderen Freiheiten, insbesondere auch der Freizügigkeit sei. Deshalb legte das Gericht dem EuGH vor. Dieser formulierte hinsichtlich seiner Zuständigkeit: „[. . .] er (ist) Bürger der Europäischen Union [. . .] und (hat) als solcher das in Art. 8 a EG-Vertrag (jetzt: Art. 18 EG) verankerte Recht auf Freizügigkeit. Da jeder Bürger sich ohne spezifischen Aufenthaltszweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen könne, sei der Mitgliedstaat, der dieses gemeinschaftsrechtlich garantierte Grundrecht durch widerrechtlichen Haftungsvollzug verletze, nach Gemeinschaftsrecht zum Schadensersatz verpflichtet.“ 377 378
s. o. 1. Teil C. I. 1. b) bb) (2) (b). Satzger, S. 318.
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Die Vorlagefragen bezogen sich indes auf die Auslegung der Grundrechte aus der EMRK. Der EuGH erklärte deshalb, dass er nur für die Auslegung bzw. Wahrung der Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze zuständig sei. Für deren Inhalt hätte die EMRK zwar besondere, jedoch nur neben anderen Rechtserkenntnisquellen Bedeutung. Er prüft dann, ob die Verhängung einer Freiheitsstrafe aufgrund dieses Einflusses auf deren Inhalt gegen gemeinschaftsrechtliche Grundrechte verstößt. Dabei bemüht er beide gerichtlich entwickelten Fallgruppen der Bindungswirkung und prüft, ob der Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit als erste Fallgruppe der mitgliedstaatlichen Bindung an die allgemeinen Rechtsgrundsätze eröffnet ist. Vor dem Hintergrund, dass Herr Kremzow österreichischer Staatsangehöriger war und in Österreich wegen Mordes an einem Rechtsanwalt österreichischer Staatsangehörigkeit verurteilt worden war, formulierte der EuGH: „Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist ein österreichischer Staatsangehöriger, dessen Lage keinerlei Bezug zu einer der durch die Freizügigkeitsbestimmungen des Vertrages geregelten Situationen aufweist. Zwar ist jeder Freiheitsentzug geeignet, die Ausübung des Rechts des Betroffenen auf Freizügigkeit zu behindern, doch ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass die rein hypothetische Aussicht auf die Ausübung dieses Rechts keinen Bezug zum Gemeinschaftsrecht herstellt, der eng genug wäre, um die Anwendung der Gemeinschaftsbestimmungen zu rechtfertigen.“379
Diese Ausführungen betreffen, anders als Satzger mit seiner Heranziehung suggeriert, keine strafrechtliche Besonderheit. Zwar können auch Behinderungen des Ausgangsstaats an den Grundfreiheiten gemessen werden, doch ist es nach ständiger Rechtsprechung erforderlich, dass der Inländer sich in einer dem Ausländer vergleichbaren Situation befindet mithin ein grenzüberschreitender Sachverhalt besteht380. Allein diese klassische Abgrenzung zu rein internen Sachverhalten betrifft der vorliegende Fall, wenn der EuGH feststellt, einzig durch die Behauptung, der Betroffene könne nunmehr seine Freizügigkeitsrechte nicht mehr wahrnehmen, folge noch kein Bezug zum Gemeinschaftsrecht, da die Ausübung völlig hypothetisch war. Für das vorliegende Problem führt die Entscheidung nicht weiter, trifft sie doch z. B. auf Fälle nicht zu, in denen die Freiheit bereits ausgeübt worden ist und der Betroffene sich folglich in einer grenzüberschreitenden Situation befand. Die Grundfreiheiten gewähren den Zugang nicht nur einmalig, sondern jeweils aktuell. Die Auswirkungen einer Freiheitsstrafe sind dann nicht bloß hypothetischer Natur. Auch die Heranziehung der Rechts379 EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629 „Friedrich Kremzow ./. Republik Österreich“. 380 EuGH, Rs. C-112/91, Slg. 1993, I-429 „Werner“.
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sache Kremzow lässt Satzgers Argumentation, welche in der Einführung eines Zweckkriteriums kulminiert, nicht überzeugen. Überzeugende und vor allem bruchlose Ergebnisse erzielt man durch die Interpretation der Grundfreiheiten in dem hier vertretenen gleichheitsrechtlichen Sinne. Maßgebend ist dann, ob der grenzüberschreitend tätige Wirtschaftsteilnehmer durch die Androhung oder Verhängung einer Freiheitsstrafe stärker belastet wird als ein Inländer in einer vergleichbaren Situation. Eine solche Ungleichbehandlung kann sich darin äußern, dass ein Ausländer aufgrund eines Primärnormverstoßes mit einer Freiheitsstrafe belegt wird, ein Inländer im Falle eines entsprechenden Normübertretung dagegen nur mit einer Geldstrafe. Andererseits kann sich eine Ungleichbehandlung daraus ergeben, dass der Ausländer mit einer längeren Freiheitsstrafe bestraft wird als der Inländer vergleichbarer Delinquenz. Lässt sich eine festgestellte Benachteiligung dann nur durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt nachvollziehbar begründen, liegt eine grundfreiheitlich verbotene Diskriminierung vor, die einer Rechtfertigung bedarf. Allein in diesem Kontext schafft dann die Verhältnismäßigkeit einen Ausgleich zwischen dem mitgliedstaatlichen Sanktionierungsinteresse und dem Individualrecht der Grundfreiheit. Die deutliche Überzahl an unterschiedslos geltenden Freiheitsstrafen wäre nicht grundfreiheitsrelevant und unterläge nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot, sondern dem nationalen Grundrechtsregime. Den Befürchtungen Satzgers, die von den Gerichten verhängten Sanktionen könnten zu x-beliebigen Beschneidungen der Grundfreiheiten führen, und es ergäben sich Missbrauchsmöglichkeiten, indem ein Mitgliedstaat „unter dem Deckmantel“ einer strafrechtlichen Sanktion letztlich nur die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen sucht381, ist wirksam begegnet. (b) Eingriff durch die Geldstrafe Eine Geldstrafe führt zwar weder durch Androhung noch durch Verhängung zur Unmöglichkeit der Grundfreiheitsausübung, doch ist dies nach freiheitsrechtlicher Interpretation auch nicht erforderlich. Die Grundfreiheiten verlangen lediglich eine Erschwerung ihrer Ausübung, um betroffen zu sein. Insbesondere ein Spürbarkeitskriterium, im Sinne des Erfordernisses einer besonderen Intensität der Belastung, wie es z. T. auf freiheitsrechtlicher Ebene einzuführen versucht wird, um die Grundfreiheitsrelevanz angedrohter und verhängter Geldstrafen zu leugnen, ist vom EuGH in der Rs. Prantl382 überzeugend abgelehnt worden383. 381 382
Vgl. Satzger, S. 319. EuGH, Rs. 16/83, Slg. 1984, 1299, 1326 „Prantl“.
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Dagegen gelangt die gleichheitsrechtliche Lösung zu konsequenten Resultaten. Allein diskriminierend angedrohte oder verhängte Geldstrafen unterlägen dem Grundfreiheitsregime und dem Gebot der Proportionalität. (c) Eingriff durch die Ausweisung Besondere Beachtung verdient in diesem Kontext die Ausweisung, war sie doch Gegenstand wichtiger Entscheidungen des EuGH, zu den Sanktionen. Stellt sie im deutschen Recht zwar eine verwaltungsrechtliche Maßnahme dar, ordnen andere Mitgliedstaaten dieses Instrument dem Strafrecht zu384, was eine Behandlung an dieser Stelle rechtfertigt. In den Rs. Watson und Pieck formulierte der EuGH in Bezug auf das von der Ausweisung ausgehende Ge- oder Verbot: „Unter den Sanktionen, [. . .], ist die Ausweisung der durch das Gemeinschaftsrecht geschützten Personen zweifellos mit den Vertragsbestimmungen unvereinbar, da – wie der Gerichtshof bereits in anderen Fällen betont hat – mit einer solchen Maßnahme das durch den Vertrag verliehene und garantierte Recht selbst verneint wird.“385 „[. . .] die Ausweisung (steht) im Widerspruch zu den Vorschriften des Vertrages, da eine derartige Maßnahme [. . .] eine Verneinung eben des Rechts beinhaltet, das durch den Vertrag eingeräumt und garantiert wird.“386
Die Urteile ergingen in einer Zeit, als die Arbeitnehmerfreizügigkeit allgemein noch als Diskriminierungsverbot interpretiert wurde387. Demnach musste auch der EuGH eine Ungleichbehandlung durch die Ausweisung feststellen, die aber auf der Hand lag. Eine Ausweisung ist stets nur für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vorgesehen und behandelt diese folglich ungleich. „Das durch den Vertrag garantierte Recht“ wird, auch sofern man einer freiheitsrechtlichen Grundfreiheitsinterpretation folgt, durch die Ungleichbehandlung und nicht durch den Zweck der Ausweisung verneint388. Stellte der EuGH in diesen Entscheidungen klar, dass ein Eingriff in das vertraglich garantierte Recht vorliegt, so setzte er sich noch nicht mit einer 383
Vgl. die Argumente bei Lackhoff, S. 409, 428 f. Vgl. den Hinweis bei Satzger, S. 322 auf den italienischen Art. 215 II Nr. 4, 235 Codice penale. 385 EuGH, Rs. 118/75, Slg. 1976, 1185, 1199 „Watson“. 386 EuGH, Rs. 157/79, Slg. 1980, 2171, 2187 „Strafverfahren gegen Stanislaus Pieck“. 387 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird allgemein erst seit EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 „Bosman“ als allgemeines Beschränkungsverbot interpretiert. 388 So aber Satzger, S. 322 f.; dagegen weisen auch Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 89 auf die diskriminierende Wirkung hin. 384
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Rechtfertigung auseinander. Bejaht man aber einen Eingriff durch eine Ungleichbehandlung anhand der verbotenen Kriterien, sind auch diskriminierende Maßnahmen einer Rechtfertigung zugänglich – jedenfalls über die ausdrücklichen Schranken. Dabei kommt insbesondere der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Betracht. Diese Frage stellte sich in der Rs. Donatella Calfa389. Frau Calfa, eine italienische Staatsangehörige, war wegen Verstoßes gegen das griechische Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe und lebzeitiger Ausweisung verurteilt worden. Als Touristin war sie in Griechenland eine Dienstleistungsempfängerin, so dass der EuGH die Ausweisung allein an Art. 49 EG maß. Damit war nochmals entsprechend der hier vertretenen Systematik klargestellt, dass hinsichtlich der Ungleichbehandlung nicht das aufgrund Art. 17, 18 EG geltende Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG, sondern dass spezielle grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot einschlägig war. „Für das Strafrecht sind zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig, jedoch setzt das Gemeinschaftsrecht dieser Zuständigkeit nach ständiger Rechtsprechung Schranken. [. . .] Im vorliegenden Fall stellt die Ausweisung auf Lebenszeit, die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten auferlegt werden kann, [. . .], offensichtlich eine Behinderung der durch Artikel 49 EG anerkannten Dienstleistungsfreiheit dar, weil durch sie diese Freiheit völlig entzogen wird. Das gleiche gilt für die anderen in den Artikeln 39 und 43 EG genannten vom vorlegenden Gericht erwähnten Grundfreiheiten.“
Der EuGH geht seiner Rechtsprechung folgend von einem freiheitsrechtlichen Verständnis aus und erblickte die grundfreiheitsrelevante Behinderung darin, dass das Recht völlig ausgeschlossen wird. Dies offenbart noch nicht, ob er auf die diskriminierende Wirkung abstellt. Wahrscheinlicher ist, dass es dem Gerichtshof allein auf die Behinderung der Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit unabhängig von einem Vergleich ankam, obwohl die Formulierung, wie gezeigt, einem gleichheitsrechtlichen Kontext entstammt. Konsequenterweise entfaltet dann aber auch die Freiheitsstrafe einen behindernden Effekt. Auf den besonderen zeitlichen Aspekt lebzeitiger Ausweisung im Gegensatz zur bloß zeitigen Freiheitsstrafe kommt es im Hinblick auf die Grundfreiheitsrelevanz jedenfalls nicht an. Auf die verhängte Freiheitsstrafe geht der EuGH dann aber unverständlicherweise nicht ein. Berücksichtigt man den oben dargelegten Ursprung dieser Rechtsprechung in einer Zeit als die Grundfreiheiten noch als reine Diskriminierungsverbote interpretiert wurden, so erklärt sich, warum zu jener Zeit wohl die Ausweisung, nicht aber die übrigen Strafen, insbesondere die Freiheitsstrafe, von vornherein den Grundfreiheiten entgegenstanden. Vor einer 389 EuGH, Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11 „Strafverfahren gegen Donatella Calfa“.
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gleichheitsrechtlichen Lesart liegt die Einschränkung der Grundfreiheit nämlich einzig in der diskriminierenden Wirkung fremder Staatsangehöriger, die jede Ausweisung, nicht aber jede Geld- oder Freiheitsstrafe entfaltet. Die dargestellte Unsauberkeit ist Folge der unreflektierten Übernahme jener Rechtsprechung für die Freiheitsrechte. Zudem wird der Überprüfung von Sanktionen mit größter Zurückhaltung begegnet, so dass die Übernahme der Rechtsprechung wohl opportun erschien. Sowohl nach freiheitsrechtlichem als auch nach gleichheitsrechtlichem Verständnis stellt sich jedenfalls hinsichtlich der Ausweisung die Frage nach der Rechtfertigung: „Art. 46 erlaubt es nämlich den Mitgliedstaaten, gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten u. a. aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Maßnahmen zu ergreifen, die sie insofern bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten, als sie nicht die Befugnis haben, diese auszuweisen oder ihnen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu untersagen.“
Schien beim Eingriff noch nicht die diskriminierende Wirkung im Vordergrund zu stehen, so hebt der EuGH diesen Effekt hier deutlich hervor, was wohl mit den unterschiedlichen Rechtfertigungsmaßstäben zusammenhängt. Besteht grundsätzlich eine Rechtfertigungsmöglichkeit, so wird diese hier aber durch die Richtlinie 64/221390 eingeschränkt, deren Auslegung ergab, dass eine Ausweisung nicht allein auf eine strafrechtliche Verurteilung, vielmehr auf das persönliche Verhalten zu stützen ist391. Im Ergebnis verstieß daher die griechische Regelung, wonach strafrechtliche Verurteilungen automatisch zur Ausweisung führen, ohne dass das persönliche Verhalten des Delinquenten berücksichtigt wird, gegen die Dienstleistungsfreiheit und war unanwendbar. Vor der hier vertretenen gleichheitsrechtlichen Interpretation, aber auch nach freiheitsrechtlicher Lesart der Grundfreiheiten lässt sich im Ergebnis feststellen, dass die angedrohte oder ausgesprochene Ausweisung stets in die Grundfreiheiten eines Grundfreiheitsberechtigten eingreift, da sie eine diskriminierende Wirkung aufgrund der Staatsangehörigkeit entfaltet.
390
RL 64/221/EWG, v. 25.2.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABlEG Nr. P 56, S. 850. 391 EuGH, Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11 „Strafverfahren gegen Donatella Calfa“; vgl. insbesondere zur Rechtfertigung gem. Art. 39 III EG sowie RL 64/221 (s. o. Fn. 397) auch EuGH, Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, 990 „Nazli“ sowie GA Stix-Hackl, in: EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257 „Orfanopoulos u. a.“.
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(d) Eingriff durch Nebenstrafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung Bereits oben wurde auf die Existenz der Nebenstrafen und der sog. Maßregeln der Besserung und Sicherung und auf den Umstand hingewiesen, dass auch diese Maßnahmen spezifische Ge- oder Verbote entfalten, die auch gegenüber Ausländern zur Anwendung gelangen können. Anders als die Ausweisung sind aber weder die freiheitsentziehenden Maßregeln (§ 63 StGB, §§ 136 f. StVollzG) noch die übrigen wie das Berufsverbot (§ 70 StGB) oder die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) automatisch diskriminierenden Charakters, so dass die diskriminierende Wirkung der verhängten Maßregel im Einzelfall zu belegen ist. Entsprechendes gilt für die Nebenstrafe des § 44 StGB. Grundsätzlich wird aber keine derartige Ungleichbehandlung feststellbar sein, so dass auch diesbezüglich primär die Vertreter einer freiheitsrechtlichen Grundfreiheitsinterpretation mit der Relevanz derartiger Maßnahmen befasst sein werden392. Klarzustellen ist, dass der nationale Rechtsanwender im Falle der Gemeinschaftswidrigkeit einer Nebenstrafe oder Maßregel nicht an der Verurteilung gehindert ist und die Hauptstrafe verhängen darf393, sofern diese den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen genügt. (5) Ergebnis: Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der Sanktionen Im Anschluss an die vorstehende Analyse bleibt festzuhalten, dass hinsichtlich der rein mitgliedstaatlichen Sanktionen kein modifizierter gemeinschaftsrechtlicher Maßstab anzulegen ist. Im Gegenteil, die vom EuGH herangezogenen Maßstäbe des gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots und des Verhältnismäßigkeitsprinzips konnten in die Dogmatik der Grundfreiheiten eingeordnet werden. Dabei wurde wiederum die Bedeutung offenbar, die der sauberen Bestimmung der potentiell widersprechenden Gewährleistungsgehalte zukommt. Auf diesem Wege ließ sich aufzeigen, dass auch die Sanktionsseite mit den grundfreiheitlichen Gehalten kollidieren kann. Die Prüfung wurde transparent und konnte dogmatische Irrlichter wie die Rückwirkung auf die Primärnorm oder die Differenzierung der Eingriffe durch die Höhe und die Natur der Sanktion beseitigen. 392 Vgl. Satzger, S. 320 ff., der eine Reduzierung der Grundfreiheitsgewährleistungen auf zweckgerichtete Eingriffe postuliert. Die hinsichtlich dieses Kriteriums bereits formulierte Kritik gilt hier entsprechend. 393 Vgl. Grasso, S. 345; Satzger, S. 512.
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Zunächst wurde im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot illustriert, dass der EuGH damit jedenfalls nicht das allgemeine Gleichbehandlungsgebot als Maßstab herangezogen hat. Besteht zwar auch noch der Art. 12 EG, so wird er für Diskriminierungen anhand der Staatsangehörigkeit oder des Grenzübertritts durch die speziellen grundfreiheitlichen Gleichbehandlungsgebote verdrängt, sofern sich ein Berechtigter in einer grundfreiheitlich relevanten Situation befindet. Der angedrohte oder verhängte sanktionenrechtliche Verhaltensbefehl ist damit vornehmlich an den Grundfreiheiten und lediglich subsidiär an Art. 12 EG zu messen. Im Gegensatz zum Gleichbehandlungsgebot handelt es sich bei dem zweiten vom EuGH herangezogenen Prinzip der Verhältnismäßigkeit um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, der die Mitgliedstaaten nicht direkt, sondern lediglich im Wege systematischer Interpretation bindender Vorgaben verpflichtet. Dem Grundsatz der Proportionalität kommt allein die Funktion einer Moderationsnorm zu, welche auf einen möglichst schonenden Ausgleich widerstreitender Interessen zielt. Sein Eingreifen setzt damit bereits die Feststellung einer Kollision voraus. Kollisionen entstehen mit den unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten, welche dem mitgliedstaatlichen Sanktionierungsinteresse widerstreiten können, nicht aber mit der Vermittlungsnorm der Verhältnismäßigkeit. Prüft man jene Prämisse der Kollision mit den Grundfreiheiten, so wird der erhebliche Vorteil der hier vertretenen rein gleichheitsrechtlichen Interpretation der Grundfreiheiten offenbar. Setzen diese tatbestandlich eine Ungleichbehandlung voraus, so fehlt sämtlichen unterschiedslos anwendbaren Sanktionen, welche die deutliche Mehrzahl bilden, die Grundfreiheitsrelevanz, so dass deren Verhältnismäßigkeit grundfreiheitlich nicht überprüfbar ist. Sie unterliegen allein dem nationalen Grundrechtsregime. Zwar wird dieses Ergebnis auch durch die herrschende freiheitsrechtliche Lesart angestrebt, weil eine gemeinschaftsrechtliche Überprüfung der Angemessenheit einer unterschiedslos anwendbaren Freiheitsstrafe nicht opportun erscheint, doch konnten die vorgeschlagenen Lösungen, sofern sie die Relevanz sanktionenrechtlicher Verhaltensbefehle nicht ohnehin ignorierten, als einzelfall- und ergebnisorientiert entlarvt werden. Stets wurden dogmatische Brüche evident, welche die Konturlosigkeit der Grundfreiheiten zur Folge haben und dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt sind. Eine funktional begründete gleichheitsrechtliche Lesart dient der Konturierung der Grundfreiheiten, insbesondere auch deshalb, weil sie alle mitgliedstaatlichen Maßnahmen gleich behandelt. Sie ist deshalb geeignet, den Rechtsanwender bei der Beantwortung similärer Fragestellungen zu leiten, die gemeinschaftsrechtlichen Einflüsse vorhersehbar werden zu lassen und daher Vertrauen in die Gemeinschaftsrechtsordnung zu schaffen.
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Hinsichtlich der konkreten sanktionenrechtlichen Befehle, die von den nationalen Strafen ausgehen, konnte in Bezug auf die Ausweisung das von der Rechtsprechung gefundene Ergebnis, dass diese stets in die Grundfreiheiten eingriffen, aufgrund des diskriminierenden Charakters auch vor dem vertretenen gleichheitsrechtlichen Verständnis Bestätigung erfahren. Im Übrigen gilt hinsichtlich aller Maßregeln oder Strafen, dass eine Ungleichbehandlung im jeweiligen Einzelfall festzustellen ist, bevor im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung die Proportionalität moderieren kann. 2. Kollisionen zwischen Strafrecht und dem sekundären Gemeinschaftsrecht Nicht nur das primäre Gemeinschaftsrecht ist der unmittelbaren Anwendbarkeit fähig, vielmehr kann auch dem von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Recht diese Wirkung zukommen394. Dabei gilt jede Verordnung gem. Art. 249 II EG unmittelbar in jedem Mitgliedstaat, während die Richtlinie nur dann unmittelbar anwendbar ist, wenn sie bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist nicht ausreichend transformiert wurde, inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist sowie dem einzelnen gegenüber dem Mitgliedstaat Rechte verleihen soll395. Demnach könnte nationales Strafrecht auch entscheidungserheblich anzuwendendem sekundären Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufen und Kollisionen auslösen, die durch das Vorrangprinzip zu lösen wären. Auch zur Feststellung dieser Kollisionen gilt es, die beiden potentiell kollidierenden Normbereiche genau zu definieren. Anders als die Grundfreiheiten weist das Sekundärrecht aber keine gemeinsame Dogmatik auf, die bei der Analyse gerichtlicher Entscheidungen sowie der Lösung etwaiger Kollisionen fruchtbar gemacht werden könnte. Deshalb muss eine Dogmatisierung, wie sie für die Grundfreiheiten vorgenommen werden konnte, an dieser Stelle unterbleiben und im Einzelfall der exakte Regelungsgehalt bestimmt werden. Trotzdem lassen sich einige Aussagen zur Funktion der gemeinschaftlichen Rechtsakte sowie deren Verhältnis zu den Grundfreiheiten treffen, die eine nachfolgende Kollisionsanalyse transparenter werden lassen. Deshalb erscheint eine gewisse Systematisierung ihrer Regelungswirkungen unerlässlich. Verordnungen und Richtlinien sind Mittel zur Rechtsangleichung und spielen im grundfreiheitlich determinierten Bereich eine erhebliche Rolle. 394 Die folgende Darstellung beschränkt sich auf Verordnungen und Richtlinien. Hinsichtlich den Entscheidungen der Organe ist aber ein entsprechendes Vorgehen angezeigt. 395 Die Pflicht zur unmittelbaren Anwendung gilt für Behörden und Gerichte auch für Richtlinien, die keine subjektiven Rechte begründen, sog. objektive unmittelbare Anwendung, s. o. 1. Teil A. II.
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So bezieht sich die Rechtsetzung der Gemeinschaft vornehmlich auf Bereiche, in denen mitgliedstaatliche Regelungen Hindernisse für die Verwirklichung der Grundfreiheiten bildeten, aber durch die ausdrücklichen Schranken bzw. zwingende Allgemeininteressen i. S. d. immanenten Schranken gerechtfertigt sind396. Daneben können sie trotz bestehendem Freiverkehr zum Abbau von Inländerdiskriminierungen oder Wettbewerbsverfälschungen, die insbesondere nach Keck nicht mehr in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fallen, dienen397. Die Gemeinschaft legt dann durch Rechtsetzung ein Schutzniveau fest, wobei ihr ein weites Ermessen zukommt398. Bevor jedoch auf die möglichen Kollisionen eingegangen werden kann, ist zunächst das Verhältnis zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht darzulegen, da nur dann feststeht, welche gemeinschaftliche Norm den Prüfungsmaßstab für die mitgliedstaatliche Regelung darstellt. Jedenfalls ist der Tatbestand der Grundfreiheiten unabhängig davon eröffnet, ob und in welcher Form eine sekundärrechtliche Harmonisierung besteht399. Daher sind mitgliedstaatliche Maßnahmen grundsätzlich an den Grundfreiheiten und dem Sekundärrecht zu überprüfen. Im Falle unterschiedlicher Ergebnisse ist zunächst die Sekundärnorm auf ihre Rechtmäßigkeit auch anhand der Grundfreiheiten zu untersuchen, wobei der im Vergleich zu mitgliedstaatlichen Regelungen abweichende grundfreiheitliche Maßstab400 für gemeinschaftliche Regelungen zu beachten ist. Ergibt sich danach eine Gemeinschaftsrechtmäßigkeit, ist der Regelungsgehalt des sekundären Rechtsaktes daraufhin zu ermitteln, ob es sich um eine abschließende oder Teilharmonisierung, eine Mindest- oder optionale Harmonisierung handelt401. Grundsätzlich können die Sekundärakte drei gemeinschaftliche Regelungsszenarien enthalten. Zunächst kann die Maßnahme der Organe zu einer staatlichen Maßnahme verpflichten, die ansonsten durch die Grundfreiheiten verboten wäre. Andererseits ist ein Verbot mitgliedstaatlicher Maßnahmen denkbar und die Frage, ob solche Maßnahmen über die Rechtfertigungsgründe der Grundfreiheiten für rechtmäßig erklärt werden könn396
Müller-Graf, in: GTE, Art. 30 Rn. 349. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 92; Matthies, Everling-FS, Bd. I, 803, 814 f.; a. A.: Müller-Graff, in: GTE, Art. 30 Rn. 350. 398 EuGH, Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-2405, 2450 „Deutschland ./. Parlament und Rat“. 399 EuGH, Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-1931, 1941 „Kohll“. 400 Vgl. zum unterschiedlichen Prüfungsmaßstab und dessen Begründung der gemeinschaftsweiten Geltung, dem prozesshaften und kompromissartigen Charakter der Rechtsangleichung: Schwemer, S. 42 ff.; Scheffer, S. 121 ff. 401 Vgl. Merkt, RabelsZ 61 (1997), 647 ff. 397
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ten. Letztlich können gemeinschaftliche Rechtsakte weder ge- noch verbieten, aber dulden, indem sie mitgliedstaatlichen Freiraum gewähren. Verpflichtet das rechtmäßige Sekundärrecht zu einer mitgliedstaatlichen Maßnahme, welche die Freiheiten einschränkt, so sind die Mitgliedstaaten in dem Umfang gerechtfertigt, in dem die Maßnahme durch das Sekundärrecht verpflichtend vorgeschrieben ist. Der Gerichtshof hat seine Entscheidung auf das in der Gemeinschaftsregelung deutlich werdende Allgemeininteresse zu stützen402. Gleiches gilt für die ausdrückliche Gestattung403. Dagegen scheidet eine Berufung auf die primärrechtlichen Rechtfertigungsgründe zwingend aus, wenn Sekundärrecht eine bestimmte staatliche Maßnahme verbietet. Ansonsten stellte man den Geltungsanspruch des Rechtsakts in Frage. Dementsprechend ist eine Berufung auf die primärrechtlichen Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen, wenn die Harmonisierungsvorschrift „die zur Gewährleistung des Schutzes eines bestimmten Gegenstandes notwendigen Maßnahmen“ vorsieht404. Dies ist durch Auslegung zu ermitteln. Die beiden behandelten Fälle betrafen bindende Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Positiven wie im Negativen. Enthält das Sekundärrecht dagegen kein zwingendes Ge- oder Verbot, so können die Mitgliedstaaten den sekundärrechtlich gewährten Spielraum durch eine ihrer Meinung nach geeignete Maßnahme nutzen. Wenn dann z. T.405 vertreten wird, ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten sei bereits dann ausgeschlossen, wenn die Regelung der Umsetzung solcher Richtlinien dient oder sich innerhalb des durch die Richtlinie gesteckten Rahmens hält, so überzeugt dies nicht. Eine solche horizontale Sperrwirkung findet nicht statt406. Die mitgliedstaatliche Maßnahme ist trotzdem an den Freiheiten zu messen. Es kommt dabei auf den Zweck der Duldung an. Regelt die Maßnahme ohne weitergehenden materiellen Gehalt bestimmte Bereiche lediglich nicht, so ergeben sich für die Freiheitsprüfungen keine Besonderheiten. Will die Harmonisierungsmaßnahme aber unter Duldung von Abweichungen ein bestimmtes Schutzniveau schaffen, so dürfte regelmäßig auch bei Zulassung geringerer Anforderungen die Grundfreiheitsrelevanz geprüft werden. Die Erforderlichkeit wird dann aber vom Sekundärrecht determiniert. Hinsichtlich der Abweichungen 402
Everling, Knobbe-Keuk-GS, 607, 623 f. EuGH, Rs. 241/86, Slg. 1987, 2573, 2855 „Bodin“. 404 St. Rspr.: EuGH, Rs. 190/87, Slg. 1988, 4689, 4720 „Moormann“; Rs. C-34-36/96, Slg. 1997, I-3843, 3894 „de Agostini“; Rs. C-12/97, Slg. 1999, I-1821, 1852 f. „Kommission ./. Italien“. 405 Everling, Knobbe-Keuk-GS, 607, 623 f. 406 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 92 f. unter Berufung auf die ganz h. M.; vgl. Müller-Graff, in: GTE, Art. 30 Rn. 346. 403
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nach oben im Sinne höherer Anforderungen wird sich regelmäßig durch Auslegung der gemeinschaftlichen Maßnahme ergeben, dass diese nur für interne, nicht aber für grenzüberschreitende Sachverhalte zulässig sind, so dass es keines Rückgriffs auf die Grundfreiheiten bedarf 407. a) Kollisionen der mitgliedstaatlichen Primärnorm mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht Nach der vorstehenden Systematisierung des sekundären Gemeinschaftsrechts ist auch an dieser Stelle wieder genau herauszuarbeiten, in welchen mitgliedstaatlichen Maßnahmen die Beeinträchtigungen des sekundären Gemeinschaftsrechts liegen können. Insoweit ist auf die Ausführungen zu den Kollisionen mit dem primären Gemeinschaftsrecht zu verweisen, wonach sowohl die tatbestandliche Verhaltensnorm als auch die angedrohte wie verhängte Sanktion Kollisionen auszulösen vermögen. Explizit ist der Umstand herauszustellen, dass aufgrund der strafrechtlichen Akzessorietät nicht die tatbestandlichen Verhaltensbefehle der Strafnorm selbst, sondern allein die außerstrafrechtlichen Primärnormen in Kollision treten können. aa) Verordnungen In der Rs. Kirk408 hatte sich der EuGH mit der Vereinbarkeit der britischen „Sea Fish (Specified U.K. Waters) (Prohibition of Fishing) Order“ 1982 mit der Verordnung EWG Nr. 101/76 des Rates über die Einführung einer gemeinsamen Strukturpolitik für die Fischwirtschaft409 auseinander zu setzen. Die britische Regelung sah ein strafbewehrtes Verbot für dänische Fischer vor, innerhalb der 12-Meilen-Zone vor der britischen Küste zu fischen. Damit verstieß die britische Regelung gegen Art. 2 I der Verordnung, der für alle die Flagge eines Mitgliedstaats führenden und im Bereich der Gemeinschaft registrierten Fischereifahrzeuge den gleichen Zugang zu den Fanggründen und zur Fischerei in den ihrer Oberhoheit oder ihrer Gerichtsbarkeit unterliegenden Meeresgewässern gewährte. Die mitgliedstaatliche Primärnorm verstieß gegen diese gemeinschaftsrechtliche Verordnungsvorgabe und blieb daher außer Anwendung, so dass auch die Sanktion nicht angewendet werden durfte.
407
Wie hier: Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 39–55 EGV Rn. 151; vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 151. 408 EuGH, Rs. 63/83, Slg. 1984, 2689 „Kirk“. 409 Vom 19. Januar 1976, ABl. Nr. L 20, S. 19.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
bb) Unmittelbar anwendbare Richtlinien Eine Kollision mit der zur Durchführung der Kapitalverkehrsfreiheit erlassenen Richtlinie 88/361410 stand im Fall „Bordessa u.a.“411 in Frage. Das spanische Königliche Dekret Nr. 1816412 sah eine Genehmigungspflicht bei der Ausfuhr von Münzen, Banknoten und Inhaberschecks ab einem Geldbetrag von 5000000 PTA vor. Im Falle des Verstoßes drohte das spanische Gesetz Nr. 40 strafrechtliche Sanktionen an. Der Gerichtshof maß das spanische Recht primär an der unmittelbar anwendbaren Richtlinie, die zum einen die völlige Liberalisierung des Kapitalverkehrs verfolgte, doch in Artikel 4 Absatz 1 die Mitgliedstaaten ermächtigte, „die unerlässlichen Maßnahmen“ auf insbesondere steuerrechtlichem oder bankenaufsichtsrechtlichem Gebiet zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu verhindern und Meldeverfahren für den Kapitalverkehr zwecks administrativer oder statistischer Information vorzusehen. Zwar sei die Aufzählung in der Richtlinie nicht abschließend, so dass auch andere Maßnahmen zur Verhinderung rechtswidriger Taten gleicher Schwere zulässig seien, doch stelle eine Genehmigungspflicht die Ausübung der Kapitalverkehrsfreiheit unzulässigerweise in das Ermessen der Verwaltung und könnte diese Freiheit daher illusorisch werden lassen413. Damit war die spanische Primärnorm aufgrund der Kollision mit der konkretisierenden Richtlinie nicht anwendbar, so dass der Straftatbestand im spanischen Gesetz Nr. 40 nicht zur Strafbarkeit führen konnte. Eine besondere Fragestellung offenbarte das Vorabentscheidungsverfahren in der Rs. Ratti. Darin ging es u. a. um die Harmonisierungsrichtlinie 73/173, die bis zum Dezember 1974 in nationales Recht umzusetzen und nach Ansicht des Leiters der Firma Silvam, Herrn Ratti, unmittelbar anwendbar war. Die Richtlinie enthielt z. T. mildere Vorschriften in Bezug auf Lacke und Lösemittel als das 1978 in Italien noch gültige Gesetz Nr. 245, welches für den Fall seiner Verletzung Geldstrafen androhte. Als die Firma Silvam im Jahre 1978 begann, die Richtlinienbestimmungen auf ihre Lacke und Lösemittel anzuwenden, wurde gegen Herrn Ratti, bei der Pretura Mailand ein Strafverfahren eingeleitet. Das Verfahren wurde ausgesetzt und dem EuGH u. a. folgende Frage vorgelegt: 410
Vom 24. Juni 1988, ABl. L 178, S. 5. EuGH, verb. Rs. C-358/93 u. C-416/93, Slg. 1995, I-361 „Bordessa“; vgl. auch verb. Rs. C-163, 165 u. 250/94, Slg. 1995, I-4821 „Sanz de Lera“. 412 Vom 20. Dezember 1991 über wirtschaftliche Transaktionen mit dem Ausland. 413 EuGH, verb. Rs. C-358/93 u. C-416/93, Slg. 1995, I-361 „Bordessa“; vgl. bereits EuGH, verb. Rs. 286/82 u. 26/83, Slg. 1984, 377 „Luisi und Carbone“. 411
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 163 „a) Stellen die Richtlinie 73/173 [. . .] und insbesondere ihr Art. 8 unmittelbar geltende Vorschriften dar, die den einzelnen subjektive Rechte verleihen, welche von den staatlichen Gerichten zu schützen sind? [. . .]“
Hinsichtlich der unmittelbaren Anwendbarkeit und dem Vorrang der Richtlinienvorschrift formulierte der EuGH: „Hieraus folgt, dass das nationale Gericht, bei dem ein Rechtsbürger, der den Vorschriften einer Richtlinie nachgekommen ist, die Nichtanwendung einer mit dieser noch nicht in die innerstaatliche Rechtsordnung des säumigen Staates übernommenen Richtlinie unvereinbaren nationalen Bestimmung beantragt hat, diesem Antrag stattgeben muss, sofern die in Frage stehende Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist.“414
Herr Ratti hatte im konkreten Fall die europäischen Vorschriften beachtet, so dass im Ergebnis aus dieser Feststellung des EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinienbestimmung und daher die Nichtanwendbarkeit der italienischen Primärnorm folgte, welche strengere Etikettierungsvorschriften vorsah. Problematisch erscheint jedoch die Formulierung, in der der EuGH seine Ausführungen auf einen Rechtsbürger beschränkt, der „den Vorschriften einer Richtlinie nachgekommen ist“. Fraglich ist demnach, ob die Strafvorschrift nur in den Fällen nicht angewendet werden darf, in denen sich der Rechtsunterworfene richtlinienkonform verhalten hat. Meint der EuGH also, dass Herr Ratti, hätte er weder nationales noch Gemeinschaftsrecht beachtet, nach dem italienischen Gesetz zu bestrafen gewesen wäre? Satzger lehnt dies ab: „Sobald feststeht, dass eine Richtlinie unmittelbare Wirksamkeit für das Gericht entfaltet, darf es (direkt) kollidierendes nationales Recht nicht anwenden. Bereits aus Art. 10 EG [. . .] folgt die Pflicht des Gerichts, gemeinschaftswidriges nationales Recht unberücksichtigt zu lassen. Steht also die strafrechtlich bewehrte Verhaltensnorm des nationalen Rechts im Widerspruch zu unmittelbar wirksamen Richtlinienbestimmungen, so darf sie nicht angewendet werden, mit der Folge, dass die Strafvorschrift insgesamt unanwendbar wird. Diese Verpflichtung des Gerichts gegenüber der Gemeinschaft, die der Durchsetzung und gleichmäßigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten dient, kann dann aber nicht davon abhängen, wie sich der einzelne im konkreten Fall verhält. Der Einzelfall ist nur der Anlass für den Rechtsanwendungsakt, bei dem das Gericht kraft Art. 10 EG umfassend das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht zu beachten hat. Würde das Gericht also eine gemeinschaftswidrige Strafnorm anwenden, weil der Angeklagte neben den nationalen auch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften verletzt hat, so verstieße es gegen diese Loyalitätspflicht.“415
Mit dieser Stellungnahme nimmt Satzger als Konsequenz die Möglichkeit hin, dass die nationale Strafnorm unanwendbar, der Rechtsunterworfene 414 415
EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 „Ratti“. Satzger, S. 492.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
also nicht strafbar wäre, obwohl er sich weder gemeinschaftsrechtskonform noch dem nationalen Recht entsprechend verhalten hat. Zu erwägen ist deshalb eine teleologische Reduzierung des Vorrangprinzips dergestalt, dass es nur gilt, wenn der Rechtsunterworfene durch gemeinschaftsrechtskonformes Verhalten ein subjektives Recht auf Gemeinschaftsebene begründet hat416. Eine Lösung dieser Frage muss die Grundgedanken des Vorrangprinzips zum Ausgangspunkt nehmen und nationale Konsequenzen, wie die Folgen für eine nationale Strafnorm zunächst ausblenden. Das Vorrangprinzip dient der Effektivität des Gemeinschaftsrechts. Danach ist das Gemeinschaftsrecht unabhängig vom Handeln einzelner Personen in den Mitgliedstaaten bei jedem Rechtsanwendungsakt gleichmäßig zur Anwendung zu bringen. Es löst Kollisionen, d.h. Widersprüche zweier Normen, die auf den gleichen Sachverhalt anwendbar sind, zugunsten des Gemeinschaftsrechts und verhilft ihm damit zur gleichmäßigen Anwendung. Richtlinien sind zunächst aber nur dann auf einen Sachverhalt unmittelbar anwendbar, wenn sie den einzelnen begünstigen. Eine solche Begünstigung kann auch in einer weniger strengen Verpflichtung liegen. Gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit könnte man indes anführen, dass die Richtlinie hier zwar zufällig mildere Pflichten entfalte, die eigentliche Begünstigung, auf die es der Rechtsunterworfene abgesehen hat, jedoch aus der bloßen Nichtanwendung der Strafnorm folge, ohne dass es ihm auf den milderen Richtlinieninhalt ankäme. Es geht an dieser Stelle jedoch um die Auflösung von Normwidersprüchen, wobei die Motive oder das Verhalten des einzelnen nicht relevant werden können. Zutreffend weist Satzger darauf hin, dass der einzelne Rechtsanwendungsakt nur den Anlass bildet, nicht aber die Reichweite des Gemeinschaftsrechts bestimmen darf. Inhalt der Loyalitätspflicht ist es, den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben umfassende Geltung zu verschaffen. Dieser Pflicht unterliegt auch das rechtsanwendende Gericht. Das Vorrangprinzip bewirkt hier seiner Funktion entsprechend die umfassende Wirksamkeit der Richtlinienbestimmung. Die Nichtgeltung der nationalen Strafnorm ist alleinige Folge nationaler Umsetzungsversäumnisse und der Tatsache, dass die nationale Strafnorm eben nicht automatisch das vorrangige Gemeinschaftsrecht bewehrt. Dies verstieße gegen das Gebot der Bestimmtheit aus Art. 103 II GG, denn die Strafnorm enthielte falsche Strafbarkeitsvoraussetzungen417. Zudem könnte auch der Sanktionsgedanke, wenn auch in etwas abgewandelter Form, zugunsten des Vorrangs in derartigen Fällen fruchtbar gemacht werden, der ebenso Grundlage der Rechtsprechung zur unmittelbaren An416
Ausführlich Grasso, S. 314 f. Vgl. BGH, MDR 1977, 771 in Bezug auf den § 46 WeinG a. F. ersetzenden Art. 43 VO 2133/74. 417
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 165
wendbarkeit von Richtlinien ist. So ist zu konstatieren, dass die Verantwortlichkeit der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht allein dem Mitgliedstaat obliegt. Einher damit geht die Möglichkeit sein nationales Strafrecht rechtzeitig den Veränderungen anzupassen. Versäumt der Mitgliedstaat auf die veränderte Rechtslage zu reagieren, so entstammt die Straflosigkeit seiner souveränen Entscheidung, nicht rechtsetzend tätig zu werden, so dass er die Straflosigkeit hinzunehmen hat. Wendet man dagegen ein, die Straflosigkeit treffe doch nur den Gemeinschaftsgesetzgeber, schließlich würden allein seine Vorgaben nicht bewehrt, so verkennt diese Betrachtung, dass auch der Mitgliedstaat ein Interesse an der Einhaltung der sachlichen Vorgaben haben wird, hatte er doch auch die schärferen nationalen Vorgaben mit Strafe bedroht. Zudem läuft er Gefahr einem Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen die Mindestanforderungen des Art. 10 EG ausgesetzt zu werden418. Insgesamt ist damit der Analyse Satzgers zuzustimmen, dass der Richtlinie, unabhängig von der Tatsache, ob der Rechtsunterworfene sich richtlinienkonform verhalten hat, im Falle des Vorliegens der entwickelten Voraussetzungen Vorrang vor widersprechendem nationalem Recht zukommen muss. Der Nebensatz des EuGH ist als unglücklicher Hinweis auf den konkreten Sachverhalt zu interpretieren. Die Reduzierung auf Fälle, in denen der einzelne auf Gemeinschaftsebene ein subjektives Recht durch richtlinienkonformes Verhalten begründet hat, überzeugt nicht. Auch in der Rs. Auer419 war eine nicht umgesetzte Richtlinie erheblich, doch in einem weiter vorgelagerten Stadium, in dem Sinne, dass sie die Gleichwertigkeit von Diplomen, Prüfungen und Befähigungsnachweisen zur Ausübung des Tierarztberufes statuiert, die von verschiedenen Mitgliedstaaten ausgestellt wurden und damit sicherstellt, dass ein Veterinär überhaupt die Voraussetzungen erfüllen kann, um in die Standesorganisation aufgenommen zu werden. Der EuGH stellte fest, die mitgliedstaatliche Maßnahme einer Pflichtmitgliedschaft in Berufsverbänden oder -körperschaften sei „[. . .], als rechtmäßig anzusehen, da damit die Zuverlässigkeit und die Beachtung der standesrechtlichen Grundsätze sowie die disziplinarische Kontrolle der Tätigkeit der Tierärzte und damit schutzwürdige Rechtsgüter gewährleistet werden sollen. Die Aufnahme in die berufsständische Kammer darf nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass der in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Befähigungsnachweis für die Ausübung des Berufes nicht gültig sei, wenn er unter den Befähigungsnachweisen aufgeführt ist, zu deren Anerkennung alle Mitgliedstaaten [. . .] aufgrund des Gemeinschaftsrechts verpflichtet sind. Demnach wären Rechts418
Dazu noch unten 1. Teil C. II. EuGH, Rs. 271/82, Slg. 1983, 2727 „Auer“; vgl. auch Rs. C-104/91, Slg. 1992, I-3003 „Aguirre Borrell“. 419
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
vorschriften, die Straf- oder Verwaltungsmaßnahmen gegen einen Tierarzt vorsehen, der seinen Beruf ausübt, ohne Mitglied der berufsständischen Kammer zu sein, insoweit mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, als die Aufnahme des Betroffenen in diese Kammer unter Verletzung des Gemeinschaftsrechts abgelehnt worden ist; diese Rechtsvorschriften würden dann nämlich den Vorschriften des Vertrages und der Richtlinie 78/1026, (. . .), im Ergebnis jede praktische Wirksamkeit nehmen.“
Die strafrechtliche Sanktion knüpft hier an die fehlende Mitgliedschaft, so dass die Primärnorm, welche die Pflicht zur Mitgliedschaft statuiert, zunächst gemeinschaftsrechtlich unbedenklich ist. Wird der Antrag auf Mitgliedschaft aber gemeinschaftsrechtswidrig abgelehnt, so wird die gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Freiheit ungerechtfertigt beschränkt. Hier entfaltet die Richtlinie ihre Rechtswirkungen bereits im Vorfeld der Primärnorm, indem sie gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für die Erfüllung der Voraussetzungen enthält420. Auch der BGH421 hatte sich mit einer solchen Konstellation auseinander zu setzen. Ausgangspunkt war ein Verfahren vor dem LG Bonn, vor dem der faktische Geschäftsführer mehrerer Firmen u. a. der fortgesetzten Umsatzsteuerhinterziehung angeklagt war, weil er keine monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben hatte. Dieser wandte ein, es handele sich bei den Umsätzen z. T. um solche aus Kreditvermittlungen, welche gemäß den europäischen Gemeinschaftsrichtlinien422 nicht der Umsatzsteuer unterlägen. Das LG Bonn verurteilte den Angeklagten mit der zur Illustrierung der Ignoranz hinsichtlich gemeinschaftsrechtlicher Einflüsse vielzitierten Passage: „Die Kammer glaubt dem Angeklagten nicht, dass er bei seinen steuerlichen Fachkenntnissen auch nur im entferntesten davon ausging, dass die deutsche Steuergesetzgebung durch Europäische Gemeinschaftsrichtlinien außer Kraft gesetzt wird.“423
Der BGH hob in seiner Revisionsentscheidung hervor, dass sich nach ständiger Rechtsprechung auch ein einzelner betroffener Marktbürger auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen könne, wenn innerhalb der vorgesehenen Frist keine Umsetzung erfolge und die Bestimmungen so klar umrissen seien, dass sie auch ohne Durchführungsmaßnahmen des Gesetz420 Eine vergleichbare Konstellation lag EuGH, Rs. C-476/01, Slg. 2004, I-5205 „Felix Kapper“ zugrunde. Dort ging es um die Anerkennung von Führerscheinen nach RL 91/439/EWG, v. 29.7.1991 über den Führerschein, ABl. L 237, S. 1 als Vorstufe strafbewehrter Primärnormen, nämlich des Führens eines KfZ ohne gültige Fahrerlaubnis, obwohl der Angeklagte eine niederländische Fahrerlaubnis besaß. 421 BGHSt 37, 168 ff. 422 6. RL 77/388/EWG v. 17.5.1977, ABlEG Nr. L 145, S. 1. 423 Zitiert nach BGHSt 37, 168, 174.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 167
gebers angewendet werden könnten424. Damit stand dann auch die Unanwendbarkeit der nationalen Strafnorm vermittelt über die infolge des Vorrangs unanwendbare Primärnorm fest. b) Kollisionen der Sanktionsseite mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht Das Sekundärrecht gewährt zahlreiche Rechte, indem es die Grundfreiheiten konkretisiert und die Reichweite für bestimmte Fälle klarstellt. Widerspricht dann aber der mitgliedstaatliche sanktionenrechtliche Verhaltensbefehl jenem Recht, so ist zumindest auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht betroffen. Die Möglichkeiten der Rechtfertigung bestimmt dann die Auslegung des gemeinschaftlichen Rechtsaktes nach den oben dargestellten Grundsätzen. An dieser Stelle existieren keine Besonderheiten, die bei der Auflösung von Kollisionen zu beachten wären. Als Beispiel für eine solche Kollision des sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehls mit unmittelbar anwendbarem sekundärem Gemeinschaftsrecht kann folgender Fall dienen. Gegen einen Jugendlichen i. S. d. § 1 II JGG, d.h. eine Person, die mindestens 14 aber noch nicht 18 Jahre alt ist, wird gem. § 5 JGG infolge einer Straftat eine Erziehungsmaßregel verhängt, welche gem. §§ 9 I Nr. 1, 10 I 3 Nr. 4 JGG in Form der Weisung ergeht, Arbeitsleistungen zu erbringen. Eine solche Weisung verstößt nicht gegen das deutsche Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG), weil dieses in § 5 II Nr. 3 eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Beschäftigungsverbot des § 5 I JArbSchG für Kinder (gem. § 2 I, III JArbSchG unter 15 Jahre) und vollzeitschulpflichtige Jugendliche (Vollzeitschulpflicht beträgt 9 bzw. 10 Jahre, vgl. Landesschulgesetze) für Arbeitsleistungen aufgrund richterlicher Weisung vorsieht. Dagegen verpflichtet Art. 4 I der RL 94/33/EG über den Jugendarbeitsschutz425 die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen für ein Kinderarbeitsverbot zu treffen, wobei der persönliche Schutzbereich dem des deutschen JArbSchG entspricht. Eine Ausnahme vom Beschäftigungsverbot für Arbeitsleistungen aufgrund richterlicher Weisung, wie sie das deutsche JArbSchG vorsieht, existiert in der Richtlinie nicht, so dass das sanktionenrechtliche Arbeitsgebot dem Beschäftigungsverbot der Richtlinie widerspricht. Das Beschäftigungsverbot außerhalb der in der Richtlinie normierten Ausnahmen ist hinreichend klare unbedingte konkrete Verpflichtung, welche die Jugendlichen begünstigt und somit unmittelbare Anwendbarkeit genießt426. Im Ergebnis greift deshalb der Anwendungsvorrang des 424 425 426
BGHSt 37, 168, 175. Gem. Art. 17 I der Richtlinie, umzusetzen bis zum 22.06.1996. Vgl. genauer Schmidt, BB 1998, 1362, 1365.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Gemeinschaftsrechts ein und verhilft dem Beschäftigungsverbot der Richtlinie zur Anwendung, indem die nationale Erziehungsmaßregel, Arbeitsleistungen zu erbringen, unanwendbar wird. 3. Ergebnis: Kollisionsebenen mit rein nationalem Strafrecht – Gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen Die vorstehende Analyse konnte zunächst erhellen, dass es bei der Kollisionsermittlung elementares Erfordernis ist, die potentiell entscheidungserheblich anwendbaren Normen genau zu definieren. Erst dann kann ermittelt werden, welche Normen sich inwieweit widersprechen. Je enger man die einzelnen Normbereiche fasst, desto geringer ist auch die Anzahl der Sachverhalte, in denen kollidierende Regelungen vorliegen, die einer Lösung über eine Kollisionsregel bedürfen. Vor diesem Hintergrund konnten die Grundfreiheiten systematisch und funktional begründet auf Diskriminierungsverbote zurückgeführt werden, wodurch unterschiedslos geltenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen von vornherein jegliche Grundfreiheitsrelevanz fehlt. Gerade auch das Strafrecht als potentiell kollidierender Normbereich konnte den Vorteil dieser gleichheitsrechtlichen Lesart im Gegensatz zur herrschenden freiheitsrechtlichen Interpretation illustrieren. Es wurden Kollisionen mit den Strafbarkeitsvoraussetzungen und der Sanktionsseite unterschieden. Hinsichtlich der Kollisionen mit den Strafbarkeitsvoraussetzungen ergab die Definition, dass die eigentliche Bewertung, was ge- bzw. verboten ist, einer außerstrafrechtlichen Primärrechtsordnung obliegt, während die Strafnormen nur an diese Bewertung als Recht oder Unrecht anknüpfen. Sie sind untrennbar mit der Existenz und dem Inhalt jener Primärnorm verbunden. Die eigentlichen Widersprüche entstehen folglich bereits zwischen Gemeinschaftsrecht und Primärnorm, so dass die Unanwendbarkeit der Strafnorm lediglich zwingende Folge der Verdrängung der nationalen Primärnorm ist. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass Kollisionen auf jeder Ebene der Grundfreiheitsprüfung möglich sind. Für das Kriminalstrafrecht ergeben sich keine Besonderheiten im Vergleich zum übrigen nationalen Recht. Bezüglich der Kollisionen der Sanktionsseite wurden zum einen die gesetzliche Androhung als auch die Verhängung konkreter mitgliedstaatlicher Sanktionen als potentiell kollidierende mitgliedstaatliche Maßnahmen ausgemacht. Es konnte gezeigt werden, dass beide mitgliedstaatlichen Maßnahmen einen sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehl enthalten, der in der Lage ist, die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen. Legte die Rechtsprechung eine Bindung an ein gemeinschaftsrechtliches Diskriminierungsverbot sowie
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das Verhältnismäßigkeitsprinzip nahe, so konnte diese Rechtsprechung weitestgehend bestätigt und in die Grundfreiheitsdogmatik eingeordnet werden. Sofern nämlich eine Ungleichbehandlung eines Grundfreiheitsberechtigten in einer grundfreiheitsrelevanten Situation aufgrund der verbotenen Kriterien der Staatsangehörigkeit oder des Grenzübertritts vorliegt, so ist der gleichheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten betroffen. Es entsteht ein gemeinschaftsrechtlicher Rechtfertigungszwang. Nur in diesem Kontext greift dann das allgemeine Rechtsprinzip der Proportionalität ein und schafft einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen. Der Widerspruch besteht auch im Falle der Unverhältnismäßigkeit allein mit dem entgegenstehenden gemeinschaftsrechtlichen Individualinteresse der Grundfreiheit, während die Verhältnismäßigkeit als Moderationsnorm zwar vermittelt, selbst aber nicht entgegensteht. Daneben konnte dargelegt werden, dass das rein nationale Strafrecht in gleicher Weise dem sekundären Gemeinschaftsrecht widersprechen kann. Stand dabei die Kollision mit der Primärnorm im Vordergrund, so sind trotzdem Widersprüche mit dem sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehl denkbar. Insbesondere gilt es auch hier, die jeweiligen Normen genau zu definieren, will man die vorschnelle Feststellung von Kollisionen vermeiden. Hinsichtlich dieser Kollisionskonstellationen gelten keine Besonderheiten. Wichtig erscheint es, bevor auf mögliche Kollisionen mit dem Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft eingegangen wird, nochmals auf die Tatsache hinzuweisen, dass es bisher allein um die Bewehrung rein nationaler Interessen ging, so dass die Gemeinschaft kein Interesse an der Statuierung etwaiger Mindesterfordernisse hatte. Aus dem Interesse an der umfassenden Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts um der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft willen folgten deshalb nur Vorgaben im Sinne von Obergrenzen. Die Entwicklung bestimmter verpflichtender Mindesterfordernisse steht dagegen in Frage, wenn nachfolgend Kollisionen mit dem mitgliedstaatlichen Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft analysiert werden.
II. Deutsches Kriminalstrafrecht im Dienste der Gemeinschaft Hinter der Entwicklung gemeinschaftsrechtlicher Obergrenzen für das rein nationale Strafrecht stand der Gedanke, dass die mitgliedstaatlichen Strafnormen zwar nationale Rechtsgüter und Interessen schützen, dabei aber nicht die Existenz und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft gefährden dürfen. Um dies zu gewährleisten, muss das Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten gleichmäßig zur Anwendung gelangen und darf nicht durch einseitige mitgliedstaatliche Maßnahmen wie die Setzung oder Anwendung
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
nationalen Strafrechts behindert werden. Das nationale Strafrecht kann jedoch auch im Dienste der Gemeinschaft stehen. Dies ist der Fall, wenn es ein gemeinschaftliches Rechtsgut oder Interesse schützt und/oder mit ihr inhaltlich ein gemeinschaftsrechtlicher Handlungs- oder Unterlassungsbefehl verwirklicht wird427. Es gilt daher zu untersuchen, ob dieser Umstand, dass nationales Strafrecht der Gemeinschaft dient, Einfluss auf die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen hat. Fraglich ist dabei insbesondere, ob sich die gefundenen Maßgaben für rein nationales Strafrecht übertragen lassen, sie zu modifizieren sind oder zusätzliche Vorgaben hinzutreten. Idealerweise bestünde in den Mitgliedstaaten ein einheitlicher und effektiver Schutz der Gemeinschaftsinteressen. Die mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen sind indes heterogener Natur. Das Idealbild des einheitlichen strafrechtlichen Schutzes ließe sich folglich nur erzielen, wenn die Mitgliedstaaten im Wege einer Vertragsänderung der Gemeinschaft die Kompetenz übertragen würden, Sanktionsnormen jeglicher Art, d.h. auch Kriminalstrafnormen zum Schutze ihrer Interessen zu erlassen428. Ein derartiger Wille ist derzeit jedenfalls nicht erkennbar429. Fehlt es aber an einem einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Strafrecht und der Möglichkeit, ein solches durch die Organe der Gemeinschaft zu schaffen, so lässt sich ein Schutz der gemeinschaftlichen Rechtsgüter und Interessen allein über das mitgliedstaatliche Strafrecht erzielen. Die Entscheidung, die gemeinschaftlichen Interessen strafrechtlich zu bewehren, läge damit allein bei den souveränen Mitgliedstaaten, die hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie“ einer strafrechtlichen Sanktionierung frei wären. Zu beachten ist aber, dass sich deren Sanktionierungsinteresse zumindest nicht notwendig mit dem gemeinschaftlichen Sanktionierungsbedürfnis deckt. Das mitgliedstaatliche Interesse am Schutz der Gemeinschaftsrechtsgüter und -interessen ist regelmäßig bloß mittelbarer Natur. So schädigt z. B. eine Hinterziehung von Agrarabschöpfungen zunächst einmal nur den Haushalt der Gemeinschaft, nicht den der Mitgliedstaaten430, so dass hinsichtlich der finanziellen Interessen der Gemeinschaft sogar konstatiert wurde: 427
Vgl. Gröblinghoff, S. 9 ff.; Satzger, S. 295. Vgl. Dannecker, Subventionsbetrug, 23, 32; Gröblinghoff, S. 34; Pabsch, S. 160 ff.; Pache, S. 206; Tiedemann, EuZW 1990, 100; ders., NJW 1990, 2226, 2232; ders., Pfeiffer-FS, 101, 113 f. 429 Insbesondere zu den Argumenten des Demokratiedefizits und der nationalen Souveränität vgl. GA Van Gerven, in: EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2924 f. „Hansen“; Jung/Schroth, GA 1983, 241, 242, 253 f.; Pagliaro, in: Bausteine, S. 379, 382 f.; Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 65; Tiedemann, Pfeiffer-FS, 101, 113 f.; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 775; Zuleeg, JZ 1992, 761, 762. 430 Vgl. Gröblinghoff, S. 34; Tiedemann, EuZW 1990, 100. 428
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 171 „It is not in the interest of the Member States to do a great deal about collecting them because it does not flow into their exchequer – it passes through but it does not flow in.“431
Darüber hinaus besteht zumindest die Gefahr, dass nationale Behörden daran interessiert sind, durch mangelhafte Strafdrohung bzw. -verfolgung gemeinschaftswidrigen Verhaltens den Wirtschaftsteilnehmern Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Mitgliedstaaten zu gewähren. Vor diesem Spannungsverhältnis mangelnder gemeinschaftlicher Rechtsetzungsgewalt, also notwendiger Instrumentalisierung des nationalen Strafrechts und dem begrenzten oder sogar fehlenden mitgliedstaatlichen Sanktionierungsinteresse offenbart sich das Bedürfnis, die Mitgliedstaaten zum Schutz der Gemeinschaftsinteressen zu verpflichten. Ausgehend von der Grundprämisse, dass die Mitgliedstaaten die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zu gewährleisten haben, könnte hinsichtlich des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft mithin nicht nur das Gebot des Unterlassens gemeinschaftsrechtswidrigen Verhaltens als Obergrenze folgen. Vielmehr gilt es in diesem Bereich insbesondere die Frage zu prüfen, ob infolge der gefundenen Gemeinschaftsinteressen daneben zum Erlass von Strafrecht verpflichtende Untergrenzen existieren. Entsprechend dem bisher verfolgten System soll deshalb untersucht werden, ob das primäre oder das sekundäre Gemeinschaftsrecht solche Obligationen enthält. Anders formuliert gilt es auch hier, die jeweiligen Mengeninhalte zu definieren, bevor auf die Behandlung der Kollisionen als Schnittmenge eingegangen werden kann. 1. Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft a) Gemeinschaftsrechtliche Mindesterfordernisse mitgliedstaatlicher Sanktionierung Anders als beim rein nationalen Strafrecht geht es hier infolge des aufgeworfenen Spannungsverhältnisses also auch um die Existenz und gegebenenfalls den Inhalt gemeinschaftsrechtlicher Mindesterfordernisse. Zu prüfen ist, inwieweit das Primärrecht den Mitgliedstaaten Sanktionierungspflichten oktroyiert, die im Falle einer Unterschreitung durch das mitgliedstaatliche Strafrecht verletzt würden und Kollisionen auslösen könnten.
431 Viscount Ullswater, in: House of Lords Session 1988–89 5th Report Select Committee on the European Communities: Fraud against the Community, 1989, S. 94 Nr. 311; zitiert bei Tiedemann, EuZW 1990, 100.
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aa) Die Rechtsprechung des EuGH Bei der Entwicklung solcher Mindesterfordernisse ist im Ausgangspunkt die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsfindungs- bzw. Rechtsfortbildungsorgan zu analysieren. (1) Die mitgliedstaatliche Sanktionierungsbefugnis als Voraussetzung der Entwicklung von Mindesterfordernissen In der Literatur wird vielfach das Urteil in der Rs. Amsterdam Bulb432 als Ausgangspunkt der Rechtsprechung zu den Mindesterfordernissen genannt433, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag. Die gemeinsame Marktorganisation für lebende Pflanzen und Waren des Binnenhandels wird durch verschiedene EG-Verordnungen geregelt. In den Niederlanden wurde eine Ausführungsverordnung geschaffen, deren Übertretung mit Strafe bedroht wurde. Das nationale Gericht legte u. a. die Frage vor, ob die Mitgliedstaaten auch ohne besondere Ermächtigung durch EG-Verordnung berechtigt seien, Strafnormen zu schaffen, um die Anwendung von Gemeinschafts- bzw. nationalem Durchführungsrecht sicherzustellen. Der EuGH entschied: „Artikel 5 EWG-Vertrag (jetzt Art. 10 EG), der den Mitgliedstaaten aufgibt, alle Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus den Handlungen der Gemeinschaftsorgane ergeben, überlässt dem einzelnen Staat die Wahl der sachgerechten Maßnahmen einschließlich der Wahl der – auch strafrechtlichen – Sanktionen. Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, dass die Mitgliedstaaten dann, wenn die Gemeinschaftsregelung keine Vorschrift enthält, die für den Fall ihrer Verletzung durch den einzelnen bestimmte Sanktionen vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen.“434
Satzger etabliert infolge dieses Urteils das Mindesterfordernis, dass den Mitgliedstaaten die Befugnis zum Erlass von Sanktionen zustehen müsse: „Der EuGH musste sich – bevor er zur Verpflichtungsproblematik Stellung beziehen konnte – zunächst mit der vorgelagerten Frage befassen, ob die Mitgliedstaaten überhaupt befugt sind, gemeinschaftsrechtliche Verhaltensnormen selbständig und eigenverantwortlich unter Strafe zu stellen.“435
Ordnet Satzger diese Rechtsprechung also quasi als Prämisse der Etablierung von Mindestvoraussetzungen ein, so trifft dies der Sache nach zwar zu, denn die Entwicklung von Mindesterfordernissen wäre sinnlos bzw. so432 433 434 435
EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137 „Amsterdam Bulb“. Gröblinghoff, S. 9; Satzger, S. 331 f. EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137, 150 „Amsterdam Bulb“. Satzger, S. 331.
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gar gemeinschaftsrechtswidrig, wenn das Gemeinschaftsrecht ein Verbot mitgliedstaatlicher Sanktionierung enthielte. Dennoch verstellt diese Einordnung als Prämisse der Verpflichtungsmöglichkeit den Blick auf den Umstand, dass es bei dieser Prüfung tatsächlich um die Erörterung eines etwaigen Verbots, also einer Obergrenze geht. Diese Vorgabe unterscheidet sich aber nicht von derjenigen, welche für rein nationales Strafrecht gilt436. Auch Gröblinghoff beschränkte die zitierte Urteilspassage bereits auf die Aussage zur mitgliedstaatlichen Sanktionierungsbefugnis: „In diesem Urteil hat der EuGH den Mitgliedstaaten die Möglichkeit der strafrechtlichen Sanktionierung von Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht zugestanden. Von einer Verpflichtung zum Erlass von Strafnormen ist dagegen (noch) nicht die Rede. Betont wird im Gegenteil die Einschätzungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Frage, welche Maßnahmen geeignet seien, um die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.“437
Gerade jene Beschränkung des Urteils auf eine Aussage hinsichtlich der Sanktionierungsbefugnis erscheint überprüfenswert. Der EuGH beginnt seine Ausführungen schließlich mit der Verpflichtung aus Art. 10 EG, alle Maßnahmen zur Erfüllung sekundärrechtlicher Verpflichtungen zu ergreifen. Diese allgemeine Verpflichtung ließe sich zur Pflicht konkretisieren, strafrechtliche Sanktionen zu erlassen. In diese Richtung habe die Kommission formuliert: Was die materiellen Bestimmungen angehe, die mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar seien, so stehe fest, dass die Mitgliedstaaten nicht nur die Möglichkeit, sondern nach Art. 5 EWG-Vertrag sogar die Pflicht hätten, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, um die richtige Anwendung der Gemeinschaftsbestimmungen sicherzustellen.438
Dieser Konkretisierung folgte der Gerichtshof jedenfalls in der Rs. Amsterdam Bulb noch nicht. Vielmehr räumt er den Mitgliedstaaten umfassende Wahlfreiheit bei der Erfüllung der allgemeinen Pflicht aus Art. 10 EG ein. Somit verblieb auch das „Ob“ von strafrechtlichen Sanktionen und nicht lediglich das „Wie“ im Ermessen der Mitgliedstaaten. Damit ist der Aussage, die Entscheidung beträfe lediglich die Sanktionierungsbefugnis und etabliere noch keine derartige Pflicht, zuzustimmen. Zudem wird die umfassende Wahlfreiheit bereits in dieser Entscheidung unter den Vorbehalt gemeinschaftsrechtlicher Regelungen gestellt439. 436 Auch Satzger scheint dieser These unausgesprochen zu folgen, wenn er die Sanktionierungsbefugnis daneben mit EuGH, Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495, 1504 „Sagulo“ belegt, vgl. Satzger, S. 332. Dieselbe Rs. zieht er nämlich bereits zum Beleg der Vorgaben für rein nationales Strafrecht heran, vgl. Satzger, S. 301 und S. 302. 437 Gröblinghoff, S. 10; vgl. auch Pache, S. 242. 438 Wiedergegeben in EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137, 144 „Amsterdam Bulb“. 439 Vgl. auch GA Capotorti, in: EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137, 156 „Amsterdam Bulb“.
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(2) Das Postulat gemeinschaftsrechtlicher Mindesterfordernisse sowie der Gleichbehandlung Diese mitgliedstaatliche Wahlfreiheit grenzte der Gerichtshof erstmals in der Rs. Von Colson und Kamann ein. Dem Vorabentscheidungsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde. Die beiden Klägerinnen, Frau von Colson und Frau Kamann, waren aufgrund ihres Geschlechts bei der Besetzung von Sozialarbeiterstellen nicht berücksichtigt worden. Die RL 76/207/ EWG440 enthielt aber die Verpflichtung, Männer und Frauen hinsichtlich des Zugangs zum Beruf gleich zu behandeln. Die Frauen klagten auf Einstellung, hilfsweise auf Schadensersatz. Das Arbeitsgericht Hamm befand, dass ihnen nach geltendem deutschen Recht gem. § 611 a II BGB441 zivilrechtlich allein der Ersatz ihres Vertrauensschadens zustand, welcher in den Fahrtkosten bestand. Es legte deshalb die Frage vor, ob jene Rechtsfolge als ausreichende Umsetzung der Richtlinie angesehen werden könne, oder ob diese schärfere Sanktionen erfordere. Der EuGH befand zunächst hinsichtlich der Sanktion allgemein: „Sie muss [. . .] eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber haben.“442
Beschränkt auf die vorgesehene Entschädigung formuliert er später: „Es muss [. . .] betont werden, dass die Richtlinie 76/207 es zwar den Mitgliedstaaten überlässt, die Sanktion für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot unter den verschiedenen Möglichkeiten auszuwählen, die zur Verwirklichung des Ziels geeignet sind; entscheidet sich ein Mitgliedstaat jedoch dafür, als Sanktion für einen Verstoß gegen dieses Verbot eine Entschädigung zu gewähren, so muss diese jedenfalls, damit ihre Wirksamkeit und ihre abschreckende Wirkung gewährleistet sind, in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Schaden stehen und somit über einen rein symbolischen Schadensersatz [. . .] hinausgehen.“443
Das Urteil steht zunächst im Einklang mit dem entwickelten Vorbehalt gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben hinsichtlich der Sanktionierung. Derartige Vorgaben enthalte die Richtlinie nicht, überlasse diese vielmehr den 440 Vom 9.02.1976, ABlEG 1976, Nr. L 39, S. 40 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen. 441 Mittlerweile hat der deutsche Gesetzgeber die Norm unter Heranziehung der Rechtsprechung geändert. 442 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1908 „von Colson und Kamann“. 443 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1909 „von Colson und Kamann“; bestätigt durch EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 „Harz“; Rs. C-177/88, Slg. 1990, I-3941 „Dekker“; Rs. C-271/91, Slg. 1993, I-4367 „Marshall II“; Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195 „Draehmpaehl“.
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Mitgliedstaaten. Die zuvor postulierte umfassende Wahlfreiheit schränkt der Gerichtshof dann jedoch ein, indem er die auch in seiner Folgerechtsprechung immer wieder auftauchenden Kriterien der Wirksamkeit, Abschreckung und des angemessenen Verhältnisses entwickelt. Die Kriterien werden als Mindesterfordernisse eingesetzt, wobei sie aber wohl nicht isoliert, sondern aufeinander bezogen erörtert werden. Das Verhältnis zum Schaden sichert die Abschreckung und damit die Wirksamkeit. Bestanden hinsichtlich der Kriterien der Wirksamkeit und der Angemessenheit zumindest Zweifel, ob diese auch im strafrechtlichen Bereich Anwendung finden sollten444, so stellte der EuGH dies in dem leading case Griechischer Maisskandal445 klar. 1986 informierte die Kommission die belgischen Behörden, dass zwei aus Griechenland nach Belgien exportierte Schiffsladungen Mais entgegen ihrer Deklarierung nicht aus Griechenland, sondern aus Jugoslawien stammten. Doch wurde der belgischen Administration auf Rückfrage bei den griechischen Behörden die Richtigkeit der amtlichen Urkunden bestätigt, so dass weder in Griechenland noch in Belgien Agrarabschöpfungen bei der Einfuhr erhoben wurden446. Auf Nachforschung der Kommission bestätigte sich indes der Verdacht einer Herkunft aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die griechische Regierung wurde deshalb von der Kommission aufgefordert, hohe Beamte, die den Betrug durch Ausstellung falscher Urkunden und Abgabe falscher Erklärungen gedeckt hatten, zur Verantwortung zu ziehen. Die griechische Regierung reagierte hinhaltend, so dass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 226 EG einleitete und die Feststellung beantragte, dass Griechenland gegen seine Pflicht aus Art. 10 EG verstoßen habe, weil gegen die Verantwortlichen keine gerichtlichen Maßnahmen eingeleitet worden seien. Der EuGH entschied auf die Rüge der Kommission: „Enthält eine gemeinschaftsrechtliche Regelung keine besondere Vorschrift, die für den Fall eines Verstoßes gegen die Regelung eine Sanktion vorsieht, oder verweist sie insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, so sind die Mitgliedstaaten nach Art 5 EWG-Vertrag (jetzt Art. 10 EG) verpflichtet, alle 444
Vgl. Gröblinghoff, S. 11 f.; Satzger, S. 334. EuGH, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 „Griechischer Maisskandal“; seitdem st. Rspr, vgl. EuGH, Rs. 326/88, Slg. 1990, I-2911 „Hansen“; Rs. C-7/90, Slg. 1991, I-4371 „Vandevenne“; Rs. C-382/92, Slg. 1994, I-2435 „Kommission ./. Vereinigtes Königreich“; Rs. C-352/92, Slg. 1994, I-3385 „Milchwerke Köln/Wuppertal ./. Hauptzollamt Köln-Rheinau“; Rs. C-36/94, Slg. 1995, I-3573 „Siesse“; Rs. C-58/95, Slg. 1996, I-4345 „Strafverfahren gegen Gallotti“; Rs. C-177/95, Slg. 1997, I-1111 „Ebony Maritime SA“; Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195 „Draempaehl“; Rs. C-186/98, Slg. 1999, I-4883 „Strafverfahren gegen Nunes und de Matos“. 446 Mangels Erhebung und Abführung an die Gemeinschaft hatte Griechenland bereits gegen VO Nr. 2727/75, ABlEG 1975, Nr. L 281, S. 1 und VO Nr. 2891/77, ABlEG 1977, Nr. L 336, S. 1, verstoßen. 445
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geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, dass Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss. Außerdem müssen die nationalen Stellen gegenüber Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht mit derselben Sorgfalt vorgehen, die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften walten lassen.“447
Auch dieses Urteil übernimmt ausdrücklich den Vorbehalt besonderer gemeinschaftsrechtlicher Sanktionsvorgaben aus der Rs. Amsterdam Bulb. Daneben etabliert der EuGH durch ausdrückliche Übertragung aller in der Rs. Von Colson und Kamann gefundenen Kriterien in das Strafrecht eine sanktionsrechtliche Mindestgrenze für Verstöße gegen gemeinschaftliche Interessen. Zusätzlich stellt der Gerichtshof klar, dass der Mitgliedstaat daneben das gemeinschaftliche Gleichbehandlungsgebot zu beachten hat und im letzten Absatz, dass sämtliche Kriterien sowohl auf der Ebene der Androhung durch den Gesetzgeber als auch bei der Anwendung gelten. Im Ergebnis gilt daher nach der Rechtsprechung des EuGH, dass die Mitgliedstaaten vorbehaltlich einer besonderen gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe zu einer Sanktionierung verpflichtet sind, die das Gebot der Gleichbehandlung mit Verstößen gegen nationales Recht achtet und zudem jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ist. bb) Ursprung und Inhalt der gerichtlich entwickelten Mindesterfordernisse Nach der Darstellung der gerichtlichen Aussagen zu den Mindesterfordernissen mitgliedstaatlicher Sanktionierung im Dienste der Gemeinschaft sollen diese Rechtsprechungskriterien nun auf ihren Ursprung bzw. den genauen Inhalt untersucht werden. Vor dieser Überprüfung ist auf eine Parallelität hinzuweisen, die bei der Einordnung der einzelnen Kriterien hilfreich sein könnte. Bereits Satzger erkannte, dass die gefundenen Mindesterfordernisse den Kriterien vergleichbar sind, die für das mitgliedstaatliche Verfahrensrecht anerkannt sind448. Entsprechend den hier gefundenen Kriterien seien auch die Unterschiede zwischen den nationalen Verfahrensrechten beim jetzigen Stand des Ge447 448
EuGH, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 f. „Griechischer Maisskandal“. Vgl. Satzger, S. 341 ff. mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen.
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meinschaftsrechts hinzunehmen, liege doch die Kompetenz allein bei den Mitgliedstaaten. Dennoch existierten gemeinschaftliche Grenzen in Form von Mindeststandards. Die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten dürfen nicht darauf hinauslaufen, dass die Verwirklichung der Gemeinschaftsregelung praktisch unmöglich wird (Effizienzgebot). Daneben ist das nationale Recht im Vergleich zu Verfahren, in denen über gleichartige, rein nationale Fälle entschieden wird, ohne Diskriminierung anzuwenden (Diskriminierungsverbot)449. Die sinngemäße Übertragung dieser Maßstäbe auf die mitgliedstaatlichen Sanktionen im Dienste der Gemeinschaft überrascht nicht, ist doch die Gemeinschaft infolge mangelnder kriminalstrafrechtlicher und verfahrensrechtlicher450 Rechtsetzungskompetenz in beiden Fällen eine „Gestalt ohne Arme“451 und kann man die Sanktionierung als das „letzte Stadium“452 des Vollzugs bezeichnen. Vor dieser Parallelität der Maßstäbe soll nun die Berechtigung der Heranziehung jener Kriterien sowie deren konkreter Inhalt ermittelt werden. (1) Der Vorbehalt gemeinschaftsrechtlicher Sanktionen oder die Existenz eines Verweises auf das nationale Recht Zunächst gerät dabei die Formulierung in den Blick des Interpreten, welche die Sanktionsbefugnis der Mitgliedstaaten unter den Vorbehalt zu stellen scheint, dass das Gemeinschaftsrecht keine Sanktionen vorsieht oder auf nationales Recht verweist: „Enthält eine gemeinschaftsrechtliche Regelung keine besondere Vorschrift, die für den Fall eines Verstoßes gegen die Regelung eine Sanktion vorsieht, oder verweist sie insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, so sind die Mitgliedstaaten [. . .] verpflichtet, [. . .]“453
Unproblematisch wäre, im einleitenden Sinne interpretiert, die mitgliedstaatliche Sanktionsbefugnis gegeben, sofern keine gemeinschaftlichen Sanktionen vorgesehen sind. Darüber hinaus wären auch die Fälle problemlos zu bejahen, in denen – gleich, ob Sanktionen gemeinschaftsrechtlich vorgesehen sind oder nicht – ausdrücklich auf nationales Recht verwiesen wird. Ein Problem ergäbe sich hingegen, wenn gemeinschaftsrechtliche Sanktionen angedroht werden würden, ohne dass zusätzlich ein Verweis auf 449 Z. B. EuGH, Rs. C-255/00, Slg. 2002, I-8003 Rn. 33 „Grundig“; Streinz, Europarecht Rn. 483 f. 450 Bleckmann, Europarecht Rn. 725 m. w. N. 451 Satzger, S. 328. 452 Blanquet, S. 54. 453 EuGH, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 „Griechischer Maisskandal“; vgl. aber auch die vorgehenden Ausführungen in EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137, 150 „Amsterdam Bulb“; Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1909 „von Colson und Kamann“.
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nationales Recht vorläge. Eine streng an den Worten des EuGH orientierte Auslegung könnte dazu gelangen, dass jede in einer gemeinschaftsrechtlichen Norm vorgesehene Sanktion, sei sie auch bloß verwaltungsrechtlichen Charakters, weitergehende mitgliedstaatliche Sanktionierungen ausschlösse. Für ein solches Verständnis könnte argumentiert werden, der Gemeinschaftsgesetzgeber habe durch Normierung verwaltungsrechtlicher Sanktionen die Entscheidung getroffen, eine solche Sanktionierung genüge den übrigen Kriterien der Wirksamkeit, Abschreckung und Angemessenheit. Ihm komme dabei angesichts des zu schützenden Interesses die Einschätzungsprärogative zu. Wolle er weitere nationale Sanktionsbefugnisse offen halten, sei ein ausdrücklicher Verweis erforderlich. Dagegen spricht indes die nur begrenzte Sanktionierungsbefugnis des Gemeinschaftsgesetzgebers, so dass allein aus der Existenz gemeinschaftsrechtlicher Sanktionsvorgaben nicht auf einen bewussten Verzicht auf zusätzliche nationale Strafsanktionen geschlossen werden kann. Eine Lösung muss im Wege der Auslegung der in Rede stehenden Norm herbeigeführt werden. Schließlich kann die Normierung von gemeinschaftsrechtlichen Sanktionen nicht nur die Etablierung abschließender Sanktionen bedeuten, vielmehr kann der Gemeinschaftsgesetzgeber an die Grenzen seiner gemeinschaftsrechtlichen Sanktionierungsbefugnis geraten, obwohl trotzdem ein weitergehendes Bedürfnis nach mitgliedstaatlichen Sanktionen besteht. Gröblinghoff meint, sobald gemeinschaftsrechtliche Sanktionen abschließend gemeint seien, dürfe der nationale Gesetzgeber darüber nicht hinausgehen. Dies sei durch Auslegung zu ermitteln.454 Satzger verlangt zusätzlich, dass die EG abschließende Sanktionsregelungen vorsehen dürfe. Bestehe eine gemeinschaftsrechtliche Sanktion, so richte sich die mitgliedstaatliche Sanktionierungspflicht danach, ob die gemeinschaftsrechtlichen Sanktionen bereits ausreichen, um die Wirksamkeit und Geltung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.455
Die Ansicht Gröblinghoffs trifft zu. Soll das von Satzger eingeführte Kriterium dagegen dazu führen, dass der nationale Normgeber immer prüft, ob die Wirksamkeit der gemeinschaftlichen Regelung gegeben ist, so überzeugt dies nicht. Er prüfte dann die Rechtmäßigkeit der gemeinschaftlichen Rechtsetzung, konkret die Rechtmäßigkeit einer Totalharmonisierung am Maßstab des Art. 10 EG. Es liegt jedoch nicht in der Kompetenz des nationalen Gesetzgebers, die Rechtmäßigkeit gemeinschaftlichen Handelns zu überprüfen. Schließlich gilt hinsichtlich des Sekundärrechts, dass dieses auch im Falle seiner Rechtswidrigkeit wirksam und von den Mitgliedstaaten zu beachten ist. 454 455
Gröblinghoff, S. 20 f. Satzger, S. 353 f.
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Angezeigt ist vielmehr eine zweistufige Prüfung. Zunächst ist durch Auslegung zu ermitteln, ob die gemeinschaftliche Norm abschließend gemeint war. Setzt man aber voraus, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber seine Interessen wirksam geschützt wissen will, so wird sich ein solches Ergebnis im Falle offenen Wortlauts freilich nur finden lassen, wenn die Sanktion wirksam ist. Dennoch bleibt die Wirksamkeit bloßes Indiz für eine abschließende Regelung. Der abschließende Charakter ist unter Heranziehung sämtlicher Auslegungsmethoden zu ermitteln und beim ausdrücklichen Verweis auf nationale Normen zwingend zu verneinen. Diese methodengerechte Interpretation berücksichtigt auch die Einschätzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers hinreichend. Erst im Anschluss an die Verneinung einer Totalharmonisierung in Bezug auf die Sanktionen, stellt sich die Frage, ob weitere strafrechtliche Maßnahmen erforderlich sind, um die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Bei genauer Betrachtung ergibt sich aus der Formulierung des EuGH mithin keine Besonderheit für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. Es handelt sich lediglich um einen Hinweis auf die auch für rein nationales Strafrecht existierende Obergrenze eines abschließenden Gemeinschaftsrechtsakts. Dieser Charakter ist durch eine methodengerechte Auslegung des gemeinschaftlichen Rechtsaktes zu ermitteln. Die gerichtliche Formulierung steht im Einklang mit dieser Interpretation, wenn man die Möglichkeit des Verweises auf nationales Recht nicht auf ausdrückliche Verweise beschränkte, sondern auch konkludente Verweise zuließe. Diese wären durch Auslegung der Gemeinschaftsnorm zu ermitteln und lägen im Falle nicht abschließenden Charakters des Sekundärrechts vor456. Nur in dieser Interpretation ist der Rechtsprechung zuzustimmen. (2) Die Mindesterfordernisse: wirksam, verhältnismäßig und abschreckend Die weitere Formulierung in der Rs. Griechischer Maisskandal stellt zunächst die allgemeine aus Art. 10 EG fließende Verpflichtung der Mitgliedstaaten in den Blickpunkt: „[. . .] so sind die Mitgliedstaaten nach Art. 5 EWG-Vertrag (jetzt Art. 10 EG) verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten.“
Damit bestätigt sich die oben gefundene Parallele zum Verfahrensrecht, denn auch an dieser Stelle fließt das Gebot der Effektivität aus Art. 10 EG. Satz 1 des Absatzes 1 begründet für die Mitgliedstaaten eine Handlungs456 I. E. so auch Gröblinghoff, S. 21, der herausstellt, ein Verweis auf nationales Recht könne ohnehin nur klarstellende Funktion haben.
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pflicht, nämlich die Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben, zu treffen. Die Heranziehung des Art. 10 EG ist funktional begründet, trägt sie doch allgemein dem Umstand Rechnung, dass die Gemeinschaft sowohl rechtlich als auch tatsächlich auf die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten angewiesen ist. Sie bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaat und setzt die quasi-föderale Struktur der Gemeinschaft um. „Mit der Einrichtung der Union als eines neuen und auf Dauer angelegten Hoheitsträgers, dem die Wahrung zahlreicher Gemeinwohlinteressen überantwortet ist, folgt das Gebot ihrer Funktionsfähigkeit. Dies verlangt [. . .] die effektive und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Stellen, da das Recht das maßgebliche Instrument zur Realisierung der Gemeinwohlinteressen ist.“457 Die Mitgliedstaaten haben mit Ratifikation der Verträge die Pflicht übernommen, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts in ihrem Hoheitsgebiet zu gewährleisten. Das konkrete Mittel, die Einhaltung gemeinschaftlicher Normen sicherzustellen, ist in diesem Kontext die Androhung und Verhängung von Sanktionen, so dass der EuGH den abstrakten Normbefehl des Art. 10 EG konkretisierte: „Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, dass Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss.“
Sanktionen erfüllen eine normbildende und -sichernde Funktion und dienen damit der Pflicht aus Art. 10 EG, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu sichern458. Dieser Funktion genügen sie aber nur, wenn sie wirksam sind. Wirksamkeit ist eine zielbezogene Voraussetzung, die eine Erreichung des Ziels mithin der dargestellten Normsicherung verlangt. Die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts, in concreto der bewehrten gemeinschaftsrechtlichen Verhaltensnorm, wird aber nur erzielt, wenn die Sanktion abschreckend wirkt, d.h. Normverstöße vermeidet. Nur im Falle der abschreckenden Wirkung erfüllen Sanktionen ihre spezial- und generalpräventive Funktion und sind damit wirksam. Damit steht zunächst fest, dass die 457 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 7; der EuGH versteht den Art. 10 EG daher als Ausdruck des Loyalitätsprinzips, vgl. Rs. 14/88, Slg. 1989, 3677, 3706 „Italien ./. Kommission“. 458 Vgl. zur Pflicht aus Art. 10 EG gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen oder gemeinschaftliche Rechtsgüter durch nationale Strafvorschriften zu schützen: Johannes, EuR 3 (1968), 63, 107; Jescheck, Maurach-FS, 579, 628; Pache, S. 239 ff.
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Wirksamkeit bloß eine andere Umschreibung der direkt aus Art. 10 EG fließenden Zielvorgabe der Effektivität ist, während das Kriterium der abschreckenden Wirkung, diese Zielvorgabe im Hinblick auf die Sanktionen weiter konkretisiert459. Beide Vorgaben fließen direkt aus Art. 10 EG. Soll diese abschreckende Wirkung und damit die Sicherung der Einhaltung der bewehrten Gemeinschaftsnorm erzielt werden, so ist es erforderlich, dass die Sanktion in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat steht. Diese Feststellung erhellt, dass die Erfordernisse der Wirksamkeit, Abschreckung und Angemessenheit hier denselben Aspekt beleuchten, wobei die Wirksamkeit den Oberbegriff bildet, während die abschreckende Wirkung und die Verhältnismäßigkeit weitere Konkretisierungen dieser Vorgabe enthalten. Sämtliche der vom EuGH postulierten Erfordernisse fließen damit bereits aus Art. 10 EG, so dass es diesbezüglich keines Rückgriffs auf das allgemeine Prinzip der Verhältnismäßigkeit bedarf. In eine ähnliche Richtung argumentiert Satzger: „In Bezug auf die Forderung des EuGH nach verhältnismäßigen Sanktionen wurde im Verlauf der Untersuchung bereits festgestellt, dass dieses Erfordernis – soweit es aus Art. 10 EG abgeleitet wird – die Bedeutung einer Untergrenze für den nationalen Gesetzgeber hat. Die hier angesprochene Verhältnismäßigkeit ist insbesondere nicht identisch mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit: Dieser [. . .] hat damit – wie gesehen – die Bedeutung einer Obergrenze für nationale Sanktionen zur Durchführung von Gemeinschaftsrecht, indem er den Konflikt zwischen Grundfreiheiten des einzelnen und den Zielen der Gemeinschaft ausgewogen auflöst. Demgegenüber ist die Verhältnismäßigkeit der Sanktion als Untergrenze im Sinne einer Angemessenheit zu verstehen und sollte deshalb auch so bezeichnet werden. Der Mitgliedstaat darf also keine Maßnahme treffen, die dem Grad der Rechtsverletzung nicht zumindest entspricht, wobei sich die Schwere der Zuwiderhandlung nach dem Gewicht des verletzten Rechtsguts, der Art des Verstoßes und des gesamten Verhaltens des Täters bestimmt.“460
Die Ausführungen Satzgers treffen weitgehend zu, doch stellt die Angemessenheit keine zusätzliche eigenständige Untergrenze dar461. Indem er die Schwere der Zuwiderhandlung usw. in die Abwägung einstellt, eruiert er mit der „mindestens erforderlichen Strafdrohung“ verdeckt, ob die Wirksamkeit der Sanktion, also die Geeignetheit zur Normerhaltung vorliegt. Der Verhältnismäßigkeit kommt gegenüber der Wirksamkeit und der Abschreckung keine losgelöste Bedeutung zu, ist vielmehr eine Ausprägung des Effizienzgebots, konkretisiert im Hinblick auf die Sanktionen. 459
So auch Satzger, S. 368; gezwungen erscheint dagegen die Unterscheidung Gröblinghoffs, S. 25 f., der meint, Wirksamkeit beschreibe Spezial- und positive Generalprävention, während Abschreckung die negative Generalprävention meine. 460 Satzger, S. 371 f. 461 So aber Satzger, S. 371 f., insbesondere stellen seine nachfolgenden Beispiele gleichheitsrechtliche Erwägungen dar.
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Satzger meint außerdem: „Allerdings bedeutet Wirksamkeit mehr als nur Geeignetheit. Daher ist weiter zu fordern, dass die Sanktion auch tatsächlich dazu beiträgt, die Ziele der zu schützenden gemeinschaftsrechtlichen Regelung zu verwirklichen.“462
Mag diese Stellungnahme im Ergebnis auch überzeugen, so übersieht der Vergleich zur Geeignetheit, die Zielbezogenheit dieses Erfordernisses. Das Ziel der zu überprüfenden mitgliedstaatlichen Sanktionierungsmaßnahme wird durch Art. 10 EG mit der wirksamen Durchsetzung einer gemeinschaftlichen Primärnorm vorgegeben. Insoweit greift dann auch die Geeignetheit weiter. Bereits die genaue Interpretation des Effektivitätsprinzips ergab also, dass ein Rückgriff auf das allgemeine Rechtsprinzip der Proportionalität nicht erforderlich ist. Betrachtet man zudem die Funktion einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, so wird deutlich, dass eine solche für die Entwicklung von Mindesterfordernissen nicht ertragreich wäre. Zwar ist eine funktional beschränkte, mittelbare Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze in dieser durch Art. 10 EG begründeten Durchführungskonstellation im Wege systematischer Interpretation zu bejahen463, doch lässt sich aus dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip kein Mindesterfordernis entwickeln. Satzger weist darauf hin, dass dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip die Bedeutung einer Obergrenze beizumessen sei. Diese Aussage deutet zwar in die richtige Richtung. Klarzustellen ist jedoch, dass die Proportionalität nie eine Obergrenze aus eigenem Regelungsgehalt schafft. Das Prinzip fungiert allein als Moderator kollidierender Rechtsgüter und dient dazu, diese zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu führen. Die eigentlichen Obergrenzen für die staatlichen Eingriffsinteressen entfalten einzig die Rechte der Rechtsunterworfenen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip fungiert als Scharnier und verfolgt die Ermittlung von Maßnahmen geringerer Eingriffsintensität. Enthält das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinzip mit der Geeignetheit bzw. der Erforderlichkeit zwar Mindestgrenzen, die der hier in Rede stehenden Prüfung ähneln, so kommt ihm dennoch nie eine zum staatlichen Eingriff verpflichtende Kraft zu. Es fußt vielmehr auf der Grundannahme, dass die Hoheitsgewalt ihre Interessen ohnehin wirksam wahrnehmen werde und diese deshalb im Interesse der Rechtsunterworfenen zu zügeln sei. Gerade dieses hoheitliche Interesse stellt hier aber wegen der gespaltenen Hoheitsgewalt das Problem dar, so dass das allgemeine Rechtsprinzip der Proportionalität hier nicht weiterführt. Festzuhalten bleibt, dass sämtliche gefundenen Mindesterfordernisse verschiedene Konkretisierungsstufen des aus Art. 10 EG fließenden Effektivi462 463
Satzger, S. 368. Dazu noch unten 1. Teil C. II. 1. a) cc) (2).
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tätsgebots464 darstellen, während ein Rückgriff auf das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinzip hinsichtlich der Mindesterfordernisse nicht weiterführt. Dem Vorschlag Satzgers, die hier in Rede stehende Mindestanforderung deshalb bereits in seiner Bezeichnung zu unterscheiden, ist zuzustimmen. Der vorgeschlagene Begriff der Angemessenheit465 überzeugt insoweit allerdings nicht, bezeichnet er doch z. T. die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bzw. wird als Hinweis auf die Geltung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips interpretiert. Es ist demnach anzuraten, von derartigen Schlagworten abzusehen, vielmehr stets den genauen Inhalt der vorzunehmenden Effektivitätsprüfung zu bezeichnen: Effektiv ist eine Sanktionierung dann, wenn sie die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Primärnorm sichert, wobei das Gewicht des geschützten Interesses und die Angriffsintensität zu beachten sind. Relevant sind also sowohl das Ziel der Sanktionierung als auch die Schwere des Verstoßes466. Dies beschreibt indes lediglich die erste Komponente der Entscheidung, welche Sanktion angemessen ist, indem man sich auf die verletzten Rechtsgüter konzentriert. Jede Entscheidung über eine angemessene Sanktion nimmt aber automatisch die Rechtsgüter des Delinquenten in den Blick und setzt ihre Beeinträchtigung durch die Sanktion mit den hoheitlichen Interessen in Relation. Mag man verdeckt hier auch ähnliche Erwägungen wie beim allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip anstellen, so verbleibt es bei dem gefundenen Ursprung der verpflichtenden Kriterien in Art. 10 EG. Sowohl die gesetzliche Androhung als auch die Verhängung und der Vollzug der Sanktionen durch die rechtsanwendenden Behörden hat diese aus Art. 10 EG entwickelten Mindesterfordernisse um der Funktionsfähigkeit der Union willen zu beachten467. Letztlich ist darauf hinzuweisen, dass sich die Wirksamkeit einer mitgliedstaatlichen Sanktion gemeinschaftsrechtlich nur schwer überprüfen lässt468. Zum einen ist eine Effektivität von Sanktionsdrohungen hinsicht464 Vgl. auch die Formulierung des Art. 280 I EG, der hinsichtlich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft mitgliedstaatliche Maßnahmen verlangt, „die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten einen effektiven Schutz bewirken.“ 465 Satzger, S. 346. 466 I. E. so wohl auch Gröblinghoff, S. 26, der allerdings die Prüfung künstlich nach den einzelnen EuGH-Kriterien aufspaltet. 467 Vgl. zur Bindung der innerstaatlichen Behörden v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 24. 468 In dem Vertragsverletzungsverfahren EuGH, Rs. C-58/02, Slg. 2004, I-621 „Kommission ./. Spanien“ ging es um die Verletzung der deklaratorisch in Art. 5 I RL 98/84/EG wiedergegebenen Erfordernisse „wirksam, abschreckend und der potentiellen Wirkung der Zuwiderhandlung angemessen“.
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lich ihrer Präventionswirkung bis heute kaum anhand verlässlicher Kriterien messbar469, so dass sich bereits rein national kaum eine Aussage treffen ließe. Zum anderen setzt die Beurteilung dieser Wirksamkeit eine umfassende Kenntnis der nationalen Strafrechtsordnung mit seinen gesamten Einflussfaktoren470 voraus. Eine solche Beurteilung wird vom EuGH nur in Grenzen zu leisten sein. In der Konsequenz der aufgezeigten Probleme liegt es, wenn die Wirksamkeit als gemeinschaftsrechtlicher Rahmenbegriff ausgestaltet ist, bei dessen Konkretisierung dem nationalen Rechtsanwender ein erheblicher Beurteilungsspielraum zugestanden werden muss471. Trotz der beschriebenen Zurückhaltung bleibt dieser Rahmen aber gemeinschaftsrechtlich überprüfbar. (3) Gleichbehandlungsgebot Wenden wir uns nunmehr dem letzten Rechtsprechungskriterium, nämlich dem Gebot der Gleichbehandlung, zu. Der EuGH führt aus: „[. . .] die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, (müssen) namentlich darauf achten, dass Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, [. . .]. Außerdem müssen die nationalen Stellen gegenüber Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht mit derselben Sorgfalt vorgehen, die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften walten lassen,“472.
Es wird vertreten, auch dieses Gleichbehandlungsgebot sei ein aus Art. 10 EG „abgeleitetes“473 Kriterium: „Als Rechtsgrundlage für das Gleichstellungserfordernis und die Mindesttrias kommt insbesondere Art. 5 I 1 EGV (jetzt: Art. 10 EG) in Betracht.“474
Diese These wird nicht weiter begründet und trifft bei genauer Betrachtung nicht zu. Art. 10 EG verpflichtet die Mitgliedstaaten lediglich alle Maßnahmen zu treffen, die zur Erfüllung der vertraglichen oder sich aus dem Sekundärrecht ergebenden Verpflichtungen geeignet sind. Er oktroyiert allein das Gebot der Zielerreichung, welches in der Erfüllung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten besteht. Vorgaben darüber, wie jenes Ziel zu erreichen ist, insbesondere die Frage, wie das nationale Recht vergleich469
Tiedemann, NJW 1993, 23, 26. Satzger, S. 369 unter Hinweis auf die allgemeinen Ausführungen bei Kaiser, Kriminologie, S. 73 ff.; Albrecht, Kriminologie, S. 62 f. 471 Gröblinghoff, S. 37; Satzger, S. 369; Tiedemann, NJW 1993, 23, 26. 472 EuGH, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 „Griechischer Maisskandal“. 473 So hinsichtlich der Untergrenze Satzger, z. B. S. 345, 346, 364. 474 Gröblinghoff, S. 30, vgl. auch Zuleeg, in: GTE, Art. 5 Rn. 3; Pache, S. 241 ff. 470
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bare Verstöße gegen nationales Recht behandelt, finden in Art. 10 EG keine Erwähnung. Mit der gerichtlichen Formulierung gerät vielmehr eine vertragliche Pflicht des Gemeinschaftsrechts in den Blickpunkt des Interpreten, die zwar effektiv in den Mitgliedstaaten umzusetzen ist – insoweit gilt Art. 10 EG. Das Gebot der Gleichbehandlung fließt selbst aber nicht aus Art. 10 EG, sondern hat in verschiedenen Normen des Gemeinschaftsrechts seinen Niederschlag bzw. eine Ausprägung gefunden. So enthalten die Grundfreiheiten, allgemein der Art. 12 EG sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze Gebote der Gleichbehandlung. Während die Grundfreiheiten spezielle Diskriminierungsgebote für den grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verkehr gewähren, gilt Art. 12 EG in gemeinschaftsrechtlich determinierten Bereichen umfassend. Jene Normen verbieten jede direkte oder indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Die hier verglichenen Sachverhalte betreffen aber nicht die Ungleichbehandlung von Personen oder Waren aufgrund der Staatsangehörigkeit oder anhand von Kriterien, die dem gleichkommen. Der EuGH postuliert vielmehr, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts gleich dem nationalen Recht zu sichern. Anknüpfungspunkt sind hier nicht die Rechtsunterworfenen, sondern das Recht selbst. Weder die Grundfreiheiten noch Art. 12 EG sind diesbezüglich einschlägig, so dass der allgemeine Gleichheitssatz des Gemeinschaftsrechts auflebt. Anders als die speziellen Diskriminierungsverbote erfasst er nicht nur Ungleichbehandlungen anhand bestimmter verbotener Differenzierungskriterien, sondern verbietet verkürzt formuliert jegliche Ungleichbehandlung von Gleichem bzw. jede Gleichbehandlung von Ungleichem. Es handelt sich um ein Willkürverbot, welches einer umfassenden Rechtfertigung zugänglich ist. Entsprechend den oben zur Überprüfbarkeit der Wirksamkeit der Sanktionierung getroffenen Aussagen handelt es sich auch bei der Beantwortung der Frage, welche Verstöße gegen rein nationales Recht „gleichartig“ im Sinne der Rechtsprechungsformel sind, um einen Bewertungsakt. Dieser verlangt ebenfalls eine umfassende Kenntnis der nationalen Rechtsordnung mit sämtlichen Einflussfaktoren. Im Einklang mit dieser Aussage steht es folglich, auch diesen Begriff als gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbegriff anzusehen, dessen nähere Konkretisierung dem nationalen Gremium obliegt. Gemeinschaftsrechtlich können dem nationalen Rechtsanwender lediglich einzelne Kriterien vorgegeben werden, wie eine solche Gleichartigkeitsprüfung vorzunehmen ist. Allein im Falle eines Verstoßes gegen jene Rahmenkriterien liegt ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vor. Im Hinblick auf die Sanktionierung kann den von Gröblinghoff entwickelten Leitlinien gefolgt werden:
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
„Verstöße gegen nationales Recht und gegen Gemeinschaftsrecht sind also dann gleicher Art, wenn die Regelungen dasselbe Rechtsgut betreffen. [. . .] Gleicher Art sind die Verstöße aber auch dann, wenn ein vergleichbares Rechtsgut beeinträchtigt wird. Vergleichbar sind Rechtsgüter dann, wenn sie im Rahmen des Gemeinschaftsrechts eine ähnliche Funktion haben wie im nationalen Recht. [. . .] Gleicher Schwere ist ein Verstoß dann, wenn die Gefährdung oder Beeinträchtigung des einschlägigen Interesses ähnlich intensiv ist.“475 „Liegt ein sachlicher Grund vor, so kann ein Mitgliedstaat jedoch auch unterschiedliche Sanktionsregelungen treffen. Dies entspricht der generellen Ausnahme beim allgemeinen Gleichheitssatz als allgemeinen Rechtsgrundsatz des EG-Rechts [. . .] und folgt für die Sanktionsverpflichtung insbesondere auch aus der aufgezeigten Parallele zum Vollzug von Gemeinschaftsrecht, wo der EuGH ausdrücklich die Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung erwähnt.“476
Damit sind die beiden Gehalte des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots in Bezug auf die Sanktionsverpflichtung konkretisiert, welches nämlich zum einen Gleichbehandlung von Gleichem, zum anderen die Ungleichbehandlung von Ungleichem gebietet, wobei eine unterschiedliche Behandlung die Unterschiede der behandelten Sachverhalte zu beachten hat. Auch der Aspekt gebotener Ungleichbehandlung setzt trotz der bestehenden Unterschiede aber eine gewisse Vergleichbarkeit der Sachverhalte voraus. Außerhalb dieser Komparabilität trifft der Gleichheitssatz keine Vorgaben für die mitgliedstaatliche Sanktionierung, so dass dann allein die Effektivität maßgebend ist. cc) Berechtigung der gerichtlich entwickelten Mindesterfordernisse Dienten die vorstehenden Ausführungen noch dazu, den Ursprung und Inhalt der gerichtlich entwickelten Mindesterfordernisse herauszuarbeiten, gilt es nun zu prüfen, ob die Heranziehung dieser Maßstäbe berechtigt ist. Hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Sanktionierungsbefugnis ist dies problemlos zu bejahen. Bereits bei der Analyse ihres Ursprungs wurde herausgestellt, dass diese Vorgabe lediglich eine Anwendung der bereits für das nationale Strafrecht angewendeten Obergrenze darstellt, wonach jede gemeinschaftsrechtswidrige Maßnahme zu unterbleiben hat. Im Falle des abschließenden Charakters eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes widerspricht jegliche mitgliedstaatliche Erweiterung der Sanktionierung durch Modifizierung der Primär- oder Sanktionsnorm dieser Aussage. Zusätzlich konnte die vorstehende Analyse aber verpflichtende Mindestkriterien entwickeln, deren Berechtigung genauer zu beleuchten ist. 475 476
Gröblinghoff, S. 24; Satzger, S. 364 ff. Satzger, S. 367.
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(1) Keine Kompetenzanmaßung der Gemeinschaft im strafrechtlichen Bereich Hinsichtlich des Gebots wirksamer, abschreckender und verhältnismäßiger Sanktionierung konnte dargestellt werden, dass es sich um verschiedene Konkretisierungsstufen des allgemeinen aus Art. 10 EG fließenden Effektivitätsgebots handelt, während das Gebot der Gleichbehandlung die Anwendung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Gemeinschaftsrechts darstellt. Fraglich ist indes, ob der EuGH sich bei der Entwicklung jener Vorgaben noch im Rahmen seiner Kompetenz bewegt. Dem EuGH kommt grundsätzlich die Befugnis zu, die Verträge auszulegen, was die Kompetenz beinhaltet, rechtsfortbildend tätig zu werden. Wie jedes Organ hat jedoch auch der Gerichtshof die Grenze zur Vertragsänderung zu achten. Im Ergebnis darf seine Interpretation also nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen. Zunächst ist klarzustellen, dass Art. 10 EG Grundlage solcher Pflichten bilden kann, weil er eigene Rechte und Pflichten enthält, die interpretatorisch zu entwickeln sind477. Eine Vertragserweiterung läge aber trotzdem vor, wenn die aus Art. 10 EG abgeleiteten Pflichten eine Verlagerung der Kompetenz, Kriminalstrafrecht zu erlassen, darstellte. Diese liegt bei den nationalen Organen. Die Rechtsetzungsbefugnis verbleibt aber auch im Falle der Anwendung jener Kriterien jedenfalls formal bei den Mitgliedstaaten. Widersprechen die nationalen Strafgesetze den Vorgaben des Art. 10 EG, so bleiben sie infolge des Fehlens eines Geltungsvorrangs gültig. Sie sind lediglich im konkreten Fall unanwendbar und dies auch nur, wenn die Pflicht aus Art. 10 EG die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit erfüllt. Der Mitgliedstaat setzt sich lediglich der Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226, 227 EG aus, welches allerdings auf bloße Feststellung der Gemeinschaftswidrigkeit zielt sowie u. U. in der Verhängung eines Zwangsgeldes gipfelt, Art. 228 II EG. Eine formale Kompetenzverlagerung ist in der Entwicklung der Sanktionierungspflichten nicht zu erblicken. Dem Mitgliedstaat verbleibt die alleinige Rechtsetzungshoheit. Die Gemeinschaftsorgane können mitgliedstaatliches Handeln niemals ersetzen. Eine Kompetenzverlagerung wäre auch dann zu bejahen, wenn aus Art. 10 EG derart detaillierte Pflichten für den nationalen Gesetzgeber erwüchsen, 477 Insbesondere die Verkürzung auf den Grundsatz „pacta sunt servanda“ überzeugt nicht, vgl. allgemein Bleckmann, Europarecht, S. 169 ff.; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 6 ff.; Zuleeg, in: GTE, Art. 10 Rn. 2; in diesem Kontext Gröblinghoff, S. 31; Pache, S. 239 sowie Heise, S. 92 f. im Hinblick auf die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
dass dieser bloß noch formal ausführendes Organ einer vorherbestimmten Entscheidung wäre. Ein solches Ergebnis wird durch die Vorgaben des Art. 10 EG indes nicht erzielt. Die Vorgaben wirksamer Sanktionierung mit ihren Konkretisierungen und das Gleichbehandlungsgebot sind als gemeinschaftsrechtliche Rahmenbegriffe ausgestaltet, die nur die äußere Grenze markieren. Innerhalb dieser Grenzen kommt dem Mitgliedstaat erheblicher Beurteilungsspielraum zu. Zudem wird den Mitgliedstaaten mit dem Wirksamkeitserfordernis zunächst nur eine Zielvorgabe oktroyiert, während der Weg der Zielerreichung in ihrer Entscheidungshoheit verbleibt. Natürlich kann jene Mindestvorgabe aber nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur im Zusammenspiel mit dem Gleichstellungserfordernis. Schränkt dieses den mitgliedstaatlichen Spielraum zwar ein und schreibt auf den ersten Blick Gleichbehandlung als feste Vorgabe vor, so ist auch hier auf die Natur der Rahmenbegriffe, welche einen mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraum gewähren, hinzuweisen. Letztlich ist herauszustellen, dass Gleichbehandlung stets in Abhängigkeit von der Behandlung rein nationaler Verstöße gefordert wird. Die ursprüngliche Entscheidung, wie derartige Verstöße zu sanktionieren sind, verbleibt daher beim Mitgliedstaat. Ebenso steht ihm uneingeschränkt die Möglichkeit offen, die nationale Strafrechtsnorm für nationale und damit auch für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht abzuändern. Hinsichtlich der Gemeinschaftsrechtsverstöße hat er auch bei solchen Änderungen stets das Wirksamkeitserfordernis zu beachten und eventuell abweichend zu sanktionieren. Eine formale oder faktische Kompetenzanmaßung der Gemeinschaft im kriminalstrafrechtlichen Bereich kann im Ergebnis durch die Vorgaben des Art. 10 EG nicht festgestellt werden478. (2) Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze Die Analyse der Rechtsprechungskriterien konnte bereits erhellen, dass Art. 10 EG eben nur eine Zielvorgabe der Effektivität enthält, die sich weiter konkretisieren lässt, jedoch keinen Vergleich zur Behandlung nationalen Rechts anstellt. Insoweit stand fest, dass das Gebot der Gleichbehandlung nicht aus Art. 10 EG stammen konnte. Aufgrund seines Anknüpfungspunktes der Behandlung nationalen Rechts waren auch die speziellen Diskriminierungsverbote des Vertrages nicht einschlägig, so dass einzig die allgemeinen Rechtsgrundsätze Quelle der Gleichstellungsvorgabe sein konnten. Dieser Maßstab des allgemeinen Gleichheitsrechts führte zwar zu einer wünschenswerten Einpassung in das kohärente nationale Strafrechtssystem und griffe nicht zu sehr in den Ermessensspielraum des nationalen Strafgesetzgebers ein. Dennoch bleibt zu überprüfen, inwieweit die allgemeinen 478
Vgl. zum Ganzen bereits Gröblinghoff, S. 30 ff.; Satzger, S. 376 ff.
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Rechtsgrundsätze in dieser Konstellation, in der Gemeinschaftsrecht durch nationales Strafrecht sanktioniert wird, überhaupt Anwendung finden können. Schließlich handeln hier mitgliedstaatliche Organe, die primär ihrem nationalen Grundrechtsregime bzw. den nationalen rechtsstaatlichen Gewährleistungen unterliegen. Fraglich ist deshalb, inwieweit die Mitgliedstaaten bzw. ihre Organe an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Der Europäische Gerichtshof vertritt zur Bindung der Mitgliedstaaten die Formel, dass eine nationale Regelung, die in den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ fällt, auf ihre Vereinbarkeit mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu prüfen sei479. Eine mitgliedstaatliche Bindung bestehe daher in zwei Fällen. Zum einen seien die Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gebunden, wenn sie sich auf grundfreiheitliche Ausnahmetatbestände berufen480. Zum anderen bestehe eine Bindung der mitgliedstaatlichen Organe bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Rechtsvorschriften481. Mit dem Erlass einer gemeinschaftlichen Norm erwächst das Gebot, ihre Einhaltung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten werden somit durch Art. 10 EG zur Sanktionierung verpflichtet und befinden sich in einer Durchführungskonstellation, in der sie die allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze zu beachten haben482. Der EuGH formulierte im sanktionsrechtlichen Kontext in der Rs. Siesse, dass „[. . .] die Mitgliedstaaten [. . .] befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht und seine allgemeinen Grundsätze [. . .] zu beachten.“483 In der Rs. Kremzow lehnt er eine Bindung an die allgemeinen Rechtsgrundsätze ab, indem er formuliert: „Im Übrigen wurde Herr Kremzow wegen Mordes und illegalen Waffenbesitzes nach innerstaatlichen Rechtsvorschriften verurteilt, die nicht dazu bestimmt sind, die Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Normen sicherzustellen.“484 479 Vgl. z. B. EuGH, verb. Rs. 60/84 und 61/84, Slg. 1985, 2605, 2627 „Cinéthèque“; Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, 2964 „ERT“; Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, 2645 „Friedrich Kremzow ./. Republik Österreich“. 480 Vgl. EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, 2964 „ERT“. 481 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, 2639 f. „Wachauf“. 482 GA Van Gerven, in: EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2925 „Hansen“, wobei er aufgrund des Sachverhaltes, in dem es um die Zulässigkeit einer verschuldensunabhängigen Haftung ging, explizit auf den Grundsatz nulla poena sine culpa eingeht. Weder aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten noch aus Art. 6 II EMRK ließe sich aber eine ausnahmslose Anerkennung dieses Grundsatzes ableiten. 483 EuGH, Rs. C-36/94, Slg. 1995, I-3573 „Siesse“.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Im Gegenschluss bestätigen auch die Ausführungen in der Rs. Kremzow vor dem dargestellten Hintergrund, dass eine Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze nach Ansicht des EuGH dann vorgelegen hätte, wenn die nationalen Strafvorschriften dazu bestimmt gewesen wären, die Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Normen sicherzustellen. Das nationale Strafrecht diente dann der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Sanktionierungsverpflichtung. Satzger folgt dieser Rechtsprechung zur Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze, indem er – allerdings im Hinblick auf die Obergrenze des Verhältnismäßigkeitsprinzips – formuliert: „Ob und wann allein die Höhe der Strafe Kollisionen mit Grundfreiheiten auslöst, kann letztlich aber dahinstehen. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit greift nämlich bereits deshalb immer als Grenze für den nationalen Gesetzgeber ein, weil es sich um die Durchführung von Gemeinschaftsrecht handelt. Der Anwendungsbereich des EG-Vertrages ist folglich schon deshalb eröffnet, weil die Mitgliedstaaten – als verlängerter Arm der Gemeinschaft – tätig werden. Sie sind daher an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gebunden, wozu nun aber anerkanntermaßen auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip zählt. [. . .] da auch der allgemeine Gleichheitsgrundsatz ein anerkannter Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, fungiert er ebenfalls als Obergrenze: [. . .]“485
Eine derart unkritische Übertragung der Ergebnisse zur Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze überzeugt kaum. Vielmehr gilt es, die Reichweite der mitgliedstaatlichen Bindung in diesen Durchführungskonstellationen im Wege einer funktionellen Betrachtung der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu analysieren. Insbesondere die Gemeinschaftsgrundrechte wurden als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH als Folge der Übertragung von Kompetenzen und der Fähigkeit des Gemeinschaftsrechts, unmittelbar Rechte und Pflichten für die Bürger der Mitgliedstaaten zu begründen486, entwickelt. Die europäische Rechtsetzung und der gemeinschaftseigene Vollzug konnten infolge dieser Wirkung unmittelbar Rechtspositionen des Einzelnen betreffen, so dass ein Bedürfnis nach grundrechtlicher Legitimation dieser supranationalen Hoheitsgewalt entstand487. Der Rechtsunterworfene kann gegen solche hoheitliche Eingriffe der Gemeinschaft nicht einwenden, nationale Grundrechte oder Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt, denn sonst würde 484 EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, 2645 „Friedrich Kremzow ./. Republik Österreich“ unter Hinweis auf das Urteil in der Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909 „Strafverfahren gegen Jean-Louis Maurin“. 485 Satzger, S. 358. 486 Seit EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 25 „Van Gend & Loos“. 487 Kingreen, JuS 2000, 857, 858.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 191 „[. . .] die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts [. . .] beeinträchtigt. Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden, denn dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt oder wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“488
Somit folgt aus dem auch hinsichtlich des Verfassungsrechts zumindest dem Grunde nach anerkannten Vorrang des Gemeinschaftsrechts, der die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft sichert, die Unmöglichkeit der Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten am Maßstab nationaler Grundrechte. Damit wird das Bedürfnis gemeinschaftsrechtlicher Garantien offenbar. Dieses Ergebnis betrifft aber zunächst allein das Handeln der Gemeinschaftsorgane, die aus diesem Grunde stets direkt an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Mitgliedstaatliche Maßnahmen sind dagegen aufgrund der Kompetenzvermutung zu Gunsten der Mitgliedstaaten grundsätzlich allein an den nationalen Grundrechten bzw. den nationalen allgemeinen rechtsstaatlichen Gewährleistungen zu messen. Wie gesehen, sind die Gemeinschaftsgrundrechte zwingende Folge der Übertragung von Kompetenzen; sie haben selbst keine kompetenzerweiternde Funktion489. Aus den Kompetenzbestimmungen, insbesondere im Lichte des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 II EG) folgt im Wege systematischer Auslegung vielmehr, dass die Gemeinschaftsgrundrechte nur dort Schutz gewähren, wo der nationale Grundrechtsschutz infolge des begrenzten Zugriffsbereichs des nationalen Rechts die Prämissen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere seinen Vorrang vor nationalem Recht und seine einheitliche Anwendung, gefährden würde490. Daraus folgt zunächst, dass nationale Umsetzungsmaßnahmen dann nicht dem nationalen Maßstab unterliegen können, wenn sie unmittelbar anwendbares Sekundärrecht vollziehen. Insoweit sind die Mitgliedstaaten nur verlängerter Arm des Gemeinschaftsrechts, welches selbst nicht den nationalen Grundrechten unterliegt. Dies muss dann auch für das Umsetzungsrecht gelten, will man nicht den Vorrang des Gemeinschaftsrechts aushebeln491. Richtlinien fehlt dagegen im Regelfall die unmittelbare Anwendbarkeit, so 488 EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, 1135 „Internationale Handelsgesellschaft“. 489 EuGH, Rs. C-249/96, Slg. 1998, I-621, 650 f. „Grant“. 490 Auch Streinz, Europarecht Rn. 368 formuliert: „Dies ist zumindest insoweit geboten, als entsprechende nationale Garantien wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht mehr zur Anwendung kommen.“ (Hervorhebung durch den Verfasser).
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
dass die Mitgliedstaaten nur hinsichtlich des Ziels gebunden, im Hinblick auf die Erreichung jenes Ziels aber nicht determiniert sind. In diesen Umsetzungskonstellationen soll der nationale Gesetz- bzw. Verordnungsgeber deshalb nur insoweit an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sein, als der nationale Umsetzungsakt durch Vorgaben der Richtlinie determiniert ist. Soweit die Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber hingegen Spielräume gewährt, ist dieser allein an die nationalen Grundrechte gebunden492. Kingreen lehnt eine Bindung der nationalen Umsetzungsbehörden an die Gemeinschaftsgrundrechte auch für den Fall der Determinierung ab: „Zwingend ist die Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte aber auch für den von der Richtlinie vorgegebenen Teil des (Umsetzungs-)Gesetzes nicht: Zwar darf auch hier das von der Richtlinie verbindlich (als Mindestgehalt) Geforderte nicht dadurch umgangen werden, dass der nationale Umsetzungsakt durch die Anwendung innerstaatlicher Grundrechte zu Fall gebracht wird. Allerdings genügt es, dass die die Richtlinie erlassenden Gemeinschaftsorgane an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind und die Einhaltung ihrer Bindung einer Kontrolle unterzogen werden kann. Bestehen Zweifel an der Grundrechtskonformität des umgesetzten Gesetzes, muss die Richtlinie, nicht aber das Gesetz an den Gemeinschaftsgrundrechten gemessen werden.“493
An dieser Stelle geht es zwar nicht um eine Richtlinienumsetzung, sondern die Umsetzung der Vorgaben aus Art. 10 EG. Die Sanktionierungsverpflichtung aus Art. 10 EG ist der Umsetzungsverpflichtung, die aus einer Richtlinie folgt, aber vergleichbar, oktroyiert sie doch eine „obligation de résultat“ und überlässt den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Eine umfassende Bindung der Mitgliedstaaten ist daher auch in diesem Durchführungsbereich abzulehnen, so dass ein dementsprechender Hinweis zu kurz greift494. Zwar werden die Mitgliedstaaten auch hier durch die Gewährung eines Umsetzungsspielraums aus dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts entlassen, was jedoch nicht dazu führen darf, dass die sichere Zielvorgabe durch die Anwendung der innerstaatlichen Grundrechte zu Fall gebracht wird. Vielmehr reicht die Bindung der Mitgliedstaaten auch in dieser Konstellation so weit die gemeinschaftsrechtliche Pflicht die nationale Umsetzung determiniert, ohne dass sie der unmittelbaren Anwendbarkeit fähig sein müsste. Art. 10 EG schreibt nun als Zielvorgabe die Sicherstellung der Beachtung des Gemeinschaftsrechts vor, woraus den nationalen Behörden die Pflicht erwächst, Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht zu sanktionieren. Dabei genügt ange491 Damit sind die Mitgliedstaaten jedenfalls bei der Durchführung einer EG-Verordnung und einer ausnahmsweise unmittelbar anwendbaren Richtlinie an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. 492 Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626, 632; Pieroth/Schlink, Rn. 191. 493 Kingreen, JuS 2000, 857, 864 m. w. N. 494 So aber Satzger, S. 358 f.
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sichts des Ziels aus Art. 10 EG nicht jede Sanktionierung. Soll sie die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Primärnorm sicherstellen, muss sie abschreckend sein. Aus dem Gebot der Effektivität erwächst mithin nicht nur eine Vorgabe hinsichtlich des „Ob“ einer Sanktionierung, sondern auch eine abstrakte Mindestvorgabe hinsichtlich des „Wie“. Das Gemeinschaftsrecht determiniert folglich die mitgliedstaatliche Sanktionierungsentscheidung, so dass die Gemeinschaftsgrundrechte zu beachten sind. Ließe sich dieses Ergebnis im Falle einer Richtlinie durch die Kontrolle der Richtlinie, nicht aber des nationalen Umsetzungsgesetzes, erzielen495, so entsteht im Falle einer primärrechtlichen Umsetzungsverpflichtung jenes Problem nicht. Während die Gemeinschaftsorgane auch Sekundärrecht erlassen können, welches den Gemeinschaftsgrundrechten widerspricht, entsteht eine primärrechtliche Sanktionierungspflicht unter Heranziehung sämtlicher Gewährleistungen des Primärrechts, also auch der Gemeinschaftsgrundrechte, die in praktische Konkordanz zu bringen sind. Aus dem Art. 10 EG eine Pflicht herzuleiten, die den Gemeinschaftsgrundrechten widerspräche, stellte eine Perversion des Gemeinschaftsrechts dar496. Im Ergebnis ist eine Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere also auch die Gemeinschaftsgrundrechte vermittelt über die systematische Auslegung der Sanktionierungspflicht aus Art. 10 EG und damit die Berechtigung der EuGH-Rechtsprechung zu bejahen497. dd) Das Verhältnis der Mindesterfordernisse Letztlich ist das Verhältnis der bisher weitgehend isoliert betrachteten Vorgaben zu eruieren. Diese Frage stellte sich indes nur dann, wenn überhaupt widersprüchliche Ergebnisse denkbar sind. Das Verhältnis der entwickelten Rechtsprechungskriterien stellt somit kein Problem dar, wenn eine mitgliedstaatliche Sanktionierung beide Vorgaben achtet, d.h. eine Gleichbehandlung gleichzeitig auch eine wirksame Sanktionierung ist. An einem Widerspruch fehlt es ferner dann, wenn das Gleichbehandlungsgebot keine Aussage trifft, also wenn kein vergleichbares Rechtsgut existiert oder sich kein vergleichbar schwerer Angriff ermitteln lässt498. In diesem Fall ist 495 So der Vorschlag Kingreens, JuS 2000, 857, 864, der deshalb eine Bindung der mitgliedstaatlichen Organe auch für den Fall der Determinierung ablehnt. 496 Vgl. die entsprechende Stellungnahme Satzgers, S. 554 zur Pflicht der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung aus Art. 10 EG, welche den allgemeinen Rechtsgrundsätzen widerspräche. 497 Vgl. das entsprechende Ergebnis Kingreens, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 164 ff., insbesondere S. 167 hinsichtlich der Bindung im Bereich der Rechtfertigungsmöglichkeiten der Grundfreiheiten.
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allein die Effektivitätsvorgabe maßgebend, aus der stets eine Vorgabe fließt. Ist die Effektivitätsvorgabe aber als Mindesterfordernis konzipiert, so können Gleichbehandlungsergebnisse auch nicht wegen zu scharfer Sanktionierung widersprechen, weil die Sanktionierung dadurch nur nach unten, nicht aber nach oben beschränkt wird. Widersprüche sind allein denkbar, wenn das Effektivitätsgebot und seine Konkretisierung im Hinblick auf die mitgliedstaatliche Sanktionierung eine schärfere Bestrafung gebietet, als eine den vergleichbaren nationalen Vorschriften entsprechende Sanktionierung ergäbe. Für diese Fälle gilt es zu prüfen, welche der gerichtlich entwickelten Vorgaben sich durchsetzt. Zuzugeben ist, dass jener Fall von eher untergeordneter praktischer Bedeutung sein dürfte, wenn man berücksichtigt, dass sich die Auffassungen einer wirksamen Pönalisierung regelmäßig nicht grundlegend unterscheiden werden und auch der nationale Gesetzgeber die Wirksamkeit seiner Sanktionen um der Einhaltung der nationalen Vorschriften willen verfolgt. Bereits die Formulierung aus der Rs. Griechischer Maisskandal, die Sanktion müsse „jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein“, legt eine absolute Geltung der Effektivitätsgrenze nahe. Dieses Verhältnis der Kriterien findet in der Rs. Vandevenne Bestätigung, bei der es um die Frage ging, ob aus Art. 10 EG auch die Pflicht erwachsen könne, eine dem nationalen Strafrechtssystem fremde strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen einzuführen. Der EuGH formulierte: „Zuwiderhandlungen gegen Art. 15 der Verordnung [. . .] können durch die Anwendung von Bestimmungen bestraft werden, die mit den Grundprinzipien des nationalen Strafrechts in Einklang stehen, sofern die sich daraus ergebenden Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind.“499
Gleichbehandlung kann eben nur ausreichen, wenn dabei die Sanktionierungsvorgaben des Art. 10 EG eingehalten werden. Fraglich ist, ob das von der Rechtsprechung postulierte Verhältnis gemeinschaftsrechtlich geboten ist. Jedenfalls aus der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie lässt sich kein dem deutschen Verfassungsrecht vergleichbarer Vorrang zugunsten der allgemeinen Rechtsgrundsätze ableiten, da diesen ebenso wie dem Effektivitätsgrundsatz des Art. 10 EG der Rang des Primärrechts zukommt. Die gleichrangigen Vorgaben sind deshalb in praktische Konkordanz zu bringen, d.h. zu einem schonenden Ausgleich, welcher beiden Erfordernissen weitestgehende Wirksamkeit einräumt. Plädierte man für eine absolute Geltung der Gleichbehandlung, liefe das Wirksamkeitserfordernis nahezu leer und hätte allein Bedeutung, wenn der Gleichheitssatz nicht anwendbar wäre. Gegen eine solche Interpretation spricht bereits die parallele Nennung der 498 499
Vgl. Gröblinghoff, S. 28. EuGH, Rs. C-7/90, Slg. 1991, I-4371, 4388 „Vandevenne“.
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Kriterien durch die Rechtsprechung. Insbesondere wird das Verhältnis beider Kriterien erhellt, wenn man den Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgebots betrachtet. Diese Vorgabe fließt aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, der an dieser Stelle jedoch nur Anwendung finden kann, weil die Effektivitätsvorgabe eine Durchführungskonstellation schafft. Daraus folgt, dass die Gleichbehandlungsvorgabe nicht so weit reichen kann, dass sie die Vorgabe aus Art. 10 EG, also ihren eigenen Geltungsgrund beseitigen würde. Die Sanktionierung diente dann nicht mehr der Umsetzung der Pflicht, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen, so dass auch die Rechtsgrundsätze keine Anwendung finden dürften. Im Ergebnis ist daher die Wirksamkeit vorrangiges Kriterium. Die Gleichbehandlung steht unter dem Vorbehalt der Wirksamkeit500. Satzger501 vertritt nur vordergründig ein anderes Verhältnis der Vorgaben, wenn er ausführt, das Kriterium der Geeignetheit der zu ergreifenden Maßnahme, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, bilde den Obersatz, während die nachgeordneten Kriterien dessen Ausfüllung dienten, so dass dieser auf die Auslegung aller folgenden Mindesterfordernisse einwirkt und so deren Zielrichtung erhelle. Das Gleichbehandlungsgebot stelle das zentrale Erfordernis dar. Der EuGH gehe von der Vermutung aus, dass diejenige Sanktion, die der nationale Gesetzgeber zum Schutz seiner eigenen Rechtsgüter gewählt hat, auch „geeignet“ seien, um dem Gemeinschaftsrecht Geltung und Wirkung zu garantieren.
Bereits diese Einordnung des Gleichheitssatzes in die Geeignetheitsprüfung erhellt die absolute Geltung des Effektivitätsgebots, so dass hierin der zentrale Gesichtspunkt der Prüfung zu erblicken ist. Vermutungen sind zudem widerlegbar – hier durch die absolute Wirksamkeitsvorgabe. Satzger bestätigt mit seinen Ergebnissen diese These. Beschränkt er nämlich zunächst die Bedeutung der Mindesterfordernisse auf die Fälle fehlender mitgliedstaatlicher Sanktionierung oder das Fehlen eines gleichartigen Angriffs in der innerstaatlichen Rechtsordnung, so ist der erste Fall bereits Anwendung des Wirksamkeitsvorbehalts. Im Anschluss führt er sogar aus: „Darin beschränkt sich allerdings die Bedeutung dieser Trias nicht: Auch wenn das nationale Recht über vergleichbare Interessen verfügt und vergleichbare Angriffe ermittelt werden können, kommt ihr eine Funktion zu. Sie ist Maßstab für das nationale Recht, und zwar dergestalt, dass anhand der drei Kriterien geprüft wird, ob der Schutz, der sich aus der Gleichbehandlung mit nationalen Schutzgütern ergibt, diesen Mindesterfordernissen entspricht. Erweist sich der Schutz auf nationalem Niveau als unzureichend, ist die Geeignetheitsvermutung zugunsten einer der Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung entsprechenden Vorschrift widerlegt und das gemeinschaftsrechtliche Interesse muss im Ergebnis effektiver geschützt werden als das nationale Interesse de lege lata.“502 500 501
Gröblinghoff, S. 24 f.; Pache, S. 245. Satzger, S. 363.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Zusammenfassend stellt sich das Verhältnis der Vorgaben mithin wie folgt dar. Das Gleichbehandlungsgebot bildet stets den Ausgangspunkt der Prüfung, wobei es lediglich eine widerlegbare Vermutung zugunsten einer wirksamen Sanktionierung von Verstößen gegen nationales Recht begründet. Die gerichtlich entwickelte Prüfung kann daher prägnant als Gleichbehandlungsvermutung unter dem Vorbehalt der Effektivität bezeichnet werden. ee) Ergebnis: Die gemeinschaftsrechtlichen Mindesterfordernisse des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft Im Ergebnis lässt sich mithin für eine Mindestsanktionierungspflicht der Mitgliedstaaten festhalten, dass aus Art. 10 EG die Obligation folgt, gemeinschaftsrechtliche Interessen wirksam, d.h. abschreckend zu sanktionieren. Sanktionen sind aber nur abschreckend, wenn sie in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat stehen. Etabliert das Gemeinschaftsrecht diese Pflicht, welche durch die bewehrte Norm des Gemeinschaftsrechts konkretisiert wird, so befindet sich der nationale Strafgesetzgeber bzw. Strafrechtsanwender in einer Durchführungskonstellation, in der die Mitgliedstaaten im Wege systematischer Auslegung bindender Vorgaben an die allgemeinen Rechtsprinzipien des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Aufgrund seiner Funktion als Moderationsnorm und seiner fehlenden Verpflichtungsqualität kommt dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit als Mindesterfordernis keine Bedeutung zu. Die Mindesterfordernisse fließen allein aus Art. 10 EG, dessen Vorgaben aber im Wege systematischer Auslegung mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung in praktische Konkordanz zu bringen sind. Mithin finden die von der Rechtsprechung für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft entwickelten Mindesterfordernisse Bestätigung. Demnach sind Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht gleichartigen und gleich schweren Verstößen gegen nationales Recht entsprechend zu behandeln, vorausgesetzt diese Gleichbehandlung erfüllt die Vorgabe wirksamer, d.h. abschreckender Sanktionierung. Angesichts der Tatsache, dass der EuGH diese Kriterien in Bezug auf die finanziellen Interessen der Gemeinschaft entwickelt hat und sie nunmehr diesbezüglich in Art. 280 EG deklaratorisch503 aufgeführt werden, ist darauf 502
Satzger, S. 363 f. Vgl. zur deklaratorischen Natur EuGH, Rs. C-186/98, Slg. 1999, I-4883 „Strafverfahren gegen Nunes und de Matos“; Böse, S. 409; Dannecker, in: Ulsamer, Lexikon, 302, 306; ders., ZStW 108 (1996), 577, 585 hinsichtlich Art. 209a EGV a. F.; Gröblinghoff, S. 151; Jung, JuS 2000, 417, 420; Prieß, in: GTE, Art. 209 a Rn. 3; Pieth, ZStW 109 (1997), 756, 767; Prieß/Spitzer, EuZW 1994, 297, 298; Satzger, S. 339; Tiedemann, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber, 133, 143; ders., NJW 1993, 23, 25; Zuleeg, in: Sieber, Europäische Einigung, 41, 50. 503
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hinzuweisen, dass die dargelegten Maßstäbe nicht allein zum Schutze dieses Rechtsgutes Anwendung finden. Die Geltung der Kriterien ist schließlich auf die Pflicht aus Art. 10 EG zurückzuführen, hinter dem der Gedanke steht, dass mit der Konstituierung der EG vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten das Gebot ihrer Funktionsfähigkeit erwachsen ist, mit der Folge, dass in erster Linie die Handlungsfähigkeit ihrer Organe sowie die effektive und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten sichergestellt sein muss504. Im Ergebnis sind zum einen alle personellen, sachlichen und finanziellen Mittel der Gemeinschaft umfassend zu schützen. Sie ermöglichen schließlich erst die Erfüllung der vertraglich vorgesehenen Aufgaben. Daneben entspricht die Anwendung und Durchführung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, zumindest soweit es der Realisierung der verschiedenen europäischen Politiken dient, einem elementaren Interesse der Gemeinschaft, welches unabdingbare Voraussetzung für eine funktionsfähige supranationale Organisation ist, so dass auch dieses von der Schutzverpflichtung umfasst sein muss505. Fraglich ist indes, ob mit jenen gerichtlich entwickelten Vorgaben tatsächlich eine Verbesserung des Schutzes gemeinschaftlicher Rechtsgüter und Interessen erzielt werden kann. Problematisch erscheint nämlich zunächst, dass der Schutz gemeinschaftsrechtlicher Interessen durch die Mitgliedstaaten aufgrund nationaler Besonderheiten und mangelnden Interesses stets uneinheitlich und unzureichend bleiben wird. Dieser Umstand ist aber aufgrund der bestehenden Kompetenzordnung hinzunehmen und wäre nur durch Kompetenzübertragung im Wege einer Vertragsänderung zu beseitigen. Ein derartiger Wille fehlt aber bisher. Zudem wäre zuvor das gemeinschaftsrechtliche Demokratiedefizit zu beseitigen506, indem man die mangelnde Beteiligung der nationalen Parlamente durch die verstärkte Beteiligung eines reformierten Europäischen Parlaments auf Gemeinschaftsebene auffinge507. Angesichts der existierenden Kompetenzordnung können die entwickelten Kriterien des Gerichtshofs als wesentlicher Schritt in die Richtung eines verbesserten Schutzes gemeinschaftlicher Interessen bezeichnet werden. Allerdings wird der Vorteil der relativ leicht durchführbaren und kontrollierbaren Einpassung des Gleichstellungserfordernisses in das kohärente na504
v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 5 EGV Rn. 7. Satzger, S. 348; vgl. auch Bleckmann, Stree/Wessels-FS, 107, 112; Gröblinghoff, S. 19 f.; Moll, S. 208; Sieber, Geerds-FS, 113, 118; ders., in: van Gerven/Zuleeg, 71, 74; kritisch dagegen Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 801; Otto, Jura 2000, 98, 100. 506 Vgl. z. B. Pache, EuR 28 (1993), 173, 179 f. 507 Vgl. Gröblinghoff, S. 34, Satzger, S. 381. 505
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tionale Sanktionensystem mit einem deutlichen Mangel an Effizienz bezahlt, da die Intensität des Schutzes der Gemeinschaftsinteressen vom nationalen Gesetzgeber in rein nationalen Angelegenheiten abhängt. Andererseits wird bereits die Bindung an rein nationale Verstöße auch ein gewisses Maß an Effektivität gewährleisten, woraus indes eine disharmonische Entwicklung des strafrechtlichen Schutzes folgt. Dieser Effekt wird jedoch reduziert, indem ein Mindestmaß an Einheitlichkeit und Effektivität durch die Etablierung einer Mindestgrenze geschaffen wird. Deren Wirksamkeit ist jedoch nur beschränkt, da die Kriterien sämtlich als Rahmenbegriffe ausgestaltet sind, die den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung einen erheblichen Beurteilungsspielraum gewähren, welcher der Überprüfung durch den EuGH entzogen ist. Lediglich ein Verstoß gegen den Rahmen ist überprüfbar, wobei sich selbst diese Überprüfung in der Praxis nur schwer durchführen lässt508. Trotz der dargestellten Probleme sind die entwickelten Kriterien vor der bestehenden Kompetenzordnung eine optimale Lösung, welche die Einordnung in das kohärente nationale Strafrechtssystem gewährleistet, ohne dass es zu Brüchen käme und dabei dennoch durch das Zusammenwirken der Gleichbehandlung unter dem Vorbehalt der Wirksamkeit ein Mindestmaß an Effektivität gewährleistet. Zudem stellt sich die Verpflichtung als schonende und nationale Empfindlichkeiten gerade bezüglich des Strafrechts berücksichtigende Methode dar, was sich auf ihre praktische Anwendung in den Mitgliedstaaten positiv auswirken dürfte. b) Gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen mitgliedstaatlicher Sanktionierung Obwohl für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft das zentrale Interesse infolge der schutzbedürftigen Interessen und Rechtsgüter der Gemeinschaft an der Möglichkeit besteht, Mitgliedstaaten zur Sanktionierung anzuhalten, gilt es auch hier zu untersuchen, ob die zuvor für das rein nationale Strafrecht entwickelten Obergrenzen übertragen werden können oder ob ein modifizierter Maßstab gilt. Der Aspekt einer Obergrenze für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft wurde in der Rs. Hansen509 relevant. Die dänische Firma Hansen & Son I/S war wegen Verstoßes eines ihrer Fahrer gegen die in Art. 7 II und 11 der VO 543/69510 vorgeschriebene Höchstlenkzeit und Tagesruhe 508 Vgl. zum Ganzen auch Gröblinghoff, S. 33 ff.; Heitzer, S. 31; Satzger, S. 381 ff. 509 EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911 „Hansen“. 510 Vom 25.03.1969, ABlEG Nr. L 77, S. 49 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr.
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strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden, obwohl ihrerseits weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit gegeben war. Die dänische Ministerialverordnung 448 sah gem. Art. 9 eine verschuldensunabhängige Verantwortlichkeit vor. Das mitgliedstaatliche Gericht legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob dieses System der objektiven Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für Verstöße eines seiner Arbeitnehmer gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Die Firma Hansen argumentierte zum einen, die objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit verstoße gegen die Gemeinschaftsverordnung, weil sie diese erweitere. Der EuGH interpretierte die Verordnung und erkannte in Art. 18 die Pflicht der Mitgliedstaaten, „die notwendigen Vorschriften zu erlassen, um die Einhaltung der Grenzen sicherzustellen“511 und billigte den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen bei der Durchführung dieser Pflicht zu. Hinsichtlich der verschuldensunabhängigen strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Arbeitgeber erkannte er: „Eine solche Verantwortlichkeit stellt nämlich nur ein Mittel dar, um die Einhaltung der durch diese Bestimmungen festgelegten Grenzen sicherzustellen.“512
Damit stand fest, dass die VO – also das relevante Sekundärrecht – weder eine Obergrenze derart etablierte, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ausgeschlossen wäre noch eine objektive Verantwortlichkeit verbot. Im Ergebnis hatte er damit die erste aus der Rs. Griechischer Maisskandal entwickelte Voraussetzung, nämlich die Frage des abschließenden Charakters der VO, negativ beantwortet. Damit bestätigt sich die oben getroffene Einordnung der mitgliedstaatlichen Sanktionierungsbefugnis als Obergrenze. Mit dem Argument der Erweiterung der Verhaltensnorm durch den Umstand der Sanktionierung hatte sich bereits GA Capotororti in der Rs. Amsterdam Bulb auseinander gesetzt und dem gefundenen Ergebnis entsprechend konstatiert: „Nun lässt sich aber nicht behaupten, dass eine Strafdrohung den Inhalt der Verhaltensvorschriften abändert: Jede Strafbestimmung, die einer bestimmten grundlegenden Verhaltensnorm zugeordnet ist, geht von der Hypothese eines gegen diese Norm verstoßenden Verhaltens aus und setzt diese daher mit dem Inhalt voraus, den sie besitzt.“513
Nachfolgend schien der EuGH in der Rs. Hansen dann auch die als Untergrenze entwickelten Kriterien heranzuziehen: „[. . .] die vorgesehene Sanktion (muss) den Sanktionen entsprechen, die bei gleichartigen und gleich schweren Verstößen gegen nationale Rechtsvorschriften gelten und [. . .] der Schwere der begangenen Zuwiderhandlung angemessen (sein) [. . .]. 511 512 513
EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2934 „Hansen“. EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2934 „Hansen“. GA Capotorti, in: EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137, 155 „Amsterdam Bulb“.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Außerdem liegt die Verkehrssicherheit, die nach der dritten und der neunten Begründungserwägung der VO Nr. 543/69 eines der Ziele dieser Verordnung ist, im Interesse der Allgemeinheit, das die Festsetzung einer objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit rechtfertigen kann. Eine solche Sanktion, die der in Art. 5 EWG-Vertrag (jetzt: Art. 10 EG) verankerten Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit entspricht, ist deshalb gegenüber dem angestrebten Ziel nicht unverhältnismäßig.“514
Es gilt daher zu analysieren, ob es sich bei den an dieser Stelle herangezogenen Kriterien tatsächlich um die Mindesterfordernisse aus dem Urteil Griechischer Maisskandal handelt. aa) Verhältnismäßigkeit Mag auch der Wortlaut insgesamt für eine solche Übertragung der Grundsätze sprechen, so meint Satzger: „Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme als Obergrenze folgt nicht aus den Grundsätzen der im Urteil ‚Griechischer Maisskandal‘ begründeten Rechtsprechung. Die dort geforderte Verhältnismäßigkeit ist im Sinn einer Angemessenheit als Mindesterfordernis des Art. 10 EG (Art. 5 EGV) zu verstehen. Losgelöst von dieser Rechtsprechung erlangt die Verhältnismäßigkeit aber gleichwohl auch die Funktion einer Obergrenze, diesmal allerdings aufgrund ihrer Eigenschaft als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, der im Anwendungsbereich des EG-Vertrags, also insbesondere im Rahmen der Durchführung von Gemeinschaftsrecht, auch von den Mitgliedstaaten zu beachten ist.“515
Bereits die Sachverhalte weisen unterschiedliche Ausgangspunkte auf. Ging es in der Mais-Entscheidung noch darum, festzustellen, dass Griechenland seine Sanktionierungsverpflichtungen unterschritten hatte, stellt sich hier die Frage, ob die vorgenommene Sanktionierung nicht zu streng war. Im Gegensatz zu den Mindesterfordernissen stand hier also nicht die Entwicklung einer positiven Sanktionierungsverpflichtung zur Überwindung mangelhafter mitgliedstaatlicher Pönalisierungsinteressen in Frage, sondern der schonende Ausgleich zwischen dem Gemeinschaftsinteresse an einer wirksamen Sanktionierung und dem Interesse des Einzelnen an einer möglichst schonenden Sanktionierung. Bei genauer Betrachtung ist also zu prüfen, ob der von der Sanktion ausgehende Eingriff in das Individualrechtsgut in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Eingriffs durch das strafbewehrte Vergehen steht. Damit ist die typische Ausgleichsfunktion des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips beschrieben. Das allgemeine Rechtsprinzip der Proportionalität setzt nämlich stets zumindest zwei widerstreitende Rechtsgüter in Relation und führt diese als Moderationsnorm zu 514 515
EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2937 „Hansen“. Satzger, S. 358 f.
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einem schonenden Ausgleich. Es muss immer in Bezug zu den konkret betroffenen Rechtspositionen gesetzt werden und darf sich nicht an abstrakten Wertigkeiten orientieren, sondern ist auf Differenzierung im Einzelfall angelegt, indem es versucht, den Konflikt zwischen geschütztem Rechtsgut und dem den staatlichen Eingriff motivierenden Rechtsgut zu lösen516. In rein nationalen Konstellationen moderiert die Verhältnismäßigkeit beispielsweise den Konflikt zwischen den staatlichen Straf- und Präventionsinteressen einerseits sowie den Individualinteressen des einzelnen an einer möglichst schonenden Sanktionierung, also insbesondere auch den nationalen Grundrechten andererseits. Fraglich ist aber, welche Interessen der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in dieser Konstellation moderiert. Zunächst bestehen auch hier die Interessen der Gemeinschaft an einer Sanktionierung. Handelt nun der Mitgliedstaat in Durchführung jener Sanktionierungsverpflichtung, so könnte entweder bereits die Rechtsetzung oder die Rechtsanwendung in gemeinschaftliche Individualrechte eingreifen. Offensichtlich ist dies der Fall, wenn durch die Sanktion die Grundfreiheiten berührt werden. In diesem Fall kann die Verhältnismäßigkeit als Moderator herangezogen werden. Diese Obergrenze deckt sich mit derjenigen für rein nationales Strafrecht. Häufig wird das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinzip aber gelöst von einer etwaigen Grundfreiheitsrelevanz als Obergrenze etabliert. Legt man nun das zuvor gefundene Ergebnis zugrunde, fungiert die Proportionalität aber nur als Vermittler zwischen zwei widerstreitenden Interessen. Darüber hinaus wurde offenbar, dass die Sanktionen rein national in die Grundrechte eingreifen, so dass es nahe liegt, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip daneben einen Ausgleich mit den Gemeinschaftsgrundrechten schafft. Die Gemeinschaftsgrundrechte stehen dem einzelnen nur in begrenztem Umfang zur Verfügung, so dass auch die gemeinschaftsrechtliche Verhältnismäßigkeit nur in jenem Umfang moderieren kann. Die Berechtigung der Heranziehung der Gemeinschaftsgrundrechte, insbesondere des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots wurde bei der Durchführung dieser Sanktionierungsverpflichtung aus Art. 10 EG belegt. Infolge der oben entwickelten Begrenzung auf gemeinschaftlich determinierte Umsetzung besteht auch nicht die Gefahr einer übermäßigen Ausdehnung und Verdrängung nationaler Grundrechte. Im Ergebnis kann die Verhältnismäßigkeit daher als Moderator zwischen den gemeinschaftlichen Sanktionierungsinteressen einerseits und den Grundfreiheiten sowie in dem gezeichneten Anwendungsbereich mit den Gemeinschaftsgrundrechten andererseits dienen. Diese begrenzte Bindung der Mit516
863.
Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S. 168; ders., JuS 2000, 857,
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gliedstaaten an das gemeinschaftsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip wird durch den identischen rechtlichen Ursprung als allgemeiner Rechtsgrundsatz unterstrichen. Wird mithin konstatiert, die mitgliedstaatlichen Sanktionen müssten verhältnismäßig sein, meint dies unausgesprochen, sie müssten in angemessener Relation zu den beeinträchtigten Individualrechten, also insbesondere auch den Gemeinschaftsgrundrechten stehen. Wollte man das gemeinschaftsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip dagegen auch zur Schaffung eines Ausgleichs außerhalb dieser Vorgaben heranziehen, vermittelte es unausgesprochen im Spannungsverhältnis nationaler Sanktion und nationalem Grundrecht. Diese Ausdehnung überzeugte nicht. Zudem reichte der Anwendungsbereich nur auf den ersten Blick weiter als die Gemeinschaftsgrundrechte. Deren Anwendbarkeit zöge sie nämlich im Wege systematischer Auslegung nach sich. Die vorstehende Untersuchung konnte damit erhellen, dass die Vorgabe angemessener Sanktionierung im Sinne einer Obergrenze nicht aus Art. 10 EG fließt. Dieser erzeugt indes eine Durchführungskonstellation, in der die allgemeinen Rechtsgrundsätze im gemeinschaftsrechtlich determinierten Bereich die Mitgliedstaaten binden. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip vermittelt dann zwischen gemeinschaftlichem Sanktionierungsinteresse und den Gemeinschaftsgrundrechten bzw. soweit diese betroffen sind, mit den Grundfreiheiten. Damit konnte aber gleichzeitig gezeigt werden, dass nicht das Verhältnismäßigkeitsprinzip an sich eine Obergrenze bildet, diese vielmehr von den Individualrechten ausgeht, die durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit dem Sanktionierungsinteresse in einen schonenden Ausgleich gebracht werden. Die Darstellung Satzgers greift an dieser Stelle zu kurz. Zwar misst auch er die nationalen Sanktionen am allgemeinen Prinzip der Verhältnismäßigkeit, doch setzt er sich nicht hinreichend mit dessen Moderationsfunktion auseinander und geht insbesondere nicht darauf ein, dass es hier gerade auch zu den Gemeinschaftsgrundrechten vermitteln kann. Vielmehr scheint er zunächst die Verhältnismäßigkeit gelöst von den Individualrechten als Grenze etablieren zu wollen. Später scheint er die Relevanz dann verdeckt auf die Vermittlung zu den Grundfreiheiten zu verkürzen: „Wir hatten bereits festgestellt, dass – sobald der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten des EG-Vertrags eröffnet ist – das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Diskriminierungsverbot als gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen für die Höhe der Strafdrohung wirken.“517
Eine ähnliche Verkürzung findet sich bei Gröblinghoff, der allerdings vorsichtig formuliert: „Besonderes Augenmerk ist auf die Verhältnismäßigkeit zu richten, wenn die betreffende Sanktion eine der Grundfreiheiten beeinträchtigt. Beispielsweise dürfen 517 Vgl. Satzger, S. 373, S. 510 ff. Seine Beispiele beschränken sich dementsprechend auf Kollisionen mit den Grundfreiheiten.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 203 Bagatellverstöße nicht so hart bestraft werden, dass die Wirkung einer mengenmäßigen Beschränkung eintritt. Zwar ist die diesbezügliche Rechtsprechung anhand von Sanktionsnormen entwickelt worden, die nicht im Dienste des Gemeinschaftsrechts standen, jedoch kann für Sanktionsnormen, welche die Anwendung von Gemeinschaftsrecht sicherstellen sollen, nichts anderes gelten. Es ist durchaus möglich, dass Sanktionsnormen, die eigentlich der Sicherstellung von Gemeinschaftsrecht dienen sollen, durch ihre unverhältnismäßige Härte eine Grundfreiheit beeinträchtigen.“518
Vorgeblich sei in diesen Fällen besonderes Augenmerk geboten, was die Existenz anderer Fälle wohl zulässt. Beispiele für eine darüber hinausgreifende Bedeutung der Verhältnismäßigkeit nennt aber auch er nicht. Insbesondere geht er nicht auf die Möglichkeit der Moderation mit den Gemeinschaftsgrundrechten ein und stellt nicht klar heraus, dass die Grenze eigentlich aus dem entgegenstehenden Recht und nicht aus der Vermittlungsnorm folgt. bb) Gleichstellungserfordernis Bereits aus dem vorstehenden Ergebnis der Bindung der Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze in diesem gemeinschaftsrechtlich determinierten Bereich folgt, dass auch der allgemeine Gleichheitssatz in dieser Konstellation Anwendung finden kann. Satzger formuliert im Hinblick auf das Gleichstellungserfordernis: „[. . .] soweit Art. 10 EG (Art. 5 EGV) die Grundlage für die Geltung des Gleichbehandlungsgebots ist, (kann) dieses nur als Untergrenze dienen, so dass Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht nicht weniger scharf geahndet werden dürfen als vergleichbare nationale Übertretungen. Ein Verbot schärferer Strafen lässt sich aus dem Effektivitätsprinzip nicht ableiten. Jedoch tritt andererseits die begrenzende Wirkung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots (i. S. einer Obergrenze) hinzu, der einer solchen schärferen Bestrafung im Wege stünde. Demnach verbleibt zwischen Ober- und Untergrenze im Ergebnis kein Spielraum, so dass das Gemeinschaftsrecht für den Fall, dass nach Art und Schwere gleichartige Verstöße im nationalen Recht feststellbar sind, eine in jeder Hinsicht gleichschwere Ahndung vorschreibt.“519
Hinsichtlich der unterschiedlichen Ursprünge ist nochmals darauf hinzuweisen, dass das Gleichbehandlungsgebot nie, d.h. auch nicht als Untergrenze, aus Art. 10 EG abgeleitet werden kann. Art. 10 EG ist i. V. m. mit 518
Gröblinghoff, S. 27. Führt er das Kriterium des unverhältnismäßig harten Verstoßes gegen die Grundfreiheit ein, so wurde bereits oben dargestellt, dass die Intensität der Beeinträchtigung nicht maßgebend ist. Den Entscheidungen hinsichtlich der Bagatellverstöße liegt ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten zugrunde, so dass diese aufgrund einer im Vergleich zu anderen Bagatellverstößen vorgenommenen Ungleichbehandlung berührt waren. 519 Satzger, S. 364.
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den bewehrten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nur Geltungsgrund, hat aber keinen Einfluss auf Ursprung, Inhalt oder Funktion. Es handelt sich stets um eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes, der sich auch nicht in Vorgaben hinsichtlich einer Ober- und Untergrenze aufteilen lässt. Stets fordert dieser allgemeine Rechtsgrundsatz nur ein Ergebnis: Gleichheit. Im Ergebnis muss auch Satzgers Lösung diese Tatsache anerkennen, wenn er feststellt, dass zwischen den beiden Grenzen kein Spielraum verbleibt. Allein der Umstand, dass eine punktuelle Vorgabe im Falle der Unterschreitung als Mindestvorgabe wirkt, weil sie eine Anhebung des Sanktionierungsniveaus verlangt, während sie im Falle der Überschreitung nach oben begrenzt, weil sie eine Herabsetzung fordert, rechtfertigt eine Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung nicht. cc) Wettbewerbsverfälschung Gröblinghoff ist weiterhin der Ansicht, dass allein aus der Tatsache, dass sich der EuGH in der Rs. Hansen mit der „Unverfälschtheit des Wettbewerbs“ auseinander gesetzt hat, eine allgemeine Obergrenze für den Strafgesetzgeber folge520. Berücksichtigt man den Ursprung der zuvor gefundenen Grenzen für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, so spricht dieser gegen eine solche Grenze. Die Unverfälschtheit des Wettbewerbs ist kein in der Gemeinschaft anerkannter allgemeiner Rechtsgrundsatz, so dass eine begrenzende Funktion auf diesem Wege jedenfalls nicht zu begründen wäre. Eine sachgebietsbezogene Neuschöpfung muss angesichts der kaum vorhersehbaren Auswirkungen auf weite Bereiche alle Vorsicht walten lassen. Unterschiedliche Teilrechtsordnungen, aus denen die Wettbewerbsverzerrungen resultieren, werden von den Grundfreiheiten sogar vorausgesetzt und sind als zwingende Folge des derzeitigen Kompetenzgefüges hinzunehmen. Insgesamt ist der Integrationsprozess jedenfalls zur Zeit nicht auf Beseitigung der verschiedenen Strafrechtsordnungen angelegt, wozu eine solche Obergrenze aber führen würde. Bereits der GA Capotorti formulierte in der Rs. Amsterdam Bulb: „Was die Gefahr angeht, dass sich die Sicherungen für die Einhaltung einer Gemeinschaftsverordnung von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden, je nachdem, ob eine Strafsanktion eingeführt wird oder nicht, so hängt diese mit dem Unterschied der nationalen Rechtsordnungen zusammen.“521
Die Unverfälschtheit des Wettbewerbs kann nur dann Berücksichtigung finden, wenn die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen Ziel einer Ge520 521
Gröblinghoff, S. 27 f. GA Capotorti, in: EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137, 155 „Amsterdam Bulb“.
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meinschaftsregelung522 ist und jenes Ziel deshalb Eingang in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung findet. Führt die Einführung einer bestimmten Sanktion dann zu Wettbewerbsverzerrungen, „[. . .] würde das Ziel der Verordnung konterkariert, die Sanktion wäre in Bezug auf das Ziel der Verordnung unverhältnismäßig; dies gelte zumindest dann, wenn andere effektive Sanktionen denkbar wären, die weniger stark in den Wettbewerb eingriffen.“523
Die Wettbewerbsverfälschung kann aber keine eigenständige Obergrenze neben den Grundfreiheiten und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere auch den Gemeinschaftsgrundrechten bilden. Wettbewerbsgleichheit ist ein Motiv vieler gemeinschaftsrechtlicher Regelungen. Das Motiv bzw. Ziel ist aber mit dem vorgesehenen Instrumentarium weitestgehend zu verfolgen. Eine Umgehung dieser begrenzten Mittel durch eine Verkehrung des Motivs zum rechtlichen Instrument hat dagegen zu unterbleiben. c) Zusammenfassung des primärrechtlichen Maßstabs für Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft Die Vorgaben im Bereich des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft lassen sich trotz der dargestellten Abweichungen mit Satzger wie folgt zusammenfassen. „Die bisherige Untersuchung hat erbracht, dass dem deutschen Strafrecht „im Dienst der Gemeinschaft“ ein gemeinschaftsrechtlicher Rahmen gezogen ist. [. . .] Die Obergrenze dieses Rahmensystems wird dabei durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gebildet, dessen Untergrenze ergibt sich aus Art. 10 EG (Art. 5 EGV) in der Konkretisierung, die diese Vorschrift im Hinblick auf Sanktionsverpflichtungen der Mitgliedstaaten in mittlerweile ständiger Rechtsprechung des EuGH erfahren hat.“524
Satzger meint indes, auch das Gebot der Gleichbehandlung als Untergrenze flösse aus Art. 10 EG. Art. 10 EG begründet aber nur die Pflicht wirksamer Sanktionierung, welche durch die Rechtsprechung in Bezug auf 522 So im Falle der in Rede stehenden VO Nr. 543/64, vgl. GA van Gerven, in: EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2934 „Hansen“. 523 Satzger, S. 357 unter Einordnung des Schlussantrages des GA van Gerven, in: EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2934 „Hansen“. Eine Wettbewerbsverzerrung scheide bereits deshalb aus, weil auch die anderen Mitgliedstaaten an die gemeinschaftsrechtlichen Mindesterfordernisse gebunden seien, so dass auch die Verhältnismäßigkeit nicht entgegenstehe. 524 Satzger, S. 361.
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die Sanktionierung die dargestellte weitere Konkretisierung als Mindesterfordernis erfahren hat. Nur die Mindestkriterien der wirksamen, abschreckenden und angemessen Sanktionierung fließen damit direkt aus Art. 10 EG. Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft bewegt sich aber, wie die aufgezeigte Parallele zum Verwaltungsverfahrensrecht unterstreicht, gleich, ob der Sachverhalt eine Prüfung der Ober- oder Untergrenze verlangt, in einer Durchführungskonstellation, in der die allgemeinen Rechtsgrundsätze die Mitgliedstaaten binden, soweit die Umsetzung gemeinschaftsrechtlich determiniert ist. Im Übrigen unterliegen sie allein dem nationalen Grundrechtsregime. Postuliert der EuGH also Gleichbehandlung, so stellt dies die Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes dar, welcher punktuell Gleichbehandlung verlangt. Diese Gleichstellungsvermutung steht aber unter einem doppelten Vorbehalt, in dem die praktische Konkordanz der primärrechtlichen Vorgaben ihren Ausdruck findet. Zum einen darf eine Gleichstellung das aus Art. 10 EG in der Rs. Griechischer Maisskandal entwickelte Wirksamkeitserfordernis nicht missachten. Andererseits greift jegliche Sanktionierung in Individualrechte ein. Dies ist aber nur insoweit zulässig als eine angemessene Relation zur Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Interessen gewahrt wird. Als begrenzende Individualrechte stehen den Einzelnen im gemeinschaftsrechtlich determinierten Bereich neben den Grundfreiheiten auch die Gemeinschaftsgrundrechte zur Verfügung. Ob im konkreten Fall die entwickelte Ober- oder Untergrenze Anwendung findet, hängt allein von der im jeweiligen Sachverhalt in Rede stehenden Blickrichtung ab. So könnte ein Arbeitgeber einerseits geltend machen, eine verschuldensunabhängige Verantwortlichkeit greife in unverhältnismäßiger Weise in die gemeinschaftsrechtlich gewährten Individualrechte ein525, während es aus anderer Perspektive um die Frage gehen könnte, ob der Mitgliedstaat verpflichtet ist, eine verschuldensunabhängige Strafbarkeit des Arbeitgebers für Lenk- und Ruhezeitverstöße seiner Angestellten einzuführen526. Die beiden zitierten EuGH-Entscheidungen hatten die Gemeinschaftsrechtmäßigkeit der verschuldensunabhängigen Verantwortlichkeit zu beurteilen. Während der Arbeitgeber die Verletzung seiner Individualgewährleistungen, also der Obergrenzen monierte, betraf die zweite Entscheidung die verpflichtenden Mindestgrenzen im Interesse der Gemeinschaft.
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Vgl. EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911 ff. „Hansen“. Vgl. EuGH, Rs. C-7/90, Slg. 1991, I-4371 ff. „Vandevenne“, die einschlägige Verordnung hatte die in der Rs. Hansen relevante VO ersetzt. 526
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2. Vorgaben des Sekundärrechts für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft Die nationalen Rechtsanwender hätten neben diesen primärrechtlichen auch Vorgaben des Sekundärrechts für die mitgliedstaatliche Sanktionierung der Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht zu beachten. Deren Existenz klang bereits mehrfach bei der Untersuchung der Rechtsprechung zu den primärrechtlichen Vorgaben an. Zwar bedarf es aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I EG) einer Rechtsgrundlage im primären Gemeinschaftsrecht, doch entfällt die rechtliche Verbindlichkeit der Gemeinschaftsrechtsakte auch dann nicht, wenn eine Untersuchung der Kompetenznormen des Gemeinschaftsrechts ergäbe, dass die Gemeinschaft zu kriminalstrafrechtlichen Vorgaben gar nicht befugt ist. Im Gemeinschaftsrecht bleibt auch kompetenzwidrig erlassenes Recht bis zur Nichtigerklärung durch den EuGH wirksam, vgl. Art. 231 EG. An dieser Stelle soll jedoch der Versuch unternommen werden, aufzuzeigen, welche sekundärrechtlichen Vorgaben im kriminalstrafrechtlichen Bereich von der Gemeinschaft zu erwarten sind. Eine solche Betrachtung kann sich allein an der Vermutung orientieren, dass die Gemeinschaft nur im Rahmen ihrer Kompetenzen rechtsetzend tätig werden wird527. Deshalb erscheint es angezeigt, die Existenz und Reichweite der Rechtsetzungskompetenzen im Bereich des materiellen Kriminalstrafrechts an dieser Stelle kurz zu skizzieren528. Auch hier bietet sich die zuvor bereits getroffene Systematisierung an. Zu unterscheiden sind demnach gemeinschaftsrechtliche Vorgaben hinsichtlich der Strafbarkeitsvoraussetzungen bzw. der Primärnorm und solche Maßgaben, welche die Sanktion betreffen. Kollisionen können indes auch mit dem Sekundärrecht nur dann entstehen, wenn dieses unmittelbare Anwendbarkeit genießt. Nur insoweit wäre den Rechtsakten der Organe der Anwendungsvorrang vor dem widersprechenden nationalen Strafrecht einzuräumen. a) Kompetenz zu sekundärrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Primärnorm Betrachtet man die Möglichkeit der Gemeinschaftsorgane, die Strafbarkeitsvoraussetzungen im Wege der Rechtsetzung durch Verordnung zu vereinheitlichen oder durch eine Richtlinie zu harmonisieren, so ist auch an dieser Stelle auf die Akzessorietät des Strafrechts hinzuweisen. Das Strafrecht ist eben eine sekundäre Rechtsordnung, die an die Bewertungen einer 527 Dabei wird nicht übersehen, dass gemeinschaftliche Kompetenzverstöße existieren. 528 Vgl. die umfassende Prüfung bei Gröblinghoff, S. 83 ff.
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außerstrafrechtlichen Primärordnung anknüpft. Hinsichtlich etwaiger Vorgaben für diese Primärordnung macht es kompetenziell aber keinen Unterschied, dass die zugrundeliegende Ge- und Verbotsregelung durch den nationalen Gesetzgeber strafrechtlich bewehrt wurde. „Die durch den nationalen Gesetzgeber vollzogene Verbindung der Verhaltensnorm mit dem Strafrecht darf i. E. nicht dazu führen, dass erstere dem Anwendungsbereich der Harmonisierungsvorschriften des EG-Vertrags entzogen werden könnte, wenn deren Voraussetzungen ansonsten erfüllt sind.“529
Im Ergebnis bestehen damit im Vergleich zu den dem rein nationalen Strafnormen zugrundeliegenden Primärnormen keine Unterschiede. Soweit die jeweiligen Voraussetzungen der Ermächtigungsnormen vorliegen, ist eine gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzung zulässig. Insbesondere ist darin nicht die Anmaßung einer kriminalstrafrechtlichen Rechtsetzungskompetenz zu erblicken. b) Kompetenz zu sekundärrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Sanktionsseite Besonderheiten ergeben sich allerdings, wenn man die gemeinschaftliche Rechtsetzungskompetenz im Hinblick auf die Sanktion betrachtet. aa) Vorgaben in Verordnungen Gravierendster denkbarer Einfluss der Gemeinschaft auf die mitgliedstaatliche Sanktion wäre die Rechsetzung mittels Verordnung. Verordnungen gelten gem. Art. 249 II EG unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie sind als Mittel der Rechtsvereinheitlichung zumindest dem Grunde nach in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar und bedürfen folglich auch keiner Umsetzung durch die mitgliedstaatlichen Parlamente. Tatsächlich existieren Fälle, in denen die Gemeinschaft mittels Verordnung den Mitgliedstaaten Verpflichtungen oktroyierte, Sanktionsvorschriften zu erlassen. Das zeitlich wohl erste Beispiel ist Art. 16 VO Nr. 11 des Rates über die Beseitigung von Diskriminierungen auf dem Gebiet der Frachten und Beförderungsbedingungen aus dem Jahre 1960530 zu entnehmen, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, „geeignete Sanktionsvorschriften“ gegen Verkehrsunternehmer zu erlassen, die sich bestimmten Kontrollmaßnahmen entziehen oder die bestimmte Auskunftsverlangen nicht oder unzutreffend beantworten531. 529 530
Satzger, S. 406 f.; so bereits Tiedemann, NJW 1993, 23, 26. ABlEWG. 1960, S. 1121.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 209
Stützte man die Analyse der Rechtswirkung dieser Verordnung allein formal auf ihren Rechtscharakter, entfaltete sie unmittelbar anwendbare Vorgaben im Bereich der Sanktionen und die EG würde im Bereich des Kriminalstrafrechts rechtsetzend tätig, obwohl ihr diesbezüglich keine Kompetenz zustand. Es kommt aber nicht entscheidend auf die Bezeichnung oder die Art und Weise des Erlasses eines Rechtsaktes an, vielmehr ist vorrangig auf die Ermächtigungsgrundlage, den Regelungsgehalt und darauf abzustellen, welche Rechtswirkungen die Maßnahme erzeugen soll oder tatsächlich erzeugt532. Demnach können auch Verordnungen Bestimmungen enthalten, die nicht hinreichend konkret sind, um der unmittelbaren Anwendbarkeit fähig zu sein. Insoweit bedarf dann auch die o. g. Anweisung in der Verordnung einer Umsetzung ihrer Richtlinienelemente, so dass die Verordnungsvorgabe, „geeignete Sanktionsvorschriften“ zu erlassen, dem Grunde nach zulässig erscheint. Typisches Mittel der Anweisung bleibt indes die Harmonisierungsrichtlinie533. Festzuhalten bleibt dennoch, dass der Gemeinschaft die Kompetenz fehlt, konkrete kriminalstrafrechtliche Sanktionsvorgaben in Verordnungen zu treffen, weil sie insoweit rechtsetzend tätig werden würde. bb) Vorgaben in Harmonisierungsrichtlinien – die sog. strafrechtlichen Anweisungen Die Verpflichtung nationaler Gesetzgeber mittels Harmonisierungsrichtlinien nationale Sanktionsvorschriften zu schaffen, die Verstöße gegen Rechtsgüter oder Interessen des Gemeinschaftsrechts bewehren, ist grundsätzlich von der Schaffung supranationalen Kriminalstrafrechts zu unterscheiden. Bei der Anweisung des nationalen Strafgesetzgebers geht es nämlich um die Harmonisierung mitgliedstaatlicher Strafrechte durch bloße Zielvorgaben an die nationalen Gesetzgeber, nicht um die gemeinschaftliche Rechtsvereinheitlichung. Typisches Instrument einer solchen Harmonisierung ist folglich die Richtlinie, die durch bloße Zielverbindlichkeit gekennzeichnet ist. Nachfolgend sollen deshalb die Normen des EG-Vertrags zumindest kurz534 auf die Fähigkeit untersucht werden, die Rechtsgrundlage 531 Böse, S. 237 f.; weitere Beispiele nennen Bruns, S. 92; Dieblich, S. 262 ff. m. w. N.; Gröblinghoff, S. 83 (Fn. 1); Johannes, EuR 3 (1968), 63, 101 f. m. w. N. 532 Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 192; Scherzberg, Jura 1992, 572, 573; Magiera, Jura 1989, 595, 598 jeweils m. w. N. 533 Vgl. Satzger, S. 144 f. schlägt deshalb vor, solche Rechtsgrundlagen, die eine Harmonisierung mittels Verordnung zulassen, aufgrund der funktionellen Identität zwischen unzulässiger kriminalstrafrechtlicher Rechtsetzung und „Harmonisierung durch Verordnung“ teleologisch zu reduzieren, so dass eine Harmonisierung durch Verordnung im Bereich des Kriminalstrafrechts unzulässig sei.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
für solche Harmonisierungsrichtlinien hinsichtlich der Art und Höhe der Sanktion bilden zu können. Der EG-Vertrag enthält zunächst spezielle Kompetenznormen, ergänzt durch die sog. Lehre der implied powers535, die auf bestimmte Sachgebiete beschränkt sind und den allgemeinen Rechtsangleichungsbestimmungen vorgehen. Bei den allgemeinen Harmonisierungskompetenzen geht Art. 95 EG dem Art. 94 EG vor536. Ließe sich auch jenen Ermächtigungsnormen keine Harmonisierungskompetenz entnehmen, könnten die Harmonisierungsmaßnahmen allein noch auf Art. 308 EG gestützt werden. Bereits nahezu alle Spezialermächtigungen des Vertrages enthalten einen offenen Wortlaut, der kriminalstrafrechtliche Harmonisierungsmaßnahmen zulässt537. Insbesondere bedarf es keiner ausdrücklichen Zulassung kriminalstrafrechtlicher Sanktionsvorgaben538. Angesichts der hier vertretenen weiten Auslegung der speziellen Ermächtigungen kommt der sog. „implied powers“-Lehre keine Bedeutung zu. Greifen diese speziellen Befugnisse infolge ihrer sachgebietsspezifischen Begrenzung nicht ein, gerät zum einen Art. 94 EG in das Blickfeld des Interpreten, der lediglich eine unmittelbare Auswirkung auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes fordert539. Spezieller verlangt Art. 95 EG einen Zusammenhang 534
Vgl. die umfassende Erörterung bei Gröblinghoff, S. 91 ff. Danach stehen der Gemeinschaft ungeachtet des Wortlauts der Ermächtigungsnorm all jene Kompetenzen zu, die zur wirksamen und sinnvollen Erfüllung der bereits ausdrücklich eingeräumten Befugnis ergänzend erforderlich sind, vgl. Schweitzer/Hummer, Rn. 338. 536 Dem vereinfachten Verfahren des Art. 96 EG kam aufgrund seiner restriktiven Voraussetzungen bisher keine Bedeutung zu. Obwohl eine „Verzerrung“ der Wettbewerbsbedingungen auch durch das Strafrecht ausgelöst werden kann, ist auch in Zukunft eine erweiterte Bedeutung nicht zu erwarten, so dass diese Rechtsgrundlage hier vernachlässigt werden kann. Vgl. ausführlich zu den Voraussetzungen Gröblinghoff, S. 107; Satzger, S. 434. 537 So auch Schwarzburg/Hamdorf, NStZ 2002, 617, 619; Satzger, S. 408 f. m. w. N., der aber infolge des weiten Grundfreiheitsverständnisses die Gefahr zeichnet, dass sämtliches nationales Recht grundfreiheitsrelevant sei und über die grundfreiheitlichen Rechtsangleichungskompetenzen zu harmonisieren wäre, vgl. Satzger, S. 415 ff. Er vertritt dann eine Reduktion der Kompetenznorm durch Einführung eines Zweckkriteriums, verkennt aber, dass die h. M. eine Reduktion bereits bei der Grundfreiheitsrelevanz vornimmt, so dass es einer solchen Einschränkung auch nach h. M. nicht bedarf. Verfolgt man, wie hier vertreten, eine gleichheitsrechtliche Lesart stellt sich das Problem ohnehin nicht. 538 So aber Dannecker, in: Ulsamer, Lexikon, 302, 308; ders., Strafrecht der EG, S. 59; Dieblich, S. 271; Gröblinghoff, S. 94; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 107; Tiedemann, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber, 133, 146. 539 Eine Eignung des Kriminalstrafrechts, Einfluss auf ökonomische Entscheidungen im Rahmen der vom EG-Vertrag umfassten Wirtschaftstätigkeiten auszuüben, wird sich angesichts der durch Verhängung einer Strafe drohenden Kosten nicht 535
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 211
mit der Verwirklichung des Binnenmarktes540. Beide Vorschriften lassen grundsätzlich auch Harmonisierungen auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts zu541. Besonderer Beachtung bedarf noch Art. 280 EG. Jedenfalls dem Absatz 3 kommt nicht die Fähigkeit zu, als Rechtsgrundlage für Harmonisierungsmaßnahmen zu dienen, richtet er sich doch insgesamt ausschließlich an die Mitgliedstaaten und schafft daher keine Kompetenz für die Organe542. Dagegen legt der Wortlaut des Art. 280 IV 1 EG ein Verständnis als Rechtsetzungskompetenz nahe, welche sich auch auf das Kriminalstrafrecht erstreckt. Doch bestimmt Satz 2, dass „die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege [. . .] von diesen Maßnahmen unberührt (bleibt)“. Wie diese Einschränkung zu interpretieren ist, insbesondere ob damit der gesamte Bereich des Kriminalstrafrechts von der Kompetenz ausgenommen wird, ist heftig umstritten543. Es bleibt abzuwarten, ob die Gemeinschaft zumindest harmonisierende Richtlinien auf jene Vorschrift stützen wird. Ausgeschlossen erscheint dies jedenfalls nicht544. Letztlich existiert auf Gemeinschaftsebene noch das sog. Vertragsleugnen lassen. Insbesondere wird die Entscheidung auch durch die präventive Wirkung des Strafrechts beeinflusst, so dass das Argument, der redliche Wirtschaftteilnehmer hätte nichts zu befürchten, nicht verfängt, und eine unmittelbare Auswirkung auf den Gemeinsamen Markt möglich ist. 540 Gemeinschaftsrechtliche Harmonisierungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Strafrechts dienen dem Ziel, wettbewerbsverfälschende Einflüsse abzubauen, weisen daher einen Binnenmarktbezug auf und sind zulässig, vgl. detailliert Satzger, S. 430 ff. m. w. N. und zum Vorbehalt des Art. 95 II EG. 541 Kahl, in: Callies/Ruffert, Art. 94 EG Rn. 14; Dannecker, in: Ulsamer, Lexikon, 302, 308; Dieblich, S. 271; Taschner, in: GTE, Art. 100 Rn. 28; Jung/Schroth, GA 1983, 241, 263; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 67; Oppermann, Rn. 1260; Satzger, S. 419, 430, der m. E. nicht überzeugend einschränkend voraussetzt, dass bereits mindestens ein Mitgliedstaat Kriminalstrafrecht geschaffen hat. Ansonsten handele es sich um „Rechtsschöpfung“. 542 Satzger, S. 435 ff. m. w. N., der sich auch mit der Gegenansicht auseinandersetzt und diese mit weiteren systematischen und historischen Argumenten überzeugend ablehnt; ebenso Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 21; Pache, S. 228 ff. 543 Vgl. die Argumentation bei Satzger, S. 138 ff., 437; ders., ZRP 2001, 549, 552 jeweils m. w. N., der im Satz 2 eine Ausnahme des Kriminalstrafrechts erblickt; zurückhaltend auch Schwarzburg/Hamdorf, NStZ 2002, 617, 620; Musil, NStZ 2000, 68; a. A.: Berg/Karpenstein, EWS 1998, 77, 81; Dannecker, Hirsch-FS, 141, 144; Eisele, JZ 2001, 1157, 1160; Geiger, Art. 280 Rn. 3; Hecker, in: Lenz, Art. 280 EG Rn. 2; Moll, S. 6 ff.; Eser, in: S/S, Vorbem vor § 1 Rn. 26; Tiedemann, AGON Nr. 23 (1999), 7 ff.; ders., GA 1998, 107, 108; ders., Lenckner-FS, 411, 415; ders., in: Delmas-Marty/Vervaele, Corpus Juris, 385 ff.; Wolffgang/Ulrich, EuR 33 (1998), 616, 644. 544 Vgl. aber den Vorschlag der Kommission für einen Art. 280 a III EG: „Der Rat legt nach dem Verfahren des Artikel 251 die Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen Staatsanwalts fest und erlässt insbesondere (a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale von Betrug und jeder anderen
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
lückenschließungsverfahren des Art. 308 EG, das jedoch nur dann in Betracht kommt, wenn „in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen“ sind. Trotz ihres subsidiären Charakters können harmonisierende Rechtsakte zumindest grundsätzlich auch auf diese Vorschrift gestützt werden. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Kompetenzvorschriften des EG-Vertrages zumindest regelmäßig in der Lage sind, die Rechtsgrundlage anweisender Harmonisierungsrichtlinien im Bereich des Strafrechts zu bilden. Die Gemeinschaftsorgane haben aber bei jeder Ausübung dieser Kompetenzen die Kompetenzausübungsbeschränkungen des Art. 5 II und III EG zu beachten, so dass es fraglich erscheint, ob diese Bestimmungen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz entgegenstehen. Steht das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 II EG jedenfalls grundsätzlich der Ausübung der gefundenen Gemeinschaftskompetenzen im strafrechtlichen Bereich nicht entgegen545, so wird die Reichweite der Kompetenz maßgeblich von der Erforderlichkeitsprüfung des Art. 5 III EG bestimmt. Fraglich ist diesbezüglich insbesondere, ob die Gemeinschaft im Wege detaillierter Richtlinien, die Mitgliedstaaten zum Erlass in Art und Höhe bestimmter Sanktionen verpflichten kann. Solche detaillierten Richtlinien degradierten die nationalen Rechtsetzungsorgane zwar zu unselbständigen Statisten der europäischen Rechtsetzung ohne jegliche konstruktive Entscheidungsbefugnis546, doch besteht trotzdem eine hinreichende demokratische Legitimation, nämlich mittelbar durch die Rückkopplung des Rates der Gemeinschaft an die nationalen Parlamente, das Europäische Parlament und eingeschränkt im Rahmen formaler Umsetzung nochmals an das nationale Parlament. Gegen die Zulässigkeit solcher detaillierter Vorgaben im Hinblick auf die Art und Höhe von Sanktionen spricht allerdings, dass sie angesichts der tiefgreifenden Unterschiede in den nationalen Strafrechtssystemen zu Brüchen in einzelnen kohärenten nationalen Systemen führen könnte. Es steht sogar zu befürchten, dass eine unflexible gemeinschaftsrechtliche Anweisung infolge verschiedener mitgliedstaatlicher Umsetzungsbedingungen gerade zu jenen Unterschieden führt, die eigentlich per Harmonisierung abgebaut werden sollen. Wettbewerbsverfälschungen lassen sich regelmäßig bereits durch weniger regelungsintensive Vorgaben abbauen, die sich auf Zielvorgaben berechtswidrigen Handlung, die gegen die Finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet ist, sowie der Strafen für alle Straftatbestände [. . .]“, KOM (2001) 715, http://europa.eu.int/olaf/livre_vert. 545 Vgl. zu den einzelnen Voraussetzungen des Prinzips und deren Anwendung auf die kriminalstrafrechtliche Harmonisierung Satzger, S. 439 ff. m. w. N. 546 Sie können die Umsetzung verweigern, da ihr Umsetzungsverhalten gemeinschaftsrechtlich nie ersetzt werden kann. Vgl. umfassend zum Problem Gröblinghoff, S. 111 ff.
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schränken. Letztlich ist gegen eine Kompetenz zu detaillierten Anweisungen anzuführen, dass Richtlinien zwar nie zu Lasten des Einzelnen unmittelbar angewendet werden könnten, sie aber im Ergebnis mangels mitgliedstaatlichem Entscheidungsspielraum trotzdem den Effekt einer gemeinschaftlichen Rechtssetzung im Kriminalstrafrecht hätten. Eine solche Umgehung hat zu unterbleiben. Im Ergebnis lassen die gemeinschaftlichen Kompetenznormen eine Harmonisierung des Strafrechts zu547. Diese hat sich indes auf die Rechtsform der Richtlinie bzw. richtlinienartige Vorgaben in Verordnungen zu beschränken, weil dem Gemeinschaftsrecht die Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbaren Strafrechts fehlt. Diese Vorgabe darf auch nicht durch die Harmonisierung mittels einer detaillierten Richtlinie, bei der die Umsetzung bloßer Formalismus wäre, umgangen werden548. Im Einklang mit der derzeitigen Rechtspraxis ist somit auch für die Zukunft davon auszugehen, dass die Harmonisierungsvorgaben des Gemeinschaftsgesetzgebers sich hinsichtlich der Sanktionsseite auf die zulässige deklaratorische Wiedergabe der Mindestvorgaben aus Art. 10 EG beschränken wird549. Insoweit bedarf es nicht einmal einer zusätzlichen Kompetenz550. 3. Kollisionslagen im Bereich des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft Betrachtet man Kollisionen wiederum mit dem Bild aus der Mengenlehre, so diente der vorstehende Komplex der Analyse des Mengeninhalts des Gemeinschaftsrechts. Kollisionen setzen nun aber widersprechende nationale Gewährleistungen voraus. Auch hinsichtlich des Strafrechts im Dienste des Gemeinschaftsrechts soll die für das rein nationale Strafrecht getroffene Systematisierung fruchtbar gemacht werden. Zu erwägen sind daher einerseits Kollisionen der Strafbarkeitsvoraussetzungen bzw. der Primärnorm mit dem 547
Vgl. auch Bridge, Crim.L.R. 1976, 88; Cuerda Riezu, in: Bausteine, S. 367 ff.; Dannecker, Strafrecht der EG, S. 59 ff.; Dieblich, S. 270; Dine, Crim.L.R. 1993, 246, 247; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 67; Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 972. 548 A. A.: Funck-Brentano, EuZW 1992, 745; Grasso, S. 192 ff. 549 Beispiel einer solchen deklaratorischen Wiedergabe ist Art. 5 I der Richtlinie 98/84 v. 20.11.1998 über den rechtlichen Schutz von zugangskontrollierten Diensten und von Zugangskontrolldiensten, ABlEG L 320, S. 54, der bestimmt: „Die Sanktionen müssen wirksam, abschreckend und der potentiellen Wirkung der Zuwiderhandlung angemessen sein.“; vgl. auch die weiteren Beispiele bei Dannecker, Strafrecht der EG, S. 60 sowie bei Hülsmann, in: Eser/Huber, Strafrechtsentwicklung in Europa 4.1, S. 182 ff. 550 Bruns, S. 92; Böse, S. 414; Dieblich, S. 288; Oehler, Jescheck-FS, Bd. 2, 1399, 1408; für eine weitergehende Konkretisierung der „Ahndungseffekte“ durch die Einführung einer Regelbeispielstechnik in den Richtlinien Satzger, S. 460 ff.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Gemeinschaftsrecht sowie andererseits Widersprüche mit der Sanktionsseite. Eine Kollision, die über den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zu lösen wäre, besteht dem hier vertretenen Verständnis zufolge aber nur, wenn beide widersprechenden Normen im konkreten Sachverhalt entscheidungserheblich anzuwenden wären. Vorausgesetzt werden demnach unmittelbar anwendbare Vorgaben des Gemeinschaftsrechts. Nur dann bliebe das widersprechende nationale Strafrecht außer Anwendung. a) Kollisionen mit der Primärnorm Das Strafrecht nimmt keine Bewertung eines bestimmten Verhaltens als Recht oder Unrecht vor. Es verhält sich vielmehr, um der Einheit der Rechtsordnung willen, akzessorisch zu einer außerstrafrechtlichen Primärrechtsordnung, indem es dessen Evaluation übernimmt. Die Kollision kann nur mit der bewertenden nationalen Primärnorm entstehen. aa) Idealfall: Gemeinschaftsrechtliche Verhaltensnorm wird bewehrt Deutsches Strafrecht steht im Dienste der Gemeinschaft, wenn es Verstöße gegen gemeinschaftliche Handlungs- oder Unterlassungspflichten sanktioniert. Solche Pflichten fließen insbesondere auch dann aus dem Gemeinschaftsrecht, wenn gemeinschaftliche Rechtsgüter und Interessen vorliegen, deren Funktionsfähigkeit es zu gewährleisten gilt. Sanktioniert eine nationale Strafnorm Verstöße gegen diese Pflichten, so bewehrt sie eine Primärnorm, die dem Gemeinschaftsrecht entstammt. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist aber eine Kollisionsregel, die Widersprüche zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht löst. Entstammt die widersprechende Norm aber dem Gemeinschaftsrecht, so wird sie nicht vom Vorrang erfasst. Die gemeinschaftsrechtliche Verhaltensnorm kann allein mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht in Widerspruch treten551. bb) Erweiterung der Strafbarkeit: Verdeckt wird eine zusätzliche nationale Primärnorm bewehrt Die vorstehende Konstellation beschrieb den Idealfall, dass sich gemeinschaftsrechtlicher Handlungs- oder Unterlassungsbefehl und die nationalen Strafbarkeitsvoraussetzungen insofern decken, dass Letzterer durch negative 551 Nichtigkeit tritt hier, außer in Fällen schwerer Mängel, erst durch Gestaltungsurteil des EuGH infolge einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 230, 231 EG ein. Das Urteil wirkt ex tunc und erga omnes. Bleckmann, Europarecht Rn. 881 f.; Oppermann, Rn. 747; Streinz, Europarecht Rn. 537.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 215
Umschreibung nur den gemeinschaftsrechtlichen Befehl strafrechtlich umsetzt. Nun gibt es aber Fälle, in denen die nationale Strafnorm tatbestandlich weitergehend sanktioniert als dies gemeinschaftsrechtlich angezeigt ist. Dieser Aspekt wurde in der Rs. Hansen vorgetragen, in der u. a. gegen die verschuldensunabhängige strafrechtliche Verantwortlichkeit dänischer Arbeitgeber vorgebracht wurde, diese nationale Regelung erweitere die Gemeinschaftsverordnung. Der EuGH entschied „Eine solche Verantwortlichkeit stellt [. . .] nur ein Mittel dar, um die Einhaltung der durch diese Bestimmungen festgelegten Grenzen sicherzustellen.“552
Eine Erweiterung der Pflichten der Höchstlenkzeit und Tagesruhe erblickte der EuGH mithin weder in der Etablierung einer objektiven Verantwortlichkeit noch in der des Arbeitgebers für Verstöße seiner Arbeitnehmer. Damit lag auch in diesem Fall die oben dargestellte Grundkonstellation vor, dass das nationale Recht genau die Primärnorm sanktionierte, die gemeinschaftsrechtlich vorgegeben war. Ein Verstoß gegen die Verordnung war unter diesem Aspekt folglich nicht gegeben. Dennoch sind Sachverhalte denkbar, in denen der nationale Gesetzgeber den gemeinschaftlichen Rahmen dadurch überschreitet, dass er durch nationale Strafbarkeitsvoraussetzungen eine erweiterte Primärnorm bewehrt. In diesem Fall sanktioniert er ohne ausdrückliche Nennung, zusätzlich zur gemeinschaftsrechtlichen Primärnorm eine nationale Primärnorm. Satzger formuliert: „Diese wird regelmäßig in direkte Kollision mit der gemeinschaftsrechtlichen Verhaltensnorm treten, wenn sich aus dieser durch Auslegung entnehmen lässt, dass das entsprechende Verhalten nur unter den dort genannten Voraussetzungen rechtswidrig sein soll, was dann die Unanwendbarkeit auch der Strafnorm zur Folge hat.“553
Diese Aussage trifft indes nicht vollends zu, denn ergibt die Auslegung, dass das Verhalten nur unter den dort genannten Voraussetzungen strafbar sein soll, so handelt es sich um eine Gemeinschaftsnorm abschließenden Charakters, deren strafrechtliche Erweiterung stets und nicht bloß „regelmäßig“ gegen die gemeinschaftsrechtliche Verhaltensnorm verstößt. Voraussetzung ist immer die Feststellung des abschließenden Charakters, also die Aussage, das übrige Verhalten sei erlaubt. Lässt sich eine solche Aussage dagegen nicht ermitteln, so handelt es sich dennoch um eine zusätzliche nationale Verhaltensnorm, die mit den Grundfreiheiten kollidieren kann. Eine Kollision mit den Gemeinschaftsgrundrechten ist dagegen nicht möglich, weil man mit der zusätzlichen 552 553
EuGH, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911, 2934 „Hansen“. Satzger, S. 500.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Sanktionierung einer mitgliedstaatlichen Primärnorm den gemeinschaftsrechtlich determinierten Durchführungsbereich verlässt, so dass die Mitgliedstaaten nicht mehr an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Insoweit gelten dann allein die nationalen Grundrechte. Die gefundene Grenze unterscheidet sich im Ergebnis nicht von den für das rein nationale Strafrecht ermittelten Obergrenzen. Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass es sich um eine zusätzliche nationale Norm handelt, konsequent. cc) Verkürzte Strafbarkeit: Widerspruch zu den gemeinschaftsrechtlichen Mindesterfordernissen Bedeutsamer ist dagegen die letzte denkbare Fallgestaltung, in der das nationale Strafrecht versucht, durch das Einfügen zusätzlicher Tatbestandsmerkmale den strafrechtlichen Schutz auf eine bestimmte Auswahl von Fällen zu beschränken. So könnte das nationale Recht beispielsweise nur vorsätzliches Handeln unter Strafe stellen, während das Gemeinschaftsrecht alle Verstöße verbietet, gleich ob vorsätzlich oder fahrlässig. Anders als in der zuvor behandelten Konstellation verstößt die nationale Sanktionierung dann aber nicht gegen die außerstrafrechtliche Primärnorm des Gemeinschaftsrechts. Normiert diese nämlich die Pflicht zur Angabe der subventionserheblichen Tatsachen, so widerspricht auch die bloß partielle Sanktionierung diesem Gebot nicht. Die Sanktionierung greift quasi eine Teilmenge verbotener Verhaltensweisen heraus und sanktioniert diese. Jene Verhaltensweisen waren aber auch nach dem Gemeinschaftsrecht verboten, so dass ein Widerspruch insoweit fehlt. Beschränkt sich eine Sanktionierung aber auf bestimmte Verstöße, so könnte allein eine Aussage widersprechen, die eine weitergehende Sanktionierung, z. B. aller Verstöße erforderte. Solche Vorgaben enthalten aber nicht die gemeinschaftsrechtlichen Verhaltensnormen. Gemeinschaftliche Mindestvorgaben fließen allein aus Art. 10 EG bzw. der deklaratorischen sekundärrechtlichen Wiedergabe554. So enthält Art. 10 EG die Pflicht zur wirksamen, d.h. abschreckenden Sanktionierung, die nur erreicht wird, wenn die Art und Höhe der Sanktion zum Verstoß in einem angemessenen Verhältnis steht. Satzger setzt sich deshalb mit der Frage auseinander, wie Konstellationen zu beurteilen sind, in denen zwar nicht die Tatbestandsvoraussetzungen eine Verengung der bewehrten Primärnorm bewirken, sondern außertatbestandliche Normen existieren, die das gemeinschaftsrechtlich verbotene Verhalten unter bestimmten Vo554 Zur Zulässigkeit sekundärrechtlicher Vorgaben hinsichtlich der Sanktionierungspflicht s. o. 1. Teil C. II. 2.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 217 raussetzungen erlauben. Angesprochen ist damit ein eventueller Widerspruch zu den nationalen Rechtfertigungsgründen, weil seiner Ansicht nach Art. 10 EG die unmittelbar anwendbare Vorgabe der Sanktionierung enthält, so dass eine Kollision vorliege. Rechtfertigungsgründe brächten die Übereinstimmung mit der deutschen Rechtsordnung zum Ausdruck, so dass sämtliche Sanktionen, d.h. auch verwaltungsoder privatrechtliche, ausschieden555. Seinem System entsprechend ordnet Satzger jene Konstellation als indirekte Kollision ein, weil die Normen unterschiedlichen Sachgebieten entstammten und ein unterschiedliches Regelungsziel verfolgten. Während die Rechtfertigungsgründe einen umfassenden, den Wertungen der Rechtsordnung entsprechenden Interessenausgleich für besondere Konfliktlagen vorsähen, liege der Sanktionierungspflicht aus Art. 10 EG eine abstrakte Bewertung der Schutzbedürftigkeit von Gemeinschaftsinteressen für den Regelfall zugrunde. Anders als bei den direkten Kollisionen könne daher keine grundsätzliche Vermutung für einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts bestehen, vielmehr sei eine flexible und einzelfallbezogene Lösung angezeigt, die die jeweiligen Interessen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten in Ausgleich bringt556. „Wesentliche Bedeutung im Rahmen dieser Abwägung sollte dabei der Erwägung zukommen, inwieweit Rechtfertigungsgründe auch in der Rechtsprechung des EuGH insbesondere zu supranationalen Sanktionen entwickelt und anerkannt worden sind [. . .] Denn bei indirekten Kollisionen müssen die europäischen Regelungsziele, wie sie vor allem in den Zielen des Vertrages sowie den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zum Ausdruck kommen, Maßstab für die Anwendung des nationalen Rechts sein.“557
Satzgers Prüfung ist insoweit zuzustimmen, dass allein der Umstand der nationalen Verortung der Rechtfertigungsgründe außerhalb des Tatbestandes558 für die Gemeinschaftsrelevanz nicht ausschlaggebend sein kann. Entscheidend ist die Auswirkung auf die gemeinschaftsrechtliche Sanktionierungspflicht, nämlich die Verhinderung der einheitlichen Durchsetzung durch Ausschluss der Strafbarkeit unter bestimmten Voraussetzungen559. Die 555 Hinsichtlich der Entschuldigungs- und Strafausschließungsgründe stellt sich ein entsprechendes Problem nicht, weil diese z. B. eine privatrechtliche Sanktionierung zulassen, die unmittelbare Anwendbarkeit sich aber nach Ansicht Satzgers nur auf die Sanktionierung als solche erstreckt, vgl. Satzger, S. 504. 556 Satzger, S. 486. 557 Satzger, S. 504 ff. 558 Z. T. werden die Rechtfertigungsgründe im deutschem Recht als negative Tatbestandsmerkmale aufgefasst, vgl. Kaufmann, Schuld und Strafe, S. 102; ders., JZ 1954, 653; ders., JZ 1956, 353 u. 393; Otto, Grundkurs AT, § 5 III; Samson, in: SK, vor § 32 Rn. 7 ff. 559 Vor diesem Hintergrund bleibt dann unklar, warum er die Gemeinschaftsrelevanz nur prüft, sofern die strafbarkeitsausschließende Wirkung von einer außertatbestandlichen Rechtfertigungsnorm ausgeht. Tatbestandsmerkmale bewirken den gleichen Effekt, so dass eine geschiedene Beurteilung, mag sie auch im Ergebnis zu entsprechenden Ergebnissen gelangen, nicht überzeugt.
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Lösung Satzgers offenbart im Übrigen aber erhebliche Schwächen. So geht es auch an dieser Stelle um Normwidersprüche die zugunsten einer Regelungsalternative zu lösen sind. Dabei spielt der Zweck einer Regelung keine Rolle, den Satzger aber bei der Zuordnung als direkte oder indirekte Kollision wieder heranziehen will. Widersprüche sind gelöst von jenen Bewertungen zu ermitteln. Außerdem liegen seiner Lösung zwei Prämissen zugrunde, die es zu überprüfen gilt. Eine Kollision, die den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts nach sich zöge, liegt nämlich auch nach seinem Verständnis nur dann vor, wenn sich zum einen die nationalen Rechtfertigungsgründe und die Pflicht aus Art. 10 EG widersprechen. Darüber hinaus ist die Pflicht aus Art. 10 EG nur dann entscheidungserheblich anzuwenden, wenn sie derart bestimmt und unbedingt ist, dass sie unmittelbar anwendbare Pflichten enthält. Zunächst gilt es deshalb zu ermitteln, ob überhaupt ein Normwiderspruch vorliegt, wozu die genaue Definition beider potentiell kollidierender Normbereiche erforderlich ist. Satzger stellt fest, Art. 10 EG verlange mitgliedstaatliche Sanktionierung. Mag man dieser These hinsichtlich der Grundaussage des Art. 10 EG noch zustimmen, so ist zu beachten, dass sich der nationale Rechtsanwender in einem gemeinschaftsrechtlich determinierten Bereich bewegt, in dem die allgemeinen Rechtsprinzipien mittels systematischer Auslegung die ursprüngliche Sanktionierungspflicht modifizieren. Dies verhilft aber nicht nur dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem Gleichbehandlungsgrundsatz zur Anwendung, sondern auch allen übrigen aus den Rechtserkenntnisquellen geschöpften allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die dogmatische Entwicklung des Gemeinschaftsrechts ist hinsichtlich der Geltung von Rechtfertigungsgründen als allgemeine Rechtsprinzipien bisher wenig fortgeschritten. Fest steht aber, dass sowohl der EuGH als auch die meisten Mitgliedstaaten die Kategorien der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit unterscheiden560. So sind Notwehr und Notstand dem Strafrecht aller Mitgliedstaaten vertraute Rechtfertigungsgründe561. Der EuGH hat demzufolge die Rechtfertigungsgründe der Notwehr562 und des Notstandes563 als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anerkannt564. Grundsätzlich gilt es zu beachten, dass die Rechtfertigungs560
Dannecker, Hirsch-FS, 141, 153. Böse, S. 212, 214 unter Hinweis auf die einzelnen mitgliedstaatlichen Vorschriften. 562 EuGH, verb. Rs. 154 u. a./78 u. 39 u. a./79, Slg. 1980, 907 „Vlasabbia I“; verb. Rs. 100–103/80, Slg. 1983, 1825, 1901 „Musique Diffusion Francaise“. 563 EuGH, Rs. verb. Rs. 154 u. a./78 u. 39 u. a./79, Slg. 1980, 907, 1023 „Vlasabbia I“; verb. Rs. 303 u. 312/81, Slg. 1983, 1507, 1530 „Klöckner“. 561
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gründe die Einheit der Rechtsordnung gewährleisten, indem sie einen Ausgleich zwischen verschiedenen widerstreitenden Interessen herbeiführen. Angesichts des umfassenden gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes ist nunmehr davon auszugehen, dass die auf nationaler Ebene existierenden aus den Grundrechten fließenden Interessen ihr Äquivalent auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts finden bzw. finden werden. Auch auf jener Ebene bedarf es folglich der Schaffung eines sinnvollen Ausgleichs, so dass davon auszugehen ist, dass sich auf Gemeinschaftsrechtsebene, wie zum Teil schon geschehen, den nationalen Rechtfertigungsgründen vergleichbare Moderationsnormen bilden werden. Bis dahin sind die kollidierenden Interessen jedenfalls aufgrund allgemeiner Erwägungen zum Ausgleich zu bringen, indem eine praktische Konkordanz mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbesondere den Gemeinschaftsgrundrechten geschaffen wird. Setzt man diese Annahme voraus, so modifizieren diese Rechtsprinzipien im Wege systematischer Auslegung die Pflicht aus Art. 10 EG und werden daher regelmäßig zu Ergebnissen gelangen, die denen der nationalen Rechtfertigungsgründe entsprechen565. Die nationalen Rechtfertigungsgründe stehen daher regelmäßig der Pflicht aus Art. 10 EG nicht entgegen, so dass es insoweit bereits an einem Widerspruch fehlt, der über den Anwendungsvorrang zu lösen wäre. Sollte trotz dieser Feststellung ein Widerspruch ermittelt werden, weil die nationale Norm in weiterem Umfang Straffreiheit gewährt als dies nach dem Gemeinschaftsrecht möglich ist, so folgt daraus trotzdem noch nicht automatisch die Unanwendbarkeit des nationalen Rechtfertigungsgrundes und somit die Strafbarkeit des Delinquenten. Die Kollisionsregel des Anwendungsvorrangs verlangt schließlich, dass beide Regelungsregime entscheidungserheblich auf den konkreten Fall anzuwenden sind, was aber eine unmittelbare Anwendbarkeit der dargestellten Pflicht aus Art. 10 EG voraussetzt. Ruft man sich die Voraussetzungen unmittelbarer Anwendbarkeit primären Gemeinschaftsrechts ins Gedächtnis, so erfordert diese rechtliche Vollkommenheit, d.h. die Norm muss hinreichend klar und genau formuliert sein, so dass sie ohne jede weitere Konkretisierung anwendbar ist. Daneben muss sie inhaltlich unbedingt, also vorbehaltlos und ohne zeitlichen Auf564 Auf diesen Umstand weist auch Satzger, S. 505 hin, verwendet ihn aber erst bei seiner Abwägung, d.h. nach Feststellung eines Widerspruchs, was nicht überzeugt; vgl. außerdem zu den Rechtfertigungsgründen Böse, S. 206 ff.; Dannecker, Hirsch-FS, 141, 156 ff.; Tsolka, S. 185 ff. 565 Satzger, S. 554 selbst bezeichnet die Möglichkeit, ein Ergebnis aus Art. 10 EG herzuleiten, welches den allgemeinen Rechtsgrundsätzen also der Gemeinschaftsrechtsordnung widerspricht, im Kontext der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung als „Perversion“.
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schub anzuwenden sein und den Mitgliedstaaten Handlungs- oder Unterlassungspflichten auferlegen. Satzger meint zunächst, die allgemein gehaltene Formulierung des Art. 10 EG eröffne den Mitgliedstaaten ein breites Durchführungsermessen. Die Pflichten ließen sich weder klar entnehmen, noch ließe sich eine rechtliche Vollkommenheit bejahen. Für eine unmittelbare Anwendbarkeit sei jedoch nicht erforderlich, dass die Norm keinerlei Auslegung bedarf. „Ausnahmsweise kann der verbleibende mitgliedstaatliche Spielraum aufgrund der konkretisierenden Interpretation des Art. 10 EG [. . .] durch den EuGH soweit eingeschränkt sein, dass es gerechtfertigt erscheint, dieser Norm zumindest in einzelnen Hinsichten unmittelbare Anwendbarkeit zuzuerkennen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Mitgliedstaat seine Verpflichtung in Anbetracht der Rechtsprechungskriterien nur durch eine einzige Maßnahme [. . .] erfüllen kann. [. . .] Übertragen auf die hier interessierende Frage nach einer (teilweisen) unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 10 EG [. . .], bedeutet dies, dass eine solche nur insoweit bejaht werden könnte, wie sich dem Art. 10 EG [. . .] eine Verpflichtung zur Verhängung einer hinreichend bestimmten Mindestsanktion des Gemeinschaftsrechts entnehmen lässt. [. . .] Eine hinreichend klare Bestimmung, wie die mindestens anzuwendenden Sanktionen auszusehen haben, erfolgt durch diese drei Kriterien allerdings nicht. Bei sämtlichen dieser Anforderungen an die mitgliedstaatliche Sanktion handelt es sich – wie gesehen – um ‚gemeinschaftsrechtliche Rahmenbegriffe‘, bei deren Bestimmung dem nationalen Gesetzgeber maßgebliche Bedeutung und ein erheblicher Spielraum zukommt. Trotzdem lässt sich ein absoluter Minimalgehalt hinreichend sicher ermitteln: Das nationale Recht darf jedenfalls nicht ausschließen, dass überhaupt eine Sanktion verhängt werden kann.“566
Ist Satzger hinsichtlich seiner allgemeinen Ausführungen bezüglich der partiellen unmittelbaren Anwendbarkeit und der Feststellung, diese Grundsätze gälten auch hinsichtlich des Primärrechts, noch zuzustimmen, so wenig überzeugt sein Ergebnis, Art. 10 EG enthalte eine hinreichend bestimmte Mindestsanktion567. Bereits die Aussage, absoluter Minimalgehalt des Art. 10 EG sei die Aussage, es müsse stets eine Sanktion verhängt werden, wird durch die Existenz der Rechtfertigungsgründe auf Gemeinschaftsebene widerlegt. Doch auch gelöst von diesem Ergebnis überzeugt seine Lösung nicht. Die unmittelbare Anwendbarkeit setzt hinreichend klare Rechte und Pflichten nämlich deshalb voraus, weil die einzelnen sich auf diese vor den nationalen Gerichten berufen können. Sie treten im Falle des Widerspruchs an die 566
Satzger, S. 503. Insbesondere überrascht dieses Ergebnis, weil er zuvor den Verweisungen auf nationales Strafrecht einen entsprechenden Regelungsgehalt zuspricht, diesbezüglich die unmittelbare Anwendbarkeit aber ablehnt, vgl. Satzger, S. 198 ff. 567
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Stelle des nationalen Rechts und finden Anwendung. Malen wir uns aber aus, welche Rechtslage bestünde, wenn der von Satzger ermittelte Mindestgehalt anzuwenden wäre. Die Vorgabe der Sanktionierung an sich ist vollkommen unbestimmt und bedarf der weiteren Konkretisierung. Insbesondere gibt das Gemeinschaftsrecht keine konkrete Minimalsanktion vor, die sich angesichts der Vielgestaltigkeit möglicher Sanktionen auch nicht zwingend ergibt. Auf die jeweils mildeste nationale Sanktion abzustellen, überzeugte nicht, denn dann speiste sich der Inhalt der Gemeinschaftsvorgabe aus konkretisierendem nationalem Recht, nicht aber dem Gemeinschaftsrecht. Der Inhalt unterläge der Herrschaft der Mitgliedstaaten, was aber nicht Sinn der unmittelbaren Anwendbarkeit sein kann. Je weiter man mit Satzger die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit aufweicht, desto stärker bewegt man sich in die Richtung eines legal review, den auch er insbesondere wegen Fehlens eines normhierarchischen Verhältnisses ablehnt. Hält das Gemeinschaftsrecht nämlich keine hinreichend konkrete Alternative zur Sanktionierung bereit, die an die Stelle des nationalen Rechts treten könnte, bleibt die bloße Beseitigung „zu laxer“ oder entgegenstehender Strafnormen568. Mit seiner partiellen unmittelbaren Anwendbarkeit des Sanktionierungserfordernisses entfernt er sich vom eigentlichen Ziel des Anwendungsvorrangs, dem Gemeinschaftsrecht zu umfassender Geltung zu verhelfen. Der Anwendungsvorrang bewirkte mangels Alternative doch einzig die Nichtgeltung strafbarkeitsausschließender Normen, ohne eigenen Inhalt zu entfalten. Die Strafbarkeit folgte uneingeschränkt aus dem nationalen Recht, welches aufgrund der Beseitigung des Ausschlusses auflebte. Die von ihm zum Beleg der partiellen unmittelbaren Anwendbarkeit herangezogen Entscheidungen illustrieren zwar die Existenz einer solchen, doch liegen die etablierten Voraussetzungen im Hinblick auf Art. 10 EG nicht vor. Dem Gemeinschaftsrecht, in concreto den Richtlinien konnte in den dargestellten Fällen eine Mindestregelungsalternative entnommen werden. Die partielle unmittelbare Anwendbarkeit geht indes nicht soweit, dass bloße Zielvorgaben, mögen sie auch feststehen, wie z. B. die Verkehrssicherheit als Ziel einer Richtlinie als hinreichend bestimmt im Sinne einer unmittelbaren Anwendbarkeit eingeordnet werden. Sämtliche mitgliedstaatlichen Maßnahmen, die diesem grenzenlosen Ziel der Verkehrssicherheit entgegenstünden, wären dann unanwendbar. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, warum Satzger nicht auch die Abschreckung als hinreichend sicheres Ziel als unmittelbar anwendbar ansieht. Ein ähnliches Argument ergibt sich aus einem Vergleich mit dem nationalen Verfahrensrecht. Dort folgt zwar aus Art. 10 EG die Pflicht, das Gemeinschaftsrecht durchzusetzen, mit der 568 Vgl. seine Ausführungen zur bloßen Beseitigungswirkung der partiellen unmittelbaren Anwendbarkeit, die er allerdings auf das allgemeine Gemeinschaftsprinzip der Gesetzlichkeit stützt, Satzger, S. 503.
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Folge, dass nationales Recht, welches die Durchsetzung von Gemeinschaftsrechtspositionen unmöglich macht, der durchzusetzenden Regelung und deshalb dem Effektivitätsgebot widerspricht. Unmittelbare Anwendbarkeit und somit Vorrang kann aber nur das durchzusetzende Recht erfahren, nicht indes das Gebot der Effektivität. Gleiches gilt für das Gebot des „Vollzugs auf letzter Stufe“, welches bloße Ausformung des Effektivitätsprinzips ist. Unmittelbare Anwendbarkeit kann auch hier nur die „zu vollziehende“, d.h. die zu sanktionierende Primärnorm entfalten569, nicht aber die Sanktionierungsverpflichtung als solche. Abschließend ist daher festzuhalten, dass es hinsichtlich der nationalen Rechtfertigungsgründe aufgrund der Beachtlichkeit der Gemeinschaftsgrundrechte bereits an einem Widerspruch fehlen dürfte. Sollte ein solcher dennoch zu ermitteln sein, liegt trotzdem keine Kollision vor, weil sämtliche Vorgaben aus Art. 10 EG nicht hinreichend konkret sind, um unmittelbare Anwendbarkeit in den Mitgliedstaaten zu genießen. Dementsprechend können zwar auch Widersprüche der Sanktionierungspflicht aus Art. 10 EG mit dem Internationalen Strafrecht entstehen570, nicht jedoch Kollisionen, die zugunsten der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu lösen wären. Im Falle fehlender unmittelbarer Anwendbarkeit hat der Rechtsanwender das widersprechende nationale Recht anzuwenden, bis der Gesetzgeber eine Änderung im Sinne des Gemeinschaftsrechts vollzogen hat. Daneben besteht die Möglichkeit, die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts im Wege und in den Grenzen einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in das nationale Recht umzusetzen. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass es einer Relativierung des elementaren gemeinschaftsrechtlichen Prinzips des Anwendungsvorrangs durch willkürliche Unterscheidungen zwischen direkten und indirekten Kollisionen und einer einzelfallbezogenen Lösung unter Aufgabe jeglicher Dogmatik nicht bedarf. Solche zweifelhaften Korrekturen lassen sich vermeiden, wenn man die Grundsätze zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts genau beachtet und sie nicht unnötig ausdehnt.
569 Ein Sanktionierungsausschluss kollidiert aber, wie bereits festgestellt, nicht mit der Aussage der eventuell unmittelbar anwendbaren Primärnorm. 570 Vgl. Satzger, S. 369 ff. m. w. N. mit dem Wunsch der Einführung eines „europäischen Territorialitätsprinzips und dem Hinweis auf eine Ausdehnung im deutschen Recht in §§ 6 Nr. 8, 264 VI StGB; § 370 VII AO und § 35 MOG und das Problem mehrerer überschneidender staatlicher Strafansprüche.
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dd) Zusammenfassung der Kollisionskonstellationen mit der Primärnorm Im Ergebnis wurden hinsichtlich der Kollision des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft mit den nationalen Primärnormen drei verschiedene Konstellationen erörtert. Im Grundfall decken sich die Strafbarkeitsvoraussetzungen mit der bewertenden gemeinschaftsrechtlichen Primärnorm. Gehört diese aber dem Gemeinschaftsrecht an, handelt es sich insoweit nicht um einen Widerspruch deutschen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht, so dass der Anwendungsvorrang nicht eingreift. In der zweiten denkbaren Konstellation erfassen die nationalen Strafbarkeitsvoraussetzungen neben dem gemeinschaftsrechtlich verbotenen Verhalten weitere Verhaltensweisen. Das nationale Strafrecht enthält dann stillschweigend zusätzlich eine nationale Primärnorm, die mit den gemeinschaftsrechtlichen Obergrenzen in Kollision treten kann, nämlich wenn das Gemeinschaftsrecht verbotenes Verhalten abschließend normiert, mit dieser speziellen Verhaltensnorm sowie im Übrigen mit den Grundfreiheiten. Letztlich könnte das nationale Strafrecht durch zusätzliche Voraussetzungen hinter den primär- oder sekundärrechtlichen Mindesterfordernissen zurückbleiben. Kollisionen mit diesen Mindesterfordernissen können aber, selbst wenn Widersprüche mit dem nationalen Recht feststellbar wären, mangels unmittelbarer Anwendbarkeit dieser Vorgaben nicht entstehen. Kollisionen der Primärnorm, die zugunsten der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu lösen sind, können somit nur mit den entwickelten Obergrenzen entstehen. So können auch nationale Strafnormen, die zwar vordergründig im Dienste der Gemeinschaft stehen, weil sie gemeinschaftsrechtliche Rechtsgüter und Interessen bewehren, mit den Grundfreiheiten oder den Gemeinschaftsgrundrechten in Widerspruch treten. Hinsichtlich der nicht unmittelbar anwendbaren Vorgaben ist jedoch bereits hier klarzustellen, dass diese für den Rechtsanwender trotzdem nicht völlig unbeachtlich sind, hat er doch auch nicht unmittelbar anwendbare Vorgaben des Gemeinschaftsrechts im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in den noch zu entwickelnden Grenzen in das nationale Recht umzusetzen. Daneben ist zu beachten, dass ein nationales Gremium, welches sich im Widerspruch zu jenen Vorgaben verhält, gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, so dass sowohl der Kommission (Art. 226 EG) in ihrer Rolle als „Hüterin der Verträge“ als auch den Mitgliedstaaten (Art. 227 EG) die Möglichkeit offen steht, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Der EuGH stellt dann gegebenenfalls den Vertragsverstoß fest (Art. 228 I EG) bzw. verhängt bei andauernder Weigerung auf Betreiben der Kommission ein Zwangsgeld (Art. 228 II EG). Daneben steht auch den Mitgliedstaaten die Möglichkeit offen, nochmalig ein Vertragsverletzungs-
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verfahren wegen Verstoßes gegen Art. 228 EG aufgrund der Nichtbeachtung der Pflichten aus dem Urteil einzuleiten571. b) Kollisionen mit der Sanktionsseite Entsprechend dem zum rein nationalen Strafrecht entwickelten System sind auch hier Verstöße des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft durch die Sanktion denkbar. Dabei ist herauszustellen, dass die Widersprüche auch hier sowohl mit den angedrohten als auch mit den verhängten Sanktionen entstehen können. aa) Keine Kollisionen mit den Mindesterfordernissen aus Art. 10 EG Legt man das zuvor gefundene Ergebnis zugrunde, dass die aus Art. 10 EG fließenden Mindesterfordernisse und deren Wiedergabe im Sekundärrecht nicht der unmittelbaren Anwendbarkeit fähig sind, so können die sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehle auch hier zwar Widersprüche, nicht aber Kollisionen auslösen, die im Wege des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts zu lösen wären. Dem folgt auch Satzger „abgesehen vom Teilaspekt eines generellen Strafausschlusses“, da nur dieses Verbot seiner Ansicht nach unmittelbar anwendbar ist. Aufgrund der fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit der übrigen Mindesterfordernisse muss auch er sich nicht mit der bizarr anmutenden Folge auseinandersetzen, dass der Angeklagte sich auf die mangelnde Strenge der nationalen Strafdrohung beruft. Der Richter müsste die Strafnorm unangewendet lassen, weil die Strafe nicht „wirksam, abschreckend und verhältnismäßig“, sondern zu mild wäre, was aber nicht eine schärfere Strafe, vielmehr die Straffreiheit des Angeklagten zur Folge hätte572. Hinsichtlich des seiner Ansicht nach unmittelbar anwendbaren Verbots völliger Straflosigkeit entsteht ein entsprechendes Problem nur deshalb nicht, weil ein Widerspruch nur dann bestünde, wenn das nationale Recht Straffreiheit vorsähe, so dass ein Rechtsunterworfener bereits Straffreiheit genösse und kein noch milderes Ergebnis erzwingen könnte. Dogmatisch überzeugt diese Lösung indes aus o. g. Gründen nicht.
Die Widersprüche sind durch die Rechtsanwender allein im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Strafrechts oder durch den Gesetzgeber zu beseitigen. 571
Vgl. Art. 228 II, Unterabsatz 4 i. V. m. Art. 227 EG. Vgl. Satzger, S. 513 f. unter Hinweis auf den GA Gulmann, in: EuGH, Rs. C-289/91, Slg. 1993, I-4439 „Klaus Kuhn“, der in einem Verwaltungsrechtsstreit erwägt, die Möglichkeit, sich auf Gemeinschaftsrecht zu berufen, von einem „gemeinschaftsrechtlich geschützten Interesse“ abhängig zu machen. 572
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bb) Kollisionen mit den Obergrenzen Hinsichtlich des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft konnte zum einen dargestellt werden, dass auch hier die Grundfreiheiten eine unmittelbar anwendbare Vorgabe enthalten und deshalb Kollisionen denkbar sind. Insoweit ist auf die Ausführungen, insbesondere die hier vertretene Beschränkung auf diskriminierende Maßnahmen, zum rein nationalen Strafrecht zu verweisen. Satzger beschränkt die Relevanz des allgemeinen Prinzips der Verhältnismäßigkeit auf Fälle in denen eine Grundfreiheit beeinträchtigt wird: „Wir hatten bereits festgestellt [. . .], dass – sobald der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten [. . .] eröffnet ist – das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Diskriminierungsverbot als gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen für die Höhe der Strafdrohung wirken. [. . .] Eine Sanktion, die unverhältnismäßig ist bzw. diskriminierend wirkt, verstößt als solche gegen die jeweils einschlägige Grundfreiheit. Alle Grundfreiheiten sind aber als unmittelbar anwendbar anerkannt.“573
Bemerkenswert ist an diesen Ausführungen, dass er seine Obergrenze der Verhältnismäßigkeit von der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheit abhängig macht. Damit bestätigt er das hier gefundene Ergebnis, dass der eigentliche Widerspruch allein zum entgegenstehenden Individualrecht entsteht, nicht dagegen zur Moderationsnorm der Verhältnismäßigkeit. Die Proportionalität selbst widerspricht nie, im Gegenteil, sie führt gerade einen schonenden Ausgleich zweier kollidierender Rechte herbei. Aus diesem Grunde kommt es dann auch nicht auf die unmittelbare Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips, sondern des beeinträchtigten Individualrechts an. Anders als bei der Untersuchung etwaiger Kollisionen durch die Erweiterung der Primärnorm bewegt sich der nationale Rechtsanwender bei der Sanktionierung stets in dem gemeinschaftsrechtlich determinierten Bereich, so dass der sanktionenrechtliche Befehl nicht lediglich mit den Grundfreiheiten, sondern auch mit den Gemeinschaftsgrundrechten in Widerspruch geraten kann. Insoweit vermittelt dann das gemeinschaftsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen den gemeinschaftlichen Sanktionierungsinteressen einerseits und den Gemeinschaftsgrundrechten andererseits, wenn geprüft wird, ob eine mitgliedstaatliche Sanktionierung noch in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Gemeinschaftsrechtsverstoßes steht oder ein milderes, gleich geeignetes Mittel besteht. Die Relevanz der Verhältnismäßigkeit darf an dieser Stelle der Durchführung der Sanktionie573 Satzger, S. 510 ff., insbesondere stellt er nur grundfreiheitliche Beispiele vor. Ebenso Gröblinghoff, S. 27, der aber nur meint, besonderes Augenmerk sei auf die Grundfreiheiten zu legen, was wohl auch andere Fälle zulässt, die auch er aber nicht benennt.
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rungsverpflichtung nicht auf die Fälle der Grundfreiheitsrelevanz reduziert werden. Stets entfalten hier auch die Gemeinschaftsgrundrechte einen Individualschutz, der von den Mitgliedstaaten zu achten ist. Dagegen konnte auch gezeigt werden, dass die Verhältnismäßigkeit immer nur zum Ausgleich solcher widerstrebender Rechtsgüter bzw. Interessen herangezogen werden kann, nicht aber zur Begründung abstrakter Wertigkeiten. Bevor auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz der Proportionalität eingegangen werden kann, ist deshalb stets die Existenz des entgegenstehenden Gemeinschaftsgrundrechts zu belegen. Besteht zwar eine gemeinschaftliche Grundrechtscharta, so kommt dieser jedenfalls zur Zeit noch keine rechtliche Verbindlichkeit zu, so dass die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts weiterhin aus den anerkannten Rechtserkenntnisquellen geschöpft werden müssen, wozu mittlerweile wohl auch die EG-Grundrechtscharta zählen dürfte. Hinzuweisen ist noch auf die Rechtsprechung des BVerfG, das seine Grundrechtskontrolle jedenfalls soweit zurückgenommen hat, wie ein dem Grundgesetz vergleichbarer Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene gewährleistet wird. Von diesem Vorbehalt wurde bisher noch kein Gebrauch gemacht, so dass zur Zeit wohl von einem vergleichbaren Schutz auszugehen ist574. Der sanktionenrechtliche Befehl greift im Falle der Verhängung einer Geldstrafe in das gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Eigentum575 und im Falle einer Freiheitsstrafe576 in das Recht auf Freiheit der Person ein. Mag es auch bisher kein ausdrückliches Bekenntnis des EuGH zur Existenz eines Gemeinschaftsgrundrechts der Freiheit der Person gegeben haben, so setzt er die Existenz eines solchen Rechts stets voraus, wenn er die Angemessenheit der Freiheitsstrafen postuliert. Die Maßregel des Berufsverbots gem. § 70 StGB beeinträchtigt das Gemeinschaftsgrundrecht auf freie Berufsausübung, welches der EuGH immer wieder ausdrücklich „zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die er zu wahren hat“, zählt577. Schwieriger gestaltet sich dagegen die Beurteilung der Grundrechtsrelevanz der Nebenstrafe des 574 Vgl. die umfassende Darstellung der Gemeinschaftsgrundrechte bei Kingreen, in: Callies/Ruffert, Art. 6 EU Rn. 93 ff.; Geiger, Art. 220 Rn. 40; Beutler, in: GTE, Art. F EUV Rn. 47; Borchardt, in: Lenz, Art. 220 EG Rn. 39 ff.; Stumpf, in: Schwarze, Art. 6 EUV Rn. 20 ff.; Schweitzer/Hummer, Rn. 805. 575 Vgl. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 „Hauer“. 576 Gleiches gilt für die freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung, nämlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder der Sicherungsverwahrung, vgl. §§ 61 ff. StGB. 577 EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, 507 „Nold“; Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897, 2912 „Keller“; Rs. 265/87, Slg. 1989, 2237, 2267 „Schräder“; verb. Rs. C-90/90 u. C-91/90, Slg. 1991, I-3617, 3638 „Neu“; Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953, 3985 „Bosphorus“ sowie ausdrücklich als Grundrecht in der Rs. C-177/90, Slg. 1992, I-35, 63 f. „Kühn“; vgl. auch Art. 15 EU-Grundrechtscharta.
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§ 44 StGB, der ein Fahrverbot vorsieht und den übrigen Maßregeln der Führungsaufsicht (§§ 68 ff. StGB) sowie der Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 ff. StGB). Sind dies nach deutschem Verständnis jedenfalls Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG als Auffanggrundrecht, ist die Existenz eines solchen auf Gemeinschaftsebene nicht gesichert. Insbesondere die EU-Grundrechtscharta und die EMRK sehen kein solches Auffangrecht vor. In der Rechtsprechung findet sich eine ausdrückliche Erwähnung in der Rs. Rau578. Es ist jedoch nicht von einem verkürzten Schutz vor hoheitlichen Maßnahmen auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts auszugehen. Wie diese Bindung erreicht wird, ob im Wege eines Auffangrechts oder durch eine Ausdehnung der einzelnen Schutzbereiche kann an dieser Stelle dahinstehen579. Die verwaltungsrechtliche Ausweisung ist stets diskriminierender Natur, so dass sie entweder bereits in die Grundfreiheiten oder aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalts in Art. 12 EG eingreift. 4. Sonderfall: Primär- und sekundärrechtliche Verweisungen auf nationale Straftatbestände Bereits einleitend wurde auf den Umstand hingewiesen, dass sowohl auf der Ebene des Primärrechts als auch des Sekundärrechts Normen existieren, die im Falle der Gefährdung oder Verletzung des jeweiligen gemeinschaftlichen Rechtsgutes auf die nationalen Strafrechtsordnungen verweisen, indem sie anordnen, die Mitgliedstaaten hätten auf diese Verstöße gegen Gemeinschaftsrechtsgüter diejenigen nationalen Straftatbestände anzuwenden, die zum Schutz der rein nationalen Rechtsgüter existierten580. Demnach geht es auch an dieser Stelle um Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. a) Primärrechtliche Verweisungen Im Primärrecht existieren derartige Assimilierungsnormen zunächst zum Schutze der Funktionsfähigkeit der supranationalen Rechtspflege im Bereich der Aussagedelikte. Art. 27 der Satzung des EuGH (EG)581 bestimmt: 578 EuGH, verb. Rs. 133–136/85, Slg. 1987, 2289, 2338 f. „Rau Lebensmittelwerke“; Andeutungen auch in den verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, 2924 „Hoechst“. 579 Vgl. zur Diskussion v. Bogdandy, JZ 2001, 157; Kingreen, in: Callies/Ruffert, Art. 6 EU Rn. 169; Kirchhof, EuR Beiheft 1/1991, 11, 24; Pauly, EuR 33 (1998), 242, 254; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 14; Stumpf, in: Schwarze, Art. 6 EUV Rn. 22. 580 Vgl. ausführlich Dannecker, Strafrecht der EG, S. 34 ff.; Gröblinghoff, S. 34 ff.; Johannes, EuR 3 (1968), 63 ff.; Oehler, Internationales Strafrecht Rn. 912 ff.; Pache, S. 231 ff.
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„Jeder Mitgliedstaat behandelt die Eidesverletzung eines Zeugen oder Sachverständigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat. Auf Anzeige des Gerichtshofs verfolgt er den Täter vor seinen zuständigen Gerichten.“
Diese Technik der Assimilierung findet sich ebenfalls bei der Verpflichtung zur Geheimhaltung in Art. 194 I EAG: „Die Mitglieder der Organe der Gemeinschaft, die Mitglieder der Ausschüsse, die Beamten und Bediensteten der Gemeinschaft sowie alle anderen Personen, die durch ihre Amtstätigkeit oder durch ihre öffentlichen oder privaten Verbindungen mit den Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft oder mit den gemeinsamen Unternehmen von den Vorgängen, Informationen, Kenntnissen, Unterlagen oder Gegenständen, die auf Grund der von einem Mitgliedstaat oder einem Organ der Gemeinschaft erlassenen Vorschriften unter Geheimnisschutz stehen, Kenntnis nehmen oder Kenntnis erhalten, sind verpflichtet, diese Vorgänge, Informationen, Kenntnisse, Unterlagen oder Gegenstände, auch nach Beendigung dieser Amtstätigkeit oder dieser Verbindungen gegenüber allen nicht berechtigten Personen sowie gegenüber der Öffentlichkeit geheim zu halten. Jeder Mitgliedstaat behandelt eine Verletzung dieser Verpflichtung als einen Verstoß gegen seine Geheimhaltungsvorschriften; er wendet dabei hinsichtlich des sachlichen Rechts und der Zuständigkeit seine Rechtsvorschriften über die Verletzung der Staatssicherheit oder die Preisgabe von Berufsgeheimnissen an. Er verfolgt jeden seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Urheber einer derartigen Verletzung auf Antrag eines beteiligten Mitgliedstaats oder der Kommission.“
Die ganz h. M. erblickt in diesen Verweisungen auf das nationale Strafrecht unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht, weil die Normen mit hinreichender Bestimmtheit auf die jeweiligen nationalen Straftatbestände Bezug nähmen. Ihre Wirkung ginge daher über bloße Interpretationsvorgaben hinaus. Einer nationalen Umsetzung bedürfe es nicht. Teilweise wird auf jener Grundlage davon ausgegangen, die gemeinschaftsrechtliche Verweisungsnorm bilde mit dem nationalen Tatbestand einen in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren supranationalen Gesamttatbestand582. Andere Vertreter der unmittelbaren Anwendbarkeit meinen dagegen, die nationalen Rechtsanwender hätten allein den nationalen Straftatbestand – allerdings modifiziert durch das Gemeinschaftsrecht anzuwenden583. Diese 581 Gem. Art. 245, 311 EG Bestandteil des Vertrages, d.h. Primärrecht. Verfahrensordnungen gelten gem. Art. 46 der Satzung auch für Verfahren vor dem EuG, so dass Art. 27 der Satzung auch insoweit gilt. Eine entsprechende Regelung enthält Art. 28 Satzung EuGH (EAG), während der EGKS-Vertrag nach seinem Art. 97 am 23.07.2002 endete, so dass auch der ähnliche Art. 28 IV der Satzung des EuGH (EGKS) keine Bedeutung mehr hat. 582 Vgl. Böse, S. 108; Gröblinghoff, S. 52; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 69 ff.; Moll, S. 11; Oehler, in: Handwörterbuch, Stichwort „EG-Strafrecht“, Anm. 2; Pabsch, NJW 1959, 2002, 2004; Pache, S. 232 ff.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25.
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Assimilierungstechnik hat erhebliche Kritik insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ erfahren584, so dass es verwundert, dass die Grundprämisse der h. M. bisher kaum überprüft wurde585. Primäres Gemeinschaftsrecht genießt nämlich nur ausnahmsweise dann unmittelbare Anwendbarkeit und ist damit in der Lage, entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht zu verdrängen, wenn es hinreichend bestimmte, d.h. rechtlich vollkommene und unbedingte Verpflichtungen enthält586. Zunächst sollen deshalb die Aussagen der jeweiligen Verweisungen isoliert werden. Aus den dargestellten primärrechtlichen Verweisungsnormen lässt sich jeweils das Gebot der Gleichbehandlung entnehmen. Daneben stellen sie fest, unabhängig von der Existenz eines nationalen Straftatbestandes für gleichartige Vergehen, handele es sich stets um eine zu verfolgende Straftat587. Außerdem enthalten sie Tatbestandsvoraussetzungen, die sich nicht notwendigerweise mit den Voraussetzungen der nationalen Tatbestände decken müssen, so dass Modifikationen des anzuwendenden Rechts auf Tatbestandsebene möglich wären588. Im Übrigen enthalten sich die Verweisungsnormen bewusst einer Aussage, also im Hinblick auf den übrigen Tatbestand sowie die Rechtsfolgenseite. Diese Lücke wird durch Verweisung auf das nationale Recht geschlossen. Letztlich enthalten die Verweisungsnormen auch Rechtsanwendungsnormen, die zu einer Modifizierung der nationalen Vorschriften des sog. Internationalen Strafrechts führen könnten589. Zunächst gilt es, die in den Verweisungsnormen enthaltene Mindestverpflichtung auf ihre unmittelbare Anwendbarkeit zu untersuchen. Danach haben die Mitgliedstaaten im Falle des Vorliegens der durch die nationalen Tatbestände ergänzten Strafbarkeitsvoraussetzungen eine strafrechtliche Sanktion vorzusehen. 583
Grasso, S. 161; Oehler, Internationales Strafrecht Rn. 912 f.; ders., GrünhutEG, 11, 12. 584 Vgl. Jung/Schroth, GA 1983, 241, 265; insbesondere Oehler, Internationales Strafrecht Rn. 921 ff. zur tatbestandlichen Unsicherheit, den Problemen beim Auffinden der relevanten nationalen Norm und der mangelnden Offenkundigkeit der Änderung. 585 Hervorzuheben ist deshalb die Prüfung Satzgers, S. 200 ff. 586 Grundlegend EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 „Van Gend & Loos“. 587 Vgl. die Formulierungen in Art. 27 Satzung EuGH (EG)/Art. 28 Satzung EuGH (EAG): „[. . .] behandelt [. . .] wie eine [. . .] Straftat.“ sowie in Art. 194 EAGV: „Er verfolgt jeden [. . .] Urheber einer derartigen Verletzung [. . .]“. 588 Satzger, S. 192 unter Hinweis auf Oehler, Internationales Strafrecht Rn. 912 ff., 920 ff. 589 Zu den Aussagen der Verweisungsnormen Satzger, S. 192.
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1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Satzger führt hinsichtlich der unmittelbaren Anwendbarkeit aus: „Rechtlich vollkommen wollen diese Normen nicht sein, da sie die Regelung der Tatbestandsvoraussetzungen im einzelnen sowie der genauen Rechtsfolge gerade den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen. Sie sind also im Ergebnis darauf angelegt, anderweitig konkretisiert zu werden. Da eine Bestrafung erst mittels der nationalstrafrechtlichen Regelung erreicht werden kann, sind also weitere gesetzgeberische Vollzugsmaßnahmen die Bedingung dafür, dass das Ziel der Assimilierungsnormen erreicht werden kann. [. . .] Die Verweisungsnormen des Primärrechts sind daher insoweit nicht unmittelbar anwendbar. Die Charakterisierung dieser gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften als supranationales Strafrecht trifft deshalb nicht zu.“590
Diesem Ergebnis kann ohne Einschränkung gefolgt werden. Es bestätigt das oben hinsichtlich der Mindesterfordernisse des Art. 10 EG gefundene Ergebnis, dass Gleichstellung unter dem Vorbehalt einer wirksamen Sanktionierung nicht hinreichend konkret ist, um einer (partiellen) unmittelbaren Anwendbarkeit fähig zu sein. Um so überraschender erscheint der Umstand, dass Satzger an dieser Stelle jenes Ergebnis vertritt. Meinte er noch, das aus Art. 10 EG fließende Mindesterfordernis einer Sanktionierung genieße partielle unmittelbare Anwendbarkeit, widerlegt er an dieser Stelle seine eigenen Ausführungen, indem er zutreffend vertritt, die Vorgabe der Sanktionierung verlange weitere Konkretisierung. Letztlich prüft Satzger die partielle unmittelbare Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgebots: Er kommt nach Prüfung des Wortlauts der einzelnen Verweisungen zu dem Ergebnis, „dass der Umfang der Gleichstellung in den Verweisungsnormen nicht hinreichend zum Ausdruck kommt, [. . .]. Es spricht daher vieles dafür, auch dem Gleichstellungselement aller Verweisungsnormen eine unmittelbare Wirkung abzusprechen.“591
Mit diesem Vorgehen überdehnt er bereits die Möglichkeit einer partiellen unmittelbaren Anwendbarkeit. Diese ist auf solche Fälle beschränkt, in denen sich aus der zu prüfenden Norm eine hinreichend bestimmte Mindestpflicht ermitteln lässt. Dies darf aber nicht zur Aufspaltung einer einheitlichen Normaussage missbraucht werden, weil man dann Gefahr läuft, unmittelbar anwendbare Teilaussagen zu ermitteln, die der Gesamtaussage der Norm widersprechen. So ist es bei der entwickelten Pflicht aus Art. 10 EG. Wie auch Satzger erkennt, ist das Gleichbehandlungspostulat nicht die absolute Mindestaussage der Verweisungsnorm. Sie steht vielmehr unter der Prämisse der Strafbarkeit. Im Falle fehlender nationaler Strafbarkeit gebietet 590 Satzger, S. 202 f. unter Heranziehung des plastischen Beispiels, dass der Mitgliedstaat im Falle des Fehlens einer Strafvorschrift für Meineid eine solche erst schaffen müsste. Das Gemeinschaftsrecht enthält eben keine hinreichend konkrete Aussage. 591 Satzger, S. 204 f.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 231
die Verweisung eben keine Gleichbehandlung, sondern die Schaffung einer Strafvorschrift. Eine isolierte Prüfung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gleichbehandlungserfordernisses verbietet sich daher. Mangels hinreichender Bestimmtheit kommt den Verweisungsnormen keine unmittelbare Anwendbarkeit zu, so dass die primärrechtlichen Verweisungsnormen einer Umsetzung in das nationale Recht bedürfen592. Diese Umsetzung ist zum einen durch die nationalen Rechtsanwender im Rahmen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, zum anderen durch die nationalen Gesetzgeber zu leisten. Der Strafgesetzgeber muss insbesondere dann tätig werden, wenn kein entsprechender nationaler Straftatbestand existiert oder eine Auslegung im Lichte der Verweisungsvorgaben die Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung verletzen würde.
b) Sekundärrechtliche Verweisungen Auch im sekundären Gemeinschaftsrecht bestehen derartige Assimilierungen des strafrechtlichen Schutzes gemeinschaftlicher Interessen durch Verweisungen auf das nationale Strafrecht. Beispielhaft sei hier die VO (EG) Nr. 515/97593 über die gegenseitige Amtshilfe mitgliedstaatlicher Verwaltungsbehörden und die Zusammenarbeit mit der Kommission genannt. Die Verordnung sieht im Hinblick auf die ordnungsgemäße Anwendung der Zoll- und Agrarregelung vor, dass alle Auskünfte, die bei der Durchführung jener VO übermittelt werden, vertraulicher Natur sind und unter das Berufsgeheimnis fallen. Art. 45 I 2 der VO stellt fest, dass diese Auskünfte „[. . .] den Schutz (genießen), den das innerstaatliche Recht des Mitgliedstaats, der sie erhalten hat, für Auskünfte dieser Art gewährt ebenso wie denjenigen, den die entsprechenden Vorschriften, die auf die Gemeinschaftsinstitutionen Anwendung finden, vorsehen.“
Die h. M. geht aufgrund der Funktion der Verordnungen als Instrumente zur Rechtsvereinheitlichung und der grundsätzlichen unmittelbaren Anwendbarkeit davon aus, dass derartige Verweisungen unmittelbar anwendbares supranationales Strafrecht schufen, ohne dass der nationale Gesetzgeber Einfluss nehmen kann594. Anders als beim Primärrecht handele es 592 Ansonsten droht auch hier ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 226, 227 EG bzw. Art. 141 f. EAG, das mit einem Feststellungsurteil endet und ggf. ein Zwangsgeld (Art. 228 EG bzw. Art. 143 EAG) nach sich zieht. 593 ABlEG 1997, Nr. L 82, S. 1; vgl. auch die weiteren Beispiele bei Böse, S. 115 f.; Gröblinghoff, S. 57 f.; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 103 ff.; Satzger, S. 207.
232
1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
sich bei diesen Verweisungen aber um Rechtsakte, die von den Organen der Gemeinschaft erlassen wurden. Die Organe der Gemeinschaft seien aber nur berechtigt, im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigung rechtsetzend tätig zu werden. Eine derartige Kompetenz fehle der EG indes bereits deshalb, weil es keinen Unterschied machen könne, ob die EG selbst strafrechtsetzend tätig werde oder durch Verweis auf einen bereits bestehenden nationalen Tatbestand einen unmittelbar anwendbaren supranationalen Gesamtstraftatbestand schaffe595. Zu beachten ist auch an dieser Stelle, dass sekundäres Gemeinschaftsrecht außer im Falle gravierender Verstöße gültig bleibt, bis der EuGH den gemeinschaftswidrigen Rechtsakt im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 230 I EG) durch Gestaltungsurteil grundsätzlich mit der Wirkung ex tunc und erga omnes (Art. 231 EG) aufhebt. In der Konsequenz dieser Gültigkeit liegt es, dass die Mitgliedstaaten, die sekundärrechtlichen Verweisungen unabhängig von deren Zulässigkeit bis zur Nichtigerklärung zu beachten haben. Unabhängig von der Rechtmäßigkeit solcher sekundärrechtlicher Verweise kommt es mithin auf die unmittelbare Anwendbarkeit an. Die obige Betrachtung haftet aber wiederum an der formalen Verortung solcher Verweise in Verordnungen und übersieht dabei, dass auch formale Bestandteile der Verordnungen nicht unmittelbar anwendbar sein können. Die Verordnungen enthalten dann richtlinienartige Elemente, die einer Umsetzung in nationales Recht bedürfen. Unmittelbar anwendbar sind auch nur solche Bestimmungen einer Verordnung, die hinreichend bestimmt und unbedingt sind. Entscheidend ist eben nicht die formale Handlungsform, sondern der Inhalt des Rechtsaktes. Beschränkt sich der Gemeinschaftsrechtsakt aber auf den hinsichtlich des Primärrechts untersuchten Verweis auf das nationale Strafrecht unter der Prämisse der Existenz eines Straftatbestandes, so kann für die Rechtsakte der Gemeinschaft keine andere Beurteilung gelten als für das primäre Gemeinschaftsrecht. Derartige Verweise genießen, auch wenn sie sich in Verordnungen befinden, mangels hinreichender Bestimmtheit keine unmittelbare Anwendbarkeit. Insoweit verfängt dann auch das von der h. M. gegen die Zulässigkeit vorgebrachte Argument nicht, die Gemeinschaft schaffe kompetenzwidrig unmittelbar anwendbares Strafrecht. Es wird kein supranationales Strafrecht erlassen. Eine Berücksichtigung durch den Rechtsanwender ist dann lediglich im Rahmen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung möglich. 594 Böse, S. 115; Bruns, S. 91; Dieblich, S. 245 f.; Gröblinghoff, S. 57; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 108; Oehler, Jescheck-FS, Bd. 2, 1399, 1407 f.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 24. 595 Böse, S. 115; Bruns, S. 91; Dannecker, Jura 1998, 79, 81; Dieblich, S. 245 f.; Everling, NJW 1967, 465, 470; Gröblinghoff, S. 57; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 108; Oehler, Jescheck-FS, Bd. 2, 1399, 1407 f.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25.
C. Kollisionen des Gemeinschaftsrechts mit nationalem Kriminalstrafrecht 233
Im Ergebnis sind die dargestellten Verweisungen in den Verordnungen mithin mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht geeignet, supranationales Strafrecht zu schaffen. Sie sind vielmehr besondere Anweisungen an den nationalen Gesetzgeber oder den nationalen Rechtsanwender die Vorgaben in nationales Recht umzusetzen und dienen damit der Rechtsangleichung. Abweichend von der eigentlichen Verordnungsaufgabe bezwecken sie keine Rechtsvereinheitlichung, sondern lediglich eine Harmonisierung. Damit übernehmen sie Aufgaben, die eigentlich den Richtlinien obliegen. Richtlinien können regelmäßig bereits deshalb kein unmittelbar anwendbares Strafrecht schaffen, weil Strafrecht individualbelastend wirkt. Eine unmittelbare Anwendbarkeit im umgekehrt vertikalen Verhältnis existiert nicht596. Das anwendbare Strafrecht wird allein vom nationalen Gesetzgeber geschaffen, unabhängig davon, welche Spielräume ihm durch die anweisende Richtlinie belassen werden597. Eine Kollision mit solchen Bestimmungen ist somit nicht denkbar, so dass sich die Relevanz für den nationalen Rechtsanwender auch diesbezüglich auf die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts beschränkt. c) Einordnung der Verweisungen in das System für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft Nimmt eine gemeinschaftsrechtliche Verweisungsnorm das nationale Strafrecht in Bezug, in dem es zur entsprechenden Sanktionierung der Gemeinschaftsrechtsverstöße verpflichtet, so dient die nationale Strafvorschrift dem Gemeinschaftsrecht, indem es dessen Einhaltung sichert. Bei den primärrechtlichen Vorgaben handelt es sich deshalb bei genauer Betrachtung um Spezifizierungen der Vorgaben aus Art. 10 EG. Die Assimilierungsnorm bestimmt nämlich das Vergleichsobjekt des nationalen Strafrechts und verkürzt damit das Ermessen des nationalen Gesetzgebers oder Rechtsanwenders bei der Beurteilung, welche nationalen Verstöße gleichartig sind. Die Verweisungsnorm enthält also eine Entscheidung darüber, welche Rechtsgüter identisch oder funktionell austauschbar sind. Nun enthalten auch die primärrechtlichen Verweisungsnormen die Mindestvorgabe einer Sanktionie596
Eine Ausnahme gälte aber dann, wenn die Richtlinienbestimmung hinreichend bestimmt und unbedingte Sanktionierung vorschriebe, die sich im Ergebnis zu Gunsten des Rechtsunterworfenen auswirkt, d.h. eine mildere Belastung als das nationale Recht vorschriebe. Richtlinien werden regelmäßig aber nur Mindestvorgaben hinsichtlich der Sanktionierung enthalten, so dass sie schärfere Sanktionen akzeptieren. Sie begrenzen dann nicht nach oben und kann nicht für den Rechtsunterworfenen wirken. 597 Vgl. Satzger, S. 394, der aber die Ausnahme der Begünstigung durch mildere Belastung übersieht.
234
1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
rung, die sich aber anders als Art. 10 EG einer zusätzlichen Vorgabe hinsichtlich der Wirksamkeit enthält. Zu beachten ist aber, dass die Verweisungsnormen im Dienste der Gemeinschaft stehen. Bliebe eine mitgliedstaatliche Sanktion also hinter einer wirksamen Sanktionierung im Sinne des Art. 10 EG zurück, verstieße sie gegen diese primärrechtliche Vorgabe. Es erscheint deshalb geboten, bereits bei der Entwicklung des verweisungsrechtlichen Normbefehls die Vorgaben des Art. 10 EG zu beachten. Sie sind mit den Mindestvorgaben der Verweisungsnorm in praktische Konkordanz zu bringen. Es gilt einen Ausgleich zu schaffen, der beiden Normen weitestgehende Wirksamkeit einräumt. Ist aber auch die Verweisungsvorgabe als Mindesterfordernis konzipiert, ist dies unproblematisch möglich, indem man den geforderten Sanktionierungsstandard auf wirksame Sanktionierungen anhebt. Beide Vorgaben entfalten dann umfassende Wirksamkeit. Eine Spezifizierung der Vorgaben aus Art. 10 EG durch die genannten Verweisungen ist im Sekundärrecht dagegen nicht zulässig, da sie das mitgliedstaatliche Ermessen bei der Entscheidung, welche Verstöße nach Art und Schwere vergleichbar sind und damit die kriminalstrafrechtliche Regelungshoheit der Mitgliedstaaten beschneidet. Der Gemeinschaft steht damit die Kompetenz offen, die Vorgaben aus Art. 10 EG deklaratorisch wiederzugeben598. 5. Zusammenfassung: Kollisionsebenen mit dem deutschen Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft Steht das deutsche Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, so treten neben die für das rein nationale Strafrecht entwickelten Grenzen der gemeinschaftlichen Grundfreiheiten weitere Grenzen, die es zu beachten gilt. Dient das Strafrecht nämlich gemeinschaftlichen Interessen bzw. Rechtsgütern, so befindet sich der nationale Rechtsanwender in einer Durchführungskonstellation, in der die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten binden. Nationale Sanktionen werden durch das Gemeinschaftsrecht determiniert, so dass nicht die nationalen, sondern die Gemeinschaftsgrundrechte maßstäblich sind. Diese Individualrechte werden durch das allgemeine Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit mit dem Gemeinschaftsinteresse an einer wirksamen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zum Ausgleich gebracht. Mit dem Gemeinschaftsinteresse an einer wirksamen Sanktionierung ist der zweite wesentliche Gesichtspunkt für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft angesprochen. Mangels einer eigenen Kompetenz zur Setzung 598
So bereits Gröblinghoff, S. 58; Satzger, S. 392.
D. Ergebnis
235
von Kriminalstrafrecht kann die Gemeinschaft als Gestalt ohne Arme bezeichnet werden, die hinsichtlich der Durchsetzung ihres Rechts auf eine wirksame Umsetzung in den Mitgliedstaaten angewiesen ist. Aus diesem Grunde oktroyiert Art. 10 EG den Mitgliedstaaten die Pflicht, die gemeinschaftlichen Rechtsgüter wirksam, d.h. abschreckend zu sanktionieren. Mangels unmittelbarer Anwendbarkeit dieser Mindesterfordernisse kann aber weder die nationale Primärnorm noch die Sanktionsnorm mit diesen Vorgaben kollidieren, die damit einzig im Wege und in den Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung vom nationalen Rechtsanwender umgesetzt werden können. Hinsichtlich der Vorgaben aus dem Sekundärrecht konnte dargestellt werden, dass die Gemeinschaft sich auf die deklaratorische Wiedergabe der Sanktionierungsvorgaben aus Art. 10 EG beschränken sollte, wenn sie einen Kompetenzverstoß vermeiden will. Angesichts der Beschränkung auf bloße Zielvorgaben ist hier die Richtlinie das ideale Mittel, wobei zu beachten ist, dass auch Verordnungen Richtlinienelemente enthalten können. Die primärrechtlichen Verweise auf nationales Strafrecht sind mit der Pflicht aus Art. 10 EG in praktische Konkordanz zu bringen und stellen partielle Konkretisierungen dieses Grundsatzes dar und verlangen daher ebenso eine jedenfalls wirksame Sanktionierung. Dagegen stellen die Verweise im Sekundärrecht eine Kompetenzüberschreitung der Gemeinschaft dar. Dennoch sind sie bis zu ihrer Nichtigerklärung durch den EuGH zu beachten. Den Verweisen beider Rechtsquellen fehlt jedoch eine hinreichende Bestimmtheit, so dass sie nicht unmittelbar anwendbar sind und insoweit keine Kollisionen entstehen können. Damit kann allein den gemeinschaftsrechtlichen Obergrenzen der Grundfreiheiten, der Gemeinschaftsgrundrechte sowie dem Sekundärrecht unmittelbare Anwendbarkeit zukommen. Nur diesen potentiell kollidierenden Gewährleistungen ist gegenüber dem nationalen Recht der Anwendungsvorrang zu gewähren.
D. Ergebnis: Anwendungsvorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Kriminalstrafrecht Ziel der vorstehenden Analyse war es, die Einflüsse des Anwendungsvorrangs im materiellen nationalen Kriminalstrafrecht aufzuzeigen und zu systematisieren. Dabei galt es zunächst klarzustellen, dass das Prinzip des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts ein Mittel darstellt, mit dem der Anwender nationalen Kriminalstrafrechts gemeinschaftsrechtliche Vorgaben im nationalen Recht zur Anwendung bringen kann. Elementar war
236
1. Teil: Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts
dabei die Rückbesinnung auf seine Funktion als Kollisionsnorm, die zwei entscheidungserheblich anwendbare Normen mit widersprüchlichem Regelungsgehalt voraussetzt. Ein Bild aus der Mengenlehre illustrierte, dass jede Kollisionsanalyse die vorhergehende Definition der potentiell widersprechenden Regelungsgehalte voraussetzt. Überschneiden sich die Regelungsgehalte, d.h. halten beide für einen Sachverhalt widersprechende Lösungen bereit, entsteht eine Schnittmenge. Allein die darin enthaltenen Sachverhalte bedürfen einer Lösung mittels der Kollisionsnorm des Anwendungsvorrangs. In der Menge „Gemeinschaftsrecht“ war begründet durch die unterschiedliche Interessenlage rein nationales und Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft zu differenzieren. Während es beim rein nationalen Strafrecht allein um die Bestimmung gemeinschaftsrechtlicher Obergrenzen ging, wurden diese beim Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft durch Mindesterfordernisse ergänzt. In beiden Bereichen bilden die unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten eine Obergrenze, so dass ein Widerspruch – entweder der nationalen Primärnorm oder der angedrohten oder verhängten Sanktion – zur Unanwendbarkeit der nationalen Kriminalstrafnorm führt. Die Grundfreiheiten gewähren nach hier vertretener Ansicht jedoch keine Freiheitsrechte. Sie wurden vielmehr funktional und systematisch begründet auf Diskriminierungsverbote i. S. v. Begründungsverboten zurückgeführt. Durch diese Rückführung reduzierte sich die Schnittmenge, d.h. die Anzahl der Sachverhalte, die einer Lösung über den Anwendungsvorrang zugeführt werden musste. Sämtliche unterschiedslos geltenden Maßnahmen sind nach dieser Reorientierung nicht mehr grundfreiheitsrelevant. Sowohl die Primärnorm als auch die Sanktion sind infolgedessen nur, aber auch gerade dann grundfreiheitsrelevant, wenn sie eine Ungleichbehandlung entfalten, die nachvollziehbar allein durch die Staatsangehörigkeit oder den Grenzübertritt begründbar erscheint. Hinsichtlich der Sanktion konnte illustriert werden, dass es dabei keine Rolle spielt, ob sie bloß angedroht oder bereits verhängt worden ist. Nur vermittelt über jene Grundfreiheitsrelevanz kann das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Moderationsnorm eingreifen und einen schonenden Ausgleich konfligierender Rechte herbeiführen. Steht das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, befindet sich der nationale Rechtsanwender begründet durch Art. 10 EG in einer Durchführungskonstellation. Die grundfreiheitliche Obergrenze wird dann durch die Gemeinschaftsgrundrechte ergänzt. Auch hier vermag das allgemeine Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen den mitgliedstaatlichen bzw. gemeinschaftlichen Sanktionierungsinteressen und den gemeinschaftsrechtlichen Individualrechten zu vermitteln.
D. Ergebnis
237
Neben dieser zusätzlichen Obergrenze der Gemeinschaftsgrundrechte wurden aus Art. 10 EG für das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft verpflichtende Mindesterfordernisse geschöpft. Es gilt das Gebot der Gleichbehandlung unter dem Vorbehalt effektiver Sanktionierung. Diesen Kriterien kommt jedoch keine unmittelbare Anwendbarkeit zu. Sie sind daher nicht in der Lage, Kollisionen auszulösen, die über den Anwendungsvorrang zu lösen wären und entfalten damit allein im Rahmen gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung unmittelbare Relevanz für den Rechtsanwender. Neben dem Primärrecht ist auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht der unmittelbaren Anwendbarkeit fähig und aus diesem Grunde in der Lage mit dem nationalen Kriminalstrafrecht in Widerspruch zu treten. Auch diesbezüglich konnten Beispiele die Möglichkeit von Kollisionen mit der Primärnorm wie der Sanktionsseite illustrieren. Dem Primärrecht entsprechend kommt es auch hier wesentlich auf die genaue Definition der Gewährleistungsgehalte sowie der unmittelbaren Anwendbarkeit an, will man nicht Gefahr laufen, Kollisionen zu fingieren und das Prinzip des Anwendungsvorrangs unberechtigt heranziehen. Im Ergebnis gelang mittels einer vorbehaltlosen Auseinandersetzung mit den gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistungsgehalten deren Systematisierung. Beachtet man jenes System, so sind keine übermäßigen gemeinschaftsrechtlichen Einflüsse auf das nationale materielle Kriminalstrafrecht feststellbar. Im Gegenteil, die vorstehende Analyse rückte das Gebot der Gleichbehandlung in den Vordergrund. Der nationale Rechtsanwender ist insoweit allein verpflichtet, den verpflichtenden Vorgaben im Rahmen des nachfolgend zu behandelnden Prinzips der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zur Wirksamkeit zu verhelfen. Eine übermäßige und willkürliche Beeinflussung mitgliedstaatlicher Kriminalstrafrechtssysteme droht nicht, so dass es keiner Sonderbehandlung des Strafrechts bedarf. Das Gemeinschaftsrecht selbst beachtet durch zahlreiche Rückkopplungen an die mitgliedstaatlichen Systeme, auf die es weiterhin angewiesen ist, deren Besonderheiten. Jeglicher Rückzug auf mitgliedstaatliches Souveränitätsdenken erscheint deshalb nicht nur antiquiert, sondern ist darüber hinaus überflüssig.
2. Teil
Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Kriminalstrafrechts Das zuvor behandelte Prinzip des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts sieht als einschneidende Rechtsfolge die Nichtanwendbarkeit des nationalen Rechts vor. Der nationale Rechtsanwender hat im Rahmen seiner Tätigkeit aber ein zweites gemeinschaftsrechtliches Prinzip zu beachten, die sog. gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung. Dieser Grundsatz unterscheidet sich von der unmittelbaren Anwendbarkeit und dem daraus folgenden Anwendungsvorrang grundlegend. War der nationale Rechtsanwender beim vorstehend behandelten Prinzip verpflichtet, Gemeinschaftsrecht unmittelbar auf den Sachverhalt anzuwenden, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedurfte, wird das Gemeinschaftsrecht im Falle der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auf schonendere Art im nationalen Bereich zur Geltung gebracht. An dieser Stelle geht es um die Interpretation nationalen Rechts zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Mitgliedstaatliche Normen werden durch die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht verdrängt. Ihre Existenz ist vielmehr Prämisse der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation. Insbesondere die später noch eingehend behandelte Entscheidung BGHSt 37, 333 des Fünften Strafsenats zum strafrechtlichen Abfallbegriff hat eine rege Diskussion1 über Inhalt, Reichweite und Grenzen dieses Prinzips im deutschen Recht ausgelöst, wobei regelmäßig die richtlinienkonforme Auslegung im Zentrum des Interesses stand. Dennoch spielt die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der strafrechtlichen Praxis nach wie vor eine untergeordnete Rolle2. Dies mag mit der vielzitierten Zurückhaltung deutscher Strafrechtler gegenüber europarechtlichen Fragen und mit dem Umstand zusammenhängen, dass der gemeinschaftsrechtliche Bezug angesichts der gemeinschaftsrechtlichen Regelungsdichte regelmäßig nur schwer feststellbar ist. Daneben existiert aber auch kein durch die Literatur herausgear1 Vgl. z. B. die Anmerkungen von Horn, JZ 1991, 886; Sack, JR 1991, 337 sowie Brechmann, S. 108 ff.; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402 ff.; Hugger, NStZ 1993, 421 ff. 2 Dannecker, JZ 1996, 869, 872 fordert deshalb kriminologische Untersuchungen, warum gemeinschaftliche Implikationen nur zurückhaltend Beachtung finden.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
239
beiteter, hinreichend kommunizierter, sicherer Inhalt des Prinzips, was gleichsam zur Zurückhaltung beiträgt. Nachfolgend soll deshalb versucht werden, den dogmatischen Rahmen des Prinzips zu beleuchten, um dann auf die Implikationen der Maxime im Bereich des deutschen materiellen Strafrechts einzugehen.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips I. Ursprung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Maßgebender Anhaltspunkt für die Erfassung des Inhalts und der Reichweite der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation ist ihr Ursprung3. Betrachtet man den Umstand, dass hier im Gegensatz zum Vorrangprinzip nationales Recht angewendet wird, so wäre es zum einen möglich, diese Interpretation als Anwendungsfall nationaler Auslegungsmethoden zu begreifen, ohne dass es noch einer europarechtlichen Grundlage bedürfte4. Folgte man dieser Sichtweise, so wäre eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung stets zulässig, man wäre jedoch nicht verpflichtet, gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren. Unterbliebe eine solche Auslegung, setzte man sich zwar dem Vorwurf methodenwidriger Interpretation aus, nicht aber der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit5. Die Durchführung einer gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation wäre gemeinschaftsrechtlich nicht einklagbar. Folglich ist einerseits zu eruieren, inwieweit gemeinschaftsrechtliche Implikationen bereits im Rahmen nationaler Methodik beachtlich sind, daneben gilt es aber auch zu prüfen, ob ein gemeinschaftsrechtliches Fundament existiert. Gleich welchen Ursprung man betrachtet, in jedem Fall ist der nationale Rechtsanwender wie beim Anwendungsvorrang gezwungen, das Gemeinschaftsrecht zu kennen und zu verstehen. Er muss es folglich selbst ausgelegt haben, bevor er den Einfluss auf das nationale Recht untersuchen kann6. Bereits an anderer Stelle wurde dargelegt, dass der nationale Rechtsanwender dabei nicht etwa sein nationales Begriffsverständnis zugrunde legen darf. Vielmehr hat er die gemeinschaftliche Bedeutung einer Regelung zu ermitteln und dabei wie der EuGH auf den aus dem nationalen Recht bekannten Methodenkanon zurückzugreifen, der allerdings durch gemein3
Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 267. Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754 ff.; ders., StVj 1991, 1 ff. 5 Jarass, EuR 26 (1991), 211, 217; Satzger, S. 526. 6 Vgl. Bach, JZ 1990, 1108, 1112; Everling, Reimer Schmidt-FS, 165, 174; Lutter, JZ 1992, 593, 598. 4
240
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
schaftsrechtliche Vorgaben modifiziert wird7. Steht der Inhalt einer gemeinschaftlichen Regelung also nicht bereits durch Rechtsprechung des Gerichtshofes fest, so hat der nationale Rechtsanwender unter Heranziehung der gemeinschaftlichen Methoden den Bedeutungsgehalt zu ermitteln. Bestehen Zweifel hinsichtlich des Inhalts der Gemeinschaftsnorm im gerichtlichen Verfahren, so kann der Gerichtshof gem. Art. 234 EG durch das rechtsanwendende Gericht zur Interpretation angerufen werden. Im Rahmen dieses Vorabentscheidungsverfahrens ergingen auch die maßgebenden Entscheidungen zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, wobei die Vorlagefragen häufig auf die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zielten, der EuGH diese aufgrund seiner beschränkten Jurisdiktion aber auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts und die diesbezüglich entstehenden gemeinschaftsrechtlichen Pflichten reduzierte. Auch dieser Umstand hat wohl zur Unschärfe des Prinzips beigetragen, da die tatsächlichen Konsequenzen, d.h. die konkrete gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der nationalen Tatbestände weiterhin den nationalen Gerichten obliegt, während der EuGH lediglich abstrakt den Inhalt des Prinzips oder die Auslegung bestimmter Gemeinschaftsnormen illustrieren konnte. 1. Berücksichtigung im Rahmen nationaler Auslegungsmethoden Interpretiert der nationale Rechtsanwender eine mitgliedstaatliche Norm, so richtet sich seine Auslegung im Ausgangspunkt nach den herkömmlichen nationalen Auslegungsmethoden, so dass sich zunächst die Frage stellt, inwieweit bereits diese Interpretationsmaximen zu einer Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts zwingen. Im deutschen Recht werden zunächst die grammatikalische, systematische, historische und teleologische Auslegung unterschieden. Es besteht weder eine Rangfolge8 noch sind diese Methoden isoliert anzuwenden. Vielmehr ergibt erst eine alle Kriterien umfassende Abwägung eine vertretbare Auslegung9. Daneben existieren nach deutscher Methodenlehre zwei Zweifelssätze, nämlich die verfassungskonforme und die völkerrechtsfreundliche Auslegung. Sie können jedoch nur dann eingreifen, wenn die zuvor genannten Methoden mehrere Interpretationen zulassen und gehen folglich nicht über den durch die zuvor genannten Methoden gesteckten Rahmen hinaus.
7
Vgl. zum gemeinschaftlichen Methodenkanon Bach, JZ 1990, 1108, 1112; Lutter, JZ 1992, 593, 598 ff. 8 Vgl. Zippelius, § 10 VI; a. A. wohl Larenz, Methodenlehre, S. 344 f. 9 Larenz, Methodenlehre, S. 319.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
241
a) Grammatikalische Interpretation Zunächst ist die Frage zu untersuchen, inwieweit die grammatikalische Interpretation eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung gebieten kann. Danach ist durch Feststellung der Wortbedeutung und des Wortsinns nach allgemeinem Sprachgebrauch und dem besonderen Sprachgebrauch des Gesetzes der Ausgangspunkt sowie die Grenze der Norminterpretation zu bestimmen10. Wird vertreten, dass es sich um einen Fall der grammatikalischen Interpretation handelt, wenn der spezifische Sprachgebrauch der EG-Norm in das nationale Recht übernommen wurde und dem gemeinschaftsrechtlichen Verständnis entsprechend interpretiert werden soll11, so überzeugt dieser Hinwies zwar im Ergebnis, doch geht die Einordnung als grammatikalische Auslegung fehl. Bereits der dargelegte gemeinschaftliche Ursprung erhellt, dass es sich bei dieser Interpretationsmethode um einen gemischten systematischen, historischen und teleologischen Ansatz handelt. Man entwickelt eben nicht die Wortbedeutung und den Wortsinn aus der Norm heraus, sondern blickt bereits auf andere Normen, Ursprünge und Zwecke, so dass bereits deshalb nicht von einem rein grammatikalischen Ansatz ausgegangen werden kann. Selbst wenn man diese Bedenken noch außer Acht lässt, so kommt dem Gemeinschaftsrecht nur in den seltensten Fällen ein natürlicher Wortsinn zu, was sich bereits aus den verschiedenen sprachlichen Fassungen begründet. Auch stellen eine gemeinschaftsrechtliche Norm und damit auch deren Begrifflichkeiten einen Kompromiss verschiedener soziokultureller Hintergründe dar, was den Schluss auf einen natürlichen Wortsinn zumindest erschwert. Ergibt sich dagegen aus der Rechtsprechung des EuGH ein gesicherter gemeinschaftlicher Inhalt, ist auch dieser regelmäßig das Ergebnis der Anwendung sämtlicher gemeinschaftlicher Interpretationsmethoden. Allein der Hinweis auf den gleichlautenden gemeinschaftlichen Wortlaut erhellt den Bedeutungsgehalt daher nicht12. b) Systematische Interpretation Wurde zuvor bereits darauf hingewiesen, dass sich der Bedeutungsgehalt einer Norm erst aus ihrer Stellung im Regelungsgefüge13 ergibt, so folgt daraus, dass die Systematik durchaus zu einer Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts führen kann. Resultiert diese Pflicht zur Beachtung des 10 11 12 13
Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 322. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 6. So bereits Heise, S. 54. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, 1976, S. 672 f.
242
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Normgefüges im nationalen Kontext aus der Existenz einer Normenhierarchie und der Einheit der Rechtsordnung, so kann diese Begründung nicht ohne weiteres auf das Gemeinschaftsrecht übertragen werden. Handelt es sich bei dem EG-Recht doch um eine eigenständige, aus einer autonomen Rechtsquelle fließende Rechtsordnung, so sind nationale und gemeinschaftliche Rechtsbegriffe grundsätzlich einer unabhängigen Interpretation zugänglich14. Dieser Grundsatz hat aber die engen Verzahnungen der Rechtsordnungen zu beachten, so dass ausnahmsweise nationale Termini systematisch einer Auslegung unter Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts bedürfen. Dies ist dann der Fall, wenn Gemeinschaftsnormen Eingang in die nationale Rechtsordnung gefunden haben. Sind sie erst einmal Bestandteil, kann der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung wieder fruchtbar gemacht werden, so dass die Begriffe einheitlich auszulegen sind. Dies hängt von ihrer Geltung ab. Dazu führt der EuGH in der Rs. Simmenthal15 aus: „Unmittelbare Geltung bedeutet [. . .], dass die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens an und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit entfalten müssen. Diese Bestimmungen sind somit unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten für alle diejenigen, die sie betreffen, einerlei, ob es sich um die Mitgliedstaaten oder um solche Einzelpersonen handelt, die an Rechtsverhältnissen beteiligt sind, welche dem Gemeinschaftsrecht unterliegen. Diese Wirkung erstreckt sich auf jedes Gericht, das, angerufen im Rahmen seiner Zuständigkeit, als Organ eines Mitgliedstaats die Aufgabe hat, die Rechte zu schützen, die das Gemeinschaftsrecht den einzelnen verleiht.“
Dementsprechend gilt das gesamte Primärrecht infolge der Transformationsakte und das sekundäre Gemeinschaftsrecht einschließlich der Richtlinien16 vom Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens17 an in den nationalen Rechtsordnungen und ist mithin für die Rechtsanwendungsorgane18 beachtlich. Auch Richtlinien werden kraft ihrer Erzeugung Teil der nationalen Rechtsordnung, ohne einer Inkorporation zu bedürfen, um innerstaatliche Geltung zu erlangen19. Die rechtsanwendenden Organe sind daher verpflichtet, wol14
Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 267 f. EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, 643 f. „Simmenthal II“. 16 Vgl. zum Streitstand hinsichtlich der Geltung von Richtlinien Brechmann, S. 140; Hugger, NStZ 1993, 421, 423; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956; Scherzberg, Jura 1993, 225, 231 bzgl. Umsetzungsrecht; a. A. Heise, S. 58 ff. m. w. N., der meint, Richtlinien erlangten nur dann innerstaatliche Geltung, wenn die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit vorliegen. 17 Vgl. dazu Art. 254 EG. 18 Die Anwendungsverpflichtung auch nicht umgesetzter Richtlinien durch die Verwaltung hat der EuGH erstmals in der Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839, 1871 „Fratelli Costanzo“ festgestellt. 19 Von der unmittelbaren Geltung, ist die Frage zu trennen, ob Richtlinien Rechte und Pflichten für Bürger begründen, was nur unter besonderen Voraussetzungen 15
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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len sie sich methodengerecht verhalten20, bereits im Rahmen der systematischen Auslegung das geltende Gemeinschaftsrecht zu beachten. Allein aus dem Umstand, dass der Methodenkanon verlangt, im Rahmen der systematischen Auslegung auch geltendes Gemeinschaftsrecht zu beachten, folgt indes noch nicht, dass sich das gemeinschaftliche Verständnis gegenüber anderen methodengerecht entwickelten Auslegungen durchsetzt. Heise meint: „So kann es, um Widersprüche zu vermeiden, insbesondere erforderlich sein, die in der EG-Norm und die in den nationalen Vorschriften verwendeten Begriffe einheitlich auszulegen. Dass dann das gemeinschaftsrechtliche Begriffsverständnis dominiert, beruht auf dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts.“21
Bei der systematischen Interpretation geht es zwar darum, die Normen in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen und Widersprüche zu vermeiden. Daraus lässt sich aber noch nicht die Vorrangigkeit eines Verständnisses herleiten. Der Hinweis auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts erscheint an dieser Stelle der Behandlung nationaler Auslegungsmethoden indes verfehlt. Im klassischen Methodenkanon ergibt sich grundsätzlich erst unter wertender Heranziehung der anderen Interpretationsmethoden, welcher Bedeutung der Vorzug einzuräumen ist. Besondere Beachtung verdienen bei der Untersuchung einer Vorzugswirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung aber die nationalen Zweifelsregelungen der verfassungskonformen und völkerrechtsfreundlichen Auslegung, die im Falle mehrerer Deutungsmöglichkeiten eine Bedeutung im Einklang mit der Verfassung bzw. dem Völkerrecht fordern, ohne dass es auf eine Abwägung ankäme. Zu erwägen ist daher, durch Übertragung dieser Grundsätze eine Vorzugswirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zu ermitteln. Im Hinblick auf die deutsche Verfassung wird vertreten: „Lassen Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen jedenfalls eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, so ist eine Auslegung geboten, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht.“22
Die verfassungskonforme Interpretation als besonderes systematisches, aber auch historisches und teleologisches Instrument23 bezweckt durch Vermöglich ist, vgl. Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Haneklaus, DVBl. 1993, 129, 130; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. 20 Hier geht es eben nicht um die gemeinschaftliche Pflicht zur objektiven unmittelbaren Anwendung durch die rechtsanwendenden Organe, die der EuGH in der Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 „Großkrotzenburg“ nur unter bestimmten Voraussetzungen anerkannte. 21 Heise, S. 55 (z. T. in Fn. 175). 22 BVerfGE 2, 266, 282; 8, 71, 78 f.; 8, 210, 221; Brechmann, S. 29 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 399.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
meidung von Kollisionen die Einheit der Rechtsordnung24 sowie die Normerhaltung zur Schonung des Gesetzgebers25. Gerade deshalb ist aber zu beachten, dass jede verfassungskonforme Interpretation eine Verkürzung des Anwendungsbereichs einer Norm bewirkt und so in die Gefahr gerät, demokratisch legitimierte Entscheidungen zu missachten. Es bedarf daher einer Begrenzung dieser Interpretationsmaxime, soll nicht der „favor legis“Grundsatz ins Gegenteil umschlagen26: „(Es) darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden.“27
Einige Verfasser28 greifen die Grundlagen der Vorzugswirkung der verfassungskonformen Auslegung auf und versuchen, eine Vorzugswirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung mit dem Effekt der Normerhaltung, die zur Schonung des Gesetzgebers führe, zu begründen. Dieser „favor legis“-Gedanke verliert aber erheblich an Überzeugungskraft, wenn man beachtet, dass anders als im Falle der Verfassungswidrigkeit die unmittelbare Anwendbarkeit – nur für diese Fälle ist das Argument überhaupt von Bedeutung – nicht zur Nichtigkeit entgegenstehenden nationalen Rechts führt, die nationale Norm vielmehr ihre Gültigkeit behält. Zwar kann sich ein faktischer Zwang zur Gesetzgebung ergeben, doch bleibt die Norm erhalten29. Heise versucht dagegen Parallelen zur verfassungskonformen Auslegung aus dem Gebot der Rechtssicherheit zu entwickeln und daraus die Vorzugswirkung herzuleiten. Er meint, im Falle eines Geltungsvorrangs würde eine kollidierende Norm „wenigstens“ auf Dauer und für alle Fälle unanwendbar, während beim Anwendungsvorrang eine gültige Norm, je nachdem ob ein Gemeinschaftsrechtsbezug vorliegt, anwendbar ist oder nicht. Diese „gespaltene“ Rechtsanwendung führe zu größerer Rechtsunsicherheit als ein Geltungsvorrang der Verfassung. Die gemein23
Vgl. zur unterschiedlichen Einordnung Engisch, S. 83; Friauf, AöR 85 (1960), 224, 230; Göldner, S. 66. 24 Engisch, S. 160 ff. 25 So ist verfassungskonform zu interpretieren, bevor die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes durch das BVerfG erklärt werden darf. Sie dient damit der Erhaltung des Gesetzes. 26 Brechmann, S. 29 m. w. N. 27 BVerfGE 8, 71, 78 f.; 18, 97, 111; 54, 277, 299; 63, 131, 147; 67, 382, 390; 71, 81, 105. 28 Vgl. zu derartigen Ansätzen Bach, JZ 1990, 1108, 1112; Bleckmann, DB 1984, 1576; Everling, Carstens-FS, 95, 107; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 213 ff.; ders., DVBl. 1995, 954, 958; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 964; Lutter, JZ 1992, 593, 604; Ress, DÖV 1994, 489, 492 f.; Satzger, S. 522, 533. 29 So bereits Heise, S. 78.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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schaftsrechtskonforme Auslegung vermeide dies und diene daher sogar stärker als die verfassungskonforme Auslegung der Rechtssicherheit.30
Bereits die Argumentation Heises, der Anwendungsvorrang führe zu größerer Rechtsunsicherheit als ein Geltungsvorrang, geht fehl. Die Effekte sind uneingeschränkt vergleichbar. Wird der Normunterworfene mit nationalen Normen konfrontiert, so werden diese im Falle der Kollision mit der Verfassung derogiert. Die Derogation hängt also von der Feststellung einer Kollision mit der Verfassung ab. Die Situation hinsichtlich des Gemeinschaftsrechts stellt sich nicht anders dar. Auch hier gilt es zur Kollisionsermittlung, den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu definieren, wozu eben auch die Feststellung der unmittelbaren Anwendbarkeit gehört. Sowohl in nationalen als auch in transnationalen Fällen kann die Bestimmung des Anwendungsbereichs Probleme bereiten. Schließlich sind Rechtsunterworfene in jeder Rechtsfrage mit dem Problem konfrontiert, welches Recht auf den Fall anwendbar ist, was eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Gewährleistung voraussetzt, aber nicht zur Rechtsunsicherheit führt. Auch der Vergleich der unterschiedlichen Rechtsfolgen führt nicht zu der Feststellung, durch den gemeinschaftlichen Anwendungsvorrang werde eine stärkere Rechtsunsicherheit hervorgerufen. Liegt nämlich eine Kollision vor, ist die Norm im Falle der Verfassungswidrigkeit ungültig, im Falle der Gemeinschaftswidrigkeit gültig, aber unanwendbar, was in der tatsächlichen Folge für den Rechtsunterworfenen keinen Unterschied darstellt. Heises Argumentation fußt dann zentral auf der Behauptung, die Rechtsfolge der Gültigkeit und Unanwendbarkeit im gemeinschaftsrechtlichen Kontext bei Anwendbarkeit im Übrigen führe zu einer „gespaltenen Rechtsanwendung“ und schaffe ein Problem der Rechtssicherheit. Auch diese Annahme trifft nicht zu. Die Unanwendbarkeit in einem gemeinschaftsrechtlichen Fall begründet kein Vertrauen. Dies obliegt dem Gesetz, welches uneingeschränkt gilt. Der etwaige Mangel einer Unanwendbarkeit in vorhergehenden, gemeinschaftsrechtlich relevanten Fällen wird dem Rechtsunterworfenen regelmäßig auch nicht offenbar. Die Rechtssicherheit ist also nicht stärker betroffen als bei einem Geltungsvorrang. Sowohl eine gemeinschaftsrechtskonforme als auch eine verfassungskonforme Auslegung führen zur Anwendung des Gesetzes im konkreten Fall und dienen in gleichem Maße der Rechtssicherheit. Das Argument verfinge ohnehin nur hinsichtlich unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht und beträfe nur einen Teil der von der h. M. diskutierten Fälle, in denen eine bevorzugte gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in Betracht kommt, weshalb es eine allgemeine dogmatische Begründung ohnehin nicht trägt31. Für diesen Teil finden sich 30
Heise, S. 78. Vgl. auch Heise, S. 79 f., der deshalb die Vorzugswirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auf solche gemeinschaftsrechtlichen Normen be31
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
vergleichbare positive Effekte beider Auslegungsmethoden. Dennoch ist der daraus gezogene Schluss dogmatisch keinesfalls überzeugend. Vergleichbare Ziele lassen nicht die Übertragung des rechtlichen Inhalts zu. Die Übertragbarkeit des Inhalts, der Reichweite und der Verbindlichkeit hängt vielmehr von der Vergleichbarkeit der dogmatischen Grundlagen beider Prinzipien ab. An dieser hinreichenden Ähnlichkeit fehlt es hier. Die verfassungskonforme Interpretation fußt auf dem Gedanken des Stufenbaus der Rechtsordnung32, wobei die Höherrangigkeit der Verfassung aus dem Umstand folgt, dass sie Geltungsgrund33 des einfachen Rechts ist und letzteres der Konkretisierung der inhaltlichen Vorgaben der Verfassung dient. Ergibt sich daraus eine vertikale Durchdringung der einfachgesetzlichen Regeln durch das Verfassungsrecht, mithin eine inhaltliche Determinierung, so lässt sich dieser Gedankengang nicht auf das Gemeinschaftsrecht übertragen. Berücksichtigt man, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung selbständig neben dem nationalen Recht steht und gerade nicht höherrangige Rechtsordnung ist, sondern nur partiell und unter bestimmten Voraussetzungen eine Vorrangstellung einnimmt, so ist sie einer Verfassung eben nicht vergleichbar. Eine inhaltlich determinierende Grund- bzw. Werteordnung bildet sie jedenfalls zur Zeit noch nicht. Insgesamt lassen sich die tragenden Erwägungen der verfassungskonformen Auslegung gerade nicht auf die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung übertragen, so dass sich aus den partiell kongruenten Zielen der Methoden systematisch keine Vermutung34 zugunsten einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung herleiten lässt. Dennoch bleibt geltendes Gemeinschaftsrecht im Rahmen systematischer Auslegung zu berücksichtigen, während sich die Vorzugswirkung der gemeinschaftlichen Bedeutung allein aus den bisher dargestellten Methoden jedenfalls nicht entnehmen lässt. c) Historische Interpretation Wenden wir uns der historischen Auslegung zu, so macht diese die Entstehungsgeschichte der Norm, also die Gesetzesmaterialien und andere feststellbare Erwägungen bei Erlass des Gesetzes fruchtbar. Sie ermöglichen es, auf die Regelungsabsicht, die Zwecke, Ziele und Normvorstellungen des historischen Gesetzgebers zu schließen35. Lässt sich demnach aus den Geschränkt, die eine Kollision auslösen können – also auf unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht. 32 Grundlegend Merkl, S. 181 ff. 33 Sie legt die Bedingungen der Rechtserzeugung und Änderungsvoraussetzungen fest. 34 Zur Vermutung der Verfassungskonformität als historischer Aspekt vgl. BVerfGE 2, 266, 282.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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setzesmaterialien entnehmen, dass der nationale Gesetzgeber normsetzend tätig wurde, um gemeinschaftsrechtliche Vorgaben in nationales Recht umzusetzen, so ist dieses Umsetzungsrecht im Lichte der gemeinschaftlichen Vorgaben zu interpretieren. Diese Vorgabe ist nicht beschränkt auf die ausdrückliche Umsetzung von Richtlinien. Ergibt sich der eindeutige Wille des Gesetzgebers, durch die nationale Rechtsetzung primärrechtlichen oder sonstigen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zu genügen, so bestimmt dies die historische Auslegung. Darüber hinausgehend wird aber unabhängig von etwaigen Gesetzesmaterialien für sämtliches nationales Recht vertreten, es sei zu vermuten, der nationale Gesetzgeber habe den Willen gehabt, gemeinschaftsrechtskonform zu legiferieren36. Mit einer solchen Vermutung scheinen die Verfasser zum einen wiederum die Parallelen zur verfassungskonformen Auslegung zu bemühen, welche bereits im Rahmen der systematischen Auslegung als nicht hinreichend bezeichnet wurden. Daneben ist eine solche Vermutung aus der anderen Zweifelsregelung des deutschen Methodenkanons bekannt, der völkerrechtsfreundlichen Interpretation. Aus einer verfassungsrechtlichen Gesamtschau37 ergebe sich eine „völkerrechtsfreundliche Tendenz“ des Grundgesetzes38, so dass: „[. . .] Gesetze [. . .] im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden sind [. . .]; denn es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.“39
Mit dieser Stellungnahme verkehrt man den ursprünglichen Gehalt der historischen Auslegung, die eigentlich positive Anhaltspunkte in den Materialien verlangt. Hier wird eine Vermutung postuliert, die nur durch ausdrückliche entgegengesetzte Stellungnahme in den Gesetzesmaterialien zu widerlegen ist. Zutreffend wendet sich daher Heise40 gegen eine solche 35
Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 328 ff. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 7; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 625 (nur richtlinienkonforme Auslegung); Everling, RabelsZ 50 (1986), 193, 224; ders., RIW 1992, 379, 380; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 217; Klein, Everling-FS, Bd. I, 641, 647 f.; Lutter, JZ 1992, 593, 598; Satzger, S. 525. 37 Hingewiesen wird dabei insbesondere auf die Präambel, Art. 24–26 GG u. Art. 1 II, 9 II GG. 38 Vgl. BVerfGE 31, 58, 75; 58, 1, 34; 59, 63, 89; 64, 1, 20; Tomuschat, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VII, § 172, Rn. 27. 39 BVerfGE 75, 1, 18; Klein, Everling-FS, Bd. I, 641, 646. Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung sollen auch hier gelten. 40 Heise, S. 64 ff. 36
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
„fingierte“ Vermutung, da es um die Ermittlung des tatsächlichen Willens gehe. Nur wenn der Wille positiv festgestellt werden kann, die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben korrekt umzusetzen, sei es durch aktive Gesetzgebung oder Untätigbleiben, weil bestehendes Recht genügen soll, ist der historische Wille des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Eine Argumentation mit dem Willen des Gesetzgebers gestaltet sich deshalb, auch wenn man die Möglichkeit bewusster „gesetzgeberischer“ Untätigkeit berücksichtigt, zumindest bezüglich bereits bestehenden Rechts problematisch. Regelmäßig wird ein Untätigbleiben nicht begründet, so dass ein Wille kaum feststellbar sein wird41. Außerdem ist eine solche Argumentation dann unmöglich, wenn der Gesetzgeber den Willen kundgetan hat, das Gemeinschaftsrecht nicht beachten zu wollen42. Ging es bisher um das Gebot, gemeinschaftsrechtliche Vorgaben im Rahmen der historischen Auslegung zu berücksichtigen, stellt sich nunmehr die Frage, ob sich im Falle der Beachtlichkeit eine Vorzugswirkung des Ergebnisses dieser Maxime ergibt. Auch diese Bevorzugung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben versucht man aus einer Parallele zur völkerrechtskonformen Auslegung zu begründen. Im nationalen Kanon lässt sich die Bevorzugung des völkerrechtlichen Sinngehalts gegenüber den klassischen Auslegungskriterien nur mit der verfassungsrechtlichen Entscheidung für die Völkerrechtsfreundlichkeit, nicht mit dem innerstaatlichen Rang des Völkerrechts begründen. Schließlich stellt nur das Völkergewohnheitsrecht, nicht aber das Völkervertragsrecht43 gegenüber einfachen Gesetzen höherrangiges Recht dar. Folgt die Vorzugswirkung der völkerrechtsfreundlichen Interpretation also aus der ranghöheren Anordnung der verfassungsrechtlichen Gesamtschau, so lässt sich eine derartige gemeinschaftsfreundliche Ausrichtung des Grundgesetzes dem Art. 24 GG entnehmen. Berücksichtigt man, dass durch die Etablierung der Gemeinschaft ein Integrationsniveau geschaffen wurde, dass über bloße völkerrechtliche Pflichten weit hinaus reicht, so überzeugt unter mehreren Deutungsmöglichkeiten eine gemeinschaftsfreundliche Auslegung, in den dargelegten Grenzen des Wortlauts und des Willens des Gesetzgebers. Wird 41 Vgl. auch Jarass, EuR 26 (1991), 211, 217; Satzger, S. 523; Scherzberg, Jura 1993, 225, 231. 42 In diesem Fall erachtet auch das BVerfGE die Vermutung einer Völkerrechtskonformität als widerlegt, vgl. BVerfGE 75, 1, 18; ebenfalls kritisch Brechmann, S. 226; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 217; Satzger, S. 526; a. A. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 11 f. unter Berufung auf einen rein „objektiven Willen des Gesetzgebers, der kaum noch vertreten wird und zu einer Verkehrung des tatsächlichen Willens führen könnte. 43 Art. 59 II 1 GG, nur den Rang des einfachgesetzlichen Transformationsgesetzes.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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dieser Ansatz regelmäßig als ein gemischt systematisch, historisches und auch teleologisches Argument eingeordnet, so hat diese Untersuchung gezeigt, dass die Vermutung als historische Grundlage nicht brauchbar erscheint, so dass der systematische Aspekt dominiert. d) Teleologische Interpretation Legt man die Annahme zugrunde, Gesetze unterlägen einem gesellschaftlich bedingten Bedeutungswandel, so ist angesichts der Regelungshoheit des aktuellen Gesetzgebers der objektive Sinn und Zweck einer Norm vor den jeweils aktuellen Verhältnissen zu ermitteln44. Dementsprechend wird vertreten, die Richtlinie als causa angeglichenen Rechts sei Zweck jenes Umsetzungsrechts und habe daher die Zielsetzungen und den Inhalt der Richtlinie zu berücksichtigen45. Könnte dies in Bezug auf Umsetzungsrecht noch überzeugen, so stellt sich zunächst das Problem der Feststellung, welches Recht als Umsetzungsrecht einzuordnen ist. Schließlich kann auch unverändertes Recht die Richtlinie umsetzen. Legt man diesen Umstand zugrunde, so stellt sich die Frage, ob dann das gesamte nationale Recht der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts dient. Objektiver Sinn einer jeden nationalen Regelung wäre dann, die Effektivität des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Eine solche Interpretation zugunsten umfassender Effektivität des Gemeinschaftsrechts verkannte, dass es bei der Zweckermittlung um die Auslegung einer Norm aus sich selbst heraus geht. Insbesondere die teleologische Interpretation hat schließlich zu beachten, dass der Rechtsanwender keine dem objektiven Recht enthobenen Normzwecke entwickelt. Nur sofern die Norm einen inhaltlichen Bezug zum Regelungsgegenstand der EG-Norm aufweist, gilt ein veränderter gemeinschaftsfreundlicher telos46. Darüber hinaus ist die Effektivität des Gemeinschaftsrechts aber nicht objektiver Sinn allen nationalen Rechts. Dennoch stellt sich auch im Falle eines gemeinschaftsfreundlichen Zwecks die Frage, ob dieser Auslegungsmethode der Vorzug zu geben ist. Allenfalls aus der Parallele zur völkerrechtsfreundlichen Interpretation, welche auch teleologische Elemente aufweist, lässt sich eine solche Vorzugswirkung des gemeinschaftsfreundlichen Zwecks innerhalb der etablierten Grenzen entnehmen.
44 45 46
Vgl. Zippelius, § 4 III. Lutter, JZ 1992, 593, 598; Heise, S. 67. So auch Heise, S. 68 f.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
e) Ergebnis des nationalen Methodenkanons Aus dem dargestellten Methodenkanon ergibt sich mithin für den nationalen Rechtsanwender, will er sich nicht dem Vorwurf methodenwidriger Auslegung aussetzen, dass er im Rahmen systematischer, historischer und teleologischer Auslegung die Implikationen des geltenden Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen hat. Die Pflicht beschränkt sich auch nicht auf bloßes Umsetzungsrecht, sondern gilt für das gesamte nationale Recht, sofern es in den Regelungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Die dabei gefundenen gemeinschaftsrechtlichen Einflüsse sind aber mit den anderen methodischen Ergebnissen abzuwägen. Eine methodenbrechende Wirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ergibt sich nach dem nationalen Kanon jedenfalls nicht. Entsprechend dem völkerrechtsfreundlichen Ansatz, gilt nur im Falle mehrerer Deutungsmöglichkeiten im Zweifel die gemeinschaftsrechtsfreundliche Auslegung47. Die gemeinschaftsrechtsfreundliche Auslegung geht damit nach rein nationalem Auslegungsverständnis nicht über den durch die übrigen Methoden gesteckten Rahmen hinaus. Sie achtet daher die absoluten Grenzen des Wortlauts und des feststellbaren Willens des Gesetzgebers. 2. Gemeinschaftsrechtliche Pflicht Wurde zuvor zwar eine nationale Wurzel der Interpretation im Lichte des Gemeinschaftsrechts festgestellt, so konnte eine imperative, alle anderen Methoden verdrängende Wirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht festgestellt werden. Zu prüfen ist, ob sich aus dem Gemeinschaftsrecht eine weiterreichende Pflicht ergibt, mit der Folge, dass die nationale rechtsanwendende Behörde im Falle der Missachtung gegen Gemeinschaftsrecht verstieße und dem Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226, 227 EG drohte. Ausgangspunkt der Untersuchung einer gemeinschaftlichen Pflicht bildet auch hier die Rechtsprechung des EuGH, der zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts berufen ist und folglich bei der Entwicklung solcher Pflichten treibende Kraft ist.
47 Im Ergebnis ebenso Brechmann, S. 225; Kahl, in: Callies/Ruffert, Art. 10 EG Rn. 41; Satzger, S. 525.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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a) Inhalt und Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht Ausgehend von einigen Entscheidungen48, in denen bereits die „Zweckmäßigkeit“ einer richtlinienkonforme Auslegung anklang, drückte der EuGH in der Rs. Von Colson und Kamann49 eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung explizit aus. Der an anderer Stelle bereits dargestellte Sachverhalt ist kurz zu rekapitulieren. Das Arbeitsgericht Hamm hatte sich dabei mit der Schadensersatzregelung des § 611 a II BGB auseinander zu setzen, wonach der Arbeitgeber zum Ersatz des Vertrauensschadens verpflichtet ist, wenn die Begründung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Benachteiligung wegen des Geschlechts scheitert. So verhielt es sich bei den beiden Klägerinnen, die sich um zwei Sozialarbeiterstellen in der JVA Werl beworben hatten, ihnen aber männliche Bewerber vorgezogen worden waren. Das Arbeitsgericht sah in einem bloßen Vertrauensschadensersatz aber einen Verstoß gegen die Richtlinie 76/20750, zu deren Durchführung § 611 a BGB erlassen worden war. Das Amtsgericht legte deshalb u. a. die Fragen vor, ob aus der Richtlinie als Sanktion für eine Diskriminierung ein Kontrahierungszwang des Arbeitgebers folge und ob die Richtlinie „unmittelbar geltendes Recht“51 sei. Der EuGH begann mit der Interpretation der Richtlinie und lehnte einen daraus folgenden Kontrahierungszwang als Sanktion ab, denn „[. . .] die Richtlinie (schreibt) keine bestimmte Sanktion vor, sondern belässt den Mitgliedstaaten die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen, zur Verwirklichung ihrer Zielsetzung geeigneten Lösungen.“
Der Gerichtshof entschied durch Interpretation der Richtlinie weiterhin, dass trotz dieser Freiheit eine „rein symbolische Entschädigung wie etwa die Erstattung ihrer Bewerbungskosten [. . .] den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht gerecht“ wird. Hinsichtlich der Interpretation der nationalen Regelungen stellte er klar, dass die Frage, ob § 611 a II BGB die Anwendung der allgemeinen Schadensersatzvorschriften notwendig ausschließt, allein der Auslegung durch die nationalen Ge48 Vgl. die Nachweise aus der Rechtsprechung und die genaue Entwicklung bei Brechmann, S. 32 ff. 49 Ständige Rechtsprechung jedenfalls seit EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1907 ff. „Von Colson und Kamann“; vgl. Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 „Harz“; Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 „Johnston ./. Chief Constable“; Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 „Kolpinghuis Nijmegen“; Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635 „Gebroeders Beentjes“; Rs. 125/88, Slg. 1989, 3533 „Nijman“; Rs. C-373/90, Slg. 1992, I-131 „Ermittlungsverfahren gegen X“. 50 Vom 9.02.1976, ABl. L 39, S. 40. 51 Der EuGH behandelt diesbezüglich durch Umdeutung zutreffend die unmittelbare Anwendbarkeit.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
richte überlassen sei52. In Bezug auf diese Auslegung wies er die nationalen Gerichte jedoch auf ihre gemeinschaftsrechtlichen Pflichten hin und formulierte: „Allerdings ist klarzustellen, dass sich die aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 EWG-Vertrag (jetzt Art. 10 EG), alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchführung der Richtlinie 76/207 erlassenen Gesetzes, dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen hat, um das in Art. 189 Absatz 3 (jetzt Art. 249 III EG) genannte Ziel zu erreichen.“
Nun zielte die eigentliche Vorlagefrage auf das zu jener Zeit bereits etablierte Prinzip der unmittelbaren Anwendbarkeit, das es – wie bereits dargestellt – den Gerichten unter den entsprechenden Voraussetzungen ermöglicht, der Richtlinie ohne Umsetzung zur Wirksamkeit zu verhelfen. Jene Voraussetzungen sah der Gerichtshof aber als nicht erfüllt an: „[. . .] hinsichtlich der Sanktionen für eine etwaige Diskriminierung (begründet die Richtlinie) keine unbedingte und hinreichend bestimmte Verpflichtung, auf die sich ein einzelner mangels rechtzeitig erlassener Durchführungsmaßnahmen berufen könnte, [. . .]“
Der Gerichtshof betonte daher noch einmal, dass die Pflicht dem Gemeinschaftsrecht zur Wirksamkeit zu verhelfen, sich nicht auf den Weg der unmittelbaren Anwendbarkeit in den Mitgliedstaaten beschränkt, sondern die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet sind, den Vorgaben der Richtlinie durch eine richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts zur Wirksamkeit zu verhelfen: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“
Bezieht sich diese Entscheidung zwar noch auf die richtlinienkonforme Auslegung, so klingt bereits in der Formulierung „in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts“ eine Ausdehnung dieser Pflicht auf das übrige Gemeinschaftsrecht an. Tatsächlich übertrug der EuGH nachfolgend diese Rechtsprechung auf die Auslegung im Lichte des 52 Dabei ließ sich der EuGH offensichtlich von der Feststellung der Bundesregierung leiten, § 611a II BGB schließe die Anwendung der allgemeinen Schadensersatzvorschriften nicht notwendig aus, vgl. EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1908 „von Colson und Kamann“.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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Primärrechts53 unabhängig von dessen unmittelbarer Anwendbarkeit, so dass mittlerweile vom Prinzip der gemeinschaftsrechtskonformen54 Auslegung gesprochen werden kann55. Bestätigung erfährt dieses Verständnis der Reichweite, wenn man berücksichtigt, dass auch im Falle der richtlinienkonformen Auslegung nicht nur das reine Umsetzungsrecht56 die Richtlinienvorgaben zu berücksichtigen hat, sondern sämtliche auch bereits bestehende nationale Normen in deren Licht zu interpretieren sind, soweit sie nur in deren Regelungsbereich fallen57. In der Rechtsprechung des EuGH ist daher mittlerweile der Grundsatz etabliert, dass sämtliches verbindliches Gemeinschaftsrecht unabhängig von dessen unmittelbarer Anwendbarkeit58 bei der Auslegung des gesamten nationalen Rechts zu berücksichtigen ist. Sowohl der EuGH59 als auch die h. M.60 erblicken die gemeinschaftsrechtlichen Wurzeln dieser Pflicht in Art. 10 EG und für die richtlinienkonforme Auslegung teilweise in der Richtlinie selbst sowie in Art. 249 III EG61. Hinsichtlich der richtlinienkonformen Auslegung stellt sich noch die Frage, welche Relevanz der Fristablauf auf dieses Prinzip hat. Die Rechtsprechung ist zu jener Frage nicht ganz eindeutig, denn während der EuGH 53 EuGH, Rs. 157/86, Slg. 1988, 673 „Murphy“; Rs. C-165/91, Slg. 1994, I-4661 „van Munster“. 54 Zu den verschiedenen verwendeten Termini vgl. Heise, S. 47 f. 55 Soweit der EuGH in der Rs. C-322/88, Slg. 1989, 4407 „Grimaldi“ dieses Gebot auf die nicht verbindlichen Empfehlungen ausgedehnt hat, ist dies abzulehnen, da ein solches Vorgehen dem „soft law“ unberechtigterweise weitgehende Rechtswirkungen zugesteht; zutreffend daher Heise, S. 96. 56 Die Probleme, die bei der Bestimmung dessen, was reines Umsetzungsrecht ist, entstehen, wurden bereits oben dargelegt. Auch unter diesem Gesichtspunkt erfährt die Ausdehnung daher Bestätigung. 57 Klang diese Ausdehnung bereits in der Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1909 „von Colson und Kamann“ in der Formulierung „insbesondere“ an, findet dies in den Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, 4159 „Marleasing“; Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 „Wagner Miret“; Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 „Faccini Dori“; Rs. C-262/97, Slg. 2000, I-7321, 7361 „Rijksdienst voor Pensioenen ./. Robert Engelbrecht“ Bestätigung. So auch die ganz h. M. in der Lit., vgl. Brechmann, S. 263; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 55; Gröblinghoff, S. 59; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 220 jeweils mit weiteren Nachweisen. 58 Jarass, EuR 26 (1991), 211, 212; Satzger, S. 528; a. A. Scherzberg, Jura 1993, 225, 232. 59 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1909 „von Colson und Kamann“; Rs. 157/86, Slg. 1988, 673 „Murphy“; Rs. C-322/88, Slg. 1989, 4407 „Grimaldi“; Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 „Marleasing“. 60 Bach, JZ 1990, 1108, 1111 ff.; Dannecker, JZ 1996, 869, 872; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 55; Gröblinghoff, S. 64; Hugger, NStZ 1993, 421, 422; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 216 f.; kritisch Ress, DÖV 1994, 489 f. 61 Dabei wird Art. 249 III EG entweder isoliert oder kumulativ mit Art. 10 EG herangezogen, was aber inhaltlich ohne Relevanz ist, vgl. Heise, S. 95 f.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
früher eine solche Pflicht eindeutig erst nach Fristablauf postulierte, gaben neuere Entscheidungen Anlass zu Zweifeln. So formulierte der EuGH, dass aus Art. 10 II EG die Pflicht folge, „während der in dieser (der Richtlinie) festgesetzten Umsetzungsfrist keine Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Zieles bei Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich in Frage zu stellen“62. Diese Ausführungen wurden z. T. dahingehend gedeutet, dass eine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Interpretation nicht erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist, sondern bereits ab Erlass der Richtlinie gelte63. Schließlich trete die Richtlinie mit Art. 254 EG in Kraft und entfalte damit bereits Rechtswirkungen. Gegen diese Interpretation der Rechtsprechung zum Beginn der Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation spricht jedoch, dass die Richtlinie zu jenem Zeitpunkt zwar in Kraft tritt und mithin in Deutschland gilt. Entfaltet sie demnach auch Rechtswirkungen, die von den mitgliedstaatlichen Organen zu beachten sind, so ist dennoch der befristete Umsetzungsbefehl zu beachten. Die Mitgliedstaaten sind eben nicht verpflichtet, die Richtlinienvorgaben sofort bei In-Kraft-Treten in nationales Recht zu verwandeln. Bis zum Fristablauf sind sie in ihrer Rechtsetzung – aktiv wie durch Unterlassen – und damit auch in der Rechtsanwendung frei. Es kann den nationalen Stellen nicht vorgeworfen werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor Ablauf der Frist umsetzen, so dass auch die von der Gegenansicht zitierte EuGH-Rechtsprechung bis zu jenem Zeitpunkt lediglich ein Frustrationsverbot in dem Sinne etabliert, dass die Richtlinienumsetzung bei Fristablauf nicht ernsthaft in Frage gestellt werden darf. Steht bei Erlass der nationalen Regelung aber bereits fest, dass die korrekte Umsetzung bis zum Fristablauf infolgedessen nicht mehr möglich ist, so rechtfertigt allein jener Umstand, bereits im Erlass der nationalen Regelung einen Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung zu erblicken. Die Feststellung eines Richtlinienverstoßes in diesem Fall, in dem der Verstoß bereits vor Fristablauf feststeht, vom vorherigen Fristablauf abhängig zu machen, erscheint nicht vertretbar. Umgekehrt darf bis zum Fristablauf aber sogar widersprechendes Recht erlassen werden, sofern es die korrekte Umsetzung zum Ablaufzeitpunkt nicht gefährdet. Die Gemeinschaft hat erst danach ein schützenswertes Interesse an der Herbeiführung des umschriebenen Rechtszustandes, so dass die Rechtsprechung allein ein Frustrationsverbot im dargestellten Sinne etabliert hat. Die Mitgliedstaaten sind daher auch erst nach Fristablauf zur richtli62 EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 „Inter-Environnement Wallonie ASBL ./. Region wallonne“; Einschub in Klammern ist Anmerkung des Verfassers. 63 Arnull, ELR 13 (1988), 42, 43; Lenz, DVBl. 1990, 903, 908; Ress, DÖV 1994, 489, 492 f.; Satzger, S. 536 f.; Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 44.
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nienkonformen Auslegung gezwungen64. Die Zweistufigkeit des die Richtlinie charakterisierenden Rechtsetzungsverfahrens und damit die Unterscheidung zur Verordnung würden obsolet, wenn sich bereits vor diesem Termin die inhaltlichen Direktiven der Richtlinie im nationalen Recht durchsetzen könnten65. Gemeinschaftlich ergibt sich folglich erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist eine Pflicht zu richtlinienkonformer Interpretation. Vor diesem Zeitpunkt entfalten die Richtlinien ab In-Kraft-Treten lediglich ein Frustrationsverbot. Unabhängig von dieser gemeinschaftlichen Pflicht ist es Frage des nationalen Rechts, ob bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine richtlinienkonforme Auslegung zulässig ist66. Antizipierte Richtlinienkonformität ist ein Argument, das bei der richterlichen Wahrnehmung von gesetzlich eröffneten Entscheidungsspielräumen berücksichtigt werden darf, zugleich aber auch mit gegenläufigen Erwägungen abgewogen werden muss67. Ist die Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht transformiert worden, lässt sich eine solche Auslegung auf den Willen des Gesetzgebers stützen68. Im Übrigen verdienen Richtlinienvorgaben ab deren In-Kraft-Treten jedenfalls Berücksichtigung im Rahmen der systematischen Auslegung. b) Gemeinschaftsrechtliche Grenzen der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht Erlangte das Urteil in der Rs. Von Colson und Kamann bereits erhebliche Relevanz bei der Bestimmung des Inhalts der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, führte eine Passage der Entscheidung auch zu 64 Bach, JZ 1990, 1108, 1111 f.; Böse, S. 427; Brechmann, S. 264 f.; Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 11; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 621 f.; ders., EuZW 1999, 553; Everling, RIW 1992, 379, 380; Götz, NJW 1992, 1849, 1854; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 55; Haneklaus, DVBl. 1993, 129, 130; Hilf, EuR 28 (1993), 1, 15; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 221; Klein, Everling-FS, Bd. I, 641, 646; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 964; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Scherzberg, Jura 1993, 225, 231 ff. 65 Klein, Everling-FS, Bd. I, 641, 647; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 277. 66 BGH, NJW 1998, 2208; Ehricke, EuZW 1999, 553; Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf, Art. 249 EGV Rn. 153; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507; Sack, WRP 1998, 103. 67 BGH, NJW 1998, 2208; NJW 1998, 3561; NJW 1999, 949; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 249 EGV Rn. 153; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507; vgl. auch die Ausführungen zur Möglichkeit der Berücksichtigung im Rahmen nationaler Auslegungsmethoden. 68 Jarass, EuR 26 (1991), 211, 221; Klein, Everling-FS, Bd. I, 641, 647 (Fn. 30); Lutter, JZ 1992, 593, 605.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Spekulationen über die Grenzen jenes Prinzips. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Formulierung: „[. . .] die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 EWGV (jetzt: Art. 10 EG) (obliegt) allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten [. . .], und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. [. . .] Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“69
Primär wird bei der Entwicklung der Grenzen der Auslegungsmaxime auf die Formulierung „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt“ hingewiesen und daraus die Grenze der nationalen Auslegungsregeln gefolgert. Dabei hinterfragt jedoch kaum ein Autor, die Grundlage jener Begrenzung, was aber den Inhalt der Formulierung „Beurteilungsspielraum“ erhellen könnte. Der Schluss, dass der EuGH tatsächlich sämtliche nationale Auslegungsregeln meint, ist schließlich zu belegen. Ein Ansatz findet sich bei Satzger, der meint: „Da die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ihre Rechtsgrundlage sowohl im nationalen wie auch im Gemeinschaftsrecht hat, können deren Grenzen ihre Grundlage ebenfalls in beiden Rechtsordnungen finden. Die nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Grenzen stehen kumulativ nebeneinander. Ein Konflikt zwischen EG-rechtlicher Pflicht und nationaler Grenze ist dabei von vornherein ausgeschlossen, da eine Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung bereits nach EG-Recht stets voraussetzt, dass ein entsprechender nationaler Auslegungsspielraum des Rechtsanwenders besteht.“70
Diese Ausführungen Satzgers sind widersprüchlich. Zunächst scheint er den „verdoppelten Rechtsgrund“71 auch bei den Grenzen fruchtbar machen zu wollen, wenn er eine Kumulation der Grenzen vertritt. Es scheint als könnten nationale Auslegungsregeln, also mitgliedstaatliches Recht, die gemeinschaftsrechtliche Pflicht begrenzen. Geht er danach aber auf die Unmöglichkeit der Kollision ein, so definiert er die gemeinschaftliche Pflicht, indem er sie durch die nationalen Auslegungsmethoden reduziert. Dann geht es aber einzig um die gemeinschaftliche Pflicht, die zum Teil, nämlich in Bezug auf die Auslegungsspielräume, durch die nationalen Gerichte auszufüllen ist. Kumulierende Grenzen existierten nicht. Fraglich ist aber, ob die These, die Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung setze nationale Auslegungsspielräume voraus, überhaupt zu69
EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1909 „von Colson und Kamann“; Hervorhebungen durch den Verfasser. 70 Satzger, S. 533; ähnlich Böse, S. 427. 71 Satzger, S. 527.
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trifft. Während zahlreiche Autoren die gemeinschaftliche Akzeptanz nationaler Beurteilungsspielräume begründungslos propagieren, versucht Satzger, dies auf ein rechtliches Fundament zu stützen. So müssten, da sich die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung auch auf nicht unmittelbar anwendbares Recht bezieht, die Grenzen zum Anwendungsvorrang gewahrt werden: „Das nationale Gericht ist durch die Vorschriften des EG-Vertrags zur Auslegung im Lichte des Gemeinschaftsrechts nur im Rahmen des ihm durch das nationale Recht eingeräumten Beurteilungsspielraums verpflichtet, d.h. die Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung wird durch die jeweiligen nationalen Auslegungsregeln begrenzt.“ Ansonsten würde dem nationalen Recht eine gemeinschaftsrechtskonforme Lösung oktroyiert, die das nationale Recht unter Zugrundelegung seiner eigenen Methodik nicht enthalte. Es würde unabhängig von einer unmittelbaren Anwendbarkeit ersetzt werden. Im Falle der richtlinienkonformen Auslegung befürchtet er eine unzulässige horizontale Drittwirkung. Nur im Falle unmittelbarer Anwendbarkeit sei eine Ausdehnung der Pflichten aus Art. 10 EG und Art. 249 III EG auf die rechtsanwendenden Stellen in den Mitgliedstaaten gerechtfertigt. Eine [. . .] Pflicht zur Beachtung (nicht unmittelbar wirksamen) Gemeinschaftsrechts lasse sich nur insofern rechtfertigen, als den innerstaatlichen Stellen eine Umsetzung (im weitesten Sinne) ohne Verletzung ihres national bestimmten Aufgaben- und Kompetenzbereichs möglich sei. Deshalb werde die Pflicht durch die jeweiligen nationalen Auslegungsregeln begrenzt.72
Satzger formuliert ein wenig undeutlich. Natürlich treffen die Vorgaben aus Art. 10 EG alle Träger öffentlicher Gewalt, ungeachtet dessen, ob diese zur Legislative, Exekutive oder Judikative zählen73. Sie sind danach verpflichtet die umfassende Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Grundsätzlich wenden sie nationales Recht an, es sei denn dieses widerspricht unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht. Nur unter dieser Voraussetzung sind sie verpflichtet, Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Die unmittelbare Anwendung von Gemeinschaftsrecht bildet die Ausnahme und ist nur ein Aspekt der Pflicht aus Art. 10 EG zur wirksamen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, welche die mitgliedstaatlichen Organe unabhängig von einer unmittelbaren Anwendbarkeit stets trifft. Fehlt es nämlich an der unmittelbaren Anwendbarkeit ist die Umsetzung im Rahmen der Schaffung oder Anwendung nationalen Rechts zu leisten. Eine solche konkrete Durchführung der allgemeinen Effektivitätsvorgabe des Art. 10 EG im Rahmen der Anwendung nationalen Rechts stellt die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung dar. Sie darf selbstverständlich nicht die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit unterminieren und quasi durch die Hintertür doch die Anwendung des Gemeinschaftsrechts bewirken. Insoweit trifft Satzgers Stellungnahme zu. Aus dieser Abgrenzung zur unmittel72
Satzger, S. 528 f.; ähnlich Gröblinghoff, S. 65. EuGH, Rs. 71/76, Slg. 1977, 765 „Thieffry“; Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 „von Colson und Kamann“. 73
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
baren Anwendbarkeit lässt sich trotzdem nur entnehmen, dass es sich bei der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation um die Anwendung nationalen Rechts handeln und dieses einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zugänglich sein muss. Diese Begrenzung mutet indes recht unscharf an und vermag den Inhalt des Prinzips nicht zu erhellen. Ein begrenzender Effekt sämtlicher Auslegungsregeln ergibt sich dabei jedenfalls nicht. Beim Anwendungsvorrang und bei der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation handelt es sich um zwei verschiedene aus Art. 10 EG fließende Prinzipien, die beide der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts dienen und in Beziehung zueinander stehen. Dennoch erscheint es methodisch als unzureichend, den Inhalt der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung durch Abgrenzung zur unmittelbaren Anwendbarkeit zu erschließen. Vielmehr gilt es, diesen autonom aus Art. 10 EG zu entwickeln. Art. 10 EG verpflichtet die Mitgliedstaaten und ihre Organe alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus dem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Nun hat der EuGH bereits frühzeitig festgestellt, dass aus der Etablierung der Gemeinschaft das Gebot ihrer Funktionsfähigkeit fließt, wozu die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten unabdingbar ist. Eine einheitliche Anwendung verlangt aber zweierlei, nämlich zum einen die einheitliche Interpretation und Anwendung des Gemeinschaftsrechts selbst durch die mitgliedstaatlichen Organe. Daneben müssen sich aber auch übereinstimmende innerstaatlichen Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts ergeben. Dies ist offensichtlich zunächst in Bezug auf die Interpretation und Anwendung von Umsetzungsrecht. Dieses bedarf einheitlicher Anwendung, welche durch eine uniforme Auslegung bedingt wird. Bereits an anderer Stelle wurde dargelegt, dass dieses Gebot aber nicht bei reinem Umsetzungsrecht verharren darf, sondern das gesamte Recht erfasst, sobald es in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Folglich verhilft auch die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation dem Gemeinschaftsrecht zu umfassender Wirksamkeit und lässt sich auf Art. 10 EG stützen74. aa) Die mitgliedstaatliche Kompetenzordnung als gemeinschaftsrechtliche Grenze Andererseits ist diese gemeinschaftliche Vorgabe nicht isoliert zu betrachten. Vielversprechend erscheint deshalb Satzgers Hinweis auf den national bestimmten Aufgaben- und Kompetenzbereich, welcher für die Gerichte in erster Linie durch die innerstaatlichen Auslegungsspielräume begrenzt ist. 74
Vgl. Heise, S. 93; Satzger, S. 527.
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Eine nähere Begründung der begrenzenden Wirkung und der rechtlichen Grundlage jener Reduzierung liefert Satzger jedoch nicht. Auch andere Autoren übernehmen an dieser Stelle lediglich die Aussage des EuGH, die Pflicht aus Art. 10 EG obliege „allen Trägern öffentlicher Gewalt [. . .] und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch den Gerichten“. Deutlicher zeigt Jarass dagegen, warum er die Pflicht aus Art. 10 EG durch die nationale Kompetenzverteilung begrenzt sieht: „In der Sache ist die Beschränkung durch die nationalen Auslegungsregeln eine Folge des Umstands, dass die aus Art. 5 EGV resultierende Verpflichtung aller staatlichen Organe zur Umsetzung und Anwendung von EG-Recht beizutragen, grundsätzlich nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit zum Tragen kommt, wie der Europäische Gerichtshof formuliert. Der Begriff der Zuständigkeit ist dabei sehr weit zu verstehen: Das innerstaatliche Organ muss zu der betreffenden Aktivität nach nationalem Recht in der Lage sein: Geht es um die Auslegung einer Norm, müssen dementsprechend die nationalen Auslegungsregeln Beachtung finden.“75
Positiv hervorzuheben an diesem Ansatz ist der Umstand, dass Jarass deutlich die gemeinschaftsrechtliche Pflicht aus Art. 10 EG auch gemeinschaftsrechtlich begrenzen will. Damit unterscheidet sich sein Ansatz evident von dem vieler anderer Autoren, die z. T. sogar meinen, nationale Grenzen seien maßgebend76. Dass auch die Grenzen aus dem Gemeinschaftsrecht fließen müssen, ergibt sich, wenn man auf die EuGH-Rechtsprechung Bezug nimmt, bereits aus dem Umstand, dass der Gerichtshof in jenen Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 234 EG nur über Gemeinschaftsrecht judizieren durfte. Daneben ist zu berücksichtigen, dass jedenfalls aus Sicht des Gerichtshofes nationale Grenzen, selbst wenn sie konkretisiertes Verfassungsrecht darstellen, sich im Falle einer Kollision mit der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht nicht durchsetzen könnten. Heise löst sich deshalb von der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung und verfolgt eine rein nationale Lösung, wenn er versucht, vom Ausgangspunkt des Art. 23 GG als Integrationshebel zu prüfen, ob nationale Grenzen existieren, die sich im Kollisionsfalle ausnahmsweise gegenüber der Pflicht aus Art. 10 EG durchsetzen. Zudem beschränkt sich eine solche Wirkung auch auf dem Boden dieser Ansicht auf einen eng umgrenzten Kernbereich des Verfassungsrechts. Dieser verfassungsgerichtliche Vorbehalt kam bisher noch nicht zum Tragen77.
Fraglich ist, ob aus der nationalen Kompetenzordnung tatsächlich eine gemeinschaftsrechtliche Grenze folgt, wonach nationale Interpretations75 Jarass, EuR 26 (1991), 211, 216; ders., DVBl. 1995, 954, 958 unter Hinweis auf EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1909 „Von Colson und Kamann“; Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3986 „Kolpinghuis Nijmegen“; ebenso GA Mischo, in: EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3979 „Kolpinghuis Nijmegen“; Haneklaus, DVBl. 1993, 129, 131. 76 Vgl. z. B. Heise, S. 100. 77 Heise, S. 100, der insoweit konsequent prüft, ob der Kernbereich betroffen ist.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
methoden zu achten sind. Voraussetzung ist dabei zum einen, dass das Gemeinschaftsrecht die nationale Zuständigkeitsverteilung anerkennt. Im Falle der Akzeptanz wäre dann zu erörtern, ob daraus wirklich die Achtung der nationalen Interpretationsmethoden folgt. Wenden wir uns der vorrangigen Frage nach der Akzeptanz mitgliedstaatlicher Kompetenzordnungen zu. Aufschlussreich könnte dabei eine Betrachtung der nationalen Verwaltungen sein. Wie erörtert, richtet sich Art. 10 EG neben den Gerichten auch an die nationalen Verwaltungen und gibt ihnen auf, für die effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen. Im Zusammenhang mit den Pflichten der nationalen Verwaltung wird nun häufig auf die institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten hingewiesen78. Diese Begriffsbildung wird vielfach als irreführend kritisiert79, weil sie die tatsächliche Kompetenzlage80 verschleiere. Die Grenzen und damit der Schutz mitgliedstaatlicher Handlungsfreiheit ergeben sich zum einen aus Art. 5 II und III EG, so dass zumindest nach seiner Einführung der Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten keine weitere normative Anleitung zur Entscheidung der einschlägigen Fragen leistet81. Dennoch erhellt diese Formulierung die Stellung der nationalen Verwaltungen als „kodependente Organismen“: Bleiben sie auch organisatorisch Teil der nationalen Exekutive, so bilden sie doch in funktioneller Hinsicht einen Teil der Gemeinschaft82, indem sie dem Gemeinschaftsrecht zur Wirksamkeit verhelfen. Dieses Dilemma wurde bereits in der Erklärung zum Maastrichter Vertrag zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts beschrieben: Grundsätzlich ist es „Sache jedes Mitgliedstaates, zu bestimmen, wie die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts unter Berücksichtigung seiner Institutionen, seiner Rechtsordnung und anderer Gegebenheiten [. . .] am besten anzuwenden sind“, doch ist es „für die reibungslose Arbeit der Gemeinschaft von wesentlicher Bedeutung, dass die in den einzelnen Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen dazu führen, dass das Gemeinschaftsrecht dort mit gleicher Wirksamkeit und Strenge Anwendung findet, wie dies bei der Durchführung der einzelstaatlichen Vorschriften der Fall ist“.83 78 GA Jacobs, in: EuGH, Rs. C-430 u. C-431/93, Slg. 1995, I-4705, 4713 „van Schijndel u. a. ./. Stichting Pensioenfonds“; Priebe, in: Schmidt-Aßmann/HoffmannRiem, S. 71; Schoch, NVwZ 1999, 457, 465; Schwarze, NVwZ 2000, 241, 246. 79 Z. B. Kahl, in: Callies/Ruffert, Art. 10 EG Rn. 24; v. Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf, Art. 10 EGV Rn. 43. 80 Z. B. Assmann, DVBl. 1993, 924, 926; Kahl, NVwZ 1996, 865 weisen auf Kompetenzen im Bereich des Verwaltungsorganisationsrechts, -verfahrensrechts und -prozessrechts hin. 81 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 43. 82 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 43 m. w. N.
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Dieser doppelten Loyalitätsbeziehung sehen sich aber nicht nur die mitgliedstaatlichen Verwaltungen, sondern auch die nationalen Gerichte ausgesetzt84. Einerseits befinden sie sich weiter im verfassungsrechtlichen Gefüge, wenn sie nationales Recht interpretieren, andererseits obliegt es auch ihnen, die Effektivität des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Bereits bei der Erörterung des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft, bei dem es auch um eine aus Art. 10 EG fließende Verpflichtung ging, wurde herausgestellt, dass das Effektivitätsziel des Art. 10 EG nie isoliert, aus dem vertraglichen Kontext gelöst eine Pflicht entfaltet. Wollte man dies vertreten, dann führte Art. 10 EG nicht zur Effektivität des Gemeinschaftsrechts, sondern nur eines Teils, der dann aber dem übrigen Gemeinschaftsrecht widersprechen könnte. Dementsprechend ist die Pflicht aus Art. 10 EG bereits unter Berücksichtigung des gesamten übrigen Primärrechts zu entwickeln. Bereits aus Art. 5 I EG folgt, dass die möglichen Rechtsfolgen des Art. 10 EG nur die Respektierung konkreter Pflichten und die Wahrnehmung bestehender Kompetenzen absichern können. Sie können nicht zur Begründung von Pflichten dienen, die nach Art und Umfang über den rechtlich zu bestimmenden allgemeinen Integrationsstand substantiell hinausgreifen85. Daneben statuiert Art. 5 II, III EG die Grundsätze der Subsidiarität und der Erforderlichkeit, die nicht nur für die Setzung von Sekundärrecht gelten, sondern auch bei der Auslegung und Fortentwicklung des Primärrechts durch den EuGH wirken86. Sie konkretisieren die durch Art. 10 EG intendierte Verzahnung der beiden Rechtskreise, indem sie insbesondere das Primat der Zuständigkeit der kleinsten Einheit festschreiben. Art. 10 EG zielt daher nicht auf eine grenzenlose, alle innerstaatlichen Regelungen einebnende gemeinschaftsrechtliche Determinierung der nationalen Rechtsordnungen87. Die Ausgestaltung der gerichtlichen Zuständigkeiten und des gerichtlichen Verfahrens kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Integration sinnvoll nur durch die Mitgliedstaaten geleistet werden, so dass folgerichtig auf diesem Gebiet gemeinschaftsrechtliche Regelungen im Ausgangspunkt, ähnlich der verwaltungsrechtlichen Umsetzung, fehlen88. Diese Feststellung verkennt aber nicht die Auswirkungen, die derartiges Organisations- und 83 19. Erklärung zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts in der Schlussakte zum Vertrag von Maastricht. 84 Vgl. zur Übertragung der Grundsätze Schwarze, NVwZ 2000, 241, 244 f. 85 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 23. 86 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 22. 87 Rodríguez Iglesias, NJW 1999, 1 ff. 88 EuGH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4961, 4996 „Dorsch Consult“; Schoch, NVwZ 1999, 457, 465; Schwarze, NVwZ 2000, 241, 244; v. Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf, Art. 10 EGV Rn. 53.
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Verfahrensrecht auf bestehendes Gemeinschaftsrecht haben kann. Deshalb gilt es, die den Mitgliedstaaten verbliebene Zuständigkeit mit den Geboten einheitlicher Anwendung und Effektivität des Gemeinschaftsrechts in „praktische Konkordanz“ zu bringen89. Angesichts der gleichen Ausgangspunkte bietet sich hierbei eine Übertragung der verwaltungsrechtlichen Grundsätze an. Dort hat der EuGH festgestellt, dass „es in erster Linie den Mitgliedstaaten obliegt, durch entsprechende Rechts- und Verwaltungsvorschriften die Anwendung [. . .] (des Gemeinschaftsrechts) zu gewährleisten“90, doch gilt die Verweisung auf das innerstaatliche Recht nicht unbeschränkt: „Die Anwendung des nationalen Rechts darf die Tragweite und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigen, indem sie die Wiedereinziehung von zu Unrecht geleisteten Zahlungen praktisch unmöglich macht. [. . .] Außerdem müssen die nationalen Stellen auf diesem Gebiet mit der gleichen Sorgfalt vorgehen, die sie auch bei der Durchführung entsprechender nationaler Rechtsvorschriften anwenden, um so jede Beeinträchtigung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu vermeiden.“91
Überträgt man nun diese Grundsätze auf das nationale Gerichtsorganisations- und Prozessrecht, so wird es gebilligt bzw. sogar gemeinschaftsrechtlich gefordert, soweit es nicht zur Folge hat, dass gemeinschaftliche Positionen unmöglich werden. Im Übrigen gilt das Gebot der Gleichbehandlung mit rein innerstaatlichen Sachverhalten. Auch Schwarze92 analysiert die EuGH-Rechtsprechung zur Verwaltungsautonomie und überträgt die Grundsätze auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit. So habe der Grundsatz der Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten durch die Gebote des effektiven und des gleichwertigen Rechtsschutzes nennenswerte Einschränkungen erfahren. Dennoch seien hier die Grundsätze der verwaltungsmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten und das Prinzip der Subsidiarität im Wege praktischer Konkordanz zur Geltung zu bringen, so dass das Prinzip der Effektivität im Ergebnis eine nationale Regelung der Gerichtsorganisation bzw. des -verfahrens lediglich dann verbietet, wenn die gerichtliche Geltendmachung einer gemeinschaftlichen Position gänzlich ausgeschlossen wird.93 Gehe es dagegen um den Umfang gerichtlicher Nachprüfung behördlicher Entscheidungen, habe der EuGH94 die Ausgestaltung des nationalen Rechtsschutzes eher unangetastet gelassen. 89
Vgl. Schwarze, NVwZ 2000, 241, 246. Z. B. EuGH, Rs. 61/81, Slg. 1982, 2601 „Kommission ./. Vereinigtes Königreich“. 91 EuGH, Rs. 54/81, Slg. 1982, 1449 „Fromme“. 92 Schwarze, NVwZ 2000, 241, 247. 93 Er weist hinsichtlich dieser Fallgruppe auf die Entscheidungen EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 „Johnston ./. Chief Constable“; Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097 „Heylens“; Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433 „Factortame“ hin. 94 Er weist hinsichtlich dieser Fallgruppe auf die Entscheidung EuGH, Rs. C-120/97, Slg. 1999, I-223 „Upjohn“ hin. 90
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Dieses Ergebnis praktischer Konkordanz überzeugt und lässt sich auf die nationalen Auslegungsregeln übertragen. Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch Auslegung verpflichtet. Dabei haben sie grundsätzlich die gleichen Maßstäbe, also Auslegungsmaximen heranzuziehen, die sie auch für nationales Recht anwenden. Dieser Grundsatz der Gleichbehandlung würde allein dann durchbrochen, wenn eine nationale Interpretationsmaxime existierte, die eine Berücksichtigung von Gemeinschaftsrecht von vornherein ausschlösse. Die Unmöglichkeit muss also von der Auslegungsmaxime selbst vorgegeben werden. Spricht lediglich die Wortlautgrenze oder der Wille des Gesetzgebers gegen eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation, so geht dieses Ergebnis nicht von der Auslegungsmaxime, sondern vom Gesetzgeber aus und ist lediglich Anwendungsfall einer Regelung, die grundsätzlich aber auch gemeinschaftsrechtskonforme Ergebnisse zulässt. Der Umstand, dass nationale Regelungen im Einzelfall eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ausschließen, steht dem Gebot der Effektivität nicht entgegen. Berücksichtigt man daneben das Ergebnis von Schwarzes Analyse, so geht es bei den Auslegungsregeln um Bestimmungen, die den Umfang der gerichtlichen Kontrolle betreffen, so dass auch seiner Analyse der Rechtsprechung folgend von einer Anerkenntnis des nationalen Methodenkanons auszugehen ist. Was die nationalen Auslegungsregeln zulassen, also die Konkretisierung jener gemeinschaftsrechtlichen Rahmenvorgabe, obliegt der Entscheidung nationaler Rechtsanwender95. Festzuhalten bleibt damit, dass das Gemeinschaftsrecht jedenfalls nicht soweit reicht, dass mitgliedstaatliche Kompetenzverteilungen eingeebnet werden. Die Zuständigkeitsverteilung darf gemeinschaftliche Gewährleistungen einzig nicht umfassend ausschließen und sollte diese den nationalen Regelungen gleich behandeln. Die Anwendung nationaler Interpretationsmethoden als Ausdruck dieser Kompetenzstruktur bewegt sich in dem gezeichneten Rahmen und wird daher gemeinschaftlich akzeptiert. Absolute Grenzen enthält der deutsche Methodenkanon einzig mit dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers und der Wortlautgrenze. bb) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts als gemeinschaftsrechtliche Grenze Postuliert Art. 10 EG also die Gewährleistung effektiver Umsetzung des Gemeinschaftsrechts nur unter der skizzierten Beachtung der Kompetenzordnung, so konnte diese Begrenzung auf die praktische Konkordanz mit 95 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, 1909 „von Colson und Kamann“; Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 „Harz“.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
dem übrigen Primärrecht, insbesondere dem Art. 5 EG gestützt werden. Daneben könnten auch andere primärrechtliche Gewährleistungen bei der Entwicklung des Inhalts, der Reichweite und der Grenzen einer Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung beachtlich und mit der Effektivitätsvorgabe aus Art. 10 EG in praktische Konkordanz zu bringen sein. So wies der EuGH bereits in der Rs. Kolpinghuis Nijmegen96 auf die Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze für den Inhalt der Pflicht aus Art. 10 EG hin. Dabei hatte die Staatsanwaltschaft Nijmegen Klage gegen das Kolpinghuis Nijmegen erhoben, weil dieses ein Getränk unter der Bezeichnung „Mineralwasser“ verkauft hatte, obwohl es sich dabei nur um mit Kohlensäure versetztes Leitungswasser handelte. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hatte das Kolpinghuis damit gegen Art. 2 Keuringsverordening verstoßen, die unter Strafe verbot, für den Handel und den menschlichen Genuss bestimmte Waren, welche „aufgrund ihrer Zusammensetzung fehlerhaft“ sind, zum Verkauf und zur Lieferung vorrätig zuhalten. Der Begriff „fehlerhaft“ der niederländischen Verordnung wurde von dieser nicht definiert. Das Mineralwasser genügte jedenfalls nicht den Anforderungen der Richtlinie 80/7797, die aber zu jenem Begehungszeitpunkt trotz Fristablauf noch nicht in niederländisches Recht umgesetzt worden war. Zwei der Vorlagefragen98 sind in vorliegendem Kontext von Bedeutung und für das Verständnis des Urteils erheblich: „1. Kann sich eine innerstaatliche Behörde (nämlich die Strafverfolgungsbehörde) zu Lasten der von ihrer Tätigkeit betroffenen Personen auf eine Bestimmung einer Richtlinie berufen, obwohl der betreffende Mitgliedstaat in seinen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften insoweit keine Regelung getroffen hat?“ [. . .] „3. Muss oder darf sich das innerstaatliche Gericht bei der Auslegung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift vom Inhalt einer anwendbaren Richtlinie leiten lassen?“
Der EuGH verneinte die erste Vorlagefrage nach einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie im vertikalen Verhältnis zu Lasten des Angeklagten unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung mit der Formulierung: „[. . .], dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen einzelnen begründen kann und dass eine Richtlinienbestimmung daher als solche vor einem 96
EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3986 „Kolpinghuis Nijmegen“; bestätigt in verb. Rs. C-74 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609, 6636 „Strafverfahren gegen X“; Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705 „Luciano Arcaro“; zustimmend auch die Lit: Langenfeld, DÖV 1992, 955, 965; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 223; Satzger, S. 534 f. 97 Vom 15. Juli 1980, ABlEG 1980, Nr. L 229, S. 1. 98 EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3971 f. „Kolpinghuis Nijmegen“.
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innerstaatlichen Gericht nicht gegenüber derartigen Personen in Anspruch genommen werden kann“.99
Im Hinblick auf die somit erhebliche zweite Vorlagefrage wiederholte der EuGH zunächst seine Ausführungen der Rs. Von Colson und Kamann, dass alle Träger öffentlicher Gewalt zur Durchsetzung der Ziele einer Richtlinie verpflichtet sind und dass deshalb die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten das innerstaatliche Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen haben. Nachfolgend geht er auf die Grenzen jener gemeinschaftsrechtlichen Pflicht ein: „Diese Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet jedoch ihre Grenzen in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil des Gemeinschaftsrechts sind, und insbesondere in dem Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot. So hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 14/86 (Pretore von Salò gegen Unbekannt, Slg. 1987, 2545) für Recht erkannt, dass eine Richtlinie für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen.“100
Die Pflicht aus Art. 10 EG konkretisiert sich eben nie unabhängig vom übrigen Primärrecht, sondern hat dies stets zum Inhalt. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze gehören zum Primärrecht, könnten aber nur dann Beachtung finden, wenn sie Vorgaben für den konkreten Fall enthielten. Vornehmlich enthalten die allgemeinen Rechtsgrundsätze Gewährleistungen, welche die Gemeinschaftsorgane binden. In dieser Konstellation geht es aber um ein Tätigwerden der nationalen Rechtsanwender. Eine Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten ergibt sich in der vorliegenden Konstellation daraus, dass sie im Falle der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation in Durchführung der allgemeinen Pflicht aus Art. 10 EG zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts tätig werden101. Es gilt folglich, die allgemeine Vorgabe der 99 EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3985 „Kolpinghuis Nijmegen“ unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung seit Rs. 152/84, Slg. 1986, 723, 749 „Marshall I“; vgl. auch im strafrechtlichen Kontext Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 „Pretore di Salo“; Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705 „Luciano Arcaro“; verb. Rs. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609 „Strafverfahren gegen X“. 100 Während an dieser Stelle noch der Hinweis auf jene Prinzipien genügen soll, wird auf diese Entscheidung und den Inhalt des gemeinschaftlichen Prinzips noch bei den Besonderheiten im Hinblick auf das Strafrecht einzugehen sein. 101 Es handelt sich also auch hier um einen Fall, bei dem mitgliedstaatliche Rechtsanwender Gemeinschaftsrecht durchführen und deshalb an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gebunden sind, vgl. zur Bindungswirkung in diesen Durchführungskonstellationen bereits oben hinsichtlich des Strafrechts im Dienste der Ge-
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Effektivität mit den relevanten allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts in praktische Konkordanz zu bringen. Neben dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung, der eine den nationalen Regeln entsprechende Auslegungsmethodik verlangt, rückt der EuGH insbesondere die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots in den Blickwinkel des nationalen Interpreten. Aus der zuvor entwickelten Akzeptanz der nationalen Kompetenzordnung ließ sich noch keine für alle Mitgliedstaaten verbindliche Auslegungsgrenze entwickeln. Vielmehr war stets eine nationale Konkretisierung der gemeinschaftsrechtlichen Rahmenvorgabe erforderlich, so dass die Auslegungsgrenzen zwischen den Mitgliedstaaten differieren konnten. Nunmehr verlangt das allgemeine gemeinschaftsrechtliche Prinzip der Rechtssicherheit jedenfalls die Achtung der Wortlautgrenze102 bei jeglicher Interpretation, so dass jede Auslegung, welche die Grenze des Wortlauts überschreitet, dem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Angesichts dieser im Vergleich zur Kompetenzordnung konkreteren gemeinschaftsrechtlichen Grenze ist die mitgliedstaatliche Konkretisierungspflicht dieser Rahmenvorgabe zwar geringer; sie besteht dennoch, denn es obliegt allein dem nationalen Rechtsanwender die konkrete Wortlautgrenze zu bestimmen. Allein die Vertretbarkeit jener Entscheidung muss gemeinschaftsrechtlich überprüfbar bleiben. cc) Sonderfall: Gemeinschaftsrechtskonforme Analogie Ging es bisher um die Grenzen gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung, so betrafen einige der genannten grundlegenden Entscheidungen bereits Sachverhalte, in denen die Gerichte über den Wortlaut hinaus zu einer gemeinschaftsrechtskonformen Analogie gezwungen waren. Eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kann den nationalen Rechtsanwender nur insoweit treffen, wie die Bestimmungen des nationalen Rechts überhaupt Auslegungsspielräume eröffnen. Eine Überwindung des Wortlauts, die Bildung von Analogien oder die Rechtsfortbildung sind nicht Gegenstand der Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation103.
Die Pflicht der nationalen Gerichte dem Gemeinschaftsrecht zur Geltung zu verhelfen, darf indes nicht bei der bloßen Auslegung verharren. Vielmehr wurde oben festgestellt, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte durch Art. 10 EG im Rahmen ihres Kompetenzbereichs verpflichtet werden, die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dieser Kompetenzmeinschaft sowie EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, 2639 f. „Wachauf“ (seitdem st. Rspr.); Ahlt, S. 36; Borchardt, in: Lenz, Art. 220 EG Rn. 35. 102 Genauer, insbesondere auch zur Möglichkeit einer Rechtsfortbildung noch unten 2. Teil A. I. 2. b) cc). 103 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 249 EGV Rn. 153.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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bereich fand seinen Ausdruck in dem nationalen Methodenkanon. Steht den mitgliedstaatlichen Rechtsanwendern für rein nationales Recht eine Option der Analogie zu, so ist auch dies Ausdruck ihrer Kompetenz, so dass eine gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsfortbildung nur dann ausgeschlossen wäre, wenn allgemeine gemeinschaftliche Rechtsgrundsätze eine solche verbieten würden. Die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten104 als Rechtserkenntnisquellen des EuGH bei der Schöpfung allgemeiner Rechtsgrundsätze erkennen aber die Möglichkeit einer Rechtsfortbildung als richterliches Instrument grundsätzlich an. Angesichts dieser Tatsache und der EuGH-Rechtsprechung ist nicht davon auszugehen, dass auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ein im Vergleich zur nationalen Fortbildung engerer Rahmen existiert. Im Rahmen des nach nationaler Methodik Zulässigen sind die nationalen Rechtsanwender deshalb auch aus Art. 10 EG verpflichtet, das Recht gemeinschaftsrechtskonform fortzubilden105. Nach deutschem Recht muss die Bildung einer Analogie die Schließung einer planwidrigen Gesetzeslücke durch Übertragung eines einem Tatbestand oder einer Mehrheit untereinander ähnlicher Tatbestände zugrundeliegenden Rechtssatzes auf einen vom Gesetz nicht geregelten ähnlichen Fall darstellen. Hinzuweisen ist bereits hier auf das Analogieverbot, welches in Art. 103 II GG verankert ist und auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts aus dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes fließt und damit bereits die Pflicht aus Art. 10 EG begrenzt. dd) Ergebnis der gemeinschaftsrechtlichen Grenzen: Praktische Konkordanz primärrechtlicher Vorgaben Im Ergebnis wurde Jarass These der Begrenzung der gemeinschaftlichen Pflicht aus Art. 10 EG durch die Zuständigkeit der nationalen Gerichte und damit durch die nationalen Auslegungsmethoden im wesentlichen bestätigt und auf ein rechtliches Fundament gestellt. Suggeriert er aber die uneingeschränkte Akzeptanz mitgliedstaatlicher Autonomie, so verzerrt dies die tatsächliche Rechtslage. Die Akzeptanz mitgliedstaatlicher Auslegungsmethoden ist vielmehr ein Ergebnis umfassender Abwägung zwischen mitgliedstaatlicher Autonomie, dem Gebot der Effizienz und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Gerade der letzte Aspekt führt aber dazu, dass die prak104
Vgl. die Nachweise bei Satzger, S. 529 f. und seinen Hinweis auf den Umstand, dass die Analogie in anderen europäischen Rechtsordnungen der Auslegung zugeordnet werde, was den Sprachgebrauch des EuGH erkläre. 105 Kahl, in: Callies/Ruffert, Art. 10 EG Rn. 42; Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754, 755; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 638 ff.; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 55; Zuleeg, in: GTE, Art. 5 Rn. 4; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 282 ff.; Satzger, S. 529; im Ergebnis ebenso Heise, S. 164 f.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
tische Konkordanz mit der Rechtssicherheit nur eine nationale Auslegungsmethodik bis zur Grenze des Wortlauts akzeptiert. Darüber hinaus ist allenfalls begrenzt noch eine Rechtsfortbildung denkbar. Auch an dieser Stelle sei aber nochmals klargestellt, dass sämtliche der hier entwickelten Grenzen dem Gemeinschaftsrecht entstammen, es also nicht um Kollisionen zwischen mitgliedstaatlichem und Gemeinschaftsrecht geht, sondern um gemeinschaftliche Vorgaben, die in praktische Konkordanz zu bringen und vom nationalen Rechtsanwender im nationalen Recht zu konkretisieren sind. Angesichts dieses Ergebnisses der gemeinschaftsrechtlichen Akzeptanz der nationalen Interpretationsgrenzen könnten Widersprüche mit dem nationalen Methodenkanon ohnehin nur dann entstehen, wenn im nationalen Recht eine Auslegung über den Wortlaut bzw. eine Rechtsfortbildung im gemeinschaftsrechtlich nicht mehr akzeptablen Ausmaß vorläge. Eine derartige mitgliedstaatliche Möglichkeit ist nicht ersichtlich und auch in Zukunft nicht zu erwarten, so dass es bereits aus diesem Grunde keiner Kollisionsregel bedarf, wie sie der Vorrang des Gemeinschaftsrechts darstellt. Deshalb mutet es auch theoretisch an, sich vor der Feststellung eines Widerspruchs mit der Frage auseinander zu setzen, ob sich nationale Grenzen der Auslegung aufgrund ihres verfassungsrechtlichen Ursprungs gegenüber dem Gemeinschaftsrecht durchsetzen könnten106. Darin zeigt sich die zentrale Schwäche von Heises Ansatz, wenn er meint: „Da Art. 5 I EGV (jetzt: Art. 10 EG) selbst Vorrang vor dem nationalen Recht genießt, setzt sich die hieraus entwickelte Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in der Konkurrenz mit einem auf der Grundlage der staatlichen Methodenlehre gefundenen Auslegungsergebnis durch. Eine andere Frage ist, ob das nationale Recht bzw. die nationale Methodenlehre Schranken setzen, die ausnahmsweise auch durch das Gemeinschaftsrecht zu beachten sind.“107 Prüft er, ob nationale Grenzen aufgrund ihres verfassungsrechtlichen Charakters Bestand haben, ohne vorher genau die Pflicht aus Art. 10 EG zu definieren, so fingiert er eine Kollision. Besonders offensichtlich wird diese Schwäche, wenn er schließlich doch zum Ergebnis gelangt, „wie im nationalen Recht sind daher der mögliche Wortsinn und der eindeutige Wille des Gesetzgebers auch gemeinschaftsrechtlich die Grenzen einer (für den Betroffenen nachteilhaften) gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsanwendung auf dem Gebiet des Strafrechts.“108 Mit diesem Ergebnis offenbart er die fehlende Relevanz seiner gesamten Prüfung, ob sich nationale Grenzen durchsetzen.
Die hier entwickelte gemeinschaftliche Pflicht vermeidet weitgehend Widersprüche mit den nationalen Gewährleistungen, weil ihre Entwicklung in 106
So aber Heise, S. 106 ff. vom Ausgangspunkt des Vorrangs kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung. 107 Heise, S. 100. 108 Heise, S. 166.
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doppelter Hinsicht an die nationalen Regime gekoppelt ist. Zum einen akzeptiert sie die innerstaatliche Kompetenzverteilung und nutzt diese weitestgehend zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts. Daneben bedarf auch die Schöpfung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Rückgriffs auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen, so dass auch insoweit ein weitgehender Gleichklang der Gewährleistungen erzielt wird. Die entwickelten Grenzen der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung sind aufgrund dieser Wechselbeziehung und ihres Rahmencharakters geeignet, den Mitgliedstaaten durch Konkretisierung eine schonende Umsetzung im nationalen Recht zu erzielen. c) Verhältnis zwischen nationalen Auslegungsmethoden und dem gemeinschaftsrechtlichen Prinzip Steht nunmehr der Inhalt, die Reichweite und die Grenzen der gemeinschaftlichen Vorgabe zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung fest, lässt sich auch ihr Verhältnis zu den nationalen Auslegungsmethoden, insbesondere die Frage beantworten, ob dem gemeinschaftsrechtskonformen Interpretationsergebnis der Vorzug vor den Auslegungsergebnissen der nationalen Interpretationsmethoden einzuräumen ist. Satzger lehnt eine solche Einordnung als vorrangiges, imperatives Auslegungskriterium ab: „Sie widerspricht nicht nur der Rechtsprechung des EuGH, der ausdrücklich einen nationalen Auslegungsspielraum voraussetzt. Soweit sich diese Ansicht auf den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht stützt, wird verkannt, dass es sich hierbei um eine Kollisionsregel handelt, die nur für den Fall einer echten Kollision der Anwendung des Gemeinschaftsrechts den Vorzug gibt. Außerhalb dieser Konstellationen lässt sich hieraus keine Vorrangwirkung ableiten. Schließlich würde eine methodenbrechende Wirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung die Gefahr von Übergriffen der Judikative in den Bereich der Legislative [. . .] begründen, wenn ein Richter unter Berufung auf unsichere EG-rechtliche Vorgaben oder belastende Richtlinienvorschriften nationales Recht verkürzte.“109.
Es trifft zu, dass der Anwendungsvorrang eine Kollisionsnorm darstellt und deshalb sich widersprechende und im konkreten Fall entscheidungserheblich anzuwendende Normbefehle voraussetzt110. Angesichts des zuvor entwickelten Konzepts der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung wird es regelmäßig aber bereits an einer den nationalen Auslegungsmethoden widersprechenden Pflicht fehlen. Hinsichtlich des deutschen Methodenkanons 109
Satzger, S. 531. Die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation erlangt aber gerade auch in jenen Fällen Bedeutung, in denen es an der unmittelbaren Anwendbarkeit der Gemeinschaftsnorm fehlt, vgl. Jarass, DVBl. 1995, 954, 956. 110
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
wurde bereits festgestellt, dass die Auslegungsmethoden keine einzelnen zwingenden Ergebnisse bestimmen, sondern einer wertenden Abwägung bedürfen. Insoweit kann dann aber keine Kollision entstehen. Gleiches gilt dann für das Ergebnis dieser Abwägung, es sei denn, darin käme die absolute Wortlautgrenze oder der explizit erklärte Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck. Diesen verbindlichen Aussagen widersprechende Auslegungen sind nach dem deutschen Methodenkanon nicht möglich, so dass allein mit diesen Grenzen unauflösliche Widersprüche im kollisionsrechtlichen Verständnis denkbar sind. Erkennt nun aber die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation, wie dargestellt, diese Grenzen an bzw. postuliert selbst eine national zu konkretisierende Wortlautgrenze, so können auch diesbezüglich keine Widersprüche auftreten. Der Anwendung einer Kollisionsregel bedarf es jedenfalls hinsichtlich des deutschen Methodenkanons nicht, so dass sie auch die Vorzugswirkung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht zu begründen vermag. Damit soll aber nicht der imperativen Wirkung111 der Pflicht aus Art. 10 EG eine Absage erteilt werden. Im Gegenteil, Art. 10 EG richtet sich eben nicht nur als abstrakte Programmnorm an die Mitgliedstaaten. Vielmehr lassen sich dieser Regelung genaue Verpflichtungen entnehmen, die sich, wie dargestellt, in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich an die jeweiligen mitgliedstaatlichen Gremien richten und dabei durch die jeweils im nationalen Recht effektiv durchzusetzende Norm konkretisiert werden. Dabei kann ihre Wirkung aber nicht auf eine bloße Möglichkeit reduziert werden. Vielmehr hat der EuGH in der Rs. Großkrotzenburg112 die sog. objektive unmittelbare Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht anerkannt, wenn es gerade die rechtsanwendenden Stellen in den Mitgliedstaaten verpflichten soll und die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit vorliegen, es nur den Individuen keine Rechte verleiht. Die durch die umzusetzende Norm konkretisierte Pflicht aus Art. 10 EG ist unbedingt und insoweit konkret als die gemeinschaftsrechtlichen Normen Vorgaben enthalten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der umzusetzenden Norm selbst unmittelbare Anwendbarkeit zukommt. Im Gegenteil, die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung erlangt auch und gerade dort Relevanz, wo es an der unmittelbaren Anwendbarkeit fehlt. An dieser Stelle geht es aber auch nicht um die Frage, ob die Gemeinschaftsrechtsnorm selbst hinreichend bestimmt ist, damit sich 111 Für ein imperatives Gebot allerdings häufig unter Verkennung der Grenzen aus Art. 10 EG: Bach, JZ 1990, 1108, 1111; Everling, Carstens-FS, 95, 97, 101; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402, 403; Heise, S. 99 f.; Lutter, JZ 1992, 593, 604; Spetzler, RIW 1991, 579, 580; a. A. Di Fabio, NJW 1990, 947 ff. 112 EuGH, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 „Großkrotzenburg“; vgl. auch Ruffert, in: Callies/Ruffert, Art. 249 EG Rn. 93 ff.; Epiney, DVBl. 1996, 409, 413 ff.; Klein, Everling-FS, Bd. I, 641 ff.; Pechstein, EWS 1996, 261 ff.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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ein Rechtsunterworfener unmittelbar auf diese berufen kann. Zu beurteilen ist allein die Frage, ob die Pflicht aus Art. 10 EG hinreichend konkret ist, um die mitgliedstaatlichen Behörden unmittelbar zu verpflichten. Dies ist bei der Pflicht aus Art. 10 EG zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zu bejahen, erfährt sie doch nähere Bestimmung durch die im konkreten Fall ins nationale Recht zu übertragende Gemeinschaftsnorm. Die Pflicht ist damit auch nur insoweit hinreichend konkret, wie die Gemeinschaftsnorm Vorgaben enthält. Im Übrigen bleibt der Rechtsanwender in seiner Auslegung frei. Übertragen auf die Interpretationsmaximen ergibt sich bereits aus dieser gemeinschaftsrechtlichen Pflicht, dass sich das gemeinschaftsrechtskonforme Verständnis gegenüber anderen durch den nationalen Methodenkanon begründeten Auslegungsergebnissen durchsetzt. Ist die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung trotz seiner Flexibilität und Konkretisierungsbedürftigkeit im Einzelfall hinreichend bestimmt und unmittelbar anwendbar, so folgt das imperative Gebot aus der Verpflichtung des Art. 10 EG, ohne dass es einer Kollisionsregel bedürfte. Eine so verstandene, die nationalen Interpretationsgrenzen anerkennende, imperative Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung steht dann gerade auch mit der Rechtsprechung des EuGH in Einklang. Die Gemeinschaft maßte sich keine strafrechtlichen Kompetenzen an, und die nationale Exekutive wäre nicht gezwungen, in legislative Bereiche einzudringen113. Damit erledigen sich folglich auch die Bedenken Gröblinghoffs, der auf den Umstand hinweist, dass der Gemeinschaft keine Kompetenz zum Erlass von Strafgesetzen übertragen wurde. Deshalb dürfe es nicht soweit kommen, dass EG-Organe den Inhalt bestehender Strafgesetze ausweiten, was der Fall wäre, wenn man ein zwingendes Gebot richtlinienkonformer Auslegung annähme114.
An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr, dass die erhebliche Scheu nationaler Rechtsanwender vor übermäßigem Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Recht und damit einhergehend vor dem Verlust rechtstaatlicher Garantien insbesondere in dem sensiblen Bereich des Strafrechts unbegründet ist. Die Stichhaltigkeit und die Abschreckungswirkung obiger Argumente entfällt nämlich, wenn man sich eingehend mit Inhalt und Reichweite der Pflicht aus Art. 10 EG auseinandersetzt, so dass sich die Bedenken der h. M. erledigen. Erteilt man aber, wie Satzger, einer imperativen Bedeutung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung eine Absage, so fehlt es an einer überzeugenden Erklärung, warum 113 Vgl. die Bedenken von Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754 f.; Everling, ZGR 1992, 383; Jarass, EuR 26 (1991), 211, 218; Köhne, S. 93; Klein, Everling-FS, Bd. I, 641, 646; Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 784; Satzger, S. 531 f., 551 f. 114 Gröblinghoff, S. 51, 65; ähnliche Hinweise finden sich bei GA Elmer, in: EuGH, Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, 4716 „Luciano Arcaro“; Satzger, S. 550.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
„unter mehreren nach nationalem Verständnis vertretbaren Auslegungsvarianten [. . .] diejenige zu bevorzugen (ist), die dem Gemeinschaftsrecht am besten gerecht wird.“115
Satzger gelangt zwar zum hier vertretenen Ergebnis, versucht die „hervorgehobene Stellung“ dieses Auslegungskriteriums aber mit einer Parallele zur verfassungs- und völkerrechtskonformen Auslegung zu begründen: „So wie dort der verfassungs- bzw. völkerrechtskonformen Auslegungsvariante der Vorzug gebührt, wenn diese eines von mehreren nach nationaler Methodik möglichen Auslegungsergebnissen darstellt, so verlangt auch das Gemeinschaftsrecht lediglich die Auswahl der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation aus dem Kreis vertretbarer Auslegungsergebnisse. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung beansprucht daher nicht die Position eines absolut vorrangigen Auslegungskriteriums, sondern begnügt sich mit der Stellung eines ‚primus inter pares‘. Wie die Ausführungen zur völkerrechtskonformen Auslegung gezeigt haben, setzt diese bloße Vorzugswirkung keine Höherrangigkeit des zu berücksichtigenden Rechts voraus. Es genügt, wenn die Anweisung zur Beachtung dieses Rechts aus einer höherrangigen Rechtsquelle fließt. Im Falle der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung sind dies Art. 10 EG [. . .] ggf. i. V. m. Art. 249 III EG [. . .], also Vorschriften, die auch die Gerichte verpflichten.“116
Eine hinreichende Parallelität zur verfassungsrechtskonformen Auslegung besteht mangels vergleichbarer Grundlagen nicht. Eine Parallele zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung kann aufgrund des Ursprungs, welcher in einer Gesamtschau verfassungsrechtlicher Normen bzw. dem Art. 24 GG besteht, nur ein nationaler Ansatz bleiben, so dass ein Verstoß gegen diese Vorzugswirkung allein methoden-, nicht aber gemeinschaftswidriges Verhalten darstellte. Aus gemeinschaftlicher Sicht vermag dieser Ansatz deshalb nicht zu überzeugen. Vielmehr verstößt der nationale Hoheitsträger, der seiner Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation nicht nachkommt gegen Art. 10 EG und der Mitgliedstaat gerät in die Gefahr, mit einem Vertragsverletzungsverfahren belegt zu werden. Von einer Höherrangigkeit, wie Satzger sie für Art. 10 EG und Art. 249 III EG vertritt, kann mangels eines normhierarchischen Verhältnisses nicht gesprochen werden. Dies ist angesichts der objektiv unmittelbar anwendbaren Pflicht, die sich direkt an die interpretierenden Hoheitsträger richtet und eben nicht nur persuasiv, sondern imperativ wirkt, auch nicht erforderlich. Entgegen der Annahme Satzgers, GA Elmer erteile der imperativen Bedeutung eine Absage117, bestätigt er ein solches Verständnis innerhalb der gefundenen Grenzen sogar, wenn er formuliert: „[. . .] dass die nationalen Rechtsvorschriften „soweit wie möglich“ in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht ausgelegt werden. Die Auslegungsregel 115 116 117
Satzger, S. 551. Satzger, S. 532. Satzger, S. 543.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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lässt sich jedoch nicht zu einer eigentlichen Umformulierung der nationalen Rechtsvorschriften anwenden. Dies liefe darauf hinaus, dass durch die Hintertür und unter Verstoß gegen Artikel 189 des Vertrages eine unmittelbare Wirkung solcher Richtlinienbestimmungen herbeigeführt würde, die für die Bürger Verpflichtungen schaffen. Ermöglicht mit anderen Worten der Wortlaut der nationalen Bestimmung mehrere Auslegungen, so muss das nationale Gericht diejenige dieser möglichen Auslegungen anwenden, die die nationale Bestimmung in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht bringt.“118
Im Ergebnis lässt sich damit festhalten, dass die vorgebrachten Argumente gegen eine imperative Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation mit dargelegtem Inhalt nicht stichhaltig sind. Der nationale Rechtsanwender ist im Rahmen des Wortlauts und nach deutschem Methodenkanon auch im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers verpflichtet, einer nationalen Norm einen gemeinschaftsrechtskonformen Inhalt zu geben119. Auch das BVerfG hat dementsprechend anerkannt, dass eine „Richtlinie für die Auslegung der mitgliedstaatlichen Durchführungsregelung insoweit von Bedeutung“ sei, „als die Gerichte (. . .) diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen haben, die dem Inhalt der Richtlinie (. . .) entspricht“.120
d) Differenzierung zwischen Pflicht und Befugnis zu gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation Basierend auf der Vorlagefrage in der Rs. Kolpinghuis differenzieren einige Interpreten noch die Pflicht und die Befugnis gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung. So fragte das nationale Gericht: „Muss oder darf sich das innerstaatliche Gericht bei der Auslegung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift vom Inhalt einer anwendbaren Richtlinie leiten lassen?“121
Der Generalanwalt Mischo erkannte, vor dem Hintergrund der Rechtsprechungsentwicklung heute nicht mehr vertretbar, eine Verpflichtung mitgliedstaatlicher Gerichte nur dann, wenn Durchführungsvorschriften existierten. Nach heutigem Verständnis ist der nationale Rechtsanwender, gleich ob es sich um Durchführungsrecht im eigentlichen Sinne handelt, zur gemein118 GA Elmer, in: Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, 4715 f. „Luciano Arcaro“ (Hervorhebung durch den Verfasser), vor dem Hintergrund nationaler Kompetenzen: „Die Gerichte haben die Aufgabe, festzustellen, was geltendes Recht ist, und in Übereinstimmung damit zu entscheiden. Der Erlass nationaler Rechtsvorschriften [. . .] ist hingegen Sache der politischen Entscheidungsträger des Mitgliedstaats.“ 119 I. E. wohl ebenso Jarass, DVBl. 1995, 954, 958. 120 BVerfGE 75, 223, 237 (Hervorhebung durch den Verfasser). 121 EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3972 „Kolpinghuis Nijmegen“.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
schaftsrechtskonformen Interpretation verpflichtet, sobald sich die Regelungsbereiche überschneiden. In der Rs. Kolpinghuis existierte aber kein Durchführungsrecht, so dass der Generalanwalt seinem engen Verständnis folgend nur noch die Frage prüfen konnte, ob das Gemeinschaftsrecht es dem innerstaatlichen Gericht erlaubt, die nationalen Rechtsvorschriften im Lichte der Richtlinie auszulegen oder ob das Gemeinschaftsrecht einem solchen Vorgehen entgegenstand: „Mit anderen Worten kann das Gericht [. . .], wenn die nationalen Auslegungsregeln es ihm erlauben, auf die Richtlinie Bezug nehmen, um eine Auslegung des nationalen Rechts, die hauptsächlich auf andere Kriterien gestützt wird, zu bestätigen.“ Ergebe sich aber ein nicht mit der Richtlinie konformes Verständnis dürfe sie „die aus dem nationalen Kontext zu entnehmende (in den angenommenen Fällen für den Angeklagten günstige) Auslegung nicht durch die entgegengesetzte, sich aus der Richtlinie ergebende (für den Angeklagten nachteilige) Auslegung ersetzen [. . .]. Das Gericht käme so nämlich indirekt dazu, die Bestimmungen einer nicht umgesetzten Richtlinie gegenüber einem einzelnen in Anspruch zu nehmen, was nach dem Urteil Marshall nicht zulässig ist.“122
Nach Ansicht des Generalanwalts konnte es mangels Durchführungsrecht also nicht um die Pflicht, sondern allein um die Befugnis gehen, die Richtlinie als Auslegungsindiz heranzuziehen. Er erkennt diesbezüglich, dass es sich hierbei zunächst um ein rein nationales Vorgehen handelt, weil der Rechtsanwender nicht in Durchführung der Pflicht aus Art. 10 EG handelte. Dann sind aber zunächst die nationalen Auslegungsmaximen erheblich. Lassen diese die Heranziehung der Richtlinie zu, so steht das Gemeinschaftsrecht dem grundsätzlich nicht entgegen, es sei denn, dieses Vorgehen verstößt gegen eine Norm des Gemeinschaftsrechts. Ein solcher Verstoß liege dann vor, wenn die Auslegung im Ergebnis einer Anwendung im umgekehrt vertikalen Verhältnis gleichkomme. In diesem Fall handelt es sich gerade nicht mehr um eine nationale Auslegung, da sich das Ergebnis auf diesen Methodenkanon gerade nicht stützen lässt. Das Gemeinschaftsrecht verlangt eine solche Auslegung aber auch nicht. Satzger vertritt: „Gemeint ist damit also nichts anderes, als dass für den Fall, dass die Auslegung nach nationalen Grundsätzen mehrere Auslegungsvarianten ermöglicht, die Richtlinie ausschlaggebende Bedeutung erlangen kann, wenn das nationale Recht dies zulässt. Hierin wird man ein deutliches Bekenntnis zur nur persuasiven Bedeutung der Richtlinie bei der Auslegung sehen können.“123
Die nur persuasive Bedeutung im Falle der Befugnis, d.h. nur sofern der nationale Rechtsanwender nicht in Ausübung einer gemeinschaftsrecht122
GA Mischo, in: EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3972 „Kolpinghuis Nijme-
gen“. 123
Satzger, S. 541.
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lichen Pflicht handelt, erscheint zweifelhaft. Der nationale Rechtsanwender bewegt sich im nationalen Methodenkanon. Auch Satzger erkennt eine Parallele zur völkerrechtsfreundlichen Interpretation, die natürlich die Wortlautgrenze und den Willen des Gesetzgebers achtet, im Übrigen aber dem Völkerrecht eine „hervorgehobene Stellung“ einräumt. Dennoch ist dem Gemeinschaftsrecht auch innerhalb dieser Grenzen nicht ohne weiteres der Vorzug zu geben. Zu beachten ist vielmehr, dass sich die Regelungsbereiche nicht überschneiden, die Normen inhaltlich folglich eine Distanz aufweisen. Im Ergebnis ist damit im Bereich der Befugnis einer bloßen Indizwirkung zuzustimmen. Nach heutigem Verständnis handelte es sich im Fall Kolpinghuis zwar nicht um Durchführungsvorschriften, doch überschnitten sich der nationale und der gemeinschaftsrechtliche Regelungsbereich, so dass bereits eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation erwüchse. Insoweit kommt es dann nicht mehr auf eine nationale Befugnis an. Es gelten die oben dargelegten Grundsätze. Wurde somit die Befugnis der nationalen Rechtsanwender anerkannt, auch im Falle sich nicht überschneidender Regelungsbereiche das Gemeinschaftsrecht zur Überzeugungsbildung heranzuziehen, solange dadurch kein Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht entsteht, erscheint fraglich, inwieweit das Gemeinschaftsrecht diesbezüglich Grenzen etabliert. Satzger konstatiert: „Aus der Aussage, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung limitieren, kann nicht gefolgert werden, dass auch die Möglichkeit hierzu gleichermaßen beschränkt ist. Denn die bloße Befugnis zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung ist ein Minus gegenüber der dahingehenden Pflicht.“124 Dennoch erhalte die Auslegung bei Einbeziehung von Gemeinschaftsrecht einen gemeinschaftsrechtlichen Bezug, so dass es nur konsequent erscheine, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze die Befugnis zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung generell begrenzen.125
Diese Stellungnahme überzeugt nicht. Seine Begründung, die Auslegung erhalte bei Einbeziehung von Gemeinschaftsrecht einen „gemeinschaftsrechtlichen Bezug“ suggeriert zwar, der Interpret bewege sich in einem gemeinschaftsrechtlich determinierten Bereich. Tatsächlich überdehnt er mit dieser Behauptung aber die Bindungswirkung der allgemeinen Rechtsgrundsätze, die die Mitgliedstaaten eben nur vermittelt über die grundfreiheitlichen Rechtfertigungsmöglichkeiten und im Falle der Durchführung des Gemeinschaftsrechts binden. Wurde eine letztere Konstellation bei Durchführung der Pflicht aus Art. 10 EG bejaht, so bewegt sich der nationale Rechtsanwender, der außerhalb überschneidender Regelungsbereiche die ge124 125
Satzger, S. 540. Satzger, S. 553.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
meinschaftsrechtliche Regelung als Auslegungsindiz heranziehen möchte, gerade nicht mehr in der Durchführung einer gemeinschaftlichen Pflicht. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts entfalten keine Bindungswirkung. Der Rechtsanwender unterliegt in diesem Fall dem nationalen Grundrechtsregime und seinen rechtstaatlichen Gewährleistungen. Die Heranziehung einer sekundärrechtlichen Regelung führt auch nicht zu einer mittelbaren Bindung an die allgemeinen Rechtsgrundsätze mit der Begründung, das höherrangige Primärrecht durchdringe das sekundärrechtliche und bestimme daher seinen Inhalt126. Mit einer solchen Argumentation schlösse man die Möglichkeit primärrechtswidriger Rechtsetzung aus, indem man die allgemeinen Rechtsgrundsätze quasi in die Sekundärrechtsakte hineinläse. Primärrechtswidriges Sekundärrecht ist aber anders als deutsches verfassungswidriges Recht gültig. Insbesondere Satzgers Ausführungen führen daher in die Irre: „Erstens können die allgemeinen Rechtsgrundsätze auch nach der deutschen Methodik nicht ohne Relevanz für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung sein, denn diese bilden einen Teil des primären Gemeinschaftsrechts. Ist also das Gemeinschaftsrecht – wie auch das Verfassungs- bzw. Völkerrecht – bereits nach den deutschen Auslegungsregeln zu berücksichtigen, verdient im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nur diejenige Regelung den Vorzug, die mit dem Gemeinschaftsrecht insgesamt am besten übereinstimmt. Dies bedeutet nun aber nichts anderes, als dass für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht nur isoliert auf einen ganz bestimmten Rechtsakt der EG, z. B. auf eine Richtlinie, abgestellt werden darf, auch wenn das nationale Gesetz der Umsetzung gerade dieses Aktes dient. Immer ist auch der gemeinschaftsrechtliche Gesamtkontext zu beachten. Ansonsten wäre es denkbar, dass über die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ein Ziel verwirklicht würde, das im Widerspruch zur Gemeinschaftsrechtsordnung selbst, der eben auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze angehören, stünde. Dies wäre aber die ‚Perversion‘ der gemeinschaftskonformen Auslegung.“127
Diese Gesamtschau Satzgers ist zwar gemeinschaftsrechtlich im Bereich sich nicht überschneidender Regelungsbereiche durchaus zulässig und sogar wünschenswert, angesichts der zuvor dargelegten fehlenden Bindungswirkung der allgemeinen Rechtsprinzipien des Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten aber keineswegs geboten. Im Ergebnis ist die Frage einer nationalen Befugnis zur Interpretation im Lichte von Gemeinschaftsrecht nur dort erheblich, wo der nationale Rechtsanwender nicht bereits zu einer solchen verpflichtet ist. Dieser rein natio126 GA Colomers Formulierung, in: EuGH, verb. Rs. C-74/95 und C-129/95, Slg. 1996, I-6609, 6622 „Strafverfahren gegen X“ überzeugt daher nicht: „[. . .] das Legalitätsprinzip im Strafrecht (ist) als eine der Wirksamkeit der Gemeinschaftsrichtlinien innewohnende Grenze zu betrachten.“. 127 Satzger, S. 553 f.
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nale Ansatz einer Befugnis findet seine gemeinschaftsrechtliche Grenze, wenn er dem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts binden die Mitgliedstaaten und deren rechtsanwendende Organe insoweit nicht. Beachtlich sind dagegen, vergleichbar den oben dargestellten Kollisionen mit rein nationalem Strafrecht, insbesondere die Grundfreiheiten und das Sekundärrecht. Angesichts der entwickelten Grundsätze ist die Frage einer Befugnis ohnehin wohl eher theoretischer Natur, da in den Mitgliedstaaten eher die Tendenz besteht, die gemeinschaftliche „Regelungswut“ einzudämmen denn ihre rechtliche Relevanz zu erweitern. Zudem wird den außerhalb der Überschneidung von Regelungsbereichen herangezogenen gemeinschaftsrechtlichen Regelungen aufgrund ihrer inhaltlichen Distanz ohnehin nur sehr schwache Indizwirkung beizumessen sein, so dass sie im nationalen Methodenkanon gegenüber anderen nationalen Kriterien kaum Überzeugungskraft aufweisen dürften. e) Zusammenfassung der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht Im Ergebnis ist daher zunächst die Pflicht von der Befugnis zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation zu unterscheiden. Die Befugnis stellt dabei im Ausgangspunkt einen rein nationalen Ansatz dar, der bis zur Grenze der Gemeinschaftswidrigkeit zulässig ist, aber nur in Bereichen Bedeutung erlangen kann, in denen nicht bereits eine Pflicht besteht. Daraus folgt, dass ihm mangels überschneidender Gewährleistungsgehalte nur eine beschränkte Überzeugungskraft zukommt. Dagegen kommt der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation, welche gegebenenfalls auch die Pflicht zu einer Analogie umfasst, erhebliche Bedeutung zu. Sie entsteht für das gesamte nationale Recht, sobald sich die Regelungsbereiche überschneiden. Die Reichweite dieser Pflicht wurde durch eine wertende Abwägung des gemeinschaftlichen Prinzips der Effektivität, der freien Ausgestaltung der nationalen Kompetenzordnung und der allgemeinen Rechtsgrundsätze beschränkt. Die nationalen Rechtsanwender sind daher gemeinschaftsrechtlich gehalten, den Rahmen ihrer nationalen Auslegungsmöglichkeiten also ihrer Zuständigkeit im weiten Sinne nicht zu verlassen. Innerhalb dieses Spielraums obliegt es ihnen, den gemeinschaftlichen Vorgaben insgesamt weitestgehende Wirksamkeit einzuräumen und ihnen gegenüber rein persuasiven nationalen Auslegungsergebnissen den Vorzug zu geben. Das so begrenzte imperative Effektivitätsgebot folgt aus der für die Gerichte im jeweiligen Einzelfall konkretisierten Pflicht aus Art. 10 EG.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
II. Verhältnis zum Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts Das Prinzip der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung erlangt sowohl im Falle unmittelbarer Anwendung als auch bei deren Fehlen Relevanz, so stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Prinzipien zueinander stehen. Genießt nämlich eine gemeinschaftsrechtliche Norm Vorrang vor einer nationalen Strafnorm mit der Folge, dass diese nicht angewendet werden kann, so ergibt sich für den Rechtsunterworfenen die angenehme Folge der Straflosigkeit. Hätte dagegen der nationale Rechtsanwender zunächst gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, so könnte dieses rechtspolitisch unliebsame Ergebnis vermieden werden. Andererseits gelten auch in der Gemeinschaft rechtsstaatliche Bindungen, so dass man erwägen könnte, die Unwirksamkeit der nationalen Strafnorm als für den Rechtsunterworfenen günstigere Folge könnte sich durchsetzen. In ständiger Rechtsprechung postuliert der EuGH aber eine vorrangige Anwendung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. „[. . .] soweit eine solche gemeinschaftskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf (das nationale Gericht) entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“128
Dem folgt die Literatur ohne ersichtlichen Widerspruch, aber auch ohne weitere Begründung. So wird z. B. formuliert: „Das Gericht hat also alle ihm zur Verfügung stehenden Auslegungsmöglichkeiten auszuschöpfen, um dem nationalen Recht einen mit Gemeinschaftsrecht vereinbaren Sinn zu geben, bevor es die nationale Norm unangewendet lässt.“129
Belegt wird dieses Ergebnis, wenn man die Funktion des Anwendungsvorrangs betrachtet. Es handelt sich um eine Kollisionsregel. Vorausgesetzt wird also ein Widerspruch zwischen zwei Rechtsnormen. Bereits bei dieser Voraussetzung setzt aber die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation an, indem sie dem Gemeinschaftsrecht weitestgehende Wirksamkeit durch die Anwendung nationalen Rechts einräumt. Besteht also die Möglichkeit gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren, so ist der Rechtsanwender zu dieser Auslegung verpflichtet und vermeidet dadurch den drohenden Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht. Der Anwendungsvorrang ist letzte, der Interpretation nachfolgende Konsequenz. Der nationale Rechtsanwender hat damit stets sämtliche Möglichkeiten gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation der nationalen Norm auszuschöpfen, bevor er diese zugunsten der Anwendung des Gemeinschaftsrechts unangewendet lässt. 128 129
EuGH, Rs. 157/86, Slg. 1988, 673 „Murphy“. Satzger, S. 520, so auch v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 56.
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III. Besonderheiten der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Kriminalstrafrecht Bereits die Ausführungen zum Anwendungsvorrang konnten erhellen, dass gerade im Strafrecht erhebliche Animositäten gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen bestehen, wie sie auch die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung entfaltet. Es soll deshalb untersucht werden, ob die Besonderheiten mitgliedstaatlicher Strafrechtsordnungen eine Modifikation oder gar eine Unanwendbarkeit dieses Konzepts erfordern. 1. Geltung des Prinzips im Kriminalstrafrecht Die Notwendigkeit, die Geltung und die Reichweite der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation im Kriminalstrafrecht explizit zu begründen, wird durch die bereits einleitend angesprochene sog. Abfall-Entscheidung BGHSt 37, 333 illustriert. Bezeichnend für die Unsicherheit nationaler Strafrechtsanwender hinsichtlich der Geltung und des Inhalts des Prinzips ist bereits die Tatsache, dass sich der BGH für Strafsachen erstmals mit diesem Urteil vom 26.02.1991, d.h. ca. 7 Jahre nach der EuGH-Entscheidung in der Rs. Von Colson und Kamann und fast 5 Jahre nach der Rs. Kolpinghuis Nijmegen mit der Bedeutung von EG-Richtlinien bei der Auslegung nationaler Straftatbestände auseinander setzte. Fand dieses Urteil in Literatur und Schrifttum auch erhebliche Beachtung, so stiftete es mehr Verwirrung denn Klarheit130. Die Bundesrichter hatten sich mit der Auslegung des Abfallbegriffs in § 326 StGB und der Frage auseinander zu setzen, ob die Möglichkeit der Wieder- oder Weiterverwendung einer Sache deren Eigenschaft als gewillkürten Abfall131 ausschließt. Im Ausgangspunkt führte das Gericht aus, dass der Abfallbegriff des § 326 StGB selbständig, jedoch in Anlehnung an den zu jener Zeit noch in Kraft befindlichen132 § 1 I 1 AbfG zu bestimmen sei133. Systematisch stehe dieser in engem Zusammenhang zu § 1 II AbfG, wo zwischen Verwertung und endgültiger Entsorgung von Abfällen zu unterscheiden sei. Daraus folge, dass Abfälle i. S. d. § 1 I AbfG auch solche Stoffe und Gegenstände 130 Vgl. z. B. die Anm. Sack, JR 1991, 337 ff.; Anm. Horn BGH, JZ 1991, 886; Brechmann, S. 108; Dannecker, JZ 1996, 869, 873; ders., Jura 1998, 79, 85; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402 ff.; Heise, S. 89 ff.; Hugger, NStZ 1993, 421; Satzger, S. 545 ff.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 24 ff. 131 Die Eigenschaft als Zwangsabfall, für den es auf die Wiederverwertungsabsicht nicht ankam, war im Prozess nicht nachzuweisen. 132 Vgl. § 3 KrW-/AbfG, der heute den weiten Begriff positivrechtlich verankert; dazu bereits Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 783. 133 Bereits BGHSt 37, 21, 24.
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sind, die nach Wiederverwertung bzw. -verarbeitung ein neues Wirtschaftsgut darstellen. Es komme also nicht entscheidend auf die Vorstellungen und Ansichten des Besitzers hinsichtlich der Wiederverwertungsmöglichkeiten an. Entscheidend sei, ob der Besitzer sich des Stoffes „als für ihn wertlos geworden entledigen, d.h. sich davon befreien will, um ihn der Entsorgung zuzuführen oder zuführen zu lassen.“ Verfolgte der BGH bis hierher eine rein nationale, systematische Argumentation, so folgt dann die vielzitierte Passage, in der er einen Bezug zu den Gemeinschaftsrichtlinien herstellte: „Eine solche von subjektiven Zweckbestimmungen losgelöste Definition des Abfallbegriffes steht auch im Einklang mit den bereits zur Tatzeit geltenden Richtlinien 75/442/EWG134 [. . .] und 78/319/EWG135 [. . .]. Diese erfassen jeweils in Artikel 1 als Abfälle alle Stoffe oder Gegenstände, deren sich der Besitzer entledigt oder gemäß den geltenden einzelstaatlichen Vorschriften zu entledigen hat. Mit Urteil v. 28.3.1990136 [. . .] hat der EuGH eine nationale Regelung, die den Begriff ‚Abfälle‘ so bestimmt, dass Stoffe und Gegenstände, die einer wirtschaftlichen Wiederverwendung zugeführt werden können, nicht darunter fallen, mit den Richtlinien 75/442/EWG und 78/319/EWG des Rates für nicht vereinbar erklärt. Darüber hinaus hat der EuGH in einem weiteren Urteil vom selben Tage137 [. . .] ausgeführt, dass die Ziele der beiden Richtlinien – der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umweltschutz – beeinträchtigt würden, wenn ihre Anwendung davon abhinge, welche Vorstellungen der Besitzer im Hinblick auf die wirtschaftliche Wiederverwendung der Stoffe oder Gegenstände, deren er sich entledigt, durch dritte Personen hat. Diese Rspr. haben die nationalen Verwaltungen und Gerichte bei ihrer Rechtsanwendung zu berücksichtigen (vgl. BGHSt 37, 168, 175).“138
Diese Ausführungen gaben Anlass zu berechtigter Kritik. Insbesondere der letzte Hinweis auf das Urteil BGHSt 37, 168, 175 schuf erhebliche Verwirrung, ging es in jenem Urteil doch um die Frage, ob der Angeklagte von der Umsatzsteuerzahlungspflicht aufgrund von unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der 6. Umsatzsteuerrichtlinie befreit ist. Infolge einer unmittelbaren Anwendbarkeit lag im Ergebnis dann keine Umsatzsteuerhinterziehung vor. Anders als in jenem Fall musste hier aber eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienbestimmungen bereits an der Tatsache scheitern, dass sich eine solche zu Lasten des Angeklagten ausgewirkt hätte, so dass es bereits an den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit fehlte139. 134 135 136
ABlEG 1975, Nr. L 194, S. 47. ABlEG 1978, Nr. L 84, S. 43. EuGH, Rs. C-359/88, Slg. 1990, I-1509 „Strafverfahren gegen E. Zanetti
u. a.“. 137
EuGH, verb. Rs. C-206/88 u. C-207/88, Slg. 1990, I-1461 „Strafverfahren gegen G. Vessoso und G. Zanetti“. 138 BGHSt 37, 333, 336. 139 Vgl. dazu Brechmann, S. 110; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402 f.
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Weiterhin erschien fraglich, ob der BGH die Rechtsprechung des EuGH nur bestätigend herangezogen hat, wenn er meint, sein auf nationaler Grundlage gefundenes Ergebnis stehe mit diesen Entscheidungen „im Einklang“ oder ob er sich zu jener Auslegung verpflichtet sah. Schließlich wies er darauf hin, dass die nationalen Gerichte diese Rechtsprechung zu berücksichtigen „haben“. Trotz jener Ungereimtheiten wird die Entscheidung überwiegend als Bekenntnis der Bundesrichter zu einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung interpretiert140. Legt man diese Annahme zu Grunde, verwundert es umso mehr, dass der BGH dann nicht zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht Stellung nimmt, seien sie nationalen oder gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs. Angesichts dieser Kritik lässt das Urteil kaum Rückschlüsse auf den Inhalt, die Reichweite geschweige denn die Grenzen des Prinzips im Kriminalstrafrecht zu. Einzig hinsichtlich der grundsätzlichen Geltung im Kriminalstrafrecht lässt das Urteil die Folgerung treffen, dass einer Anwendung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Bereich des Strafrechts nach Ansicht des BGH nichts entgegenzustehen scheint. Diese These der Anwendung des Prinzips der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auf das Strafrecht überzeugt141, wenn man berücksichtigt, dass auch der EuGH im allgemeinen dem strafrechtlichen Bereich keine Ausnahmestellung zubilligt und auch das einschneidendere Prinzip des Anwendungsvorrangs nach hier vertretener Ansicht uneingeschränkt zur Anwendung gelangt. 2. Die Grenzen im Kriminalstrafrecht Diese Unsicherheit der deutschen Strafrechtsanwender hinsichtlich des Prinzips ist nur schwer verständlich, berücksichtigt man, dass es auch in dem bereits zur Entwicklung der allgemeinen Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation angesprochenen Rs. Kolpinghuis Nijmegen um einen strafrechtlichen Sachverhalt ging. Der EuGH wies in dieser Rechtssache auf die gemeinschaftsrechtliche Grenze der allgemeinen Rechtsgrundsätze hin, insbesondere die Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot. Diese Ausführungen setzen eine Geltung des Prinzips im 140 Brechmann, S. 110; Dannecker, JZ 1996, 869, 873; ders., Jura 1998, 79, 85; Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 784; Satzger, S. 547; Tiedemann, NJW 1993, 23, 24 ff. 141 Zustimmend insoweit auch Böse, S. 428 ff.; Dannecker, JZ 1996, 869, 873; ders., Jura 1998, 79, 85; Heise, S. 49 ff.; Kühl, ZStW 109 (1997), 777, 784; Satzger, S. 549 ff.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 781; kritisch Hugger, NStZ 1993, 421, 423 f.; undeutlich Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 44 f.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Strafrecht bereits voraus. Die in diesem Kontext erheblichen Ausführungen sind zu rekapitulieren: „Diese Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet jedoch ihre Grenzen in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil des Gemeinschaftsrechts sind, und insbesondere in dem Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot. So hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 14/86 (Pretore von Salò gegen Unbekannt, Slg. 1987, 2545) für Recht erkannt, dass eine Richtlinie für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen.“142
Einige Autoren143 erkennen zwar die grundsätzliche Möglichkeit der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht an, nehmen aber den Bezug in dieser Passage auf die Ausführungen der Rs. Pretore di Salo zum Anlass, zu folgern, der EuGH lehne jegliche richtlinienkonforme Interpretation ab, wenn von dieser Auslegung eine belastende strafrechtliche Wirkung ausgeht. Jeder Interpret des Urteils in der Rs. Kolpinghuis hat aber den Kontext zu beachten. Der EuGH wurde eben nicht nur zur richtlinienkonformen Auslegung angerufen, sondern auch zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien144, die er im umgekehrt vertikalen Verhältnis in ständiger Rechtsprechung ablehnt145. Wenn er im letzten Satz somit formuliert, eine Richtlinie könne für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften keine belastende Wirkung haben, so ist dies als nochmaliger Hinweis auf die erste Vorlagefrage und darauf zu verstehen, dass die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht durch die Hintertür eine unmittelbare Wirkung im umgekehrt vertikalen Verhältnis zeitigen darf, die der EuGH in ständiger Rechtsprechung ablehnt146. Nur 142 EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3971 f. „Kolpinghuis Nijmegen“; bestätigt durch Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705 „Luciano Arcaro“; verb. Rs. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609 „Strafverfahren gegen X“; Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“. 143 Brechmann, S. 56; Köhne, S. 107 ff. 144 Vgl. die Vorlagefragen EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3971 f. „Kolpinghuis Nijmegen“. 145 EuGH, Rs. 152/84, Slg. 1986, 723 „Marshall I“; bestätigt in Rs. 372–374/85, Slg. 1987, 2141, 2157 „Traen“; Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 „Pretore di Salo“; Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, 3985 „Kolpinghuis Nijmegen“; Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, 4158 „Marleasing“; Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 „Faccini Dori“; Rs. C-192/94, Slg. 1996, I-1281 „El Corte Inglés“; Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, 4729 „Luciano Arcaro“.
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dann wirkt die Richtlinie „für sich allein und unabhängig“ und widerspricht dem Grundsatz der Rechtssicherheit, kann er doch darauf vertrauen, dass die Richtlinie einer nationalen Umsetzung bedarf. So erklärt sich dann auch der Verweis auf die Rs. Pretore di Salo, die der EuGH regelmäßig als Autorität für die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung anführt147. Das zuvor entwickelte dogmatische Konzept der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung etabliert durch die Akzeptanz mitgliedstaatlicher Auslegungsgrenzen gerade diese Grenze und erfährt somit durch diese Rechtsprechung Bestätigung. Demnach kann die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung durchaus im Vergleich zu früher vertretenen Auslegungen zu einer für den Rechtsunterworfenen nachteiligen Lesart führen. Die diesbezüglich von Hugger vorgebrachte Kritik überzeugt nicht, wenn er meint: „Bei Bestehen einer vom EuGH für nationale Durchführungsregelungen noch nicht ausgeschlossenen Pflicht zu strafbarkeitserweiternder richtlinienkonformer Auslegung gründete sich der Strafanspruch gegen den Marktbürger danach nicht allein auf die deutsche Strafvorschrift, sondern zudem auf die Auslegungs- und Anwendungspflicht des Gerichts aus Art. 5 EWG-Vertrag (jetzt: Art. 10 EG) i. V. mit der maßgeblichen Richtlinie.“ Auf dieser Grundlage versucht er dann eine Parallele zum Blankettstrafrecht zu entwickeln, was die diesbezüglichen Vorgaben des Art. 103 II GG relevant werden lasse. Dieser erfordere sowohl die Bestimmtheit der Ausfüllungsnorm als auch der Verweisung. Art. 10 EG genüge diesen Anforderungen an eine Ausfüllungsnorm aber nicht.148
Seiner Prämisse der Parallelität zu Strafblanketten kann nicht gefolgt werden149. Bereits der Terminus der sog. „strafbarkeitserweiternden Auslegung“ lenkt den Leser in eine falsche Richtung. Die Strafbarkeit begründet allein das nationale Gesetz150, indem es einen Rahmen vorgibt. Nach dem hier entwickelten Konzept nutzt die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation nur diesen gesetzgeberisch vorgezeichneten Spielraum, verschärft die gesetzlich vorgegebene Strafe also nicht. Das deutsche Strafgesetz mag zwar auslegungs-, nicht aber ergänzungsbedürftig sein, da es schließlich selbst Art. 103 II GG genügen muss, um nicht unabhängig von gemeinschaftlichen Pflichten nichtig zu sein. Genügt es folglich diesen Anforderungen kann die Pflicht aus Art. 10 EG keine Probleme begründen, da sie sich in dem nationalen Kompetenzrahmen bewegt. Insbesondere geht die Pflicht aus Art. 10 EG angesichts der entwickelten Grenzen auch nicht 146 Auch GA Elmer deutet die Ausführungen des Gerichts in der Rs. Kolpinghuis in diesem Sinne, vgl. EuGH, Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, 4713 „Luciano Arcaro“. 147 Z. B. EuGH, Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, 4729 „Luciano Arcaro“. 148 Hugger, NStZ 1993, 421, 423 ff. 149 Böse, S. 430; Dannecker, JZ 1996, 869, 873; Heise, S. 108 f.; Köhne, S. 131; Satzger, S. 550 f. 150 Zutreffend insoweit Heise, S. 161.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
über „gewisse Spezifizierungen“151 des Straftatbestandes hinaus, so dass auch ein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt aus Art. 103 II GG ausscheidet. Auch der Vertrauensschutz wirft insoweit keine Probleme auf. Die bisherige Auslegungspraxis der Gerichte kann mangels eines bindenden Präjudiziensystems keinen verbindlichen Bezugsmaßstab bilden. Vertrauensgrundlage ist einzig das Gesetz, so dass der Rechtsanwender jede mögliche Auslegung gegen sich gelten lassen muss und kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vorliegt152. Teilweise153 wird zum Beleg einer Absage an die „strafbarkeitserweiternde Auslegung“ auf die Ausführungen des Generalanwalts Jacobs zurückgegriffen: „Dieser Auslegungsgrundsatz muss jedoch in Strafverfahren eingeschränkt werden, wenn er zu einer Strafbarkeit in Fällen führen würde, in denen sich diese aus dem nationalen Recht allein nicht ergäbe. Eine weite Auslegung läuft nämlich einem fundamentalen Rechtsstaatsprinzip (‚nullum crimen, nulla poena sine lege‘) zuwider. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Richtlinie in Ermangelung von Durchführungsgesetzen nicht selbst die strafrechtliche Verantwortung von Bürgern begründen oder verschärfen, die der Richtlinie zuwider handeln [. . .]. Entsprechende Grundsätze müssen aber gelten, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie durchgeführt hat und das Durchführungsgesetz zwar eine Strafbarkeit begründet, aber nicht den gesamten Straftatbestand klar und unzweideutig umschreibt. Von Gemeinschaftsrechts wegen sind nationale Gerichte nicht gehalten, nationales Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks von Richtlinien auszulegen, wenn dies zu einer Strafbarkeit führen würde, die ansonsten nicht gegeben wäre. Die vorlegenden Gerichte müssen entscheiden, ob das einschlägige nationale Recht auch ohne weite Auslegung, die dem Grundsatz des ‚nulla poena sine lege‘ widerspräche, den Richtlinien konform ausgelegt werden kann.“154
Auch in diesen Ausführungen kommt bei genauer Betrachtung indes nicht ein Verbot „strafbarkeitserweiternder Auslegung“ zum Ausdruck. Es wurde bereits oben festgestellt, dass das Prinzip gemeinschaftsrechtskonfor151 Hugger, NStZ 1993, 421, 424, der BGHSt 37, 333 ff. als Beispiel dafür anführt (Fn. 52), wobei er aber die Wortlautgrenze verkennt. 152 Für das deutsche Strafrecht allgemein die h. M.: BVerfGE 18, 224, 240; Lackner/Kühl, § 1 Rn. 4; Tröndle/Fischer § 1 Rn. 11c; Jescheck/Weigend, AT, § 15 IV 3, Fn. 46; Roxin, AT I, § 5 Rn. 61; im vorliegenden Kontext: Böse, S. 432; Heise, S. 116 ff.; Satzger, S. 555 f.; a. A. Brechmann, S. 277 ff.; Köhne, S. 107 ff.; Langenfeld, Gleichbehandlung, S. 204 f. 153 Z. B. Böse, S. 428 f.; Hugger, NStZ 1993, 421, 423. 154 GA Jacobs, in: EuGH, verb. Rs. C-206/88 u. C-207/88, Slg. 1990, I-1461, 1471 „Strafverfahren gegen G. Vessoso und G. Zanetti“ bzw. Rs. C-359/88, Slg. 1990, I-1509 „Strafverfahren gegen E. Zanetti u. a.“.
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mer Auslegung u. U. auch die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Analogie enthält. Analogien werden in vielen Mitgliedstaaten als „weite Auslegung“ bezeichnet155. Dieser sprachliche Hintergrund erhellt den Bedeutungsgehalt der durch den Generalanwalt untersuchten Fallgestaltungen. Es sind nun zum einen Konstellationen denkbar, in denen nationale Durchführungsgesetze fehlen. Insoweit kann es dann bereits nicht um die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation gehen, sondern allein um eine unmittelbare Anwendbarkeit. Diesbezüglich stellt der Generalanwalt nochmals heraus, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit zu Lasten der Rechtsunterworfenen nicht möglich ist. Zum anderen weist er aber auf Fallgestaltungen hin, in denen „das Durchführungsgesetz zwar eine Strafbarkeit begründet, aber nicht den gesamten Tatbestand klar und unzweideutig umschreibt“. Damit beschreibt er zum einen den Fall, dass der nationale Straftatbestand nicht hinreichend bestimmt ist. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung kann hier nach zutreffender Ansicht nicht dazu dienen, diesen Mangel zu heilen156. Daneben erfasst er den Fall, das jenes Umsetzungsrecht zwar hinreichend bestimmt ist, jedoch nicht den „gesamten“ Richtliniengehalt umsetzt. Bzgl. der nicht umgesetzten Richtlinienvorgaben wäre mangels unmittelbarer Anwendbarkeit im umgekehrt vertikalen Verhältnis an eine „weite Auslegung“, also eine Analogie zum umgesetzten Teil zu denken. In einigen Rechtskreisen stellt sich terminologisch begründet die Frage, ob die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auch eine solche „weite Auslegung“ meint. Diese Analogie widerspräche aber, wie der Generalanwalt zutreffend ausführt, „einem fundamentalen Rechtsstaatsprinzip (‚nullum crimen, nulla poena sine lege‘)“. Die vorstehende Analyse konnte folglich erhellen, dass es auch in den Ausführungen des GA Jacobs nicht um ein Verbot „strafschärfender Interpretation“, sondern das strafrechtliche Analogieverbot ging. Dabei legt bereits seine Formulierung nahe, dass der Generalanwalt nicht die Grenzen nationaler Auslegungsmethodik also im deutschen Kontext Art. 103 II GG157 meinte, er vielmehr ein gemeinschaftsrechtliches Rechtsprinzip verletzt sieht. Auch GA Colomer formulierte später in der Rs. Straf155
Satzger, S. 558. So auch Satzger, S. 559, unter Hinweis darauf, dass eine solche Umsetzungsnorm bereits nach Art. 103 II GG nichtig wäre. Sie genügte aber auch nicht dem gemeinschaftlichen Bestimmtheitsgebot, welches die Umsetzungsverpflichtung bzw. die Pflicht wirksamer Sanktionierung inhaltlich bestimmt. 157 Zum nationalen Problem der Normspaltung, wenn außerstrafrechtliche Primärnormen außerhalb des Strafrechts – evtl. gemeinschaftsrechtlich geboten – fortzubilden sind, im strafrechtlichen Kontext dies wegen Art. 103 II GG bzw. dem gemeinschaftsrechtlichen Bestimmtheitsgebot aber nicht möglich ist, vgl. Satzger, S. 560 m. w. N., der überzeugend für eine Akzeptanz dieses Effekts eintritt. 156
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
verfahren gegen X in die Richtung eines allgemeinen gemeinschaftlichen Rechtsprinzips: „Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der Vorrang des Legalitätsprinzips im Strafrecht (nullum crimen, nulla poena sine lege) mit dem dazugehörenden Verbot der extensiven Auslegung zum Nachteil des Angeklagten. Ich glaube nicht, dass heute jemand bestreitet, dass es sich um einen den Verfassungstraditionen sämtlicher Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsatz handelt.“158
Nimmt er auf die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten Bezug, so stellt dies eine Bezugnahme auf eine Rechtserkenntnisquelle bei der Ermittlung gemeinschaftlicher Rechtsgrundsätze dar. Fraglich ist jedoch, ob das gemeinschaftliche Prinzip der Rechtssicherheit engere Grenzen in dem Sinne etablierte, dass das Vertrauen auf eine bestimmte Auslegung des Straftatbestandes geschützt ist. Dann verlangte nämlich auch das Effektivitätsgebot in praktischer Konkordanz mit diesem allgemeinen Rechtsprinzip nur eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, soweit diese nicht zu einer „strafbarkeitserweiternden Auslegung“ führt. Nachfolgend ist deshalb der Inhalt des gemeinschaftlichen Prinzips der Rechtssicherheit zu eruieren. Finden sich auch keine expliziten Ausführungen zur Frage der „strafbarkeitserweiternden Auslegung“, so könnte jedoch der Hinweis des EuGH in der Rs. Strafverfahren gegen X auf seine Rechtserkenntnisquellen den Inhalt des gemeinschaftsrechtlichen Prinzips erhellen. Dabei wird nicht verkannt, das der EuGH eigene gemeinschaftliche Prinzipien entwickelt, die nicht notwendig deckungsgleich mit den Erkenntnisquellen sind. Dennoch liefern die Ursprünge Anhaltspunkte, von denen auf den Inhalt des gemeinschaftlichen Prinzips geschlossen werden kann. „[. . .] der Grundsatz, wonach ein Strafgesetz nicht zum Nachteil des Betroffenen extensiv angewandt werden darf, der aus dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen und, allgemeiner, dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, [. . .] verbietet (es), die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Dieser Grundsatz der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, ist auch in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen verankert, u. a. in Artikel 7 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.“159
Hinsichtlich des Inhalts, geschöpft aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen könnte einzig die Sonderrolle des Vereinigten Königreichs einen anderen Inhalt des Rechtsgrundsatzes indizieren, denn dort ist auch das 158 GA Colomer, in: EuGH, verb. Rs. C-74 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609, 6620 „Strafverfahren gegen X“; vgl. dazu auch die Verweise auf die einzelnen mitgliedstaatlichen Regeln bei Böse, S. 128. 159 EuGH, verb. Rs. C-74 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609, 6637 „Strafverfahren gegen X“.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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case law Rechtsquelle für das Strafrecht. Auch dürfen nach einer Entscheidung des Oberhauses Gerichte keine neuen Straftatbestände schaffen oder bestehende Strafbarkeiten erweitern160. Kann sich das Vertrauen also auf Gerichtsentscheidungen stützen, spricht dies für ein Verbot „strafschärfender Auslegung“. Zu beachten ist aber, dass jene Rechtsordnung mit einem System bindender Präjudizien operiert. Das Prinzip der Rechtssicherheit findet dort also einen anderen rechtlichen Boden vor, auf dem es zur Anwendung kommt. Es bewirkt aber keine erweiterte Verbindlichkeit hoheitlicher Entscheidungen. Abstrahiert man folglich die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, so folgt daraus, dass lediglich eine Erweiterung der verbindlich festgelegten Strafbarkeit ausgeschlossen wird. In den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen kommt eine derartige rechtliche Verbindlichkeit nur Gesetzen zu. Ein Verbot „strafschärfender Auslegung“ lässt sich den gemeinsamen Verfassungstraditionen nicht entnehmen. Entsprechend seiner jüngeren Rechtsprechung, in der sich der EuGH zunehmend auf die EMRK bezogen hat161, weist er hier auf Art. 7 EMRK hin. Dieser lautet: „Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.“ Zudem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Aussage nicht nur auf das Rückwirkungsverbot beschränkt, sondern entschieden, dass nur Gesetze Delikte definieren und Strafen festlegen können. Zudem dürfe das Strafrecht nicht im Wege einer Analogie extensiv zum Nachteil des Angeklagten ausgelegt werden.162
Bereits der Wortlaut des Art. 7 EMRK spricht dafür, dass nur Gesetze Vertrauensgrundlage des einzelnen sein können, wenn er das „Recht“ als Grenze etabliert. Gleiches ergibt sich, wenn man den Begriff „sine lege“ betrachtet163. Dementsprechend weist auch GA Colomer auf die Aussage hin, dass Gesetze, die Handlungen als strafbar einstufen, während die Gerichte die Tatbestände anzuwenden haben164. Ein Verbot der „strafschärfenden Auslegung“ lässt sich auch dieser Quelle nicht entnehmen.
160
Vgl. Böse, S. 128 f.; Tsolka, S. 75. Schwarze, EuGRZ 1986, 293, 297. 162 EuGMR, Urt. v. 25.05.1993, A 260–A 1993, § 52 „Kokkinakis ./. Griechenland“. 163 Satzger, S. 558. 164 GA Colomer, in: EuGH, verb. Rs. C-74 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609, 6620 f. „Strafverfahren gegen X“. 161
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Als weitere Rechtserkenntnisquelle könnte ferner die EU-Grundrechtscharta herangezogen werden, der zwar lediglich unverbindlicher Charakter zukommt, doch ist davon auszugehen, dass angesichts ihres Leitcharakters im Hinblick auf eine zukünftige Verfassung zunehmend auf sie Bezug genommen werden wird. Sollte dieser Bezug auch nicht ausdrücklich geschehen, so wird der EuGH diese dennoch bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze berücksichtigen und als Erkenntnisquelle nutzen. So findet sich Kapitel VI der Charta der Grundrechte, das mit „Justizielle Rechte“ überschrieben ist, in Art. 49: (1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. [. . .]
Schließlich kann auch die Rechtsprechung des EuGH zum Bußgeldrecht als Indiz herangezogen werden. So wurde beispielsweise in der Rs. Brugg Rohrsysteme ./. Kommission165 ein Verstoß gegen das gemeinschaftliche Rückwirkungsverbot und den Vertrauensschutz gerügt, weil die Kommission von ihrer bisherigen Bußgeldpraxis abwich. Der EuGH lehnte dies unter Hinweis auf die Verfassungstraditionen sowie Art. 7 EMRK ab, da Grundlage des Bußgelds immer die Gemeinschaftsverordnung war, die zum Begehungszeitpunkt aber bereits existierte, nicht hingegen die frühere Bußgeldpraxis. So lässt sich diese Rechtsprechung als Indiz dafür werten, dass das gemeinschaftliche Prinzip nullum crimen nulla poena sine lege allein die gesetzliche Grundlage als Vertrauensbasis akzeptiert. Das Schrifttum setzt sich in diesem Kontext kaum mit der Reichweite gemeinschaftlicher Grundsätze auseinander, entweder weil ohne Prüfung davon ausgegangen wird, dass diese nicht enger sind als die deutschen166 oder weil unausgesprochen das deutsche Verständnis zugrunde gelegt wird. Im Übrigen bleiben die Formulierungen auf der Basis der Rechtsprechung undeutlich, deren verwirrende Formulierungen sich aber aus dem unterschiedlichen Sprachgebrauch in den Mitgliedstaaten ergeben167. So wird z. B. ausgeführt: „Andererseits wird die EG-rechtskonforme Auslegung durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts begrenzt, insbesondere durch die Gebote der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots. Das schließt es beispielsweise aus, mit Hilfe der EG-rechtskonformen Auslegung Straftatbestände zu erweitern.“168 165
EuGH, Rs. T-15/99, Urt. v. 20.03.2002, Rn. 106 ff. u. 137 ff. „Brugg Rohrsysteme ./. Kommission“. 166 Satzger, S. 554. 167 Zutreffend Satzger, S. 557 ff.
A. Dogmatische Grundlagen des Prinzips
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Deutlicher wird dagegen GA Elmer, denn er sieht die Grundsätze nullum crimen sine lege und nulla poena sine lege nur im Falle einer Auslegung contra legem tangiert. Hält sich eine Auslegung aber in den entwickelten Grenzen, so bestehe nicht die Gefahr, dass die Verantwortlichkeit der verfolgten Person festgelegt oder verschärft wird169.
Insgesamt lässt die Gesamtschau der analysierten Rechtsquellen und der Rechtsprechung die Annahme zu, dass auch auf der Gemeinschaftsebene das Vertrauen auf eine bestimmte Auslegung nicht geschützt wird, so dass sich die Gewährleistung mit der des deutschen Rechts deckt und einzig im Falle einer Auslegung contra legem zu Lasten des Angeklagten das strafrechtliche Analogieverbot eingreift. Im Ergebnis folgt aus dem gemeinschaftlichen Prinzip der Rechtssicherheit damit: „[. . .] jedenfalls gibt es keine Pflicht, Bestimmungen des nationalen Strafrechts zu Lasten der Einzelnen fortzubilden.“170
Eine Rechtsfortbildung zugunsten des Täters ist natürlich auch nach dem Gemeinschaftsrecht unbedenklich171. 3. Ergebnis: Uneingeschränkte Geltung des Prinzips im Kriminalstrafrecht Die gefundenen Ergebnisse hat der GA Geelhoed in der Rs. Kommission ./. Spanien172 programmatisch zusammengefasst: „Die Verpflichtung des Richters, eine nationale Bestimmung richtlinienkonform auszulegen, kann mit dem Legalitätsprinzip auf gespanntem Fuß stehen. Wegen der Bedeutung des Legalitätsprinzips, das den Charakter eines Grundrechts hat, lassen Strafbestimmungen oft weniger Raum für eine richtlinienkonforme Auslegung. Es geht mir aber zu weit, zu behaupten, dass das Legalitätsprinzip immer einer richtlinienkonformen Auslegung entgegensteht. Gesellschaftliche oder technische Entwicklungen können dazu führen, dass Verhaltensweisen, die früher nicht vorkamen, in den Anwendungsbereich einer bestehenden Strafbestimmung fallen. Es ist Sache des nationalen Richters, eine Strafbestimmung unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen auszulegen. Diese Aufgabe ist keine andere, wenn sich die Entwicklungen aus inzwischen erlassenen internationalen oder 168
Jarass, DVBl. 1995, 954, 958; ders., EuR 26 (1991), 211, 218. Vgl. GA Elmer, in: EuGH, Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, 4716 „Luciano Arcaro“. 170 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 249 EGV Rn. 153 (Hervorhebung durch den Verfasser) unter Hinweis auf EuGH, verb. Rs. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609 „Strafverfahren gegen X“; Rs. C-236/95, Slg. 1996, I-4459 „Kommission ./. Griechenland“. 171 Gröblinghoff, S. 68; Satzger, S. 563; vgl. auch GA Colomer, in: EuGH, verb. Rs. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609 „Strafverfahren gegen X“. 172 EuGH, Rs. C-58/02, Slg. 2004, I-621 Rn. 40 f. „Kommission ./. Spanien“. 169
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
europäischen Rechtsvorschriften ergeben. Wie aber diese Entwicklungen auch immer aussehen mögen, der Strafrichter ist dabei doch stets an eine grammatikalische Auslegung einer strafrechtlichen Norm gebunden. Das Legalitätsprinzip lässt eine weitergehende Auslegung nicht zu. Kurz, der nationale Richter legt eine Strafbestimmung unter Berücksichtigung des Legalitätsprinzips aus. Dieses Prinzip hält ihn jedoch nicht davon ab, den Bestimmungen einer EG-Richtlinie Rechnung zu tragen. Er muss dann aber innerhalb des Spielraums bleiben, den ihm das Legalitätsprinzip lässt.“
Wie das Prinzip des Anwendungsvorrangs bedarf auch die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation im Bereich nationalen Kriminalstrafrechts keiner Modifikation. Sie gilt uneingeschränkt mit den entwickelten Grenzen, wobei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts besondere Aufmerksamkeit gebührt. Sie bestätigen die gemeinschaftsrechtlich gebilligte nationale Auslegungsgrenze des Verbots strafschärfender Analogie, reichen aber nicht weiter. Ein Verbot „strafschärfender gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung“, welches das Vertrauen auf eine bestimmte Auslegung schützte, existiert auch im Gemeinschaftsrecht nicht.
B. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Anwendung deutscher Strafnormen Nach der Entwicklung eines Konzepts der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation mit uneingeschränkter Geltung im Bereich des Strafrechts soll nun die tatsächliche Anwendung an einigen Beispielen illustriert werden. Angesichts des unüberschaubaren Umfangs gemeinschaftsrechtlicher Normsetzung erhebt die folgende Darstellung nicht den Anspruch der Abgeschlossenheit. Sie soll vielmehr einen Ansatz zur Systematisierung bieten, wie und an welcher Stelle das Prinzip in der Strafrechtsanwendung Relevanz erlangen kann. Ausgangspunkt bildet dabei die Überlegung, dass die nationalen Rechtsanwender jegliches verbindliches Gemeinschaftsrecht bei der Interpretation nationaler Strafnormen zu berücksichtigen haben. Dadurch geraten primärrechtlich natürlich die Grundfreiheiten in das Blickfeld des Interpreten, welche hier auf ihre ursprüngliche Funktion als Diskriminierungsverbote zurückgeführt worden sind. Daneben können auch die verpflichtenden primärrechtlichen Mindestvorgaben aus Art. 10 EG bei der Auslegung beachtlich sein. Die zentrale Rolle bei der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation kommt aber dem von den Organen der Gemeinschaft erlassenen verbindlichen Gemeinschaftsrecht zu. Sind damit die wesentlichen gemeinschaftlichen Rechtsquellen genannt, deren Relevanz sich nationale Interpreten bewusst sein sollten, so können diese Vorgaben in sämtlichen Bereichen des nationalen Strafrechts Einfluss nehmen. Neben
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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dem Kernstrafrecht ist die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation im Nebenstrafrecht von erheblicher Bedeutung. Zu unterscheiden ist ferner die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation außerstrafrechtlicher Ge- oder Verbotsnormen, die Relevanz bei der Strafzumessung sowie im Intertemporalen Strafrecht.
I. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung deutscher Primärnormen Trotz der Fortentwicklung der Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft des Rechts ist deren wirtschaftlicher Ursprung auch heute noch für die gemeinschaftsrechtliche Normsetzung prägend. Daher verwundert es nicht, dass die praktisch größte Relevanz der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auf der Ebene der Primärnormen zukommt. Jede Norm des (Wirtschafts-)strafrechts setzt, auf der Grundlage der oben dargestellten Akzessorietät eine außerstrafrechtliche Primärnorm voraus. Solche Verhaltensnormen können zum einen geschriebener oder ungeschriebener Art sein. Konsequenz des Umstandes, dass vom Strafrecht gerade keine Entscheidung über das Ge- oder Verbotensein getroffen wird, ist es deshalb, dass auch im Falle vordergründiger Interpretation des Straftatbestandes, eigentlich die zugrundeliegende Primärnorm modifiziert wird. Modifizierende Vorgaben können dabei sowohl dem primären als auch dem sekundären Gemeinschaftsrecht entstammen. Aus der Vielfalt, mit der nationale Straftatbestände die (wirtschaftsrechtlichen) Primärordnungen in Bezug nehmen, ergeben sich verschiedene Erscheinungsformen dieser Einwirkung im nationalen Strafrecht. Neben der schlichten Einwirkung auf die gerade dem Kernstrafrecht häufig zugrundeliegenden ungeschriebenen Primärnormen existieren Strafvorschriften, deren Normbefehl nicht auf den ersten Blick offenkundig ist, weil sie konkretisierungsbedürftig sind. Zu nennen sind hier die Fahrlässigkeit und die Unterlassungsstrafbarkeit. Besondere Beachtung verdienen daneben die sog. Strafblankette. 1. Einbeziehung gemeinschaftlicher Rechtsgüter und Interessen durch Auslegung im Lichte des Art. 10 EG Aus Art. 10 EG wurde zunächst die Pflicht der Mitgliedstaaten hergeleitet, die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zu gewährleisten. Dies umfasst zum einen die Aufgabe, seine Staatsangehörigen von der Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch wirksame Sanktionierung von Verstößen abzuhalten. Daneben setzt die Funktionsfähigkeit der EG aber voraus, dass die
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
gemeinschaftlichen Institutionen und der gemeinschaftliche Rechtsverkehr geschützt werden. Art. 10 EG verlangt daher, auch die Verletzung von Rechtsgütern und Interessen der EG zu sanktionieren. Der Inhalt der Pflicht aus Art. 10 EG hängt damit maßgeblich von der Ermittlung gemeinschaftlicher Rechtsgüter und Interessen ab, so dass sich die Frage stellt, wie solche Schutzgüter zu ermitteln sind. Im deutschen Recht folgt aus der Verfassungsbindung der Exekutive und der Judikative, die sog. ultima ratio-Funktion des Strafrechts. Daraus ergibt sich ein bloß subsidiärer Rechtsgüterschutz durch das Strafrecht, während z. B. bloße Moralverstöße nicht durch das Strafrecht bewehrt werden dürfen. Dem Rechtsgutsbegriff soll damit eine Begrenzungsfunktion hoheitlicher Strafgewalt zukommen. Dieser Aufgabe wird er indes nur dann gerecht, wenn er von der wandelbaren und beeinflussbaren gesellschaftlichen Wertigkeit und legislatorischer Tätigkeit unabhängig ist. Nationale Rechtsgutsdefinitionen und damit die Pönalisierungspflicht fußen daher regelmäßig auf einer verfassungsrechtlichen Grundlage173. Offensichtlich ist, dass eine derartige Rückführbarkeit der Rechtsgutsbestimmungen auf die nationalen Verfassungen im gemeinschaftsrechtlichen Kontext nicht vertretbar ist, unterläge in jenem Fall doch das Gemeinschaftsrecht dem Vorbehalt nationaler Anerkennung und differierte die Rechtsgutsdefinition in den einzelnen Mitgliedstaaten. Es ist daher geboten, die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgüter und Interessen auf supranationaler Ebene zu entwickeln174. Erst dann gilt es zu überprüfen, ob sie des Schutzes durch das nationale Strafrecht bedürfen. Satzger meint daher, dass ganz generell alle personellen, sachlichen und finanziellen Mittel, die der Gemeinschaft die Erfüllung ihrer vertraglich vorgesehenen Aufgaben erst ermöglichen, als potentiell schützenswerte Rechtsgüter der Gemeinschaft von der Verpflichtung aus Art. 10 EG erfasst sein müssten. (. . .) „Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass den Mitgliedstaaten eine Schutzverpflichtung aus Art. 10 EG bezüglich all derjenigen Rechtsgüter der Gemeinschaft zukommen kann, die für deren Existenz und Funktionsfähigkeit von Bedeutung sind, sowie hinsichtlich des Interesses der Gemeinschaft an der Anwendung und Durchführung des Gemeinschaftsrechts (zum Schutz ihrer vielfältigen Politiken) in den Mitgliedstaaten.“175 173
Hinzuweisen ist noch auf völkerrechtlich begründete Sanktionierungspflichten, vgl. Gröblinghoff, S. 32 f. m. w. N.; Satzger, S. 291 f. 174 Vgl. zur Entwicklung gemeinschaftlicher Rechtsgüter Gröblinghoff, S. 39 ff., dessen Erörterung allerdings suggeriert, man schlösse von der Existenz nationaler Rechtsgüter durch einen Vergleich mit den gemeinschaftsrechtlichen Interessen auf die Existenz von Gemeinschaftsrechtsgütern. Diese bestehen aber unabhängig vom nationalen Recht. 175 Satzger, S. 348 f.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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Derartig weitreichende, unbestimmte Formulierungen sehen sich erheblicher Kritik ausgesetzt. Weigend mahnt zu skeptischer Wachsamkeit und befürchtet die Schaffung „apokrypher, ätherischer und leicht manipulierbarer Rechtsgüter“.176
Die Diskussion um die Entwicklung supranationaler Rechtsgüter und der strafrechtlichen Schutzbedürftigkeit ist insbesondere vor dem Hintergrund der ultima-ratio-Funktion des Strafrechts noch nicht abgeschlossen. Im nationalen Kontext wird auf den Umstand hingewiesen, dass der Staat durch den Erlass von Strafgesetzen in die Grundrechte anderer eingreift, so dass die Pönalisierungsverpflichtung ihre verfassungsrechtliche Grenze im Verhältnismäßigkeits-, Schuld- und Bestimmtheitsgrundsatz sowie den Grundrechten finde177. Die Gemeinschaftsrechtsordnung enthält mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und in Zukunft auch der Grundrechtscharta entsprechende Gewährleistungen, so dass auf Gemeinschaftsebene Gewährleistungen existieren, denen es obliegt, eine uferlose Instrumentalisierung des Kriminalstrafrechts zu vermeiden. Insbesondere durch die letzten beiden Quellen wird zudem eine Rückkopplung an die mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen gewährleistet. Die supranationalen Rechtsgüter und Interessen konkretisieren dann begrenzt durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze die Pflicht aus Art. 10 EG. Auf nationaler Ebene stellt sich dann die Frage nach der Umsetzung dieser primärrechtlichen Schutzverpflichtung. Existiert auf nationalstaatlicher Ebene ein vergleichbares Rechtsgut, so verlangt das Gemeinschaftsrecht auf erster Stufe Gleichbehandlung allerdings unter der Prämisse der Wirksamkeit des Schutzes. Nationale Gremien haben nun zu überprüfen, ob supranationale Rechtsgüter bereits unabhängig von Art. 10 EG durch die nationale Strafnorm erfasst sind, ob zur Umsetzung der Gesetzgeber tätig werden muss oder ob sich eine loyalitätspflichtgemäße Sanktionierung im Wege gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation erzielen lässt. Bei jener Prüfung bilden folglich die nationalen Strafnormen den Ausgangspunkt der Interpretation, so dass auch insoweit eine mittelbare Rückkopplung an die nationalen Gewährleistungen besteht. Grundsätzlich ist die Reichweite des Schutzbereichs, also auch die Frage, ob die nationalen Strafnormen gemeinschaftliche Rechtsgüter und Interessen schützen, nach deutschem Verständnis unter Heranziehung der traditionellen Auslegungsregeln im Einzelfall zu ermitteln. Allgemein lässt sich jedoch konstatieren, dass nationale Strafnormen, die nationale Methodenlehre zugrunde gelegt, 176 Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 801; kritisch auch Otto, Jura 2000, 98, 100; Tiedemann, Stree/Wessels-FS, 527, 531, 535 in Bezug auf missbrauchs- bzw. störungsanfällige Marktordnungen. 177 Vgl. Gröblinghoff, S. 32; Satzger, S. 292.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
alle Individualrechtsgüter unabhängig von der Nationalität des Trägers schützen. Ebenso genießen auch Individualrechtsgüter178, deren Inhaber die EG als supranationale Organisation ist, Schutz179. Nicht erfasst sind demgegenüber die hoheitlichen Interessen ausländischer Hoheitsträger180, es sei denn der deutsche Gesetzgeber hat die nationale Strafnormen bereits derart gestaltet, dass z. B. gemeinschaftliche Rechtsgüter und Interessen sei es durch einen eigenen Tatbestand oder durch Gleichstellung mit den nationalen Rechtsgütern bzw. Interessen ausdrücklich geschützt werden181. In diesem Falle bedarf es offensichtlich dann auch keiner gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. Nur wenn gemeinschaftsrechtliche Hoheitsinteressen also nicht ausdrücklich aufgenommen wurden, sind sie nach herkömmlicher Methodik nicht durch die nationalen Straftatbestände geschützt, so dass sich die Frage stellt, ob die gemeinschaftlichen Hoheitsinteressen im Wege einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in den Schutzbereich der nationalen Strafnorm einzubeziehen sind. Doch hat sich jede gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation in den dargestellten gemeinschaftlichen Grenzen zu halten. So muss eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung dort unterbleiben, wo der Wortlaut der Strafnorm entgegensteht182 oder eine solche Interpretation dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers zuwider liefe. Dann kann eine Umsetzung der Sanktionierungsverpflichtung einzig durch den nationalen Gesetzgeber erfolgen183. Satzger formuliert: „Sind allerdings die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung erfüllt, ist also insbesondere der Gesetzeswortlaut ‚offen‘ für eine derartige Interpretation, so muss der deutsche Strafrichter seine durch Art. 10 EG [. . .] begründete Schutzverpflichtung gegenüber der Gemein178 Als Beispiele sind zu nennen: das Hausrecht (§ 123 StGB); Willensbildung (§ 240 StGB); Eigentum (§ 242 StGB). 179 Gröblinghoff, S. 69; Tröndle, in: LK, vor § 3 Rn. 24; Möhrenschlager, in: Dannecker, Subventionsbetrug, 162, 163; Pabsch, S. 124; Hoyer, in: SK, vor § 3 Rn. 32 f.; Eser, in: S/S, Vorbem §§ 3–7 Rn. 15, 21; vgl. auch Böse, S. 434, der dies auch mit Art. 10 EG begründet. 180 Vgl. Gribbohm, in LK, vor § 3 Rn. 166 ff.; abweichend Eser, in: S/S, Vorbem §§ 3–7 Rn. 21 m. w. N. 181 Vgl. z. B. §§ 108 d, e, 264 VII 1 Nr. 2 StGB; Art. 2 § 1 EUBestG dehnt §§ 332, 334–336, 338 StGB auf Richter anderer Mitgliedstaaten, des EuGH und des EuG sowie Amtsträger anderer Mitgliedstaaten, Gemeinschaftsbeamte, Kommissions- und Rechnungshofmitglieder aus; Art. 2 § 1 II EUBestG erweitert den Anwendungsbereich des § 263 III 2 Nr. 4 StGB und des § 264 II Nr. 2, 3 StGB auf Gemeinschaftsbeamte und Kommissionsmitglieder. 182 Insbesondere besteht hier das strafrechtliche Analogieverbot. Hinzuweisen ist z. B. auf §§ 80, 80a, 81 I, 83, 90 a, 90 b, 105 I Nr. 1 und Nr. 3, 106 I Nr. 2 a) und c), vgl. bereits Gröblinghoff, S. 69 f.; Pabsch, S. 124. 183 Vgl. Gröblinghoff, S. 77 ff.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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schaft durch eine Auslegung pro communitate erfüllen, indem er neben den ohnehin nach den anerkannten Auslegungsregeln erfassten EG-Individualrechtsgütern auch die hoheitlichen Interessen der EG bei Anwendung der entsprechenden Tatbestände so weit wie möglich mit einbezieht.“184 Er bleibt dabei wiederum eine Erklärung schuldig, warum der Strafrichter von mehreren möglichen Auslegungsvarianten innerhalb der Wortlautgrenze die gemeinschaftsrechtskonforme wählen muss, vertritt er doch ein bloß persuasives Gebot. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass einzig ein imperatives, die gefundenen Grenzen wahrendes Verständnis zu überzeugenden Ergebnissen führt.
Nachfolgend sollen einige Normen des Kernstrafrechts auf die Möglichkeit untersucht werden, ihren Schutz auf entsprechende supranationale Rechtsgüter auszudehnen. Dieses Vorgehen soll aber nicht den Anschein erwecken, als würde von nationalen Rechtsgütern auf die Existenz und den Inhalt supranationaler geschlossen. Diesbezüglich gilt die oben dargestellte Vorgehensweise. Die Gemeinschaft entwickelt autonom Rechtsgüter und Interessen, die den von den mitgliedstaatlichen Organen umzusetzenden Handlungsbefehl des Art. 10 EG konkretisieren. Die angewandte Vorgehensweise soll zum einen nur beispielhaft darlegen, wie eine solche Umsetzung aussehen müsste. Zum anderen setzt die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung die Existenz eines Straftatbestandes zur Auslegung voraus. Außerdem indiziert die Existenz nationaler Rechtsgüter das Bestehen eben solcher auf Gemeinschaftsebene. Daneben sind aber auch andere gemeinschaftliche Rechtsgüter denkbar. Letztlich ist klarzustellen, dass die Ausdehnung auf supranationale Schutzgüter zwar der Beweggrund ist, es sich letztlich aber um eine bloße Modifikation des primärrechtlichen Handlungs- oder Unterlassungsbefehls handelt. Schließlich dient jede strafrechtlich bewehrte Verhaltensnorm einem Schutzgut. Will man jenes modifizieren, so modifiziert man automatisch auch den Inhalt der Primärnorm. a) Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, § 113 StGB § 113 StGB schützt die rechtmäßige betätigte Vollstreckungsgewalt des Staates und der zu ihrer Ausübung berufenen Organe185. Dabei handelt es sich um ein hoheitliches Interesse, so dass aus den entwickelten Grundsätzen des nationalen Methodenkanons zunächst die Nichterfassung ausländischer bzw. supranationaler Vollstreckungsorgane folgt. Angesichts der fehlenden ausdrücklichen Erstreckung auf die Vollstreckung durch die EG184
Satzger, S. 571 (Hervorhebung durch den Verfasser). RGSt 41, 82, 85; BGHSt 21, 334, 365; Lackner/Kühl, § 113 Rn. 1; Eser, in: S/S, § 113 Rn. 2; Tröndle/Fischer, § 113 Rn. 1. 185
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Institutionen, erscheint es fraglich, ob eine solche im Wege gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung geboten ist. Fraglich ist an dieser Stelle doch bereits, ob Art. 10 EG ein solches Vorgehen um der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft willen überhaupt gebietet. Vollstreckungshandlung i. S. d. § 113 StGB ist jede Tätigkeit der dazu berufenen Organe, die zur Regelung eines Einzelfalles auf die Vollziehung der in § 113 I StGB genannten Rechtsnormen oder Hoheitsakte gerichtet ist, also der Verwirklichung des notfalls im Zwangswege durchzusetzenden Staatswillens dient186. Wird also die Möglichkeit der Durchsetzung mit Zwangsmitteln vorausgesetzt, so erscheint fraglich, ob Gemeinschaftsbeamten eine solche Befugnis überhaupt zukommt. Insgesamt bildet der unmittelbare Vollzug durch Gemeinschaftsorgane bereits die Ausnahme. Art. 256 EG belässt die zwangsweise Durchsetzung der Zahlungstitel den mitgliedstaatlichen Behörden. Geradezu klassisches Beispiel für den gemeinschaftsunmittelbaren, d.h. den Vollzug durch Gemeinschaftsinstitutionen ist das Wettbewerbsrecht, Art. 81 ff. EG187 sowie vereinzelt das Agrarrecht Art. 32 ff. EG. Finden sich dort zwar vereinzelt Prüfungsrechte sowie Rechte, Bußgelder zu verhängen, so obliegt die Zwangsvollstreckung dennoch weiterhin den mitgliedstaatlichen Behörden, die entweder durch spezielle Regelungen188 oder allgemein aus Art. 10 EG verpflichtet sind, die EG-Institutionen zu unterstützen. Steht damit fest, dass den Gemeinschaftsbehörden nicht die Möglichkeit zusteht, Zwang auszuüben, dafür vielmehr die nationalen Behörden herangezogen werden, die folglich ausschließlich mit Widerstand im Sinne des § 113 StGB konfrontiert werden, so fordert hier bereits Art. 10 EG nicht die Erweiterung des Schutzbereich mangels eines entsprechenden supranationalen Schutzguts. Auf den im Übrigen problematischen Wortlaut des „Amtsträgers“ kommt es an dieser Stelle nicht an. § 113 StGB schützt auch unter Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts nur inländische Vollstreckungsbeamte189. b) Amtsanmaßung, § 132 StGB Die Vorschrift dient dem Schutz der Autorität des Staates und seiner Behörden, indem sie die unbefugte Ausübung eines öffentlichen Amtes oder 186 BGHSt 25, 313, 314; NJW 1982, 2081; v. Bubnoff, in: LK, § 113 Rn. 11 f.; Tröndle/Fischer, § 113 Rn. 9 f. 187 Zu beachten ist auch die sog. KartellVO, Nr. 17 v. 6.2.1962, ABlEG 1962, S. 204. 188 Vgl. z. B. Art. 14 VI VO Nr. 17. 189 Umfassend bereits Dieblich, S. 157 ff., 165 m. w. N.
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die Vornahme einer Handlung verbietet, welche nur kraft öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf190. Geschützt werden also hoheitliche Interessen, deren strafrechtlicher Schutz im Ausgangspunkt auf die nationalen Interessen beschränkt sind, so dass ein „öffentliches Amt“ nur ein inländisches sein könnte. Eine ausdrückliche gesetzgeberische Einbeziehung ausländischer öffentlicher Ämter ist nicht ersichtlich. In Betracht kommt daher eine Ausdehnung des Schutzbereichs auf den Schutz der Autorität der Gemeinschaft und seiner Behörden im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation. Dann müsste zunächst der Wortlaut als Grenze der Pflicht aus Art. 10 EG einer solchen Auslegung zugänglich sein. § 132 StGB verlangt ein öffentliches Amt. Öffentlich ist ein Amt dessen Träger Organ der Staatsgewalt ist191. Könnte man aus dieser Definition einen engen Begriff der „Staatsgewalt“ i. S. inländischer Hoheitsgewalt folgern, weil auch nach hier vertretener Ansicht die Gemeinschaft eben nicht „Staat“ ist, so erscheint jene Auslegung durch den Wortlaut aber nicht zwingend vorgegeben. Entscheidend ist vielmehr die Eingliederung in ein hoheitliches System dessen Ansehen schützenswert erscheint. Als ein solches kann aber aufgrund seiner hoheitlichen Befugnisse auch die supranationale Organisation der Europäischen Gemeinschaft angesehen werden. Nichts anderes ergibt ferner die Legaldefinition des § 11 I Nr. 2 StGB, welche den Begriff des Amtsträgers auf solche „nach deutschem Recht“ beschränkt. Wird der Begriff des „öffentlichen Amtes“ nicht legaldefiniert, so steht jedenfalls der Wortlaut einer Ausdehnung des Schutzbereichs auf öffentliche Ämter der Gemeinschaft nicht entgegen. Ein Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers als weitere Grenze der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation kann ebenso nicht festgestellt werden. Die Effektivität und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft und damit Art. 10 EG verlangen einen Schutz gemeinschaftlicher Ämter, soll ein Vertrauensverlust des Bürgers in die hoheitliche Tätigkeit der Gemeinschaft und damit Störungen hinsichtlich der Beachtung gemeinschaftlicher Maßnahmen vermieden werden. Erforderlich ist daher eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation des Begriffs des „öffentlichen Amtes“, in dem Sinne, dass auch die unbefugte Ausübung gemeinschaftlicher Ämter sowie die unbefugte Vornahme einer Handlung, welche nur kraft eines gemeinschaftlichen Amtes vorgenommen werden darf, verboten und wie die Anmaßung deutscher Ämter zu bestrafen sind192. Dieser Interpretation ist auf190
BGHSt 3, 241, 244; 12, 30, 31; 40, 8, 12 ff.; Lackner/Kühl, § 132 Rn. 1; v. Bubnoff, in: LK, § 132 Rn. 4 f.; Sternberg-Lieben, in: S/S, § 132 Rn. 1; Rudolphi, in: SK, § 132 Rn. 1; Tröndle/Fischer, § 132 Rn. 1. 191 RGSt 10, 199; 58, 175; Tröndle/Fischer, § 132 Rn. 2. 192 Wie hier Gröblinghoff, S. 71; Satzger, S. 572; vgl. auch Rudolphi, in: SK, § 132 Rn. 6; a.A. v. Bubnoff, in: LK, § 132 Rn. 10.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
grund des imperativen Gebots der zwingende Vorzug vor anderen möglichen Wortlautbedeutungen einzuräumen. c) Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen, § 132 a StGB Geschützt wird die Allgemeinheit vor unlauterer Titelführung193, wobei der Wortlaut hier eindeutig einer Interpretation pro communitate zugänglich ist, indem ausländische Amts- und Dienstbetzeichnungen ausdrücklich einbezogen sind194. Insbesondere schließt der Wortlaut „ausländisch“ keine supranationalen Titel aus. d) Verwahrungsbruch, § 133 I 1. Alt. StGB § 133 StGB schützt die staatliche Gewalt über Sachen in dienstlichem Verwahrungsbesitz und das Vertrauen in deren sichere Aufbewahrung195. Auch hier werden folglich Hoheitsinteressen geschützt, die den traditionellen Auslegungsmethoden folgend auf nationale Interessen zu beschränken sind. Eine ausdrückliche Ausdehnung des Schutzes auf supranationale Hoheitsinteressen ist nicht ersichtlich. Der Wortlaut verlangt eine „dienstliche Verwahrung“, die voraussetzt, dass fürsorgliche Hoheitsgewalt den Gegenstand in Verwahrung genommen hat, um ihn für bestimmte, über das bloße Funktionsinteresse der Behörde hinausgehende Zwecke zu erhalten und vor unbefugtem Zugriff zu bewahren196. Auch der Gemeinschaft kommt im Rahmen ihrer Verwaltungstätigkeit die Kompetenz zu, z. B. über Schriftstücke oder Urkunden in kartell- oder subventionsrechtlichen Genehmigungsverfahren fürsorgliche Hoheitsgewalt auszuüben. Ihr Interesse an der Aufrechterhaltung des Vertrauens in diese Fürsorge ist grundlegend für die Funktionsfähigkeit derartiger Verfahren, aber auch i.Ü. und damit für die Gemeinschaft. Weder der Wortlaut noch der gesetzgeberische Wille stehen einem gemeinschaftsrechtskonformen Verständnis des § 133 I 1. Alt. StGB entgegen. Im Ergebnis ist daher die gemeinschaftliche Verwahrung der deutschen entsprechend zu schützen und § 133 I 1. Alt. StGB gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren197. 193 BGH 31, 62; NJW 94, 808; NStZ-RR 97, 470; v. Bubnoff, in: LK, § 132 Rn. 2; Sternberg-Lieben, in: S/S, § 132 Rn. 3; Tröndle/Fischer, § 132a Rn. 3. 194 Gröblinghoff, S. 71; Pabsch, S. 143. 195 BGHSt 5, 155, 159; 38, 381, 385; Tröndle/Fischer, § 133 Rn. 1. 196 BGHSt 18, 312.
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e) Siegelbruch, § 136 II StGB Die Vorschrift schützt die durch Siegelung begründete Herrschaftsgewalt über Sachen gegen unbefugte Eingriffe198. Bezweckt die Norm folglich den Schutz von Hoheitsinteressen, so geht die h. M. auf der Grundlage der dargelegten Maximen und mangels ausdrücklicher Einbeziehung supranationaler Interessen zunächst nur vom Schutz inländischer Herrschaftsgewalt aus. Doch steht auch hier der Wortlaut der Einbeziehung ausländischer bzw. gemeinschaftlicher Siegel nicht entgegen. Da eine solche Auslegung auch nicht dem Willen des Gesetzgebers widerspricht, und der Schutz ausländischer Siegel für das Funktionieren der Zollunion und der Gewährleistung der ungehinderten Ein- und Ausfuhr unabdingbar ist199, können gemeinschaftliche Siegel im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in den strafrechtlichen Schutz des § 136 II StGB einbezogen werden200. f) Aussagedelikte, §§ 153 ff. StGB Rechtsgut der §§ 153 ff. StGB ist die staatliche Rechtspflege201. Geht es folglich um hoheitliche Interessen wird die ausländische Rechtspflege zunächst überwiegend als nicht geschützt angesehen202. Doch stellt sich bzgl. des EuGH bzw. des EuG die Frage, welche Auswirkungen die primärrechtliche Verweisungsnorm des Art. 27 der Satzung des EuGH203 entfaltet. Danach behandelt jeder Mitgliedstaat die Eidesverletzung eines Zeugen oder Sachverständigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat. Nach herkömmlicher Ansicht ist diese Vorschrift unmittelbar anwendbar und schafft supranationales Strafrecht204. Es wurde aber bei Behandlung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts dargelegt, dass diese Verweisung die 197
Wie hier Gröblinghoff, S. 42, 71; Satzger, S. 573. BGHSt 5, 155, 157; Lackner/Kühl, § 136 Rn. 1; Rudolphi, in: SK, § 136 Rn. 1; Tröndle/Fischer, § 132 Rn. 1. 199 Darauf weist auch Satzger hin, S. 575; vgl. zudem Gröblinghoff, S. 71; Krehl, NJW 1992, 604, 605 f. 200 Vgl. auch BGH, NStZ 1996, 229, der allerdings verfehlt mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts begründet. 201 BGHSt-GrS 8, 301, 309; Lackner/Kühl, vor § 153 Rn. 1; Ruß, in: LK, vor § 153 Rn. 2 ff.; Tröndle/Fischer, vor § 153 Rn. 1. 202 Lackner/Kühl, vor § 153 Rn. 2; Gribbohm, in: LK, vor § 3 Rn. 28 ff.; Ruß, in: LK, § 153 Rn. 7; Lüttger, Jescheck-FS, 121, 159; Pabsch, S. 155 f.; Eser, in: S/S, Vorbem §§ 3–7 Rn. 22; Samson, in: SK, Vor § 153 Rn. 4; Tröndle/Fischer, § 153 Rn. 2; anders noch RGSt 3, 70, 72; Jescheck, Rittler-FS, 275, 285. 203 Für die EG; vgl. gleichlautend Art. 28 Satzung EuGH (EAG). 198
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Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Primärrecht nicht erfüllt. Sie stellt daher lediglich eine die Pflicht aus Art. 10 EG konkretisierende Anweisung an die nationalen Stellen dar, ihre nationalen Strafnormen entsprechend auszugestalten205. Mangels einer Gleichstellung durch den deutschen Gesetzgeber ist eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in Erwägung zu ziehen. Im Ausgangspunkt fordern §§ 153 ff. StGB ein „Gericht“ oder eine andere „zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständige Stelle“. Ist der Begriff des Gerichts zwar zunächst offen und ließe sich auch ein ausländisches bzw. supranationales Gericht unter diese Begrifflichkeit subsumieren, so könnte sich eine Einschränkung aus dem Umstand ergeben, dass diese mit Richtern besetzt sind. § 11 I Nr. 3 StGB definiert einen Richter aber als denjenigen, der nach deutschem Recht Berufsrichter oder ehrenamtlicher Richter ist. Satzger meint nunmehr, entscheidend müsse der Oberbegriff der zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle sein, so dass eine Interpretation pro communitate aufgrund der Zuständigkeit des EuGH und des EuG zur eidlichen Vernehmung aus Art. 25 EuGH-Satzung206 möglich sei207.
Überzeugen vermag dieses Argument indes nur begrenzt. Richtig ist zwar, dass das Gericht nur ein speziell benannter Sonderfall des Oberbegriffs ist. Doch dient die spezielle Nennung regelmäßig auch dazu, dem Oberbegriff Konturen zu verleihen. Insofern erscheint es wenig sinnvoll, nur nationale Gerichte unter den Gerichtsbegriff zu subsumieren, den europäischen Gerichtshof hingegen unter den Oberbegriff und ihn deshalb nicht als „Gericht“ i. S. d. §§ 153 ff. StGB einzuordnen. Entscheidend ist vielmehr, dass es trotz einer Richterdefinition an einer legalen Bestimmung des Gerichtsbegriffs fehlt208. Der Wortlaut steht einer Erfassung der Gemeinschaftsgerichte nicht entgegen. Da eine gemeinschaftskonforme Interpretation auch nicht den gesetzgeberischen Willen verkehrt, sind die §§ 153 ff. StGB pro communitate zu interpretieren. 204
Böse, S. 108; Gröblinghoff, S. 52; Lüttger, Jescheck-FS, 121, 167; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 69 ff.; Pabsch, S. 155 f.; Pache, S. 232 f.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25. 205 Wie hier nur Satzger, S. 206. 206 Für die EG, für das EuG i. V. m. Art. 46 EuGH-Satzung; vgl. auch Art. 26 EuGH-Satzung (EAG), für das EuG i. V. m. Art. 47 EuGH-Satzung (EAG); während Art. 28 II 2 (EGKS), für das EuG i. V. m. Art. 46 EuGH-Satzung (EGKS) durch Zeitablauf des Vertrages nicht mehr gilt, vgl. Art. 97 EGKS. 207 Satzger, S. 577. 208 Vgl. die vergleichbare Situation beim Verhältnis Amtsträger/öffentliches Amt. Dort argumentiert auch Satzger entsprechend, vgl. Satzger, S. 572.
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Problematisch erscheint indes die beschränkte Reichweite der Satzungsvorgaben, welche z. B. in Art. 27 EuGH-Satzung (EG) nur eine Assimilierung der Strafbarkeit wegen „Eidesverletzungen“ verlangen, so dass die uneidliche Falschaussage des § 153 StGB von der Assimilierungsverpflichtung nicht erfasst wäre. Nun könnte man einerseits vertreten, es handele sich bei dieser speziellen Assimilierungsverpflichtung, lediglich um eine Konkretisierung der Pflicht aus Art. 10 EG, so dass außerhalb jener speziellen und lediglich klarstellenden Verpflichtung die allgemeine Loyalitätspflicht um der Funktionsfähigkeit der europäischen Gerichtsbarkeit willen auflebt und eine Einbeziehung der Gemeinschaftsgerichte in den § 153 StGB bewirkt209. Andererseits könnte man meinen, durch die ausdrückliche Beschränkung auf Eidesverletzungen schränke die Verpflichtung gerade die allgemeine Obligation aus Art. 10 EG ein. Andere Aussagedelikte als Eidesverletzungen wären dann nicht zwingend so zu behandeln wie im nationalen Strafrecht210. Eine derart beschränkte Assimilierungsverpflichtung überzeugt indes nicht. Sie ließe sich nur vertreten, wenn die Loyalitätspflichten aus Art. 10 EG zur Zeit der Satzungsgebung hinreichend klar entwickelt waren. Dies ist indes nicht der Fall. Zu jener Zeit interpretierte man Art. 10 EG als bloße Zusammenfassung und Bekräftigung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten sowie Auslegungsregel für andere vertragliche Bestimmungen, unfähig, selbst rechtliche Verpflichtungen zu begründen211. Dieses Verständnis ist durch die Rechtsentwicklung indes überholt, so dass in Abwesenheit einer solchen Spezialregel keine Probleme bestünden, dem Art. 10 EG die Pflicht zu entnehmen, auch die uneidliche Falschaussage vor dem EuGH bzw. dem EuG den nationalen Regelungen entsprechend zu behandeln. Wollte die Satzung damals vielmehr den Schutz der europäischen Rechtspflege stärken, so erscheint es nicht vertretbar, daraus jetzt eine Verkürzung der allgemeinen Assimilierungsverpflichtung abzuleiten212. Im Ergebnis kann daher auch eine genaue Bestimmung der Reichweite der Satzungsverpflichtungen dahinstehen, da angesichts der immensen Bedeutung einer funktionierenden Gerichtsbarkeit für die Gemeinschaft jedenfalls die allgemeine Pflicht aus Art. 10 EG zur Behandlung von Aussagedelikten entsprechend den nationalen Vorschriften zwingt.
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Gröblinghoff, S. 71, Satzger, S. 578. Für einen solchen Umkehrschluss Lüttger, Jescheck-FS, 121, 167. 211 So noch GA Roemer, in: EuGH, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, 27 „Walt Wilhelm“; ders., in: EuGH, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825, 855 „Grad“. 212 So auch Satzger, S. 578 f. 210
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
g) Geheimnisschutz – Interpretation im Lichte des Art. 194 I UA 2 EAG Art. 194 I EAGV verpflichtet die Mitgliedstaaten die Einhaltung der Geheimhaltungspflichten gegenüber der EAG sicherzustellen. Auch hinsichtlich dieser primärrechtlichen Verweisungsnorm konnte bei der Behandlung des Anwendungsvorrangs belegt werden, dass dieser Norm nicht die Fähigkeit zu unmittelbarer Anwendung in den Mitgliedstaaten zukommt213. Sie ist daher auch nicht in der Lage, wie überwiegend mangels genauer Prüfung der Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit vertreten, die nationale Strafnorm zu modifizieren und einen supranationalen Gesamttatbestand zu schaffen. Vielmehr ist diesbezüglich die Möglichkeit der Umsetzung jener, den Art. 10 EG konkretisierenden Vorgaben im Wege gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung zu eruieren. § 353 b I 1 Nr. 1, S. 2 StGB und § 203 II StGB knüpfen an die Amtsträgereigenschaft des Geheimnisträgers an. § 11 I Nr. 2 StGB erfordert diesbezüglich aber eine Bestellung nach deutschem Recht, so dass einer Ausdehnung auf die Beamten und Bediensteten der Gemeinschaft im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation der eindeutige Wortlaut entgegensteht214. §§ 94 ff. StGB knüpfen ihre Strafbarkeit an das Vorliegen eines Staatsgeheimnisses, welches in § 93 StGB legaldefiniert ist als „Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheimgehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden.“ Satzger vertritt: „Diese nationale Begrenzung des Staatsgeheimnisbegriffs zeigt, dass ein Geheimnis der EG grundsätzlich nicht erfasst sein kann. Nur dann, wenn dieses gleichzeitig ein deutsches Staatsgeheimnis darstellt, greifen die §§ 94 ff. StGB ein.“215 „Da diese primärrechtliche Vorschrift richtiger Ansicht nach kein supranationales Strafrecht schafft, sondern nur eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten aufstellt, eine Verfolgbarkeit zu gewährleisten, liegt hier ein Verstoß der Bundesrepublik gegen den EAGV vor.“216
Dieser Argumentation ist nicht zu folgen. Vorausgesetzt ist das Vorliegen eines „Staatsgeheimnisses“. Dieser Wortlaut begrenzt den Anwendungs213 A. A. Dieblich, S. 225; Gröblinghoff, S. 53; Jescheck, Maurach-FS, 579, 592 f.; Johannes, EuR 3 (1968), 63, 81 ff.; Möhrenschlager, in: Dannecker, Subventionsbetrug, 162, 165; Pache, S. 234; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25. 214 Eine ausdrückliche gesetzlichen Gleichstellung enthält das SAEG-Übermittlungsschutzgesetz, BGBl. 1993 I, S. 336. 215 Satzger, S. 570; so bereits Gröblinghoff, S. 70. 216 Satzger, S. 571 (Fn. 2411).
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bereich der Vorschrift, jedenfalls noch nicht auf Staaten im völkerrechtlichen Sinne. Vielmehr wäre noch eine funktionale Betrachtung denkbar, die allein die Existenz hoheitlicher Geheimhaltungsinteressen verlangt, ohne dass es auf die formale Staatsqualität ankäme. Demnach wären EAGGeheimnisse zunächst zu erfassen. Weisen die Autoren auf die Begrenzung hin, es müsse im Falle der Offenbarung ein Nachteil für die für die äußere Sicherheit der BRD drohen, so stellt dies zum einen ein systematisches Argument dar, welches also keine zwingende Interpretationsschranke enthält. Zum anderen ist der Schluss, es müsse sich deshalb um Staatsgeheimnisse der BRD handeln, nicht zwingend. So wird auch von jenen Interpreten eingeräumt, die Art. 94 ff. StGB griffen dann ein, wenn dieses gleichzeitig ein deutsches Staatsgeheimnis darstellt.217
Diese Einschränkung erhellt dann aber, dass EAG-Geheimnisse durchaus zu erfassen sind. Sie sind jedoch nur strafbar, wenn im Falle ihrer Offenbarung beschriebene Nachteile für die BRD drohen. Für eine Vielzahl der übermittelten Geheimnisse wird sich eine solche Gefährdung der äußeren Sicherheit der BRD begründen lassen. Im Übrigen genügt die Einhaltung der konkretisierten Gleichstellungsvorgabe dem Vorbehalt wirksamer Sanktionierung nicht, weil nur ein Teil der EAG-Geheimnisse erfasst wird. Scheidet eine gemeinschaftsrechtskonforme Analogie aus, weil sie zu Lasten der Täter wirkte, vermögen die deutschen Organe diesen Verstoß gegen Art. 194 I UA 2 EAG allein im Wege der Gesetzgebung zu beheben218. h) Urkundsdelikte, §§ 267 ff., 348 StGB Fraglich könnte zunächst sein, ob die Urkunden, die von EG-Institutionen ausgestellt wurden, dem Schutz des § 267 StGB unterfallen. Urkunden sind allerdings, gleich, ob ein Sachverhalt mit oder ohne EG-Bezug vorliegt, verkörperte Gedankenerklärungen, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt sind sowie einen Aussteller erkennen lassen219. Sind diese Erfordernisse erfüllt, so liegt eine Urkunde vor, ohne dass es noch auf die Nationalität des Ausstellers ankäme. Geschütztes Rechtsgut ist einzig die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs220. Die Urkunde bildet 217
Gröblinghoff, S. 70; Satzger, S. 570. Gröblinghoff, S. 74 ff. setzt sich zum einen mit dem Weg über eine Gleichstellungsklausel im Allgemeinen Teil oder über einzelne spezielle Gleichstellungsklauseln auseinander. 219 BGH 3, 85; 4, 284; 13, 235; 18, 66; Lackner/Kühl, § 267 Rn. 2; Cramer, in: S/S, § 267 Rn. 2; Tröndle/Fischer, § 267 Rn. 2. 220 BGH 2, 52; 9, 45; Cramer, in: S/S, § 267 Rn. 1; Tröndle/Fischer, § 267 Rn. 1. 218
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
nur das Angriffsobjekt221. Mithin sind auch „gemeinschaftliche“ Urkunden vom Strafschutz des § 267 StGB erfasst. Daneben stellt sich die Frage, ob die Vorlage unechter oder verfälschter Urkunden bei EG-Institutionen ein Gebrauchmachen i. S. d. § 267 StGB darstellt. § 267 StGB schützt allgemein das Interesse der Teilnehmer an der Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mithin keine hoheitliche Interessen, so dass bereits nach überkommener Methodik kein Grund besteht, die Vorlage bei EG-Institutionen vom Schutzbereich auszunehmen. § 267 StGB ist daher in vollem Umfang auf die dargestellten Sachverhalte mit EG-Bezug anwendbar, ohne dass es dazu einer gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation bedürfte222. Gleiches gilt für die §§ 268, 269 und § 274 StGB. Umstritten ist indes, ob auch ausländische bzw. supranationale Urkunden bereits nach herkömmlicher Methodik den Schutz des § 271 StGB genießen223. Der Tatbestand erfasst nur öffentliche Urkunden. Gem. § 415 I ZPO sind öffentliche Urkunden solche, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person innerhalb des ihr zugewiesenen Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen sind. Bereits aus § 438 I ZPO folgt, dass auch durch ausländische Behörden oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person des Auslandes errichtete Urkunden, öffentliche Urkunden darstellen können. Dennoch ist umstritten, ob auch der strafrechtliche Schutz ausländische Urkunden bereits nach rein nationaler Methodik erfasst. Dies könnte problemlos bejaht werden, wenn Schutzgut auch hier bloß die Sicherheit des Rechtsverkehrs wäre224. Nun bestimmt § 417 ZPO aber, dass derartigen Urkunden eine gesteigerte Beweiskraft zukommt, welche über die Autorität ihres Ausstellers hinausgeht und die inhaltliche Richtigkeit garantiert. Aus diesem Umstand wird z. T. gefolgert, der Schutzzweck des § 271 StGB gehe über den bloßen Schutz des Rechtsverkehrs hinaus, und das Vertrauen in die inhaltliche Richtigkeit hänge maßgeblich von der Identität und Glaubwürdigkeit des Ausstellers ab, so dass letztlich auch dessen staatliche Autorität geschützt sei. Im Falle ausländischer Urkunden handele es sich um ein ausländisches hoheitliches Interesse, welches nach herkömmlicher Methodik mangels ausdrücklicher Einbeziehung nicht vom Schutz des § 271 StGB erfasst sei225. 221
So auch Satzger, S. 579. BayOLG, NJW 1980, 1057, 1058; Böse, S. 435; Heise, S. 199; Tröndle, in: LK, vor § 3 Rn. 34; Satzger, S. 579. 223 Zum Streitstand vgl. Böse, S. 434 f.; Heise, S. 199. 224 Gröblinghoff, S. 72; Reschke, S. 204; Schroeder, NJW 1990, 1406. 222
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Kommt den gemeinschaftlichen öffentlichen Urkunden hinsichtlich des Vertrauens in ihre inhaltliche Richtigkeit im Rahmen der gemeinschaftlichen Verwaltung und Durchsetzung des EG-Rechts aber immense Bedeutung zu, die sich von der innerstaatlichen nicht unterscheidet226, so könnte Art. 10 EG eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation fordern. Voraussetzung ist aber die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Grenzen. Gegen die Einbeziehung ausländischer öffentlicher Urkunden wird regelmäßig argumentiert, § 271 StGB diene der Schließung einer Strafbarkeitslücke, die im Falle seiner Abwesenheit dadurch entstünde, dass Täter, also auch mittelbarer Täter, des § 348 StGB nur Amtsträger sein könnten, so dass im Falle einer Begehung durch einen Dritten, dem jene Eigenschaft fehlt, eine Bestrafung nicht möglich wäre. Dieser Funktion entsprechend müssten sich auch die Anwendungsbereiche decken. § 348 StGB erfasse aber nur Amtsträger nach deutschem Recht, so dass auch im § 271 StGB nur deutsche öffentliche Urkunden gemeint sein könnten227. Zutreffend weist aber bereits Satzger darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eine Einschränkung des Wortlauts handelt. Dieser ist vielmehr offen gehalten228, was durch den Bezug in § 438 ZPO seine Bestätigung erfährt. Wird dieses Argument aber als rein systematisch eingeordnet229, so überzeugt dies nicht vollends. Vielmehr ist dieses Argument auch historischer und teleologischer Natur, was den Blick auf die zweite gemeinschaftliche Grenze der Pflicht zur gemeinschaftskonformen Auslegung lenkt. Danach darf der gesetzgeberische Wille nicht in sein Gegenteil verkehrt werden. Dies ist jedoch auch nicht der Fall, sollte auch eine Gesetzeslücke geschlossen werden, so ist diese Funktion weiterhin gewahrt. Ein Wille ausländische bzw. supranationale Urkunden, dem Schutz des § 271 StGB nicht zu unterwerfen, ist nicht feststellbar230. Art. 10 EG bewirkt mithin, dass von mehreren möglichen Wortbedeutungen, derjenigen der Vorzug zu geben ist, die „gemeinschaftliche Urkunden“, seien sie durch Gemeinschaftsinstitutionen oder von ausländischen Behörden im Rahmen eines gemeinschaftlichen Verfahrens231 erstellt, in den Schutzbereich des § 271 StGB einbezieht232. 225 Tröndle, in: LK, vor § 3 Rn. 34; Satzger, S. 580; Wiedenbrüg, NJW 1973, 301, 303. 226 Gröblinghoff, S. 42; Pabsch, S. 95; Satzger, S. 581. 227 Tröndle, in: LK, vor § 3 Rn. 34; Wiedenbrück, NJW 1973, 301, 304. 228 Gröblinghoff, S. 72; Heise, S. 200. 229 Gröblinghoff, S. 72; Satzger, S. 581. 230 Ähnlich Heise, S. 202. 231 Dabei wird auf die praktische Bedeutung beim gemeinschaftlichen Versandverfahren im Rahmen des Gemeinsamen Zolltarifs hingewiesen, vgl. Gröblinghoff, S. 72; Rieger, in: Dannecker, Subventionsbetrug, 52, 54, 58; Rump, in: Dannecker, Subventionsbetrug, 35, 41.
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§ 348 StGB ist dagegen angesichts der Beschränkung per Legaldefinition auf Amtsträger nach deutschem Recht aufgrund dieses Wortlauts keiner gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation zugänglich233. 2. Begriffliche Akzessorietät Das Strafrecht verhält sich grundsätzlich zu einer außerstrafrechtlichen Primärrechtsordnung akzessorisch, trifft lediglich eine Auswahl aus den primärrechtlichen Ge- oder Verboten und stellt diese unter Strafe. Damit ist ein weitgehender Gleichlauf gewährleistet und wird eine Normspaltung weitgehend vermieden. Dennoch gilt angesichts der besonderen verfassungsrechtlichen Garantien im Strafrecht, dass strafrechtliche Begriffe autonom zu bestimmen sind. Andererseits nimmt das Strafrecht z. T. ausdrücklich auf außerstrafrechtliche Begriffe Bezug. So verweist § 330 d Nr. 3 StGB hinsichtlich des Begriffsinhalts des „gefährlichen Guts“ auf die jeweiligen Gesetze oder Rechtsverordnungen. Verweist das nationale Strafrecht hinsichtlich einer Begriffsbestimmung ausdrücklich auf Begriffe im Gemeinschaftsrecht, so verhält sich das nationale Strafrecht zumindest im Ausgangspunkt begriffsakzessorisch. Dennoch besteht eine nationale Primärnorm. Zur Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben ist deren gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung zu erwägen. Wie bei jeder gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation ist auch hier zunächst die gemeinschaftsrechtliche Vorgabe zu ermitteln, bevor auf die Möglichkeit der Umsetzung in nationales Recht durch Interpretation eingegangen werden kann. Bei jener Interpretation des Gemeinschaftsbegriffs sind allein die gemeinschaftlichen Auslegungsmethoden unter Berücksichtigung sämtlicher Vertragssprachen maßgebend. Bei der Umsetzung im Wege gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung sind dann die gemeinschaftlichen, durch den nationalen Rechtsanwender zu konkretisierenden Grenzen einzuhalten. So darf nach deutschem Verständnis der Wortsinn als konkretisierte Grenze der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung infolge des strafrechtlichen Analogieverbots nicht überschritten und der Wille des Gesetzgebers nicht verkehrt werden. Ergibt sich aber ein gegenüber der rein nationalen Lesart erweitertes gemeinschaftsrechtliches Begriffsverständnis, kommt es zur Normspaltung, in dem Sinne, dass zwar die außerstrafrecht232 So auch Böse, S. 434 f.; Heise, S. 201 und Satzger, S. 582 weisen noch darauf hin, dass sich aus den unterschiedlichen Beweisregeln der ZPO kein Unterschied hinsichtlich der gesteigerten Beweiskraft in Bezug auf die inhaltliche Wahrheit, sondern nur bzgl. der Authentizität der Urkunde ergibt. 233 Böse, S. 435; Gröblinghoff, S. 72; Möhrenschlager, in: Dannecker, Subventionsbetrug, 162, 164; Satzger, S. 582; Cramer, in: S/S, § 271 Rn. 1.
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liche Primärnorm durch Bildung einer Analogie einer solchen Auslegung über den Wortsinn zugänglich ist, nicht aber das Strafrecht, Art. 103 II GG. Fehlt eine solche ausdrückliche Anordnung, kann das „natürliche Begriffsverständnis“ für eine Akzessorietät sprechen, insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber außerstrafrechtliche Begriffe übernommen hat und anderweitige Anhaltspunkte dafür fehlen, dass diesen eine abweichende Bedeutung zukommen soll234. Insbesondere wenn der Straftatbestand die Sanktionierungspflicht aus Art. 10 EG umsetzt, kann der nationale Rechtsanwender, um jener Pflicht zu genügen, gezwungen sein, dem nationalen Tatbestandsmerkmal den gleichen Inhalt wie auf Gemeinschaftsebene beizumessen. Als Beispiel für eine derartige Akzessorietät zur europarechtlichen Begrifflichkeit wird der Verbringungstatbestand des § 326 II StGB genannt, der der Umsetzung der Sanktionierungsverpflichtung des Art. 26 V EGAbfVerbrVO235 diene, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, illegale Abfallbeförderungen durch geeignete rechtliche Maßnahmen zu verbieten und zu ahnden. Die Anweisung ist eine Konkretisierung der Pflicht aus Art. 10 EG236. Die Genehmigungserfordernisse und Verbote i. S. d. § 326 II sind primär in der o. g. EGAbfVerbrVO normiert, die damit den Blankettstraftatbestand237 des § 326 II StGB ausfüllt. Damit stellt sich § 326 II StGB als Umsetzung jener Sanktionierungsverpflichtung dar. Es wird daher vertreten, zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der Verordnungsvorgaben sei eine parallele Erfassung der Tatobjekte erforderlich. Aufgrund der daraus folgenden begrifflichen Akzessorietät zum Europarecht sei der weite europarechtliche Abfallbegriff dem Verbringungstatbestand zugrunde zu legen238. Abfälle sind dann neben den sog. Beseitigungsabfällen auch solche Stoffe, die wertvoll sein und der Wiederverwertung zugeführt werden können239. 234
Rogall, GA 1995, 299, 302. VO 259/93/EWG v. 1.2.1993 zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der Europäischen Gemeinschaft, ABlEG 1993, Nr. L 30, S. 1 geändert durch ABlEG 1994, Nr. L 288, S. 36 und ABlEG 1995, Nr. L 18, S. 38. 236 Zur Zulässigkeit derartiger Anweisungen, sofern sie sich im Rahmen des Art. 10 EG halten, s. o. 1. Teil C. II. 2. Sie sind aufgrund der Gültigkeit primärrechtswidrigen Sekundärrechts aber ohnehin zu beachten. 237 Riettiens, S. 97; zu Strafblanketten allgemein noch unten 2. Teil B. I. 4. 238 Breuer, Der Im- und Export von Abfällen, S. 102; Satzger, S. 600 ff.; vgl. auch BT-Dr. 12/7300, S. 23, wo ausdrücklich auf den Abfallbegriff der EGAbfVerbrVO verwiesen wird. 239 Zum gemeinschaftsrechtlichen Abfallbegriff bereits EuGH, verb. Rs. C-206 u. 207/88, Slg. 1990, 1461 „Vessoso und Zanetti“; bestätigt in verb. Rs. C-304/94, C-330/94, C-342/94 u. C-224/95, Slg. 1997 I-3561 Rn. 47 „Tombesi u. a.“. 235
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Jegliche gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation im Strafrecht hat besonderes Augenmerk auf das strafrechtliche Analogieverbot und damit die Wortlautgrenze zu legen. Der mögliche Sinn des Wortes „Abfall“ wird zwar durch das weite gemeinschaftsrechtliche Begriffsverständnis nicht verletzt, ist es doch dem bekannten Abfallbegriff nicht wesensfremd, auch zur Wiederverwendung geeignete und vorgesehene Stoffe als Abfall anzusehen, wenn der Besitzer sich ihrer entledigen will240. Andererseits verweist § 326 II StGB auf „Abfälle im Sinne des Absatzes 1“, woraus man folgern könnte, damit sei der interpretatorische Gleichklang der Begrifflichkeiten angeordnet worden und zwar nach Maßgabe des Absatz 1. Der offene Wortlaut würde folglich eingeschränkt werden. Die zuvor für den Absatz 2 entwickelte terminologische Akzessorietät existiert hinsichtlich des Abfallbegriffs des Absatzes 1 aber nicht. Dieser wurde bereits vor der Schaffung des Verbringungstatbestands, zwar nicht verwaltungsrechtsakzessorisch, so doch in enger Anlehnung an das nationale Abfallrecht interpretiert241. Damit widerspräche jegliche unabhängige Interpretation des Absatzes 2, die vom Begriff des Absatzes 1 abwiche, dem ausdrücklichen Wortlaut und wäre, sofern sie zum Nachteil des Angeklagten wirkte, verboten. Gegen eine solche Abhängigkeit der Begrifflichkeiten wird angeführt, der Verweis sei bloß wenig glücklich gewählt und beziehe sich lediglich auf die beschränkenden Gefährlichkeitskriterien242. Diese Reduzierung des Verweises überzeugt nicht, kommt sie doch im Wortlaut nicht zum Ausdruck. Dem Tatbestand soll eindeutig ein einheitlicher Abfallbegriff zugrunde liegen, bestimmt durch Absatz 1. Gerade um dem Inhalt und den Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation Konturen zu verleihen, sollten die entwickelten dogmatischen Strukturen sauber angewendet werden. Eine von Absatz 1 geschiedene Interpretation, welche weiter greift, als der durch Absatz 1 bestimmte Begriff wäre damit verbotene Analogie und muss unterbleiben. Ob indes eine methodisch andere Interpretation überhaupt zu divergierenden Ergebnissen führen könnte, erscheint fragwürdig, wenn man betrachtet, dass der strafrechtliche Abfallbegriff des § 326 I StGB zwar nicht verwaltungsrechtsakzessorisch, aber doch in enger Anlehnung zum Abfallrecht zu interpretieren ist243. Wird dies vielfach zwar auf den Kern des Abfallbegriffs beschränkt und die abfallrechtlichen Fiktionen damit ausgeklammert, so wurde durch diese dynamische Interpretation im 240
Vgl. Dannecker, JZ 1996, 869, 873; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402, 405. Heine, NJW 1998, 3665, 3666 m. w. N.; Lackner/Kühl, § 326 Rn. 2a; vgl. auch BGHSt 37, 21, 23. 242 So aber Satzger, S. 604. 243 Vgl. schon BGHSt 37, 21, 24; 37, 333 ff.; Dannecker, Jura 1998, 79, 84; Riettiens, S. 49 ff.; Rogall, Boujong-FS, 807, 812; Lenckner, in: S/S, § 326 Rn. 2a f. 241
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Wesentlichen ein Gleichklang der strafrechtlichen mit der verwaltungsrechtlichen Begrifflichkeit erzielt244. § 326 I StGB ist dementsprechend heute im Wesentlichen von der Abfalldefinition des § 3 I KrW-/AbfG245 abhängig. Wurde zuvor entweder aufgrund ausdrücklicher Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Begrifflichkeiten oder unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Norm im Dienste der Gemeinschaft steht, eine gemeinschaftsbegriffliche Akzessorietät entwickelt, so stellt sich der Einfluss des Gemeinschaftsrechts an dieser Stelle mittelbarer dar. Hängt der Abfallbegriff des § 326 I StGB im Wesentlichen vom verwaltungsrechtlichen Terminus ab, so übernimmt das KrW-/AbfG in § 3 I die Abfalldefinition des Art. 1 lit. a der EGAbfRRL246, wonach Abfälle zur Verwertung erfasst sind. Der verwaltungsrechtliche Abfallbegriff ist folglich in deren Lichte zu interpretieren, was dann mittelbar den strafrechtlichen Abfallbegriff des § 326 I StGB beeinflusst. Ein solches Verständnis überschreitet auch nicht die Grenze des Wortlauts und widerspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers247. Bzgl. des § 326 II StGB wurde dagegen die Abhängigkeit von der Definition der EGAbfVerbrVO erwogen, aber wegen der ausdrücklichen Bindung an § 326 I StGB abgelehnt. Im Ergebnis dürften sich aber auch bei methodisch unterschiedlicher Interpretation keine divergierenden Begrifflichkeiten entwickeln, da die EGAbfVerbrVO als bestimmender Faktor des § 326 II StGB auf die Definition der EGAbfRRL verweist, die auch § 3 I KrW-/AbfG als bestimmender Faktor des § 326 I StGB übernimmt248. Interessante Fragestellungen ergeben sich ebenso, wenn man das Bilanzstrafrecht mit dem § 331 Nr. 1 HGB betrachtet. Danach ist die unrichtige Wiedergabe oder Verschleierung der Verhältnisse einer Kapitalgesellschaft u. a. im Jahresabschluss strafbar. Diese Norm des Nebenstrafrechts verwendet mit dem Begriff des Jahresabschlusses eine Formulierung des HGB, so dass das natürliche Begriffsverständnis mangels anderer Anhaltspunkte zur inhaltlichen Abhängigkeit der strafrechtlichen Begrifflichkeit führt. § 242 III HGB definiert nun jenen Jahresabschluss legal, wonach Bilanz und Ge244
Heine, NJW 1998, 3665, 3666 f. Hat das Abfallgesetz ersetzt, BGBl. I 1994, S. 2705, in Kraft seit dem 6. Oktober 1996. 246 Die sog. Abfallrahmenrichtlinie, RL 75/442/EWG, v. 15.7.1975, ABlEG 1975, Nr. L 194, S. 47; geändert durch RL 91/156/EWG, ABlEG 1991, Nr. L 78, S. 32; geändert durch RL 91/692/EWG, ABlEG 1991, Nr. L 377; angepasst durch Entscheidung der Kommission v. 24.5.1996, 96/350/EG, ABlEG 1996, Nr. L 135, S. 32. 247 Vgl. auch Dannecker, JZ 1996, 869, 873; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402, 403; Heise, S. 172; Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 965 noch zur alten Rechtslage mit § 1 AbfG und zu BGHSt 37, 21. 248 Vgl. ausführlich Breuer, Der Im- und Export von Abfällen, S. 96 ff. 245
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winn- und Verlustrechnung den Jahresabschluss bilden. Darüber hinaus fordert § 264 I 1 HGB den Jahresabschluss um einen Anhang zu erweitern, der mit der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung eine Einheit bildet. Den Inhalt dieses Anhangs bestimmen die §§ 284 ff. HGB. Umstritten ist nun aber, ob auch jener Anhang als Element des Jahresabschlusses anzusehen und vom strafrechtlichen Schutz des § 331 Nr. 1 HGB umfasst ist249. Betrachtet man die Regelungen des HGB, so ergibt sich eine Ambivalenz, denn einerseits verlangt § 264 I 1 HGB eine Ergänzung des Jahresabschlusses, der sogar mit den übrigen Elementen „eine Einheit“ bildet, andererseits verweist er auf die Legaldefinition des § 242 III HGB, der eher gegen eine Einbeziehung des Anhangs spricht250. Das 3. Buch des HGB dient der Umsetzung der 4., 7. und 8. Richtlinie des Rates zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts251. Insbesondere Art. 51 der 4. RL 78/660/EWG schrieb in Absatz 1 die Überprüfung durch besonders beauftragte Personen vor, gewährte den Mitgliedstaaten aber in Absatz 2 für bestimmte Gesellschaften Befreiungsmöglichkeiten. Die Bundesrepublik Deutschland nahm diese Möglichkeit mit der Regelung des § 316 HGB wahr und war deshalb gem. Art. 51 III der RL 78/660/EWG verpflichtet, Sanktionsregelungen zu erlassen. Dieser Verpflichtung kam sie mit § 331 Nr. 1 HGB nach. Vor diesem gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund ergibt sich dann eine begriffliche Akzessorietät. Der Art. 2 I der 4. RL 78/660/EWG bestimmt: „Der Jahresabschluss besteht aus der Bilanz, der Gewinn- und Verlustrechnung und dem Anhang zum Jahresabschluss. Diese Unterlagen bilden eine Einheit.“
Damit steht im Ergebnis fest, dass der Begriff des Jahresabschlusses in § 242 III HGB nicht den Vorgaben der Richtlinie entspricht, so dass eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation zu erwägen ist252. Fraglich ist indes, ob es sich bei der vorgeschlagenen Vorgehensweise noch um eine Interpretation oder bereits um eine gemeinschaftsrechtskonforme Analogie handelt. Maßgebend ist der Wortlaut des § 242 III HGB. Dieser beschränkt den Jahresabschluss auf die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung. Zu erwägen ist, ob § 264 I 1 HGB als lex specialis für Kapitalgesellschaften einen engeren Jahresabschlussbegriff etabliert. Der Wortlaut ist aber auch hier eindeutig. Es wird auf die Legaldefinition des § 242 verwiesen. 249
Vgl. zum Streitstand Otto, in: Heymann, HGB Bd. 3, § 331 Rn. 19. Vgl. Tiedemann, in: Scholz, GmbHG Bd. II, vor §§ 82 ff. Rn. 70. 251 4. RL 78/660/EWG v. 25.7.1978, ABlEG Nr. L 222, S. 11; 7. RL 83/349/EWG v. 13.6.1983, ABlEG Nr. L 193, S. 1; 8. RL 84/253/EWG v. 10.4.1984, ABlEG Nr. L 126, S. 20. 252 In diesem Sinne Tiedemann, in: Scholz, GmbHG Bd. II, vor §§ 82 ff. Rn. 70; Schüppen, S. 197 f. 250
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Dem kann auch nicht die Feststellung, der Anhang bilde mit diesen eine Einheit, entgegengehalten werden. Der Verweis ist eindeutig. Außerhalb des Strafrechts ist daher an eine gemeinschaftsrechtskonforme Analogie zu denken. Da jene sich jedoch durch Einbeziehung des Anhangs strafbarkeitserweiternd auswirken würde, steht einer solchen die gemeinschaftsrechtliche Grenze des strafrechtlichen Analogieverbots entgegen, so dass auch Art. 10 EG keine derartige Interpretation verlangt. Der Begriff des Jahresabschlusses umfasst daher im § 331 Nr. 1 HGB nicht den Anhang. Das strafrechtlich bewehrte Pornografieverbot wirft vergleichbare Fragestellungen auf. § 184 StGB verbietet unter Aufzählung verschiedener Tathandlungen die Verbreitung pornografischer Schriften253 um des Jugendund Konfrontationsschutzes willen254. So verbietet § 184 I Nr. 2 StGB das Zugänglichmachen pornographischer Schriften an einem Ort, der Personen unter achtzehn Jahren zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann. Folglich fällt das Angebot pornografischer Sendungen im Fernsehen unter diese Tathandlung. Pornografisch sind nach deutschem Verständnis Darstellungen, wenn sie nach ihrem objektiven Gehalt in aufdringlich vergröbernder, verzerrender und anreißerischer Weise zum Ausdruck bringen, dass sie unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes beim Betrachter abzielen und dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstands eindeutig überschreiten255. Nun wurde aber im Oktober 1989 die sog. Fernsehrichtlinie 89/552/EWG256 erlassen, welche die Ausstrahlung eines Fernsehprogramms als Dienstleistung ansieht und die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten auf diesem Sektor bezweckt. Danach unterliegen die Fernsehanstalten weiterhin der Rechtshoheit der Sendestaaten, die gem. Art. 3 I der RL auch strengere Regelungen erlassen dürfen. Doch dürfen sie grenzüberschreitende Sendungen, die den Vorschriften des Sendestaats entsprechen, nicht behindern, was einmal mehr Ausdruck des Prinzips gegenseitiger Anerkennung ist. Die dem § 184 I Nr. 2 StGB zugrundeliegende Primärnorm verstieße damit gegen die Richtlinie, wenn pornografische Fernsehsendungen verboten werden. Die Richtlinie sieht jedoch eine Einschränkung der Sendefreiheit vor, wenn die Sendungen eine der in 253 Gem. § 11 III StGB Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen durch Verweis im § 184 I StGB gleich. 254 Vgl. Tröndle/Fischer, § 184 Rn. 2. 255 Vgl. BT-Drucks. VI/3521, S. 60; BGHSt 37, 55, 59 f.; Lackner/Kühl, § 184 Rn. 2; Lenckner, in: S/S, § 184 Rn. 4; Tröndle/Fischer, § 184 Rn. 6. 256 Vom 3.10.1989, ABlEG Nr. L 298, S. 23.
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Art. 22 der RL normierten Schutzvorschriften zugunsten Minderjähriger verletzen. U.a. wird auch dort die Ausstrahlung von Pornografie verboten. Somit stünde die dem § 184 I Nr. 2 StGB zugrundeliegende Primärnorm im Einklang mit der Richtlinie, vorausgesetzt die Pornografiebegriffe auf nationaler und Gemeinschaftsebene entsprächen sich oder national bestünden weitergehende Verbote (Art. 3 der RL). Nun gilt aber auch hier wie im Übrigen Gemeinschaftsrecht, dass gemeinschaftliche Begriffe auch gemeinschaftsrechtlich und nicht national zu interpretieren sind, somit auch nicht zwingend dem nationalen Verständnis entsprechen. Heise meint nun vor dem Hintergrund, dass die Fernsehrichtlinie vor allem zum Ziel habe, die Sendefreiheit zu gewährleisten, sei es sicher nicht zu gewagt, anzunehmen, dass sich der Gerichtshof einem eher liberalen, d.h. engeren Verständnis von Pornografie anschließen werde257.
Angesichts der Tatsache, dass sich die EG von einer primär wirtschaftlich ausgerichteten Gemeinschaft zunehmend auch zu einer Gemeinschaft des Rechts wandelt, erscheint jene These nur noch schwerlich haltbar. Insbesondere hat jeder Interpret auch das primäre Gemeinschaftsrecht zu beachten, wozu auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze gehören. Besondere Beachtung verdient auch Art. 3 I der Charta der Grundrechte, der zwar noch kein verbindlicher Charakter zukommt, die aber Aufschluss über die Bedeutung von Rechtsgütern auf EG-Ebene geben kann. Danach hat jede Person das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit258. Art. 3 I der Charta erfasst auch den Schutz der geistigen Entwicklung Jugendlicher und entspricht damit dem Schutzzweck der Richtlinie, deren Zweck somit nicht allein die Sendefreiheit sein kann. Vielmehr wird auch sie dem Schutz der geistigen Entwicklung Jugendlicher umfassend Rechnung tragen und die widerstreitenden Interessen in einen angemessenen Ausgleich bringen und folglich auch einen Mindestschutz etablieren. Der alleinige Hinweis auf die Liberalisierung des Sendeverkehrs führt sicher nicht weiter. Festzuhalten bleibt einzig, dass in dem Falle, in dem sich durch Heranziehung eines weiten Pornografiebegriffs ein strengeres Pornografieverbot auf EG-Ebene entwickelt, § 184 I StGB richtlinienkonform auszulegen wäre. Angesichts des ohnehin steten Wandels gesellschaftlicher Wertvorstellungen hinsichtlich des sexuellen Anstands und des infolgedessen offenen 257
Heise, S. 178. Vgl. auch Art. 35 GRCh. Der Schutz der Gesundheit spielt allgemein im Gemeinschaftsrecht eine hervorgehobene Rolle: Art. 3 lit. p, 30 S. 1, 140, 152 und 174 EG. Entsprechend formuliert auch der EuGH, Rs. 104/75, Slg. 1976, 613, 635 „de Peijper“: „Unter den in Art. 36 EGV (heute Art. 30 EG) geschützten Gütern und Interessen nehmen die Gesundheit und das Leben von Menschen den ersten Rang ein.“ 258
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Pornografieverständnisses bereitet weder der Wortlaut noch der gesetzgeberische Wille Probleme. Auf einen mittelbaren259 Einfluss ist im Rahmen des § 263 StGB hinzuweisen, wenn der Betrugsgegenstand besonderen Anforderungen des Wirtschaftsverkehrs unterliegt. So wird vertreten, in Zukunft werde auch § 263 StGB aufgrund seiner besonderen wirtschaftsrechtlichen Relevanz dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts unterliegen. Beispielsweise die Verkehrsfähigkeit von Wein bestimme sich maßgeblich nach EG-Recht. Täuscht der Verkäufer folglich über Eigenschaften, die jene Verkehrsfähigkeit betreffen, so kommt dem Gemeinschaftsrecht bei der Bestimmung dieses Kriteriums erhebliche Bedeutung zu260. 3. Sonderfall: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung generalklauselartiger Tatbestandsmerkmale Einer gesonderten Betrachtung bedürfen aber sog. generalklauselartige Tatbestandsmerkmale. Dabei handelt es sich um offene Tatbestände, die der Konkretisierung durch den nationalen Rechtsanwender bedürfen. Erst jene nähere Bestimmung der tatbestandsmäßigen Handlung lässt den Normbefehl erkennen. Der Rechtsanwender bewegt sich damit in einem Grenzbereich zur legislativen Tätigkeit, was insbesondere im Hinblick auf die Grenzen gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung eine gesonderte Analyse erfordert. a) Fahrlässigkeit Geradezu klassische Beispiele generalklauselartiger Tatbestände sind die Fahrlässigkeitsdelikte. Begreift man Fahrlässigkeit mit der h. M. nicht lediglich als Schuld-261, sondern auch als Unrechtsform, so erschöpft sich der Tatbestand der Fahrlässigkeitsdelikte nicht in der Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges. Fahrlässigkeit ist vielmehr die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bei nach allgemeiner Lebenserfahrung objektiver Voraussehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges262. Art und 259
Heise, S. 45. Thomas, NJW 1991, 2233, 2237. 261 So aber Zielinski, in: AK, §§ 15, 16 Rn. 90 ff.; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 28; Jakobs, AT, 9/5 ff.; Schmidhäuser, AT, 7/92. 262 So die h. M.: BGHSt 4, 341; BGHZ 24, 21, 23; Jescheck/Weigend, AT, § 54 I 3; Lackner/Kühl, § 15 Rn. 36; Wessels/Beulke, AT Rn. 667 ff., 875; a. A. Schroeder, in: LK, § 16 Rn. 157 ff.; Schroeder, JZ 1989, 776 ff.; Schmidhäuser, JuS 1987, 373, 377, die allein auf die objektive Vorhersehbarkeit abstellen; ähnlich Roxin, AT I, § 24 Rn. 10 ff., der die Kriterien bereits in der Zurechnung verortet sieht. 260
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Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage „ex ante“ an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und der sozialen Rolle des Handelnden, unter Berücksichtigung etwaigen Sonderwissens, zu stellen sind263. Begrenzt wird diese Sorgfaltspflicht durch das sog. erlaubte Risiko, wonach bestimmte gefahrträchtige Verhaltensweisen aufgrund übergeordneter Interessen bereits nicht als sorgfaltspflichtwidrig und damit nicht tatbestandsmäßig angesehen werden264. aa) Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der Sorgfaltspflichten im Lichte der Grundfreiheiten am Beispiel des Lebensmittelrechts In Literatur und Schrifttum wird zunehmend auf die Möglichkeit einer Kollision der §§ 222, 229 StGB bzw. der zugrundeliegenden Primärnormen mit der Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EG im Bereich der allgemeinen strafrechtlichen Produkthaftung hingewiesen. Zur Vermeidung der Unanwendbarkeit der nationalen Strafnormen sei eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung angezeigt265. „Den Grundfreiheiten, die unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht darstellen, lassen sich – ähnlich wie den Sondernormen – normative Aussagen über das erlaubte Risiko entnehmen. Allerdings liefert das Primärrecht – anders als die Sondernormen – aufgrund seiner größeren Abstraktheit nicht bereits eine antizipierte Interessenabwägung für den Normalfall. Das erlaubte Risiko hat also der Richter unter Berücksichtigung der Wertung des Gemeinschaftsrechts für den konkreten Einzelfall zu bestimmen“.266
Dieser Feststellung ist zu folgen, doch muss auf den Umstand hingewiesen werden, dass die Grundfreiheiten nur Vorgaben enthalten können, wenn ihr Anwendungsbereich eröffnet ist. Nach hier vertretener Ansicht sind sie auf ihre ursprüngliche Funktion als Diskriminierungsverbote zurückzuführen. Es kommt mithin entscheidend darauf an festzustellen, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung grenzüberschreitend Handelnder vorliegt, bevor auf die Interessenabwägung im Lichte der Warenverkehrsfreiheit eingegangen werden kann. Im Anschluss hat der nationale Rechtsanwender vom Grundsatz des Verbots direkt oder indirekt diskriminierender Sorgfaltsanforderungen auszugehen, es sei denn, die nationalen Sorgfaltsanforderungen 263 BGHSt 7, 307, 309 f.; 20, 315, 321; Jescheck/Weigend, AT, § 55 I 1 b; Lackner/Kühl, § 15 Rn. 37; Wessels/Beulke, AT Rn. 669 f. 264 Vgl. zum Inhalt und zur umstrittenen Einordnung als Tatbestandsmerkmal Samson, in: SK, Anh. zu § 16 Rn. 18. 265 Dannecker, in: Ulsamer, Lexikon, 302, 311; Rönnau, wistra 1994, 203, 204; Satzger, S. 626; Thomas, NJW 1991, 2233, 2237; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25. 266 Satzger, S. 627.
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lassen sich über die eng zu interpretierenden Ausnahmen des Art. 30 EG bzw. der Cassis-Rechtsprechung rechtfertigen. Jene Schranken stehen insbesondere unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Als Konsequenz der Anwendung der Grundfreiheiten in ihrer ursprünglichen Funktion als Diskriminierungsverbote ergibt sich eine deutlich reduzierte Relevanz im Hinblick auf die Bestimmung von Sorgfaltspflichten267. Ein dennoch möglicher Einfluss grundfreiheitlicher Vorgaben auf den Inhalt deutscher Sorgfaltspflichten soll anhand der Auslegung des § 51 IV LMBG im Lichte der Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EG illustriert werden. Gem. § 51 IV i. V. m. § 51 I Nr. 1 LMBG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer fahrlässig Stoffe herstellt, behandelt oder in den Verkehr bringt, deren Verzehr geeignet ist, die Gesundheit zu schädigen. Gilt dabei zwar dem Grunde nach im Lebensmittelrecht der gleiche Fahrlässigkeitsbegriff wie im Kernstrafrecht, so ist das Inverkehrbringen in § 7 LMBG legaldefiniert als „das Anbieten, Vorrätighalten zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe, Feilhalten und jedes Abgeben an andere.“ Dies hat allerdings zur Folge, dass ein Produkt auf jeder Stufe der Angebotskette in den Verkehr gebracht wird268, was zu einer Art Zustandshaftung führt, bei der alle Inverkehrbringer auch für Fehler verantwortlich sind, die auf früherer Stufe entstanden sind. Im Interesse des Verbraucherschutzes und angesichts der komplexen Gefährdungspotentiale im lebensmittelrechtlichen Bereich269 postuliert die Rechtsprechung auf jener Grundlage wesentlich verschärfte Sorgfaltspflichten, das sog. Prinzip der Kettenverantwortlichkeit270. Danach hat jeder Beteiligte an der Angebotskette vom Erzeuger bis zum Einzelhändler die Einhaltung sämtlicher lebensmittelrechtlicher Vorschriften im Rahmen des Zumutbaren zu überprüfen271. Unterschiede hinsichtlich der anzuwenden Sorgfalt ergeben sich zwischen den jeweiligen Angebotsstufen nur noch aus dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit, wobei an Hersteller und Importeur höhere Anforderungen zu stellen sind als an Groß- und Einzelhändler272. Stichprobenartige Untersuchungen sind, unabhängig von dem Umstand, ob der äußere Anschein des Produkts dieses gebietet, stets zumutbar273. 267 Satzger, S. 495, 628, geht auf der Basis seiner Grundfreiheitsdogmatik konsequent von einer potentiell handelsbeschränkenden Wirkung „überzogener“ objektiver Sorgfaltspflichten unabhängig diskriminierender Wirkung aus. 268 Heise, S. 180; Satzger, S. 620. 269 BayOLG, ZLR 1982, 373. 270 Zur z. T. heftigen Kritik an jenem Prinzip in der deutschen Literatur vgl. Hufen, S. 38 ff. 271 St. Rspr. seit BGH, LRE 2, 40, 41; Zipfel/Rathke, vor § 51 LMBG Rn. 64. 272 Vgl. OLG Düsseldorf, LRE 11, 346, 348; Zipfel/Rathke, vor § 51 LMBG Rn. 88.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Fraglich ist, ob jenes Prinzip der Kettenverantwortlichkeit im innergemeinschaftlichen Warenverkehr Anwendung finden kann. Folge des Prinzips der Kettenverantwortlichkeit ist nämlich, dass ein Importeur als erstes innerstaatliches Glied der Angebotskette einem Hersteller gleichgestellt wird274. Damit trifft ihn aber auch die Verantwortung für die Ordnungsmäßigkeit des gesamten Herstellungsprozesses. Das Vertrauen auf die, evtl. sogar zertifizierte, ordnungsgemäße Herstellung im Ausland wird nicht geschützt275. Damit wird der importierende Händler aber dazu gezwungen, lebensmittelrechtliche Untersuchungen der Produktzusammensetzung durchzuführen. Wird eine solche Prüfung einem Handeltreibenden aber nicht zugemutet, wenn er auf inländische Produkte zurückgreift276, so liegt darin eine Diskriminierung ausländischer Produkte und ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit. Das Gebot des Art. 28 EG der Warenverkehrsfreiheit, also nach hier vertretener Ansicht das Verbot diskriminierender Maßnahmen, bildet den Ausgangspunkt der Entwicklung gemeinschaftsrechtskonformer nationaler Sorgfaltspflichten durch den Rechtsanwender. Auch das Gemeinschaftsrecht sieht aber ausnahmsweise die Zulässigkeit diskriminierender Maßnahmen vor, nämlich im Falle einer Rechtfertigung über Art. 30 EG oder die Grundsätze der Cassis-Rechtsprechung277. Zu denken ist dabei an den Gesundheits- oder Verbraucherschutz. Beide Schranken unterliegen aber dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit, so dass insbesondere fraglich erscheint, ob eine derartige Handelsbeschränkung erforderlich ist, um die Gesundheit bzw. die Verbraucher zu schützen. Im Gemeinschaftsrecht gilt mittlerweile das Prinzip gegenseitiger Anerkennung, was besagt, dass alle Waren, die rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, auch in jedem anderen Mitgliedstaat als verkehrsfähig angesehen werden. Wird die ordnungsgemäße Herstellung daher behördlich oder in sonst anerkannter Weise zertifiziert, genügt dies als Vertrauensgrundlage. Etwas anderes gilt auch nicht für offensichtliche oder leicht erkennbare Lebensgefährlichkeit des Produkts278, denn auch hier muss die Vermutung und das Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit mitgliedstaatlicher Behörden genügen, ist doch auch jenen diese Gefährlichkeit bekannt. Eine Ausnahme und somit die Überprüfung der Zertifikate ist mithin nur dann geboten, wenn diese Anlass zu Zweifeln über ihre Verlässlichkeit bieten. 273
Vgl. OLG Koblenz, ZLR 1984, 278, 281 f. Zipfel/Rathke, vor § 51 LMBG Rn. 88. 275 Vgl. OLG Köln, LRE 8, 50, 52; OLG Koblenz, LRE 11, 126, 131; 14, 47, 49; OLG Düsseldorf, LRE 26, 351, 353. 276 Zipfel/Rathke, vor § 51 LMBG Rn. 107a. 277 Nach hier vertretener Ansicht auch auf diskriminierende Maßnahmen anwendbar. 278 A. A.: Dannecker, ZLR 1993, 251, 261 ff.; Satzger, S. 622. 274
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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Legt man die lebensmittelrechtlichen Sorgfaltspflichten folglich im Lichte des Gemeinschaftsrechts aus, so ist der grenzüberschreitend Handelnde einem rein innerstaatlichen Händler gleichzustellen. Weder der Wortlaut noch der gesetzgeberische Wille steht einem derartigen Verständnis entgegen. bb) Relevanz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Hinblick auf sorgfaltspflichtkonkretisierende Sondernormen Anders als die zuvor dargestellte Einwirkung der Grundsätze über den freien Warenverkehr, die Vorgaben enthalten, welche im Einzelfall durch den Rechtsanwender bei der Konkretisierung nationaler Sorgfaltspflichten zu beachten sind, existieren in allen denkbaren Lebensbereichen sog. Sondernormen. Solche Sondernormen sind das Ergebnis einer auf Erfahrung und Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Gefahren279 und treffen anders als die Grundfreiheiten eine antizipierte Risikoabwägung für konkrete Lebenssachverhalte. Die Wirkungsweise jener Sondernormen in der deutschen Fahrlässigkeitsdogmatik soll nachfolgend kurz skizziert werden, bevor auf die Existenz und die Bedeutung gemeinschaftsrechtlicher Sondernormen bei der Entwicklung von Sorgfaltspflichten eingegangen werden wird. (1) Die Wirkungsweise deutscher Sondernormen Sondernormen können einerseits Rechtssatzqualität aufweisen oder sich andererseits in unverbindlichen, z. B. technischen Normen280 finden. Unverbindlichen Sondernormen kommt allein eine Indizwirkung zu, wie sich ein besonnener und gewissenhafter Mensch in der konkreten Situation verhalten hätte, vorausgesetzt, es besteht Risikoidentität. Handelt es sich dabei also um eine widerlegliche Vermutung, so verbleibt die Konkretisierung der Sorgfaltspflichtverletzung auch im Falle einer Risikoidentität im richterlichen Ermessen281. Bestehen allerdings Verhaltensnormen mit Rechtssatzqualität, so kommt ihnen eine über diese Indizwirkung hinausgehende Bedeutung bei der Ermittlung der Sorgfaltspflichtverletzung zu. Will sich eine Rechtsordnung nicht widersprechen, so schließt die Befolgung einer Sondernorm mit Rechtssatzqualität das Vorliegen einer Sorgfaltspflichtverletzung aus. Die 279
BGHSt 4, 182; 12, 75. Z. B. Din-Normen. 281 BGHSt 4, 182, 185; Lackner/Kühl, § 15 Rn. 39; Schroeder, in: LK, § 16 Rn. 163 ff.; Samson, in: LK, Anh zu § 16 Rn. 20. 280
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Sondernorm determiniert in dieser Funktion das erlaubte Risiko. Natürlich kann die Sondernorm eine Sorgfaltspflichtverletzung nur dann ausschließen, wenn sie abschließend die einzuhaltende Sorgfalt vorgibt, nicht dagegen bei bloßen Mindeststandards. Ebenso treffen diese Normen natürlich nur Aussagen für Interessenlagen, die dem Gesetzgeber vorschwebten oder jenen entsprechen, nicht aber atypische. Es gilt auch hier die Prämisse der durch Auslegung der Sondernorm zu ermittelnden Risikoidentität. Umgekehrt überschreitet derjenige, der gegen eine Sondernorm mit Rechtssatzcharakter verstößt, das erlaubte Risiko, gleich, ob die Norm nur Mindeststandards normiert. Unter der Prämisse der Risikoidentität liegt hier zwingend eine Sorgfaltspflichtverletzung vor. (2) Die Existenz und Bedeutung gemeinschaftsrechtlicher Sondernormen Auch aus dem Gemeinschaftsrecht fließen zahlreiche Verhaltensvorgaben, insbesondere im wirtschaftlichen, aber auch sozialen und technischen Bereich. Vor dem dargestellten Hintergrund ist deshalb die Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Sondernormen bei der Ermittlung einer Sorgfaltspflichtverletzung nach deutschem Recht zu analysieren. Geht es um die rein tatsächliche Indizwirkung, so sind den oben dargestellten Grundsätzen entsprechend nicht nur Normen mit Rechtsatzqualität von Bedeutung. Relevanz entfalten vielmehr alle, d.h. auch rechtlich unverbindliche Akte der Gemeinschaft. Dazu gehören neben den Empfehlungen und Stellungnahmen auch nicht unmittelbar anwendbare Richtlinien und technische Normen privater europäischer Normungsgremien282. Bei dieser rein tatsächlichen Wirkung handelt es sich aber nicht um einen Anwendungsfall der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation. Einer genauen Untersuchung bedarf dagegen die Frage, ob Gemeinschaftsrecht bei der Bestimmung von Sorgfaltspflichten auch normative Bedeutung zukommen kann. (a) Normative Wirkung unmittelbar anwendbarer gemeinschaftsrechtlicher Sondernormen Das Gemeinschaftsrecht könnte unmittelbar anwendbare gemeinschaftliche Sondernormen enthalten. Diese weisen Rechtssatzqualität im innerstaatlichen Bereich auf, so dass ihnen über die tatsächliche Indizwirkung, unter den oben für deutsche Sondernormen dargestellten Prämissen, eine normative Bedeutung bei der Bestimmung der Sorgfaltspflicht zukommt. Zwar 282 Z. B. CEN „comité Européen de Normalisation“; CENELEC „Comité Européen de Coordination des Normes Electriques“.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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füllen sie den offenen Fahrlässigkeitstatbestand auf den ersten Blick mit Inhalt, so dass man an eine Parallele zum Blankettstraftatbestand283 denken könnte, doch handelt es sich bei genauem Hinsehen um einen Anwendungsfall der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der konkretisierten Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit284. Ist ein Blankettstrafgesetz ergänzungsbedürftig, indem es den außerstrafrechtlichen Handlungs- oder Unterlassungsbefehl einbeziehen muss und so erst zum hinreichend bestimmten Strafgesetz wird, enthält ein Fahrlässigkeitstatbestand den Normbefehl, welcher lediglich im Wege einer Konkretisierung der Sorgfaltspflicht zu ermitteln ist. Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht findet sich zum einen im Primärrecht, welches aber regelmäßig keine antizipierte Risikoabwägung enthalten wird, sondern im Wege der Rechtsanwendung im Einzelfall bei der Konkretisierung der Sorgfaltspflicht einwirkt. Diesbezüglich ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen. Große Bedeutung kommt dagegen dem verbindlichen sekundären Gemeinschaftsrecht, also den unmittelbar anwendbaren Richtlinien und den Verordnungen zu. (b) Die Bedeutung nicht unmittelbar anwendbarer Richtlinienbestimmungen für ungeschriebene Sorgfaltspflichten Fraglich ist aber, wie Richtlinienbestimmungen zu behandeln sind, denen keine unmittelbare Anwendbarkeit zukommt. Fraglos besteht die bloß indizielle Wirkung entsprechend den nationalen unverbindlichen Normen. Eingehender Untersuchung bedarf aber die Frage, ob ihnen darüber hinaus auch eine normative Wirkung zukommt. Anders als die o. g. herkömmlichen Normen, denen bloß indizielle Bedeutung bei der Bestimmung der Sorgfaltspflicht zukommt, handelt es sich bei Richtlinien, auch sofern sie nicht umgesetzt wurden, um Rechtsnormen, die schon verbindliche Vorgaben enthalten und nach hier vertretener Ansicht vom Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens in Deutschland gelten. Eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung besteht nach Ablauf der Umsetzungsfrist unabhängig von der unmittelbaren Anwendbarkeit. Wie gesehen, treten aber auch in dem zuvor behandelten Falle, in dem gemeinschaftsrechtliche Vorgaben unmittelbar anwendbar sind, diese nicht an die Stelle nationaler Sorgfaltspflichten, vielmehr findet lediglich eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation statt. Geht es aber an dieser Stelle allgemein nicht um die unmittelbare Anwendbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Normen, sondern um die Auslegung nationaler 283 284
Dazu noch unten 2. Teil B. I. 4. So auch Satzger, S. 616.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Sorgfaltspflichten in deren Lichte, so kann die fehlende unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinienvorgaben eigentlich nicht hinderlich sein. Richtlinienvorgaben träfen dann nach Fristablauf unabhängig von einer Umsetzung oder der unmittelbaren Anwendbarkeit verbindliche Aussagen, die bei der Ermittlung der Sorgfaltspflicht nicht bloß indizielle, sondern die dargestellte rechtliche Bedeutung hätten. Dieses Ergebnis erscheint indes zweifelhaft. Das Strafrecht trifft nur eine Auswahl der außerstrafrechtlichen Ge- oder Verbote und stellt sie unter Strafe. Es setzt damit geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnormen voraus. Sind sie aber ungeschrieben bzw. wie hier konkretisierungsbedürftig, bietet sich vor dem gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund kein geeigneter Ansatzpunkt zur konformen Auslegung. Jede Interpretation setzt eine bestehende Norm voraus. Eine richtlinienkonforme Auslegung von zu konkretisierenden Normen läuft aber Gefahr, früher, nämlich bereits bei der Konkretisierung selbst anzusetzen. Dies begründet sich dadurch, dass sich der Rechtsanwender bei der Konkretisierung von Normen auf einem schmalen Grat zwischen Norminterpretation und -schöpfung bewegt. Existiert keine geschriebene Sondernorm, so lässt sich die Interpretation einer bestehenden nicht sicher von der Schaffung einer neuen Sorgfaltsnorm abgrenzen. Gleichsam wäre nicht sicher zu ermitteln, ob die Interpretation zugunsten oder zuungunsten des Rechtsunterworfenen wirkte. Man liefe Gefahr einem Richtlinienbefehl zur unmittelbaren Anwendung zu verhelfen, der isoliert betrachtet, mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht anzuwenden wäre. Strafrecht bewertete dann entgegen seiner dargestellten Funktion, was ge- oder verboten ist. Will man also vermeiden, dass der interpretierende Rechtsanwender nicht unmittelbar anwendbare Bestimmungen ohne jegliche Grenzen an die Stelle nationaler Sorgfaltspflichtkonkretisierungen setzt, muss eine Auslegung im Lichte nicht unmittelbar anwendbarer Richtlinienvorgaben unterbleiben. Richtlinien können deshalb nur im Falle unmittelbarer Anwendbarkeit zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation von ungeschriebenen Sorgfaltspflichten herangezogen werden. Für nicht unmittelbar anwendbare Vorgaben verbleibt es im Übrigen bei der rein indiziellen Wirkung, die in ihrer Bedeutung aber nicht unterschätzt werden sollte. Zudem steht dem nationalen Rechtsanwender im Rahmen nationaler Methodik die Möglichkeit offen, derartige Vorgaben zu berücksichtigen. Im Falle methodengerechten Vorgehens trägt die nicht unmittelbar anwendbare Richtlinienvorgabe neben anderen Erwägungen zur Überzeugungsbildung, d.h. zur Findung der Sorgfaltspflicht bei.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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(c) Richtlinienkonforme Auslegung umsetzender nationaler Sondernormen Findet im Gegensatz zum vorhergehenden Fall aber eine Umsetzung285 dieser Richtlinien durch den deutschen Gesetzgeber statt, so entstehen deutsche Sondernormen mit Rechtssatzcharakter, denen wie rein nationalen Sondernormen die beschriebene, über die bloße Indizwirkung hinausgehende, normative Kraft bei der Bestimmung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zukommt. Hier tritt der Gesetzgeber durch generalisierende und abstrakte Interessenabwägung dazwischen. Hat der Rechtsanwender seiner Funktion entsprechend diese zu respektieren, so bieten sie dennoch einen Rahmen für die richtlinienkonforme Interpretation, denn trotz Umsetzung unterliegen die nationalen Sondernormen nach wie vor dem Regelungsregime der Richtlinie, was besonders in jenen Fällen deutlich wird, in denen das deutsche Umsetzungsrecht auf die technischen Vorgaben aus den Richtlinien bzw. deren Anhängen verweist286. Daneben enthalten die Richtlinien wichtige, bei der Interpretation der deutschen Sondernorm zu berücksichtigende Aussagen, ob eine völlige Harmonisierung oder eine bloße Mindestregelung bezweckt ist und welches Risiko der Gemeinschaftsgesetzgeber im Auge hatte. Die nationalen Sondernormen sind daher gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren. Es handelt sich bei den in Rede stehenden Normen um außerstrafrechtliche Sondernormen. Sie wären zumindest außerhalb des Strafrechts einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zugänglich, welche den nationalen Wortlaut u. U. zum Nachteil des Täters überschreitet, indem sie strengere Sorgfaltspflichten etablieren als der Wortlaut. Haben nun aber Sondernormen mit Rechtssatzqualität den Effekt, dass im Falle eines Verstoßes die Annahme eines Sorgfaltsverstoßes um der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung willen grundsätzlich zwingend und nicht nur indiziert ist, so ergäbe sich im Falle der Risikoidentität eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Dieses Ergebnis vermag aber nicht zu überzeugen. Sobald die außerstrafrechtliche deutsche Sondernorm strafrechtliche Sorgfaltspflichten konkretisiert, muss die Grenze des Wortlauts und der Wille des Gesetzgebers eingehalten werden. Insoweit sind dann auch hier Normspaltungen denkbar und hinzunehmen. Beispielhaft soll an dieser Stelle der Einfluss der Produktsicherheitsrichtlinie287 bei der Auslegung des Lebensmittelstrafrechts dargestellt werden. 285 Umsetzung meint in diesen Kontext in einem weiten Sinne Normen, deren Regelungsbereich sich mit den Richtlinienbestimmungen überschneidet. 286 Vgl. § 2 SpielzeugVO v. 21.12.1989, BGBl. I 1989, S. 2541, der auf die in Anhang II der RL 88/378 EWG v. 3.5.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug, ABlEG 1988, Nr. L 187, S. 1 ff., enthaltenen Sicherheitsanforderungen verweist.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Bereits beim Einfluss der Warenverkehrsfreiheit auf die nationale Sorgfaltspflicht wurde auf die Existenz der sog. Kettenverantwortlichkeit im deutschen Lebensmittelrecht hingewiesen. Nun sind aber auch Lebensmittelmittel Produkte i. S. d. Produktsicherheitsrichtlinie. Die Richtlinie differenziert hinsichtlich der Sorgfaltsanforderungen. So dürfen Hersteller nur sichere Produkte in Umlauf bringen, während Händler lediglich zu dieser allgemeinen, durch einzelne Bestimmungen spezifizierten Pflicht beitragen, „(. . .) indem sie vor allem keine Produkte liefern, von denen sie wissen oder bei denen sie anhand der ihnen vorliegenden Informationen und als Gewerbetreibende hätten davon ausgehen müssen, dass sie dieser Anforderung nicht genügen. Im Rahmen ihrer jeweiligen Geschäftstätigkeit haben sie vor allem an der Überwachung der Sicherheit der auf dem Markt befindlichen Produkte mitzuwirken, insbesondere durch Weitergabe von Hinweisen auf eine von den Produkten ausgehende Gefährdung und durch Mitarbeit an Maßnahmen zur Vermeidung dieser Gefahren.“288
Gegenüber der im deutschen Recht existierenden Kettenverantwortlichkeit, wonach der Händler auch für versteckte Fehler im Produktionsprozess verantwortlich ist, sieht die Richtlinie also reduzierte Sorgfaltsanforderungen vor. Auf Grundlage dieser Erkenntnis wird vertreten, durch richtlinienkonforme Interpretation ergäbe sich eine differenzierte Stufenverantwortlichkeit auch im deutschen Lebensmittelstrafrecht289. Die Richtlinie bezwecke nicht nur eine Mindestharmonisierung, sondern schaffe eine abschließende Regelung. So weist Heise auf die Rechtsgrundlage Art. 100 a EGV ( jetzt: Art. 95 EG) und auf das erforderliche Kommissionsverfahren des Art. 95 IV EG zur Beibehaltung abweichender nationaler Vorschriften hin. Außerhalb dieses Verfahrens seien Abweichungen unzulässig. Insofern werde eine umfassende Harmonisierung angestrebt.290
Trotz dieser Aussage stellt sich aber die Frage, was umfassend harmonisiert werden soll. Sollte bloß ein Mindeststandard geschaffen werden, so weicht die schärfere nationale Vorgabe nicht von der Richtlinie ab, so dass auch kein Kommissionsverfahren erforderlich ist. Der Hinweis führt insoweit nicht weiter. Entscheidend bleibt der Inhalt der Richtlinie. So erkennt auch Heise an, dass Art. 3 III ProdSichRL mit dem Wortlaut „vor allem“ in Bezug auf die Händlerpflichten auch strengere Pflichten zulässt.291 Anders 287
RL 92/59/EWG über die allgemeine Produktsicherheit, ABlEG 1992, Nr. L 228, S. 24. 288 Art. 3 III ProdSichRL. 289 Dannecker, ZLR 1993, 251, 261; ders., in: Ulsamer, Lexikon des Rechts, 302, 311; Heise, S. 44, 183 ff.; Meier, ZLR 1992, 563 ff. 290 Heise, S. 189. 291 Heise, S. 189.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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interpretiert er dagegen die Passage des Art. 3 III ProdSichRL, wonach Händler „vor allem“ keine Produkte liefern dürfen, von den sie wissen oder bei denen sie anhand der ihnen vorliegenden Informationen und als Gewerbetreibende hätten davon ausgehen müssen, dass sie dieser Anforderung nicht genügen“. „Vor allem“ beziehe sich nicht auf die beiden Kriterien „Informationen“ und „als Gewerbetreibende“, so dass die Händlerpflichten abschließend geregelt seien292. Diese Deutung überzeugt weder angesichts der Satzstellung noch im Hinblick auf die wiederholte Verwendung in dem nachfolgenden Satz, der schließlich auch nach Heises Interpretation strengere Pflichten zulässt. Richtiger Ansicht zufolge enthält die Richtlinie bloße Mindestvorgaben. Sie dient gem. Art. 1 I ProdSichRL der Sicherheit der Produkte, will damit also nicht die Sicherheitsanforderungen zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen beschränken, sondern einen Mindestsicherheitsstandard etablieren293, was nach dargelegtem Verständnis auch im Wortlaut zum Ausdruck kommt. Eine Auslegung im Lichte der Produktsicherheitsrichtlinie ergibt folglich keine Abschaffung der Kettenverantwortlichkeit. Insoweit trifft die Richtlinie keine Aussage. Grundsätzlich bleibt aber klarzustellen, dass im Falle erfolgter Umsetzung die normative Wirkung bei der Bestimmung der Sorgfaltspflicht und des erlaubten Risikos allein dem nationalen Recht zukommt, welches bloß nach den hergebrachten Grundsätzen gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren ist. Misst Satzger294 der Richtlinie trotzdem bloß indizielle Wirkung bei der Bestimmung der Sorgfaltspflichten bei, so verkürzt diese Ansicht deren aufgezeigte Bedeutung. Ist der normative Gehalt dem Grunde nach zwar weiterhin den nationalen Sondernormen zuzuordnen, so modifiziert die Richtlinie dennoch jenen normativen Inhalt. Die Wirkung reicht damit über die bloße indizielle Bedeutung hinaus. cc) Grenzen gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung im Hinblick auf Fahrlässigkeitsdelikte Abschließend sei noch angemerkt, das angesichts der Offenheit und Auslegungsbedürftigkeit der Fahrlässigkeitstatbestände keine dieser Spielarten der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation mit den entwickelten Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, insbesondere der Wortlautgrenze kollidiert. Wollte man Kritik an dieser Stelle überhaupt 292
Heise, S. 189 unter Hinweis auf Meier, ZLR 1992, 563, 565. Davon ging auch der deutsche Gesetzgeber aus, vgl. BTDrucks. 13/3130, S. 9 f.; i. E. so auch Satzger, S. 625 f. mit weiteren Argumenten. 294 Satzger, S. 625 f. 293
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
formulieren, könnte sich diese nur gegen die deutschen Fahrlässigkeitstatbestände und deren Weite295, nicht aber den gemeinschaftlichen Impetus richten. b) Unterlassungsdelikte Das Unterlassen ist neben dem positiven Tun die zweite Grundform der Handlung. Während das positive Tun ein vom Willen getragenes aktives Eingreifen in die Außenwelt ist, wird die Unterlassung dadurch gekennzeichnet, dass der Täter, obwohl er es könnte, nicht in einen Kausalverlauf eingreift. Beiden Formen kommt ein vergleichbarer sozialer Sinngehalt zu. Echte Unterlassungsdelikte sind Straftaten, die sich in dem Verstoß gegen eine Gebotsnorm und im bloßen Unterlassen einer vom Gesetz geforderten Tätigkeit erschöpfen296. Bei den unechten Unterlassungsdelikten wird dem Unterlassenden über die bloße Nichtvornahme der Handlung hinaus auch der Erfolg zugerechnet, weil der Unterlassende in der besonderen Pflichtenstellung eines Garanten zur Erfolgsabwendung verpflichtet war. Die sog. Garantenpflicht folgt aus dieser besonderen Nähe zum verletzten Gut, der sog. Garantenstellung, die auf verschiedene außerstrafrechtliche Rechtsquellen zurückgeführt wird. Vergleichbar der Situation bei der Fahrlässigkeit handelt es sich bei der Unterlassungsstrafbarkeit also um Pflichtdelikte. Die gesetzlichen Handlungspflichten können daher auch hier unmittelbar dem Gemeinschaftsrecht entstammen, sofern dieses unmittelbar anwendbar ist. Jedoch gilt es auch hier, wie bei der Fahrlässigkeit beschrieben, im Wege der Interpretation den generalklauselartigen Tatbestand zu konkretisieren. Es handelt sich deshalb wiederum nicht um einen Anwendungsfall der unmittelbaren Anwendbarkeit, sondern der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation im Lichte unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts. Das Gemeinschaftsrecht wirkt in dieser Konstellation bei der Definition des rechtlich gebotenen Verhaltens. Dagegen ist die Relevanz bei der Begründung einer Garantenstellung subtiler. Denkbar sind insoweit gemeinschaftsrechtlich begründete Garantenstellungen aus gemeinschaftsrechtlich beeinflusstem VA, gemeinschaftsrechtlich begründeter Verkehrssicherungspflicht sowie aus Ingerenz, also gefahrbegründendem pflichtwidrigem Vorverhalten. Das gefahrbegründende Vorverhalten kann dabei sowohl in einem Tun wie auch in einem Unterlassen liegen und begründet ein Näheverhältnis zu dem gefährdeten Rechtsgut, 295 Vgl. dazu nur Jescheck/Weigend, AT, § 54 I 3; Schlüchter, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit, S. 18 f. 296 BGHSt 14, 280, 281.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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welches die Etablierung einer Erfolgsabwendungspflicht rechtfertigt. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse sind hier bereits bei der Begründung der Garantenstellung denkbar. Die Pflichtwidrigkeit, welche zur Ingerenz führt, kann nämlich in einem Verstoß gegen gemeinschaftsrechtlich begründete oder modifizierte Verhaltensvorgaben liegen. Ein Verstoß führt jedoch nur dann zur Garantenstellung aus Ingerenz und zur Erfolgsabwendungspflicht, wenn diese, dem gemeinschaftsrechtlichen Einfluss unterliegende Norm gerade dem Schutz des betroffenen Rechtsguts dient297. 4. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung von strafblankettausfüllenden Normen Wenden wir uns den sog. Strafblanketten zu. Ist ein Strafgesetz in dem Sinne unvollständig, dass in ihm zwar die Strafdrohung enthalten ist, die tatbestandliche Umschreibung des strafbaren Verhaltens aber ganz oder teilweise andernorts – insbesondere auch durch eine andere Stelle – vorgenommen wird, so handelt es sich um ein sog. „Blankettstrafgesetz“298. Damit unterscheiden sie sich von den zuvor behandelten generalklauselartigen Tatbeständen. Während jene bereits den Handlungs- oder Unterlassungsbefehl enthalten und damit für sich aussagekräftig sind und lediglich der Konkretisierung bedürfen, erlangen diese Normen erst durch Einbeziehung andernorts geregelter Normbefehle einen strafrechtlichen Sinngehalt. Im zu behandelnden gemeinschaftsrechtlichen Kontext sind zwei Gestaltungen zu trennen. Zum einen ist es denkbar, dass die Verweisungsnorm unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht als tatbestandliche Umschreibung in Bezug nimmt299. Andererseits könnte auch deutsches Recht das Ausfüllungsobjekt bilden, welches aber seinerseits gemeinschaftsrechtlichem Einfluss unterliegt. a) Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht als Ausfüllungsnorm Betrachtet man die erste dargestellte Sachverhaltsgestaltung, in der das deutsche Strafblankett unmittelbar anwendbare gemeinschaftsrechtliche Primärnormen300 inkorporiert, so stellt sich die Frage, ob die Auslegung einer solchen Verhaltensnorm überhaupt Anwendungsfall der gemeinschafts297
Vgl. BGHSt 37, 106, 115. Vgl. BGHSt 20, 177, 181; Gribbohm, in: LK, § 1 Rn. 34; Eser, in: S/S, Vorbem § 1 Rn. 3; Tröndle/Fischer, § 1 Rn. 5. 299 Vgl. zur Zulässigkeit derartiger Verweise Satzger, S. 187 ff. 300 Zur Zulässigkeit BVerfGE 29, 210; 75, 342; BGH, wistra 1997, 25 ff. insbesondere im Hinblick auf das Demokratieprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz. 298
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
rechtskonformen Auslegung nationalen Rechts oder bloße Auslegung von Gemeinschaftsrecht ist. Maßgebend sind die zu nationalen Strafblanketten entwickelten Grundsätze. Danach wird der Inhalt des Verweisungsobjekts formal Bestandteil der Verweisungsnorm und ist in dessen Anwendungsbereich auch mit dessen Rechtscharakter ausgestattet301. Materiell bleibt die Primärnorm indes Gemeinschaftsrecht, es findet keine Normbefehlsverdoppelung statt. Der Normbefehl ist daher zunächst unter Zugrundelegung der gemeinschaftlichen Auslegungsmethoden zu ermitteln, u. U. durch Vorlage an den EuGH. Zutreffend weist Satzger darauf hin, dass bei Ermittlung des gemeinschaftlichen Wortsinns nicht allein auf die deutsche Fassung abzustellen ist, sondern sämtliche Vertragssprachen dabei heranzuziehen sowie der Wille des Gemeinschaftsgesetzgebers zu berücksichtigen sind302.
Dient jenes Vorgehen aber noch der Ermittlung des inkorporierten gemeinschaftlichen Normbefehls, auf erster Stufe, so bleibt dennoch der formale Charakter als deutsches Strafrecht unbenommen. Will das nationale Strafrecht daher den materiellen gemeinschaftsrechtlichen Normbefehl inkorporieren, so ist dies nur bis zur Grenze nationaler Auslegungsmethodik möglich. Beachtlich ist daher auch hier vor allem die Wortlautgrenze. Fraglich ist insoweit, welcher Wortlaut hier maßgebend ist. So wird vertreten, aufgrund der Tatsache, dass materiell der gemeinschaftsrechtliche Charakter unberührt bleibt, seien sämtliche Vertragssprachen zur Ermittlung des Wortsinns heranzuziehen303. Mag dies für die Ermittlung des originären Normbefehls noch zutreffen, so muss im Hinblick auf die Garantiefunktion des Strafrechts einzig der deutsche Wortlaut den äußeren Rahmen bilden. Wichtig ist dann aber zu beachten, dass bei der Inkorporierung unmittelbar anwendbarer Gemeinschaftsnormen in deutsche Strafblankette das nationale Strafrecht im Dienste des Gemeinschaftsrechts steht, so dass durch die Geltung der Wortlautgrenze nicht mehr den Vorgaben aus Art. 10 EG genügt sein könnte. Verkürzt diese Grenze die Strafbarkeit, so ist eine wirksame Sanktionierung durch den nationalen Gesetzgeber herbeizuführen. Im Ergebnis wird hier nicht gemeinschaftsrechtskonform interpretiert. Wirkt bei der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation nämlich die gemeinschaftsrechtliche Verhaltensnorm auf eine deutsche Primärnorm quasi von außen ein, so bildet in diesem Fall die gemeinschaftliche Verhaltensnorm bereits selbst die Primärnorm. Bei der angesprochenen Auslegung handelt sich um eine Interpretation von Gemeinschaftsrecht, nicht jedoch im Lichte von Gemeinschaftsrecht. 301 302 303
BVerfGE 26, 338, 368; 47, 285, 309 f. Satzger, S. 588. So wohl Satzger, S. 588.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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Als Beispiel kann hier der Blankettstraftatbestand des § 370 AO dienen, der im Wesentlichen von der Auslegung der zugrundeliegenden blankettausfüllenden Gemeinschaftsverordnungen abhängt304. Aus dem Kernstrafrecht sei hier § 324 a I StGB305 genannt. Danach ist strafbar, „wer unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten Stoffe in den Boden einbringt . . .“. Der Begriff der verwaltungsrechtlichen Pflicht ist in § 330 d Nr. 4 StGB definiert und gem. lit. a) u. a. „eine Pflicht, die sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt . . .“. Derartige Rechtsvorschriften finden sich zunehmend in unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht306. b) Nationales Recht als Ausfüllungsnorm Inkorporiert dagegen das nationale Strafblankett eine nationale Primärnorm, die ihrerseits in den Regelungsbereich einer Gemeinschaftsnorm fällt, so kommt eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation der nationalen Ausfüllungsnorm in Betracht. Beispiele bietet hier zum einen das Lebensmittelrecht zum anderen das Jugendarbeitsschutzrecht. aa) Lebensmittelrecht (1) Lebensmittelrechtliches Irreführungsverbot und das europäische Verbraucherleitbild Beispielsweise inkorporiert das Strafblankett des § 52 I Nr. 10, 2. Alt. LMBG das allgemeine Täuschungsverbot des § 17 I Nr. 5 LMBG mithin deutsches Recht, der bestimmt: „Es ist verboten Lebensmittel unter irreführender Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung gewerbsmäßig in den Verkehr zu bringen oder für Lebensmittel allgemein oder im Einzelfall mit irreführenden Darstellungen oder sonstigen Aussagen zu werben.“
Folgt nun zwar im Gesetz eine illustrierende beispielhafte Aufzählung, wann eine Irreführung vorliegt, so hängt die Feststellung einer Irreführung stets davon ab, ob die Warenaufmachung oder die Werbung dafür geeignet ist, beim zu schützenden Verbraucher falsche Vorstellungen hervorzurufen. Klar ist dann aber auch, dass diese Entscheidung von dem zugrundegelegten Verbraucherbild und von dessen tatsächlicher Erwartung abhängt. So wird ein verständiger, kritischer Verbraucher Aussagen der Werbung eher 304
Thomas, NJW 1991, 2233, 2235. Vgl. auch § 325 I, II; § 325 a I, II; § 326 III; § 328 III StGB, die alle den Begriff der „verwaltungsrechtlichen Pflichten“ enthalten. 306 Vgl. nur die Kompetenzen der EG in Art. 175 EG. 305
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
zu relativieren wissen als ein flüchtiger, unkritischer Konsument. Betrachtet man das deutsche Recht, so wird dort traditionell von einem flüchtigen Verbraucher ausgegangen307. § 17 I Nr. 5 LMBG stellt nun aber gemeinschaftsrechtlich durch die sog. EG-Etikettierungsrichtlinie 79/112/EWG308 harmonisiertes Recht dar, fällt in deren Regelungsbereich und ist daher im Lichte dieser Gemeinschaftsvorgabe zu interpretieren309. Der EuGH legt seinen Entscheidungen in mittlerweile ständiger Rechtsprechung das Bild eines „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verbrauchers“310 zugrunde. In richtlinienkonformer Auslegung liegt eine Irreführung im Sinne des § 17 I Nr. 5 LMBG deshalb nur dann vor, wenn ein verständiger, kritischer deutscher311 Verbraucher durch die äußere Darstellung zu einem Eindruck der Ware gelangte, hinter dem diese tatsächlich zurückbleibt. Schränkt eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung den strafrechtlichen Täuschungsschutz ein, wirkt diese Interpretation zugunsten des Täters, so dass das strafrechtliche Analogieverbot nicht tangiert wird. Auch der gesetzgeberische Wille wird geachtet, so dass es sich hierbei um einen zulässigen Anwendungsfall gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation handelt312.
307
Vgl. Zipfel/Rathke, § 17 LMBG Rn. 212 ff. m. w. N.; Fezer, JZ 1994, 317,
321. 308 ABl. 1979, Nr. L 33, S. 1; v. 18.12.1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür; geändert durch RL 97/4 v. 27.1.1997; ABlEG 1997, Nr. L 43, S. 21; RL 2000/13/EG v. 20.03.2000; ABlEG 2000, Nr. L 109, S. 29. 309 Vgl. Dannecker, WiVerw 1996, 190, 199. 310 EuGH, Rs. C-51/94, Slg. 1996, I-3617 „Kommission ./. Deutschland“; Rs. C-470/93, Slg. 1995, I-1923, 1936 „Mars“; ausdrücklich auch in Bezug auf Sekundärrecht Rs. C-210/96, Slg. 1998, I-4657, 4691 „Gut Springenheide und Tusky“; vgl. umfassend Niemöller, Das Verbraucherleitbild in der deutschen und europäischen Rechtsprechung, 1999. 311 Zwar gelten die europarechtlich entwickelten Kriterien, doch sind diese auf den nationalen Verbraucher zu beziehen, da sich angesichts sprachlicher, kultureller und sozialer Unterschiede in einem Mitgliedstaat eine Irreführung ergibt, während es in den übrigen daran fehlt, vgl. Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28 EGV Rn. 36. 312 So auch Dannecker, WiVerw 1996, 190, 191; Satzger, S. 592.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
329
(2) Lebensmittelrecht, freier Warenverkehr und europäisches Verbraucherleitbild Interessante Gesichtspunkte berührt die Frage der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des § 47 a IV LMBG, welcher das Strafblankett des § 52 II Nr. 11 LMBG ausfüllt. § 52 II Nr. 11 LMBG regelt: „Ebenso wird bestraft, wer entgegen § 47 a Abs. 4 Abweichungen nicht kenntlich macht.“
Zunächst ist der lebensmittelrechtliche Kontext des § 47 a IV LMBG zu beleuchten. Während § 47 I 1 LMBG noch ein absolutes Verbringungsverbot für Produkte normiert, die nicht den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen in Deutschland entsprechen, gilt dies gem. § 47 a I 1 LMBG nicht für Erzeugnisse, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und rechtmäßig in den Verkehr gebracht werden, sowie für diejenigen aus einem Drittland, die sich in einem Mitgliedstaat rechtmäßig im Verkehr befinden313. Gem. § 47 a IV LMBG sind solche Abweichungen angemessen kenntlich zu machen, soweit dies zum Schutz des Verbrauchers erforderlich ist. Offensichtlich ist zunächst, dass ein absolutes Verbringungsverbot für Gegenstände, die nicht den deutschen Vorschriften entsprechen, mit dem Prinzip des freien Warenverkehrs gem. Art. 28 EG kollidieren würde. Aus diesem Grunde wurde dann die Ausnahme für Waren aus anderen Mitgliedstaaten mit § 47 a I 1 LMBG eingefügt und damit das sog. Ursprungslandsprinzip in das LMBG eingeführt. Satzger zeigt zunächst den dargestellten historischen Hintergrund des § 47 a LMBG auf, wobei er das absolute Verkehrsverbot des § 47 I 1 LMBG als damalige Maßnahme gleicher Wirkung einordnete, weil auch heimische Erzeugnisse nicht in den Verkehr gebracht werden durften, wenn sie den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen nicht entsprachen. Nach Cassis seien aber nicht-diskriminierende Maßnahmen hinzunehmen, soweit diese notwendig seien, um zwingenden Erfordernissen wie dem Verbraucherschutz gerecht zu werden. § 47 a I LMBG diene der Festschreibung dieser Anforderungen, mache sie aber im § 47 a IV LMBG von der Kennzeichnung abhängig. Diene diese Pflicht dem Verbraucherschutz, so dürfe sie den durch Cassis abgesteckten Rahmen nicht verlassen, so dass die Erforderlichkeit der Kennzeichnung von Art. 28 EG, wie er vom EuGH ausgelegt werde, abhängt.
Satzgers Argumentation leidet unter dem Versuch, § 47 a IV LMBG in den zuvor entwickelten gemeinschaftsrechtlichen Kontext einzubinden. Dabei vermischt er zwei nationale Maßnahmen. Galt unter § 47 I 1 LMBG für alle Produkte, die nicht lebensmittelrechtskonform waren, ein Verbringungsverbot, so hat § 47 a I 1 LMBG dieses Verbot für Gemeinschaftswaren be313
Ausnahmen sieht § 47 a I 2 LMBG aus Gründen des Gesundheitsschutzes vor.
330
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
seitigt. Verbringungsverbote gelten gem. § 41 a I 2 LMBG einzig noch zum Zwecke des Gesundheitsschutzes, der damit die Ausnahme des Art. 30 EG konkretisiert und damit auch in dessen Lichte unter Berücksichtigung des gemeinschaftlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips zu interpretieren ist314. Anders verhält es sich dagegen mit den übrigen Produkten. Diesbezüglich führt § 47 a I 1 LMBG den freien Warenverkehr ein. Hier stellt nun § 47 a IV LMBG aber ein neues Gebot auf, welches am Maßstab des Art. 28 EG zu messen ist. Jene Kennzeichnungspflicht trifft aber nur Waren aus anderen Mitgliedstaaten und ist damit diskriminierender Natur. Satzger wäre deshalb bei sauberer Trennung der Maßnahmen aufgrund seiner Grundfreiheitsdogmatik gehindert gewesen, die immanente Schranke der CassisRechtsprechung heranzuziehen, so dass ihm allein die Argumentation mit der unflexiblen Schranke des Art. 30 EG geblieben wäre. Bereits oben bei der Entwicklung einer eigenen Dogmatik der Grundfreiheiten wurde dargelegt, dass eine Beschränkung der immanenten Schranke auf diskriminierungslos wirkende Maßnahmen nicht überzeugt. Der Aspekt des Verbraucherschutzes kann daher trotz der diskriminierenden Wirkung des § 47 a IV LMBG im Rahmen der Cassis-Rechtsprechung zur Rechtfertigung herangezogen werden. Doch steht auch jener Zweck unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit, so dass insbesondere zu eruieren ist, ob eine Kennzeichnungspflicht zum Schutze der Verbraucher erforderlich ist. An dieser Stelle kommt es, wie auch bei der Überprüfung sonstiger Sorgfaltspflichten im Rahmen des Produkthaftungsrechts entscheidend darauf an, welches Verbraucherleitbild man der Prüfung zugrundelegt. Legte man dem deutschen Verständnis entsprechend das Bild eines flüchtigen Verbrauchers zugrunde, so wären weitreichende Kennzeichnungsanforderungen an die Inverkehrbringer zu stellen. Der EuGH-Rechtsprechung entsprechend ist aber von einem umsichtigen Verbraucher auszugehen, so dass jenes Leitbild hier die gemeinschaftliche Erforderlichkeitsprüfung determiniert. § 47 a IV LMBG bietet nun mit der Formulierung „soweit dies zum Schutz des Verbrauchers erforderlich ist“, die Möglichkeit, diese gemeinschaftliche Vorgabe in die insoweit offene Norm hinein zu interpretieren. § 47 a IV LMBG lautet daher gemeinschaftsrechtskonform interpretiert, wie folgt: „. . . Abweichungen (sind) angemessen kenntlich zu machen, wenn dies zum Schutz eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verbrauchers erforderlich ist.“
Darüber hinaus beeinflusst das europäische Verbraucherleitbild nicht nur die untersuchte Frage nach der Erforderlichkeit, sondern auf identischem Wege auch die der Angemessenheit der Kennzeichnung. Eine Interpretation 314 Satzger, S. 592 ff. scheint entsprechend § 47 a IV LMBG einordnen zu wollen, dieser behält das Verbringungsverbot aber gerade nicht bei.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
331
im Lichte des europäischen Verbraucherleitbildes reduziert im Ergebnis die Sorgfaltsanforderungen an die Inverkehrbringer gegenüber dem ursprünglichen nationalen Verständnis und schränkt damit auch den Umfang der strafbewehrten Primärnorm des § 52 II Nr. 11 LMBG ein. Sie wirkt damit zugunsten des Täters. Die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen des Wortlauts und des gesetzgeberischen Willens sind aber ohnehin nicht tangiert. Allgemein sind hinsichtlich der Etikettierung die Harmonisierungsvorgaben der RL 79/112/EWG maßgebend, so dass sich die tatsächliche Umsetzung, soweit die Richtlinie Vorgaben enthält, allein an diesen zu orientieren hat. Umfassendere Kennzeichnungen sind dann unter Berufung auf den Verbraucherschutz nicht mehr möglich315. Auf dieser Linie liegt auch eine Entscheidung des BGH316, in der er sich u. a. mit einer Strafbarkeit wegen Inverkehrbringens irreführend dargebotener Produkte, sog. Anscheinsarzneimittel gem. § 52 I Nr. 10 i. V. m. § 17 I Nr. 5 c) LMBG auseinander setzen musste. Entscheidend und auch unter gemeinschaftsrechtlicher Sicht interessant war dabei zunächst die vorzunehmende Abgrenzung zwischen Arznei- und Lebensmitteln (vgl. § 2 I, III Nr. 1 AMG, § 1 I LMBG), denn insbesondere das deutsche AMG dient der Umsetzung der Arzneimittelrichtlinie317 (AMRL). Demnach war auch die Definition richtlinienkonform zu interpretieren. Im Lichte des Art. 1 Nr. 2 AMRL fand der BGH, dass es für die Einordnung als Lebens- oder Arzneimittel entscheidend auf die nach der Verkehrsauffassung gegebene Zweckbestimmung ankommt. Dabei zog der BGH dann erkennbar das gemeinschaftsrechtliche Verbraucherleitbild heran. Er entschied, dass bei der Prüfung, ob es sich bei den tatgegenständlichen Produkten um Arznei- oder Lebensmittel handelt, auf ihre an objektive Merkmale anknüpfende überwiegende Zweckbestimmung abzustellen sei, wie sie sich für einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verbraucher darstellt. Ergäbe sich unter Berücksichtigung dieser Merkmale die Einordnung als Lebensmittel, wäre zu prüfen, ob ein Verstoß gegen das Irreführungsverbot des § 17 I Nr. 5 LMBG gegeben ist. Oben wurde dargelegt, dass auch dieser durch Auslegung im Lichte der Etikettierungsrichtlinie hinsichtlich der äußeren Darbietung den Verständnishorizont eines verständigen Verbrauchers, also das europäische Verbraucherleitbild zugrunde zu legen hat. Im zu entscheidenden Fall kommt es dann in zweifacher Hinsicht auf die Heranziehung des europäischen Verbraucherleitbildes an. Zunächst entschei315
Vgl. EuGH, Rs. C-383/97, Slg. 1999, I-731, 766 „Van der Laan“. BGH, Urt. v. 25.4.2001 – 2 StR 374/00 (LG Bad Kreuznach). 317 RL 65/65/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten v. 26.1.1965, ABlEG Nr. L 22, S. 369; geändert durch RL 93/39/EWG v. 14.6.1993, ABlEG Nr. L 214/22. 316
332
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
det dies über die Einordnung, ob nach der objektiven Zweckbestimmung ein Lebens- oder Arzneimittel vorliegt. Folgt daraus die Lebensmittelqualität hat der Rechtsanwender nochmals unter Heranziehung des europäischen Verbraucherleitbildes den öffentlichen Auftritt des Produkts zu beurteilen. Sowohl die Produkteinordnung als auch seine Wahrnehmung werden folglich vom Verbraucherleitbild des EuGH beeinflusst. bb) Jugendarbeitsschutzvorschriften Waren die zuvor behandelten Gestaltungen problemlos einer gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation zugänglich, weil sie sich stets zugunsten des Täters auswirkten, so dass nicht weiter auf die Wortlautgrenze einzugehen war, lässt sich die Relevanz der entwickelten Grenzen am Jugendarbeitsschutzrecht illustrieren. (1) Kinderarbeitsverbot gem. §§ 58 V, VI i. V. m. § 58 I Nr. 1 JArbSchG und Betriebspraktika So enthalten § 58 V, VI JArbSchG Blankettstrafgesetze: „(5) Wer vorsätzlich eine in Absatz 1, 2 oder 3 bezeichnete Handlung begeht und dadurch ein Kind, einen Jugendlichen oder im Falle des Absatzes 1 Nr. 6 eine Person, die noch nicht 21 Jahre alt ist, in ihrer Gesundheit oder Arbeitskraft gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer eine in Absatz 1, 2 oder 3 bezeichnete Handlung beharrlich wiederholt. (6) Wer in den Fällen des Absatzes 5 Satz 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft.“
Gem. § 58 V, VI i. V. m. § 58 I Nr. 1 JArbSchG ist derjenige, der entgegen § 5 I JArbSchG Kinder beschäftigt, mit Strafe bedroht. Kind i. S. d. Gesetzes ist gem. § 2 I, III JArbSchG, wer noch nicht 15 Jahre alt ist; wer zwar älter aber noch vollzeitschulpflichtig318 ist. § 5 II Nr. 2 JArbSchG regelt z. B. aber eine Ausnahme vom Kinderarbeitsverbot für Berufspraktika. Nun dient das JArbSchG der Umsetzung der Richtlinie 94/33/EG des Rates über den Jugendarbeitsschutz319, die zwar ebenfalls eine Ausnahme für Betriebspraktika vorsieht, diese allerdings an die Bedingung knüpft, dass das 318 Die Vollzeitschulpflicht wird in den Landesschulgesetzen mit neun oder zehn Jahren festgelegt, so dass spät eingeschulte Kinder oder solche die eine Klasse wiederholen, trotz höheren Alters noch als Kinder i. S. d. Gesetzes gelten können. 319 Vom 22.06.1994, ABlEG 1994, Nr. L 216, S. 12.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
333
Kind mindestens 14 Jahre alt ist. Eine solche Bedingung findet sich im deutschen JArbSchG nicht ausdrücklich, so dass es fraglich erscheint, ob das Mindestalter im Wege gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation in die Vorschrift hineingelesen werden kann. Sieht nun aber das deutsche JArbSchG eine ausdrückliche Ausnahme für Betriebspraktika von „Kindern“ vor, welche in § 2 I, III JArbSchG legaldefiniert sind, mag eine teleologische Reduktion der Ausnahme durch Hineinlesen der Mindestaltersgrenze von 14 Jahren für das Arbeitsschutzrecht möglich sein320. Dies kann aber nicht für die Fälle gelten, in denen die Primärnorm als Ausfüllungsnorm für das Strafblankett fungiert. Eine solche teleologische Reduktion überschreitet die Wortlautgrenze und ist angesichts der gemeinschaftlichen Grenze der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im strafrechtlichen Analogieverbot nicht zulässig. Insoweit kommt es dann zu einer Normspaltung aufgrund der spezifisch strafrechtlichen Garantie. Ein Arbeitgeber, der Kinder unter 14 Jahren im Rahmen eines Betriebspraktikums beschäftigt, kann daher nicht nach § 58 V, VI i. V. m. § 58 I Nr. 1 JArbSchG bestraft werden. (2) Kinderarbeitsverbot gem. §§ 58 V, VI i. V. m. § 58 I Nr. 1 JArbSchG und Familienbetriebe Ähnliche Fragen wirft auch die Ausnahme des § 5 III 3 JArbSchG vom Kinderarbeitsverbot des § 5 I JArbSchG auf. Danach ist eine leichte und für Kinder geeignete Beschäftigung bei Kindern über 13 Jahren unter Einwilligung des Personensorgeberechtigten möglich. Gem. § 5 III 3, 1. Alt JArbSchG darf die tägliche Arbeitszeit max. 2 Stunden betragen. Die 2. Alt. sieht für landwirtschaftliche Familienbetriebe eine Höchstdauer von 3 Stunden täglich vor. Art. 8 II lit. c der Jugendarbeitsschutzrichtlinie beschränkt die Zulässigkeit leichter Arbeiten auf 2 Stunden pro Schultag, so dass sie der Ausnahme für landwirtschaftliche Betriebe zunächst entgegenzustehen scheint. Doch billigt Art. 2 II lit. B der Richtlinie Ausnahmen für „gelegentliche oder kurzfristige (. . .) Arbeiten in Familienbetrieben, sofern diese Arbeiten als für junge Menschen weder schädlich noch nachteilig noch gefährlich anzusehen sind.“ § 5 III 3 JArbSchG geht insoweit konform, als gem. § 5 III 3 JArbSchG nur „leichte“321 Beschäftigungen vom Arbeitsverbot ausgenommen werden. Problematisch erscheint allerdings, dass Art. 2 II lit. B der Richtlinie mit 320 321
Vgl. Schmidt, BB 1998, 1362. Vgl. § 5 III 2 JArbSchG.
334
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
der Formulierung „gelegentlich oder kurzfristig“ zusätzlich ein Zeitkriterium einführt, welches das JArbSchG nicht ausdrücklich übernimmt. Satzger meint eine richtlinienkonforme Interpretation des § 5 III 3, 2. Alt. JArbSchG sei in dem Sinne möglich, dass die Passage lauten müsste: „Die Kinder dürfen nicht mehr als zwei Stunden täglich, in landwirtschaftlichen Familienbetrieben gelegentlich oder kurzfristig auch bis zu drei Stunden täglich . . . beschäftigt werden.“ Auch die strafrechtliche Wortlautgrenze sei nicht tangiert. § 5 III 3 JArbSchG besage nichts über die Dauerhaftigkeit oder Häufigkeit der Beschäftigung. Zudem hätten Tätigkeiten in Familienbetrieben typischer Weise den Charakter von Aushilfsdiensten.
Zunächst sei bemerkt, dass die Heranziehung des – empirisch nicht belegten – typischen Charakters von solchen Diensten zur Auslegung eines Rechtssatzes als methodisch nicht vertretbar erscheint. Zudem scheint m. E. die Einordnung als bloß gelegentliche Aushilfsdienste der Praxis zumindest nicht regelmäßig zu entsprechen. Dass die Wortlautgrenze hier tangiert sein könnte, darauf deutet bereits die Tatsache, dass auch Satzger nicht bei der Interpretation eines Wortes ansetzt, sondern zusätzliche Kriterien einfügt. Einzig der Hinweis auf § 5 III 1, 2 JArbSchG, wonach ohnehin nur „leichte“ Beschäftigungen unter die Ausnahme fallen, könnte hier einen Ansatzpunkt bieten. Doch fallen darunter nach der Legaldefinition des § 5 III 2 JArbSchG nur solche Tätigkeiten, die aufgrund ihrer Beschaffenheit und der Bedingungen, unter denen sie ausgeführt werden, u. a. die Sicherheit, Gesundheit und Entwicklung der Kinder nicht nachteilig beeinflussen. So könnte auch der Zeitfaktor als eine solche Bedingung eingeordnet werden. Der Wortlaut steht hier jedenfalls nicht ausdrücklich entgegen. Dies hätte allerdings zur Folge, dass leichte Arbeiten im Sinne des JArbSchG immer nur gelegentliche oder kurzfristige Arbeiten sein könnten, was regelmäßige Arbeiten, z. B. das Zeitungsaustragen ausklammerte. Damit verkehrte man aber den Inhalt der Richtlinie und des Umsetzungsgesetzes, denn beide lassen grundsätzlich leichte Arbeiten unabhängig von ihrer Regelmäßigkeit bis zu 2 Stunden täglich zu. Längere Arbeitszeiten sollen nur ausnahmsweise, also „gelegentlich oder kurzfristig“ zulässig sein. Demnach kann nicht bereits die Legaldefinition der „leichten“ Beschäftigung gemeinschaftsrechtlich in dem erwogenen Sinne interpretiert werden. Da aber das bloße Einfügen von zusätzlichen Kriterien dem eindeutigen Wortlaut des § 5 III 3, 2. Alt. JArbSchG widerspricht, der in landwirtschaftlichen Betrieben eben immer leichte Arbeiten bis zu 3 Stunden zulässt und eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation des Begriffs der „leichten“ Beschäftigung den gesetzgeberischen Willen verkehrte, muss eine solche Auslegung jedenfalls im strafrechtlichen Bereich unterbleiben. Scheitert aber eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation des § 5 III 3 JArbSchG, so ist § 58 V, VI JArbSchG auf Sachverhalte, in denen Kinder
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
335
in landwirtschaftlichen Betrieben regelmäßig zwischen zwei und drei Stunden arbeiten, nicht anwendbar.
II. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Rahmen der Strafzumessung Zuvor konnte durch Beispiele die Vielfältigkeit der Konstellationen illustriert werden, in denen das Gemeinschaftsrecht im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Primärnormen im nationalen Recht zur Wirksamkeit verholfen werden kann. Neben diesem Einfluss auf die in den Primärnormen enthaltenen Ge- oder Verbote und deren Auswirkungen auf die Tatbestandsvoraussetzungen der Strafnormen ist auch im Rahmen der Strafzumessung eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation zu erwägen. Die nationalen Straftatbestände sehen Strafrahmen vor, in denen der Richter eine der Tat angemessene Strafe zu ermitteln hat. Dabei ist gem. § 46 I 1 StGB die Schuld des Täters Grundlage für die Zumessung der Strafe. Art und Höhe der Strafe sind danach also von der Schuld abhängig. Führt dies zwar zu einer gewissen Bindung richterlicher Entscheidungen, so sind letzte persönliche Wertungen und Einschätzungen bei der Bewertung der Schuldangemessenheit nicht auszuschließen. Jener persönliche Rest kann nur auf die Vertretbarkeit überprüft werden, was dazu führt, dass innerhalb des durch den jeweiligen Tatbestand vorgeschriebenen Strafrahmens eine weitere Reduzierung des richterlichen Ermessens auf den jeweiligen Fall bezogen existiert, den man als „Schuldrahmen“ bezeichnen könnte. Er gibt vor, welche Wertungen des Richters vertretbar sind und damit eine schuldangemessene Strafe stützen können322. Präventionsgesichtspunkte können dann nur innerhalb dieses Rahmens fruchtbar gemacht werden. Die bei der Behandlung des Vorrangprinzips entwickelte Differenzierung zwischen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für rein nationales Strafrecht und solches im Dienste der Gemeinschaft konnte bereits zuvor bei der Einbeziehung gemeinschaftlicher Rechtsgüter in die nationalen Straftatbestände fruchtbar gemacht werden. Auch im Rahmen der Strafzumessung sind die unterschiedlichen Vorgaben zu beachten. Während für rein nationales Strafrecht allein gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen entwickelt wurden, gelten für Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft daneben auch Untergrenzen im Sinne von Mindestanforderungen.
322
So die sog. Spielraumtheorie, vgl. BGHSt 7, 32; 20, 264; 24, 133.
336
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
1. Rein nationales Strafrecht – Obergrenzen In der Konsequenz des hier entwickelten dogmatischen Konzepts liegt es, zunächst die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts für diesen Bereich im Wege der Interpretation genau zu entwickeln, bevor auf die Umsetzung dieser Vorgaben im nationalen Recht einzugehen ist. Rekapituliert man die im 1. Teil gefundenen Ergebnisse, so enthält das Gemeinschaftsrecht für rein nationales Strafrecht insbesondere Obergrenzen, die durch die Grundfreiheiten bestimmt werden. Deren Regelungsbereich wurde allerdings funktional begründet auf ein gleichheitsrechtliches Verständnis zurückgeführt. Bevor überhaupt eine grundfreiheitskonforme Auslegung in Betracht zu ziehen ist, kommt es deshalb darauf an, eine diskriminierende Wirkung des nationalen Sanktionenbefehls darzulegen Die h. M. ist hier zunächst mit einer wesentlich breiteren Grundfreiheitsrelevanz konfrontiert, da ihrer Ansicht nach auch Maßnahmen gleicher Wirkung Grundfreiheitsrelevanz aufweisen. Es wird dann versucht, diese Wirkung mit zweifelhaften und inkonsequenten dogmatischen Korrekturen zu beseitigen. Der Eingriff kann aber auch nach freiheitsrechtlicher Lesart stets im sanktionenrechtlichen Verhaltensbefehl liegen, so dass die Differenzierung zwischen Eingriffen durch die Höhe und die Natur verfehlt ist323.
Vor dem Hintergrund gleichheitsrechtlicher Lesart konnte die stets diskriminierende Wirkung der Ausweisung dargelegt werden, so dass dieser Verhaltensbefehl in gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalten nur verhängt werden darf, sofern er einer Rechtfertigung zugänglich ist. Es stellt sich daher allein die Frage nach der Umsetzung dieser Vorgabe im Falle verbotener Ausweisung. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Anwendungsvorrang und gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung wurde festgestellt, dass der nationale Rechtsanwender verpflichtet ist, sämtliche Möglichkeiten der Auslegung auszuschöpfen, bevor er die nationale Strafnorm unangewendet lässt. Deshalb gilt es zu differenzieren. Sieht die nationale Strafnorm verschiedene Sanktionsmöglichkeiten vor, die auch eine Ausweisung umfassen, könnte der nationale Rechtsanwender die nationale Strafnorm bzw. ihren Rechtsfolgenteil in gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation derart anwenden, dass er den Strafrahmen im Übrigen ausschöpft. Die Nichtverhängung der Ausweisung wäre dann Auslegung der Strafnorm und nicht Anwendungsfall des Vorrangprinzips. Ist Satzger dagegen gezwungen aufgrund seiner freiheitsrechtlichen Lesart der Grundfreiheiten auch Strafen gleicher Wirkung auf ihre Gemeinschaftsrechtskonformität zu überprüfen, setzt er hinsichtlich der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation bereits bei der Bestimmung des Schuldrahmens an: „Die gemein323 Satzger, S. 631 ff. prüft dann nicht überzeugend, aber vor seiner Lösung konsequent nur die bezweckten Eingriffe.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
337
schaftsrechtlichen Strafobergrenzen ergeben sich [. . .] aus der grundfreiheitlichen Relevanz des Täterverhaltens. Der Erfolgs- wie auch der Handlungsunwert der Tat ist in diesen Fällen im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang zu betrachten. Dieser gemeinschaftsrechtliche Kontext rückt das Täterverhalten in ein anderes, milderes Licht, die Grundfreiheiten beeinflussen so die Beurteilung der Frage, inwieweit der Rechtsfrieden gestört wurde.“324
Diese Betrachtung Satzgers überzeugt nicht. Es kann doch für die Bestimmung des Schuldrahmens nicht relevant sein, ob der Rechtsunterworfene z. B. einen Mord bei der Ausübung einer Grundfreiheit begeht. Es geht doch allein um die Auswirkung der Sanktion bzw. ihres Befehls. Dabei spielt das Verhalten, welches zu jener Sanktion geführt hat, doch nur noch bei der Feststellung eine Rolle, ob sie diskriminierender Natur ist. Nach hier vertretener Ansicht ist der Strafrahmen auf nichtdiskriminierende Sanktionen zu verkürzen. In diesem reduzierten Strafrahmen, ergibt sich dann der angemessene Schuldrahmen. Nun gilt aber gerade auch im Recht der Sanktionen der Grundsatz „nulla poena sine lege“. Eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation im obigen Sinne widerspricht dem Wortlaut des Strafrahmens aber nicht. Sämtliche Sanktionen auch des insoweit verkürzten Strafrahmens wurden durch den Gesetzgeber vorgegeben. Sieht das nationale Recht dagegen zwingend eine Ausweisung oder eine andere diskriminierende Sanktion325 vor, so scheitert eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation am Wortlaut. Zu erwägen ist dann eine analoge Anwendung nationaler Strafmilderungsgründe326, um zu vermeiden, dass die gesamte Strafnorm infolge des Vorrangprinzips unanwendbar wird und eine Strafbarkeitslücke entsteht. Gerade der letzte Halbsatz beleuchtet aber bereits den entscheidenden Einwand gegen ein solches Vorgehen, denn eine gemeinschaftsrechtskonforme Analogie ist im Strafrecht nur zugunsten eines Angeklagten zulässig. Bei genauer Betrachtung wirkte sich diese Rechtsfortbildung aber gegen den Angeklagten aus. Bewirkt sie zwar vordergründig eine Strafmilderung, so verkürzt diese Betrachtung aber ihre eigentliche Wirkung. Griffe sie nämlich nicht ein, so wäre der Angeklagte infolge des Anwendungsvorrangs straflos. Die Analogie wirkte damit strafbegründend, also zu Lasten des Angeklagten und ist damit sowohl national als auch gemeinschaftsrechtlich unzulässig327. Der nationale Rechtsanwender ist also in gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalten verpflichtet, durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung eine 324
Satzger, S. 633. Diese Wirkung kann sich z. B. daraus ergeben, dass selbst das Mindestmaß des Strafrahmens für EG-Ausländer höher ist, als das Höchstmaß für Inländer. 326 Satzger, S. 634 f. erwägt eine analoge Anwendung des § 49 StGB. 327 Satzger, S. 635 f. schlägt deshalb eine gesetzgeberische Lösung des Problems vor, um Strafbarkeitslücken zu vermeiden. 325
338
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
diskriminierungsfreie Sanktion zu verhängen. Kann bereits keine diskriminierende Wirkung der rein nationalen Sanktionsnorm festgestellt werden, bilden allein das nationale Grundrechtsregime und die nationalen Rechtsstaatsgewährleistungen den Maßstab, es sei denn, es finden sich besondere Vorgaben im sekundären Gemeinschaftsrecht. 2. Nationales Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft Das Strafrecht steht im Dienste der Gemeinschaft, wenn es gemeinschaftliche Rechtsgüter und Interessen bewehrt. Neben der gemeinschaftlichen Obergrenze, die im Vergleich zum rein nationalen Strafrecht um die allgemeinen Rechtsgrundsätze ergänzt wird, instrumentalisiert das Gemeinschaftsrecht an dieser Stelle das nationale Strafrecht. Es bestehen Mindestanforderungen an die mitgliedstaatliche Sanktionierung in dem Sinne, dass gemeinschaftliche Rechtsgüter und Interessen dem Grunde nach gleich den nationalen Rechtsgütern strafrechtlich zu schützen sind, unter dem Vorbehalt, dass jener Schutz wirksam, angemessen und abschreckend ist. Anders als beim Vorrang des Gemeinschaftsrechts kommt es hinsichtlich der Mindestanforderungen bei der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, wie gezeigt, nicht auf deren unmittelbare Anwendung an. Daher gelangen hier alle vom EuGH postulierten Anforderungen ins Blickfeld des Interpreten. a) Gemeinschaftsrechtliche Obergrenzen für die Strafzumessung beim Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft Deutsches Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft darf nicht gegen die gleichheitsrechtlich interpretierten Grundfreiheiten und Sekundärrecht verstoßen. Diesen Vorgaben ist auf oben beschriebenem Wege in den Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation zur Wirksamkeit zu verhelfen. Zusätzlich bewegt sich der nationale Rechtsanwender noch in der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, wenn er nationales Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft anwendet. Damit ist er vermittelt über die Vorgaben des Art. 10 EG auch an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gebunden, so dass die nationalen Sanktionen insbesondere nicht in unverhältnismäßiger Weise in die Gemeinschaftsgrundrechte eingreifen dürfen. Auch diesen Vorgaben ist entsprechend den zuvor für die Grundfreiheiten dargestellten Grundsätzen durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung zur Wirksamkeit zu verhelfen.
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b) Gemeinschaftsrechtliche Mindestanforderungen für die Strafzumessung beim Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft Verlangt das Gemeinschaftsrecht mit der abschreckenden Wirkung die Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Sanktionierungsbedürfnisse, so stellt sich die Frage, wie derartige Mindestanforderungen im Rahmen deutscher Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Ermittelt der deutsche Richter die Tatschuld, so wird diese durch den Erfolgs- und Handlungsunwert bestimmt. Im gemeinschaftsrechtlich determinierten Sachverhalt gibt nun das Gemeinschaftsrecht vor, dass Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht „abschreckend“ sanktioniert werden. Dieser gemeinschaftliche Impetus kann anders als beim rein nationalen Strafrecht also bereits bei der Bestimmung des Schuldrahmens Berücksichtigung finden und führt im Wege einer gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation zu einer Anhebung der Mindeststrafe. Geht der nationale Strafrichter in dem gezeichneten Wege vor, so überschreitet er nicht die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, denn die Interpretation setzt hier beim Begriff der Schuld i. S. d. § 46 I StGB an, der insoweit einem gemeinschaftlichen Verständnis zugänglich ist. Die Grenzen der Pflicht aus Art. 10 EG erlangen allerdings im Hinblick auf die in den jeweiligen Delikten vorgesehenen Strafrahmen Bedeutung. Insoweit hat der nationale Gesetzgeber entschieden, dass schuldangemessene Strafen für die jeweilige Deliktsbegehung nur in dem vorgesehenen Strafrahmen möglich sind. Der nationale Richter hat die Grenzen des Wortlauts und des gesetzgeberischen Willens zu beachten. Beispielsweise könnte eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung dazu führen, dass in Fällen, in denen der Strafrahmen eigentlich Geld- oder Freiheitsstrafe vorsieht und rein national betrachtet, Geldstrafen für das in Rede stehende Vergehen als schuldangemessen betrachtet werden, der Schuldrahmen im Lichte gemeinschaftlicher Präventionserfordernisse interpretiert werden muss und allein Freiheitsstrafen als schuldangemessen zu erachten wären. Hinzuweisen ist aber auch an dieser Stelle auf den Umstand, dass es sich bei der abschreckenden Wirkung um gemeinschaftliche Rahmenbegriffe handelt, so dass dem nationalen Rechtsanwender ein erheblicher Spielraum bei der Beurteilung der abschreckenden Wirkung zukommt. Das Gemeinschaftsrecht bildet nur einen äußeren Rahmen. Dies erscheint auch sinnvoll, berücksichtigt man, dass gesicherte Erkenntnisse zur Abschreckungswirkung von Strafnormen kaum vorhanden sind und die spezial- und generalpräventive Kraft von mannigfaltigen kulturellen, sozialen und sonstigen Einflüssen abhängt. Denkbar wäre auch, dass statt 1 Jahr Freiheitsstrafe mindestens 2 Jahre erforderlich sind.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Dagegen scheidet eine gemeinschaftlich bestimmte schuldangemessene Freiheitsstrafe aus, wenn der Straftatbestand lediglich eine Geldstrafe vorsieht. Auch wenn das Gesetz ausdrücklich Freiheitsstrafen bis zu 1 Jahr vorsieht, sind Strafen, die darüber liegen, nicht möglich. Fordert das Gemeinschaftsrecht eine schuldangemessene Strafe, die über dem liegt, was der Gesetzgeber vorgesehen hat, so scheidet eine gemeinschaftsrechtskonforme Analogie aus. In solchen Fällen muss dann der deutsche Gesetzgeber tätig werden, will er sich nicht der Gefahr aussetzen, mit einem gemeinschaftlichen Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 226, 227 EG überzogen zu werden.
III. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung sonstiger Vorschriften des Allgemeinen Teils Neben den Vorschriften des Besonderen Teils, die sowohl tatbestandlich als auch hinsichtlich der Rechtsfolge den Einflüssen des Gemeinschaftsrechts unterliegen und wie gesehen keiner Sonderbehandlung bedurften, existiert daneben der Allgemeine Teil des StGB. Bei der Schaffung hat sich der Gesetzgeber der Technik des „Vor die Klammer Ziehens“ bedient. Die Vorschriften gelten folglich im gesamten Besonderen Teil. Bereits vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass auch der Allgemeine Teil keine Sonderbehandlung durch das Gemeinschaftsrecht erfahren darf. Bereits die Behandlung des § 46 StGB, der Fahrlässigkeit sowie des Unterlassens haben angedeutet, dass sich Einflüsse auf die Vorschriften des Besonderen Teils des StGB und solche auf den Allgemeinen Teil ohnehin nicht trennen lassen, was das Gebot einheitlicher Beurteilung unterstreicht. Zudem kann diese national veranlasste Trennung für die gemeinschaftsrechtliche Relevanz nicht maßgebend sein. Wie oben bereits hinsichtlich der Rechtfertigungsgründe ausgeführt, ist allein der Effekt auf das Gemeinschaftsrecht entscheidend. Die gemeinschaftsrechtlichen Einflüsse, insbesondere der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation der Vorschriften des Allgemeinen Teils sollen nachfolgend an einigen Beispielen illustriert werden. Dabei kann bereits an dieser Stelle allgemein auf die besondere Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts in diesem Bereich hingewiesen werden. Sie modifizieren die allgemeine Pflicht aus Art. 10 EG, so dass es bereits an einem Widerspruch zu den nationalen Gewährleistungen des Allgemeinen Teils des StGB fehlen wird, wenn es sich bei den vordergründig widersprechenden nationalen Bestimmungen um „geronnenes Verfassungsrecht“ handelt. Bevor man einen Widerspruch fingiert, gilt es hier stets genau den Inhalt der Pflicht aus Art. 10 EG zu bestimmen.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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1. Versuchsstrafbarkeit im Lichte des Art. 10 EG interpretiert Fraglich erscheint, ob die deutsche Versuchsstrafbarkeit einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zugänglich ist. Gem. § 23 I StGB ist der Versuch eines Verbrechens stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt. Denkbar sind nun Gestaltungen, in denen das Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft steht, Verstöße aber im Mindestmaß unter einem Jahr bestraft werden, so dass sie kein Verbrechen darstellen (§ 12 StGB). Ist die Versuchsstrafbarkeit jener Vergehen dann nicht ausdrücklich angeordnet, so wäre der Versuch gem. § 23 I StGB nicht strafbar. Weder eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der besonderen Strafnormen noch des § 23 I StGB ist angesichts des eindeutigen Wortlauts denkbar. Eine Analogie scheidet aufgrund der Wirkung zu Lasten der Rechtsunterworfenen aus. Andererseits wurde dargelegt, dass die Sanktionsseite in dem Sinne gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren sein kann, dass innerhalb des Strafrahmens, mag er auch unterhalb eines Jahres beginnen, nur Strafen über einem Jahr als schuldangemessen zu verhängen sind. Fraglich ist, ob sich dann die Deliktsnatur in ein Verbrechen kehrt, so dass auch der Versuch strafbar wäre. Ein solches Verständnis überzeugt nicht. Sowohl das nationale als auch das gemeinschaftsrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip, wonach sich die Strafbarkeit eindeutig aus einem Gesetz ergeben muss, gilt auch für den Allgemeinen Teil des StGB328. Die Versuchsstrafbarkeit ginge in diesem Fall nicht mehr eindeutig aus dem Gesetz hervor, welches auf die Deliktsnatur des Vergehens schließen lässt, so dass eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Lichte des Art. 10 EG nicht möglich ist. Gleiches gilt für die Erweiterung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, denn insoweit bestimmt § 15 StGB, dass nur vorsätzliches Handeln strafbar ist, wenn das Gesetz nicht ausdrücklich auch fahrlässiges Handeln mit Strafe bedroht. Stellt man also gemeinschaftsrechtlich, insbesondere im Lichte des Art. 10 EG ein Bedürfnis der Strafbarkeit fahrlässigen Handelns oder des Versuchs um der wirksamen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts willen fest, kann dieser Anforderung im deutschen Strafrecht nur gesetzgeberisch genügt werden.
328
Allgemeine Meinung, vgl. stellvertretend Tröndle/Fischer, § 1 Rn. 2a.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
2. Strafbarkeit juristischer Personen infolge einer Interpretation im Lichte des Art. 10 EG Anders könnte sich die Situation jedoch bei der Strafbarkeit juristischer Personen darstellen. Nach deutschem Verständnis sind juristische Personen und Verbände nicht handlungsfähig im natürlichen Sinn329. Deshalb können sie nicht mit Kriminalstrafe belegt werden. Zwar klingt jene Begrenzung auf die Strafbarkeit natürlicher Personen im StGB immer wieder an, z. B. wenn die Schuld zur Voraussetzung erklärt (§ 1 StGB) oder in § 14 StGB die Organ- und Vertreterstrafbarkeit etabliert wird. Dennoch kommt die Begrenzung auf ein strenges Schuldverständnis und somit auf natürliche Personen nicht derart gesetzlich zum Ausdruck, dass eine juristische Personen oder Verbände im allgemeinen erfassende Interpretation330 der besonderen Strafvorschriften, die regelmäßig neutrale Formulierungen, wie z. B. „wer“ oder „jemand“ enthalten, ausgeschlossen wäre. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts schließen jedenfalls eine strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen nicht aus331. Dazu bedürfte es aber der Feststellung, dass die Anwendung deutscher Strafvorschriften mit der Beschränkung auf die Strafbarkeit natürlicher Personen nicht ausreichte, um dem Gemeinschaftsrecht zur Wirksamkeit zu verhelfen. Eine solche Behauptung ist angesichts des Charakters der Wirksamkeit als gemeinschaftsrechtlicher Rahmenbegriff, welcher den Mitgliedstaaten kein unerhebliches Ermessen bei der Beurteilung der Wirksamkeit zugesteht, nicht zu erwarten. Daher wird die Anwendung des Gleichstellungserfordernisses insoweit zu befriedigenden gemeinschaftsrechtskonformen Ergebnissen führen332. Die sonen schen lichen
Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Perim Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ist im deutRecht zwar grundsätzlich möglich, doch mangels einer diesbezüggemeinschaftlichen Vorgabe derzeit nicht zu erwarten.
329 Lackner/Kühl, § 14 Rn. 1a; Tröndle/Fischer, vor § 13 Rn. 34 unter Hinweis auf § 30 OWiG, der die Möglichkeit einer Geldbuße gegen juristische Person vorsieht, wenn deren vertretungsberechtigte Organe eine Straftat begangen haben. 330 Eine derartige Strafbarkeit existiert vornehmlich in Rechtsordnungen, denen eine instrumental präventionistische Vorstellung zugrunde liegt, nämlich im angelsächsischen Rechtskreisen, wie z. B. USA, Großbritannien, aber auch in den Niederlanden, Frankreich, vgl. Köhler, Mangakis-FS, 751, 752. 331 Vgl. EuGH, Rs. 326/88, Slg. 1990, I-2911 „Hansen“; a. A. Köhler, MangakisFS, 751, 752 erblickt darin einen Verstoß gegen das Schuldprinzip. 332 Vgl. EuGH, Rs. C-7/90, Slg. 1991, I-4371 „Vandevenne“.
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
343
3. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Rahmen des Intertemporalen Strafrechts „Lex posterior derogat legi priori.“
Dieses Grundprinzip, wonach die vorgehende durch die nachfolgende Regel derogiert wird, wird im Strafrecht durch das im § 2 I StGB als Ausfluss des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 II GG verankerte Tatzeitrecht durchbrochen: „Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.“
Dementsprechend gilt das Tatzeitrecht auch in dem Fall, wenn das Recht nach der Tat verändert wird. Andererseits durchbricht § 2 III StGB diesen Grundsatz wiederum und bestimmt: „Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.“
Dieses sog. Lex-mitior-Prinzip bewirkt, dass durch eine Rechtsänderung nach Tatbegehung, aber vor der Entscheidung hervorgerufene Strafmilderungen oder Straffreiheit dem Täter zugute kommen. Nun ist es denkbar, dass ein Gemeinschaftsrechtsakt eine solche Rechtsänderung zugunsten des Täters zwischen Tatbegehung und Entscheidung bewirkt, z. B. indem er bisher nach nationalem Recht strafbares Verhalten als erlaubt einstuft. Ist dieser Gemeinschaftsrechtsakt unmittelbar anwendbar, ist die Strafnorm vermittelt über die Primärnorm infolge des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts unanwendbar. Im Falle der Verordnung tritt jene Wirkung mit In-Kraft-Treten ein, vgl. Art. 254 EG, während diese Wirkung einer Richtlinie erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist zukommen kann. Liegen die jeweils erheblichen Zeitpunkte nach der Tatbegehung, aber vor der Entscheidung, so ordnet das Gemeinschaftsrecht zwar eine solche Rückwirkung dieser tätergünstigen Rechtsänderung auf den Tatzeitpunkt nicht an, doch steht es einer national angeordneten Rückwirkung, wie sie § 2 III StGB enthält, auch nicht entgegen. Ein solcher Sachverhalt ergab sich in der Rs. Sanz de Lera333. Das nationale Gericht wies darauf hin, „[. . .] dass der in seinem nationalen Recht bekannte Grundsatz der Rückwirkung des günstigen Strafgesetzes die nationalen Vorschriften, unter deren Geltung die Straftaten begangen worden seien, unanwendbar mache, wenn diese Vorschriften 333 EuGH, verb. Rs. C-163, C-165 u. C-250/94, Slg. 1995, I-4821 „Sanz de Lera“ Einschub in Klammern ist Ergänzung des Verfassers; vgl. auch die verb. Rs. 358 u. 416/93, Slg. 1995, I-361 „Bordessa“; Rs. C-193/94, Slg. 1996, I-929 „Skanavi“; Rs. C-230/97, Slg. 1998, I-6781 „Strafverfahren gegen Ibiyinka Awoyemi“; Rs. C-319/97, Slg. 1999, I-3143 „Antoine Kortas“.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
sich als unvereinbar mit den (erst nach Tatbegehung in Kraft getretenen) Artikel 73 b bis 73 d erwiesen.“
Der EuGH maß die nationalen Vorschriften an den Art. 73 b bis 73 d EGV (jetzt: Art. 56 bis 58 EG), billigte also die nationale lex-mitior-Regel. Darüber hinaus wurde diese sogar ausdrücklich in Art. 49 I 3 der Grundrechtscharta aufgenommen, der zwar bisher keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, doch ist zu erwarten, dass der EuGH sich jener als Rechtserkenntnisquelle bedienen wird, so dass ihr mittelbare Geltung bereits jetzt zukommt. Art. 49 I 3 der Charta bestimmt: „Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“
Besondere Probleme entfaltet aber die Umsetzungsfrist der Richtlinie, wenn der Täter eine Handlung begeht, die zum Tatzeitpunkt nach nationalem Recht strafbar ist, der Rat der EG im Anschluss, aber vor der Entscheidung in der Strafsache, eine der unmittelbaren Anwendbarkeit fähige Richtlinie erlässt, wonach das Verhalten des Täters nicht mehr strafbar wäre. Ergeht die Entscheidung dann vor Ablauf der Umsetzungsfrist, so entfaltet die Richtlinie noch keine unmittelbare Wirkung und der Angeklagte wäre zu verurteilen, obwohl zu jenem Zeitpunkt bereits feststeht, dass sein Verhalten in naher Zukunft nicht mehr strafbar sein würde. Somit hängt seine Verurteilung von der zufälligen Geschwindigkeit der gerichtlichen Bearbeitung ab. Anders als in rein nationalen Fällen künftiger Rechtsänderung ist diese auch nicht nur absehbar. Die Richtlinie ist vielmehr bereits in Kraft und verpflichtet die Mitgliedstaaten. Schließlich können diese die Richtlinie bereits vor dem Ablauf und vor dem Urteil in nationales Recht umsetzen. Die Strafbarkeit hinge somit von der Umsetzungsgeschwindigkeit der Mitgliedstaaten ab. Satzger versucht jenes Problem zu lösen, indem er auf die Wirkungen der Richtlinien hinweist, die jene bereits vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist entfalten und nennt dabei neben der gesetzgeberischen Verpflichtung und dem Frustrationsverbot vor allem die Pflicht der Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung bereits vor Fristablauf. Die Rechtsänderung stehe nicht mehr zur Disposition des Mitgliedstaats. Diese Besonderheiten sprächen dafür, den § 2 III StGB gemeinschaftsrechtskonform so auszulegen, dass unter einer „Gesetzesänderung“ bereits das In-Kraft-Treten (Art. 254 EG) einer hinreichend bestimmten Richtlinie zu verstehen ist, die nach ihrem Inhalt einer Bestrafung zuwiderläuft334.
Auf den Umstand, dass eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung erst nach Ablauf der Umsetzungspflicht besteht, wurde an anderer Stelle umfassend eingegangen. Aber auch im Übrigen vermag dieser Be334 Satzger, S. 638 f.; unter Hinweis auf Gleß, GA 2000, 224, 234 f.; Nieto Martin, S. 259 ff. bzgl. Art. 24 código penal (a. F.).
B. Das Prinzip in Anwendung deutscher Strafnormen
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gründungsversuch nicht zu überzeugen. Strebt Satzger eine gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation des Wortes „Gesetzesänderung“ an, so muss er diesbezügliche Vorgaben aus dem Gemeinschaftsrecht benennen. Nebulöse Hinweise auf Pflichten, die Richtlinien bereits vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist entfalten, können hier nicht ausreichen. Wollte man gemeinschaftsrechtskonform interpretieren, bedürfte es einer gemeinschaftlichen Vorgabe, die verlangt, bereits das In-Kraft-Treten einer Richtlinie als „Gesetzesänderung“ anzusehen, andernfalls räumte man Richtlinien bereits vor Fristablauf unmittelbare Wirkung ein. Einen Ansatz in jene Richtung könnte Art. 49 I 3 der Charta der Grundrechte bieten, der sanfter von „Einführung“ statt von „Änderung“ spricht. Angesichts seiner Rechtsprechung ist jedoch nicht davon auszugehen, dass er infolge dieser Begrifflichkeit die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht auf diese Fälle ausweiten wird. Der EuGH war mit einer solchen Vorlagefrage in der Rs. Ratti335 befasst. Der bereits an anderer Stelle angesprochene Sachverhalt soll hier nochmals in Erinnerung gerufen werden. Es ging u. a. um die Richtlinie 77/728, die bis zum 9. Januar 1979 in nationales Recht umzusetzen und nach Ansicht des Herrn Ratti unmittelbar anwendbar war. Die Richtlinie enthielt z. T. mildere Vorschriften in Bezug auf Lacke und Lösungsmittel als das 1978 in Italien noch gültige Gesetz Nr. 245, welches für den Fall seiner Verletzung Geldstrafen androhte. Als die Firma Silvam im Jahre 1978, d.h. vor Ablauf der Umsetzungsfrist, begann, die Richtlinienbestimmungen auf ihre Lacke und Lösemittel anzuwenden, wurde gegen den Leiter, Herrn Ratti, bei der Pretura Mailand ein Strafverfahren eingeleitet. Der EuGH entschied auf die Vorlagefrage, dass die Richtlinie vor dem Ablauf der dem Mitgliedstaat gewährten Anpassungsfrist keine Wirkung erzeugen könne, die von den nationalen Gerichten zu berücksichtigen wäre. Satzger versucht nun diesem Urteil angesichts „der neueren Rechtsentwicklung zur rechtlichen Wirkung von Richtlinien vor Fristablauf“, wonach Richtlinien bereits vor Fristablauf Wirkungen im Sinn eines Frustrationsverbotes entfalten, die Bedeutung zu nehmen.336
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die „neuere Rechtsentwicklung“ eben nur ein Frustrationsverbot etabliert, welches aus dem Umstand folgt, dass die Umsetzungsverpflichtung bereits ab In-Kraft-Treten der Richtlinie existiert. Erlässt nun der nationale Gesetzgeber ein Gesetz, von dem bereits zum Zeitpunkt des Erlasses feststeht, dass es auch bei Fristablauf bestehen wird, so rechtfertigt allein dieser Umstand der Frustration die Annahme eines Verstoßes bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist. Nichts 335 336
EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1970, 1629 „Ratti“. Satzger, S. 639 f.
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2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
anderes besagt die Entscheidung in der Rs. Inter-Environnement Wallonie ASBL337. Eine Ausdehnung dieses Frustrationsverbots auf eine „auf den konkreten Fall bezogenen Frustration“, wenn „die Entscheidung auf schwerwiegende und dauerhafte Folgen angelegt ist, die auch nach Fristablauf wirksam bleiben“ wie Satzger338 es versucht, missachtet die Grundlagen der Rechtsprechung, die zu jenem Frustrationsverbot geführt haben. Einzelfallentscheidungen vor Ablauf der Umsetzungsfrist sind gerade nicht dazu geeignet, das Richtlinienziel zu vereiteln. Die Herbeiführung der Richtlinienkonformität ist dem nationalen Gesetzgeber nach wie vor uneingeschränkt möglich. Es wird auch nicht „die alte Rechtslage verfestigt und deren Effekt für die Zukunft konserviert, so dass nicht hinnehmbare Wertungswidersprüche mit dem von der Richtlinie bezweckten Rechtszustand einträten“339. Zu beachten ist nämlich, dass ein Urteil immer nur Aussagen über einen Verstoß gegen das jeweils anzuwendende Recht enthält, nicht aber über die Rechtmäßigkeit zum jeweiligen Betrachtungszeitpunkt. Insbesondere vermag auch die Abhängigkeit der Rechtswirkung einer Norm von der Schwere und Dauer der Folgen im Einzelfall nicht zu überzeugen. Im Ergebnis ist daher eine Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des § 2 III StGB abzulehnen. Will man die dargestellten unliebsamen kriminalpolitischen Folgen, ein Verhalten zu bestrafen, was möglicherweise bereits am Tag nach Urteilsverkündung, mit Sicherheit aber in naher Zukunft straflos sein wird, vermeiden, ist allenfalls zu erwägen, auf der Basis nationaler Interpretationsmethoden ein modifiziertes Verständnis des § 2 III StGB zu entwickeln. Setzt dieser aber seinem Wortlaut nach eine „Gesetzesänderung“ voraus, so dass der bloße Erlass einer Verpflichtung neues Recht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu schaffen, kaum noch unter diesen Begriff zu subsumieren wäre. Er verlangt vielmehr konkrete Rechtswirkungen für den Einzelnen in der Gegenwart. Deshalb dürfte dieses Problem allenfalls im Wege einer Analogie zu lösen sein, die schließlich auch zugunsten des Angeklagten wirkte. Das strafrechtliche Analogieverbot stünde folglich nicht entgegen. Bei Erlass des § 2 III StGB existierten derartige Gemeinschaftsrichtlinien und Umsetzungsfristen nicht. Die Interessenlage ist aber vergleichbar, denn in beiden Fällen steht die Gesetzesänderung unausweichlich fest, ist sie bei der Richtlinie auch noch nicht vollzogen. Ziel dieser Regelung ist es, der spezial- und generalpräventiven Wirkung der Strafe nicht den Boden zu 337 EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 „Inter-Environnement Wallonie ASBL ./. Region wallonne“. 338 Satzger, S. 640 unter Hinweis auf GA Jacobs, in: Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 „Inter-Environnement Wallonie ASBL ./. Region wallonne“. 339 Satzger, S. 640.
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entziehen und der Strafe nicht die Sinnhaftigkeit des sozialethischen Tadels zu nehmen. Dies wäre nämlich der Fall, spräche man ein Urteil aus, obwohl zu jener Zeit das geschriebene Recht die sozialethische Billigung zum Ausdruck bringt. Dieser Interessenlage entspricht nun aber auch die zu beurteilende Konstellation, denn ist auf Gemeinschaftsebene ein bestimmtes Verhalten bereits als sozialethisch billigenswert auch für die Mitgliedstaaten verbindlich eingeordnet worden, so wäre ein widersprechendes Urteil kontraproduktiv. Diese Erwägungen rechtfertigen folglich eine analoge Anwendung des § 2 III StGB, welche allerdings nicht gemeinschaftsrechtlich geboten, sondern auf der Grundlage nationaler Methodenlehre zu erzielen wäre. Damit wird der Richtlinie auch keine über ihre rechtliche Bindungswirkung hinausgehende Kraft zugeschrieben, denn – wie dargestellt – existiert das Umsetzungsgebot an den Gesetzgeber bereits ab In-Kraft-Treten. Daraus folgt zwar, dass bis zum Ablauf der Frist keine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung durch die Rechtsanwender besteht, doch steht das Gemeinschaftsrecht nicht der Möglichkeit entgegen, die Richtlinienvorgaben im Rahmen nationaler Methoden zu berücksichtigen. Davon zu unterscheiden ist der Fall, wenn zur Zeit der Tatbegehung die Handlung nach nationalem Recht strafbar war, der nationale Gesetzgeber aber vor der Entscheidung in der Sache nationales Recht erlässt, wonach die Begehung nicht mehr strafbar wäre, dieses nationale Recht aber gegen unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht verstößt und daher unanwendbar bleibt. Diese Frage stellte sich in dem Vorabentscheidungsverfahren Rs. Tombesi u. a.340. Von den Angeklagten wurde geltend gemacht, dass die fraglichen Stoffe aufgrund später erlassener italienischer Rechtsvorschriften nicht mehr als Abfälle gegolten hätten und dass damit die Tatbestandsmäßigkeit der ihnen zur Last gelegten Handlung entfallen sei. Beschreibt dies eigentlich den klassischen lex-mitior Fall im nationalen Recht, so galt es jedoch die besondere Regelung der VO 259/93341 zu beachten. Diese unmittelbar anwendbare Bestimmung hatte in ihrem Art. 2 a) eine gemeinsame Definition des Abfallbegriffs eingeführt, die der italienischen Ausnahme widersprach. Das mildere Gesetz widersprach folglich dem gemeinschaftsrechtlichen Abfallbegriff und musste unangewendet bleiben, und die Angeklagten waren in der Konsequenz vom nationalen Gericht zu bestrafen. Der EuGH führte bereits einleitend aus: „Wie ferner aus den Vorlagebeschlüssen hervorgeht, waren die Handlungen, die Gegenstand der Ausgangsverfahren sind, im Zeitpunkt ihrer Begehung nach natio340 EuGH, verb. Rs. C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95, Slg. 1997, I-3561 „Tombesi u. a.“. 341 ABlEG L 310, S. 70.
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nalem Recht strafbar, und die Decreti-legge, durch die sie der Anwendung der Sanktionen nach dem DPR Nr. 915/82 entzogen wurden, traten erst später in Kraft. Unter diesen Umständen besteht kein Anlass, sich zu fragen, welche Folgen sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen für die Anwendung der Verordnung Nr. 259/93 ergeben könnten.“342
Der EuGH stellte also klar, dass die Strafe sich aus dem zur Tatzeit existierenden Gesetz und nicht aus der Verordnung ergab. Das Gemeinschaftsrecht entfaltete hier im Wege der unmittelbaren Anwendbarkeit Relevanz bei der Erörterung der lex-mitior-Regel. Hinzuweisen ist auf den Umstand, dass eine nicht umgesetzte Richtlinie nicht in der Lage gewesen wäre, im Wege der unmittelbaren Anwendbarkeit die nationale strafausschließende Norm zu verdrängen, weil sie dann im umgekehrt vertikalen Verhältnis zum Nachteil des Angeklagten wirkte. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung nicht möglich343. 4. Verbotsirrtümer i. S. d. § 17 StGB im gemeinschaftsrechtlichen Kontext Mehrfach wurde in dieser Darstellung bereits auf den Umstand hingewiesen, dass nationale Rechtsanwender aufgrund der mannigfaltigen Einflüsse des EG-Rechts und der immensen Regelungsdichte mit der korrekten Strafrechtsanwendung überfordert sind. Stellt das Gemeinschaftsrecht nun aber bereits Rechtskundige vor Probleme, so verschärft sich das Problem, wenn man die Rechtsunterworfenen betrachtet, bei denen zumindest im Grundsatz davon auszugehen ist, dass derart tiefgehende Rechtskenntnisse nicht vorhanden sind. Verkennt der rechtsunterworfene Bürger dann die europarechtliche Relevanz seines Verhaltens oder missversteht er aufgrund der Komplexität der Materie den Inhalt des Normbefehls, so erscheint sein Unrechtsbewusstsein zumindest zweifelhaft. § 17 StGB344 bestimmt für das deutsche Strafrecht: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.“
Unrechtseinsicht oder -bewusstsein beschreibt dabei die Erkenntnis, dass die Tat gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts verstößt und daher rechtlich verboten ist345. Andererseits ist es nicht erforderlich, 342 EuGH, verb. Rs. C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95, Slg. 1997, I-3561 Rn. 43 „Tombesi u. a.“. 343 Vgl. EuGH, Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705 „Strafverfahren gegen Luciano Arcaro“. 344 Für Ordnungswidrigkeiten § 11 II OWiG.
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dass der Täter die verletzte Rechtsnorm im Einzelnen kennt oder gar um die Strafbarkeit seines Verhaltens weiß346. Es genügt die Kenntnis nach Laienart gegen irgendeine rechtliche Norm zu verstoßen347, wobei für die Kenntnis – dem Vorsatz vergleichbar – bereits das Fürmöglichhalten eines Normverstoßes genügt, wenn der Täter sich damit abfindet und trotzdem handelt348. Mithin ergeben sich folgende gemeinschaftsrechtlich begründete Irrtumskonstellationen. Es existiert eine gemeinschaftsrechtliche Primärnorm, die strafrechtlich bewehrt wird, doch der Rechtsunterworfene kennt diese nicht, hält sie für ungültig oder kommt aufgrund fehlerhafter Interpretation zu dem Ergebnis, diese sei auf seinen Sachverhalt nicht anwendbar. Denkbar ist auch die Situation, dass zwar eine nationale Primärnorm bewehrt wird, diese aber erst im Wege gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation den Sachverhalt des Täters erfasst, was diesem aber nicht bewusst ist. Demgegenüber kann der Täter natürlich auch umgekehrt an für ihn günstige gemeinschaftsrechtliche Umstände glauben. So könnte er fälschlicherweise meinen, eine deutsche Primärnorm sei aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts unanwendbar, so dass auch die Strafnorm unangewendet bleiben müsse. Letztlich könnte er an eine für ihn günstige gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der deutschen Primärnorm glauben, welche aber nicht vorzunehmen ist. In allen dargestellten Konstellationen mangelte es dem Rechtsunterworfenen nach deutschem Verständnis am Unrechtsbewusstsein. Es läge ein direkter349 Verbotsirrtum vor. Zentraler Bedeutung kommt nach der Feststellung des fehlenden Unrechtsbewusstseins aber dem zweiten Element des § 17 StGB zu, nämlich der Vermeidbarkeit. Auf dieser Ebene ist der Irrtum zu bewerten. Schuldlos handelt nur derjenige, der den Irrtum nicht vermeiden konnte. Im Übrigen ist bloß eine Strafmilderungsmöglichkeit nach § 49 I StGB vorgesehen. 345 BGHSt GrS 2, 194, 197; Lackner/Kühl, § 17 Rn. 2; Cramer, in: S/S, § 17 Rn. 4. 346 BGHSt 15, 377, 382 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 41 I 3 a); Lackner/Kühl, § 17 Rn. 2. 347 BGHSt 10, 35, 41, nicht jedoch das Bewusstsein der Sozialschädlichkeit oder Sittenwidrigkeit, vgl. Lackner/Kühl, § 17 Rn. 2 m. w. N. 348 BGHSt 4, 1, 4; NStZ 96, 338; Jescheck/Weigend, AT, § 41 I 3 b); Lackner/ Kühl, § 17 Rn. 4; Schroeder, in: LK, § 17 Rn. 23. 349 Indirekte Verbotsirrtümer durch Annahme eines rechtlich nicht anerkannten oder Überdehnung eines anerkannten Erlaubnissatzes sind möglich, a. A. Satzger, S. 645. Zwar ist der irrtümliche Glaube der Einordnung gemeinschaftsrechtlicher Normen im Falle der Kollision als Rechtfertigungsgrund angesichts der Berücksichtigung gemeinschaftlicher Implikationen bereits auf der Tatbestandsebene unbeachtlich. Doch kann das nationale Recht gemeinschaftsrechtliche Primärnormen bewehren, die Rechtfertigungsmöglichkeiten vorsehen.
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Nach der Rechtsprechung kommt es bei der Feststellung der Vermeidbarkeit darauf an, ob der konkrete Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten bei Einsatz „aller seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen“, u. U. auch durch Erkundigung zur Unrechtseinsicht hätte gelangen können350. Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass man sich im Nebenstrafrecht, in dem sich auch die gemeinschaftlichen Einflüsse primär entfalten, außerhalb des Kernbereichs sittlicher Wertvorstellungen bewege, so dass dieses Kriterium hier nicht weiterführt. Fraglich ist aber wann, wieweit und welche intellektuellen Erkenntnisquellen der Rechtsunterworfene zur Ermittlung der ihn betreffenden Ge- oder Verbote bemühen muss. Während die Rechtsprechung diesbezüglich eine nicht ganz widerspruchsfreie Kasuistik entwickelt hat351, wird im Schrifttum die Vermeidbarkeit abgelehnt, wenn der Täter keinen Anlass hatte, sich zu informieren, er trotz sorgfältiger Prüfung weiterhin dem Irrtum unterlag oder im Falle unterbliebener Prüfung diese ohnehin nicht zur Unrechtskenntnis geführt hätte352. Anlass zu – zumutbarer – Erkundigung bestehe dann, wenn der Täter Kenntnis von Umständen hat, die in irgendeiner Form auf die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens hinweisen und einem verantwortungsbewussten Menschen ein hinreichender Grund wären, die rechtliche Qualität des Verhaltens zu klären353. Solche Umstände sind beispielsweise Kenntnis von Normen, Urteilen oder Auskünften Dritter, die auf die Rechtswidrigkeit hindeuten354. Eine erweiterte Rechtskenntnis bzw. Erkundigungspflicht ist von Personen zu fordern, die aufgrund ihrer Lebens- oder Berufserfahrung wissen, dass sie sich in einem (gemeinschafts-)rechtlich durchdrungenen Bereich bewegen oder ihr Verhalten einzelnen oder der Allgemeinheit Schaden zufügt355. Im Ergebnis böte die deutsche Rechtsordnung mit jener Regelung des § 17 StGB ein Korrektiv, welches der Komplexität und Regelungsdichte des Gemeinschaftsrechts angemessen Rechnung tragen könnte. Führt eine solche Irrtumsregelung im Ergebnis dann aber zu einer Straflosigkeit oder Strafmilderung, so könnte darin ein Verstoß gegen die gemeinschaftliche Pflicht aus Art. 10 EG, „wirksame, abschreckende und verhältnismäßige“ Sanktionen zu verhängen, liegen. Bereits an anderer Stelle wurde aber festgestellt, dass die gemeinschaftliche Pflicht aus Art. 10 EG niemals isoliert betrachtet werden darf, sondern nur soweit reichen kann, wie sie mit dem übrigen primären Gemeinschaftsrecht in praktischer Konkordanz steht. Zum 350
BGHSt 4, 1, 5; 4, 236. Vgl. die Nachweise bei Tröndle/Fischer, § 17 Rn. 7 ff.; Lackner/Kühl, § 17 Rn. 7. 352 Neumann, JuS 1993, 793, 797 m. w. N. 353 Rudolphi, in: SK, § 17 Rn. 31. 354 Rudolphi, in: SK, § 17 Rn. 31. 355 Vgl. OLG Oldenburg, NStZ-RR 1999, 122. 351
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primären Gemeinschaftsrecht gehören auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, so dass zu prüfen ist, ob aus jenen eine gemeinschaftliche Verbotsirrtumsregelung folgt. § 17 StGB wäre dann im Lichte jener Vorgaben gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Der EuGH entwickelt die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Wege wertender Rechtsvergleichung der Erkenntnisquellen der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie der EMRK. Ermittelt wird dabei nicht ein in allen Verfassungen enthaltener Mindestgehalt, sondern die für das Gemeinschaftsrecht bestmögliche Regelung. Die meisten Mitgliedstaaten sehen für den Fall eines Verbots- bzw. Rechtsirrtums – ähnlich der Regelung des deutschen Rechts in § 17 StGB, § 11 II OWiG – Straflosigkeit vor, wenn dieser unvermeidbar war356. Als weiteres Indiz für die Existenz eines Verbotsirrtums auf Gemeinschaftsebene kann auch die Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in den Art. 11 II CJ/Art. 10 CJ 2000 der Entwürfe eines „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU“ gewertet werden357. Vor diesem Hintergrund lässt allein der Umstand, dass im wettbewerbsrechtlichen Bußgeldverfahren ein solcher Irrtum bisher nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen anerkannt wurde, einen Schluss auf die grundsätzliche Nichtberücksichtigung solcher Irrtümer nicht zu. Wettbewerbsrechtlichen Beschränkungen unterliegen allein Unternehmen, denen – o. g. Grundsätze zur Vermeidbarkeit übertragen – aufgrund ihrer „Berufserfahrung“ diese Regulierung bewusst ist. Zudem hält das Wettbewerbsrecht den sog. Negativtest durch die Kommission bereit, wonach die Kommission auf Antrag überprüft, ob sie einen Anlass sieht, einzuschreiten358. Deshalb ließen sich derartige Grundsätze vielmehr in die dargestellte Verbotsirrtumsdogmatik eingliedern und umgekehrt Indiz dafür bilden, dass ein solcher auch auf Gemeinschaftsebene existiert359. Insgesamt kann an dieser Stelle folglich davon ausgegangen werden, dass auch auf Gemeinschaftsebene aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen folgt, dass derjenige, der nicht die Einsicht besitzt, Unrecht zu tun, straflos bleibt, es sei denn, der Irrtum war vermeidbar. In diesem Fall dürfte auch das Gemeinschaftsrecht eine Milderungsmöglichkeit anerkennen, wie Art. 10 CJ 2000 indiziert. Geht Satzger zwar mit diesem Ergebnis zunächst konform, so äußert er sich hinsichtlich seiner Anwendung eher zurückhaltend. Es sei die strafrechtliche Sanktionierungsverpflichtung einerseits mit dem strafrechtsspezifischen Schonungsgebot 356 357 358 359
Vgl. die Darstellung der nationalen Regeln bei Satzger, S. 651 (Fn. 2736). Vgl. Delmas-Marty, in: Delmas-Marty/Vervaele, Corpus Juris, 3, 41 f. Art. 2 VO Nr. 17. Vgl. Tiedemann, NJW 1993, 23, 29; ders., Geerds-FS, 195, 210.
352
2. Teil: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
andererseits in Ausgleich zu bringen. Es müsse gefragt werden, wann die Anerkennung eines strafbefreienden unvermeidbaren Verbotsirrtums eine übermäßige Verletzung der Sanktionsverpflichtung bedeuten würde. Bei jener Einzelfallabwägung sei die Bedeutung des verletzten Rechtsguts für das Funktionieren der Gemeinschaft, die gemeinschaftliche Anerkennung einer Irrtumsregelung und der strafrechtliche Schonungsgrundsatz in die Bewertung einzustellen.
Bereits mehrfach wurde der von Satzger entwickelte Schonungsgrundsatz dahingehend kritisiert, dass er suggeriert, dem Strafrecht komme im Hinblick auf gemeinschaftsrechtliche Einflüsse eine Sonderstellung zu. Dies trifft nach hier vertretener Ansicht jedoch weder zu noch ist eine solche Sonderrolle angesichts der Existenz gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgrundsätze notwendig. Auch die von ihm vertretene Abwägung findet jedenfalls nicht in dem dargestellten Sinne statt, denn die Loyalitätspflicht mit dem Gebot der wirksamen, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionierung gilt nur unter der Einschränkung gemeinschaftlicher Rechtsgrundsätze. Bringt man dann aber beide primärrechtliche Vorgaben in Konkordanz, so verpflichtet Art. 10 EG nur noch zu einer wirksamen, abschreckenden und angemessenen Sanktionierung, soweit der Täter nicht einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlag. Richtig ist demgegenüber, dass eine Ausdifferenzierung und Vertypung dieses Vermeidbarkeitskriteriums Einfluss auf die Beurteilung von Sachverhalten mit gemeinschaftlichem Bezug haben wird360. Besonderes Augenmerk ist dabei auf das Kriterium der Vermeidbarkeit zu legen. Legt man nämlich die Rechtsprechung des EuGH zum Verbraucherschutz zugrunde, so legt er dort das Bild eines verständigen, kritischen Verbrauchers zugrunde, während in der deutschen Rechtsprechung jedenfalls bis dahin das Bild des flüchtigen, unkritischen Konsumenten galt. Ähnlich dieser höheren Anforderungen des EuGH zur Prüfung durch den Verbraucher, bleibt abzuwarten, welchen Maßstab er für die Prüfungspflicht im Rahmen der Vermeidbarkeit anlegt. Diese Anforderungen sind dann im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Vermeidbarkeit im § 17 StGB umzusetzen. Die Grenzen der Maxime werden mit jenem Vorgehen jedenfalls nicht verletzt.
360
419.
Satzger, S. 652; Tiedemann, Geerds-FS, 195, 198; ders., Lenckner-FS, 411,
C. Ergebnis
353
C. Ergebnis: Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Kriminalstrafrechts Bereits im 1. Teil konnte illustriert werden, dass das Strafrecht bei genauer Definition der gemeinschaftsrechtlichen Gehalte keiner Modifizierung des Prinzips des Anwendungsvorrangs bedurfte. Dieser Hintergrund nährte die Vermutung, dass dann auch das zurückhaltendere Prinzip der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung keiner Sonderbehandlung bedürfen werde. Die vorstehende Untersuchung und die Beispiele konnten diese These bestätigen und illustrieren, dass übermäßige Zurückhaltung gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen, die Rechtslage eher kompliziert, während eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts in der Lage ist, die Befürchtungen zu entkräften. In der vorstehenden Untersuchung konnte dargelegt werden, dass gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zwar auch bereits im Rahmen des deutschen Methodenkanons Berücksichtigung finden können. Um der Einheitlichkeit der Rechtswirkungen willen und der gemeinschaftsrechtlichen Durchsetzbarkeit musste dieses Prinzip aber auch im Gemeinschaftsrecht wurzeln. Als Ursprung des Prinzips konnte dabei Art. 10 EG fruchtbar gemacht werden, der mit dem übrigen primären Gemeinschaftsrecht in praktische Konkordanz zu bringen ist. Aus dieser Betrachtung konnten dann die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen des Prinzips im Wortlaut der zu interpretierenden Norm und den nationalen Auslegungsspielräumen entwickelt werden. Nach deutschem Verständnis darf daher die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung auch nicht auf eine Verkehrung des gesetzgeberischen Willens hinauslaufen. Beachtet man die derart definierten Grenzen, steht einer imperativen Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nichts entgegen. Einzig auf eine weitere Ausdifferenzierung der rechtsstaatlichen Gewährleistungen im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze wird es nunmehr ankommen. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, welche es im Wege der Auslegung im nationalen Recht umzusetzen gilt, können sowohl aus Primärwie aus Sekundärrecht fließen. Die vorstehenden Beispiele konnten dabei erhellen, dass das Gemeinschaftsrecht hinsichtlich aller Bestandteile der strafrechtlichen Norm verpflichtende oder begrenzende Vorgaben enthalten kann. Die größte Relevanz kommt dem Gemeinschaftsrecht aufgrund seines vornehmlich wirtschaftsrechtlichen Charakters auf der Ebene der Primärnormen zu. Neben diesen Einflüssen besitzt das Gemeinschaftsrecht aber auch im sanktionenrechtlichen Teil und hinsichtlich des Allgemeinen Teils des Strafrechts Relevanz.
3. Teil
Kritische Würdigung der gefundenen Ergebnisse und Schlussbetrachtung „Das Strafrecht stellt keinen Hort der nationalen Souveränität dar, welcher ein von den Einwirkungen des Europarechts abgeschottetes Dasein führt.“1
Diese einleitende These erfährt durch die vorstehende Analyse Bekräftigung. Der Anwender nationalen Kriminalstrafrechts sieht sich mit mannigfaltigen gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen konfrontiert. Es wurde gezeigt, dass diese dem Primär- wie dem Sekundärrecht entstammen und sich sowohl auf der Voraussetzungs- als auch auf der Sanktionsseite auswirken. Der Besondere ist wie der Allgemeine Teil des StGB und das Nebenstrafrecht betroffen. Dem Anwender nationalen Kriminalstrafrechts obliegt es nun, diese Vorgaben zu erkennen und mittels der beiden untersuchten Prinzipien des Anwendungsvorrangs und der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im nationalen Recht zur Geltung zu bringen. Die Analyse illustrierte jedoch, dass nationale Strafrechtler versuchen, sofern überhaupt ein Bewusstsein für europäische Einflüsse existiert, diese zurückzudrängen bzw. aus nationalstaatlicher Sicht zu verarbeiten, ohne sich hinreichend mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben auseinandergesetzt zu haben. Als Konsequenz werden gemeinschaftsrechtlich determinierte, rechtsstaatliche Schreckensszenarien gezeichnet und eine Sonderrolle des Strafrechts unter dem Gemeinschaftsrecht postuliert2. Im Gegensatz zu diesen nationalstaatlichen Ansätzen wurde in der vorstehenden Untersuchung ein gemeinschaftsrechtlich geprägter Ansatz verfolgt, der von der Grundüberlegung ausging, dass gemeinschaftsrechtliche Vorgaben nur dann effek1
Vgl. Jung, StV 1990, 509. Beispielhaft sei hier der „strafrechtsspezifische Schonungsgrundsatz“ Satzgers genannt. Danach sind „übermäßige Eingriffe in die nationalen Strafrechtssysteme zu vermeiden“ und die Einflussnahme auf die nationalen Strafrechtsordnungen dem „besonderen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit“ zu unterwerfen. „Nur soweit es für die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft unumgänglich ist und wenn keine Bereiche des nationalen Strafrechts betroffen sind, die zum „identitätsbildenden Kern“ der Materie gehören, können massive Eingriffe in die nationalen Strafrechtssysteme zulässig sein. Im Übrigen ist in jedem Einzelfall eine Abwägung unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes größtmöglicher Schonung anzustellen.“, vgl. Satzger, S. 166 ff. 2
3. Teil: Kritische Würdigung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
355
tiv im nationalen Recht zur Geltung gebracht werden können, wenn sich zuvor eingehend mit den umzusetzenden Gehalten und dem rechtlichen Umsetzungsinstrumentarium auseinandergesetzt wurde. Dieses Vorgehen erhellte, dass die Prinzipien des Anwendungsvorrangs und der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auch in dem sensiblen Bereich des mitgliedstaatlichen Kriminalstrafrechts unverändert gelten und weder das Gemeinschafts- noch das nationale Kriminalstrafrecht in diesen Konstellationen einer Sonderbehandlung bedarf. In der Konsequenz jenes Vorgehens konnte hinsichtlich des Prinzips des Anwendungsvorrangs mittels eines Bildes aus der Mengenlehre gezeigt werden, dass die Anwendung jenes Prinzips zentral von der Definition der potentiell kollidierenden Gewährleistungen abhängt. Nur sofern tatsächlich ein Widerspruch vorliegt, bedarf es dieser Kollisionsregel. Eine Vielzahl derjenigen Sachverhalte, die nach herkömmlicher Ansicht mittels Anwendungsvorrangs gelöst wird, fingiert eine Kollision, weil eben keine hinreichende Definition der potentiell widersprechenden Gehalte stattfindet. Kollisionen entstehen nicht, wenn sich Widersprüche bereits im Wege der Auslegung vermeiden lassen. Vorrangig zu erwägen ist deshalb eine Konfliktvermeidung im Wege der Interpretation beider potentiell kollidierender Regelungsregime. So kann bereits eine saubere Definition des Gemeinschaftsrechts oder des nationalen Rechts die Anwendung der Kollisionsregel unnötig werden lassen. Im Einklang mit dieser Systematik steht es, mittels gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Kriminalstrafrechts in den entwickelten rechtsstaatlichen Grenzen die Anwendung des Vorrangprinzips obsolet werden zu lassen. Im Zuge jener Definitionsprämisse sind bedingt durch die divergierende Interessenlage die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zu unterscheiden, je nachdem, ob es sich um rein nationales oder Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft handelt. Während hinsichtlich des rein nationalen Strafrechts allein Obergrenzen, insbesondere aus den Grundfreiheiten sowie dem sekundären Gemeinschaftsrecht entwickelt wurden, konnten hinsichtlich des Strafrechts im Dienste der Gemeinschaft zudem verpflichtende Mindesterfordernisse gefunden werden. Letzteren fehlt es indes an der unmittelbaren Anwendbarkeit, so dass die Rechtsanwender insoweit auf eine Umsetzung im Rahmen und in den gefundenen Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation des nationalen Rechts verwiesen sind. Ist eine solche Umsetzung durch den Rechtsanwender dagegen ausgeschlossen, obliegt es dem nationalen Gesetzgeber der Gemeinschaftswidrigkeit abzuhelfen, soll ein Vertragsverletzungsverfahren vermieden werden. Im Rahmen der geforderten Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftsrecht fand eine Reorientierung der umzusetzenden Gemeinschaftsgewähr-
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3. Teil: Kritische Würdigung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
leistungen statt, die insbesondere eine gleichheitsrechtliche Interpretation der Grundfreiheiten zur Folge hatte und im Übrigen die gerichtlich entwickelten Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit und des Gleichbehandlungsgebots in dieses grundfreiheitliche System einzuordnen vermochte. Demnach steht der komparative Gehalt des Gemeinschaftsrechts, welcher die Existenz divergierender mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen achtet, wieder im Vordergrund und zügelt die Gemeinschaftsgewalt. Im Übrigen operiert das Gemeinschaftsrecht weitgehend, insbesondere sofern es um verpflichtende Vorgaben geht, mit sog. Rahmenbegriffen, die den mitgliedstaatlichen Umsetzungsinstanzen ein weitreichendes Ermessen gewähren. Vor diesem Hintergrund halten die gefundenen Einflüsse auf das deutsche materielle Kriminalstrafrecht einer kritischen Würdigung vor den regelmäßig gegen die Europäisierung des Strafrechts vorgebrachten Argumenten stand. Die gefundenen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts stellen weder eine formale noch eine faktische Verlagerung der Rechtsetzungskompetenz im Bereich des Kriminalstrafrechts auf den Gemeinschaftsgesetzgeber dar. Gemeinschaftsrechtswidriges nationales Recht bleibt gültig, wird lediglich punktuell unanwendbar. Es droht allenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren, was allerdings mit bloßer Feststellung der Gemeinschaftswidrigkeit endet und im Zwangsgeld kulminiert. Nie kann die Gemeinschaft gesetzgeberisches Handeln ersetzen3. Den mitgliedstaatlichen Rechtsetzungsorganen bleibt in dem entwickelten System des weiteren hinreichender Spielraum für eigene Entscheidungen, so dass auch keine materielle Kompetenzverlagerung in dem Sinne vorliegt, dass sie nur noch „Handlanger“ der Gemeinschaft wären. Ein etwaiger weitergehender Schluss von einer fehlenden Kompetenz zur Strafrechtssetzung auf die Abstinenz jeglicher gemeinschaftsrechtlicher Einflüsse, überzeugte dagegen bereits im Ansatz nicht. Anders als nationale Zuständigkeitsverteilungen sind die Kompetenznormen des Gemeinschaftsrechts zielorientiert gefasst4. Das Gemeinschaftsrecht ist in seiner Wirkung nicht auf bestimmte Sachbereiche beschränkt, sondern vermag, unabhängig von der Kompetenzverteilung auf alle zur Zielerreichung erforderlichen Gegenstände einzuwirken. Der Umstand, dass das Gemeinschaftsrecht dabei geradezu zwangsweise auf das Strafrecht als akzessorische Rechtsordnung treffen muss, ist offensichtlich. Gerade aufgrund dieser Anknüpfung des Strafrechts an außerstrafrechtliche Normen kann es nicht überzeugen, das Strafrecht von gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen auszunehmen. Dies gilt umso mehr, wenn man beachtet, dass Strafrecht wesentliches generalprä3
Moll, S. 211 erachtet diese Klagemöglichkeit daher verfehlt als gleichwertig. Bestätigt durch die Lehre der implied powers. Kritisch Köhler, Mangakis-FS, 751, 755: „Der Zweck heiligt nicht ohne weiteres die Mittel.“. 4
3. Teil: Kritische Würdigung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
357
ventives Mittel ist und damit die effektive Durchsetzung auch des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten sicherstellt. Wollte man das Kriminalstrafrecht als gemeinschaftsfreie Materie etablieren, drohte die Torpedierung des Integrationsprozesses im Mantel des Strafrechts5. Vor dem Hintergrund der zielorientierten Befugnisnormen erledigt sich auch der Hinweis auf die bloß punktuelle Nennung des Strafrechts als Indiz für eine Einflussfreiheit. Trotz der evolutiven gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzstruktur wurde die gemeinschaftliche Befugnis zur Setzung von Kriminalstrafrecht aufgrund mangelnder Bestimmtheit der Kompetenznormen abgelehnt. Diese Bedenken lassen sich aber nicht auf die Einflüsse durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ausdehnen. Der Anwendungsvorrang bewirkt allein die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, vermag aber nie, Strafrecht zu konstituieren6. Gleiches gilt für die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation. Der ebenfalls bei der Diskussion um das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Kriminalstrafrecht vorgebrachte Hinweis auf den Charakter des Kriminalstrafrechts, welches aufgrund seiner besonderen Eingriffsintensität und der stigmatisierenden Wirkung „Bastion und unmittelbarer Reflex nationaler Souveränität“7 sei, stellt ein stark emotional geprägtes Argument dar, dessen tatsächlicher Inhalt weitgehend diffus bleibt8. Einzig substantieller Gehalt ist der darin enthaltene Hinweis auf die umfassende Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt. Obliegt jedoch nach hier vertretenem Verständnis die wesentliche Entscheidung der Strafbarkeit weiterhin dem nationalen Strafgesetzgeber, so wird das Strafrecht als Ausdruck der Souveränität ohnehin nur zurückhaltend beeinflusst. Ein absolutes Verständnis von Souveränität ist jedenfalls seit der Gründung der EG angesichts der Übertragung bzw. Schaffung neuer Hoheitsgewalt nicht mehr zeitgemäß9. Entsprechend formulierte der EuGH bereits in seiner grundlegenden Entscheidung in der Rs. Costa ./. Enel 10: 5 Satzger, S. 154, weist auf die Möglichkeit hin, grundfreiheitlich gewährleistetes Verhalten unter Strafe zu stellen. 6 De Angelis, in: Sieber, Europäische Einigung, 95, 96; Cuerda Riezu, in: Bausteine, 367, 370; Jung/Schroth, GA 1983, 241, 264; Satzger, S. 156. 7 Vgl. Bruns, S. 89; Gärditz, wistra 1999, 293, 294; Pagliaro, in: Bausteine, 379, 382 f.; Tiedemann, GA 1969, 321, 330; Oppermann, Rn. 698. 8 Jung/Schroth, GA 1983, 241, 253. 9 Vgl. Jung/Schroth, GA 1983, 241, 253; Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 30 f.: „An analysis of the case law of the Court of Justice of the EC [. . .] shows that the sovereignty involved – at least if taken in an absolute sense – has become an illusion.“; Zuleeg, in: Sieber, Europäische Einigung, 41, 42. 10 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1270 „Costa ./. Enel“.
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3. Teil: Kritische Würdigung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
„Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränität beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.“
Gegen die Europäisierung der nationalen Strafrechtsordnungen wird zudem eingewandt, wie kein anderes spiegele dieses Rechtsgebiet historische, sozio-kulturelle, traditionelle und religiöse Eigenheiten wieder11, so dass die Gemeinschaft im Rahmen der Achtung nationaler Identität12 die mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme als besonders identitätsrelevanten Rechtsbereich unangetastet lassen müssten13. So stellt Köhler zwar „vielfältige gemeinsame Rechtstraditionen namentlich aus dem gemeinen Strafrecht, aber eben auch nicht zu vernachlässigende Divergenzen“14 fest, die insbesondere auch das Grundverständnis von Verbrechen und Strafe beträfen. Bereits eine hervorgehobene Kulturbezogenheit dieses Rechtsbereichs ist indes zu bezweifeln. Die Feststellung, die sozialethischen Wertvorstellungen bildeten die Wurzeln des Rechts15, lässt sich gewiss nicht auf das Strafrecht beschränken. Sie muss vielmehr im gesamten Recht gelten, stellen Rechtsnormen doch stets aus Erfahrungen, Anschauungen usw. erwachsene Bewertungen dar, so dass der Unterschied allenfalls gradueller Natur sein kann16. Die Kulturbezogenheit ist dann aber kein taugliches Kriterium, 11
Vgl. Rüter, ZStW 105 (1993), 30, 35, der feststellt: „Denn die Strafgesetzgebung und die Kriminalpolitik werden ja nicht nur von rationalen Überlegungen, sondern auch von historisch gewachsenen nationalen Traditionen, Wertvorstellungen, Ängsten und anderen Irrationalitäten geprägt.“; Perron, ZStW 109 (1997), 281 ff.; Sieber, JZ 1997, 369, 373; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 783 ff. 12 Klip, NStZ 2000, 626, 629 ff.; Rüter, ZStW 105 (1993), 30, 35; Schubarth, ZStW 110 (1998), 827, 847; Sevenster, CMLR 29 (1992), 29, 62; Greve, in: Sieber, Europäische Einigung, 107, 109 f.; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 783 ff. 13 Auch die Präambel des Unionsvertrages bringt den Wunsch der Vertragsstaaten zum Ausdruck, „die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken“. Der EG-Vertrag enthält den „Titel XII. Kultur“ und bestimmt in seinem Art. 151 EG: „Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.“. 14 Köhler, Mangakis-FS, 751; in diese Richtung auch Jung/Schroth, GA 1983, 241, 242; Rüter, ZStW 105 (1993), 30, 35; Tiedemann, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber, 133, 134; ders., JZ 1996, 647; Vogel, ZStW 109 (1997), 335, 343 im Hinblick auf den Tatbestand der Geldwäsche. 15 So auch Satzger, S. 160. 16 So auch Satzger, S 162.
3. Teil: Kritische Würdigung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
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um das Kriminalstrafrecht den gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen zu entziehen. Gerade wenn man dieses Argument auf die Vorschriften des Besonderen Teils stützt, zeigt sich die Untauglichkeit und Inkonsequenz. Es handelt sich beim Strafrecht schließlich um eine akzessorische Rechtsordnung, die selbst keine Einordnung in Recht und Unrecht trifft, sondern an die Bewertung außerstrafrechtlicher Primärordnungen anknüpft. Gerade auch in diesen Bewertungen kommt der historische, kulturelle und sozio-kulturelle Hintergrund zum Ausdruck. Diese außerstrafrechtlichen Verbote entstammen allen Bereichen des Rechts, so dass eine generelle Ausnahme nicht denkbar erscheint. Wollte man sie auf das sog. Kernstrafrecht begrenzen, so ist dieses Vorgehen zum einen völlig unbestimmt, zum anderen nähern sich gerade in diesem Bereich die Wertvorstellungen so weit an17, dass ein Einflussverbot gerade diesbezüglich regelmäßig nicht erforderlich sein dürfte. Der gemeinschaftsrechtliche Einfluss auf eine Primärnorm darf nicht von Sanktionierung oder Nichtsanktionierung, also einer mitgliedstaatlichen Entscheidung abhängen. Gemeinschaftsrecht entfaltete unterschiedliche Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten, je nachdem, ob Mitgliedstaaten ein Verbot sanktioniert haben oder nicht. Der wesentliche Einfluss vollzieht sich zudem im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts, deren Normen kaum als kulturell gewachsen bezeichnet werden können. In diesem Bereich ist die oktroyierte Gesetzgebung entgegen dem Idealbild historisch gewachsener Normen ohnehin keine Besonderheit. Die Akzeptanz wird vielfach erst durch die negativ generalpräventive Wirkung begründet. Bleibt noch die Sanktionsnorm bzw. Vorschriften des Allgemeinen Teils18 hinsichtlich ihrer Integrationsresistenz aufgrund ihrer Kulturbezogenheit zu beurteilen. Die Schwierigkeiten, in diesem Bereich Vorgaben zu treffen, die nicht mit den Traditionen eines Mitgliedstaates brechen, die Kohärenz des mitgliedstaatlichen Sanktionensystems nicht beseitigen und keinen Fremdkörper im nationalen Recht darstellen, der faktisch zur Anpassung des übrigen Rechts zwingen könnte, sind wesentlich größer. Vor diesem Hintergrund überzeugt wiederum das gefundene System, welches das Primat der Gleichbehandlung mit nationalen Sachverhalten etabliert und im Übrigen mit Rahmenvorgaben arbeitet, welche flexibel in das nationale Recht umzusetzen sind. Es schützt daher vor Nivellierung der historisch, kulturell und ethisch gewachsenen Unterschiede und führt zu weitgehender Akzeptanz in den 17
Belege für die Existenz eines solchen Kernbereichs sind die Schaffung eines Corpus Juris 2000, abgedruckt bei Delmas-Marty/Vervaele, vol. 1, S. 198 sowie eine Charta der Grundrechte, abgedruckt und kommentiert z. B. in Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, nach Art. 6 EUV, der zahlreiche strafrechtliche Gewährleistungen enthält. 18 Vgl. dazu die Untersuchungen von Tiedemann, Jescheck-FS, 1411 ff.; ders., ZStW 110 (1998), 497 ff.
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3. Teil: Kritische Würdigung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
Mitgliedstaaten als wichtige Voraussetzung der Generalprävention19. Gemeinschaftliche Rechtssetzung löst sich schließlich auch nicht vollends von dem historisch, sozio-kulturellen Hintergrund, da die mitgliedstaatlichen Parlamente vermittelt über die Regierungen im Gesetzgebungsorgan des Rates repräsentiert sind und auch das Europäische Parlament am Rechtsetzungsprozess partizipiert. Auch die Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gewährleistet eine enge Verzahnung mit den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Ein „race to the bottom“ lässt die bisherige Rechtsprechung jedenfalls nicht befürchten. Darüber hinaus wird auf das Fehlen einer einheitlichen Linie in der Kriminalpolitik der Mitgliedstaaten hingewiesen. Sie hänge von den jeweiligen Ideologien ab. In Art und Höhe der angedrohten Strafen kämen Unterschiede zum Ausdruck, die auf abweichende Verhältnisse und Rechtstraditionen zurückzuführen sind und so mit den Schlagworten Tradition und Kultur in untrennbarem Zusammenhang stünden20. Zum einen zielt die gefundene Systematik nicht auf die Nivellierung jener Unterschiede, achtet diese vielmehr und führt zur Harmonisierung. Das entwickelte System beachtet, indem es den gleichheitsrechtlichen Aspekt in den Vordergrund rückt und im Übrigen mit gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbegriffen operiert, auch den Umstand, dass allein der nationale Gesetzgeber in der Lage ist, die Reichweite, tatsächliche Umsetzung und Wechselwirkung unter den Normen und deshalb die Wirkung der Sanktionen insgesamt zu beurteilen. Zum anderen trifft diese Feststellung nur begrenzt zu, denn Strafrecht und Sanktionen sind nicht zuletzt auch ein Spiegel der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage, die sich aber immer schneller wandelt. Von gewachsener Kultur kann diesbezüglich nur begrenzt gesprochen werden. Auch das Strafrecht darf nicht an unveränderten sozio-kulturellen und historischen Hintergründen haften, sondern muss zumindest versuchen, den gesellschaftlichen Wandel zu reflektieren, zu dem gerade auch die Eingliederung in die Gemeinschaft gehört. Die EU fußt nicht lediglich programmatisch, sondern tatsächlich auf gemeinsamen Werten und Überzeugungen. Angesichts fortschreitender Integration mutet es deshalb künstlich an, an einem starren nationalen Gesellschafts- und Kulturverständnis festzuhalten. Wird das Recht als Blüte sozio-kultureller Wertvorstellungen angesehen, so ist es Ausdruck früherer Veränderung. Es darf deshalb um seiner selbst willen eine solche Entwicklung nicht verhindern. Bereits Savigny lehrte: 19 Die Bedenken von Greve, in: Sieber, Europäische Einigung, 107, 109 f.; Rüter, ZStW 105 (1993), 30, 41: „strafrechtliches Esperanto“; Köhler, Mangakis-FS, 751: „[. . .] darf keineswegs zur illegitimen Zumutung durch einen dann autokratisch erscheinenden Zentralismus geraten.“ verfangen damit nicht. 20 Satzger, S. 162.
3. Teil: Kritische Würdigung der Ergebnisse und Schlussbetrachtung
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„Das Recht wird nicht gemacht. Es wächst mit dem Volke, bildet sich aus mit diesem und stirbt endlich ab, so wie das Volk seine Eigentümlichkeit verliert“21
Wird demgegenüber auf die Heterogenität der europäischen Völker, das Fehlen einer umfassenden europäischen Integration22, eines gesamteuropäischen Rechtswillens bzw. einer europäischen Öffentlichkeit23 hingewiesen, so trifft dies zweifellos noch zu. Konsequenz darf trotzdem nicht die Ablehnung jeglicher europäischer Beeinflussung nationaler Strafrechtsordnungen sein, will man nicht Faktor der eigenen Argumentation sein. Integration ist ein fortschreitender Prozess, der kaum jemals abgeschlossen sein wird und „[. . .] bedeutet notwendig, dass einzelne Staaten und deren Bevölkerung von u. U. liebgewordenen Gewohnheiten abrücken und neues akzeptieren müssen.“24
Es ist an der Zeit, die Bildung einer „gemeinschaftsrechtlichen Strafrechtskultur“ voranzutreiben und Lösungen auf Gemeinschaftsebene zu entwickeln statt sich hinter nationalstaatlichen Bastionen zu verbergen. Die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze und einer Charta der gemeinschaftlichen Grundrechte auf der Grundlage gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen illustriert eine solche Möglichkeit. Neben dem grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Diskurs wird es deshalb Aufgabe der nationalen Strafrechtswissenschaften sein, in der strafrechtsanwendenden Praxis ein Bewusstsein für die Bedeutung und die möglichen Einflüsse des Gemeinschaftsrechts zu schaffen. Gerade die dem Beschuldigten günstige verdrängende Wirkung des Anwendungsvorrangs hat jeder Strafverteidiger zu beachten. Daneben müssen sich auch und gerade Richter und Staatsanwälte der gemeinschaftsrechtlichen Einflüsse bewusst werden, wollen sie dem in Deutschland geltenden Recht gerecht werden. Die deutsche Strafrechtswissenschaft darf nicht den Anschein erwecken, gemeinschaftsrechtliche Einflüsse um jeden Preis zurück drängen zu wollen. Sie ist vielmehr aufgerufen, in den grenzüberschreitenden Diskurs einzutreten, sich verstärkt an der Herausbildung rechtsstaatlicher Gewährleistungen auf der Gemeinschaftsebene in Form der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze zu beteiligen25, auf die Stärkung der demokratischen Legitimation hinzuwirken und eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen26. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, so dass einzig die aktive Gestaltung einer Gemeinschaft der Freiheit und des Rechts Erfolg verspricht. 21 Aus: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Abgedruckt in: von Savigny, Grundgedanken der Historischen Rechtsschule, S. 5. 22 Rüter, ZStW 105 (1993), 30, 31. 23 Köhler, Mangakis-FS, 751, 762 f. 24 Satzger, S. 164. 25 Böse, ZRP 2001, 402 plädiert für den EMRK-Beitritt der Europäischen Gemeinschaften. 26 Vgl. die Kritik bei Braum, ZRP 2002, 508.
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Rs. 88/77, Slg. 1978, 473 „Schonenberg“ Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 „Simmenthal II“ Rs. 125/77, Slg. 1978, 1991 „Koninklijke Scholten-Honig“ Rs. 7/78, Slg. 1978, 2247 „Thompson“ Rs. 16/78, Slg. 1978, 2293 „Choquet“ Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 „Cassis de Dijon“ Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 „Ratti“ verb. Rs. 154 u. a./78 u. 39 u. a./79, Slg. 1980, 907 „Vlasabbia I“ Rs. 175/78, Slg. 1979, 1129 „Saunders“ Rs. 179/78, Slg. 1979, 1147 „Procureur de la République ./. Michelangelo Rivoira u. a.“ Rs. 265/78, Slg. 1980, 617 „Ferwerda“ Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.
15/79, Slg. 1979, 3409 „Groenveld“ 44/79, Slg. 1979, 3727 „Hauer“ 52/79, Slg. 1980, 833 „Strafverfahren gegen Marc J.V.C. Debauve u. a.“ 65/79, Slg. 1980, 1345 „Chatain“ 147/79, Slg. 1980, 3005 „Hochstrass“ 157/79, Slg. 1980, 2171 „Strafverfahren gegen Stanislaus Pieck“
Rs. 22/80, Slg. 1980, 3427 „Boussac“ verb. Rs. 100-103/80, Slg. 1983, 1825 „Musique Diffusion Francaise“ Rs. 113/80, Slg. 1981, 1625 „Kommission ./. Irland“ Rs. 203/80, Slg. 1981, 2595 „Strafverfahren gegen Guerrino Casati“ Rs. 269/80, Slg. 1981, 3079 „Thymen“ Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 „Becker“ Rs. 54/81, Slg. 1982, 1449 „Fromme“ Rs. 61/81, Slg. 1982, 2601 „Kommission ./. Vereinigtes Königreich“ Rs. 240/81, Slg. 1982, 3699 „Einberger“ verb. Rs. 303 u. 312/81, Slg. 1983, 1507 „Klöckner“ verb. Rs. 35 u. 36/82, Slg. 1982, 3723 „Morson“ verb. Rs. 177 u. 178/82, Slg. 1984, 1797 „Van den Haar“ Rs. 237/82, Slg. 1984, 483 „Jongeneel Kaas“ Rs. 271/82, Slg. 1983, 2727 „Auer“ Rs. 286/82 u. 26/83, Slg. 1984, 377 „Luisi und Carbone“ Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.
14/83, Slg. 1984, 1891 „von Colson und Kamann“ 16/83, Slg. 1984, 1299 „Prantl“ 63/83, Slg. 1984, 2689 „Kirk“ 79/83, Slg. 1984, 1921 „Harz“ 106/83, Slg. 1984, 4209 „Sermide“ 117/83, Slg. 1984, 3291 „Könecke“
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Verzeichnis der zitierten Entscheidungen des EuGH
Rs. 229/83, Slg. 1985, 1 „Leclerc“ Rs. 293/83, Slg. 1985, 593 „Gravier“ Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.
44/84, Slg. 1986, 29 „Hurd ./. Jones“ 60/84, Slg. 1985, 2605 „Cinéthèque“ 152/84, Slg. 1986, 723 „Marshall I“ 205/84, Slg. 1986, 3755 „Kommission ./.Deutschland“ 222/84, Slg. 1986, 1651 „Johnston ./. Chief Constable“
verb. Rs. 133-136/85, Slg. 1987, 2289 „Rau Lebensmittelwerke“ verb. Rs. 201 u. 202/85, Slg. 1986, 3477 „Klensch“ Rs. 249/85, Slg. 1987, 2345 „Albako“ Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897 „Keller“ Rs. 372-374/85, Slg. 1987, 2141 „Traen“ Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.
12/86, Slg. 1987, 3719 „Demirel“ 14/86, Slg. 1987, 2545 „Pretore di Salò“ 24/86, Slg. 1988, 379 „Blaizot ./. Universität Lüttich u. a.“ 39/86, Slg. 1988, 3161 „Lair ./. Universität Hannover“ 80/86, Slg. 1987, 3969 „Kolpinghuis Nijmegen“ 104/86, Slg. 1988, 1799 „Kommission ./. Italien“ 157/86, Slg. 1988, 673 „Murphy“ 197/86, Slg. 1988, 3205 „Brown ./. Secretary of State for Scotland“ 222/86, Slg. 1987, 4097 „Heylens“ 241/86, Slg. 1987, 2573 „Bodin“ 299/86, Slg. 1988, 1213 „Drexl“
Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635 „Gebroeders Beentjes“ verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 „Hoechst“ Rs. 186/87, Slg. 1989, 195 „Cowan ./. Trésor public“ Rs. 190/87, Slg. 1988, 4689 „Moormann“ Rs. 265/87, Slg. 1989, 2237 „Schräder“ Rs. Rs. Rs. Rs.
5/88, Slg. 1989, 2609 „Wachauf“ 14/88, Slg. 1989, 3677 „Italien ./. Kommission“ 68/88, Slg. 1989, 2965 „Griechischer Maisskandal“ C-69/88, Slg. 1990, I-583 „Krantz“
Rs. Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.
74/88, Slg. 1988, 2139 „Kommission ./. Deutschland“ 103/88, Slg. 1989, 1839 „Fratelli Costanzo“ 125/88, Slg. 1989, 3533 „Nijman“ 145/88, Slg. 1989, 3851 „Torfaen“ 167/88, Slg. 1989, 1653 „AGPB“ C-175/88, Slg. 1990, I-1789 „Biehl“
Verzeichnis der zitierten Entscheidungen des EuGH
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Rs. C-177/88, Slg. 1990, I-3941 „Dekker“ verb. Rs. C-206/88 u. C-207/88, Slg. 1990, I-1461 „Strafverfahren gegen G. Vessoso u. G. Zanetti“ Rs. C-265/88, Slg. 1989, 4209 „Strafverfahren gegen Lothar Messner“ Rs. C-322/88, Slg. 1989, 4407 „Grimaldi“ Rs. C-326/88, Slg. 1990, I-2911 „Hansen“ Rs. C-359/88, Slg. 1990, I-1509 „Strafverfahren gegen E. Zanetti u. a.“ Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.
C-106/89, Slg. 1990, I-4135 „Marleasing“ C-184/89, Slg. 1991, I-297 „Nimz“ C-213/89, Slg. 1990, I-2433 „Factortame“ C-260/89, Slg. 1991, I-2925 „ERT“ C-288/89, Slg. 1991, I-4007 „Stichting Colletieve Antennevoorziening Gouda ./. Commissariaat voor de Media“ Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 „Cordorniu“ Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357 „Vlassopoulou“ Rs. C-357/89, Slg. 1992, I-1027 „Raulin“ verb. Rs. C-1 u. 176/90, Slg. 1991, I-4151 „Aragonesa de Publicidad“ Rs. C-7/90, Slg. 1991, I-4371 „Vandevenne“ Rs. C-10/90, Slg. 1991, I-1119 „Masgio“ Rs. C-39/90, Slg. 1991, I-3069 „Denkavit“ verb. Rs. C-90/90 u. C-91/90, Slg. 1991, I-3617 „Neu“ Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685 „Society for the Protection of Unborn Children Ireland“ Rs. C-177/90, Slg. 1992, I-35 „Kühn“ Rs. C-179/90, Slg. 1991, I-5889 „Merci convenzionali porto di Genova“ Rs. C-213/90, Slg. 1991, I-3507 „Asti“ Rs. C-240/90, Slg. 1992, I-5383 „Deutschland ./. Kommission“ Rs. C-332/90, Slg. 1992, I-341 „Steen ./. Deutsche Bundespost“ Rs. C-373/90, Slg. 1992, I-131 „Ermittlungsverfahren gegen X“ Rs. C-104/91, Slg. Rs. C-106/91, Slg. Rs. C-111/91, Slg. Rs. C-112/91, Slg. Rs. C-126/91, Slg. Rs. C-165/91, Slg. Rs. C-210/91, Slg. Verb. Rs. C-267 u. Mithouard“ Rs. C-271/91, Slg. Rs. C-289/91, Slg. Rs. C-320/91, Slg.
1992, I-3003 „Aguirre Borrell“ 1992, I-3351 „Ramrath“ 1993, I-817 „Kommission ./. Luxemburg“ 1993, I-429 „Werner“ 1993, I-2361 „Yves Rocher“ 1994, I-4661 „van Munster“ 1992, I-6735 „Kommission ./. Griechenland“ C-268/91, Slg. 1993, I-6097 „Strafverfahren gegen Keck und 1993, I-4367 „Marshall II“ 1993, I-4439 „Klaus Kuhn“ 1993, I-2533 „Corbeau“
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Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955 „Bostock“ Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663 „Kraus“ Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 „Faccini Dori“ verb. Rs. C-92 u. C-326/92, Slg. 1993, I-5145 „Phil Collins“ Rs. C-109/92, Slg. 1993, I-6447 „Wirth“ Rs. C-272/92, Slg. 1993, I-5185 „Spotti“ Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039 „Schindler“ Rs. C-292/92, Slg. 1993, I-6787 „Hünermund“ Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 „Wagner Miret“ Rs. C-352/92, Slg. 1994, I-3385 „Milchwerke Köln/Wuppertal ./. Hauptzollamt Köln-Rheinau“ Rs. C-379/92, Slg. 1994, I-3453 „Strafverfahren gegen M. Peralta“ Rs. C-382/92, Slg. 1994, I-2435 „Kommission ./. Vereinigtes Königreich“ Rs. C-391/92, Slg. 1995, I-1621 „Kommission ./. Griechenland“ Rs. C-398/92, Slg. 1994, I-467 „Mund & Fester“ Rs. C-419/92, Slg. 1994, I-505 „Scholz“ Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 „Großkrotzenburg“ Rs. C-18/93, Slg. 1994, I-1783 „Corsica Ferries“ Rs. C-45/93, Slg. 1994, I-911 „Kommission ./. Spanien“ Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-225 „Schumacker“ verb. Rs. C-358/93 u. C-416/93, Slg. 1995, I-361 „Bordessa“ Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141 „Alpine Investments“ Rs. C-387/93, Slg. 1995, I-4663 „Banchero“ Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 „Bosman“ Rs. C-430 u. C-431/93, Slg. 1995, I-4705 „van Schijndel u. a. ./. Stichting Pensionenfonds“ Rs. C-470/93, Slg. 1995, I-1923 „Mars“ Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3955 „Svensson“ Rs. C-29-35/94, Slg. 1995, I-301 „Aubertin“ Rs. C-36/94, Slg. 1995, I-3573 „Siesse“ Rs. C-51/94, Slg. 1996, I-3617 „Kommission ./. Deutschland“ Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 „Gebhard“ verb. Rs. C-163/94, C- 165/94 u. C-250/94, Slg. 1995, I-4821 „Sanz de Lera“ Rs. C-192/94, Slg. 1996, I-1281 „El Corte Inglés“ Rs. C-193/94, Slg. 1996, I-929 „Skanavi“ Rs. C-214/94, Slg. 1996, I-2253 „Boukhalfa ./. Bundesrepublik Deutschland“ Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-2405 „Deutschland ./. Parlament und Rat“ verb. Rs. C-304/94, C-330/94, C-342/94 u. C-224/95, Slg. 1997, I-3561 „Tombesi u. a.“ Rs. C-334/94, Slg. 1996, I-1307 „Kommission ./. Frankreich“
Verzeichnis der zitierten Entscheidungen des EuGH
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Rs. C-58/95, Slg. 1996, I-4345 „Strafverfahren gegen Gallotti“ verb. Rs. C-74 u. C-129/95, Slg. 1996, I- 6609 „Strafverfahren gegen X“ Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 „Bosphorus“ Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909 „Strafverfahren gegen Jean-Louis Maurin“ Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705 „Luciano Arcaro“ Rs. C-177/95, Slg. 1997, I-1111 „Ebony Maritime SA“ Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195 „Draehmpaehl“ Rs. C-250/95, Slg. 1997, I-2471 „Futura Participations“ Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629 „Friedrich Kremzow ./. Republik Österreich“ Rs. C-309/95, Slg. 1997, I-7493 „Annibaldi ./. Sindaco del Comune di Guidonia u. Presidente R. Lazio“ Rs. C-323/95, Slg. 1997, I-1711 „Hayes ./. Kronenberger“ Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013 „Dior“ Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 „Familiapress“ Rs. C-389/95, Slg. 1997, I-2719 „Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis“ Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47 „Schöning-Kougebetopoulou“ Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.
C-34-36/96, Slg. 1997, I-3843 „de Agostini“ C-54/96, Slg. 1997, I-4961 „Dorsch Consult“ C-85/96, Slg. 1998, I-2691 „Sala“ C-122/96, Slg. 1997, I-5325 „Saldanha“ C-129/96, Slg. 1997, I-7411 „Inter-Environnement Wallonie ASBL ./. Region wallonne“ Rs. C-158/96, Slg. 1998, I-1931 „Kohll“ Rs. C-210/96, Slg. 1998, I-4657 „Gut Springenheide und Tusky“ Rs. C-249/96, Slg. 1998, 621 „Grant“ Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 „Bickel“ Rs. C-336/96, Slg. 1998, I-2793 „Gilly“ Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11 „Strafverfahren gegen Donatella Calfa“ Rs. C-120/97, Slg. 1999, I-223 „Upjohn“ Rs. C-350/96, Slg. 1998, I-2521 „Clean Car Autoservice“ verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 „IN.CO.GE“ Rs. C-12/97, Slg. 1999, I-1821 „Kommission ./. Italien“ Rs. C-24/97, Slg. 1998, I-2133 „Kommission ./. Deutschland“ Rs. C-67/97, Slg. 1998, I-8033 „Strafverfahren gegen Ditlev Bluhme“ Rs. C-107/97, Slg. I-3367 „Strafverfahren gegen Rombi u. a.“ Rs. C-162/97, Slg. 1998, I-7477 „Strafverfahren gegen Gunnar Nilsson u. a.“ Rs. C-224/97, Slg. 1999, I-2517 „Ciola“ Rs. C-226/97, Slg. I-3711 „Strafverfahren gegen Johannes Martinus Lemmens“ Rs. C-230/97, Slg. 1998, I-6781 „Strafverfahren gegen Ibiyinka Awoyemi“ Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835 „Pfeiffer“
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Rs. C-262/97, Slg. Engelbrecht“ Rs. C-319/97, Slg. Rs. C-340/97, Slg. Rs. C-378/97, Slg. Rs. C-383/97, Slg.
2000, I-7321 „Rijksdienst voor Pensioenen ./. Robert 1999, 2000, 1999, 1999,
I-3143 „Antoine Kortas“ I-957 „Nazli“ I-6207 „Strafverfahren gegen Wijsenbeek“ I-731 „Van der Laan“
Rs. C-186/98, Slg. 1999, I-4883 „Strafverfahren gegen Nunes und de Matos“ Rs. C-448/98, Slg. 2000, I-10663 „Strafverfahren gegen Jean-Pierre Guimont“ Rs. C-160/99, Slg. 2000, I-6137 „Kommission ./. Frankreich“ Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193 „Grzelczyk“ Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325 „Marks & Spencer“ Rs. C-255/00, Slg. 2002, I-8003 „Grundig Italiana“ Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“ Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13031 „Strafverfahren gegen Piergiorgio Gambelli u. a.“ Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3525 „Steffensen“ Rs. C-476/01, Slg. 2004, I-5205 „Felix Kapper“ verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257 „Orfanopoulos u. a.“ Rs. C-12/02, Slg. 2003, I-11585 „Strafverfahren gegen Marco Grilli“ Rs. C-58/02, Slg. 2004, I-621 „Kommission ./. Spanien“
Stichwortverzeichnis Abschreckung 176, 178, 335 Adressat 66, 111 Akzessorietät des Strafrechts 79 Allgemeine Rechtsgrundsätze 74, 80, 117, 120, 135, 136, 179, 185, 188, 200, 203, 218, 226, 263, 266, 275, 281, 312, 338, 340, 351 Allgemeiner Teil 340 Amtsanmaßung 296 Analogie 266, 285, 303, 333, 337 Anweisungen 209 Anwendungsvorrang 33, 37 Aussagedelikte 227, 299 Ausweisung 102, 153, 227, 336 Beeinträchtigung des Schutzbereichs 48 Begriffsakzessorietät 306 Begründungsverbot 69 Bereichsausnahmen 48 Beschränkungsverbot 48 Bestimmtheit 26, 80, 164, 293 Betriebspraktika 332 Bindung der Mitgliedstaaten 74, 120, 135, 151, 182, 188, 203, 265, 275 Dienstleistungsverkehr 44, 45, 46, 89 Diskriminierungen 48, 68, 72 Diskriminierungsverbot 48, 56, 108, 117, 130, 132, 153, 184 Differenzierungskriterium 67, 112 Effet utile 35, 112 Einzelermächtigung 26, 61, 207, 232 Fahrlässigkeit 313 Familienbetriebe 333
Freiheitsrecht 140 Freiheitsstrafe 330 Freizügigkeit Führerschein
50, 52, 56, 123, 135, 102, 136, 146, 154, 44, 45, 46, 94 45, 95, 135, 227
Geheimnisschutz 302 Geldstrafe 101, 136, 152 Geltungsvorrang 37 Gemeinschaftsgrundrechte 74, 191, 201, 219, 225, 338 Gemeinschaftsrechtliche Pflicht 250 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 238 Generalklauselartige Tatbestandsmerkmale 313 Gesetzgeber 29, 61, 76, 101, 209, 224, 231, 233, 246, 263, 294 Gleichheitsrecht 56, 66, 108, 117, 120, 132, 174, 184, 203 Grenzübertritt 58, 67 Grundfreiheiten 42, 85, 108, 132, 141 Herkunftslandsprinzip 73, 95 Höhe der Sanktion 122, 136 Inländerdiskriminierung 52, 55, 61 Innerstaatliche Sachverhalte 46 Intertemporales Strafrecht 343 Jugendarbeitsschutz 167, 332 Juristische Person 342 Kapitalverkehrsfreiheit 45, 46, 96 Kinderarbeitsverbot 332, 333 Kollision 28, 40
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Stichwortverzeichnis
Kollisionsregel 28, 33 Kompetenz 25, 60, 62, 147, 187, 197, 207, 258, 356 Kriminalstrafrecht – im Dienste der Gemeinschaft 41, 169, 338 – nationales 41, 42, 335 Lebensmittelrecht 314, 327 Lotterie 67, 89 Marktöffnung 55, 58 Marktzugang 55, 58 Maßregeln der Besserung und Sicherung 156 Mengenlehre 28, 40 Mindesterfordernis 171, 176, 186, 193, 216, 224 Missbrauch von Titeln 298 Natur der Sanktion 122, 147 Nebenstrafen 156 Nichtigkeit 37, 81 Niederlassungsfreiheit 44, 45, 50, 91 Obergrenzen 40, 168, 198, 225, 336, 338 Öffentliche Gewalt 48 Öffentliche Verwaltung 48 Ordnungswidrigkeiten 22 Post 97 Praktische Konkordanz 193, 194, 206, 219, 234, 263, 267 Primärnorm 79, 161, 214, 291 Rechtfertigung 70, 82, 113 Rechtsgüter 41, 73, 170, 209, 227, 291 Richtlinien 31, 162, 209, 253, 318, 319, 321, 343
Sanktion 99, 167, 171, 198, 208, 224, 335 Sanktionierungsbefugnis 172 Schnittmenge 28, 40, 78 Schonungsgrundsatz 144, 149, 352 Schranken 70 Schranken-Schranken 73 Schutzbereich 44 Siegelbruch 299 Sondernormen 317 Sorgfaltspflicht 313 Staatsangehörigkeit 44, 48, 68, 109 Strafblankett 325 Strafzumessung 335 Supranational 21, 22 Subsidiarität 62, 191 Unionsbürgerschaft 47, 110 Unmittelbare Anwendbarkeit 29, 30 Unterlassungsdelikte 320 Urkundsdelikte 303 Verbotsirrtum 348 Verbraucher 327, 329, 352 Vergleichspaar 67 Verhältnismäßigkeit 73, 133, 179, 200 Verkaufsmodalitäten 51 Vermarktungsstrategie 93 Verordnungen 24, 31, 161, 208, 231 Versuch 341 Verwahrungsbruch 298 Verwaltungsrecht 261 Verweisungen 227 Warenverkehr 44, 45, 46, 85 Wettbewerb 97, 204 Wetten 90 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte 295 Wirksamkeit 179 Willkürverbot 77, 113