Der narrative Lai als eigenständige Gattung in der Literatur des Mittelalters: Zum Strukturprinzip der Aventure in den Lais 9783111630113, 3484522011, 9783484522015


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German Pages 241 [244] Year 1984

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Lais in strukturalistischer Sicht
I. Vorüberlegungen zur Methode
II. Die Handlungsmotivation
III. Die Aktualisierung des Konflikts
IV. Reaktions-und Auflösungsmodelle
Die Handlungsstruktur als Wertstruktur
I. Merkmale der Handlungsstruktur
II. Handlungsstruktur und weltanschaulicher Gehalt
III. Der ideologische Standort der Lais
IV. Gattungssystem und Gesellschaftssystem
Zusammenfassung
Verzeichnis der Abkürzungen
Bibliographie
Verzeichnis der Lais
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Der narrative Lai als eigenständige Gattung in der Literatur des Mittelalters: Zum Strukturprinzip der Aventure in den Lais
 9783111630113, 3484522011, 9783484522015

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG HERAUSGEGEBEN VON KURT BALDINGER

Band 201

RENATE KROLL

Der narrative Lai als eigenständige Gattung in der Literatur des Mittelalters Zum Strukturprinzip der Aventure

in den Lais

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1984

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kroll, Renate: Der narrative Lai als eigenständige Gattung in der Literatur des Mittelalters : zum Strukturprinzip d. Aventure in d. Lais / Renate Kroll. Tübingen : Niemeyer, 1984. (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie ; Bd. 201) NE: Zeitschrift für romanische Philologie / Beihefte ISBN 3-484-52201-1

ISSN 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1984 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Computersatz Staiger, Tübingen. Druck: Becht-Druck, Pfäffingen. Einband: Heinrich Koch, Tübingen.

Inhaltsverzeichnis

DIE LAIS IN STRUKTURALISTISCHER SICHT

I. V o r ü b e r l e g u n g e n zur M e t h o d e II.

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D i e Handlungsmotivation

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1. Charakter-Insuffizienz 2. Emotionale Disponiertheit 3. Aufforderung, Herausforderung, Aggression Zusammenfassung

24 30 40 43

III. D i e A k t u a l i s i e r u n g d e s K o n f l i k t s

44

1. Manifestation eines rechtmäßigen Anspruchs

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2. Die Dynamisierung von Widersprüchen

65

3. Dekuvrierung eines subjektiven Vorgangs

81

Zusammenfassung

94

IV. Reaktions- und Auflösungsmodelle

95

1. Die Handlungstypen

103

2. Auflösungsmechanismen

121

Zusammenfassung

136

DIE HANDLUNGSSTRUKTUR ALS WERTSTRUKTUR I. M e r k m a l e d e r H a n d l u n g s s t r u k t u r

138

1. Dreiteilige Oberflächenstruktur und binäres Strukturprinzip

138

2. D a s Handeln und seine Implikationen

150

3. D e r Zufall und seine Aussage

153

4. Exkurs: D a s binäre Strukturprinzip auf sprachlicher und inhaltlich-formaler Ebene

156

II. H a n d l u n g s s t r u k t u r u n d w e l t a n s c h a u l i c h e r G e h a l t

158

1. Binäres Strukturprinzip und heilsgeschichtliches Denken

158

2. Handlungstypik und frühscholastische Theologie 3. Lohn- und Strafmechanismen und die Ethik des göttlichen Willens

163 ....

168 V

III. D e r ideologische Standort der Lais 1. Die aventure 2. Lai zwischen höfischem Roman und Tristan-Roman IV. Gattungssystem und Gesellschaftssystem 1. Funktionsbestimmung des Lai und seine Stellung im Subgattungssystem . 2. Die Entwicklung der Gattung: Strukturwandel als Folge einer neuen Wertorientierung 3. Die Funktion der Gattung im sozialen Sinnzusammenhang

171 171 179 185 185 192 196

ZUSAMMENFASSUNG

208

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN

216

BIBLIOGRAPHIE

217

VERZEICHNIS DER LAIS

234

VI

Vorwort

Die Drucklegung dieser Arbeit, die im Sommer 1982 vom Fachbereich Sprachen und Kulturen des Mittelmeerraums und Osteuropas der Justus-LiebigUniversität Gießen als Dissertation angenommen wurde und 1983 die Dissertations* Auszeichnung der Justus-Liebig-Universität Gießen erhielt, ist durch die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht worden. Mein Dank gilt Herrn Prof. Dr. Baldinger, der diese Abhandlung in die Reihe der «Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie» aufgenommen hat. Ganz besonders danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Dietmar Rieger, der diese Arbeit nicht nur betreut, sondern ihren Fortgang durch Großzügigkeit, Verständnis und Hilfsbereitschaft maßgeblich gefördert hat.

VII

Die Lais in strukturalistischer Sicht

I. Vorüberlegungen zur Methode In der neueren Forschung zur französischen Erzählliteratur des Mittelalters scheint sich gegenüber der Stoff- und motivgeschichtlich orientierten Methode mehr und mehr die strukturalistische Betrachtungsweise 1 durchzusetzen. Dafür ist nicht zuletzt die Erkenntnis verantwortlich, daß der schöpferische Akt des mittelalterlichen Dichters vor allem in der Komposition bestand, und daß gerade die Formung und Verknüpfung (conjointure) dem Stoff nicht nur zu ästhetischer Wirksamkeit verhalf, sondern ihm erst seinen Sinn gab 2 . In der neueren Forschung wird der Stoff- und Motivbestand als die materielle Seite, die Struktur des literarischen Kunstwerks dagegen als wesentliches, sinn- und gattungsbestimmendes Merkmal angesehen. Sinngebend insofern, als der Strukturalismus gerade für Untersuchungen an zeitlich ferner Literatur relevant wird, d.h. wenn der 'verlorene' Sinn mit hermeneutischen oder anderen literaturwissenschaftlichen Verfahren — wegen des Auseinandergehens der Bewußtseinshorizonte oder auch nur mangels Sekundärinformationen - nicht ohne weiteres erschließbar wird3. Gattungsbestimmend insofern, als Strukturuntersuchungen sich nicht mehr nur auf die Registrierung von Einzelelementen oder deren akzidentelle Kombination begründen, sondern die die Gattung konstituierenden Werke auf der Basis transdisziplinärer Prinzipien — und unabhängig von subjektiven Perspektiven, Methoden und Orientierun-

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Grundlage für den strukturalen Gesamtzusammenhang ist der von J.Piaget (1968) entwickelte Strukturbegriff, dessen allgemeine Anwendbarkeit sich daraus ergibt, daß er nicht in Bezug auf ein spezifisches Erkenntnisobjekt gewonnen wurde, sondern Resultat allgemeiner epistemologischer Untersuchungen ist. Eine Struktur definiert J.Piaget als «un système de transformations, qui comporte des lois en tant que système (par opposition aux propriétés des éléments) et qui se conserve ou s'enrichit par le jeu même de ses transformations, sans que celles-ci aboutissent en dehors de ses frontières ou fasse appel à des éléments extérieurs. En un mot, une structure comprend ainsi les trois caractères de totalité, de transformations et d'autoréglage» (6ff ). Zu conjointure und sens vgl. vor allem das Kapitel: Regards sur la Conjointure von E.Vinaver (1970) sowie den Aufsatz von W.Haug (1975). Vgl. dazu z.B. P.Ricoeur (1963) - wobei nicht notwendigerweise literarische Texte nach ihrer Anwendbarkeit von literaturwissenschaftlichen Methoden zu trennen sind.

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gen4 — als formale und inhaltlich organische Einheiten erfassen und erschließen5. Struktur soll im folgenden verstanden werden als «das Gefüge, der Aufbau eines zusammengesetzten Gebildes nach einer leitenden Idee oder auf Grund eines beherrschenden Faktors, im dynamischen Sinne eines Gebildes, innerhalb dessen die Vorgänge aufeinander abgestimmt sind und die Teile ihre besondere Aufgabe für das Ganze haben»6. Die jeweilige Erzählung wird danach als organische Ganzheit gesehen, als ein System von Elementen, die in bestimmter Wechselbeziehung und Funktion zum Ganzen stehen. Das einzelne Werk stellt in dieser Perspektive eine Totalität dar, die nicht nur aus der assoziativen Aneinanderreihung von Einzelelementen besteht, sondern ein System von Relationen darstellt, das diese als Ganzes charakterisiert und dem die Eigenschaften der Einzelelemente untergeordnet sind7. Der strukturalen Analyse kommt daher die Rolle zu, hinter der scheinbaren Unordnung der Phänomene die zugrunde liegende Ordnung aufzudecken8. Die diachrone Gattungsuntersuchung des Lai verzichtet deshalb auf die traditionelle Abstraktion isolierter Einzelelemente und fragt nach ihren Relationen bzw. der Art ihrer Komplexität, um damit die Einheit und Kohärenz der literarischen Werke erkennbar zu machen. Die Ausgangshypothese der folgenden Strukturuntersuchung, daß nämlich das charakteristische Prinzip dieser Gattung ihre logische Tiefenstruktur — auf der Ebene klassifizierbarer Handlungsfunktionen9 — ist, die die konkre4

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Der transdisziplinäre Erfolg des Strukturalismus, auf den sich J.Mukafevsky schon 1940 berufen konnte (vgl. ders. 1967, 11-12), kann als Beleg für die Nützlichkeit der strukturalistischen Methode dienen. G.Schiwy (1969, 4 4 - 45) bezeichnet den Strukturalismus als «exakte» Wissenschaft, deren Methodik zur allmählichen Annäherung zwischen den Natur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften führt. R. Posner (1969, 28) begrüßt besonders die Möglichkeit der «exakten Deskription literarischer Texte». Die nachfolgende Strukturuntersuchung stellt deshalb die Anwendung naturwissenschaftlicher Prinzipien auf die Literatur nicht in Frage — woraus jedoch keine allgemeinen Schlüsse auf Analogien oder Differenzen zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu ziehen sind. J. Hoffmeister (21955, 584); vgl. zur Strukturdefinition ferner R.Bastide (1962, 9 - 1 9 ) , D.Baacke zum literarischen Strukturbegriff in W.Kayser (31961, 224ff.) oder in jüngerer Zeit G. Klaus / M.Buhr (1969): «Menge der die Elemente eines Systems miteinander verknüpfenden Relationen. Die Abstraktionsklasse aller einander isomorphen Relationsgefüge dieser Art wird als ein abstraktes Gefüge, eben als die abstrakte Struktur betrachtet.» Auf den naheliegenden Zusammenhang von Struktur und Transformation soll hier nur insofern hingewiesen werden, als aufgrund des Gesetzes von absolut konstanten Tiefenstrukturen auch auf einem größeren Anwendungsfeld operiert werden könnte. Vgl. zu diesem Fragenkomplex J.Mukafevsky in Fiaker / Zmegaè (1974, 86—87), J. Mukarevsky (1974) und J.Metschmann (1973, 363). C. Lévi-Strauss (1971, 190). Vgl. dazu R.Barthes (1966a, 1 - 2 7 ) , der auf die verschiedenen strukturalistischen Untersuchungsebenen in Erzählungen eingeht.

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ten E l e m e n t e auf ein allgemeines Grundmuster beziehbar macht, basiert auf Erkenntnissen der textanalytischen Forschung 1 0 . D a s hier neu entwickelte (Handlungs-)Modell versucht dabei — unter V e r m e i d u n g des Schematismus 1 1 , über Elementargesetze 1 2 , Allgemeingültigkeit 1 3 und Universalität 1 4 hinaus - ein spezielleres Schema aufzustellen 1 5 , das dialektisch zwischen der allgemeinsten Form des narrativen Prozesses als regelhafter Überführung eines Ausgangszustandes in einen Endzustand und der individuellen Konkretion dieses Prozesses vermittelt. A u s diesem Grund hat sich aus der empirischen Untersuchung der Lais ein (Handlungs-)Strukturmodell ergeben, das sich — im Hinblick auf die Logik des inneren Z u s a m m e n h a n g s der Handlung — an d e m BRßMOND'schen Funktionsmodell 1 6 orientiert; entsprechend der 10

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Einen nützlichen Forschungsbericht zur textanalytischen Forschung bietet E. Gülich (1973); Einführungen in den Strukturalismus in der Literaturwissenschaft: H.Blumensath (1972), H.Gallas (1972), J.Striedter (1971), T.Todorov (1973) bzw. Communications 8 (1966). Der Vorwurf des Schematismus ist der Proppschen Morphologie des Märchens, vgl. Propp 1928, nicht zu ersparen. Propp analysiert russische Märchen als eine Folge von Funktionen, wie z. B. Aufbruch des Helden, Übertretung eines Verbots oder Bestrafung des Feindes. Diese Funktionen sind konstante und unveränderliche Elemente, deren Anzahl im Märchen auf 31 begrenzt ist und die stets in systematischer Reihenfolge auftreten. Erst mit Bremond (1968; 1970), der für die Konzeption einer Trias von Funktionen bei jedem Schritt Alternativen vorsieht, tritt an Stelle des starren Schemas eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten. Unter den Strukturalisten herrscht Einigkeit darüber, daß an den erzählten Ereignissen oder Handlungen belebte bzw. im allgemeinen menschliche Wesen beteiligt sein müssen und daß in einer Erzählung mindestens zwei in logischer und chronologischer Relation zueinander stehende Ereignisse oder Handlungen so aufeinander folgen müssen, damit eine Veränderung des Ausgangszustands eintritt. Zum Beispiel definieren van Dijk, Ihwe, Petöfi, Rieser die narrative Struktur als eine 'Ereignissequenz', was heißen soll, daß Ereignisse durch eine Zeitrelation geordnet sind bzw. daß bei mindestens zwei Ereignissen ein Ereignis die Folge eines anderen ist. T.Todorov (1973, 124ff.) versteht unter Erzählen eine «chronologische und bisweilen kausale Verknüpfung von diskontinuierlichen Einheiten», die zwei Prinzipien gehorcht: dem der Sukzession und dem der Transformation. Vgl. z.B. die Kritik an der universalen Gültigkeit der Bremondschen Erzählsequenz bei Th. M. Scheerer / M. Winkler (1976). R. Barthes (1966b, 191ff.) nennt den (bei der Entwicklung eines spezielleren Schemas beteiligten) Subjektivismus der strukturalistischen Methode insofern einen Vorzug, als gerade aus dem eigenen Setzen von Regeln, nach denen ein Objekt zu rekonstruieren ist, ersichtlich wird, wie es funktioniert. Durch das spezifische Interesse und den Standpunkt des Strukturalisten wird demnach etwas zum Vorschein gebracht, was im natürlichen Objekt unsichtbar bleibt. Die geregelte Aufeinanderfolge einer bestimmten Anzahl geistiger Operationen garantiert der «hypothetischen Konstruktion» dennoch ihre wissenschaftliche Exaktheit. Die dem hier entwickelten Handlungsmodell zugrunde liegende Bremondsche Erzählsequenz (vgl. C. Bremond 1968; 1970), die aus der Abfolge der drei Funktionen: Ausgangszustand (z.B. Mangelzustand) - eigentlicher Handlungsprozeß (z.B. Beseitigung des Mangels) — Ergebnis der Handlung (z.B. beseitigter oder nicht beseitigter Mangel) besteht, ist zu allgemein, um eine Gattung zu identifizieren. 3

Bedeutung der handelnden Personen für den Gang der Handlung und der damit erfaßbaren Fülle von Handlungsmustern ist dabei der morphologische Ansatz von V. PROPP17 mitberücksichtigt. Im Gegensatz zu der extrem ding-

haften Auffassung von Handlung in der Pariser semiologischen Schule (Bremond) wird hier eine Handlungslogik vertreten, die das Handeln und seine Intentionen bzw. Motivationen in trennbarem Zusammenhang sieht18. Im Anschluß an neuere theoretische und methodologische Arbeiten zur Funktionsanalyse aus der Pariser semiologischen Schule ( R . BARTHES, C . B R £ 19 MOND, A. J. GREIMAS, J. KRISTEVA, T . TODOROV u.a. ) konnte das Modell in seiner Anwendbarkeit differenziert und erweitert werden20 sowie eine größere Flexibilität erhalten. Für die Erfassung eines tiefenstrukturellen Kompositionsprinzips waren neben literaturwissenschaftlichen und linguistischen Forschungsergebnissen auch die der strukturalen Anthropologie von C. LfiviSTRAUSS21 bestimmend 22 — vor allem die Unterscheidung von zwei Ebenen

der Erzählstruktur, einer zugrunde liegenden und einer Oberflächenstruktur, auf der sich die zugrunde liegende Struktur sprachlich manifestiert23, außerdem die These, daß die erzählten Handlungen universale Strukturen menschlichen Handelns widerspiegeln. Da der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf tiefenstrukturellen Untersuchungen liegt24, wird die Textoberfläche und ihre Beziehung zur zugrunde liegenden Struktur25, bzw. auch der «Schichten17

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Vgl. die gattungsspezifische Erfassung des russischen Märchens über abstrahierte Handlungsablaufschemata («action d'un personnage») bei V. Propp 1928 ( 2 1970). Mit dieser Arbeit ist es V. Propp gelungen, die Ontologie der folkloristischen Erzählgattung zu bestimmen, obwohl er seine Untersuchungen auf die lokale Tradition begrenzte. Daß A. Dundes (1964) das gleiche Schema auf die mündlichen Erzählungen der nordamerikanischen Indianer anwenden konnte, zeugt von der Plausibilität des Proppschen Verfahrens für folkloristische Texte. Vgl. dazu G . H . von Wright 1968, dessen Beschreibung von Handlung («initial state»/«end State») an der Oberfläche mit der von C. Brémond übereinstimmt. Bei Wright werden Handlungen jedoch als menschliche Verhaltensweisen aufgefaßt, die einer intentionalen Erklärung bedürfen. Für die frühen im Rahmen dieser Schule entstandenen Arbeiten liegt eine ausführliche Darstellung von R. Barthes (1966 b) vor; vgl. auch Communications 8 (1966). Vor allem durch C.Brémond (1968, 1970) und A. J. Greimas (1970). 1955, 1958. Vgl. dazu C. Brémond 1972, 382. Z . B . «niveau immanent» und «niveau apparent» bei A. J.Greimas; «histoire» und «discours» bei T. Todorov; «raconté» und «racontant» bei C. Brémond; «géno-texte» und «phéno-texte» bei J. Kristeva; «fonctions», «actions» und «narration» bei R. Barthes. Vgl. dazu R. Barthes (1966a, 12) «. . . les expansions sont supprimables, les noyaux ne le sont pas.» Der Versuch, die vorliegende Analyse mit den generativen und / oder textgrammatischen bzw. generativ-transformationellen Ansätzen weiterzuführen (vgl. W . O . Hendricks [1973]), hätte ein anderes Ziel, nämlich unter der Bezeichnung einer «Grammatik der Erzählung» (vgl. T. Todorov [1968]) die verschiedenen literaturwissenschaftlichen und linguistischen Ansätze zu vereinigen. Vgl. zu diesem Fragenkom-

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bau» 2 6 d e s literarischen W e r k s nur gelegentlich berücksichtigt und kann die T h e o r i e v o n der «strukturellen Kohärenz» 2 7 nur in A n s ä t z e n praktisch angew e n d e t werden. V o n d e n strukturalistischen U n t e r s u c h u n g s e b e n e n 2 8 her ges e h e n bietet sich für die Lais an, -

angesichts der strukturbestimmenden, d o m i n a n t e n Stellung der H a n d lung in der Narrativik d e s Mittelalters 2 9 und der sich daraus e r g e b e n d e n Möglichkeit, Erzählgattungen über konventionalisierte Erzähl- bzw. H a n d l u n g s s c h e m a t a zu beschreiben 3 0 und

-

im Hinblick auf die gattungsspezifische B e d e u t u n g d e s einmaligen Ereignisses ( a v e n t u r e ) und d e n aus ihm resultierenden — vermutlich «gattungsindividualisierenden» — Handlungsablauf 3 1

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plex auch E.Gülich (1973, 326-327). So sinnvoll ein solches Programm erscheint, so unbefriedigend sind seine bisherigen Ergebnisse geblieben. Selbst eine «überbordende Theorieproduktion» hat es noch nicht fertiggebracht, überzeugende Vorschläge für eine Hiercharchisierung der verschiedenen Ebenen bzw. Schichten vorzulegen bzw. ein homogenes Modell zu entwickeln, nach dem die Vermittlung der Oberflächen- und Tiefenbeziehungen zu begreifen wären; vgl. dazu R.Waming (1979). Zu den Schichten im literarischen Kunstwerk vgl. R. Ingarden ( 3 1965), besonders sein Kapitel: Die in das Erkennen des literarischen Kunstwerks eingehenden verschiedenen Funktionen (16-94). Aufgrund der «strukturellen Kohärenz» eines Werkes, die auf einer (dynamischen) Tendenz des sinnvollen Strukturierens beruht, ergibt sich für L. Goldmann die Notwendigkeit, jedes Element innerhalb dieser sinnvollen Gesamtstruktur nachzuweisen; vgl. L. Goldmann (1959). Vgl. die Auseinandersetzung mit den strukturalistischen Untersuchungsebenen bei R.Barthes (1966 a). Die Dominanz der Handlung in der mittelalterlichen Erzählliteratur erklärt sich aus einer Erzähltechnik, die psychische, emotionale und kontemplative Vorgänge vornehmlich in äußeres konkretes Geschehen umsetzt (so ermöglicht z.B. die im Mittelalter beliebte symbolische Darstellung, Äußeres für Inneres zu setzen). Handlung kann so als auf die innere Beschaffenheit des Menschen verweisend angesehen werden, was soviel heißen soll, daß Handlungsabläufe gewissermaßen Signale für innermenschliches Sein und psychologische Vorgänge sein können. Aus den sich am Handlungsgefüge orientierenden (Erzähl-)Struktur-Untersuchungen, die gattungsbezogene Erkenntnisse lieferten, seien hier einige einschlägige Arbeiten aus der romanistischen und germanistischen Mediävistik genannt. Zum Roman: W.Kellermann 1936; H.Emmel 1951; H . K u h n 1959; 1979; H.Fromm 1969; W . H a u g 1971, 1973; W.Brand 1972; P. Gallais 1975; zur Kleinepik: V.Propp 1928 (Paris 1970) (russisches Märchen); A. Dundes 1964 (nordamerikanisches Märchen der Indianer); E.Kongäs / P.Maranda 1962 (Märchen); M.-L.Teneze 1970 (Märchen); C.Bremond 1970 (französisches Märchen); M.J.Schenck 1976 (Fabliau); E.Bozoky 1978 (Roman und Märchen). Die Bedeutung der aventure als Strukturprinzip für den Geschehnisablauf bzw. die Handlungsentwicklung — auch im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Wandel des aventure-Begriffs, der somit soziologisch interpretierbar wird - haben z.B. Arbeiten von R.R.Bezzola 1947 (Roman), E.Köhler 1970 (Roman), H.-R.Jauss 1959 (Roman de Renart), ders. 1953 / 54 (Jaufre), U.Ebel 1965 (Mirakel) und J.Frappier 5

empirisch vorfindbare Handlungsschemata zu beschreiben und anhand dieser konstanten, konstitutiven Teile das der (Erzähl-)Gattung inhärente funktionale Bezugsnetz offenzulegen. Aus den genannten Gründen ist es irrelevant, ob sich die Lais durch Handlungsreichtum oder -armut auszeichnen32 — in der heterogenen Gruppe der zu untersuchenden Texte sind beide Typen vertreten. Bei der Konstituierung eines Handlungsablaufschemas, das nicht nur der Handlung selbst («action»), oder ihrem chronologischen Ablauf («consécution»), sondern vor allem ihrer Funktion, ihrer inneren, unzeitlichen Logik («conséquence»)33 Rechnung tragen will, wird es darauf ankommen, ob es eine typische Handlungsführung des Lai gibt bzw. ob eine zu ermittelnde Struktur die Gattung individualisieren kann — eine Frage, die für die Lais bislang entschieden verneint worden ist. So heißt es bei W . K R Ö M E R : Ich sehe hier nicht die Möglichkeit, eine Lösung zu finden. Der Lai endet normalerweise gut (eine Ausnahme bildet, auch bei positiver Darstellung der Helden, Laüstic), die nichtepisodischen Lais enthalten vor dem guten Ende eine Schwierigkeit, eine Gefahr usw., aber dies alles liegt nur in der Logik jeder gut endenden Geschichte. Es gibt viel weniger die typische Handlungsführung des Lai als die des Mirakels, des höfischen Romans oder des Fabliau34.

Oder bei

P.MÉNARD:

Pour conclure, diversité thématique, absence d'une structure unique et spécifique, autant de traits qui montrent l'impossibilité d'une définition rigoureuse du genre 35 .

Auch J . C H . PAYEN hat eine (nach V.Propp oder T. Todorov ausgerichtete) Strukturbestimmung der Lais mit der scheinbar stichhaltigen Begründung verworfen, daß die bei einer solchen Methode angewendeten Kategorien eine in den Lais (zumal denen von Marie de France) nicht gegebene Aktivität seitens der Protagonisten voraussetzen würden36. Dem ist entgegenzuhalten, daß es trotz eines Mangels an ausgeprägten Momenten von Protagonisten-Aktivität, wie etwa im Märchen oder im höfischen Roman, dennoch zu einer Handlung kommt, so daß eine auf der Basis eines funktionalen Handlungskonzepts ent-

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1961 (Lai) gezeigt. - Vgl. auch die «Ehrenrettung des Ereignisbegriffs», eine theoretische Abhandlung zum Ereignis bzw. zur «geschehenden Geschichte» (Geschehniseinheit) in ihrer primären Bedeutungskonstitution von H . R . Jauss (1973, 554—560). Erst für die moderne (handlungsarme) Erzählliteratur unterscheidet R.Barthes (1966) zwei große Funktionsklassen («fonctions distributionnelles» und «fonctions intégratives»): « . . . les unes correspondent à une fonctionnalité du faire, les autres à une fonctionnalité de l'être» (9). Danach ergeben sich die beiden Erzähltypen «récits fortement fonctionnels» bzw. «indiciels» (wie z.B. der psychologische Roman). Vgl. zum Begriff der Funktion R.Barthes (1966a). Funktion vor allem im Unterschied zu «action», verstanden im Sinne klassifizierbarer Handlungsträger, und zu «narration», verstanden im Sinne klassifizierbarer Modalitäten der erzählerischen Vermittlung. W.Krömer (1973, 45). P.Ménard (1979, 97). J.Ch.Payen (1975, 50).

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wickelte Strukturuntersuchung durchaus ein spezifisches Strukturprinzip freilegen kann. Im Vorgriff auf das Untersuchungsergebnis sei bereits so viel gesagt, daß die bis heute mit Handlungsarmut oder Protagonisten-Passivität bezeichnete Besonderheit der Lais (besonders die der Marie de France) einen Ansatzpunkt für die Partikularität der Struktur (und damit der Gattung?) liefert; das Strukturmodell verweist gewissermaßen auf eine passive Funktionalität - im Sinne von nicht agierenden, sondern reagierenden Prinzipien (in Bezug auf den Handlungsablauf). Für den Handlungsaufbau und das Verständnis des in den Lais praktizierten Handelns erweisen sich darüber hinaus bislang in der mediävistischen Handlungsstruktur-Untersuchung (bzw. in der Literaturwissenschaft überhaupt 37 ) kaum angewandte Kategorien als ergiebig, die aus dem Umkreis neuerer Diskussionen um die Aktualisierung des von ARISTOTELES und HEGEL entwickelten Handlungsbegriffs stammen. Mit der den Sozialwissenschaft e n ( W E B E R , PARETO, M E A D , SCHÜTZ u n d PARSONS) e n t l e h n t e n T e r m i n o l o -

gie lassen sich Einsichten gewinnen, die bei einer Beschränkung auf das traditionelle Instrumentarium der Literaturwissenschaft nicht zugänglich gewesen wären; so lassen sich Vorgänge beim Handeln differenzierter erfassen, so läßt sich auch eine sinnvollere Erklärung für das bisher als Nichthandeln eingestufte Handeln finden. Der Lai als eine fiktionale Darstellung der Handlungswelt (aus der Perspektive eines einmaligen Verlaufs und der mit diesem gegebenen perspektivischen Verjüngung) macht die Handlung zum Gegenstand einer Erfahrung, die in der Form des Besonderen das Allgemeine reflektierbar macht. Die Handlung verläuft hier also nach Gesetzen, die auch die Handlung im gesellschaftlichen Leben bestimmen. Anders gesagt: Strukturen, die sich beim gesellschaftlichen Handeln in einer bestimmten Gemeinschaft ergeben, müßten auch in deren Literatur wiederzufinden sein. Wenn die (Handlungs-)Strukturanalyse auch darauf aufbaut, daß in einer Erzählung der Ablauf von Handlungen nicht zufällig ist, sondern einer bestimmten Logik gehorcht 38 , so bezieht diese These ihre Grundlage aus der auch vom genetischen Strukturalismus vertretenen Auffassung, daß menschliches Handeln sinnvoll ist oder dahin tendiert, sinnvoll zu sein39. Aufgrund der vom genetischen Strukturalismus 37

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Neuerdings wird allerdings immer häufiger dafür plädiert, den Ort der Literaturwissenschaft als einer systematischen Textwissenschaft im Rahmen der Handlungswissenschaften zu suchen; vgl. dazu den Sammelband Poetik und Hermeneutik V (Geschichte — Ereignis und Erzählung) 1973, darin besonders K. Stierle ( 3 4 7 - 375) bzw. K.Stierle 1975 sowie Poetica 8 (1976), darin K.Stierle (321ff.). Vgl. zur Logik der Handlungsabfolge T.Todorov (1966, 125-151). L. Goldmann (1967). Mit «sinnvoll» meint L. Goldmann nicht eine Rationalität im logischen, kartesianischen Sinne, sondern eher ein Verhalten, das sich an die Realität, an bestimmte historische Bedingungen anpaßt: Als Handelnder sieht sich der Mensch nach L. Goldmann einer Situation gegenüber, die für ihn eine Aufgabe darstellt, und er versucht die Welt durch sein Verhalten so zu verändern, daß er auf das gestellte

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angenommenen «kategorialen Entsprechung von Kunstwerk und Gesellschaft» macht sich die folgende Untersuchung für ihr methodologisches Vorgehen die Einsicht zunutze, daß — so wie sich jede einzelne Gegebenheit im menschlichen Leben als Teilelement in eine sinnvolle Gesamtstruktur fügt — auch im literarischen Werk auf allen Ebenen (sinn-)strukturierend gewirkt wird (dies bedeutet die Ausarbeitung der dem literarischen Werk eigenen sinnvollen Struktur — «structure significative»40), — so wie für ein bestimmtes Bewußtsein (bzw. das einer Gruppe oder Gesellschaft) eine globale Tendenz zur übereinstimmenden Strukturierung («cohérence» 41 ) besteht, auch im literarischen Werk partielle Strukturen (hier Handlungsstrukturen) in eine umfassendere Struktur (wie das Kollektivbewußtsein) eingegliedert werden können — aufgrund der Erfassung der «structure significative» an dieser auch die in einer bestimmten Gesellschaft, in einer bestimmten Zeit vorherrschende Weltanschauung («vision du monde» 42 ) ablesbar wird. Nach L. GOLDMANN kann die gesellschaftliche Realität als strukturierte Totalität gedacht werden, wobei die ästhetische Totalität des literarischen Textes (in dem sich einzelne Teil- bzw. Substrukturen finden) eine der ihr immanenten Teil- bzw. Substrukturen bildet. Der Text bzw. die Gruppe von Texten mit seiner bzw. ihrer besonderen Struktur bildet demgemäß nur ein Teilmoment in einem übergreifenden Zusammenhang. Diese Ausgangshypothese erlaubt es, die hier zu analysierende besondere Struktur als Vermittlungsinstanz anzusehen zwischen gesellschaftlicher Realität (als strukturierter Totalität) und einzelnen Teilen der ästhetischen Produktion (als gesonderter Struktureinheit innerhalb der strukturierten ästhetischen Produktion und innerhalb der gesellschaftlichen Totalität) - was soviel bedeutet wie literarische und au-

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Problem eine «sinnvolle» Antwort erhält. Darüber hinaus ist das «sinnvolle» Verhalten der Menschen nicht als ein isoliertes Phänomen der menschlichen Existenz zu betrachten, denn erst zusammen mit dem Denken und Empfinden bildet das Verhalten eine «sinnvolle Einheit». L. Goldmann (1959). L. Goldmann (1959). D a der Begriff der Kohärenz selbst schillernd ist bzw. die Einwände der Kritiker dahin gegangen sind, daß L. Goldmann die Rolle der Kohärenz überschätzte, weil das Vorhandensein von Widersprüchen (zwischen Werk und Wirklichkeit bzw. auch) innerhalb der Werke in Bezug auf das Denken, Empfinden und Verhalten als zu gering veranschlagt worden ist, soll zum Begriff der Kohärenz nur ergänzt werden, daß L. Goldmann die Kohärenz nicht logisch, sondern funktional aufgefaßt hat. Er hat Denken, Empfinden und Verhalten als unabhängig voneinander fungierende Sektoren gesehen, denen ein unterschiedliches und spezifisches Gewicht zukommt. L. Goldmann (1959).

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ßer-literarische bzw. gesellschaftliche Phänomene von ihrer Funktion her als teilweise identisch betrachten zu können. Das Vermittlungsmodell soll deshalb zunächst einmal das Kollektivbewußtsein oder die Weltanschauung (L. Goldmann) ins Blickfeld rücken und so die genetische Einheit von Weltverständnis und dessen formal-ästhetischem Ausdruck herstellen; das Vermittlungsmodell soll darüber hinaus aber auch ganz konkret auf das Entsprechungsverhältnis von Text(-gruppe) und gesellschaftlicher Realität in der spezifischen sozialen Gruppierung verweisen. Dabei stellt sich die Frage nach dem Vermittlungszusammenhang von Gattung und Gesellschaft, d.h. es bleibt zu klären, was im Fall des spezifischen Gattungsmusters als dessen konkrete gesellschaftliche Basis anzusehen ist, wie es durch sie bedingt ist und wie Gesellschaft sich in ihm objektiviert. Schließlich verfolgt die Strukturuntersuchung das Ziel, über die Identität eines Regelsystems insofern eine (Sub-)Gattung transparent zu machen 43 , als diese sich darüber in ihrem gesellschafts- und epochenspezifischen Ort einweisen läßt. Die von anderen (Sub-) Gattungen (aufgrund des nachgewiesenen immanenten Strukturzusammenhangs) unabhängige Gruppe von Texten erfüllt eine ihr entsprechende Funktion im bestehenden (Sub-)Gattungssystem 44 — es wird zu klären sein, welche. Die Gattungsdefinition soll dabei einen funktional-strukturellen Status in dem Sinne bekommen, daß die Struktur ein Abstraktionsniveau hat, das eine dialektische Vermittlung zwischen Beschreibungsmodell und gesellschaftlicher Realität zuläßt, d.h. auch die gesellschafts- und epochenspezifischen Gebrauchsfunktionen der Gattung transparent macht. Gattungen werden als «historisch-normhafte Kompatibilitätsfiguren von Textkomponenten» 45 begriffen und «keiner anderen Allgemeinheit zugeschrieben, als der, die sich im Wandel ihrer historischen Erscheinung manifestiert»4^. Das verhältnismäßig geringe Wissen um die materielle Komponente, konkret um das soziale Substrat der Texte bzw. Textgruppen, erschwert die Identifikation der Gattung aus historisch-soziologischer Perspektive. Weder liegen ausreichende Kenntnisse über die Produzenten der hier behandelten Texte vor, noch gibt es andere als nur zufällige und fragmentarische Teildaten über Rezipienten, Rezeptionsbedingungen, Distributionsvorgänge usw. zur Abfassungszeit der Texte. Nicht zuletzt aus diesem Grund scheint das hier vorgelegte Konzept geeignet, über die in und außerhalb der Textgruppe manifestierte 'geistige' Struktur sowie anhand des vorliegenden Faktenmaterials zumindest partiell das «vermittelte Verhältnis von Literatur und Gesellschaft» 47 darzustellen; es

43

44 45 46 47

Vgl. die zusammenfassende Darstellung zu Strukturalismus und Gattungstheorie von K.W.Hempfer (1973, 136-150) und E.Marsch (1979, 104-123). Vgl. zu Gattungssystem und Gesellschaftssystem E.Köhler (1977, 7 - 2 2 ) . W.D.Stempel (1972). H.R.Jauss (1972). U.Jaeggi (1972).

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ist ein Ansatz, der strukturalistische und literatursoziologische Betrachtungsweisen zu verbinden versucht48 (und der anhand genauerer Kenntnisse über die materiell-gesellschaftlichen Bedingungen weiter zu differenzieren wäre).

II. Die Handlungsmotivation Da die Struktur der Lais anhand von Funktionen1 erfaßt werden soll, muß zunächst das konstante Handlungsgerüst, das inhaltlich und figurenmäßig verschiedenartig ausgefüllt sein kann, freigelegt werden. Da es bei diesem Schema nicht um die Erfassung chronologischer Handlungssequenzen geht, sondern um die innere Logik der Handlungsfolge, kann man zunächst einmal die für die kürzere Erzählgattung im allgemeinen zutreffende Trias der Handlungsabfolge zugrunde legen2, nach der jedes Geschehen drei notwendige Phasen enthält3: — eine Funktion, die die Voraussetzungen für den Gang der Handlung schafft, — eine Funktion, die die Handlung realisiert und — eine Funktion, die das Geschehen abschließt4. In einem ersten Schritt ist demnach zu fragen, wie, d.h. aus welchen Antrieben die Handlung entsteht, wie sie jeweils motiviert ist. Dabei kann gleich zu Anfang festgehalten werden, daß die Lais ihre primären Handlungsanstöße nicht aus den z.B. für Volkserzählung oder Märchen üblichen Motivationen beziehen5. Auch die für die Erzählliteratur allgemein ermittelten Motivations48

1

2 3

4 5

Zur Verbindung von genetischem Strukturalismus und Literatursoziologie vgl. H. Kallweit und W.Lepenies (1970, 88-92); ebenso M.Godelier (1973). Im allgemeinsten Sinne nach V.Propp, 1928 (1970, 28ff.). Unter funktionaler Handlung («fonction») versteht V. Propp «L'action d'un personnage définie du point de vue de sa signification dans le déroulement de l'intrigue» (31). Vgl. dazu die als Zusammenfassung dienende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Funktion von R. Barthes (1966a, 6 - 1 5 ) . Vgl. C.Brémond (1966, 60-75). Da diese drei elementaren Erzählphasen eines jeden Handlungsablaufs der Struktur menschlicher Verhaltensweisen entsprechen und damit universelle Kategorien sind, läßt sich das von C. Brémond entworfene Schema nur als grobes Raster verwenden. Der Wert des Brémondschen Schemas hat sich denn auch bislang als zweifelhaft erwiesen (z.B. in der Anwendung von A. Riccadonna, in: Charmaine Lee, Anna Riccadonna, Alberto Limentani, Aldo Miotto, Prospettive sui Fabliaux, Contesto, Sistema, Realizzazioni [Ydioma Tripharium, 3] Padova 1977, XIV, 45—81), da die einzelnen Handlungsstationen zu vage bleiben, als daß sich Besonderheiten in der gattungsspezifischen Struktur ergeben könnten. C. Brémond (1966, 60). Als Beispiel seien dafür einige von V. Propp für das Volksmärchen gefundene Handlungseinleitungen genannt, die bei den Lais nicht anzutreffen sind: Entfernen eines Familienmitglieds von zu Hause («éloignement»), Verstoß gegen eine auferlegte Re-

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formen 6 lassen sich auf den Lai kaum unmittelbar anwenden, ebenso sind die speziell für abenteuerliche Erzählungen üblichen Handlungsmuster auf den Lai nicht übertragbar. In anderen Kompositionsreihen ist der Protagonist entweder neutral und wird in Abenteuer (die er nicht gesucht hat) verstrickt 7 , oder der Protagonist ist aufgrund einer (unbewußten) Diskrepanz zwischen ihm und der (Um-)Welt von vornherein zum Abenteuer, d.h. zur Abenteuersuche motiviert 8 . Von diesen durch V. Sklovskij für Abenteuererzählungen als archetypisch herausgearbeiteten Motivationsformen träfe von der ersten Kompositionsform für den Lai die Passivität des Protagonisten (nicht aber die Neutralität 9 ) zu, von der zweiten die Diskrepanz von Außenwelt und Innenwelt der handelnden Person, die aber im Lai nicht zur Abenteuersuche führt 10 . Bereits an dieser Stelle zeigen sich auch erste Parallelen und Unterschiede zum höfischen Roman: Dort ist der Held ebenfalls nicht neutral, ein sich aus seiner Existenz herleitender Konflikt bewegt ihn. Diese innere Bewegtheit läßt den Protagonisten des höfischen Romans aber aus seiner Passivität heraustreten, ist Antrieb für Abenteuer- und Sinnsuche, letztlich für einen (unbewußten) Integrierungswillen. Für den Motivationsansatz des Lai sind daher — auch gattungsspezifisch — sowohl die Momente der Passivität als auch der Diskrepanz von Protagonist und Außenwelt von Bedeutung. Die Handlung in den Lais bezieht (auch im Unterschied zum höfischen Roman) ihre Motivation nicht mehr aus diffusen, sondern ganz konkreten existentiellen Begründungszusammenhängen-. So ist die Ausgangssituation, aus der sich das Geschehen herleitet und die bis zum Ende der Erzählung von Bedeutung ist, durchweg durch einen Mangelzustand (im weitesten Sinne)11 gekennzeichnet. Dieser Mangelzustand motiviert das Geschehen, er stellt im Sinne des persönlichen Schicksals bereits die aventure dar bzw. trägt diese in sich, wenn man sie, wie im folgenden, im allgemeinen Sinne von Handlungsgeschehen begreift. Der Mangel präsentiert sich auf verschiedene Weise: Mangel an Liebe, an Geborgenheit, an Schutz, Fehlen eines Freundes oder Liebespartners bzw. drohender Verzicht auf ihn, Fehlen einer bestimmten

6 7 8 9 10 11

gel («interdiction»), Täuschung («tromperie»), Suche («départ»), Entführung («déplacement»), Verwicklung in einen Kampf («combat»), Held wird vor eine schwierige Aufgabe gestellt («tâche difficile») usw. (1970, 3 5 - 8 0 ) . Vgl. dazu V. Sklovskij (1966, 1 7 0 - 1 9 6 ) . V. Sklovskij (1966, 193). V. Sklovskij (1966, 194). D i e Neutralität des Protagonisten gilt z.B. für das Märchen. Wie z.B. im höfischen Roman. Hier ist eine gewisse Übereinstimmung mit der Gruppe VIII bzw. V i l l a der von V. Propp (1970) für die folkloristische Erzählung ermittelten 31 Handlungsablaufschemata festzustellen, die V. Propp mit «manque» und «méfait» bezeichnet hat: «On peut appeler conte merveilleux du point de vue morphologique tout développement pariant d'un méfait ou d'un manque, et passant par les fonctions intermédiaires pour aboutir au mariage ou à d'autres fonctions utilisées comme dénouement» (112).

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idealtypischen Charaktereigenschaft, was sich z.B. in Liebesfeindlichkeit oder Zwitterhaftigkeit ausdrückt sowie menschliche Schwächen oder Charaktermängel wie Leidenschaft, Unloyalität, Unentschlossenheit, Untreue, Eitelkeit, Eigenliebe usw. Alle Faktoren stellen den ungewollten Verzicht auf ein Positivum, die Ermangelung eines Gleichgewichts, gleichermaßen eine Aufgabe an den Protagonisten dar. In den Lais handelt es sich grundsätzlich um 'Helden', die zwar dem höfischen Idealtypus der äußeren Beschreibung nach entsprechen, die aber zugleich in ihrer Existenz konkret betroffen sind, deren mangelhaftes Sein oder irgendeine Entbehrung das ihnen Zukommende zu sein scheint. Nur im Ausnahmefall wird der Mangelzustand des Protagonisten durch einen Antagonisten (der mit stereotypen Charakterschwächen wie Eifersucht, Zorn, Mißgunst, Neid, Stolz usw. ausgerüstet ist bzw. der aufgrund einer Fehleinschätzung den Protagonisten diskriminiert) bewirkt. Faßt man die funktionalen Motivationen, d.h. diejenigen, die den Beginn und Ablauf der Handlung in den Lais auslösen, zusammen, dann ergibt sich eine Einteilung der Lais in drei Gruppen: 1. Mangel an einer bestimmten Charakterqualität (Charakter-Insuffizienz) 2. Mangel an Liebe, an Geborgenheit, Fehlen eines Freundes oder Liebesgefährten bzw. (drohender) Verzicht auf einen Liebesgefährten (Emotionale Disponiertheit) 3. Herausforderung und Aggression von Seiten eines mit Charaktermängeln behafteten 'Antagonisten', die wiederum einen Mangelzustand beim Protagonisten bewirkt. Anhand einer systematischen Tabelle soll im folgenden der Versuch gemacht werden, die Zuordnung der einzelnen Lais zu den einzelnen Motivationsansätzen zu demonstrieren. In diesem Schema ist die jeweilige Ausgangssituation, d. h. die Motivationssequenzen für die Entfaltung der Handlung formelhaft verkürzt. Diese Formeln stellen gewissermaßen das Gerüst für die unterschiedlichen inhaltlichen Füllungen und erzähltechnischen Darstellungsmöglichkeiten dar. In zahlreichen Lais setzt sich die Motivation der Handlung aus nicht nur einer sondern mehreren der drei genannten Kategorien zusammen. In einem solchen Fall werden die einzelnen Etappen in ihrer (chronologischen Reihenfolge durchnumeriert.

Aufstellung siehe Seite 14—23.

Wenn man von den notgedrungenen Simplifizierungen einmal absieht, die eine solche Aufstellung mit sich bringt, ergeben sich aus der Schematisierung eine Reihe von Aspekten, die im folgenden erörtert werden sollen: 12

Formale

Schlußfolgerungen

Nicht aufgenommen zu werden brauchten in diese Zusammenstellung der der Handlungsmotivation in der Regel vorausgehende (fiktionale) Ursprungsnachweis der Lais mit der Begründung für das Erzählen einer aventure bzw. die formelhafte Ankündigung, einen Lai erzählen zu wollen, desgleichen nicht die Exposition, in der die Ausgangssituation nach standardisierten Kriterien (Zeit, Ort, Personen, Umwelt, Kurzbeschreibung des Helden usw.) skizziert wird12, weil dieser Vorspann keine Bedeutung für die Funktion der Handlung und ihre Motivationen hat. Aus dem gleichen Grund wurden auch mehr oder weniger parallel-laufende, untergeordnete Handlungssequenzen mit ihren Motivationen außer acht gelassen, da ihnen nicht die Funktion der Handlungseinleitung oder -fortführung zukommt; sie erfüllen lediglich komplementäre Aufgaben, die für die Tiefenstruktur der Erzählung nicht von Interesse sind13. Die für die Lais herauspräparierten drei funktionalen Motivationen stellen einzeln oder in beliebiger Kombination die Antriebsmomente für den Handlungsbeginn dar. Festzuhalten ist, daß eine bestimmte funktionale Motivation innerhalb eines Lais nicht wiederholt wird, d.h. auch, daß es keine Parallelstrukturen gibt14, wie das z. B. im höfischen Roman der Fall ist, der das Motiv der Abenteuersuche immer wieder neu verwendet. In den Lais löst sich eine Motivationsart aus der anderen logisch und chronologisch heraus.

12

13

14

Die Einleitung kann in ihrer Länge variieren, sie kann von knappen Skizzierungen bis zur entfalteten biographischen Darstellung des Protagonisten (wie z.B. in Tyolet, Tydorel, Désiré) reichen, aber auch Belehrungen (wie z.B. in Aristote, Ignaure, Narcisus) enthalten. Nebenmotivationen für parallel laufende Handlungssequenzen können zum Beispiel die Haupthandlung und ihre Motivationen unterstreichen, sie können aber auch das zeitliche, örtliche und soziale Umfeld verdeutlichen und haben die Funktion, Realitätsbezüge zu unterstreichen. Die Parallelismen z.B. in Cor und Mantel sind nicht als wiederholte Handlungssequenzen anzusehen. Vielmehr werden die Wiederholungen als retardierendes Moment eingesetzt, um die Pointe der Handlung herauszustreichen.

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I. Interne Prämissen

Externe Faktoren

II. Interne Prämissen

Externe Faktoren

Charakter Insuffizienz

Supplementäre Konditioniertheit

Emotionale Disponiertheit

Supplementäre Konditioniertheit

1. Guigemar Mangelnde Liebesbereitschaft

2. Guigemar Bann einer Hindin (destinee, v. 108) (aventure, v. 199)

3. Guigemar Liebesgefühle gegenüber einer Dame, die erwidert werden

4.Guigemar Gegenliebe einer 'mal-mariée'

1. Equitan Liebes- und Vergnügungsfreudigkeit (+ Unloyalität) eines Königs

2. Equitan Liebe ('Amurs') wirkt verstärkend auf Liebesfreude ('Amurs', w . 54ff.)

3. Equitan Liebesgefühle gegenüber einer Dame; diese ist nach guten Argumenten zur Liebe bereit

4. Equitan Gegenliebe einer verheirateten Dame (Ehefrau des Seneschalls)

(1.) Fresne Aus Mißgunst und Neid Verleumdung einer Dame

(2.) Fresne Verleumdung schlägt zurück; Selbstbetroffenheit durch Schicksal (Zwillingsgeburt als 'aventure', v.78)

1. Fresne Liebesgefühle eines Feudalherrn gegenüber einem Fräulein, das die Gefühle ererwidert

2. Fresne Gegenliebe einer Waise

1. Bisclavret Werwölfische Natur eines Ehemannes; Charakterschwäche seiner Ehefrau

2. Bisclavret Externer Faktor indirekt vorhanden, da Werwolfsdasein von Natur aufgegeben, w . 5—14 bzw. aventure, v. 61 und v. 99 2. Lanval Aus Einsamkeit und Verlassenheit Liebesgefühle zu einem bezaubernden Fräulein

3. Lanval Gegenliebe eines übernatürlichen Wesens, einer Fee

1. Deus Amanz Liebe zwischen einer Königstochter und einem höfischen Edelmann

2. Deus Amanz Liebe einer an den Vater gebundenen Königstochter

1. Yonec Sehnsucht einer höf. Dame nach höf. Liebe bzw. einem höf. Liebespartner

2. Yonec Eintreffen des VogelRitters, als Geliebter einer 'mal-mariée'

(2.) Deus Amanz Unrechtmäßiger Besitzanspruch eines Vaters auf seine Tochter

14

III. Externe Faktoren

Externe Faktoren

Summe der Motivationsseqoenzen

Aggression

Aufforderung Herausforderung

Konfliktsubstanz

Guigemar Die Ehe mit einem eifersüchtigen Ehemann bedeutet eine latente Gefahr für das Liebespaar

Equitan Das Liebesverhältnis zwischen einem König u. der Ehefrau seines Seneschalls verstößt gegen die Moral (Ehemann) und gegen die Interessen der höf. Gesellschaft — von beiden Seiten droht Gefahr Fresne Das Konkubinat, das ein Feudalherr zu einer Waise unterhält, verstößt gegen die Interessen der Lehnsmänner

Bisclavret Das Liebes- u. Eheverhältnis zwischen einer werwölfischen Natur u. einer charakterschwachen Ehefrau ist gefährdet (wenn die Frau etwas über das Wesen ihres Mannes erfährt) 1. Lanval Diskriminierung eines Ritters durch den Artushof

Lanval Die Verbindung zwischen einem menschlichen Wesen und einer Fee birgt mannigfaltige Risiken

Deus Amanz Liebesverhältnis zwischen einem freien Edelmann und einer vom Vater abhängigen Tochter bedeutet Schwierigkeiten bei der Realisierung der Ehe

Yonec Die Ehe mit einem eifersüchtigen Ehemann bedeutet eine latente Gefahr für das Liebespaar

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I. Interne Prämissen

Externe Faktoren

II. Interne Prämissen

Externe Faktoren

Charakter Insuffizienz

Supplementäre Konditioniertheit

Emotionale Disponiertheit

Supplementäre Konditioniertheit

1. Laüstic Platonische Liebesbeziehung zw. einer höf. Dame und einem Verehrer

2. Laüstic Höf. Dame ist mit einem eifersüchtigen Ehemann verheiratet

1. Milun Liebe zwischen einem höfischen Edelfräulein u. einem höfischen Ritter

2. Milun Liebe einer von der Entscheidung des Vaters abhängigen Tochter

(1.) Chaitivel Liebe einer höf. Dame zu vier Rittern

2. Chaitivel Liebe zu vier Rittern statt zu einem

1. Chievrefoil Liebe zwischen einer Königin und einem Ritter

2. Chievrefoil Die Königin ist verheiratet, der Ritter aus ihrem Land verstoßen

1. Eliduc Verheirateter Vasall verliebt sich in eine Königstocher; diese erwidert seine Gefühle

2. Eliduc Moralische Verpflichtung gegenüber der Ehefrau und dem Lehnsherrn

1. Chaitivel Unentschiedenheit einer höf. Dame bei der Auswahl von vier Bewerbern

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III. Externe Faktoren

Externe Faktoren

Summe der Motivationssequenzen

Aggression

Aufforderung Herausforderung

Konfliktsubstanz

Laüstic Die Ehe mit einem eifersüchtigen Ehemann bedeutet eine latente Gefahr für das Liebespaar

Milun Liebesverhältnis zwischen einem freien Ritter u. einer vom Vater abhängigen Tochter bedeutet Schwierigkeiten bei der Realisierung der Ehe

Chaitivel Eine Konstellation von einer Dame und vier Rittern kann nicht dauerhaft sein

Chievrefoil Höchste Gefahr für das Liebespaar bei einem unerlaubten Wiedersehen

(l.)Eliduc Diskriminierung eines Ritters durch seinen Feudalherrn

Eliduc Liebesverhältnis zwischen! einem verheirateten Vasallen u. einer Königstochter verstößt gegen die Moral (Ehefrau) u. gegen das Interesse des Feudalherrn, solange er in fremden Diensten steht

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I. Interne Prämissen

Externe Faktoren

II. Interne Prämissen

Externe Faktoren

Charakter Insuffizienz

Supplementäre Konditioniertheit

Emotionale Disponiertheit

Supplementäre Konditioniertheit

1. Amours Hoher Herr und höf. Dame verlieben sich

2. Amours Der Verehrer der Dame ist ein Geschäftsmann aus einer weit entfernt gelegenen Stadt

1. Aristote Alexander verliebt sich in ein Mädchen, das seine Gefühle erwidert

2. Aristote Die Geliebte ist ein fremdländisches Mädchen; Alexander ist seinem Hofe verpflichtet

1. Conseil Sehnsucht einer höf. Dame nach der richtigen Liebe und dem richtigen Partner

2. Conseil Die Bewerber haben gleichermaßen Vorund Nachteile

1. Désiré Liebesgefühle gegenüber einem bezaubernden Fräulein

2. Désiré Gegenliebe eines übernatürlichen Wesens, einer Fee

3. Graalant Aus Einsamkeit und Verlassenheit Liebesgefühle zu einem bezaubernden Fräulein

4. Graalant Gegenliebe eines übernatürlichen Wesens, einer Fee

3. Guingamor Aus Einsamkeit und Verlassenheit Liebesgefühle zu einem bezaubernden Fräulein

4. Guingamor Gegenliebe eines übernatürlichen Wesens, einer Fee

(2.) Conseil Wankelmut einer höf. Dame in der Liebe und bei der Auswahl der Bewerber

1./2. Cor/Mantel Untreue der Liebesund Ehepaare am Artushof

1./2. Cor/Mantel Geheimnisvolle Gegenstände kommen von einer Fee, Treue oder Untreue nachzuweisen

1. Désiré Kinderlosigkeit eines Königspaares

2. Désiré Nach einer Pilgerfahrt Geburt eines Kindes

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III. Externe Faktoren

Externe Faktoren

Summe der Motivationssequenzen

Aggression

Aufforderung Herausforderung

Konfliktsubstanz

Amours Die Geschäfte und die Entfernung zur Geliebten erschweren die Realisierung des Liebesverhältnisses

Aristote Latente Bedrohung einer Liebesbeziehung durch höfische Maßgaben

Conseil Gefahr, daß überhaupt keine Beziehung zustande kommt

Cor / Mantel Mautaille Gefahr, daß das ausschweifende Leben am Hofe bekannt wird

Désiré Die Verbindung zwischen einem menschlichen Wesen und einer Fee birgt mannigfaltige Risiken

2. Graalant Diskriminierung durch den Artushof, bes. finanzielle Benachteiligung

1. Graalant Liebesangebot einer Königin, das der Ritter nicht erwidert

Graalant Die Verbindung zwischen einem menschlichen Wesen und einer Fee birgt mannigfaltige Risiken

2. Guingamor (Böswillige) Aufforderung d. Ritters, eine lebensgefährliche 'aventure' zu bestehen

1. Guingamor Liebesangebot einer Königin, das der Ritter nicht erwidert

Guingamor Die Verbindung zwischen einem menschlichen Wesen und einer Fee birgt mannigfaltige Risiken

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I. Interne Prämissen

Externe Faktoren

II. Interne Prämissen

Externe Faktoren

Charakter — Insuffizienz

Supplementäre Konditioniertheit

Emotionale Disponiertheit

Supplementäre Konditioniertheit

1. Epervier Eifersucht d. Ehemannes bewirkt Sehnsucht bei der Ehefrau nach einem Liebespartner

2. Epervier Liebesbeziehung zw. einem Ritter u. einer verheirateten Frau

1. Epine Liebesgefühle zweier Halbgeschwister zueinander

2. Epine Die Bindung ist vom Einverständnis der Eltern abhängig

2. Haveloc Aus Einsamkeit u. Verlassenheit Liebesgefühle zweier Königskinder zueinander

3. Haveloc Diskriminierung von Seiten der unrechtmäßigen Machthaber

(1.) Epervier Mißtrauen und Eifersucht eines Ehemannes

(l.)Ignaure (Höfischer) DonJuanismus

1. Ignaure 2. (1.) Ignaure Liebesgefühle e. Liebe zu zwölf Damen, Höflings gegenüber statt zu einer zwölf Damen d. Hofes, die die Gefühle erwidern

1. Melion Keine Liebesbereitschaft zu e. Dame, die bereits liebte oder geliebt wurde

2. Melion Hirsch führt Ritter einer solchen D a m e zu (aventure, v. 122)

1. Nabaret Eitelkeit und Putzsucht d. Ehefrau

2. Nabaret Ehefrau ist mit e. unverträglichen, altväterlichen Mann verheiratet

(l.)Narcisus Liebesunwilligkeit bzw. Eigenliebe (mesaventure, v. 880)

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3. Melion Liebesgefühle gegenüber dieser Dame

4. Melion Geliebe ist ein übernatürliches Wesen, eine Fee

1. (2.) Narcisus Daphne liebt Narcisus

2. (1.) Narcisus Liebe zu einem Mann, der die Gefühle nicht erwidern kann

III. Externe Faktoren

Externe Faktoren

Summe der Motivationssequenzen

Aggression

Aufforderung Herausforderung

Konfliktsubstanz

Epervier Die Ehe mit einem eifersüchtigen Ehemann bedeutet eine latente Gefahr für das Liebespaar

Epine Liebesverhältnis zwischen zwei Halbgeschwistern ist durch elterliche (gesellschaftliche) Entscheidungen bedroht

1. Haveloc Zwei Königskinder werden enterbt, vertrieben u. miteinander verheiratet

Haveloc Unwissenheit, Gefahr und Risiken bei der Wiedererlangung der verlorenen Rechte

Ignaure Eine Konstellation von einem Ritter und zwölf verheirateten Damen kann nicht dauerhaft sein. Gefahr droht sowohl von den Damen selbst als von deren Ehemännern Melion Die Verbindung zwischen einem menschlichen Wesen und einer Fee birgt mannigfaltige Risiken

Nabaret Konfliktträchtige Ehe zwischen unverträglichen Ehepartnern

Narcisus Konstellation von einem Menschen, der den Verehrer nicht lieben kann, ist problematisch für alle Betroffenen

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I. Interne Prämissen

Externe Faktoren

II. Interne Prämissen

Externe Faktoren

Charakter — Insuffizienz

Supplementäre Konditioniertheit

Emotionale Disponiertheit

Supplementäre Konditioniertheit

1. Oiselet Unhöfischkeit eines 'riches vilains' (Besitzer e. höfischen Gartens)

2. Oiselet Ein Vogel dieses Gartens repräsentiert das Höfische

1. Ombre Höf. Ritter verliebt sich in eine höf. Dame

2. Ombre Liebe des Ritters stößt nicht auf die Gegenliebe einer höfischstolzen Dame

1. Piramus Liebesgefühle zweier zur Liebe erwachten Kinder

2. Piramus Die Elternhäuser dieser Kinder sind zerstritten; von deren Einverständnis sind die Liebenden abhängig

1. Doon 2. Doon Wunsch nach ErobeEroberung der stolzen rung e. unbesiegbaren Dame: Hochzeit Dame. Unterstützung durch e. besonders schnelles Pferd (Baiart) 1. Tydorel Kinderlosigkeit e. Königspaares 3. Schlaflosigkeit d. Königssohns (Zwitternatur) 1. Tyolet Naturwesen, unhöfisches Dasein

(2.) Vair Palefroi Geld- und besitzgieriger Vater

22

2. Tydorel Übernatürl. Ritter wird Liebhaber: Geburt e. Kindes(aventure, v.158) 4.Jungea.d. Volke sagt e. Sprichwort 2. Tyolet Begegnung d. Naturkindes m. e. höf. 'cerf-chevalier' (aventure, v.251)

з. Tyolet Wunsch nach Aufnahme am Artus-Hof, Sehnsucht nach Ritter-Dasein и. Courtoisie

4. Tyolet Bereitwillige Aufnahme am Artus-Hof

1. Vair Palefroi Liebesgefühle e. Ritters zu e. reichen Prinzentocher, die die Liebe erwidert

2. Vair Palefroi Tochter ist von der Entscheidung des Vaters abhängig, der reiche Heirat anstrebt

III. Externe Faktoren

Externe Faktoren

Summe der Motivationssequenzen

Aggression

Aufforderung Herausforderung

Konfliktsubstanz

Oiselet Aufeinandertreffen von unhöfischer und höfischer Gesinnung ist konfliktträchtig

Ombre Divergierende Liebesgefühle erschweren die Realisierung eines Liebesverhältnisses

Piramus et Tisbe Liebesbeziehung ist durch die verfeindeten Elternhäuser permanent bedroht

Doon Keine Konfliktträchtigkeit: Hoffest

Tydorel Abnormalität kann problematisch werden, wenn sich der Betroffene darüber bewußt wird

Tyolet Keine Konfliktträchtigkeit: Artushofszenerie

Vair Palefroi Liebesverhältnis zwischen einem Ritter und einer reichen Prinzentocher bedeutet bei den gestellten Bedingungen keine Möglichkeit zur Heirat

23

Inhaltliche

Schlußfolgerungen

1. Charakter- Insuffizienz Die sich aus der Charakter-Insuffizienz herleitende Motivation der Handlung trifft für alle Lais zu, die in der I.Rubrik mit der Nr. 1 versehen sind 15 . Es handelt sich dabei um eine spezifische Wesensart des Protagonisten, die - obwohl er mit seiner ganzen Existenz dem Höfischen verhaftet ist 16 - eine Abweichung von der (höfischen) Norm bzw. von idealtypischen Verhaltensweisen darstellt. Bei diesen charakterlichen Vorgaben lassen sich zwei Arten unterscheiden: zum einen sind es Mängel, die a priori von der Natur (oder vom Schicksal) gegeben sind 17 , zum anderen sind es Wesenszüge, die aus dem höfischen Gesellschafts- und Liebesleben zu erklären sind 18 . Bezeichnender-

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18

Guigemar, Equitan, (Fresne) Bisclavret, Chaitivel, Conseil, Cor, Mantel (Désiré) Ignaure, Melion, Nabaret, Narcisus, Oiselet, Tydorel, Tyolet. Eine Ausnahme bilden nur Oiselet, wo der Protagonist einen «riches vilains» darstellt und Tyolet, wo der Protagonist im Kindheits- und Jugendalter den reinen Naturzustand verkörpert. In diesen beiden Lais ist gerade das Unhöfische die spezifische Charakterinsuffizienz . Hierzu könnte man die mangelnde Liebesbereitschaft Guigemars rechnen («De tant i out mespris Nature / Ke une de nule amur n'out eure», vv.57—58), Mêlions («Cil Mêlions I en voa / que a grant mal Ii atorna. / Il dist: Ja n'ameroit pucele / que tant serait gentil ne bele, / que nul autre home eüst amé, / ne que de nul eüst parlé», vv. 17—22) und Narcisus («D'amer n'a soing ne rien n'en set / Dames en chambres fuit et het», w . 121 —122, vgl. hier auch die Wahrsagung, vv.52—53), die mit höfischen Vorstellungen zu kollidieren scheint; aber auch die Zwitterhaftigkeit Bisclavrets (vgl. vv. 5-14, 63 - 6 6 ) und Tydorels (vgl. vv. 122,179-180) oder die Unfruchtbarkeit bzw. Kinderlosigkeit in Désiré («De ce lor est mesavenu, / Qu'ensemble n'ont enfant eü . . .», vv. 19-24) und in Tydorel («Ensemble furent ben diz anz, / Qu'il ne povent avoir enfanz», vv. 15—16), wobei die Insuffizienz in diesen beiden Lais nur für die Vorgeschichte und für besondere charakterspezifische Merkmale der Protagonisten von Bedeutung ist: so das christliche Wesen Désirés, dessen Geburt einer Wallfahrt zu verdanken ist, so die Schlaflosigkeit Tydorels, der einer Verbindung zwischen einer höfischen Dame und einem übernatürlichen Ritter entstammt. Hier wären die haltlose Liebes- und Vergnügungsfreude Equitans (w. 13-20 «Déduit amout e druerie . . .»; v.41 «Sanz veüe la coveita») und Ignaures (vv.36— 65; w . 4 4 - 45 «Ignaures ki ot le euer gent, / A toutes douse s'aeointa»; v.50 «Chascune cuide k'il soit siens»; vv. 53—54 «Et a chascune, quant il i vient, / Que de l'autre ne li souvient») zu nennen, ebenso die Unentschlossenheit und Unfähig-(unwillig-)keit, eine Beziehung zu einem einzigen Partner herzustellen wie in Chaitivel (w. 17—70; «El nés pot mie tuz amer, / Ne el nés vot mie tuer», w . 17—18; «tant furent tuit de granz valur / Ne pot eslire le meillur / Ne volt les treis perdre pur l'un», vv.53—55) oder die Unfähigkeit zur höfischen Liebe in Conseil (vv.18—27; vv. 37-45 «Et la dame si s'en parti / Que n'otroia ne n'escondi / A nul des III sa druerie / De toz III parti comme amie, / Se ses consaus li aportoit . . .» bzw. «Mes or m'aprenez a amer . . .» vv. 221-225) oder auch die kollektive Untreue am Artushof in Cor und Mantel, die Eitelkeit und der Stolz in Nabaret (vv. 8 - 3 1 «ele turna de tut son atente / à li vestir e aturner / e à lacier e à guimpler / orgiluse ert à demesure . . . » ) , das altväterliche 24

weise handelt es sich bei diesen Charaktermängeln in der Regel nicht um solche, die in den Katalog der sieben Todsünden 19 gehören, sondern eher um Charaktereigenschaften, die - ob sie nun der Veranlagung oder Umwelt zuzuschreiben sind — sich nicht mit den höfischen Lebensformen vereinbaren lassen. Allesamt passen sie nicht in die idealhöfische Welt 20 , sie überschreiten nicht nur deren Toleranzgrenze, sondern werden auch für die unmittelbar Be-

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Wesen in Nabaret (vv. 3 3 - 4 0 ; «k'il face crestre la barbe grant / et sez gernuns face trescher. Issi se deit gelus venger», vv.38—40) — allesamt Eigenschaften, die sich aus dem höfischen Zusammenleben bzw. höfischen Umkreis ergeben. Zu dieser Kategorie könnten eventuell Narcisus (superbia) und Ignaure (cupiditas) gehören. Die Todsünden bedeuteten nach mittelalterlicher Auffassung den geistigen Tod, d . h . den Verlust des Gnadenstandes und Verdammnis. Es ist bemerkenswert, daß in diesen beiden Lais die Protagonisten, die ihre besondere Wesensart unveränderlich beibehalten, daran zugrunde gehen. (Narcisus: «Deus! con mar furent si bel ueil, / Qui si sont plein de grant orgueil1.», vv. 557-558; «Mais il n'a soing d'ofrir dreiture, / Car il est de maie nature», vv. 583-584; «J'aim mei meisme, c'est folie!», v. 871 bzw. Ignaure, vv. 3 6 - 65). Die Liebesunwilligkeit Guigemars und Mêlions wird hingegen nicht mit Hochmut oder Stolz erklärt. Zudem wird sie aufgrund übernatürlicher Kräfte ins Gegenteil verwandelt. Zum Beispiel hält die (höfische) Gesellschaft Guigemar für verloren («Pur ceo le tienent a péri / E Ii estrange e si ami», w . 6 7 - 6 8 ) , wird Melion von der (höfischen) Damengesellschaft verlassen («e quant les puceles l'oïrent / molt durement l'en enhaïrent. / Celes ki es canbres estoient / e ki la roïne servoient, / dont il en i ot plus de cent, / en ont tenu I. parlement: dient jamais ne l'ameroint, / n'encontre lui ne parleront, / dame nel voloit regarder, / ne pucele a lui parler», v v . 2 9 - 3 6 ) , worauf Melion sich noch mehr in sein Unglück stürzt, sich noch mehr vom höfischen Idealverhalten entfernt («Quant Melion ice oï, / molt durement s'en asopli; / ne voloit mais querre aventure, / ne d'armes porter n'avoit cure; / molt fu dolans, molt asopli; / e de son pris alques perdi», vv.37—42). D a in Narcisus die Gesellschaft überhaupt ausgeklammert bleibt und das Problem nur aus der Perspektive der Beteiligten geschildert wird, kommt die höfisch-r.ormierte Einstellung zur Liebe in einer didaktischen Einleitung zum Ausdruck (vv. 1 - 3 4 ) , deren Richtigkeit durch das Beispiel Narcisus bewiesen werden soll: «Narcisus, qui fu morz d'amer, / Nos deit essemple demostrer: / Amors blasmeit et sa puissance, / Qui puis en prist aspre venjance; / A tel amor le fist aclin / Dont il reçut mort en la fin» ( w . 3 5 - 3 9 ) . Auch in Equitan wird das richtige (höfische) Verhalten in der Liebe durch Anmerkungen der Autorin kommentiert: «Cil metent lur vie en nuncure / Ki d'amur n'unt sen ne mesure-, / Tels est la mesure d'amer / Que nuls n'i deit reisun garder» (vv. 1 7 - 2 0 ) bzw. wird durch die Gedanken des (in der Freudschen Terminologie) Über-Ichs durch die Protagonisten selbst kundgetan: «E si jo l'aim, jeo ferai mal: / Ceo est la femme al seneschal; / Garder Ii dei amur e fei / Si cum jeo vöil k'il face a mei» ( w . 7 1 - 7 4 ) oder «Si bele dame tant mar fust, / S'ele n'amast e dru n'eüst! / Que devendreit sa curteisie, / S'ele n'amast de druërie? / Suz ciel n'ad humme, s'el l'amast, / Ki durement n'en amendast» ( w . 7 9 - 8 4 ) oder von Seiten der Protagonisten: «Amur n'est pruz se n'est égals. / Mieuz vaut uns povres hum leals, / Si en sei ad sen a valur . . .» ( w . 137ff.). Die Empörung der Gesellschaft in Ignaure wird durch den Handlungsverlauf selbst wiedergegeben; die Andersartigkeit Tydorels wird bestaunt: «A grant merveille l'ont tenu / Tuit si homme qui l'ont vëu» (vv. 181-182).

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teiligten untragbar 21 , d.h. sie sind auch in der zwischenmenschlichen Beziehung nicht kompensierbar. Diese Charakter-Insuffienz, die das Sein bzw. SoSein eines Individuums markiert, stellt zunächst eine (Selbst-)Betroffenheit des Protagonisten dar, die seine ganze Existenz bestimmt. Es handelt sich also um eine a priori konfliktträchtige Existenz, d. h. um eine, die den Konfliktstoff bereits in sich trägt und — aufgrund dieser internen Prämissen — die Folgemomente für das eigene Dasein selbst zu verantworten hat. Darüber hinaus sind aber — wie gezeigt wurde - nicht nur die Andersartigen selbst, sondern auch diejenigen Protagonisten, die eine Beziehung zu ihnen unterhalten, mitbetroffen, d.h. auch ihr Dasein, ihre Existenz wird von den Auswirkungen der konfliktträchtigen Existenzen abhängig gemacht 22 . D e n Protagonisten ist die spezifische Wesensart wie ein ihr ureigenes Schicksal aufgegeben, d.h. sie werden unter ihrem (mangelhaften) Anderssein zu leiden haben, sind ihm verpflichtet und verhaftet, da sie aus eigener Kraft heraus nicht in der Lage sind, es zu korrigieren oder zu überwinden. Aus diesem Grund bedeutet die Charakter-Insuffizienz bei den Protagonisten der Lais eine charakterliche Vorgabe, über die der Protagonist nicht nur zu Beginn der Handlung verfügt, sondern die für den ganzen Verlauf der Handlung mitverantwortlich zu machen ist, d.h. den Verlauf der Handlung letztlich bestimmt, auch wenn übernatürliche Kräfte eingreifen und auf diese Unzulänglichkeiten einwirken 23 . Hier liegt ein gravierender Unter21

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Das wäre der Fall in Bisclavret, wo eine Ehefrau das Werwolfdasein ihres Mannes nicht ertragen kann; in Narcisus, in dem Daphné an der mangelnden Gegenliebe und an dem Verzicht auf den Geliebten zugrunde geht; in Ignaure, wo höfischer DonJuanismus für die Beteiligten untragbar wird; in Tydorel, wo die Schlaflosigkeit des Protagonisten eine ständige Belastung der Beteiligten darstellt, in Chaitivel, wo mehrere (schließlich ein einziger) Verehrer unter der Unentschlossenheit der Angebeteten leiden oder in Désiré und Tydorel, wo die Kinderlosigkeit ein Problem für die Eltern darstellt. Zum Beispiel in Bisclavret, in dem die Ehefrau unter dem Werwolfdasein ihres Mannes leidet; in Equitan, in dem ein von der Liebe Befallener die Ehefrau seines Vasallen zum Ehebruch überredet; in Fresne, in dem das Fehl verhalten einer höfischen Dame nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern gerade das ihrer Tochter bestimmt; in Deus Amanz, in dem ungerechtfertigtes Besitzdenken die Tochter und ihren Geliebten in den Tod treibt; in Chaitivel, in dem die Unentschlossenheit einer höfischen Dame zur Qual ihrer Bewerber wird; in Ignaure, in dem das Don-Juan-Verhalten für die Beteiligten untragbar wird; in Nabaret, wo die Eitelkeit der Ehefrau dem (eifersüchtigen) Ehemann zur Last fällt; in Narcisus, in dem Liebesunwilligkeit und Eigenliebe eines Jünglings die Beziehung zu einem ihn qualvoll liebenden Mädchen vereiteln, oder in Tydorel, in dem ein von der Schlaflosigkeit des Protagonisten Betroffener nicht bereit oder imstande ist, dieses Leid durch Geschichtenerzählen zu mildern. Dies ist der Fall in Guigemar, wo der Protagonist zur Liebe verdammt wird, in Equitan, den Amor in sein Gefolge nimmt, in Chaitivel, wo selbst der Tod von drei Rittern an der Unentschlossenheit der Protagonistin nichts ändern kann, in Melion, dessen Schicksal von der Umwandlung der Liebesunwilligkeit in Liebesbereitschaft ausgeht, aber auch in Désiré und Tydorel, wo eine durch überirdische Kräfte zustande gekommene Geburt spezifische Folgen für den Protagonisten nach sich zieht. 26

schied zu anderen Erzählgattungen des Mittelalters, wie z.B. dem höfischen Roman oder dem Märchen. Im höfischen Roman, wo der Held ebenfalls durch ein mangelhaftes Sein betroffen ist, findet (über die aventure) eine Entwicklung statt, d . h . der Held benutzt eine außerhalb seines Selbsts stehende Handlung für sein eigenes Fortkommen. Im Lai ist es umgekehrt: Der Protagonist leidet an einer (seiner) spezifischen Mangelhaftigkeit, und diese determiniert eine spezifische Handlung; Handlung ist Folgemoment einer bestimmten (negativen) Charakterqualität 2 4 . Im Märchen hingegen entwickelt sich die Handlung nicht aus den Protagonisten, die ohne Fehl und Tadel, ohne Eigenschaften, Fähigkeiten, Beziehungen oder Innenleben erscheinen, sondern aus dem Antrieb, ein durch Aggression oder eine Machenschaft bewirktes Ungleichgewicht zu korrigieren. Die Märchenhelden, die sich nicht weiter zu entwickeln brauchen, bleiben somit reine Handlungsträger, sorgen — in positiver Rollenfunktion — für Gerechtigkeit und Ausgleich. Neben den Charakter-Insuffizienzen bei den Protagonisten sind Charaktermängel bei einer Gruppe von Personen anzutreffen, die als Antagonisten wirksam werden, ohne es immer direkt beabsichtigt zu haben. Es sind dies zum Beispiel sämtliche alten, eifersüchtigen Ehegatten (jaloux), die ihren Ehefrauen (mal-mariées) Grund und Veranlassung zur Konstituierung einer außerhalb der Ehe angesiedelten Liebes- und Gefühlswelt geben (Guigemar, Yonec, Laüstic, Epervier). Es sind dies aber auch ein Vater, der unrechtmäßige Besitzansprüche auf seine Tochter erhebt (Deus Amanz), eine mißgünstige D a m e , deren Fehlverhalten nicht nur auf sie selbst zurückwirkt, sondern auch das Schicksal der Tochter bestimmt (Fresne), oder auch diejenigen Eltern, die die Verfügungsgewalt über ihre erwachsenen Kinder zu deren Leidwesen ausnutzen (Milun, Epine, Vair Palefroi, Piramus etTisbé). Die Eigenarten dieser Figuren sind im Unterschied zu denen der Protagonisten eher von stereotyper Art. Es sind nicht die außergewöhnlichen spezifischen Wesenszüge, die aus einer naturbedingten Veranlagung heraus zu erklären sind, sondern meist sind es klischeehafte Verhaltensmuster aus dem sozialen Zusammenleben, die auf zeitgenössische familien- und eherechtliche Regelungen und Gepflogenheiten, konkret auf die Auswirkungen der feudalistisch zu begründenden Forderung nach der «mariage par deux fiefs» zurückzuführen sind 25 . Im Gegensatz zur Wesensart des Protagonisten, der dem 'gesellschaftlichen' Anspruch nicht genügt, handelt es sich hier — Fresne ausgenommen um eine passiv wirksame antagonistische Kraft, die aufgrund gesetzlich oder gewohnheitsrechtlich verankerter Rechte den emotionalen Ansprüchen der Familienangehörigen nicht gerecht wird; d . h . (zunächst) im Verzicht auf jegliche direkte Aggressivität belastet der gesellschaftsrechtlich abgesicherte Personenkreis die von ihm privat Abhängigen durch ein latentes Unverständnis 24

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Auf die Beziehung von Motivation und Handlung wird an späterer Stelle noch eingegangen werden. Vgl. M. Lot-Borodine (1967, 18).

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für emotionale Ansprüche, was - auf der fiktionalen Ebene - zur Disqualifizierung und Negativzeichnung dieser Figuren geführt hat. Da in der Fiktion eindeutig die Seite der Emotionalität (mal-mariée oder zur Liebe herangereiftes Kind) und nicht des gesellschaftlichen Rechts (jaloux oder Eltern) vertreten wird, geht der Protagonist aus solcher Konstellation positiv, d. h. idealtypisch-höfisch hervor. Sein Denken, Fühlen und Handeln wird aus einer unerträglich werdenden Situation bestimmt; die Befreiungsbestrebungen aus solchen Verbindungen sind dann von vornherein motiviert und entlastet. — Obwohl an dieser Stelle bereits auf die Charakter-Insuffizienz der antagonistisch wirkenden Personengruppe eingegangen werden mußte, bildet diese Motivationsart gerade mit der zweiten (emotionale Disponiertheit) eine logische Einheit; dazu jedoch erst das folgende Kapitel. Als kennzeichnendes Merkmal für die Struktur der Lais hat sich bei der ersten Motivationsart ergeben, daß interne Prämissen mit externen Faktoren zusammentreffen und auf diese Weise eine funktionale Motivation begründen. Obwohl also die spezifische Wesensart des Protagonisten — eine nicht idealtypische Veranlagung oder Charaktereigenschaft — Angelpunkt und Voraussetzung für die nachfolgende Handlung ist, wird diese erst zusammen mit einer äußeren Einwirkung funktional. Da dieses äußere Moment zwar unerwartet, aber nicht unmotiviert hinzukommt, d. h. nicht außerhalb der spezifischen Wesensart gelegen ist, sondern von dieser gleichsam provoziert wird, sprechen wir in diesem Zusammenhang von supplementärer Konditioniertheit und nicht von Herausforderung, Aggression, Schicksal oder Zufall. Die provokative Abnormität des Helden in den Lais weist auf eine gewisse Singularität hin, die die außer- oder übermenschliche 'Objektivität' herausfordert (um dann in Folge einer Antwort wiederum von dieser herausgefordert zu werden): Die angeborene Liebesfeindlichkeit Guigemars wird durch den Liebesbann einer Schicksalsgöttin quittiert, der liebes- und vergnügungsfreudige König Equitan wird von der Liebe(sgottheit) ins Gefolge genommen, eine verleumderische Dame wird durch eine Schicksalswende von ihrem Fehlverhalten selbst betroffen (Fresne), auf die Unentschlossenheit einer höfischen Dame bei der Auswahl von vier Bewerbern trifft der Todes-Unfall von dreien (Chaitivel), der Unfruchtbarkeit wird durch ein heiliges Wunder (Désiré) bzw. durch die Liebe eines übernatürlichen Ritters (Tydorel) begegnet, auf das Bekenntnis zur Liebesabstinenz folgt die Hin- oder Verführung zur Liebe durch einen weißen Hirschen (Melion), ein abnormes Zwitterwesen erfährt auf seltsame Weise die objektive Wahrheit in Form eines Sprichworts und — als geradezu symbolische Darstellung des Bedingungsverhältnisses von interner Prämisse und externem Faktor — treffen auf die Treulosigkeit am Artushof die passenden, die Treulosigkeit entlarvenden Mittel aus der übernatürlichen Welt (Horn und Mantel) 26 . Keine Antwort von außen erhalten die 26

In Cor und Mantel tritt - chronologisch gesehen - die supplementäre Konditioniertheit zuerst auf und gleicht deshalb einer Herausforderung. Diese Herausforderung ist

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Protagonisten in Bisclavret, C o n s e i l , Ignaure, N a b a r e t und Narcisus, allesamt Lais, in d e n e n die R e a k t i o n der v o n d e n Charakterfehlern nächst B e t r o f f e n e n und nicht die Charakter-Insuffizienz selbst für d e n Handlungsverlauf bedeutsam ist. W e n n n u n in der R e g e l z w e i F a k t o r e n (interne Prämissen u n d e x t e r n e Einw i r k u n g e n ) z u s a m m e n t r e f f e n m ü s s e n , u m e i n e f u n k t i o n a l e Motivationsart zu bilden, gilt nach w i e vor, daß g e r a d e die spezifische W e s e n s a r t e i n e s B e t r o f f e n e n die spezifische A u s g a n g s s i t u a t i o n schafft, bzw. daß auch die F o l g e m o m e n t e v o n d i e s e m 'Individuum' selbst zu v e r a n t w o r t e n sind. E s handelt sich also u m a priori konfliktträchtige E x i s t e n z e n , die provokativ wirken und deshalb ihr e i g e n e s Schicksal o d e r das e i n e s anderen mit zu v e r a n t w o r t e n haben. B e z e i c h n e n d e r w e i s e wird in d e n Lais nicht die charakterliche Prädisponiertheit, s o n d e r n das äußere E i n w i r k e n mit aventure aventure

b e z e i c h n e t 2 7 . D a diese

aber nicht unverschuldet h e r a u f b e s c h w o r e n wird, da sie in der spe-

zifischen W e s e n s a r t e i n e s E i n z e l n e n (die s o w o h l für ihn selbst als auch für and e r e b e s t i m m e n d wird) begründet ist, sprechen wir bei der ersten Motivationsart durchaus v o n einer s e l b s t g e s c h a f f e n e n , selbst zu v e r a n t w o r t e n d e n , auf das Selbst z u r ü c k z u f ü h r e n d e n A u s g a n g s s i t u a t i o n .

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allerdings genau auf die internen Prämissen zugeschnitten, so daß das Muster der logischen Verflechtung von interner Prämisse und externer Einwirkung genau erhalten bleibt. Vgl. Guigemar, v. 108: «Tel seit la tue destinee» und v. 199: «Suffrir Ii estuet l'aventure» (Liebesbann); Equitan, v.54ff.: «Amurs l'ad mis en sa maisniee: / Une seete ad vers lui traite, / Ki mut grant plaie li ad faite: / El quor Ii ad lanciee e mise! / N'i ad mestier sens ne cointise» und v. 65ff. : «Allas! fet il, queils destinee / M'amenat en ceste cuntree?» (Liebesverfallenheit); Fresne, v.78: «Des que ceste aventure orrunt»; auch die Zwillingsgeburt der Nachbarin wird mit aventure bezeichnet, vv. 3 9 - 4 0 : «Ne n'avendrat cele aventure / Qu'a une suie porteüre» (Zwillingsgeburt); Bisclavret, v.61: «Que s'aventure li cunta» und v.99: «de l'aventure s'esfrea» (Metamorphose; Ruf der Natur); Chaitivel, v. 143: «Des qu'ele sot cele aventure» (bezieht sich auf den Tod der drei Ritter); Mantel Mautaillié, S.4: «Aucune aventure novele», S. 5: «Aucune novele aventure?» (am Hof wird das eintreffende Abenteuer bereits erwartet), S.26: «Levez tost sus, bele pucele; / Quar une aventure novele / Est en cele sale venu»; Ignaure, v.374ff.: «Ne sai par con faite aventure / Vinrent en avant les paroles» (Aufdeckung der Wahrheit); Melion, v. 122: «L'aventure lor a contée» (gemeint ist das geheimnisvolle Zusammentreffen mit der Dame); Tydorel, v. 158: «S'aventure très bien cela» (gemeint ist das Zusammentreffen mit dem übernatürlichen Ritter); Narcisus, v.880: «Et muert par tel mesaventure!» (gemeint ist seine Verdammung); Tyolet, v.251: «Et s'aventure li conta» (gemeint ist die Begegnung des Jungen mit dem cerf-chevalier). Eine Ausnahme hierzu bildet Désiré, in dem zwar das Ausbleiben des Nachwuchses als Mißgeschick, vv. 1 9 - 2 0 : «De ce lor est mesavenu, / Qu'ensemble n'ont enfant eü», nicht aber das heilige Wunder als aventure bezeichnet werden kann. Anders in Tydorel, wo die Kinderlosigkeit als gegebene Tatsache dargestellt und die Begegnung mit dem übernatürlichen Ritter als aventure bezeichnet wird. 29

2. Emotionale Disponiertheit Die sich aus der emotionalen Disponiertheit herleitende Motivation der Handlung betrifft die Lais, die in der II. Rubrik mit der Nr. I 28 versehen sind. Wenn diese emotionale Disponiertheit ihren Anstoß aus chronologisch und logisch vorausgehenden funktionalen Motivationen oder anderen Handlungseinleitungen bezieht, so daß sie eine Art Folgemotivation darstellt 29 , erscheint sie erst als 2. oder 3. Motivationssequenz. Für die Gruppe der Lais, in der die emotionale Disponiertheit Ausgangspunkt der Handlung ist, erklärt sich der Mangel an Liebe, an Geborgenheit, das Fehlen eines Freundes oder Liebhabers weder aus einer besonders auffälligen 'liebessehnsüchtigen' 30 Veranlagung oder Wesensart des Protagonisten, noch aus einem plötzlichen und unerwarteten Schicksalsschlag. Die Sehnsüchte und die Liebeswilligkeit beruhen in den Lais zunächst auf der Liebesfähigkeit der Protagonisten — eine Tugend, die das idealhöfische Wesen auszeichnet und die den Protagonisten von vornherein als positiven Charakter definiert. Darüber hinaus ist aber die grundsätzliche seelische und körperliche Liebesbereitschaft der Protagonisten sowie der daraus resultierende Wunsch nach Befriedigung des emotionalen Anspruchs motiviert durch: a) eine problematische Situation, in der sich der Protagonist gerade befindet b) ein natürliches Heranreifen der Liebe c) die besonderen höfischen Charakterqualitäten des oder der Angebeteten. Zu a): So fühlen sich die verschiedenen mal-mariées in Guigemar, Yonec, Laüstic, Epervier aufgrund ihrer Ehe mit alten, eifersüchtigen und mißtrauischen Ehegatten veranlaßt und berechtigt, sich einen emotionalen Freiraum zu schaffen 31 . Die Sehnsüchte kommen nicht von ungefähr, sondern beruhen auf der jaloux-mal-mariee-Komtt\\a.üon. Ähnliches gilt für die Ehefrau des

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Fresne, Deus Amanz, Yonec, Laüstic, Milun, (Chaitivel), Chievrefoil, Eliduc, Amours, Aristote, Conseil, Désiré, Epervier, Epine, (Narcisus), Ombre, Vair Palefroi und Piramus et Tisbé. Guigemar, Equitan, Bisclavret, Ignaure, Melion, (Narcisus), Tyolet, wo die emotionalen Desiderata aus einer spezifischen Charaktereigenschaft entweder des Protagonisten selbst oder eines davon direkt Betroffenen resultieren, vgl. das Kapitel über die Charakter-Insuffizienz. In diese Gruppe gehören auch Lanval, Graalant, Guingamor und Haveloc, deren Protagonisten aufgrund ihrer Isolierung von der Gesellschaft durch Herausforderungen, Aggressionen und Diskriminierungen liebesbereit werden. Zu den von ihrer Veranlagung her außergewöhnlich liebeswilligen Wesen zählen z. B. Equitan und Ignaure, die in die Motivationsgruppe Charakter-Insuffizienz gehören. Vgl. Guigemar, vv. 210-534; Yonec, vv. 11-192, besonders der Monolog der Dame, vv.67-104; Laüstic, v v . 7 - 5 6 ; Epervier, vv. 1 1 - 9 3 .

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Werwolfs in Bisclavret, die — nachdem sie vom besonderen Wesen ihres Mannes erfahren hat - die Beziehung zu ihm nicht mehr aufrechterhalten kann und sich nur aus diesem Grund ihrem langjährigen Verehrer zuwendet 32 . Andere Protagonisten dieser Gruppe beziehen ihre Motivation zur Liebe aus dem Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit, in die sie durch Diskriminierung, Aggression oder Herausforderung von Antagonisten geraten sind. Hier handelt es sich um ein Strukturmuster, das nur in den von der Ausgangsthematik her ähnlich gelagerten Lais Lanval, Graalant und Guingamor verwendet wird: Die Protagonisten befinden sich aufgrund einer notgedrungenen Vereinzelung und Ausklammerung aus der Gesellschaft in einer beklemmenden Situation, so daß sie die Gemeinschaft fliehen und zur emotionalen Bindung besonders bereit sind33. In diese Gruppe kann auch Haveloc aufgenommen werden: Zwei Königskinder sind enterbt und vertrieben worden, sie werden von der 'antagonistischen' Gesellschaft diskriminiert und unter ihrer Würde verheiratet - so entsteht ihre Liebe zueinander. Die Darstellung des Gefühlsmäßigen wird hier jedoch zugunsten der 'Interessengemeinschaft' weitgehend ausgespart 34 . Für die Protagonisten, deren Dasein aufgrund ihrer kritischen Lage, einer problematisch gewordenen Beziehung zum Partner oder zu Vertretern der (höfischen) Gesellschaft beeinträchtigt ist und in denen die Bereitschaft (bzw. ein Anspruch) auf Befriedigung ihrer emotionalen Wünsche wächst, stellt die Hinwendung zur Liebe eine Flucht aus dem alltäglichen, unerträglichen Dasein dar. Daher ist auch eine neu entstehende Liebesbeziehung niemals ein plötzliches und unerwartet eintretendes Schicksal. Die rein zufälligen Begegnungen blieben denn auch bedeutungslos, wenn die sich Begegnenden nicht zur Liebe bereit wären - sowohl aus sich selbst heraus als auch wegen der besonderen Vorzüge des anderen. Selbst wenn die Liebe bzw. die Begegnung mit dem Geliebten unerwartet kommt und zunächst unerklärlich ist, kann der Liebe nur aus Gründen des eigenen (von einem Partner oder der Gesellschaft bewirkten) konfliktträchtigen Daseins nicht ausgewichen werden: Die Liebe erscheint hier aus der besonderen Konstellation der Beteiligten motiviert. Der Zufall, der die Liebesbeziehung begünstigt oder bewirkt und die Handlung in Bewegung bringt, trifft gewissermaßen auf vorbereiteten Boden, auf Affekte, die die individuellen existentiellen Gegebenheiten ausgelöst haben.

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Vgl. Bisclavret, w . 97-116. Vgl. Lanval, w . 1 3 - 7 9 , besonders die Hinweise auf seine Traurigkeit, w . 3 3 - 3 8 , w . 5 1 - 5 2 , aber auch die spontane Bereitschaft, dem Ruf der Liebe zu folgen, w . 7 7 - 7 8 : «Li Chevaliers od eles vait, / De sun cheval ne tient nul plait». Ähnlich dem Sprung auf das Pferd seiner Geliebten, die ihn ins Feenland entführt, ist dies die einzige aus dem Protagonisten selbst heraus zu begründende Aktivität. Vgl. Haveloc, vv. 380-400. Der darauffolgende Traum der Protagonistin leitet dann die durch die Vorgeschichte bekannte zweckgebundene Beziehung der beiden Eheleute ein. 31

Zu b): Aber auch die anderen Liebenden sind keineswegs die Opfer dunkler Mächte: So die Tochter eines Königs und der Sohn eines Grafen in Deus Amanz, die in das liebesfähige Alter gekommen sind 35 , desgleichen die Königskinder im Lai de l'Espine 36 , das Edelfräulein Fresne 37 und der junge Feudalherr Gurun, die jungen Liebenden in Milun, die sich zu verheiraten gedachten 38 , auch Alexandre und seine Geliebte in Aristote 39 . Besonders augenfällig wird das natürliche Erwachen der Liebe in Désiré gemacht, als durch Verwendung des Natureingangstopos die Gemütsstimmung des Protagonisten (die bedingungslose Bereitschaft zur Liebe) eine kausale Sinngebung erhält 40 . Im Vair Palefroi liegt eine ähnliche Ausgangssituation wie in D e u s Amanz vor — ein junger Ritter verliebt sich in die reiche Tochter eines verwitweten Fürsten 41 . Auch in Piramus und Tisbé handelt es sich um die Beziehung zweier zur Liebe erwachten Kinder 42 . Bei all diesen Protagonisten ist der Wunsch und die Bereitschaft zur Liebe mit der gerade erlangten Liebesfähigkeit verbunden. Sie alle erfahren offenbar ihre erste Liebe, die darüber hinaus motiviert wird durch ein besonderes Zusammenpassen der Liebenden, so wie es eine von ihnen auch direkt ausspricht «Car assez somes d'un aé, D'une maniéré de beauté!» (Narcisus, vv. 487—488). 35

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Vgl. Deus Amanz, w.21—22 und 57-83, besonders die Bezeichnungen fille, dameisele, meschine, damisel, valiez, danzeus. Vgl. Epine, w . 12-13: «vos vuel demonstrer par estore / de II. enfans une aventure», insbesondere die Beschreibung der Kindheit v. 15ff. und das Heranreifen zur Liebe v.46ff.: «Tantost con furent de l'aé / k'en soi le puist souffrir Nature, / en bien amer misent lor cure; / si fu li enfantis amours / k'il orent maintenu tous jors». Vgl. Fresne, v.235ff.: «Quant ele vint en tel eé / Que Nature furme beuté . . . » sowie die Verse 313ff., die Gurun als unverheirateten Feudalherrn beschreiben. Vgl. Milun, w . 9-148, besonders auch die Bezeichnungen fille bele, v.23; dameisele, v.24, v.44, v.89; la meschine, v.95; besonders aber den inneren Monolog, v. 133ff.: «Jeo ne soi pas que fust issi, / Ainz quidoue aveir mun ami . . .». Vgl. Aristote, S. 246: «Li bons rois de Grece . . .», S. 247: «. . . Qu'amors commande à fin amant.» Vgl. Désiré, w.95-149, besonders v.95: «Ce fu en l'entree d'esté» und w . 119-123: «Les arbres veit beus e floriz, / e des oiseus oï les criz. / Li sanc Ii remut e tressaut,/ Ii corages li munte en haut, / grant délit ad d'oïr le chant». Nachdem in der Vorgeschichte Désirés Kindheit und Jugend bis zur Ritterschaft beschrieben wird, handelt es sich um seine ersten Erfahrungen in der Liebe. Dies ist umso auffälliger, als Désiré das erstbeste schöne Mädchen sofort begehrt, obwohl es nur die Gesandte einer Herrin ist, in die er sich dann ebenfalls sofort verliebt, vgl. besonders v. 145ff.: «. . . si l'a saisie, / il en vodra fere s'amie; / sur la freche herbe l'ad cochee, / jo quid qu'il l'eüst asprisvee . . .». Vgl. Vair Palefroi, w . 80-244, w . 103-104: «Li jones chevaliers ot non / Messire Guillaume a droit non»; z.B. v.89: «sa fille gente»; v. 125: «la pucele»; v. 187: «la damoisele»; v.237ff.: «Qu'a l'ancien parler ira / Et sa fille li requerra / A moillier . . .»; v.313ff.: «Ma fille est bele et jone et sage . . . .»; v.391ff.: «Mes cuers qui gist en la viellece / Ne pensse pas a la jonece / Ne au voloir de jone eage; / Grant différence a el corage / De viel au jone . . .». Vgl. Piramus et Tisbé, w . 1 — 144, besonders ab v.47: «Encor ne sevent riens d'amour . . .». 32

Zu c): Zusammenfassend kann für alle Lais gesagt werden, daß sich in ihnen die Liebe - wenn sie sich nicht schon durch die unter a) und b) genannten Kriterien ergibt — aufgrund der besonderen Attraktivität des oder der Angebeteten einstellt. Bei der äußeren Beschreibung der Helden und Heldinnen, durch die eher das Allgemeine und nicht das Differenzierende und Spezifische hervorgehoben wird 43 , bedienen sich Marie de France und ihre Epigonen feststehender und vorgeprägter Formeln und Epitheta, die an der Werteskala des höfischen Schönheits- und Tugendkatalogs ausgerichtet sind. Damit wird ein Bild vom Geliebten entworfen, durch das er sich nicht nur als Mitglied der höfischen Gesellschaft ausweist, sondern auch als ein Wesen, das besonders Hebens- und begehrenswert erscheint: Durch die an den Kategorien der höfischen Wertepyramide gemessene Porträtierung und die Zugehörigkeit zur adeligen Gesellschaft sind die Protagonisten a priori für die Liebe bestimmt. Zur Unterstreichung der Schönheit und der Tugenden wird das mittelalterliche Maß (mesure) meist überschritten 44 , indem bei der Beschreibung der äußeren und inneren Qualitäten auf etwas Übermäßiges und Außergewöhnliches hingewiesen wird, etwas, das den normalen Rahmen sprengt und sich nur in Superlativen ausdrücken läßt 45 . Oft erscheint dabei der Topos «Natur als Bildnerin des schönen Menschen» 46 , wobei die übermäßige Schönheit nur als besondere Gabe der Natur zu erklären ist47. Zwar vermitteln die Protagonisten allgemein ein Bild vom aristokratischen Leben, zu dem bestimmte «Güterreihen», d . h . natürliche Vorzüge wie Adel, Stärke, Schönheit und Reichtum gehören, die die physische Vollkommenheit des Helden bestätigen 48 . Dennoch erlaubt die Steigerung und nuancierte Anwendung bestimm-

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Vgl. z . B . H . B a a d e r (1966, 338), der die stereotype Charakterisierung in den Lais hervorhebt. Das auffälligste Merkmal der D a m e n in den Lais der Marie de France ist ihre dem Charakter oder dem Bedürfnis des Inhalts angepaßte mehr oder weniger ausführlich beschriebene Schönheit. So wird zum Beispiel das Anderssein der Feen durch eine alles übertreffende Schönheit augenfällig gemacht, vgl. die Schönheitsbeschreibung der Fee in Lanval, vv. 93 - 9 6 , 1 0 5 - 1 0 6 , 5 4 9 - 550, 563 - 570, 6 0 1 - 6 0 2 . Vgl. hierzu auch H . B a a d e r (1966, 117). Besonders die Feen in den Lais sind oft reine Verkörperungen des mittelalterlichen Schönheitskatalogs. Vgl. Désiré, vv. 1 3 5 - 1 4 0 , vv. 1 8 6 - 1 9 3 , w . 1 9 7 - 2 0 0 ; Graalant, w . 2 2 5 - 234; Guingamor, v v . 4 2 7 - 4 3 5 ; Melion, v v . 8 4 - 9 8 ; vgl. vv. 8 4 - 9 8 ; vgl. auch die Schönheitsbeschreibung von Narcisus, v v . 5 9 - 1 1 4 . Als Beispiele seien Guigemar, v.708: «Kar bele esteit a demesure»; v.704: «Ki de beuté resemble fee»; Equitan, v.31ff.: «La dame ert bele durement . . .»; Fresne, w . 2 3 5 - 2 4 0 und vv. 2 5 3 - 2 5 4 herausgegriffen. Vgl. z . B . Equitan, v v . 3 1 - 3 7 ; Fresne, v v . 2 3 5 - 2 4 0 ; Narcisus, v v . 6 4 - 1 1 2 . Vgl. E . R . C u r t i u s (1961, 189): «Natur hat seit der Spätantike die Funktion, schöne Menschen zu schaffen.» Oder: «Im höfischen Roman, der seit 1150 in Frankreich gepflegt wird, tritt das Klischee unzählige Male auf. Es ist aus der lateinischen Dichtung der Zeit übernommen.» Vgl. E . R . C u r t i u s (1961, 190).

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ter E p i t h e t a eine Differenzierung und Feststellung individueller Z ü g e 4 9 . S o w e r d e n die Q u a l i t ä t e n nicht b l o ß a n e i n a n d e r g e r e i h t , vielfach w e r d e n nur einzelne Details herausgegriffen 5 0 . D i e m e h r o d e r weniger g r o ß e B e d e u t u n g d e r W e r t e k o m m t d u r c h l ä n g e r e s o d e r k ü r z e r e s V e r w e i l e n bei den F i g u r e n , bes t i m m t e B ü n d e l u n g e n v o n S u p e r l a t i v e n , spezifische E r z ä h l t e c h n i k e n 5 1 , das H i n a u s g e h e n ü b e r feste Klischees und d u r c h die individuelle V a r i a t i o n s t a r r e r F o r m e l n z u m A u s d r u c k . In E l i d u c z u m Beispiel wird die L i e b e zu e i n e r K ö n i g s t o c h t e r für den glücklich v e r h e i r a t e t e n E l i d u c auf diese W e i s e einsichtig g e m a c h t : W ä h r e n d die E h e f r a u d u r c h ihren sozialen R a n g h e r v o r g e h o b e n und ihre S c h ö n h e i t in e i n e m einzigen V e r s a b g e t a n wird 5 2 , erscheint die S c h ö n h e i t d e r F r e u n d i n als d e r a r t ü b e r w ä l t i g e n d 5 3 , d a ß selbst die E h e f r a u die L i e b e zur F r e u n d i n begreift 5 4 . D a r ü b e r hinaus w e r d e n d u r c h d e n B e z u g s punkt ' M a n n ' die U n t e r s c h i e d e und N u a n c e n d e r k o n k u r r i e r e n d e n weiblichen C h a r a k t e r e so deutlich g e m a c h t 5 5 , d a ß auch die L e i d e n s c h a f t E l i d u c s kein un-

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Als Beispiel sei hierfür die Beschreibung der Frauengestalten in Lanval angeführt: Daß Schönheit nicht automatisch zur Frau gehört, beweist Marie de France durch Weglassen dieses Attributes bei der Königin in Lanval, zu deren Charakter eine solche Auszeichnung nicht passen würde. Den Zofen der Königin billigt sie eine gewisse Schönheit dagegen wieder zu, vgl. Lanval, vv.243 —244. Höchste Schönheit kommt aber erst der Fee zu, deren Charakter und Handlungsweise, nicht zuletzt ihr gesellschaftlicher Stand, so etwas begründen.

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Vgl. die Schilderung der Schönheit der Fee in Lanval. Obwohl sich Marie de France zahlreicher, im Mittelalter geläufiger Formeln bedient, beschränkt sie sich hier auf einzelne Details, d. h. auf bestimmte Vergleiche mit Blumen, auf die farbige Ausmalung des Äußeren und die plastische Schilderung des Körpers.

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Zum Beispiel kann die Schönheit der Fee noch durch die ihrer Botinnen unterstrichen werden, wenn es darum geht, eine Atmosphäre des Ästhetischen und Schönen zu schaffen. Darüber hinaus kann die Personenbeschreibung mitunter über die direkte Zuweisung einer Eigenschaft hinausgehen, wenn sich der Autor z. B . der Technik der Spiegelung bedient; d.h. die Schönheit einer Frau ist aus ihrer Wirkung auf den sie betrachtenden Mann abzulesen. So ist z . B . das Erscheinen der Jungfrauen, der Botinnen der Fee Lanvals, als Erlebnis der versammelten Ritter dargestellt, vgl. Lanval, vv.472—477. Vgl. dazu F. Schurr (1930, 571).

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Vgl. Eliduc, v.710. Vgl. Eliduc, w . 1 7 - 1 8 , vv.293—294, vv. 1 0 1 1 - 1 0 1 2 , vv. 1 0 1 4 - 1 0 1 6 , vv. 1 0 2 1 - 1 0 2 2 . Vgl. Eliduc, vv. 1 0 1 7 - 1 0 1 8 , w . 1 0 2 3 - 1 0 2 5 . So bringt Guildelüec, die Ehefrau, ihrem Mann eine ebenso tiefe wie unengagierte Liebe entgegen, da Affekte und Emotionalität bei ihr weitgehend ausgeschlossen sind. Sie ist ein von tiefer Menschlichkeit geprägter Charakter, dessen stärkste Gefühle das Mitleid und die Sorge um den anderen zu sein scheinen. Als Ehefrau mit einem nonnenhaft anmutenden Habitus steht sie der emotional entfesselten, leidenschaftlich liebenden, von allen Affekten der Liebe gekennzeichneten Freundin des Mannes gegenüber. Vgl. vv.12, 8 0 - 8 5 , 7 0 6 - 7 0 9 , 9 5 7 - 9 5 9 , 7 1 8 - 7 2 0 , 7 2 1 - 7 2 6 , 740, 1 0 2 1 - 1 0 3 1 , 1 0 9 4 - 1 0 9 5 (Darstellung von Guildelüec) gegenüber vv. 3 0 0 - 3 0 6 , 3 2 7 - 3 2 8 , 389, 6 6 1 - 6 6 2 , 783 - 7 8 5 (Darstellung von Guilliadun). Die Betonung der Unterschiedlichkeit der beiden Frauengestalten steht in krassem Gegensatz zu der von J . de Caluwé aufgestellten These von der Ähnlichkeit gerade dieser beiden Personen, vgl. J . d e Caluwé (1971, 5 3 - 7 7 ) .

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erklärlicher Schicksalsschlag mehr zu sein scheint. Mitunter wird eine Person wegen ihrer Schönheit und ihrer Vorzüge bereits begehrt, bevor sie sein Verehrer überhaupt zu Gesicht bekommen hat 56 . So findet die Prädisposition zur Liebe bereits ihren Ausdruck in der Phase des Werbens und Umworbenseins, denn die Protagonisten glauben sich schon dann zu verlieben, wenn der andere den höfischen Idealen entspricht oder auch nur zu entsprechen scheint. Darüber hinaus können die höfischen Qualitäten der Verehrer zur Thematik des Lai erhoben werden, wenn mehrere Bewerber gleichrangig erscheinen, wie in Chaitivel und Conseil. In Narcisus wird sogar die Schönheit eines Jünglings der Verehrerin zum Verhängnis. In Melion sind es nicht nur die idealtypischen Vorzüge, die die Liebe hervorrufen, sondern die Erfüllung bestimmter Bedingungen, die der Liebende an seine Freundin stellt 57 . Allgemein kann für die Lais festgehalten werden, daß die Liebe — wenn nicht die vorher genannten Gründe vorliegen — genügend motiviert ist durch Kriterien, die am höfischen Wertekatalog orientiert sind. Mit deren Erfüllung erübrigt sich jede andere Motivierung der Liebe, da die, wenngleich formelhafte, Art der Charakterisierung eine andere Wirkung auf das mittelalterliche Publikum ausübte als auf das moderne: Mit der zwar typisierten, aber dennoch idealisierten (teilweise auch nuancierten) Zeichnung des höfischen Menschen wurde nämlich eine ganze Sphäre menschlicher Strebungen wachgerufen, die als Voraussetzung für die Liebesbereitschaft der Protagonisten und als Grundlage für die sich daraus ergebende Handlung schon genügte. Damit nehmen die Lais eine Sonderstellung in der zeitgenössischen (und auch gegenüber der früheren) Dichtung ein. So unterscheiden sich die Verfasser der Lais zum Beispiel auffällig von den ideologischen Trägern der chansons de toile, die ihre Frauentypen meist pauschal mit bele ohne nähere Angaben bezeichnen 58 , aber auch vom Artusroman und dem Märchen, in denen die physische

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Z . B . Equitan, v.41: «Sanz veüe la coveita»; Fresne, w . 2 4 7 - 2 4 8 : « D e la pucele oi parler, / Si la cumença a amer»; Milun w . 25 - 26: «Ele ot oï Milun nomer, / Mut le cumençat a amer». Vgl. Melion, w . 1 1 0 - 1 1 2 : «Sachiés que je sui molt vo drue; / Onques home, fors vos, n'amai, / N e jamais plus n'en amerai.» Damit erfüllt die D a m e die Anforderungen, die Melion an eine Geliebte stellt. - In anderen Lais werden andere Qualitäten hervorgehoben, so zum Beispiel die Ranghöhe der Liebenden in Amours, vgl. w . 2 3 - 7 8 oder materielle Güter in Vair Palefroi, vgl. vv. 8 0 - 8 8 , 1 0 6 - 1 0 9 , 1 6 7 - 1 7 0 , wenn man diese Verse auf die w . 3 5 - 3 7 bezieht («Riehes de euer, povres d'avoir», v.37). Die materiellen Güter werden von Huon le Roi geschickt mit den ideellen höfischen Werten der Geliebten verbunden, so daß eine Doppeldeutigkeit entsteht, vgl. z . B . die geschickte Reimgebung in den Versen 1 6 7 - 1 6 9 : «Li chevaliers, qui tant devoit / Celi amer qui tant avoit / En li de bien a grant merveille . . .». Vgl. P. Jonin (1970, 436): «C'est ainsi qu'on voit se succéder une série de à qui il faut esthétiquement faire confiance et dont la beauté restera toujours à préciser.» D i e Frauen bleiben hier «physiquement dans le vague et c'est à peine si l'on relève un détail de leur visage ou de leur tête».

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Anziehungskraft wohl ein Nebenmotiv, nicht aber eine Ausgangsmotivation darstellt, die den Rest der Handlung bestimmt. Die hier vertretene Auffassung von der Motivation der Liebe in den Lais weicht von den bisher in der Lai-Forschung vertretenen Thesen über die Schicksalhaftigkeit der Liebe, wie sie zumeist für die Lais der Marie de France festgestellt wurde 59 , erheblich ab. Eine Reihe von Faktoren deuten ja auch auf eine solche Schicksalhaftigkeit hin: In Guigemar gibt es die Voraussage einer Schicksalsbotin, die den Liebesbann verhängt und die Liebe wie ein unentrinnbares, gleichsam von einer höheren Macht diktiertes Geschick ankündigt60. Des öfteren wird die Liebe als unabänderliches Diktat einer Gewalt durch die aus der lateinischen Tradition stammenden Personifizierung der Liebe unterstrichen, wobei die Liebe(sgottheit) als eine Macht dargestellt wird, der man hilflos ausgeliefert ist und die den Menschen in seiner Wehrlosigkeit in ihren Dienst nimmt 61 . Auch die Natur, sozusagen als Beauftragte einer höheren Macht, ist an der Liebe beteiligt 62 . Dies sind Beispiele für die in den Lais zu beobachtende Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos 63 , die einen für das Mittelalter typischen (und in verschiedenen Varianten auftretenden) Glauben an die Kraft höherer Mächte und an ihre Verflechtung mit dem Menschenschicksal offenbaren. Aber auch die Heftigkeit des Gefühlsausbruchs und -ausdrucks64, der Verzicht auf die Stufen der Annähe59

Vgl. dazu F.Schürr (1930, 558); L.Spitzer (1930, 2 9 - 6 7 ) , besonders 41: «Und das Problem bei Marie ist ein vom Schicksal verhängtes, fatales, das von Urväterzeit her nun einmal so besteht: es ist im Wesen der Liebe, um die es sich ja vornehmlich bei Marie handelt, bedingt. Marie zeigt notwendige und geheimnisvolle Konsequenzen eines Unabänderlichen»; nach M.Lazar (1964) erscheint die Liebe in den Lais der Marie de France wie eine, die viel aus dem Tristan-Vorbild gelernt hat: «L'Amour considéré comme une passion et la fin'amors des troubadours dominent les lais de Marie. ( . . . ) La fatalité de la passion amoureuse, en effet, occupe dans son oeuvre une trop grande place . . .» (197); auch L. Pollmann (1966) vertritt die Auffassung, daß das Schicksalhafte der Liebe in den Lais viel stärker betont wird als dies bei der ritterlich-höfischen Liebe üblich ist (vgl.319); K. Ringger (1973, 6 6 - 7 4 ) betont die besonders enge Verknüpfung, die in den Lais der Marie de France zwischen dem Motiv der Liebe und demjenigen der schicksalhaften Fügung besteht. K. Ringger kommt in seinem Kapitel über die aventure zu dem Ergebnis, daß die aventure als persönlich über einen Menschen verhängtes Schicksal «sich bei Marie de France sehr oft mit 'aventure' im Sinne von Liebeserfahrung» verbindet (77); auch E.Köhler ( 2 1970) bemerkt, daß die Menschen der Lais der Marie de France «die Liebe als unbeeinflußbare Schicksalsmacht, die anderen Gesetzen folgt, als denen der Vernunft» erleben (158).

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Vgl. Guigemar, vv. 108-121. Vgl. z.B. Equitan, v v . 5 4 - 5 8 , Eliduc, vv.304-306, Guigemar, vv.379-380, Lanval, vv. 119-120, Eliduc, v.466, Guigemar, v.420 und 430. Vgl. J.Frappier (1973) über die Personifizierung der Liebe in der mittelalterlichen Literatur. Vgl. z . B . Guigemar vv.483-486 bzw. 5 7 - 5 8 . Vgl. z . B . auch das Fortuna-Motiv in Guigemar, vv.538—540. Vgl. die aus römischem Gedankengut, schon von Ovid angewandte und dann im antikisierenden Roman aufgegriffene Liebes-Pathologie, die in den Lais mit der kelti-

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rung 65 und die Kristallisation der Liebe, die Verfallenheit der Liebenden 6 6 , die Ausschaltung der reisun usw. weisen auf die unbeeinflußbare Kraft der Liebe in den Lais hin. Diesen vorgenannten Argumenten ist entgegenzuhalten, daß die Schicksalhaftigkeit der Liebe in Guigemar (die sich in abgeschwächter und abgewandelter Form in Melion wiederholt) von den meisten Interpreten gleichsam stellvertretend für alle Lais genommen wird und dieser Lai doch nur eine Ausnahme darstellt. Darüber hinaus trifft die Liebe in beiden Fällen keine unschuldigen Opfer, sondern Liebesunwillige, so daß die Hin- oder Verführung zur Liebe gewissermaßen provoziert ist. Es bleibt in diesem Zusammenhang ohnehin offen, ob diese aus der keltischen Folklore entnommenen Motive (sowie andere Motive, die den Glauben an die Einwirkung höherer Mächte umfassen) nicht als Hilfsmittel eingesetzt wurden, um (bis dahin) noch unerklärliche psychologische Vorgänge im Menschen plausibel darzustellen, zum Beispiel wie sich eine Abneigung gegen die Liebe in eine Neigung zur Liebe verwandeln kann. Alle übrigen obengenannten Begründungen für die Schicksalhaftigkeit der Liebe weisen in Richtung einer Liebeskonzeption, die mit dem absoluten Anspruch der Liebe, d . h . der absoluten Gewalt der Liebe über die Menschen auftritt. In der Tat wird das Bewußtsein der Personen in den Lais von der Liebesleidenschaft so stark beherrscht, daß alle anderen Instanzen außer denen des Gefühls (reisun) ausgeschaltet werden. Deshalb hat die Liebe in den Lais nichts mit Ordnungsdenken oder gesellschaftsbildender Kraft zu tun. In den Lais offenbart sich der Glaube an die gewaltige Kraft der Liebe. Die nicht aus der Vernunft, sondern nur aus dem Gefühl entstandene sehen Liebesverhängnis-Ideologie verquickt ist, wo die Liebenden an den für die lateinische Tradition typischen Liebesqualen leiden und Krankheitssymptome wie Erbleichen, Angst, Schlaflosigkeit, Ohnmacht aufweisen, z . B . in Guigemar, w . 6 6 1 - 6 6 4 , Chievrefoil, w . 1 9 - 2 0 , Eliduc, w . 3 0 4 - 3 0 6 , Yonec, w . 4 4 9 - 4 5 0 , Eliduc, w . 6 6 0 - 6 6 2 und 3 3 1 - 3 3 2 , 8 5 3 - 8 5 8 , Equitan, v.63. Die Heftigkeit des Gefühlsausdrucks geht teilweise weit über die von Ovid übernommenen Symptome hinaus, so wenn die Liebenden schreien, vgl. Y o n e c , w . 3 3 5 - 3 3 6 , wenn sie bitterlich weinen, vgl. Laüstic, v. 122, mit Selbstmord drohen, vgl. Guigemar, vv. 6 7 2 - 6 7 3 und sich verfluchen, vgl. Lanval, v.345. Vgl. dazu auch K. Ringger (1973, 70). 65

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Vgl. dazu B . H . W i n d (1964, 7 4 1 - 7 4 8 ) , besonders 742: «L'amour dans les Lais naît spontanément, il n'est ni choix, ni discipline» und P.Ménard (1969, 1 5 1 - 1 5 2 ) : «Im Unterschied zu Chrétien de Troyes geht Marie de France sehr schnell zum Sich-Erklären über». — Es gibt in den Lais keine «stationes amandi» oder das, was bei Stendhal avancement officiel heißt, im Gegensatz zu Chrétien de Troyes, der ausführlich bei den Stufen der Annäherung verweilt. Die Machtlosigkeit und Verzweiflung der unglücklich Liebenden wird in den Lais des öfteren durch ein gedankenverlorenes Sinnen (pensis) der Protagonisten, einer Art Melancholie, zum Ausdruck gebracht. Dazu E.Köhler ( 2 1970, 177): «Pensis bezeichnet das schmerzhafte Betroffensein durch ein widriges, als unabänderlich empfundenes Geschick, dem fast nur noch Unterwerfung begegnen kann». L.Spitzer (1930, 54) hat dieses Versunkensein der Gestalten als Grundstimmung vieler Lais, als «seelischen Orgelton» vernommen.

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u n d g e l e i t e t e L i e b e spricht in all der ihr z u g e s t a n d e n e n Schicksalhaftigkeit jed o c h nicht g e g e n , s o n d e r n g e r a d e für e i n e e m o t i o n a l e D i s p o n i e r t h e i t der P r o t a g o n i s t e n , w a s die F a k t o r e n , w i e schnelles S i c h - V e r l i e b e n , s p o n t a n e s Ergriffensein, heftiger G e f ü h l s a u s b r u c h usw. auch implizieren. E i n e s o l c h e A u f f a s s u n g v o n der Prädisposition zur L i e b e 6 7 modifiziert die T h e o r i e v o n der Schicksalhaftigkeit der L i e b e insofern, als sie d e n Schicksalsg e d a n k e n in R i c h t u n g Selbstverantwortung korrigiert u n d das Selbstverständnis der E x i s t e n z unterstreicht. E s hat sich g e z e i g t , daß die Prädisposition zur L i e b e nicht v o n ungefähr k o m m t , da sie a) auf charakterspezifische Eigenarten 6 8 ( S e i n ) , b ) auf e i n e bes o n d e r e Situation im L e b e n ( D a s e i n ) o d e r c) auf natürliche bzw. v o n der (hö-

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Programmatisch für die Liebessehnsucht der Protagonisten in den Lais sind die wehmütigen Klagen der Frau des Vogtes von Carwent (die erzähltechnisch mit dem für das Mittelalter für Gefühlsaufwallungen typischen Natureingang beginnen) in Yonec v.51ff, besonders w . 91 —104. Die Prädisposition zur Liebe drückt sich auch darin aus, daß die Protagonisten in der Regel das Liebesangebot sofort akzeptieren. Vgl. dazu E.Nagel (1930, 1 - 1 0 2 ) , besonders 44: «Eine Eigentümlichkeit besteht darin, daß die Personen in wenigen Augenblicken von dieser Leidenschaft ergriffen werden. In fast allen Lais sind nur wenige Stunden oder höchstens ein Tag notwendig, daß der eine Teil dem anderen seine Liebe erklärt». Auch vermißt man in den Lais in der Regel die übliche Koketterie der Frau, die Hinhaltetechnik, die zum höfischen Verhaltensmuster gehört, vgl. A . A d l e r (1960, 17) und M. Lot-Borodine (1967, 280). Die Bereitschaft der Protagonisten zur Liebe ist meistenteils spontan, echt und ernst gemeint. Wenn sich eine Dame ziert oder unentschlossen ist, werden ihre Bedenken durch die Argumentationen des Mannes ausgeräumt, vgl. Guigemar, w . 515—516 und 519-523, Equitan, w . 177-180 oder auch die zur Thematik gewordene Überzeugungskunst des Mannes in Conseil und Ombre. - Das Liebesverlangen der Frau kann, wie in den Fällen Lanval (Fee und Königin), Milun (Tochter eines Barons), Eliduc (Königstochter), Désiré (Fee), Graalant (Fee), Guingamor (Fee), Melion (Fee), Narcisus (Daphné) so stark sein, daß sie nicht zögert, die ersten Schritte der Annäherung zu unternehmen bzw. sich ihm zu erklären. Nur in den chansons de toile zeigen die Frauen eine ähnliche Liebesfreudigkeit, die zur aktiven Kontaktaufnahme ihrerseits führen kann, vgl. P. Jonin (1970, 442, 443).

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Vgl. Guigemar, Equitan, Chaitivel, Ignaure, Melion. Zu Chaitivel ist noch hinzuzufügen, daß die gleich große Liebe zu vier Rittern auf eine charakterspezifische Veranlagung eines höfischen Edelfräuleins zurückzuführen ist: Liebesfähig- und -Willigkeit treffen mit Unentschiedenheit und Entschlußlosigkeit zusammen. Daß diese vier Ritter damit zu einer Einheit werden, bestätigt dann ein Turnier, bei dem drei der Ritter ihr Leben lassen. Dieser Zufall führt nämlich keine Entscheidung herbei, sondern betont noch die charakterspezifische Veranlagung: die verewigte emotionale Disponiertheit zur Liebe von vier Rittern statt einem. — Im Lai Ignaure bilden die Liebesfreuden am Hofe den Lebensinhalt des Protagonisten, so daß die emotionale Disponiertheit nicht nur als charakterspezifische Eigenart in Frage steht, sondern dem Protagonisten zum Verhängnis wird. So auch der König Equitan, der immer schon den Liebesfreuden und Vergnügen gehuldigt hat und der die Dame bereits begehrte, bevor er sie gesehen hatte. In Guigemar und Melion führt gerade die Liebesunwilligkeit der Protagonisten zum Erlebnis einer großen Liebe. 38

fischen) Gesellschaft entwickelte und geförderte Strebungen (natürliche bzw. von der Gesellschaft normierte Anziehungskräfte) bezogen ist 69 . Wenn man in den Lais von einer (Liebes-)aventure als plötzlichem und unerwartet eintreffendem Schicksalsschlag sprechen wollte, müßten die Protagonisten notwendigerweise 'Unschuldige' sein, die davon betroffen werden. Tatsächlich sind die Protagonisten auch (abgesehen von den von der Natur Benachteiligten) stets Untadelige im idealtypischen Sinn 70 . Wenn aber gerade diese Untadeligkeit sie zur Liebe befähigt (sie im höfischen Sinn also 'unschuldig' sind), so sind sie doch nicht unbefangen — ihr eigenes Selbst, ihr verinnerlichtes Dasein, natürliche Regungen und am höfischen, aristokratischen Leben orientierte Qualitäts- und Wertvorstellungen bestimmen sie ganz und gar. Die seelische und körperliche Liebesbereitschaft findet ihre Begründung also in einer Art existentieller Befangenheit. Sämtliche Protagonisten besitzen in diesem Sinn spezifische (allgemein menschliche und an höfischen Normen orientierte) Voraussetzungen für ihr spezifisches (Liebes-)Sc.hicksal. In keinem der Lais werden sie aus unerklärlichen Gründen zur Liebe gezwungen, wie z . B . Tristan und Isolde durch einen Zaubertrank, wo ein 'echter' Zufall vorliegt (selbst wenn dieses Mittel als Symbol für eine noch nicht zu erklärende innere Motivation zu gelten hat). Selbst wenn die Liebe bzw. die Begegnung mit einem Geliebten unerwartet kommt und zunächst unerklärlich ist (und deshalb auch teilweise mit den klassischen Topoi der Liebesergriffenheit dargestellt wird), kann der Liebe nur aus Gründen des eigenen Seins oder des von zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen bestimmten Daseins, d . h . wegen der eigenen konfliktträchtigen bzw. vom Gefühl prädisponierten Existenz nicht ausgewichen werden. Was den Kristallisationspunkt der Liebe betrifft, stehen die von mancherlei Faktoren bewirkte Existenz des Betroffenen und die emotionale Disponiertheit in einem kausalen Zusammenhang. Auf dieser Motivationsebene vereinigt sich das rein Zufällige (z. B. die Begegnung mit einem gleichgesinnten Wesen) mit dem von seiner Natur und Existenz bestimmten 'Opfer' - das rein Zufällige besitzt eine Affinität mit den charakterlichen und situativen Gegebenheiten der Akteure. Als kennzeichnendes Merkmal für die Struktur der Lais hat sich auch bei der Motivationsart der emotionalen Disponiertheit ergeben, daß interne Prämissen mit externen Faktoren zusammentreffen und auf diese Weise eine funktionale Motivation leisten. Obwohl die emotionale Disponiertheit eine conditio sine qua non für die Handlung ist, wird sie erst durch Faktoren, die

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Aus dieser Perspektive sind auch die bisherigen Beobachtungen über die Protagonisten der Lais als bloß liebeshungrige Wesen zu korrigieren, vgl. z . B . E . N a g e l (1930, 100): «Die Frauen werden nur als liebessehnsüchtige Wesen dargestellt, ohne besondere Individualität».

70

Vgl. dazu B. H. Wind (1964), die alle Merkmale von courtoisie in den Lais der Marie de France nachweist, ohne - trotz des höfischen Rahmens - den Lais eine eigene Liebeskonzeption und Ideologie abzusprechen.

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außerhalb des eigenen Ichs gelegen sind, funktional. Aus strukturalistischer Sicht provoziert sie - ebenso wie die spezifische Wesensart der Protagonisten — äußere Momente, die zwar unerwartet und unvorhergesehen, jedoch nicht unmotiviert hinzukommen und sich aus der Disponiertheit des Protagonisten erklären lassen, so daß sich auch hier eine supplementäre Konditioniertheit ergibt. Zu den externen Faktoren, die auf die emotionale Bereitschaft des Protagonisten einwirken, gehören zunächst die 'zufälligen Begegnungen', die bedeutungslos bleiben würden, wenn sie nicht für ein bestimmtes Individuum eine besondere Bedeutung hätten. In diesen zufälligen, gleichsam doch gewollten - und nur aus diesem Grund unausweichlichen — Begegnungen ist der Konfliktstoff für die nachfolgende Handlung angelegt: Der eine oder andere Teil einer jeweiligen Beziehung bringt spezifische charakterliche 71 oder situative72 Gegebenheiten in die Beziehung ein, die im Keim latente Störfaktoren enthalten, die die gerade eingegangene Bindung früher oder später beeinträchtigen werden. So wie es sich in der I. Motivationsgruppe um auf Charakter-Insuffizienz zurückzuführende konfliktträchtige Existenzen handelt, geht es hier um (sich aus emotionaler Bereitschaft ergebende) konfliktträchtige Beziehungen — aus eben dieser Konfliktträchtigkeit ergibt sich in beiden Fällen die Handlung wie von selbst.

3. Aufforderung, Herausforderung, Aggression Die sich aus einer 'Aufforderung' bzw. 'Herausforderung' oder 'Aggression' herleitende Motivation der Handlung betrifft die Lais, die in der III. Rubrik mit der Nr. I 73 versehen sind. Hier handelt es sich nicht um eine von innen vorbereitete, von einer inneren Prämisse ausgehende, sondern um eine von a u ß e n an den Protagonisten herangetragene Motivation: Die Protagonisten dieser Lais, die sich als untadelig ausgewiesen haben, werden vom Artushof diskriminiert (Lanval, Graalant), mit bösen Hintergedanken auf eine lebensgefährliche aventure geschickt (Guingamor), wobei in Graalant und Guingamor die Aggression als verschärfte Reaktion auf das unerwiderte Liebesangebot der Königin zustande kommt; in Haveloc werden verwaiste Königskinder von unrechtmäßigen Machtergreifern enterbt und vertrieben. Im Unter71

72

73

So z. B. in Bisclavret, wo sich nur aufgrund der charakterlichen Schwäche einer Werwolfs-Frau die Beziehung zum Freund und die ganze nachfolgende Handlung entwikkelt. Vgl. auch Ignaure, wo die Beziehungen durch das lasterhafte Wesen des Geliebten belastet sind. Vgl. auch Melion, wo die Geliebte sich als nicht gutartige Fee erweist, wie überhaupt alle Feen - da sie einer anderen Welt angehören — durch ihre Andersartigkeit Risiken für die Verbindung bedeuten. Z. B. alle verheirateten Partner, ganz besonders alle mal-mariées, die Waise (Fresne), die aus materiellen Gründen, aus feudalrechtlichen Interessenlagen heraus nicht geheiratet werden darf, alle jüngeren Liebenden, die von ihren Eltern nicht freigegeben werden, die örtlich voneinander Entfernten (Amours) usw. Lanval, Graalant, Guingamor, Haveloc.

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schied zu den ersten beiden Motivationsgruppen liegt hier keine vom individuellen Sein oder Dasein heraufbeschworene Ausgangssituation vor, sondern eine, in die das Individuum mehr oder weniger unverschuldet hineingerät, da die Handlung von einem geradezu klassischen Antagonisten, hier dem übelgesonnenen Artushof — teilweise unter Verwendung des Potiphar-Motivs bzw. den machthungrigen Rivalen angestiftet wird. Diese Motivationsart ist verglichen mit den beiden erstgenannten nur spärlich, d . h . nur in den vorerwähnten Lais vertreten. Obwohl in Fresne, Cor / Mantel Mautaille, Aristote und Tydorel zum Beispiel Herausforderungen in der Motivationsphase zu beobachten sind, gehören sie wegen des damit nicht in Frage gestellten Diptychons von interner Prämisse und externem Faktor nicht zu dieser Motivationsgruppe: Die antagonistische Verleumdung in Fresne motivert zwar die Handlung, die Verleumderin fällt dabei aber ihrer Aggression selbst zum Opfer. Die angegriffene, beschuldigte Partei bleibt unbeschadet. Das nachfolgende Geschehen, das Schicksal von Mutter und Tochter, hängt also nicht von einem Antagonisten im Sinne eines außenstehenden Gegners ab, sondern von den Folgemomenten eines selbst zu verantwortenden, auf die eigene Charakterschwäche zurückzuführenden Handelns. In Cor / Mantel Mautaille, Aristote und Tydorel bildet die Herausforderung bereits eine Sinneinheit mit den Provozierten; zum Beispiel bilden die von der Fee gesandten Gegenstände (Horn / Mantel), die die Eigenschaft besitzen, Untreue bei Liebes- und Ehepaaren festzustellen, mit den Treuelosen am Hofe eine Einheit, so daß sich die Motivation des Geschehens aus dem Fehlverhalten der höfischen Gesellschaft und nicht aus einer aggressiv gemeinten Aufforderung von seiten einer (bösen) Fee herleitet. Auch die Störung der Liebesbeziehung durch Aristoteles als Sprecher der etablierten höfischen Verhaltensnormen wird gleichsam durch das diesen Normen widersprechende Verhalten von Alexander und seiner fremdländischen Freundin provoziert. Die Herausforderung Tydorels wirkt ebenfalls nicht konstruiert, sondern ergibt sich aus dem Kontext; sie erscheint in Form eines Diktums, das die Wesensart des Protagonisten (Zwitterwesen) auf eine Formel bringt. In diesem Zusammenhang sei die Vermutung erlaubt, daß das aggressive Handeln in Lanval, Graalant, Guingamor und Haveloc ebenso provoziert sein könnte wie die selbstverschuldeten und selbst zu verantwortenden Schicksale. Zumindest ist die Aufforderung zur Liebe nicht nur dem übelwollenden Charakter einer Königin, sondern auch den besonderen Vorzügen des Ritters zuzuschreiben. Ebenso können wehrlose Kinder ein rücksichtsloses Streben nach Macht durchaus begünstigen. Wie stark aber die besondere Qualifikation des 'Opfers' an seiner 'Verfolgung' mitbeteiligt ist, welche Rolle der psychologische Hintergrund spielt, ist in den genannten Erzählungen nicht greifbar. Es gibt keinen offenkundigen Beweis für einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Aggression (Handlungsanstoß) und der Individualität des Protagonisten, so daß sich die externe Einwirkung ohne weiteres vom Kontext isolieren läßt. Die mit aggressiven Momenten operierende Motivationsart ist das bei der Handlungseinleitung der abenteuerlichen 41

(Volks-)Erzählung und dem Märchen übliche Grundmuster 74 . Im Unterschied zu diesen Gattungsformen aber, in denen die Protagonisten reine Handlungsträger sind, die ein von Antagonisten gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen haben, bilden im Lai die äußeren Momente, nachdem sie auf ihn eingewirkt haben, mit dem Protagonisten eine innere Einheit. Das heißt, der Protagonist verinnerlicht das ihm von außen Zugestoßene; es findet ein Prozeß statt, der ihn zu einer 'konfliktträchtigen Existenz' werden läßt, die dann seine Individualität ausmacht. Im Unterschied zu den ersten Motivationsgruppen, bei denen eine gewisse 'Individualität' bereits mit den internen Prämissen gegeben war, wird hier der Mangelzustand von außen herangetragen bzw. heraufbeschworen, um danach erst von innen wahrgenommen zu werden. Alles Weitere zu dieser Motivationsart ist deshalb im bereits behandelten Kapitel über die 'Emotionale Disponiertheit' zu finden. Diese emotionale Disponiertheit ist nunmehr die auf die problematische Situation zurückzuführende Folgemotivation — alle Protagonisten gehen aufgrund ihrer Kränkung und Vereinsamung bereitwillig eine Liebesbeziehung ein - , so daß nunmehr in umgekehrter Reihenfolge — die externen Faktoren und internen Prämissen funktional für die Handlung werden. Der Lai läßt sich auf diese Weise auch vom höfischen Roman abgrenzen, da das an den Artushelden von außen gestellte Problem, eine aventure, die sich in der Bewährung eines Ritters bei einer schwierigen Aufgabe oder im gefährlichen Kampf erfüllt, außerhalb seines eigenen Ichs bleibt und erst dann eine existentielle Bedeutung gewinnt, wenn die Aufgabe erfolgreich beendet worden ist und der Held durch gesellschaftliche Bestätigung und Anerkennung eine Wertsteigerung erfährt.

Summe der Motivationssequenzen Das Derivat aus den internen Prämissen und externen Faktoren (bzw. externen Faktoren, die verinnerlicht werden) ist in der letzten Spalte der Aufstellung aufgeführt: Es stellt die aus den Vorbedingungen der drei Motivationsgruppen abstrahierte und auf eine Formel gebrachte Konfliktsubstanz dar. Diese ergibt sich aus mehreren Motivationssequenzen, die - um eine funktionale Motivation zu begründen — eine Bindung von mindestens zwei Faktoren, der internen Prämisse und der externen Einwirkung, eingehen müssen. Das Derivat stellt somit jeweils die logische Konsequenz aus 2 oder 4, im Einzelfall 3, Motivationssequenzen dar. Im Ausnahmefall wird die Regel der Aufeinanderfolge von interner Prämisse und externem Faktor modifiziert durch die chronologische Umkehrung der Motivationssequenzen, wie bei der Motivationsgruppe III (Aufforderung, Herausforderung, Aggression), die zunächst mit dem externen Faktor operiert und durch das Betroffensein des 74

Vgl. dazu V.Propp ( 2 1970, 42), wo die die Struktur bestimmenden aggressiven Momente herausgestrichen werden. Es ist dort vor allem von «aggresseur», «vol», «suppression», «violence» die Rede.

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Protagonisten, d . h . den daraus resultierenden inneren Mangelzustand funktional wird. Darüber hinaus sind die einzelnen, für die funktionale Motivation bedeutsamen Motivationssequenzen - mit Ausnahme der Motivationsgruppe III vielleicht — in ihrer logischen, oft auch chronologischen Abfolge nicht streng voneinander zu trennen, d . h . sie sind nicht isolierbar, sondern bedingen einander geradezu. Aus diesem Grund kann auch die fortlaufende Numerierung, die die logische und chronologische Abfolge markieren soll, nur als Anhaltspunkt dienen. In den Fällen, wo sich die Motivationssequenzen nicht auseinanderdividieren ließen, wurden gleiche Nummern vergeben. Zum Beispiel offenbart sich die spezifische Charaktereigenschaft der Eigenliebe in Narcisus erst gegen Schluß der Erzählung, obwohl sie die Handlung vom Beginn an bestimmt. In anderen Fällen wiederum können auch verschiedene Motivationssequenzen gleichzeitig zutreffen, wie z.B. in Chaitivel die Unentschlossenheit einer höfischen D a m e (Charakter-Insuffizienz) und ihre Liebe zu vier Rittern (Emotionale Disponiertheit). Die sich, in welcher Reihenfolge und nach welchem Bedeutungsgrad auch immer formierenden Motivationssequenzen bergen zusammen genommen den Konflikt in sich. Diese Konfliktsubstanz bedarf der Aktualisierung durch eine Haltung, Handlung oder Tat, um handlungswirksam zu werden — damit wird sich das nächste Kapitel auseinandersetzen.

Zusammenfassung Den drei Motivationsgruppen zufolge kann einem Menschen nur eine bestimmte aventure widerfahren, nämlich eine, die sich aus ganz konkreten existentiellen Gegebenheiten herleitet. Das Zustoßende (oder besser Zugestoßene) liegt in seinsbestimmenden Faktoren wie Veranlagung, Umwelt und Zeitpunkt 7 5 begründet. Obwohl selbstverständlich erst die Gesamtheit dieser drei Faktoren die Existenz des Menschen ausmacht, treten in den Lais die einzelnen Momente separat hervor und werden maßgeblich für den Antrieb der Handlung, so z . B . eine zwitterhafte Natur (Bisclavret und Tydorel), eine klassenspezifische mal-mariee/jaloux-Konstellation (Guigemar und Epine) oder eine spezifische Situation (Lanval und Guingamor). Die Vorsehung, das Schicksal oder auch die aventure trifft also nicht willkürlich, unerklärlich auf eine beliebige, neutrale Einzelperson (und erwählt sie damit), sondern betrifft eine konfliktträchtige, im Sein oder Dasein betroffene Existenz, eine, die markiert ist durch eine spezifische Charakter-, gesellschafts- oder situationsbedingte Mangelerscheinung. Die aventure kann somit auch nicht zur «Störung des Lebenszusammenhangs» 7 6 werden; dieser Zusammenhang ist bereits gestört, da das unzulängliche, unzureichende Sein oder Dasein bereits das je75

76

Die drei Faktoren entsprechen etwa denen der Taineschen Terminologie wie «race», «milieu», «moment». Als was sie G.Simmel (1919, 7; 17) gesehen hat.

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weilig Zukommende darstellt bzw. provoziert, so daß die Existenz sich damit in der Brüchigkeit schon eines naiven Selbstverständnisses darstellt. Dem Schicksal kann also aufgrund existentieller Präsuppositionen nicht ausgewichen werden; selbst wenn es unerwartet hereinbricht, ist es nicht unerklärlich, kommt es nicht unmotiviert. Kennzeichnend für alle drei Motivationsgruppen ist die Tatsache, daß interne und externe Faktoren zusammen die Motivation strukturieren, d.h. daß das Schicksal dem Einzelnen nicht unerklärlich, unwillkürlich zukommt und damit für die Handlung funktional wird (wie im höfischen Roman), sondern individuelles Sein und außengesteuerte Auferlegung zusammenkommen, zusammentreffen. Die aventure wird nicht außerhalb des Selbst gesucht, sondern über das Selbst gefunden. Die Betroffenheit des Menschen in der Motivationsphase bedeutet einen Zustand, der nicht nur von außen herbeigeführt wird, sondern auch vom Inneren des Menschen begründet ist. Die aventure wird also nicht mehr nur zum persönlichen Schicksal, ist nicht mehr nur das einem persönlich Zu-kommende 77 , sondern der Zufall oder das Schicksal koinzidiert mit der von existentiellen Vorgaben geprägten 'Individualität'. Die Menschen begegnen der aventure - gerade auch im Unterschied zur aventure in den chansons de geste und im höfischen Roman — nicht als dunkle Macht, die Unschuldige trifft, vielmehr wird sie von der subjektiven Betroffenheit des Protagonisten — vom im Sein oder Dasein Betroffenen selbst — provoziert. Die Zufälligkeit ist daher von der Individualität oder Singularität des Subjekts mitzuverantworten; die Handlung ist Folgemoment eines spezifischen, existentiellen Begründungszusammenhangs. Daraus erklärt sich, daß hier Handlungsmotivation und Protagonist eine organische Einheit bilden und nicht — wie im höfischen Roman — die ritterliche Tat, das objektive Geschehen, außerhalb der subjektiv empfindenden Person bleibt.

III. Die Aktualisierung des Konflikts Da die logische Tiefenstruktur auf der Ebene klassifizierbarer Handlungsfunktionen 1 erfaßt werden soll, geht es — nachdem im vorangegangenen Abschnitt der Arbeit die Funktion, die die Voraussetzung für den Gang der Handlung schafft, ermittelt wurde — nun um die Funktion, die die Handlung realisiert2. Nachdem der konfliktgeladene Zustand (oder auch die konfliktträchtige Tat) als Ausgangspunkt oder Anfang des Geschehens definiert worden sind, steht jetzt das Ereignis, das sich mit scheinbar zufälliger Notwendig77 1

2

Vgl. K. Ringger (1973, 74ff.). Im Unterschied zu «actions», verstanden im Sinne klassifizierbarer Handlungsträger und zu «narration», verstanden im Sinne klassifizierbarer Modalitäten der erzählerischen Vermittlung. Vgl. dazu insbesondere R. Barthes (1966 a, 1—27). Vgl. C. Bremond (1966, 60), wo Bremond die logische Folge der menschlichen Handlung analysiert.

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keit daraus ergibt, im Zentrum des Interesses. Wenn die Phase der Handlungsmotivation als Eröffnungsphase noch eine Fülle von Möglichkeiten für den weiteren Geschehensablauf in sich barg, so konkretisiert sich jetzt das Geschehen in Form eines Verhaltens, einer bestimmten Haltung, Handlung oder Tat. Mit anderen Worten: Nach der Phase der angelegten Wirkungsmöglichkeit folgt die Phase der wahrgenommenen Wirkungsmöglichkeit. Da aus strukturalistischer Sicht beim Übergang von der Motivationsphase in die Realisationsphase die Kontinuität gewahrt bleibt, d.h. die einzelnen Motivationssequenzen in einem Punkte kulminieren und so ihren Kristallisationspunkt erreichen, kann hier nur von einer Aktualisierung des Konflikts und nicht von einer unerwarteten Aggression oder überraschenden Intervention gesprochen werden: Der Konflikt ist implizit bereits in der anfänglichen Mangelsituation enthalten, allerdings werden nunmehr potentielle Wirkungsmöglichkeiten in die reale, partikulare Tat umgesetzt. Kurz: Die Handlungsmotivation liefert die Prämissen für die Handlungskonkretisierung, sie ist funktional für die Kristallisation des Konflikts. Für die Lais kann deshalb allgemein festgehalten werden, daß die Krise aus einer spezifischen Konstellation (Summe von I, II, III) hervorgeht, und daß sich das Geschehen um sie herum organisiert. Der Begriff Handlung ist - was die Phase der Wahrnehmung von Wirkungsmöglichkeiten angeht - am besten zu begreifen als Projektion von kontradiktorischen Relationen einer logischen Tiefenstruktur auf die Ebene konflikthafter Manifestationen 3 : Wie am Beispiel der Motivationsphase demonstriert wurde, richtet sich das Begehren eines Handlungsträgers aus einem Mangelzustand heraus auf etwas, was nicht unmittelbar in seinem Einflußbereich liegt und das er sich zu beschaffen versuchen müßte, wollte er eine Beruhigung des Spannungszustands erreichen. Das hieße, daß der logische Widerspruch auf der Handlungsebene über die Modalität des Wollens zu einem Konflikt gebracht werden müßte, oder: die aus einem Mangelzustand motivierten Handlungsträger würden bestimmte Maßnahmen ergreifen müssen, um ihre Anliegen und Begehren abzusichern und durchzusetzen 4 . Wie sich bei der Strukturanalyse jedoch herausstellt, bedeutet die Motivationsphase zwar eine konfliktgeladene Situation — sie wird jedoch aufgrund der Tatsache, daß die Protagonisten ein relatives Glück (meist Liebesglück) genießen bzw. sich der Tragweite ihrer Situation nicht bewußt werden, von den existentiell Betroffenen nicht geändert. Die sich dem trügerischen Glück hingebenden Prot3

4

Diese Definition schließt sich an die These von A. J. Greimas (1970,157-183) an, daß nämlich eine Erzählung Widersprüche innerhalb eines Systems oder eines Systems von Systemen aktualisiert. Eine kritische Darstellung dieses Abrisses findet sich bei K. Stierle (1975, 202ff.). Im Unterschied zum höfischen Roman sind die Protagonisten der Lais trotz der Mangelsituation nicht motiviert, auf Suche zu gehen und aktiv zu werden, um den Mangel zu beseitigen. Wie V. Propp ( 2 1970,93) festgestellt hat, hat der initiale Mangelzustand auch im Volksmärchen einen Weggang oder eine Suche zur Folge. 45

agonisten sind — um aus ihrer Passivität gegenüber der Gesellschaft herauszutreten - auf ein funktionales Handlungsmoment angewiesen, das in ihnen das Verlangen nach Änderung der konfliktgeladenen Situation weckt, ihnen die Problematik ihrer Existenz bewußt macht. Das aus dem ursprünglichen Mangelzustand abzuleitende latente Begehren eines Handlungsträgers implizierte denn auch bereits ein Hindernis, das in der Motivationsphase noch geleugnet, hingenommen werden konnte, mit dem es sich aber nun auseinanderzusetzen gilt, wenn, im Gesamtzusammenhang gesehen, eine Besserung des latenten Spannungszustands und damit eine Beruhigung des narrativen Prozesses erreicht werden soll. Was die Phase der Handlungsrealisation betrifft, wird man deshalb zunächst mit den aktivierten konfliktträchtigen Manifestationen zu beginnen haben, die - strukturalistisch gesehen — die Modalität des Sollens so intensivieren, daß ein für die Handlung maßgeblicher konstitutioneller Widerspruch zum 'Wollen' entsteht. Im folgenden soll in einer systematischen Tabelle, die an die erste Tabelle (Motivationen) anschließt, der Versuch gemacht werden, die konfliktträchtigen Postúlate für die einzelnen Lais auf eine Formel zu bringen. Dabei werden gleichzeitig die kontradiktorischen Relationen (Widersprüchlichkeiten im personalen Bezugssystem) bloßgelegt und die in der Motivationsphase angelegten, in der Realisationsphase aktualisierten Widersprüche herausgearbeitet. Es soll hier nur angedeutet werden, daß die Konstituierung von Handlung auf der Basis kontradiktorischer Relationen allein nicht ausreicht, um die Lais als Gattung hinreichend transparent zu machen. Ein solches Vergehen, das zu einem elementaren Handlungsschema von Konfrontation, Domination und Attribution führen würde 5 , bliebe viel zu allgemein. Es wird deshalb - wie bei der Motivationsphase — auch bei der nachfolgenden Analyse des Schemas erforderlich sein, die Handlungsträger nicht nur als reine Aktanten, sondern auch als Träger von spezifischen Werten zu begreifen 6 .

5

6

Ein Handlungsmodell, das diesen Dreischritt berücksichtigt, hat A. J. Greimas (1970, 157-183) entwickelt. Für die Identifizierung von Gattungen reicht es offensichtlich nicht aus. Die Bewertung der kontradiktorischen Relationen auf der Ebene der Handlungsfunktion ist schon allein deshalb von Bedeutung, da die zirkuläre Bewegung der Handlung im Falle von Ambivalenzen nie zu einem Abschluß käme. Die abschließende Attribution muß sich als rechtmäßig erweisen, da sie sonst die Depravation des 'Besiegten' bedeutete und ein neuer Prozeß von Konfrontation, Domination und Attribution einzusetzen hätte.

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Interne Prämissen

Externe Faktoren

IV. Interne Prämissen / Externe Faktoren

Ermahnung — Vorahnung d. Konflikts -

Aufforderung Herausforderung

Aktualisierung des Konflikts

Guigemar - Vorkehrungen durch Hemd/Gürtel -

5. Guigemar Eifersüchtiger Ehemann deckt Liebesverhältnis der Ehefrau auf. Verbannt Liebhaber, sperrt Ehefrau ein Ehemann // Ehefrau + Geliebter 5. Equitan Höfische Gesellschaft («la gent») verlangt rechtmäßige Ehe des Königs. Seine Geliebte - die Frau des Seneschalls - fürchtet das Ende des Liebesverhältnisses Geliebte Vasallen (Ehemann) // König + (Ehefrau) 3. Fresne Vasallen verlangen und betreiben eine rechtmäßige Ehe für ihren Lehnsherrn

Vasallen // Lehnsherr + Waise 3. Bisclavret Ehefrau deckt Werwolfsnatur des Ehemannes auf. Ihre Liebe zum Ehemann wird damit vereitelt

Bisclavret — Vorahnung des Ehemannes, ohne Vorkehrungen —

Werwolfsmann // Ehefrau ( + Geliebter) 4. Lanval Fee ermahnt Ritter zur Rückkehr a.d. Hof. Gebietet ihm, sich seiner Liebe nicht zu rühmen

5. Lanval Königin fordert Ritter zur Liebe auf. Verstärkt ihre Aufforderung durch Provokation

6. Lanval Aufeinandertreffen von seelischer Bindung zur überirdischen Welt (Fee) und körperlicher Anwesenheit in irdischer (höf.) Welt. Konflikt durch Antithese von4. (Ermahng.) u. 5. (Herausforderg.) Fee (seel. Welt) // Königin (höf. Welt) 3. Deus Amanz Eine vom Vater gemachte Auflage wird wirksam: Tochter darf nur heiraten, wenn eine schwierige Aufgabe gelöst wird Vater//Tochter + Geliebter

Yonec - Vorahnung, ohne Vorkehrungen oder Vorsichtsmaßnahmen —

3. Yonec Eifersüchtiger Ehemann deckt Liebesverhältnis der Ehefrau auf. Tötet Liebhaber Ehemann // Ehefrau 4- Geliebter

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Interne Prämissen

Externe Faktoren

IV. Interne Prämissen / Externe Faktoren

Ermahnung — Vorahnung d. Konflikts -

Aufforderung Herausforderung

Aktualisierung des Konflikts

3. Laüstic Eifersüchtiger Ehemann deckt (piaton.) Liebesverhältnis der Ehefrau auf. Ergreift Maßnahmen, um das Liebesverhältnis zu unterbinden Ehemann // Ehefrau + Geliebter 3. Milun Vater verheiratet seine Tochter anderweitig. Ihre Verbindung zum Freund, von dem sie schwanger ist, wird dadurch unterbrochen Vater // Tochter + Geliebter 3. Chaitivel Tod vorvdrei Rittern während eines Turniers (aventure, v. 143) Übrigbleibender Ritter (Fügung) // Höfische Dame 3. Chievrefoil Sehnsucht nach einem Wiedersehen ist nicht mehr auszuhalten

Hof - Gesellschaft - König // Liebespaar 3. Eliduc Ehemann (der sich gegenüber seiner Ehefrau und seinem Lehnsherrn verpflichtet fühlt) wird in seine Lehnspflicht und damit auch wieder in seine Ehepflicht genommen Lehnsherr (Ehefrau) // Vasall (Geliebte)

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Interne Prämissen

Externe Faktoren

IV. Interne Prämissen / Externe Faktoren

Ermahnung — Vorahnung d. Konflikts -

Aufforderung Herausforderung

Aktualisierung des Konflikts

3. Amours Die Geschäfte rufen den 'haut homme' in sein Land zurück. Die Liebenden müssen sich trennen Ökonomische Prinzipien // Liebespaar 3. Aristote Aristoteles ermahnt seinen Schüler Alexander, seinen (höfischen) Pflichten nachzukommen. Sie bedeuten Trennung von der Geliebten Aristoteles (Sprecher für gesellschaftlichhöfische Anliegen) // Liebespaar 3. Conseil Ritter belehrt eine Dame über die höf. Liebe und die höfischen Tugenden von Liebenden Höfischer Ritter // Dame 3. Cor / Mantel Mautaille Horn- und Mantelprobe, der sich niemand entziehen kann

Höfisches Ideal // Höfische Realität 3. Desire Fee ermahnt Ritter zur Rückkehr a . d . Hof. Gebietet ihm, sich vorbildlich (höf.) zu benehmen

4. Désiré Ritter fühlt das Bedürfnis nach christl. Beichte. (Höf.-christl. geprägtes Bewußtsein wird wirksam)

5. Désiré Aufeinandertreffen von seelischer Bindung zur überirdischen Welt (Fee) und höf.-christl. geprägtes Bewußtsein. Konflikt durch Antithese von 3. (Ermahnung) und 4. (verinnerl. Aufforderung) Fee (emotion. Welt) // Höf. Bewußtsein

5. Graalant Fee ermahnt Ritter zur Rückkehr a. d. Hof. Gebietet ihm, sich seiner Liebe nicht zu rühmen

6. Graalant Königin fordert alle Ritter auf, sie als Schönste anzuerkennen. Ritter, der schweigt, wird besonders herausgefordert

7. Graalant Aufeinandertreffen von seelischer Bindung zur überirdischen Welt (Fee) und körperlicher Anwesenheit in irdischer (höf.) Welt. Konflikt durch Antithese von 5. (Ermahnung) und 6. (Herausfordg.) Fee (seel. Welt) // Königin (höf. Welt)

6. Guingamor Fee warnt Ritter vor Rückkehr a.d. Hof. Verbietet ihm, in d. ird. Welt zu essen od. zu trinken

5. Guingamor Ritter fühlt das Bedürfnis, in d. irdische Welt zurückzukehren und seine 'aventure' zu erzählen

7. Guingamor Aufeinandertreffen von seelischer Bindung zur überirdischen Welt (Fee) und höf.-ritterlich geprägtes Bewußtsein. Konflikt durch Antithese von 5. (verinnerlichte Aufforderung) und 6. (Ermahnung) Fee (seel. Welt) // Höf. Bewußtsein

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Interne Prämissen

Externe Faktoren

IV. Interne Prämissen / Externe Faktoren

Ermahnung — Vorahnung d. Konflikts -

Aufforderung Herausforderung

Aktualisierung des Konflikts

3. Epervier Eifersüchtiger Ehemann deckt Liebesverhältnis der Ehefrau auf

Ehemann // Ehefrau + Geliebter 3. Epine Eltern entdecken das Liebesverhältnis der Halbgeschwister und trennen die Liebenden Eltern // Sohn + Tochter 4. Haveloc Mädchen hat ein Traumerlebnis, das die Vergangenheit deutet und in die Zukunft weist

5. Haveloc Einsiedler deutet Traum; die Wahrheit, d.h. der Betrug, wird erkannt

Betrüger // Betrogene 3.Ignaure Die betrogenen Geliebten (Ehefrauen) entlarven den Ritter als Don Juan

12 Damen // Ritter 5. Melion Fee fordert mit einer Drohung ihren Ehemann zur Jagd eines besonderen Hirschen auf

6. Melion Zusammentreffen v. emotion. Bindung an d. Ehefrau (deren böse Absicht d. Ritter nicht durchschauen kann) und höf.ritterl. Bewußtsein (das den Wunsch nach einer 'aventure' erfüllen möchte) Ehefr. (böse Fee) // Ehem. (ehrb. Ritter) 3. Nabaret Ehemann, dem die Eigenschaften seiner Ehefrau unerträglich werden, stellt sie vor der Verwandtschaft bloß Ehemann // Ehefrau 3. Narcisus Daphn£ gesteht Narcisus ihre Liebe, womit die Liebesunwilligkeit und -Unfähigkeit entlarvt und bestätigt wird Liebende // Unwilliger Gelieber

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Interne Prämissen

Externe Faktoren

IV. Interne Prämissen / Externe Faktoren

Ermahnung - Vorahnung d. Konflikts -

Aufforderung Herausforderung

Aktualisierung des Konflikts

3. Oiselet Gefangennahme des höfischen Vogels durch einen (unhöfischen) Bürger (engin, v. 202) Vogel (Höf.) // Bürger (Unhöf.) 3. Ombre Höfische Dame weist die flehentlichen Liebesangebote eines Ritters hartnäckig zurück (Höf.) Dame // Ritter 3. Piramus et Tisbe Eltern entdecken das Liebesverhältnis der Kinder. Die Liebenden werden eingeschlossen und bewacht Eltern // Kinder 3. Doon (Wunsch nach weiteren Abenteuern; Aufbruch des Ritters)

5. Tydorel König Tydorel läßt sich von seiner Mutter die Wahrheit über sein Wesen berichten Normalität (Ird. Volk) // Zwitterwesen 5. Tyolet (Wunsch nach Besitz der «orgueilleuse damoiselle»; Aufbruch des Ritters)

3. Vair Palefroi Vater verbietet die Ehe seiner Tochter, da ihr Bewerber nicht über die genügenden finanziellen Mittel verfügt und setzt den reichen Onkel des Mädchens als Ehemann ein Vater // Tochter + Geliebter

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Formale

Schlußfolgerungen

Um den bevorstehenden Konflikt anklingen zu lassen, wird der konkreten Konfliktaktualisierung manchmal eine von einem Protagonisten geäußerte Ahnung oder Vorahnung des Konflikts vorgeschaltet7: In Guigemar werden - da die Protagonisten mit einem Unheil rechnen 8 - sogar Vorkehrungen für den Konfliktfall getroffen 9 , die den Handlungsverlauf noch mitbestimmen sollen10. In Bisclavret sieht der Protagonist das drohende Unheil voraus11, schlägt aber seine Vorahnung aufgrund der raffinierten Überzeugungskünste seiner Ehefrau (die, wie vorherzusehen war, sein zukünftiger Antagonist wird) sogleich in den Wind12. Auch in Yonec kann der Protagonist die Zukunft in ihrer ganzen Tragik voraussehen und davor warnen 13 , ohne daß jedoch Vorsichtsmaßnahmen getroffen würden. Auch das rück- und zukunftsweisende Traumerlebnis in Haveloc erfüllt die Funktion der Konflikteinleitung und -heranführung 14 . Die Vorahnungen, Prophezeiungen und getroffenen Vorkehrungen stellen kleinere Handlungssequenzen dar, die auf die logische Tiefenstruktur keinen Einfluß haben, so daß sie nicht im Sinne einer funktionalen Handlungsaktualisation zu verstehen sind. Sie dienen lediglich der 'Kunst des Übergangs', sind daher auch ersetzbar und austauschbar: Zum Beispiel sind ein verknotetes Hemd und ein verriegelter Gürtel in Guigemar von den Liebenden ausgemachte Zeichen für das gegenseitige Treueversprechen - symbolische Gesten, die auf künftige Schwierigkeiten hindeuten. Diese Wahrzeichen der Treue erweisen sich zusätzlich am Ende der Handlung als echte Symboldinge, nämlich als Wiedererkennungszeichen 15 der getrennten Liebenden, d.h. sie bestimmen die Handlung inhaltlich mit, strukturieren sie aber nicht. Der Konfliktaktualisierung vorgeschaltete Strukturelemente sind dagegen die ausdrücklichen Ermahnungen, die in Lanval, Graalant, Désiré und Guingamor von einem Feenwesen ausgesprochen werden16. Zunächst kommt diesen Geboten ebenfalls die Funktion zu, den Konflikt allmählich und kontinuierlich vorzubereiten — eine ausdrücklich 'mit auf den Weg gegebene' Auf-

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Auch das Fortuna-Motiv erfüllt z.B. eine solche Funktion, vgl. Guigemar, w . 538-542. Vgl. Guigemar, w . 547—548: «Mis quors me dit que jeo vus pert: / Seü serum e descovert». Vgl. Guigemar, w . 557-576. Vgl. Guigemar, vv.792ff. Vgl. Bisclavret, vv. 5 4 - 5 6 . Vgl. Bisclavret, vv. 5 9 - 6 2 . Vgl. Yonec, w . 201-210. Vgl. Haveloc, vv. 401-438 und die Deutung des Traums, vv.520ff. Vgl. Guigemar, w . 792-811, besonders vv. 816-823. Vgl. Lanval, w . 143-150; Graalant, vv. 316-334; Désiré, vv.235 - 254; Guingamor, w . 564-570.

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läge scheint geradezu deren Nichtbeachtung anzukündigen. Sie blieben auch völlig funktionslos, wenn sie als gutgemeinte Ratschläge zu gelten hätten. Da diese Mahnungen seitens der überirdischen Welt jedoch mit widersprüchlichen Herausforderungen der irdischen Welt zusammentreffen, werden sie funktional im Sinne der logischen Tiefenstruktur. Dabei braucht dem Protagonisten die Aufforderung (die sich wegen der Ablehnung zu einer Herausforderung entwickeln kann) noch nicht einmal von außen, d. h. von einem Repräsentanten der irdischen Welt angetragen zu werden. Der Protagonist kann, wie in Desire und Guingamor, eine Forderung auch als Quasi-Forderung der Gesellschaft verspüren und sich ihr stellen 17 . Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß in Lanval und Graalant der Wiedereintritt in die höfische Welt von der Fee und nicht vom Ritter selbst gewünscht wird 18 — ein Zeichen dafür, daß sich der Ritter mit der Feenwelt innerlich verbunden hat: In diesen Lais bedarf es — strukturalistisch gesehen — einer erneuten Herausforderung, an der sich erweist, daß der Ritter der höfischen Welt - seiner höfischen Qualitäten und seines höfischen Verhaltens wegen - nur in einem äußeren Sinne angehört. In Guingamor hingegen bestimmt der Ritter (trotz Mahnung und ausdrücklicher Warnung der Fee 19 ) seine Rückkehr selbst 20 , in Désiré entscheidet sich der Ritter für die christliche Beichte — ein Zeichen dafür, daß diese Ritter — trotz ihres Aufenthaltes im Feenland — der Welt, die sie höfisch bzw. christlich geprägt hat, innerlich verbunden geblieben sind 21 . Eine für das Geschehen funktionale Opposition entsteht in diesem Falle durch die an sich selbst erhobene Forderung bzw. Eigeninitiative, die aus einem höfisch-christlichen Bewußtsein entsteht und die im Widerspruch zur überirdisch-seelischen Welt des Ritters steht. Strukturalistisch gesehen entspricht die an sich selbst gestellte Forderung in Guingamor und Désiré der Aufforderung / Herausforderung von Seiten eines Repräsentanten der höfischen Welt in Lanval und Graalant. Je nach ideologischer Färbung des Lai müssen die Ritter die Erfahrung machen, daß sie in die Welt ihrer Vergangenheit nicht mehr hineinpassen (Guingamor) bzw. ihre Existenz gespalten ist 17

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19 20 21

Vgl. hierzu den nachfolgenden Abschnitt: Manifestation eines nicht ungerechtfertigten, moralischen und ethischen (gesellschaftsbedingten) Prinzipien entsprechenden Anspruchs. Vgl. Lanval, v. 129: «Jamés ne quier de vus partir» und w . 1 5 9 - 1 6 1 ; Graalant, v. 304: «Ne de Ii mes ne partira» und v.292: «Mes de Ii ne se velt partir» sowie v v . 3 3 5 - 3 4 2 und Désiré, v v . 2 2 5 - 2 2 6 : «Une grant piece fu o Ii / Molt a envis s'en départi». Vgl. Guingamor, vv. 5 4 9 - 5 5 8 . Guingamor, w . 5 3 3 - 5 3 7 und 5 4 5 - 5 4 6 . Schließlich hält Désiré eine ständige Verbindung zum Hof aufrecht, leistet Waffendienst für den König, v v . 2 6 9 - 2 9 8 , und hat das Bedürfnis zu beichten. Guingamor wiederum verspürt den dringenden Wunsch, seinem Onkel die aventure zu erzählen, vgl. w . 536—537. D a ß die alte Welt für Guingamor nicht wichtig geblieben ist, sondern daß er sich auch nicht vorstellen kann, daß sie verfallen sein sollte, läßt auf ein ungetrübtes Bild von der höfischen Welt schließen, vgl. v v . 5 5 9 - 5 6 0 : «Dame», fet il, «ne puis pas croire / Que ceste parole soit voire».

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(Désiré). Für die funktionale Handlungsaktualisation ausschlaggebend sind deshalb nicht die Ermahnung und nicht die Herausforderung allein, sondern das Aufeinandertreffen zweier von verschiedenen Welten erhobener Ansprüche in der Person des Protagonisten im Moment des Wiedereintritts bzw. der versuchten Reintegration in die alte Welt. Mit den Kategorien Aufforderung und Herausforderung in Lanval und Graalant 22 bleibt die Kontinuität von der Motivations- zur Aktualisationsphase durchaus gewahrt. Unter veränderten Vorzeichen wiederholt sich nun das Schema des ersten Teils der Erzählung — die Konfrontation mit der Artus-Welt — nur mit dem Unterschied, daß der Protagonist diesmal auf die Welt, in die er Wiedereintritt, eingestellt sein sollte und aufgrund seiner Erfahrungen aus dem vorangegangenen Zyklus nunmehr eine gewisse Erwartungshaltung einnehmen könnte. Gewissermaßen hätte in der Motivationsphase ein Lernprozeß stattfinden müssen. Der variierte Konfliktansatz (erneute Konfrontation mit der Artus-Welt) bedeutet eine von der Motivationsphase her begründbare und aus ihr ableitbare Aktualisierung, d. h. die Motivationsphase stellt eine echte Motivierung, eine Prädisposition für die nächste Phase der Handlung dar. Es sei hier nur kurz angemerkt, wie überzeugend W.HAUG dargelegt hat, daß die Lais der sogenannten Graalant-Gruppe dem Schema des gestuften Doppelkreises (mit dem relativen Höhepunkt am Ende des ersten und der absoluten Erfüllung am Ende des zweiten Zyklus) folgen 23 . Aus Vorgesagtem leitet sich aber auch ab, daß die Struktur dieser Lais nicht nur von der parallelen, gestuften Reihung der Handlung bestimmt wird, sondern gerade auch von der Interdependenz der beiden Phasen. So wird in Lanval und Graalant offenkundig, daß nicht nur die vom Partner aus der Feenwelt auferlegte Bedingung, sondern auch die seelisch-geistige Bindung an die überirdische Welt, wie sie sich im ersten Zyklus vollzogen hat, die Krise der Konfliktphase (zweiter Zyklus) zu verantworten hat. Es zeigt sich, daß die Zugehörigkeit zur höfischen Welt in einem rein physischen Sinne (durch höfische Präsenz) nicht unproblematisch ist, wenn die Psyche mit dieser äußeren Welt nicht übereinstimmt. Aus dem Implikationsverhältnis von Motivationsund Konfliktphase sollen noch Folgerungen für die Gattung gezogen werden. Wie singulare Verhaltensweisen als spontane Herausforderungen wirken können und doch schon in der Motivationsphase enthalten sind, läßt sich gut am Beispiel Deus Amanz demonstrieren: Hier stellt ein Witwer dem Bewerber um seine Tochter eine Bedingung, ohne deren Erfüllung dieser die Tochter nicht heiraten darf. Diese Forderung ist jedoch keineswegs neu, sondern beruht auf der charakterlichen Veranlagung des Vaters, der seine Tochter für sich selbst behalten möchte — eine Veranlagung, die auch den Charakter der

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Inhaltlich sind diese Kategorien durch das Potipharmotiv oder auch das Motiv der unvergleichlichen Schönheit ausgefüllt. W . H a u g (1971, b e s . 6 7 1 - 6 7 3 ) .

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Tochter mitgeprägt hat24. Auch in Oiselet - um ein Beispiel von den anonymen Lais zu geben — wird ein reicher Bürger von einem Vogel nur deshalb herausgefordert, weil er sich in seinen Garten, einem Relikt aus höfischer Zeit, begeben hat. So möchte der Vogel die schöne Welt lieber dem Untergang weihen und verwünschen, als sie von Unbefugten entweihen zu lassen 25 . Strukturalistisch gesehen bildet Melion eine Ausnahme 26 , da hier allein die Herausforderung im Sinne einer funktionalen Aktualisation wirksam wird: Es ist der einzige Lai, wo sich die Aktualisierung des Konflikts nicht kontinuierlich und logisch aus der Motivationsphase ergibt27. Im Unterschied zu Bisclavret28 ist die Krise deshalb auch psychologisch nicht motiviert29: Wenn in Bisclavret die Liebesbeziehung zum Ehemann nach Offenbarung der Wahrheit nicht mehr aufrechtzuerhalten war, so verzichtet der anonyme Verfasser30 von Melion darauf, die Gründe für die Abwendung der Ehefrau von ihrem Ehemann zu nennen 31 . Hier stellt lediglich eine Fee 32 in ihrer Eigenschaft als Ehefrau eine etwas außergewöhnliche, extravagante Forderung33 an den höfisch-höflich gesinnten Ehemann - ihre böse Absicht ist erst nach Erfüllung des Wunsches zu erkennen. Der Konflikt entzündet sich in Melion deshalb an einem zwar märchenhaft verbrämten, jedoch durchaus drastischen Partner-Antagonismus, der letztlich einer ideologischen Auseinandersetzung 24

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Vgl. Deus Amanz, vv.92-102. Hier wird deutlich, wie sehr auch die Tochter ihren Vater liebt und ihn deswegen nicht enttäuschen möchte. Vgl. Oiselet, w . 172ff.: «Et quant voit le vilain séant / Qui desos le pint l'escoutoit,/ Qui fel et envios estoit, / Si a chanté d'autre mainiere ...». Bisher ist Melion von der Kritik lediglich als schlechte Imitation von Bisclavret abgetan worden, vgl. eine zusammenfassende Darstellung bei P.M. O'Hara Tobin (1976, 294-295). Der erste Teil von Melion handelt von der Liebe eines überirdischen Wesens zu einem Sterblichen (wie Lanval, Désiré, Graalant, Guingamor) und der zweite von der Verwandlung eines Mannes (wie Bisclavret). Nach der Theorie von K. Malone (1928, 445-446) geht die Verbindung dieser beiden Motive auf orientalische Tradition, geht Melion auf Gul o Sanaubar zurück. Allgemein wird von der Kritik betont, daß der Verfasser von Melion Bisclavret gekannt haben muß. Verschiedene Details zeugen davon, daß er auch andere Quellen benutzt hat, z.B. den Brut des Wace, vgl. H.Baader (1966, 183). Allein in den Einleitungsversen wird die Krise insofern angedeutet, als der Ritter ein Gelübde ablegt (nie ein Mädchen zu lieben, das bereits einen anderen geliebt hat), worauf ihm noch Unheil vorausgesagt wird, vgl. w . 17-22. Als ihm ein Mädchen, das diese Bedingung erfüllt, begegnet, kann nur der Leser (oder Hörer) noch mit einer Krise rechnen. Es steht lediglich fest, daß Melion von einem pikardischen Verfasser stammt bzw., nach dem Dialekt der unabhängigen Handschriften zu urteilen, pikardischen Ursprungs sein muß, vgl. P . M . O'Hara Tobin (1976, 292). Kurz vor Ausbruch der Krise wird noch das Glück der Ehe betont, vgl. Melion w . 130-132 und v. 165 «Par vostre amor le cerf prendrai». Es wird dabei betont, daß die «pucele» aus Irland kommt. In Form einer Bitte, vgl. vv. 147-148 und 149ff., die von einer Drohung unterstrichen wird.

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und didaktisch angelegten Kontrastierung von Feenwelt und höfischer Artuswelt dient. Die (unmotivierte) Aktualisierung des Konflikts bzw. die Heterogenität der Handlung überhaupt ist deshalb nicht aus der willkürlichen Verbindung zweier aus verschiedenen Traditionen stammender Motive zu erklären, sondern aus dem strukturierenden Prinzip des Gegensatzes von Gut und Böse, d. h. Mann und Frau, Ritter und Fee, Artushof und Feenwelt (Irland)34.

Inhaltliche

Schlußfolgerungen

1. Manifestation eines rechtmäßigen Anspruchs Da die Handlung hier zunächst begriffen wird als Projektion von Widersprüchlichkeiten innerhalb der logischen Tiefenstruktur auf den Handlungsvordergrund, stellt sich die Frage, wodurch die initiale Mangelsituation zum Konflikt dynamisiert wird, d.h. auch wodurch die kontradiktorischen Relationen aktiviert werden, damit sich die in der Motivationsphase angelegten Wirkungsmöglichkeiten realisieren können. Die Untersuchung auf der Ebene der konfliktträchtigen Manifestationen hat ergeben, daß die Widersprüchlichkeiten in dem Maße in den Vordergrund treten, wie es zur Postulierung oder Artikulation von Ansprüchen unterschiedlicher Art kommt. Diese Ansprüche werden nicht — wie man aufgrund der initialen Mangelsituation (Motivationsphase) vermuten könnte — von den persönlich Betroffenen geltend gemacht, nicht von denen, die von subjektiven Anliegen geleitet werden. Vielmehr werden Ansprüche erhoben, die entweder am Gewohnheitsrecht, an Gesellschafts- und Rechtsordnungen 35 oder auch bloß an den 'guten Sitten' des gesellschaftlichen Lebens orientiert, von daher auch motiviert und zu rechtfertigen sind. Sie können differenziert werden in: a) b) c) d) e)

Ehe- und familienrechtliche, feudalrechtliche, moralisch-ethische wirtschaftlich-ökonomische und höfische Ansprüche.

Allesamt sind es rechtlich verankerte bzw. nicht ungerechtfertigte Ansprüche, die aus den Denk-, Lebens- und Verhaltensgewohnheiten spezifischer gesell34

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Auch nach K.Malone (1928, 445 - 4 4 6 ) erklärt in der orientalischen Erzählung der böse Charakter der Frau den inneren Zusammenhang der Handlung. Generell kann davon ausgegangen werden, daß bis zum 12. Jahrhundert das Gewohnheitsrecht vorherrschte, da erst zu dieser Zeit eine Art Rechtsbücher, die sog. Kodifikationen, aufkamen. Daneben bestanden aus der Fränkischen Zeit (500-900) sogenannte Volksrechte (aufgezeichnete Gewohnheitsrechte), deren bekanntestes die Lex Salica ist. Es handelte sich dabei um vom König erlassene Satzungen und Verordnungen, sog. Kapitularien. Vgl. zu Recht und Rechtsgeschichte: Fischer Lexikon (1971, 137-152) bzw. A.Görlitz, Handlexikon der Rechtsgeschichte (1972).

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schaftlicher Verhältnisse abzuleiten sind. Sie werden ausschlaggebend für einen Konflikt, der eine einzelne Person betrifft, die aufgrund eines persönlichen Anspruchs den von der (Rechts-)Ordnung und den Normen gesetzten Ansprüchen nicht genügen kann. Im einzelnen wird der Konflikt aktualisiert durch: a) Manifestation eines aufgrund ehe- und familienrechtlicher Bestimmungen zu rechtfertigenden Anspruchs seitens einer Privatperson gegenüber einer anderen Privatperson Hier handelt es sich um Ansprüche, die nach ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen und Gewohnheiten zu rechtfertigen sind, d . h . konkret um die Ausübung und Wahrung eines Besitzrechts auf eine Privatperson. Dieses Recht, das von einem Ehepartner ausgeübt wird, leitet sich aus dem Ehevertrag ab, der die Partner für ihr ganzes Leben aneinander bindet 36 . In anderen Fällen wird aufgrund familienrechtlicher Gewohnheiten ein Besitzanspruch seitens der Eltern bzw. Väter gegenüber ihren Kindern (vor allem Töchtern) geltend gemacht. Ein rechtlicher (rechtmäßiger) Anspruch auf die Ehefrau wird in Guigemar, Yonec, Laüstic und Epervier durch mehr oder minder drastische Maßnahmen von ungeliebten, meist alten oder zumindest eifersüchtigen Ehemännern bekundet, die die Ehefrau als ihren festen Besitz betrachten. Auch in den Lais, in denen das Besitzrecht auf den Ehepartner nicht expressis verbis zum Ausdruck gebracht wird, wird es durch den Gang der Handlung offenkundig - so wäre, wenn es nur nach dem Recht und der Moral ginge, in Equitan, Bisclavret und Melion die Ehefrau dem Ehemann verpflichtet, aber in Eliduc auch der Ehemann seiner Ehefrau bzw. in Chievrefoil die Königin dem König. 36

Die rechtliche Regelung der familiären Binnenbeziehungen im Bereich von Ehe, Verwandtschaft und Kindschaft orientierte sich im französischen Mittelalter am römischen Recht, das vom abendländischen Kulturkreis als bindendes Gesetz aufgenommen wurde und das auch dem kanonischen Recht als Grundlage diente: Danach wird das familiäre Leben autoritär-patriarchalisch durch das Familienoberhaupt, dem pater familias bestimmt, vgl. das kanonische Recht C 93 /1112. Die Frau steht danach in ihrem ganzen Leben unter der permanenten Vormundschaft entweder ihres Vaters oder ihres Mannes. Nur der Junggesellin oder Witwe kommt der Status eines Mannes gleich. D a s bedeutet, daß die Frau im Verhältnis zum Mann weit weniger Rechte hatte, z . B . durfte sie keinen Ehebruch begehen, konnte die Ehe nicht auflösen, auch nicht beim Ehebruch ihres Mannes, vgl. kanonisches Recht C 1110 («Le manage est un des sept sacrements permettant la sanctification des époux. Il est indissoluble et sacré. Le mariage est perpétuel, exclusif, sacramental»). In der Praxis des Lebens erwies sich dagegen, daß der Ehemann seine Ehefrau durchaus verstoßen konnte. - Es sollte hier vielleicht noch hinzugefügt werden, daß die Kirche im Mittelalter, die Rechtsvorschriften für den familiären Bereich herausgab, in den oberen Hierarchien nur von Männern geleitet wurde. Vgl. zum gesamten Fragenkomplex D . Liebs (1975) und N . B e n s a d o n (1980, 2 7 - 3 0 ) , wonach auch das kanonische Recht zitiert wurde.

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Die Ausübung einer teilweise brutalen Gewalt des Ehemannes über die Ehefrau entspricht denn auch den historischen Tatsachen: Die wichtigste und edelste Lebensregel jener Zeit bestand für die Frau darin, sich völlig und ohne Protest dem Willen des Mannes (Vaters) zu beugen. Die Frau war, den Sitten und Gesetzen jener Zeit entsprechend, seine Sklavin, Leibeigene - sein Eigentum 37 . Damit wird der eigentliche Konflikt schon bedeutet, nämlich, daß die Frau dem Manne zwar als Sache, als Körper, d. h. in einem äußeren Sinne gehörte, daß sie damit jedoch innerlich, d.h. geistig-seelisch nicht an ihn gebunden sein mußte. Die volle Verfügungsgewalt des Vaters oder der Eltern über die zu vermählende Tochter oder die zu vermählenden Kinder kommt in Deus Amanz, Milun, Epine, Le Vair Palefroi und Piramus et Tisbe zum Ausdruck, in denen Väter (Eltern) aus verschiedenen persönlichen (auch wirtschaftlichen 38 ) Gründen die unterschiedlichsten Maßnahmen treffen, um die Verbindung mit einem von ihnen nicht gebilligten Partner zu verhindern — die Wahl des Partners wird damit zur Familienangelegenheit. Es sollte hier auch angemerkt werden, daß Ehen im Mittelalter bekanntlich nicht aus Zuneigung geschlossen wurden, sondern übergeordneten, d.h. vaterrechtlichen Interessen unterzuordnen waren 39 . Auch hier wird über den Menschen als Sache verfügt; individuelle Interessen spielten für den Vater, der das Gesetz auf seiner Seite hatte, nicht die geringste Rolle. b) Manifestation eines aufgrund feudalrechtlicher Bestimmungen zu rechtfertigenden Anspruchs seitens einzelner Vertreter der feudalistischen Gesellschaft gegenüber einer Privatperson Hier handelt es sich um rechtmäßige Ansprüche, die sich aus der feudalistischen Gesellschaftsordnung ergeben. Die Rechte und Pflichten, die in diesen Lais in der Phase der Konfliktaktualisierung geltend gemacht werden, leiten sich aus der zwischen einem Vasallen und seinem Lehnsherrn eingegangenen Bund, d. h. dem geleisteten Treueeid ab40. So ist der Vasall dem Herrn gegenüber zu Gehorsam und Dienst (vor allem zum Waffendienst), der Feudalherr 37

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Vgl. A. Kollontai (1976, 4 6 - 5 0 ) . A.Kollontai behauptet sogar, daß die Macht des Vaters und Ehemannes in der Antike niemals solche grotesken Formen angenommen hatte, wie es im Mittelalter der Fall war (46). Das trifft für Le Vair Palefroi zu, wo ein Vater seine Tochter aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus dem Bewerber verweigert. Wie nicht nur bevormundet, sondern auch wie vollkommen rechtlos und unterdrückt die Töchter (so wie später die Ehefrauen) im Mittelalter waren, macht eine Stelle in Milun, vgl. vv. 55—62, besonders deutlich, wo ein Edelfräulein, das von seinem heimlichen Geliebten ein Kind erwartet, in Angst vor körperlicher Grausamkeit wie Folter und Versklavung schwebt. So leisteten die Königsvasallen ihren Treueeid in die Hand von Stadthaltern des Königs (missi dominici), während die den nächsten Rang bildenden belehnten Vasallen (vassi casati) ihn in die Hände von Kronvasallen (vavasseur) entgegennahmen. Das Zeremoniell der Kommendation, durch die das Lehnsverhältnis in Kraft trat, schrieb

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dem Vasallen gegenüber zur Gewährung von Schutz und Unterhalt verpflichtet. Der in den Lais postulierte, mit dem Feudalrecht zu rechtfertigende Anspruch vertritt gesellschaftliche, d . h . auch soziale und politische Interessen. Er wird von Angehörigen der verschiedensten Gruppen aus der feudalherrschaftlichen Hierarchie geäußert. So fordern — aus Gründen der Ordnungsstabilisierung und legalen Nachwuchsregelung — (Kron-)Vasallen von ihrem König, der ein Liebesverhältnis zu der Ehefrau seines Seneschalls unterhält, daß er sich rechtmäßig verheirate (Equitan), gleiches fordern Vasallen von ihrem im Konkubinat lebenden Lehnsherrn (Fresne). In einem anderen Fall ruft ein Lehnsherr seinen Lehnsmann, der wegen einer unrechtmäßigen Benachteiligung seinen Waffendienst einem anderen Herrn zur Verfügung gestellt hat, wieder in seine Dienste zurück (Eliduc). c) Manifestation eines aufgrund moralischer und ethischer Prinzipien gerechtfertigten Anspruchs In dieser Gruppe kommt in der Aktualisationsphase ein moralisch-ethischer Anspruch, der aus einem partnerschaftlichen Verhältnis (Liebesbund) abzuleiten ist, zur Geltung. Dieser Anspruch wird vom Liebes- bzw. Ehepartner nicht ausdrücklich geäußert, er ergibt sich jedoch aus dem Verlauf der sich nach ihm orientierenden weiteren Handlung. Bisclavret und Melion gehören mit zu dieser Gruppe, da auch Ritter, die ein anderes Wesen annehmen können, d . h . gutartige Zwitterwesen sind, einen (wenn auch unausgesprochenen, sich aber im Handlungsverlauf ergebenden) rechtmäßigen Anspruch auf ihre Ehefrau besitzen. Über die rein legalen Besitzrechte hinaus wären den Ehemännern auch aus moralischen und ethischen Gründen die Ehefrauen verpflichtet. Der Konflikt entzündet sich an den widerstreitenden moralischen und persönlichen (emotionalen) Interessen des Ehepartners 4 1 . In diesen beiden Lais kann moralisch sogar mit höfisch gleichgesetzt werden, da die höfische Gesellschaft (konkret: der König) den moralischen Anspruch durch positive Sanktionierungen einlösen wird. Aufgrund eines Anspruchs, der moralisch und ethisch aus dem intensiven Liebesverhältnis zu einem (überirdischen) Liebespartner zu rechtfertigen ist, kommt es in Lanval, Graalant, Désiré und Guingamor jeweils in dem Moment zu einem Konflikt, wo der Ritter wieder in die irdische Welt und ihren Bedingungen eintritt, so daß damit automatisch eine Gefahr für die emotionale Bindung und ihre besonderen Verpflichtungen besteht. In Lanval, Graalant und Guingamor leitet zwar die Königin (als Repräsentantin des Artushofs) aufgrund ihrer hierarchisch gefestigten Autorität und gesellschaftlichen

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vor, daß sich der Vasall mit gefalteten Händen in die Hände des Herrn begab und den Treueschwur leistete, während der Herr sich seinerseits zum Schutz verpflichtete. Vgl. dazu F.L. Ganshof (1961) und F. Lemarignier (1970). In Bisclavret lehnt die Ehefrau ihren Ehemann wegen seiner Werwolfsnatur ab und wendet sich einem anderen Freier zu; in Melion geht die Ehefrau aus unbekannten Gründen in ihre Heimat zurück.

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Stellung einen persönlichen Anspruch auf den Ritter ab 42 , demgegenüber besitzt jedoch die Fee aufgrund eines aus dem Liebesverhältnis begründeten Ethos ein - wie sich später herausstellen wird - ganz eindeutiges Recht auf die Erfüllung der Bedingung, die sie dem Geliebten stellt. Obwohl sich moralische und emotionale Komponenten in der Person des Ritters vereinen, werden sie durch die Provokation einer die irdische, höfische Gesellschaft negativ repräsentierenden Figur getrennt, so daß das geforderte moralische Verhalten (ein Versprechen zu halten) nicht eingelöst und die emotionale Bindung beeinträchtigt wird. In Désiré und Guingamor stellt im Unterschied zu den anderen Lais der Protagonist sich selbst eine Forderung. In Désiré besteht ein aus christlicher Erziehung resultierendes Bedürfnis, das Liebesverhältnis zu einem überirdischen Wesen zu beichten, womit automatisch die Liebesbeziehung diskriminiert und der Partner verletzt ist. In Guigamor entsteht der Konflikt durch das für einen höfischen Ritter idealtypische Verlangen, der Welt, die ihn im ritterlich-höfischen Sinne erzogen hat, eine bestandene aventure zu melden und damit seine Bewährung zu beweisen. Dieser Anspruch, der aus der christlichen Moral bzw. aus höfisch geprägten Gesellschaftsnormen abgeleitet ist, gerät jeweils in Kollision mit der emotionalen Bindung. Die an christlichen und höfischen Verhaltensnormen ausgerichtete Forderung an sich selbst zieht eine in anderen Lais nicht vorkommende selbstgewählte und damit selbstzuverantwortende Reintegration in die normierte Welt nach sich, die der überirdisch-emotionalen entgegensteht 43 . In Chaitivel wird der Anspruch, der ein ethisches Prinzip verkörpert, im Unterschied zu allen anderen Lais weder vom Antagonisten noch vom Protagonisten selbst, sondern in Form einer schicksalsmäßigen Fügung erhoben: Bei einem Turnier fallen drei von vier Rittern, die die gleiche Dame verehren, im Kampf. Dieser Zufall tritt mit der Forderung an die Dame, dem vierten Ritter ihre Liebe zu schenken. Das widerspricht jedoch ihrem emotionalen Interesse, denn ihre Liebe gilt allen vier Rittern gleichermaßen; ihr wahrer Charakter offenbart sich. Eliduc, dessen Konflikt einmal aktualisiert wird durch den (unausgesprochenen) Anspruch seiner Ehefrau auf ihn (seine Treue), zum anderen durch den von Boten überbrachten Anspruch seines Lehnsherrn auf seine Kriegs42

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Vgl. hierzu insbesondere Guingamor, vv.95—98, wo der Ritter diese Pflicht der Königin gegenüber auch eingesteht: «Bien sai, dame, q'amer vos doi, / famé estes mon seignor le roi, / et si vos doi porter honnor / conme a la famé mon seignor». Die Nichteinhaltung der Gebote bzw. die Verletzung der überirdischen Welt zieht fühlbare Sanktionen von Seiten des nun zum Gegner gewordenen Liebhabers nach sich. Dieser Partner-Antagonismus ist aber nur ein vorübergehender, da mit ihm, das heißt mit der Gegenüberstellung zweier Welten, unterschiedliche Ziele verfolgt werden. So wird die christlich-moralische Welt in Désiré von der überirdischen so abgehoben, daß die andere Welt fremd und unheimlich erscheint, so daß sie erst christlich und höfisch gemacht werden muß. Andererseits kann die höfische Welt bereits überholt, das heißt verfallen sein, so daß die überirdische Welt sich als letzte Rettung anbietet (Guingamor).

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dienste, zählt ebenfalls zu dieser Gruppe, da der Ritter —ähnlich wie in Désiré und Guingamor - einen Anspruch gegenüber sich selbst empfindet und die emotionalen Wünsche zugunsten der von Ehe- und Vasallenmoral geprägten (Über-Ich-)Prinzipien verdrängt. In Eliduc — sowie in Désiré und Guingamor - ist die Dualität von Emotionalität und moralischer Verpflichtung durch die starke Ausprägung eines moralischen Bewußtseins nicht aufgehoben; die innere Spaltung des Ritters kann durch seine Pflichterfüllung nicht ausgeglichen werden. In allen hier genannten Lais ist ein Protagonist seiner moralischen Verpflichtung gegenüber dem (Liebes- oder Ehe-)Partner aufgrund charakterlicher Veranlagung 44 , eines zeitweilig charakterlichen Versagens 45 bzw. aufgrund anderweitiger emotionaler Interessen 46 nicht gewachsen. d) Manifestation eines aufgrund wirtschaftlicher Prinzipien gerechtfertigten Anspruchs In Amours (von dem unbekannt gebliebenen GIRARZ) und Le Vair Palefroi (von HUON LE ROI) wird die Handlung durch einen Anspruch aktualisiert, der sich aus merkantilen Organisationsformen mit daraus resultierenden Denkweisen ergibt 47 . So muß in Amours ein 'hochgestellter' Herr, der wohlhabend und gebildet, nicht aber höfisch ist, seine geliebte Dame in einem entlegenen Land (in dem er vermutlich Handel getrieben hat) zurücklassen, um zu Hause wieder seinen Geschäften nachgehen zu können. In Le Vair Palefroi, einem Lai mit völlig anders gelagerter Problematik und eindeutig «höfischer Exemplarität» 48 entzündet sich der Konflikt an einem Anspruch, der aus wirtschaftlichen und finanziellen Überlegungen resultiert 49 : Ein Vater weist den Freier seiner Tochter ab, da dieser nicht finanzkräftig genug ist 50 . e) Manifestation eines aufgrund höfischer Denk- und Lebensart gerechtfertigten Anspruchs In diese Gruppe gehören so verschiedene Erzählungen wie Aristote, Conseil, Ombre, Oiselet, Tydorel und Narcisus. In allen wird in der Aktualisationsphase ein Anspruch geltend gemacht, der sich am Höfischen als einer der For44

So in Bisclavret, Melion, Désiré, Guingamor und Chaitivel.

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So in Lan val und Graalant.

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So in Chaitivel, Bisclavret und Eliduc. Nicht umsonst setzt G. Gröber (1902) im Vergleich zu allen anderen Lais die Entstehungszeit von Amours erst für das 2. Viertel des 13. Jahrhunderts an. G. Gröber hat nach G. Paris (1878, 408), der den Lai bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts datiert, den letzten Versuch einer Datierung aller Lais vorgenommen.

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H . B a a d e r (1966, 314). L e Vair Palefroi von Huon le Roi ist ebenfalls erst im 13. Jahrhundert entstanden, vgl. A . Lângfors (1970). Vgl. L e Vair Palefroi, v. 320: «un chevalier qui vit de proie». Im übrigen trifft für diesen Lai auch zu, was zur Gruppe 1 gesagt wurde.

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men des sozialen und gesellschaftlichen Lebens mit den daraus resultierenden höfischen Denk- und Verhaltensformen ergibt. Allen diesen Erzählungen ist eine sich am Unhöfischen entzündende Problematik gemeinsam. So wird der leidenschaftlich verliebte Alexander durch den von Aristoteles 51 vorgebrachten Vorwurf, er vernachlässige seine höfischen Pflichten 52 , in Konflikt mit seinen emotionalen Wünschen 53 gebracht 54 . In Conseil muß sich eine in höfischen Herzensangelegenheiten wenig versierte D a m e mit der höfischen Liebe und den höfischen Qualitäten ihrer Freier (und ihres auszuwählenden Liebhabers) auseinandersetzen. In Ombre hat ein Ritter, der in eine exemplarisch höfische Dame verliebt ist, mit dem unbeugsamen Stolz der Geliebten zu kämpfen. In Oiselet kristallisiert sich der Konflikt an dem Eindringen des Unhöfischen (vilain) in die Welt, den Garten des Höfischen. Dieser wird von einem Vogel, einem weisen Repräsentanten einer glanzvollen höfischen Vergangenheit, verteidigt. Es bleibe vorläufig dahingestellt, ob in den vorgenannten Erzählungen die aus der höfischen Denkart abgeleitete Forderung an eine Privatperson positiv oder negativ sanktioniert wird, d.h. ob das Höfische durch den Ausgang der Handlung positiv oder negativ bewertet ist. Nicht ausdrücklich höfische Ansprüche, jedoch solche, die aus einer Gesinnung stammen, die keine Abnormalitäten und Besonderheiten der menschlichen Natur duldet und durch Einbettung in die zeitgenössische Gesellschaft letztlich doch Idealhöfisches widerspiegeln, werden in Tydorel und Narcisus exemplifiziert. D i e Orientierung an der Norm weist Tydorel aufgrund seiner Abstammung aus einer Verbindung zwischen einer höfischen Dame und ei51

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Die Gelehrtheit und Allwissenheit des Aristoteles wird betont und damit das Recht bekräftigt, Alexander die höfischen Pflichten vorzuhalten. Vgl. Aristote, S.248, wo Aristoteles Alexander vorwirft, daß er wegen der Liebe zu einem fremdländischen Mädchen seinen Verpflichtungen gegenüber den «barons de vo roiame» nicht nachkommt: «C'on Ii atornoit ä grant honte / De ce qu'en tel point se demaine / Que toute entiere la semaine / Est avoec s'amie et arreste, / Qu'il ne fet ne solaz ne feste / A sa chevalerie toute». Diese Vorwürfe wiederholt Alexander gegenüber seiner Geliebten, vgl. S. 250-251: «Mi Chevalier et mi baron/Me blasmoient trop durement ...». Es fällt auf, daß in diesem Lai der Gegensatz von Liebe und Vernunft besonders betont wird, vgl. S. 246-247, so daß sich ständig semantische Gegensatzpaare von Emotionalität («folie», «volentez», «sentir») und Verstand («raison», «mesure») ergeben, vgl. S. 246-251. Nicht zufällig besteht hier eine gewisse Parallele zur Historie: Aristoteles hat seinem einstigen Zögling, dem jugendlichen Alexander, vor seinem Aufbruch nach Indien den Rat gegeben, für die Griechen wie für seine Freunde zu sorgen, die Barbaren wie Haustiere oder Nutzpflanzen zu gebrauchen. Diesem Rat des Aristoteles liegt die Auffassung zugrunde, daß die ganze Menschheit in zwei Klassen zerfällt, in Griechen und Nichtgriechen. Alexander hat bekanntlich diesen Rat nicht befolgt, sondern und darin zeigt sich seine völlige innere Selbständigkeit gegenüber seinem Lehrer — gerade im entgegengesetzten Sinne gehandelt. Alexander hat die Zweiteilung der Menschen verworfen und hat die Völker versöhnen wollen, indem er «wie in einem Mischkrug der Freundschaft die Lebensweisen, die Charaktere, die Ehebündnisse und Lebensgewohnheiten mischte ...», vgl. E. Meyer (1925). 62

nem überirdischen Ritter und seiner daraus resultierenden Abnormalität (Schlaflosigkeit) aus der normalen Gesellschaft zunächst unausgesprochen aus. Konkret ausgesprochen wird dieser Anspruch durch Offenlegung der Wahrheit — bezeichnenderweise aus dem Munde des Volkes 55 , dann auch durch die Königin-Mutter. Rückzug aus der Gesellschaft und Suche des 'Vaterlands' sind unweigerliche Reaktionen auf eine empfundene Nicht-Konformität. Ebenso steht in Narcisus die Forderung eines normalen (höfischen) Verhaltens (Liebe zu Daphne) in Kontrast zur abnormen Liebe, der Eigenliebe. Konkret ausgesprochen wird dieser Anspruch durch das Liebesgeständnis der Verehrerin von Narcisus (Daphne) und durch das unendliche Leid der beiden so unterschiedlich Liebenden. Die beiden vorgenannten Erzählungen unterscheiden sich insofern, als in Tydorel die besondere menschliche Natur von der normalen Gesellschaft abgehoben wird, in Narcisus das Leid und sämtliche tragische Komponenten stärker betont werden. Wenn die Berechtigung oder Rechtmäßigkeit des Anspruchs offensichtlich geworden ist, wäre nun weiter zu fragen, auf welche Weise dieser Anspruch artikuliert wird, daß sich der in der Motivationsphase angelegte Konflikt kristallisiert. Die konfliktträchtigen Manifestationen werden in der Regel deutlich gemacht durch explizite Äußerungen, d.h. entweder faktisch anhand von konkreten Maßnahmen 56 oder nichtfaktisch ohne besondere Maßnahmen 57 . Ein rechtmäßiger Anspruch braucht nicht unbedingt artikuliert zu werden, d.h. er kann unausgesprochen bleiben und sich erst im weiteren Verlauf der Handlung als rechtmäßig erweisen 58 . In einem solchen Fall wird der Konflikt aktualisiert durch die Offenbarung einer Wahrheit, durch die die Prot-

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Vgl. Tydorel, w . 289—290 und besonders das Geständnis vv. 325—330, das die Meinung des Volkes wiedergibt. Z . B . in Guigemar (Verbannung des Geliebten), Yonec (Töten des Geliebten), Lanval (Liebesangebot der Königin), D e u s Amanz (Stellen von Bedingungen), Laüstic (Töten der Nachtigall), Milun (Verheiratung der Tochter), Eliduc (Aufforderung des Lehnsherrn), Cor/Mantel (Treueprobe), Graalant (Aufforderung der Königin), Epervier (Nachstellen der Ehefrau), Epine (Verbot), Melion (Forderung der Ehefrau), Nabaret (Angriff des Ehemannes), Oiselet (unhöfisches Verhalten in einem höfischen Garten), Le Vair Palefroi (Stellen einer Bedingung), Piramus et Tisbe (Einschließen der Kinder).

57

Z . B . in Chievrefoil, wo ein Anspruch aufgrund der königlichen Autorität des Ehemannes besteht oder auch in Equitan und Fresne, w o der König bzw. ein Lehnsherr gebeten wird, sich eine rechtmäßige Frau zu nehmen.

58

Z . B . in Bisclavret, w o die Ehefrau gegenüber der Werwolfsnatur ihres Mannes versagt und dafür bestraft wird; in Chaitivel, w o eine höfische Dame der Liebe zu einem einzigen Ritter nicht gerecht wird, worunter beide leiden - sie, weil sie die anderen drei Ritter nicht mehr besitzt, er, weil er die D a m e nicht zur Geliebten bekommt; in Narcisus, w o Eigenliebe die Liebe zu einem Mädchen verhindert, woran beide zugrunde gehen; Ombre, wo ein verliebter Ritter Ansprüche auf eine höfische D a m e erhebt, die sich erst später — als er sich als höfisch-galant erweist - als gerechtfertigt herausstellen.

63

agonisten in eine Grenzsituation geraten, in der sie sich ausweisen müssen 59 . In wenigen Fällen erheben Protagonisten einen berechtigten Anspruch auch gegenüber sich selbst, und zwar immer dann, wenn ein Individuum aus moralischen Gründen bzw. wegen seiner sozialen Stellung60 oder christlich-höfischen Prägung 61 eine wie von innerer Stimme diktierte Verpflichtung verspürt — diese wiederum kann kombiniert sein mit einer expliziten Postulierung 62 . Die Art und Weise der Manifestationen kann also mehr oder weniger eindringlich sein. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht von der an sich selbst gestellten (über moralische bzw. gesellschaftliche Normen vermittelten) Forderung 63 über unausgesprochen gebliebene Forderungen 64 , verbale Äußerungen65 sowie Forderungen, die sich durch schicksalsmäßige Fügungen 66 oder die besondere Natur eines Menschen 67 ergeben bis hin zu drastischen Maßnahmen 68 . Festzuhalten bleibt dennoch, daß die in der Motivationsphase untergründig schwelende Krise nicht von einem Impuls entfacht wird, der einen abrupten Einbruch seitens eines exemplarischen Antagonisten darstellt, den das Böse motiviert. Die Krise wahrt selbst in ihrer Eclat-Funktion Kontinuität und ist — selbst wenn keine Vorahnung, Prophezeiung oder Ermahnung auf sie vorausweist — durch die spezifische Personenkonstellation vorbereitet 69 . Nur durch die Postulierung der (homogen) in die Motivationsphase eingearbeiteten rechtlichen Gegebenheiten wird ein latent ruhender Konflikt zu einem offenen Problem aktualisiert.

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In Bisclavret entlockt die Frau dem Mann das Geheimnis seiner Natur; in Chaitivel wird die Wahrheit (Liebe zu vier Rittern) durch eine Fügung (Tod der drei Ritter) offenbar. In Narcisus wird die Eigenliebe durch das Spiegelbild im Wasser erkannt. Auch Tydorel gehört zu dieser Gruppe, da der Konflikt aktualisiert wird in dem Moment, wo der Protagonist die Wahrheit über sein Wesen erfährt. Z.B. in Amours, wo ein Geschäftsmann seine Geliebte aus beruflichen Gründen verlassen muß. Z.B. in Désiré und Guingamor, wo eine Forderung aus einem an sich selbst gestellten Anspruch besteht. Einmal entspringt dieser Anspruch einem christlich und höfisch geprägten Bewußtsein, ein andermal dem inneren Zwang, ein ritterliches Abenteuer bestehen zu müssen. Für Conseil gilt gleiches: Der Anspruch, höfisch zu lieben und einen höfischen Liebhaber zu besitzen, kommt aus dem Protagonisten selber. Trotz des von der Königin geäußerten Anspruchs fühlt sich Lanval seiner Fee, trotz seiner Liebe zur Königstochter fühlt sich Eliduc seiner Frau, trotz ihrer Liebe zum Freund fühlt sich die Königstochter in Deus Amanz ihrem Vater verpflichtet. Désiré, Guingamor, Conseil, Lanval, Eliduc, Deus Amanz. Bisclavret, Chaitivel, Narcisus, Chievrefoil. Equitan, Fresne, Deus Amanz. Chaitivel. Bisclavret, Narcisus, Tydorel. Guigemar, Yonec, Laüstic, Epine, Piramus et Tisbé. Die einzige Ausnahme bildet — wie gesagt - Melion, vgl. S. 55/56.

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2. Die Dynamisierung von Widersprüchen Tiefenstrukturell ist die Art und Weise der Manifestation nicht von Bedeutung. Entscheidend für die Konstitutionsebene der Handlung und damit für die funktionale Handlungsaktualisation sind die kontradiktorischen Oppositionen, die dabei bloßgelegt werden: Die Manifestation des rechtlichen Anspruchs aktualisiert innerhalb eines Systems Widersprüche, die zu den elementaren Voraussetzungen für den Ablauf des narrativen Konflikts gehören. Mit anderen Worten: Die rechtmäßigen oder anderweitig berechtigten Ansprüche wirken sich — unter der Bedingung, daß sie manifest werden - antagonistisch aus, da diese auf verschiedene Weise zu vertretenden Ansprüche mit den persönlichen Interessen einer einzelnen Person kollidieren. Das von Recht, Pflicht, Verpflichtung, Gesellschaftsordnung, Gesetz, Norm, Moral oder innerem Gewissen geforderte Individuum ist seiner subjektiven Bedingtheit bzw. seinen emotionalen Interessen verhaftet, so daß eine Opposition entsteht: eine von außen aufgetragene, gesellschaftlichen Normen unterworfene Pflichterfüllung (ein Sollen) steht einem der individuellen Veranlagung bzw. einem dem individuellen Begehren unterliegenden Gebundensein (einem Wollen) gegenüber. Erst mit der sich manifestierenden Rechtmäßigkeit entwickelt sich ein offener Gegensatz und damit auch das die (nachfolgende) Handlung konstituierende Prinzip des dynamisierten Widerspruchs, des Antagonismus von Wollen und Sollen - von Werten, die mit individuellen bzw. gesellschaftlichen Maßstäben gemessen werden. Bis auf wenige Ausnahmefälle 7 0 wird der Anspruch von klassifizierbaren Handlungsträgern postuliert, die auf der Seite des Rechts stehen und das Sollen (eine gesellschaftliche, moralisch-ethische Pflicht oder Verpflichtung) repräsentieren. Sie stoßen auf den offenen oder inneren Widerstand des Personenkreises, der das Wollen (ein subjektives Bedingtsein) vertritt. Die aktualisierten Widersprüche lassen sich daher am deutlichsten an den spezifischen Personenbezügen ablesen, die allerdings nicht notwendigerweise einen offenen, drastischen Antagonismus erkennen lassen müssen. Es handelt sich vielmehr um gegnerische Positionen, die sich in einem Spannungsfeld strukturieren, ohne daß die widerstreitenden Interessen ihre Gegensätze offen austragen 71 . Im einzelnen ergibt sich folgendes Bild:

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Dies sind Chaitivel (eine schicksalhafte Fügung), Narcisus (Normalität der Gesellschaft), Tydorel (Normalität der Gesellschaft), Amours (Ökonomische Interessen), Désiré (christlich-höfisch geprägtes Bewußtsein), Guingamor (höfisch-ritterliches Denken). Man denke z . B . an Fresne, Milun, Eliduc usw., wo einem Sollen (zunächst) widerstandslos entsprochen wird.

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Handlungsträger bzw. andere Erscheinungsformen, die das Sollen repräsentieren:

Handlungsträger, die das Wollen repräsentieren:

Ehemann

Ehefrau

Z.B. Eifersüchtige Ehemänner üben ihr eheliches Besitzrecht auf die Ehefrau aus. Sie stoßen auf den inneren Widerstand der Ehefrauen, die einen Anspruch auf ihr persönliches Glück erheben (Guigemar, Yonec, Laüstic, Epervier). Einem Ehemann von gutartiger Werwolfsnatur ist die Ehefrau zur Treue verpflichtet. Da die Gefühle der Ehefrau gegenüber ihrem Werwolfsmann versagen, erhebt sie Anspruch auf anderweitig zu befriedigendes emotionales Glück (Bisclavret). Eltern

Kinder

Eltern, vor allem Väter, verfügen über ihre Kinder. Diese erheben Anspruch auf ihr persönliches, emotionales Glück (Deus Amanz, Milun, Le Vair Palefroi, Epine, Piramus et Tisbe). König

Königin

Ein König hat als amtliche und eheliche Autorität ein Recht auf seine Ehefrau. Diese erhebt Anspruch auf ihr persönliches, emotionales Glück (Chievrefoil). Ehefrau

Ehemann

Die Ehefrau hat (rein rechtlich) einen Anspruch auf ihren Ehemann. Dieser erhebt Anspruch auf sein persönliches, emotionales Glück (Eliduc). Untergebene

König

Untergebene (la gent) haben ein Recht auf die standesgemäße Verheiratung ihres Regenten. Dieser erhebt einen Anspruch auf sein persönliches, emotionales Glück (Equitan). Vasallen

Lehnsherr

Vasallen haben einen Anspruch auf die rechtmäßige Ehe ihres Lehnsherrn. Dieser würde lieber seinem persönlichen, emotionalen Glück nachgehen (Fresne). Lehnsherr

Vasall

Der Lehnsherr kann von seinem Vasallen Kriegsdienst verlangen. Trotz Pflichterfüllung erhebt dieser Anspruch auf sein persönliches, emotionales Glück (Eliduc). 66

Ritter

Fee

Die Fee als Geliebte oder Ehefrau kann von ihrem Freund oder Ehemann verlangen, daß dieser die Auflagen beachtet, die sich aus dem Liebesoder Eheverhältnis ergeben. Dieser identifiziert sich zwar mit diesem Wunsch, unterliegt aber einer zeitweisen Schwäche oder seinem noch irdisch geprägten Bewußtsein — beides resultiert aus einer (direkten bzw. indirekten) Herausforderung von Seiten der irdisch-höfischen Welt (Lanval, Graalant, Désiré, Guingamor). Artus' Gemahlin

Ritter

Artus' Gemahlin erhebt kraft ihrer Autorität als Königin einen persönlichen Anspruch auf den Ritter. Dieser erhebt Anspruch auf sein eigenes, emotionales Glück (Lanval, Graalant). Ritter

Dame

Hier wird eine Forderung an eine höfische Dame (sich für einen von vier Rittern zu entscheiden) durch eine schicksalhafte Fügung (Tod) vermittelt. Personifiziert wird diese Forderung durch den Ritter, der die drei anderen überlebt und einen Anspruch auf die Liebe der Dame erhebt. Diese beharrt hingegen weiterhin auf ihrem ganz persönlichen Interesse, nämlich alle vier Ritter gleichermaßen zu lieben (Chaitivel). Vogel

Bürger

Ein Vogel erhebt den Anspruch auf Bewahrung des Höfischen, indem er das Unhöfische (in Person eines reichen Bürgers) verwünscht. Dieser hingegen erhebt einen Anspruch auf das Höfische, um es sich nutzbar zu machen. Aristoteles

Alexander

Als sein Lehrer unterweist Aristoteles seinen Schüler Alexander in den (höfischen) Pflichten. Alexander erhebt Anspruch auf sein privates, emotionales Glück (Aristote). Höfischer Ritter

Dame

Ein höfisch erzogener Ritter weist eine Dame in die höfische Denkart ein. Die D a m e erhebt Anspruch auf höfische Lebensart und einen höfischen Liebhaber (Conseil). Höfische Dame

Ritter

Eine höfische D a m e ist höfischer Denkart und höfischem Stolz verpflichtet, deshalb verweigert sie ihre Liebe dem Bewerber. Dieser erhebt Anspruch auf die Liebe der D a m e (Ombre). 67

Daphné

Narcisus

Die Forderung an Narcisus (Normalität) wird durch die Negativzeichnung seines Verhaltens dargestellt. Personifiziert wird diese Forderung durch Daphne, die Narcisus ihre Liebe anbietet. Narcisus erhebt Anspruch auf seine Abnormalität (Narcisus). (Normale) Gesellschaft

Zwitterwesen

Der Anspruch der Gesellschaft, normal zu sein, wird durch Negativzeichnung eines abnormalen Verhaltens dargestellt. Artikuliert wird der Anspruch auf normales Menschsein durch die Stimme des Volkes. Der Betroffene erhebt Anspruch auf seine Abnormalität (Tydorel). Geschäftsmann

Privatmann

Wirtschaftlich-berufliche Interessen erfordern die Rückkehr eines haut komme in sein Land. Dieser erhebt Anspruch auf die Liebe zu einer Dame in dem entfernten Land (Amours). Das Sollen wird, wie die Übersicht zeigt, von Angehörigen verschiedener Personengruppen, von verschiedenen Kategorien von Menschen und Phänomenen repräsentiert. Dem breiten Spektrum der Erscheinungsformen, die die Modalität des Sollens vertreten, liegt ein gemeinsames Prinzip zugrunde, nämlich die Fähigkeit, einen rechtlichen, moralischen, ethischen oder an Gewohnheitsrechten und Gesetzen abgesicherten Anspruch auf ein Individuum und seine Existenz erheben zu können. Aufgrund der ebenso breiten Fächerung des Personenkreises, der das Wollen repräsentiert, kann ausgeschlossen werden, daß in den Lais eine bestimmte Gesellschaftsgruppe, ein bestimmter Personenkreis oder bestimmte Erscheinungsformen des Lebens einseitig hervorgehoben werden sollen. Man braucht sich nur vor Augen zu führen, daß der König und die Königin in Lanval ein sehr korrekturbedürftiges, der König in Bisclavret dagegen ein vorbildliches Verhalten zeigen und der König in Chievrefoil als eheliche und amtliche Autorität ganz im Hintergrund bleibt. Die Ehefrau in Bisclavret handelt böse, die in Eliduc edel und vorbildlich. In Equitan stellen Vasallen eine Forderung an ihren König, in Fresne Vasallen an ihren Lehnsherrn und in Eliduc der Lehnsherr an seinen Vasallen. Auf die Gesamtheit der Lais bezogen geht es also nicht um die Bewertung von Gesellschaftsgruppen des höfischen Umkreises, sondern allein um die Auseinandersetzung zwischen Sollen und Wollen, Rechtlichem und Privatem, d.h. um den Antagonismus von (gesellschaftlicher, moralischer, ethischer) Pflicht oder Verpflichtung und individuellem Wunsch und Begehr. Auf der Ebene der klassifizierbaren Handlungsträger wird die logische Kontradiktion über die Modalitäten des Wollens und Sollens, die sich in der Folge des narrativen Prozesses miteinander auseinanderzusetzen haben, zu einem offenen Konflikt dynamisiert. Bezeichnend für die Lais im allgemeinen 68

und für die der Marie de France im besonderen, ist die Tatsache, daß die logische Kontradiktion zwar über die Modalität des Wollens zu einem Konflikt gebracht wird (vgl. die für die Motivation der Handlung ausschlaggebende Mangelsituation), daß jedoch der Konflikt durch die Postulierung des Sollens überhaupt erst aktualisiert wird. Erst mit dieser im weitesten Sinne von außen kommenden Initiative 72 treten die beiden spezifischen kontradiktorischen Positionen offen zutage. Ohne diese Initiative würden die Handlungsträger, die auf der Seite des Wollens stehen, ihre individuellen Anliegen für sich bewahren und versuchen, mit einem unausgetragenen Konflikt weiterzuleben. Mit anderen Worten: Die Wollenden sind auf die Impulse des Sollens angewiesen, um sich mit ihnen (d.h. auch mit sich selbst) auseinanderzusetzen und um ihr Wollen gegebenenfalls durchzusetzen. Die von der Kritik häufig konstatierte Passivität der Protagonisten 7 3 in den Lais stellt sich von der Analyse der Handlungsstruktur her in anderem Licht dar: Nicht alle Protagonisten sind pauschal als passiv zu klassifizieren. Vielmehr sind sie — wenn auch nicht zurückzuhaltend mit dem Eingeständnis des subjektiven Wunsches - so doch zurückhaltend mit dessen Geständnis und der Durchsetzung der eigenen Interessen. Erst auf den Impuls von außen hin entwickeln sie teilweise sogar beträchtliche Aktivitäten. Ihre anfängliche Zurückhaltung mag damit zusammenzuhängen, daß die Offenlegung des individuellen Wunsches mit Sicherheit negative Folgen für ihr relatives Glück gehabt hätte. Die Manifestation des rechtlichen Anspruchs bedeutet somit implizit eine Herausforderung zur Durchsetzung des individuellen Wunsches, das heißt auch, daß die Lais die menschliche Existenz problematisieren, indem sie explizite oder implizite Rechts- und Verhaltensnormen zu bestimmenden Faktoren des individuellen Handelns und Reagierens werden lassen.

72

Dies können z . B . auch Schicksalsschläge, die Eigenart der menschlichen Natur, das gesellschaftlich geprägte Gewissen, Phänomene gesellschaftlichen oder höfischen Geistes sein, müssen also nicht unbedingt von einzelnen Vertretern der Gesellschaft artikuliert werden. - Auch in Bisclavret, wo es zunächst so scheinen mag, als löste die Ehefrau selbst den Konflikt aus, ist für die Zuspitzung der Krise nicht das Drängen der Ehefrau ausschlaggebend, sondern die Wahrheit, die sie erfährt. Die Natur des Ehemannes mußte sich erst offenbaren, um als von außen (d. h. der Natur) kommende Initiative empfunden und als Verpflichtung gegenüber einer einzelnen Person wirksam zu werden. D a s Strukturprinzip von Bisclavret entspricht somit dem der anderen Lais. - Obwohl in Guingamor und Désiré der Konflikt durch die selbst gewählte Reintegration in die höfische Welt ausgelöst wird, kommt der Impuls dazu aus einem höfisch bzw. christlich geprägten Bewußtsein, einer von außen kommenden, jedoch verinnerlichten Forderung. Nicht zuletzt widerspricht diese wie von einer inneren Stimme diktierte Forderung letztlich den emotionalen Interessen der Protagonisten und ihrer Liebespartner. - Eine interessante Variation ist Chievrefoil, wo der Anspruch von außen (dem Ehemann und König) schon zu Beginn der Erzählung manifest ist und die konfliktträchtige Konstellation den Ausgangspunkt für die dargestellte Liebesszene bildet.

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Vgl. zusammenfassend J.Payen (1975, 50) und P. Ménard (1979, lOOff.).

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Auf welche Weise sich der handlungskonstituierende Gegensatz von Wollen und Sollen im Text zeigt, kann wie folgt abstrahiert werden: -

Wollen äußert sich als Wunsch, Verlangen, Begehren, Lust, Sehnsucht oder andere reine Gefühlskundgebungen eines Individuums74. - Wollen kann sich in irrationales, absolutes Gefühl steigern 75 . - Wollen kann mit Begriffen wie raison, devoir, dreit, conseil verbunden werden und bekommt dadurch den Anstrich von etwas Vernunft- bzw. Rechtmäßigem 76 . - Wollen orientiert sich am Sollen 77 . Wenn man das Wollen in den einzelnen Lais miteinander vergleicht, zeigt sich, daß die Protagonisten der Marieschen Lais zwar mit dem Sollen ringen, sich mit ihm auseinandersetzen, den Anspruch aber wegen der stärker ausgeprägten Emotionalität nicht erfüllen können. Die Protagonisten aus anderen Lais haben den rechtmäßigen Anspruch teilweise bereits verinnerlicht oder streben ohnehin eine Identifizierung mit ihm an. Diese Lais vertreten denn auch eine mehr oder weniger idealhöfische Ideologie. -

Sollen kann die Macht desjenigen ausdrücken, der den rechtmäßigen Anspruch vertritt78. - Sollen kann als rechtmäßiger Anspruch (bzw. als Wunsch) artikuliert werden und mit einer bestimmten Auflage verbunden sein 79 . - Sollen kann ausschließlich (oder zusätzlich) durch die (mißbilligende) Haltung der Umwelt zum Ausdruck kommen 80 . 74

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Vgl. Guigemar, w . 627-628; vv.644-680; Fresne, w . 307-308; Deus Amanz, vv.63ff.; v.72; Yonec, v.219; v.268; Equitan, vv. 197-198; vv.222-224; Chievrefoil, w . 2 3 - 2 4 ; Aristote, S.250; Amours, w . 190-191, w . 2 0 0 - 2 0 1 ; w . 2 0 8 - 2 0 9 ; w . 2 0 4 - 2 0 5 ; Narcisus, v.468; Milun, v.138. Vgl. Epine, w . 2 2 3 - 2 2 4 ; Chievrefoil, v v . 7 7 - 7 8 ; Narcisus, w . 3 4 2 - 3 4 3 ; w . 5 8 3 - 5 8 4 ; v.871. Vgl. Aristote, S.247; S.248; S.249; Epervier, w . 7 8 - 8 0 ; v v . 8 5 - 9 1 . Gleiches gilt für ein Wollen, das sich in vorbildlichem Verhalten ausdrückt: Melion, v. 165; Fresne. Vgl. Equitan, Eliduc, Désiré, Guingamor, Conseil, w.34—39; v v . 4 1 - 4 2 ; Ombre, w . 186-189; w . 132-133; vv.371-373; Tyolet, vv.217-218; w.258-260; vv. 301-306. Vgl. Guigemar, v.610; Yonec, vv.228-252; v.274; Milun, vv.59ff. (Das Sollen wird hier in den Gedanken des Betroffenen mit Begriffen wie Macht, Gerechtigkeit und sogar Qual verbunden, jedoch nicht in dieser Weise ausgeübt.) Macht wird aber auch durch eine Tat ausgedrückt, vgl. Milun, v. 124: «Sis peres Ii duna barun»; drastischer noch in Laüstic (Töten der Nachtigall durch den brutalen Ehemann) und Epine (körperliche Bestrafung und Trennung) vgl. Epine, vv. 103-106; vv. 107-110. Vgl. Fresne, vv. 313—318 und folgende: «Lungement ot od Ii esté, / Tant que Ii chevalier fiufé / A mut grant mal li aturnèrent. / Soventefeiz a lui parlèrent / Qu'une gentil femme espusast / E de cele se delivrast» bzw. Deus Amanz, vv.40—45: «E luinz e près manda e dist, / Ki sa fille vodreit aveir / Une chose seüst de veir: / Sortit esteit e destiné, / Desur le munt fors la cité / Entre ses braz la portereit» bzw. Melion, vv. 146-148 u . a . Vgl. Equitan, v. 210: «La gent le tindrent mut a mal»; Fresne, w . 314-315: «Tant que li chevalier fiufé / A mut grant mal li aturnèrent.» Deus Amanz, v v . 3 3 - 3 4 : «Plusur

70

— S o l l e n kann als R a t , B e l e h r u n g , U n t e r w e i s u n g , unter U m s t ä n d e n auch als Vorwurf artikuliert w e r d e n 8 1 . — Sollen kann als wirtschaftliche-berufliche N o t w e n d i g k e i t

dargestellt

werden 8 2 . — S o l l e n braucht nicht als A n s p r u c h v o n a u ß e n e r h o b e n , s o n d e r n kann v o m E i n z e l n e n selbst e m p f u n d e n werden 8 3 . — S o l l e n wird v o m E i n z e l n e n als N i c h t w o l l e n bzw. N i c h t k ö n n e n e m p f u n den 8 4 . — S o l l e n wird ins N e g a t i v e g e w e n d e t durch die M ö g l i c h k e i t , das V e r b o t e n e tun zu k ö n n e n 8 5 bzw. tun zu müssen 8 6 . ( W o l l e n b e k o m m t dadurch automatisch e i n e n positiven A n s t r i c h . )

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a mal Ii aturnèrent, / Li suen meisme le blâmèrent»; Aristote, S. 247: «Molt de sa gent parier n'osent, / Mès tant par derriere l'en chosent / Que ses mestre Aristotes l'ot»; Aristote, S. 248: «C'on li atornoit à grant honte / De ce qu'en tel point se demaine / Que toute entiere la semaine / Est avoec s'amie et arreste, / Qu'il ne fet ne solaz ne feste / A sa chevalerie toute»; Tydorel, vv. 181 — 182: «A grant merveille l'ont tenu / Tuit si homme qui l'ont véu»; Narcisus, w . 4 8 7 - 4 8 8 u.a. Vgl. Aristote, S.248: «Belement à conseil l'a mis; / Si dist: » bzw. «Quantes en i covient il donques?»; Conseil, vv.361ff.; Oiselet, w . 139-194. Vgl. Amours, w . 2 3 - 2 5 : «Au haut homme avint, comme avient / Qu'a maint haut homme besoinz vient / D'errer. . .»; w . 170-177: «De râler s'en noveles vindrent / Au haut homme . . . de loing; / Par grant afere tel besoing / Orent sa gent de lui mander / Que li hauz hom contremander / Ne puet pas l'erre sanz mesprendre. / A la dame por congié prendre / Vint, e li dit tot son afere»; vv.204-205: «Mes molt li poise quant il let / S'amie lessier li convient». Vgl. Equitan, vv. 71-74: «E si jo l'aim, jeo ferai mal: / Ceo est la femme al seneschal; / Garder li dei amur e fei / Si cum jeo voil k'il face a mei»; Eliduc, v.467; v.793; Désiré, w . 313-316: «D'une chose se porpensa, / Qu'a ce saint homme parlera. / Ne set quant il li vendra més; / Si se fera a lui confés»; w . 319—320: «Sire? fet il, ci sui venuz, / Confés voil estre et asoluz». Vgl. Equitan, vv. 197-200: «Li reis l'ama mut lungement / Que d'autre femme n'ot talent. / Il ne voleit nule espuser; / Ja n'en rovast oir parler» bzw. w . 222-224; Bisclavret, v. 102: «Ne voleit mes lez lui gisir»; Deus Amanz, v v . 2 7 - 2 8 : «Mes Ii reis ne la volt doner, / Kar ne s'en poeit consirrer»; w . 8 8 - 8 9 : «Il saveit bien que tant l'amot/ Que pas ne li vodreit doner»; w . 100—102: «Jeo nel vodrei curucier. / Autre conseil vus estuet prendre, / Kar cest ne voil jeo pas entendre»; Yonec, vv. 6 7 - 1 0 4 ; Chaitivel, w.54—55: «Ne pot eslire le meillur. / Ne volt les treis perdre pur l'un»; v. 156: «Nés voil tuz perdre pur l'un prendre!»; v. 158: «Mes ne m'en puis covrir ne feindre»; Chievrefoil, v. 67: «Kar ne poeit vivre sanz li»; v. 74: «Mes ki puis les voelt desevrer»; Aristote, S. 248 - 249: «Trop avez le sens destempré / Quant por une meschine estrange / Voz cuers si durement se change / C'on n'i puet mesure trover»; Narcisus, w . 585-586: «Nel puis laissier, nel puis guerpir, / Ne me puis de s'amor partir»; w . 8 6 2 - 8 6 3 : «Or ne puis estre une ore en pes, / Or n'ain je nule rien vivant». Vgl. Laüstic, vv.29ff. - 41: «Poeit parler a sun ami»; v v . 5 3 - 5 5 : «Qu'ensemble poeint parler. / Nuls ne poeit de ceo garder / Qu'a la fenestre n'i venissent»; Wenn das Sollen aktualisiert wird, ergibt sich zwangsläufig ein Nicht-tun-können des Verbotenen, vgl. Laüstic, vv. 4 7 - 4 9 : «Fors tant k'il ne poent venir / Del tut ensemble a lur pleisir / Kar la dame ert estreit gardee». Vgl. Epervier, vv. 8 2 - 8 4 : «Par tel achoison s'entramérent: / Ja se desfendu ne lor 71

— Sollen wird als erstrebenswertes Ideal angesehen 8 7 . D a s Individuum strebt die Identität mit d e m Sollen an. — Sollen und Wollen sind identisch 8 8 . D a das k o m p l e x e Verhältnis v o n W o l l e n und Sollen in d e n Lais anhand dieser Auflistung nicht deutlich genug wird, soll dies am Beispiel der Feen-Lais etwas ausführlicher abgehandelt werden: In Lanval befiehlt die F e e , die Liebe geheimzuhalten, w o z u Lanval auch zunächst bereit ist: «Si vus cornant e si vus pri: N e vus descovrez a nul hurame!» (vv. 1 4 4 - 1 4 5 ) . In der höfischen Welt begehrt Artus' Gemahlin den Ritter. Es ist ein Wunsch, der für Lanval — w e n n er nicht mit der F e e liiert wäre - auch z u m W o l l e n hätte werden können: «Lanval, mut vus ai honuré / E mut chéri e mut amé; Tute m'amur p o e z aveir. Kar m e dites vostre voleir! Ma druerie vus otrei: Mut d e v e z estre liez de mei!» (vv. 263—268). W e n n schon nicht zum W o l l e n , so hätte der Wunsch der Königin d e m Ritter ein B e f e h l , ein Sollen sein müssen 8 9 . W e g e n seiner Liebe zur F e e wird der Wunsch der Königin zu e i n e m unliebsamen Sollen, so daß der Ritter das Liebesangebot spontan ablehnt: « D a m e , fet il, lessiez m'ester! Jeo n'ai cure d e vus amer» (vv. 269—270). B e z e i c h n e n d e r w e i s e drückt Lanval seine moralische Verpflichtung gegenüber der F e e durch seine ritterliche Verpflichtung gegenüber d e m König aus. Es wird damit deutlich, wie F e e und König hier auf gleicher E b e n e stehen und letztlich eine gleiche Funktion ausüben. Für rei ließe sich durchaus amie einsetzen 9 0 : « L u n g e m e n t ai servi le rei; fust, / Puet estre entr'eus amor n'eust»; vv. 85—91: «Que c'est de plusors la costume,/ Qui les chastie ses alume; / Et s'est ben droiz, que plusor sont, / Que ce c'on lor deffent ce font, / Et qui lors proieroit du fère, / Tot sens feraient le contrère. / Il s'entramérent molt andui». 87 Vgl. Conseil, vv.34-39: «, / Fet la dame, ;. Vgl. die wohlweisliche Lenkung des Zauberschiffs in das gleiche Land, vgl. auch die zufällige Wiederbegegnung der Liebenden, die Ding-Symbole, die als Wiedererkennungszeichen dienen. Vgl. vom Vogelritter der Geliebten anvertrauter Zauberring und Schwert. Bezeichnenderweise wird der Konflikt durch das falsche Verhalten der Ehefrau, ihre «démesure», ausgelöst. Mit der vom Vogel-Ritter abgesicherten Rückkehr der Ehefrau zum Ehemann kann der Sohn (der Liebe) aufgezogen und der Ehemann zu gegebener Zeit gerächt werden. Diese Interpretation ist insofern berechtigt, als an früherer Stelle in Yonec die übergroße Sehnsucht nach dem Liebhaber auch dessen Eintreffen bewirkt; vgl. auch die Funktion des Zauberschiffs in Guigemar.

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durch eine feinsinnig erdachte Gegenstrategie zu wehren. Die Geliebte Alexanders führt mit Hilfe ihres Verstandes 66 und ihrer subtilen Erfindungskraft 6 7 einen Plan 68 aus, der dem Liebespaar nicht nur seine Existenzberechtigung wiedergibt, sondern durch den Einsatz der pädagogisch-didaktischen Methode des empirischen Lernens 6 9 die scholastische Überlegenheit ausspielt. In Angriff genommen wird der Antagonist auch in Conseil, Epervier, Nabaret und Oiselet — Lais, in denen die Praxis des zweck- und zielorientierten Handelns durch Rede, Argumentation, Sprechen oder ganz allgemein Sprache gepflegt wird: In Conseil wird im Laufe eines mehrstündigen 7 0 Gesprächs zwischen einer Dame und einem Ritter die Dame nicht nur über die höfischen Tugenden und Vorzüge belehrt — mit dem gezielten Einsatz der im Mittelalter sehr geschätzten und gepflegten Schönen Rede71, des «bei parier» 72 , wird auch das Herz der D a m e umgestimmt. Argumentation also nicht nur um der Diskussion eines (höfischen) Inhalts, sondern um der Reaktion, der Wirkung und Zielverfolgung willen. Sprache erweist sich nicht mehr nur als Medium intersubjektiver Verständigung, der bloßen Kommunikation, sondern als Vehikel in der praktischen Ziel- und Zwecksetzung 73 . Wie tief menschliche Sprache und menschliches Handeln in sozialen Praktiken verankert sind 74 , zeigt sich auch in der direkten Auseinandersetzung mit dem Widerpart in Epervier: Listen- und einfallsreiches Handeln, das mit Mitteln aus der rhetorischen und darstellerischen Überzeugungskunst (das sind: Argumentationskraft und raffiniertes Schauspiel) praktiziert wird, ist ein überzeugender Weg aus der Konflikt-Situation 75 . Wie dem Menschen damit die Eigenverantwortung des

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Vgl. den Begriff des «sens», S.251. Vgl. den Begriff des «engin», S.251. Der Plan dient dazu, den Liebesverächter Aristoteles von den Vorzügen einer Frau so zu überzeugen, daß er sich auf beinahe demütigende Weise in die betreffende Dame verliebt, so daß seine Einwände gegen die Liebe gegenstandslos werden. Sie besteht darin, überzeugen zu wollen durch die am eigenen Leibe gemachte Erfahrung. Es dauert von v . 3 4 bis v . 7 4 4 und verteilt sich über mindestens zwei Tage. Die Rhetorik, die zum schulischen Fächerkanon des Trivium aus dem Kursus der Sieben freien Künste gehörte, war Grundlage für die von der Scholastik gepflegte Argumentationskunst und fand ihren Niederschlag in der gesamten altfranzösischen und altprovenzalischen Literatur, w o sie besonders für spezifische altprovenzalische lyrische Formen, wie z . B . das Streitgedicht, eine wichtige Rolle spielte. Vgl. E.Faral (1924). Vgl. die Betonung dieser Qualität in w . 7 4 5 - 747, 749 und 754, die in w . 8 3 0 - 8 3 1 darin gipfelt: «Ainsi Ii biaux parlers dona / A u Chevalier cel manage». Diese Erkenntnis haben verschiedene Forschungsrichtungen in der analytischen Philosophie entwickelt, vgl. R.J. Bernstein (1975, 198). Auf diesen und die beiden folgenden Lais trifft deswegen der von Habermas vertretene Begriff des «kommunikativen Handelns» zu - im Unterschied zum «Diskurs», vgl. J.Habermas (1971). Ein Liebespaar wird vom Ehemann in flagranti ertappt; vgl. Epervier, w . 1 3 9 - 1 4 5 .

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H a n d e l n s übertragen ist, wird nicht nur ausdrücklich betont 7 6 , sondern durch den Handlungsakt selbst bezeugt 7 7 . A u c h in Nabaret wird mit Hilfe der Argumentation teleologisch gehandelt, wird mit Sprache eine Absicht und ein praktischer Z w e c k verfolgt 7 8 : D i e Verteidigungsrede bewirkt nicht nur die gewünschte Rehabilitierung der Ehefrau vor den V e r w a n d t e n , sondern erzielt auch bestätigende N e b e n a f f e k t e wie die V e r h ö h n u n g des E h e m a n n s und eine Inspiration zum Lai-Dichten 7 9 — sie erweist sich somit als probates Mittel zur Befreiung aus der Konflikt-Situation. In Oiselet befreit sich ein V o g e l , Repräsentant des H ö f i s c h e n , aus der Gefangenschaft bei e i n e m listigen 8 0 Bürger nicht durch Bitten und Flehen 8 1 , sondern durch seine Klugheit und Weisheit, die er im Gespräch mit d e m unrechtmäßigen Besitzer bezeugt 8 2 . W e n n der praktische Z w e c k der Handlung auf die Lösung eines realen Problems (Wiedererlangung der Freiheit 8 3 ) gerichtet ist, s o ist der tiefere Sinn der Handlung in der mit d e m konkreten Sieg v e r b u n d e n e n Ü b e r l e g e n h e i t der geistreichen Argumentation 8 4 , des (höfischen) Wortes und der (höfischen) W e i s h e i t ( e n ) über die bürgerliche G e m e i n h e i t (vilanie) zu sehen 8 5 .

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Handlungsziel 8 6 kann in O m b r e nur durch eine A k t i o n erreicht werden, die über bloßes R e d e n hinausgeht 8 7 . Sie verlangt die Konzentration aller Geistes-

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Vgl. Epervier, vv. 151-154: «De moi, fet ele, n'en doutez; (. . .) Se Deut plet ben eschaperai / Mes fêtes ce que vos dirai». Die Dame gibt spontan Anweisungen (vgl. vv. 155—162) zu einem Schauspiel, das glaubwürdig vor dem Ehemann aufgeführt wird (vv. 163—166). Dazu erfindet sie die Lügengeschichte vom Sperber (vv. 179-205), in die sie nicht nur den Liebhaber, sondern auch den unter dem Bett versteckten Knappen raffiniert miteinzubeziehen versteht. Eine Dame verteidigt sich vor den Angriffen des Ehemannes durch Gegenrede und Gegen vorwürfe. Sie wehrt damit nicht nur die Beleidigung (Putzsucht) ab, sondern klagt den Ehemann vor den Verwandten mit seinem Altmännergehabe an. Vgl. Nabaret, w . 4 3 - 4 8 . Vgl. Oiselet, v.202, wo «engin» (im Unterschied zu «engin» in Aristote z.B.) ausgesprochen negative Züge erhält. Vgl. Oiselet, v.231; v.240. Zunächst durch das Versprechen, dem reichen Bürger seine Weisheiten zu vermitteln, w . 252-253. Vgl. Oiselet, w . 260-262. Die Weisheit des Vogels besteht in drei Ratschlägen («sens»), deren hintergründige Bedeutung der reiche Bürger nicht versteht, so daß sie ihm der Vogel auseinanderlegen muß. — Damit ist der Reiche als Unterlegener und Düpierter bloßgestellt. Nicht zuletzt siegen aus diesem Grund über «felonie», v.291, und «engin», v.202, durch die sich der reiche Bürger ausweist, die Qualitäten des höfischen Vogels, die mit Begriffen wie «sens», v.253, «voisdie», v.270, «bon mot», v.393, und «parole de cortoisie», v.397, umschrieben werden. Ein Ritter, der in eine höfische, stolze Dame verliebt ist, versucht, diese trotz ihrer Unnachgiebigkeit zu gewinnen. Das überzeugende Liebesgeständnis, das andauernde heftige Flehen, Bitten, Werben, vgl. die leitmotivischen Begriffe von «parole» und «dire» in w . 339-865, können bei der Dame nichts ausrichten - was auch aus den fast programmatischen Aussagen,

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kräfte 8 8 und besteht aus einer exklusiven Geste 8 9 aus «doz mot» und «plesant fet», die ausdrücklich aus der «bele cortoisie» 90 und dem «grant sens» 91 erklärt wird. Diese aus der Kombination von geistreichem Reden und Handeln bestehende besondere Leistung und Anstrengung, die höfisches 'zieF-orientiertes Handeln erfordert, läßt darauf schließen, daß die möglicherweise zu Gewohnheit und Ritual abgesunkenen höfischen Verhaltensformen aufgefrischt und neu belebt werden sollen — hier ließe sich der ideologische Hintergrund des Handelns erkennen. In Le Vair Palefroi, der sich, was teleologisches Handeln betrifft, sehr gut mit Deus Amanz vergleichen läßt 92 , scheitert der Plan 93 nicht an der mangelhaften Ausführung durch einen Protagonisten, sondern am Verrat 9 4 eines von Gegeninteressen geleiteten Verbündeten 9 5 . Wenn im Lai der Marie de France eigenverantwortliches Handeln nicht zum Ziel führen darf, so wird hier menschliches Handeln durch rivalisierendes vereitelt. Das Moment des menschlichen Handelns wird also nicht nur rein quantitativ viel stärker hervorgehoben, sondern erhält von seiner Motivation (die grundsätzlich materiellen Interessen der Beteiligten) und seiner Qualifikation (Handeln als Konkurrenzkampf) her eine von Deus Amanz grundsätzlich verschiedene Existenzberechtigung. Piramus et Tisbe kommt den Lais der Marie de France insofern am nächsten, als sich hier teleologisches Handeln 9 6 in einem Eskapismus-Versuch 97 erschöpft und nicht zur direkten Auseinandersetzung mit dem Gegner auf der Handlungsebene führt. Ebenso erweist sich menschliches, zielorientiertes Handeln aufgrund seiner gefühls- und willens-, nicht aber ver-

w . 789—791: «N'en parlez vos onques / Car vos en perdriez adonques / M'acointance et ma seiirté» und vv. 8 2 0 - 8 2 2 : « . . . or voi je bien / Que par parole que je die, / Ne vos puis au prendre mener», hervorgeht. 88

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Zunächst verhilft dazu die Liebe(-sgottheit), die schon immer erfinderisch machte, vgl. Ombre, w . 5 6 2 - 5 6 7 ; vgl. w . 868—869: «Tot esprenant de euer entier / Le prist tot porpenseement». Der Bewerber wirft seinen Ring in den Brunnen, so daß dieser sich mit dem Schattenbild der D a m e vereint - ein Akt, der ihm die Gunst der Dame einträgt, vgl. v. 877: «Dont molt grant joie Ii vient puis». Vgl. v.909, v.915, v. 920. Vgl. v. 572: «Puis fist après un greignor sen»; v. 876: «Mès il fist un plus greignor sen» und v.914. Hier überlegt sich eine begüterte Lehnsherrn-Tochter eine Strategie, vgl. w . 4 0 1 - 4 0 3 , um ihren Vater für die Hochzeit mit dem geliebten Freund zu gewinnen. U m den materiell eingestellten Vater zu überzeugen, wird der reiche Onkel (und nicht die heilkundige Tante) in das Vorhaben eingeschaltet, v g l . 4 0 4 - 4 4 3 . Als «conseil», v.454, bezeichnet. Vgl. den Begriff von «trahison», der den ganzen Schlußteil des Lai durchzieht, v. 595, v.611, v.621, v.632. Der reiche Onkel beansprucht wegen seines Reichtums die Tochter des Freundes für sich selbst, vgl. v.600. Beweggrund und Ziel ist das Wiedersehen des Liebespaares. Vgl. Piramus et Tisbé, vv. 5 6 9 - 5 8 9 .

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nunftbestimmten 98 Momente als geradezu prädestiniert für den durch Menschen verursachten Mißerfolg auf der Handlungsebene 99 . Teleologisches Handeln in den sogenannten anonymen Lais, das mit dem der Lais von Marie de France verglichen werden kann, bedeutet in keinem der Fälle eine ethische Normerfüllung; zielorientiertes Handeln wird ausnahmslos der subjektiven Zwecksetzung untergeordnet. Wie in den Ausnahmefällen Bisclavret, Equitan und Deus Amanz erheben hier alle Handelnde den Anspruch, mit ihrem Handeln die Lösung des zentralen Problems auf der Handlungsebene zu bewirken, d.h. in der Regel eine Liebesbeziehung zu verwirklichen: Die Handelnden streben rigoros nach zielorientierter Bewältigung des sich aus dem Geschehensablauf ergebenden Kernproblems; sie suchen nicht nur nach Fluchtmöglichkeiten nach Maßgabe ihrer seelisch-emotionalen Konstitution, die nur zu Zwischenlösungen auf der Handlungsebene führen können. Da in den anonymen Lais persönliche Ziel- und Zwecksetzung und objektives Handlungsziel zusammenfallen, gründet der narrative Prozeß ganz und gar in der eigenverantwortlichen Handlung des Menschen. Dieses auf der Ebene der innerlogischen Handlungsstruktur (und gleichzeitig auf der psychischen Ebene des Handelnden) funktional wirksame Handeln hat Formen entwickelt, die — im Unterschied zu denen der früheren Lais und des antikisierenden Piramus et Tisbe — auf die direkte Auseinandersetzung mit dem Gegenüber angelegt und für die Konfliktlösung auf der Handlungsebene geeignet sind. Die teleologisch Handelnden lassen daher eine gewisse Praxis im Umgang mit dem Menschen erkennen, wobei die Direktheit und Unmittelbarkeit dieser Praxis nicht nur Klärung und Lösung, sondern teilweise auch offene Feindseligkeit und Gegnerschaft mit sich bringen. Zunächst steht den Handelnden nicht mehr nur eine vom Kontext vorgegebene, auf eine einzige (geradlinig zum Mißerfolg führende) Realisierungsmöglichkeit reduzierte Handlungsvariante zur Verfügung, sondern ein Potential differenzierter Handlungsorientierungen und -praktiken. Diese gehen über den simplen Einsatz eines konkreten Mittels (Kleiderraub, Mord), meist eines Gegenstandes (Hemd / Gürtel, Badezuber, Stärketrank) bei Marie de France hinaus und schließen Methoden ein, die aus Disziplinen wie Didaktik, Pädagogik, Rhetorik, Darstellungskunst oder auch der Cortoisie übernommen wurden; es sind sämtlich Formen kommunikativen, situativen und interaktiven gesellschaftlichen Handelns. Die Konstituenten des teleologischen Handelns, die Phasen der Planung und Ausführung, werden quantitativ und qualitativ stärker betont als in den Lais der Marie de France. Reaktions- und Lösungsstadien nehmen meistenfalls nicht nur den größten Raum der gesamten Erzählung ein, sie 98

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Der Lai weist auf das Fehlen von Vernunft ausdrücklich hin, vgl. v.615: «Mes volontez oste raison» und w . 622-623: «Sens ne raison nes puet retraire / De ce qu'il ont empris a faire». Wenn noch der Fluchtplan («covenant», v.590) - aufgrund einer glücklichen Fügung - begründet erscheint, so geht das Liebespaar infolge einer Reihe von Mißverständnissen bei der Ausführung des Plans in den Tod.

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bedeuten auch die gelungene Verbindung eines ausgeklügelten, subtilen oder geistreichen Projekts und seine gekonnte Ausführung zu einem bestechenden Handlungsakt. Die Handelnden sind aus diesem Grund auch nicht auf einen engen Handlungsradius angewiesen bzw. auf eine bestimmte Lösungsmöglichkeit fixiert, sondern verfügen über einen weiten Handlungsspielraum mit einer Fülle von Lösungsmöglichkeiten, -mitteln und -methoden, die sich nun gerade weil von Menschen erdacht - als besonders überzeugend und erfolgreich erweisen. Nicht zuletzt demonstrieren die anonymen Lais, wie das in Menschenverstand und Menschenhand, in die volle Verantwortung des Menschen gelegte Handeln nicht nur den Handlungsakt, sondern auch das Denkund Durchführungsvermögen, damit auch das Durchsetzungsvermögen des Menschen aufwertet, es bisweilen — in seiner negativen Qualität — auch kritisiert 100 . Denkprozesse werden nicht nur ausdrücklich mit penser und purpenser umschrieben; durch die häufig benutzten Begriffe sens und engin werden Subtilität und Raffinesse menschlichen Denkens und Handelns besonders hervorgehoben 1 0 1 . Aus den Konstituenten des teleologischen Handelns leitet sich — im Unterschied zu Marie de France — gerade der Erfolg dieser Art des Handelns ab, womit die Verantwortung des Menschen für sein Handeln (und damit das Prinzip teleologischen Handelns gegenüber dem von Marie de France vertretenen) erheblich aufgewertet wird. 2. Auflösungsmechanismen Zur (Reaktions- und) Auflösungsphase der Handlung gehört außer der (subjektiven) Reaktion der Protagonisten auch die Art und Weise der Konfliktbewältigung. Nicht was mit Handeln gemeint war oder bezweckt werden sollte (das hieße Handeln auf die Aspekte der Intention und Zweckverwirklichung zu reduzieren), sondern wie die einmal in Gang gesetzte Handlung zu Ende kommt, soll im folgenden untersucht werden. Wenn in diesem Zusammenhang noch einmal an A.J.GREIMAS' elementares Handlungsmodell erinnert wird mit dem Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution 1 0 2 , dann deshalb, weil der Begriff Attribution insofern problematisch ist, als er eine erneute Mangelsituation auf Seiten des dominierten Subjekts impliziert, die theoretisch zu einem erneuten Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution führen müßte 103 . Da es im nachfolgenden um die Funktion geht, die die Handlung zum Abschluß bringt und da Handlung trotz ihres Pro100

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Eine weitere Steigerung - bis zur Verstiegenheit - menschlichen Denkvermögens und Handelns in der konkurrierenden, rivalisierenden Praxis wird in Aristote, Epervier, Nabaret und Le Vair Palefroi z . B . durch Rache, Lüge und Verrat bewirkt. D i e Begriffe sens und engin wurden in den Lais der Marie de France ausschließlich für das mißbilligte Handeln der Antagonisten verwandt, vgl. den «engin» des Fallen stellenden Ehemannes in Laüstic zum Beispiel. A . J . Greimas (1970). Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit dieser Problematik von R. Warning (1979).

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zeßcharakters nicht als Endlos-Prozeß in einer Erzählung denkbar ist, kann die rein schematische Gleichzeitigkeit von Attribution (auf der einen Seite) und Privation (auf der anderen Seite) nur durch die bewertende Perspektive des Autors aufgehoben werden. Wenn in Guigemar zum Beispiel eine malmariée unter ihrem Ehemann leidet und sich in einen Ritter verliebt, wird mit der Vereinigung des Liebespaares ein überzeugender Endpunkt gesetzt. Der Ehemann, der einen rechtmäßigen Anspruch auf seine Ehefrau hat, bleibt hierbei unberücksichtigt 104 . Das Liebespaar in Equitan wiederum kommt nicht zum Ziel, wird Opfer seines eigenen Vorhabens; hier verliert das Liebespaar, und der Ehemann gewinnt. Daß also die zirkelhafte Bewegung (Attribution gleich Privation) zum Abschluß kommt, gründet nicht in der Aktantenstruktur, sondern in einer axiologischen Feststellung, die den potentiell unendlichen zyklischen Transfer von Werten gleichsam anhält, indem sie einen Aktanten zum rechtmäßigen Verlierer, den anderen zum rechtmäßigen Gewinner macht. Am offensichtlichsten wird das Gewinner-Verlierer-Prinzip in Lanval, wo die Welt des Hofes und die des Märchenhaften gegeneinander ausgespielt werden. Handlungsträger müssen demnach als Orte für die Situierung von Werten, das Ende der Erzählung als Qualifizierung des Autors begriffen werden. Die Beendigung des Handlungsprozesses zeigt an, daß ein Gleichgewicht hergestellt wurde, das die ursprüngliche Mangelsituation beseitigt und durch ein richterliches Ende die oppositionellen Kräfte und die (in der Aktualisationsphase dynamisierten) Widersprüche aufhebt. Handlung kann also immer nur dann zum Stillstand kommen, wenn auf Seiten des Autors eindeutige Präferenzen vorliegen, so daß auch der Leser das vom Autor fixierte Ende akzeptieren kann. Wenn sowohl in produktions- als auch in rezeptionsästhetischer Perspektive eine Beruhigung des narrativen Prozesses vorliegt, muß ein Code zwischen Autor und Leser als Beendungsmechanismus fungieren, wobei der Horizont des Erwartbaren 105 nicht durchbrochen wird. Die Aussage der Lais für den Leser ist also auf eine spezifische Situation des Verstehens angewiesen, setzt einen vorkonstruierten Erwartungshorizont voraus. Die Struktur der Handlungsabschlußphase ist demgemäß unter folgenden Prämissen zu verstehen: a) Mit der Beendung des Handlungsprozesses werden die bei der Aktualisation dynamisierten Widersprüche und alle oppositionellen Kräfte zugunsten des vom Autor qualifizierten Rechtmäßigen aufgehoben. b) Die Beruhigung des narrativen Prozesses basiert nicht auf der Aktan-

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Daß dieses Ende seine Rechtmäßigkeit hat, wird überdies in der Vorbestimmung des Schicksals durch eine Hindin abgesichert, nach der der Protagonist die menschliche Bestimmung zur Liebe erfüllen und darum harte Prüfungen auf sich nehmen muß. Vgl. die zu dieser Problematik von H. R. Jauss (1970, 144-207) entwickelten Thesen zum Erwartungshorizont des Publikums.

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tenstruktur (mit einem potentiell endlosen Prozeß), sondern auf der Bewertung der Aktanten, c) Die vom Autor fixierte Lösung der Handlung setzt eine Erwartungshaltung oder -richtung beim Leser voraus, die den Horizont des Erwartbaren nicht übersteigt, womit Um Weltsysteme konstitutiv in die Erzählung eingehen. Zur Klärung der entscheidenden Frage nach den Auflösungsmechanismen in den Lais bietet sich die kausale Erklärung von Handlung an. Diese sucht weder nach den Beweggründen bzw. Absichten des Handelnden noch nach seiner Ziel- oder Zwecksetzung; da sie sich nur in der Relation von Ursache und Wirkung bewegt, beobachtet sie den Bezug zwischen Reaktionsweise und (bewertetem) Ende. Die Erklärung der Handlung durch ihre Kausalität 106 ist jetzt auf die mechanistische Registrierung der äußeren Bewegung beschränkt, zumal Handlung bereits im Lichte von Umständen gesehen wurde, die sie aus subjektiver Perspektive rechtfertigte. Wenn man das Handlungsgeschehen in den Lais der Marie de France rückwärts, d. h. vom Ergebnis her betrachtet, zeigt sich, daß das positive bzw. negative Ergebnis seine Ursache im positiven bzw. negativen Handeln des Protagonisten hat. Fliehen (Guigemar), Kämpfen (Guigemar), In-den-Krieg-ziehen (Milun), Verzicht zugunsten höherer Interessen (Fresne, Milun), ehrerbietige Fürsorge (Fresne), Botschaften austauschen (Milun) sind Handlungen, die am Ende mit der realen Vereinigung des Liebespaares belohnt werden. Demgegenüber führen Handlungen, die das Maß (mesure) überschreiten 107 , zur gerechten Bestrafung der 'Täter': Gefühle, die Mordanschlag-Pläne (Equitan), Verrat (Bisclavret), aber auch maßlose Selbstüberschätzung 108 (Deus Amanz) bewirken, führen zur Katastrophe. In all diesen Lais vollzieht sich Handlung nach dem einfachen Muster der (nach einer mesure-Moral funktionierenden) Abhängigkeit von Reaktionsweise und deren Sanktionierung, was soviel heißt, daß in allen diesen Lais die Aktanten nach ihrer Reaktion bewertet werden. Handeln im Affekt (Lanval) 109 wird mit einer existenzbedrohenden Angst um das Verlieren der Freundin genügend bestraft; mildernde Umstände 1 1 0 und Loyalitätsbeweis gegenüber der Freundin' 1 1 tragen letztlich zur Entschuldbarkeit des Vergehens bei: Warum jedoch Gnade vor Recht ergeht, warum das Handlungsgeschehen nach einem Mechanismus von Schuldigwerden und Erlösung abläuft, hängt

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Vgl. dazu R . S . Peters (London 2 1960), A . J . Melden (1961) bzw. Ch.Taylor (1967; 1964).

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Vgl. zur Unterstützung dieser Aussage die programmatische Erklärung in Equitan, w . 1 7 - 2 0 : «Cil metent lur vie en nuncure / Ki d'amur n'unt sen ne mesure; / Tel est la mesure d'amer / Que nuls n'i deit reisun garder». Vgl. D e u s Amanz, v. 189: «Kar n'ot en lui point de mesure». Vgl. Lanval, v. 289: «par maltalant». Die Provokation der Königin. Durch Zurückweisung der Königin.

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nicht nur mit der möglichen Beeinflussung des Lai von der Struktur des Mirakels zusammen 112 . Über dieses 'protagonisten-perspektivische' Handlungsprinzip hinaus wird die Handlung durch die Opposition zweier miteinander konkurrierender Welten (der realen, offiziellen, höfischen und der irrealen, seelisch-geistigen, märchenhaft-idealen) vorangetrieben, die über den Katalysator Ritter ihre Vorrangstellung behaupten können. Der offene Konflikt muß daher durch eine Reaktionsweise ausgelöst werden, die erstens die innere Zugehörigkeit des Ritters zu einer anderen als der höfischen Welt offenbart und zweitens entschuldbar ist, damit der rivalisierenden idealen Macht die Möglichkeit gegeben ist, die Überlegenheit zu beweisen. Mit dem Triumph der idealen, emotionalen Welt wird der Ritter nicht nur in seinem privaten Anspruch rehabilitiert, sondern es wird auch ebenso die (Innen-) Welt der Liebe und des privaten Glücks durch die Evasionsmöglichkeit 113 institutionalisiert. Ähnlich wie in Lanval wird in Eliduc der Ritter zunächst zum Urheber, schließlich zum Nutznießer eines Rivalitätsprozesses zwischen offizieller und privater Welt. Wie in Lanval wird die dem Recht und der Ordnung zuwiderlaufende Handlung (die Entführung der Geliebten 114 ) mit dem Bangen um die Freundin hinreichend bestraft; das Maß des Handelns wird allerdings durch die vorher bewiesene Loyalität (gegenüber dem Lehnsherrn 115 ) und das Pflichtgefühl (gegenüber der Ehefrau 116 ) nicht überschritten. Die Ordnung ist auch hier durch das Handeln nicht grundsätzlich in Frage gestellt, so daß es mit der Institutionalisierung des Liebesglücks belohnt werden kann. In Laüstic und Chievrefoil wird das im geduldigen Erleiden und Kontaktaufnehmen beschlossene Handeln nicht mit einem realen happy ending belohnt. Demgegenüber verlagern die Liebenden ihren Glücksanspruch auf die seelisch-geistige Ebene, so daß auf diese Weise die Idee der unzerstörbaren Liebe über die Wirklichkeit triumphieren kann 117 . Chaitivel dagegen demonstriert ausführlich, wie das traurige Ende von der Reaktionsweise, d.h. hier der Unfähigkeit, richtig zu handeln 118 , unmittelbar abhängt. Die realisierbare ideale Lösung auf der Handlungsebene wird durch Selbstverschuldung un112

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Vgl. dazu H.-J. Neuschäfer (1969, 100-102), wo der Lai von der Novelle abgegrenzt wird und Strukturen anderer mittelalterlicher Erzählgattungen im Lai festgestellt werden. Vgl. zu diesem Aspekt E.Sienaert (1978, 9 9 - 1 0 7 ) und D. Rieger (1980, 2 4 - 3 9 ) . Daß die Entführung der Geliebten jeder Ordnung zuwiderläuft, geht aus der Seesturm-Episode hervor, in der das mikro-makrokosmische Prinzip veranschaulicht wird: Die Sünde der Menschen drückt sich danach in einer makrokosmischen Bewegung aus. In dessen Dienst tritt der Ritter wieder ein. Zu ihr kehrt der Ritter wieder zurück. In Laüstic wird das Aufbewahren des Vogelkörpers zum Symbol der ewigen Treue und Verbundenheit, in Chievrefoil verweist die metaphorische Botschaft vom Geißblatt und dem Haselnußstrauch auf die Unzertrennbarkeit der Liebenden. Eine höfische Dame kann sich nicht entschließen, den vom Tod verschonten Freier zu heiraten.

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möglich gemacht, so daß eine Problemlösung auf einer anderen Ebene, der fiktiven" 9 , gesucht wird. Wenn in Yonec die Übertreibung (demesure) zur Katastrophe geführt hat und mit dem Tod des Geliebten bestraft wurde, kann — ähnlich wie bei der maßlosen Selbstüberschätzung in Deus Amanz - nur noch die Idee der Liebe siegen. In beiden Fällen werden die Liebenden im Liebestod vereint, womit sie - auch vor der Umwelt - wieder rehabilitiert sind120. Zusammenfassend läßt sich sagen: In den Lais der Marie de France ist der Handlungsschluß keineswegs an einer real greifbaren, stereotypen joie (de la cort) ablesbar. Das Ende der Erzählung charakterisiert vielmehr einen Handlungsprozeß, der der Bewahrung und Erhaltung der Idee von der Liebe und damit der Welt des Inneren, Seelisch-Geistigen, Emotionalen, Privaten und Subjektiven gilt. Zu diesem Zweck bedient sich Marie de France einer Reihe von Lösungsmechanismen, die erstens auf der Handlungsebene und zweitens auf der metaphysischen Ebene wirksam werden können. Zu erstens: Wie in der Marie de France-Forschung explizit oder implizit betont wird121, ist die Liebeskonzeption der Marie de France der des Tristan-Romans vergleichbar122 — einer absoluten Liebe, die totales Ausgeliefertsein an ihre Allgewalt, das unabänderliche Diktat eines Mythos und völlige Ausschaltung der Vernunft bedeutet, kurz: deren «Maß» die «Maßlosigkeit» ist123. Was das Gefühl der Protagonisten angeht, so mögen die genannten Momente zutreffen. Den Protagonisten wird jenes leidenschaftliche, Vernunft beraubende Empfinden zugestanden. Allerdings schränkt das Handlungskonzept die maßlos Liebenden auf ein maßvolles, der mesure entsprechendes Handeln ein. Denn nur unter der Bedingung, daß die Protagonisten in der Krise nicht gegen das Maß des Handelns verstoßen, werden sie auf der Handlungsebene mit der Institutionalisierung der Liebe belohnt (Guigemar, Fresne, Milun, Lanval, Eliduc), im gegenteiligen Fall jedoch mit dem Tod oder der Schande bestraft (Deus Amanz, Yonec, Equitan, Bisclavret). Zu zweitens: Wenn auf der Handlungsebene nach (meiw/-e-)moralischen Bewertungsmaßstäben konkrete Sanktionen ausgesprochen werden, so behält sich Marie de France doch vor, die Idee 119

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Damit der Lai seinen Abschluß findet, wird die Trauer im Verfassen eines Lai sublimiert. In Yonec wird die Dame um der Liebe willen den gemeinsamen Sohn aufziehen und den Ehemann rächen. Ihr Tod und der des Geliebten wird vom ganzen Land respektvoll bestaunt. In Deus Amanz bedeutet der Liebestod gleichsam Bestrafung und Einsicht des Vaters. Zum Zeichen des Sieges der Liebesidee verklärt der ausgeschüttete Zaubertrank die ganze Umgebung. Zu diesem Thema seien hier auswahlweise genannt: J. Frappier (1973); M.Lazar (1964); M. Lot-Borodine (1961); L. Pollmann (1966); E.Schiött (1889); J.WatheletWillem (1969); B.H.Wind (1964). Vgl. dazu M.Lazar (1964, 197): «L'Amour considéré comme une passion et la fin'amors des troubadours dominent les lais de Marie. La plus grande influence exercée sur elle, l'a été par le roman de Tristan, et probablement, par l'archétype, l'estoire». L. Pollmann (1966, 311).

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von der (maßlosen) Liebe auf der metaphysischen Ebene weiterleben zu lassen. In Deus Amanz und Yonec baut sie anhand des Liebestods einen Mythos um die Liebenden auf, der bestimmte ideelle Funktionen übernehmen kann 124 . Aber nicht nur aus Gründen des handelnden Versagens (Deus Amanz, Yonec, Chaitivel), sondern auch wegen spezifischer gesellschaftlicher Umstände (Laüstic, Chievrefoil) kann die in der Wirklichkeit nicht zu realisierende Liebe auf die metaphysische Ebene übertragen werden, so daß die unabgeschlossene oder nicht abzuschließende Handlung dennoch ihren Ruhebzw. Endpunkt erreicht. Die Transzendierung eines realen glücklichen Ausgangs zu einem ideellen geschieht mit Hilfe von Faktoren, die aus der Symbolik (Laüstic), der Liebesmetaphorik (Chievrefoil), der Fiktionalisierung (Chaitivel) bzw. dem Liebestod-Mythos (Deus Amanz und Yonec) entnommen sind125. Die Propagierung des Ideellen, die Ablehnung des Realen drückt sich bei Marie de France in einem Handlungskonzept aus, das beträchtliche Vorbehalte gegenüber menschlichem Handeln, insbesondere zweckorientiertem Handeln erkennen läßt: Nicht nur, daß a) gesellschaftliche Rahmenbedingungen handlungszielorientiertes Handeln verhindern (Chievrefoil, Laüstic), b) die handlungszweckorientierten Protagonisten (an der Maßlosigkeit) ausnahmslos scheitern (Equitan, Bisclavret, Deus Amanz, Yonec, Chaitivel), darüber hinaus besteht c) in allen Lais zwischen subjektivem Handeln und Endergebnis nur eine bedingte funktionale Beziehung. Das heißt, das handelnde Subjekt kann allein nicht kausal wirksam werden, es trägt zu seinem Glück (oder Unglück) nur indirekt bei. Das positive Endergebnis wird in diesen Lais nur durch mittelbares Handeln (das bestenfalls im seelisch-geistigen Bereich des Handelnden wirksam wird), das negative Endergebnis durch selbstverantwortete, handlungszweckorientierte, direkte Inangriffnahme des Zentralproblems bewerkstelligt. Die persönlichen subjektiven Handlungsziele der Protagonisten decken sich im positiven wie im negativen Fall nicht mit der Konzeption der Autorin (die die Erwartungshaltung des Lesers / Hörers einschließt): Das (positive oder negative) Endergebnis setzt sich vielmehr aus dem nicht handlungszielorientierten (= maßhaltenden) bzw. handlungszielorientierten (= maßlosen) Handeln des Protagonisten — als interner Prämisse - und dem dieses Handeln sanktionierenden Zufall — als externem Faktor — zusammen. Dieser Zu-fall als externer Faktor kann sich auf verschiedene Weise einstellen; die schematische Aufstellung soll die inhaltliche Wiedergabe an dieser Stelle ersparen. Dem Zufall kann das Moment der 'unerhörten' Zufälligkeit 124

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Der Liebestod bedeutet Aufklärung und Läuterung für die unmittelbar an der Katastrophe Beteiligten und die ganze Umgebung; er erweckt Ehrfurcht vor den Liebenden und dient der Glorifizierung eines Ideals. In Deus Amanz wird diese ideelle Bereicherung in der Bevölkerung durch die symbolisch zu verstehende Verschönerung der ganzen Umgebung deutlich gemacht. Vgl. dazu R.Dragonetti (1973, 3 1 - 5 3 ) .

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anhaften, so im Wiedererscheinen der Mutter im Hause des Geliebten (Fresne), in der Wiederbegegnung von Vater und Sohn im Zweikampf (Milun), in der Begegnung des Königs mit dem Werwolf und des Besuchs der Ehefrau beim König (Bisclavret), im Aufkommen eines Seesturms (Eliduc) und im Auftritt eines Wieselpärchens (Eliduc). Der Zufall kann aber auch das Moment des Phantastisch-Wunderbaren enthalten, so im geheimnisvollen Wirken des Zauberschiffs, das die Liebenden ins gleiche Land trägt (Guigemar), im Wunderwirken der Fee, die den Ritter erlöst (Lanval), in der Weisung des übernatürlichen Geliebten, der mit Hilfe von Zauberring und -schwert, Anleitung und Prophezeiung das Liebespaar rächt und rehabilitiert (Yonec), so letztlich auch in der übermenschlich-verständigen, wunderbar anmutenden Erlösung durch die Ehefrau (Eliduc). In den Zufall münden auch unvorhersehbare, nicht antizipierbare menschliche Reaktionen, wie die plötzliche Umkehrung des Mordanschlags durch das ausersehene Opfer (Equitan), die Selbstüberschätzung im entscheidenden Augenblick (Deus Amanz), der Racheakt bei einer passenden Gelegenheit (Bisclavret). Ein anderes Moment des externen Faktors beruht auf der Übertragung eines inneren, seelischen Vorgangs auf die Ebene des Wahrnehmbaren: Subjektive Empfindungen wie Treue, vielfache Liebe und Unzertrennbarkeit werden durch einen symbolischen (Laüstic), fiktionalen (Chaitivel) bzw. metaphorisch-dichterischen (Chievrefoil) Akt sinn-bild-haft verkörpert. Seelisches wird durch eine spezifische Visualisierung verabsolutiert. Die Erklärung des Handelns nach dem Kausalprinzip 126 läßt eine Gesetzmäßigkeit erkennen, wonach der Mensch bei Marie de France in empirische Kausalabläufe gestellt ist, in die er als Objekt verwickelt ist. Diese Kausalität in der Wirkungsfunktion eines Naturgesetzes oder -ablaufs entzieht dem Einzelnen die Möglichkeit einer freien Handlungsentscheidung. Das heißt, intentional oder teleologisch erklärtes Handeln ist als interne Prämisse kausal abhängig von dem sanktionierenden externen Zufallsmoment. Der Zufall in gleichsam richterlich organisierender Funktion entbehrt also jeder Willkür, ist nicht der reine, objektive Zufall (wenn es ihn gibt), sondern erhält durch das vorangegangene Handeln seinen Sinn und seine Begründung. Der Zufall, den die Protagonisten als Fatum erleben, ist also von der inneren Notwendigkeit des Geschehens diktiert. Als «Erfüllungsgehilfe der Notwendigkeit» 127 entbehrt er deshalb auch nicht des künstlerischen Anspruchs auf Wahrscheinlichkeit. Mit der Verwendung des Zufalls als zweckdienlichem Instrument wird eine christlich-moralische Ablehnung alles Wertindifferenten spürbar, darüber hinaus auch die mittelalterliche Vorstellung von der göttlichen Vorsehung, aufgrund derer es nichts eigentlich Fremdes und Zufälliges geben kann 128 . Bezeichnend ist, daß eine Dichterin die Funktion einer zweckorien126

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Zur Ablösung des aristotelischen Begriffs der «Wirkursache» durch den des «Kausalprinzips» vgl. R . J . Bernstein (1975, 158). Vgl. E . K ö h l e r (1973, 25). Vgl. E.Köhler (1973, 27) und W.Windelband (1870, 63).

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tierten Vorsehung - wenn auch nur auf fiktiver Ebene - durchaus übernehmen kann. An dieser Stelle des Handlungsgeschehens, wo dem Protagonisten etwas zu-fällt, was ihm auch zu-kommt, was er (sich) (handelnd) verdient (hat), werden Zu-fall (ad-venit) und Abenteuer (ad-ventura) kongruent. Die göttliche Vorsehung bedient sich des Zufalls als eines Sanktionierungsinstruments für vorausgegangene Bewährung (durch maßvolles = nach der Intention zu erklärendes Handeln) oder Versagen (durch maßloses = handlungszielorientiertes Handeln). Mit der Bewährung vor dem Zufall setzt sich die aventure in den Lais von der höfischen Bewährung in und mit dem zugefallenen Abenteuer ab129. Übernimmt der Zufall in den Lais also die Sanktionierung menschlichen Bewährens oder Versagens, so ist im höfischen Roman der Zufall im Abenteuer selbst enthalten. Das Auserwähltsein bestimmt sich demnach in den Lais nach einem kausalen Prinzip, womit das rein Akzidentielle, das im Tristan-Roman (mit der Liebestrank-Episode) und im höfischen Roman (mit der zufälligen Begegnung des Abenteuers) die Aufgabe der Auswahl bzw. der Erwählung hat, hier die Erlösungs-, Begnadigungs- und Verdammungsfunktion übernimmt 130 . Da also die Lais der Marie de France dem Zufall eine innerlogische, innerkausale (Handlungs-)Funktion zuweisen, erhält die reine Erwählung nach zunächst undurchschaubaren Prinzipien — wie sie im höfischen Roman vertreten ist — hier eine pragmatische Sinngebung. Die Sanktionierungstätigkeit, die im Ritterroman vom Hof und seinen Ordnungsregeln vorgenommen wird, ist in den Lais dem handlungsstrukturierenden Zufall zugewiesen. Da der externe Faktor — im Sinne von Belohnung und Bestrafung — handlungskonstituierend wirksam werden kann, darf dem Lai, was die Schlußphase betrifft, seine «exempelhafte» Grundstruktur 13 ' nicht abgesprochen werden. Wie nicht-höfisch, sondern exemplarisch (im Sinne eines allgemeinmenschlichen Prinzips) in der Handlungsauflösungsphase gehandelt wird, sei stellvertretend für alle Lais am Beispiel Bisclavret skizziert, dem einzigen Lai der Marie de France, in dem die Sanktionierungspflicht einem amtlichen Organ, nämlich dem König selber, zufällt. Bezeichnenderweise besteht die Zufalls-Leistung des höchsten Repräsentanten des Hofes und Obersten Gerichts darin, das menschliche Wesen (!) des Werwolfs 132 (und nicht das höfische Wesen des Löwen wie im vergleichbaren Melion133) erkennen zu können. Darüber hinaus wird die Sanktionierung an den Geist des Menschlichen delegiert; zum einen durch den Racheakt des Werwolfs, zum anderen durch 129 130

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Zur aventure des höfischen Ritters E.Köhler ( 2 1970, 66ff.). Für den Tristan- und Artus-Roman treffen insofern die Aussagen von A. Dören (1924, 83ff.) zu, wonach Fortuna zum Instrument der göttlichen Vorsehung wird und erst ihre Gaben zum Prüfstein der menschlichen Seele werden. H.-J. Neuschäfer (1969, 111). Vgl. Bisclavret, v. 154: «Ele ad sen d'hume», und v. 157: «Ceste beste ad entente e sen». Vgl. Melion, v.432 («cortois leu»).

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die geistige Abhängigkeit des Königs vom Rat eines einfachen, weisen Mannes aus dem Volke 134 . In dieser Szene, in der in Bisclavret die höfische Autorität 'humanisiert' wird, wird in Melion das Höfische idealisiert: Keinerlei Abtretung der höfischen Sanktionierungsvollmacht an einen Repräsentanten des Menschlich-Moralisch-Ethischen — die Wiederherstellung der Ordnung erfolgt auf höchster Ebene, zwischen Artus ur.d dem irländischen König. König Artus kann demzufolge auch nur von seinem Neffen Gawain, einem Vertreter höfischer Vorbildlichkeit, beraten werden. Bezeichnenderweise wird die Rachelust Melions durch Artus' Milde und Einsicht besänftigt und abgewehrt135 und der Ritter zu seiner Freude ganz in die höfische Gesellschaft integriert. Wenn das Handeln der Protagonisten ihr Inneres bestimmbar machte, so weist der externe Faktor den Protagonisten in seiner ganzen subjektiven Bedingtheit, in seiner existentiellen Bestimmung öffentlich aus. Diesem sanktionierenden Zufall kommt also auch die Identifizierung des Protagonisten (vgl. die schematische Aufstellung), aber auch die Rechtfertigung seines Anspruchs, die Zuweisung des ihm Zustehenden und Zukommenden. Das heißt konkret: Liebende weisen sich als zusammengehöriges Paar aus (vgl. z.B. die Wiedererkennungsszene in Guigemar), unmoralisch Handelnde werden in ihrer Unmoral erkannt (die Mörder in Equitan, die Verräter in Bisclavret), eine gute Tat führt zur Wiedererkennung der Tochter (Fresne), drei zusammengehörige Menschen finden sich als Familie wieder (Milun), die maßlos handelnden Liebenden geben sich in der Realität als Versagende zu erkennen (Deus Amanz, Yonec) und werden als unzertrennliches Liebespaar identifiziert, die wesens- und gefühlsmäßig Andersgearteten werden in ihrer spezifischen Festlegung erkannt (Werwolfsnatur in Bisclavret, platonische Polygamie in Chaitivel, außereheliche Treue in Laüstic und Chievrefoil, Liebe zu einem übernatürlichen Wesen in Lanval bzw. außereheliche Liebe in Eliduc). Die Zugehörigkeit zu einer emotionalen, geistig-seelischen, moralischen oder unmoralischen, zu einer außer-gewöhnlichen Welt ist also das dem jeweiligen Protagonisten sanktions- und identifikationsspezifisch Zukommende. Das heißt, mit dem, was den Protagonisten durch den Zu-fall zugewiesen wird, werden sie eingewiesen, eingeordnet in den ihnen zustehenden, zukommenden Lebensbereich. Die Lais sind also keine Märchen, in denen das Gute tausendfach belohnt und das Böse vernichtet wird. Vielmehr herrscht hier das mittelalterlich-christliche Ordo-Prinzip, nach dem jeder Einzelne auf den ihm zukommenden Platz verwiesen wird. Ansatzweise läßt sich darin eine Analogie zur Identitätsbestimmung des höfischen Ritters durch die offizielle Anerkennung der in der ritterlichen aventure vollbrachten Leistungen sehen. Mit der Sanktionierung und Identifizierung eines (im höfischen Sinne) idealtypisch Handelnden durch eine höfische Institution kommt dem Strukturprinzip des 134

Vgl. Bisclavret, v . 2 3 9 («sages hum») und v . 2 8 1 («Ii produm»).

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Vgl. Melion, v . 5 7 1 («Non feres»).

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höfischen Romans eine das Gesellschaftssystem konstituierende Funktion zu. Das Strukturprinzip des Lai zielt nicht auf höfische Exemplarität, sondern auf menschliche Subjektivität ab; es hat daher eher eine die Ordo konstituierende Funktion. Für die anonymen Lais gilt zusammenfassend: Das für die Lais der Marie de France festgestellte Strukturprinzip von subjektivem Handeln als interner Prämisse und Zu-fall(smoment) als externem Faktor ist mit Einschränkungen auf die Graalant-Gruppe (Désiré, Graalant, Guingamor), aber auch auf Epine, Melion, Narcisus, Piramus et Tisbé sowie Le Vair Palefroi (vgl. die schematische Aufstellung) anwendbar. Zunächst zur Graalant-Gruppe: Das Handeln der Ritter (vgl. interne Prämisse in der Aufstellung), das ihre innere Einstellung, d. h. auch ihre wahre Zugehörigkeit zu einer anderen Welt, zur höfischen / christlichen (Guingamor, Désiré) bzw. nicht-höfischen (Lanval, Graalant), dokumentierte, wird durch den Zufall, das Erscheinen und Einwirken der Fee, sanktioniert. Wie in Lanval funktioniert das Strukturprinzip hier nach dem Mechanismus von Schuldigwerden, zeitweise Bestrafung und Erlösung. Wenn sich dabei, wie in Lanval, über den Ritter als Katalysator zwei antagonistische Welten, die des Hofes und der Fee, gegenüberstehen, so ist es die ideologische Einstellung des Autors, die den Sieg der einen oder anderen Welt jeweils begründet: Entweder der Hof oder die Fee treten als Sanktionierungsinstitution auf. Für Graalant gilt in vollem Umfang das von Lanval Gesagte (vgl. S. 123/124). In Guingamor kann mit der Reintegrations-Absicht des höfischen Ritters in die höfische Gesellschaft — bezeichnenderweise wird hier beim Strukturschema des höfischen Romans eine Anleihe gemacht - gerade der Verfall und nicht das Funktionieren dieser höfischen Welt demonstriert werden 136 . Dadurch, daß der Guingamor-Autor die Fee zur alleinigen, von außen wirkenden Machthaberin erkoren hat, bietet die höfische Welt keine Existenzmöglichkeit mehr, so daß der reintegrationswillige Ritter nicht reintegrierbar ist. Statt einer Konfrontation der beiden Welten (wie in Lanval und Graalant) besteht durch die absolute Autorität der Fee in Guingamor keine Daseinsberechtigung mehr weder für höfische Denkweisen, durch die sich der Ritter ausgezeichnet hatte, noch für irgendeine Form der höfischen Präsenz. Die Lebensunfähigkeit des höfischen Menschen in einer ausgelöschten Welt gestattet der überirdischen Welt den Triumph, einen von ihr total Abhängigen durch den Gnadenakt zu erretten und erlösen. Die funktionslos 136

Paradoxerweise wird die Nicht-Existenz des höfischen Reiches besonders hervorgehoben durch den unerschütterlichen Glauben des Ritters an diese Welt. Dieser Glaube hat das Abenteuer (im höfischen Sinne) überhaupt erst motiviert und damit den Konflikt aktualisiert. Im Gegensatz zu Lanval und Graalant, wo die NegativZeichnung der höfischen Welt in der Aktualisationsphase mit der provokativen Aufforderung von Seiten eines ranghohen höfischen Repräsentanten eingeleitet ist, wird in Guingamor der Konflikt durch den Ritter selbst aktualisiert, da er dem Wertekanon der höfischen Welt trotz seiner Verbindung zum Überirdischen verhaftet geblieben ist.

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gewordene höfische Welt wird somit von der funktionierenden überirdischen Welt abgelöst. — Anders als in Lanval, Graalant und Guingamor bleiben in Désiré — trotz des erlösenden Wiedererscheinens der Fee - Artus-Hof, Christentum, Ritterschaft und Höfischkeit die konstanten Orientierungspunkte 1 3 7 ; sie übernehmen denn auch als externe Faktoren die eigentliche Sanktionierung der Liebesbeziehung. Privates Glück wird hier nicht von der einen triumphierenden überirdischen Macht verantwortet, sondern ergibt sich aus der Kombination der beiden Zu-/a//smomente Fee und Artus-Hof: So dient das Wiedererscheinen der Fee zwar auch der Auseinandersetzung mit dem ArtusHof, hier aber der Unterordnung unter die christlichen-höfischen Regeln und schließlich der Integration des Liebespaares und seiner Kinder in den ArtusHof. Liebes- und Familienglück sind an die höfischen Ordnungsinhalte gebunden. Der Ritter, der sich der Fee gegenüber der christlichen Beichte schuldig gemacht hatte, wird also nicht durch einen Gnadenakt rehabilitiert, sondern durch die sich aus der Anerkennung des Christentums durch die Fee ergebende Freisprechung und Bestätigung seiner christlich-höfischen Makellosigkeit. Erst nachdem sich das Liebespaar als christlich-höfisches ausgewiesen hat, kann es ins Feenland entschwinden. Dadurch, daß in Désiré der Hof zur maßgeblichen Sanktions-Instanz wird und dem (Liebes-)Abenteuer mit der Fee das Zufällige vorbehalten bleibt (d.h., daß auch die Sanktionierung wie im höfischen Roman institutionell vorgenommen wird), kann Désiré nicht als Imitation von Lanval gelten 138 ; der Lai ist deshalb eher in die Nähe des Yvain bzw. deren gemeinsame Tradition zu rücken 139 . Schon am Beispiel der Graalant-Gruppe läßt sich deutlich zeigen, wie das ideologische Konzept des Lai maßgeblich durch die letzte funktionale Handlungssequenz bestimmt ist. Trotz oder gerade wegen der versatzstückartig in Désiré und Guingamor verwendeten höfischen Handlungsmuster kann die daraus hervorgehende Weltenorientierung des Protagonisten entweder bestätigt oder abgelehnt werden: Sowohl in dem Bedürfnis nach christlicher Beichte (Désiré) als auch in dem nach arnii«re-Berichterstattung (Guingamor) drückt sich eine Reintegrationsabsicht aus. Die Rivalität der beiden antagonistischen Welten entzündet sich also jeweils an den Reaktionen eines (christlich-)gesellschaftlich geprägten Bewußtseins. In Désiré wird diese Bewußtseinshaltung bestätigt, in Guingamor negiert. Unabhängig also vom subjektiven Handeln (nach internen Prämissen) hängt es von dem dieses Handeln sanktionierenden externen Faktor (gesellschaftliche Institution oder Zufallsmoment) ab, ob der Lai christlich-höfisch indoktriniert ist oder eine indivi131

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Z . B . die Geburt Désirés nach einer christlichen Pilgerfahrt, sein höfisch-ritterlicher Tugendausweis, der stete Dienst am königlichen Hof - auch trotz und während seines Liebesverhältnisses zur Fee - sein Bedürfnis nach christlicher Absolution. Das Gegenteil behaupten u . a . L.Foulet (1905, 37); E . H o e p f f n e r (1959, 1 1 8 - 1 1 9 ) ; K.Warnke (1892, 22). So zuletzt P . M . O ' H a r a Tobin (1976, 167); davor R . S h . L o o m i s (1952, 272ff.) und G . V . Smithers (1953, 7 4 - 7 5 ) .

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duell-subjektive Weltsicht vertritt. Da alle Lais der Graalant-Gruppe mit der Evasion des Liebespaares in die Feenwelt schließen, kann die Weltanschauung auch nicht aus dem happy ending abgelesen werden. Auch Epine ist ein Beispiel dafür, wie der Zufall in Anverwandlung eines märchenhaften Wunders in den Dienst des höfischen Ordnungsideals (der aventure) gestellt wird: Ein Mädchen wird wie durch ein Wunder an den aveniwre-Schauplatz versetzt; seine Anwesenheit verleiht dem geliebten Freund übernatürliche Kräfte, die er zum Bestehen des Abenteuers nötig hat. Auch hier wird — auf andere Weise als in Désiré — das zunächst erlösende reine Wunder in seine institutionellen Schranken verwiesen, steht im Dienste einer Anerkennung durch die sanktionierenden höfischen Organe. Konkret heißt das: Die Bewährung in der aventure (mit Unterstützung der zufälligen wundersamen Erscheinung des Mädchens) kann erst durch die Anerkennung des Hofes funktional werden für privates Liebesglück. Auch hier braucht Handeln nach internen Prämissen noch nichts über die ideologische Grundhaltung des Lai auszusagen. Die Sanktionierung des Handelns funktioniert nach dem höfischen aventure-Schema von Bewährung (in der mit Wundern versehenen aventuré) und Belohnung (Reintegration in den Hof); sie bringt auf diese Weise das ideologische Konzept zum Ausdruck. - Auf Melion soll hier deshalb noch einmal hingewiesen werden, weil sich im Vergleich zum verwandten Bisclavret der Marie de France gezeigt hatte, daß trotz des annähernd gleichen Handlungsschlusses (Verdammung der Ehefrau, Aufnahme des Ritters am Hof) schon aus dem ungleichen Wesen der gleichen königlichen Sanktionierungsinstanzen die exemplarische Menschlichkeit in Bisclavret von der exemplarischen Höfischkeit in Melion unterschieden werden konnte (vgl. S. 128/129). Zusammenfassend läßt sich sagen: Während in Lanval, Graalant und Guingamor eine übernatürliche Macht Zufall spielt und durch ihren erlösenden Gnadenakt den Ritter rehabilitiert und den Artus-Hof ausspielt, so ist in Désiré, Epine und Melion die Zufalls- oder Wundertätigkeit sanktionsabhängig von einer gesellschaftlichen Institution wie Kirche und Hof. Die Gleichsetzung von Sanktionierung und Zu-fall wird in zuletzt genannten Lais aufgehoben; durch Übertragung der Sanktionstätigkeit auf realpolitische Organe wird sie institutionalisiert, des Zufallscharakters beraubt und dementsprechend entmystifiziert. Diese Lais, in denen der Zufall ins suspekte Wunderland des Abenteuers, besonders dem des Liebesabenteuers mit einem feenhaften Wesen, verlegt ist, können ihre höfische Indoktrinierung denn auch nicht verleugnen; so mündet ihre Handlung auch in ein allgemeines joie de la cort - seliges Einvernehmen. Die (Zufalls-)Kräfte, die als externe Faktoren mitwirken, entscheiden auch in Narcisus, Piramus et Tisbé und Le Vair Palefroi nicht nur mit über den Ausgang des Geschehens, sondern lassen in ihrer Sanktionierungsfunktion auch die wahre Autorität der Erzählung erkennen. Ähnlich wie in den Lais der Marie de France ist in Narcisus der wohlweislich geplante Zufall nicht nur mit 132

dem vorausgegangenen Geschehen innerlich verknüpft, sondern er identifiziert und sanktioniert den betroffenen Protagonisten: Mit der zufälligen Betrachtung des eigenen Spiegelbildes in einer Quelle wird die Eigenliebe offenkundig und der Leidgequälte dem Tode anbefohlen: Strafe also als Konsequenz einer maßlosen Existenz, weniger als Reaktion auf eine spezifische Handlung. Der Zufall in Piramus et Tisbe, dessen Liebende wie die in Deus Amanz um ihrer Liebe willen einen Plan verfolgen, wirkt zwar sanktionierend, nicht aber handlungssanktiomerend, wie beim Fehlverhalten in Deus Amanz. In Piramus et Tisbe ist der Zufall nicht mit der Vorhandlung, nicht mit dem Wesen eines Protagonisten verknüpft - in Form von rein zufälligen Mißverständnissen bei der Flucht des Liebespaares fungiert er als Mißgeschick im Sinne einer unglücklichen Fügung. (Ebenso ist der vorhergegangene Zufall, durch den die getrennten Liebenden zueinander gefunden hatten, als ein vom Schicksal oder Liebesgott begünstigter Vorfall anzusehen.) Dem rein akzidentiell sanktionierenden Zufall haftet etwas von einem Willkürakt an; er offenbart einen Glauben an göttliche oder providentiell gelenkte Fügungen, die die Menschen zu bloßen Werkzeugen machen. Seine Moral besteht nicht darin, den Menschen auf seinen verdienten Platz zu verweisen, sondern das schicksalhafte Ausgeliefertsein des Menschen, besonders der Liebenden, an höhere Mächte auszudrücken. Wie in Deus Amanz werden die Liebenden auf der Handlungsebene (mit dem Tode) bestraft; mit dem Liebestod kann jedoch die Idee von der großen Liebe zugleich glorifiziert und mystifiziert werden. Im Vergleich zu Deus Amanz, Fresne, Piramus et Tisbe — sämtlich Lais, in denen das Glück oder Unglück der Liebespaare vom (sanktionierenden) Zufall abhängt — stellt Le Vair Palefroi eine andere Variante dar: Ein Liebespaar plant mit Hilfe des finanzkräftigen Onkels, den Vater des Mädchens für die Hochzeit zu gewinnen. Der in den Plan eingeweihte Onkel wittert seine Chance und hält selbst um die Hand des Mädchens an. Ziel- und zweckorientiertes Handeln scheitert also weder am eigenen Fehlverhalten (wie in Deus Amanz), noch an einer unglücklichen Fügung (wie in Piramus et Tisbe), sondern stößt auf konkurrierende ziel- und zweckorientierte Handlungsweisen eines Rivalen. Anders als in Ignaure jedoch, wo rivalisierende Handlungsweisen den gegenseitigen Ruin herbeiführen, tritt in Le Vair Palefroi der Zufall hilfreich, auch sanktionierend auf den Plan: Wenn schon die Handlungsstrategie keinen Erfolg bringt, so doch eine Handlungsweise, die - ähnlich wie in Fresne— einer positiven Intention entspringt, hier: aus Ehrerbietung zur Geliebten den Zelter zur Hochzeit zur Verfügung zu stellen. Die Rückkehr des Pferdes (mitsamt der Dame) zu seinem richtigen Herrn, dem Geliebten, bedeutet wohl eine schiedsrichterliche Entscheidung über das Geschehen, nicht aber einen Zufall im Sinne einer über-menschlichen Weisung wie bei Marie de France, im Sinne einer höfischen Kontrolle wie in einigen anonymen Lais, eines willkürlichen Eingriffs wie in Piramus et Tisbe. In Le Vair Palefroi wird der Zufall der 'unter-menschlichen' Sphäre, dem Instinkt oder Trieb eines

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Tieres zugeordnet. Der Zufall wird alles Geheimnisvollen beraubt, wird zu etwas aus Natur und Gewohnheit 140 Erklärbaren, zu etwas GewohnheitsmäßigGewöhnlichen. Dadurch, daß HUON LE ROI die Sanktionierung mit Hilfe eines externen Faktors organisiert, der der unverdorbenen, unverfälschten Welt der Natur entstammt, demonstriert er seinen ideologischen Rückzug von der handelnden Natur des zweckorientierten Menschen 141 , aber auch von einer idealen und gerechten Welt der Übernatur (Marie de France) 142 , von einer höfischen Ordnungswelt bzw. willkürlichen Welt des Schicksals. Trotz märchenhafter Verbrämung kann der Lai eine durchaus bodenständige, realistisch-pragmatische Denkweise nicht verleugnen. Die Schlußphase von Aristote, Conseil, Epervier, Ignaure, Nabaret, Oiselet und Haveloc kann auf den externen Faktor ganz und gar verzichten, weil sich hier das Endergebnis kausal(logisch) aus dem Handeln (bzw. auch der Rede) der Protagonisten ableitet. In diesen Erzählungen hat die ziel- und zweckorientierte Inangriffnahme des zentralen Problems von Seiten eines Konfliktbeladenen die beabsichtigte Wirkung, den erstrebten Erfolg (zum Inhaltlichen vgl. das Kapitel über die teleologische Erklärung von Handeln und die Aufstellung). Einen Grenzfall stellt Ombre dar: Hier erweisen sich Handeln nach Grund (Lieben) und Ziel (Gewinn der Geliebten durch ständiges Werben, Bitten, Flehen) als unzweckmäßig, nicht erfolgverheißend. Ein dem Zufall zu verdankender Geistesblitz jedoch, der alles Handeln nach Gründen und Zielen in einer punktuellen Geistesanstrengung bündelt, bewirkt einen plötzlichen Erfolg. Der Zu-fall ist auf den Ein-fall reduziert. Der Strategie des zielorientierten Handelns, aber auch dem von außen geleiteten Zu-fall der Marie de France wird eine Absage erteilt. Das Zufallsmoment ist in die Geisteskraft (seit) des Handelnden, hier des höfischen Menschen, selbst verlegt; das äußere Moment besteht lediglich in einer besonderen Situation, die dem Handelnden eine spontane Eingebung verleiht. Die anonymen Lais, deren Handlung sich nicht aus der Opposition von Wollen und Sollen entwickelt — vgl. das Kapitel über die Aktualisierung des Konflikts — lösen ihre Handlung, den logischen Gegensätzen entsprechend, anders auf. Zunächst zu Tyolet und Doon, in denen Wollen (Lust am ritterlichen Abenteuer) und Sollen (Bewährung im ritterlichen Abenteuer) von 140

141 142

Vgl. Le Vair Palefroi, v. 1021ff.: «Li vairs palefrois savoit bien / Cel estroit chemin ancien, / Quar maintes foiz i ot alé»; v. 1044ff.: «Li palefrois la sente voit, / Qui molt sovent l'avoit hantée» und v. 1067ff. : «Li palefrois s'en va la voie / D e la quele ne se desvoie, / Quar maintes foiz i ot esté, / Et en yver et en esté». Aus gutem Grund wird die Dame vom Pferd gelenkt, nicht umgekehrt. Im vergleichbaren Schlußteil von Fresne stellt sich der Zufall dar als ein wie von weiser, geheimer Hand gefügtes Wiedertreffen eines demutsvoll geopferten Besitzes mit der zufällig und dennoch glaubwürdig wiedererscheinenden Besitzerin. Ein geheimnisvolles Zusammenwirken von eng aufeinander bezogenen internen und externen Faktoren macht hier den Zufall aus.

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vornherhein übereinstimmen. Hier, wo in dem Weg des Ritters aus der Gesellschaft hin zum Abenteuer und wieder zurück in die Gesellschaft ein um Stationen verkürztes Strukturprinzip des höfischen Romans erkennbar ist, löst sich die Handlung einfach nach Erfüllung des subjektiven und objektiven Anspruchs auf. Durch die Reduzierung des Abenteuerwegs auf eine einzige Etappe kann es in den beiden Lais weniger um eine fortschreitende Entwicklung des Individuums (und eine damit verbundene Prestige-Steigerung der Gesellschaft) gehen, als vielmehr um die exemplarische Darstellung eines ritterlichen Abenteuers; insofern stellen die beiden Lais Einzelfälle aus jener Serie von Abenteuern dar, wie sie der Prosaroman gerne verarbeitet. In Trot bricht die Handlung mit der vom Protagonisten geschauten Vision ab, ohne daß seine eventuelle Läuterung oder überhaupt eine Reaktion in der Praxis demonstriert wird. Nicht handlungs-(avenfure-)aktiv wie Tyolet und Doon, sondern didaktisch verbrämt stellt dieser Lai höfische Beispielhaftigkeit dar. Auf ganz andere Weise geschieht dies in Cor und Mantel Mautaille. In beiden Erzählungen wird dekadent-höfisches Verhalten (Untreue des ganzen höfischen Kollektivs) über das Medium Horn / Mantel bloßgestellt und mit dem einzigen Beispiel von ideal-höfischem Verhalten kontrastiert. Höfische Vorbildlichkeit wird also auch durch Teilnahme am Abenteuer (der Horn- und Mantel-Probe) demonstriert, wenn auch nicht in Form eines ritterlich-aktiven (Tyolet, Doon), sondern eines passiven Über-Sich-Ergehenlassens. Schon diese Umwertung des Abenteuers bestärkt in der Vermutung, daß sich der Lai des Ausnahmefalls nur um der Kontrastwirkung willen bediente, d . h . um im Grunde die höfische Nicht-Exemplarität zu veranschaulichen. Die auf dem Gegensatz von Betrüger und Betrogenem beruhende Handlung in Ignaure und Haveloc lassen die (jeweils in der Motivationsphase) betrogenen Protagonisten in der Auflösungsphase auf den Betrug zweck- und zielorientiert reagieren. Motiv und Ziel, Wiedererlangung der Rechte in Haveloc / Rache in Ignaure, fallen dabei zusammen: die hintergangene Partei handelt rückwärtsgerichtet, wenn sie auf den Betrug reagiert, und vorwärtsgerichtet, wenn sie mit ihrem Handeln den angerichteten Schaden ausgleichen will. Die sich nach dem Mechanismus von actio = reactio ergebende Handlung kann, wenn negativ beurteiltes Handeln mit positivem beantwortet wird wie in Haveloc, mit der siegreichen Bekämpfung des Unrechts (Wiedererlangung der Rechte) enden. Das Handlungskonzept, bei dem eigenverantwortliches, zielgerichtetes menschliches Handeln das beabsichtigte Ergebnis hat 143 , steht somit dem von Aristote, Conseil, Epervier, Nabaret und Ombre nahe. Das actio-reactio-Schema kann aber auch, wie in Ignaure, zu einer Kettenreaktion von Handlungen führen, wenn jeweils die Maßnahmen des Vorgängers (Rache) den Beweggrund (Rache) für das nächste zweck- und zielgerichtete

143

Vgl. die Ausführungen zu Haveloc.

135

Handeln der Gegenpartei (Rache) liefern 144 . In Ignaure, wo Betrug und Rache einander ablösen, ruinieren sich die antagonistischen Parteien gerade durch dieses negativ motivierte Handeln, das nicht zuletzt im Text selbst mit ausgesprochen negativen Begriffen wie engin, vengier, (cruele) venganche und trahison laufend belegt wird. Mit der Darstellung rivalisierenden Handelns steht Ignaure dem Vair Palefroi nahe, geht mit der kaskadenartigen Entwicklung zur Katastrophe hin aber noch über dessen Handlungskonzept, das den hilfreichen Zufall vorsieht, hinaus. Zusammenfassung Nach den Ergebnissen aus der Handlungsstruktur-Untersuchung der Realisations- und Auflösungsphase zerfallen die untersuchten Erzählungen in zwei große Gruppen, in die der MARIE DE FRANCE und ähnlich bestimmbare und in eine weitere Gruppe von anonymen Lais. Zunächst zur Marie-de-FranceGruppe: Die den Protagonisten theoretisch offenstehenden Reaktionsmöglichkeiten reduzieren sich auf eine Handlungsweise, die sich aus Charakter-, gesellschafts- und situationsspezifischen Gegebenheiten herleitet. Insofern bleibt bis zur letzten Handlungsphase die Kontinuität der Erzählung gewahrt. Alle diese Lais lassen eine gewisse Praxis im Handeln vermissen: Das in der Mehrzahl der Fälle lediglich von der Intention her zu erklärende Handeln führt auf der Handlungsebene nicht direkt weiter, da es das Handlungsziel nicht verfolgt, sondern lediglich einem tiefenpsychologisch erklärbaren Druck entspricht. Das im Ausnahmefall praktizierte endzielorientierte Handeln führt dagegen zur Katastrophe: Die Menschen sind hier der Verantwortung eines praxisbezogenen Handelns enthoben. — Wenn also die aventure von der Individualität mitzuverantworten ist (Motivationsphase), und Herausforderung bedeutet, die Individualität zu verfestigen (Aktualisierung), bleibt für die Reaktions- und Auflösungsphase zu fragen, worin die Möglichkeiten zur kausalen Wirksamkeit bestehen. Es stellt sich heraus, daß in der Beziehung zwischen Ursache (Handeln) und Wirkung (Ergebnis) dem Zufall eine Rolle zugewiesen wird, die jenseits allen teleologischen Denkens des Menschen liegt. Menschliches Handeln kann in dieser Gruppe von Lais für das Endergebnis nur insofern kausal wirksam werden, als dieses Handeln eine außengeleitete Einwirkung, nämlich den Zufall, die Zufälligkeit oder eine andere Abhängigkeit, provoziert, die es durch positive oder negative Sanktionierung sei144

Zwölf D a m e n fühlen sich von Ignaure als Geliebte betrogen, woraufhin sie den Liebhaber bloßstellen, um sich an ihm zu rächen. - Die von einem losengier aufgeklärten Ehemänner wollen Ignaure töten, um sich an ihm zu rächen. — Die Ehefrauen, die sich mit Ignaure daraufhin solidarisieren, treten wegen der geplanten Maßnahme gegen Ignaure in den Hungerstreik, um sich an ihren Ehemännern zu rächen. - Die Ehemänner bringen ihre Ehefrauen durch eine List dazu, das Herz des inzwischen getöteten Ignaure zu essen, um sich an ihnen zu rächen. — Die betrogenen Ehefrauen gehen durch Hungerstreik in den Tod, um sich an ihren Ehemännern zu rächen.

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nem (positiven oder negativen) Endergebnis zuführt. Kennzeichnend für die Schlußphase ist wiederum die Tatsache, daß interne Prämissen (subjektives Handeln) und externe Faktoren ( Z u f a l l ) zusammentreffen und auf diese Weise für die Handlungsauflösung funktional werden. Das Schicksal koinzidiert hier mit der von existentiellen Vorgaben geprägten Handlungsweise; dem Zufall haftet nichts Willkürliches an, so daß hier zutrifft, was Hegel die «unendliche Willkür der Notwendigkeit» genannt hat. Der Zufall als Funktionär einer Sanktionierungsinstitution, einer Erscheinungsweise des (moralisch) Notwendigen, ist Ausdruck eines mittelalterlich-christlichen Weltbildes, nach dem es nichts Absichtsloses oder Wertindifferentes gibt. Prüfung und Bewährung (durch nicht teleologisch orientiertes Handeln) v o r dem richterlich eingreifenden Zufall führen zu einer moralisch-pragmatischen Sinngebung des Zufalls. — Mit der Erscheinungsform, der Methode und den Mitteln des Zufalls wird schließlich auch die wahre Autorität der Erzählung — und damit das ideologische Konzept der Lais — erkennbar. In den Lais der Marie de France kann sich der Einzelne durch sein subjektives Handeln zwar ausweisen, damit aber nicht eine Lösung seines Problems monokausal bezwecken. So weist ein Zufall, der sich nach einer Ethik des nicht praxisorientierten Handelns richtet, jeden Einzelnen auf den ihm zu-kommenden, zu-stehenden Platz; dieser kann in der Feenwelt, in der Ehe, im Kloster, aber auch in Schande oder Tod sein. Eine derartige Sanktionierungstätigkeit läßt auf eine Ordo-Denken schließen, nach dem das Individuum keine (höfische) Exemplarität anzustreben hat, sondern sich als individuelles Einzelwesen in das umgreifende System der unterschiedlichsten Existenzmöglichkeiten fügt. In anderen Lais vertreten die Erscheinungsformen des Zufalls den Glauben an die individuelle Existenz (Graalant, Guingamor), an die religiöse und soziale Ordnung (Désiré, Epine, Melion, Trot, Doon, Tyolet), an die soziale Unordnung (Cor, Mantel), an die Willkür (Piramus et Tisbé), an das Verdammtsein der individuellen Existenz (Narcisus), vermitteln aber auch realistische (Amours) und pragmatische (Le Vair Palefroi) Denkweisen. Aristote, Conseil, Epervier, Haveloc, Ignaure, Nabaret, Oiselet und Ombre unterscheiden sich von den vorbeschriebenen Lais grundsätzlich insofern, als die Handelnden hier eine zweck-und zielorientierte Lösung des zentralen Problems auf der Handlungsebene nicht nur betreiben, sondern sie dem intendierten Ziel auch tatsächlich zuführen. Hier ist der Zufall funktionslos geworden; Handeln in der Reaktionsphase wird kausal wirksam für das Endergebnis. Ein Verständnis vom menschlichen Handeln, das Unabhängigkeit von außengeleiteten Faktoren beweist, bedeutet die Aufwertung des menschlichen Denkvermögens, menschlicher Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit. Damit zusammen hängt die Bereitstellung eines umfangreichen Arsenals differenzierter Handlungsorientierungen, -formen und -möglichkeiten, die auf eine entwickeltere Praxis menschlichen Handelns schließen lassen.

137

Die Handlungsstruktur als Wertstruktur

I. Merkmale der Handlungsstruktur 1. Dreiteilige Oberflächenstruktur und binäres Strukturprinzip Der hier angewandte Strukturbegriff versteht unter Struktur das der Gruppe von Erzählungen zugrunde liegende gemeinsame Schema, das vielfach aus der Logik, aus der Denkweise und den Denkgesetzen des Menschen oder aus den dem Thema immanenten Gesetzen entwickelt wird. Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, daß die Lais nicht einfach Konglomerate von mittelalterlichen Stoff- und Motivsegmenten sind, wie es teilweise für die anonymen Lais behauptet wurde, sondern daß auch sie strukturiert sind, daß sie sogar — so wie höfischer Roman, Mirakel oder Fabliau — eine typische Handlungsführung aufweisen. Das für die Lais aus empirisch-synchronischer Betrachtungsweise entwickelte Schema hat der Identität des einzelnen Textes Raum gelassen, unterschiedliche Handlungsführungen bzw. -strukturen in den Lais zu erkennen, so daß sich die untersuchten, unter dem Gattungsnamen Lai firmierten Erzählungen in drei große Gruppen einteilen lassen: — In die Gruppe, deren Handlung sich ausschließlich durch das enge (aufeinander bezogene) Zusammenwirken von subjekt-internen Prämissen (individuelle Vorgaben) und externen Faktoren (außengeleitete Einwirkungen) strukturiert - wie sämtliche Lais der Marie de France, Cor/ Mantel, Désiré, Graalant, Guingamor, Epine, Melion, Narcisus, Piramus et Tisbé, Tydorel, Le Vair Palefroi. — In die Gruppe, deren Handlung sich nach dem (aventure-)Muster des höfischen Ritterromans, sprich der «Artusszenen-Struktur» 1 , organisiert — wie Doon, Tyolet, andeutungsweise auch Désiré und Melion, in ideologischer Umkehrung Guingamor und Parodierung Cor / Mantel. — In die Gruppe, deren Handlung ohne außengeleitete Einwirkungen auskommt, d.h. in der das Moment des Zufalls, der Zufälligkeit oder irgendeiner anderen Abhängigkeit von einem Außen für die Handlungsfortführung (besonders den Handlungsbeschluß) funktionslos geworden ist — wie Aristote, Conseil, Epervier, Haveloc, Ignaure, Nabaret, Oiselet, Ombre. Das Strukturschema ist im übrigen so konzipiert, daß es nicht zu einem überzeitlichen Strukturgesetz erstarren muß, sondern als historisches Faktum er1

Vgl. B. Schmolke-Hasselmann (1980, 42ff.).

138

kennbar ist. Bevor die Strukturanalyse jedoch dazu verwandt wird, historisch bedingte Denkformen zu erhellen, sollen die Charakteristiken der Handlungsstruktur - jeweils für die einzelnen Gruppen — im folgenden kurz zusammengefaßt werden. — Es besteht kein Zweifel, daß die Erzählungen oder die meisten von ihnen einen sogenannten dramatischen Handlungsverlauf aufweisen2, eine Tatsache, die sicherlich mit dafür verantwortlich zu machen ist, daß einige Interpreten den Lais — oder einzelnen von ihnen — eine dreiteilige Struktur 3 zuerkannt haben. In der Tat läßt sich in den Lais - als Folge der meist geschlossenen, organisch gewachsenen Handlungsführung, die im Konflikt gegensätzlicher Haltungen gipfelt und ihre Spannung aus zwei im Widerspruch befindlichen Wertvorstellungen (Wollen / Sollen) bezieht 4 — der kontinuierliche Ablauf der dramatischen Stadien wie Exposition, Höhepunkt, Beruhigung oder Lösung gut verfolgen 5 . Auch das in dieser Arbeit entwikkelte Strukturschema, das sich in Handlungsmotivation, Aktualisierung des Konflikts, Reaktion und Auflösung gliedert, scheint — zumindest an der Oberfläche — auf diese Dreiteilung hinzudeuten. Mit diesem Modell wird allerdings einer fiktiven Handlung Rechnung getragen, die sich in ihrem Charakter mit der des menschlichen Handelns im allgemeinen deckt. Es geht dabei um ein Handeln, das — nach der klassischen aristotelischen Einteilung in «Praxis» und «Poiesis» - auf den Bereich der gesellschaftlichen Praxis verweist (im Unterschied zur herstellenden Tätigkeit, die am Ende des Prozesses selbständige Produkte vorweist). Denn allein «die Götter genießen ihr Glück, ohne den Zwang zur Praxis» 6 — im Bereich der menschlichen Gesellschaft, den die Lais reproduzieren, ist eine praxisenthobene Seinsweise nicht möglich. Um die Hauptmomente, die (auch) das Handeln in den Lais bestimmen, besser zu verdeutlichen, bietet es sich an, das Handlungsmodell nach den Hegelschen «drei Hauptpunkten» zu definieren: Erstlich der allgemeine Weltzustand, welcher die Voraussetzung für die individuelle Handlung und deren Charaktere ist; zweitens die Besonderheit des Zustands, dessen

2

Vgl. dazu zusammenfassend P. Ménard (1979, 79 und 8 0 ) «Chez Marie de France, au contraire, les lais possèdent une action dramatique» bzw. «Bref, il y a vraiment une tension dramatique».

3

So z. B . R . Dubuis (1973, 467). Der Titel eines Aufsatzes von A . Knapton « L a Structure en triptique» ( 1 9 7 7 ) ist allerdings etwas irreführend. Die Autorin erkennt für alle Lais der Marie der F r a n c e eine «Zweiphasigkeit» («double séparation», S. 88; «deux actes privilégiés», S . 8 7 ; «premier jalon» - «deuxième jointure», S. 92) in der Handlung und begründet die Dreierzahl - wegen ihres christlich-symbolischen Gehalts

-

durch den Schnittpunkt, der sich aufgrund der «Zweiphasigkeit» ergibt. 4

Hegel ( 3 1 9 7 6 , 2 0 3 ) spricht hier von der «kollisionsvollen Situation», die «vornehmlich der Gegenstand der dramatischen Kunst» ist.

5

Dementsprechend versucht P. Ménard (1979, 6 1 - 7 8 ) die Lais über die Einteilung «Point de départ», «Crise et dénoument» zu erfassen. A u f mittelalterliche Normen übertragen, hießen diese Kategorien (nach A . Knapton 1977, 8 7 ) «introduction», «narration» .«conclusion».

6

Aristoteles, E N 1178b, D e caelo 292 a 22ff.

139

Bestimmtheit in jene substantielle Einheit die Differenz und Spannung hervorbringt, die das Anregende für die Handlung wird - die Situation und deren Konflikte; drittens die Auffassung der Situation von Seiten der Subjektivität und die Reaktion, durch welche der Kampf und die Auflösung der Differenz zum Vorschein kommt die eigentliche Handlung 7 .

Unter dem allgemeinen Weltzustand versteht Hegel die die Subjektivität «umgebende(n) Welt als allgemeinen Bodens für ihre (sc. der Subjektivität) Realisationen» 8 . Dieser «Weltzustand der geistigen Wirklichkeit» ist bei der Analyse der Lais insofern bereits implizit mitbehandelt worden, als — selbst wenn nicht immer auf die (höfische) Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts explizit verwiesen wurde - in den Lais die Scheidung von Allgemeinheit und Individuum eine Grundvoraussetzung der Handlung ist. Durch die Tatsache, daß dieser allgemeine zeitgeschichtliche Zustand an dem Besonderen der konkreten Individualität in den Lais «seinen festen Gegensatz» 9 gefunden hat, d.h. auch mit der Absonderung des Individuums aus Umwelt oder Welt fügt sich der Lai hinsichtlich seines Grundverständnisses von Handlung, in deutlicher Abhebung vom Heldenepos, in die im 12. Jahrhundert entstehende Romanliteratur ein. Anhand der die erste Handlungsphase kennzeichnenden Begriffe wie Charakter-Insuffizienz und emotionale Disponiertheit, Herausforderung oder Aggression wurde demonstriert, wie von Anfang an der (Lebens-)Zusammenhang von Individuum und Umwelt gestört war, wie sich das Individuum bereits in der Brüchigkeit eines ersten naiven Selbstverständnisses befindet. Wie desintegrierbar der Einzelne bleibt, tritt bei der Aktualisierung des Konflikts offener zutage, wenn nämlich gegenseitige Interessen oder Ansprüche artikuliert werden und der Widerspruch von Wollen und Sollen die Krise auslöst. Wie unvereinbar Privatheit und Umgebung sind, wird in vielen Lais an der sich gerade nicht vollziehenden Reintegration des Individuums in die Gesellschaft demonstriert. «Wenn nun aber im 'Heroenzustande' das Subjekt mit seinem gesamten Wollen, Tun, Vollbringen im unmittelbaren Zusammenhang bleibt»10, so bedeutet Handeln nach der Spaltung dieser «Totalität»11 in Allgemeines und Besonderes, daß ein Individuum, «was es tut, aus seiner Persönlichkeit heraus tut», daß es etwas «für sich als Person» tut, «und steht deshalb auch nur für sein eigenes Handeln, nicht aber für das Tun des substantiellen Ganzen ein, dem es angehört» 12 . — Wenn der allgemeine Zustand «wohl der für sie (sc. die Individuen) vorhandene Boden» 13 ist, so gibt doch die «Spezialität der Zustände» 14 zu Verwicklungen und Kollisionen dem Individuum Anlaß, sich je nach Veranlagung und Interessenlage zu verhalten oder zu handeln. Diese spezifischen Umstände und Zustände bilden - wie die zweite Handlungsphase zeigt — die «partikulare Situation» 15 , «die Mittel7

12

8

G. W. F. Hegel ( 3 1976, 179). ibid. 9 ibid. (180). 10 ibid. (187). Ii Nach G.Lukäcs.

13

140

14 15

G. W. F. Hegel ( 3 1976, 188). ibid. (196). ibid. ibid. (196ff).

stufe» (ist) «zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung, weshalb sie auch den Charakter sowohl des einen als anderen Extrems in sich darzustellen und uns von dem einen her zu dem anderen hinüberzuleiten hat» 16 . Die Situation mußte also Veranlassung zum Handeln geben, mußte sich als «wesentliche Differenz» 17 gestalten und «als im Gegensatz gegen anderes eine Kollision begründen» 1 8 . Die Kollision bedeutet im allgemeinen in den Lais einen großen Einschnitt, wenn nicht Einbruch in das im trügerischen Scheinglück gelebte Leben; denn noch genießen die Menschen ein relatives Glück, da sie die Wahrheit, den bestehenden Gegensatz zur Umwelt (z.B. eine Charakterschwäche oder ein privates, verbotenes Liebesglück) nach außen hin noch leugnen wollen oder können. Mit der Manifestation eines (gerechtfertigten) Anspruchs, die gleichzeitig die Wahrheit, die schwelende Dissonanz, offenbart, werden die subjektiven Interessen (oder Ansprüche) und Besonderheiten kategorisch verletzt. Man denke an die vielen Gewalttaten in dieser Phase wie den Mord am Geliebten (Yonec), die Tötung des (Liebes-) Vogels (Laüstic), die Verbannung aufs Schiff oder in den Kerker (Guigemar). Andererseits braucht der Einbruch, wie geschildert wurde, nicht drastisch oder direkt zu erfolgen: Die Manifestation des rechtmäßigen Anspruchs braucht für sich genommen noch keine «kollidierende Tat» 19 zu sein, der sie im Namen des Rechts Postulierende kein ausgemachter Antagonist — man denke z.B. an die feudalrechtlich abgesicherte Argumentation in Equitan oder Fresne. - Mit der Kollision stellen sich dennoch die geistigen Lebensmächte in ihrer totalen Differenz heraus: Kontradiktorische Oppositionen — das von der Gesellschaft vertretene an und für sich «Sittliche» (die Ehe z . B . in Laüstic, Guigemar; die Normalität z . B . in Bisclavret) und der vom Individuum vertretene subjektive, besondere Anspruch (das Liebesglück z.B. in Laüstic, Guigemar; die Besonderheit z.B. in Bisclavret) — treten offen hervor. Dieser Widerspruch von Gesellschaft (als etwas Außerindividuellem) und Individuum (als etwas Außergesellschaftlichem) wird (nach N.ELIAS) als «unreale Antinomie» empfunden (da jedes gesellschaftliche Wesen zugleich ein privates und jedes private zugleich ein gesellschaftliches Wesen ist) 20 . Wenn — von einem sozial-philosophischen Standpunkt aus gesehen - auch nicht zwei grundsätzlich gegensätzliche Kategorien anzunehmen sind, so wird in der Erzählung dieser Gegensatz doch wirksam für die Konstituierung der Handlung. In dieser Funktion sind die Privatheit der gesellschaftlichen Wesen und die Gesellschaftlichkeit der privaten Wesen irrelevant, wenn sie auch bedacht werden sollten. (Darüber hinaus erfährt der Leser kaum etwas über den Anteil am Gegensatz in der jeweiligen Partei, also nichts von der Privatheit 16 17 18 19 20

ibid. (199). ibid. (203). ibid. (203). ibid. (213). Vgl. dazu N . E l i a s (1969) zur höfischen Gesellschaft des 17.Jahrhunderts.

141

der gesellschaftlichen Wesen — sie treten kraft ihrer rechtlich, amtlich, gesellschaftlich und standesgemäß abgesicherten Autorität auf — eher schon etwas von der gesellschaftlichen Art der von subjektiven Interessen geleiteten Wesen: Es sind fast ausschließlich höfisch-aristokratische Vorbildmenschen, ideal typisch bis zum Zeitpunkt des Handlungsbeginns.) — Wenn die Situation Veranlassung zum eigentlichen Handeln gibt, der Gegensatz (die wesentliche Differenz) eine Kollision begründet, die ihren Grund in einer «Verletzung» hat, so «ist auch die Kollision noch keine Handlung» 21 . Vielmehr fordert die den Gegensatz postulierende Kollision das in seiner Privatsphäre verletzte oder beeinträchtigte Individuum heraus, auf das «Störende und Hemmende», das sich seinen Zwecken und Leidenschaften entgegenstellt, zu reagieren. In diesem Sinne beginnt die eigentliche Aktion erst, wenn der Gegensatz «herausgetreten» ist, den die Situation enthielt 22 . In dieser dritten Phase nun strebt die Kollision über die aktive oder inaktive Reaktion des Protagonisten ihrer Auflösung (auf die literarische Ebene übertragen: der Beruhigung des narrativen Prozesses) entgegen. In dieser Handlungsphase lassen sich aufschlußreiche Erkenntnisse für Handlung und Gattung gewinnen: Als Folge der «Handlung als einer in sich totalen Bewegung von Aktion, Reaktion und Lösung»23 in Hinblick auf ihre spezifische Struktur, dann auch, da «die Handlung die klarste Enthüllung des Individuums» ist, «seiner Gesinnung sowohl als auch seiner Zwecke» 24 . Wenn also «die Situation und ihr Konflikt das überhaupt Erregende» sind, so «kommt die Bewegung selber, die Differenz des Ideals in seiner Tätigkeit, erst durch die Reaktion hervor» 25 . Die Betrachtung der Handlung in ihrer logischen Abfolge von 1. Situation - hier aus Gründen des konkreten Bezugs auf den Handlungsantrieb als Handlungsmotivation verstanden, 2. Kollision — hier aus Gründen der sich zwingend aus der Motivation ergebenden Wirkungsmöglichkeit als Aktualisierung des Konflikts verstanden, umsomehr als es sich hier häufig nur um eine 'Kulmination' der Situation und keine Tat handelt und 3. Reaktion bzw. Lösung legt es nahe, einen in sich schlüssigen Erzählzusammenhang und die logische, kausale (und psychologische) Geschlossenheit des Geschehens zu konstatieren. Wie in den einzelnen Handlungsphasen demonstriert wurde, entwickelt sich jedes funktionale Handlungselement folgerichtig aus den vorangehenden, so daß für alle Lais Homogenität, Kontinuität und eine kausale Kohärenz des Geschehens unbestreitbar werden 26 . Die so verstandene Handlung als Inter21 22 23 24 25 26

G.W.F.Hegel ( 3 1976, 203). ibid. (214). ibid. (216). ibid. (210). ibid. (217). Es bestätigt sich für die Lais, was bereits Aristoteles zur Handlung sagte: «Die Teile der Handlung müssen so zusammengesetzt sein, daß das Ganze sich verändert und in Bewegung gerät, wenn ein einziger Teil umgestellt oder weggenommen wird» (vgl. Poetik 8, 1451 a 3 0 - 3 4 , deutsch von O.Gigon, 1961,35). - Die These von der Homo-

142

dependenz einer Vielzahl von Handlungsetappen macht aus deren Summe ein funktionales Ganzes. Mit den kausal aufeinanderfolgenden, miteinander kooperierenden und verflochtenen Handlungseinheiten bleibt durch alle isolierten Handlungsetappen hindurch die zwischen allen vermittelnde Einheitlichkeit durchgehend gewahrt. — Diese grundsätzliche Erkenntnis zur Handlungsstruktur wäre lediglich von erzähltechnischem Interesse, wenn sie nicht auch die einzelnen Erzählelemente sinnvoll zusammenschlösse und daraus gattungssepzifische Schlüsse für den Lai ableitbar würden: Weil der Aufbau des Lai vom Anfang (und nicht vom Schluß) ausgeht, weil das Geschehen stets erklärbar ist, nicht abrupt oder willkürlich verläuft — weil der Lai also von vorne motiviert 27 ist, hebt er sich von anderen mittelalterlichen Erzählformen, zum Beispiel dem höfischen Roman ab, dessen Geschehen sich erst im nachhinein erklärt. Die in den Lais — mit Ausnahme von Doon und Tyolet (Cor / Mantel) - gewählte Motivation verweist auf eine spezifische Individualität des Menschen; sie konstituiert einen gerechtfertigten und begründeten Zusammenhang von Motivierendem und Motiviertem, auf die Handlungsabfolge bezogen, eine a priori innere Beziehung des Subjekts zu seinem Handeln — einen Bezug, den der höfische Roman — wie auch Doon und Tyolet (Cor / Mantel) - aufgrund seines Handlungsstrukturprinzips erst über das Ergebnis herstellt 28 . Mit der Einsicht in den logischen und konsequenten Zusammenhang der drei funktionalen Handlungsstrukturelemente läßt sich mit dem eigentlichen (tieferen) Sinn gleichzeitig auch die Funktion des Zufalls erschließen; daraus, daß der Zufall nunmehr in seiner Funktionalität faßbar wird und nicht mehr als unverhofft eintretendes, willkürliches Handlungsmoment zu betrachten ist, können - gerade an dem hier völlig neu verstandenen Schicksalsbegriff - aufschlußreiche, die Gattung individualisierende Schlüsse gezogen werden. Wenn sich am Lai aufgrund seiner Handlung qua Handlung, d. h. nach den für menschliches Handeln allgemein gültigen Theorien (u.a. auch nach den von der Pariser Semiologenschule 29 für die Narrativik entwickelten Handlungsfunktionen) auch jene Trias der Handlungsabfolge aufweisen läßt, so verbirgt sich hinter dieser in der Kurzepik (und dem Drama) häufig zu beobachtenden Struktur noch eine speziellere, tiefer gelegene Struktur, die erst genität und Kontinuität kann im übrigen auch mit Brémonds Sequenzmodell («éventualité» - «passage à l'acte» - «achèvement») sowie mit Barthes' Unterscheidung von Kardinalfunktionen und Katalysen in Verbindung gebracht werden. 27

28

29

So hat es C. Lugowski (1976, 66ff.) in Anlehnung an Sklovskijs Begriff von den 'Motivation von hinten' formuliert. Vgl. dazu C. Lugowski (1976) «Alle Einzelzüge der Handlung, die im Sinne der 'Motivation von hinten' motiviert erscheinen, sind in ihrem Dasein nur im Angesichte des Ergebnisses gerechtfertigt, nicht begründet wie bei der vorbereitenden Motivation, aber doch gerechtfertigt» (75) bzw. «Der Zusammenhang zwischen konkreten Einzelzügen geht immer über das Ergebnis, und soweit uns heute die vorbereitende Motivation im Blut liegt, sehen wir da nur Zusammenhanglosigkeit» (79). Vor allem C . B r é m o n d und A . J.Greimas. 143

mit der eingehenden Analyse der Tiefenstruktur auf der Ebene klassifizierbarer Handlungsfunktionen erkennbar werden konnte. Dabei haben sich drei unterschiedlich strukturierte Gruppen von Lais ergeben, die im nachfolgenden einzeln behandelt werden sollen: Zunächst zur Gruppe der Lais von Marie de France und den ihnen verwandten wie Desire, Graalant, Guingamor, Epine, Melion, Narcisus, Piramus et Tisbé, Tydorel, Le Vair Palefroi. Zusammenfassend läßt sich sagen: Charakteristisch für diese Lais ist eine zweiteilige (binäre) Struktur. Zunächst bedeutet dies, daß jedes für die Handlung funktionale Element zweier Faktoren bedarf, konkreter: Es müssen jeweils sogenannte interne Prämissen und externe Faktoren zusammentreffen, um einen Fortschritt in der Handlung zu bewirken. In der Motivationsphase sind dies: Charakter-Insuffizienz und emotionale Disponiertheit (die unter Umständen von einer Aggression bewirkt ist, wie in Lanval und Eliduc) mit den entsprechenden äußeren Einwirkungen — am Beispiel Guigemar wäre dies die mangelnde Liebesbereitschaft (Charakter-Insuffizienz), auf die der (Liebes-)Bann einer Hindin trifft (supplementäre Konditioniertheit), oder am Beispiel Yonec die Sehnsucht einer höfischen Dame nach höfischer Liebe (emotionale Disponiertheit), die das Eintreffen eines (Vogel-)Geliebten (supplementäre Konditioniertheit) bewirkt — weitere ähnlich gelagerte Beispiele, auch für die anonymen Lais, können der Tabelle entnommen werden. Diese beiden Faktoren, denen noch andere Motivationssequenzen folgen können, enthalten jeweils die Konfliktsubstanz, d.h. sie werden tragend für die Krise bzw. Aktualisierung des Konflikts. Am Beispiel Guigemar: Der ersten Motivationsetappe wird eine weitere (zweiteilige) hinzugefügt. Der Ritter verliebt sich im Gefolge des ihm auferlegten Liebesbannes (emotionale Disponiertheit / interner Faktor) und erhält die Gegenliebe einer unglücklich verheirateten Dame (supplementäre Konditioniertheit). Um ein Beispiel aus den anonymen Lais zu zitieren: In Desire, Graalant und Guingamor werden die Liebesgefühle der Ritter von einer Fee (aus jener suspekten Wunderwelt) erwidert; der Schlaflosigkeit eines Königskindes wird nicht mehr mit der einlullenden Geschichte, sondern mit einem aus dem Volke stammenden Sprichwort begegnet. Obwohl die betroffenen Protagonisten bis zum Ende dieser (Motivations-)Phase ein relatives Glück genießen, sind alle diese Konstellationen insofern konfliktträchtig 30 , als sich die Krise am Widerspruch kristallisiert, der in der Motivationsphase bereits angelegt, aber noch nicht wirksam geworden ist, sich die Krise denn auch an den genannten externen (Stör-)Faktoren entzündet. - Die Aktualisierung des Konflikts bedeutet 1. Aufdeckung der in der Motivationsphase entwickelten Konstellation und 2. Artikulation des (Fremd-)Anspruchs und damit Dynamisierung der (logischen) Opposition. Am Beispiel Guigemar: Das Liebesverhältnis wird vom Ehemann entdeckt; sein Anspruch auf die Ehefrau wird durch die Verbannung des Liebha30

Vgl. die Spalte Summe der Motivationssequenzen in der Tabelle.

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bers auf das Meer und die Einkerkerung der Ehefrau angemeldet. Oder: Feudalherren verlangen die rechtmäßige Ehe ihres Königs, so daß dessen Liebesverhältnis zur Frau des Seneschalls gefährdet ist (Equitan). Oder: Eine Ehefrau deckt die Werwolfsnatur ihres Mannes auf; ein Anspruch auf ein anderes Liebesverhältnis wird dadurch freigelegt. In Lanval, Désiré, Graalant, Guingamor wird der Aktualisierung des Konflikts noch eine weitere (doppelte) Motivationsetappe vorgeschaltet, nämlich das Gebot der Fee, das Liebesverhältnis geheimzuhalten (interne Prämisse) und die Aufforderung oder Herausforderung seitens der höfischen (Lanval, Graalant), christlichen (Désiré) bzw. ritterlichen (Guingamor) Welt. In allen Fällen stoßen Werte des Inneren (Emotionalität, Subjektivität, Singularität - Wollen) und des Äußeren (Gesellschaft, Norm, Gesetz — Sollen), teilweise ohne jegliche dramatische Inszenierung, aufeinander. Wie dieser Widerspruch im betroffenen Individuum ausgetragen wird, zeigt sich am offensichtlichsten in Lanval, der sich, wie alle anderen Protagonisten in den Lais, körperlich in einer Welt (Artushof) befindet, zu der er seelisch-geistig (Feenwelt) nicht gehört. Wie sich diese Spannung in einer Grenzsituation entlädt, d . h . wie sich das Rollenspiel auf die Dauer nicht aufrechterhalten läßt, demonstriert in diesem Fall das (verleumderische) Liebesangebot der Königin, aufgrund dessen Lanval nicht umhin kann, sich zu 'bekennen'. (Es sei hier kurz angemerkt, daß genau an dieser Stelle die von J. FRAPPIER31 entwickelte Theorie über die Struktur des Lai ansetzt: Zum Lai gehöre der Übergang aus der normalen Welt in eine andere; diese andere Welt kann die der Fee, aber auch die der höheren Liebe bzw. die nur bestimmten Menschen zugängliche Gefühlswelt sein. Der Lai stellt gewissermaßen den Übergang von einem «milieu fermé» zu einem «milieu ouvert» dar — die Protagonisten dringen in eine höhere Welt ein; wenn nicht gerade in die überirdische, dann doch in die der höheren Minne. Mit der Beschreibung der durch ein [Krisen-JMoment [aventure] verbundenen beiden [Handlungs-]Ebenen, die der Protagonist durchschreitet, hat J.Frappier als erster für a l l e Lais ein zweiteiliges Strukturprinzip erkannt; seine Strukturbestimmung basiert allerdings nur auf einem einzelnen, aus dem Zusammenhang der Handlung gelösten Phänomen - eben diesem Übergang von der einen Welt in die andere, die den Profanen unzugänglich und die die Welt des Wunderbaren bzw. die einer höheren Denkart ist. Mit diesem Strukturprinzip läßt sich der Lai in die übergreifende Gattung höfischer Roman oder in andere idealisierende höfische Literatur des Mittelalters einreihen 32 , nicht aber von ihnen abgrenzen.) — Auch in der letzten Handlungsphase (Reaktion und Auflösung), die z.B. J.Frappier mit seinem Strukturprinzip nicht mehr erfaßt, müssen wiederum zwei Faktoren, hier individuelle Reaktion bzw. individuelles Handeln (interne Prämisse) und ein Zufall, eine Zufälligkeit oder eine andere Abhängigkeit (externes Moment) zusammentreffen, um die Lösung oder 31 32

(1961, 2 3 - 3 9 ) . Vgl. auch W . K r ö m e r (1973, 45).

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das Ergebnis der Handlung zu bewirken. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Fresne, die Geliebte des Feudalherrn Gurun, darf diesen nicht heiraten, da sie als Waise (externer Faktor) und damit als Konkubine in das Haus des Feudalherrn eingezogen ist. Statt diese fruchtlose Gemeinschaft mit Fresne (= Esche) länger mit anzusehen, wünschen und betreiben die von ihren eigenen Interessen geleiteten Lehnsmänner eine fruchtbare Ehe mit Coldre (= Haselnuß). Das Mädchen Fresne zeigt sich daraufhin geduldig, leidet im Stillen, reiht sich in die Dienerschaft ein und beweist seine ganze Barmherzigkeit und Opferbereitschaft, als es seine einzige Habe, eine kostbare Decke, über das Brautbett breitet, da ihm die vorhandene zu verschlissen erschien. Soweit die Reaktion nach Aktualisierung des Konflikts. Um das Handlungsergebnis herbeizuführen, m u ß jetzt ein Zufall, eine Zufälligkeit, ein äußeres Moment eintreten, das mit dem inneren Moment (hier das subjektive Handeln) korrespondiert. In diesem Fall erkennt die Brautmutter, die ihre Tochter Coldre in das Schlafgemach begleitet, ihre eigene Decke wieder; sie kann daraufhin Fresne als ihre eigene Tochter, die sie als Säugling ausgesetzt hatte, identifizieren und — im letzten Moment — dieser Tochter Fresne die Ehe mit dem Geliebten Gurun ermöglichen. Die Zufälligkeit (Wiederentdecken der Tochter) hing von einem ganz spezifischen Handeln ab. Auch in den anderen Lais besteht ein unmittelbarer Bezug von Zufall, Zufälligkeit und dem vorhergegangenen Handeln (wie im Kapitel Reaktions- und Auflösungsmodelle ausführlich beschrieben wurde). Über die rein (erzähl-)technische Abgestimmtheit von Handeln und Zufall (Abhängigkeit von etwas Außengeleitetem) — analog zu der von interner Prämisse (Charakter-Insuffizienz und emotionale Disponiertheit) und externem Faktor (u.a. auch Zufälle, Zufälligkeiten, Abhängigkeiten) in der Motivationsphase — ist bei genauerer Betrachtung des Handeln-Zufalls-Bezugs nunmehr der Zufall in seiner Funktion erklärbar geworden, eine Erkenntnis, die sich von früheren Theorien über den Lai und seinem Schicksalsbegriff grundlegend unterscheidet. Verkürzt gesagt: Subjektives Handeln in der Reaktionsphase provoziert den Zufall (oder irgendeine außengeleitete Einwirkung) insofern, als der Zufall bzw. die sich ergebende Zufälligkeit das Handeln sanktioniert. (Gleiches gilt teilweise schon für den Bezug von interner Prämisse und externem Faktor in der Motivationsphase, man denke an die Bestrafung eines Liebesunwilligen durch den Liebesbann [Guigemar], an die Bestrafung einer Verleumdung durch eine Zwillingsgeburt [Fresne] oder die Belohnung der Kinderlosigkeit mit der Geburt eines Kindes aufgrund einer Pilgerfahrt [Désiré], aufgrund der Liebesbeziehung zu einem übernatürlichen Ritter [Tydorel]). Mit der Konzeption der verdienten, gerechten und gerechtfertigten Belohnung und Bestrafung durch den Zufall erfährt der bislang eher als willkürlich angesehene Schicksalsbegriff in den Lais insofern eine Korrektur, als er jetzt auf die Ebene einer moralischen Aussage- und Wirkungsmöglichkeit gehoben wird. Mit dem spezifischen Zufallsmoment ergibt sich ein grundsätzlicher Unterschied zur dritten Gruppe von Lais bzw. zur anderen 146

mittelalterlichen Kurzepik, weil dort bloßes Handeln das Ergebnis und die Lösung bewirkt und der Zufall (oder ein anderer externer Faktor) funktionslos wird oder im anderen Falle der Zufall als ein reiner Willkürakt fungiert. Wie gezeigt wurde, liegt sowohl für die Phase der Motivation als auch für die der Reaktion und Auflösung eine Doppelung der Handlungsfunktionen vor, wobei der Mittelteil, die Aktualisierung des Konflikts, eine Kristallisierung der Motivationssequenzen darstellte. Aus dieser Konzeption läßt sich ableiten, daß die Lais unter der dreiteiligen Oberflächenstruktur einer kategorialen Handlungsabfolge von Exposition, Kollision (dramatischer Höhepunkt) und Lösung im Grunde zweigeteilt sind, d. h. zwei große, je zweiteilig strukturierte Phasen mit kristallisierendem Mittelpunkt enthalten. - Ausgehend von der Tatsache, daß zwei (binäre) Teile der Erzählung durch ein kritisches Moment verbunden sind, läßt sich ein Strukturprinzip erkennen, das der Zweiteilung jenes Romantyps ähnelt, den CHRÉTIEN DE TROYES in Erec et Enide vorgestellt und im Yvain und im Conte du Graal weiterentwickelt hat. Ohne auf das Strukturmodell des höfischen Romans eingehen zu wollen 33 , sei hier angemerkt, daß für diese Gattung ebenfalls das Bauprinzip des (zweifachen) Doppelwegs charakteristisch ist, das im Unterschied zum additiven und im Sinne additiver oder variierender Wiederholung scheinbar unmotivierten Doppelungsschema des spielmännischen Epos 34 an einen gestuften, differenziert gegliederten doppelten Zyklus gebunden ist. Der zweite Handlungszyklus wiederholt dabei in gewisser Weise den ersten, indem er den Helden unter veränderten Vorzeichen und neuen Bedingungen über einen parallelen Weg führt. Mit dem Ende des zweiten Handlungszyklus wird dann nicht nur die Position, die mit dem Abschluß des ersten Kreises erreicht war und durch die Krise verlorenging, zurückgewonnen, sondern am Ende wird diese Position auf einer höheren Ebene neu verstanden. Da dieses Prinzip der Doppelkreisstruktur in den Lais der Marie de France und anderen bisher nur von W.HAUG für den Laitypus der Graalant-Gruppe (Lanval, Guigemar, Guingamor, Désiré, Graalant) erkannt wurde 35 , bedarf die Anwendung dieses 33

V o n der Zweiteiligkeit in der Komposition und der Bedeutung der Artus-Stationen geht W. Kellermann (1936) aus; er nennt sie die «tragenden Pfeiler der Romanarchitektur» (12). Eine ausführliche Darstellung erfährt die Form bei H . E m m e l (1951), die insbesondere in den Graldichtungen Chrétiens und Wolframs die Bedeutung der einzelnen Artus-Einkehren für das Romangefüge untersucht und - unabhängig von H.Schneider (1947) — zeigt, wie im Yvain / Iwein die Struktur des Perceval / Parzival vorgearbeitet ist. Eine umfassende literatursoziologische Deutung des Strukturmodells - etwa auch die Erklärung von aventure aus der Differenzierung des Ritterstandes und die Bestimmung des hochhöfischen Romans in Anlehnung an G . L u k â c s «Theorie des Romans» hat E. Köhler ( 2 1970) vorgenommen. Grundlegend für die Erkenntnis der Struktur sind auch die Arbeiten von R . R . B e z z o l a (1947), H . K u h n (1948; 1959), K . R u h (1967) und E . F r o m m (1969).

34

Vgl. M.Curschmann (1971, 627ff.). W. Haug (1971) sieht in der Doppelkreisstruktur der Lais das historische Vorbild für Chrétiens Struktur und den Beweis für eine gemeinsame Stofftradition von Lai und höfischem Roman eines Chrétien de Troyes.

35

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Schemas auf die ersten beiden Gruppen von Lais der Erläuterung, zumal die typisch ritterlich-höfische Ausprägung der aventure, wie sie W. Haug in der Graalant-Gruppe mit der Handlungsabfolge von «Auszug vom Hof», «Jagd», «Begegnung mit der Partnerin» ( = relatives Glück) - «Krise», «Tiefpunkt», «Umschwung» und «Rettung» ( = dauerndes Glück) wiederfindet, für die große Gruppe der Lais zu differenzieren ist: Auszugehen ist dabei vor allem von der anfänglichen Mangelsituation, mit der eine Existenz konfrontiert ist. Ob es sich dabei um eine Charakerschwäche handelt, die den Protagonisten begleitet (Tydorel) bzw. die ihn selbst (Guigemar, Chaitivel) oder seinen Partner (Bisclavret) in eine andere Mangelsituation führt, nämlich in die Bereitschaft zu einer (oder mehreren) Liebesgemeinschaft(en), oder ob diese Liebes-Sehnsucht aus gesellschaftsspezifischen Gegebenheiten herrührt (wie bei den mal-mariées in Guigemar, Yonec, Laüstic) oder situationsbedingt ist aufgrund der natürlichen (auch altersspezifischen) Anziehung (wie in Equitan, Fresne, Deus Amanz, Désiré, Epine, Melion, Milun, Chievrefoil), oder ob das Liebesgefühl Folge einer vorausgegangenen Diskriminierung ist (Lanval, Eliduc, Graalant, Guingamor) - bedeutsam ist jeweils der als qualvoll empfundene Mangel, der Wunsch nach etwas, nach jemanden. Dieser existentielle Bedarfszustand (in der Aufstellung als interne Prämisse gekennzeichnet) erreicht bereits im ersten Zyklus eine gewisse Befriedigung: Die in den meisten Fällen ersehnten Liebhaber treten auf den Plan (kommen im Zauberschiff, finden sich im Feenland, fliegen als Vogel-Ritter ein, oder werden normal angetroffen); in den anders gelagerten Bisclavret und Tydorel kann die Anomalität (Werwolfsnatur bzw. Schlaflosigkeit) aufgrund ihrer Geheimhaltung noch hingenommen werden. Bis zum Abschluß dieser Motivationsphase geben sich die Protagonisten einem relativen Scheinglück hin, das zumeist in einer geheimgehaltenen, aber intensiv gelebten Liebesbeziehung besteht. — Die Protagonisten, die sich in derlei problematischen Konstellationen befinden, begreifen die ganze Tragik ihrer Existenz noch nicht oder wollen sie leugnen; sie scheuen sich vor einer Veränderung ihres trügerischen Glücks, d.h. vor einer Offenbarung der Wahrheit, nämlich ihrer wahren, gelebten, eigentlichen (privaten) Existenz. Dieser Glückszustand (im Unglück), der zwar die emotionalen Kräfte aktiviert, trägt denn auch zu einer Passivität in Bezug auf die Außenwelt bei, die sich vollends im Rollenspiel erschöpft. — Von besonderer Bedeutung für das Doppelkreisschema ist die Krise im Übergang beider Handlungskreise, die den Scheingipfel, zu dem der erste Weg (meist Liebesglück unter Ausschluß der Öffentlichkeit) den Protagonisten geführt hat, entlarvt. Die meist szenische Darstellung der Offenbarung der problemträchtigen Konstellation (wie z . B . ein außereheliches Liebesverhältnis) bedeutet eine einschneidende Veränderung insofern, als sich der Protagonist auf einmal in einem schuldhaften Zustand wiederfindet. Dieses Schuldigwerden kommt in der gesellschaftsvermittelten Mißbilligung des (meist gesetzesoder normwidrigen) (Liebes-)Verhältnisses (Equitan, Fresne, Deus Amanz, Milun) zum Ausdruck, bzw. in seiner Entdeckung und Entlarvung (Guige148

mar, Laüstic, Epine), die dazu noch selbstverschuldet sein kann (Yonec). Schuldig werden aber auch die Ritter Lanval, Désiré, Graalant, Guingamor, die ein Tabu gegenüber ihrer Feens-Geliebten brechen (da sie ihr Inneres offenbaren); schuldig werden auch der Werwolf (Bisclavret), der seine Doppelnatur bekennt bzw. seine Frau, die sie nicht erträgt, eine Dame, die sich sogar nach dem Tod von drei Bewerbern nicht für den vierten entschließen kann; schuldig wird auch Eliduc, den die Verpflichtung gegenüber der Ehefrau und dem Lehnsherrn ruft, schuldig auch der König Tydorel, nachdem ihm sein Zwitterwesen offenbart wird. Allerdings schlägt das Schicksal in den Lais nicht plötzlich und unerwartet zu. Hier wird eine Initiative wirksam, die in der Ausgangskonstellation bereits mitangelegt ist und die die innere Kohärenz des Geschehens gewährleistet (vgl. die Spalte Konfliktsubstanz in der Aufstellung). — Die Krise als Strukturelement steht am Übergang beider Handlungskreise und ist auf beide bezogen. Sie setzt das scheinbare Zusammenstimmen von Protagonist und Umgebung, seine nach außen aufrechterhaltene Konformität, abrupt außer Kraft. Die Krise stellt die Werte der bisherigen Orientierung in Frage, erzwingt die Trennung von allem Erworbenen, hier meist dem Liebespartner, beraubt den Protagonisten seines relativen Glücks und stürzt ihn in eine zweite, viel grausamere, da totale Mangelsituation. Wie diese Krise an die Vertreibung aus dem (Liebes-)Paradies erinnern kann, hat J. SCHULZE am Beispiel Guigemar beschrieben 36 ; er konstatiert zwei Handlungsräume in diesem Lai, den paradiesischen und den realistischen, und folgert, daß «die Vertreibung aus dem Paradies erst die Möglichkeit öffnet, das Liebesverhältnis in die Wirklichkeit zu überführen» 3 7 . — Der zweite Handlungskreis liegt jeweils dann vor, wenn auf dem Tiefpunkt des (privaten) Glücks, wenn bei totaler Infragestellung der (privaten) Existenz der Wandel von der Haltung der (scheinbaren) Konformität zu einer neuen Verhaltensqualität (Selbstverzicht) freigesetzt wird: Nach einem relativen Höhepunkt («relativer Vollkommenheit») am Ende des ersten Teils der Erzählung wird durch Offenbarung und Infragestellung bzw. (drohende) Vernichtung dem Protagonisten die Möglichkeit vermittelt, absolute Erfüllung zu erlangen, d . h . das Glück zu institutionalisieren oder, wie sich in den Lais erweist, diese Möglichkeit auch zu vergeben und die endgültige Katastrophe herbeizuführen. Die Haltung des Protagonisten nach der Krise ist grundsätzlich verschieden von derjenigen vor der Krise. Während in der ersten Phase die Protagonisten sich eines (in Frage stehenden) Glücks e r f r e u t e n , l e i d e n sie jetzt an dem totalen Verzicht auf dieses Glück, an dem vollkommenen Ruin ihrer privaten Existenz. Es liegt nun an ihnen, sich zu bewähren, um ein dauerhaftes, absolutes Glück zu erlangen. — Die Krise, die analog zum Artusroman zwei Zyklen aufeinander bezieht, fungiert als Infragestellung des ersten Kursus, der einen labilen Zustand des Glücks beschreibt; der Zustand einer stabilen Harmonie (oder der endgülti36 37

J.Schulze (1980). J.Schulze (1980, 320).

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gen Katastrophe) ist das Ergebnis einer (sozialen) Wirksamkeit des Handelns in der zweiten Handlungsphase. Der Handlungsneuansatz des zweiten Weges begründet sich demnach auf einer höheren Ebene. Höher insofern, als nach der rein privaten, egozentrischen Einstellung im ersten Zyklus nunmehr dem Menschen eine neue, christlich-moralisch zu nennende Haltung abverlangt wird. 2. Das Handeln und seine Implikationen Worin die besondere Leistung oder Bewährung liegt, die die Protagonisten im zweiten Zyklus zu erbringen haben, um sich das dauerhafte (absolute) Glück zu erwerben, hat sich mit Hilfe der WEBERschen Theorie des sozialen Handelns erkennen lassen. Dabei ergaben sich Handlungstypen wie zweckrationales, wertrationales, affektuelles / emotionales, traditionales Handeln 38 , die von der subjektbezogenen Handlungsbegründung her das Endergebnis entscheidend mitstrukturieren. Zusammenfassend läßt sich sagen: Die hier vorgenommene Handlungsuntersuchung geht von dem Ansatz aus, daß in den Lais die personale Wesensart der Figuren eine für Handlung und Gesamtsinn der Lais wesentliche Rolle spielt. Diese personale Wesensart soll nicht mit modernen Begriffen wie Charakter, Persönlichkeit, freie Entfaltung usw. gleichgesetzt werden. Die Untersuchung hat jedoch gezeigt, daß die Figuren trotz ihres mehr oder weniger übereinstimmenden idealtypisch-höfischen Auftritts im ersten Zyklus des Geschehens Handlungsweisen im zweiten entwickeln, die auf ganz unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale hindeuten. Die auffallende Inkongruenz von idealisierender Beschreibung der Protagonisten und deren teilweise unheroische Haltungen und Handlungen offenbart sich also in Aktion und Interaktion nach dem Ausbruch der Krise39. Die Gestalten werden dabei in den Lais keine Individuen im vollen Sinne des Wortes; sie sind das, was sie tun (um es mit MARX ZU sagen), erfahren ihre Subjektivität im Handeln. Dabei wird jede einzelne unverwechselbar sie selbst, mit ihren eigenen Begabungen, Fehlern, Schwächen, Stärken. Die Bedeutung des individuellen Handelns in den Lais läßt sich aber erst bei einer Gegenüberstellung mit dem Artusroman ganz ermessen; dort erscheinen die Handelnden umso typischer und an persönlichen Wesenszügen umso ärmer, je wichtiger ihre Handlungsfunktion ist. Es bestätigt sich auch aus dieser Perspektive CHRÉTIEN DE TROYES' programmatische Nutzung der Struktur. Die Helden sind von ihrer Charakterisierung durch den Dichter her weitgehend 38 39

Vgl. die Definition der Begriffe bei M.Weber (1981, 4 4 - 4 6 ) . Vgl. zur Persönlichkeitsoffenbarung in der Handlung besonders E. Eberwein (1933), die von «der Ausweisung menschlichen Seins am unheimlichen Begegnenden» spricht (43 u.ff.), R.Schober ( 1 9 5 4 - 5 5 , 5 5 - 5 6 ; 1970), L.Spitzer (1930), zuletzt L.K.Twiford (1978). Alle diese Untersuchungen betonen die Bedeutung der menschlichen Reaktion, ohne allerdings die Handlungsweisen zu differenzieren und Schlüsse auf deren Zusammenhang mit dem Handlungsergebnis zu ziehen.

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auswechselbar. Zum Beispiel unterscheidet sich Erec von Yvain nur insofern, als er sich in der bestimmten, nur ihm zufallenden aventure erprobt. Die Individualität liegt hier sozusagen in den objektiven Stationen, die der Held durchläuft; die Romanhelden sind Träger bestimmter demonstrativer (offizieller) Handlungen. Dagegen wird die Handlung des Lai wesentlich durch die Entscheidung, die selektive Reaktion der einzelnen Gestalt — nach der ihr eigenen Veranlagung und den nur ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Mitteln — bestimmt. — Gerade durch die Analyse des zweiten Handlungszyklus läßt sich die Struktur des Werkes maßgeblich bestimmen und von anderen Erzähltypen (auch vom'höfischen Roman 4 0 ) abgrenzen. In den Lais der Marie de France sowie in Desiré, Graalant, Guingamor, Epine, Melion, Tydorel, Le Vair Palefroi hat dementsprechend das (objektive) positive bzw. negative Endergebnis seine Ursache in der (subjektiven) positiven bzw. negativen Reaktion des von der Krise Betroffenen — eine Reaktion, die gewissermaßen eine Prüfung des Protagonisten darstellt, über seine Bewährung (oder Nichtbewährung) entscheidet. Zu fragen wäre dabei, was in den Lais positives bzw. negatives Handeln bedeutet (zumal davon ausgegangen wird, daß Handeln auf eine gesellschaftliche Praxis mit den ihr eigenen Wertmaßstäben verweist und deshalb Rückschlüsse auf diese spezifische Gesellschaft und ihre Ethik zuläßt). Um aus dem Kapitel Reaktions- und Auflösungsmodelle zusammenzufassen: In vorgenannten Lais wird das sog. «zweckrationale Handeln», ein Handeln, das «Mittel», für «erstrebte und abgewogene eigene Zwecke» 41 einsetzt, geleugnet, abgelehnt bzw. verurteilt. Nur in wenigen Lais kommt es überhaupt vor: In Equitan, Bisclavret, Eliduc, in denen es drastisch praktiziert wird (Mordanschlag, Verrat, Entführung der Geliebten), führt es zur Katastrophe für die Urheber. In Deus Amanz scheitert es an der Ausführung des gut durchdachten und moralisch vertretbaren Plans; in Yonec wird es durch die Unterstützung eines übernatürlichen Verbündeten, eines mit Wundermitteln ausgestatteten Vogelritters, in ein 'gutes' Ende hinübergerettet, was bereits deutlich auf die prinzipielle Abhängigkeit des Menschen von der Betreuung und Lenkung einer höheren Gewalt verweist. Wie aus den Beispielen hervorgeht, ist es allen diesen Protagonisten nicht vergönnt, in eigener Regie und Verantwortung dem Leid abzuhelfen, das aus der Krise resultiert. Die Protagonisten können «erstrebte und abgewogene eigene Zwecke» 42 , auf ein Ziel hin ausgerichtete Pläne, nicht realisieren. Entweder werden sie dabei ausfallend (Bisclavret, Equitan) oder unüberlegt und verwirrt (Eliduc, Piramus et Tisbé), neigen zur Maßlosigkeit (wie die Vogelritter-Geliebte) und Selbstüberschätzung (Deus Amanz). - Dagegen wird emotional bedingtes 40

Vgl. R. Schober ( 1 9 5 4 - 5 5 , 56) «Es ist ganz klar, daß es Marie auf die Darstellung dieses menschlichen Verhaltens ankommt, nicht auf die auslösenden Zufälle ( . . . ) Darin liegt der Hauptunterschied zwischen Mariens aventure-Begriff und dem des höfischen Romans».

41

Max Weber (1981, 44). ibid.

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Handeln, ein Handeln, das durch «aktuelle Affekte und Gefühlslagen» 43 bestimmt ist, akzeptabel, wenn vertretbare Motive zugrunde liegen. Das klassische Beispiel dafür sind Lanval und Graalant, deren Handeln im Affekt entschuldbar ist, da mildernde Umstände (einerseits eine Provokation, andererseits die unerschütterliche Loyalität) berücksichtigt werden können 44 . Seine Strafe für die Offenbarung des Liebesverhältnisses erhält der Ritter dennoch mit den Qualen um den Verlust der Freundin, die fast seine ganze Existenz bedrohen. — Nicht entschuldbar ist dagegen ein Handeln, das von Gefühlslagen bestimmt ist, die aus Charakterveranlagungen wie Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung und Vermessenheit (Deus Amanz) 45 bzw. wie Hochmut und Dünkel (Chaitivel) 46 resultieren. - Emotionales Handeln wie Fliehen (Guigemar, Yonec) oder eine spontane Kontaktaufnahme zur Geliebten durch Schwan (Milun), Brief (Amours) oder eine verschlüsselte Nachricht (Chievrefoil) wird nicht bestraft, kann im Zusammenhang mit «wertrationalem Handeln» belohnt (Milun) oder überhaupt nicht sanktioniert werden (Amours, Chievrefoil). «Wertrationales Handeln», ein Handeln, das von ethischen, ästhetischen, religiösen Wertvorstellungen geprägt ist und nicht auf den eigenen Gewinn abzielt, wie der Verzicht auf den Geliebten (Fresne, Milun, Epine, Le Vair Palefroi, Laüstic, Chievrefoil, teilweise Eliduc), die (zeitweilige) Pflichterfüllung gegenüber dem Lehnsherrn und der Ehefrau (Eliduc, Melion) oder die Opferbereitschaft, Demut und Fürsorge (Fresne, Le Vair Palefroi, Eliduc), das Beten für den Geliebten (Epine) wird mit einem realen oder transzendierten 'happy ending' belohnt. — Dem traditionalen Handeln, das die «eingelebte Gewohnheit» 47 erkennen läßt, wie es sich in dem Bedürfnis nach christlicher Beichte (Désiré) oder nach dem Erzählen einer erlebten aventure (Guingamor) bzw. nach dem Ehrenkampf (Guigemar), im «pris querre» (Milun), in der Abenteuersuche (Epine) zeigt, winkt das Liebesglück; es kann in seiner Legitimität von offizieller Seite noch bestätigt werden (Désiré, Epine). Das Handlungskonzept jener ersten beiden Gruppen von Lais läßt eine Reihe von Vorbehalten gegenüber menschlichem Handeln (insbesondere zweck- und zielorientiertem Handeln) erkennen: 1. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen verhindern end-(bzw. handlungs-)zielorientiertes Handeln (ausdrücklich in Chievrefoil und Laüstic, in anderen Lais implizit). 2. Die auf 43 44 45

46

47

ibid. Vgl. dazu auch H.-J. Neuschäfer (1969, 100-102). In Deus Amanz kann ein Jüngling aus einem Anflug von Anmaßung («Kar n'ot en lui point de mesure», v. 189) seiner Aufgabe nicht gerecht werden. Vgl. zum Zusammenhang von Schicksal und Bewährung in Deus Amanz W.Noomen (1973, 481) «Le sort du jeune homme, personnage privilégié, dont la trame principale du lai est victime de sa propre conduite irrationelle, en est l'illustration». In Chaitivel kann sich eine Dame aus dünkelhafter Unschlüssigkeit («Ne volt les treis perdre pur l'un», v.55) nicht für den ihr übriggebliebenen Ritter entscheiden. M.Weber (1981, 44). 152

die Verwirklichung ihrer eigenen Interessen ausgerichteten Handelnden scheitern ausnahmslos in ihrem Handeln; sie beachten nicht die Ethik des Maßes. 3. Jedes menschliche (zweckrationale, wertrationale, affektuelle, traditionale) Handeln wird sanktioniert. Der Handelnde kann mit seiner Reaktion auf die Krise (interne Prämisse) für das Handlungs-Endergebnis nicht monokausal wirksam werden; sein Handeln bedarf eines externen (Zufalls-)Moments, das das Endergebnis positiv oder negativ organisiert — je nach Bewährungsqualität. 4. Die Qualität der Bewährung orientiert sich an dem Grad von Passivität im Handeln 4 8 ; die extrem positiven Werte dieses Handelns sind daher: Verzicht, Erdulden, Leidensfähigkeit, Leidensbereitschaft (bis an die physischen und psychischen Grenzen), Selbstbescheidung, Selbstverzicht, Selbstaufgabe. - Die Nichtbewährung ist ablesbar am Grad der Aktivität im Handeln. Die extrem negativen Werte dieses Handelns sind daher: Anmaßung, Selbstüberschätzung, Überlegenheitsgefühl, Vermessenheit, Eigeninitiative. - Die Lais vermitteln eine Ethik des Maßes und des Leids; sie verquicken römisch-antike Liebespathologie, keltische Liebesverhängnis-Ideologie und christliches Leidensethos.

3. Der Zufall und seine Aussage Daß dem Handlungsende ein handlungsfunktionaler Zufall, eine Zufälligkeit bzw. eine andere Abhängigkeit von externen Faktoren unmittelbar vorgeschaltet ist, bedeutet eine Schlußakzentuierung, der innerhalb des Handlungsgefüges eine besondere Bedeutung zuzumessen ist: Sie sanktioniert das unmittelbar vorausgegangene Handeln des Protagonisten und organisiert dementsprechend das Ergebnis der Handlung. Solche externen Faktoren sind: Wundertätigkeiten mittels Zauberschiff (Guigemar), Fee (Lanval, Désiré, Graalant, Guingamor), Zauberring und -schwert (Yonec), Horn oder Mantel (Cor, Mantel), aber auch ungeahnte Zufälligkeiten wie die Reaktion des Ehemannes auf einen Mordanschlag (Equitan), wie das Wiedererscheinen der Mutter (Fresne), wie das Zusammentreffen von König und Werwolf bzw. Werwolf und Ehefrau beim König (Bisclavret), das Zusammentreffen von Vater und Sohn (Milun) oder auch mannigfaltige symbolische Darstellungen, Wendungen des Innen nach außen, wie die Transzendierung seelischer Vorgänge in Wahrnehmbares, wie die Verewigung der Liebe durch ihre Visualisierung, Symbolisierung, Fiktionalisierung oder Metaphorisierung (Deus Amanz, Yonec, Laüstic, Chaitivel, Chievrefoil) und Abhängigkeiten von anderen äußeren Momenten, wie z.B. vom plötzlichen Unwetter (Eliduc), vom Heilkraut (Eliduc), vom (Brief-)Boten (Amours), vom Tierinstinkt (Le Vair Palefroi), vom übermenschlichen Verzicht der Ehefrau auf den Ehemann (Eliduc), nicht zuletzt vom König Artus (Melion, Epine, Désiré). Immer trifft ein Moment des Inneren (subjektives Handeln oder subjektive Empfindung) 48

E. Eberwein (1933, 43) spricht daher von der «passiv bestandenen Aventure».

153

mit einem Moment des Äußeren zusammen und wird handlungsentscheidend bzw. -beschließend. Der Zufall in den Lais, so läßt sich zusammenfassend sagen, weist folgende Charakteristiken auf: 1. Der Zufall, den die Protagonisten als Fatum erleben, ist von der inneren Notwendigkeit des Geschehens diktiert. Obwohl sich der Zufall logisch und folgerichtig in den Handlungsablauf einfügt, obwohl er sich teilweise aus dem vorangegangenen Handeln selbst ergibt, erfüllt er doch die Bedingungen eines klassischen Zufalls. Er kann durch den Handlungsträger nicht absichtlich (direkt oder unmittelbar) eingeleitet oder herbeigeführt werden, d.h. er tritt akzidentiell auf und stellt sich den Handlungsbeteiligten (auch den Lesern) als überraschendes Zufälliges, ja zunächst als «unbegründete Koinzidenz von Begebenheiten» 49 dar. Eine Ausnahme bilden nur jene Lais, in denen die reale Handlung über die Transformierung des Seelenzustands auf eine Ebene des Außen von den Betroffenen selbst zum Abschluß gebracht wird. 2. Der Zufall erweist sich als «Erfüllungsgehilfe der Notwendigkeit» 50 ; aufgrund der über die Handlungsuntersuchung gewonnenen Erkenntnisse können voneinander unabhängige Ereignisse nunmehr als zusammengehörig erkannt werden 51 : Der Zufall stellt sich zwar von selbst ein; er wird als Zufall jetzt aber durch die spezifische Sinnsetzung faßbar; das rein Akzidentelle bestimmt sich nach einem (inner-) kausalen Prinzip. 3. Der Zufall (die Zufälligkeit oder eine andere Abhängigkeit von äußeren Faktoren) sanktioniert eine menschliche Vorleistung, die sich im subjektiven Handeln während einer Krisensituation begründet, d.h. er belohnt menschliches Bewähren und bestraft menschliches Versagen. Dem Protagonisten fällt zu, was ihm zukommt in dem Sinne, was ihm zu-steht, d. h. was er (sich) (handelnd) verdient (hat). Die richterliche Entscheidung des Zufalls über das endgültige Glück oder Unglück des Protagonisten wird durch subjektives Handeln zum Günstigen oder Ungünstigen hin beeinflußt; die Bewährung findet vor dem Zufall statt (und nicht über ihn, wie im höfischen Roman). 4. Das Wirken des Zufalls vollzieht sich im Erlösungs- bzw. Gnadenakt. Die Protagonisten bleiben bis zum Schluß auf Gnade oder Ungnade, auf eine positive oder negative Weise der Erlösung angewiesen. Damit wird zum einen die Schuldproblematik, die sich aus dem Handeln ergibt, besonders hervorgekehrt, zum anderen bleibt die Funktion des Götterwillens als transzendente Macht oder Instanz bis zum Ende unbestritten. 5. Der Zufall in den Lais macht das Bedingungsverhältnis bzw. die Wechselwirkung von Schicksal und Charakter 52 evident: Zum einen wird das Schicksal durch die 49 50 51

52

E.Nef (1970, 7). So E.Köhler (1973, 25) zum Zufall in der Princesse de Cleves. Danach entspricht der Zufall in den Lais dem Zufallsbegriff, den P. Bürger (1974, 87) herausgestellt hat. Nach ihm beruht der objektive Zufall auf der Selektion übereinstimmender semantischer Elemente in voneinander unabhängigen Ereignissen. Vgl. W.Benjamin (1961, 48f.) zu Schicksal und Charakter: «Zwischen dem wirkenden Menschen und der Außenwelt vielmehr ist alles Wechselwirkung, ihre Aktionskreise gehen ineinander über; ihre Vorstellungen mögen noch so verschieden sein,

154

Wesensart des Menschen herausgefordert, zum anderen besiegelt und sanktioniert es durch seinen Eingriff ein charakterlich bedingtes Handeln. Aufgrund dieser provokativen Abhängigkeit von Handeln (Charakter) und Zufall (Schicksal) handelt es sich weder um den fatalistischen Zugriff noch um den 'objektiven' Zufall (wenn es ihn gäbe). Die kausale Verknüpfung von Charakter und Zufall macht dennoch das Schicksal nicht antizipierbar. 6. Der Zufall (die Zufälligkeit oder Abhängigkeit von äußeren Momenten) weist den Protagonisten öffentlich aus; er weist ihm seine eigentliche Identität nach, löst die Spannung von Wollen (innerer Anspruch) und Sollen (äußerer Anspruch), die sich zunächst nur im Inneren des betroffenen Protagonisten vollzieht, nach außen hin auf. 7. Der Zufall — als zweckdienliches Instrument eines moralischen Wirkungsanspruchs - erhält in dieser Funktion eine durchaus pragmatische Sinngebung. In ihm drückt sich eine für das Mittelalter charakteristische christlich-moralische Ablehnung alles Absichtslosen und Wertindifferenten aus 53 , damit auch die mittelalterliche Vorstellung von der göttlichen Vorsehung, nach der es nichts Fremdes und Zufälliges geben kann 54 . 8. Mit dem Zufall in qualifizierender Sanktionierungsfunktion, in der Konzeption auch einer spezifischen Aussage- und Wirkungsmöglichkeit, offenbart sich die ideologische Grundeinstellung des Lai. Der rein schematisch vorliegende unendliche Transfer von Werten in der Erzählung kommt nur durch die qualifizierende Perspektive des Autors zum Abschluß, in den Lais noch darüber hinaus durch seine fiktionale Intervention, das dominierende Subjekt als rechtmäßig dominierendes, das verlierende als zu Recht verlierendes auszuweisen. Diese qualifzierende Haltung, die konstitutiv in die ganze Erzählung miteingeht, wird also insofern noch direkt eingenommen, als der Autor über die Sanktionstätigkeit des Zufalls seine Präferenzen (und damit auch sein Weltbild) eindeutig bekundet. In den Lais der MARIE DE FRANCE und den ihr verwandten drückt sich über den Zufall eine christliche Grundeinstellung aus, nach der alles HeidnischWillkürlich-Fatalistische abgelehnt und die Abhängigkeit des Glücks oder Unglücks vom Handeln des Menschen angenommen wird - der Glaube an eine theozentrische Aufeinanderhinordnung von Diesseits und Jenseits. - In Cor / Mantel drückt sich mit dem Zufall eine kritisch-sarkastische Haltung ihre Begriffe sind nicht trennbar. Es ist nicht nur in keinem Falle anzugeben, was letzten Endes als Funktion des Charakters, was als Funktion des Schicksals in einem Menschenleben zu gelten hat (. . .) sondern das A u ß e n , das der handelnde Mensch vorfindet, kann in beliebig h o h e m Maße auf sein Innen, sein Innen in beliebig hohem Maße auf sein A u ß e n prinzipiell zurückgeführt, ja als dieses prinzipiell angesehen werden. Charakter und Schicksal werden in dieser Betrachtung, weit entfernt theoretisch geschieden zu werden, zusammenfallen». 53 54

Vgl. dazu auch E . K ö h l e r (1973, 2 7 - 2 8 ) . Vgl. W. Sanders (1965, 2; besonders 45—74), der herausstellt, wie wenig sich das Faktum der Unwägbarkeit, der vollkommenen Ungewißheit, mit christlichem D e n k e n vereinbaren läßt und wie nach christlichem Glauben das Glück des Einzelnen vom sittlichen Verhalten abhängt (56).

155

gegenüber dem höfisch-aristokratischen Leben aus; in Désiré, Epine, Melion kommt mit der Abhängigkeit von Sanktionsinstanzen wie Kirche und Hof, die den/die Protagonisten reintegrieren, eine norm- und gesellschaftsbestätigende Haltung zum Ausdruck. In Le Vair Palefroi ist (mit dem in den Tierinstinkt verlegten Zufall) eher eine bodenständig-pragmatische Überzeugung zu spüren, wie sie sich im übrigen bereits durch den ganzen Lai hindurchzieht. In der antikisierenden Erzählung Piramus et Tisbé wird ein willkürlicher Zufall wirksam, der den Menschen zum Spielball seiner Launen macht. — In allen Lais wird nach Regeln sanktioniert, die den Sinn des Geschehens auf deren Weltanschauung hin orientieren. 4. Exkurs: Das binäre Strukturprinzip auf sprachlicher und inhaltlich-formaler Ebene LUCIEN GOLDMANNS Theorie der «structure significative», des auf allen Ebenen strukturierenden Denkprinzips, spielt auch in andere werkimmanente Erscheinungsformen des binären Prinzips hinein. Ohne ins Detail zu gehen, sei hier nur an die wichtigsten Anwendungen des binären Prinzips auf sprachlicher, inhaltlich-formaler Ebene erinnert: z.B. an J.A.FREYS «Linguistic and Psychological Couplings in the Lays of Marie de France» 55 . Frey konstatiert binäre und symmetrische Konstruktionen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen (linguistische Doppelungen, metrische, syntaktische Paarbildungen, thematische Parallelen, dingliche und charakterspezifische Analogien) und weist auf die Analogie zur Thematik der Lais (Harmonie und Ausgewogenheit in der Liebe) hin. Freys Analyse läßt bereits etwas von der «structure significative» ahnen, da die «globale Tendenz» zur binären Strukturierung auf sprachlichen und inhaltlichen Ebenen erkennbar wird. - Eine linguistisch orientierte Strukturuntersuchung von D. M. DAY56 hat gezeigt, daß die Lais in ihrer syntaktischen Organisation der Romanliteratur des 12. Jahrhunderts nahestehen. — Über das binäre Prinzip auf stilistischer Ebene hat sich F. SCHÜRR57 geäußert, der sich mit der für Marie de France charakteristischen «Spiegelungstechnik» befaßt, einer künstlerisch virtuosen Darstellungsweise, die den Sinn der ganzen Erzählung (anhand von Spiegelungen, Brechungen, Gleichläufen, Verdoppelungen, Perspektivenwechseln, Symbolik usw.) wie in einem «Brennspiegel» erscheinen läßt. — Mit Stilmitteln des Vergleichs und der Umwandlung (Wiederholungen, Komparative, Metaphern, Personifikationen, Sprichwörtern, Hyperbeln, Symbolen, Synekdochen, Metamorphosen) setzt sich E. NAGEL58 auseinander. Nach R. SCHOBER59 liegt die Besonderheit der Darstellungskunst in der sog. «Doppelgipfligkeit» in dem mehrfach verschlungenen Geschehen: Ein Hauptgedanke (Handlungszentrum) 55 56 57

J.A.Frey (1964). D . M . D a y (Diss.Phil. 1975). F. Schürr (1930).

156

58 59

E.Nagel (1930). R.Schober (1970).

wird durch vielfältige kompositorische Mittel (Perspektivenwechsel, Symbolik, leitmotivartige Wiederholungen, Steigerungen usw.) unterstützend abgerundet. - Auf der inhaltlichen Ebene haben viele Lai-Interpreten die antagonistischen, dualistischen Lebensbereiche oder Handlungsräume gesehen: L. SPITZER60 die Problem weit in der Märchenwelt, eine reale versus irreale, körperliche versus symbolische, sinnliche versus übersinnliche Welt; S.F. DÄMON61 die Durchdringung von Bewußtem und Unterbewußtem, Realität und Traum, Außenwelt und Innenwelt; J. FRAPPIER62 den Ablauf des Geschehens auf zwei Handlungsebenen, der normalen und außergewöhnlichen, an deren Schnittpunkt sich das Abenteuer des zwischen den beiden Welten pendelnden Protagonisten vollzieht 63 ; R.SCHOBER64 den Antagonismus von gesellschaftlichem und privatem Lebensbereich; H. GENAUST65 die antithetische Struktur der Handlung; A. KNAPTON66 die stete Wiederaufnahme gleicher Handlungssegmente (wie zwei Jagden in Equitan, zwei kriminelle Handlungen in Equitan, zwei Metamorphosen in Bisclavret, zwei Ausritte in Lanval usw. 67 ) innerhalb einer Erzählung; R.DRAGONETTI68 die Übertragung realer (menschlicher) Probleme auf die transzendente (metaphorische, fiktive, d.h. literarisch überhöhte) Ebene; E. SIENAERT69 einen Antagonismus von Realität (Problemwelt) und (Wunder- bzw.) Idealwelt, die als potentielle Problemlösungs- bzw. Evasionswelt bereitsteht 70 — oder J.SCHULZE71 die Aufeinanderfolge zweier grundsätzlich verschiedener Handlungsräume, einem paradiesähnlichen und einem realen-realistischen, wobei der erstere eine relative, der zweite die höchste Vollkommenheit garantiert. Das Konzept J. Schulzes, das allerdings nur auf den Guigemar der Marie de France bezogen ist, wendet sich gegen die bisherigen Evasions-Konzepte: Zum ersten Mal wird hier die moralische Leistung der (auf dem Doppelweg zu erlangenden) Selbsterziehung und Selbstverwirklichung des Protagonisten herausgestellt — eine Feststellung, die den in dieser Arbeit gewonnenen Ergebnissen für die große Gruppe von Lais nahekommt, die am heilsgeschichtlichen Vorbild orientiert 60 61 62 63

64 65

66 67

68 69 70

71

L.Spitzer (1930). S . F . D ä m o n (1929). J. Frappier (1961). Dadurch, daß J. Frappier anhand seines Konzepts eine innere Strukturierung erkennt, geht er über andere Ermittlungen zum binären Prinzip hinaus. R.Schober (1970). H. Genaust (1965) untersucht die antikisierenden Lais\ seine Ergebnisse sollen jedoch auch für die Lais der Marie de France zutreffen. A. Knapton (1977). A.Knaptons Handlungssegmente kommen der Proppschen Klassifizierung von Handlungen sehr nahe. R.Dragonetti (1973). E. Sienaert (1978). Insofern greift E.Sienaert den Gedanken H.Baaders (1966, 336) von der Evasion in den Lais auf. J.Schulze (1980).

157

sind. — Das Prinzip der Zweiheit findet sich nicht zuletzt im ideellen Bereich, und zwar in der Liebeskonzeption, die ein sog. «Liebesbund-Denken», eine partnerschaftliche, gleichberechtigte, gleichbetroffene Liebe erkennbar werden läßt72.

II. Handlungsstruktur und weltanschaulicher Gehalt

1. Binäres Strukturprinzip und heilsgeschichtliches Denken Charakteristisch für die Lais der ersten beiden Gruppen, so hat sich herausgestellt, ist das Strukturmodell des parallelen und gestuften Doppelwegs, das mit seinen beiden aufeinanderbezogenen konzentrischen Kreisen die «absichtliche spiegelbildliche Kontrastierung zweier Daseinsstufen» 1 repräsentiert. Im Anfangsstadium sind die Protagonisten nicht neutral, sie befinden sich in einer Art Krise. Ihr erster Weg führt zu einem trügerischen Glück, einer Scheinlösung der Krise, zu einem relativen Aufstieg (aus dem existentiell zu begründenden Mangelzustand meist in ein verbotenes, geheimgehaltenes Liebesverhältnis). Die strukturelle Mitte bildet der rechtmäßige Anspruch einer gesellschaftlichen Instanz, der antagonistisch wirksam wird und den Sturz des Protagonisten in eine neue, totale Krise bewirkt. Die Infragestellung des relativen Glücks ermöglicht einen neuen Aufstieg, nämlich über einen beschwerlicheren Weg, über Leid, Entbehrung und Tugendhaftigkeit den in Frage gestellten subjektiven Anspruch zu verfestigen bzw. das subjektive Sein oder Dasein zu stabilisieren. Die Struktur läßt dabei eine Verlagerung des Gewichts auf den zweiten Handlungszyklus erkennen. Die Bewährung (oder das Versagen), die in einer Fügung ihre Anerkennung (oder Ablehnung) findet, ist in eine Art novellistischen Wendepunkt verlegt, an dem alles gewonnen oder verloren werden kann. Zur Veranschaulichung hier ein Beispiel an Guigemar und Deus Amanz:

72

1

Vgl. aus den zahlreichen Arbeiten zur Liebeskonzeption nur L. Pollmann (1966, 252ff.) bzw. die bereits zur Liebeskonzeption der Marie de France genannte Literatur. So wie es H.Kuhn (1948, 134) für Hartmanns Erec formuliert hat.

158

Deus Amanz

1. Handlungszyklus:

Guigemar

a) Mangelsituation b) relative Erfüllung

Liebesunwilligkeit Liebesbann

a) Mangelsituation

Wunsch nach Liebeserfüllung Heimliches Liebesverhältnis

Wunsch nach Liebeserfüllung Auftreten eines idealen Jünglings (Liebesverhältnis)

Anmeldung des ehelichen Rechts auf die Ehefrau (Verbannung des Liebhabers aufs Meer)

Anmeldung des väterlichen Rechts auf die Tochter (Stellen einer unlösbaren Aufgabe)

b) relative Erfüllung

Krise (Manifestation eines rechtmäßigen Anspruchs)

2. Handlungszyklus: Mangelsituation: Totale Verlust des Geliebten Infragestellung des subjektiven Anspruchs a) Bewährung / Nichtbewährung b) Zufall

Leid, Entbehrung

Absolute Erfüllung oder Ausweisung

Institutionalisierung des Liebesglücks

Wiederbegegnung des Liebespaars

Sorge um das Liebesverhältnis Vorbereitung und Ausführung eines Plans Scheitern eines Plans

Tod der Liebenden (Liebestod-Mythos)

Die Doppelung innerhalb eines Geschehenszusammenhangs erscheint in den Lais in Form von zwei Phasen, die auf jeweils verschiedene Weise die Diskrepanz von Sein und Scheinen bewältigen; die erste Phase unter Geheimhaltung des tatsächlichen Seins unter Vorspiegelung und der Hingabe an ein ScheinGlück, die zweite Phase in der vollkommenen Ausweisung (Bewältigung / Nichtbewältigung) des tatsächlichen Seins und der Besiegelung der Subjektivität. Die jeweilige Phase im Geschehenszusammenhang bezeichnet einen unterschiedlichen Prozeß der Selbstfindung bzw. der individuellen Glücksverwirklichung; einmal ist es ein Weg über ein relatives Glück, ein anderes Mal ein Weg über das Leid; der erste Weg vermittelt eine Grunderfahrung, der zweite, komplexere nimmt die Grunderfahrung des ersten auf 'höherer' Stufe auf. Die Parallelen zum höfischen Roman eines CHRÉTIEN DE T R O Y E S sind offensichtlich. Auch dort erschließt sich die Sinndimension der Geschichte un159

ter Rückbezug auf das Strukturprinzip der Doppelung, wobei der erste Zyklus ein erstes Gewinnen (z. B. von Frau und Land in Yvain und Erec), der zweite dagegen einen endgültigen Gewinn beschreibt. Der erste Teil endet mit einer Vorform, der zweite mit der absoluten Vollkommenheit. Der Unterschied zwischen höfischem Roman und Lai besteht darin, daß die Selbstverwirklichung des Ritters im Dienste der Gesellschaft steht, im Lai jedoch das Ziel der Selbstwerdung keine repräsentative Funktion für die Gesellschaft darstellt. Im Lai kann deshalb auch auf die Wiedereinkehr in die Gesellschaft als letzter Station verzichtet werden 2 , da die Selbstfindung hier nicht an die Gesellschaft gebunden ist. Die Struktur in den Lais ist insofern auch nicht «programmatisch-bewußt» 3 eingesetzt worden. Der «gestufte Doppelkreis der bretonischen Lais erscheint noch in den Stoff versenkt», wohingegen Chrétien die Struktur «als Prinzip erfaßt und sie thematisch prägnant eingesetzt»4 hat. Identitätsfindung und Selbstverwirklichung5 (auf realer oder transzendenter Ebene) ohne Rückbindung an die Gesellschaft treffen auch für jene Lais zu, in denen höfische bzw. christliche Instanzen das private Glück (oder Unglück) durch ihre Sanktionierung bewirken (wie in Bisclavret, Melion, Désiré, Epine); König, Hof oder Kirche agieren hier lediglich in der Funktion des Zufalls und nicht eines Endzwecks. An der Sanktionierung des höfischen Menschen durch eine gesellschaftliche Institution (z.B. der König in Bisclavret) läßt sich eher eine gewisse 'Verweltlichung' des Zufalls ablesen. Von hier aus erklärt sich auch der Abstand zum höfischen Roman — und nicht die Nähe, wie K. RINGGER sie am Beispiel Guigemar bestätigt sehen wollte; denn die «Selbstverwirklichung des Menschen und seine Heimholung in die Gesellschaft durch die 'aventure' der Liebe» 6 steht in den Lais niemals im Dienste dieser Gesellschaft. Selbst in Guigemar wird an der Isoliertheit des Liebesglücks insofern festgehalten, als die Liebenden sich als Liebespaar von der Gesellschaft (positiv) abheben. Im Unterschied dazu wird im höfischen Roman (oder auch im Märchen) die Struktur dazu verwendet, um einen Aufstieg in sozialer (im Märchen meist in materieller) Hinsicht aufzuzeigen, der vom Ausgangs- bis zum Endpunkt jeweils an der gesellschaftlichen Orientierung abzulesen ist. — Die Protagonisten der Lais, die den Konflikt zwischen individuellem Verlangen und gesellschaftlichem Anspruch auszutragen (und nicht 2

3

4 5

6

Vgl. zum Strukturschema des höfischen Romans und des Lai die aufschlußreiche Studie von P. Gallais (1975). P. Gallais konstatiert, daß die Stationen (Cour) - Disjonction — Autre Monde / Combat - Conjonction — Contrat / Cour für die dialektischen, dynamischen und optimistischen Werke wie höfischer Roman und Lai zutreffen — selbst wenn — wie im Lai — die letzte Station, der Artushof, ausgelassen wird. W. Haug (1971) hat hier deutlich gemacht, inwieweit Chrétien in seinem Artusroman durch die Thematisierung der Doppelkreisstruktur die Akzente verlagert hat. W. Haug (1971, 673). Die Bedeutung der Identitätsfindung in den Lais hat M. Koubichkine (1972) am Beispiel Lanval gezeigt; auf überzeugende Weise gelingt es ihr nachzuweisen, wie sehr Lanval nach Avalon gehört. Vgl. K. Ringger (1973, 78).

160

ihre Individualität der Gesellschaft unterzuordnen) haben, führt der Weg aus der Gesellschaft (Ehe, Elternhaus, Feudalgesellschaft, Hof) hinaus und nicht wieder in sie zurück. Der anfängliche Mangelzustand betrifft den emotionalen, nicht den sozialen Bereich; die Erfüllung liegt dementsprechend auch nicht in der Anpassung an die realen, gesellschaftlichen Ansprüche, sondern vollzieht sich in der privaten (auch transzendenten) Sphäre, mündet unter Umständen in die Evasion 7 . Die Struktur, mit deren Hilfe in den Lais Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung des Menschen — ohne Rückbezug auf die Gesellschaft — demonstriert wird, verkörpert dementsprechend keinen Entwicklungsgang im Sinne einer normierten Wertsteigerung über die qualitativ gestufte Abenteuerreihe 8 . Über die Struktur des Lai weist sich der höfische Mensch im allgemein christlich-moralischen Sinne einer Leidensfähigkeit, Tugend- oder Lasterhaftigkeit aus; die Struktur dient der Realisierung der Einzelheit, der «Einzelmenschlichkeit» bzw. der «Individualität»9. Die «Ausweisung menschlichen Seins» 10 kann denn auch, anders als der von Station zu Station fortschreitende Läuterungsgang eines Ritters 11 auf Einsichten des Helden, auf Buße oder Reue, auf die Anerkennung von Schuld gegenüber der Gesellschaft im allgemeinen verzichten12. - Mit dieser nur auf das Individuum bezogenen Identifikation hängt die Absolutheit der Ausweisung zusammen: Aufgrund der NichtWiederholbarkeit des außerordentlichen Erlebnisses, der einmaligen Prüfung, ist das Versagen oder die Bewährung des Protagonisten besiegelt 13 ; identifikationswürdig ist sowohl der ethisch positiv als auch ethisch negativ Handelnde, da ihm nicht, wie im höfischen Roman, der Zugehörigkeitserwerb zur elitären (höfischen) Gesellschaft abverlangt 7

E . S i e n a e r t hat das Wesen der Evasion bei Marie de France gattungsspezifisch interpretiert: E r sieht in der Evasion eine Verbindung von tradierter Märchenhaftigkeit und psychologisch-novellistischer Problemlösungsmöglichkeit.

8

D a ß es sich auch im höfischen R o m a n nicht um eine «bunte aventure-Folge» handelt, haben abweichend von R . S c h o b e r ( 1 9 7 0 , 119), R . R . B e z z o l a (1947, 6 2 ) und J . F r a p pier (1957, 2 1 3 ) deutlich gemacht.

9 10 11

Vgl. zur Frage der Individualität im R o m a n C.Lugowski ( 1 9 7 6 ) . Auf sie hat bereits E . Eberwein (1933, 4 3 ) ausdrücklich hingewiesen. Vgl. E . K ö h l e r ( 2 1 9 7 0 , 7 7 ) oder E . A u e r b a c h ( 2 1 9 5 9 , 1 2 0 - 1 3 8 ) . E . A u e r b a c h spricht von der Reihe der Abenteuer als einer «schicksalsbestimmten stufenweisen Bewährung» ( 1 3 2 ) .

12

Eine innere Entwicklung des Menschen geht im Lai höchstens mit der teilweise sich im lebensbedrohenden Leid vollziehenden Bewährung vor; auf diese Weise kommen Einsichten und Erkenntnisse zutage, die der Zufall dann belohnen wird.

13

V o n hier aus ergibt sich - mit Vorbehalten - eine gewisse Nähe zur

aventure-Kon-

zeption des Roman de Renart, wie sie H. R . Jauss ( 1 9 5 9 , 1 8 9 - 2 0 0 ) entwickelt hat. Danach bleiben die aventures

in ihrer Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit isoliert

nebeneinander stehen; sie sind, selbst wenn sich das formale Schema der AventureReihung wiederholt, nicht als Entwicklungsschema angelegt. Dem Tierepos scheint es eher auf die Kennzeichnung und Entlarvung der in ihrer Typik festgelegten Tierhelden anzukommen. Die Einheit des Werkes ist demgemäß in der fortschreitenden Enthüllung typischer Charaktere zu sehen.

161

wird. Im Lai, so läßt sich nunmehr folgern, vollzieht sich Handeln nach der heilsgeschichtlichen Struktur, ähnlich wie sie im Artusroman 14 entdeckt worden ist. So wie der Mensch, der am Sündenfall der Menschheit teilhat, hat auch der Protagonist des Lai zwischen Heil und Unheil, zwischen richtigem und falschem Handeln zu entscheiden. Die Bergpredigt verwendet dafür das Bild von den zwei Wegen, die dem Menschen offenstehen 15 zur Erlösung oder zur Verdammnis. Dieses Bild läßt sich insofern auf die Lais übertragen, als der breite und bequeme Weg (in den meisten Lais ist es der heimliche Genuß eines verbotenen Liebesglücks) sich als Unheilsweg erweist. Über den beschwerlichen Weg erst gelangen die Liebenden zum Heil. Erst wenn sie alle Tiefen durchwandeln, alle Verluste auf sich nehmen, erwächst ihnen Gewinn und die Größe und Höhe eines Ziels, das in eine reale oder transzendente Seligkeit mündet. Der Weg ins Unglück, ins Verderben dagegen ist scheinbar einfach. Er liegt in einem Handeln begründet, das zielbewußt das eigene Glück anstrebt. Nicht die geringsten Hindernisse stellen sich dem Protagonisten dabei in den Weg; diesem Weg fehlt jedes auffallende Merkmal, das den 'Wanderer' zu Besinnung rufen könnte. Auf scheinbar unproblematische Weise geht der so Wandernde seinem Unglück entgegen (vgl. Bisclavret, Equitan, Deus Amanz). — Die Lais sind Geschichten von Fall und Erhöhrung (im Einzelfall auch der Erniedrigung). In einem entscheidenden Moment ihres Lebens, einer Grenzsituation, sind die Protagonisten auf sich allein gestellt. Wenn durch die Verflochtenheit von Realität und Transzendenz im ersten Handlungszyklus, ebenso wie durch die trügerische Eingebundenheit des Menschen in die Welt, die Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln in der Schwebe gehalten wird, so wird an der Nahtstelle von erster und zweiter Handlungsphase der Protagonist seinem Schutz enthoben; der Fortgang des Geschehens ist ganz auf die Bewährung und Neubestimmung des Individuums abgestellt, die unter christlich-moralischen Vorzeichen steht: Dulden und Leiden, Demut und Zurückhaltung (mesure), Selbstaufgabe, Selbstaufopferung, Selbstlosigkeit, Selbsterniedrigung, Märtyrertum 16 . Mit der Selbstgestaltung, Selbstverwirklichung oder Selbstdarstellung unablösbar verbunden ist also diese christliche Ethik des Leidens und der Selbstaufgabe, die den Protagonisten der Lais nicht zuletzt den Ruf der Passivität eingetragen hat. Die Anwendung theologischer Strukturen in der weltlichen Literatur des Mittelalters wird vor einem Hintergrund verständlich, dessen Denken maßgeblich von der Theologie mitbestimmt wurde. Dabei muß man sich allerdings «theologische Einflüsse ( . . . ) mehr in der Form von Induktionsströmen vor14

15 16

Zuerst W. Ohly (1958) für die Epen Hartmanns von Aue; im weiteren Zusammenhang mit anderen mittelalterlichen Gattungen auch M.Wehrli (1969) bzw. C.Cormeau (1969, 8 0 - 9 8 ) und im Zusammenhang mit modernen strukturalen Erzähltheorien R.Warning (Wolfram-Studien V) bzw. ders. (1979). Matth. 7, 13ff. Vgl. dazu H. Kuhn (1948,134) über Hartmanns Leitsatz «mit kumber saelde koufen».

162

stellen, als Anregung eines getrennten Stromkreises, nicht so sehr als direkte Leitung» 17 . Die Durchdringung weltlicher Erzählungen mit geistlichen Mustern erklärt sich konkreter noch aus der «schöpferischen Entfaltung typologischen Denkens» im 12. Jahrhundert 1 8 . Was für den höfischen Roman bereits konstatiert wurde 19 , gilt deshalb auch für den Lai. Sein gedanklicher Horizont wird aus dem Christentum 2 0 , der augustinischen Tradition, verständlich, ist der führenden Rolle der Kathedralschulen, besonders dem Einfluß BERNHARDS VON CLAIRVAUX u n d d e r VIKTORINER v e r p f l i c h t e t .

2. Handlungstypik und frühscholastische Theologie Obwohl die Lais eine durch und durch weltliche Handlungssubstanz aufweisen und selten auf Religiöses anspielen, wird die mittelalterlich-christliche Weltanschauung konstitutiv für das Handlungsgeschehen: Es läßt sich eine Hierarchie von Handlungsweisen erkennen, deren Güte (Opferbereitschaft, Leiden) die Höhe der Belohnung (reales oder transzendiertes Glück) bzw. deren Eigeninitiative und Zweckrationalität das Maß der Bestrafung (Katastrophe) bestimmen. Mit dieser im Handeln propagierten Wertrationalität und Leidensqualität, mit der eindeutigen Ablehnung der Zweckrationalität, auch mit dem in der Handlungsstruktur erfaßten (christlichen) Lohn- und Strafmechanismus, greifen die Lais der ersten und zweiten Gruppe weder aktiv in den theologisch-philosophischen Meinungsstreit der Zeit ein, noch leisten sie einen Beitrag zu der sich im 12. Jahrhundert entwickelnden Theorie der christlichen Ethik. Als angewandte Theologie sind sie ebenfalls nicht zu verstehen. Dagegen ist nicht zu bestreiten, daß moralische und theologische Ansichten der Zeit in diese weltliche Dichtung eingeflossen sind bzw. auf sie eingewirkt haben: Die Lehren der Theologie haben normierende Wirkung, der gebildete Laie kann sich ihnen letztlich nicht entziehen. Eine Übereinstimmung zwischen den Lais und den theologischen Äußerungen der Epoche soll darum als induktive Vermittlung, nicht als eine direkte Abhängigkeit verstanden werden. Wenn die Vorstellungen von den religiösen Inhalten, die den Autoren und dem Publikum gemeinsam war, deutlich werden sollen, muß für das Bewußtsein der Lai-Autoren, die ab 1160 / 1170 (Marie de France) geschrieben haben, die Theologengeneration herangezogen werden, die seit Anfang bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts gewirkt hat. Der besondere Schwerpunkt liegt dabei auf der Frühscholastik der französischen Schulen, den theologischen 17 18

19 20

H . K u h n ( 2 1969, 173). R.Warning (1979, 84; vgl. dazu auch H . K u h n ( 2 1969, 173), M.Wehrli (1969, 42), J. Schwietering (1925, 4 0 - 5 0 ) und F . O h l y (1966). Vgl. vor allem M.Wehrli (1969) und R. Warning (1979). Hier belegbar an Bibelstellen, vor allem: «Wer sein Leben gewinnt, wird es verlieren, wer es verliert, um meinetwillen, wird es gewinnen». Vgl. Matth. 16, 24—26; 10, 3 7 - 3 9 ; Mark.8, 3 4 - 3 7 ; L u k . 9 , 2 3 - 2 6 ; 14, 26ff.; 17, 33 und Joh.12, 25. 163

Zentren jener Zeit, die der theologischen Wissenschaft neue Impulse und ein neues Gepräge gaben 21 . Ohne auf die einzelnen frühscholastischen Ansätze näher einzugehen, sollen zumindest einige Grundtatsachen 22 herausgehoben werden, die in der literarischen Verkleidung wiederzuerkennen sind23. Da in den Lais das Handeln bewertet wird, sind zunächst Fragen an die mittelalterliche Ethik, d.h. auch an die theologische Bestimmung der Sünde zu stellen24. Da es in der Frühscholastik eine Moraltheologie nach heutigem Verständnis nicht gab, tauchen die hier interessierenden Fragen lediglich am Rande der dogmatischen Sentenzen auf; trotz des fehlenden systematischen Zusammenhangs ist die Bedeutung solcher Texte nicht zu unterschätzen: Mit den Ansichten der Schule ANSELMS VON L A O N ( t l l l 7 ) und W I L H E L M S VON C H A M P E A U X (t 1121) wird in den Lais die Sünde weitgehend theologisch untermauert. Deren Texte geben zwar keine genaue Definition der Sünde 25 , befassen sich auch weniger mit dem bösen Tun, sondern eher mit der ontologischen Natur des Bösen. Die Sünde ist ontologisch ein Nichts und hat deshalb auch keine Ursache in Gott als dem Schöpfer. Die Sünde geht allein aus dem defizienten Wollen des Geschöpfs hervor: Der Wille ist die Ursache der Sünde; sie bestimmt sich durch das Maß der Willenszuwendung. Der freie Entschluß des Menschen ist dabei als Voraussetzung für die Schwere der Sünde zu bewerten 26 . Das moralische Gewicht der Handlung in Equitan, Bisclavret, Deus Amanz, Chaitivel ist damit schon zu ermessen; der Ethik des Maßes entgegenstehende Handlungen werden hier vorsätzlich (willentlich) ausgeführt. Die innere Zustimmung ist das entscheidende Kriterium für deren Bewertung als Sünde. Andererseits wird Lanvals Vergehen entschuldbar, denn was ohne Entschluß nur spontane Regungen hervorbringt, lastet mit geringem Gewicht auf der Verantwortung. Die Schwere der Sünde hängt — der Schule von Laon zufolge — von der bewußten bzw. unbewußten Lenkung der Handlung ab. In der Nachfolge dieser Doktrin werden die Definitionen zwar verfeinert, der Grundbestand der Aussagen bleibt aber unangetastet 27 . Die 21

22

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27

Dazu gehören vor allem die Schule Anselms von Laon (t 1117), Wilhelm von Champeaux ( t l l 2 1 ) , Petrus Abälard (1079-1142), die Schule Hugos von St. Victor (t 1141), besonders mit ihrer Summa Sententiarum (1138—1140), die Schule von Chartres, Gilbert de la Porree (t 1154) und Robertus Pullus (t 1146); als Endpunkt dieser Entwicklung die Libri quatuor sententiarum (1155—1157) des Petrus Lombardus ( t 1159). Als grundlegende Arbeiten zur theoriegeschichtlichen Problematik sind zu nennen: R.Blomme (1958), A.M.Landgraf (1948), O.Lottin (1954), St.Kuttner (1935) und M.Müller (1932). Vgl. die Überlegungen zur Theoriegeschichte im literarischen Kontext bei Ch.Cormeau (1966, 77ff.). Dabei wird hauptsächlich die Darstellung von R.Blomme (1958) herangezogen. Vgl. R.Blomme (1958, 9ff.). Vgl. R.Blomme (1958, 21; 40). Vgl. auch die Sententiae Atrebatenses: «Criminalia autem, id est dammnabilia, sunt illa peccata quaecumque scienter et ex propria deliberatione fiunt», vgl. R.Blomme (1958, 61, A n m . l ) . Vgl. R.Blomme (1958, 28ff.).

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Schwere der Sünde wird also nicht juristisch-äußerlich aus der Erscheinungsform der Sünde begründet, sondern ethisch, aus der personalen Beteiligung des Menschen, mit der die Mißachtung Gottes unmittelbar verbunden ist28. Die Bewertung des konkreten sittlichen Handelns wird in der Lehre von der Intention bewußt 2 9 ; der Bedeutung der inneren Disposition entsprechend wird die reine Willensschuld (auch diejenige, die aus Mangel an Gelegenheit nicht in die Tat fortschreitet) dem Menschen als Sünde zugerechnet 3 ". (Dabei wird in Rechnung gestellt, daß die Schuld nur von Gott gemessen werden kann 31 - eine Anschauung, die ihren Niederschlag in der Handlungsstruktur der Lais findet!). — Bei ABÄLARD (1079—1142) und seiner Schule stehen die ethischen Probleme im Zentrum des Denkens. Aus der Analyse von R. BLOMME sollen hier diejenigen Grundzüge der Abälardschen Ethik 32 genannt werden, die eine geistige Verwandtschaft zu den Lais aufweisen. Abälards Definition der Sünde ist allein auf das ethische Wesen gerichtet 33 . Die Sünde im eigentlichen Sinn ist der consensus mit den Antrieben zum Bösen, der die Verdammung verdient. Abälard bezieht die Sünde ausschließlich auf die Verantwortlichkeit des Menschen 34 , Schuld ist die freie Entscheidung, die die spontanen Antriebe bejaht 3 5 . Die eigentliche Sünde geht dem Akt bereits voraus 36 . Auch hier trifft die Sünde wieder das Gewicht der Strafe - weil Sünde die Mißachtung Gottes ist; die Mißachtung Gottes liegt bereits in dem Entschluß zum Übertreten eines göttlichen Gebotes. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die «intentio»; allein aus der Absicht des Handelnden gehen Verdienst oder Schuld hervor 37 , die Intention bestimmt die moralische Qualität des Handelns 38 . Bestimmende Norm für das Handeln ist das Gewissen, es weist der Intention und dem Entschluß die Richtung zum Guten und ist Prüfstein der Verantwortung 3 9 . Abälard grenzt die verdammende Sünde (die der personalen Verantwortlichkeit anzulasten ist) gegen die unbewußten Regungen ab 40 ; daher ist der Wille, nicht aber die spontane Äußerung als Sünde zu bezeichnen. Voraussetzung für die Verantwortlichkeit sind Innerlichkeit der Schuld und Autonomie des Sünders. Abälard, so könnte man sagen, hat die 28 29

30 31 32

33 34 35 36 37

Vgl. R . B l o m m e (1958, 56). Anselm behandelt sie in seiner Sentenz, vgl. O. Lottin (1954, V, Qu.70). Daneben erscheint sie vor allem in der Kommentierung von Rom. 14, 23: «Omne autem quod non est ex fide est peccatum», vgl, R. Blomme (1958, 72, Anm. 1). Fides bedeutet dabei so viel wie subjetiv verpflichtende Norm oder Gewissen. Vgl. O.Lottin (1954, V . Q u . 2 8 1 ) . Vgl. O.Lottin (1954, V . Q u . 2 1 3 ) . Die ethische Problematik stellt P. Abälard in seiner Schrift Ethica vel Scito le ipsum dar; der Ethik galt aber auch in allen anderen Werken sein Interesse. Vgl. dazu R. Blomme (1958, 103ff.). Vgl. R. Blomme (1958, 162). 38 ibid. (115, A n m . 2 ) . ibid. (131, Anm. 2). 39 ibid. (119, Anm. 4). ibid. (146, Anm. 1). 40 ibid. (120, Anm. 1). ibid. (169, A n m . 4 ; 170, Anm. 2). ibid. (130, Anm. 2).

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subjektive Seite der Ethik gefördert und die Gedanken aus der Schule von Laon kontinuierlich weiterentwickelt. - HUGO VON ST. VIKTOR (1141) vertritt — wie die Schule von Laon und Abälard — die gleiche Richtung, zeigt dabei aber mehr Verständnis für psychologische Feinheiten 41 . Bei ihm wird der äußere Akt stärker hervorgehoben, weil dieser rückwirkend die Zustimmung des Willens, die eigentliche Sünde vermehrt 42 . Weitaus am wichtigsten sind jedoch die Libri quatuor sententiarium des PETRUS LOMBARDUS (F 1159)43; er kann als repräsentativ für die damalige Theologie gelten. Seine Definitionen des freien Willens schaffen die Voraussetzungen für die theologische Ethik: Der freie Wille ist Erkenntnis und Ausrichtung auf Gut und Böse44. Nach Petrus Lombardus besteht die Sünde aus dem äußeren und inneren Akt, d. h. sie existiert in erster Linie im Willen45. Die frühere Ausrichtung auf die personale Entscheidung scheint bei Petrus Lombardus zurückgenommen, sie ist jedoch bei ihm im «actus interior» und in der «voluntas» präsent; der Entscheidungscharakter ist zudem mit seiner Stufenfolge des Sündigers vorausgesetzt; der Wille als Fundament wird definitorisch mit der Sünde verknüpft 46 , die Intention bestimmt die ethische Qualität der Handlungen 47 . Für die theologische Interpretation der Handlung in den Lais der ersten beiden Gruppen lassen sich Teile der frühscholastischen Sündenlehre anwenden: Bedeutsam ist die Überzeugung von der personalen Schuld aufgrund der freien Willensentscheidung. Die theologische Sündenlehre ist eine personale Ethik, d.h. die Verantwortung des Menschen wird von seinem individuellen Handeln bestimmt; dabei werden die subjektiven Bestimmungsgründe ausschlaggebend für die Bewertung des Handelns. — Die Schuld der Protagonisten in den Lais läßt sich aus dieser Perspektive leicht erklären: Aus der Tatsache, daß der Wille und nicht die Ausführung oder die unbewußte Regung Sünde ist, erhalten die nach M.WEBER differenzierten Handlungstypen die Begründung ihrer jeweiligen Schuldhaftigkeit oder Schuldlosigkeit, d.h. das «zweckrationale» Handeln, dessen Intention in der endzielorientierten Verfolgung persönlicher, eigennütziger Interessen gründet (Deus Amanz z.B.), auch mit seiner absichtlichen Schädigung oder Hintergehung eines anderen (Equitan, Bisclavret z.B.) trägt wesensmäßig schon eine Schuldhaftigkeit in sich. Wenn M. Webers Begriff der Zweckrationalität auch kein ethisches Werturteil enthält, so ist die selbstbezogene Orientierung des Menschen nach der frühscholastischen Sündenlehre doch als verwerflich anzusehen: Einmal, weil ein solches Handeln am persönlichen Erfolg, an subjektiven Bedürfnisregungen orientiert ist, womit der Wille zum Handeln in der zu den sieben Todsünden gehörenden superbia gründet (einer superbia, die in Anlehnung an die frühscholastische Definition in GREGORS Moralia als eine Äußerung des Eigeninteresses und der Selbstliebe das Motiv der Sünde schlechthin ist). 41 42 43

ibid. (300ff.). ibid. (311, Anra.2; 308, A n m . 2 ) . Petrus Lombardus: Libri IV sententiarum,

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2 Bde. Quaracchi 1916.

Mit der teleologischen Orientierung des Menschen beim zweckrationalen Handeln drückt sich aber auch ein Selbstvertrauen in die Eigenleistung aus, damit der Glauben an sich selbst, Überheblichkeit und Selbstüberschätzung eine superbia, die nach der theologischen Tradition (WILHELM VON CHAMPEAUX, PETRUS LOMBARDUS, PETRUS VON BLOIS) d i e G l e i c h s e t z u n g d e s M e n -

schen mit Gott bedeutet, ein Verfügen über das, was allein Gott zukommt, die Selbsteinstufung über alle anderen Menschen 48 . Verbunden ist damit auch eine Verabsolutierung alles Diesseitigen 49 , vor allem eine empfindliche Störung des Verhältnisses zwischen Geschöpf und Schöpfer 50 . Über allem anderen ist dieses zweckrationale Handeln aber auch moralisch instabil, da mit der Verfolgung des Eigeninteresses leicht das eines anderen übergangen wird, mit einem solchen Handeln dem absichtlichen Betrug und der absichtlichen Schädigung Tür und Tor geöffnet sind (vgl. Equitan und Bisclavret). Wie sich zielund zweckorientierte Protagonisten, selbst wenn ihnen nach heutigem Verständnis moralisch vertretbare Motive zuzugestehen sind, schuldig machen, läßt sich gut an Deus Amanz demonstrieren. Selbstvertrauen begründet hier gleich zweifach das Mißlingen der Handlung — einmal durch das zwar wertrational abgesicherte, allerdings nach persönlichem Zweck und Erfolg, nach Mitteln und Nebenfolgen ausgedachte Handlungsvorhaben der Königstochter (Plan zur Aufgabenbewältigung), zum anderen durch die Ausführung der Aufgabe seitens eines Jünglings, durch den in der Selbstüberschätzung gipfelnden konkreten Handlungsakt. Hier hat sich nicht nur der Jüngling in seiner Körperkraft, sondern auch das Mädchen in seiner intellektuellen Kraft falsch eingeschätzt und damit schuldig gemacht. — Im Unterschied zum zweckrationalen Handeln werden in den Lais wertrationales Handeln mit a priori guter Intention und der ihm impliziten Uneigennützigkeit (Fresne, Milun z.B.), ebenso wie affektuelles Handeln, dem keinerlei (böse) Absicht zugrunde liegt (Guigemar, Lanval, Graalant z.B.), oder traditionales, das allgemein anerkannte Handlungsmuster verwendet (Guingamor, Désiré, Melion, Epine z . B . ) , als Handlungsweisen propagiert, insofern als sie positiv sanktioniert werden. Die Schuldhaftigkeit der Protagonisten ist, so läßt sich zusammenfassen, an dem subjektiven Willensmoment, der Willensqualität und -quantität meßbar.

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Vgl. P. Lombardus II dist.21 cap.6. ibid. 35 cap.2. ibid. 41 cap.4. ibid. 40 cap. unic. Zum Begriff der superbia sind Wilhelm von Champeaux (vgl. O. Lottin, 1 9 4 8 - 5 9 , V , Qu. 279) die Summa Sententiarum des Petrus Lombardus (1916, 176; 114) und Petrus LombardusII. dist.42 cap.78, Petrus von Blois, Compendium in Job, PL, 207; 803, Rupert von D e u t z , Super Job Commentarius 9, 3 PL 168, 1005, heranzuziehen. Vgl. Rupert von D e u t z , 22, 15 PL 168, 1058. Vgl. ders., 18, 13 PL 168, 1041.

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3. Lohn- und Strafmechanismen und die Ethik des göttlichen Willens Mit dem ethischen Verständnis von Handlung eng zusammen hängt die sich am Ende des Geschehens mit dem Zufall ergebende Bestrafung oder Belohnung des Handelns. Wenn Handlung nach frühscholastischer Vorstellung auf der falschen bzw. richtigen Intention beruhte, so wird sie für den Außenstehenden (Richter, Betrachter, Leser, Hörer) doch erst greifbar auf der Ebene des Sichtbaren. Mit dem konkreten Handlungsakt, dem «reatus» 51 , dem eigentlich keine ethische Bedeutung zukommt, bleibt die Verfehlung (des Willens) beim Sünder; greifbar wird sie erst an der handlungskonstituierenden Sanktionierung. Nicht umsonst ist die Handlung auf eine notwendige Korrespondenz von Handlungsakt (interner Prämisse) und Sanktionierung (äußerer Einwirkung) hin strukturiert. Charakteristisch und strukturell bezeichnend ist dabei für die Lais von und um Marie de France die Trennung von Handeln und Sanktionierungen; im Unterschied zur dritten Gruppe der Lais gibt es nur einen vermittelten, keinen direkten Zugang zum Glück (oder Unglück); Leistung und Lohn werden in einem Schwebezustand belassen, bis durch den Gnadenakt über Heil und Unheil des Menschen entschieden wird. Dabei hat sich für die Lais der Marie de France und die ihnen verwandten herausgestellt, daß der spezifische Tugend- oder Schuldgehalt der Protagonisten das (göttliche) Urteil bestimmt, wobei auch weltliche Stellung und weltliches Ansehen des Menschen irrelevant bleiben (so werden z.B. in Equitan der König und eine Seneschalls-Gattin mit dem Tode bestraft). In der Erscheinungsform des Zufalls wird dieses (göttliche) Urteil differenziert wirksam, es kann ein 'happy-ending' auf der Realitätsebene (Guigemar, Fresne, Eliduc, Milun z.B.) auf transzendierter Ebene (Laüstic, Chievrefoil z.B.) bzw. zwischen diesen Ebenen (Lanval z.B.) herbeiführen, kann auch die Katastrophe in der Realität (Bisclavret, Equitan, Chaitivel z.B.) bewirken, allerdings auch in Verbindung mit einer platonischen Ehrenrettung der Liebesbeziehung (Deus Amanz, Yonec z.B.). Das abschließende Glück oder Heil bezeichnet das dem richtigen Maß des Menschen angepaßte Handeln, ein Handeln fehlender Zweckgerichtetheit, ein Handeln, das keine Anmaßung des Menschen bedeutet; das abschließende Unglück verweist auf ein Tun (Bisclavret, Equitan, Deus Amanz, teilweise Eliduc) oder Sein (Deus Amanz, Chaitivel), das sich aus dem Willen der Anmaßung begründet. — Die in den Lais durch das Handlungskonzept propagierte Wirksamkeit einer Gerechtigkeit, nach der die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, ist Ausdruck frühscholastischer Denkweise, wie sie z.B. bei A N S E L M VON CANTERBURY (1033-1109) zum Ausdruck kommt, der ein Hohelied auf die Gerechtigkeit Gottes singt und dabei zwischen der alttestamentarischen Vorstellung vom allmächtigen Rich51

Reatus ist ein von Augustinus übernommener, in der Frühscholastik geläufiger Begriff. Die Theologie findet in ihm die Antwort auf die Frage, was im Sünder nach dem transitorischen Akt des Willens zur Sünde zurückbleibt. Reatus ist als metaphysischer Begriff zu verstehen, der das Wesen des Bösen beschreiben soll.

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ter, der dem Verdienst des Menschen entsprechend vergilt, und der neutestamentarischen Überzeugung vom gütigen Gott, der in vollkommener Gerechtigkeit auch den Bösen verzeiht 52 , zu unterscheiden versucht. — Abgesehen von den in der Kirchenallegorese lebendigen typologischen Bezügen werden im 12. Jahrhundert häufig Elemente, Episoden, Handlungen und Haltungen, Maxime und Gesetze des Alten Testaments spontan und unreflektiert verwendet 53 . Auch die Gesellschaftsmoral jener Zeit stützt sich auf Vorgegebenes aus dem Alten Testament; so fordert die alttestamentarische Denkweise eine Moral des absoluten Gehorsams, der Ergebenheit gegenüber äußeren Gesetzen und der (prophetischen) Intervention Gottes - es ist eine Moral des Leidens und der gerechten Abrechnung. Die alttestamentarische Ethik des göttlichen Willens, die die Theologie des Mittelalters bestimmt hat, durchdringt auch die Lais. Nicht der christliche Gott der Liebe und Güte, der alles verzeiht, begnadet und Wunder geschehen läßt (wie z.B. die göttlichen Mächte im Mirakel) wird hier wirksam 54 , sondern ein Gott, der harte Proben stellt und der nach dem Ausmaß des Leids, der Selbstaufgabe bzw. des persönlichen Verdienstes urteilt und richtet. (Es ist zu fragen, ob Lanval wirklich dem Mirakel so nahesteht 55 , Gnade hat sich der Ritter durch sein Leid, das ihn an den Rand der Existenz gebracht hat, durchaus verdient: In den Lais gibt es nichts Unverdientes, insofern auch keinen Märchen- oder Mirakelschluß.) Für die im Alten Testament durchgängig vertretene Auffassung vom Richtergott ist HIOB34,10— 11, charakteristisch - eine Stelle aus Elihus zweiter Rede, die sich exemplarisch auf das Handlungsmodell der Lais anwenden ließe: Es sei ferne, daß Gott sollte gottlos handeln und der Allmächtige ungerecht; sondern er vergilt dem Menschen, wie er verdient hat, und trifft einen jeden nach seinem Tun.

Die in den Lais agierende höhere Gerechtigkeit tritt kaum je als handeine Person auf; manchmal als übermenschliches (Eliduc), überirdisches Wesen (Lanval, Graalant, Guingamor), meist aber als Zufall, der das Geschehen nach moralischen Richtlinien, (z.B. Equitan, Bisclavret, Fresne usw.), manchmal als Außenwendung, die das Geschehen auf metaphysischer Ebene (Chievrefoil, Laüstic) dem Ende zuführt. Die Protagonisten lernen keinen Artus als Weltmittelpunkt kennen, an dem sie gemessen werden. Sie werden eher mit einem Dieu caché konfrontiert, einem Strafrichter, der sich als Zufallsmoment aus dem Geschehensablauf ergibt; sein Urteil bleibt undurch52

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Vgl. Anselm von Canterbury, Von der göttlichen Gerechtigkeit (Prologion), Kapitel 9—11 in K.Haas (Hrsg.) (1909), zum ersten Mal ins Deutsche übertragen von J. Brinktrine, in: J.Feldmann und J.Rüther (Hrsg.) (1925). Zur Lebendigkeit des Alten Testaments im Mittelalter vgl. M . D . C h e n u (1957, 210-220). S. dazu A . Salzer (1953), der im Zusammenhang mit dem Schicksalsbegriff von einem Gott spricht, von dem undenkbar ist, daß er auch Mißgeschicke verhängt. Wie es H.-J. Neuschäfer (1969, lOOff.) darstellt.

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schaubar 56 . Den rechten Weg eingeschlagen zu haben, führt nie zu einer direkten Gottesbeziehung (mit Ausnahme von Eliduc und Désiré, wo die demütige, dankbare Unterordnung der Wertwelt unter Gott die Schlußphase besiegelt) — die Stellung zu Gott bleibt ein Aspekt am Rande. — Dennoch war für das mittelalterliche Bewußtsein die Fügung immer eine Fügung von Gott, in der ganzen Totalität des göttlichen Anspruchs. Die Fügung entbindet nicht von ethischen Verpflichtungen, denn sie enthält eine Wertung im christlichmoralischen Sinne: Nur der wird der Gnade teilhaftig, der sie (sich) (auf Erden) verdient (hat). Die alttestamentarischen Autoritäten, die harte Proben und den Verdienst fordern, blockieren im 12. Jahrhundert noch die Vorstellung von einem Gott der unendlichen Liebe und Güte 57 . Dem Bild vom gütigen, verzeihenden Gott steht im Mittelalter stets das Bild vom herrscherlichen Gott zur Seite, einem Gott, wie er aus dem Alten Testament bekannt ist58; die Vorstellung eines urteilenden, strafenden Gottes braucht aus diesem Grund nicht heidnischen Ursprungs zu sein59. Wenn auch in den Lais die direkte Konfrontation mit Gott durch das Eintreffen des Zufalls umgangen wird und der weltliche Charakter der Lais die biblische Denkart überlagert, so hat mittelalterliches Denken doch eine Struktur bewirkt, die über den Schuld-Strafe-Zusammenhang die alttestamentarische Einschätzung Gottes erkennen läßt. Selbsthingabe und Selbstaufgabe sind in den Lais der einzige Weg zu Erlösung und Begnadigung: Wenn die Protagonisten ihre Ohnmacht annehmen, gibt ihnen die Gnade ihr Leben im Übermaß zurück, wie sie es mit Hiob getan hat. Mit dem Prinzip der verdienten Gnade läßt sich in den Lais auch der im christlichen Glauben verankerte Grundgedanke der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen erkennen. Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung sind für die mittelalterliche Theologie so grundsätzliche Themen, daß sie überall anklingen: Das Erlösungsbewußtsein ist das Zeugnis der christlichen Gläubigen 60 . Wo der Mensch es wagt, sich (an Gott) auszuliefern, findet er die Erlösung, die dem Menschen als Gnade angeboten ist61. Zentrale Aussage des christ56

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Mit W.Ohly (1958, 43) kann deshalb für die Lais zusammengefaßt werden: «Gottes Urteil bleibt rätselhaft, und der Mensch muß sich mit der Einsicht bescheiden, daß auch die höchste weltliche Stellung nicht vor Gottes Verwerfungsspruch schützt». Vgl. M.D.Chenu (1957, 210-220). Vgl. B.Schwarz (1933, 3). Vgl. Deutsches Wörterbuch (J. und W.Grimm), Leipzig 1854-1961, Sp. 1042. Vgl. Summa Sententiarum, Petrus Lombardus, Lb. II dist. 25 cap. 8, Hugo von St. Viktor (R.Blomme 1958, 304), Anselm von Laon (O. Lottin 1948-1959, V, Qu. 7). Auch in Bernhard von Clairvaux' Predigten kehrt dieser Gedanke immer wieder, vgl. B.v.Clairvaux, In festo Annunt. B . V . M . , sermo I nr.I, PL 183, 383. Den stärksten Ausdruck findet das Thema in der Kommentierung entsprechender Sätze der Paulusbriefe - im Sinne der historischen Ablösung des Alten durch das Neue Testament. Vgl. G. Söhngen (1957, 26ff.) «Es gibt immer nur den einen Weg des Evangeliums, der nie ein Weg des Gesetzes ist, wohl aber der Weg der Gnade zum Gesetz und dessen Erfüllung» (26).

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liehen Glaubens ist es denn auch, daß demjenigen Menschen Erlösung zuteil wird, der die heile Gestalt seines Lebens nicht von sich selbst erwartet. (Indirekt geht damit das Erlösungsbewußtsein in die Definition vom freien Willen ein — denn die erhoffte oder erwartete G n a d e ermöglicht dem Menschen, auch das Gute zu wollen 62 .) Wegen der Abhängigkeit des Menschen von einer gnadenhaften Hilfe 6 3 , wegen seiner Auslieferung an das (gerechte) Urteil Gottes verweisen die Lais auf einen christlich-optimistischen Gottesbegriff. Objektiv gesehen weiß nur Gott (bzw. der hinter der Lenkung des Geschehens versteckte A u t o r ) , wieso das Richtige geschieht — nur selten verrät sich der Autor in moralisierenden Erzählerkommentaren wie «Kar n'ot en lui point de mesure!» in Deus Amanz. Die beschränkte subjektive Sicht des Menschen, dem die Kausalzusammenhänge uneinsichtig bleiben, kann sich allerdings darauf verlassen, daß Gott alles zum Besten regelt.

III. Der ideologische Standort der Lais 1. Die aventure Die Handlungsanalyse hat für den Ereignis- und Schicksalsbegriff 1 der Lais, der aventure, die ein Grundelement des mittelalterlichen Denkens 2 und der mittelalterlichen Literatur 3 darstellt 4 , weitreichende Folgerungen. Es ist hier nicht der Ort, der literargeschichtlichen Entwicklung des Begriffs noch einmal nachzugehen. Grundsätzlich läßt sich sagen: Die Lais verkörpern zusammen mit anderen literarischen Formen des 12. Jahrhunderts das sich zu jener Zeit konstituierende Spannungsverhältnis der beiden Sphären von Innen- und

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Vgl. Summa Sententiarum, PL 176, 104. So Anselm von Laon, vgl. O.Lottin ( 1 9 4 8 - 1 9 5 9 , V . Q u . 9 ) . Vgl. zum Ereignis als konstitutive Kategorie des Geschehens H . R . Jauss (1973, 555): «Das Ereignis hebt aus dem diffusen Geschehen eine menschliche Handlung von nicht alltäglicher Erscheinung heraus; es bringt mit der Lösung der Situation oder Wendung der Handlung ein bedeutendes Moment vor Augen; doch diese Bedeutung bleibt offen oder exemplarisch in dem Sinne, daß sie sich nicht zur allgemeinen Handlungsmaxime verallgemeinern läßt». Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund von Abenteuer vgl. G.Simmel ( 3 1923) und G . W . F . Hegel ("1964). Die wichtigsten Beiträge zur Bedeutungsgeschichte von aventure in der mittelalterlichen Literatur bei R. R. Bezzola (1947), C. Conigliani (1918), E. Eberwein (1933), E. Köhler ( 2 1970, 6 6 - 8 8 ; 1973), R.Locatelli (1951), R.Schober (1954/55; 1970). Treffend dazu hat G.Paris einmal auf die Frage, ob ein altfranzösischer Roman als Artus- oder als Abenteuerroman bezeichnet werden soll, geantwortet: «Pour l'homme du moyen âge tout est aventure».

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Außenwelt; mit der fortgeschrittenen Entfremdung zwischen Individuum und Gesellschaft kommt es zu «zufälligen Kollisionen» des Subjekts mit der Außenwelt, die das «Abentheuerliche» ausmachen 5 . Aus dieser Charakteristik des Abenteuers wird deutlich, daß wegen der Bedeutungsverschiebungen von aventure in der mittelalterlichen Literatur 6 erst die Präzisierung des Bedingungsverhältnisses von Innen und Außen den ideologischen und soziologischen Standort des literarischen Werks 7 ausmachen und die literarischen Formen voneinander abgrenzen kann 8 . Diese Präzisierung des Bedingungsverhältnisses von Innen und Außen ließ sich durch die Handlungsanalyse über das Konzept der internen Prämissen und externen Faktoren erreichen, d.h. über die beiden Handlungsmomente, die zusammengenommen erst funktional für den Handlungsverlauf werden. Mit der Feststellung einer spezifischen Beziehung zwischen Individuum und dem ihm zufallenden Abenteuer, einer Art von «persönlichem Betroffenwerden» 9 im Sinne eines von innen her provozierten und von außen sanktionier-

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G.W.F. Hegel (41964) über die «Abentheuerlichkeit» (207- 217). Hegel hat für die «romantische Kunst» zwei voneinander getrennte Lebensbereiche, den absoluten, äußeren und den partikularen, inneren unterschieden. Die «zufälligen Kollisionen» des Subjekts mit der Außenwelt liegen vor, wenn das auf sich selbst bezogene, verinnerlichte, das mit dem Absoluten versöhnte, vergeistigte und gemütbestimmte Individuum mit dem Äußeren als sich ändernde, verwirrende Zufälligkeit konfrontiert wird (208-209). Die semantische Spannweite von aventure reicht vom komplexen Bedeutungsinhalt Zufall, Geschick, Schicksal, Fortune, Abenteuer, Glück, Los, (einmaliges) Erlebnis, (absonderliches) Ereignis über den neutralen Bedeutungsgehalt von Ereignis, Vorkommnis, Geschehnis, Begebnis bis zur gewichtlosen, profanen Bedeutung von Episode oder Kapitel. Den Anspruch, über die Differenzierung und Wandlung des aventure-Begriifs auch seine soziologische Dimension erschlossen zu haben, kann E.Köhler (21970, 66-88; 1973) erheben. Schon J. Frappier (1961, 32/33) äußerte sich in seiner Strukturuntersuchung des Lai dahingehend, daß der aventure der Lais eine umfassende Studie gewidmet werden müßte, wenn man der Gattungsfrage näher kommen wolle, ebenso R.Köhler in der sich an den Aufsatz von J. Frappier anschließenden Diskussion. Auf das Desiderat einer avenii/re-Untersuchung im Zusammenhang mit der Gattungsfrage weist auch M.Dubuis (1973, 342-358) hin. Die Umwertung des aventure-Begriffs, wie sie sich während der politischen und soziologischen Umschichtungen des 12. Jahrhunderts (literarhistorisch gesehen zwischen den Chansons de geste und dem höfischen Roman) vollzogen hat — eine geistesgeschichtlich bemerkenswerte Wandlung in Bezug auf das Verhältnis zwischen Individuum und Außenwelt - erfaßt auch den Lai insofern, als nunmehr eine offenkundige Beziehung zwischen einem Individuum und dem ihm zufallenden Abenteuer hergestellt ist. Der ursprüngliche Sinn von Abenteuer, das als Zufallendes, Zuteilwerdendes, Hereinbrechendes einen ständigen Verweis auf eine ungreifbare, fremde, jenseitige Macht lieferte, ist zu erweitern auf das persönliche Betroffenwerden, als ein Abenteuer persönlichen Zuschnitts. 172

ten, kann der Schicksalsbegriff der Lais10, den E. mengefaßt hat:

KÖHLER

wie folgt zusam-

Die Aventüren, die Marie de France erzählt, bilden eine Reihe von Exempeln dafür, daß das Schicksal jederzeit zuschlagen kann, unerwartet, unerklärlich und unausweichlich. Aventüre ist Liebesschicksal, das den Einzelnen befällt, aus der Gemeinschaft herauslöst und nicht wieder in sie zurückführt, ist plötzlicher, nicht rationalisierbarer Einbruch, ist Zufall, der — im Gegensatz zum höfischen Roman — einem zwar zu-fällt, damit aber nicht auch schon zu-kommt als einer, der gemeistert wird . .

um sein fatalistisches Moment entlastet, infolgedessen «optimistisch»(er als bisher) betrachtet werden 12 ; denn der Betroffene ist für das Abenteuer nunmehr ebenso verantwortlich wie dessen Vollstrecker 13 . Fatalismus kann aufgrund des für die Lais charakteristischen Folgemechanismus von internen und externen Momenten keinen Raum mehr haben. Wie in der Motivationsphase das Schicksal jemandem zukommt, der es aus existentiellen Begründungszusammenhängen provoziert (teilweise als Strafe [Guigemar] oder als Belohnung [Yonec, Lanval], jedenfalls nie als blinder Zufall), so schlägt das Schicksal in der Auflösungsphase nur dort zu, wo subjektives Handeln oder Sein eine objektive (bzw. objektivierende) Belohnung oder Strafe fordern; d.h. der Zufall agiert jedes Mal in Hinblick auf ein vorgegebenes Sein oder eine vorgegebene Leistung. Mit anderen Worten: Wo in einem Handlungskonzept außengeleitete Einwirkungen wie Zufälle, Zufälligkeiten, Abhängigkeiten (oder ein Außen) mit subjektbezogenen Vorgaben (ein Innen) korrespondierend zusammentreffen, ist der Willkürakt ausgeschlossen: Der blinde Zufall stünde in keinem subjektbezogenen Begründungszusammenhang. Das Schicksal in den Lais, so wird hier behauptet, ist ganz und gar in seinem christlich-providentiellen Charakter zu verstehen; es stellt zu Beginn der

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Zur aventure-Konzeption der altfranzösischen Lais siehe u . a . C.Conigliani (1918), E.Eberwein (1933), J. Frappier (1961), H.Baader (1966), K.Ringger (1973) und E. Köhler ( 2 1970; 1978). E.Köhler (1978b, 9 5 - 9 6 ) . Die Fatalität des Abenteuers in den Lais (damit verbunden auch die Nähe zum Tristan-Roman) haben vor allem F. Schürr (1930, 558), L.Spitzer (1930, 41), M.Lazar (1964, 197), L.Pollmann (1966, 319), K.Ringger (1973, 77), E.Köhler ( 2 1970, 158) und H . B a a d e r (1966, 330-334) betont. Fast alle sind dabei von der Betroffenheit der Protagonisten ausgegangen, vgl. z.B. E.Köhler ( 2 1970, 177): «Pensis bezeichnet das schmerzhafte Betroffensein durch ein widriges, als unabänderlich empfundenes Geschick, dem fast nur noch Unterwerfung begegnen kann». Es soll hier nicht auf die philosophische Fragestellung eingegangen werden, inwieweit der Zufall wirklich Zufall oder eine zwangsläufige Notwendigkeit ist. Aufgrund der Disponiertheit der Protagonisten ist eine sinnhafte «innige, unerwartete Zusammenstimmung des Zufälligen der Natur mit dem Notwendigen der Vernunft» (Friedrich von Schiller) gegeben, d. h. das Zufällige steht im Dienste des Willens. Vgl. dazu auch E.Köhler (1973).

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Handlung einen fest umrissenen Auftrag an einen Betroffenen dar und findet zum Abschluß der Handlung seinen Ausdruck im Eingreifen der höheren Gerechtigkeit — beide Schicksalsmomente verweisen auf eine göttliche Vorsehung, in deren Bereich keine Willkür möglich ist14. So ist auch das Glück oder Unglück des Menschen abhängig vom Willen der nach der Seelenqualität des Menschen richtenden göttlichen Allmacht; durch den göttlichen Auftrag hat der Mensch nach seiner Bewährung in der Lebenskrise eine Anwartschaft auf ein Heil, das ihn noch im Leben erwartet. Wenn man unter Schicksal den Gang des Geschehens versteht, wie es unabhängig vom Wollen des Menschen und unabhängig von seinen Maßnahmen eintrifft, so tritt es in den Lais in der ersten Handlungsphase als berechtigte (gerechte) Aufforderung zur Bewährung und in der zweiten als berechtigte (gerechte) Vergeltung dieser Bewährung auf. Dabei können der menschlichen Sicht die Kausalzusammenhänge (und damit auch die mit dem Handlungskonzept vermittelte ethische Botschaft) durchaus dunkel bleiben. Nur im Ausnahmefall, z.B. in Equitan: «Tels purcace le mal d'autrui / Dunt tuz Ii mais revert sur lui» (vv. 309—310), wird auf den tieferen Sinn der Handlung bzw. des Schicksals — d.h. auf seine Moral - ausdrücklich hingewiesen. (Erst in einer Handlungsanalyse, die die Kausalzusammenhänge systematisch untersucht, wird eine solche Moral des Schicksals überhaupt erkennbar.) - Darüber hinaus schließt göttliche Vorsehung (providere) jedes menschliche Vorhersehen oder Vorherwissen {praevidere) aus. Insofern fällt der Schicksalsbegriff hier genau mit dem Handlungsbegriff zusammen, da dieser jedes Vorherwissen negiert. (Vorherwissen und -beschließen hat nur aus menschlicher Sicht Berechtigung; göttliche Allwissenheit relativiert menschliches Handeln.) — Die Wirkungsweise der christlichen Lenkung ist die Providenz; sie ist «die zusammenfassende Schau Gottes», «die göttliche Einsicht selbst, die alles ordnet» 15 . «Christliches Schicksal (ist) die Ausführung der göttlichen Willensakte, mit denen die Providenz identisch ist»16. Obwohl die nie abgerissene Fortuna-Tradition das Schicksalsdenken der Zeit mitbeeinflußt hat 17 , verweist das Walten des Schicksals in den Lais auf einen ungebrochenen Glauben an die göttliche Providenz bzw. auf die Macht eines gerechten Gottes, so daß für die Lais gilt, was E. KÖHLER für die Romane Chrétiens festgestellt hat, daß nämlich «der Glaube des Zeitalters doch den stets hinter der Fortuna-Vorstellung lauernden Fatalismus in Schranken zu halten (vermag)»18 bzw., wie es

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18

Vgl. auch Boethius, De Consolatione Philosophiae ( V , l , 8 ) . Vgl. I.Schröbler (1953, 70). W.Sanders (1965, 65). In den Lais der Marie de France wird der Name der heidnischen Schicksalsgöttin Fortuna nur in Guigemar, vv.338ff., genannt. Antikes bzw. heidnisches (keltisches) Fatum ist in den Lais lediglich in Reliktfiguren wie Fortuna, Amor, Hindin, Fee auffindbar. E.Köhler ( 2 1970, 107).

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F. P. PICKERING für die erzählende Dichtung des Mittelalters formuliert hat, daß das Schicksal als eine «völlig verchristlichte Macht, wie auch das höhere Fatum (wart, geschiht), zwischen der göttlichen Providentia und dem handelnden Menschen vermittelt»' 9 . Das Schicksal in den Lais wird so auch vom christlichen Ordo-Verständnis her erschließbar. Der Mensch steht in Gottes Ordnung; jeder hat nach dem Ordnungsplan gemäß der von Gott in ihn gelegten Bestimmung zu leben. Ein jeder wird schließlich auf den ihm zustehenden Platz verwiesen 20 , indem er sich durch sein Handeln ausweist. Er hat sich seinen Platz zu erwerben und darf keinesfalls in einem selbstgenügsamen Scheinglück (erste Handlungsphase) dahinleben. Die Erfüllung von Gottes Ordnung aber ist gleichbedeutend mit einer Prüfung in Leid und Selbstaufgabe. Aus dem Schicksalsbegriff, so läßt sich weiter ableiten, spricht der Wunsch nach totaler Harmonisierung des Verhältnisses von Moral (Gott) und Mensch. Insofern ist das Glück in den Lais Ausdruck einer Harmonie zwischen Gott und Mensch, so wie das Unglück Ausdruck einer analogen Disharmonie ist. In dem Glück manifestiert sich die Überzeugung, daß irdisches Leid, maßvolles Handeln und göttlicher Wille bereits in der Welt sichtbar in Einklang gebracht werden können (so wie es im Schlußteil Eliducs, in dem sich alle Betroffenen zu Gott hinwenden, ausdrücklich betont wird). Wie das Glück den Bezug von menschlichem Leiden und seiner gerechten Entlohnung verkörpert, wird auch am Handlungsende von z.B. Laüstic, Chievrefoil, Deus Amanz und Yonec deutlich, wo das glückliche Ende auf einer transzendenten Ebene 2 1 als Zeichen einer höheren Gnade und Barmherzigkeit zu werten ist. Umgekehrt sind Unglück auf Erden, Schaden oder Schande Zeichen der Sündhaftigkeit und der Verdammung — was in Bisclavret z. B. durch die Anspielung auf die Heimsuchung der Schande ins nächste Geschlecht ausdrücklich betont wird. Das Schicksal erscheint in den Lais also in der Ausprägung eines Bezugs zwischen göttlicher Richtergewalt und menschlichem Tun; menschliches Glück oder Unglück, das in den Ratschluß Gottes einbezogen wird, verweist auf christliches Providenz-Denken und damit auf eine optimistische Schicksalsauffassung (daran ändert auch nichts, daß nicht ein gnädiger, alles verzeihender Gott der gütigen Vorsehung agiert - wichtig ist, daß Gutes und Böses gottgewollt und — wenn für den Betroffenen auch unergründlich - so doch letztlich gerecht und gut sind). Optimistisch aber auch insofern, als das

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F. P. Pickering (1966, 112). Nicht umsonst spricht H.-J. Neuschäfer (1969, lOOff.) jeweils vom «runden Schluß» in den Lais der Marie de France. Vgl. R.Dragonetti (1973, 31—53), der in den Lais der Marie de France ein Streben nach einer Welt der «wundervollen» Ordnung und des Glücks sieht sowie die Tendenz, die realen, menschlichen Probleme z . B . auch auf einer metaphorisch-fiktiven, literarisch-überhöhten Ebene zu lösen.

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Schicksalhafte über die aventure aufgelöst wird, sich in allem Vorfallenden die Weltenordnung bestätigt. Im Unterschied zur Gruppe der Lais um Marie de France waltet z. B. in Piramus et Tisbé die antike Schicksalsmacht nach Belieben. Die Unberechenbarkeit transzendenter Mächte bestimmt den Fortgang der Handlung und relativiert menschliches Tun und Sein. Z.B. läßt das Schicksal die Liebenden ganz willkürlich einen Zugang zueinander finden, damit sie die gemeinsame Flucht planen können; dann läßt es die beiden bei der Flucht durch fortwährende Mißverständnisse umkommen. In dieser Schicksals-Konzeption wird der Begriff eines Fatums greifbar, wie es nach antiker und heidnischer Vorstellung an Verhängnis und Unbeständigkeit des menschlichen Daseins mahnt. Piramus et Tisbé ist der antikisierenden Dichtung, wie der eines BENOÎT DE ST. MAURE mit seinem Roman de Troie, zuzuordnen 22 (im Unterschied dazu kann man im Narcisus und im Eneasroman, die Marie de France gekannt haben soll, ein Schwanken des Begriffs destinée zwischen antiker Schicksalsmacht und christlicher Providenz feststellen 23 ). Der Schicksalsbegriff in den Lais kann nun auch von der Tristan-Position abgegrenzt werden, selbst wenn «in der jüngeren Forschung (auch) unbestritten (ist), daß Maries Menschenbild demjenigen der Tristan-Dichtung näher steht als demjenigen des höfischen Romans eines Chrétien» 24 . Eine der wesentlichen Triebkräfte im Tristan — so die allgemeine Tendenz der Forschung 25 — ist ein Schicksal, das zufallsbetont, unberechenbar, zwangsläufig, launisch-willkürlich - in «blinder Fatalität» 26 auftritt, ein Schicksal, das zwanghaft alles ins Unheil wendet und «eine Allianz mit destruktiven Affekten» eingeht 27 . — Der Schicksalsbegriff, der für die Lais anwendbar wird, rückt — so wird hier behauptet — aber eher in die Nähe eines aventure-Begriffs, wie ihn E. KÖHLER28 für die ritterlich-höfische Bedeutungssphäre konstatiert hat 29 . Denn hier ist 22

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Vgl. zum Schicksalsbegriff bei Benoît de St. Maure im Roman de Troie W. Sanders (1965, 216). Vgl. W.Sanders (1965 , 215). E.Köhler (1978b, 95); ebenso H.Baader (1966, 16); R.Schober (1970, 112-136); K. Ringger (1973, 137). E.Köhler ( 2 1970, 154ff.) und H.Weber (1976, XIII. 32). E.Köhler (1978 b, 94). ibid. E. Köhler ( 2 1970, 6 6 - 8 8 ) . Auf E.Köhler stützt sich auch weitgehend H . R . Jauss bei seiner Behandlung des Aventure-Begriffs (1959, 193ff.). Die hier vorgenommene Annäherung des aventure-Begriffs des Lai an den des höfischen Romans begründet sich allerdings anders als die Feststellung K. Ringgers (1973, 77), daß «Maries -Begriff dennoch bereits im Keime jene Konzeption der als Bewährungsprobe (enthält), wie sie Chrétien de Troyes programmatisch in seinen Romanen entwickeln wird». K. Ringgers Position erklärt sich daraus, daß er «pris quere» mit «aventure» gleichsetzt. Die militärische Tüchtigkeit konturiert im Lai m . E . allerdings nur die Zugehörigkeit des Helden zur höfischen Gesellschaft, unterstreicht lediglich das Gebaren einer von der courtoisie geprägten Umwelt. Vgl. dazu auch H.Baader (1966, 330) bzw. E.Eberwein (1933, 45). Keinesfalls fungiert

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der Zufälligkeitscharakter der aventure, der ihm seiner Herkunft nach als «das, was zustößt» 30 anhaftet, stark eingeschränkt: Seit der Auflösung der kollektiven Schlachten in Einzelkämpfe ist eine Umdeutung der aventure zu beobachten 31 ; sie stellt jetzt eine besondere Sinnerfüllung des Zufalls dar, der nun nicht mehr bloß «zufällig» ist, sondern dem Einzelnen «zufällt» im Sinne von «persönlich zukommt», womit die Willkür unberechenbarer Kräfte unterbunden ist 32 . Abgesehen davon, daß aventure in den Lais auf der semantischen Ebene breit aufgefächert ist — die Bedeutung reicht von neutraler Geschichte bis zu «ein einem einzelnen begegnendes besonderes Ereignis» 33 — läßt sie sich anhand der über die Handlungsstruktur ermittelten Sanktionierungsfunktion als christlich-providentielles Zufallendes, Zukommendes im Sinne des auf die persönliche Vorgabe bzw. den persönlichen Verdienst beruhenden Zustehenden auffassen. Das antike Fatum ist in den Lais in einer interpretatio christiana mit dem neuen Begriff der Providentia dei verknüpft worden 34 zu einem Verständnis von Schicksal als Providentia specialis, die nicht den «ausersehenen Helden die 'aventure' bestehen läßt, an der alle anderen notwendig scheitern» 35 , sondern die den existentiell Betroffenen vor eine Bewährungsprobe stellt. Man kann sagen, daß auch im Lai mit der aventure «eine gestörte Harmonie wiederhergestellt» wird 36 : Das latente Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen, wird nicht durch die vorprogrammierte Ich-Welt-Entsprechung, sondern durch die absolute Ausweisung des Ich in der Welt aufgelöst. Die aven-

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35 36

«pris quere» als Bewährungsmuster in dem hier entwickelten aventure-Sinn; es hat mit der so verstandenen Selbstverwirklichung nichts gemein. Zur Wortentwicklung von aventure vgl. E.Eberwein (1933, 29-33). Vgl. R.Locatelli (1951) und E.Köhler (21970). E.Köhler (21970, 67; 78). Eine nützliche Zusammenstellung sämtlicher aventure-Belege bei Marie de France bietet R.Schober (1954/55, 56-59). Daraus ergibt sich, daß der aventure-Begriff bei Marie de France in 16 von 43 Fällen als bloße Begebenheit zu verstehen ist. In den anderen Belegen wird deutlich, daß Marie de France über die zu ihrer Zeit allgemein gebräuchliche Verwendung von aventure als Zufall, Begebenheit, Schicksal hinausgeht. Vgl. dazu auch E.Eberwein (1933, 31-33) und C. Conigliani (1918, 281-295, bes. 294). Der Gegensatz zwischen antiker Fatalität und christlichem Schicksalsglauben wird bei Notker (um 1050) ausgeglichen. (Notker unterscheidet zwischen der «prospera» und der «adversa fortuna». Die «adversa fortuna» führt den Menschen zum Heil, indem sie ihm die Nichtigkeit des Glücks zeigt; die Willkür der «prospera» läßt sich durchaus in den göttlichen Heilsplan einordnen.) Vgl. dazu I.Schröbler (1953). - Die Wiederentdeckung der Antike, vor allem in der Schule von Chartres und bei den Viktorinern, hat die Frage nach dem Zusammenhang von Gott, Welt und Mensch erneut in den Vordergrund gerückt, so daß die Rezeption antiker Wissenschaft und spätantiker Mythologie eine Verbindung mit christlichem Denken eingehen konnte. H . R . Jauss (1959, 196). Die Wiederherstellung der gestörten Harmonie durch die aventure hat E. Köhler (21970, 83) allerdings nur für den höfischen Roman konstatiert und damit auch nur ihm einen optimistischen Schicksalsbegriff zuerkannt.

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iure übernimmt die Funktion einer christlich-moralisch abgesicherten Einordnung des Individuums in das Lebensganze. — Die sich sowohl im höfischen Roman als auch im Lai über die aventure vollziehende Selbstverwirklichung des Individuums geht in beiden Fällen mit der Ordnung des Ganzen einher — aus diesem Grund wird auch für die Lais ein optimistischer Schicksalsbegriff angenommen. Wenn E.KÖHLER über den Grundgedanken der höfischen Epik sagt, «daß die schicksalhafte Zuweisung bestimmter Abenteuer an bestimmte Ritter jedem Einzelnen einen festumrissenen Auftrag erteilt, und daß dieser Auftrag ihn in das Sinngefüge einer idealen menschlichen Ordnung einspannt» 37 , so entfernt sich der Lai aus dieser überindividuellen Gemeinschaftsordnung durch Reintegrations-Unwilligkeit, bzw. durch Evasion 38 aus dieser Gesellschaft. Wenn aber auch die Bewährung in den Lais nicht antizipierbar ist, d. h. wenn auch die aventure — im Unterschied zum höfischen Roman — dem Einzelnen nicht zukommt, als etwas, das gemeistert wird39, wenn auch die Sozialisation in den Fällen des glücklichen Ausgangs scheitert, wenn auch die Selbstfindung oder das Glück nicht notwendigerweise an die Teilhabe der Gesellschaft gebunden ist und sich das Individuum auch zum Schluß fremd gewordenen Ordnungen gegenübersieht, so orientiert es sich (und das ihm Zufallende, Zukommende, Zustehende) dennoch nur an Werten einer Ordnung, die zwar nicht höfisch, aber doch universal-ethisch ausgerichtet ist40. Das Individuum kann in den Lais seinen Heilsweg außerhalb der Gesellschaft und außerhalb der Kirche suchen. Es verzichtet auf die Erfüllung eines gesamtgesellschaftlichen Auftrags, indem es sich den ihm zustehenden Platz im (Mikro- oder Makro-)Kosmos erwirbt. Die Welt wird vom persönlich verstandenen Lebensgesetz her bewältigt oder nicht bewältigt. An die Stelle äußerer und mechanisch ineinandergreifender Handlungsabläufe, die nur ein objektives Geschehen unmittelbar wiedergeben können, tritt eine Handlung, die von subjektiv gesteuerten Vorgängen, über die eine höhere Ordnung entscheidet, abhängt. Bedeutsam für das Schicksal ist ein potentielles Identifikationsangebot, das Handeln (und seine Sanktionierung) bereitstellt und damit jedem Einzelnen seinen Platz zuweist. Im Sinne einer «chain of being» (A. LOVEJOY) bleibt jeder Einzelne sowohl autark als auch eingebunden, weil er als etwas Spezifisches, Singuläres in einer größeren Ordnung erfaßt wird.

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Vgl. E.Köhler ( 2 1970, 80). Über die Evasion zuerst H.Baader (1966, 35ff.). Vgl. E.Köhler (1978, 96). Aus dieser Perspektive ist die Behauptung E.Köhlers ( 2 1970, 158), daß alle, die sich in den Lais nicht höfisch verhalten, scheitern, nicht länger aufrechtzuerhalten. Bei der Gegenprobe wird deutlich, daß alle diejenigen ihr Glück noch zu Lebzeiten erreichen, die sich durch übermäßiges Leid oder durch christlich-ethisches Handeln auszeichnen (vgl. Guigemar, Lanval, Fresne, Eliduc, Milun).

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2. Der Lai zwischen höfischem Roman und Tristan-Roman Der Lai kann jetzt vom höfischen Roman und vom Tristan-Roman über das Strukturprinzip der aventure und den ihm inhärenten Handlungs- bzw. Schicksalsbegriff genauer als bisher abgegrenzt werden. Zunächst zu Lai und höfischem Roman. Beide organisieren ihr weltliches Geschehen auf der Basis eines heilsgeschichtlichen (makrostrukturellen) Prinzips 41 . Beide Erzählformen stehen damit in der Tradition der religiösen Selbsterforschung und der Selbsterkenntnis bzw. der Anschauung vom Leben als einem Weg zu sich selbst 42 . Die Unterschiede in der Anwendung der Struktur im höfischen Roman und im Lai liegen darin, daß die Situationen im höfischen Roman symbolisch auf ihre strukturelle Position bezogen sind, so daß «von der Struktur aus sozusagen über die Welt verfügt werden kann» 43 , im Lai dagegen — wenn man von Symbolik oder Symbolstruktur sprechen wollte - «sie nur allgemein archetypischer Art» sein kann 44 . Die stärkere Strukturbezogenheit «macht es wahrscheinlich, daß es sich um eine bewußte, möglicherweise programmatische neue ästhetische Konzeption handelt» 45 . Das heißt, die gezielte Anwendung der Struktur im höfischen Roman verweist auf eine grundsätzlich veränderte ästhetische Haltung. — Für den Lai gilt, daß er hinsichtlich der Ereignis- oder Geschichtsstruktur nicht jene Sicherheit der Zweiteiligkeit hat wie z. B. der höfische Roman 4 6 , der vermutlich nach Art der Figuralexegese aus dem historischen Kontext heraus Analoges in typologischen Bezug gesetzt hat. Im Lai treffen eine tiefenstrukturelle Zweiteiligkeit und eine an der Oberfläche wahrzunehmende Dreiteiligkeit 47 zusammen eine Tatsache, die den Lai in die Nähe der Legende rückt, in der die dreiteilige Form mit dem heilsgeschichtlichen Strukturprinzip verbunden ist 48 . Mit dem programmatischen Einsatz der Struktur im höfischen Roman — zum Zwecke der Daseinsbewältigung eines Individuums, die im Dienste der Gesellschaft steht — hängt ein Stationenweg zusammen, der im Unterschied zur gesellschaftsabgelösten Daseinsbewältigung im Lai stets auf den Artushof, d . h . die Gesellschaft rückbezogen wird. Um den programmatischen und gesellschaftlichen Aspekt der Doppelkomposition des höfischen Romans zu er41 42

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Vgl. das Kapitel «Binäres Strukturprinzip und heilsgeschichtliches Denken». Vgl. zu diesem Thema G. Misch ( 1 9 5 5 - 1 9 5 9 ) ; G. Misch hat auch den autobiographischen Aspekt des höfischen Romans untersucht (1927). W . H a u g (1973, 149). Zur «Symbolstruktur» in höfischem Roman und Lai W. Haug (1971, bes. 6 7 1 - 6 7 3 ) . W . H a u g (1971, 698). Überhaupt sind die Zweiteilungen in der mittelalterlichen Epik sehr verschieden man denke an den £neos-Roman, den Erec eines Chrétien de Troyes oder den Tristan eines Thomas d'Angleterre. Zu den Strukturprinzipien in der mittelalterlichen Epik vgl. W . H a u g (1973) und H . F r o m m (1969). Vgl. das Kapitel «Dreiteilige Oberflächen- und zweiteilige Tiefenstruktur». Vgl. zum Strukturprinzip der Heiligenlegende (ante legem, sub lege, sub gratia) H . F r o m m (1969, 6 4 - 7 9 ) .

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fassen, sollte deswegen hier eher von der «Artusszenenstruktur» 49 gesprochen werden, d.h. von einer Struktur, durch die das ritterliche Ansehen bei der Gesellschaft gesteigert werden kann, durch deren Stationen ein steigernder Ehrgewinn meßbar ist und an deren Schlußpunkt personales Ziel (Vervollkommnung) und gemeinschaftliches Ziel (Vollkommenheit) zusammenfallen. (Wenn man bei dieser «Artusszenenstruktur» nicht pedantisch auf der Anwesenheit von König Artus oder dem Hoffest besteht, sondern nur darauf, daß «eine gewisse Öffentlichkeit gewährleistet» 50 ist, so läßt sich diese Struktur auch bei Doon und Tyolet [bzw. bei Cor und Mantel] wiederfinden 51 .) Ein Unterschied zwischen höfischem Roman und Lai (auch dem 'artusszenenstrukturierten') liegt auch darin, daß im höfischen Roman die gewissermaßen durch das heilsgeschichtliche Konzept gewährleistete Dignität des Strukturschemas teilweise auf der Diskursebene relativiert wird, d.h. daß die erzählerische Vermittlung ironischen Abstand zum gesellschaftspolitischen Programm (der Geschichts-, Ereignis- oder Handlungsebene) gewinnt52. - (Wiederum anders gelagert sind Cor und Mantel, in denen die «Artusszenenstruktur»parodiert wird; sie wird hier gerade nicht zur Demonstration des Ehrgewinns eines Einzelnen, Auserwählten, eingesetzt, sondern zur Illustration des Ehrverlustes eines ['auserwählten'] Kollektivs. Die Verkehrung der Struktur geht sogar so weit, daß nicht der einzelne Ritter den aktiven Part der Bewährung übernimmt, sondern eine höfische Gesellschaft eine aventure [Probe] an sich vollziehen lassen muß, Artus' Gemahlin nicht ausgenommen. Die erste Phase, das heimliche unmoralische Leben am Hofe, wird überboten durch die zweite Phase, die Dekuvrierung der Unmoral, der Unehrbarkeit und der Schande jedes einzelnen Angehörigen des Hofes. Die rühmliche Ausnahme in diesem unmoralischen Kollektiv kann das Versagen der höfischen Gesellschaft nur noch unterstreichen, nicht aber zurücknehmen — nicht zuletzt tragen die Titel der Lais nicht den Namen des Ritters, der die Ausnahme darstellt, sondern sie werden nach den eigentlichen Protagonisten, Horn und Mantel, benannt. - Bei Cor und Mantel handelt es sich um eine Struktur, die — nicht wie der höfische Roman eines Chrétien — auf der Erzählebene die ironische Distanz zu gesellschaftlichen Werten erkennen läßt, sondern durch die Umkehrung bzw. Parodierung der Werte auf der Geschichtsebene geradezu ein in Sarkasmus mündendes Bedauern dieser einstigen Werte zum Ausdruck bringt.)

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Zur «Artusszenenstruktur» B.Schmolke-Hasselmann (1980, 42—47). B.Schmolke-Hasselmann (1980, 42). Die Zweiteilung ist für Tyolet ohnehin unbestritten, vgl. M.O'Hara Tobin (1976, 230), ebenfalls für Doon, vgl. diess. (1976, 323). Die «gewisse Öffentlichkeit» kann in diesen Lais auch implizit vorhanden sein, z.B. durch ein Leben in «grant honor» (Doon) oder ein von König und Königin abgesegnetes (Tyolet). Wie die «Heterogenität des Erzählten» erst aufgehoben wird in der «Homogenität des Erzählens», hat R. Warning (Wolfram-Studien V) beschrieben.

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Der Unterschied zwischen Tristan-Roman und Lai läßt sich anhand der Handlungsstruktur wie folgt beschreiben: Die Motivationsphase des Lai entspricht noch ziemlich genau der Tristan-Konzeption, handelt es sich doch jeweils um eine als «Utopie des Glücks» 53 erworbene Liebe, um eine gegen die Unterdrückung durch die Gesellschaft ins Recht gesetzte Liebe. In beiden Fällen erweist sich die Geheimhaltung des Liebesverhältnisses als das einzige Mittel, der Leidenschaft treu und wenigstens äußerlich im Einklang mit der Forderung der Gesellschaftsethik zu bleiben. Die Protagonisten des Lai ebenso wie die des Tristan erleiden die Unvollkommenheit der Welt, erleiden einen von außen auferlegten Zwang, der ihren wahren Gefühlen, ihrem wahren Selbst entgegenarbeitet. - Der Unterschied zum Tristan-Roman setzt dort ein, wo die Protagonisten der Lais ihrem Wahn nicht länger frönen dürfen, wo sie über die strukturelle Mitte des Lai, also dem manifestierten Anspruch der Gesellschaft (im höfischen Roman der Artusgesellschaft) in die Krise gestürzt werden, um sich im Handeln (d.h. hier im Leiden und in der Selbstaufgabe) zu bewähren (evtl. sich damit das private Glück zu verschaffen). In der zweiten Handlungsphase des Lai, so könnte man analog zum höfischen Roman argumentieren, ist das Individuum auf dem Wege zu sich selbst; d . h . die Menschen sind nunmehr genötigt, so zu sein, «wie sie an und für sich» sind 54 , «sich wegzuwerfen, um sich selbst zu behalten» 55 . An dieser Stelle gründet die Handlung der Lais in einer über den Protagonisten verhängten Mühsal als Abenteuer der Bewährung, d . h . in der «Möglichkeit zur Wiederherstellung der Ordnung, aber auch deren unaufhörliche(n) Gefährdung und damit der Notwendigkeit der Anstrengung» 56 . — Im Tristan fehlt der Hof oder ein gesellschaftlicher Anspruch als institutionelle Mitte gesellschaftlicher Bindungen, die den Protagonisten an den Anfang seiner Bewährung stellt. Im Tristan weist sich der Mensch nicht wesenmäßig aus; Handeln untersteht permanent einer verabsolutierten Liebe, d . h . kommt stets im dialektischen Verhältnis von Liebe und Intellekt zustande 57 . — Strukturell gleicht der Tristan-Roman also einer stagnierten und gestreckten Motivationsphase des Lai, jener Phase, in der sich die Protagonisten im Spannungsfeld zwischen leidenschaftlicher Liebe und gesellschaftlichem Widerstand bewegen, der Phase auch, in der die Forderungen der Gesellschaft um einer verabsolutierten Liebe willen konsequent geleugnet werden. - Wenn also im Tristan gleichsam die Motivationsphase andauert, sind die Protagonisten gehalten, mit der sich durch die innere Kollision von Wollen und Sollen ergebenden Schein-Sein-Polarität (konkret mit Fiktion, List, Lüge, Wahrheit) manipulie-

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Vgl. den Titel eines Aufsatzes von K.Peter (1968). G . W . F . Hegel (1931/32, 199). M.Horkheimer in: Th. Adorno (1968, 78). E.Köhler ( 2 1970, 78). So wie es W. Jupé (1976, 115 / 116) für den Tristan von Gottfried von Straßburg formuliert hat.

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rend umzugehen 58 ; so ergeben sich Handlungsweisen, die - mit G . L U K Ä C S als «weltbeherrschend» bezeichnet werden können 59 . Die Liebe als Lebensmacht läßt die Protagonisten in der skrupellosen Ich-Bezogenheit eines Individuums handeln, das sich an die Stelle Gottes setzt60. Dagegen ist die Persönlichkeitsentfaltung des Protagonisten im Lai durch eine Verhältnisbestimmung zwischen den Menschen und einem 'Gott' reglementiert. — Dem Tristan-Roman fehlt aber nicht nur die katalysierende Sein und Schein aufspaltende Mitte (über die sich der Mensch ausweist), sondern auch der Zufall im Dienste der ausgleichenden Gerechtigkeit - ein Prinzip, wo das Mögliche als kausal zu begründende Folge eines Handelns zur Notwendigkeit wird. (Auf die enge Verbindung von Schicksal und Schuld im Lai wurde bereits ausführlich eingegangen). Die Handlung des Lai zielt darauf ab, eine zeitweise gestörte Ordnung wiederherzustellen. Die Einheit von Innen- und Außenwelt läßt sich herstellen, weil auf Gott oder die Gerechtigkeit gebaut wird und weil Leiden und Selbstaufgabe belohnt werden — im Tristan ist das nicht der Fall. Im Tristan wird durch sen das Gottesurteil travestiert 61 , weil es weder durch das Handeln selbst noch durch die Handlungsstrukturierung eine Unterwerfung unter das Gottesurteil gibt. So ist auch das Scheitern des Liebespaares nicht auf dessen schuldiges Handeln bezogen; im Tristan gibt es kein schuldhaftes oder sittlich nicht zu rechtfertigendes Handeln der Liebenden. Alle Taten, selbst listige, betrügerische Manöver, entspringen einer positiven Intention, nämlich der Liebe, und alles, was ihrer Entfaltung dient, kann nur guter Gesinnung entspringen 62 . Die Liebenden bleiben bis zur Glorifizierung ihres Scheiterns im Liebestod nichtintegrierbare Vorbildmenschen - wohingegen die Protagonisten der Lais sich aus der Rolle des höfischen Vorbildmenschen in ihr wirkliches Wesen verwandeln. So entwickelt sich in (dem Tristan ver58

59 60 61 62

W. Jupé (1976, 109) weist für Gottfrieds Tristan eine durchgängige Handlungsweise von List, «ein nicht mehr endendes und zu unterbrechendes Geflecht von Fallen und Listen» nach. Vgl. zur List-Thematik im Tristan-Roman auch G. Hermans (1953) und G.Hollandt (1966). Vgl. G.Lukäcs ( 4 1971). Vgl. W. Jupé (1976, 65/66). Dies hat W.Haug (1972, 111) auch für Gottfrieds Tristan festgestellt. Nachdem die List im Tristan bisher als verwerflich beurteilt worden war, ist es das Verdienst von G. Hermans (1953) erkannt zu haben, daß sich die Listthematik nicht auf das Geschehen nach dem Liebestrank beschränkt und daß die Listthematik umfassender und differenzierter ist, als man gemeinhin annahm. So kann G. Hermans unter Heranziehung der Moraltheologie fast alle listigen Taten moralisch rechtfertigen. Demgegenüber fragt G.Hollandt (1966) nach der Intention, die dem listigen Handeln der Figuren zugrunde liegt. Auch ihr gelingt es, sämtliche Listen der Liebenden im Tristan zu rechtfertigen. «Daher ist, wenn beide das gleiche tun, dies nicht auch dasselbe. Das Urteil des Dichters zielt auf die eigentliche Absicht der Handelnden und sieht ab von den Mitteln, durch die diese Absicht erreicht wird. (. . .) so werden list und trügeheit, Lüge und Betrug ihrer moralischen Negativität enthoben und in den Dienst des Guten gestellt. Im Bereich der Minne herrscht eine autonome Ethik» (146 / 147). 182

gleichbaren) Deus Amanz «un damisel, Fiz a un cunte, gent et bei» 63 zu einem Menschen, der nicht das geringste Maß kennt: «Kar n'ot en lui point de mesure» 64 . Handeln aus Selbstüberschätzung wird mit dem Tode bestraft; der Bezug zwischen menschlichem Handeln und seiner richterlich-göttlichen Begutachtung wird über eine monokausal auf das Handeln bezogene und abgestimmte Korrespondenz-Sanktionierung hergestellt. Im Lai wird der Begriff des richtigen Handelns maßgeblich, das mit der richtigen Liebe in einer Wechselbeziehung steht, damit auch der Zufall in richterlicher Funktion und die Identifizierung eines höfischen Wesens. So können, um ein anderes Beispiel zu nehmen, auch die Liebenden in Chievrefoil ungestraft aus allem hervorgehen; sie weisen sich 'nur' als Liebende aus, als für jetzt und ewig zusammengehörig: Handeln (das Wiedersehen der Liebenden) findet seine externe, sanktionierende Entsprechung in den chiffrierten, symbolischen und metaphorischen Kundgebungen der Zusammengehörigkeit. - Der Tristan kennt nicht den Handlungsmechanismus der Aufeinanderfolge von interner Prämisse und externem Faktor - und damit auch nicht den Bezug zu einer höheren gerechten Führung. Demgegenüber tritt der Tristan für ein Naturrecht ein, das dem Menschen das Recht auf ungehemmte Freiheit einräumt, so daß die Individualethik mit der Sozialethik in Konflikt gerät 65 . — Im Tristan, in dem die Liebe selbst das Abenteuer ist, verbleibt das Abenteuer (der Liebe) in einer unlösbaren Spannung zur Gesellschaft 66 und zu feudalen, sittlichen Bindungen. Es ist die Daseinsform, die nach der psychoanalytischen Theorie vom «Unbehagen in der Kultur» 67 auf Unterdrückung von Trieben aufgebaut ist und zu einer «Triebbefriedigung jenseits des Leistungsprinzips» 68 führt. Im Tristan wird eine Ideologie vertreten, die die Vernichtung der Kultur nach sich ziehen und die «Dekadenz des Abendlands» bedeuten könnte 6 9 . Der Tristan propagiert eine «Liebe zur Liebe», und durch ihre Nicht-Integrierbarkeit in die Gesellschaft eine «Liebe zum Tod» 70 . Chretien hat diesen Zwiespalt erkannt und insofern überwunden, als er die Liebe zur Erziehungsmacht stilisiert. So wirken im höfischen Roman Tat und Eros als die beiden Grundkräfte des Ritters zusammen; sie bleiben an den Artushof gebunden, d . h . sie sind harmonisch ausgeglichen mit dem Herrschaftsmodell 7 1 . Die im Tristan freigesetzte freie Geschlechtsliebe als absolute Macht endet dagegen im tragischen Konflikt mit dem Herrschaftsmodell. Im Lai wiederum weist sich der Prot-

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70 71

Vv. 5 7 - 5 8 . V. 189. Vgl. G.Hollandt (1966, 149). Vgl. K . R u h (1967, 26). Vgl. K.Peter (1968, 320), der sich auf Sigmund Freuds gleichnamiges Werk beruft. Nach S.Freud (1925, 149). Bis hierhin führt die existentialistisch-ahistorische Interpretation einer solchen Liebe von Denis de Rougemont in L'amour et l'Occident (1939). Nach Denis de Rougemont (1939). Vgl. K . R u h (1967, 26).

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agonist in der Erfahrung mit der Liebe zu seinem Selbst aus; erst sein Handeln wird offenbaren, ob er (sich) die Liebe verdient (hat). Oder strukturell gesehen: Im Lai ebenso wie im höfischen Roman ist die Polarität von Wollen und Sollen, von subjektivem und objektivem Anspruch, über das beschriebene Zwei-Wege-Handlungsstrukturprinzip auflösbar. Hingegen kommt es im Tristan zu einer neuen Polarität, die nicht mehr in ein räumliches Spannungsfeld umsetzbar erscheint; sie beruht auf einem Zwiespalt, der durch die Figuren hindurchgeht: Isolt gehört vor der Öffentlichkeit zu Marke, innerlich ist sie seit dem Liebestrank Tristan verbunden; Tristan ist nach außen der getreue Vasall und Erbe des Königs, innerlich und im geheimen ist er ein Betrüger 72 .

Und weiterhin: Die Schlußsituation demonstriert das Verhältnis der beiden Polaritäten und die Funktion dieses Verhältnisses für das Geschehen mit aller Prägnanz: der Raum kann zwar überwunden werden, Isolt kommt übers Meer, die Bewegung im alten Schema ist weiterhin vollziehbar, trotzdem gehen die Liebenden zugrunde, sie scheitern am Widerspruch zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Wirklichkeit und Schein Chiffre der neuen Polarität von Innen und Außen, die nicht aufzulösen war 73 .

Als Mitglieder und Außenseiter der Gesellschaft entsteht aus dem Gleichgewicht der beiden nicht verwirklichten und in ihrer Isoliertheit der Verwirklichung nicht fähigen Lebenssphären ein neues und eigenes, in sich - wenn auch paradoxerweise - vollendetes und immanent sinnvolles Leben: das Leben des problematischen Individuums 74 .

Im Gegensatz zum Tristan-Roman, der sich in religiöser Betrachtungsweise als Spiegel und Mitträger der Krise des mittelalterlichen Weltbilds darstellt75, wird in den frühhöfischen Lais76 das Ordo-Gefüge des mittelalterlichen Weltbilds nicht in Frage gestellt. Aus strukturalistischer Perspektive ergibt sich also: — Die Doppelwegstruktur des höfischen Romans wird programmatisch genutzt, um Innenwelt und Außenwelt über die gesteigerte Auseinandersetzung des Individuums mit dem Raum in Einklang zu bringen. — Die dem Lai inhärente Doppelwegstruktur erweist sich als dazu angelegt, die Spannung von Innenwelt und Außenwelt über die Auseinandersetzung des Individuums mit dem Raum (ethisches / nicht-ethisches Handeln und

72 73 74 75 76

W . H a u g (1973, 146). W . H a u g (1973, 146). G.Lukäcs ( 4 1971, 67). In Anlehnung an G . W e b e r / W . H o f f m a n n ( 3 1968, 76). Die Lais in der Geschichte des mittelalterlichen Romans können durchaus als Erzählungen frühhöfischer Prägung beschrieben werden, vgl. dazu K . R u h ( 2 1977, 55ff.).

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seine Sanktionierung) zu lösen und damit das Individuum in seiner W e sensart und B e s t i m m u n g auszuweisen. -

D i e Struktur des Tristan-Romans ist nicht dazu angelegt, die Polarität von Innen und A u ß e n aufzulösen, da sie sich nicht über den R a u m (Handeln in der A u ß e n w e l t ) , sondern nur über das Innere des M e n s c h e n vollziehen kann.

IV. Gattungssystem und Gesellschaftssystem 1. Funktionsbestimmung des Lai und seine Stellung im Subgattungssystem D i e bisherigen Erkenntnisse über den Lai als Gattung basierten einerseits auf der Auffassung v o n Literatur als klassifizierbarem Korpus v o n T e x t e n (die über die Bestandsaufnahme g e m e i n s a m e r Merkmale zur monographischen Praxis einer ahistorischen Gattungsforschung führte 1 ) - andererseits auf der Auffassung von Literatur als e i n e m Evolutionsprozeß (die entscheidend zur Verdeutlichung des geschichtlichen A s p e k t s der Gattungsentwicklung beigetragen hat 2 ). Derartige Erkenntnisse 3 reichen allerdings nicht aus, den Lai als eigenständige Gattung4

1

2 3 4

5

zu definieren 5 bzw. ihn v o n den anderen kleinen lite-

Die Existenz der Gattung findet hier ihren Sinn mit der Aufdeckung von «Wesensmerkmalen des literarischen Phänomens» (W.Krauss, 1968, 5), wobei sich die Frage nach der von P.Zumthor (1972, 167) erhobenen «Minimalforderung» stellt, d.h. die Frage, von welchem Grad der Übereinstimmung gleicher Wesensmerkmale an eine Gattung zustandekommt. Grundsätzliche Mängel dieser Gattungsauffassung bestehen aber darin, daß aposteriorische Ordnungsprinzipien (wie die schematische Abgrenzung und Systematisierung) das Wesen der Gattung insofern verkennen, als diese dabei von ihrer geschichtlichen Situation abgelöst wird. Vgl. vor allem H.Baader (1966, 265ff.). Zum Forschungsstand der mittelalterlichen Kleingattung, s. Bd. V des GRLM. Trotz der von der Linguistik zum Thema Gattung beigebrachten Begriffe wie Textgruppen, Textsorten, Textarten, die ein ausschließlich linguistisches Analyseverfahren implizieren, wird der traditionelle Begriff Gattung beibehalten. Grundlageinformation und kritische Auseinandersetzung bei K.W.Hempfer (1973). Dafür verantwortlich ist u. a. die Tatsache, daß bis zur ersten Publikation der Lais der Marie de France im Jahre 1820 die Lais den Fabliaux zugeordnet wurden. Erst mit der Entdeckung der Harley-Sammlung von 12 Lais, die traditionell Marie der France zugeschrieben werden, wird eine eigenständige Gattung in Betracht gezogen. Die auffallende Uneinheitlichkeit der Marie de France zugeschriebenen Lais, dann aber auch die Heterogenität der diesen nachfolgenden, als Lai bezeichneten Verserzählungen sind verantwortlich für die kontroversen Auffassungen zur Gattung Lai, wie sie exemplarisch P.Zumthor (1972, 383-384) formuliert: «L'ouvrage de Baader sur les lais peut être considéré comme exhaustif, à cette importante réserve qu'il définit son objet comme un 'genre': cela même reste sujet à sérieuse discussion».

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rarischen Ausdrucksformen des 12. und 13. Jahrhunderts abzugrenzen. Eher konnte man den Lai in die Reihe mittelalterlicher Verserzählungen stellen6 und ihm die gattungsmäßige Nähe zu Exempel, Legende, Vida, Mirakel bescheinigen bzw. ihm — wenn er in Fabliau oder Novelle aufgeht 7 — seine Eigenständigkeit absprechen. Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Gattung 8 , daß nämlich literarische Gattungen einen historischen und sozial definierten «Sitz im Leben» haben, und daß der spezifische «Sitz im Leben» der Gattung in ihrer Eigenschaft als Funktionsträger innerhalb eines neuen Sinnzusammenhangs begründet liegt9, soll Ausgangspunkt der folgenden Funktionsbestimmung sein; sie soll dem Lai Sinn und Grund seiner Existenz und damit seine gattungsspezifische Eigenständigkeit gegenüber anderen kleinen literarischen Ausdrucksformen verleihen. Die Frage, wo genau zwischen höfischem Roman und Tristan die Lais anzusiedeln sind, ist bislang nicht eindeutig beantwortet worden: Die entgegengesetzten Positionen in der Forschung hielten sich etwa die Waage. Der Lai ließ sich sowohl nach der (ordnungs-)bestätigenden Normenbezogenheit 10 , als auch nach der individualrechtlich orientierten Selbstbestimmungsmöglichkeit 1 ' hin auslegen. Der Widerspruch zwischen Ordnungsbestätigung und Individualrecht kann mit den hier vorgelegten Ergebnissen aus der Handlungsstruktur-Untersuchung aufgelöst werden: Der Lai ist eine Gattung, in der die individuelle Bestimmung des Menschen über das binäre Strukturprinzip ausgewiesen wird, d.h. in der die Identifizierung (oder Verwirklichung) des Individuums mit einer universalen Ordnung abgestimmt ist. Es ist heute unbestritten, daß eine Gattung, auch wenn sie sich über ihre

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Vgl. hierzu die Arbeit von H.-J.Neuschäfer (1969). Vgl. neben zahlreichen anderen: A.Sempoux (1973, 32), H. Tiemann (1961, 415) und P. Zumthor (1954, 150-151). In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der letzten Jahre ist eine intensive Beschäftigung mit dem Problem der Gattungen festzustellen; davon legen die einschlägigen Spezialbibliographien (Ruttkowski, 1968; 1973; Hempfer, 1973) Zeugnis ab. Prinzipielle Kontroversen, an denen nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern auch die Sprachwissenschaft beteiligt ist, haben zu keiner neuen Einheitlichkeit in der Sache oder Terminologie geführt. Allerdings wird die Existenz literarischer Gattungen - nachdem B. Croces Frontalangriff auf die Gattung im Jahre 1902 verwunden zu sein scheint - heute nicht mehr bestritten. Gattung wird hier verstanden als Funktionsträger innerhalb eines Gattungssystems, das wiederum als Überbau-Phänomen auf die konkrete Struktur eines sich wandelnden Gesellschaftssystems rückbeziehbar wird, womit sich Gattung aufgrund ihrer Funktionalität immer wieder aufs neue realisiert. Vgl. dazu E.Köhler (1977, 7 - 2 2 ) , H.Brall (1977, 19-38), P.Bürger (1978, 1 1 - 2 7 ) und E.Marsch (1979, 104-123). Als Hauptvertreter dieser Richtung ist H.-J. Neuschäfer (1969) zu nennen. Hierzu vor allem E.Köhler (1978b).

186

F u n k t i o n b e s t i m m e n läßt, nicht nur eine F u n k t i o n zu erfüllen braucht 1 2 . Allerdings soll die n a c h f o l g e n d e F u n k t i o n s b e s t i m m u n g über die gängigen Wirkungsabsichten d e s prod-esse13

und delectare14

h i n a u s g e h e n 1 5 u n d e i n e n spezi-

fischeren «Sitz im L e b e n » der G a t t u n g ermitteln. F u n k t i o n 1: Bestätigung einer universalen O r d n u n g anhand e i n e s b e s o n d e ren H a n d l u n g s v e r s t ä n d n i s s e s — B i n d u n g d e s E i n z e l n e n an e i n e « ü b e r g r e i f e n d e G a n z h e i t » 1 6 durch (strukturell organisierten) B e zug e i n e s Individuums auf ein Ideal. J e d e r Lai, auch w e n n er es nicht ausdrücklich beabsichtigt, ist S t e l l u n g n a h m e zu d i e s e m Ideal. F u n k t i o n 2: Stabilisierung der Singularität 1 7 durch A u s w e i s u n g d e s M e n s c h lich-Individuellen; A b l e h n u n g der m e n s c h l i c h e n R o l l e n -

und

Funktionserfüllung. V e r b i n d e t m a n die b e i d e n F u n k t i o n e n , s o ergibt sich e i n e A u s w e i s u n g der individuellen B e s t i m m u n g in der « G e b u n d e n h e i t an e i n e n ü b e r g r e i f e n d e n Zus a m m e n h a n g » 1 8 . Mit a n d e r e n W o r t e n , das Individualrecht ist in die Pflicht der Ethik d e s göttlichen W i l l e n s (und nicht der Sozialethik) g e n o m m e n . V o n

12

Trotz der überzeugenden Systematisierung der «kleinen literarischen Gattungen der exemplarischen Rede im Mittelalter» in H. R. Jauss (1977, 46 / 47) können Versuche, die ein Gattungssystem anhand präziser, eindeutiger Funktionsbestimmungen aufstellen, problematisch werden. - Über die Erfüllung mehrerer in der Gattung angelegter Funktionen hinaus wäre weiterhin zwischen intendierter und erzielter Wirkung zu differenzieren.

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Zur Belehrungsfunktion vgl. L.Spitzer (1930, 2 9 - 6 7 ) , der die Problemstellungen in den Lais betont; R. Schober (1970,112-136), die überExempelhaftigkeit und Belehrungsabsicht die Lais als Vorläufer der Renaissance-Novelle ausweist. Auch H.J. Neuschäfer (1969, lOOff.) erkennt die implizite (und explizite) Moral der Lais, ihren «bestätigenden Charakter», ihre «Normbezogenheit», ihren Maßstab an idealen Verhaltensweisen. Zur Unterhaltungsfunktion des Lai vgl. vor allem J.Ch.Payen (1975, 3 1 - 6 3 bzw. 1976, 263 - 2 8 7 ) . Für H.Baader (1966, 319-348) ist vor allem wegen der Negierung der Gesellschaftsethik die Abwesenheit einer belehrenden oder moralisierenden Tendenz in den Lais kennzeichnend. H. Baader vermißt Anleitungen zur Lebensklugheit, praktische Regeln und die gesellschaftsprogrammatische avenlure. Anhand ihrer Moral gelang es H.-J. Neuschäfer (1969) zwar, einzelne Lais in die Nähe von Mirakel, Legende und Exempel zu rücken, sie also in die mittelalterliche Literatur einzureihen, nicht aber sie auszugrenzen. Einen solchen Bezug hat C. Lugowski (1976) als «mythisches Analogon» in der Struktur der mittelalterlichen Epik und noch im Grundschema des Entwicklungsromans gesehen. C. Lugowski spricht von einer Einheit a posteriori, wobei sich alles «Einzelne» in «einer eigentümlichen Gebundenheit an einen übergreifenden Zusammenhang, also nicht ohne weiteres als autonomes 'es selbst', finden läßt» (13). Nach H. R. Jauss (1977, 85ff.) ist das Tierepos ein Vorgriff der mittelalterlichen Literatur auf die Individuation. C. Lugowski (1976, 13).

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dieser Funktionsbestimmung des Lai ausgehend soll nunmehr versucht werden, diese Untergattung (des durch den höfischen Roman begründeten Subsystems im System der Epik) zu anderen kleinen literarischen Ausdrucksformen des Mittelalters, die dem gleichen Subsystem angehören, abzugrenzen 19 . Der Lai steht dem ExempeP0 insofern nahe, als die Erlangung des «Subjektiven Fürsichseins»21 durch die Regelhaftigkeit der Fälle exemplarisch wird; ohne daß der Lai auf das «Erkennen einer Regel des Handelns aus dem Präzedenzfall» 22 ausdrücklich abzielt, ist er auf pädagogisch-lehrhafte Grundsätzlichkeit insofern angelegt, als er am historischen Präzedenzfall eine Moral der Handlung erkennbar werden läßt. Die moralisierende Funktion des Lai ist aber nicht, wie im Exempel, zu verabsolutieren. Der Lai exemplifiziert nicht die Idee eines Ideals; die Moral steht im Dienst der individuellen Selbstbestimmung. In ihrer modellhaften Darstellung eines Einzelschicksals ist auch die altprovenzalische Trobador-Vida (so wie sie z.B. als eine der ältesten Versionen des im Mittelalter weit verbreiteten Herzmäre 23 bekannt ist) dem Lai vergleichbar. Die Vida ist allerdings biographisch-realistisch24 in dem Sinne, als das Handeln der Betroffenen (in diesem Fall der höfisch Liebenden) in keinerlei Beziehung zu einem außengeleiteten Zufall 25 oder anderen externen Momenten steht. Der binären Strukturierung im Lai steht eine eindimensionale, einfädig-geradlinige Handlung 26 gegenüber, die einen «typischen Fall»27 (hier das Scheitern einer höfischen Liebe am bösartig-eifersüchtigen Ehemann) Punkt für Punkt rekonstruiert. Gattungsgeschichtlich ist die Erkenntnis von der heilsgeschichtlichen Struktur in den Lais insofern interessant, als sich der Lai mit seinen Handlungssta-

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Neben gattungsspezifischen Monographien wird dabei vor allem auf die Funktionsbestimmung kleiner literarischer Gattungen bei H . R . Jauss (1977, 46 / 47) und die Studie zur kleinen literarischen Form des Mittelalters von H.-J. Neuschäfer (1969) zurückgegriffen. Vgl. zum Exempel vor allem H.R.Jauss (1977, 3 4 - 3 7 ) , R.Koselleck (1967, 196ff.), S.Battaglia (1959; 1960), zuletzt den Sammelband Rhétorique et Histoire, L'exemplum et le modèle de comportement dans le discours antique et médiéval von J. Le Goff (Hrsg.) (1980) bzw. den Forschungsbericht von R.Schenda (1969). Hegel (1955, 251). H . R . Jauss (1977, 4 6 / 4 7 ) . Vgl. den Text bei K.Bartsch (1880, S p . 2 3 7 - 239). Die Trobador-Vida dient der «Erklärung der Lebensumstände und Werke eines Dichters», vgl. W.Krömer (1973, 67). Auch nach H.-J.Neuschäfer (1969, 35) bleibt in der Vida das Zufällige ausgeschlossen. Sie bedingt eine strenge parataktische Satzkonstruktion, vgl. H.-J. Neuschäfer (1969, 35 / 36). So Titel und Tenor des H.-J. Neuschäfer-Beitrags (1969, 3 3 - 5 1 ) .

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tionen in der N ä h e der Legendentypik 2 8 bewegt (dementsprechend auch in der N ä h e der Heiligenvita, im weiteren Sinne auch der geistlichen Biographie oder Autobiographie 2 9 ). Das Strukturvorbild der Legende, der das heilsgeschichtliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter zugrunde liegt, trifft auf die Lais mit dem Unterschied zu, daß keine Heilsprozesse im theologischen Sinn vorliegen. Die Heiligenlegende (wie auch die Heiligenvita) zählt zur geistlichen Literatur: Nicht nur, daß sie «gleichsam den Werdegang eines Heiligen» 30 über die Stationen Martyrium (Opferbereitschaft, Selbstentäußerung) und Wunder (Verbindung zu Gott oder Maria) beschreibt und somit ein heilig-heldenhaftes Vorbild in der Art einer imitatio Christi31 schafft; ihre Funktion ist ausschließlich in der «Ausbreitung und Bestätigung des Glaubens; praktisch: Anrufbarkeit von Heiligen (Namensheilige, Nothelfer)» 3 2 zu sehen. D e r Lai verfolgt bei gleichem Strukturmuster keine religiösen Zwecke; er demonstriert, wie sich ein höfisches Wesen durch Handeln seinen subjektiven Anspruch sichern bzw. seine wahre Identität finden kann. Bereits J.MORAWSKI hatte Lai und Mirakel wegen der V e r k n ü p f u n g von realer und übernatürlicher Welt zusammengerückt 3 3 . U.EBEL hat beide Formen wieder voneinander getrennt 3 4 ; sie vergleicht das W u n d e r des Mirakels mit den vielfältigen wunderlichen Erscheinungen in den Lais (z.B. Wunderschiff, lebenserweckende Blume, Z a u b e r t r a n k ) und definiert die Wunderhaftigkeit des Mirakels als «aus dem natürlichen Lauf der Dinge herausfallendes Wesen» 3 5 , die Wunderdinge des Lai dagegen als selbstverständlich hingenommene Elemente einer Märchenwelt 3 6 . Lai und Mirakel stehen sich jedoch näher 37 , als U . E b e l über einen solchen Vergleich erkennen konnte 3 8 . Das eigentliche Wunder in den Lais ist anzusetzen bei dem (über die Handlungsstruktur ermittelten) Eingriff des erlösenden bzw. sanktionierenden Zufalls,

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Zur Legende siehe u.a. A . G i e r (1977), H . U . G u m b r e c h t (1979), S.Ringler (1975), H. Rosenfeld (1951 / 52; 3 1972). Zum strukturalen Zusammenhang von Roman, Legende, Heiligenvita, geistliche Biographie bzw. Autobiographie M.Wehrli (1969). H.-J. Neuschäfer (1969, 91). Vgl. zuletzt Ph. Johnson / B . C a z e l l e s (1979, 194). H . R . J a u s s (1977, 4 6 / 4 7 ) . J.Morawski (1935, 160). U . E b e l (1965, 9 8 - 1 0 1 ) . U . E b e l (1965, 100). ibid. Auch H.-J. Neuschäfer (1969, 1 0 0 - 1 0 2 ) sieht strukturelle Übereinstimmungen von Lai und Mirakel (am Beispiel Lanval), wenn er den Eingriff der Fee dem Erlösungsund Gnadenakt des Mirakels gleichsetzt. D i e Arbeit von U . E b e l (1965) sollte auch dahingehend korrigiert werden, daß die aventure des conte breton durchaus nicht im einschichtigen Raum der Märchenwelt spielt. D i e Zweischichtigkeit, die u. a. J. Frappier (1959) nachgewiesen hat, kommt im Lai auch durch das Zusammenwirken von Handeln und überindividueller Sanktionierung zum Ausdruck.

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der Zufälligkeit oder eines anderen Moments des Äußeren. Ein analoges Strukturschema 39 von Lai und Mirakel ergibt sich allein aus dem Zusammenwirken von «menschlichem Ausnahmezustand und himmlischen Wirken», von «aktivem Handeln der außermenschlichen Mächte» und dem «passiven Ansichvollziehenlassen»40. Allerdings erfüllt das gleiche Strukturprinzip verschiedene Funktionen: Gnadenhafte Erlösung eines schwachen, unvollkommenen Menschen gegenüber der sanktionierenden Einwirkung auf den im Ausnahmezustand handelnden Menschen. Im Mirakel werden dem Menschen die Probleme abgenommen, damit er der (gläubigen) Gemeinschaft wieder zurückgegeben werden kann. Im Lai wird Bewährung gefordert, um Identität zu erlangen. Im Mirakel begründet sich die Heilsgewißheit auf der Gnadenerwartung; im Lai auf dem Rechtanspruch, der durch Handeln erwirkt wird. — Der Lai, um es zugespitzt zu formulieren, steht zwischen Legende und Mirakel: So wie in der Legende Vorbildlichkeit und Beispielhaftigkeit verabsolutiert werden 41 , so wird im Mirakel der Mittler zwischen Gott und dem Menschen verabsolutiert 42 . Im Lai wird weder das eine (Handeln), noch das andere (Zufall) verabsolutiert; beides wirkt zusammen, um die Einzig-Artigkeit des höfischen Menschen auszuweisen bzw. ihm seine wahre Bestimmung zu sichern - die, im Unterschied zu Mirakel und Legende, durchaus außerhalb der Gesellschaft oder der gläubigen Gemeinschaft liegen kann. Anhand der unterschiedlichen Verabsolutierung von Werten erfüllen diese Subgattungen verschiedene Funktionen 43 und sprechen als Identifikationsmodelle verschiedene Rezipienten 44 an. Auf die zahlreichen Berührungspunkte von Lai und Märchen45 wurde in dieser Arbeit immer wieder eingegangen 46 . Obwohl viele Erzählmomente des 39

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Vgl. z.B. J.M.Martínez (1981), der sich um eine Gattungsbestimmung des Marienmirakels bemüht und folgendes Schema entwickelt hat: «Introducción — Presentación del protagonista en situación critica - Narración del suceso (caida en una tentación, comisión de un pecado, enfermedad grave, peligro o muerte) — Intervención sobrenatural - Admiración por lo sucedido y consiguiente alabanza». So U.Ebel (1965, 33) zum Mirakel. Aus diesem Grund kann ihr mit A. Jolles ( 4 1968) die «imitatio» als zugrunde liegende Geistesbeschäftigung attribuiert werden. Insofern ist für das Mirakel die «laudatio» postuliert worden, vgl. J.M. Martínez (1981, 52). Der grundlegenden Arbeit von U. Ebel (1965) soll in diesem Zusammenhang nur hinsichtlich der These widersprochen werden, das Mirakel habe sich aus der Legende entwickelt, weil der vorbildliche Heilige der Legende nach und nach an Exemplarität verloren und sich allmählich in den unbekannten Sünder verwandelt habe. (Gänzlich verwischt werden die Unterschiede zwischen Legende und Mirakel in der Arbeit von B.Cazelles, 1978.) «Wenn die Legende wie ein Aufruf an die Starken wirkt, so erscheint das Mirakel wie ein Trost für die Schwachen», vgl. H.-J.Neuschäfer (1969, 94). Die methodischen Möglichkeiten der Gattungsdefinition des Märchens hat Dan Ben Amos (1974) aufgezeigt. Die Bemühungen, zwischen Lai und Märchen zu vermitteln, reichen von W.Hertz (1900) über L.Spitzer (1930) hin zu A.Gouraige (1973) und E.Sienaert (1978).

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Märchens denen des Lai (bzw. manchen Lais) gleichen 47 , läßt sich die Verschiedenheit der beiden Gattungen am deutlichsten an ihren Funktionen aufzeigen: «Utopie einer Glückswelt, erweckt durch poetische Gerechtigkeit» 48 gegenüber der hier festgestellten Ausweisung der individuellen Bestimmung (Singularität) durch ein an eine höhere Ordnung geknüpftes Handeln. Die unterschiedlichen Funktionen von Märchen und Lai ergeben sich aus den jeweiligen Handlungsschemata 4 9 . Verläuft das Geschehen im Märchen über die Stadien heile Welt — Angriff - Verteidigung — Wiederherstellung der Ordnung 50 , schlägt also eine Struktur genau in ihr Gegenteil um 51 , so dient die Doppelstruktur des Lai nicht einer obligatorischen Glückserfüllung, sondern der individuellen Ausweisung durch Handeln und seine Sanktionierung. — Wenn Prinzipien wie «poetische Gerechtigkeit» (im Märchen) und an die universale Ordnung geknüpftes Handeln (im Lai) auch erlauben, beide Formen gleichermaßen in eine «prästabilierte Harmonie» eingebettet 52 zu sehen, so trifft diese durchsichtige Ordnungsbestätigung 5 3 anhand des «kunstvoll und planmäßig herbeigeführten Zufalls» 54 auch für Legende und Mirakel zu. Der Unterschied liegt vielmehr in der stereotypen Erlösung des Protagonisten aus einer ungerechten Lage (im Märchen) gegenüber der negativen oder positiven Ausweisung menschlichen Seins (im Lai). Eng damit verbunden ist die Festlegung des Protagonisten auf mehr oder weniger starre Verhaltens- oder Handlungsformeln im Märchen. (Insofern konnte V.PROPP55 den Protagonisten als reinen Funktionsträger, als Aktanten, bestimmen und aufgrund 47

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Vgl. dazu die Aufzählung der Charakteristika des Märchens bei H. R. Jauss (1977, 46/ 47), aus der eine Reihe von Übereinstimmungen ersichtlich werden (z.B. Subsinnwelt: «vertrauter geschlossener vs. fremder äußerer Raum»; «Held als Grenzüberschreitend, «Geschehen unter dem Prinzip des Wunderbaren»; Sinnbereich: «Welt traumhafter Wunscherfüllung»). H . R . Jauss (1977, 4 6 / 47). Grundlegend hier das von V. Propp (1928; 2 1970) entwickelte Schema zum russischen Volksmärchen, das als Vorlage für alle weiteren Arbeiten zur Gattung diente. Vgl. (in der Nachfolge V.Propps) vor allem C.Brémond (1970), A . D u n d e s (1970). E.Kongäs / P.Maranda (1962), C.Lévi-Strauss (1960), der Propps Handlungsmuster auf die Mythen beziehbar macht, M. L. Tenèze (1970), der vor allem an der Gattungsbestimmung liegt. Propps morphologisches Verfahren wurde aber auch für Untersuchungen an anderen Kleingattungen übernommen, z. B. von M. J. Schenck (1976) und L.S.Christ / J . A . L e e (1980) für das Fabliau. Vgl. in diesem Zusammenhang das Schema «state of deficiency», «procedure of improvement», «satisfactory state» bei C.Brémond (1970, 2 4 7 - 2 7 6 ) . Vgl. A.Schäfer (1972), der in diesem Zusammenhang auch von «Erfahrungsdichtung» spricht. So stellt es H.-J. Neuschäfer (1969) sowohl für die Erzählung aus Tausendundeiner Nacht (86) als auch für den Lai (117) dar. Die von H.-J. Neuschäfer (1969) genannten Kriterien der Gattungsbestimmung vereinheitlichen die kleinen Formen des Mittelalters; sie dienen vor allem der generellen Abgrenzung von der späteren Novelle. Vgl. H.-J. Neuschäfer (1969, 87) zur Erzählung aus Tausendundeiner Nacht. V.Propp (1928; 2 1970).

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der stets wiederkehrenden Handlungsmuster [wie z.B. Aufbruch, Kampf, Angriff] das [russische] Volksmärchen als Gattung definieren.) — Der Lai überwindet den starren Verhaltens-Formalismus 56 ; er präsentiert sich als literarische Ausdrucksform, in der Einzelner und universale Ordnung zusammen die individuelle Bestimmung festsetzen. - Mit seiner Funktion, der Erschaffung einer utopischen Glückswelt, spricht das Märchen einen Rezipientenkreis an, der «Vergnügen an der anderen Welt der Fiktion» 57 und eine «Entlastung von Zwang und Ernst des Alltags»58 sucht. Der Lai hingegen läßt den mittelalterlichen Rezipienten über die Möglichkeiten individueller Glückserfüllung rekflektieren. Nach der (hier über die Funktionsbestimmung vorgenommenen) Abgrenzung des Lai von anderen kleinen Formen des Mittelalters, ist es nicht nötig, die Reihe fortzusetzen 59 ; es dürfte erkennbar geworden sein, daß sich über Handlungsstruktur und Funktionsbestimmung eine Selbständigkeit auch des Lai ergibt, die in dieser Form nicht gesehen wurde 60 . Die noch ausstehende wesentliche Abgrenzung zum Fabliau aber soll mit jenen Erzählungen zusammen erfolgen, die bisher ausgeklammert waren, weil deren Handlungsstruktur sich von der vorbeschriebenen maßgeblich unterscheidet und sie eine Ähnlichkeit mit derjenigen vieler Fabliaux vermuten läßt. Inwieweit dann diese Gruppe von Erzählungen aufgrund ihres Anpassungsprozesses an sich wandelnde ökonomisch-soziologische Faktoren den Fabliaux zuzurechnen ist, muß durch eine erneute Funktionsbestimmung geklärt werden. 2. Die Entwicklung der Gattung: Strukturwandel als Folge einer neuen Wertorientierung In Aristote, Conseil, Epervier, Haveloc, Ignaure, Nabaret, Oiselet und Ombre, der dritten Gruppe von 'Lais' findet sich — im Unterschied zu den bisher beschriebenen Texten — das binäre Strukturprinzip nicht wieder: Wenn Handeln nicht allein als Reaktion oder Akt des Reagierens begriffen, sondern die Art und Weise des Reagierens in Bezug auf seine Wirkung und seinen Erfolg gesetzt wird, erkennt man, daß hier keine Verbindung von interner Prämisse (Handeln) und externem Faktor (Zufall) in der Lösungsphase 56

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Insofern hebt er sich gleichermaßen vom höfischen Roman und Märchen ab; in beiden existiert nach E.Bozoky (1978, 36) «un système de code rigoureux constitué des règles de conduite, auxquelles le héros doit se soumettre entièrement». H.R.Jauss (1977, 4 6 / 4 7 ) . ibid. Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Gegenüberstellung von Lanval und Chastelaine de Vergi. Es kann hier auf die Arbeit von A. Maraud (1972) hingewiesen werden, die mit den hier vorgelegten Ergebnissen voll bestätigt wird. Vgl. zu dieser Thematik aber auch J. Frappier (1976). Besonders von Forschern, die die kleinen Formen aufgrund formaler Gesetzmäßigkeiten vereinheitlichen, wie P.Zumthor (1972), H.Tiemann (1960), A.Sempoux (1973), R.Dubuis (1973).

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der Handlung eingegangen wird. Subjektives Handeln wird hier monokausal wirksam für das Endergebnis; die betroffenen Protagonisten betreiben ein erfolggekröntes zweck- und zielorientiertes (nach M.WEBER «zweckrationales») Handeln — wodurch der Zufall überflüssig, d . h . funktionslos geworden ist. Menschliches Handeln wird in der Unabhängigkeit von außengeleiteten Faktoren für das Handlungsziel aufgewertet und damit die teleologische Orientierung des Menschen, das menschliche Denkvermögen, menschliche Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit 61 . Die neuen Aspekte innerhalb der 'Gattung' zu ihrem Lebensende 6 2 hin hängen mit der Veränderung des Autoren- und Publikumsbewußtseins aufgrund sozio-historischer Veränderungen im 12./13. Jahrhundert in Frankreich zusammen. Das neue Verständnis von Handeln (und, damit zusammenhängend, die Veränderung des Strukturprinzips) soll deshalb im folgenden besonders im Hinblick auf die Veränderung des sozialen Strukturwandels erklärt werden — eines Strukturwandels, der mit der fortschreitenden Entwicklung der Städte und des Bürgertums zum harten Existenzkampf der Feudalgesellschaft führte. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, daß die Handlungsstruktur gleichermaßen eine Wertstruktur darstellt, daß das Handeln Wertpositionen vermittelt, die im sozialen Bereich angesiedelt sind, und daß Handlungs- und Strukturmuster sich auf ein Wertsystem beziehen, das von der entsprechenden Gesellschaft getragen wird 63 . Mit der Veränderung gesellschaftlicher Perspektiven entstehen Handlungs- und Strukturprinzipien, die der spezifischen gesellschaftlichen Situation angepaßt sind 64 . Wie sich der Übergang zu neuen ästhetischen Inhalten aufgrund neuer gesellschaftlich-historisch bedingter Wertvorstellungen vollzieht, soll an einigen Erzählungen deutlich gemacht werden. Bedeutsam für das 'neue' Handeln werden dabei Begriffe wie sen, voisdie und engin sein, mit denen die neue Zweckrationalität ihren Niederschlag im Text gefunden hat. In den Lais der MARIE DE FRANCE und denen ihres Umkreises führt die ins Handeln (oder in die Reaktion auf die Krise) verlegte Suche nach dem Selbst den Protagonisten zum Denken oder Nachdenken. Penser oder purpenser stehen hier als Zeichen der inneren Einkehr, im Gegensatz zur aktiven Suche im 61

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D e m Kapitel Reaktions- und Auflösungsmodelle sind die äußerst differenzierten Handlungsorientierungen, -formen und -möglichkeiten zu entnehmen, die auf eine entwickelte Praxis menschlichen Handelns schließen lassen. D i e s e Lais sind ausnahmslos in das 13. Jahrhundert zu datieren, vgl. H. Baader (1966, 2 6 1 - 2 6 4 ) . (Aristote: 1 2 2 5 - 1 2 3 0 ; Conseil: 1. Viertel 13.Jahrhundert; Epervier: 1.Hälfte 13. Jahrhundert; Ignaure: 13. Jahrhundert; Oiselet: 1.Viertel 13.Jahrhundert; Ombre: 1221.) D i e Ausgangsposition nimmt u. a. Bezug auf H. Kokott (1978), vgl. auch den B a n d l , Literatur-Publikum-historischer Kontext ( J . B u m k e , Hrsg.) 1977. Insofern kann nach C . C o r m e a u (Wolfram-Studien V , 63 - 7 8 ) der Roman auch nicht mit Hilfe der Märchenfunktionen rekonstruierbar sein, wie es I. Nolting-Hauff (1974) behauptet. Vgl. C.Cormeau: «Ist die (175) nicht ein Prozeß, der auch die syntagmatische Ebene des Erzählens verändert?» (66).

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Bewährungsunternehmen des höfischen Ritters; sie stellen gewissermaßen die «Gegenkraft der Melancholie als Zeichen des (momentanen 65 ) Sinnverlustes»66 dar. Die innere Bewegung in diesen Lais schließt die äußere aus und führt meist zur Lähmung oder zu einer Aktivität, die unter höchstem seelischem Druck entsteht. Die Aktivität, der eine intellektuelle (kognitive) Leistung des Menschen vorausgeht, führt spätestens bei der praktischen Ausführung zur Katastrophe (vgl. Deus Amanz, Equitan, Bisclavret). Offensichtlich lehnen Marie de France und ihre unmittelbaren Epigonen die reine Reflexion nicht ab; pensif ist sogar als das Lieblingswort der Dichterin bezeichnet worden 67 . Reflexion ist jedoch eher von emotionaler als intellektueller Prägung; sie wird bei den Protagonisten als gedankenvolle Versunkenheit, als grüblerisches (Nach-)Sinnen spürbar, das einen leicht pathologischen Charakter nicht verleugnen kann 68 . (Die mit Gefühl aufgeladene Reflexion, das stark subjektbezogene, affekterfüllte Denken in diesen Lais steht der Mystik des B E R N H A R D VON CLAIRVAUX [ 1 0 9 3 - 1 1 5 3 ] nahe, dessen Lehre die religiöse Natur der Leidenschaft hervorkehrte und dessen Worte «Glühen ist mehr als Wissen» bezeichnend ist für die ganze schwärmerische Intensität und Gefühlsseligkeit seiner Anschauungen. 69 ) Wenn in den Lais der M A R I E DE F R A N C E und anderen aller sen des Handelns in die mesure, die Ethik des Maßes, verlegt zu sein schien70, die Welt des Handelns einer «Welt des passiven, zum Verzicht bereiten Menschentums» 71 glich, so sind sen, voisdie und engin in den Erzählungen der dritten Gruppe sämtlich Tugenden des Handelns, deren Einsatz den Erfolg des angestrebten Handlungsziels garantiert 72 . — Bereits im Kapitel Reaktion und Auflösung wurde auf die Bedeutung von sen, z.B. in Ombre, 65 66 67 68

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71 72

Anmerkung stammt von mir. F.Ohly (1965, 181). F.Schürr (1930, 579). Über das träumerische Versunkensein der Gestalten bei Marie de France haben sich ausgiebig L. Spitzer (1930, 54) und F. Schürr (1930) geäußert. Vgl. dazu K.Vorländer ( 6 1975, 6 5 - 6 6 ) . Vgl. dazu die Feststellung von G. S. Burgess (1977), daß sens und mesure in den Lais der Marie de France ein gemeinsames Bedeutungsfeld haben und teilweise synonym gebraucht werden. — Mesure muß für jene Zeit als Kardinaltugend angesehen werden; jede höfische Qualität mußte von mesure durchdrungen sein, ohne daß dabei die Intensität des Gefühls eingebüßt zu werden brauchte, vgl. P.-Y.Badel (1969, 86). — Als exemplarische Fälle von mesure sind von der Forschung Equitan, Yonec, Deus Amanz und Chaitivel herausgestellt worden, vgl. auch die programmatische Verlautbarung von mesure in Equitan, v.202. Dennoch wird in der Forschung weiterhin behauptet, daß in den Lais die Liebe alles rechtfertigt, vgl. z. B. J. Ch. Payen (1976, 285) zu Yonec. F.Schürr (1930, 566). Wie wichtig diese Begriffe für die Handlungsstruktur und damit auch die Wertstruktur und die historisch-soziologische Interpretation literarischer Texte sind, haben in jüngerer Zeit Arbeiten aus dem germanistischen Bereich gezeigt: G. Hermans (1953); G.Hollandt (1966); W.Molleken / J.Henderson (1973); W.Jupe (1976); Ch.Ortmann / H.Ragotzky / Ch. Rischer (1976) und H.Ragotzky (1977).

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hingewiesen. Der geistreiche Einfall eines höfischen Menschen übernimmt hier - wie in anderen Fällen Esprit, Klugheit oder List - die Funktion des in den anderen Lais von unsichtbarer Hand gelenkten Zufalls. Die verschiedene Wertorientierung des Handelns im binären und im monostrukturellen Handlungsmodell läßt sich deutlich an der Bedeutungsverschiebung von engin ablesen. In den Lais der Marie de France (Bisclavret, Equitan, Laüstic) und in Oiselet bedeutet engin so viel wie Verschlagenheit, Hinterlist, Hintergehung oder absichtliche Täuschung. Eine geradezu klassische Gegenüberstellung von engin und voisdie findet sich in Oiselet, wo hinterlistige Bauern-(Bürgers-) Schläue gegen die geschliffene Weisheit eines höfischen Repräsentanten (Oiselet) ausgespielt wird. Eine Bedeutungsverschiebung zum Positiven erfährt engin in Epervier, wo Scharfsinn, Schlagfertigkeit, Witz und Täuschung (Lüge und Verstellung) einem außerehelichen Liebesverhältnis die abschließende Rechtfertigung verleihen (wenn man an das große Leid der außerehelich Liebenden in Guigemar denkt, wirkt Epervier, vom sen her gesehen, geradezu wie eine Parodie auf Guigemar). Als Positivum bestimmt engin auch in Nabaret und Aristote die Handlung insofern, als außergewöhnliche interaktive Fähigkeiten das angestrebte Handlungsziel unter dem Beifall von Außenstehenden herbeiführen. In Ignaure ist engin von allen beteiligten Protagonisten so intensiv entwickelt, daß sich mit dieser Fähigkeit nicht mehr über die Gegenpartei siegen läßt. Engin wird überstrapaziert und führt zum gegenseitigen Ruin. — Die — meist von höfischer Umgebung geprägte — Weisheit, Lebensund Weltklugheit (Conseil, Oiselet, Ombre), aber auch die List oder Verschlagenheit (Aristote, Epervier, Ignaure, Nabaret), zielen — insofern sind diese heterogenen Erzählungen zusammenzusehen - auf den direkten Gewinn beim Handeln ab. Aufgrund des Kausalzusammenhangs von geistreichem, klugem, weisem oder listigem Handeln und entsprechendem Handlungsergebnis basiert die Bewährung nicht mehr auf einem nach heilsgeschichtlichem Vorbild funktionierenden Mechanismus von Leidensbereitschaft und Belohnung; Handeln beruht jetzt auf der neu entwickelten Fähigkeit, kraft menschlicher Intelligenz, selbstbezogene, eigennützige, moralisch nicht immer einwandfreie (Ignaure) Interessen sowohl zu erkennen (und nicht nur daran zu leiden) als auch eigenständig und gewinnbringend durchzusetzen. In Anlehnung an H.RAGOTZKYS Terminus vom «Handlungsmodell der 'List'» 73 sollte bei der dritten Gruppe — im Rückblick auf Equitan, Bisclavret, Laüstic, Oiselet, in denen ebenfalls List (engin) eingesetzt, aber negativ bewertet wird - eher von einem Handlungsmodell der belohnten List gesprochen werden bzw. (um den Kausalzusammenhang von kognitiv gesteuerter Handlungszielorientierung und Erfolg noch allgemeiner zu fassen) vom Handlungsmodell der bestätigten Zweckrationalität — dies nun auch im Gegensatz zu einem Handlungsmodell der bestätigten Wertrationalität (bzw. Leidens73

Vgl. den Titel einer Arbeit von H.Ragotzky (1977) zu Strickers Daniel vom den Tal und des Pfaffen Amts.

blühen-

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qualität), wie es für die Lais der M A R I E DE F R A N C E und die ihr nahestehenden formuliert werden könnte. Als nächstes wäre festzustellen, welche ideologie- und sozialgeschichtlichen Bedingungen verantwortlich zu machen sind74 für die sich innerhalb der Gattung vollziehende Wandlung von einem binären Handlungsprinzip zu einem monostrukturalen, von einem Handlungsmodell der Wertrationalität zu einem Handlungsmodell der Zweckrationalität. Bei der Herstellung von Beziehungen zwischen Strukturprinzipien und außerliterarischen (sozio-historischen und ideologiegeschichtlichen) Systemen 75 richtet sich das Untersuchungsinteresse schließlich auf die Funktion der Gattung im sozialen Sinnzusammenhang. 3. Die Funktion der Gattung im sozialen Sinnzusammenhang Auf der Basis zeitgenössischer sozialer Strukturen soll abschließend wenigstens in Umrissen eine Zuweisung der untersuchten Texte zu einem sozialen Substrat erfolgen. Dabei wird der Lai in doppelter Hinsicht zum Gegenstand eines funktionsgeschichtlichen Interesses gemacht, sowohl in sozialgeschichtlicher Hinsicht 76 als auch in Anlehnung an die von H . R . J A U S S entwickelten rezeptionsästhetischen Fragestellungen 77 . Leider reichen weder die zur Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts vorhandenen Materialien noch die rezeptions- und publikumsspezifischen Daten (wie vor allem die Fixierung der Wirkungszentren des Lai) aus, um abschließende Thesen zu formulieren. Da die Lais sich darüber hinaus nicht in gängige Raster der Literaturgeschichtsschreibung einordnen lassen, ist ohnehin Zurückhaltung hinsichtlich aller nur vordergründig evidenten literatursoziologischen Annahmen geboten; auch soll der Gefahr nicht erlegen werden, monokausale Ableitungen herzustellen und das literarische Phänomen auf einzelne Ursachen zu reduzieren. Anhand der hier für die Erzählungen entwickelten Handlungsmodelle und Funktions74

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Die nachhaltigsten Anstöße zu historisch-soziologisch orientierten Interpretationen verdankt die Mediävistik E.Köhler (1971; 1974). Es ist heute nicht mehr zu bestreiten, daß gerade mittelalterliche Literatur in noch stärkerem Maße eine sozialgeschichtliche Perspektive erfordert als die Literatur der Neuzeit. Während letztere sich individualistisch gibt und Originalität fordert, ist die Literatur des Mittelalters unmittelbar einer Gruppe, einer Schicht und den Normen, die sie setzt, verhaftet. Vgl. LiLi (7/1977) unter dem Titel Höfische Dichtung oder Literatur im Feudalismus? bzw. H. Brall ( 1 9 7 7 , 1 9 - 3 8 ) zusammenfassend zum Stand der Diskussion über die sozialgeschichtliche Interpretation mittelalterlicher Literatur. Nach H.Kuhn (1980) besteht die dringendste Aufgabe der literarhistorischen Mediävistik darin, ein «Typologie» aller Texte zu entwerfen, d. h. ihre jeweilige Rolle im Geschichtsprozeß zu beschreiben. Die Texte wären auf ihre literarische Struktur hin zu interpretieren, literarästhetisch zu beurteilen und literarhistorisch aufgrund der Fakten und Wertungen zu ordnen.

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H.R.Jauss (1970) bzw. R.Warning ( 2 1979).

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bestimmungen soll lediglich versucht werden, einige zentrale Merkmale und Entwicklungslinien aufzuzeigen, die für die besprochene Literatur für relevant gehalten werden. Nach einer Skizzierung der am Text beteiligten sozialen Gruppen könnte eine potentielle Leser- bzw. Hörerschaft ermittelt und der «Sitz im Leben» dieser Gattung einigermaßen umrissen werden. «Literarisches Handeln als Medium kultureller Selbstdeutung» 78 , literarisches Handeln als Medium von Geschichtserfahrung und Situationsdeutung — als aktive Komponente sozialer Lebenspraxis — begriffen: Ansatzpunkt für die Einordnung des Handlungsmodells der Wertrationalität in den gesellschaftlichen Kontext ist der im französischen und anglo-normannischen Frankreich herrschende Feudalismus. Ohne auf die Diskussion um den Feudalismusbegriff eingehen zu wollen 79 , soll Feudalismus hier als spezifische historische Produktionsweise verstanden werden, auf deren Basis sich die Eigentumsverhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen, die sich aus ihrer Eingliederung in diesen Produktionsprozeß ergeben, erklären — Aspekte, die für das Verständnis von Handeln in den Lais bedeutsam sind. Die wirtschaftliche Existenz der Feudalherren und Großgrundbesitzer, d . h . die regionalen Herrschaftsbereiche, deren Herausbildung mit der Schwächung der Position der Zentralmacht verflochten ist 80 , beruht auf der Ausbeutung der feudalabhängigen Bauern; diese wirtschaften unter einer immer stärker werdenden adligen Oberschicht. Die Konzentrierung der Produktionsmittel in den Händen einzelner weniger hat zu Großgrundbesitz in beträchtlichem Ausmaß geführt und damit auch zur Autarkie der einzelnen landwirtschaftlichen Produktionsstätten. Als Folge der Autarkie der Produktionsstätten tritt nur ein geringer Teil der agrarischen und handwerklichen Produktion in die Zirkulation ein. Jedes kleine Gut ist ein Herrschaftsbezirk, ein 'Staat' für sich, jeder kleine Ritter dessen unabhängiger Herr und Gebieter. Die gesellschaftliche Landschaft zeigt nichts als eine Fülle von durcheinandergewürfelten Herrschafts- und Wirtschaftseinheiten, jede von ihnen ist im wesentlichen autark und ohne größere Abhängigkeiten, abgesehen von einigen Enklaven, fremden Händlern etwa oder Klöster und Abteien, die gelegentlich in etwas größerem, überlokalen Zusammenhang miteinander stehen 81 .

Eine plausible Erklärung für die Unmündigkeit der Protagonisten in Kommunikation und Interaktion, für die Ablehnung und Leugnung jeglicher aktiven Beteiligung, jeglichen zweckorientierten Handelns (das eine gesellschaftliche Praxis impliziert), kann in der geringen sozialen und ökonomischen Interde78 79

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Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Ch. Ortmann / H. Ragotzky / Ch. Rischer (1976). Vgl. z . B . die Aufsatzsammlung bei H . W u n d e r (1974) bzw. Abriß (und Bibliographie) bei O.Brunner (1978) und H . B o o c k m a n n ( 2 1981). Wie die Rivalität zwischen Zentralmacht und regionalen Herrschersippen die Geschichte der altfranzösischen Feudalgesellschaft durchzieht, beschreibt N.Elias ( 2 1969, II. 210). N . E l i a s ( 2 1969, II, 120).

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pendenz in der französischen und anglo-normannischen Gesellschaft des 12. Jahrhunderts gesehen werden, in der sozialen und ökonomischen Autarkie, die mit dem Monopolisierungsprozeß, der Akkumulation wichtiger Produktionsmittel bei wenigen, einhergegangen ist. — Allen Lais, denen das Handlungsmodell der Wertrationalität zugrunde liegt, ist der Bezug auf ein (nicht immer explizit formuliertes) Ideal gemein, und jeder Lai ist (direkt oder indirekt) eine Auseinandersetzung mit diesem Ideal. Das Handlungsmodell propagiert eine Ethik des Handelns, die in der Verbindung von Passivität und moralischer Verpflichtung liegt — es ist ein Handlungsmodell, das innerhalb der sozialen Ordnung des feudalen Lehnswesens eine Gruppe betrifft, die aufgrund ihrer relativen finanziellen, materiellen und ökonomischen Autarkie von der Auseinandersetzung mit der Umwelt weitgehend ausgenommen, dafür aber einer höheren, ethischen Instanz verpflichtet ist. Als soziales Substrat bietet sich primär die mittlere bis höhere Adelsschicht an, die in Struktur und Ökonomie noch nicht in den Zersplitterungs- und Auflösungsprozeß geraten und die dem christlichen Denken mit all seinen ethischen Implikationen absolut verpflichtet ist. Keinesfalls ist diese Literatur primär auf das niedere Rittertum zu beziehen, das sich mit Abenteuern eine auf literarischer Ebene kompensierte Existenzberechtigung (Dienstverpflichtung oder Dienstleistung) sichern und das feudalrechtliche Gesellschaftssystem und die oberste Norminstanz, den Hof, bestätigen muß 82 , keinesfalls auf eine Ministerialität, die sich im «Konflikt zwischen faktischer Bedeutung und ständischer Inferiorität» 83 befindet, keinesfalls auch auf die zentralistischen Kräfte, die von der gesellschaftspolitischen Verantwortung getragen sind. Die christlichmoralische Wertstruktur des Lai verweist auf die profane, singuläre Bestimmung des Einzelnen, auf seine persönliche Glücks- (oder Selbst-)Verwirklichung; es ist eine Struktur, die von jeglicher Standeserhöhung oder -legitimation absieht, von jeglicher gesellschaftspolitischen Pragmatik (gleichgültig, ob es nun darum geht, den arthurischen Ritter in ein neues Verständnis seiner individuellen und sozialen Existenz hineinzuführen oder der Gesellschaft das Antigesellschaftliche, die Erfahrung mit der Gegenwelt bewußt zu machen 84 — nach beiden grundlegenden Interpretationsansätzen des höfischen Romans hebt sich der Lai von diesem durch den Verzicht auf jegliche Begründung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses ab). — Die Lais beziehen sich auf eine mittlere, gehobene Gesellschaftsschicht, die auf die Ethisie82

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E. Köhler ( 2 1970, 25) spricht dabei von «ordnungsstiftenden Abhängigkeitsverhältnissen». So G.Kaiser (1973, 108) zur zwiespältigen Position der Ministerialen, die den Iwein (im Unterschied zum Erec) aus sozio-historischer Perspektive legitimiert. W. Haug (1979) stellt mit seiner These, daß die Absicht des höfischen Romans darin liegt, einer höfischen Gesellschaft über die aventure des Ritters einen Gegenpol vorzuführen, von der sie sich neu verstehen und begründen kann, gängige Auffassungen über den höfischen Roman in Frage, die ihren Blick stets auf die (sozio-sankte) Identitätsfindung eines Einzelnen gerichtet hielten.

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rung und Ästhetisierung des Dienstes und die damit verbundene Selbstbestätigung verzichten kann, auf eine noch stabile Aristokratie, deren Selbstverständnis als gesellschaftliche Gruppe, auch in ihrer sozio-ökonomischen Bedeutung, nicht in Frage steht. Stellt man die Handlungsstruktur in ihren soziokulturellen Kontext, so läßt sich in den Lais über das Medium der christlichmoralischen Wertstruktur ein weltlich ausgerichtetes Selbstverständnis- und Selbstverständigungskonzept ablesen, das auf dem Hintergrund eines materiellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses verständlich wird. Dieses Selbstverständnis-Konzept ist allerdings nicht gleichzusetzen mit dem der Unerfüllbarkeit des Subjektiven, wie sie im Tristan in der kategorischen Ablehnung des Höfischen ausgedrückt ist 85 . Vielmehr gründet das Selbstverständnis hier auf einem optimistischen Zufallsbegriff6, der allerdings nicht im Sinne einer gesellschaftspolitisch zu vertretenden Integration des Individuums in die Gemeinschaft zu verstehen ist, sondern als höhere Sanktionsinstanz im Dienste der singulären Ausweisung. Eine Gattung des 12. Jahrhunderts wird so zu einem Medium gruppenspezifischer Selbstverständigung. Ihre Rolle als Subgattung im Subgattungssystem wird deutlich: Als literarische Miniatur 87 übernimmt sie eine Funktionserweiterung zum dominierenden, in seiner Funktion normativ erstarrten höfischen Roman 8 8 . Ohne das überkommene System zu verwerfen, ist sie imstande, eine Entwicklung, die über die Strömung des Nominalismus und der Viktoriner 89 ideengeschichtlich erfaßbar wird, durch Umformulierung des tradionellen Themen- und Motivbestandes aufzufangen: Sie stellt sich auf die Bedürfnisse einer sozialen Gruppe ein, die bisher entweder unberücksichtigt blieb oder sich erst nach und nach emanzipiert hat. 85

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Vgl. E.Köhler ( 2 1970) zum arthurischen Roman und H . W e b e r (1976) zur Tristandichtung. Vgl. E.Köhler ( 2 1970, 158ff.). Kurze Erzähltypen wie der Lai können sich eher als höhere Literaturklassen künstlerisch frei, d . h . eher in formaler und inhaltlicher Zwanglosigkeit entwickeln; insofern haben sie teilweise interessante Aussagemöglichkeiten, vgl. zur «Unabhängigkeitserklärung» des Lai der Marie de France zum ersten Mal K.Bertau (1972/73). Die Lais gehören somit zu einer Reihe neuer Texttypen (wie Schwank, Fabel, Exemplum, Dit, Fabliau), die aus der Anonymität der Mündlichkeit auftauchen und die normativen Grenzen des exklusiven höfischen Literaturbetriebs sprengen. Vgl. zur Charakteristik der literarhistorischen Situation H . K u h n (1968). Insofern gehören die Lais kulturgeschichtlich in das französische bzw. anglo-normannische 12. Jahrhundert, in dem sich ein allgemeiner Aufbruch geistiger Kräfte, mit dem auch die Entwicklung des individuellen Bewußtseins verbunden war, vollzog in das Jahrhundert, das den Universalien den Charakter realer Existenz absprach und diese für die Einzeldinge, das Einzelhafte, beanspruchte und damit auch das Individuum mit seinem subjektiven Anspruch und in seiner subjektiven Empfindung manifestierte. Vgl. zur Philosophie des 12. Jahrhunderts M . D . C h e n u (1957), J.de Ghellinck (1957), C.Haskins (1927), speziell zum Individualismus R . W . H a n n i n g (1977) und A . J. Gurjewitsch (1980, 3 2 7 - 3 5 1 ) . - Ohne daß man einen direkten Einfluß des Nominalismus und der viktorinischen Schriften auf Marie de France und ihre Epigonen nachweisen kann, zeigt sich, daß in die Lais jene grundlegenden Anschauungen eingegangen sind; vgl. E.Köhler ( 2 1970, 171) zum Erec.

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Die Tatsache, daß literarische Gattungen einen historisch und sozial definierten «Sitz im Leben» haben, darf allerdings nicht in der Weise verstanden werden, daß die Gattung zum primitiven Abbild einer genau zu umreißenden gesellschaftlichen Realität gerinnt 90 . Sieht man den Text dennoch als Kommunikationsinstanz an (weil sich in ihm die Verständigung zwischen Text und Rezipient vollzieht), müßten die besonderen Merkmale einer Textgruppe allerdings Rückschlüsse auf die Rezipienten zulassen91. Für die Lais gibt es allerdings so gut wie keine verläßlichen Anhaltspunkte, die es erlauben, bestimmte Zentren ihres Wirkens, d.h. genau abgrenzbare Rezipientengruppen zu identifizieren 92 . Ausgehend von der Tatsache, daß erstens die Struktur der Lais auf die konkrete, praktische, menschliche Tätigkeit verweist und damit Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Praxis des Menschen innerhalb eines bestimmten historischen Systems von sozialen Verhältnissen zuläßt u n d zweitens die Wertaussage im Kommunikationszusammenhang von Text und Rezipient in Richtung Selbst- (bzw. Glücks-)verwirklichung zeigt, wird zunächst für die Lais der wertrationalen Aussage ein (Primär-)Publikum im französisch-anglo-normannischen Kulturkreis des 12. Jahrhunderts anzusetzen sein, das — einer materiell abgesicherten Feudalschicht entstammt, die sozial autark, moralisch einer höheren (christlichen oder höfischen) Instanz verpflichtet ist und Wertekategorien der höfisch-christlichen Kultur vertritt. Es dürfte sich hier um die mittlere bis höhere Adelsschicht handeln, um die Territorialfürsten und die (Groß-)Vasallität; — ein Bedürfnis hat nach Ausweisung seiner Singularität und Legitimierung seiner Partikularität. Hier träfe ebenfalls die partikularistisch orientierte Vasallität aus der mittleren und höheren Adelsschicht zu. Die Leser- oder Hörerschaft muß außerdem über ein relativ hohes Bildungsniveau verfügt haben, dem bestimmte Grundtatsachen der bestehenden literarischen Organisation bekannt gewesen sind (keltischer Lai, keltische Mythologie, Artus-Welt, Ovid usw.); es war ein Publikum, das in besonderem Maße am keltischen (und nicht arthurischen) Stoff interessiert war. Für das Verständnis der meisten Lais aus dieser Gruppe waren die Romane Chrétiens nicht unbedingt erfoderlich 93 ; andererseits kann es der gebildeten Oberschicht 90 91 92

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Vgl. H.Krauss (1973, 48). Vgl. dazu den theoretischen Ansatz von H . R . Jauss (1970). Leitend für einen sozialgeschichtlichen Interpretationsversuch sollte dennoch das Bemühen sein, abgrenzbare gesellschaftliche Gruppen als «Rezeptionsgemeinschaft» zu beschreiben und zu ermitteln, ob sich gesellschaftliche Umbruchsprozesse vorfinden lassen. Vgl. zu den theoretischen Voraussetzungen dieses Ansatzes vor allem auch G.Kaiser (1973, 18ff.). Eine Ausnahme bilden u. U . Melion, Epine und Trot, die die ritterlich-höfische aventure im konventionellen Sinne als Handlungselement einbringen, Cor und Mantel, die diese aventure parodistisch verkehren, D o o n und Tyolet, die ihr Strukturprinzip positiv verwenden und Guingamor, der als Parodie auf den höfischen Roman insofern

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möglich (oder ein Bedürfnis) gewesen sein, aventure auch anders zu begreifen als die ritterliche Bewährungsfahrt und standesbildende Lebensform. Wenn die Aussage D E N I S PIRAMUS' «Les lais soient as dames pleire» 94 auch nicht überbewertet werden darf, so wendet sich der Lai zwar auch an den «Cunte, barun e chivaler»95, doch besonders an die Damen oder allgemeiner an die 'Gemeinde des Herzens'. Denkbar ist in der höfischen, aristokratischen Praxis des Lebens, daß gerade die Liebenden, die Einsamen, die Damen den Singularitätsausweis der Lais ideologisch unterstützen, daß die Lais den «Erwartungshorizont» sowohl der literarischen Erfahrung als auch der Lebenspraxis96 eines kleinen sich von der höfischen Norin-Gesellschaft absondernden Kreises trafen, der in seinem Streben nach Selbst Verständnis und individueller Wahrheit im 12. Jahrhundert eine progressive Tendenz repräsentierte. Wollte man die Lais geographisch auf ein bestimmtes Wirkungszentrum fixieren, so steht zumindest soviel fest: Überwiegend kursierten sie im anglonormannischen Kulturraum, da ihre Existenz dort auch mit M A R I E DE 97 F R A N C E begründet wurde ; nachzuweisen ist dies z.B. für Désiré und Graalant; sie sind eventuell aber auch in der Bretagne (Tydorel?), der Pikardie (Melion, Trot) und der Ile-de-France (Guigemar, Tyolet, Doon) anzusiedeln 98 . Wenn man den nordfranzösischen und insulären Bereich bis 1200 ohnehin als kulturelle Einheit sehen kann99, so könnte für eine geographische Differenzierung lediglich interessant sein, daß die ideologische Trägerschicht derjenigen Lais, die eine Vorstellung von der ritterlich-höfischen aventure (in didaktischer Absicht) vermitteln, auch im Pikardischen, und die die «Artusangesehen werden kann, als er sein Strukturprinzip übernimmt, um gerade das Gegenteil, nämlich die Verderbtheit und den Untergang des Artus-Hofes zu demonstrieren. D e m Publikum dieser Lais sollte die ritterlich-höfische aventure

im Chrétien-

schen Sinne bzw. der arthurische Stoff in der Chrétienschen Verarbeitung bekannt ge94 95 96

97

98

99

wesen sein. V . 4 6 , La Vie Seint E d m u n d le Rei, H . K j e l l m a n n (Hrsg.) 1935. ibid., v.42. Bleibt H . R . Jauss (1970, 173) bei seinem Ansatz primär auch im literarischen Erfahrungshorizont, so stellt er diesen später (199) auch in den «Erwartungshorizont seiner (sc. des Rezipienten) Lebenspraxis», die «sein Weltverständnis präformiert und damit auch auf sein gesellschaftliches Verhalten zurückwirkt». Der Wirkungskreis der Lais im anglo-normannischen R a u m bleibt unbestritten, selbst wenn Marie de France aus der Ile-de-France gebürtig gewesen sein sollte. Wir neigen mit A . K n a p t o n (1978/79) dazu, in Marie de France «Marie de Boulogne» zu sehen, die Tochter des englischen Königs Stephen (1135—1154) und seiner Frau Matilda, der Erbin der Grafschaft von Boulogne. Marie de Boulogne genoß höchstwahrscheinlich eine klösterliche Ausbildung in der Normandie und wurde Äbtissin von Romsey in Hampshire. Aus politischen G r ü n d e n war sie von Heinrich II, dem Nachfolger ihres Vaters, gezwungen worden, das Klosterleben aufzugeben, zu heiraten und das E r b e in der Boulogne anzutreten. In dieser Zeit (nach 1154) bzw. kurz vor ihrer Rückkehr in ein Kloster (um 1180) könnten die Lais geschrieben worden sein. Die Aussagen stützen sich vorwiegend auf dialektale Merkmale, wie sie P. M. O ' H a r a Tobin (1976) für die anonymen Lais zusammengestellt hat. S. dazu B.Schmolke-Hasselmann (1980, 184ff.).

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szenen-Struktur» 100 mit C H R É T I E N DE T R O Y E S teilt, auch im Umkreis der französischen Ue-de-France zu suchen ist. - Für die Lais der Marie de France und ihre unmittelbaren Epigonen (Guingamor, Graalant, Tydorel) ist aufgrund ihrer Bestrebungen nach Legitimation einer Singularität ein Literaturbetrieb vorauszusetzen, der, verglichen mit der sonstigen französischen Literatur der Zeit, progressive Züge trägt - er ist bis 1200 im anglo-normannischen, angloangevinischen Raum anzusetzen 101 . Lais mit gleichem Anspruch auf Selbstverwirklichung, allerdings in der Bindung an die ritterlich-höfische oder christlich-höfische Norminstanz, kommen ebenfalls aus dem anglo-normannischen Raum (Epine, Désiré), reichen aber auch in den pikardischen hinein (Melion, Trot). Die Lais in bestätigender (Doon, Tyolet) bzw. ideologisch 'verkehrter' (Guingamor) Anwendung der «Artusszenen-Struktur» berühren den Umkreis der Ile-de-France. Wenn in diesem Zusammenhang das primäre Wirkungszentrum eines Chrétienschen Erec im Umkreis Henri Plantagenets oder von arthurischen Romanen des 13. Jahrhunderts vorwiegend im anglonormannischen Raum angesetzt werden kann 102 , so ist die Kurzerzählung in literarischer Komplementärfunktion zur (subgattungs-)systembestimmenden Großgattung 103 zu sehen und ihr Publikum im Kreise dieser Rezipientenschicht zu suchen. Zielte der arthurische Versroman also auf die Legitimation (nicht des französischen Königshauses, nicht der französischen Kronvasallen104 sondern) der Herrschaft des englischen Königshauses105 und seiner Barone in den englischen Lehensterritorien 106 ab und sind seine literarischen Zielsetzungen vor allem im konservativ-politischen 107 Bereich zu suchen, so spricht der Lai zu ideologisch autarken (Liebhaber-)Kreisen aus dem gleichen anglo-angevinischen Raum, die aufgrund ihrer Strebungen nach Selbstbewußtsein und Glücksverwirklichung ohne Bindung an die Institution, aber noch in der Verpflichtung an eine christliche Ethik progressive Tendenzen spürbar werden lassen. - Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Lecheor, die klassische Parodie auf die Gattung, wohl kurz nach 1200108 entstand und anglo-normannischen, vielleicht sogar insularen Ursprungs ist. Schon allein Lecheor, aber auch andere Parodien 109 , bestätigen, daß der Lai 100 101 102 103

104 105

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ibid. (42ff.). Vgl. D. Legge (1963, 362). B. Schmolke-Hasselmann (1980, 184ff.) bzw. ihre Zusammenfassung (233ff.). Vgl. den theoretischen Ansatz zu Gattungssystem und Gesellschaftssystem bei E.Köhler (1977, 7-22). Dies stellt neuerdings B. Schmolke-Hasselmann (1980, 191) heraus. B. Schmolke-Hasselmann (1980, 193) «Der Wunsch nach Legitimation der Herrschaft, der in Werken der Literatur besonderen Ausdruck fand, war seit der Eroberung 1066 für Englands Könige ein vorrangiges Anliegen gewesen». B.Schmolke-Hasselmann (1980, 207). ibid. (233/234). Vgl. P.Skârup (1971, 59, Anm.25). Z.B. der Lai du Cor des Robert Biket, der um die Jahrhundertwende im anglo-normannischen oder insularen Raum entstand, Mantel Mautaillé Ende des 12. Jahrhunderts in Nordfrankreich, Ignaure (?) Anfang des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich.

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ein gattungsspezifisches Eigengewicht in diesem Kulturraum gebildet hat, das sie noch eine Weile am Leben erhält, selbst wenn sich die gesellschaftlichen Bedingungen gewandelt haben. - Die sog. «burlesken Lais als Parodie der Gattung» 110 sind bereits überzeugend analysiert worden 111 . Sie alle 112 , die das Vorbild mit der Absicht des komischen Effekts 1 1 3 nachahmen, beweisen mit der Korrumpierung gattungsspezifischer Wertaussagen deren ehemalige Existenzberechtigung. Mit der Beibehaltung äußerer (motivischer) Verklammerungen bei gleichzeitiger Durchkreuzung des Erwartungshorizonts des Lesers/Hörers (der durch die ihm vertrauten Signale auf eine 'herkömmliche' aventure eingestellt ist), wird deutlich, daß die neue Generation die Wertwelt des Lai nicht mehr fraglos hinnimmt 114 . So liegt die Bedeutung der «burlesken Lais» vor allem darin, den Prestigeverlust der 'aventure' thematisiert zu haben. Das manipulierende Operieren mit der Struktur (Cor/Mantel 1 1 5 ), die Füllung der Struktur mit neuen Inhalten (Le Vair Palefroi" 6 ), die Auflösung der 'aventure' in bloßen Scherz (Lecheor) deuten gattungsgeschichtlich auf eine Endphase hin. Die in der Lai-Forschung zu den «burlesken Lais» zählenden Ignaure, Epervier, Nabaret, Aristote 117 kündigen anhand ihrer monostrukturierten Handlungsführung eine veränderte Wertwelt an. Ihre parodistischen Elemente zeugen vom Gewicht einer innerliterarischen Tradition, die der reflexhaften Veränderung von Literatur eine Weile entgegenwirkt. Zu fragen bleibt jetzt, wie eine Gattung, die mit einem Handlungsmodell der Wertrationalität und später mit einem der Zweckrationalität operiert, ihre Identität bewahrt 118 . Diese Frage stellt sich umso mehr, als die dritte Gruppe von Erzählungen (Aristote, Conseil, Epervier, Haveloc, Ignaure, Nabaret, Oiselet, Ombre) jenen Fabliaux gleicht, die ebenfalls auf den Zufall aufgrund

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So der Titel eines Beitrags von A . G i e r im G R L M V / 1 . Vgl. H . B a a d e r (1966, 265 - 318), N . E . D u b i n (1974), A . G i e r ( G R L M V / 1 ) . Traditionellerweise werden Cor, Mantel, Lecheor, Ignaure, Epervier, Nabaret und Aristote dazu gerechnet. Diesen will vor allem P.Lehmann ( 2 1963) als Wirkungsabsicht der Parodie herausgestellt sehen. Vgl. dazu H . R . J a u s s (1953/53) zum Jaufre. Vgl. zur ideologischen Verkehrung der Struktur bei Cor und Mantel S. 135 und 180 dieser Arbeit. Le Vair Palefroi könnte insofern als Parodie z . B . auf Fresne angesehen werden, als in beiden Erzählungen das institutionalisierte Liebesverhältnis durch die gute Tat eines Liebenden herbeigeführt wird; allerdings verdreht die materielle Orientierung der Protagonisten und der in den Tierinstinkt verlegte Zufall in Le Vair Palefroi die ehemalige idealistische Wertwelt des Lai. Vgl. A n m . 1 1 2 und zuletzt A . G i e r ( G R L M V / I ) . Wie die Identifizierung einer Gattung durch das Handlungsmodell erfolgen kann, hat R. Warning (1979) gezeigt. Kritik an der strukturalistischen Methode übt er nur dann, wenn sie undialektisch bleibt, d.h. wenn sie nicht zwischen dem formalen Regelsystem und der narrativen Praxis vermittelt, sowie Umweltsysteme, Werte, d. h. den allgemeinen Bezugsrahmen, unberücksichtigt läßt.

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jener teleologischen Handlungsorientierung verzichten können 119 , jenen Fabliaux auch, in die die intellektuellen Fähigkeiten konstitutiv in das Handlungsschema eingehen 120 und deshalb eine monokausale Strukturierung der Handlung aufweisen. In konsequenter Fortführung der Gattungsfrage, die jetzt über den Vergleich einzelner Handlungsmuster und -merkmale hinausgehen kann 121 , soll nunmehr der Versuch unternommen werden, Fabliaux und 'Lai' des 13. Jahrhunderts zusammenzusehen, was berechtigt erscheint in Hinblick auf deren gemeinsame Handlungsmodelle, der damit zusammenhängenden gleichen Wertorientierung, dem gleichen Zufalls- und Schicksalsbegriff — allesamt Faktoren, die im Zusammenhang mit den Wandlungen im sozio-ökonomischen Bereich um die Jahrhundertwende gesehen werden. — Fest steht, daß sich Lais mit dem Handlungsmodell der Wertrationalität zu Beginn des 13. Jahrhunderts keinen «Sitz im Leben» verschaffen konnten. Abstrahiert man zunächst von der ursprünglichen Funktion die individuelle Selbstfindung, die singuläre Ausweisung oder auch die private Sicherung von Glück (die in den Lais um Marie de France an die Maßgabe einer höheren Ordnung gekoppelt war), so trifft diese Teilfunktion auch für die späteren Erzählungen zu. An dieser Stelle der Gattungsuntersuchung erweist es sich aber als unmöglich, die Handlungsstruktur (und damit Wertstruktur) außer acht zu lassen, führen doch die Ausweisung des Menschen bzw. die Sicherung von Existenz und Glück zu so unterschiedlichen Gattungen wie Mirakel, Märchen und Fabliau. Die unter dem Gattungsnamen Lai firmierenden Erzählungen lassen über die Handlungsethik, die nicht an eine höhere Ordnung gebunden ist, eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen erkennen (wie bereits die binärstrukturierten Parodien Cor, Mantel, Le Vair Palefroi 122 ). Was ihren sozio-hi119

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Daß bei der Auflösung der Handlung mit bzw. ohne Hilfe eines Zufalls nicht nur die sog. «Spannungstechnik», sondern ein grundsätzlich verschiedener Handlungsbegriff eine Rolle spielt, soll den Ausführungen W. Krämers (1973, 66) zur Lösung der Spannung in der mittelalterlichen Kurzgeschichte entgegengehalten werden. Für diese Fabliaux sind denn auch — nach Proppschem Vorbild — Handlungsmuster erfaßt worden, die in der Hauptsache menschliche List, Schlauheit und Ingeniosität exemplifizieren, vgl. die Funktionsanalyse von M. J.Schenck (1967), der Grundmuster des Handelns herausgearbeitet hat, die vor allem auf Betrug und Täuschung beruhen. Einen vielversprechenden Ansatz zur Handlungsstrukturierung in den Fabliaux des Jean Bodel hat A.Riccadonna (1977, 45—81) unternommen, insofern als sie V. Propps Beschreibung von Funktionen mit dem tiefenstrukturellen Schema eines C. Bremond überwinden will. Leider bleibt die Analyse aufgrund des unkritisch übernommenen Bremondschen Modells zu allgemein, um Besonderheiten der FabliauStruktur erkenntlich zu machen. Le Vair Palefroi steht insofern genau zwischen der Wertrationalität und der Zweckrationalität, als beide Handlungsarten und damit zwei verschiedene Wertsysteme vertreten sind. Allerdings siegt die Wertrationalität (verkörpert durch die Liebenden) über die Zweckrationalität (verkörpert durch die Alten) - in Verbindung mit der «merveille», dem Zufall.

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storischen Hintergrund betrifft, kann man die Zugehörigkeit zur (Sub-)Gattung insofern konstatieren, als sich eine Art Weiterbeförderung der Gattung durch die nachfolgende Generation beobachten läßt. — Zunächst soll es also um das Problem gehen, aus welchem historisch-gesellschaftlichen Kontext die Texte des 13. Jahrhunderts verstanden werden müssen. Bei der Rekonstruktion sozialgeschichtlich relevanter Sachverhalte besteht die Gefahr, die neuen ästhetischen Inhalte und Wertorientierungen monokausal auf eine neu entstehende Gesellschaftsschicht, nämlich das Bürgertum, zu beziehen. Der weit verbreitete Interpretationsansatz, hauptsächlich in der Kleinepik nach Indizien einer sich vom höfischen Weltbild abwendenden, die Ständegesellschaft übergreifenden bürgerlichen Gesinnung zu forschen 123 , resultiert aus einer Hypostasierung sowohl der bürgerlichen wie der feudalen Ideologie 124 . Sie trägt weder der Flexibilität literarischer Gattungen noch der dynamischen gesellschaftlichen Entwicklung (und des damit verbundenen Wandels im Selbstverständnis des Feudaladels um die Jahrhundertwende) Rechnung. Das Handlungsmodell der Zweckrationalität soll darum nicht im Sinne direkter Entsprechung zu neuen Handlungsweisen, die sich als Folge neuer Wirtschaftspraktiken herausbildeten, gedeutet und auch nicht aus einem spezifisch bürgerlichen Erwerbs- und Nützlichkeitsdenken abgeleitet werden - zumal die Frage nach dem individuellen (Glücks-)Anspruch in diesen Erzählungen nach wie vor auf die feudaladelige Lebensführung bezogen bleibt: Eher ist zu vermuten, daß die neue Handlungsethik eine Art Restabilisierungsfaktor im Bereich der Wahrung und Sicherung des privaten Glücksanspruchs innerhalb der feudaladeligen Gesellschaftskonstitution ist. Es braucht in diesem Zusammenhang nicht weiter auf die gravierenden sozio-strukturellen Veränderungen in dieser Zeit eingegangen zu werden 125 , nämlich die Entwicklung des Bürgertums, das ökonomische Erstarken einzelner Gruppen von Bauern, die Konzentrierung von Handelskapital in den Städten, die Intensivierung der Geld- und Tauschwirtschaft. Bedeutsam für die neue ästhetische Legitimation des Zweckrationalen sind die mit dem Fortschreiten dieser ökonomischen Entwicklung einhergehenden Verschiebungen in der Sozialhierarchie, die den landständischen Adel in seiner Existenz bedrohen. Die wirtschaftlichen Veränderungen lösten einen Zersetzungsprozeß innerhalb des Feudaladels aus; 123

Eine solche Tradition hat J.Bédier ( 6 1%9) für die Fabliaux begründet. Die Festlegung der Fabliaux auf bestimmte ständische Ordnungen ist erst durch die empirische Untersuchung von R . K i e s o w (1976) überwunden worden.

124

Vgl. P.Zumthor (1980, 46/47) «Ainsi, l'idée que tel ou tel s'adresse spécifiquement à telle classe sociale (le fabliau, la farce, sont , etc.); d'où les oppositions, intenables, entre et littérature bourgeoise) (. . .) Nul ne peut aujourd'hui maintenir sérieusement ces taxinomies.» Monokausale Ableitungen literarischer Texte aus dem komplexen historischen Kontext, wie sie in der Mediävistik immer wieder hergestellt werden, mögen dazu beigetragen haben, daß Forscher, wie P.Zumthor, die sozio-historische Begründung der Gattung ganz und gar ablehnen.

125

Dazu zuletzt O. Brunner (1978), K . B o s l (1980), H . B o o c k m a n n ( 2 1981).

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Differenzierungsvorgänge führten zu wachsenden Spannungen zwischen höherem und niederem Adel. Dazu kam eine wachsende Rivalität zwischen der bürgerlichen (bäuerlichen) Oberschicht und der verarmenden Ministerialtät auf. Die neue pragmatische Handlungsethik innerhalb des höfischen Rahmens spiegelt eine zunehmende Beteiligung des Adels an der Entwicklung des Handels wider. Die Entwicklung der Produktivkräfte führt zu einer rapiden Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen und handwerklichen Produktion. Der Austausch zwischen Landwirtschaft und Handwerk nimmt spürbar zu. Mit der Differenzierung im ökonomischen Bereich und der steigenden Produktivität der Arbeit bilden sich neue, größere Märkte, Handel und Handelsbeziehungen werden wichtiger und erstrecken sich über immer größere Entfernungen. Der Bedarf an Geld als mobilem und einheitlichem Tauschmittel treibt die Geldzirkulation voran und prägt ihre Spuren der gesellschaftlichen Entwicklung auf. Ware-Geld-Beziehungen durchdringen die feudale Wirtschaft und lassen neue ökonomische Verhältnisse entstehen, die über die Begrenztheit der Produktion in der frühfeudalen Zeit hinausgehen. Eine neue ökonomische Mobilität sprengt die alte Autarkie der archaischen Grundherrschaft und bringt eine größere gesellschaftliche Interdepedenz mit sich. — Die Intensivierung der Geld- und Tauschwirtschaft im Frankreich des 12./13. Jahrhunderts erschüttert den Glauben an die göttliche Gnade und das Eingreifen höherer Mächte; sie fördert ein neues Realitätsbewußtsein, Utilitarismusdenken, eine teleologische Orientierung, Selbstverantwortlichkeit, Flexibilität, Mobilität, Pragmatismus — allesamt Faktoren, die mit der allmählichen Befreiung des Menschen von Providenz-Vorstellungen zusammenhängen. — Das neue Handlungsmodell hält Identifikationsangebote für eine gesellschaftliche Gruppe bereit, die den Verlust zentraler standesspezifischer Wertqualitäten (Geburtsstand, Besitztum, Schönheit, Ehre) einzubüßen im Begriff steht und deshalb genötigt ist, Praktiken des Handelns zu entwickeln, die einen Kausalzusammenhang von Intellekt (List, Weisheit) und Erfolg herstellen. Anhand einer neueren Handlungsethik verschaffen sich Gruppierungen des untergehenden Adels die Möglichkeit, die bedrohte Existenz, den bedrohten Stand, zu stabilisieren (Oiselet) oder, innerhalb des höfischen Rahmens, den selbstgestellten egozentrischen Anspruch zu konsolidieren (Aristote, Conseil, Epervier, Ombre). Die Komplexität der Verflochtenheit von höfischen und bürgerlichen Orientierungen spiegelt sich in den heterogenen Erzählungen deutlich wider. Dazu nur drei Beispiele im Vergleich: Oiselet stellt die höfische und bürgerliche Welt konkurrierend gegenüber; großgewordenes Bürgertum (riches vilains) und niedergehender Adel (Oiselet) kämpfen um die Substanz (einen höfischen Garten); dadurch, daß die höfische Weisheit (des Vogels) gegen die List des reichen Bürgers eingesetzt wird, sollen die alten (höfischen) Werte erhalten werden. Sie sind allerdings dem Untergang geweiht, da sie von dem neuen Stand entweiht würden. — Amours, in dem die Liebe in der modernen Geschäftswelt thematisiert wird, die Liebe eines Geschäftsmannes (haut' 206

komme) und einer hochgestellten D a m e (haute femme) über eine weite Entfernung hinweg, ist den frühen Lais insofern verhaftet, als das Endergebnis (die realisierte Liebesbeziehung) abhängig wird von einem Zufall (dem Briefboten), einem Zufall, der allerdings nicht mit einer höheren Ordnung in Verbindung steht, sondern mit Ordnungen, d. h. Praktiken der Geschäftswelt, die genötigt ist, sich des Briefeschreibers und Briefboten zu bedienen. Die ehemalige Zufallsbetontheit und Abhängigkeit ist in die neue Welt des Handels verlegt. (Sie wird noch dadurch unterstrichen, daß die Handlung mit dem Warten auf eine novele offengelassen wird.) Der Verfasser von Amours hat begriffen, daß alte Abhängigkeiten überwunden und neue entstanden sind. — Ombre wiederum, das in der klassisch-höfischen Umgebung spielt, macht die Verantwortung des Menschen für das Ergebnis der Handlung deutlich, als sich mit dem besten Einfall (greignor sens), mit Esprit, Geist, Intellekt, das Herz der Dame erobern läßt — nicht aber mit dem höfischen Bitten, Werben und Flehen. (Zu den Erzählungen, die private Anliegen über den Intellekt realisieren und in der höfischen Umgebung bleiben, gehören auch Aristote, Conseil und Epervier.) Die neuen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, die die alten Funktionsbedingungen feudal-höfischer Lebensführung aufweichen, werden sogar zum Teil dem Spott überantwortet (Aristote, Epervier, Ignaure, Nabaret). Dieser Spott zeigt deutlich den Verlust der sozialen Geltung und eine Überwindung all jener Definitionsbezüge, durch den sich der Adel einst konstituierte. In der Geselligkeit des Lachens wird Fehl verhalten öffentlich zugegeben — was bestätigt, daß sich in jenen Erzählungen nicht so sehr die Entwicklung des Bürgertums widerspiegelt, sondern daß eine gewisse Distanz zu den neuen Richtlinien und Maßstäben des rechten Verhaltens bezogen wird. Die späteren Erzählungen mit ihrer komplexen artistischen Verflechtung sog. 'bürgerlicher' und 'höfischer' Orientierungen lassen sich jedenfalls nicht mehr auf die alte ständische Ordnung beschränken, sind weder auf ein «genre bourgeois», «genre courtois» oder «genre courtois burlesque» 126 festzulegen. Mit der Propagierung des Empirisch-Ereignishaften 127 verweisen sie auf eine geöffnete, den sozio-historischen Bedingungen angepaßte Trägerschicht; sie kann — was die monostrukturierten Lais angeht — aus der feudal-höfischen hervorgegangen sein. Die literarische Ausprägung der Zweckrationalität in den Lais des 13. Jahrhunderts ist somit weder als Negierung einer feudalhöfischen Orientierung noch als Zeichen einer bürgerlich-realistischen Weltsicht zu bewerten. Der Wechsel des literarischen Handlungsparadigmas ist vielmehr Mittel zu dem Zweck, einen Orientierungsanspruch, wie er in den frühen Lais entfaltet worden ist, unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität auf neuartige Weise sozial wirksam zu machen. 126

127

Zur Diskussion dieses Problemkreises vgl. vor allem J.Bedier ( 6 1969); P.Nykrog (1957); J. Rychner (1960); R.Kiesow (1976). Vgl. J.Beyer (1969, 141) zum Fabliau.

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Zusammenfassung

Gattungsbestimmung und -abgrenzung der kleinen Verserzählungen des Mittelalters gehören noch immer zu den ungelösten Problemen der Mediävistik. Auch bei den unter dem Gattungsnamen Lai kursierenden Verserzählungen ist eine Ratlosigkeit in der Gattungsbestimmung zu beobachten, die dazu beigetragen hat, dem Lai den Charakter einer eigenständigen Gattung abzusprechen. Die diachrone Annäherung an die Texte, wie sie bislang für die kleinen Formen in der monographischen Praxis durch Abstraktion isolierter Einzelmomente betrieben wurde, hat zwar eine Reihe von Differenzierungskriterien im Bereich der Stoff-, Themen- und Motivgeschichte, auch in Bezug auf Erzähltechnik, Stil, Inhalte, Handlungsmuster usw. liefern können — als äußere Merkmalsmengen bzw. als aus dem Zusammenhang gerissene Wesensmerkmale reichten diese Kriterien zur Differenzierung der Untergruppen des zum Roman gehörenden Subgattungssystems nicht aus; eine systematische Untersuchung des Lai erschien deshalb geboten. Zur Erfassung dieser überaus heterogenen Gattung bot sich ein Vorgehen an, das hinter den vielfältigen Erscheinungsformen des Gattungsphänomens eine zugrunde liegende Ordnung erkennbar zu machen in der Lage ist. Der schöpferische Akt des mittelalterlichen Dichters bestand, das wissen wir heute, vor allem in der Komposition; gerade die Formung und Verknüpfung (iconjointure) hat dem Stoff nicht nur zu ästhetischer Wirksamkeit verholfen, sondern ihm auch erst seinen Sinn (sens) gegeben. Eine Strukturanalyse besitzt den methodologischen Vorzug, über die Registrierung von Einzelelementen und deren akzidentelle Kombination hinausgehen und in der zusammenhängenden Betrachtung die Gattung als formale und inhaltlich organische Einheit erschließen zu können. — Obwohl die bisherige Forschung eine für den Lai typische Handlungsführung geleugnet hat, wurde dennoch angesichts der strukturbestimmenden, dominanten Stellung der Handlung in der Narrativik des Mittelalters und in Hinblick auf die gattungsspezifische Bedeutung der aventure eine auf den Gesamtzusammenhang des Textes bezogene Handlungsstruktur als gattungsindividualisierend zugrunde gelegt. Die hier vorgelegte Strukturuntersuchung basiert auf Erkenntnissen der textanalytischen Forschung, der Pariser Semiologen-Schule, der strukturalen Anthropologie und des genetischen Strukturalismus. Sie hat sich allerdings auf keine vorgegebene Methode, auf kein spezifisches Modell festgelegt, sondern versucht, der Subjektidentität des einzelnen Texts gerecht zu werden; in 208

Anbetracht ihres gattungsspezifischen Erkenntnisziels hat sie sich von allgemeingültigen, ahistorischen Modellen losgelöst und ebenso auf die bloße Registrierung von Handlungsmustern verzichtet. Das Strukturmodell wurde auf einem Abstraktionsniveau gehalten, das eine dialektische Vermittlung zwischen dem formalen Regelsystem und der narrativen Praxis zuläßt; es sollte als ein spezifisches, historisch begreifbares, gattungsidentifizierendes Modell entwickelt werden, welches das vermittelnde Verhältnis von Literatur und Gesellschaft transparent machen kann. Die Handlungsstruktur-Untersuchung hat ergeben, daß die untersuchten 35 Verserzählungen in zwei große Gruppen zerfallen, die jeweils binär- bzw. monokausal-strukturiert sind. Zur ersten gehören die Verserzählungen vornehmlich des 12. Jahrhunderts (die der M A R I E DE F R A N C E , Désiré, Graalant, Guingamor, Epine, Melion, Doon, Tyolet, Cor, Mantel, Narcisus, Piramus et Tisbé, Le Vair Palefroi, Amours), zur zweiten die des 13. Jahrhunderts (Aristote, Conseil, Epervier, Nabaret, Oiselet, Ombre, Haveloc, Ignaure). Bezeichnend für die Lais, denen ein binäres Strukturprinzip zugrunde liegt, ist das in jeder konstruktiven Handlungsetappe konstitutive Zusammentreffen eines inneren Moments mit einem äußeren. In der sog. Motivationsphase wirken Schicksal, Zufall und Zufälligkeit auf konkrete existentielle Vorgaben oder Dispositionen ein; außerindividuelle, überirdische bzw. gesellschaftsspezifische Faktoren zusammen mit individuellen, wesens- und gefühlsbedingten Präsuppositionen werden handlungseinleitend und -entscheidend. Ähnliches gilt für die sog. Reaktions- und Auflösungsphase; hier trifft wesens- und gefühlsbedingtes (individuelles) Sein oder Handeln mit einem Zufall, einer Zufälligkeit oder einer anderen Abhängigkeit von einem Außen (wozu auch die Wendung des Innen nach außen über Symbolik, Metaphorik, Fiktion usw. gehört) zusammen und wird auf diese Weise handlungsbeschließend. In beiden Phasen provoziert die individuelle, sich im Sein oder Handeln manifestierende Existenz eine Einwirkung von außen. Aber auch in der strukturellen Mitte des Lai, der Kristallisierung (oder Aktualisierung) des Konflikts, ist eine solche Opposition angelegt; hier dynamisiert sich der Widerspruch von subjektivem Bedingtsein und objektiver Verpflichtung, innerer und äußerer Anspruch, Wollen und Sollen, Individualität (Subjektivität bzw. Emotionalität) und gesellschaftlicher Norm. — Die Funktionalität der Handlung hängt in allen Handlungsphasen von innerhalb und außerhalb der Protagonisten gelegenen Faktoren ab. Die Binärstrukturierung erweist sich über die funktionalen Handlungsetappen hinaus auch als Konstruktions- oder Aufbauprinzip dieser Gruppe von Lais. Unter einer dreiteiligen Handlungsoberfläche ist nämlich ein Strukturmodell des parallelen und gestuften Kursus wahrnehmbar, ein Strukturmodell der steigernden Reprise, der sinngebenden Kontrastierung zweier Daseinsstufen, ähnlich wie es, hier allerdings programmatisch bewußt, CHRÉTIEN DE TROYES im höfischen Roman eingesetzt hat. (In der ersten Handlungsphase erleben die Protagonisten ein relatives Glück unter Leugnung der eigent209

liehen Konfliktsubstanz; in der Krise wird dieses Scheinglück - meist Liebesverhältnis - von der Gesellschaft in Frage gestellt. In der zweiten Handlungsphase hat sich der Protagonist unter Entbehrungen und Leid zu bewähren, d.h. sich auszuweisen.) Im Unterschied zum höfischen Roman besteht die Bewährung des Helden nicht im wachsenden Erwerb der Zugehörigkeit zu einer elitären Gesellschaft; in den Lais weist sich der höfische Protagonist moralisch positiv oder negativ aus, verfestigt seine positive oder negative Existenz — findet seine wahre Identität. Das binäre Strukturprinzip in den Lais ist insofern gattungsbestimmend, als es im Sinne einer «structure significative» auf allen Ebenen des literarischen Werks wirksam und eine spezifische «vision du monde» greifbar wird. So ergibt sich, daß die beiden Stationenwege jeweils im Zeichen einer göttlich-gerechten Fügung stehen, daß gewissermaßen die Instanz eines «dieu caché» die Struktur maßgeblich mitbestimmt, und daß ein ästhetisches Organisationsprinzip vor allem aus christlichem Heils-Denken verständlich wird — die Habitualisierung dieses exegetischen Schemas geschieht nicht zufällig im 12. Jahrhundert, in einer Zeit schöpferischer Entfaltung des typologischen Denkens. Anhand des binären Strukturprinzips läßt sich, zum ersten Mal in der LaiForschung, die spezifische Rolle des Zufalls als einer Sanktionierungs- und Identifikationsinstanz aufzeigen; daraus ergeben sich insofern gattungsspezifische Konsequenzen, als die im Zufallsbewußtsein enthaltene spezifische «vision du monde» Einzelwerk, Gattung und soziales Substrat zusammenbindet. Der Zufall im Gewand des Zufälligen, Akzidentiellen kann nunmehr nach einem kausalen Prinzip bestimmt werden: Er reagiert sanktionierend (und identifizierend) auf die in Wesensart, Gemüt oder Handeln sich zeigende Individualität (Singularität, Emotionalität); dem Protagonisten fällt zu, was ihm zukommt, in dem Sinne was ihm zu-steht, d. h. was er (sich) (handelnd) verdient hat. Der Zufall geht eine Verbindung mit konkreten existentiellen Gegebenheiten ein. Der Mensch ist zwar noch als 'zufälliges Individuum' zu verstehen, aber die konfliktträchtige Existenz ist mitverantwortlich für einen Zufall, der existentielle Vorgaben aufnimmt und besiegelt. — Der Zufall kann in diesen binärstrukturierten Lais infolgedessen als optimistischer angesehen werden, als dies bisher in der Forschung geschehen ist; die göttlich-gerechte Reaktion auf die wesens- oder leistungsgeprägte Vorgabe weist auf eine christliche Macht in den Lais hin, der jeglicher Fatalismus fremd ist. Die nach christlichethischen Maßstäben belohnende und bestrafende Wirkungsweise des Zufalls verrät den Glauben an einen deus absconditus, der nach Maßgabe der göttlichen Providenz Gerechtigkeit walten läßt. Der in der Struktur implizierte Bezug von Schicksal und Charakter läßt Harmonisierungsbestrebungen zwischen Gott und Mensch erkennen, die diese Lais von der Tristan-Konzeption (mit ihrem zufallsbetonten, unberechenbaren, destruktiven, «pessimistischen» Schicksalsbegriff) abheben und sie eher in die Nähe des höfischen Romans rücken, in dem der Mensch - ebenfalls über die Bewährungsprobe - eine ge210

störte Harmonie zwischen sich und der (Um-)Welt wiederherstellen kann. — Ein Unterschied zwischen Lai und höfischem Roman besteht, so zeigt sich, darin, daß sich hier ein höfischer Mensch in Wesensart und Bestimmung als etwas Singulares, Spezifisches, Privates ausweist und am Ende den ihm zustehenden Platz in einem übergreifenden, universal-ethischen Sinnzusammenhang einnimmt, und dort der arthurische Ritter, für den es zwar eine neurotische, aber keine individualpsychologische Begründung für den aventure-Zustand gibt, den typischen Fall repräsentiert; seine Disposition rastet «in eine spezifische Handlungsmechanik ein» (W.Haug), über die persönliches Glück und Anspruch der Gesellschaft in Einklang gebracht werden. In Bezug auf Strukturprinzip und Zufallsbegriff sind Lai und höfischer Roman insofern zusammenzusehen, als beide anhand der Doppelwegstruktur die Spannung zwischen Individuum und (Um-)Welt, zwischen Innen und Außen, über den Raum lösen, während die Struktur des Tristan nicht dazu angelegt ist, die Polarität von Innen und Außen über ein Handeln, eine Auseinandersetzung, eine Bewährung oder Ausweisung aufzulösen, da sich hier die Spannung allein über das Innere vollzieht. Über die conjointure, das binäre Strukturprinzip sowohl in den funktionalen Handlungsetappen als auch in der Gesamttektonik, wird jetzt der eigentliche sens der Lais deutlich: Über beide Strukturmuster findet die Identifizierung des Individuums statt: einmal über die in den Zufall (in ein Außen, wie auch in Symbol, Metapher, Fiktion) verlegte (sanktionierende) Dekuvrierung des Innen (Sein oder Handeln des Individuums), zum anderen über die in den Doppelweg verlegte Bewährung oder Nichtbewährung des Protagonisten. Beide Strukturmomente fördern die Ausweisung des menschlichen Seins, ein menschliches An-sich-sein oder Anders-sein zutage, beiden ist die Entdekkung und Institutionalisierung menschlicher Singularität (Emotionalität) gemeinsam. Über die Unterhaltungs- und Belehrungsaufgabe hinaus kann so mit Hilfe der Zufalls- und Doppelwegstruktur zum ersten Mal in der Lai-Forschung eine spezifische Funktion der Gattung erklärt werden: die Ausweisung menschlicher Singularität in der Bindung an eine höhere Instanz. — Diese Funktionsbestimmung erlaubt es, dem Lai eine autonome Stellung als Untergattung in einem vom höfischen Roman geprägten Subgattungssystem zuzuweisen; der binärstrukturierte Lai kann nun auch von den anderen zeitgenössischen kleinen literarischen Ausdrucksformen wie z.B. Exempel, Legende, Mirakel, Vida usw. abgegrenzt werden. Da es notwendig erschien, über die Beobachtung der äußeren Handlung hinauszugehen und das traditionelle Instrumentarium der Literaturwissenschaft dazu nichts bereitstellt, wurden Anleihen bei den Sozialwissenschaften gemacht, deren Konzepte einen tieferen Einblick in die Handlungsvorgänge erwarten ließen. So konnten Vorgänge beim Handeln differenzierter erfaßt, so konnte eine sinnvollere Erklärung für das bisher als Nichthandeln eingestufte Handeln gegeben werden, so konnte auch der jeweilige Handlungstyp, 211

unter Berücksichtigung der frühscholastischen Moraltheologie, in seiner wesenhaften Schuldhaftigkeit bzw. Schuldlosigkeit erkannt und damit auch die Sanktionstätigkeit durch den Zufall erklärt werden. (Danach trägt das sog. zweckrationale Handeln wesenhaft eine Schuld in sich, da die Intentionen eines solchen Handelns im persönlichen Erfolg gründen, Eigeninteresse und Selbstliebe verraten, eine solche teleologische Orientierung des Menschen aber auch Selbstvertrauen in die Eigenleistung ausdrückt, damit den Glauben an sich selbst, eine Selbsteinstufung über die Mitmenschen und die Gleichsetzung des Menschen mit Gott — ganz abgesehen davon, daß es aufgrund der impliziten Selbstbezogenheit moralisch instabil ist. Das sog. wertrationale, traditionale und affektuelle Handeln trägt wegen der moralisch vertretbaren Motivationen nach der frühscholastischen Ethik keine Schuld bzw. eine zu verzeihende in sich.) Die von M.WEBER entwickelten Handlungskategorien in Verbindung mit den Entwürfen der frühscholastischen Ethik ermöglichten es, das jeweilige Handlungsmodell zugleich als Wertmodell zu interpretieren. Das Handlungsmodell der Lais um MARIE DE FRANCE läßt sich auf diese Weise als ein Modell der Wertrationalität, des Anti-Zweckrationalen, begreifen — insofern, als die Binärstrukturierung der Handlung ein monokausal für das Endergebnis wirksames Handeln nicht vorsieht. Das Handlungsmodell der Wertrationalität klammert zweckrationales Handeln fast ganz aus; wenn es im Einzelfall dennoch praktiziert wird, so wird über die Einsatzmöglichkeiten des Zufalls das mit diesem Handeln angestrebte Ziel vereitelt. Das Handeln, dem keine Intention oder eine moralisch vertretbare zugrunde liegt, nämlich das wertrationale, traditionale und affektuelle, wird hingegen positiv sanktioniert. Es ging in diesem Zusammenhang vor allem darum, zum ersten Mal die komplexe Verflechtung von Struktur, Zufallsbegriff und Wertwelt in den binärstrukturierten Erzählungen deutlich zu machen. (Die binärstrukturierten Lais bilden insofern untereinander einzelne Gruppen, als die verschiedenen Erscheinungsformen des Zufalls und seine verschiedenen Sanktionierungstätigkeiten eine verschiedene Wertwelt erkennen lassen. Zu den Lais um Marie de France gehören Desire, Graalant, Guingamor, Epine, Melion, Trot und Tydorel. Narcisus, vor allem aber Piramus et Tisbé, gehören wegen ihres eher fatalistischen Zufallsbegriffs der antikisierenden Wertwelt an. Die sog. 'artusszenen-strukturierten' Doon und Tyolet vertreten eindeutig, Désiré, Epine und Melion ansatzweise die höfische Wertwelt. Guingamor spielt insofern eine interessante Rolle, als in ihm anhand einer wertmäßig umbesetzten Artusszenen-Struktur die Lai-Ideologie, die Vorrangigkeit des Einzelnen gegenüber dem Gesellschaftlichen, vertreten wird, wohingegen Cor und Mantel anhand eines in sein Gegenteil verkehrten aventure-Btgnih die Artusszenenstruktur parodieren.) Den binärstrukturierten Lais stehen die monokausal strukturierten Erzählungen des 13. Jahrhunderts (Aristote, Conseil, Epervier, Nabaret, Oiselet, Haveloc, Ignaure) gegenüber, die ein Handlungsmodell der bestätigten Zweckrationalität verkörpern. (Grenzfälle sind Amours und Le Vair Palefroi, 212

in denen sich die Binärstruktur zwar wiederfindet, wo sie aber bereits — einem in die materielle Wertwelt verlegten Zufall entsprechend - wertmäßig neu ausgefüllt ist.) Das monokausale Handlungsstrukturprinzip verzichtet auf das Zusammenspiel von mner-menschlicher Vorgabe und öM/fer-menschlicher Sanktionierung: Aufgrund (end-)zielorientierter Handlungsweisen des Menschen, die monokausal wirksam für das Endergebnis werden, emanzipiert sich der Mensch hier von außengeleiteten oder nach außen leitenden Abhängigkeiten. Als Resultat eines Handlungsschematismus, in den intellektuelle Fähigkeiten konstitutiv eingehen, ist der Zufall seiner ursprünglichen Funktion beraubt. Eine neue Abhängigkeit, so ließe sich feststellen, besteht lediglich in interaktiven, zwischenmenschlichen Faktoren, die aus einer entwickelten Praxis menschlichen Handelns zu begründen sind. Da sich so für die Gesamtheit der Erzählungen zwei grundsätzlich verschiedene Handlungsmodelle ergaben, bot es sich an, diese auf ihr jeweiliges soziales Substrat zu beziehen. Dies um so mehr, als die literarische Struktur - mit ihren handlungs- und zufallsspezifischen Implikationen — Vermittlungsinstanz zwischen literarischem und gesellschaftlichem Phänomen, zwischen ästhetischem Werk und gesellschaftlicher Realität sein sollte. Dabei stellte sich heraus, daß die binärstrukturierten Lais des 12. Jahrunderts aus Eigentumsverhältnissen und Produktionsweisen verständlich werden, die dem feudalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verpflichtet sind, konkret: aus einer sozio-ökonomischen Lebenspraxis, die durch eine Konzentration von Produktionsmitteln, eine autarke Produktion und eine damit verbundene geringe sozio-ökonomische Interdependenz (dafür aber durch ideelle Verpflichtungen gegenüber höheren Ordnungen) gekennzeichnet ist. — Was den produktionsund rezeptionsgeschichtlichen Aspekt betrifft, lassen sich die binärstrukturierten Lais — mit Ausnahme der 'gesellschaftlich' orientierten — auf ein soziales Substrat beziehen, das eine relative ökonomische Selbständigkeit besaß, auf jegliche Standeslegitimation verzichten konnte und dessen materielles und gesellschaftliches Selbstverständnis (noch) nicht in Frage gestellt war, dagegen aber die Ausweisung und Legitimation seiner Singularität, Individualität und Emotionalität. Die Lais wandten sich an ein (Primär-)Publikum, das materiell abgesichert, sozial autark und moralisch einer höheren Instanz verpflichtet war; wahrscheinlich handelte es sich um die mittlere, gehobene Adelsschicht, die weder aus der unteren noch oberen Perspektive an einer gesellschaftsprogrammatischen Literarästhetik interessiert war, dafür aber progressive Tendenzen der Zeit, die unter der geistesgeschichtlichen Strömung des Nominalismus erfaßbar sind, erkennen ließ. Eine geographische Fixierung des Lai ergibt vor allem ein Wirkungszentrum im anglo-normannischen, anglo-angevinischen Kulturraum. Bemerkenswert ist, daß binärstrukturierte Lais, die über ihren Zufallsbegriff die Bindung an ritterlich-christlich-höfische Norminstanzen und damit eine sozio-sankte Wertwelt verraten, auch im Umkreis der Pikardie (Melion, Trot) und solche, die das Artusszenen-Strukturprinzip eines CHRÉTIEN DE TROYES (positiv oder

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negativ) aufweisen (Doon, Tyolet bzw. Guingamor), auch im Umkreis der Ile-de-France anzusetzen sind — Lais, die die Legitimierung des Gesellschaftlichen und der mit ihm verbundenen Wertwelt betreiben. Die Streuung der Lais kann unter Berücksichtigung gattungs- und gesellschaftssystemspezifischer Zusammenhänge wie folgt erklärt werden: Wenn man heute annimmt, daß der Wirkungskreis des höfischen Romans eines Chrétien de Troyes, den gesellschaftspolitischen Legitimationsbestrebungen innerhalb des anglo-normannischen Raums entsprechend, auch in diesem Raum zu sehen ist, und daß der Lai ursprünglich dem gleichen Kulturraum entstammt, so ist der Lai in seiner jeweiligen Komplementärfunktion zum höfischen Roman ebenfalls in dessen jeweiligem Wirkungskreis anzusiedeln. Entsprechend seiner Funktion — dem Aufzeigen der Partikularität des höfischen Menschen in der Gebundenheit an einen außerindividuellen Zusammenhang — formiert sich der Lai gewissermaßen als eine Ausweggattung zu dem das Subsystem dominierenden (höfischen) Roman. (Wie eng verflochten die ästhetische Organisation von Lai und höfischem Roman ist und wie miteinander verbunden die beiden literarischen Formen sowohl im anglo-normannischen als auch im franzischen Bereich wirken, zeigt sich schon allein am Beispiel Guingamor, bei dem offen bleibt, ob er eine Miniatur-Parodie auf den höfischen Roman eines Chrétien darstellt oder ein Lai ist, der sich in seiner ideologischen Aussage aus der Umkehrung der Artusszenen-Struktur herleitet.) Die kleine literarische Form tritt neben den dominierenden, in seiner Funktion erstarrten höfischen Roman, verschafft sich über ihre spezifische Funktion einen «Sitz im Leben» und erlangt auf diese Weise ein gattungsspezifisches Eigengewicht (das nicht zuletzt an Parodien ablesbar wird). Es blieb zu prüfen, welche geschichtlichen Bedingungen verantwortlich waren für die sich innerhalb der 'Gattung' vollziehende Wandlung von einem binären Strukturprinzip zu einem monokausalen. Im Gegensatz zu den bisherigen Versuchen, die Wandlungen in der Kleinepik des 13. Jahrhunderts aus der Entwicklung des Bürgertums und der sog. 'bürgerlichen' Ideologie abzuleiten (und damit höfische und bürgerliche Gattung hypostatisch zu fixieren), wurde hier für die Verserzählungen des 13. Jahrhunderts die gleiche feudal-höfische Gesellschaftsschicht vorausgesetzt, wie sie für die Lais des 12. Jahrhunderts zu gelten hatte — mit der Maßgabe, daß es sich um die Folge-Generation handelt, die sich einer gewandelten sozio-ökonomischen Situation mit neuen Ideologien und Wertvorstellungen gegenübersieht. Die ideologische Trägerschicht dieser Erzählungen ist nicht das Bürgertum, sondern weiterhin der Feudaladel, der allerdings mit dem Fortschreiten der ökonomischen Entwicklung, der Geld- und Tauschwirtschaft, dem Erstarken des Bürger- und Großbauerntums in einen existenzbedrohenden Zersetzungsprozeß geraten ist und nun versucht, sich das frühere Selbstverständnis als gesellschaftliche Gruppe zu bewahren und den alten Orientierungsanspruch, die (Selbst- und) Glücksverwirklichung, unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität von neuem zu erheben. 214

Ziel dieser Arbeit war es, die Existenz des Lai, seine gattungsspezifische Eigenständigkeit gegenüber dem normativen dominierenden System, aber auch gegenüber anderen kleinen literarischen Ausdrucksformen des Mittelalters zu erklären. Die Lais des 12. Jahrhunderts, so heterogen sie sind und so sehr sie teilweise auch der Sozialethik des höfischen Romans verwandt sind, lassen sich, so hat sich gezeigt, über ihre gattungsspezifische Funktion im (Sub-)Gattungssystem, über die Strukturaussage der Wertrationalität und den damit implizierten Handlungs- und Zufallsbegriff, auf der Grundlage ihrer sozio-ökonomischen und produktions- bzw. rezeptionsästhetischen Bedingtheit zu einer sinnvollen Einheit zusammenfassen. Die Lais des 13. Jahrhunderts sind aufgrund ihrer gewandelten Wertorientierung, ihrer Strukturaussage der Zweckrationalität und damit aufgrund eines veränderten Handlungs- und Zufallsbegriffs im Kontext der feudal-höfischen Konstellationen des 13. Jahrhunderts zu sehen.

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Verzeichnis der Abkürzungen

ACME AnS ARom BBS Arthur CCM CFMA DVjS FRom GRM GRLM LiLi MA MAe MLR MP P PMLA Po R RF Rjb RoNo RoR RRo RS RZL SATF Se StLF StM StR StPh ZfdPh ZfSL ZrPh 216

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233

Verzeichnis der Lais

Lais der Marie de France:

Guigemar Equitan Fresne Bisclavret Lanval Deus Amanz

Yonec Laüstic Milun Chaitivel Chievrefoil Eliduc

Einzellais: Amours Aristote Conseil Cor Désiré Doon Epervier Epine Graalant Guingamor Haveloc Ignaure

234

(Lecheor) Mantel Melion Nabaret Narcisus Oiselet Ombre Piramus et Tisbé (Trot) Tydorel Tyolet Le Vair Palefroi