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German Pages 158 [160] Year 2009
Der mündige Mensch
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Bernd Böhme
Einführung
Der mündige Mensch Denkmodelle der Philosophie, Geschichte, Medizin und Rechtswissenschaft Herausgegeben von Gernot Böhme
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Bernd Böhme Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Einbandabbildung: Photographie „Figur im Raum“, aufgenommen im Kunstbau München 2006 während der Lichtinstallation von Olafur Eliasson; © Gruppe X Eine Veröffentlichung des Instituts für Praxis der Philosophie e.V., Darmstadt Die Tagung, auf die dieses Buch zurückgeht, wurde von der FAZIT-Stiftung und der BHF Bank Stiftung gefördert.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werks wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23026-6
Einführung
Inhalt Gernot Böhme Einführung...................................................................................................... 7 Bernd Villhauer Mündigkeit und Unmündigkeit nach Kants Schrift „Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung?“ ......................................... 13 Ute Gahlings Die mündige Frau. Zur Geschichte des Kampfes der Frauen um Bürgerrechte.......................................................................... 25 Farideh Akashe-Böhme Ehefähigkeit und Ehemündigkeit .................................................................. 45 Uwe Volkmann Idee und Wirklichkeit der Selbstbestimmung im modernen Staat. Von der Rückkehr des Menschen in seine selbstverschuldete Mündigkeit ...................................................................... 55 Andreas Gruschka Erzieht die Schule zur Mündigkeit? .............................................................. 67 Thomas Hillenkamp Wann wird der Mensch strafmündig? ........................................................... 91 Wolf-Dieter Narr Die souveräne Bürgerin, der souveräne Bürger ........................................... 113 Kai Buchholz Der mündige Konsument ............................................................................. 131 Gernot Böhme Der mündige Patient..................................................................................... 143 Autorinnen und Autoren............................................................................... 157
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Bernd Böhme
Gernot Böhme
Einführung
Das Thema Der mündige Mensch enthält ein Paradox. Auf der einen Seite wird Mündigkeit quasi wie eine Naturgabe dem Menschen zugeschrieben, jedem Menschen, auf der anderen Seite wird dieses Attribut – oder ist es eine Kompetenz? – jedem Menschen eben zugeschrieben, d.h. von Rechts wegen verliehen. Und das jeweils in einem bestimmten Alter. Dabei wird zwischen Geschäftsmündigkeit, Religionsmündigkeit, Ehemündigkeit, Strafmündigkeit und politischer Mündigkeit unterschieden. Der Heranwachsende wird vom Gesetz jeweils von einem bestimmten Alter an mit einer bestimmten Mündigkeit ausgestattet. Dabei wird also unterstellt, dass der Einzelne Mündigkeit schrittweise mit dem Alter entwickelt, das heißt, und damit wird es ernst: er sollte in seiner Entwicklung jeweils zu einem bestimmten Datum so weit sein, dass er der zugeschriebene Mündigkeit auch entsprechen kann. Also: er sollte – in der BRD – im Alter von 14 Jahren in seinem moralischen und rechtlichen Bewusstsein, wie auch in seiner Fähigkeit aus Einsicht zu handeln, so weit sein, dass man ihm seine Taten schuldhaft zuweisen kann und er somit strafmündig ist (Hillenkamp). Oder er sollte im Alter von 18 Jahren in seiner persönlichen Reife und seinen Kompetenzen für andere zu sorgen so weit sein, dass er eine Ehe führen kann (Akashe-Böhme). Mündigkeit, die zunächst wie ein stolzer Besitz des Menschen erscheint, die – nach Kant – mit seinem intelligiblen Charakter als Mensch mitgegeben ist, erweist sich also als eine gesellschaftliche Zumutung. Mündigkeit ist eine Norm, der der einzelne Mensch in seiner Entwicklung entsprechen muss, will er als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen werden. Damit stellt sich die Frage wie – in den verschiedenen Dimensionen – Mündigkeit erworben werden kann, insbesondere, ob es eine Erziehung zur Mündigkeit gibt. Dass das genannte Paradox so aufgelöst werden kann und muss, wurde bereits von Immanuel Kant formuliert, wenn er in seiner Pädagogik sagt: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“. 1 Doch welches sind die Agenturen einer Erziehung zur Mündigkeit? Erzieht die Schule zur Mündigkeit? (Gruschka) Und kann man überhaupt diese Erziehung den Erziehungsinstitutionen – der Schule, der Familie – allein überlassen? Besteht nicht vielmehr die gesellschaftliche 1
Immanuel Kant: Über Pädagogik (1803), in: ders. Werke in sechs Bänden (hrsg. v. W. Weischedel), Bd. VI, Darmstadt: WBG 1964, S. 699 (A 7)
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Zumutung der Mündigkeit darin, dass der Einzelne sich selbst um Mündigkeit bemühen muss? Wenn man noch hinzunimmt, dass der Aufstieg auf der Stufenleiter des Weges zur Mündigkeit keineswegs, wie es das Gesetz unterstellt, mit dem 18. Lebensjahr abgeschlossen ist, dann ist der Weg zur Mündigkeit als Programm der Selbstkultivierung auch eine Aufgabe des Institutes für Praxis der Philosophie e.V., IPPh. Und eben das wird dieses Buch zeigen, indem es Mündigkeit als Patientenmündigkeit und Konsumentenmündigkeit thematisiert (Böhme bzw. Buchholz). Gerade mit diesen Dimensionen von Mündigkeit wird die Kantische Forderung der Aufklärung nämlich als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ 2 virulent. Denn als selbstverschuldet kann man Unmündigkeit ja erst in einem Stadium bezeichnen, in dem der Mensch eigentlich mündig sein sollte, also bei Erwachsenen. Es ist interessant, dass das deutsche Strafgesetzbuch ja bereits die Zumutung der Strafmündigkeit in Sinne einer Verpflichtung zur Selbstkultivierung auslegt – also keineswegs die Entwicklung des Einzelnen den Erziehungsinstanzen allein zuweist. Wenn beispielsweise eine Strafbarkeit wegen Verbotsirrtum (STGB § 17) in Frage steht, so ist zusätzlich zu erwägen, ob der Täter diesen Verbotsirrtum hätte vermeiden können. Es wird dem Einzelnen also zugemutet, sich selbst darum zu kümmern, was Recht und was Unrecht ist. Wenn Kant Unmündigkeit als selbstverschuldet bezeichnet, so weist er damit für uns in erstaunlicher Weise auf das gegenwärtig wichtigste Problem des Verlustes von Mündigkeit hin, nämlich auf die Entmündigung durch Experten: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt (...), so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ 3 Wenn dieser Satz für den Leser der Kantischen Aufklärungsschrift am deutlichsten das aktuelle Problem der Unmündigkeit bezeichnet, nämlich dass der Einzelne in vielen Dimensionen seine Lebensführung an Experten delegiert, so darf nicht übersehen werden, dass für Kant der Weg zur Mündigkeit nicht primär ein Weg des Einzelnen, sondern der Gesellschaft im ganzen – um nicht zu sagen: der Menschheit war. Für ihn war das Projekt der Aufklärung im Wesentlichen die Etablierung einer kritischen Öffentlichkeit (Villhauer). Das zeigt sich vor allem an seiner Unterscheidung von privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch. So wird beispielsweise das Räsonieren eines Offiziers über die Befehle seines Vorgesetzten als privat und damit als unzulässig bezeichnet. Gerade das war jedoch nach und mit den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen zu verlangen. Dem einzelnen Offizier wurde zugemutet, an ihn ergangene Befehle an universalistischen Maßstäben, insbesondere an der Forderung der Menschlichkeit (Kontrollratsgesetz no. 10) zu messen – und sie ggf. zu verweigern. 2
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders. Werke in sechs Bänden (hrsg. v. W. Weischedel), Bd. VI, Darmstadt: WBG 1964, S. 53, (A 481) 3 AaO. S. 53, (A 482).
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Allgemein ist heute die Fähigkeit zu zivilem Ungehorsam der Prüfstein der Mündigkeit.4 Das ist moralgeschichtlich ein erstaunliches Faktum. Sollte die Menschheit oder wenigstens unsere Gesellschaft seit Kant tatsächlich einen Schritt auf dem Wege zum Besseren gemacht haben?5 Bei ihm lesen wir noch folgende Selbsteinschätzung: „Wir leben im Zeitpunkte der Disziplinierung, Kultur und Zivilisierung, aber noch lange nicht in dem Zeitpunkte der Moralisierung“. 6 Man muss wohl feststellen, dass Kants Forderungen, was Aufklärung und Mündigkeit betrifft, noch durch seine Situation als Bürger, oder besser: Untertan in einem absolutistischen Staat bestimmt waren. Was er als Ziel von Aufklärung ins Auge fasste, nämlich eine freie, kritische Öffentlichkeit ist ja im Rahmen unserer demokratischen Staatswesen erfüllt. Das dürfte der Grund sein, warum wir heute beim Thema Mündigkeit auf die im Kantischen Text durchaus vorhandenen Forderungen an den Einzelnen, d.h. jeden Bürger zurückkommen. Freilich ist das sicher noch nicht eine hinreichende Erklärung. Vielmehr ist die historische Erfahrung mit totalitären Staaten, also die Erfahrung, dass – mit Adorno zu sprechen – das Ganze falsch sein kann, die Erfahrung, die man in Deutschland mit dem Nazi-Regime und der DDR gemacht hat, hinzuzunehmen. Diese Erfahrung stand auch im Hintergrund der 1968 erfolgten Einführung des Widerstandsrechtes in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Nachdem im §20GG die Verfassungsgrundsätze formuliert sind, insbesondere der Grundsatz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, wird dann in Abschnitt 4 das Widerstandsrecht formuliert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieser Artikel war auch als Korrektiv für die damals heiß umstrittene Notstandsgesetzgebung gedacht. Er enthält, genauer besehen, eine Explikation der Bestimmung, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht: das Volk besteht aus den vielen Einzelnen, den als politisch mündig gedachten Bürgern. Diesen wird das Recht zugesprochen, ihre Souveränität, die sie immer schon an den Staat delegiert haben, zurückzurufen, wenn der Staat durch seine Organe die verfassungsmäßige Ordnung selbst verletzt. Man kann sagen, dass seither sehr viele Menschen sich die ihnen sonst bloß zugeschriebene politische Mündigkeit durch einzelne Akte des Widerstandes explizit angeeignet haben. Durch die 4
Vergleiche meinen Aufsatz Humanität und Widerstand in: G. Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 4. Aufl. 1994, S. 291–309. 5 Immanuel Kant, „Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum besseren sei?“ In: Der Streit der Fakultäten, Zweiter Abschnitt. In: ders., Werke in sechs Bänden (hrsg. v. W. Weischedel), Bd. VI, Darmstadt: WBG 1964, S. 351ff. Kant äußert sich hier angesichts der moralischen Teilnahme des Publikums an den Geschehnissen der Französischen Revolution hoffnungsvoll. 6 Über Pädagogik (1803), aaO. S. 708 (A 25).
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Deklaration „Wir sind das Volk“ in jenen Teilen der BRD, die heute als neue Bundesländer gelten, ist dieser Rückruf der politischen Souveränität zu einem wesentlichen Bestandteil bundesrepublikanischen demokratischen Selbstverständnisses geworden. Aber auch in den alten Bundesländern ist im Widerstand gegen die Volkszählung, in der Antikernkraft-Bewegung und in dem Widerstand gegen die Nachrüstung mit atomaren Mittelstrecken-Raketen eine politische Mündigkeit eingeübt worden, die weit über die bloße Mündigkeit qua Wahlberechtigung hinausgeht. In der Arbeit des Komitees für Grundrechte und Demokratie ist dieses Verständnis von politischer Mündigkeit auf Dauer gestellt worden (Narr). Der öffentliche Vernunftgebrauch, der bei Kant zunächst nur als Freiheit der Feder gedacht werden konnte, ist im demokratischen Rechtsstaat inzwischen zur öffentlichen Autonomie geworden, im Sinne von politischen Partizipationsrechten. Diese sind zwar in der BRD fern von plebiszitärer Mitbestimmung, haben jedoch vermittelt über Parteien und Lobbys zu einer fortschreitenden Ausweitung der Staatsaufgaben geführt, dem Einzelnen in detaillierter Weise Schutz und Fürsorge angedeihen lassen. Das hat aber zu einer Einschränkung der privaten Autonomie, d.h. der Selbstbestimmung in eigenen – und familiären – Angelegenheiten geführt, und damit diesen Begriff zur Vorstellung freier Willkür verblassen lassen (Volkmann). Über der Selbstverständlichkeit, mit der heute dem einzelnen erwachsenen Menschen Mündigkeit zugesprochen wird, wird nur allzu leicht vergessen, dass Mündigkeit nicht nur Projekt des individuellen Reifungsprozesses ist, sondern auch mühsam historisch und gesellschaftlich errungen werden musste. Im Blick auf die Geschichte versteht sich Mündigkeit keineswegs von selbst. Der Begriff der Mündigkeit setzte genetisch wie historisch einen Zustand der Abhängigkeit von Vormündern voraus. Mündig zu werden war so gesehen nicht die Überwindung eines Zustandes der Unreife sondern vielmehr die Entlassung aus der Vormundschaft: Emanzipation. Im 18. Jahrhundert und weit ins 19. hinein, teilweise sogar ins 20. war weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere den Frauen (Gahlings) der Status der Mündigkeit verwehrt, weil sie in Abhängigkeit von Vormündern, seien es nun die Väter, die Ehemänner oder die Dienstherren, gehalten wurden. Da die gesellschaftliche Zuschreibung von Mündigkeit – und zwar in allen genannten Dimensionen – versagt wurde, unterblieb auch die Erziehung und Selbstkultivierung zur Mündigkeit, die heute notwendig ist, um der gesellschaftlichen Zumutung von Mündigkeit zu entsprechen. Auch der Fortschritt in der Entwicklung von Menschen- und Bürgerrechten, der im Prinzip sich auf alle Menschen bezog, war doch nur jeweils für Teile der Bevölkerung wirksam. Insofern gibt es neben der ontogenetischen Entwicklung von Mündigkeit auch eine phylogenetische – wenn diese Sprechweise gestattet ist. Jeder Mensch muss heute in seiner ontogenetischen Entwicklung den mühsamen Prozess der phylogenetischen Durchsetzung von Mündigkeit gegen bevormundende und beherrschende Instanzen nachvollziehen. Deshalb ist die Besin-
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nung auf die Geschichte der Mündigkeit ein wichtiges Exerzitium in der Achtung des kostbaren und stets gefährdeten Gutes Mündigkeit, das heute die Gesellschaft jedem Einzelnen zuerkennt.
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Mündigkeit und Unmündigkeit nach Kants Schrift “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”
Was ist Mündigkeit? Was ist ein mündiger Mensch? Welche Formen von Mündigkeit gibt es? Wie lässt sich Mündigkeit erreichen? Lässt sich Mündigkeit bewahren oder verlieren? Diese Fragen werden in der berühmten Schrift Immanuel Kants “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” diskutiert. Der Text enthält einige begriffliche Festlegungen, die nun schon Jahrhunderte nachwirken; ein Koordinatennetz des Verständnisses wurde mit ihm ausgelegt, das noch unsere heutigen Diskussionen prägt. Kants Text erschien 1784, also vor 225 Jahren, in der “Berlinischen Monatsschrift” und versuchte sich in einer Antwort auf die Frage, die ein anderer Beiträger zur selben Zeitschrift, der Prediger und Theologe Johann Friedrich Zöllner (1753–1804), ca. ein Jahr zuvor, nämlich im Dezember 1783, gestellt hatte. In einer Anmerkung zu seinem Aufsatz “Ist es ratsam, das Ehebündnis ferner durch die Religion zu sanzieren?” (einer Auseinandersetzung mit der Idee der Zivilehe, welche er ablehnt) formuliert Zöllner: “Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!” 1 Zöllner hatte also, in kritischer Absicht, eine inhaltliche Ausfüllung des Aufklärungsbegriffs gefordert und dessen Verwendung ohne diese nähere Bestimmung abgelehnt. Damit wollte er die ganze Tendenz in Frage stellen und ihr intellektuelle Unsauberkeit unterstellen, er sprach aber auch ein zentrales Problem der Aufklärungsbewegung an: sie war seit den Anfängen zum Beginn des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich aufgespalten in unterschiedlichste Gruppierungen, Einzelpersonen und Parteien. Die britischen Whig-Politiker oder die französischen „philosophes“ verstanden unter „Aufklärung“ etwas anderes als die deutschen Fürsten und Herrscher, die sich als aufgeklärt betrachteten. Jeder nahm für sich in Anspruch, das authentische und wahre Programm
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Berlinische Monatsschrift 1783, II. Band, Seite 516.
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der Aufklärung zu vertreten. Kant ging nun in der Zeitschrift, die eine Art Zentralorgan der aufklärerischen Diskussion in Berlin war, daran, den Aufklärungsbegriff aufzuklären und er vermied es in interessanter Weise, in die Falle zu tappen, die Zöllner ihm aufgestellt hatte. Doch davon später... Kants Text hebt jedenfalls an mit einem Satz, der zu einer der berühmtesten Aussagen der Philosophiegeschichte werden sollte: “Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.” (A 4812) Diese Formulierung, verdient ein genaues Hinsehen, und wie für viele philosophische Einsichten gilt auch für diese: Je näher man sie ansieht, desto ferner blickt sie zurück. Ich will im Folgenden kurz erläutern, welchen Begriff von Mündigkeit Kant entwickelt und dann mögliche Kritik- bzw. Diskussionspunkte nennen. Wir sollten dabei im Auge behalten, dass Kant schon in eine vielfältige Aufklärungsdebatte hineinsprach. Seine Stellungnahme gehört zu einer Reihe von Schriften, mit denen er das eigene Denken zusammenfasst und einzelne Ergebnisse in populärer Form einem breiteren Publikum vorstellt. In diesem Fall reagiert er nicht nur auf den schon erwähnten Zöllner, sondern auf Diskussionen, in denen verschiedene Ansätze und Spielarten der Aufklärung thematisiert worden waren. Kant will – in gebotener Kürze und Knappheit – etwas Programmatisches sagen und dabei auch von ihm festgestellte Einseitigkeiten und Fehlstellungen korrigieren. Auf einer ersten Ebene ist die Argumentation Kants im besagten Text gut zu verstehen. Unmündigkeit definiert er als das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Er formuliert: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (A 481) Ich will hier nicht im Detail nachvollziehen, welche Neufassung des Mündigkeitsbegriffs Kant gegen welche Traditionen stark macht. Nur soviel sei gesagt: Mündigkeit wurde vor ihm oft auf die elementare Selbsterhaltung des Menschen bezogen. Mündig war, wer ohne Unterstützung anderer überleben konnte, bzw. wessen derartige Überlebensfähigkeit gesellschaftlich anerkannt war. Wer möchte, kann im entsprechenden Artikel „Mündigkeit“ im 'Historischen Wörterbuch der Philosophie' dazu einiges nachlesen. „Mündigkeit“, so wird dort ausgeführt, bezeichnete lange die rechtliche Stellung dessen, der einer Hausgemeinschaft vorstand, also anderen Schutz und materielle Versorgung bieten konnte. Die in der Hausgemeinschaft aufwachsenden (meist muss man wohl sagen) Männer wurden dann ab einem bestimmten Zeitpunkt als fähig angesehen, eine eigene Hausgemeinschaft zu gründen, gesellschaftliche Anerkennungs- und Übergangsriten gaben dem Ganzen eine Form.
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Alle Kantzitate nach der Akademie-Ausgabe, z.B. in der Weischedel-Fassung
Mündigkeit und Unmündigkeit nach Kant
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Außerhalb seiner berühmten Aufklärungsschrift äußert sich Kant zu den elementaren Formen der Mündigkeit und beschränkt diese auf die natürliche bzw. die „bürgerliche“ Ordnung (im Sinne des Lebenserwerbs). Moralisch und politisch aber hat die Mündigkeit ganz andere Dimensionen. Den Aspekt der Anerkennung von außen fasst Kant zum Beispiel ganz neu und er fügt als wesentlichen Aspekt die Freiheit hinzu. Die Freiheit der Menschen, sich öffentlich ihres Verstandes zu bedienen, ihre Meinung zu vertreten und im Austausch miteinander weiterzuentwickeln, ist die Grundlage der Aufklärung. Ganz entscheidend ist, wie Kant die öffentliche Sphäre neu definiert – man könnte grob sagen, dass er sie vom Gerichtshof zum Marktplatz weiterentwickelt. War der Mensch zuvor darauf angewiesen, dass ihm in einem öffentlichen Verfahren die Mündigkeit zugesprochen wurde, so erwirbt er sie nun selbst auf dem Forum, dem Marktplatz, in einem wechselseitigen Austausch unter den Bedingungen der Freiheit. Mit Hilfe der Freiheit entwickeln die Menschen ihr eigenes Denkvermögen und beginnen, sich selbst und die Welt besser zu verstehen. Kants Mündigkeitsbegriff ist einer, der Erkenntnis unbedingt fordert. Mündig werde ich, wenn ich mehr und mehr von der Welt erkenne. Und dieses Erkennen richtet sich bei ihm nach dem Modell der damals avanciertesten und anerkanntesten Wissenschaften, der Naturwissenschaften, besonders der Mathematik und der Physik. Die Aufklärung ist der Prozess, in dem Menschen ihre eigene Freiheit entdecken und behaupten, und schließlich durch diese Freiheit mehr über sich und die Welt erfahren. Die Geschichte ist der Lernprozeß autonomer Menschen. Kant betont, dass der Mensch sich die Mündigkeit selbst erwirbt; sie wird ihm nicht verliehen wenn er eine bestimmte Altersstufe erreicht, einen bestimmten Ausbildungsgrad erworben oder eine gewisse Geldsumme verdient hat. Mündigkeit in diesem Sinne hat also nichts mehr mit ökonomischer Unabhängigkeit zu tun. Man kann also sehr wohl Bezieher von staatlicher oder privater Unterstützung sein und dennoch mündig. Pointiert gesagt: auch dem Hartz IV-Empfänger oder dem Millionenerbe ist der Weg zur Mündigkeit nicht unbedingt verbaut. Kant verdeutlicht, dass die Anstrengung groß ist, mit der man – langsam – mündig wird: „Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen, und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.“ (A 483) Vor allem die Feigheit und die Faulheit sind es also, die oft der Bemühung um Mündigkeit entgegenstehen. Mindestens drei Dinge sind hervorhebenswert: – Einsicht und Mündigkeit kommen nicht schlagartig und umfassend mit der Entdeckung irgendwelcher Geheimnisse. Es handelt sich um einen langwierigen Prozess, der viel Mühe kostet und sich über zahlreiche Stufen vollzieht.
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– Außerdem ist zu beachten, dass man sich gegen Traditionen des unfreien Denkens behaupten muss. Überhaupt wird die Tradition in diesem Text Kants vor allem unter negativen Vorzeichen behandelt. Sie behindert Selbstbefreiungsprozesse, belastet mit Autoritäten und verewigt Denkfehler. Auch von der Macht der bevormundenden Tradition muss sich der Mensch der Aufklärung, der mündige Mensch, nach Kants Ansicht also befreien. Schließlich und drittens kann man an dieser Stelle verdeutlichen, wie sehr Kants Aufklärungs- und Mündigkeitsbegriff formal und nicht inhaltlich definiert ist. Er vermeidet eine inhaltliche Aufzählung von Kriterien der Mündigkeit, zeigt vielmehr nur, wie und gegen was Mündigkeit sich entwickeln lässt. Genauso wird die Aufklärung nur ex negativo bestimmt, eben als Ausgang aus der Unmündigkeit. Das ist ein entscheidender Punkt, der beispielsweise verhindert, dass Kants Theorie zu sehr zeitgebunden bleibt. Hätte er nach damaligem Verständnis das Wissen der Aufklärung und die konkreten Eigenschaften des mündigen Menschen zusammengefasst, dann wäre er möglicherweise ganz im Bannkreis der damaligen Denk- und Lebensverhältnisse verblieben. So wie auch durchaus fortschrittliche und aufgeklärte Denker der Antike den Sklaven zum Hausrat zählten, so hätte der Verfasser der berühmten Aufklärungsschrift bei der inhaltlichen Definition der Mündigkeit wahrscheinlich Eigenschaften hinzugenommen, die wir heute als unpassend empfinden würden oder Menschen von der Mündigkeit ausgeschlossen, die nach unserem heutigen Dafürhalten nicht ausgeschlossen sein dürfen. Also: die Stärke der Kantischen Theorie liegt hier – wie in vielen anderen Fällen – darin, dass er Denkmöglichkeiten beschreibt, nicht Denkinhalte, Wege zur Mündigkeit und Beschränkungen dieser Mündigkeit, aber nicht die Mündigkeit selbst. Ihm geht es nicht darum, ein Geheimnis zu enthüllen, sondern Menschen fähig zu machen, dieses Geheimnis selbst zu enthüllen. Damit umgeht er auf elegante Weise die Vorurteilsstrukturen der Zeit und die Falle Zöllners, der eine direkte substanzielle Ausfüllung des Aufklärungsbegriffs eingefordert hatte. Kant weist darauf hin, dass das Mündigkeitskonzept natürlich für Frauen wie für Männer gilt. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung beklagt er, dass besonders „das ganze schöne Geschlecht“ sich immer wieder freiwillig unter die Herrschaft von Vormündern stellt. Man könnte sagen, dass aus heutiger Sicht das alles in sehr sympathischer Weise dem allgemeinen Verständnis, dem „common sense“, entspricht. Die Botschaften lauten: Denke selbst, lass Dir nicht von so genannten Autoritäten etwas vormachen, bestimme Dein Leben und entdecke die Wahrheiten. Wenn sich alle so verhalten, so Kant, dann macht die Menschheit eine gute und richtige Entwicklung durch. Kants Mündigkeits- und Aufklärungsbegriff steht im Mittelpunkt einer optimistischen Geschichtsphilosophie, die von Aufschwung und Fortschritt ausgeht. Dass diese Entwicklung wirklich gut und richtig ist, das lässt sich an einer Formulierung zeigen: “selbst verschuldet”. Es bleibt bei diesem Verschulden zunächst etwas unklar, ob es um ein moralisches Verschul-
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den geht oder einfach um Kausalität. Ist der Mensch zu kritisieren, handelt er unmoralisch oder unsittlich, da er sich in die Unmündigkeit begeben hat? Oder geht es um eine wertfreie Verursachung im Sinne von: Der Mensch hat sich selbst unmündig gemacht. Bewertet wird das zunächst nicht. Es scheint aber dann doch klar zu sein, dass es etwas Schlechtes ist, was der Mensch hier getan hat; daher ist die Gesamtentwicklung aller Menschen von der Unmündigkeit zur Mündigkeit wohl auch moralisch positiv gewertet. Gehen wir aber noch einen Schritt zurück, um die Schwierigkeiten besser zu verstehen: Wenn die Entscheidung für die Unmündigkeit eine moralisch schlechte war, dann muss es sich um eine bewusst und eigenverantwortlich getroffene Entscheidung handeln, sonst wäre eine moralische Verurteilung nicht möglich. Moralisch verurteilen können wir nur bewusste Handlungen. Das führt uns aber in einen seltsamen Widerspruch: der Mensch hat sich bewusst für die Unmündigkeit entschieden, aber diese Entscheidung ist im Grunde eine, die alle Eigenschaften einer mündigen und autonomen Handlungsweise hat. Wie kann man die Entscheidung für die Unmündigkeit selbst als Ausdruck der Unmündigkeit behandeln, wenn man sie moralisch werten will? Dieses Problem führt in einen entscheidenden Bereich gesellschaftlicher Ethik. Es sei auf eine Lösung hingewiesen, die bei Kant nahe liegt. Wir müssen zwischen dem empirischen einzelnen Menschen und dem Menschen als Gattungswesen unterscheiden. Wenn wir den Einzelmenschen ins Auge fassen, dann muss der Aspekt der „Selbstverschuldung“ geringer angesetzt werden als beim Gattungswesen Mensch. Als Einzelner ist der Mensch eben sehr oft nicht daran moralisch schuld, dass er Möglichkeiten der Autonomie und Selbstbestimmung nicht genutzt hat. Vieles steht dem entgegen: wirtschaftliche und soziale Zwänge, Unterschiede in der Herkunft, der Erziehung etc. Diese Unterscheidung zwischen dem Einzelwesen und dem Sozialwesen macht auch plausibel, warum Kant so großen Wert auf die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch legt. Es gilt für ihn: „(...) der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter den Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.“ (A 485) Das ist ja nun etwas eigenartig. Würden wir nicht spontan sagen, es müsse gerade umgekehrt sein? Dass man nämlich für den öffentlichen Austausch eher Begrenzungen und Regeln definiert als für den privaten? Wir verstehen das besser, wenn wir uns klar machen, dass für Kant die Eigenschaft des Menschen, einen Beruf auszuüben oder irgendeine Rolle mit spezifischen Verantwortlichkeiten zu übernehmen, in den privaten Bereich fällt. Als öffentlicher Mensch in einer Gesellschaft ist der Mensch privater Vernunftgebraucher... Aber was ist dann das Öffentliche? Hier zieht Kant über allen sozialen Rollen und praktischen Notwendigkeiten einer Gesellschaft das Allgemein-Menschliche ein – und das ist nun das wirklich Öffentliche! Öffentlicher
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Vernunftgebrauch findet statt, wenn wir als Menschen sprechen, nicht als Taxifahrer, Lehrer, Ärzte, Politiker oder Steuerzahler. Kant: „Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf.“ (A 485) Allein diese Unterscheidung, sauber durchgeführt und zu Ende gedacht, bringt einen großen Fortschritt für die politische Philosophie der Mündigkeit. Wir können in dem Maße aufgeklärt werden, in dem wir auch neben unsere Rollen treten können und unabhängig von Ihnen – als Menschen – argumentieren. Auch das wirkt nach heutigem Verständnis plausibel und (wenn man das so sagen darf) sympathisch. Wir sind als Menschen nicht einfach auf unsere sozialen Rollen und Funktionen festgelegt, wir sind nicht gefangen in den geistigen, finanziellen oder militärischen Machtverhältnissen, sondern es gibt immer noch die Ebene des Allgemein-Menschlichen darüber, auf der ein Austausch freier Geister stattfindet oder zumindest stattfinden sollte... Allerdings müssen wir in der Rolle auch dieser gerecht werden und gemäß der Rollendefinition handeln. Kant nennt das Beispiel des Militärs – hier ist es dem Soldaten nicht gestattet, während des Dienstes Befehle in Frage zu stellen: „So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas befohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigerweise nicht verwehrt werden, als Gelehrter, über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen.“ (A 486/487) Es findet also eine Art Spaltung der Persönlichkeit statt, bei der sich nach Kant Gehorsam, gerne auch preußischer Kadavergehorsam und selbstbewußtmündiges Räsonnieren nicht im Weg stehen. Der Offizier setzt sich eben nach Feierabend hin und verfasst Texte und Stellungnahmen, ebenso der Geistliche, der Politiker etc. Alle treten, neben oder über ihren sozialen Rollen, in ein großes Gespräch ein. Damit beschreibt Kant die Entstehung des später immer wichtiger werdenden Typus des kritischen Intellektuellen, der gerade dadurch bestimmt ist, dass er neben der konventionellen Rollenverteilung und über sie hinweg für sich eine Wächter- und Kritikerposition reklamiert. Es tritt natürlich die Frage auf, wie die verschiedenen Rollen gegeneinander abgegrenzt werden können und wer für diese Abgrenzung überhaupt zuständig sein kann. Zusätzlich muss man sich fragen, wie realistisch eine solche Rollenteilung überhaupt ist. Psychologisch gesehen, dürfte es äußerst schwierig sein, alle Bedenken auf den Feierabend zu verschieben und ansonsten brav seinen Dienst zu tun, wenn man vom Sinn dieses Dienstes nicht überzeugt ist. Aber auf diese Trennung legt Kant größten Wert, auch damit der Intellektuelle nicht in Loyalitätsprobleme gerät; er soll gleichzeitig funktionierendes Rädchen im Getriebe und als Sandkörnchen kritische Instanz sein. Vielleicht ist hier eine Tragik angelegt, die Kant gar nicht auflösen wollte...
Mündigkeit und Unmündigkeit nach Kant
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Jedenfalls entsteht so das Publikum, von dem Kant spricht, das in einem permanenten gegenseitigen Aufklärungs- und Belehrungsprozess sich befindet. Wie Reinhold Bernhard Jachmann in seinen zeitgenössischen Erklärungen zu Kants politischen Auffassungen erläuterte: „Sie wissen, daß Kant als Philosoph und nach der Anwendung seiner Tugend- und Rechtslehre auf die Politik, eine jede Staatsumwälzung unter allen Umständen, selbst unter dem Drucke grausamer Despoten, von Seiten der Untertanen für unrecht erklärte, und daß er die Verbesserung der in einem Lande herrschenden Politik und Staatsverfassung auf dem, freilich langsamern, aber auch sichreren Wege der sittlichen Vervollkommnung aller einzelnen Staatsbürger erreicht wissen wollte.“ 3 Als Einzelner kann sich der Mensch nicht aus dem Sumpf der geistigen Unfreiheit ziehen, im Austausch geht das durchaus: „Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausweichlich.“ (A 484) Diese große Bedeutung des sozialen Austauschs und des nur gemeinsam zu erreichenden Ziels wird auch in seinem Text „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ deutlich. In einer Fußnote heißt es da: „Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich. Wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschaffen sei, wissen wir nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmeicheln, dass wir unter unseren Nachbarn im Weltgebäude einen nicht geringen Rang behaupten dürften. Vielleicht mag bei diesen ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben völlig erreichen. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hoffen.“ (A 397) Es ist die Bestimmung der menschlichen Gattung, nach Vollkommenheit zu streben, auch moralisch und in der Organisation des Gemeinwesens. Kant ist sich dessen bewusst, dass solch ein freier Austausch und Diskurs zur Weiterentwicklung der Menschheit als ganzer nur möglich ist, wo die Machtverhältnisse dies zulassen. Überschwänglich lobt er daher gegen Ende seines Textes den preußischen König Friedrich II., den wir vor allem als „Friedrich den Großen“ kennen. Ihn präsentiert er als Beispiel eines fortschrittlichen Monarchen: „In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert Friederichs.“ (A 491) Friedrich der Große wird nicht nur deshalb besonders hervorgehoben, weil er Kants Souverän und oberster Dienstherr war, sondern weil er aus Kants Sicht die religiöse Bevormundung verhindert hatte. Dies ist nach Kant eine der Hauptvoraussetzungen für eine freie intellektuelle Entwicklung. Er will zeigen, dass bestimmte Behinderungen des freien Austauschs der Gedanken wichtiger 3
Zitiert nach: Felix Groß, „Immanuel Kant: sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L.E. Borowski, R.B. Jachmann und E.A.Ch. Wasianski“ (Neudruck 1993 der Ausgabe Berlin 1912), Darmstadt 1993, Seite 152f.
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sind als andere. Ich will bei der weiteren Erörterung im letzten Teil dieses Beitrags seine Formulierung zum Ausgangspunkt nehmen: „Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausgangs des Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.“ (A 493) Die Vernunft soll als Richterin eingesetzt werden, und jede Offenbarungsreligion, die sich ihre kritische Nachfrage verbittet, ist daher als Feindin der Mündigkeit zu sehen. In einem weiteren Text Kants, der für die MündigkeitsProblematik von Belang ist, nämlich „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ von 1786 wird dieses Lob der Vernunft so formuliert: „Nehmt an, was Euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen Fakta, es mögen Vernunftgründe sein, nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der Wahrheit zu sein!“ (A 329 ) Und zu seiner Zeit bestritt eben vor allem die Kirche diese Stellung der Vernunft. Wir sehen daran, wie sehr sich die Einschätzung der Hauptgefahren für Unabhängigkeit gewandelt hat. Neben die Kirche und oft an ihre Stelle sind heute politische und ökonomische Zwänge getreten, die wir teilweise als sehr viel dringlicher empfinden. Diese Erkenntnis einer doch gewissen Zeitgebundenheit des Kant-Textes soll überleiten zu einigen kritischen Anfragen, die auch in anderen Beiträgen dieses Bandes Beachtung finden. Zum einen fragt man sich, wer das Fortschreiten der Aufklärung, die Ergebnisse der Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit überhaupt beurteilen kann. Kant sagt ausdrücklich, dass man sich die Fähigkeit, frei und unabhängig zu urteilen erst nach und nach aneignet. Es gibt also verschiedenste Zwischenstufen der Autonomie und immer wieder muss kritisch gefragt werden, welche Formen der Mündigkeit man sich bereits erobert hat. Es versteht sich, dass in einer solchen unsicheren Situation Autoritäten neu auftreten, die nun nicht mehr die Freiheit und Mündigkeit des Menschen direkt beschränken wollen, sondern „nur“ die Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten erklären, nach denen man seine Freiheit erwirbt. Diese neuen Gesetzgeber, die natürlich nur das Beste des Menschen im Auge haben, können unter dem Vorwand der Befreiung von Vorurteilen und Beschränkungen unter Umständen ein noch viel rigideres Regime aufrichten. So ist durchaus vorstellbar, dass die Herrschaft des Priesters durch die Herrschaft des Lehrers, des Therapeuten, des Philosophen abgelöst wird. Diese Gefahr thematisiert Kant nur sehr vorsichtig und der Zeitgenosse Johann Georg Hamann (1730–1788) hat deshalb schon darüber gespottet, wie Kant und seine Nachfolger eifrig die Erziehung des Menschengeschlechts in ihre Hand genommen haben. Gerade im Hinblick auf die Kritik Kants an der Religion erstaunt es dann doch, wie schnell aufklärerische Quasi-
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Priesterschaften entstehen konnten. Berichte über Kant-Feiern, bei denen der Königsberger Philosoph mit den Begriffen beschrieben wurde, die sonst Christus vorbehalten waren, vervollständigen das Bild. Schiller thematisierte diese Gefahr unter dem Aspekt einer Herrschaft des dogmatischen Rationalismus: er befürchtete, es werde „zu einer Unterdrückung, welche sonst die Kirche autorisierte“, künftig „die Philosophie ihren Namen leihen“. 4 Und auch heute noch lässt sich in vielen Zusammenhängen zeigen, wie man seine eigene konkrete Herrschaft sichert durch abstrakte Herrschaftskritik. Sigmund Freud hat beispielsweise im Zusammenhang mit der Stellung des Psychoanalytikers zum Patienten darauf hingewiesen, dass die Gefahr einer großen Abhängigkeit besteht, gerade wo der Patient den Analytiker als Befreier von Abhängigkeiten erlebt. Diesen Mechanismus machen sich immer wieder „Menschheitsfreunde“ in Politik und Kultur zunutze, auf die die bekannte Sentenz „Wer 'Menschheit' sagt, der will betrügen“ nur zu gut passt. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass die Gewährung von Freiheit in Kants Verständnis einschließt, dass Menschen sich ihrer nicht oder zu zweifelhaften Zwecken bedienen. Was, wenn jemand die Mündigkeit aus freiem Willen und in vollem Bewußtsein ablehnt? Das ist in Zeiten des religiösen Fundamentalismus keine rein akademische Frage. Freiheit, so ist festzuhalten, verwirklicht sich in konkreten Formen und konkreten sozialen, kulturellen und historischen Zusammenhängen. Der Einzelne, der mit diesen konkreten Formen der Freiheit oder besser Befreiung konfrontiert wird, kann im Einzelfall mit guten Argumenten spezifische Formen der Mündigkeit ablehnen. So wird zum Beispiel auch nicht jeder die Freiheiten, die ein ungeregelter Kapitalverkehr ihm bietet, für sinnvoll und gut halten, eingedenk der Gefahren, die sich damit verbinden. Oder so werden sicher einige Menschen die sexuelle Befreiung der 60er und 70er Jahre als bedrohlich, sogar repressiv empfunden haben, da sie sich mit Formen der Ausbeutung, Kommerzialisierung und Zerstörung von Privatheit verbanden, die zuvor unbekannt waren. Auch muss sich vor diesem Hintergrund jeder, der für sich selbst ein aufgeklärtes Bewußtsein reklamiert, kritisch fragen, ob seine Formen der Aufgeklärtheit auch für andere, womöglich für die nächste Generation, noch verbindlich sein können. Eine andere Frage richtet sich an den geschichtsphilosophischen Optimismus des Immanuel Kant. Gelegentlich diskutiert wurde Kants Behauptung, republikanisch verfasste Staaten seien grundsätzlich weniger kriegsbereit als Monarchien – eine Behauptung, die im nachrevolutionären Frankreich widerlegt wurde und die Kriege der USA nicht erklären kann, also durch die nachfolgende Geschichte obsolet wurde. Genau wie diese These ist auch die Behauptung, es sei im Menschen quasi genetisch angelegt, seine Freiheit zu erwerben und sich
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Friedrich Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen; 7. Brief, 3. Absatz
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notwendig Foren der geistigen Unabhängigkeit zu erwerben, sehr problematisch. Auch könnte, von Kant aus, aber auch gegen Kant gewendet, problematisiert werden, wie individuelle Aufklärungsgeschichte und allgemeine sich zueinander verhalten. Die Vorstellung, dass der Mündigkeitsstatus des Einzelnen den Grad der Aufklärung einer Gesellschaft widerspiegelt, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch und Kant hätte eine solche einfache Kopplung wohl auch abgelehnt. Aber die eigentümliche Dialektik zwischen individueller und allgemeiner Aufklärung enthält eine Dynamik, die Kant nicht ausreichend in den Blick genommen hat. Es sind nämlich zahlreiche Konstellationen und Situationen nicht nur möglich, sondern auch empirisch aufweisbar, in denen die Mündigkeit des Einzelnen die Unmündigkeit der Gruppe stärkt und umgekehrt. Geschichtlich gesehen haben oft kleine aufgeklärte Eliten ihren Status nur unter der Voraussetzung allgemeiner Unmündigkeit erwerben und erhalten können. Auch müssen wir uns hier klar machen, welche Konsequenzen es hat, dass Kant den Erwerb von Mündigkeit nicht einfach im Rahmen einer individuellen Lebensgeschichte, sondern als Teil eines historischen Prozesses fasst. So besteht nämlich immer die Gefahr einer Arroganz der Spätergeborenen. Diese könnten ihre „Gnade der späten Geburt“ so verstehen, dass sie von einem insgesamt aufgeklärteren Zeitalter profitieren und auf unaufgeklärte Epochen zurückblicken könnten. Diesem Gefühl davon, „wie herrlich weit man es doch gebracht habe“, schiebt aber Kant einen skeptischen Riegel vor, indem er ausdrücklich betont, das Zeitalter sei noch nicht aufgeklärt, sondern nur in der Aufklärung begriffen: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ (A 491) Ein letzter Punkt sei noch genannt: Kant schwebt ein freies Gespräch von Gebildeten vor: wenn die Menschen außerhalb ihrer sozialen Rollen frei und selbstbewusst „räsonnieren“ (wie er das nennt), dann tun sie das notwendigerweise in schriftlicher Form, unter Anerkennung gewisser Diskurs- und Argumentationsregeln. Ausdrücklich spricht er vom „Lesepublikum“. Der ungebildete, des Schreibens nicht mächtige Teil der Menschheit bleibt hier ebenso außen vor wie diejenigen, die schlicht keine Zeit haben, um an den Diskussionen der Gelehrtenrepublik teilzunehmen. Hier muss man ehrlicherweise eine gewisse Verlogenheit ansprechen, die sich auf die Erben Kants übertragen hat: die schweigende Mehrheit ist nicht im Kalkül – und auch bei den Nachfolgern taucht sie höchsten als unbelehrbare Masse oder noch zu erziehender Teil des Volkes auf. Findet sie einmal zu einer Sprache und äußert sie sich – noch ungeschickt und ungefügig –, dann sind die Angehörigen der Kantschen Diskursgemeinschaft schnell mit Häme und Verurteilungen bei der Hand. Das Ekelgefühl
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der intellektuellen Eliten (gerade auf der sich als besonders aufklärerisch betrachtenden Linken) gegenüber den ungebildeten Massen ist bekannt. Wenn wir nun die kantische Theorie zur Mündigkeit betrachten, dann können wir meiner Ansicht nach zusammenfassend sagen, dass sie für die Begriffsbestimmung und definitorische Zuspitzung ungeheuer viel geleistet hat. Das Selbstverständnis des autonomen modernen Menschen wurde hier in bleibenden Formulierungen niedergelegt. Aber es geht bei dieser Theorie eben nicht nur um das Individuum, sondern sie ist eindeutig eine Theorie des Sozialen. Als Einzelnem ist es dem Menschen nicht möglich, mündig zu werden; es ist nicht das soziale Atom, der vereinzelte Individualist, auf den hier gesetzt wird, sondern das menschliche Gemeinschaftswesen, dessen – so könnte man sagen – Natur seine Kultur ist. Kant traut diesem Menschen sehr viel zu, vor allem wenn er sich mit den Begrifflichkeiten des kantischen Systems anfreundet. Ernst Cassirer hat sehr schön beschrieben, dass und wie Kant dem freien Gespräch mehr zutraute als der Diskurslenkung durch einige Meisterdenker: „... im ganzen aber hielt er an der Überzeugung fest, daß, wenn einmal die Diskussion auf den richtigen Punkt gelenkt sei, sich aus dem Streit der Meinungen der Sinn des kritischen Hauptproblems von selbst immer bestimmter ergeben werde.“ 5 Wir können dem Optimisten und Menschenfreund Immanuel Kant und seiner begrifflichen Trennschärfe die Treue halten ohne den Ermächtigungsgesetzen für die intellektuellen Nachfolger zustimmen zu müssen. Auch mit Kant kann man die Aufklärung und die Mündigkeit nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihre falschen Freunde verteidigen.
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Ernst Cassirer, „Kants Leben und Lehre“, in Ernst Cassirer Gesammelte Werke (ECW), Band 8, Hamburg 2001, Seite 349
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Die mündige Frau. Zur Geschichte des Kampfes der Frauen um Bürgerrechte
Wenn auch ich meine einführenden Bemerkungen mit Kant beginne, so in Bezug auf das Thema „Die mündige Frau“, allerdings mit einigen Revisionen und Ergänzungen seiner klassischen Aussagen über die Mündigkeit. Wenn Kant sagt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ 1 – so ist für das weibliche Geschlecht zu sagen: Aufklärung war ein Versuch der Frauen unter vielen, aus ihrer fremd verschuldeten Unmündigkeit herauszufinden. Und wenn Kant behauptet: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ 2 – so ergänze ich: Unmündigkeit ist auch ein Unvermögen, das Andere, vor allem Männer, Frauen zuschreiben, obwohl Frauen sich sehr wohl ihres Verstandes ohne Leitung eines Mannes bedienen können. Wenn Kant dann fortfährt: „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt …“ 3 – so vervollständige ich für die weibliche Hälfte der Menschheit: Fremd verschuldet war bzw. ist die Unmündigkeit der Frauen, weil die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes liegt, sondern am Mangel der Anerkennung und an der Zuschreibung durch Andere. Und wenn Kant unverfroren konstatiert: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschheit, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen …, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben …“ 4 – so scheint er auszublenden, dass Arroganz und Herrschaftswille die Ursachen sind, warum die weibliche Bevölkerung, nachdem die Natur sie längst von fremder Leitung frei gesprochen hat, qua Kultur doch zur Unmündigkeit verurteilt und dies wahrlich nicht gerne ist! Kant macht sich selbst solcher Unmündigkeits-Erklärung schuldig, wenn er in der Metaphysik der Sitten „die Fähigkeit zur Stimmgebung“ als diejenige „Qua1
Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke, Bd. 9, Darmstadt 1983, S. 53. Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd. 2
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lität“ ausweist, die den Staatsbürger ausmacht, diese aber neben den Gesellen, Dienstboten, Unmündigen auch „alle[n] Frauenzimmer[n]“ abspricht.5 Frauen bleiben qua Geschlecht ausgeschlossen und auf den Status als „passive Staatsbürger“ beschränkt, eine Abgrenzung, die, wie Kant zugibt, „mit der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt im Widerspruch zu stehen scheint.“ 6 – Nun, Kant befindet sich mit solchen Ausführungen in guter Gesellschaft und in einer langen Tradition.7 Allerdings hat er doch die Mechanismen des Unmündig-Machens durchschaut und sogar am Beispiel der Frauen selbst beschrieben. Ich zitiere aus der Aufklärungsschrift: „Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einige Mal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern, und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.“ 8
Zum historisch-kulturellen Verständnis des Kampfes der Frauen um Bürgerrechte Nun, wie diese – leicht ketzerischen – Randbemerkungen zu Kant zeigen, ist es nicht ganz so einfach mit der Mündigkeit, wenn man sie ausschließlich als eine individuelle Angelegenheit betrachtet. Mündigkeit wird im sozialen Feld erworben und kann bestimmten Menschen zu- oder abgesprochen werden. Ein Mensch kann sehr wohl mündig sein, sich also im Kantischen Sinn über die „Natur“ erhoben haben und doch qua Kultur zeitlebens im Zustand zugewiesener Unmündigkeit verbleiben. Gerade entlang der Geschlechtermatrix hat sich häufig eine soziale Ordnung etabliert, in der Mündigkeit und Unmündigkeit zentrale Figuren für Asymmetrien und Hegemonien in den Geschlechterverhältnissen abgaben. Die Geschlechtsvormundschaft beispielsweise, die cura sexus bzw., in ihrer besonderen Form innerhalb der Ehe, die cura maritalis oder Ehevogtei war Jahrhunderte 5
Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, Darmstadt 1983, S. 432f. Ebd., S. 433. 7 Vgl. allgemein Jack Holland, Misogynie. Die Geschichte des Frauenhasses, Frankfurt/Main 2007; vgl. im Besonderen: Annegret Stopczyk, Was Philosophen über Frauen denken, München 1980. 8 Kant, Aufklärung, a.a.O., S. 53f. 6
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lang ein wichtiges Instrument, um den Rechtsstatus der Frau auf der Stufe eines Kindes oder Schwachsinnigen, also einer Unmündigen zu fixieren, die nicht in der Lage ist, über ihr Leben selbst zu bestimmen und daher eines männlichen Beistands bedarf.9 Die cura sexus verschwand „vollständig erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in der speziellen Form der „ehelichen Vormundschaft“ „in manchen europäischen Ländern sogar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ 10. Schlusslicht bildet hier Spanien, das erst 1981 die eheliche „Munt“ abschaffte.11 Erst in jüngster Geschichte und nur in einigen Kulturen wurden also diese und andere Geschlechterhegemonien wirklich einer Veränderung unterzogen. Der Kampf der Frauen um die Bürgerrechte war territorial begrenzt, und so gibt es noch heute Regionen, wo dieser Kampf weder angefangen hat noch als notwendig erkannt wird. Weltweit leben Millionen Frauen immer noch in Kants „Gängelwagen“, werden von Männern – wie Kant so treffend sagte – wie „Hausvieh“ „dumm gemacht“, dürfen oftmals ihr Heim nicht ohne Begleitung ihrer Vormünder verlassen, haben kein Recht auf Selbstbestimmung, Eigentum oder Schutz vor Gewalt. Vom Wahlrecht wagen diese Frauen kaum zu träumen. Als Analphabetinnen (98% der weltweit 7%, die weder lesen noch schreiben können) bleiben sie zeitlebens in Abhängigkeitsverhältnissen und führen häufig ein Leben, das nicht einmal den schlichtesten Normen von Humanität entspricht. Eine solche Vorbemerkung ist notwendig, um das Ausmaß und die Tragweite des Kampfes der Frauen um die Bürgerrechte historisch und kulturell zu verstehen. Was wir alle heute und in unserem Kulturkreis als selbstverständlich erachten, die Anerkennung der Frau als Rechtsperson und die Rechtsgleichheit der Geschlechter, ist aus einem mühevollen, enttäuschungsreichen Prozess nicht allein des Beharrens auf Mündigkeit, sondern auch des Beharrens auf Zuweisung von Mündigkeit hervorgegangen. Und ich denke, dass Kant doch Unrecht hatte, als er schrieb, dass „die Gefahr“, einen solchen Prozess voranzutreiben, „eben so groß nicht“ sei.12 Es hat unzählige, namenlose und berühmte Opfer gegeben. Auch wenn die Kämpferinnen für die Bürgerrechte der Frau nur spärlich mit Erinnerungskulturen bedacht werden, haben diese Frauen der Revolution und der Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts doch die soziale Gemeinschaft in Teilen dieser Welt nachhaltig reformiert. 9
So ist es auch für Kant selbstverständlich, „alles Frauenzimmer“ zu jener Gruppe von Menschen zu rechnen, die „nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung anderer“ genötigt ist, ihre „Existenz (Nahrung und Schutz)“ zu erhalten und deren „Existenz“ „gleichsam nur Inhärenz“ ist (Kant, Metaphysik, a.a.O., S. 433). 10 Ernst Holfhöfer, Die Geschlechtsvormundschaft. Ein Überblick von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, in: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hg. v. Ute Gerhard, München 1997, S. 390–451, hier S. 390. 11 Ebd., S. 449. 12 Kant, Aufklärung, a.a.O., S. 54.
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Dies war jedoch nur möglich, weil bereits in den Jahrhunderten zuvor Generationen von Frauen immer wieder die Herausbildung und Zuschreibung von Mündigkeit gefordert haben. Im Rahmen solcher Selbstautorisierung spricht Gerda Lerner von einem feministischen Bewusstsein, das sich wie folgt entfaltet: „1. die Wahrnehmung und das Eingeständnis der Frauen, dass sie zu einer untergeordneten Gruppe gehören und als Mitglieder einer solchen Gruppe unter Ungerechtigkeiten zu leiden haben; 2. die Erkenntnis, dass der Zustand der Unterordnung nicht naturbedingt, sondern gesellschaftlich verursacht ist; 3. die Entwicklung eines Begriffs der Schwesternschaft; 4. die autonome Definition ihrer Ziele und Strategien im Sinne der Veränderung ihrer Lebensbedingungen; und 5. eine alternative Vorstellung von der Zukunft.“ 13 Aus ihren leidvollen Erfahrungen mit dem Status der Unmündigkeit entwickelten Frauen Prozesse der Selbstreflexion, Welterkenntnis, Solidarisierung, Theoriebildung und Intervention. Dieses feministische Bewusstsein hat Wurzeln in der Antike, nahm im Mittelalter in einer ersten Frauenbewegung seinen Lauf, wurde in der Neuzeit durch die Salonkultur bestärkt, in den Revolutionen politisch und brachte im 19. Jahrhundert jene breite Welle der Solidarität und des Widerstands hervor, die im 20. Jahrhundert zur gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau führte. Es vergingen also Jahrhunderte, ehe die Situation der Frau im Hinblick auf ein selbst bestimmtes Leben verbessert wurde.
Emanzipationsstreben und Frauenrechtsbewegung Die verschiedenen Bestrebungen von Frauen werden häufig durch den Sammelbegriff Feminismus beschrieben, der zwar heute kein Fremdwort mehr ist, aber viele, teils verwirrende und auch negative Bedeutungskonnotationen mitführt.14 Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, zumindest zwischen der Frauenrechtsbewegung und der Frauenemanzipationsbewegung zu unterscheiden: Die Frauenrechtsbewegung bzw. der „Frauenrechts-Feminismus“ orientiert sich „an der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in allen Bereichen des 13
Gerda Lerner, Die Entstehung des feministischen Bewußtseins. Vom Mittelalter bis zur Ersten Frauenbewegung, Frankfurt / Main, New York 1993, S. 324. 14 Lerner erwähnt folgende Bedeutungen: „a. eine Theorie zugunsten der Angleichung der Rechte der Frauen in Gesellschaft und Politik an die der Männer; b. eine organisierte Bewegung zur Durchsetzung dieser Rechte; c. das Geltendmachen der Ansprüche der Frauen als Gruppe und der von Frauen erarbeiteten Theorie; d. die Auffassung von der Notwendigkeit enormer sozialer Veränderungen, um die Macht der Frauen zu vergrößern.“ Vgl. Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriarchats, München 1997, S. 291; s. auch das Stichwort „Feminismus“ im Historischen Wörterbuch des Feminismus, hg. v. Frigga Haug, Hamburg, 2003, S. 155ff.; s. auch Hertha Nagl-Docekal, Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven, Frankfurt/M. 22001.
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gesellschaftlichen Lebens“ und zielt darauf, „den Frauen den Zugang zu allen Rechten und Möglichkeiten der Männer in den Institutionen der Gesellschaft zu sichern“ 15. In diesem Sinne war die Frauenrechtsbewegung, die sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa und Nordamerika entfaltete, eine Bürgerrechtsbewegung. Das Emanzipationsstreben von Frauen bzw. den „FrauenemanzipationsFeminismus“ hat es lange vor dem Frauenrechtsfeminismus gegeben; das Streben nach Emanzipation ist „nicht immer eine Bewegung, denn es kann ebenso gut ein Bewusstseinszustand, eine grundsätzliche Einstellung, eine Art des Denkens sein wie die Grundlage einer organisierten Anstrengung von vielen“ 16. Der Begriff der Emanzipation lässt sich aus dem römischen Recht ableiten: ex + manus + capere bedeutet, aus jemandes Hand herausnehmen, befreit sein von paternalistischer Dominanz. Für die Frauenemanzipation sind drei Dimensionen geltend zu machen: Freiheit von auferlegten Einschränkungen, d.h. „die Freiheit von biologisch begründeten und gesellschaftlich vermittelten Beschränkungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit“; Selbstbestimmung, d.h. „frei zu sein, sich selbst Ziele zu setzen; frei zu sein, die eigene soziale Rolle zu bestimmen, und die Freiheit zu haben, über den eigenen Körper selbst zu entscheiden“; Autonomie, d.h., „den sozialen Status eigenen Leistungen zu verdanken, ihn nicht durch Familienzugehörigkeit oder Eheschließung zu erlangen“, ferner „finanzielle Unabhängigkeit“ und „die Freiheit, den eigenen Lebensstil sowie die sexuelle Präferenz zu wählen“. 17 Die so konzipierte Frauenemanzipation „beinhaltet und verlangt einen radikalen Wandel der bestehenden Institutionen, Wertvorstellungen und Theorien“. 18 Es lässt sich mithin der Kampf der Frauen um die Bürgerrechte nicht auf die Historie der Revolutionen und der politischen Frauenbewegungen reduzieren. Das feministische Bewusstsein ist wesentlich älter als die Bürgerrechtsbewegung und wirkt außerdem bis in die Gegenwart als intra- und interkulturell anschlussfähiger Impuls weiter, und zwar notwendigerweise, denn „egalitäres Recht für sich allein“ gewährleistet noch lange „nicht die Gleichstellung von Mann und Frau in der sozialen Realität“ 19. So wird in Deutschland das „Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes um ein Förderungsgebot zugunsten von Frauen“ 20 ergänzt, weil die Erfahrung gelehrt hat, dass die Rechtsfortschritte im Familienrecht die Benachteiligung von Frauen in der Rechtswirklichkeit, etwa 15
Lerner: Patriarchat, a.a.O., S. 292. Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Jutta Limbach, Geleitwort, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, a.a.O., S. 9. 20 Ebd. 16
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auf dem Arbeitsmarkt, nicht aufheben konnten. Wörtlich heißt es im Grundgesetz, Art. 3, Abs. 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Bis heute bedarf es erheblicher Anstrengungen und – wie Jutta Limbach treffend sagt – „wiederholte[r] Nachhilfe durch das Bundesverfassungsgericht“ 21, um die Rechtsgleichheit der Geschlechter auf den Spuren des Grundgesetzes voranzutreiben.
Frauen in der Rechtsgeschichtsschreibung Obwohl nach dem neuzeitlichen Rechtsprinzip der Gleichheit aller Menschen die Rechtsstellung der Frau und die Regelung der Geschlechterbeziehungen wichtiger Bestandteil jeder allgemeinen Rechtsgeschichte sein müsste und nicht nur Stoff für Sonder- und Nebenbetrachtungen liefern sollte, befasst sich erst die jüngere, feministisch beeinflusste Forschung damit, die „Bedeutung und Auswirkung der Geschlechterdifferenz auch in der Geschichte des Rechts sichtbar zu machen“ und „sowohl die unterschiedlichen Wirkungen gleichen Rechts als auch die spezifischen Rechtsregeln für Frauen zu berücksichtigen“. 22 Es ist ein geradezu typischer Verlauf im wissenschaftlichen Diskurs, dass erst unter dem Druck und Eindruck feministischer Initiativen die Notwendigkeit dieser Forschungsaufgaben erkannt und schließlich in den Mittelpunkt auch genereller Befunde und Bewertungen gerückt werden. Das Standardwerk zum Thema stammt aus dem Jahr 1997 und wurde von Ute Gerhard unter Mitarbeit von 43 WissenschaftlerInnen herausgegeben. Der Untertitel des 1000seitigen Buches Frauen in der Geschichte des Rechts lautet Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart und zeigt den Kontext an, in dem die Rede von den Frauen in der Geschichte des Rechts überhaupt erst Sinn ergibt. Eine „Verständigung über die Rechte von Frauen“ lässt sich für diesen Zeitraum nämlich nicht ohne „die Diskussion der Bedeutung von Gleichheit bzw. des Prinzips der Rechtsgleichheit führen“ 23. Gleichheit als „Leitbegriff der Moderne“ sollte „einen Maßstab für das jedem einzelnen zustehende Recht auf Anerkennung als Person und gleicher Freiheit bieten“ 24. Obwohl die soziale Ungleichheit von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen dadurch nicht behoben wurde, bot der Satz von der Gleichheit aller Menschen doch eine Folie, vor der die ständische Ordnung kritisierbar und veränderbar erschien. Rechtspo-
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Ebd. Ute Gerhard, Einleitung, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, a.a.O., S. 11. 23 Ebd., S. 13. 24 Ebd. 22
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litisch traten allgemeine und subjektive Rechte an die Stelle vielfach abgestufter Berechtigungen und Herrschaftsräume.
Geschlechterdifferenzen in der ständischen Gesellschaft Auch wenn sich über die geschlechtliche Arbeitsteilung die Tätigkeitsbereiche von Mann und Frau schon in vorantiker Zeit mit der Gegenüberstellung von oikos und polis beschreiben lassen, gibt das Netz von Normen, Werten und Privilegien doch Anlass, die These von der generellen Unterordnung der Frau teilweise zu relativieren. Von der Frau im Allgemeinen war jedenfalls in den neuzeitlichen Rechten nicht die Rede, „vielmehr wurde sehr genau nach den verschiedenen Qualitäten von Mündigkeit, zeitgenössisch als ‚Stand’ bezeichnet, differenziert“. 25 Es wurde unterschieden zwischen der Rechtsposition der Tochter, der volljährigen unverheirateten Frau, der Ehefrau und der Witwe sowie nach der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Ständen. Außerdem gab es für bestimmte Lebensbereiche wie zum Beispiel die Erwerbstätigkeit Sonderregelungen, die Frauen partiell aus der cura sexus entließen und der rechtlichen Position der Männer anglichen. In der ständischen Gesellschaft „mit ihrem komplexen Geflecht von Privilegien und Ordnungssystemen“ war also „der unterschiedliche Status der Geschlechter vielfach durch andere soziale bzw. rechtlich relevante Ungleichheiten überlagert“; je nach Stand gab es „ein breites Spektrum eigener, auch übertragbarer Rechte“, welche „die Teilhabe von Frauen bestimmter Stände und Positionen an Autorität und Herrschaft sicherten“. 26 Natürlich gab es die Ungleichbehandlung von Mann und Frau in den frühneuzeitlichen Ehegüter- und Erbrechten sowie die Unterordnung von Töchtern und Ehefrauen unter die väterliche bzw. eherechtliche Gewalt, also die Geschlechtsvormundschaft, die in ihrer Schärfe sogar eine Verschlechterung gegenüber den mittelalterlichen Verhältnissen darstellte. Dennoch ist diese nicht ausnahmslos als Unmündigkeit zu verstehen, denn je nach Stand und Position hatten Frauen doch auch Zugang zu Autorität und Herrschaftsfunktionen. Der Haushalt als gesellschaftliches Ordnungssystem war für die Ehefrau nicht nur ein Ort der vertragsmäßig vereinbarten Unterwerfung unter den Willen des Ehemanns, sondern auch ein Ort eigener Handlungsbefugnisse bis hin zur Stellvertretung des Mannes bei dessen Abwesenheit. Je nach Stand und Größe des Haushalts waren damit verbundene Herrschaftsfunktionen ausgesprochen weitreichend und konnten einen ganzen Hofstaat oder Landeshaushalt betreffen. Adelige Frauen hatten indes nicht nur durch eheliche Teilhabe, sondern auch durch Stellvertretung und Vormundschaft über unmündige Kinder Zugang zu Herrschaftspositionen bis hin zu Regentschaften. 25
Heide Wunder, Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, a.a.O., S. 27–54, hier S. 30. 26 Ebd.
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Jedoch sollte die Regulierung standesbedingter Privilegien im Rechtsdiskurs und eine Vorteilsnahme durch Angehörige des weiblichen Geschlechts, die vielfach tatsächlich als ‚Ausnahmefrauen’ ihren Status reklamierten, nicht darüber hinweg täuschen, dass in anderen wissenschaftlichen Diskursen, in Literatur, Kunst und Religion sowie der Alltagspraxis jahrhundertealte GeschlechterHegemonien tradiert wurden, die sehr genau, und zwar in ungeschriebenen, aber gleichwohl Realität stiftenden ‚Gesetzen’ darüber bestimmten, welche Rollen Frauen und Männer in der Gesellschaft einzunehmen hatten und welche nicht.
Die Etablierung der bürgerlichen Rechtsordnung – die Idee der Gleichheit Während die Kategorie „Geschlecht“ im Kontext der asymmetrischen Situationen von Mann und Frau in sozialkritisch orientierten Reflexionen der Sache nach bereits seit der Antike konstituiert war und schon vielfach Anlass zu reformatorischen Bemühungen gab, blieb der juristische Diskurs bis dato weitgehend unbeeindruckt von ihrer eminenten Bedeutung als einer sozialen Kategorie, die durchaus quer zu anderen gesellschaftlichen Bezeichnungsfunktionen liegt und gängige Raster sowohl repetiert als auch überschreitet. Dies änderte sich mit der Auflösung der ständischen Gesellschaft, „mit der Etablierung einer bürgerlichen Rechtsordnung, die Freiheit und Gleichheit und die Garantie des Eigentums versprach“; jetzt begann „die Kategorie ‚Geschlecht’ über alle anderen sozialen Ungleichheiten hinweg in Rechtstheorie und Rechtspraxis eine die Frauen als Gruppe bezeichnende und vereinheitlichende Rolle“ zu spielen. „Von hier an datiert also“, wie Ute Gerhard schreibt, „die Bedeutung und Betonung der Geschlechterdifferenz, die neben und an die Stelle des grundsätzlich anerkannten Prinzips der Rechtsgleichheit tritt.“ 27 Als die Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts die Frauenfrage „als Rechtsfrage stellten“, haben sie immer beides, „gleiche Rechte als Menschen sowie die Anerkennung oder Berücksichtigung der besonderen Situation von Frauen auch im Recht gefordert“. 28 Der politische bzw. juristische Schauplatz spiegelt eine grundlegende Problematik der feministischen Theorie, die bis heute diskutiert wird: Frauen hatten (und haben) einerseits die hegemoniale Geschlechterhierarchisierung, -differenz und -asymmetrie zu dekonstruieren und hatten (und haben) andererseits gerade auf der Grundlage der Differenz ihrer Körperlichkeit sowie damit verbundener biographischer Situationen Rechte für sich selbst als Frauen zu erkämpfen. Der Feminismus stand und steht mithin vor der Herausforderung, mit der in seiner inneren Struktur angelegten Ambivalenz konstruktiv umzugehen und „notgedrungen eine Theorie der Leib-
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Gerhard, Einleitung, a.a.O., S. 13. Ebd.
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lichkeit, sei diese implizit oder explizit“, 29 mitzuführen. Sie hat sich z.B. als Leibesverachtung (Simone de Beauvoir) oder Leibesverehrung (Luce Irigaray) artikuliert und in neueren Diskursen durch die Politisierung des Leibes (Judith Butler) erhebliche Sinnverschiebungen bezüglich der Kategorien sex und gender herbeigeführt, die über Jahrzehnte mit der Differenz zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht eine der wesentlichen theoretischen Grundlagen für die Forderungen nach Veränderung der sozio-kulturell generierten Geschlechterrollen geliefert hatten. Gleiche Rechte als Menschen und zugleich Anerkennung von Differenz zu fordern, ist nur scheinbar ein Paradox, wie Gerhard richtig konstatiert, denn „der Gegenbegriff zu Gleichheit ist nicht Differenz, sondern Ungleichheit, während Differenz den Gegenpol zu Identität bildet“. Die Auffassung „dass Geschlechterdifferenz notwendig Ungleichheit bedeute“, ist ein „altes, nachgerade systematisches Missverständnis“ 30, das sich schon in der antiken Philosophie und bei prominenten Vertretern aller Epochen der Kulturgeschichte, ja selbst in aktuellen Debatten nachweisen lässt. Gleichheit als Rechtsforderung geht „von der Verschiedenheit der Menschen aus, setzt gerade nicht Identität voraus, sie ist daher die Gleichheit von an sich Verschiedenen“. Strittig ist nur, „in welcher Hinsicht die an sich ungleichen Menschen als gleiche zu behandeln sind und welches Bild vom Menschen oder welche wesentliche Bedingung menschlicher Existenz als tertium comparationis und damit als Maßstab dienen soll“. 31 Mit der von Gerhard so bezeichneten „‚anthropologischen Wende‘ von einem vorgegebenen, zunächst aus der göttlichen Ordnung legitimierten Recht zu einem veränderbaren, von und für den Menschen gemachten Recht war der Maßstab der Mensch, der, wie die Rechtsgeschichte und Rechtstheorie zeigt, selbstverständlich als männlicher gedacht wurde“. 32 Dass Frauen – und immer auch einige Männer – die Absurdität dieses Maßstabes kritisierten und entschieden Korrekturen anmahnten, mithin „die Menschenrechte auch für Frauen“ und „die Veränderung des geltenden Rechts bzw. ein anderes Recht mit mehr Gerechtigkeit“ 33 forderten, ist als Resultat des bereits Jahrhunderte andauernden Prozesses der Entfaltung eines feministischen Bewusstseins zu bewerten, das in diesem entscheidenden historischen Moment die Gleichheit als Leitnorm für die Ansprüche auf Veränderung der sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern reklamierte. Über die juristischen Detailanalysen von Gerhard hinaus, ist es aus meiner Sicht unabdingbar, den Zusammenhang zwischen den vorangegangenen endlo29
Regula Guiliani, Der übergangene Leib: Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith Butler, in: Phänomenologische Forschungen, NF, 2, I, 1997, S. 104–125. 30 Gerhard, Einleitung, a.a.O., S. 14. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd.
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sen Kämpfen im Bereich sowohl der ‚geschriebenen‘, als auch der ‚ungeschriebenen‘, aber gleichfalls disziplinierenden ‚Geschlechter-Gesetzgebung‘ und der Deklaration sowie Etablierung der juristischen Gleichheit der Geschlechter herzustellen. Die Frauenrechtsbewegung ist nur aus jenem Frauenemanzipationsstreben heraus zu verstehen, das – wie eingangs erwähnt – sogar dann noch von Bedeutung ist, wenn Gleichberechtigung de jure bereits besteht, aber in der Lebenswelt noch nicht oder kaum umgesetzt wird, weil die Macht der Einschreibung von traditionell hegemonialen Geschlechter-Stereotypen zahlreiche Habitus (Bourdieu)34 bzw. Dispositionen (Schmitz)35 konstituiert, deren Wandlung nur träge voranschreitet. Mit den anderen sozialen Bewegungen waren die Frauenbewegungen Initiatoren des sozialen Wandels auch im Bereich des Rechts und hatten einen entscheidenden Anteil „an der Veränderung unserer Vorstellungen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit“, und zwar, „indem sie über die formale ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘ hinaus substanzielle Gleichheit und damit gerechtere Verteilung der materiellen und kulturellen Güter wie die Beteiligung an politischer Souveränität, an demokratischen Entscheidungsprozessen gefordert haben“. 36 Ihre Erfahrungen von Unrecht, Unterdrückung, Misogynie haben Frauen dazu geführt, „ihre Anliegen zu einem Politikum“ zu machen und „um die Anerkennung der für sie wesentlichen Aspekte der Gleichheit und Freiheit“ 37 zu ringen. Das geschah auf vielen verschiedenen Ebenen, die sich unter drei Topoi subsumieren lassen: der Kampf um Menschen- und Bürgerrechte, insbesondere dann um das Wahlrecht und weitere politische Teilhaberechte, der Kampf um Zugangsberechtigungen und Gleichbehandlung in Bildung und Beruf und – besonders zäh und langwierig – der Kampf um die Reform des Ehe- und Familienrechts. Die Geschichte der Rechtskämpfe zeigt, wie Gerhard schreibt: „Gleichheit als Maßstab für Recht ist ein interpretationsbedürftiger und zugleich dynamischer Begriff, dessen Inhalt sich erst aus den historischen Auseinandersetzungen und politischen Kräfteverhältnissen ergibt. Nur durch die organisierte Einmischung von Frauen in den Prozess der Rechtsfindung war und ist für sie mehr Gleichheit im Recht durchsetzbar, wie andererseits die Verwirklichung der Gleichberechtigung im Einzelfall Selbst- und Mitbestimmung in politischer und privater Hinsicht voraussetzt. Nicht zuletzt wegen ihrer Unabgeschlossenheit ist die wechselvolle Geschichte der Gleichberechtigung von Frauen unerhört aktuell.“ 38 Sie reicht in ihren Wurzeln, dem feministischen Bewusstsein und dem damit verbundenen weitreichenden Emanzipationsstreben, aber tatsächlich sehr weit 34
Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main, 1993, S. 98f. 35 Vgl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn, 21995, S. 127. 36 Gerhard, Einleitung, a.a.O., S. 14. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 15.
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zurück. Wichtige Prozesse feministischer Erkenntnis wurden durch die historische Erfahrung von Frauen eingeleitet, die von der Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis der Frauen als Kultur schaffende Menschen und ihrer notorischen Ausblendung aus den Kultur repräsentierenden Systemen geprägt war. Lerner spricht von einer Dialektik der Frauengeschichte und vertritt die Auffassung, dass der „Widerspruch zwischen der zentralen Bedeutung und aktiven Rolle der Frauen bei der Herausbildung von Gesellschaft einerseits und ihrer Marginalisierung in dem bedeutungsverleihenden Prozess der Interpretation und Erklärung dieser Entwicklung andererseits“ „schließlich als eine dynamische Kraft“ wirkte, „die Frauen veranlasste, sich gegen ihre Lebensumstände aufzulehnen“. 39
Der lange Weg zur Solidarisierung Dass allerdings die paternalistische Dominanz strukturell vor allem innerhalb der Familie zum Ausdruck kam, machte den Frauen „das Entwickeln von weiblicher Solidarität und Gruppenzusammenhalt extrem schwer“. 40 Ohne „kollektive Unterstützung“ und – wie Lerner betont – „ohne eine genaue Kenntnis der Frauengeschichte“ erleben Frauen „den uneingeschränkten und verheerenden Druck der kulturellen Prägung durch die sexistische Ideologie“, „wie sie in Religion, Recht und Mythen zum Ausdruck kommt“. 41 Die Art, „in der Frauen in patriarchale Institutionen eingefügt worden sind“, die lange „Geschichte ihrer Benachteiligung in Erziehung und Bildung“ und die ökonomische „Abhängigkeit von Männern“ haben Frauen viele Hindernisse bereitet, ehe der Prozess feministischer Bewusstwerdung möglich werden konnte.42 Die Geschichte des Kampfes der Frauen um Bürger- und Menschenrechte ist wahrlich keine Erfolgsgeschichte, vielmehr Ausdruck eines verheerenden Musters unermüdlicher Kämpfe, tief greifender Enttäuschung, notorischer Anfechtung und maßloser Verwerfung. Es gab Brüche, Rückfälle und Diskontinuitäten. Einige Aspekte dieses beschwerlichen Wegs möchte ich kurz herausarbeiten.
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Lerner, Patriarchat, a.a.O., S. 22. Ebd., S. 298. 41 Ebd. 42 Lerner, Feministisches Bewusstsein, a.a.O., S. 324. 40
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Kleine Historie des Kampfes der Frauen um Bürgerrechte Folgt man den Forschungen von Lerner zur Entstehung des Patriarchats, so war bereits im dritten Jahrtausend v. Chr. eine männlich-hierarchische Herrschaftsordnung etabliert, die mit einer Abwertung der Frauen und der mit Weiblichkeit identifizierten Lebenssphären verbunden war. Die Frauen waren aus ihrer ursprünglichen Funktion als Vermittlerinnen zum Göttlichen verdrängt worden. Die griechischen Philosophen legten dann die Rolle der Frau als ‚minderwertiger‘ Mann fest und im hebräischen Monotheismus wurde das männliche Prinzip des Göttlichen endgültig institutionalisiert. Damit waren die wesentlichen Voraussetzungen für Strukturen, Wahrnehmungsweisen und Begriffe des Androdespotismus43 der abendländischen Kultur geschaffen. Ein Bewusstsein der Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit in den Geschlechterverhältnissen hatten Frauen bereits in der Antike und zumindest von der Epikureerin Leontion (ca. 300–250 v. Chr.) wissen wir, dass gegen die Verunglimpfung und Diskriminierung von Frauen schon damals geschrieben wurde und Frauen als eine von Benachteiligung und Stigmatisierung betroffene Gruppe wahrgenommen wurden.44 In der Spätantike kam es dann zu einer beeindruckenden Wiederaneignung der religiösen Welt durch Frauen. Eine neu entstehende Klosterkultur eröffnete den Frauen Alternativen zum Eheleben und den Zugang zu Bildungsressourcen. Daraus resultierte eine erste ganz Europa ergreifende Aufbruchbewegung: Frauen gründeten eigene Klöster, zogen als Wanderpredigerinnen durch Europa oder wurden auf den großen Beginenhöfen ansässig, die sich sogar als autarke ökonomische Betriebe zu behaupten wussten. In diesen von Frauen dominierten Lebensformen setzten sich die Frauen über die von ihnen verinnerlichten Gefühle der Minderwertigkeit hinweg. Im religiösen Feld bewiesen sie sich selbst und einander, dass „sie vor Gott dem Manne als Geschöpf gleichgestellt sind, dass sie ohne Vermittlung und Zutun von Männern mit Gott kommunizieren und das Göttliche auf eine eigene Weise begreifen“ 45 konnten.
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Den Begriff „Androdespotismus“ verdanke ich einer Diskussion mit Hans-Peter Schütt (Karlsruhe), der vorschlug, den von Feministinnen aus dem römischen Recht übernommenen, aber für frühere und spätere Verhältnisse durchaus missverständlichen Begriff des „Patriarchats“ durch den Begriff „Androdespotismus“ zu ersetzen. Wenngleich Androdespotismus nicht alle Bedeutungen von Patriarchat abdeckt und z.B. nicht die Konnotationen von Unterdrückung einerseits und Unterordnung im Rahmen eines Einverständnisses aufgrund eines Tauschvertrags andererseits enthält, bezeichnet er doch einen klaren Sachverhalt der Hegemonie des männlichen Geschlechts und wird in genau dieser Weise hier verwendet. 44 Es ist durch mehrere Quellen (Cicero und Plinius) belegt, dass Leontion eine – nicht mehr erhaltene – Streitschrift gegen Theophrast verfasste, wo sie gegen seine Verunglimpfung der Ehefrauen aufbegehrte. 45 Lerner, Feministisches Bewusstsein, a.a.O., S. 324.
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Von der Geschichtsschreibung sträflich vernachlässigt, ist diese Frauenbewegung doch so bedeutsam, dass eine eigene Epochenbezeichnung angemessen erscheint. Ich habe dafür den Begriff Matristik eingeführt.46 Anders als die Patristik erstreckt sich die Matristik von der Spätantike bis zum Spätmittelalter und betrifft einen wichtigen Prozess der Herausbildung feministischen Bewusstseins. Es gab eine Fülle christlich inspirierter Frauen, meist Mystikerinnen, die sich in bemerkenswerten Schriften immer wieder selbst zur Mündigkeit und Mitsprache autorisierten und den Gedanken der Gleichheit aufwarfen, wenn auch häufig im Gewand von Visionen und Eingebungen. So wissen wir z.B., dass Makrina die Jüngere (ca. 327–380), Schwester des Bischofs Gregor von Nyssa (335–394), bereits in der Spätantike eine der frühesten autonomen Frauengemeinschaften gründete. Wir kennen Roswitha von Gandersheim (ca. 932– 1000), die letzte berühmte Mystikerin des frühen Mittelalters und zugleich erste uns bekannte deutsche Intellektuelle, Hildegard von Bingen (1098–1179), die Begründerin der deutschen Mystik, die sich der männlichen Bevormundung entzog, unabhängige Klostergründungen legitimierte und ein monumentales theoretisches sowie künstlerisches Werk hinterließ, und in ganz Europa gab es vergleichbare weibliche Persönlichkeiten: die Niederländerin Beatrijs von Nazareth (ca. 1200–1268), Hadewijch von Antwerpen (1. Hälfte 13. Jh.), Marguerite Porète (ca. 1255–1310), Birgitta von Schweden (1302–1373) oder Juliana von Norwich (ca. 1342–1413 od. 1420) – um nur ein paar zu benennen. Im Spätmittelalter protestierte dann Christine de Pizan (1365–1430), die erste europäische Berufsschriftstellerin, in ihren Büchern Livre de la Cité des Dames (1405) und Livre du Trésor de la Cité des Dames oder Livre des Trois Vertus (1405) offen gegen das negative Frauenbild ihrer Zeit und rief die Frauen dazu auf, sich der Zuschreibung von Minderwertigkeit zu widersetzen und die Vernunft einzusetzen, um die Argumente der Gegner zu widerlegen. Es gehört zu den Diskontinuitäten in der Geschichte des feministischen Bewusstseins, dass die durch die Matristik angestifteten gynozentrischen Lebensformen, dass die feministische Bibelkritik, dass Christine de Pizans und andere Vorstöße zur selbst bestimmten Frauenkultur keine langfristigen Traditionen schaffen konnten. In die Entwicklung vom Mittelalter zu Renaissance und Neuzeit fällt vielmehr die Wiederkehr eines eklatanten Sexismus, in dem sich antike Misogynien mit dem christlichen Frauenhass mischten. Die Ehegesetze wurden verschärft, Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für Frauen beschränkt, Klöster geschlossen. Mit der Hexenverfolgung nahm das Zeitalter der Matristik ein grausames Ende und es dauerte Generationen, ehe sich feministisches Bewusstsein erneut entfalten konnte. Die wichtigsten Initiativen bezogen sich nun darauf, den männlich dominierten Bildungsraum zu erobern, ein Kriegspfad, der sich über Jahrhunderte er46
Ute Gahlings, Europäischer Feminismus, in: Positionen 1970 2008. Vom feministischen Aufbruch zur Normalität? Katalog, Berenike Bouwkamp, Darmstadt 2008, S. 63-74.
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streckte, denn erst im 20. Jahrhundert erhielten Frauen Zutritt zu den altehrwürdigen Universitäten Europas. In den kulturellen Zentren kam zwar ein Frauentypus auf, der durch familiäre Bildungsförderung einen hohen Rang einnehmen konnte, insbesondere durch literarische und künstlerische Karrieren, mit der Eheschließung mussten solche Ambitionen jedoch wieder aufgegeben werden. Das neuzeitliche Denken implizierte zwar in der Theorie die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, in der Praxis betraf dieses aber einen Menschen, der weder adelig noch bäuerlich und schon gar keine Frau sein durfte. Marie le Jars de Gournay (1565–1645), eine intellektuelle Adoptivtochter Montaignes, ging dieser ungleichen Gleichheit nach. Ihre Schriften Egalité des Hommes et des Femmes (1622) und Grief des Dames (1626) gelten als frühe Form der von Frauen angestrebten Aufklärung, die lange vor der Aufklärung der männlichen Elite bestand und gegen Zwangsehen, Entrechtung und paternalistisches Denken kämpfte. Initiativen im Bildungswesen entwickelten dann vor allem englische Denkerinnen des 17. und 18. Jahrhunderts. Mary Astells (1666–1731) Buch A Serious Proposal to the Ladies, for the Advancement of their true and greatest Interest (1694) gilt als Meilenstein feministischer Bildungstheorie. Die berühmte Historikerin Catherine Sawbridge Macauley (1731–1791) vertrat in ihren Letters on Education (1790) sogar den revolutionären Gedanken der Koedukation – eine Antwort auf den im 17. Jahrhundert entbrannten Gelehrtenstreit über die Frauenbildung, in dem Poullain de la Barre (1647–1725) mit seinem Traktat De l’Égalité des deux sexes, discours physique et moral où l’on voit l’importance de se défaire des préjugés (1673) Partei für die Frauen ergriff. Dass Frauen sich nicht mehr aus den kulturellen Diskursen ausschließen ließen, belegt das Aufkommen der Salonkultur als einer besonderen Domäne der gelehrten und literarisch ambitionierten Frauen. Im 16., verstärkt dann im 17. und 18. Jahrhundert schufen Frauen der städtischen Oberschicht einflussreiche Zentren, initiierten erneut Freiräume für ihre persönliche Entfaltung und Mitsprache. Ähnlich wie in der Matristik die Mystikerinnen standen nun die Salonièren an der Spitze eines kulturellen Universums mit kosmopolitischen Verflechtungen in ganz Europa.47 Doch auch wenn das kulturelle Leben der Neuzeit durch die Salons geprägt war und es Frauen gab, die sich durch Literatur, Kunst und Wissenschaft autorisierten, waren solche Existenzen stets an Ausnahmebedingungen geknüpft. Es gab kaum Aussicht auf Änderung, denn gerade auf dem Boden der neu etablierten Humanwissenschaften wurden die Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit immer rigider gefasst. Die theologische Argumentation für die Unterordnung der Frau wurde um wissenschaftliche Erkenntnisse, z.B. über die weibliche Sexualität, ergänzt. Forderungen nach Entlassung der Frauen aus der häusli-
47
Vgl. Verena von der Heyden-Rynsch, Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur, Reinbek 1995.
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chen Vormundschaft, wie sie der Jurist Theodor von Hippel (1741–1796) in seinem Traktat Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) und in dem Buch Über die Ehe (1774 ff.) formulierte, waren ohne Auswirkung.48 Mit der französischen Revolution veränderte sich allerdings die Lage der Frau schlagartig, wenn auch nur vorübergehend. Eine ganze Zivilisation wurde bis in ihre häuslichen Fundamente erschüttert; nicht nur die ständische, auch die Geschlechterordnung geriet aus den Fugen. Die an sich uralte Frauenfrage entwickelte eine neue Dynamik, weil sie erstmals auch die Rolle der Frau im staatlichen Gemeinwesen betraf. Weder die europäische Aufklärung noch die Amerikanische Revolution waren ein Anlass gewesen, die Frauenfrage „in dieser Weise zu politisieren und damit offenzulegen, dass es um mehr als nur eine Frage der Sitten geht“ 49. Freilich gab es die beiden Seiten der Revolution, „die Kühnheit der Entwürfe“ ebenso wie „das historische Zurückweichung vor deren Realisierung“: „Die Revolution hat eine Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen im politischen Gemeinwesen verweigert, so als sei sie im nachhinein darüber erschrocken, diesen Punkt überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. Aber dass es die Revolution selbst war, die dieses Thema überhaupt erst auf die Tagesordnung gesetzt hat, sollte darüber nicht in Vergessenheit geraten.“ 50 In den wenigen Jahren des revolutionären Kampfes konnten tatsächlich zunächst enorme Veränderungen, ja geradezu radikal neue Verhältnisse erreicht werden: „Die Déclaration von 1789 gestand jedem Individuum das unantastbare Recht auf ‚Freiheit, Eigentum, Widerstand gegen Unterdrückung’ zu. Folglich konnte nun jede Frau, ebenso wie jeder Mann, ihre Meinung frei äußern und ihre Entscheidungen frei treffen; die Unversehrtheit ihrer Person und ihrer Habe wurde garantiert. Töchter durften bei der Erbteilung nicht länger benachteiligt werden. … Die Verfassung vom September 1791 legte in identischer Form für Frauen und Männer die bürgerliche Volljährigkeit fest. Darüber hinaus wurde Frauen die erforderliche Vernunft und Unabhängigkeit zuerkannt, um standesamtliche Handlungen zu bezeugen und aus freien Stücken vertragliche Pflichten zu übernehmen (1792). Sie hatten Anrecht auf die Zuteilung gemeinschaftlichen Besitzes (1793). Im ersten Entwurf des Code civil … erfreuten sich Mütter derselben Privilegien wie Väter bei der Ausübung der elterlichen Autorität.“ 51
48
Zur Entwicklung der feministischen Bewegung im europäischen Kontext ab dem 18. Jahrhundert s. Karen Offen, European Feminisms 1700 – 1950. A Political History, Stanford 2000. 49 Elisabeth G. Sledziewski, Die Französische Revolution als Wendepunkt, in: Geschichte der Frauen, hg. v. Georges Duby u. Michelle Perrot, Bd. 4: 19. Jahrhundert, S. 45–62, hier S. 46. 50 Ebd. 51 Ebd. S. 48f.
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Insbesondere die Gesetze vom September 1792 über den bürgerlichen Status und die Scheidung „führten die Gleichheit beider Ehepartner ein und schufen zwischen ihnen eine strikte Symmetrie, sowohl vor dem Gesetz als auch im Wortlaut der Verfahren“ 52. Kurzum: Die Französinnen, die vor allem zwischen 1789 und 1795 das revolutionäre Geschehen entscheidend beeinflussten, erlangten zum ersten Mal den vollen Status einer Rechtsperson, „d.h. sie wurden als freie und vernünftige Individuen angesehen, die imstande waren, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen“ 53. Das bedeutete aber nicht, dass sie mit den bürgerlichen Freiheiten auch bereits staatsbürgerliche, d.h. politische Rechte mit erworben hatten. Dass sich viele Frauen aber so verhielten, als ob das der Fall wäre, z.B. in öffentlichen Versammlungen lautstark und spektakulär ihre Stimme erhoben, führte noch während der Revolution zu heftigen Abwehrreaktionen und zur Wiederbelebung des sexistischen Status quo. Die Revolutionärinnen konnten sich zwar den Männern kameradschaftlich annähern, doch obwohl sie sogar in eigenen Amazonenheeren kämpften, wurde ihnen keine Gleichstellung eingeräumt. Olympe de Gouges (1748–1793), die erkannte, dass die Revolution und die Menschenrechte nur Männern galten, verfasste 1791 die Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne. 1793 wurde sie hingerichtet. 1795 wurde Frauen die Teilnahme an politischen Versammlungen verboten. Dass sich im Zuge der revolutionären Veränderungen das feministische Bewusstsein nicht mehr nur auf Bildungs- und Berufschancen bezog, sondern zunehmend die zivilrechtliche Gleichstellung der Frauen forderte, ist auch bei Mary Wollstonecraft (1759–1797) belegt, die 1786 ihr erstes Buch Thoughts on the Education of Daughters veröffentlichte, aber schon 1790 mit ihrer Vindication of the Rights of Men die französische Revolution verteidigte und 1792 ihre Vindication of the Rights of Women publizierte. Während Wollstonecraft und viele andere Frauen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa Harriet Taylor Mill (1807–1858), mit der Feder kämpften, bestätigte sich für jene Frauen, die in den politischen Widerstand gegangen waren, eine niederschmetternde Einsicht. Zwar wurden sie als ‚Kämpferinnen auf den Barrikaden‘ ebenso wie die männlichen Revolutionäre verfolgt, ihre eigenen Eingaben stießen jedoch auf Gleichgültigkeit oder gar Widerstand. Die Enttäuschung über die schier unüberwindlichen Hindernisse beim Kampf um Minimalforderungen führte dann zu jenem Feminismus, den wir als politische Bewegung kennen. Es kam nun zu einer umfassenden Solidarisierung der Frauen und zur Herausbildung eigener sozialer Praxen der Selbst- und Weltbemächtigung. In Keimzellen, die sich bald zu Netzwerken zusammenschlossen, entstand ein Band der Schwesternschaft, das feministische Wir.
52 53
Ebd. Ebd., S. 50.
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Interkulturell differieren die aus dem feministischen Wir resultierenden Bündnisstrategien sowohl zeitlich als auch inhaltlich erheblich, z.B. in Amerika und Europa, doch auch aufgrund intrakultureller Unterschiede entwickelte sich die Frauenbewegung keineswegs einheitlich, sondern gespalten in mehrere radikale und bürgerliche Lager. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es solidarisch zusammengeschlossene Arbeiterinnen, die sich für die Rechte erwerbstätiger Frauen, z.B. den Mutterschutz, einsetzten. Die französische Frühsozialistin Flora Tristan (1803–1844) forderte die gesetzliche Gleichheit von Mann und Frau. Zentrale Figur der sozialistischen Frauenbewegung war später Clara Zetkin (1857–1933). Die bürgerliche Frauenbewegung wertete traditionelle ‚weibliche‘ Qualitäten auf und trat für eine bessere Frauenbildung ein, so z.B. Helene Lange (1848–1930). Die Frauenbewegungen kamen auf politischer Ebene nicht zusammen, waren aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr aus dem kulturellen Leben wegzudenken, als in ganz Europa Frauenvereine und eigene Publikationsorgane entstanden – eine Entwicklung, der nicht nur mit Spott und Argwohn, sondern auch mit Sanktionen begegnet wurde: „Wie ernst die Staatsgewalten im Deutschen Bund die politische Einmischung der Frauen durch Presse und Vereine genommen hatten, wird daran deutlich, dass Repression und reaktionäre Gesetze nach dem Scheitern der 1848er Revolution noch stärker gegen die politischen Aktivitäten von Frauen gerichtet waren als gegen die der Arbeitervereine.“ 54 Die Pressefreiheit wurde für Frauen neu geregelt: Ein in Sachsen 1851 verabschiedetes Pressegesetz, das Frauen aus Führungspositionen verbannte, zielte direkt auf Louise Otto (1819–1895), die ‚Mutter‘ der deutschen Frauenbewegung und Herausgeberin der „Frauen-Zeitung“. Die Repression durch die Vereinsgesetze nach 1850, insbesondere durch den Paragraphen acht, der „Frauenspersonen“ die Mitgliedschaft in Vereinen mit politischer Zielsetzung verbot, traf die gerade durch das Vereinswesen solidarisch verbundene Frauenbewegung besonders hart. Die Bemühungen mussten unter Topoi wie Bildung, Soziales oder Frauenerwerbstätigkeit getarnt werden. Erst im Jahr 1908 wurde der Paragraph acht aufgehoben, der sogar festlegte, dass „Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge“ „den Versammlungen und Sitzungen solcher politischen Vereine nicht beiwohnen“ dürfen und „Grund zur Auflösung der Versammlung oder Sitzung vorhanden“ ist, wenn „dieselben auf Aufforderung des anwesenden Abgeordneten der Obrigkeit nicht entfernt“ werden (Preußisches Vereinsgesetz vom 11. März 1850). Den Frauen blieb als einziges öffentliches Recht das Petitionsrecht, von dem sie reichlich Gebrauch machten, um das Anliegen der Emanzipation weiterhin in der politischen Öffentlichkeit zu platzieren. In den Kernländern der feministischen Bewegung in Europa – England, Frankreich und Deutschland – rangierte das Wahlrecht an oberster Stelle der 54
Ute Gerhard, Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, a.a.O., S. 509–546, hier S. 524.
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Forderungen. Als „direkte Folge des wachsenden feministischen Bewusstseins“ und des teils „militanten Auftretens von Frauenorganisationen“, z.B. der englischen Suffragetten, konnten allmählich Erfolge erzielt werden.55 Nun, die Einführung des Frauenwahlrechts lässt sich gut beziffern: 1906 Finnland, 1913 Norwegen, 1915 Dänemark und Island, 1917 Russland, 1918 Deutschland, Irland, Rumänien und Ungarn, 1919 Niederlande, Österreich, Polen und Tschechoslowakei, 1921 Schweden, 1928 Großbritannien, 1931 Spanien; wenn man bedenkt, dass die Türkei 1934 und Indien 1935 das Frauenwahlrecht einführten, schrumpft allerdings die Erfolgsbilanz für den Rest Europas: Frankreich folgte 1944, Belgien 1948, Griechenland 1952, die Schweiz 1971 (in einigen Kantonen erst 1990), Portugal 1974 und Liechtenstein 1984. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als man peu à peu anfing, die Universitäten für Frauen zu öffnen, war auf allen Ebenen des feministischen Kampfes noch viel Unerreichtes zu beklagen und mit vielen Anfechtungen zu leben. Allerdings hatte das feministische Bewusstsein sich aus seiner Isolation herausgearbeitet, eine Solidargemeinschaft hervorgebracht und in den Frauenbewegungen zu einer Kontinuität gefunden. Während die Genealogie feministischen Ausdrucks durch Klassiker in Wissenschaft, Literatur und Kunst erweitert wurde, blieb im privaten Feld die cura maritalis ein wichtiges Instrument zur Entmündigung von Frauen. In der deutschen Politik setzten sich die vier Mütter des Grundgesetzes, Helene Wessel, Helene Weber, Friederike Nadig und insbesondere Elisabeth Selbert (1896–1986) gegen ungeheure Widerstände durch, um in Artikel drei die Gleichheit der Geschlechter festzuschreiben. Dieser allein brachte aber noch keine durchgreifende Veränderung. Erst nach und nach wurden einzelne Gesetze abgeschafft, die z.B. die Vormundschaft des Mannes über die Frau regelten. Dass es noch viel zu verändern gab, zeigte dann die in den westlichen Ländern aus der Studentenbewegung hervorgegangene zweite Welle der politischen Frauenbewegungen. Die weibliche Gegenkultur der 1970er Jahre hat das soziale Leben nachhaltig verändert. Feministinnen prägten die Friedensbewegung, waren an der ökologischen Wende beteiligt und befassten sich immer noch mit der Änderung von Gesetzen. Große Protestaktionen gab es zuletzt rund um den Paragraphen 218. Im Jahr 1997 wurde erstmals die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt, „eine weitere rechtspolitische Etappe in dem Bemühen, die Menschenwürde von Frauen zu behaupten“ 56. In der Arbeitswelt, z.B. hinsichtlich gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind immer noch erhebliche Anstrengungen notwendig, um die Gleichstellung der Geschlechter auch in der Rechtswirklichkeit durchzusetzen.57
55
Lerner, Feministisches Bewusstsein, a.a.O., S. 334. Limbach, Geleitwort, a.a.O., S. 9. 57 Zur neueren Entwicklung der Frauenbewegungen im europäischen Kontext s. Gisela Kaplan, Contemporary Western European Feminism, Sydney 1992. 56
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Das Streben der Frauen nach Emanzipation und Unabhängigkeit von männlicher Überfremdung hat also bis heute viele Schauplätze. Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter ist notwendig, aber keineswegs hinreichend für eine Humanisierung der Geschlechterverhältnisse. Bei allem, was im Kampf der Frauen um Bürgerrechte erreicht werden konnte, ist festzuhalten, dass weder in den sozialistischen noch in den kapitalistischen Ländern der misogyne Sexismus wirklich abgeschafft wurde. Eine kritische Kompetenz gegenüber den weltweit wirksamen Geschlechter-Ideologien ist unabdingbar, um das hier so mühsam Erreichte zu schützen und voranzutreiben. Eine zentrale These Lerners lautet: „Frauenemanzipation ist ohne genaue Kenntnis der Frauengeschichte nicht möglich.“ 58 Die Geschichte der Frauen ist heute überliefert und die Geschichte des Feminismus als Emanzipationsstreben und als Frauenrechtsbewegung ist wesentlicher Bestandteil der Kultur- und Ideengeschichte der Menschheit. In ihrem Verlauf ist es gelungen, eine moralische Qualität in den Geschlechterverhältnissen zu konstituieren. Sie sollte im kollektiven Gedächtnis eine entsprechende Wertschätzung erhalten und uns mahnen, nicht nachzulassen in den Bemühungen um eine globale Humanisierung der Geschlechterverhältnisse.
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Lerner, Patriarchat, a.a.O., S. 19.
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Ehefähigkeit und Ehemündigkeit Einleitung Wenn man einmal davon absieht, dass nach der gesetzlichen Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft deren Subsumption unter den Begriff Ehe noch aussteht, so könnte man meinen, dass es aktuell nicht nötig ist, über das rechtlich gefasste Verständnis von Ehe in Deutschland zu diskutieren. Wenn nicht - , ja wenn nicht durch den wachsenden Einfluss des Islam und den wachsenden Anteil muslimischer Bevölkerung eine praktische und theoretische Konfrontation mit einem ganz anderen Eheverständnis auf der Tagesordnung stünde. Ich weiß nun nicht, ob es sehr glücklich war, diese Konfrontation durch die Ausdrücke Ehefähigkeit und Ehemündigkeit zu signalisieren. Denn bei näherem Studium stellt sich heraus, dass beide Ausdrücke dem deutschen Familienrecht – heute dem BGB – angehören, wobei die Ehefähigkeit der inhaltlich umfassendere Begriff ist, insofern zur Ehemündigkeit, die allein schon mit der Volljährigkeit gegeben ist, noch die Geschäftsfähigkeit hinzutreten muss. Um was es dagegen in der Konfrontation mit dem Islam geht, ist die Tatsache, dass im Islam die Heiratsfähigkeit die wesentliche Voraussetzung für eine Ehe darstellt, wobei die Heiratsfähigkeit durch die Zeugungsfähigkeit beim Mann und die Gebärfähigkeit bei der Frau gegeben ist. Damit kann man den Unterschied zwischen Islamischem Recht und deutschem Recht zunächst auf die Formel bringen, dass das islamische Recht die Voraussetzung für die Ehe biologisch definiert, das deutsche Recht dagegen als soziale Kompetenz. Darin ist zugleich ein anderer Unterschied impliziert, nämlich dass das islamische Recht mit der Heiratsfähigkeit die Voraussetzung dafür bezeichnet, dass ein junger Mensch von den Eltern verheiratet werden kann, während das deutsche Recht mit der Ehemündigkeit den jungen Menschen das Recht zuspricht, sich zu verheiraten – und das heißt auch ggf. gegen den Willen der Eltern. Ich möchte nun zuerst das Eheverständnis im Islam erläutern, weil erst durch die Kontrastierung damit auch für den deutschen Staatsbürger das Besondere der deutschen Regelungen hervortritt – und schließlich verständlich wird, in welche Konflikte junge Menschen, aber mehr noch Familien, die dem Islam angehören, in dem Lebens- und Rechtsumfeld Deutschland geraten können.
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Farideh Akashe-Böhme
Das Eheverständnis des Islam Der Ehe wird im Islam eine außerordentlich hohe Bedeutung zuerkannt. Das sieht man an Sunnas wie den folgenden, wo Ehe und Religion im Leben eines Menschen als gleichwertige Pflichten bezeichnet werden. Ibn Abbas sagt: „Die Frömmigkeit eines Menschen ist erst dann vollkommen, wenn er verheiratet ist.“ 1 Der Prophet sagt: „Das Heiraten gehört zu meiner Sunna, und wer gegen meine Sunna ist, der ist gegen mich.“ 2 Unsere Formulierung suggeriert allerdings noch eine Parallelstellung von Religion und Ehe, die dann gegebenenfalls auch zu einer Konkurrenz führen könnte. Das ist jedoch nicht der Fall, vielmehr wird die Ehe selbst als religiöse Pflicht verstanden. „Die Vollendung der Gottseligkeit ist das Heiraten“, sagt Ibn Abbas.3 Das bedeutet umgekehrt, dass Ehelosigkeit in keinster Weise als religiöses Verdienst angesehen wird. Im Islam gibt es kein Zölibat, kein Mönchtum und Eremitenwesen. Dieser Unterschied zwischen dem Islam und dem Christentum wird auch an den beiden Gestalten, die diesen Religionen als Orientierung dienen, deutlich. Muhammed war verheiratet, Jesus nicht. Beim Christentum ist diese Orientierungsfunktion besonders deutlich, weil hier das wahre, das religiöse Leben als Nachfolge Jesu verstanden wird. Danach ist die Ehelosigkeit ein religiöses Verdienst und die Ehe wird eher als ein Zugeständnis an die Schwäche des Menschen verstanden. Das religiöse Leben im Islam versteht man zwar nicht als Nachfolge Mohammeds, doch der Prophet hat in vielen Äußerungen die Ehe als religiöses Gebot bezeichnet, so dass der Vollzug der Ehe zu einem gottwohlgefälligen Leben gehört. Menschen, die aus irgendwelchen Gründen nicht heiraten können oder wollen, stellen ein Problem dar, sie sind in jedem Fall nicht vollgültige Mitglieder der Gemeinschaft. Es gibt im Islam keine Institution, in der Unverheiratete ihr weltliches Versagen durch religiöse Hingabe wettmachen können. Die Hochschätzung der Ehe hängt nicht allein daran, dass sie ein göttliches Gebot ist, vielmehr wird sie auch durch ihre Nützlichkeit begründet. Dabei kann man nicht sagen, dass die ausführliche Darlegung ihrer Nützlichkeit einfach nur eine Rationalisierung des göttlichen Gebotes darstellt. Vielmehr ist die Ehe eine göttliche Einrichtung, die ein geordnetes, gesellschaftliches Miteinander überhaupt erst ermöglicht. Denn dieses wäre und ist durch die chaotische Tendenz von Sexualität, nämlich Fitna, ständig bedroht. Man sieht hier, dass der primäre Sinn der Ehe eine Kanalisierung der Sexualität ist. Durch die scharfe Trennung von zulässiger und unzulässiger Sexualität, die durch die Ehe definiert ist, wird ein Raum akzeptierter Sexualität geschaffen, der vor jeder Art ausschweifender Sexualität schützen soll. 1
Al-Ghazali, Abu Hamid, Von der Ehe. Das 12. Buch, übersetzt und erläutert von Hans Bauer, Halle 1917, S. 7 2 aaO. S.5 3 Al-Ghazali, aaO., S.24
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Buhari und Muslim überliefern eine Sunna, die das sehr deutlich zum Ausdruck bringt: „Der Prophet sagte: Ihr jungen Männer, wer von euch die Pflichten der Ehe erfüllen kann, der heirate. Das hilft besser, den Blick zu senken und die Keuschheit zu wahren. Wer es nicht kann, soll sich dem Fasten zuwenden, denn es ist für ihn die Überwindung der Begierde“ 4. Diese Sunna lässt auch erkennen, dass der Zustand der Nichtverheiratung kein Verdienst ist, sondern eine Notlage, in der der männliche Trieb, wenn er schon nicht befriedigt werden kann, nach Möglichkeit gedämpft werden sollte. Natürlich ist auch im Islam die Ehe eine Institution zur Reproduktion der Gattung – und Kinderlosigkeit ist sogar ein Scheidungsgrund – doch das kann man nicht als Hauptmotiv der Eheforderung ansehen. Das Hauptmotiv ist und bleibt der Schutz des Einzelnen vor ausschweifenden Tendenzen seiner Sexualität. Wie pragmatisch das gedacht ist, kommt in folgender Passage bei Al-Ghazali heraus: „Die Ehe ist also dadurch, dass sie die seitens der Sinnlichkeit drohende Gefahr beseitigt, ein wichtiges Moment für die Religion bei jedem, der nicht mittellos oder impotent ist, also bei den allermeisten Menschen. Denn wenn die Sinnlichkeit übermächtig und nicht durch eine starke Gottesfurcht in Schranken gehalten wird, so führt sie zu Ausschweifungen (...) Wird aber einer durch die Gottesfurcht im Zaume gehalten, so wird es sein Bestreben sein, seine Glieder vor dem Nachgeben gegenüber der Sinnlichkeit zu bewahren, indem er seine Augen hütet und seinen Körper in Zucht hält. Dagegen steht es nicht in seinem Willen, auch sein Inneres von bösen Einflüsterungen und Gedanken frei zu halten, sondern unaufhörlich zerrt an ihm die sinnliche Natur und stellt ihm geschlechtliche Dinge vor. Auch der Teufel lässt nicht ab, ihn in einem fort zu versuchen; selbst beim Gottesdienst stellt er ihm solches vor, so dass durch seine Seele geschlechtliche Dinge ziehen, wegen derer er sich vor dem gemeinsten Menschen schämen würde, wenn sie einem solchen kund getan würden.“ 5 – „Der Vorteil der Ehe besteht darin, dass sie eine Schutzwehr gegen den Teufel ist, die Begehrlichkeit dämpft, die Gefahren des sinnlichen Triebes beseitigt, die unlauteren Blicke und die körperliche Ausschweifung hintanhält.“ 6 Al-Ghazali geht aber auch dazu über, in rationaler Weise weitere Gründe für die Nützlichkeit der Ehe abzugewinnen: „Es sind ihrer fünf: (1) Erzielung von Nachkommenschaft, (2) Beruhigung der Sinnlichkeit, (3) Führung des Haushaltes durch die Frau, (4) Vermehrung der
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Al-Buhari, Muslim, in: Anhang der Koran-Ausgabe des Gütersloher Verlagshauses (übers. von A.Th. Khoury), 2. Aufl. 1991, S. 538 5 Al-Ghazali, a.a.O., S. 24 6 Al-Ghazali, a.a.O., S. 22
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verwandtschaftlichen Beziehungen und (5) die mit der Sorge um die Familie verbundene Selbstüberwindung.“ 7 Bei Al-Ghazali stehen die zwei ersten Punkte, also Erzielung von Nachkommenschaft und Dämpfung der Sinnlichkeit in einer gewissen Spannung. Denn einerseits sei der Geschlechtstrieb überhaupt zur Reproduktion der Gattung geschaffen worden, andererseits erfülle sich der Zweck des Geschlechtstriebes keineswegs in der Erzielung von Nachkommenschaft. Der höhere Zweck der Sexualität ist nämlich ein transzendenter: Die mit der Sexualität verbundene Sinnlichkeit soll ein Vorgeschmack des Paradieses sein, das Glück des Paradieses selbst wird als eine auf Dauer gestellte sexuelle Lust verheißen. Diese Auffassung ist mit Al-Ghazalis Meinung nicht ohne Weiteres konsistent, dass der Sexualtrieb zum Zwecke von Erzeugung von Nachkommenschaft geschaffen worden sei: „Ihr Zweck ist die Erhaltung der Gattung und dass das Menschengeschlecht nicht von der Welt verschwinde. Denn der Geschlechtstrieb ist nur geschaffen als wirkender Anreiz, welcher gewissermaßen die Aufgabe hat, beim männlichen Teil die Ausstreuung des Samens und beim weiblichen dessen Aufnahme ins Erdreich zu veranlassen.“ 8 Dieser Zweck wird nach Al-Ghazali also nur indirekt oder beiläufig erreicht. Es wäre, wie er sagt, der ewigen Macht auch möglich gewesen „die einzelnen Menschen auf einmal vorzubringen“. Die höhere Weisheit bestand seiner Auffassung nach offenbar darin, dass der Schöpfer mit dem Sexualtrieb noch einen weitergehenden Zwecken verband, nämlich dass sexuelle Lust „das Verlangen nach dauerndem Genuss derselben im Paradies wecken und so ein Ansporn für den Dienst Gottes bilden“ 9 soll. Die Eheschließung ist in der islamischen Kultur primär eine Angelegenheit der Familie, nicht der einzelnen Personen. Das ist gut im Einklang mit der Auffassung, dass die Ehe nicht ein Ausfluss oder ein Ergebnis einer erotischen Beziehung ist, sondern vielmehr die Schaffung eines Raumes, in dem legitime erotische Beziehungen überhaupt erst möglich werden. Die Ehe wird also geschlossen für die jugendlichen Mitglieder zweier Familien. Die Voraussetzung für deren Verheiratung ist nicht deren Bedürfnis oder eine schon existierende Liebesbeziehung, sondern vielmehr ihr Alter. Das Alter der Heiratsfähigkeit wird nun im Grunde biologisch verstanden. Ein Mädchen ist heiratsfähig vom Zeitpunkt der ersten Menstruation an, und ein Junge ist heiratsfähig mit dem Auftreten der Zeugungsfähigkeit. Diese Grundauffassung wird nun allerdings von kulturellen Bräuchen und gesellschaftlichen Bestimmungen überlagert. Danach gibt es heute in den meisten islamischen Ländern Festlegungen darüber, in welchem Alter, nach Jahreszahlen gerechnet, ein Mädchen und ein Junge als 7
AaO. S.12 Al-Ghazali, a.a.O., S.13 9 AaO. S. 23 8
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heiratsfähig gelten. Diese Zahlen variieren stark. So galt ursprünglich ein Mädchen mit 9 Jahren als heiratsfähig – vielleicht weil der Prophet seine Lieblingsfrau Aisha im Alter von 9 Jahren geheiratet hat. Al–Buhari überliefert ein Hadith darüber: „Der Prophet (S) heiratete Aisha als sechsjähriges Mädchen. Im Alter von neun Jahren wurde sie zu ihm gebracht. Und neun Jahre lang bis zu seinem Tod war sie seine Frau.“ 10 Das Arrangement einer Ehe wird also von den Eltern, aber auch anderen Verwandten der jungen Leute zustande gebracht. Dabei bedienen sie sich aber auch gelegentlich einer „Ehevermittlerin“. Deren Tätigkeit verlangt hohe sozialen Kompetenzen, weil sie nämlich nicht nur über die Qualitäten der zu verheiratenden Personen Bescheid wissen muss, sondern auch über den Status der Familien, ihre inneren Verhältnisse und äußeren Verbindungen und den Ruf des Mädchens. Die arrangierte Ehe kann also ganz ohne die Initiative der zu verheiratenden junge Leute auskommen. Das schafft nun erhebliche Probleme. Denn es wird erwartet, dass sie in der Ehe auch ein Paar bilden, das mit Liebe verbunden ist, wozu die bloße familiale Eignung nicht ausreicht. Es gibt deshalb die Bestimmung, dass die Brautleute sich zumindest vor der Ehe gesehen haben sollten und im Prinzip sollte auch ihre Zustimmung zu der von den Familien arrangierte Ehe vorliegen. Diese Forderung ist aber in Gefahr, zu einer bloß formalen Forderung zu verkommen, weil diese Praxis die Entwicklung und die Äußerung eines Eigenwillens der jungen Leute gar nicht zulässt. Das wird aufgrund der häuslichen Gebundenheit der jungen Frau besonders deutlich. Denn sie ist ja generell ihren Eltern gegenüber zu Gehorsam verpflichtet. Sollte sie zum Beispiel den von den Eltern ausgesuchten Partner nicht wollen, weil sie eine Neigung zu einem anderen jungen Mann hat, so ist die Existenz dieser Neigung völlig unstatthaft und die arrangierte Ehe ist um so notwendiger, um sie von dieser frevelhaften Neigung zu befreien. Es ist unter diesen Umständen höchst unwahrscheinlich, dass es zu einem Nein der jungen Frau gegenüber den Wünschen ihrer Eltern kommt. Schon ein vielleicht trotziges Schweigen wird als Zustimmung gewertet. Sahib Al–Buhari überliefert ein Hadith von Abu Huraira wie folgt: Der Prophet sagte: „Eine ältere Frau darf nur verheiratet werden, wenn dies mit ihr besprochen wurde. Und eine Jungfrau darf nur verheiratet werden, wenn sie der Heirat zustimmt.“ Jemand fragte ihn: „O Gesandter Gottes, wie äußert eine Jungfrau ihre Zustimmung?“ Er erwiderte: „Sie gibt dadurch ihr Jawort, dass sie schweigt.“ 11 Zu alledem kommt hinzu, dass aufgrund des sehr frühen Heiratsalters die jungen Mädchen noch gar nicht dazu gekommen sind, einen eigenen Willen zu 10
Sahib Al-Buhari, Nachrichten von den Taten und Aussprüchen des Propheten Mohammad. Übers. v. D. Ferchl, Stuttgart: Reclam 1991, S. 344 11 Sahib Al-Buhari, a.a.O., S. 344
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entwickeln, der ihrer Zustimmung zum Arrangement der Ehe ein Gewicht verleihen könnte, weil auch eine Ablehnung im Prinzip möglich wäre. Unter Bedingungen nun, in denen die Entwicklung eine eigenen Willens des jungen Mädchens oder der jungen Frau möglich ist, nimmt die Tradition der arrangierten Ehe den Charakter einer Zwangsehe an. Solche Bedingungen können im Kontakt mit westlichen Lebensformen bestehen, sei es nun konkret oder auch nur durch Filme und sonstige Medien. Sie können aber auch durchaus innerhalb der islamischen Lebensformen gegeben sein, zum Beispiel durch Bildung und Ausbildung der jungen Frau. Es können aber auch Gründe in der ganz individuellen Entwicklung des jungen Mädchens liegen, durch die sie überhaupt eigene Vorstellungen und Wünsche bezüglich einer möglichen Ehe entwickelt haben mag. Ich habe bis hierher quasi die orthodoxe islamische Lehre von der Ehe dargelegt. Sie ist Gesetz in Ländern, in denen die Sharia gilt, in anderen islamischen Staaten bildet sie den Hintergrund religiösen Brauchtums, das ggf. mit dem zivilen Recht in Konflikt geraten kann. Diese Konflikte haben einen ähnlichen Charakter wie die, mit denen muslimische Migranten in Deutschland zu tun haben. Ein Unterschied bleibt jedoch erhalten. In islamischen Ländern, die durch das zivile Gesetz ein Mindestalter für die Verheiratung von jungen Mädchen bestimmen, so wie z. B. Ägypten 16 Jahre, ist dieses Alter nicht als Alter der Ehemündigkeit, also als Zeitpunkt, in dem die junge Frau die Selbstbestimmung in Ehefragen erlangt, anzusehen, sondern als Alter, in dem sie von ihren Verwandten verheiratet werden darf. Ehe und Ehemündigkeit in Deutschland Damit wende ich mich den Verhältnissen in Deutschland zu. Nach deutschem Recht ist die wesentliche Voraussetzung für eine Eheschließung die Ehemündigkeit.(BGB § 1303) Die weitere Voraussetzung der Geschäftsfähigkeit (BGB § 1304) soll Personen von der Ehe ausschließen, denen - auf Grund etwa geistiger Behinderung - die Geschäftsfähigkeit abgesprochen wird. Im Übrigen ist jeder Mensch im Alter von sieben Jahren bereits geschäftsfähig, auch wenn er als Nicht-Volljähriger zur wirklichen Tätigkeit von Geschäften der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters bedarf. Die Ehemündigkeit ist nun automatisch zugleich mit der Volljährigkeit gegeben, also mit 18 Jahren. In diesem Alter unterstellt man, dass ein junger Mensch die sozialen Kompetenzen erworben hat, die nötig sind, um aus eigener Verantwortung eine Lebensgemeinschaft mit einem Partner des anderen Geschlechts zu gründen. Das Alter der Volljährigkeit ist in der BRD erst im Jahre 1975 von 21 auf 18 Jahre – wie in der DDR – herabgesetzt worden. Ob nun 21 oder 18 Jahre, in jedem Fall war die Heiratsfähigkeit im Sinne der Geschlechtsreife vorauszusetzen. Doch wenn man von hier aus den Vergleich mit dem islamischem Recht
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ins Auge fasst, dann fällt als erstes auf, dass die Ehe nach deutschem Recht überhaupt nicht mehr als eine Institution zur Regelung der Sexualität verstanden wird. Der Staat hat sich nach dem Ende des Kaiserreiches Schritt für Schritt aus seiner Rolle eines Tugendwächters zurückgezogen. Nach Streichung des §178 gegen Homosexualität und des Gesetzes gegen Ehebruch aus dem Strafgesetzbuch, wird heute die Ehe nach Artikel 6 der Grundgesetzes zwar als zu schützende Lebensgemeinschaft verstanden, nicht aber – wie im Bereich des Islam – als einzig legitime Form der Sexualität. Überhaupt sind Termini wie Beischlaf oder Sexualität nicht nur aus den Familiengesetzen sondern auch aus den Kommentaren verschwunden. Insbesondere gilt der Beischlaf nicht mehr als zu fordernder Vollzug der Ehe und als eheliche Pflicht. Zwar kennt die Rechtsprechung noch eheliche Pflichten12, doch diese werden mit Liebe, gemeinsame Wohnung, wechselseitiger Beistand und Solidarität umschrieben. Dagegen sind nach islamischem Recht unmöglicher oder versagter Beischlaf so wie Kinderlosigkeit Scheidungsgründe. Ich habe eingangs bei der Einführung in die deutschen Rechtsverhältnisse so leichthin gesagt, dass die Ehemündigkeit automatisch mit der Volljährigkeit gegeben sei. Dass aber an die Ehemündigkeit erhebliche Erwartungen an sozialer Kompetenz der Heiratswilligen geknüpft sind, zeigt sich, wenn man die Bestimmungen, oder besser das Procedere für den Fall der beabsichtigten Eheschließung eines oder einer Nicht-Volljährigen betrachtet. Das Gesetz sieht nämlich vor, dass die Eheschließung auch möglich ist, wenn einer der Partner nicht volljährig, jedoch mindestens 16 alt Jahre ist. Die damit verbundenen Probleme wurden seinerzeit als das Problem der Frühehe13 behandelt. Die Frühehe wurde vor der rechtlichen Gleichstellung von nichtehelichen Kindern und ihrer sozialen Anerkennung fast durchweg als Schritt zur Vermeidung uneheli-
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Schlüter, Wilfried, BGB-Familienrecht, Heidelberg: C.F. Müller 2005, S. 35 (Nr. 42) zählt 16 Pflichten auf, die nach der Rechtsprechung in BGB 1353 Eheliche Gemeinschaft enthalten seien – die Pflicht des sexuellen Umgangs kommt nicht vor: „Zu den weiteren sich aus §1353 ergebenden Pflichten gehören beispielsweise: Die gegenseitige Liebe und Achtung, die Rücksichtnahme auf den anderen, notfalls der Verzicht auf die eigenen Interessen, Beistand und Hilfe, vor allem bei Gefahr für Leib und Leben, die eheliche Treue, die Bereitschaft zu einvernehmlicher Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten, der Respektierung der Privatsphäre (z.B. des Briefgeheimnisses) und der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen des anderen, des Zusammenlebens in häuslicher Gemeinschaft, die Gestattung, Ehewohnung und Hausrat mitzubenutzen, die Sorge nicht nur für die gemeinsamen , sondern auch für die in den Haushalt aufgenommenen Kinder des anderen, die Unterrichtung des anderen Ehegatten über wesentliche Vermögensbewegungen, die Auskunft über Einkommens- und Vermögensverhältnisse bzw. Versorgungsanrechte, die Zustimmung zur gemeinsamen Einkommensteuerveranlagung, sofern dem Ehegatten hieraus keine steuerliche Nachteile entstehen.“ 13 Prof. Dr. Lothar Löffler, Dr. Wolfram Kowalewsky, Ehemündigkeit und Volljährigkeit. Problematik der vorzeitigen Volljährigkeits- und Ehemündigkeitserklärung aus der Sicht der Sozialarbeiter, Richter und Eheberater. Berlin: Hermann Luchterhand Verlag 1961
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cher Geburt von Kindern und der damit verbundenen Schande erlaubt. Das heißt: sie war eine Art moralischer Rettungsring. Da sie aber unter diesem Gesichtspunkt auch den Charakter einer Zwangsehe haben konnte, musste sehr genau eruiert werden, ob die nicht-volljährigen Ehepartner, in der Regel die junge Frau, auch die zu erwartende moralische und soziale Reife besaßen, die zur Führung einer Ehe vorauszusetzen sind. Obgleich die Gefahr der Zwangsehe nicht mehr besteht, hat sich bzgl. der Erwartung an Ehemündigkeit nichts geändert. Die Voraussetzungen, die im Begriff der Ehemündigkeit impliziert sind, werden erst deutlich, wenn der Familienrichter über den Antrag eines oder einer Minderjährigen auf Befreiung von der Ehemündigkeit14 als Voraussetzung zur Eheschließung entscheiden muss. Diese Entscheidung wird er in der Regel auf der Basis eines Gutachtens des Jugendamtes und ggf. auch eines Psychologen treffen. Hierbei kommt nun die ganze Breite der Erwartungen zum Tragen, die nach Brauch und durchschnittlichem Eheverständnis an die Ehemündigkeit geknüpft werden. Ich zitiere als Beispiel aus Wilfried Schlüters Kommentar zum BGB-Familienrecht aus dem Jahre 2005. Die Befreiung von der Forderung von der Ehemündigkeit sei auszusprechen: „wenn die Heirat im wohlverstandenen Interesse der minderjährigen Franziska (der fiktiven Antragstellerin, F.A.-B.) liegt. Hierbei hat dass Gericht zu prüfen, ob die Antragstellerin über die für eine Ehe erforderliche charakterliche und geistige Reife verfügt und die damit verbundenen Pflichten erfüllen kann, ob zwischen den Partnern eine hinreichende persönliche Bindung besteht, ob die für eine eheliche Lebensgemeinschaft unerlässlichen wirtschaftlichen Grundlage vorhanden ist und die Erziehung eines etwa zu erwartenden Kindes gewährleistet erscheint.“ 15 Man fragt sich, wodurch sichergestellt ist, dass junge Menschen, die 18 Jahre alt – und damit volljährig und damit ehemündig sind, diese Voraussetzungen erfüllen. Umgekehrt ist aus diesen Voraussetzungen zur Erteilung der Eheerlaubnis an einen Minderjährigen oder eine Minderjährige zu schließen, was der Gesetzgeber an geleisteter Erziehungsarbeit und Selbstkultivierung von einem jungen Menschen erwartet, wenn er ihn mit 18 Jahren für volljährig und damit für ehemündig erklärt. Was als formal-rechtliche Festsetzung einer Mündigkeit durch ein Volljährigkeitsalter erscheinen mag, ist im Grunde noch immer die Erwartung an eine persönliche und soziale Reife. Es wird erwartet, dass die Volljährigen charakterlich gefestigt und zu bleibenden persönlichen Bindungen 14
Bis zur Neuordnung des Familienrechtes hieß es: Antrag auf Mündigkeitserklärung. Die jetzige Rechtslage hat diesen Schönheitsfehler beseitigt, denn der antragstellende Eheaspirant wurde wegen der engen Bindung der Ehemündigkeit an die Volljährigkeit damals im vollen Sinne als mündig erklärt. Heute freilich bleibt der Makel, dass nun bei einer Frühehe, der eine Partner nach wie vor unmündig, nämlich minderjährig ist. 15 Schlüter, Wilfried, BGB-Familienrecht, 11. Aufl., Heidelberg: C.F. Müller 2005, S. 13 (Nr. 13).
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fähig sind, dass sie einen Ort im sozialen Gefüge gefunden haben, dass sie zu Verantwortung, Selbstlosigkeit und Fürsorge fähig sind. Es ist schon früh festgestellt worden, dass die Erwartungen an Ehemündigkeit umfassender sind als die an Strafmündigkeit.16 Es wäre hinzuzufügen, dass sie auch die an politische Mündigkeit übertreffen. Schluss Zum Schluss will ich noch andeutungsweise auf die Probleme zu sprechen kommen, mit denen Muslime sich konfrontiert fühlen, wenn sie in Deutschland eine bürgerliche Ehe schließen. Für ausländische Mitbürger verlangt das BGB eine Ehefähigkeitserklärung von den Behörden ihres Herkunftslandes. (BGB § 1305) Darin werden dann die jeweiligen Vorstellungen von Ehevoraussetzungen dieses Landes impliziert sein. Der Betroffene wird davon kaum berührt sein, weil er ja praktisch nur eine Legitimation im Sinne des BGB für das erwirken will, was nach den Vorstellungen seines Heimatlandes eine Ehe ist. Probleme wird es nur dann geben, wenn ein Partner nach deutschem Recht nicht ehemündig ist. Schwerwiegender sind die Probleme für deutsche muslimische Bürger, die in der Regel der 2., 3., oder gar 4. Generation einer Migrantenfamilie entstammen. Für das Hintergrundsverständnis ihrer Familien, gestützt durch die Lehren des Islam ist die Ehe eine Institution der Sexualmoral, in die junge Menschen zu ihrem Heil durch ihre Familien eingesetzt werden. Das deutsche Konzept der Ehemündigkeit, das eine Version des Selbstbestimmungsrechtes darstellt, durchkreuzt die traditionelle Kontinuität der Familienbeziehungen durch Verheiratung. Und vor allem: durch die Entsexualisierung der Institution der Ehe, setzt es die Sexualität quasi frei. Es gibt damit keine Vorstellung von legitimer Sexualität mehr. Was in der Tradition der Aufklärung als ein Fortschritt verstanden werden kann, ist so gesehen einen Zeichen moralischen Verfalls.
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Loeffler, Kowalewsky aaO. S. 44.
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Idee und Wirklichkeit der Selbstbestimmung im modernen Staat. Von der Rückkehr des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit I. Eine unerhörte Begebenheit Oft sind es kleine Ereignisse, hinter denen sich Ahnungen von einer größeren Veränderung verbergen. Ein solches könnte sich kürzlich in der Degerlocher Filiale der Stuttgarter Volksbank zugetragen haben; die Zeitungen berichteten davon auf ihren hinteren Seiten1. Eine Kundin hatte die mit Teppichboden ausgelegte Filiale betreten, begleitet von ihrer kleinen Tochter, die indessen, und damit beginnt das Problem, unmittelbar zuvor in einen Hundehaufen getreten war. Die Mutter hatte dies – genau weiß man es nicht – möglicherweise bemerkt, sich vielleicht sogar geärgert, darin aber offenbar keinen Grund gesehen, vom Betreten der Bank Abstand zu nehmen, ihre Tochter vor der Tür warten zu lassen oder vor dem Betreten deren Schuhe zu säubern. Am Ende war der Teppichboden verschmutzt und musste fachmännisch gereinigt werden. Der Mutter flatterte einige Wochen später eine Zahlungsaufforderung ins Haus, mit der ihr die Kosten für die Reinigung in Höhe von 52,96 Euro – „eine Stunde Arbeitszeit/Meister“ – in Rechnung gestellt wurde. Das ist bis hierher nicht weiter bemerkenswert. Doch wie hatte die Bank die Übeltäterin herausgefunden? Der Vorgang selbst war zunächst unbemerkt geblieben, die Verschmutzung erst aufgefallen, nachdem Mutter und Tochter die Bank bereits verlassen hatten. Die Angestellten hatten daraufhin die Aufzeichnungen der hauseigenen Videokamera herangezogen. Mit ihrer Hilfe konnte der Vorgang rekonstruiert und die Verantwortliche identifiziert werden; für die weitere Fahndung und die Ermittlung von Name und Anschrift sorgte die Durchforstung der Kundendatei. Datenschützer rügten anschließend, das ginge so nicht; Videokameras seien in Banken zur Verhütung oder zumindest nachträglichen Verfolgung von Banküberfällen eingebaut, aber nicht, um Verschmutzungen mit Hundekot aufzuklären. Aber was genau ist es eigentlich, das hier nicht stimmt? Hätte nicht die Mutter vor Betreten der Bank die Schuhe ihres Kindes säubern müssen, bevor beide die Bank betraten? Oder war nicht überhaupt der eigentlich Verantwortliche der Halter des Hundes, der es nicht für nötig befunden hatte, dessen Hinterlassenschaft auf dem Bürgersteig zu entsorgen? Andererseits bleibt der Ein1
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druck, dass es hier mit der Überwachung und Kontrolle doch etwas zu weit getrieben wurde, und zwar auch dann, wenn man dem schwäbischen Sinn für Ordnung und Gründlichkeit ansonsten durchaus Sympathie entgegen bringt. So fließt in der kleinen Posse am Ende vieles zusammen, was sie über das bloße Lokalkolorit heraushebt: die Bestätigung des verbreiteten Eindrucks, dass die Leute immer rücksichtsloser werden und sich um die Folgen ihres Verhaltens nicht scheren; aber auch eine unbestimmte Ahnung davon, dass die Räume, in denen wir uns frei von Regulierung, Beobachtung und Kontrolle bewegen können, enger und enger werden. Damit sind wir beim Thema. Denn was darin so gesehen zum Ausdruck käme, wäre nichts anderes als ein grundsätzlich verändertes Verständnis von Autonomie und Selbstbestimmung auf der Seite der Subjekte und ein grundsätzlich veränderter Umgang mit dieser Autonomie auf Seite der sie umgebenden Gesellschaft. Doch was könnte sich hier verändert haben, und wie hängen die verschiedenen Veränderungen miteinander zusammen? II. Begriffe von Autonomie Sehen wir uns dazu zunächst an, wie der Begriff von Autonomie – um diesen zunächst soll es im Folgenden gehen – traditionell bestimmt worden ist. Dabei lassen sich in einer etwas vereinfachenden Betrachtung zwei Verwendungsweisen unterscheiden, und zwar je nachdem, auf welchen Träger der Begriff bezogen wird. Nach der ersten bezeichnet Autonomie die Fähigkeit und das Recht sozialer Verbände, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Die klassische und bis heute gültige Definition hat vor allem Max Weber geliefert: „Autonomie bedeutet, dass nicht, wie bei Heteronomie, die Ordnung des Verbands durch Außenstehende gesetzt wird, sondern durch Verbandsgenossen kraft dieser ihrer Qualität (gleichviel wie sie im Übrigen erfolgt).“ 2 In der zweiten Verwendungsweise geht es demgegenüber um die Selbstbestimmung des moralischen Subjekts. Als solche ist sie vor allem in der Rechtsphilosophie Immanuel Kants entfaltet, in der sich auch die zugehörige und ebenfalls klassische Definition findet: „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (…) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl in denselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mitbegriffen seien.“ 3 Bemerkenswert daran ist, dass Autonomie in beiden Varianten etwas anderes meint als Freiheit, mit der sie im allgemeinen Sprachgebrauch oft unreflektiert gleichgesetzt wird: In der ersten Variante geht es um ein Recht des Verbandes, das für das einzelne Mitglied auch Fremdbestimmung, also insoweit Unfreiheit bedeuten kann; in der zweiten geht es um den einzelnen Menschen als sittliche Person. Dessen Autonomie setzt insoweit die Anerkennung moralischer Bin2
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 26. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Theorie-Werkausgabe Immanuel Kant, hrsgg. von W. Weichschedel, 1968, Bd. 7, S. 74. 3
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dungen voraus; sie ist bei Kant auf das Sittengesetz bezogen und führt zu ihm hin und ist in diesem Sinne stets eine verantwortete, gebundene Autonomie. Freiheit meint demgegenüber in erster Linie Abwesenheit von äußerem Zwang, also individuelle Willkür, wie es in der gängigen Formulierung zum Ausdruck kommt, die Freiheit bestehe darin, tun und lassen zu können, was man will4. Kant selbst hat den Unterschied unter anderem am Beispiel der Frage illustriert, ob der Mensch das Recht hat, sich selbst das Leben zu nehmen, wenn es ihm zur Last geworden ist: Vom Begriff der Freiheit ist ein solches Recht umfasst, vom Begriff der Autonomie dagegen nicht, weil es sich am Ende gegen das Leben selbst richtet und damit als allgemeines Gesetz nicht gewollt sein kann5. Im Begriff der Autonomie ist insoweit der Begriff der Selbstregelung auch im Sinne einer Selbstbegrenzung notwendig mitgedacht, als ein eben auch inneres Regulativ einer schrankenlosen Freiheit. Das verdient als Ausgangspunkt festgehalten zu werden, weil die verschiedenen Veränderungen, die sich im Umgang mit Autonomie feststellen lassen, gerade hier ihren gemeinsamen Ursprung haben könnten. III. Autonomie im demokratischen Verfassungsstaat Im demokratischen Verfassungsstaat, wie er durch das Grundgesetz konstituiert wird, kehren die beiden Begriffe von Autonomie zurück, allerdings mit einer leichten Verschiebung insofern, als dieser Staat aus den Einzelnen aufgebaut ist und nur von ihnen her seine Legitimation empfängt. Seine Grundeinheit wie die Grundeinheit der modernen Rechtsordnung überhaupt ist in diesem Sinne nicht mehr die Gemeinschaft oder irgendein anderes Kollektiv, sondern das Individuum, von dem her folgerichtig auch die Bestimmung von Autonomie ihren Ausgang zu nehmen hat6. Sie lässt sich dann allerdings ebenfalls in zwei Varianten auffächern, die als öffentliche und als private Autonomie bezeichnet werden können7. Die öffentliche Autonomie bezieht sich auf die Selbstgesetzgebung der in der Demokratie versammelten Staatsbürger und enthält in sich die Rechte, die dem einzelnen zustehen müssen, um an dieser teilhaben und teilnehmen zu können. Gleichbedeutend kann man auch von der demokratischen Seite der Autonomie sprechen; sie umfasst etwa das allgemeine Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG); die Möglichkeit, Parteien zu gründen, ihnen beizutreten und in ihnen zu wirken; allgemein aber alle die Rechte, die die Formierung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit ermöglichen, wie etwa Meinungs-, Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, 8, 9 GG). Die private Autonomie zielt demgegenüber auf die persönliche Entfaltung und die Verwirk4
Die klassischen Definitionen etwa bei T. Hobbes, Leviathan, 1651, dt. Ausg. von I. Fetscher, 1984, Kap. 21, S. 163 ff. 5 Kant (Fn. 3), S. 52. 6 Zu dieser Grundeinheit der Rechtsordnung B.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 58 ff. 7 Die Begriffe etwa bei J. Habermas, Faktizität und Geltung, Neuaufl. 2001, S. 109 ff.
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lichung von Individualität; sie ist insofern wesentlich nicht eine Autonomie „zum“ Staat, sondern eine Autonomie „vom“ und gegenüber dem Staat. Gleichbedeutend lässt sich auch von der rechtsstaatlichen Seite der Autonomie sprechen, die dann vor allem in der Konzeptionierung der Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe ihren sachlichen Ausdruck findet. Umfasst sind in diesem Sinne etwa: die Garantie der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG); Rechte zur Verfolgung des eigenen Lebensentwurfs in verschiedenen Rollen, wie sie etwa durch die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG), die Freiheit zur Gründung von Ehe und Familie (Art. 6 GG) oder das Recht auf Ausübung eines Berufs der eigenen Wahl (Art. 12 Abs. 1 GG) gewährleistet werden; ferner verschiedene Garantien zur Sicherung der Privatsphäre wie die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausschnitt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG); schließlich in unmittelbarer Aufnahme des Begriffs die Privatautonomie als die Fähigkeit, rechtsgeschäftlich zu handeln und sich wirksam verpflichten zu können (Art. 2 Abs. 1). Was darin aber bestimmungs- und erläuterungsbedürftig bleibt, ist die nähere Zuordnung der beiden Seiten und das Rangverhältnis in Konfliktfällen. Dafür lassen sich in einer idealtypischen und erneut stark vereinfachenden Betrachtung zwei Grundmodelle unterscheiden, deren maßgebliche Exponenten JeanJacques Rousseau einerseits und John Locke andererseits sind. Im Modell Rousseau geben die Mitglieder der Gesellschaft ihre individuelle Autonomie im Akt des Zusammenschlusses zugunsten der Teilhabe an einem allgemeinen Willen auf, der sich gegenüber der individuellen Autonomie jederzeit durchsetzen kann und ihr gegenüber im Zweifel immer im Recht ist8. In der Konsequenz sind alle Lebensbereiche politisiert, und die individuelle Autonomie besteht nur nach Maßgabe der öffentlichen Autonomie und in den Grenzen, die ihr durch sie bestimmt werden. Demgegenüber ist im Modell Locke die öffentliche Autonomie umgekehrt auf die Sicherung der privaten bezogen und dieser damit im Ergebnis untergeordnet; Zweck der demokratischen Selbstorganisation wie auch des Staates überhaupt ist ausschließlich die Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum, wie es in der klassischen Formulierung heißt9. Anders als im Modell Rousseau ist der Inhalt der Autonomie auch nicht durch die Gemeinwohlerwartungen der politischen Gemeinschaft vorgeprägt; im Gegenteil erfolgt ihre Ausübung sowohl im privaten als auch im politischen Bereich ausschließlich von den Interessen des Einzelnen her. Es ist dann dieses Modell, das sich historisch im Großen und Ganzen durchgesetzt hat, während das Modell Rousseau über 8
J.-J. Rousseau, Du Contrat social, 1762, dt. Ausg. in: ders., Politische Schriften, hrsgg. von L. Schmidt, dt. 2. Aufl. 1995, dort etwa I 6, II 3. 9 J. Locke, Two Treatises on Government, 1690, dt. Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsgg. von W. Euchner, 16. Aufl. 2008, II 9 (§ 123f.).
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eine romantische Alternative dazu nie wirklich hinausgekommen ist. Im Allgemeinen wie in der juristischen Praxis wird das Verhältnis indes heute meist in der Schwebe gelassen. Man arbeitet dann etwa mit Formeln wie der von der praktischen Konkordanz, die auf eine möglichst schonende Zuordnung der verschiedenen Geltungsansprüche zielen, damit aber die Grundfrage natürlich nicht beantworten10. Stattdessen lösen sie das Problem in Kasuistik auf; es muss dann eben von Fall zu Fall entschieden werden, ob die öffentliche Autonomie der zur Selbstgesetzgebung versammelten Staatsbürger oder die individuelle Autonomie als der schützenswerte Freiheitsraum des einzelnen den Vorrang behalten soll. In der praktischen Konsequenz bedeutet das einen weiten Gestaltungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers, dessen Hervorbringen aber jeweils darauf überprüft werden müssen, ob sie mit den individuellen Rechtspositionen der Betroffenen vereinbar sind. Die Mehrheit erhält dadurch in der Sache einen Zugriffsanspruch auf beliebige Themen, muss aber im Gegenzug auch das Interesse der Minderheit angemessen berücksichtigen. IV. Expansion und Transformation Innerhalb des so bezeichneten Rahmens hat sich allerdings in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Reihe von Veränderungen vollzogen, die ihren Grund letztlich alle in dieser prinzipiellen Offenheit und Unabgeschlossenheit haben. Diese lassen sich beschreiben und nachzeichnen als eine Ausweitung der beiden Seiten von Autonomie, in deren Folge schließlich auch ihr Begriff neu bestimmt werden muss. Innerhalb der öffentlichen Autonomie zeigt sie sich in einer gegen unendlich laufenden Vermehrung der Themen und Gegenstände, auf die sie zugreifen darf. Das Muster dabei ist immer dasselbe: Ein neues Problem wird entdeckt, es erweist sich als schwer lösbar oder liegt vielen auf dem Herzen, und in der Folge wird es dem demokratischen Gesetzgeber zur Bearbeitung zugewiesen. Dem Staat sind auf diese Weise vom Ende des 19. Jahrhunderts an immer mehr Aufgaben zugewachsen, die ihn schließlich in eine Globalverantwortung für die Herstellung erwünschter Lagen aller Art gerückt haben: die Sicherung der Bürger vor den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit, Unfall und Alter; die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums und die Abfederung konjunktureller Schwächephasen; die Verantwortung für die ökologischen Folgeprobleme der Industriegesellschaft; der Schutz vor den Gefahren der Technik, den Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Entwicklung und den Risiken der Globalisierung. Heute sind es meist die oft selbst medial erzeugten und verstärkten Nöte und Bedürfnisse einzelner Gruppen, die über die Medien ihren Weg in die Politik finden, die dann das erforderliche in die Wege leitet: „Die Dicken melden sich, die Unfallopfer, heruntergewirtschaftete Industrien, zu kostspielige Technologieentwicklungen“, beschreibt Niklas Luhmann die
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Die Formel ist maßgeblich geprägt von K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 72.
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Situation: „Und all dies hat sein gutes Recht und seine unabweisbare Legitimität. Die entsprechenden Ersuchen sind weder absurd noch ehrenrührig. Sie sind im politischen System als politische Kommunikation vorgesehen“, jedenfalls unter den Bedingungen des demokratischen Staates, der sowohl vom Volk getragen als auch für das Volk da sein will11. Der Zuwachs der Staatsaufgaben lässt sich so auch als eine Expansion der öffentlichen Autonomie der zur Selbstgesetzgebung versammelten Staatsbürger beschreiben, die ihren Regelungszugriff nun auf immer weitere Bereiche ausdehnen. Qualitativ verändert sich dieser Zugriff zudem insofern, als sich die Aktivitäten des Staates mittlerweile weit in das Vorfeld möglicher Beeinträchtigungen ausgedehnt haben und etwaige Krisen durch eine antizipative Politik erst gar nicht aufkommen zu lassen. Diese Entwicklung wird allgemein als Übergang von der Gefahrenabwehr zur Prävention beschrieben und lässt sich ebenfalls auf allen Feldern der Politik beobachten: Die Wirtschaftspolitik soll – auch wenn es nicht immer gelingt – Rezessionen erst gar nicht aufkommen lassen; die Gesundheitspolitik beschränkt sich nicht mehr auf die Übernahme der Arzt- und Behandlungskosten, sondern ist in weitem Umfang der Krankheitsvorbeugung verpflichtet; das Lebens- und Arzneimittelrecht greift mit seinen Beschränkungen nicht erst dann, wenn ein Produkt erwiesenermaßen schädlich ist, sondern schon dann, wenn sich die Schädlichkeit nicht sicher ausschließen lässt; das Umwelt- und Technikrecht wird überhaupt seit vielen, vielen Jahren von dem Gedanken der Vorsorge beherrscht, der mittlerweile zu einem Leitbegriff des Rechtsgebiets geworden ist und heute als Chiffre für das Staatshandeln insgesamt verwendet werden kann. Dieser Zuwachs der öffentlichen Autonomie trifft allerdings auf der anderen Seite auf eine private Autonomie, die ebenfalls im Laufe der Zeit kontinuierlich ausgebaut worden ist. Die Expansion zeigt sich hier zunächst in der Ausweitung und Verstärkung der grundrechtlichen Gewährleistungen, mit deren Hilfe sie rechtlich gesichert wird. Teils ist dafür der Grundrechtskatalog im Wege der Rechtsfortbildung um neue Rechte wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung angereichert worden, teils sind die vorhandenen Rechte extensiv interpretiert worden. Paradigmatisch dafür steht die Auslegung der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG, die von der im Text enthaltenen Beschränkung auf einzelne punktuelle Gewährleistungen gelöst und durch die Rechtsprechung zu dem umfassenden Recht erhoben wurde, sein gesamtes Verhalten so einzurichten, wie es den Lehren des jeweiligen Glaubens entspricht12. Vor allem wirkt sich hier aber die Neu- und Umdeutung des Art. 2 Abs. 1 GG aus, die heute die Basisgarantie des Grundrechtskatalogs insgesamt darstellt; vom Wortlaut her noch auf die freie Entfaltung der – möglicherweise anspruchsvoller zu definierenden – „Persönlichkeit“ bezogen, wird sie seit einer berühmten Grund-
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N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 424. Grundlegend etwa BVerfGE 32, 98 (106); aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 108, 282 (297).
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lagenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1957 heute nahezu einhellig im Sinne der allgemeinen Handlungsfreiheit interpretiert, also als ein Recht, zu tun und zu lassen, was man will, so wie es im Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee, einem Vorläufer des Grundgesetzes, bereits vorgesehen war13. Parallel dazu sind die Grundrechte schrittweise von den Moral- und Gemeinschaftsvorbehalten entlastet worden, mit denen sie in den fünfziger Jahren und teils auch darüber hinaus in Rechtsprechung und Literatur weithin noch versehen waren. Im Bereich der religiösen Freiheit zeigt sich dies etwa in der Verabschiedung der sogenannten Kulturadäquanzklausel, nach der sich die Ausübung dieser Freiheit auf die Verhaltensweisen beschränken sollte, die sich „bei den heutigen Kulturvölkern im Laufe der Geschichte auf dem Boden gemeinsamer sittlicher Grundanschauungen“ entwickelt haben14. Für die allgemeine Handlungsfreiheit mündet es in eine Auslegung, die diese von allen Wertungen frei stellt und selber auch keinerlei Wertungen mehr zugänglich ist. In der Folge erscheint noch die Begehung eines Verbrechens prima facie als Ausübung grundrechtlicher Freiheit, so wie überhaupt von der grundrechtlichen Freiheit insgesamt gesagt werden kann, sie gewähre heute auch das Recht, sich in einer Weise zu verhalten, die man selber als gedachter Teil der Allgemeinheit missbilligen würde.15 In alledem ändert sich zugleich der Inhalt der Autonomie, der nun nicht mehr wie in der philosophischen Diskussion von der Idee der Selbstgesetzgebung des sittlichen Subjekts her bestimmt wird, sondern nun mit Freiheit im Sinne von individueller Willkür gleichgesetzt wird. Als Begriffe kommen Autonomie und Selbstbestimmung dann im Grundrechtssystem zwar durchaus noch vor, etwa im Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder eben in der Garantie der Privatautonomie als Fähigkeit, sich wirksam rechtsgeschäftlich verpflichten zu können. Aber es ist nun nicht mehr die Autonomie des moralischen Subjekts, die den Inhalt seiner Freiheit bestimmt, sondern es ist nun die Freiheit im Sinne eines freien Beliebens, von der die verschiedenen Autonomien ihre Bestimmung empfangen; diese sind nur noch bereichsweise Ausprägungen der einen, umfassenden Freiheit. Im Ergebnis folgt dies den Einwänden, die sich gegen ein Konzept von Autonomie als Autonomie des sittlichen Subjekts richten ließen. Ihm zugrunde lag die Vorstellung einer objektiven Bestimmung des Menschen im 13
BVerfGE 6, 32 ff., dort auch zu den Vorläuferregelungen; zur Auseinandersetzung mit abweichenden Konzeptionen BVerfGE 80, 137 ff. mit Minderheitsvotum D. Grimm. Die 1957 auf eine Verfassungsbeschwerde ergangene Entscheidung ist inoffiziell nach dem damaligen Beschwerdeführer Wilhelm Elfes benannt und wird deshalb Fachdiskussion meist nur als „Elfes-Urteil“ bezeichnet; Juristen wissen dann, wovon die Rede ist. 14 So noch BVerfGE 12, 1 (4). 15 Siehe etwa J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl. 1999, § 115 Rn. 233 ff.; die Deutung von Art. 2 als wertneutrale Freiheit etwa bei U. Di Fabio, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Loseblattkommentar, Stand 2008, Art. 2 Abs. 1 Rn. 16.
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Sinne einer Klarheit über sein Warum und Woraufhin, die zugleich allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen konnte, so wie sie etwa aus einem Offenbarungsglauben oder einem metaphysischen Begriff der menschlichen Natur gewonnen sein mochte16. Es gibt aber heute keine Konzeption mehr, die eine solche allgemeine Verbindlichkeit noch beanspruchen könnte; stattdessen existieren nur verschiedene partikulare Konzeptionen, die miteinander um die richtige Deutung der Welt konkurrieren. Der Schritt von der Autonomie zur Freiheit, wie sich die Entwicklung vereinfachend nennen lässt, war so gesehen unausweichlich. Er folgt zudem der allgemeinen Tendenz der Liberalisierung, Individualisierung und Pluralisierung, die sich verstärkt seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beobachten lässt und heute vielfach als Grundbefindlichkeit moderner Gesellschaften beschrieben wird17. V. Konflikte und Gegenbewegungen Es wäre allerdings ein Irrtum, anzunehmen, dass die gleichzeitige Expansion von individueller und öffentlicher Autonomie spannungs- und konfliktfrei abliefe. Im Gegenteil erhöht sich die Zahl der Reibungspunkte und der Konfliktfelder, auf denen die unterschiedlichen Geltungsansprüche aufeinander prallen: Die Erstreckung der öffentlichen Autonomie auf immer weitere Gegenstände bei gleichzeitiger Vertiefung des Zugriffs im Zuge der Hinwendung zur Prävention bedeutet in der Konsequenz ein Ausgreifen des staatlichen Regelungs- und Kontrollanspruchs, zu dem das gleichzeitige Streben der Individuen nach Selbstverwirklichung und der Erkämpfung immer weiterer Freiheitsräume, wie sie aus dem Konzept individueller Autonomie hervorgegangen ist, in einen durch keine Beschwichtigungsformeln mehr zu besänftigenden Widerspruch gerät. Dieser muss sich zudem in dem Maße zuspitzen, in dem das Konzept individueller Autonomie von der Selbstgesetzgebung des sittlich handelnden Subjekts, das von seiner Freiheit einen moralisch verantworteten Gebrauch macht, gelöst und zum Konzept einer umfassenden Freiheit mit der Willkür in ihrem Zentrum transformiert worden ist. Die Schranken müssen unter diesen Bedingungen zwangsläufig immer stärker von außen an diese Freiheit herangetragen werden, weil und soweit die inneren Regulierungskräfte ausfallen. Tatsächlich lässt sich beobachten, wie nach Jahren ungebremster Expansion nun seit einiger Zeit zunehmend die Risiken eines zur Beliebigkeit hin freigesetzten Gebrauchs der individuellen Autonomie – oder, wie man nun gleichbedeutend sagen kann, das Gebrauchs der individuellen Freiheit – in den Blick rücken. Er gilt nun vielfach als „wildwüchsig“, „libertär“, „individualistisch“ oder „verantwortungslos“, so wie es etwa in der neuen konservativen Polemik gegen die Achtundsechziger-Bewegung unmittelbar anschaulich wird: Diese habe, so geht die Rede, einer zuletzt schrankenlosen Emanzipation das Wort geredet, alle
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Vgl. Böckenförde (Fn. 6), S. 46 f. Die Debatte lange Zeit prägend vor allem U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 115 ff.
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Tabus gebrochen und sämtliche Konventionen zerstört, aber nichts hinterlassen, was an deren Stelle treten könnte; in den Abgrund gerissen seien dadurch die soziale Institution der Familie, die bürgerliche Kultur als Ensemble integrierender und domestizierender Verhaltensregeln und überhaupt ein allgemeines Gefühl der Verantwortung für andere, das einem schranken- und rückhaltlosen Individualismus gewichen sei18. Aber die Klage über den Wildwuchs der Freiheit ist mittlerweile allgemein geworden und hat sich von einzelnen konkreten Anlässen verselbständigt. Wo es gestern noch um die Achtundsechziger ging, geht es heute um Heuschreckenkapitalismus und Ellenbogengesellschaft, um die Gier der Mächtigen und die Vollkaskomentalität der Ohnmächtigen, um den gefühlten Niedergang einer Kultur gegenseitiger Rücksichtnahme und Verantwortung. Mit einiger Verzögerung ist auch die Rechtswissenschaft von diesen Debatten erreicht worden. Die weite Auslegung der grundrechtlichen Schutzbereiche, die lange Zeit ohne nennenswerte Gegenstimme war, ist plötzlich nicht mehr unumstritten; stattdessen lässt sich bis in die Rechtsprechung des BVerfG hinein die Tendenz feststellen, die einzelnen Schutzbereiche wieder präziser zu konturieren und so die vormalige Entgrenzung ein Stück zu korrigieren19. Für die Glaubens- und Religionsfreiheit mündet dies etwa in den Vorschlag, von der lange Zeit vorherrschenden Deutung als Recht auf glaubensgeleitetes Verhalten in allen Lebenslagen wieder abzurücken und sie unter stärkerer Rückbindung an den Text wieder auf einzelne punktuelle Garantien des Habens, Bekennens und Praktizierens eines Glaubens zurückzuführen, während auf der anderen Seite die Möglichkeiten staatlicher Beschränkung erweitert werden sollen20. Auch darin mag man eine Reaktion auf die zunehmenden Unsicherheitserfahrungen sehen, mit denen eine Gesellschaft durch einen zusehends disparater gewordenen Freiheitsgebrauch konfrontiert ist. Jedenfalls lässt sich seit einiger Zeit beobachten, dass das Vertrauen in die Problemangemessenheit dieses Freiheitsgebrauchs und damit auch in gesellschaftliche Selbstregulierung sinkt, während auf der anderen Seite das Zutrauen in die Problemlösungsfähigkeit des Staates steigt; die derzeitige Finanzkrise liefert dafür nur den vorerst letzten Beleg. Die Folgen zeigen sich in einer zunehmenden Regulierungsdichte und Verknappung der Freiheitsräume einerseits und der Tendenz zu einem sanften Paternalismus andererseits, mit dem der Staat die Bürger wieder an die Hand nimmt und sie zu dem hinführt, was ihnen zuträglich ist. Paternalismus als solcher ist dabei weder ein prinzipiell neues noch ein sonderlich aufregendes Phänomen. Schon immer hat der Staat seiner Polizei gestattet, dem Selbstmörder in den Arm zu fallen, um ihn vor seiner eigenen Tat zu schützen; mehr als ein ganzes Jahrhundert lang hat er bestimmte soziale 18
Dieser Tenor etwa bei U. Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S. 29 ff., 38 ff. Vgl. zu dieser Tendenz - kritisch - W. Kahl, Neuere Entwicklungslinien der Grundrechtsdogmatik, AöR 131 (2006), S. 579 ff. 20 Vgl. F. Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: FS für A. Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 149 ff. 19
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Gruppen zu ihrem eigenen Schutz in öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherungen zusammengeschlossen, ohne Rücksicht darauf, ob der einzelne dies auch tatsächlich wollte oder darauf angewiesen war; die Gurt- oder Helmpflicht, deren Einführung einst noch ein paternalistisches Motiv zugrunde gelegen haben mag, ist von den meisten Bürgern sogar mittlerweile so stark verinnerlicht, dass ihnen etwa das Anlegen des Gurtes vor Antritt einer Fahrt längst zur zweiten Natur geworden ist. Aber die Bevormundung könnte, wenn der verbreitete Eindruck richtig ist, in den letzten Jahren doch eine eigenständige und neue Qualität angenommen haben. Das beginnt beim staatlichen Feldzug gegen das Rauchen, in dem bei allen berechtigten Erwägungen über den Schutz der Passivraucher natürlich auch ein paternalistisches Motiv zum Vorschein kommt, ein Moment der Volkserziehung, das dann nach den Rauchern auf beliebige andere Gruppen – die Konsumenten von Alkohol, die Übergewichtigen, die Unsportlichen – übertragen werden kann. Es setzt sich fort in einer amtlichen Antidiskriminierungspolitik, die jede Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit oder des Alters sorgsam registriert, über die geschlechtsneutrale Formulierung von Stellenausschreibungen wacht, die Bürger selbst für die Wahrnehmung von Diskriminierung sensibilisiert und für ihre Verhinderung mobilisiert21. Und es endet noch lange nicht bei einer Gesetzgebung zum Verbraucherschutz, deren Leitbild nicht der mündige Konsument ist, der in der Lage ist, seine Entscheidungen selbst zu treffen und dann auch zu verantworten, sondern der schutz- und hilfsbedürftige Verführbare, der wegen seiner strukturellen Unterlegenheit vor den Folgen seiner eigenen Entscheidungen bewahrt werden muss22. Dabei geht es nicht darum, dass die auf diese Weise verfolgten Ziele nicht ehrenwert oder die dahinterstehenden Interessen nicht berechtigt wären: Natürlich ist das Rauchen gesundheitsschädlich, natürlich ist Diskriminierung ein Unrecht, und natürlich haben die Konsumenten Anspruch auf Information und Schutz vor Überrumpelung. Aber in all den genannten Fällen wird die Verfolgung dieser Zielsetzungen erkauft durch eine Einschränkung individueller Autonomie, mit der die Betroffenen zugleich ein Stück entmündigt werden. Und dazu kommt von der anderen Seite die Zunahme an Überwachung und Kontrolle, die sich unter dem Diktat des allgegenwärtigen Sicherheitsparadigmas mit der Hinwendung des Staates zur Vorsorge vollzieht: Die Kontrolle wird dadurch von bereits gefährlichen Situationen auf solche ausgeweitet, die es erst werden könnten, und damit steigt zwangsläufig die Zahl der Sachverhalte, die beobachtet, kritisch beäugt und auf ihre Unbedenklichkeit 21
Auf eine gesetzliche Grundlage gestellt durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006, BGBl. I S. 1897, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Dezember 2007, BGBl. I S. 2840. Die Mobilisierung der Gesellschaft für die verfolgten Zwecke etwa in § 17 f. AGG, die Einrichtung einer öffentlichen Antidiskriminierungsstelle in § 25 ff. AGG. 22 Instruktive Darstellung etwa bei W. Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, 2006, S. 101 ff., 157 ff., dort auch über den Einfluss des europäischen Verbraucherleitbildes.
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hin überprüft werden müssen. In den auf unseren öffentlichen Plätzen immer häufiger angebrachten Videokameras mag man so etwas wie das Symbol dieser Entwicklung sehen; sie registriert den Straftäter wie den Passanten, das Verdächtige wie das Unverdächtige. VI. Rückblende So erhält auch die kleine Begebenheit in der Degerlocher Filiale der Stuttgarter Volksbank am Ende etwas, was sie aus ihrem beschränkten Lebenskreis heraushebt und aus ihr ein Zeichen macht. Am Anfang steht ein Fehlverhalten, für sich nicht besonders schwerwiegend, aber eben doch ein Fehlverhalten, eine Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen des eigenen Handelns und der Auswirkungen auf andere, am Ende der Einsatz eines Disziplinierungs- und Überwachungsinstruments, mit dessen Hilfe die Ordnung zumindest oberflächlich wieder hergestellt wird. Natürlich kann man nur spekulieren, ob es hier einen ursächlichen Zusammenhang gibt, ob also das Disziplinierungs- und Überwachungsinstrument deshalb so leichthin und selbstverständlich eingesetzt wurde, weil mit diesem oder einem ähnlichen Fehlverhalten immer schon zu rechnen und deshalb auch über die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes gar nicht mehr nachzudenken war. In jedem Fall scheint sich hier im Kleinen zu wiederholen, was für die individuelle Autonomie auch in größerem und allgemeinerem Rahmen zu beobachten war: Wo der einzelne in seinem Handeln das Korsett der moralischen Bindungen abwirft, die im Kantischen Begriff der Autonomie noch mitgedacht war, bedeutet das keineswegs einen Zugewinn an persönlicher Freiheit, denn die Grenzen des Freiheitsgebrauchs werden dadurch nicht gegenstandslos. Sie werden dann lediglich nicht mehr vom einzelnen selbst, sondern von anderen gesetzt. Selbstzwang wird so allmählich in Fremdzwang, Innensteuerung in Außensteuerung überführt. Die Rückkehr des Menschen in die Unmündigkeit, die darin liegt, wäre so gesehen zu einem nicht unerheblichen Teil selbst verschuldet, und möglicherweise fällt sie bezogen auf die Gesamtgesellschaft nur deshalb nicht sonderlich auf, weil die Disziplinierung anders als im Falle der Stuttgarter Volksbank nicht von einem privaten Unternehmen ausgeht, sondern vom demokratischen Staat aufgrund je feststellbarer demokratischer Entscheidungen. Sie wäre dann eben selber auf irgendeine Form der Ausübung von Autonomie – der öffentlichen Autonomie der zur Gesetzgebung versammelten Staatsbürger – zurückzuführen. An dem Tatbestand selbst ändert das so wenig wie der Umstand, dass die Entwicklung ebenso unausweichlich wie unumkehrbar erscheint.
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Erzieht die Schule zur Mündigkeit? Die Frage, die der Beitrag stellt, ist dringlich und bedrängend. Unabhängig davon, ob das Mündigkeitspostulat in der philosophischen Tradition emphatisch oder in der soziologischen Perspektive funktional aufgefasst werden mag, lässt sich schwer mit der Vorstellung leben, die Schule würde Mündigkeit nicht fördern oder gar sie verhindern. Denn wer wollte heute noch bestreiten, dass die Entwicklung und Erhaltung einer lebenswerten Welt auf mündige Menschen angewiesen ist? In ihrer Form suggeriert die Frage, sie sei mit einem klaren und eindeutigen Ja oder einem Nein zu beantworten. Sie ist keine rhetorische Frage in dem Sinne, dass die Antwort bereits festliegt. Vielmehr dient sie rhetorisch als Ausdruck von Fraglichkeit dazu, die Diskussion ihres Anliegens zu motivieren. Wissen wir, was wir wissen sollten? Das führt darauf zu klären, was wir erkennen müssen, damit wir die Frage überhaupt sinnvoll beantworten können. Es geht ihr wie der klassischen Frage des Menon an den weisen Sokrates: Ist Tugend lehrbar? Sokrates verweigert die Antwort mit dem Hinweis, zunächst müsse geklärt werden, was denn überhaupt Tugend sei. So soll es auch in diesem Beitrag geschehen. Alles andere als ausgemacht erscheint, in welcher Hinsicht überhaupt von Mündigkeit heute die Rede sein kann und was sie als überkommene Forderung für uns bedeutet. Sodann ist zu klären, wie man sich die Herstellung von Mündigkeit durch Erziehung idealiter modellartig vorstellen und wie man sie im Gegensatz zu politisch-gesellschaftlicher Sozialisation begründen kann. Schließlich geht es um Möglichkeiten, wie empirisch gemessen werden kann, welche diesbezüglichen Effekte die Schule bei Schülern erzielt. Üblicherweise behandelt ein Pädagoge die Frage vor dem Hintergrund einer theoretisch ausgelegten, normativen Konzeption von Schule, Erziehung und Bildung oder aber er vertritt eine bestimmte Vorstellung pädagogischer Praxis, mit der er postuliert, so erfolge Erziehung zur Mündigkeit. In beiden Fällen haben wir es mit „Postulatepädagogik“ zu tun, deren Wichtigkeit als Verständigungsmedium nicht in Abrede gestellt werden soll, deren theoretischer und empirischer Gehalt aber nicht unbedingt wissenschaftlich befriedigen kann. Es besteht die Gefahr der Beruhigung durch den „pädagogischen Indikativ“. Mit ihm werden ein Sollen und ein Erwarten bereits behandelt wie ein Sein. Wunschdenken verstellt so den Blick auf die Wirklichkeit. Eine theoretisch
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begründete Bedingung der Möglichkeit und Notwendigkeit hilft nicht unbedingt gegen anders gelagerte empirische Bedingungen. Kritische Pädagogik hält den Normen die Treue, indem sie fragt, ob die Wirklichkeit ist, was sie zu sein beansprucht. Mein Beitrag verzichtet auf Ermutigung oder Propaganda. Was er vielleicht leisten kann, liegt auf der Ebene der Selbstaufklärung. Zunächst soll es darum gehen, sich zu vergewissern, wie jenseits eines normativen Wollens oder praktischen Modellierens die Frage in unsere Welt gekommen ist, genauer in die der Diskurse über Erziehung und deren Beziehung auf eine reale gesellschaftliche Entwicklung und Praxis. Sodann soll exemplarisch gezeigt werden, wie ein Pädagoge das mit der Frage gestellte Problem theoretisch gefasst hat, so dass Grundsätze ihrer praktischen Beantwortung deutlich werden. Was theoretisch verbindlich formuliert werden kann, muss noch nicht Theorie der Praxis sein. Diese kann im Sinne einer umfassenden Darstellung empirischer Ergebnisse der Forschung nicht vorgelegt werden, zumal über die Frage bislang wenig sachhaltig geforscht wurde. Insofern kann der Autor lediglich auf Bausteine eigener Forschungsbemühungen zurückgreifen. I Die Forderung nach Mündigkeit in unserer Gesellschaft geht einher mit der zunehmenden gesellschaftlichen Setzung von Mündigkeit infolge der Gestaltungsoffenheit der Lebens- und Arbeitsverhältnisse und des Bewusstseins, dass bestehende gesellschaftliche Problemlösungen – sei es im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, sei es mit dem Finanzsystem – äußerst hypothekenreich erfolgen. Daraus resultiert das Unbehagen darüber, dass die Menschen sich nicht mündig in der Gesellschaft verhalten, weder als politische oder wirtschaftliche Elite noch als Masse der Konsumenten. Die Forderung kommt spätestens aus der philosophischen Ecke in das Zentrum der Gesellschaft mit der gesellschaftlich ökonomischen Wirkmächtigkeit der Aufklärung und der Entfesselung der ständischen Gesellschaft durch ihre revolutionäre Umgestaltung zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Just in dem Augenblick, in dem diese strukturell Mündigkeit als Selbstfürsorge der nunmehr vereinzelten Einzelnen (Koneffke 1994) und zunehmend rationale Lebensführung verlangt, sieht die praktisch emanzipativ gestimmte Philosophie die Möglichkeit, ein Praxisfeld zur Fundierung dieser neuen Mündigkeit zu begründen, mit dem ihre Einsichten habituell ins Volk übertragen werden können. Es ist die sich formierende öffentliche Erziehung, die von da an zum Schauplatz einer Erziehung zur Mündigkeit wird. Der Deutsche wird nicht moderner Bürger durch Revolution, sondern durch Erziehung. Diese soll die Revolution von innen bewirken, so dass die äußerliche ausfallen kann. Zunächst gilt es, die Menschen zu verändern, die dann schon mit ihrem Willen und Können dynamisch die Gesellschaft umgestalten werden. Die Erziehung folgt nicht der Gesellschaft, sondern macht sich zu ihrer Avantgarde. Die Erzieher rechnen
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dabei mit ihrer Fähigkeit, den alten „faulen und sündigen Adam“, den eben noch die Pietisten mit Zucht bekämpften, mit geschickter Pädagogik, die einer rousseauisch von der Erbsünde gereinigten positiven Natur folgt, zum strebsamen Bürger zu erziehen. Der Mensch muss also zwecks seiner Mündigkeit davon abgehalten werden, weiter unmündig zu bleiben. Was von den Pädagogen, die den Rückenwind der Geschichte spüren, bereits verharmlosend zum Problem der Didaktik erklärt wird, ist für weniger optimistische Denker eine anthropologische Frage. Erziehung zur Mündigkeit ist ihnen ein alles andere als einfacher Prozess der Umerziehung des Menschen. Kants berühmte einleitende Sätze in der Abhandlung „Was ist Aufklärung?“ pointieren das in wunderbarer Weise. Er agitiert förmlich gegen sein Publikum, indem er es wegen seiner „Faulheit und Feigheit“ und des „Mangels an Mut“ beschimpft, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Selbstverschuldet ist die daraus resultierende Unmündigkeit, weil die Gabe des Verstandes und der Vernunft nicht genutzt wird. Die Menschen, so urteilt Kant über sie pessimistisch und realistisch, sind zu „bequem“, selbst zu denken und überlassen es den Büchern, den Seelsorgern, Ärzten, die für sie denken. Das „verdrießliche Geschäft“ der eigenen Anstrengung um das richtige Urteil erledigen die „Vormünder“. „Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen“ (Kant Werke, Akademie-Ausgabe XI, S.53f). Dagegen richtet Kant sein „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Was so auf die geistige Sphäre der Urteilsbildung ausgerichtet ist, bezieht sich auch auf die praktischen Dinge des Lebens und dessen Führung. Kant spricht nicht umsonst von Arzt und vom Vormund. Aufklärung zielt gegen die ängstliche Anpassung an das Gegebene und Heteronome, gegen das Ausweichen vor einer Auseinandersetzung über Interessen, sie steht damit für allgemeine Mündigkeit. Damit wird zugleich die Unterstellung der Vernunft als Gabe festgehalten als auch ein Hinweis dafür geliefert, warum die Menschen so oft nicht den Mut aufbringen, die ihnen gegebenen Gaben der Urteilskraft zu entwickeln und zu zeigen. Man könnte sagen: Sie sind zu ihr nicht erzogen, sondern zur Unterordnung sozialisiert worden. Die überkommene Erziehung ist, wo sie bloß Anpassung und Gehorsam verfolgt, selbst von fehlendem Mut geschlagen. Unmündige Erzieher können nicht zur Mündigkeit erziehen. Das kann man als Kritik an der Pädagogik verstehen wie auch als Aufforderung zum eigenen Sapere aude! Die Kritik soll die Erziehung veranlassen, Mündigkeit zu verfolgen. Die Pädagogik wird mit dem Zeitalter der Aufklärung, das in der zweiten Hälfte des 18. auch das „pädagogische Jahrhundert“ genannt wird,
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der primäre Adressat der Forderung nach Mündigkeit. Sie wird fortan die zuständige Instanz in Sachen Mündigkeit1. Die Delegation des Programms der Aufklärung an die Pädagogik ist gestern wie heute Ausdruck einer Hoffnung aus Verlegenheit. Sie besteht vor allem darin, dass die gesellschaftliche Basis der Forderung nach Mündigkeit nicht den frohen Mut auslöst, dass es zu mehr kommen wird als zu einer angepassten Form der Selbstfürsorge, zu mehr als nur zur Einsicht in Notwendigkeiten und funktionale Mündigkeit, mit der man tut, was andere einem vorschreiben. Es gibt in der Gesellschaft allemal mehr Anlässe für eine resignierende Anpassung als solche für autonome Selbstbehauptung, eben weil die „Oberaufsicht“ Mündigkeit „für sehr gefährlich hält“. Wer frei urteilt, kommt zu anderen Schlüssen als der Vormund es sich wünscht. So wird die Pädagogik und die Schule zum Fluchtpunkt der Hoffnung all derer, die von der richtigen Erziehung zur Mündigkeit das erwarten, was im gesellschaftlichen Verkehr der Menschen nicht von selbst entsteht. Die kantische Forderung erzielte ihre pädagogische Resonanz vor allem mit der überraschenden und doch naheliegenden Frage, worin die vorherige Anleitung des Nachwuchses durch den Erzieher bestehen müsste, damit Mündigkeit bewirkt werden könne. Die erste pädagogische Operationalisierung der Forderung Kants wurde ausgesprochen noch unter den Bedingungen der spätfeudalen Gesellschaft; also noch lange bevor jeder Mann und jede Frau gesellschaftlich dazu verurteilt worden waren, Bürger zu sein. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es in Deutschland eine Blüte pädagogischer Denker (die sog. Aufklärungspädagogen oder Philanthropen wie Campe, Trapp, Salzmann oder Basedow), die Mündigkeit im Sinne des grundlegend gebildeten, für sich selbst sorgenden und aktiv „industriös“ in die Arbeits- und Erwerbsgesellschaft sich integrierenden und ihr damit Dynamik verleihenden Bürgers verstanden. Genau an dessen pädagogischer Produktion haben sie dann in vielen Schul- und Ausbildungsprojekten heftig gearbeitet. Es war die erste Reformpädagogik im modernen Sinn. Wer ihre theoretischen Auseinandersetzungen über Bildung und Schule und auch ihren politischen Kampf um Anerkennung studiert, der erkennt, dass die geistige und politische wie auch die soziale und praktische Mündigkeit nicht durch die praktischen Gebote der bürgerlichen Lebensform einfach über uns gekommen ist. Sie wurde gefordert von Philosophen mit pädagogischer Ambition und praktisch vorbereitet und erprobt von Pädagogen mit einer entsprechenden politischen Mission. Diese suchten Unterstützung bei den aufgeklärten Vertretern der alten Ordnung, weil die politisch zurückgebliebenen Bürger vor
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Anders lässt sich schwer erklären, warum bei fast jeder gesellschaftlichen Verunsicherung und Krise der Ruf nach Reformen in der Erziehung laut wird.
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allem im Handwerk an der alten ständischen Struktur hingen. Ausgerechnet als sich mit der französischen Revolution die Chancen für eine bürgerlich emanzipative Bildungskonzeption erhöhten, erwächst den Aufklärungspädagogen in Deutschland ein scharfer und für die kommenden Jahrzehnte siegreicher Gegner im später sogenannten Neuhumanismus. Hegel und dann W. von Humboldt, Niethammer und Evers formulieren ihre Vorstellung einer Mündigkeit durch Bildung in zuweilen aggressiver Abgrenzung vom Programm der Aufklärungspädagogik. Waren deren Vertreter darum bemüht, durch Bildung aus der ständischen Gesellschaft eine generalisierte der bürgerlichen Erwerbsarbeit zu machen und sahen sie darin das Ziel der Mündigkeit aufgehoben, so wollten die Neuhumanisten verhindern, dass der Nachwuchs früh an der Nützlichkeit der vor allem ökonomisch motivierten Lebensvollzüge ausgerichtet würde. Sie suchten Mündigkeit stattdessen in der bewussten Distanzierung von der Unterordnung des Menschen unter die Imperative seiner gesellschaftlichen Verwertbarkeit. Bevor der Mensch seinen Ort in der Gesellschaft einnimmt, soll zunächst seine Individualität ausgebildet werden! Dazu dienten vor allem solche Inhalte, mit denen die Freiheit zu Urteil und Kritik, die Ausbildung universeller Wertmaßstäbe und eine möglichst proportionierliche Förderung aller Kräfte bewirkt werden kann. Konzipierten die Neuhumanisten also eine allgemeine Menschenbildung, so wollten die Aufklärungspädagogen letztlich eine allgemeine Bildung für den Beruf. Wir erkennen hier zwei im Widerspruch zueinander stehende Konzeptionen der Mündigkeit, die die deutsche Schulgeschichte bis heute prägen. Es geht um das Gegeneinander oder die Verbindung von Mensch und Bürger und damit die Bearbeitung des von Rousseau uns übergebenen Grundproblems der bürgerlichen Pädagogik. Auf dieser gespaltenen, letztlich nie versöhnten Basis bemühen sich Pädagogen seitdem, eine konsistente Theorie für eine Erziehung zur Mündigkeit zu formulieren. Ein weiteres Grundproblem der neuen Erziehung verdanken wir ebenfalls dieser Zeit. Man kann sagen, dass die moderne Erziehung in Deutschland als Theorie just ansetzt an einer Kritik einer Leerstelle in Kants Programm. Dessen Nachnachfolger in Königsberg, Johann Friedrich Herbart, gilt als einer der Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik. Herbart kritisierte, dass Kant allein das unbedingte Postulat der Mündigkeit begründet hatte, er aber gleichzeitig keine Vorstellung entwickelt habe, wie diese im pädagogischen Prozess Schritt für Schritt auf der Ebene des Verhaltens wie des Wissen entwickelt werden könnte. Die Pädagogik war demnach gefordert, mit der Frage, wie Mündigkeit durch den Prozess der Erziehung hergestellt bzw. überhaupt bewirkt werden könne. Herbart hat aus dem Problem ein System der Pädagogik gemacht, mit dem alle
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denkmöglichen Wirkfaktoren bestimmt und in Lehrgänge überführt wurden. Wer als Erzieher sich in diesem System bewegt, wird den Zögling zur Mündigkeit freisetzen. Erneut, wie schon bei den Philanthropen, wurde das Problem didaktisch gelöst. Der an diesen Dingen desinteressierte Kant ging dagegen davon aus, dass „aus so krummem Holz, als wie der Mensch ist, nichts Gerades gezimmert werden könne“. Damit hatte er übermäßige Erziehungsphantasien zurückgewiesen, deswegen aber nicht resigniert. Er sah letztlich nur die Möglichkeit, die „Freiheit bei dem Zwange zu kultivieren“. Denn Zwang ist notwendig wie Freiheit unverzichtbar. Damit haben wir neben der Frage nach den Inhalten, die zur Mündigkeit führen können, das zweite Grundproblem der Pädagogik als ein logisches wie als ein technisches gültig formuliert. Wofür Herbart viele begriffliche Unterscheidungen benötigte (wie Vielseitigkeit des Interesses mit Vertiefung und Besinnung, Charakterstärke der Sittlichkeit mit Regierung und Zucht), genügte Kant ein Gedanke: Wie aber kann der Zwang zur Freiheit führen? Gehen wir beiden Fragen noch etwas nach. Die Pädagogen stritten in den letzten Jahrhunderten mit viel Leidenschaft darüber, an welchen Inhalten sich am ehesten die in ihren Augen vorrangig anzustrebende Mündigkeit entzünden ließe. Für die Aufklärungspädagogen – wie übrigens heute die PISAisten aller Länder – waren das die „Kompetenzbereiche“ der beruflichen Ertüchtigung: die sog. Realien als die für die Praxis relevanten Wissensbereiche. Sodann die vielen praktischen Übungen zum Erwerb des Arbeitsethos und schließlich überwölbend ein polytechnisches ErschließungsWissen. Für die Neuhumanisten ging es im Gegensatz dazu darum, die formalbildenden Inhaltsbereiche der klassischen Überlieferung neu zu interpretieren. Die identifizierten sie im für das Individuum wie die Menschheit und Gesellschaft modell-gebenden Griechentum der Konstitutionsperiode des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Ergänzend kam die Muttersprache und die Mathematik als die beiden universellen Kommunikationsmittel hinzu. Sie wiesen dagegen alle Inhaltsbereiche als sekundär ab, die durch eine weltanschauliche Gebundenheit in ihrer Bildungskraft begrenzt wurden (etwa die Biologie ihrer Zeit). Beide Ideen kamen nicht in der Wirklichkeit der Schulen an. Aus dem technisch instrumentellen Zugriff auf die Welt wurde nur selten das versprochene technologisches Wissen entbunden, das seinen Nutzern Wege eröffnet hätte, Ökonomie und Technik und damit sich selbst vom bloßen Mittelcharakter zu emanzipieren und selbst über die Zwecke begründend zu verfügen. Aus dem klassischen Bildungsideal wurde auf der anderen Seite nicht selten der Umschlag in Halbbildung und das geistlose Bescheidwissen. Höhere Bildung wiederum erwies sich bald gesellschaftlich als Standesprivileg. Dass in beiden Hinsichten das Bildungswesen eine befreiend humane Kraft als inhaltliche Erziehung zur Mündigkeit entfaltet habe, kann nur behaupten, wer über die Katastrophen des 20 Jahrhunderts hinwegsieht.
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Das Mündigkeitsprogramm auf der Verhaltensebene wurde im Schulwesen ungleich weniger leidenschaftlich diskutiert und argwöhnischer praktisch verfolgt. Erst mit der zweiten Reformpädagogik um die Wende zum 20. Jahrhundert wird die Schule als eine der zukünftigen Untertanen erfolgreich der Kritik ausgesetzt. Bis dahin verfolgt man vor allem die Herstellung von schon gedanklich kastrierter Mündigkeit mit einem missverstandenen Kant der Notwendigkeit des Zwanges zur Herstellung der Freiheit. So kommt zuerst Gehorsam und das brave Lernen und dann die Kritik. Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Erziehung soll die Einsicht in die Notwendigkeit, das sich Schicken in die Autorität der heteronomen Anforderungen bewirken. In der Theorie ist der Spielraum größer. Hier wird früh an der von Kant geerbten Paradoxie weitergedacht und nach Möglichkeiten ihrer Überwindung durch eine nicht mit Zwang verbundenen Erziehung gesucht. Es gilt zu lernen, mit der pädagogischen Antinomie der Mündigkeit anders umzugehen. Was wäre, wenn man statt Zwang Freiheit einsetzt? Bündig gesagt: Es kann vielleicht nur zur Mündigkeit erzogen werden, indem sie kontrafaktisch bereits vorausgesetzt wird. Man muss die Schüler wie mündige behandeln, wenn man will, dass sie es damit oder zumindest danach auch werden. Ihnen müssen Aufgaben gestellt werden, an denen sich ihre Mündigkeit entwickeln kann. Der Erzieher kann sie also nicht durch Zwang mündig machen, sondern nur durch Mündigkeit. In kleiner Münze dürfte das uns allen inzwischen geläufig sein, dergestalt etwa, dass wir Kindern einen Vertrauensvorschuss geben und Kompetenz unterstellen, beim Tun das zu lernen, was sie erst mit dem Vertrauen darin, dass sie es schon können, auch lernen. Schwimmen etwa, allein im Straßenverkehr sich zu bewegen, sich anstrengen, um eine schwierige Aufgabe zu bewältigen, Verantwortung für andere zu übernehmen, gerade zu stehen für das, was man tut. Und nicht zuletzt, nicht etwas nur zu tun, weil man es so macht, sondern weil es jeder Einzelne auch als richtig begründen kann. Lange Jahre haben sich theoretische Pädagogen im Fort- und Umschreiben dieses Programms versucht, in der Hoffnung, damit die schulische Wirklichkeit zu erreichen. Sie blieben weitgehend ohne Erfolg. Dann kam 1968. Nun wurde es vielerorts radikal ernst mit der Setzung der Mündigkeit, während es an den normalen Orten immerhin zu Widerstand gegen die „Untertanenfabrik“ kam und mehr erpresst denn begrüßt als Reaktion zur Einführung zumindest parademokratischer Umgangsformen. Immer weniger wissen, was das „besondere Gewaltverhältnis“ bis vor kurzem in der Schule war, das Schüler juridisch mit Insassen des Gefängnisses und Soldaten der Bundeswehr gleichsetzte. Wer weiß noch, dass es strikt verboten war, sich mehr als zwei Meter dem Lehrerzimmer zu nähern, dass man mit einer Haarlänge deutlich über die
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Oberkante der Ohren hinweg öffentlich schikaniert werden konnte? Wer erinnert sich an das „pädagogische Gewohnheitsrecht“ der Prügelstrafe? Betrachtet man die viel gelesenen Texte des Herrn Bueb vor diesem Hintergrund, so wird ihre Schieflage evident. Mit strenger „pädagogischer Führung“ und dem „Lob der Disziplin“ lässt sich keine Erziehung zur Mündigkeit mehr rechtfertigen, sondern nur atavistisch zum Zimmern am krummen Holz zurückkehren. Theoretisch wie praktisch führt das zu nichts, jedenfalls zu nichts, was man ohne Schamesröte mit Mündigkeit bezeichnen kann. Anpassung, am besten sanktionsbewährte, mag zwar die triebhaften oder auch bereits verzogenen Menschen im Schach ihrer schlechten Neigungen halten, aber sie wird unmöglich zu ihrer Mündigkeit führen. Ohne die Knute büchsen sie sofort wieder aus. Dagegen kann nur das Befolgen von Regeln nach vernünftiger Begründung und Einsicht helfen. Eine pädagogische Praxis, die, wenn das der Erziehung zugrunde liegende familiale Milieu stimmt, recht gut funktionieren kann. Dass Mündigkeit immer auch die Selbsterziehung zur Disziplin impliziert, ist davon gänzlich unabhängig. Wie würde Sokrates sagen? Nur der kann als tugendhaft angesehen werden, der selbständig erfahren hat, was Tugend ist und sich schon deswegen darum bemüht, das eingesehene Gute auch zu tun. Der Forderung an den Zögling, er solle sich als mündig erweisen, entspricht die an den Lehrer, er habe zur Mündigkeit freizusetzen.
II Der Autor hatte das Privileg, bei einem Pädagogen die Pädagogik zu lernen, der sehr genau wusste, was dies in Konsequenz bedeutet. Deswegen sei eine Stufe konkreter das Modell der Erziehung zur Mündigkeit von Herwig Blankertz vorgestellt. Er hat es zu dem folgenden pädagogischen Aphorismus verdichtet: Der Lehrer muss so lehren, „dass dem Lernenden die Möglichkeit des Widerspruchs gegen die ihm zugemutete Intentionalität offen bleibt!“ (Blankertz, 1972, S.23) Akzeptiert wird in dieser Formulierung das asymmetrische hierarchische Verhältnis von Lehrer und Schüler. In diesem Sinne behandelt der Lehrer den Schüler als das Objekt/Subjekt seiner Belehrung. Umgekehrt identifiziert der Schüler im Lehrer seinen Erzieher, er begibt sich damit unter seine Autorität. Diese besteht aber nicht fraglos, und sie gilt auf Widerruf. Der Erzieher bemüht sich von der ersten Stunde an, sich selbst überflüssig zu machen. Damit er dieses bewirken kann, muss er daran arbeiten, sich im Schüler als Autorität zu dementieren und zugleich als Urteilskompetenz aufzuheben. Der Widerspruch des Schülers baut auf dessen eingebrachter, zu bewahrender und auszuschärfender Fähigkeit auf, auch gegen das, was er vom Lehrer hört, mit eigener Urteilskraft vorzugehen. Diese speist sich aus „Naivetät“ (Adorno) und Eigensinn. Beides
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führt zum Nachdruck, mit dem auf das Recht des Verstehens bestanden wird. Es setzt sich fort mit der Inanspruchnahme des Interesses weiter zu fragen und eine eigene Position auszubilden. Indem der Lehrer diese angeleitete Selbstermächtigung des Schülers betreibt, löst er die Asymmetrie der Rollenbeziehung auf und begegnet dialogisch dem Urteil des Schülers. Dieser wird respektiert, weil er sich am Lehrer erfolgreich abgearbeitet hat. Auch wenn er zu anderen Positionen findet als der Lehrer, ist dieser in ihm „aufgehoben“. Blankertz formuliert seinen Imperativ mit einem unbedingten „muss“. Das Pathos reflektiert sowohl die Schwierigkeit des Unternehmens als auch die Gefahr, die mit ihrem möglichen Misslingen verbunden ist. Alles andere läuft letztlich auf die Fremdbestimmung in Unmündigkeit hinaus: sozial auf Gefolgschaft und die Unterordnung unter unbefragte Herrschaft, methodisch auf die Indoktrinierung mit der eigenen Lehrmeinung, sachlich auf Traditionalismus oder Konventionalismus. Die Emanzipation des Schülers vom Lehrer ist das Resultat einer Ermöglichung durch den Lehrer und ein Akt, den der Schüler mit seinem „sapere aude“ gegen die Bequemlichkeit vollziehen muss, den Lehrer bloß als Vorbild zu kopieren, von ihm also die fertigen Resultate des Bemühens um Erkenntnis zu übernehmen, anstatt sich dem Prozess des Ringens um eigene Erkenntnis zu stellen. Blankertz’ Vorstellung des Emanzipationsvorgangs ist also keine psychologische in dem Sinne, dass nur der Sohn mündig wird, der seinen Vater geistig tötet. Vielmehr sollte der Lehrer so lehren, dass das Modell der Lehre mit Imitation und Einübung ausgeschlossen ist. Das bedeutet methodisch keine Konfusionstechnik und es verlangt keine Stilisierung des permanenten Zweifels an allem, wie wir es von Sokrates her kennen. Ein Lehrer ohne eine zugemutete, klare und sei es eine skeptische Intentionalität ist keiner. Diese besteht nicht abstrakt im Interesse an Emanzipation, mit dem keine Verantwortung für Wahrheit übernommen und nichts Festlegendes mitgeteilt wird. Der Lehrer ist nicht Mittler des Relativismus und des bunten Straußes von Anschauungen. Vielmehr hat er immer auch positionell mit seiner Lehre kenntlich zu sein. Sie muss dem Schüler zugemutet werden, weil er sonst nicht erfährt, was er lernen soll, was Geltung beansprucht und von dem er sich abstoßen könnte. Aber es kommt ganz auf den Modus dieser Darstellung an. Wird die Sache als Lehrmeinung dem Schüler zum nachvollziehenden Lernen vorgestellt oder als Modell seiner Bildung behandelt? Auch dessen eigenständige Durchdringung muss didaktisch organisiert werden. Die Einsicht des Schülers muss verstanden werden als die Unabhängigkeit von dem Lehrer, dem man sie verdanken mag. Die Eigenständigkeit des Urteils ist mit der sachlichen Urteilsfähigkeit gegeben. Der Schüler steht damit ein für das, was er weiß und denkt. Er tritt damit aus dem Schatten des Lehrers. Das eigenständige Urteil entsteht mit der Hingabe an die Sache und der im eigenen Urteil erfolgreich werdenden Abarbeitung am Vorbild. Damit ist klar, dass der Widerspruch nicht aus trotziger Opposition bestehen kann, sondern aus erreichter Autonomie.
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Wer solchen Widerspruch entzünden will, darf nicht dulden, dass der Schüler fraglos übernimmt, nachplappert, was der Meister verkündet. Das einzige, was der Schüler von ihm übernehmen darf, ist das Modell des problematisierenden Vernunftgebrauchs. Was im pädagogischen Aphorismus wie eine Verhaltensmaxime formuliert wird, ist an die Person des Lehrers adressiert. Als solche weist sie aber über das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler deutlich hinaus. Es ist ein gesellschaftlich bestimmtes Moment in diesem Verhalten gebunden. Blankertz nennt das die „Eigenstruktur einer Erziehung zur Mündigkeit“. Um sie zu erläutern, benötigt er ein paar Worte mehr: „Thema der Pädagogik ist die Erziehung, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit antrifft. Erziehung muss diesen Zustand verändern, aber nicht beliebig, sondern orientiert an einer unbedingten Zwecksetzung, an der Mündigkeit des Menschen. Wo aber findet die Pädagogik den Maßstab für Mündigkeit? Nach Auskunft der Geschichte der europäischen Pädagogik ist der Maßstab nicht willkürlich gesetzt, sondern in der Eigenstruktur der Erziehung enthalten. Diese Struktur steht in Spannung zu den die Erziehung überformenden und überwältigenden, nicht-pädagogischen Normenauflagen. Doch auch dann, wenn die Erwachsenen nur die Bewahrung des Vorgegebenen wünschen, nur Gehorsam, Einübung, Nachahmung und Nachfolge verlangen, liegt das Ziel in der Freigabe der Erzogenen. Denn der Nachwuchs muß das Tradierte schließlich selbständig, in eigener Verantwortung und unter Berücksichtigung im einzelnen nicht vorhersehbarer Situationen verwalten, interpretieren und verteidigen. Wie die kommende Generation ihren Auftrag erfüllen und bewähren wird, kann inhaltlich von den Erziehern nicht vorweggenommen werden und ist darum prinzipiell nicht operationalisierbar. Wer pädagogisch Verantwortung übernimmt, steht im Kontext der jeweils gegebenen historischen Bedingungen unter dem Anspruch des unbedingten Zwecks menschlicher Mündigkeit – ob er das will, weiß, glaubt oder nicht, ist sekundär. Die Erziehungswissenschaft aber arbeitet eben dieses als das Primäre heraus: Sie rekonstruiert die Erziehung als den Prozess der Emanzipation, d.h. der Befreiung des Menschen zu sich selbst“ (Blankertz 1982, S.306f). Ob der Lehrer es will, weiß oder nicht, ist also sekundär gegenüber der sozialen Tatsache, dass angesichts der Offenheit der Zukunft die Erwachsenengeneration wollen muss, dass der Nachwuchs eigenverantwortlich und in eigener Weise auf die Probleme reagiert, die auf ihn zukommen. Blankertz war als Verehrer Kants ein Vertreter einer kritisch geläuterten geisteswissenschaftlichen Pädagogik, also kein Strukturalist. Da Blankertz aber die Hermeneutik der „europäischen Bildungstradition“ – wie wenige seiner Generation (Jahrgang 1927) – sowohl mit den historischen Erfahrungen des Rückfalls der bürgerlichen Welt in die
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Barbarei als auch mit einer Einsicht in die Abhängigkeit der Pädagogik von der Gesellschaft verband, war er in der Lage, die Norm der Mündigkeit nicht in einem idealistischen Sinne auszulegen. Sie hat ihr Substrat im avancierten gesellschaftlichen Prozess. Mit der emphatischen Inanspruchnahme von Mündigkeit wird der Gesellschaft nicht eine Norm übergestülpt, sondern diese aus ihr selbst abgleitet. Aber die Gesellschaft ist in sich widersprüchlich, weswegen nicht nur Mündigkeit sein soll, vielmehr auch andere, ihr widersprechende Normenauflagen gesellschaftlich verfolgt werden und gelten. Blankertz wusste aus seiner intensiven Beschäftigung mit der Berufsbildung, dass diese ein allgemeines, emanzipatives Potential im Sinne der Herr-KnechtDialektik besitzt und sich diese abhängig von den Produktionsverhältnissen entwickelt. Er wusste damit auch, dass in vielen Berufsbereichen nicht emphatisch Mündigkeit, sondern ihre Schrumpfstufe, die bloß funktionale Mündigkeit, erwartet wird. Und schließlich war ihm klar, dass der domestizierte Handlanger, der fraglos brav verrichtet, was man ihm aufträgt, keineswegs mit der fortgeschrittenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ausgestorben war. Insofern verlangt Zukunftsoffenheit Mündigkeit, wie sie aber auch zugleich gesellschaftlich nicht unbedingt als Befreiung von dem System der „Hörigkeit“ (Weber) gedacht werden kann. Die subjektiv gebundene Vernunft zielt nicht unbedingt auf die Einrichtung einer „vernünftigen Gesellschaft“ (Horkheimer). Die Irrationalität der Gesellschaft ist Ausdruck wie Voraussetzung von Unmündigkeit. Die jüngsten Krisen des Kapitalismus werden von dessen Apologeten verarbeitet, als wären sie dessen regeneratives Fluidum. Dass das Handeln der Akteure der Finanzkrise jedes Argument gegen das System lieferte, auch dass es von einer erschreckenden Ersetzung von Autonomie durch Bereicherungsgier zeugte, liefert nicht den Impuls zur Emanzipation von der unvernünftigen Ordnung. Aber nicht davon soll im Folgenden gehandelt werden, sondern von einer näheren Bestimmung der widersprüchlichen Normierung der öffentlichen Erziehung.
III Wie lässt sich in strukturalistischer Perspektive die Dialektik der Erziehung zur Mündigkeit als Aufgabe der Schule näher, das heißt empirisch bestimmen? Was also hat Schule strukturell („ob sie es will, weiß, glaubt, ist sekundär“) mit Mündigkeit zu tun? Einmal geht es um eine genuin pädagogische Form der Normierung ihrer Praxis. Sie lässt sich festmachen an der progredierenden Erwartung an den Schüler, sich als mündig zu erweisen, in seinem sozialen Verhalten wie in seinen Beiträgen zum Unterricht. Mit diesen reagiert er auf die Vermittlung der Inhalte der allgemeinen Bildung, mit jenen zeigt er, dass er den Verhaltensforderungen der Schülerrolle entspricht. Untersucht man sowohl die Aufgaben, die Schülern gestellt werden, als auch die Weisen der kommunikativen Verhand-
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lung über die Inhalte, so stößt man unausgesetzt auf Ausdrücke zugemuteter Mündigkeit. Zum anderen haben wir es in der Schule mit einer sozialen Praxis zu tun, die im Auftrag der Gesellschaft für die Gesellschaft vollzogen wird. Wir sprechen dabei gerne von der Sozialisation (Vergesellschaftung im Medium der Vergemeinschaftung in einer Klasse und durch die Institution der Schule). Robert Dreeben (1982), einer der anregenden Bildungssoziologen, unterscheidet vier Normenbereiche, die zu erklären erlauben, warum und wie unsere westliche Schule funktioniert und welche gesellschaftliche Funktion sie zu erfüllen hat. Er nennt sie: – Unabhängigkeit (von den Eltern und anderen Hilfen). – Leistung (Lehre in aktives Lernen und gezeigtes Können übersetzen) – Universalität (alle werden am gleichen Maßstab bewertet – ohne Ansehen der Person) – Spezifität (bewertet wird man nur als Schüler, nicht als ganze Person). In beiderlei, der pädagogischen wie der soziologischen Hinsicht handelt es sich um empirisch gehaltvolle Einsichten. Sowohl die pädagogische Norm also auch die soziologisch bestimmte Funktion sind also geerdet. Aber sie sind dennoch Normen, nicht also Seinsbeschreibungen. Das heißt zweierlei: Sie sind nicht gegebene Größen, sondern mit jeder neuen Generation von Schülern aushandlungsbedürftige Herstellungsmaximen. Und der Institution gelingt es mehr oder weniger gut, sie im Verlaufe der Schulzeit zu verwirklichen. Was kann man darunter konkreter verstehen? Gehen wir von den praktisch allgemein vorauszusetzenden Erwartungen und Praktiken aus. – Der Schüler wird nach wenigen Wochen des Schulbesuchs verantwortlich für die vollständige Füllung seines Schulranzens und für die eigenständige Erledigung seiner Hausaufgaben gemacht. Entschuldigungen mit Bezug auf Mama werden nicht mehr gelten gelassen. – Im Unterricht muss er sich aus eigenem Antrieb beteiligen, sich für die Ziele des Unterrichts und der Erziehung engagieren und sich um gute Noten bemühen. Mündliche Beteiligung geschieht nicht nur auf Aufruf durch den Lehrer. Daher rührt das zuweilen fanatisch anmutende „Melden“. – Der Schüler hat die allen gemeinsam gestellten Aufgaben willig zu übernehmen und mit ihnen zu akzeptieren, dass seine Leistungen mit denen der Mitschüler verglichen werden. Individuelles wird nunmehr an einem überindividuellen Maßstab orientiert und gemessen. – Als Kriterien der Bewertung gelten allein die der erbrachten Leistungen und diese resultieren aus der Kenntnis und der Urteilsfähigkeit, der gezeigten Aufmerksamkeit, der Neugier und der Sprach- und Argumentationsmächtigkeit.
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Persönliches dagegen darf nicht zum Kriterium gemacht werden, und der Lehrer ist zur strikten Neutralität angehalten. – Im Arbeits- und Lernprozess muss der Schüler lernen, wie er eigenständig die Aufgaben lösen kann. Er trägt die Bringepflicht mit Fleiß, Ausdauer und der Bereitschaft, entstandene Defizite zu beheben, während die Klasse im Stoff fortschreitet. – Der Schüler muss sich selbst methodisch organisieren lernen, die Zeit, die er benötigt, um erfolgreich durch Übungen zu verinnerlichen, was er lernen soll, muss er bereitstellen und einteilen, während der Unterricht einem standardisierten Zeittakt folgt. – Die Anleitung durch den Lehrer und das Unterrichtsmaterial wird mit der Zeit reduziert, so wenn die Schüler kleine Projekte und Aufträge (Recherchen im Internet) zu bewältigen haben und damit die Fertigkeiten eigenständig erwerben und Informationen sich selbst besorgen müssen. – Vielfach werden die Schüler in Situationen versetzt, in denen sie erfolgreich nur mit anderen werden können. Gilt hier Kooperationsfähigkeit als Ziel, so steht diese im Prüfungsfall als Täuschungsversuch unter Strafe. „Geht es um die Wurst“, hat jeder allein und im Wettbewerb mit jedem anderen zu zeigen, was er kann. – Die Lernzielbestimmungen wiederum verweisen eindrücklich auf die pädagogische Norm der Mündigkeit: Hier ist von Analysieren, Experimentieren, Prüfen, Bewerten, Beurteilen, Begründen, Argumentieren die Rede. Auch wenn dahinter nicht selten die ungleich bescheidenere pragmatische Erwartung steht, einen Text einigermaßen passabel wiedergeben zu können, handelt es sich bei den Fähigkeiten nicht einfach um pädagogische Pathosformeln. Denn das aufklärerische Grundmodell der Erarbeitung von Inhalten, das unseren fortgeschrittenen Unterricht auszeichnet und mit dem Schule heute sich vom alten Modell der Katechese und Indoktrination unterscheidet, verlangt nach einem reflektierenden Umgang mit Inhalten und einer entsprechenden Aufforderung an die Schüler, sich als reflexionsmächtig zu erweisen. – So finden wir im alltäglichen Unterricht schon ab der Grundschule die Aufgabenstellung, sich mit Sachverhalten auseinandersetzen und zu ihnen Interpretationen zu liefern. Bei strittigen Sachverhalten sollen die Schüler freimütig Positionen vertreten, also eigenständig urteilen. Sie werden angehalten, im naturwissenschaftlichen Unterricht experimentelle Neugier zu entfalten und ein methodisch kontrolliertes Beobachtungsverhalten zu zeigen. Meinungsfreude soll zur Argumentationsfähigkeit mit Sachkompetenz kultiviert werden. Insgesamt zielt der Unterricht auf die Vermittlung der Allgemeinbildung und der Schlüsselkompetenzen, die den Schüler befähigen sollen zur uneingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe. – In ihrer Beziehung zu den Schülern honoriert die Schule zunehmend die als gegeben unterstellte Mündigkeit mit Rechten. Sozial bedeutet das, dass die
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Schüler zunehmend autonom auftreten zu dürfen, so indem sie ab der Klasse 6 Wahlkurse belegen, also lernen müssen, Entscheidungen zu treffen, oder wenn sie in der Oberstufe kalkuliert und nach Neigung ihre Leistungskurse bestimmen. Ab der Mittelstufe sollen sie sich beruflich orientieren, mithin nicht mehr einfach den Beruf ergreifen, den der Vater ausübt. In der Oberstufe darf der Schüler die Schule während der Freistunde und Pause verlassen. Die Schüler werden nun gesiezt und sie dürfen sich selbst entschuldigen, inzwischen sogar zum Elternsprechtag erscheinen und sich vom Lehrer beraten lassen. Am Ende der Gymnasialzeit legt der Schüler eine Reifeprüfung ab und macht die Matura oder er wird „losgesprochen“ von der Lehre. Der Student sollte schließlich im Studium sich selbstständig um die Wissenschaft bemühen, sofern die Studienordnung das noch zulässt. Wir erkennen in diesen Erwartungen, Umgangsformen, Regeln und Ritualen sowohl die funktionale Mündigkeit des dreebenschen Konzepts als auch die Anbahnung der pädagogisch primär zu bewirkenden Urteilsfähigkeit. Mündigkeit wird so autonom wie heteronom bestimmt. Für beides existiert ein den Schülern mehr oder weniger transparentes bzw. heimliches Curriculum. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist das zivilisatorisch zurückgebliebene Interesse der Institution und ihrer Lehrer, die Spielräume dieser Mündigkeit zu begrenzen. Die Schule setzt in der irrigen Annahme, damit mehr bewirken zu können, auf Disziplinierung. Sie scheut die Risiken der Freiheit und die Konflikte im Umgang mit unmündigem Verhalten, als wären diese Störungen der Erziehung, nicht aber ihr Medium. Im Zweifelsfall tendiert die Schule, sich als Institution vor den missliebigen, unangepassten Schülern, die nicht „funktionieren“, zu schützen, wie auch die Lehrer sich vor den Schülern schützen, die sie zur Erziehung zur Mündigkeit herausfordern.
IV Zu diesen allgemeinen Bestimmungen und Beschreibungen seien abschließend zwei Beispielfälle aus meinen empirischen Studien vorgestellt. Dabei erfolgt eine Beschränkung auf zwei Aspekte, nämlich auf – die Mündigkeit als Eigenverantwortung und Autonomie in der Regelung sozialer Sachverhalte – und die Mündigkeit als Urteilsfähigkeit im Medium der unterrichtlichen Auseinandersetzung über Inhalte. Vom Kindergarten bis zur Hochschule haben wir Szenarien u.a. zu Mündigkeitskonflikten vorgelegt, die die Spannung zwischen Autonomie und funktionaler Anpassung exemplarisch und zugleich alltäglich ausdrücken. Die Szenarien
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sind damit prototypischer Ausdruck einer in vielen anderen Situationen entsprechend auftretenden Konflikthaftigkeit, die aus der Tatsache erwächst, dass in der Schule weder auf die pädagogische Norm verzichtet werden kann noch sie konsequent realisiert wird, dass aber auch die funktionale Orientierung nicht blank als Anpassung an die Vernunft des Geforderten sich durchsetzen lässt und dass schließlich im Konflikt zwischen beiden Vorstellungen die Schule nicht selten regressiv mit Rückgriff auf die Autorität der Amtsperson reagiert. Die den Schülern vorgelegten Geschichten dienen als Medium, über das vermittelt die Probanden ihre eigenen Erfahrungen und Orientierungen artikulieren können. Uns hat also interessiert, wie die Schüler die Widersprüche verarbeiten und welche Konsequenzen das für ihre eigenen sozio-moralischen Orientierungen hat. Wir postulieren, damit dem Kern der Erziehungsfunktion und -wirkung der Schule auf der Spur zu sein (Gruschka 1994 und www: uni-frankfurt/ fb04/forschung/kälte. html) In der Sekundarschule I geht es um die Planung eines Klassenausfluges. Dieses Mal sollen die Schüler entscheiden, wohin es gehen soll. Aber als pädagogischer Vorgang betrachtet bedeutet die Aufforderung des Lehrers nicht einfach, die Klasse möge sich einigen auf irgendeine gemeinsame Aktivität. Vielmehr erwartet der Lehrer, dass die Entscheidung den Sinn des Unternehmens treffe. Damit müssen die Schüler einen Rahmen erfüllen, sich als mündig erweisen, sowohl in der Form der geregelten Entscheidung über divergente Interessen als auch der inhaltlichen Sinngebung des Ausfluges als einer die Klassengemeinschaft stärkenden Aktivität, die die Intentionen der Schule aufgreift.
Schule ist, wenn am Ende der Lehrer entscheidet? Es ist kurz vor den Sommerferien und zum Abschluss des Schuljahres will die Klasse mit ihrem Lehrer einen Wandertag machen. Um nicht an den Schülerwünschen vorbeizuplanen, dürfen Vorschläge zur nächsten Stunde mitgebracht werden. Die Klasse findet es echt super, dass sie mitbestimmen darf und schon in der nächsten Pause beginnen sie zu überlegen und zu planen. Am nächsten Tag fragt der Lehrer die Schüler, wie weit sie mit ihren Planungen gekommen sind. Eine Gruppe um Frank schlägt den Besuch der Icedance-Disko in der benachbarten Stadt vor. Das sei Sport, Spiel und Spaß und für alle etwas. Eine Gruppe um Karin berichtet davon, dass es in der nahen Großstadt bald eine Gratisveranstaltung einer Pop-Gruppe geben würde. Die Klasse wisse ja, dass sie ein Fan dieser Gruppe sei, und die noch nicht Überzeugten könnten sich das ja mal anschauen und anhören. Anna hat eine Information über einen Vergnügungs-Freizeit-Park mitgebracht und fände es toll z.B. zum Fantasialand zu fahren. Auch andere Schüler haben Ideen. Schnell sind sich alle einig: Karins, Annas und Franks Vorschläge können in die engere Wahl gezogen werden.
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Der Lehrer, der bis jetzt zugehört hatte, schaltet sich in das Gespräch ein: „Ich finde es sehr schön, dass ihr euch so viele Gedanken gemacht habt, aber ich habe Sorge, dass das ganze so am Thema Wandertag vorbeigeht. Der Wandertag soll nicht nur ein Ausflug sein, sondern er soll ein Gemeinschaftserlebnis sein und das geht weder in einem Freizeitpark noch bei der Eishallendisko noch bei einem Pop-Konzert, wo alle verstreut sind.“ Die Schüler sehen das nicht ein. Sie wenden gegen den Lehrer ein, dass so doch etwas Gemeinsames als Erlebnis entsteht. Dafür müsse man sich doch nicht laufend an den Händchen halten. Darauf der Lehrer: „Das ist sicher richtig. Aber es wäre auch schön, wenn wir an diesem Tag etwas erleben könnten, was wir im Unterricht schon besprochen haben. Ich denke zum Beispiel an eine Fahrradtour in den Wald, wo wir etwas über die Natur erfahren könnten. Denkt etwa an die Krötenwanderung oder den Ameisenhaufen, die wir kürzlich im Biologie-Unterricht behandelt haben.“ Mehrere Schüler kommentieren das mit einem: „Och, das ist ja öde.“ Der Lehrer reagiert darauf mit dem Hinweis auf den pädagogischen Auftrag der Schule: "Es geht euch augenscheinlich nur um Freizeit und Spaß, alles das, was Ihr außerhalb der Schule doch selbst organisieren könnt. Wir sollten etwas finden, was nicht schon wieder viel kostet und was lehrreich für alle ist.“ Vordergründig handelt es sich um einen performativen Widerspruch. Der Lehrer kann nicht zugleich sagen, die Schüler sollten autonom entscheiden, dann aber die Entscheidung nicht akzeptieren. Wenn er ihnen die Freiheit der Wahl gibt, darf er sie nicht mit Rückgriff auf die ihm missliebige Entscheidung wieder kassieren. Für die Schüler enthält das die sattsam bekannte Botschaft: Schule ist, wenn am Ende der Lehrer entscheidet! Demokratie ist eine gehegte Spielwiese, auf der nicht einmal die Wahl der Spiele frei ist, auf der die Kinder stattdessen lernen sollen, zu der Entscheidung zu kommen, die der Lehrer sich von ihnen wünscht. Sieht man nicht bloß auf diese Weise formal auf den Konflikt, sondern bezieht seinen Inhalt mit ein, so wird klar, dass der Ausflug nicht als eine Aktivität nach dem „macht doch einfach, was ihr wollt“ verstanden werden kann, sondern schon eine Aufforderung zur Mündigkeit impliziert. Sie besteht in der Erwartung eines begründeten Wollens. Die Begründung verweist auf eine der Gemeinschaft der Klasse dienende Aktivität an einem Gegenstand, der die Arbeit der Schule als Bildung der Schüler aufgreift. Die Schule ist nicht dazu da, die Freizeitaktivitäten der Schüler aufzunehmen, sich also in deren private Vorlieben einzumischen und daraus Schule zu machen. Diese Problematisierung der Freiheit der Entscheidung impliziert noch nicht den Weg, den der Lehrer gehen kann, um den aufgebrochenen Konflikt zu lösen. In gewisser Weise setzt erst hier die Erziehung zur Mündigkeit an. Interessant ist im Kontext der Studie aber nicht das, sondern zu sehen, welche Reaktionen die Schüler auf den Konflikt zeigen.
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Maria: Eigentlich hätte den Schülern klar sein müssen, dass man am Wandertag nicht auf ein Popkonzert gehen kann. So hätten sie die Sache etwas ernsthaft angehen können und überlegen, wo man hinwandern könnte. Tanja vermutet, „Der Lehrer hat wohl darauf gewartet, dass ein Vorschlag kommt, so was wie, was er wollte oder .. was er geplant hatte.“ Die erste Schülerin übt Kritik am missverständlichen Verhalten der Schüler. Sie urteilt wie der Lehrer, ob in Mündigkeit oder Unmündigkeit, das teilt das Zitat noch nicht mit. Von den Schülern wird ein mündiges oder angepasstes Verhalten verlangt, indem sie ernsthafte Vorschläge machen. Die Schüler haben die Freiheit der Entscheidung missbraucht und müssen deswegen hinnehmen, dass der Lehrer sie als Unmündige behandelt, indem er nun entscheiden wird, wohin gewandert wird. Man kann das als vorweg eilenden Gehorsam oder als Übernahme der Rationalität verstehen, der der Lehrer folgt. Tanja spitzt das zu, indem sie die Enttäuschung mit vollzieht, die der Lehrer empfunden haben mag, als ihm klar wurde, dass die Klasse hedonistisch und nicht vernünftig entschied. Der Lehrer hat eine sinnvolle Entscheidung erwartet und sieht nun, dass die Schüler noch nicht mündig waren, sie zu treffen. Die Ungebrochenheit, mit der beide Schülerinnen auch in ihren weiteren Ausführungen die Perspektive des Lehrers übernehmen, zeigt, dass sie die Lektion in funktionaler Mündigkeit gelernt haben. Deren Einübung diene ja das Entscheidungsverfahren. Marian - „Wenn der Lehrer nicht an den Vorschlägen oder an den Wünschen der Schüler vorbeiplanen will, dann muss er eben damit rechnen und wenn er [...] seine Vorschläge eben durchsetzen will, dann darf er halt nicht ... diese extreme Freiheit geben.“ Marian inkriminiert einen Kunstfehler des Lehrers. Mit ihm fordert er diesen auf, Klarheit darüber zu schaffen, was gelte: die Entscheidungsautonomie der Klasse mit der Konsequenz, dass eine demokratisch zustande gekommene Wahl dann auch akzeptiert werden muss – Legitimation durch Verfahren, oder geregelte Demokratie, nach der das Volk wählen kann zwischen Alternativen, die der Chef bestimmt hat. Interessant ist, dass die gewährte Freiheit der Entscheidung Marian bereits als extrem erscheint. Er vermutet, mit einem Besuch eines Popkonzerts werde bereits mit der Autonomie übertrieben. Mitbestimmung wird von anderen Schülern als „leere Versprechung“ abgehandelt „Also jetzt könnt ihr auch mal was sagen, aber wenn ihr (lacht) dann nicht das Richtige sagt, dann entscheide ich doch selber, also ... komische Sache, aber eigentlich ist es ein guter Ansatz /hmhm/ vom Lehrer. Wenn er´s denn durchzieht. ... Also wenn er die Schüler auch wirklich komplett selbst entscheiden lässt. Passiert nicht. Schön ist es natürlich, aber ... er ist der Lehrer.“
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Oder: „... wenn die einfach so sagen, ihr dürft entscheiden, dann ist das ja nicht so, also dass die das so ernst gemeint haben. Ja, also .. ansonsten find’ ich’s ne schöne Idee.“ Hier wird die Erfahrung artikuliert, dass Grundbegriffe wie Autonomie und Mündigkeit in ihrem konkreten Anwendungskontext nicht sind, was sie zu bezeichnen beanspruchen. In dem Maße, in dem diese Differenz zum Wesen der Sache verklärt wird, kann man erwarten, dass die Schüler sich schützen vor der Illusion der Norm und nur noch Enttäuschungssicheres erwarten, also eine mehr oder eng lizensierte Mündigkeit. Das zweite Beispiel passt gleich doppelt zum Thema. Es liefert eine Anschauung über die Herausforderung zur autonomen Urteilsfähigkeit, und zugleich wird das Urteilen zum Unterrichtsinhalt. Der Lehrer bereitet einen Aufsatz im Fach Deutsch vor. In der Klassenarbeit soll nach der Tradition des „dialektischen Besinnungsaufsatzes“ ein kontroverses Thema erörtert werden. Zu ihm sollen die Schüler Pro- und KontraArgumente entwickeln und abwägen. Entsprechend einer vor allem methodisch motivierten Schulung organisiert der Lehrer die Vorbereitung auf die Klassenarbeit. Er legt den Schülern verschiedene Übungen mit Spielmaterial vor. So sollen die Schüler überlegen, wie man Eskimos einen Kühlschrank verkaufen kann und dies dann szenisch darstellen. Mit dem folgenden Arbeitsblatt verspricht der Lehrer den Schülern, ein handhabbares Modell für eine gestufte Argumentation vorzulegen. „Aufgabe 3: Die nebenstehenden Sätze enthalten drei Thesen. Ordnen Sie ihnen die zugehörigen Argumente, Belege und Beispiele zu. Beispiel: These 1: ... Zugehöriges Argument: ... Beleg: ... Beispiel: ... a) Denn nur eine kleine Zahl von Bewerbern wird zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. b) Zu dieser Frage habe ich vor einiger Zeit eine informative Fernsehsendung über das Amazonasgebiet in Brasilien gesehen. c) Das Abholzen der tropischen Regenwälder muss unbedingt eingestellt werden. d) Denn diese Stoffe haben, vor allem langfristig, gefährliche Nebenwirkungen. e) Das haben wir in unserer Klasse bei Bewerbungen immer wieder festgestellt. f) Weil viele Betriebe eine Vorauswahl der Bewerber nur nach den Noten treffen. g) Denn die riesigen Waldflächen produzieren den lebensnotwendigen Sauerstoff. h) Weil diese Mittel die Gesundheit der Athleten schädigen.
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i) Gute Noten im Schulzeugnis sind bei einer Bewerbung entscheidend. j) Die Einnahme von leistungsfördernden Dopingmitteln im Sport muss verboten werden. k) Weil diese Wälder für das Weiterbestehen der Menschheit unbedingt erforderlich sind. l) Die Bilder von männlich wirkenden Leichtathletinnen zeigen doch auffällig, wie gesundheitsschädigend diese Mittel sind.“ Es handelt sich um eine Kopiervorlage aus einem Kursheft, das sich augenscheinlich an Erwachsene wendet. Die „Aufgabe 3“ enthält keine Aufforderung, die auf die Darstellung, Analyse oder Begründung einer Argumentation hinausliefe. Die Schüler sollen nicht zu einem Thema Argumente finden, angebotene Argumente prüfen oder eine eigene Position beziehen. Stattdessen liefert das Arbeitsblatt die Argumentation zu drei Themen gleichsam frei Haus. Gekoppelt ist das mit der Behauptung, die 12 alphabetisch aufgelisteten Sätze enthielten vier verschiedene Satztypen: also je 3 Thesen, Argumente, Belege und Beispiele, die bezogen werden auf unterschiedliche, leicht diskriminierbare Inhaltsbereiche. Eine ursprüngliche Ordnung der Sätze in ihrem thematischen Zusammenhang ist augenscheinlich mit der Maßgabe zerstört worden, sie nun wieder vom Bearbeiter herstellen zu lassen. Es geht mithin nicht darum, den Status der Sätze definitorisch zu bestimmen, wohl auch nicht darum, an den Beispielsätzen inhaltlich zu diskutieren, inwiefern sie zu einer These, einem Argument, einem Beleg und einem Beispiel taugen. Es ist bereits eine eindeutige Prädizierung der Sätze vorgenommen worden, die nun durch den ordnenden Bearbeiter anzuwenden ist. Das kann von den Schülern nur mit Aussicht auf Erfolg erwartet werden, wenn die Form der kategorialen Prädizierung mit Rückgriff auf eine plausible Theorie eindeutig und evident, gleichsam selbsterklärend ist. Dann könnte sich die faktische Zuordnung des Bearbeiters des Blattes mit der des Erfinders decken. Das Ordnungsschema muss also transparent sein, sozial geteilt werden und gelungen exemplifiziert worden sein, wenn alle Bearbeiter zum gleichen Ergebnis kommen sollen. Aber ist das realistisch? Kann sich der Erfinder des Blattes auf eine entsprechend eindeutige Vorstellung beziehen, so dass jeder, der in sie eingeführt worden ist, weiß, wovon hier die Rede ist? Die Schüler müssten bereits über dieses in der Ordnung unterstellte allgemeine Wissen über den Charakter einer These, eines Arguments, eines Beleges und eine Beispiels verfügen. In diesem Falle wäre die Aufgabe eine zur bloßen Überprüfung dieser Fähigkeit der Zuordnung. Eine weitere mögliche Zugriffsweise zur Aufgabenlogik und ihrer Bearbeitung jenseits einer fachwissenschaftlichen Darstellung zur Theorie und Praxis der Argumentation wird durch die Form des Arbeitsblattes herausgefordert. Sie
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besteht darin, dass fehlendes Wissen in der Sache durch die Kompetenz intelligent abstrakter Kombinatorik substituiert wird; die damit nicht auf den Inhalt der Sätze, sondern ihre empirisch gegebene Formunterschiede abhebt. Auf der Suche nach einer solchen Ordnung zweiter Art wird der Leser schnell fündig. Zweimal drei Sätze beginnen identisch, entweder mit „Denn“ oder mit „Weil“. Signifikant dürfte dies auch deswegen sein, weil sie nicht als Nebensätze, sondern wie Hauptsätze auftreten. Das bereits macht sie zu Kandidaten für je einen der vier Satztypen. Eher unwahrscheinlich ist, dass so Thesen beginnen, wohl auch nicht Beispiele. Belege sind wohl Beweise, weswegen sie generell mit „Weil“ begonnen werden. Argumente können als Begründungen mit „Denn“ begonnen werden. Beides kann aber auch umgekehrt sein. Intuitiv geurteilt lässt sich ein Beleg als konkreter Satz wohl eher mit „Weil“ und ein Argument als allgemeiner Satz eher mit „Denn“ beginnen. Hoffentlich hat der Autor der Sätze das entsprechend beherzigt. Es bleiben die These und das Beispiel. Ihr Unterschied ist klar der, dass eine These allgemein formuliert wird, während ein Beispiel immer konkret ausgelegt wird, es muss nur passend sein. So dürften die restlichen Sätze nur noch nach ihrem Allgemeinheitsgrad bzw. ihrer Konkretheit unterschieden werden. Betrachtet man nun noch die thematische Differenz der Sätze, wird leicht erkannt, dass es einmal um Urwälder geht, dann um leistungsfördernde Dopingmittel im Sport und schließlich um gute Noten als Vorteil bei der Berufsbewerbung. Auf diese Weise ergibt sich eine einfache Lösung der Aufgabe in der gewünschten Reihenfolge von These, Argument, Beleg, Beispiel2. Unter das Thema Regenwald subsumieren wir die Sätze c, g, k, b, unter Drogeneinnahme j, d, h, l, unter Schulnoten i, a, f, e. Der Lehrer unterläuft die technische Lösung unfreiwillig, indem er nicht zur Zuordnung auffordert, sondern für die Suche eine Klärung der Begriffe postuliert. L.: Wir beginnen mit der ersten Aufgabe. Und zwar als Beispiel ist hier oben angeführt, Arbeitsblatt 3 These 1: dazugehöriges Argument, Beleg und Beispiel. Die nebenstehenden Sätze enthalten drei Thesen, die sollt ihr finden. Vielleicht machen wir das erst mal in Schritten ... Bitte? S.: Können Sie kurz sagen, was noch mal eine These ist? L.: Was ist eine These? .... Was ist eine These? 2
Diese Pragmatik der Aufgabenlösung wurde von uns mehrfach in Seminaren und bei Vorträgen getestet. Es ergab sich immer wieder die gleiche Dreiteilung des Reaktionsmusters: Eine Gruppe entzog sich der schnellen Übung mit dem Hinweis, noch nicht verstanden zu haben, was hier getan werden soll. Eine andere Gruppe übertrug das eingebrachte Verständnis der Kategorien und der Sachverhalte auf die Übung und geriet schnell in Schwierigkeiten. Eine dritte Gruppe löste in wenigen Minuten das Rätsel und präsentierte mit den Buchstaben die gewünschte Zuordnung. Unter ihnen galt zugleich der Ehrgeiz, als erster fertig zu werden.
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Sm10.: Das ist eine Aussage, .... die noch nicht begründet wurde. Kann man sagen, vielleicht ein Beweis, der noch nicht begründet wurde. Ich meine Beweis ist ja begründet, aber ... L.: ... die Aussage wäre besser. Sm10: . Ja, OK! L.: Also eine Aussage, die noch nicht begründet oder ausgeführt worden ist. So dann machen wir das erst einmal und ihr guckt jeder ... Wir haben auch noch ein bisschen Zeit, für a) und 1. Wo findet ihr dann Aussagen, Thesen? Es müssen drei versteckt sein. Und die nummeriert ihr dann euch mal durch: 1.2.3. Swt: Ich verstehe das noch nicht! L.: Verstehst Du? S.: Wir sollen jetzt also von diesen drei Hypothesen, die darin enthalten sind oder was? ... Ich brauchte jetzt von diesen Sätzen ein Beispiel, was eine These ist zum Beispiel. L: ... eine einfache Aussage. Äh was können wir ... Sm9: Die Welt geht in zwei Jahren unter! L.: Weißt Du es jetzt? Sw10 : Ja … L.: „... also der versucht dir etwas zu erklären, was zu begründen, zu belegen, ja? OK! Also das (gemeint ist seine eigene Liste A.G.) sind die drei Thesen. Was ist? Noch ne Frage? Sm9: Ich hab was auszusetzen, dass c eine These ist, denn da ist überhaupt keine Aussage drin. Doch, ist schon eine drin, aber äh.. L.: Das Abholzen der tropischen Regenwälder muss unbedingt eingestellt werden. Sm9: Ich meine, da kann man ... Da gibt es nichts zu beweisen, ganz einfach. L: Warum? Sm9: Ja, was soll es denn da für einen Beweis geben? Bewiesen ist, dass es eingestellt werden muss? Ich meine, das kann ja jeder anders sehen, oder? L.: Ja, das sollst du ja gerade ... Sm9: Das ist eher ne Meinung und keine These , ... finde ich L.: Das ist ne Aussage, Das ist sogar ne Forderung, also noch mehr als nur ne Aussage, Und die muss erst mal begründet werden. ... Sm9: „Na gut!“ L: „ ... du wirst das noch schon einsehen“. ... Sw7: „Ich hab noch mal nachgedacht, das irgendwie zu verstehen, aber ich konnte ... mir das nicht vorstellen, das als These zu sehen. Aber ich glaube einfach, ich weiß nicht, was These ist. Ich hab’s nicht verstanden ... Wenn hier alle sagen, dass wir keine These haben ...“.
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Die Sequenzen sprechen weitgehend für sich selbst. Der Lehrer stolpert erst mit der Aufnahme der Frage, was eine These ist, über die Tücken des didaktischen Objekts. Aber anders als die Schüler merkt er dies erst sehr spät. Dafür insistiert er darauf, dass das didaktische Material eine Rationalität ausweise, der man vertrauen könne. So sei es für ihn klar, wo die drei Thesen versteckt sind. Indem die Schüler allein die Thesen finden wollen, kommen sie auf viel mehr Kandidaten als drei. Ein Schüler exponiert sich als derjenige, der eine kategoriale Klärung verlangt. Er könne und wolle nicht tun, was gegen seine Einsichten verstoße. Der Lehrer müht sich redlich um Klärung, aber er vermag sich nicht so weit vom Material zu distanzieren, dass er unabhängig von den drei konstruierten Beispielen eine begriffliche Bestimmung versuchen würde. Seine Hinweise beziehen sich letztlich diffus, ja in sich widersprüchlich auf die Beispielsätze. Aus Thesen werden Aussagen, ohne dass geprüft wurde, inwieweit auch die anderen Sätze Aussagen enthalten, die ebenfalls zu beweisen und weiter auszuführen wären. Aussagesätze dieses Typs lassen sich steigern zu Forderungen, die schlechterdings nicht zu beweisen sind. Der Lehrer will auch gegen den begründeten Widerspruch des Schülers die Lösung des Arbeitsblattes mit der Zuordnung der Sätze hören. Die kann sich nicht der Einsicht in die Differenz der vier Satztypen verdanken. So bleibt dem Schüler am Ende nur die Resignation und dem Lehrer die Hoffnung, der opponierende Schüler werde es noch einsehen. Faktisch bedeutet dies die Botschaft, dass im Unterricht der Lehrer immer recht hat, auch wenn dies evident nicht der Fall ist bzw. der Lehrer nicht plausibel machen kann, was er mitteilen will. Das kann abschließend beurteilt werden als Versuch, Anpassung zu erzwingen gegen die Überzeugung des Schülers. Die Schüler können aus dem Beispiel aber auch entnehmen, dass der Lehrer sich auf diese Weise als Papiertiger erweist und er unfreiwillig den Widerspruch gegen die ihnen zugemutete Intentionalität offen hält. Zu erkennen gibt sich eine Art List der Vernunft, ohne dass sie von allen Schülern als solche wahrgenommen werden dürfte. Was folgt aus diesen beiden, keineswegs für schulisches Lernen insgesamt bereits repräsentativen Fällen, wenn man sie auf die Ausgangsfrage bezieht? Beide stellen eine Herausforderung zur Mündigkeit dar, auch wenn es in ihnen nicht zu einer intentionalen Erziehung zur Mündigkeit kommt. Sie bestätigen den Verdacht, dass es der Schule vor allem darum geht, funktionale Mündigkeit zu erzielen, also die selbständige Übernahme und Umsetzung gewünschter Verhaltensweisen. Zugleich aber geht das augenscheinlich überall dort nicht ohne Widerspruch auf, wo die von der Schule postulierte Zielsetzung der Urteilsfähigkeit der Schüler von diesen selbst in Anspruch genommen wird. Gelegenheiten dazu ergeben sich unausgesetzt, weil das Schulische des Lernens sich mit der rationalen Prüfung der verhandelten Sache bricht. Im Kern besteht die Mündigkeit also in der Selbstsetzung des Schülers als mündiges Subjekt. Sie folgt nicht aus der Einheit von Erziehungsabsicht und Erziehungswirkung.
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Literatur: Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982 Ders.: in: Kollegstufe NW, Gutachten der Planungskommission, Ratingen 1972 Bueb, Bernhard: Disziplin, München 2005 Dreeben, Robert: Was wir in der Schule lernen, Frankfurt 1982 Gruschka, Andreas: Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Wetzlar 1994 Ders.: http www:uni-frankfurt/fb04/forschung/ kälte.html Ders. Erkenntnis in und durch Unterricht, Opladen 2009 (im Erscheinen) Herbart, Johann Friedrich: Allgemeine Pädagogik; in: Pädagogische Grundschriften (Asmus, Walter: Hrsg.), Düsseldorf 1965 Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung?, Werke XI, Akademische Ausgabe, Frankfurt 1964, S.53–61 Koneffke, Gernot: Pädagogik im Übergang zur bürgerlichen Herrschaftsgesellschaft, Wetzlar 1994 Leser, Christoph: „Das passt so wie zum Klassenrat!“ – Die Wirkung von (Reform)Schulerfahrungen auf das politische Lernen; in: Pädagogische Korrespondenz 39/2009, S. 56–77 Rousseau, Jean-Jacques: Emile – oder über die Erziehung, Paderborn 1972
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Wann wird der Mensch strafmündig? Strafmündigkeit schon mit 6 Jahren? Strafmündigkeit schon mit 7 Jahren? Strafmündigkeit erst – aber doch auch schon – mit 10 Jahren? Wer glaubt, diese Fragen seien die eines deutschen Ministerpräsidenten im Wahlkampf und zugleich der Rahmen, in dem seine Antworten, seine Forderungen liegen, geht fehl. Es sind die Antworten der benachbarten Schweiz. Viele Jahrzehnte lag das Strafmündigkeitsalter dort bei 6 Jahren. 1971 wurde es auf 7 Jahre angehoben und so dem Durchschnittsalter bei der Einschulung angepasst. Seit 2007 gilt nach Art. 3 des schweizerischen Jugendstrafgesetzes das Jugendstrafrecht für Personen, die zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Lebensjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begehen. Eine Expertenkommission hatte zwar die Heraufsetzung der Strafmündigkeitsgrenze auf 12 Jahre empfohlen. Die Entführung und Ermordung des kleinen James Bulger durch zwei 10-jährige Jungen in Liverpool bewegten aber – wie andere aus dem In- wie Ausland berichtete schwerste Straftaten von unter 12-jährigen Tätern – im so genannten „Vernehmlassungsverfahren“ die Mehrheit der Schweizer Abgeordneten, nur den Schritt von 7 auf 10 Jahre zu gehen.1 Auf diesem Hintergrund sind Roland Kochs kriminalpopulistische Wahlkampfüberlegungen zu einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze in Deutschland von bisher 14 auf 12 Jahre eher moderat. Er hatte sogar nicht einmal für eine generelle Absenkung, sondern in und mit der „Bild am Sonntag“ nur dafür geworben, angesichts „einer sehr aggressiven Kriminalität einer sehr kleinen Gruppe von Menschen unter 14 Jahren ... Elemente des Jugendstrafrechts auch schon für diese Altersgruppe einzusetzen“. 2 Was das genauer zu bedeuten hätte, blieb in dem Interview freilich offen. Als aus dem Text gefolgert wurde, Koch
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S. zu diesen Hintergründen und der Entwicklung in der Schweiz Gürber/Hug/Schläfli, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I, 2. Aufl. 2007, vor Art. 1 JStG Rn 1 f, 55 ff; Art. 3 JStG Rn 1; s. zur Wirkung des dort angeführten Liverpooler Falles auch Claudia Keiser, ZStW 120 (2008), S. 24, 36 ff. 2 Aus dem Gespräch Roland Kochs mit der BamS vom 13.08.2008.
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propagiere „Knast für Crashkids“, 3 wolle „Kinder in Gefängnisse“ schicken, Haft für „brutale Zwölfjährige“ ermöglichen und allgemein die „Strafmündigkeit absenken“, überraschte nach eigenem Bekunden „die Zuspitzung, die das Ganze“ in solchen Interpretationen gefunden habe, den Urheber selbst. Als mit Pofalla und Wulff – letzterer selbst im Wahlkampf – auch hochrangige CDURepräsentanten solchen Zuspitzungen als von der CDU nicht gewollt entgegentraten, ruderte Koch zurück. „Es klingt, als wollten wir Kinder ins Gefängnis stecken. Dem ist selbstverständlich nicht so“, ließ er am Montag nach dem Interview über die Wiesbadener Staatskanzlei verbreiten. Allerdings „müssen wir uns etwas einfallen lassen, wie wir mit Jugendbanden umgehen“, die sich die Strafunmündigkeit von 12- und 13-jährigen zunutze machten.4 Man wird Roland Koch kaum ein Unrecht tun, wenn man ihm trotz dieser Modifikationen unterstellt, dass er mit den „Elementen des Jugendstrafrechts“, die er als Antwort auf aggressive Kriminalität von unter 14-jährigen einzusetzen empfahl, an Jugendarrest, auch an Jugendstrafe, an Kinder also hinter Gittern gedacht hat. Das liegt auch deshalb nahe, weil er auf dem Hintergrund des Münchner U-Bahn-Falles argumentierte. In diesem hatten ein 20-jähriger Türke und ein 17-jähriger Grieche einen deutschen Pensionär, der sie auf das Rauchverbot in U-Bahnen verwies, lebensgefährlich zusammengetreten. Koch stellte hierzu nicht nur die Frage, was wir uns „von einem kleinen Teil äußerst gewaltbereiter Jugendlicher, häufig mit ausländischem Hintergrund“, denn alles „gefallen lassen“ sollten. Vielmehr empfahl er in der selbst gegebenen Antwort – da wir „zu viele kriminelle junge Ausländer“ hätten – „Null-Toleranz gegen Gewalt“, die „ganz früh beginnen und Bestandteil unserer Integrationspolitik“ sein müsse.5 Neben Ausweisung und Abschiebung, neben der Regelanwendung von Erwachsenenstrafrecht auf Heranwachsende kann das aber nur den Gebrauch der schärfsten jugendstrafrechtlichen Sanktionen „ganz früh“ bedeuten und damit sind wir zurück bei der Senkung der Strafmündigkeit: Denn Jugendarrest oder Jugendstrafe setzen Strafmündigkeit voraus. Und damit sind wir beim Thema: Wann wird denn der Mensch nun strafmündig, wann sollte er strafmündig sein? Gibt darauf die Antwort Herr Koch, anders gewendet, politische Meinung, gibt sie die menschliche Natur, oder ist sie ein Kompromiss, der 3
Arthur Kreuzer, in: Die Zeit vom 16.01.2008 (http://www.Zeit.de/online2008/ 03/Kinderknaeste-Kreuzer). 4 Quelle: FAZ-NET, Jugendkriminalität – Politik; „Koch fühlt sich missverstanden“, abgerufen am 12.03.2008; widersprochen haben neben Wulff („Kinder sind Kinder, und da stellt sich vor allem die Frage nach den Eltern“), und Pofalla („Es geht uns nicht um die Absenkung der Strafmündigkeit“) auch Kurt Beck: „Kinder in Gefängnisse – das ist nicht Politik der Koalition“ und Wiefelspütz („abwegig“); Zustimmung erhielt Koch dagegen von den CDUPolitikern Röttgen, Oettinger, Mackenroth und Philipp Missfelder von der Jungen Union. 5 So Koch in einem Bild-Interview mit N. Blome unter dem Titel „Wer in Deutschland lebt, hat die Faust unten zu lassen“.
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– wie die Antwort auf die Frage „Wann ist der Mensch tot?“ 6 – zwischen Natur und Gesellschaft erst auszuhandeln ist? I. Um das zu beantworten, muss man wissen, was „Strafmündigkeit“ ist. Das Wort ist in aller Munde, findet sich aber nicht im Gesetz. Es bedeutet eine Eigenschaft, besser vielleicht eine im Prozess des biologischen Älterwerdens des Heranwachsens und Reifens erworbene Fähigkeit, nämlich die, für eine begangene Straftat verantwortlich sein und infolgedessen straf-rechtlich zur Verantwortung gezogen, mit Strafe bedacht werden zu können. Dazu bedarf es nach deutschem Straf-, aber auch nach deutschem Verfassungsrecht unabdingbar der Schuld. Der Grundsatz nämlich, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, ist nach dem Bundesverfassungsgericht im Rechtsstaatsprinzip begründet. Er wurzelt in der verfassungsmäßig geschützten Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen, die vom Gesetzgeber auch bei der Ausgestaltung des Strafrechts zu achten ist. Er garantiert, dass die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters steht. Und er stellt klar, dass Strafe nicht nur auf Prävention, sondern auch auf Repression und Vergeltung zielt. Da mit jeder Strafe dem Täter ein Regelverstoß vorgehalten und ein Vorwurf gemacht wird, setzt Strafe nach unserem höchsten Gericht „Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus“. Denn „anderenfalls“ – so sagt das Gericht – „wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat“. Die Schuld begründet und begrenzt hiernach Strafe: Nulla poena sine culpa hat Verfassungsrang.7 Auch wenn das Jugendstrafrecht, um das es hier geht, die Strafen des Erwachsenenstrafrechts nicht kennt und unter dem Primat der Erziehung lebt, gelten für es diese Aussagen doch auch. Denn einerseits haben alle jugendstrafrechtlichen Sanktionen wie die Strafen des Erwachsenenstrafrechts Eingriffscharakter und wirken als Mittel des staatlichen Zwangs repressiv. Und andererseits kommt auch das Jugendstrafrecht nicht ohne das Zwangsmittel der von ihm Jugendstrafe genannten Strafe aus, die – wie jede andere Sanktion – auch den Jugendlichen für sein Tun verantwortlich macht. Und wenn auch im Jugendstrafrecht nicht die Tat, sondern der Täter im Mittelpunkt steht, setzt die Tatschuld – von der wir Strafrechtler sprechen – auch hier (jedenfalls) die obere Grenze für jede 6
Dieser Fragestellung gingen Hoff/in der Schmitten in ihrem gleichnamigen Buch aus dem Jahre 1994 (Reinbek bei Hamburg) anlässlich der Debatte um den Hirntod und das Transplantationsgesetz nach. 7 S. nur BVerfGE 20, 323, 331; 25, 269, 285; 50, 205, 215; 86, 288, 313; 95, 96, 140 f; zusammenfassend auch Hillenkamp, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht, 2006, S. 85, 97.
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Sanktion. Auch im Jugendstrafrecht ist keine Strafe erlaubt, die aus erzieherischem Grund über das Maß der Tatschuld hinausgriffe.8 Aus alledem folgt: Strafmündigkeit setzt Schuldfähigkeit voraus, genauer gesagt sie ist mit der Schuldfähigkeit ein Stück weit identisch. Eben davon zeugt auch unser Gesetz. Denn unter der amtlichen Überschrift „Schuldunfähigkeit des Kindes“ sagt § 19 des geltenden Deutschen Strafgesetzbuchs (StGB): „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist“. Stattdessen könnte auch stehen: „Strafunmündig ist, wer bei der Tat das 14. Lebensjahr noch nicht erreicht hat“. Bevor man genauer hinterfragt, warum das so – und damit was Schuldfähigkeit, was Strafmündigkeit inhaltlich – ist, muss man erfahren, was Schuld im Sinne des Strafrechts bedeutet. Dazu will ich hier nicht die kontroversen Antworten berichten, die man im Streit der Strafrechtler findet. Auch kann ich – obwohl man es eigentlich müsste – nicht auf die Angriffe deutscher Hirnforscher eingehen, die sich gegen das Freiheitspostulat wenden, das dem die Praxis beherrschenden Schuldverständnis zugrunde liegt, und die deshalb Schuld im Sinne eines Dafürkönnens leugnen.9 Vielmehr beschränke ich mich darauf zu zitieren, wie das höchste Fachgericht in Strafsachen, wie der Bundesgerichtshof in Karlsruhe Schuld definiert. „Mit dem Unwerturteil der Schuld“, sagt das Gericht, „wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden“. 10 Beschreibt man den Schuldvorwurf so, setzt Schuldfähigkeit, setzt Strafmündigkeit als ihr Unterfall, zwei Dinge voraus. Zum einen muss der Mensch, dem seine Tat zum Vorwurf gemacht werden soll, fähig sein, das Unrecht der Tat einzusehen, zum zweiten nach dieser Einsicht zu handeln. Dass die Tötung eines Menschen Unrecht ist, muss der Mensch – soll er strafmündig sein – schon erkennen können: Unrechtseinsichtsfähigkeit nennen wir das. Aus dieser Einsicht heraus die Tötung zu unterlassen, sich zwischen Recht und Unrecht frei zu entscheiden, sein Handeln nach seiner besseren Einsicht zu richten, muss er fähig sein. Steuerungsfähigkeit nennen wir das. Nur wo beides zusammenkommt, nur wem weder das eine, noch das andere fehlt, gegen den macht es 8
S. hierzu nur Brunner/Dölling, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, 11. Aufl. 2002, Einf. II Rn 6-10; 14-17; § 18 Rn 10-14. 9 S. zu beidem Hillenkamp, JZ 2005, 313 ff; ders. in: C. Gestrich/T. Wabel (Hrsg.), Freier oder unfreier Wille, Beiheft zur Berliner theologischen Zeitschrift 22, Berlin 2005, S. 72 ff; ders. in: Hillenkamp (wie Fn 7), S. 85, 101 ff. 10 BGHSt GSSt 2, 194.
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Sinn, den Vorwurf der Schuld zu erheben, ihm zu sagen, er hätte sich anders entscheiden, er hätte anders, nämlich im Sinne des Rechts – das er erkannt hat oder erkennen konnte – handeln können und sollen.11 Diese Fähigkeiten – oder doch eine von ihnen – können dem Menschen auch ganz unabhängig von seinem Alter, seiner Entwicklung, seiner Reife fehlen, also auch dem Erwachsenen. Das kann so sein, weil – wie § 20 unseres Strafgesetzbuches es sagt – der Täter „bei Begehung der Tat“ an einer „krankhaften seelischen Störung“, an einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“, an „Schwachsinn oder einer schweren seelischen Abartigkeit“ leidet. Solche biologischen Beeinträchtigungen müssen nicht zwangsläufig, sie können aber zum Verlust der bezeichneten Fähigkeiten führen; so etwa beim unter Verfolgungswahn Leidenden, der sich in Notwehr wähnt und daher das Unrecht seiner Tat nicht sieht oder beim Triebtäter, der zwar weiß, dass er Unrecht tut, gegen seinen Trieb, seinen Tatdrang aber nicht ankommt. Ob das so ist, entscheidet der Richter, in der Regel beraten durch einen Sachverständigen, der psychiatrisch geschult und forensisch erprobt ist. Wenn es so ist, spricht das Gesetz – wie beim noch nicht 14 Jahre alten Kind – auch hier von Schuldunfähigkeit. Hieraus erhellt, wie unser Gesetz es beim Erwachsenen sieht: Es hält ihn im Normalfall für schuldfähig, es schreibt ihm Schuldfähigkeit zu. Es unterstellt, dass er nach seiner geistigen und seelischen Verfassung den Anruf der Normen versteht, sieht oder doch sehen kann, dass die Auflehnung gegen sie Unrecht bedeutet, und es nimmt an, dass er von Zwang frei ist, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Dass es ein Anders-wollen- und Anders-handeln-können, dass es die Freiheit der Entscheidung gibt, ist seine indeterministische Position. Nur im Ausnahmefall rückt das Gesetz von diesen Annahmen ab, wo eine biologische Abnormität, eine Krankheit dem Menschen die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit oder auch beides im Zeitpunkt der Begehung der Tat nimmt. Für Jugendliche verfährt das Gesetz anders. Natürlich kann auch ein Jugendlicher, der schon strafmündig, der aber geisteskrank, schwerstalkoholisiert, dessen Triebleben abartig ist, wie ein Erwachsener der Schuld im Ausnahmefall unfähig sein. Dann ist auch für ihn der soeben skizzierte § 20 StGB im Grundsatz gültig.12 Menschen unter 18 Jahren – und das sind Jugendliche und Kinder – schreibt aber das Gesetz die für die Schuld nötigen Fähigkeiten, die Schuldfähigkeit anders als dem Erwachsenen nicht ohne weiteres und nicht für den Normalfall schon als Regelbefund zu. Vielmehr teilt es die jungen Menschen in 11
S. Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 38. Aufl. Heidelberg 2008, Rn 397. Das im Einzelnen schwierig zu bestimmende und strittige Verhältnis zwischen § 3 JGG und § 20 StGB kann und muss hier nicht im Einzelnen erörtert werden, s. dazu nur Brunner/Dölling (wie Fn 8), § 3 Rn 10 ff; Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 12. Aufl., München 2007, § 3 Rn 33 ff; Streng, Jugendstrafrecht, 2. Aufl., Heidelberg 2008, Rn 59 ff jeweils m. w. N. 12
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zwei unterschiedlich bewertete Schichten. In § 19 spricht es den unter 14-jährigen, den Kindern die Schuldfähigkeit ab. Das gilt generell, ausnahmslos, ohne jede das Individium ins Auge fassende Prüfung. Wir sprechen von absoluter, von unbedingter Strafunmündigkeit, das Gesetz von Schuldunfähigkeit. Ist der Mensch 14, aber noch nicht 18 bezeichnet ihn das Jugendgerichtsgesetz als „Jugendlichen“ (§ 1 Abs. 2 JGG). Für ihn legt es dem Richter auf, die Schuldfähigkeit in jedem Einzelfall gründlich zu prüfen. Sie wird nicht vermutet, nicht unterstellt, vielmehr muss sie für die jeweils begange Tat in einem positiven Sinn festgestellt werden. § 3 des Jugendgerichtsgesetzes beschreibt diese Notwendigkeit so: „Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.“ Das Gesetz nennt das „Verantwortlichkeit“, wir sprechen von relativer, von bedingter Strafmündigkeit. Sie setzt Einsichts- und Steuerungsfähigkeit wie beim Erwachsenen voraus und macht sie abhängig von der sittlichen und geistigen Entwicklungsreife. Wer über 18 aber noch nicht 21 ist, ist nach dem JGG Heranwachsender und unter Umständen wie ein Jugendlicher zu behandeln. Was seine Strafmündigkeit, seine Schuldfähigkeit betrifft, stellt das Gesetz ihn aber dem Erwachsenen gleich. II. Wann also ist der Mensch strafmündig? Ist er ein Kind, noch nicht 14 Jahre alt, ist er es nach unserem Strafgesetz nicht. Das gilt, weil einer 3-jährigen, übermalt sie ein Testament, die Einsicht fehlt, Unrecht zu tun, das gilt, weil ein 8jähriger sich nach der Lebenserfahrung dem Ansinnen seines Vaters, ihm beim Einbruch zu helfen, nicht aus eigener Entscheidung, sondern aus Angst, aus äußerem Zwang, aus Autoritätsglauben beugt. Dann leuchtet es ein, von Strafunmündigkeit zu sprechen, dann ist Strafunmündigkeit ein Zustand, der ist. Die gesetzliche Regelung beschreibt aber nicht nur, wie es ist, vielmehr ist sie bisweilen auch bloße Fiktion. Denn einem normal entwickelten und erzogenen 13-jährigen, dem es an nichts fehlt, wird man vorwerfen können, entgegen besserer Einsicht einem Mitschüler dessen Handy mit Gewalt abgenommen zu haben. Hier leistet das Gesetz trotz Vorwerfbarkeit, trotz vorhandener „Schuld“ Strafverzicht. Es nimmt auch verschuldetes Unrecht ohne Strafe in Kauf, weil die Schuld noch gering, weil die ultima ratio staatlicher Zwangsmittel als Antwort noch unangemessen, weil sie möglicherweise auch kontraproduktiv ist und weil die Strafzwecke nach Strafe nicht rufen. Und es vermeidet mit dieser abstrakten Zäsur, dass mit großem forensischen Aufwand in jedem Fall dem Entwick-
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lungsstand mit oft ungewissem Ergebnis erst nachgeforscht wird.13 Unter 14 geht also „strafrechtlich nichts“. Ab dann aber verlangt das Gesetz – wie schon geschildert – die Feststellung hinreichender sittlicher und geistiger Reife, hinreichend für Einsichts- und Steuerungsfähigkeit in Bezug auf die konkret begangene und verhandelte Tat. Der Gesetzgeber erwartet, dass sich der Jugendrichter um diese Feststellung sorgfältig bemüht und die Verantwortlichkeit im Urteil ebenso sorgfältig begründet.14 Die Praxis kommt dem nicht nach.15 Das hat nicht vollends erforschte, aber nahe liegende Gründe. Zum Ersten besteht die Jugenddelinquenz zu einem beherrschenden Anteil aus relativ einfach strukturierten Delikten im seit vielen Jahrzehnten, zum Teil auch Jahrhunderten tradierten Kreis klassischer Vergehen wie namentlich Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung, Fahren ohne Fahrschein, bisweilen auch Führerschein, schon seltener, aber auch Raub.16 Dass die Begehung solcher Taten Unrecht ist, ist eine Einsicht, dass man sich von ihr fernhalten kann, eine Fähigkeit, die deutsche Jugendrichter 1417-jährigen offenbar in aller Regel ohne größere Exploration der Persönlichkeit zutrauen, zumal man heute von einer deutlicheren Akzeleration als in früheren Jahrzehnten oder Jahrhunderten ausgeht. Zum Zweiten wird mancher Jugendrichter die aufwendige und den Jugendlichen belastende Erforschung des Reifeprozesses mit dem möglicherweise depravierenden oder als Freibrief für weitere Taten empfundenen17 Ergebnis der Unmündigkeit für den jugendlichen Täter für eine schädlichere Prozedur halten, als beispielsweise die Verhängung einer Erziehungsmaßregel gegen einen beim näheren Hinsehen vielleicht noch nicht ganz hinreichend ausgereiften 15-jährigen, dem die Attestierung von Verantwortlichkeit bei der Internalisierung gesellschaftlicher Normen eher als ein Nicht-Zur-Rechenschaft-Gezogen-Werden hilft.18 Und zum Dritten ist es auch schwer, in die sehr unbestimmten Begriffe sittlicher und geistiger Reife ein 13
S. dazu Streng, in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, München 2003, § 19 Rn 1 m. w. N. 14 S. Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 4. 15 S. Brunner/Dölling (wie Fn 8), § 3 Rn 3; Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 10 jeweils m. w. N.; ferner den Hinweis im Arbeitsbericht der 2. Jugendstrafrechtsreform-Kommission, DVJJ-Journal extra 5, 2002, S. 22 Fn 46: „Eine Analyse aller Höchststrafenurteile (10 Jahre Jugendstrafe) aus den Jahren 1987-1996 zeigte, dass lediglich in zwei von 21 Urteilsbegründungen § 3 JGG angewendet wurde. In einem Urteil wurde gar nicht auf ihn Bezug genommen, in der großen Mehrzahl wurde die Vorschrift lediglich formelhaft bejaht. In 52,4 Prozent der Fälle wurden nicht einmal die Voraussetzungen der Vorschrift genannt.“ 16 S. Dölling, in: H. J. Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Band 1, Berlin 2007, S. 469, 477 ff; ders., ForensPsychiatrPsycholKriminol 3/2008, S. 155, 156 ff m. w. N. 17 S. Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 14. 18 S. Brunner/Dölling (wie Fn 8), § 3 Rn 1.
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Korsett einzuziehen, das rational begründete und richtige Beurteilung fördert. Dazu bieten die an der Auslegung und Fundierung beteiligten Wissenschaften der Praxis nur sehr eingeschränkt Hilfen. Fragt man nach diesen Kriterien aus psychiatrischer Sicht, liegt es zwar nahe, ihre Verneinung auf pathologische Einzelfälle zu beschränken, die in § 20 StGB ihr Spiegelbild finden oder sich dessen Befunden doch nähern. Diese Sicht entspräche aber nicht dem gesetzlichen Auftrag. Sie wirkt freilich in die Praxis hinein, weil Gutachter traditionell psychiatrische Vorbildung haben. Entwicklungspsychologische Forschung entwickelt zwar – wie die Theorie von Piaget und das 6-stufige Modell der Moralentwicklung von Kohlberg – Modelle, wie Moralvorstellungen und Rechtsbewusstsein wachsen; auch finden sich kognitionspsychologische Erkenntnisse über die Ausbildung von Regelsystemen im Menschen. Methodische Einwände und der hohe Abstraktionsgrad der präsentierten Einsichten machen sie für die Praxis aber nur schwer verwendbar.19 Entwicklungs-, Intelligenz- und Sozialreifetests sind im Verbund mit klinischer Exploration sicherlich hilfreich, andererseits aufwendig und nicht ohne weiteres in die Fragen des § 3 zu übersetzen.20 Die Unsicherheiten verstärkt, dass die Hilfestellung in ein Wortgeflecht einwirken soll, das sich nicht gerade durch Fassbarkeit auszeichnet. Was ist sittliche, was geistige Reife, die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ermöglicht? Einerseits wohl kognitive Verstandesreife, die den Jugendlichen nicht notwendig die Strafbarkeit, „das Ungesetzliche“ 21, wohl aber das materielle Unrecht der Tat zu erkennen ermöglicht; dass das Verbot zu Stehlen etwas anderes ist, als das Verbot des Spielens auf dem Hof, muss ihm zugänglich, muss erschließbar sein.22 Andererseits geht es mit der sittlichen um eine „ethische“, vielleicht eher „soziale“ Reife, die nicht allein auf der Kenntnis, sondern auf der Verinnerlichung, der Verankerung der hinter den Strafgesetzen stehenden Wertvorstellungen beruht.23 Diese kognitiv und volitiv gefärbte Reife ist kein biologisch manifester Befund. Es geht mit den Worten Franz Strengs, eines Jugendstrafrechtlers, darum, ob wir, die erwachsenen Bürger, uns in dem jugendlichen Täter „in dem Sinne wieder finden, dass wir seine Tat als die eines ‚Gleichen’ erleben und daher als Herausforderung oder Gefährdung unserer eigenen Normtreue“. Dieses Urteil 19
S. Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 12-12b; zum Transport des Kohlbergschen Modells in § 3 JGG s. Hommers/Lewand, Mkrim 2001, S. 430 ff; dies., ZfJ 2003, S. 7 ff. 20 S. Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 12c. 21 So noch die Fassung des § 3 JGG aus dem Jahre 1923; s. dazu Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl., Stuttgart 2002, § 7 II 1. 22 Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 16 bezeichnet das als „hinreichende Differenzierungsfähigkeit“. 23 Zum Vorrang der „sozialen“ vor der „ethischen“ Reife s. Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 15; zur „Verankerung“ s. Streng (wie Fn 12), Rn 48.
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gewinnt der Richter nach Streng „zwar auf der Basis einer Persönlichkeitsdiagnose, ... aber dann letztlich“ doch eher durch sein „Rechtsgefühl“. 24 Dass der Betreffende „kein Kind mehr ist“, einen Entwicklungsstand hat, über den im Allgemeinen der Erwachsene verfügt, ist die gleichfalls auf eher gefühlsmäßige Wertung weisende Aussage Bernd-Dieter Meiers, eines anderen Vertreters des Fachs.25 Wer als Richter in der Verantwortung steht zu entscheiden, wird nach Konkreterem suchen. Es finden sich Leitlinien. Eine erste ist: Je näher der Jugendliche sich noch an der 14-Jahres-Grenze bewegt, je eher wird er einem Kind in der Entwicklung noch gleichstehen. Hier ist erhöhter Begründungsaufwand verlangt, will man die Reife bejahen. Allerdings gibt es Fälle – man denke an Mehmet – in denen die Behörden den 14. Geburtstag herbeisehnen, „um endlich das Instrumentarium des Jugendstrafrechts zur Verfügung zu haben“. 26 Hier wird, weil Maßnahmen des Jugendhilferechts zuvor nichts gefruchtet, das Kind aber „vorgewarnt“ haben, der Richter mit der Bejahung der Reife nicht lange fackeln. Zweifel an der nötigen Einsichtsfähigkeit – so ein zweiter Aspekt – ergeben sich namentlich auch aufgrund defizitärer Sozialisation. Sie kann ihre Ursache in der Inkompetenz, Unwilligkeit, einer Desozialisation der Herkunftsfamilie haben. Sie kann aber auch im Kulturkonflikt wurzeln, in dem eine nicht integrierte Ausländerfamilie in ihrem Gastland lebt. Divergierende, ja konkurrierende Kultursysteme lösen dann Opposition – man denke an den Ehrenmord – oder mindestens Normverunsicherung aus. Unreifebedingte Einsichtsunfähigkeit kann zum Dritten deliktsspezifisch gegeben sein. Das Unrecht einer Falschaussage kann ein Jugendlicher vielleicht erkennen, nicht aber zwingend zugleich das spezifische Unrecht eines Meineids;27 das Unrecht einer Zechprellerei ja, nicht aber das einer durch das Abrubbeln einiger Striche auf dem Bierfilz zugleich verwirklichte Unrecht der Verfälschung und Vernichtung von Urkunden, das oft außerhalb der Denk- und Erlebniswelt eines Jugendlichen liegt.28 Geht es um die Steuerungsfähigkeit, mahnt die Literatur, im Grundsatz die Einwände des Determinismus – auch der Hirnforschung? – ernst zu nehmen.29 Dass das in der Praxis Auswirkungen hat, ist allerdings nicht zu erkennen. Zur intensiveren Prüfung rät die Theorie vor allem bei Taten aus sozialem Konflikt, aber auch bei Taten aus subkulturell verbundenen Gruppen, die mit ihrer eigenen Normwelt und -bindung Drucksituationen schaffen. Auch bei Taten auf 24
Streng (wie Fn 12), Rn 51. B.-D. Meier, in: Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 5 Rn 8. 26 S. Frehsee, ZStW 100 (1988), S. 290, 322; Streng (wie Fn 12), Rn 54; Teiser, DVJJ-J 1996, 316. 27 Beispiele bei Schaffstein/Beulke (wie Fn 21), § 7 II 1. 28 Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 26. 29 S. Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 17; relativierend Streng (wie Fn 12), Rn 51 mit Fn 14. 25
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Anweisung von Autoritätspersonen, die auch die Eltern sein können, gilt das. Ferner wird bisweilen daran erinnert, dass auch Heimerziehung zu veränderter, zu reduzierter Willensbildung und Durchsetzungsfähigkeit führen kann.30 Hervorgehoben wird der Einfluss der Pubertät. Die Reife, seinen jugendlichen Protest gegen Gesellschaft und geltende Normen in legale Bahnen und nicht in illegale zu gießen, kann fehlen, der Jugendliche deshalb entwicklungsbedingt aus dem Ruder laufen. Pubertäre Nöte mögen zudem Sexualdelinquenz in bisweilen schwer oder nicht beherrschbarer Weise provozieren. Hier wird es freilich auch nicht selten zu Situationsverkennungen – vermeintlichen oder durch Neutralisationstechniken herbeigeredeten – kommen.31 Dann kann schon die Unrechtseinsicht fehlen, was auch gilt, wenn der Übergriff nur als unmoralisch, nicht aber als Unrecht verstanden wird.32 Die nicht seltene Kombination, mit der mangelnde Reife Einsichts- wie Steuerungsfähigkeit trübt, zeigt sich schließlich auch in Taten, die – wie das Drogendelikt – ohne Opfer oder – wie der Ladendiebstahl – ohne fassbar Geschädigten sind, sich gegen ein Gut der Gemeinschaft, sich gegen den juristischen Anonymus richten.33 Damit genug der Beispiele für den Versuch einer die Praxis anleitenden Konkretion. Sie lassen Ulrich Eisenbergs in seinem JGG-Kommentar gefälltes Urteil, es handle sich bei der für die Strafmündigkeit verlangten Reife um eine sozio-kulturell abhängige Konvention, die ideologiebefrachtet, am Idealfall orientiert und weder mess- noch berechenbar sei,34 vielleicht als Überspitzung erscheinen. Sie zeigen aber als schwankende Illustrationen ihrer Ausgangsbegriffe doch auch, dass die relative Strafmündigkeit nach § 3 JGG, dass die sie begründende sittliche und geistige Reife kein biologisch manifestes Faktum ist. Vielmehr geht es in der Tat um eine mit vielen Unwägbarkeiten belastete normative Konvention, die sich in ihrer Unbestimmtheit für eine schwer kontrollierbare Dezision des einzelnen Richters öffnet. Das lässt sich an einem 1997 von der Jugendkammer des Landgerichts Passau entschiedenen Fall35, der viel Aufsehen erregte, mit großer Deutlichkeit zeigen. Dort lebte der zur Tatzeit 14 Jahre und 8 Monate alte spätere Angeklagte in einer abgelegenen Siedlung, die nur aus wenigen Anwesen bestand und die nur von seinen Eltern, seinen Großeltern und einigen weiteren Verwandten, darun30
Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 29. S. hierzu Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 25; Streng (wie Rn 12), Rn 51; zu den von Sykes/Matza sog. Neutralisationstechniken (z. B. durch Verleugnen des Opfers/Erniedrigen des Opfers = Blaming the Victim) s. Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, Göttingen 1981, S. 199, 201 ff. 32 S. Schaffstein/Beulke (wie Fn 21), § 7 II 1b. 33 S. zu den „opferlosen“ Delikten Hillenkamp, JuS 1987, S. 940, 941. 34 Eisenberg (wie Fn 12), § 3 Rn 9. 35 LG Passau NJW 1997, S. 1165. 31
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ter eine fünf Jahre jüngere Cousine, bewohnt war. Der Junge war still, zurückhaltend und verschlossen. Seit seinem zwölften Lebensjahr beschäftigte er sich in seiner Freizeit nahezu ausschließlich damit, Action-, Kung-Fu- und HorrorVideos anzusehen, Masken und Kostüme von Horrorfiguren herzustellen und sich entsprechend zu verkleiden. Besonders fasziniert war er von Jason aus der Serie „Freitag, der 13.“ Jason mordet auf diesen Horror-Videos wahllos auf bestialische Weise Menschen, indem er ihnen z. B. mit einem Beil den Schädel spaltet oder den Kopf abtrennt. Diese ausnahmslos indizierten bzw. beschlagnahmten Filme sah sich der Angeklagte überwiegend zusammen mit seinem Onkel an, der die Filme besorgte; bisweilen auch im elterlichen Wohnzimmer in Gegenwart seiner Mutter. Fast täglich streifte er im Kostüm von Jason herum und erschreckte seine jüngere Cousine, die ihren Vetter nicht erkannte, sondern ernsthaft glaubte, sie begegne Jason. Das Mädchen fürchtete sich zunehmend, worüber der Angeklagte große Freude empfand. Weder die Eltern noch die anderen Erwachsenen des Familienverbundes setzten sich mit dieser für sie auffälligen Persönlichkeitsentwicklung auseinander. Niemand sprach mit dem Jungen darüber, keiner verbot ihm den Konsum der Filme oder sein Treiben, von wenigen Ermahnungen der Großeltern abgesehen. Am Tattag wollte der Angeklagte wiederum seine Cousine erschrecken. Er schlich sich als Jason verkleidet an das Fenster, hinter dem er die Cousine wusste und verängstigte erneut das Mädchen. Sein Großvater, der zufällig vorbeikam, machte ihm Vorhalte und schickte ihn weg. Der Angeklagte bemerkte, dass seine Cousine diesen Vorgang beobachtet hatte. Da sie nicht auf den für sein Spiel gefährlichen Gedanken kommen sollte, Jason könnte vom Großvater einfach verjagt werden, kehrte er kurze Zeit später zurück, um seine Cousine – nun im Hause – erneut zu erschrecken. Hier traf er zu seiner Überraschung auf die 69-jährige Nachbarin. „Von dieser Sachlage“ – so sagt das spätere Urteil – „war der Angeklagte völlig überfordert“. Er fürchtete, die alte Frau werde ihn lächerlich machen und seine Cousine über sein Rollenspiel aufklären, trat deshalb wortlos auf die Frau zu und versetzte ihr mit einem großen und geschärften Buschmesser zwei ungezielte Schläge. Dann fasste er das mitgeführte Beil mit zwei Händen, wandte sich seiner laut schreienden Cousine zu und schlug ihr zweimal auf den Kopf, wobei er in Kauf nahm, dass sie tödlich getroffen würde. Er wollte der Cousine die reale Existenz des Jason hiermit beweisen. Als er sah, was er angerichtet hatte, lief er zu seinen Eltern, gestand ihnen das Vorgefallene und bat sie, für das Mädchen Hilfe zu holen. Die Verletzungen der alten Dame waren nicht lebensgefährlich und heilten vollständig aus. Das Mädchen erlitt dagegen ein schweres offenes Schädel-Hirn-Trauma, befand sich längere Zeit in Lebensgefahr und büßte einen Teil der Beweglichkeit seiner linken Körperhälfte bleibend ein, wurde aber gerettet.
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Die große Jugendkammer36 des Landgerichts Passau verurteilte den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren (§ 17, 18 JGG), die es nach § 21 Abs. 2 JGG zur Bewährung aussetzte. Vom Vorwurf des versuchten Totschlags sprach es den Angeklagten aufgrund dessen erfolgreicher Bemühung um ärztliche Hilfe für das Mädchen wegen freiwilligen Rücktritts (§ 24 Abs. 1 StGB) frei. Die Verurteilung zu zwei Jahren setzt die Bejahung der Strafmündigkeit, der Verantwortlichkeit nach § 3 JGG voraus. Die Kammer tat das. Sie bescheinigte dem 14-jährigen eine „Intelligenzleistung... im durchschnittlichen Bereich seiner Altersgruppe“, sah keine „Einschränkungen seiner Verstandesreife“ und stufte die „moralische Entwicklung“ als „grundsätzlich altersgemäß“ ein. Dass sich der Junge „in übersteigerter Form in die selbstwerterhöhende Rolle einer Filmfigur hineingelebt“ hatte, hält die Kammer für einen „charakteristisch jugendtümlichen Zug“, der der adäquaten Reifeentwicklung keinen Abbruch tue und ihm die Einsicht, „im Alltag des wirklichen Lebens“ wäre das brutale und gewalttätige Verhalten Jasons – und damit sein eigenes – „unvereinbar mit der Rechtsordnung“, nicht verstellt habe. Auch die „Handlungsfähigkeit“ – wie das Gericht die von mir hier so genannte Steuerungsfähigkeit bezeichnet – wird bejaht. Der Junge habe nämlich über die Anweisung seines Großvaters nachgedacht, sich bewusst für ein Wiedererscheinen entschieden, auch überlegt, mit welchen Mitteln er der angetroffenen Frau begegnen sollte, bevor er sich der Cousine zuwandte. Während Jason solches Hin- und Her in seinen Plänen nicht kenne, vielmehr ohne Zaudern und Wanken Menschen bewusst und gezielt auf grausamste Weise töte, habe der Angeklagte jeweils überlegt, was er tun solle und entsprechend gehandelt. Das zeige, dass „von einem Realitätseinbruch, also der völligen Einvernahme des Jungen durch die Rolle des Jason“ nicht die Rede sein könne. Sein Handeln habe sich ganz wesentlich von den Tötungsmechanismen des Jason unterschieden, rationale Einsichten werden für die Kammer „nicht vom Rollenspiel überrannt. Der Angeklagte hätte“ nach ihrer Überzeugung „auch anders handeln können, nämlich, z. B. schon den Befehl des Großvaters befolgen oder noch im Flur oder im Zimmer nach seinem“ zunächst nur dem Erschrecken geltenden „Auftritt wieder verschwinden können“. Das aber habe er nicht getan. Für seine Steuerungsfähigkeit spreche schließlich auch sein Nachtatverhalten. Eine Milderung der danach verwirkten Strafe sah die Kammer dann allerdings deshalb geboten, weil
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Sie besteht nach § 33b Abs. 1 JGG aus drei Berufsrichtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen und ist nach § 41 Abs. 1 Nr. 1 JGG in allen Sachen zuständig, die nach § 24 Abs. 2 GVG in die Zuständigkeit der Strafkammer als Schwurgericht fallen. Nach der Anklage ging es um versuchten Totschlag (§ 74 Abs. 2 Nr. 5 GVG).
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die Steuerungsfähigkeit zwar vorhanden, im Zeitpunkt der Tat aber doch erheblich vermindert gewesen sei.37 Gewiss kann man ohne eigenes Ansehen von Person und Geschehen kein eigenes Urteil fällen. Es liegt aber auf der Hand, dass die Argumentation der Kammer zur Strafmündigkeit anfechtbar und dass eine Strafunmündigkeit mit mindestens ebenso überzeugender Gedankenführung begründbar ist.38 Dafür sprechen schon verräterische Formulierungen der Kammer, wenn im Urteil steht, die „Situation“ sei dem Angeklagten letztlich „entglitten“, er habe „aus ihr keinen anderen Ausweg“ als den gefundenen gesehen. Und wenn es dort angesichts der Verurteilung geradezu fehlerhaft lautet: der Angeklagte „hatte zwar die Einsicht“, dass sein Verhalten „falsch und unrechtmäßig“ war, er „konnte sein weiteres Verhalten aber nicht mehr danach steuern“. Dann hätte ja die Steuerungsfähigkeit eben doch gefehlt. Vor allem aber spricht das, was nur eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit auslösen soll, in seiner Summe eher für deren Ausschluss. Die Kammer nimmt nämlich eine „Fehlentwicklung der Persönlichkeit“ aufgrund eines „suchtartigen Konsums von Gewalt darstellenden Horror-Videos“ mit der Folge vollkommen geschwundener innerer Angst vor den gesehenen und dann ausgeführten Gewalthandlungen an, dazu schwerstes Erziehungsversagen der Eltern und der restlichen Großfamilie mit der Folge, „adäquate Verhaltensmuster für Konfliktlösungen“, denen der Jugendliche in seiner Situation dringend bedurft hätte, „nicht gelernt“ und nicht zur Verfügung gestellt bekommen zu haben. Nimmt man hinzu, dass dem Jugendlichen auf dieser Grundlage sogar eine „schwere seelische Abartigkeit“ im Sinne des § 20 StGB attestiert wurde und es sich zudem um einen Menschen handelte, der die 14-Jahresgrenze nur um gerade einmal 8 Monate überschritten und bis dahin in weitgehender Isolation, eingesponnen in seine Phantasiewelt, gelebt hat, dann muss man hinter die für Strafmündigkeit hinreichende Reife ein doch mehr als deutliches Fragezeichen setzen. Man wird vermuten dürfen, dass sich die Kammer auch weniger von einer ihr zwingend erscheinenden Annahme der Strafmündigkeit als davon hat leiten lassen, dass angesichts der doch erheblichen Schwere der Tat und des ganz unverständlichen Versagens des engsten Umfeldes als Antwort nur eine strafrechtliche Sanktion angemessen erschien. Sie zu verhängen, lassen die sehr unbestimmten Prämissen der Strafmündigkeit in einer solchen Lage eben dann zu. Das ist rechtsstaatlich nicht ohne Bedenken. Es ist auch gefährlich. Denn der 37
Die Strafmilderung geschah über eine Anwendung des § 21 StGB, da das JGG eine (nur) verminderte Schuldfähigkeit nicht kennt. Die Heranziehung des § 21 StGB in solchen Fällen ist nicht strittig, s. schon BGHSt 5, 366; BayObLG 58, 263. 38 S. die krit. Besprechungen und Stellungnahmen zum Urteil bei Brunner, JR 1997, S. 120 ff; Eisenberg, NJW 1997, S. 1136 ff; Laue, Jura 1999, S. 634 ff; Schaffstein/Beulke (wie Fn 21), § 7 II 2.
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verwaschene Mantel sittlicher und geistiger Reife böte auch ein Versteck für den 1943 Gesetz gewordenen Gedanken, ein Mensch könne auch dann „zur Verantwortung gezogen“ werden, „wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahnung erfordert“. 39 III. Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Diskussion über die inhaltlichen Prämissen der Strafmündigkeit, dass die Debatte über ihre zeitliche Grenze nicht zur Ruhe kommt. Soll es bei der Reiferegelung des § 3 JGG, soll es bei der 14-Jahres-Grenze unseres geltenden § 19 StGB bleiben? Darauf gibt es auch andere, auch drastischere Antworten als die Roland Kochs. Dabei reicht das Spektrum der Vorschläge von einer moderaten Verbesserung nur des Textes des § 3 JGG – bei Beibehaltung der heute geltenden Lage im Übrigen – bis hin zu einer vollständigen Verabschiedung des Strafrechts für unter 18-jährige. Dazwischen liegen die Stimmen, die für eine Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze auf zwölf, aber auch für eine Anhebung auf 16 Jahre votieren. Bei den beiden Eckpositionen im Meinungskonzert will ich mich nur kurz aufhalten. Dass man lediglich eine Präzisierung und Verdeutlichung des § 3 JGG anstreben sollte, ist der 2002 publizierte Vorschlag der 2. Jugendstrafrechtsreformkommission40). Nach ihm soll einerseits historischer Sprachballast abgeworfen und die „sittliche und geistige Reife“ durch die zeitgemäßere und prägnantere Formulierung „nach dem Stand seiner Entwicklung“ ersetzt werden. Andererseits soll das Fehlen von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit an gesetzlich umschriebenen Beispielen illustriert werden. So soll vom Fehlen der Einsichtsfähigkeit regelmäßig auszugehen sein, „wenn die strafbare Handlung Rechtsgüter verletzt oder gefährdet, deren Schutzwürdigkeit alterstypisch nicht erkannt wurde oder wenn sie lediglich Ausdruck einer noch kindlichen Einstellung war“. Die Steuerungsfähigkeit kann dagegen nach dem vorgeschlagenen Text „insbesondere dann fehlen, wenn der Jugendliche die Tat unter dem beherrschenden Einfluss anderer oder in einer vergleichbaren Konfliktsituation 39
Das Dritte Reich wollte dann auch schon 12-jährige Täter zur Verantwortung ziehen, s. § 3 Abs. 2 S. 2 des JGG 1943 (RGBl I, S. 635): „Ist der Täter zur Zeit der Tat wenigstens zwölf Jahre alt, so wird er wie ein Jugendlicher zur Verantwortung gezogen, wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert“. Nach der Kommentierung Naglers in: Leipziger Kommentar zum Reichs-Strafgesetzbuch, 6. Aufl., Berlin 1944, § 3 JGG Bem. II 1 muss auch in solchen Fällen „die rechtlich-soziale Reife des frühreifen Täters ganz ebenso positiv festgestellt werden, wie bei dem Jugendlichen,“ der generalpräventive Gedanke durfte – wie im NS-Recht an sich zu vermuten gewesen wäre – hiernach also nicht etwa „das Schuldprinzip und damit die materielle Gerechtigkeit“ zur Seite drängen, so jedenfalls Nagler. 40 Der Abschlussbericht der Kommission ist veröffentlicht in DVJJ-J Extra Nr. 5, Hannover 2002; der hier referierte Vorschlag findet sich mit Begründung dort auf S. 21-23.
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begeht“. 41 Ob diese Umformulierung dazu beitrüge, die Entscheidung sicherer zu machen, lässt sich bezweifeln. Denn einerseits bleibt auch der „Stand der Entwicklung“ des Jugendlichen notwendig reifebezogen, schließt die überkommenen Unsicherheiten also insoweit nicht aus. Andererseits werden mit den Begriffen der „kindlichen Einstellung“ und der „vergleichbaren Konfliktsituationen“ neue unbestimmte Begriffe geschaffen. Schließlich bergen benannte Beispiele die Gefahr, gleich relevante zu übersehen oder beiseite zu drängen. Machte man den Versuch, den Jugendlichen Jason an diesem Text zu messen, fiele die Subsumtion kaum gewisser aus. Diese Kritik soll nicht heißen, dass das Bemühen um Präzision nicht zu fördern sei, wohl aber dass es bisher noch nicht ausreicht. Die Forderung, die Strafmündigkeit auf 18 Jahre hochzusetzen, schmückt sich vordergründig damit, mit der Volljährigkeit zu harmonieren. Sie ist in ihrem Kern aber nur die reduzierte Auflage des von Arno Plack 1974 gehaltenen „Plädoyers für die Abschaffung des Strafrechts“. 42 Ihr ist die gleiche Zukunft zu prophezeien wie jenem, anders gesagt, sie hat keine Chance. Denn ihre 1992 zur Vorbereitung auf den Regensburger Jugendgerichtstag gegebene Begründung, man schulde den „benachteiligten Kindern und Jugendlichen“, die kriminell werden, Hilfe, statt sie „in die kriminelle Kariere hinein zu definieren“, und man solle daher der Jugenddelinquenz ausschließlich mit den Mitteln des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (also des Sozialgesetzbuches VIII) begegnen,43 belebt nur Vorstöße der Jugendrechtskommission der Arbeiterwohlfahrt aus dem Jahr 1970 wieder, die – wie übrigens vergleichbare schon in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – in einem langen Diskussionsprozess ganz zu Recht gescheitert sind. Jugendkriminalität ist ubiquitär, streut also über alle Schichten und ist deshalb keineswegs nur das Verhalten „benachteiligter“ Menschen. Auch definiert nicht erst das Jugendstrafrecht den Täter zum Kriminellen, vielmehr begibt er sich selbst und – wird er bestraft – eigenverantwortet in die Kriminalität. Zudem kann zur Stabilisierung des Normvertrauens der Bevölkerung, aber auch zum Ausgleich von Schuld bei schwerer Delinquenz Jugendlicher auf das Mittel der Strafe nicht ohne erheblichen Schaden verzichtet werden. Und schließlich verschleiert das Schlagwort „Hilfe statt Strafe“, dass unter deutlich geringeren rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien unter Umständen deutlich gravierendere und vom Jugendlichen keineswegs als Hilfsangebot empfundene Eingriffe in sein Leben ermöglicht würden.44 41
Daneben soll bereits der Staatsanwaltschaft die Prüfung vor Abschluss der Ermittlungen ausdrücklich aufgetragen und dem Gericht explizit eine Begründungspflicht auferlegt werden. 42 So der Titel des Buches Placks, München 1974. 43 S. Vorschläge der DVJJ-Kommission zur Reform des Jugendkriminalrechts, Unterkommission I (Entkriminalisierung), Sondervotum 4, DVJJ-J 1992, S. 16. 44 S. Brunner/Dölling (wie Fn 8), Einf. II Rn 32 f, § 17 Rn 5-7 m. w. N.; zur Ablösung des Jugendstrafrechts durch Jugendwohlfahrtsrecht im frühen zwanzigsten Jahrhundert s. Dörner,
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Ernsthafter muss und sollte man sich deshalb nur mit den Vorschlägen auseinandersetzen, die eine Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze auf 12 oder eine Anhebung auf 16 Jahre empfehlen.45 Bevor man sich hierauf einlässt und mit Vehemenz Stellung bezieht, sollte man allerdings drei die Debatte sehr relativierende Dinge zur Kenntnis nehmen. Zum Ersten gibt es weder völker-, noch europarechtlich, und zwar weder in rechtsverbindlichen Konventionen noch in den dem sog. „soft-law“ angehörigen Empfehlungen, eine konkrete Vorgabe zum Strafmündigkeitsalter. Die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Nr. R (87) 20 über gesellschaftliche Reaktionen auf Jugendkriminalität aus dem Jahr 1987 äußert sich hierzu ebenso wenig wie die des Ministerkomitees des Europarates Rec (2003) 20 zu „neuen Wegen im Umgang mit der Jugenddelinquenz“ vom 24.09.2003.46 Auch die „United Nation Standard Minimum Rules for the Administration of Juvenile Justice“, die sog. „Beijing Rules”, zu deutsch: “Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit”, 47 enthalten nur eine sehr vage Auskunft. Sie sagen in Nr. 4 (Strafmündigkeitsalter): „In Rechtssystemen, die den Begriff der Strafmündigkeit Jugendlicher kennen, ist das entsprechende Alter nicht zu niedrig anzusetzen, weil hierbei die Entwicklung der emotionalen, seelischen und geistigen Reife berücksichtigt werden muss“.48 Schließlich spricht auch die UN-Kinderrechtskonvention49 aus dem Jahre 1989 nur vage davon, dass die Vertragsstaaten ein Mindestalter festlegen sollen, dass ein Kind erreicht haben muss, um als strafmündig zu gelten, enthält sich aber wie die übrigen Regelwerke einer diesbezüglichen Empfehlung oder Festlegung.50 Die Frage ist also internationalrechtlich offen51, der nationale Gesetzgeber ist frei.
RdJB 1992, S. 144 ff (vgl. dort insbesondere Fn 18); nach Dörner verhinderte schon damals den Verzicht auf Strafe bei Jugendlichen unter 18 Jahren die „Strafoption für die Zielgruppe »frühreifes, gefährliches Jugendverbrechertum«“ (S. 144). 45 S. dazu ausführlich und mit instruktiven Nachweisen die Heidelberger Dissertation von Carola Heitlinger, Die Altersgrenze der Strafmündigkeit, Hamburg 2004, S. 263 ff, 278 ff, 303 ff, die selbst für eine Beibehaltung der 14-Jahresgrenze eintritt, s. S. 311 ff. 46 Ein Abdruck der Texte in deutscher Sprache findet sich in: Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, Dokumente der Vereinten Nationen und des Europarates, zusammengestellt und kommentiert von Höynck/Neubach/Schüler-Springorum, Berlin, 2001, S. 147 ff und in Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962-2003, Godesberg 2004, S. 211 ff. 47 Abgedruckt in ZStW 99 (1987), S. 253 ff; kommentiert von Schüler-Springorum in ZStW 99 (1987), S. 809 ff. 48 S. ZStW 99 (1987), S. 260. 49 Übereinkommen der Vereinten Nationen über das Recht des Kindes vom 20. November 1989, amtliche Übersetzung in BGBl II 1992, S. 131; vgl. auch BT-Ds/42 und C. Keiser, ZStW 120 (2008), S. 30 ff. 50 S. C. Keiser, ZStW 120 (2008), S. 59 mit Fn 178.
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Dass das so ist, liegt maßgeblich auch daran – und damit ist die zweite wichtige Vorinformation benannt – dass die Staaten der Völkergemeinschaft und Europas gegenwärtig wie in der zurückliegenden Zeit sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Strafmündigkeitsgrenze haben und hatten. In Europa liegt die Streubreite zwischen 7 – so Irland und bis vor kurzem die Schweiz – und 18 Jahren, so Belgien. In Portugal ist die Grenze 16, in England 10, in den Niederlanden 12. Man sieht, Deutschland liegt „in der Mitten“. 52 Zwar ist die Vergleichbarkeit dadurch getrübt, dass sich die Grenzziehung mal in ein mehr am Wohlfahrtsmodell, mal in ein mehr am Justizmodell orientiertes Jugendstrafrechtssystem einfügt53 und deshalb nicht überall die gleichen Konsequenzen hat. Auch gibt es Systeme, die unter den Strafmündigen zwischen „Erziehungsmündigkeit“ und „Bestrafungsmündigkeit“ noch differenzieren, die jüngeren von letzterer ausnehmen54 oder auch bisweilen umgekehrt für besonders schwere Taten sogar eine „Bestrafungsmündigkeit“ im Sinne der Sanktionen des Erwachsenenstrafrechts kennen.55 Gleichwohl lässt sich aus dem sehr bunten Bild ableiten, dass der „letzte Schluss der Weisheit“ auf diesem Feld ganz offenbar offen und auch, dass z. B. Herr Koch mit seinem Raisonement über 12 kein in Europa vereinzelter, kein des Radikalismus verdächtiger Sektierer ist.56 Zu dieser Einsicht trägt auch ein Blick in die deutsche Geschichte bei. § 55 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich lautete 1871: „Wer bei Begehung der Tat das zwölfte Lebensjahr nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden“. Da es ein Jugendstrafrecht 1871 noch nicht gab, traf die 12 bis 18-Jährigen nach § 56 Abs. 1 RStGB das Strafrecht der Erwachsenen, vorausgesetzt, sie besaßen bei Begehung der Tat „die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht“. Preußen und Bayern begrenzten zuvor diese relative Strafmündigkeit auf das 16. Lebensjahr und ließen – wie das
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Auch das Mustergesetz der UN für die Jugendgerichtsbarkeit legt sich auf eine Altersgrenze nicht fest, s. dazu und zum Vorstehenden ausführlich Heitlinger (wie Fn 45), S. 149162. 52 Vergleichende Übersichten über die Regelungen Europas finden sich z. B. bei Kosinski, DVJJ-J 1997, S. 402 ff; Dünkel, RdJB 1999, S. 291 ff und Heitlinger (wie Fn 45), S. 163 ff; zum anglo-amerikanischen und kanadischen Rechtskreis s. C. Keiser, ZStW 120 (2008), S. 25 ff. 53 S. dazu Dünkel, Rd JB 1999, S. 291 ff; Heitlinger (wie Fn 45), S. 163 ff. 54 Nach dem Vorschlag der DVJJ-Kommission aus dem Jahre 1992 (DVJJ-J 1992, S. 12) sollte für Deutschland eine Bestrafungsunmündigkeit (Ausschluss von Jugendarrest und Jugendstrafe, Verzicht auf U-Haft) für unter 16-jährige eingeführt werden. 55 S. zu solchen Varianten C. Keiser, ZStW 120 (2008), S. 25 ff. 56 S. etwa die Polemik Viehmanns in: ZJJ 2008, S. 73, der Koch in die Nähe der Nazis rückt (dazu gleich im Text); das Beanstandungswürdige an Kochs Äußerungen liegt eher in der Verquickung seiner Forderung mit seinem „Hieb“ gegen jugendliche Ausländer.
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französische Recht – die Untergrenze offen. In Württemberg lag diese Grenze bei zehn, in Sachsen bei 14, in den meisten Partikulargesetzbüchern dagegen bei zwölf Jahren. Dass diese Grenze in das StGB des Norddeutschen Bundes und dann auch in das Reichsstrafgesetzbuch übernommen wurde, lag maßgeblich an dem Gutachten der preußischen Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen aus dem Jahr 1869. Es hatte das Ende des Kindesalters auf zwölf festgelegt, da bis dahin der Mensch von rein egoistischen Trieben geleitet werde und noch kein moralisches Bewusstsein besitze. Folglich sei er bis zwölf strafrechtlich unzurechnungsfähig. Schon früh wurde diese Entscheidung in Zweifel gezogen. Im Rahmen der schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden Jugendstrafrechtsreformbewegung empfahl eine Kommission, der der Begründer der soziologischen Strafrechtsschule Franz von Liszt und der Elberfelder Staatsanwalt Hugo Appelius angehörten, die Heraufsetzung auf 16 Jahre, da erst dann die volle Geschlechtsreife eintrete, der Jugendliche davor „sittlich unreif“ sei. Die sog. Eisenacher Vorschläge wurden einer breiten Fachöffentlichkeit präsentiert, die sich mehrheitlich für die Vierzehn-Jahres-Grenze aussprach, und hierfür maßgeblich auf die Schulentlassungsgrenze abstellte. Christine Dörner hat dies und die aufbrechende Diskussion bis zur Kompromisslösung des ersten deutschen Jugendgerichtsgesetzes aus dem Jahr 1923 in nachlesenswerter Weise dargestellt.57 Sieht man von sprachlichen Zeitornamenten ab, liest sich die Reportage der damaligen Diskussion kaum anders als die von heute, in der freilich das Ringen um die entwicklungspsychologische Dimension stärker als damals hinter kriminalpolitischen zurücktritt. Das JGG von 192358 entschied sich für die Vierzehn-Jahres-Grenze, die wir heute noch haben. Die 1943 von den Nationalsozialisten in § 3 Abs. 2 S. 2 JGG eröffnete Möglichkeit, schon zwölf Jahre alte Täter wie Jugendliche zur Verantwortung zu ziehen „wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert“,59 ist 1953 als „nationalsozialistische Überspannung des Strafbereichs“ im Sinne einer sog. „Schutzstrafe“ wieder beseitigt worden.60 Der Entwurf eines Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1962 (E 1962) verteidigte die Vierzehn-Jahres-Grenze und empfahl die Rückkehr dieser Regelung in das Strafgesetzbuch.61 1974 erhielt § 19 StGB seine heute gültige Fassung.62
57
Dörner, RdJB 1992, S. 144 ff (mit sehr ergiebigen Fußnoten). S. RGBl I 1923, S. 135. 59 S. RGBl I 1943, S. 635. 60 S. Nagler, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 7. Aufl. Berlin 1954, Unterzeile zu § 3 JGG. 61 E 1962, Begründung S. 137. 62 Und zwar durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 02.03.1974, s. BGBl I 1974, S. 469 58
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Zur völker- und europarechtlichen Zurückhaltung und dem gegenwärtig wie in der Zeit sichtbar werdenden weltweiten kompromisshaften Ringen um die richtige Grenzziehung tritt als drittes die Debatten relativierendes Moment die notwendige Erinnerung an die namentlich im politischen Meinungsstreit häufig bewusst unterschlagene Tatsache, dass Staat und Gesellschaft keineswegs tatenlos zusehen müssen, wenn strafunmündige „Crashkids“ wie Mehmet wiederholt und intensiv Straftaten begehen. Natürlich darf und muss die Polizei aktuell bevorstehende Taten auch von Kindern unterbinden. Wird nach geschehener Tat ermittelt und Strafunmündigkeit festgestellt, wird das Verfahren eingestellt, nicht aber freigesprochen. Das ist nach § 47 Abs. 1 Nr. 4 JGG auch dann möglich, wenn sich erst nach der Hauptverhandlung die relative Strafunmündigkeit nach § 3 JGG ergibt. Ein Freibrief wird also nicht ausgestellt.63 Im Übrigen kann dann nach § 3 S. 2 JGG der Jugendrichter „dieselben Maßnahmen anordnen wie der Familien- oder Vormundschaftsrichter“, der von der Delinquenz eines Jugendlichen erfährt. Diese Kompetenzzuweisung eröffnet ein breites Spektrum von zum Teil erheblicher Eingriffsintensität.64 Das BGB erlaubt dem Familiengericht bei Gefährdung des Kindeswohls, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen (§§ 1666, 1666a BGB). Dazu gehören so einschneidende Anordnungen wie die räumliche Trennung des Kindes von der elterlichen Familie oder die Entziehung des Personensorgerechts. Auch die Maßnahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes65 stehen wie dem Familien-, so auch dem Jugendrichter nach richtiger Ansicht66 zur Verfügung. Darunter finden sich die Anordnung von Erziehungsbeistandschaft, die Einweisung in eine Tagesgruppe und auch die von Jugendlichen nicht mit Begeisterung aufgenommene Heimerziehung. Aus den Kompetenzen des Vormundschaftsrichters ist die Bestellung eines Pflegers (§ 1909) zu nennen, der für die Unterbringung in eine geeignete Familie oder in einem Heim sorgen kann. Hieraus ergibt sich ein Netzwerk intensiver erzieherischer Maßnahmen, die unter Umständen deutlich gravierender als eine Sanktion des Jugendstrafrechts in das junge Leben eingreifen. Sieht man von Einschränkungen der Abschiebung oder Ausweisung strafunmündiger Ausländer ab,67 kann von einer Verurteilung zu reaktions- und tatenlosem Zusehen folglich keine Rede sein. Auch kann man natürlich Erwachsene, die Kinder zu Straftaten missbrauchen, zur Verantwortung ziehen.
63
S. dazu Meier, in: Meier/Rössner/Schöch (wie Fn 25), § 5 Rn 14. S. die Auflistung bei Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht Berlin, Heidelberg 2006, Rn 70 f; Streng (wie Fn 12), Rn 56. 65 Es findet sich im Sozialgesetzbuch VIII, es stammt aus dem Jahr 1990 (BGBl I S. 1163) und ist 1996 neu gefasst worden (BGBl I S. 477). 66 S. Streng (wie Fn 12), Rn 56 m. w. N. 67 S. dazu den Fall Mehmet, BVerwG NVwZ 2003, S. 217, 219. 64
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Mit diesen drei Erkenntnissen im Gepäck wird man prononciertem Drängen, die Strafmündigkeitsgrenze nach unten oder nach oben zu verschieben, eher mit Skepsis begegnen. Es spricht vieles dafür, es bei der mittleren, der deutschen Entscheidung für 14 Jahre zu belassen.68 Das will ich abschließend noch kurz begründen. Die Forderung, die Strafmündigkeitsgrenze auf 16 Jahre anzuheben, speist sich angesichts der heute verbreitet, wenn auch nicht unbestritten vermuteten Akzeleration69 weit weniger als zu Zeiten der Jugendgerichtsbewegung aus Vorbehalten gegen mangelnde sittliche oder geistige Reife, als daraus, dass die Jugendstrafe für 14- bis 15-jährige als eine in aller Regel schädliche Sanktion von hoher Infektions-, Stigmatisierungs- und Rückfallbegründungsgefahr erkannt ist.70 Wer diese Altersgruppe davor bewahren will, plädiert entweder radikal für eine Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze auf 16, moderater für einen Ausschluss (nur) der Jugendstrafe für 14- und 15-jährige in allen, noch moderater nur in weniger schwerwiegenden Fällen im Sinne einer absoluten oder relativen Bestrafungsunmündigkeit, oder schließlich nur für eine Sonderverwahrung jugendlicher Strafgefangener, die sie namentlich von den Heranwachsenden abschottet (= sog. Vollzugslösung).71 Die Gefahren der Jugendstrafe für junge Menschen sind ernst zu nehmen. Ihnen sollte aber nur im letzteren Sinne begegnet werden. Ein Rückzug des Strafrechts gegenüber 14- und 15-jährigen verursacht zu hohe soziale Kosten. Er belastet die Institution der Jugendhilfe mit oft nicht hilfs-, sondern nur zurechtweisungsbedürftigen Jugendlichen, treibt schon mündige Menschen in bevormundende Pädagogisierung, attestiert ihnen pauschale Unreife und belässt sie damit entgegen ihrer Entwicklung im Zustand des Kindes, verzögert damit das Erlernen von verantwortlichem Handeln und ist in schweren Fällen zudem ein der vorhandenen Schuld und dem Bedürfnis nach Stabilisierung von Normvertrauen nicht gerecht werdender Verzicht auf die Verdeutlichung elementarer Normen. Jugendkriminalität ist weitgehend normal, ubiquitär, bagatellarisch und episo68
Hier folge ich dem wohl abgewogenen Urteil meiner Doktorandin Carola Heitlinger (wie Fn 45), S. 263 ff, 311 ff; vgl. auch die Bestätigung der geltenden Lage durch den Deutschen Juristentag 2002 in Berlin (C III 2. a), s. dazu NJW 2002, S. 3088 (II 1). Auch mein eigener Doktorvater Friedrich Schaffstein hat sein vormaliges Plädoyer in der Fichtner-Kommission für eine Anhebung der Grenze auf 16 Jahre in der Festschrift für Schüler-Springorum, Köln, Berlin, Bonn, München 1992, S. 371 ff zurückgenommen bzw. relativiert. 69 S. dazu Streng (wie Fn 12), Rn 64. 70 S. dazu die Beiträge in P. A. Albrecht/Schüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, 1983. 71 S. dazu Schaffstein, in: FS-Schüler-Springorum, 1993, S. 371 m. w. N. namentlich zu den Ergebnissen des Regensburger Jugendgerichtstags 1992 und den Vorabstimmungen in den Kommissionen der DVJJ; die „radikale“ Variante vertreten namentlich Frehsee, in: FSSchüler-Springorum 1993, S. 379, 395; Ostendorf, Kommentar zum JGG, 7. Aufl. 2007, Grdl. zu §§ 1-2, Rn 9.
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denhaft.72 Ihr ist auch in der Breite deshalb besser mit den Mitteln des Jugendstrafrechts, seinen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln, als mit dem Jugendhilferecht beizukommen. Für die Delinquenz der Zwölf- und Dreizehnjährigen gilt das dagegen nicht. Das Schuldprinzip setzt die Fähigkeit zu selbstbestimmter und selbstverantworteter Tat voraus. Man tut gut daran, diese Fähigkeit in diesem kindlichen Alter noch pauschal zu verneinen. Die wenigen Fälle, in denen das anders liegen mag, durch aufwendige Begutachtung in allen Fällen delinquenter Zwölf- und Dreizehnjähriger herauszufiltern – und das müsste man tun – ist unverhältnismäßig und für die Unmündigen unzumutbar belastend. Auch taugen die Instrumente des Jugendstrafrechts für diese Altersgruppe nicht. Hier ist Hilfe bei und zur Erziehung geboten. Ein Rückgriff auf die Zwölfjahresgrenze des Jahres 1871 wäre folglich ein „Rückschritt“. 73 Für ihn machen sich deshalb auch nur wenige Fachstimmen74 stark. Ihn empfiehlt stattdessen immer wieder einmal – wie bei Roland Koch – die dann vermeintlich Bedürfnisse der Bevölkerung bedienende Politik. Man beruft sich für ihn auf Mehmet oder Liverpool, auf kindliche Randalierer in den Vorstädten von Paris. In England hat sich auf solchem Hintergrund mit dem Motto „No more excuses“ bzw. „Tough on crime, tough on causes of crime“ – der sog. Blair-Formel – eine schärfere Gangart bis hinunter zu den Zehnjährigen durchgesetzt, denen man die vormals geltende doli-incapax-Vermutung, schuldunfähig zu sein, entzog.75 In Deutschland wollte 1996 der CDU-Abgeordnete Michael Teiser dem mit der Absenkung auf zwölf Jahre nacheifern.76 Er berief sich auf das hilflose Zusehenmüssen von Polizei und Gerichten bei Taten kindlicher Serientäter, zudem auf eine von ihm so wahrgenommene „dramatische Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität“. Dieses Begründungsmuster kehrt immer wieder. Es ist zur vermuteten Hilflosigkeit der Behörden hier mit der dritten Vorüberlegung schon widerlegt. Auch überzeichnet es die Bedrohung durch die Delinquenz der Jugend doch sehr. Zwar hat es einen Anstieg der registrierten Jugendkriminalität in den 90er Jahren gegeben, der mittlerweile 72
S. Dölling (wie Fn 16), S. 472 ff bzw. S. 155 ff; Heitlinger (wie Fn 45), S. 36 ff, 48 ff jeweils m. w. N. 73 So zu Recht Streng (wie Fn 12), Rn 64; in diesem Sinne auch Heitlinger (wie Fn 45), S. 278 ff; Laubenthal/Baier (wie Fn 64), Rn 103; eindrucksvoll auch Wolfslast, in: FS für Bemmann, 1992, S. 274 ff. 74 Vereinzelt findet sich die Forderung freilich, s. z. B. Brunner, JR 1997, S. 492, 494 ff; Hinz, ZRP 2000, S. 107 ff; Klosinski, DVJJ-J 1997, S. 402, 406; für Intensivtäter auch Paul, ZRP 2003, S. 204, 205. 75 S. dazu genauer Heitlinger (wie Fn 45), S. 204 ff. 76 Die Presseerklärung ist abgedruckt in DVJJ-J 1996, S. 316; dort – S. 320 ff – finden sich 14 ganz überwiegend deutlich ablehnende Kurzstellungnahmen namhafter Experten.
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abgeflaut ist. Auch gibt es das Phänomen des Intensiv- oder Serientäters bei Kindern. Gewaltkriminalität von Jugendlichen nimmt auch heute noch zu.77 Es ist aber weder von Dramatik, noch davon zu reden, dass mit einer Senkung der Strafmündigkeitsgrenze solche Entwicklungen beeinflussbar sind.78 Man sollte auch dieser Forderung daher nicht folgen.
77
S. abgewogen und nüchtern hierzu die Darstellung bei Dölling (wie Fn 16); „entdramatisierend“ auch BMI/BMJ, Zweiter periodischer Sicherheitsbericht, Kurzfassung, 2002, S. 57 ff; „dramatischer“ dagegen z. B. Verwigk-Hertneck/Rebmann, ZRP 2003, S. 225 ff. 78 S. dazu etwa Albrecht, StV 2008, S. 154 ff; Ostendorf, StV 2008, S. 148 ff; Sonnen FPR 2007, S. 20 ff.
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Die souveräne Bürgerin, der souveräne Bürger Statt von einer „mündigen“ Bürgerin zu reden, benutze ich, um abzuwechseln, den Ausdruck „souveräne“ Bürgerin. Damit verbinde ich identische Bedeutungen. Im grammatischen Geschlecht wechsle ich beliebig hin und her. Die Annahme, es gäbe so etwas wie souveräne Bürgerinnen mutet widersprüchlich an. In jedem Fall baut sie auf einer Reihe fundamentaler Annahmen. Das Paradoxon – besser: die Spannung – ist auszuhalten, wenn man den Ausdruck nicht nur als leere Legitimationsformel benutzen will. So wird etwa im Kontext der gesetzlichen Krankenversicherung von „souveränen Patienten“ gesprochen. Das Gesetz normiert Hunderte von Seiten lang Verfahren und Bedingungen, die zureichend aufgeklärte und mitbestimmungsfähige Bürgerinnen als Patientinnen behandeln1. Ähnlich verfährt die GKV mit den zu Gesundheitstechnikern reduzierten Ärzten. Bürgerliche Souveränität ist nämlich nur in einem entsprechend souveränen Gemeinwesen zu verwirklichen, einer Stadt, einem Staat, wie immer man die nächste bestimmungsmächtige größere politische Einheit nennen mag. Kurz: Bürgerliche Souveränität ist radikal relativ. Sie bedeutet einen Relationsausdruck. Wenn aber der Bürger nur im Kollektiv zu sich selbst kommt, dann ist seine personale Souveränität von vornherein und andauernd begrenzt. Sie ist abhängig von kollektiven Gegebenheiten und ihrer Organisation. Die Definitionsstärke kollektiver Faktoren, ein Sack, in dem viel Platz hat, ist in ‚unseren‘ modernen, global im höchst Konkreten bestimmten Zeiten, viel massiver und sublimer zugleich, als es das täuschungsträchtige Individualisierungsgerede eingestehen will. Die Dissoziierung sozialer Zusammenhänge fällt die Fülle der Einzelnen, der Individuen aus. Sie werden indes bis hinein in ihren vorbewusst aufgezwungenen Egoismus umso abhängiger von sich abstrakt türmenden und entziehenden Faktoren. Deren Reichweite ist individuell nicht mehr zu bestimmen. Kommt man aus der alten Schule Frankfurter Kritik, kann man diese Gegebenheiten negative Vergesellschaftung nennen. Ihnen korrespondiert das, was Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ die „Herrschaft der Sachzusammenhänge“ genannt hat.
1
Vgl. SGB V. Recht des öffentlichen Gesundheitswesens, 15. Auflage, München 2007.
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Das markiert einen prinzipiellen Mangel moderner Fiktionen. Sie lassen das darauf errichtete Gebäude der Menschenrechte fragil und windig wie eine Architektur streichholzartig aufeinander gebauter Postulate erscheinen. Als ob das, was man Menschenrechte nennt, „fertig“, sozusagen vorgesellschaftlich und ahistorisch gegeben sei. „Der mündige Mensch!“ Als ob es genüge, Menschenrechte als individuelle ‚Habensrechte‘, von privatem Besitz frühliberal unterfüttert, gegen ‚den Staat‘ und seine willkürlichen Eingriffe zu kehren. Bis in unsere Tage folgen daraus weitere Schwächen. Sie dürfen freilich einen entscheidenden Vorzug nicht verkennen lassen. Dieser besteht darin, dass Menschenrechte frühliberal als „Rechte“ verstanden worden sind, die vor allen politischen Verfassungen allen Menschen zukommen. Der gravierende Unterschied zu „Grundrechten“! Werden diese von den (Verfassungs-)Staaten ihren Bürgern gewährt, werden die Menschenrechte dagegen, im 17. und 18. Jahrhundert naturrechtlich begründet, als essentielle Erfordernisse der Menschen vor aller Vergesellschaftung und Verstaatlichung begriffen. Statt sie naturrechtlich zu legitimieren und dadurch ihres nur fest angenommenen Bodens berauben, liegt es nahe, Menschenrechte aus dem riesigen Erfahrungsschatz historischer Anthropologie zu fundieren. Dann werden sie als Bedürfnisse aller Menschen lesbar, sich aufrecht, selbstbewusst und mitbestimmungsfähig zu entwickeln. Der e r s t e Ma n g e l historisch nicht materiell gefasster Menschenrechte besteht darin, kollektive Bedingungen nicht zu bedenken und so zu schaffen, damit die personalen Menschenrechte wahrgenommen werden können. Das besagt: Wie dürre Normen flattern Menschenrechte ohne sozialen Boden in der Luft. Darum können „Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit“, wie die Trikolore situationsgemäß hin und her geschwenkt werden, ohne sozial verbindliche Konsequenzen. Die große Täuschung der Menschenrechte ankert hier. Jede oder jeder ist für seine/ihre Menschenrechte zuständig. Pech gehabt haben Menschen, wenn sie ihre Freiheit nicht dazu nutzen, sich selbst zu bestimmen. Als wären kapitalistisch-herrschaftliche Vergesellschaftungsformen unschuldig, wenn Individuen ihre Chancen nicht nutzen. Die Einsicht, dass Menschenrechte erst sind und nur immer erneut verwirklicht werden können, wenn die zentralen gesellschaftlichen, also die ökonomischen und politischen Strukturen und Funktionen ihnen entsprechen, wird als Torheit propagiert. Der z w e i t e M a n g e l besteht in der naiv unterstellten, glücklichen Verbindung der Menschenrechte mit dem Staat. Insbesondere seitdem liberaldemokratische Verfassungen staatliche Herrschaft zu hegen, rechtsstaatlich zu formieren, grund-, bzw. menschenrechtlich zu orientieren scheinen, werden zwei Hauptaspekte des modernen Staates in der individualistischen Fiktion der Menschenrechte allenfalls randständig thematisiert. Zum einen die Bestimmt-
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heit und andauernde Bestimmung des Staates durch seine Grenzen. Einschließung und Ausschließung sind zwei Hauptfunktionen des Staates. An den „Displaced Persons“ hat Hannah Arendt weit über den zeitlichen Horizont ihres Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ deren Problem gültig auf die Formel gebracht: Diesen „DP’s“ mangele es an der existentiellen Bedingung, überhaupt Rechte zu haben. Und die Migrantinnen und Migranten nehmen zu: ohne Ort, als Illegale im Untergrund der Staaten gehalten, vertrieben, in Lager gepfercht, von staatlicher Klippe zu staatlicher Klippe geworfen, lebenslang im Ungewissen, unter entwürdigenden Bedingungen. Man betrachte allein im aktuell zivilisatorisch stolzen EU-Europa und seinen führenden Ländern, mit der BRD an erster Stelle, was die Anfang des neuen Jahrtausends geschaffene Organisation mit dem onomatopoetischen Namen „Frontex“ treibt.2 Die Inklusions- und Exklusionsregeln des modernen (National-)Staats, auch für die Inkludierten menschenrechtlich alles andere als problemfrei, markieren nur einen Problemaspekt. Die Inkludierten werden in Deutschland seit 1913 Staatsbürger genannt. Der andere Aspekt wird durch die mit dem modernen Staat verbundene, ‚ureigene‘ Herrschaftsqualität bezeichnet. Dass der moderne Staat sich auszeichne durch „das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“, hat Max Weber formuliert. Seltsam, dass viele Institutionen und Leute, die sich um die schadhafte Wirklichkeit der Menschenrechte und ihre unzureichende Verwirklichung sorgen, damit nur dann Probleme zu haben scheinen, wenn der Staat sein Nummernkonto „Gewaltmonopol“ kasuistisch überzieht. Als hätten sie den Staat wie eine zweite Natur verinnerlicht. Als bedächten sie nicht, dass der Besitz vorweg legitimierter Gewaltmittel staatliche Instanzen noch und noch dazu verführt, soziale Probleme nicht etwa dadurch handhabbar zu machen, dass man Gewalt schaffende Umstände abbaut. Vielmehr wird der Einsatz staatlicher Gewalt zum Ersatz von Politik mit, durch und für die Bürger. Die Staatsfixierung verblendet menschenrechtliche Sicht auch dadurch, dass sie trotz weitgehender Verrechtlichung einen Gutteil gesellschaftlicher Strukturen und Funktionen ausblendet. An erster Stelle das gesamte kapitalistische Treiben. Es wird als „privat“ klassifiziert und menschenrechtlichen Anforderungen weitgehend entzogen. Das zweite überschneidet sich mit dem d r i t t e n Manko. Die Konzipierung der Menschenrechte als Abwehrrechte gegenüber staatsabsolutistisch verstandenen Eingriffen (der Willkürherrschaft des meist noch personal-ständisch gefassten Staates) hat zur Folge, dass Menschenrechte auf bestehende Strukturen und deren Funktionen gleichsam drauf gesetzt werden. Auch die modernen Verfassungsstaaten sind nicht von den ihnen Form gebenden Normen der Menschenrechte her eingerichtet worden. Als lebendige Verfassungen knospen, 2
Siehe „Europas Grenzen: innen und außen“, in: Bürgerrechte und Polizei (Cilip 89) Nr. 1/2008; „Sicherheitsarchitektur II. Europäische Großbaustelle“, in: Bürgerrechte und Polizei (Cilip 91) 3/2008
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blühen und fruchten sie nicht menschenrechtlich quer durch die Jahreszeiten. Das unzureichende abwehrrechtliche Verständnis sorgt dafür, dass Menschenrechte, so sie den Menschen, denen sie angeblich gelten, überhaupt bekannt sind, primär über die gegebenen Rechtswege verteidigt oder erstritten werden. Damit wird nicht nur – menschenrechtswidrig – das Gewaltmonopol als das Fundament des staatlichen Gebäudes vorweg anerkannt. Es werden mögliche menschenrechtliche Verletzungen oder Verweigerungen nicht nur im Rahmen des allemal einseitigen gesatzten Rechts wahrgenommen. Vielmehr wird den Menschenrechten und ihren Trägern, den Menschen, von vornherein ihr essentielles Erstgeburtsrecht aberkannt: Nämlich, dass sie von den Menschen individuell und kollektiv selbst- und mitbestimmt zu werden. So erst würden die Menschenrechte bürgerlich demokratische Aktivrechte. Entsprechend wären alle Menschen prägenden Institutionen einzurichten: vom demokratisch organisierten Kindergarten über die Schule, die Krankenhäuser bis zu den Altenpflegeheimen. Grotesk mutet darum die Debatte um die Patientenverfügung und das individuelle Selbstbestimmungsrecht in den äußersten Ernstfällen auf dem Kranken- und Sterbelager an. Das, was sich menschenrechtlich-demokratisch von der Wiege bis zur Bahre durchgehend im Sinne einer Kette demokratischer Organisationen von selbst verstehen müsste – und würde es praktiziert, für Bürgerin und Bürger sich von selbst verstünde –, wird in existentielle Extremsituationen abgeschoben. In ihnen sind dann unvermeidlich alle irgendwie Beteiligten überfordert, nicht zuletzt der dann angeblich selbstbestimmungsfähige Kranke/Sterbende. Ohne je die eigenen Muskeln der Selbst- und Mitbestimmung ausgebildet zu haben, zusammen mit den nötigen Kenntnissen über sich und seine Situation, soll er nun die Pose des großen Entscheiders mimen. Was für ein mieses Theater, das noch den Sterbeprozess und den Tod a-sozial marginalisiert. Frei können Menschen nur werden und sein in freier Gesellschaft. Zu unabhängigen Personen, die über ein eigenes Bleigewicht der Urteilskraft verfügen, können Bürgerinnen nur werden und auch entsprechend agieren, wenn sie die gesellschaftlich mitbestimmten Bedingungen einer Assoziation aufrecht gehender Menschen schaffen und erhalten. Die liberale Wurzel aller Menschenrechte, ihren emanzipativen Elan kann man nur entwickeln und erhalten, wenn man sie in assoziativem Erdreich hegt und pflegt. Das historisch erklärbare, immer schon klassenungleiche negative Freiheitsverständnis des frühen Liberalismus samt seiner individualistischen Abstraktion und Fiktion hat negative Vergesellschaftungen zur Folge. Sie ermöglichen Freiheit, im Kern entfremdet, bestenfalls in Form von (Klassen-)Privilegien Weniger. Damit habe ich schon zwei Charakteristika der souveränen Bürgerin genannt. Selbst im Idealfall kann es sie nicht an und für sich geben. Sie setzt Nachbarn, sie setzt eine größere soziale Einheit voraus. In ihr wird und lebt sie. Souverä-
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nes Handeln ist nur möglich, wenn der soziale Kontext, in dem sich die Bürgerin befindet, ähnlich gerichtet ihm entspricht. Damit sie werden und wirken könne, sind gesellschaftlich rundum „Adäquanzverhältnisse“ (Max Weber) erforderlich. Souverän auf den ersten Blick ist also nicht souverän. Personale Souveränität ist mehrfach abhängig. Wie andere Souveränitäten, beispielsweise die staatliche, ist sie mehrfach konditioniert. Vergisst man dies, sei’s im Sinne des eigenen Anspruchs, sei’s im Sinne einer analytischen Kategorie, dann klafft doppelte Gefahr. (a) Man fühlt sich frei, souverän, unabhängig, selbstbestimmt oder, im griechischen Lehnwort gesprochen, autonom. Man verkennt jedoch die Fülle der Abhängigkeiten, die mitten in der angemaßten Autonomie stecken, sie geradezu konstituieren. Intellektuelle und ihre besonders ausgeprägten Rationalisierungskünste neigen dazu besonders, gefördert von ihrer Fähigkeit, sich X’e für U’s vorzumachen. Phantasmen von hehren Worten und Titeln, trefflich geeignet zu „exzellenten“ Selbsttäuschungen: die „Unabhängigkeit“ des Wissenschaftlers, seine „Objektivität“. Letztgenannte ist heute wundersam in „public-private partnerships“ der Forschung wahrzunehmen. Institutionell ist das Täuschungsspektrum erkenntnisfeindlich schier unbegrenzt. Dort etwa, wo von Autonomie die Rede ist oder von funktionstüchtiger „akademischer Selbstverwaltung“. „Unabhängigkeit“, „Verantwortung“, „Autonomie“ und dergleichen Hochworte sind freilich als allseits brauchbares Interessenparfüm zuhanden. (b) Gefährlicher noch, in ihren Effekten kaum zu überschätzen sind geborgte Souveränitäten. Geliehen wird meist in der Form projektiver Identifikationen. Am üppigsten lebt(e) davon der moderne Nationalstaat. Und kolonialisierte und kriegte und mordete und betreibt „zivilisatorisch“ „nation-building“. Deutschland und ich als Deutscher. Deutschlands Größe, meine Größe. Deutschland, so auch ich, wird, in perverser Steigerung, „am Hindukusch gesichert“. Die Medialisierung der Politik lebt von solchen, leere Selbste vergrößernden Identifikationen, wodurch selbige in Gefahr gerät, vollends zur abstrakten Schaubühne zu verkommen. Nach so länglich einführender Zufahrt kann ich in meinen folgenden drei Abschnitten eher knapp verfahren. Zuerst will ich hervorheben, warum die Gestalt einer souveränen Bürgerin Vorbild sein sollte. Die wachsenden Abhängigkeiten der atomisierten Menschen lassen es umso wichtiger erscheinen, an einer der herausragendsten menschlichen Möglichkeiten, an grenzenbewusster Selbstbestimmung festzuhalten. (Atomisiert ist, wohl bemerkt, nur das griechische Lehnwort an Stelle des lateinischen individualisiert. Die Semantik beider wortidentischen Bezeichnungen, nämlich unteilbar, ist jedoch erheblich verschieden). Die selbstverschuldete Unmündigkeit, von der Kant gesprochen hat, sollte nicht von der käfigsublimen fremdverschuldeten Unmündigkeit restarm abgelöst werden. Im notgedrungen viel zu kurzen nächsten Abschnitt ist anzudeuten, warum die Hoffnung der (europäischen) Aufklärung, so wie die Weltdinge liegen, heute unwahrscheinlicher winkt als je. Es bleibt fraglich, ob das krumme
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Holz, aus dem Menschen geschnitzt sind, dennoch mehr und mehr den aufrechten Gang vermag. Schließlich ist wieder einmal das Lob des Sisyphos zu singen. Um ihm fröhlich nachzufolgen.
Die Ekstase des aufrechten Gangs Sie ist in den Menschen angelegt, wie ihr Sprach- und Sprechvermögen. Kinder, die nicht in den Schatten erbärmlicher Verhältnisse und schier vegetativer Umgangsformen geworfen werden und verwachsen groß werden, lehren dies tagaus, tagaus: „Will selber laufen!“, „Warum bestimmst du das?“ Darum sind Menschenrechte in ihren ersten Wurzeln und Verknospungen durch soziale Anamnesis zu erwecken. Sokrates nahm bekanntlich an, unser Wissen stecke in seinen Kernformen in uns. Es müsse darum nur von guten Lehrern „ausgebildet“ werden, im Sinne einer von außen geförderten, im Menschen sich ereignenden Erinnerung. Diese von Platon berichtete Annahme lässt sich zwar nicht halten (Literatur darüber ist Legion), doch steckt eine tiefe, emanzipativ gerichtete Wahrheit in ihr. Indem jede Gesellschaft ihre „Realitätsprinzipien“ „sozialisiert“, besteht in heutigen Gesellschaften mehr denn je die Gefahr, dass im Verlaufe der mehrstufigen Sozialisationsprozesse nicht mehr die mehrförmige Ekstase des aufrechten Gangs geübt wird. Vielmehr sind es proskynetische Übungen, die dominieren. Paul Klee hat eine Variante in herrlicher Skizze wiedergegeben. „Zwei Herren, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich“. Hier siedelt der nach all meinem Wissen erfolgreiche Versuch – ein Erfahrungswissen auf den Schultern von Riesen und Zwergen3, versteht sich –, Menschenrechte historisch-anthropologisch zu fundieren. Aus der Menschengeschichte von Herrschaftsformen ohne Anfang und Ende, von emanzipatorischen Rebellionen, von Leiden an gesellschaftlichen Umständen, von künstlerischen und religiösen Transzendierungen des jeweils herrschenden Status quo und nicht zuletzt der humanen Kraft des Utopischen, der Vorstellung anderer, human angemessenerer Möglichkeiten – aus dieser Geschichte des Menschen und seinen Geschichten kann man inmitten aller Vergeblichkeiten und ungeheuren Grausamkeiten den immer erneut gedüngten Humus der Menschenrechte heraussieben. Mühsam. Mit nie endender Freude. Schule der Möglichkeiten. Vor vielen Jahrzehnten hat Norbert Elias „Über den [europäischen, vor allem französischen, Anm. d. Vf.] Prozess der Zivilisation“ geschrieben. Ich will auf sein ebenso faszinierendes wie erstaunlich und ärgerlich begrenztes Werk an dieser Stelle nicht eingehen. Staatlich ‚von außen‘ aufgezwungene und verinnerlichte Selbstdisziplinierung sozialer Umgangsfor3
Die Metapher stammt aus dem 12. Jahrhundert. Sie wurde von der Schule von Chartre in Paris gebraucht. Ohne die von mir hinzugefügten Zwerge bezog sie sich auf die klassisch lateinischen und griechischen Vorbilder.
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men bilden seinen dialektischen Kern. Aus Elias’ „Prozess“ kann ein Doppeltes gelernt werden: Zum einen, wie sehr anscheinshaft äußerliche Faktoren und anscheinshaft innere, „spontane“, psychogene sich verschränken, wobei die äußeren Umstände die inneren bestimmen. Zum anderen, wie verhaltensbreit und verhaltenstief der Raum der Möglichkeiten geöffnet ist. Damit wird eine andere historisch anthropologische Erfahrung bestätigt. Sie hat Hannah Arendt durch ihr sozialphilosophisches Konzept der „Natalität“ zugespitzt. Mit jedem Menschen wird eine neue Möglichkeit geboren. Sie kann vernichtet, gestoppt, geformt und verformt werden. Sie wiederholt jedoch in einem fort, die auf Entwicklung angelegte, also nie gegebene, nie fertige „Natur“ des Menschen. „Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“, hat Ernst Bloch diesen Entwicklungsverhalt zusammengefasst. Zugleich bezeichnet er den Umschlag vom individuellen „Ich“ ins soziale „Wir“ trefflich. Das aber bedeutet: Was aus Menschen und ihrem Umgang miteinander wird, wie der „Gen-Stoff“ Form gewinnt, dafür geben in hohem Masse die Sozialisationsbedingungen den Ausschlag. Durch sie entscheidet sich, ob also Menschen die Chance haben, zu Personen zu werden, ihre Menschenrechte wahrzunehmen oder nicht. Von anderen, teilweise definitionsmächtigeren Faktoren nicht zu reden, den ökonomischen Produktions- und Reproduktionsverhältnissen, den Bedingungen des Arbeitsmarkts und dergleichen. Die auf ökonomische Verwertbarkeit gerichtete Gleichschaltung des Bildungssystems erschient deshalb bedenklich. Menschenrechtswidrige Bedingungen beginnen nicht erst mit Hartz IV und ähnlichen innerstaatlichen Formen der Abschiebung. Aus der Schule der Möglichkeiten, zu handelnden Personen zu werden, wird die Realität zum angstbesetztem, durch eine Struktur der Ungleichheit geprägten Konkurrenzgetümmel. Zoon politikon. Erst wenn die Prozeduren der durchgehend sozialisierenden Institutionen ‚von Kopf bis Fuß‘ auf Demokratie eingestellt wären, vermöchten Menschen zu lernen, soziale Phantasie für sich selbst und andere zu entwickeln und sensibel zu praktizieren. Dann hätten sie die Chance, souveräne Bürgerin oder ihr männliches Pendant zu werden. Dann erst ließe sich das lernend üben – und nicht moralkeulig missbrauchen und strafrechtlich sanktionieren –, was verantwortliches, nämlich für sich und andere verantwortliches Verhalten genannt wird. Solch demokratisches Verhalten täglich zu üben – ein anderes, ein wahrhaft demokratisches plebiscite de tous les jours –, setzte voraus, alle wichtigen Institutionen so zu organisieren, dass sie nicht bürokratisch monströs ausrasten. In diesem Sinne gälte in der Tat „small is beautiful“. Das, was man unter Globalisierung versteht, mit Effekten, die lokal beginnen, ist nicht allein infolge der totalisierten kapitalistischen Wertbestimmung auf eine Kontinuität von Krisen, Konflikten und Kriegen oder anderen Formen kollektiver Gewalt programmiert. Es paukt sich vielmehr deswegen mehr und mehr menschenverachtend nach dem Gesetz der großen Zahlen durch, weil groß, größer, am größten zu werden, die Leitdevise nahezu aller relevanten gesellschaftlichen Organi-
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sationen darstellt, besonders den politökonomischen. Je mehr das mediale Schauspiel um entsprechend promovierte Charaktermasken kreist, desto weniger sind die immer nur aktuell zählenden Personen in ihren Riesenorganisationen verantwortungsfähig und als Voraussetzung dafür gestaltungsfähig. Sie haben mediale Macht. Sie sind indes machtlos, betrachtet man, was sie tatsächlich machen (= gestalten) können. Die Logik der Gigantomanie hat nichts mit Effizienz in einem zählbaren ökonomischen Sinne zu tun. Sie funktioniert vielmehr im Sinne von Macht- und Herrschaftskalkülen. Nur Riesenkonzerne und Staaten können sich riesige Verluste erlauben. Die Gigantomanie wird auch nicht dadurch bedingt, dass anders die Zahl der Menschen, die geschult, versorgt, gepflegt, mit Waren versehen und ‚gesichert‘ werden müssen, nicht bedient werden könnten. Gerade heute wäre eine Fülle kleiner Einheiten organisatorisch-technologisch ungleich leichter als zu früheren Zeiten zu koordinieren. Der Preis der Gigantomanie sind Menschenrechte und Demokratie. Darum werden sie umgekehrt proportional als universale Werte verhimmelt. Man denke nur an den Würde-Fetisch! Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit. Das ist der Schlüssel mit menschenrechtlichem Bart. Ihn braucht jede Person, um sich als Person ihre bzw. seine und die Wirklichkeit der anderen zu erschließen. Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit quer durch alle Lebensbereiche können Menschen nur erringen, wenn eine der besten pädagogischen Devisen befolgt würde: Learning by doing (John Dewey). Selbst im pädagogischen Feld im engeren Sinne wird sie indes bei weitem zu wenig und bestenfalls punktuell eingehalten – in Schulen und Hochschulen. Verfügten ungleich mehr Menschen, als dies heute der Fall ist, habituell über den so bebarteten Schlüssel, eine Pluralität der Eigentümlichkeiten wäre die Folge. Parallelgesellschaften würden nicht zum Schreckruf integrationserpichter Einheitsstaatler. Rosa Luxemburgs Mahnung könnte in erweiterter Form nachgekommen werden: Freiheit ist immer auch die Freiheit der anders Denkenden und der anders Lebenden. Personale Souveränität in Perspektive: Erst eine faktisch ohnehin gegebene, aber entfremdend zerrissene soziale Anlage des eigenen Lebens ermöglichte eine Zusammensicht der diversen Wirklichkeitsbereiche. In den indogermanischen Sprachen ist „Gewissen“ nicht eine solitär innerliche Größe (das ist protestantisches, materiefreies Innerlichkeitserbe vor allem in deutschen Landen. Umso mehr galt darum, von Thomas Mann trefflich benannt: machtgeschützte Innerlichkeit). Der Ausdruck bedeutet vielmehr Zusammenwissen (syneidesis im Griechischen; conscientia im Lateinischen). Erst der durchgehend soziale Bezug macht Einsamkeit hin und wieder nötig und punktuell möglich – wie auch die personale Integrität als menschenrechtliche Schlüsselnorm. Würden personale Souveränitäten durch die sozialen Bedingungen möglich, ja produziert, dann würden die Personen auch instand gesetzt, mit abstrakteren Faktoren
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ihrer Wirklichkeit umzugehen. Dann wären nicht schreckliche Vereinfachungen von nicht mehr direkt greifbaren Komplexitäten nötig. Demokratische Urteilskraft, schon zu Perikles Zeiten nicht gegeben, bekäme eine Chance. Dass die Curricula vitae aller Bürgerinnen und Bürger, wie auch derjenigen, die ausgegrenzt werden, dem systematisch entgegenstehen, muss kaum hervorgehoben werden.
Von der Antiquiertheit bürgerlicher Souveränität An bürgerlicher Souveränität, wie sie in einigen Aspekten skizziert worden ist, halte ich fest. Andere, wie Sie, die diesen Beitrag lesen, will ich davon überzeugen, daran sei festzuhalten. (Wenngleich ich selbstredend weiß, dass so ein Textchen das nur zu schaffen vermag, wenn die Anamnesis, von der oben die Rede gewesen ist, ein Stück weit wirkt.) Um der eigenen Person willen. Darum auch, um gegebene Wirklichkeit verstehen, beurteilen und sich urteilsbegründet verhalten zu können. So darf ich freilich nur argumentieren gerade um der eigenen Urteilsfähigkeit willen und einer ihrer Voraussetzungen, radikal nüchterner Analyse dessen, was ist und warum es so ist, wenn ich sogleich einräume, dass die heutige Wirklichkeit und ihre dynamischen Faktoren in eine andere Richtung weisen. Ich behaupte zwar einsichtig uneinsichtig, bei bürgerlicher Souveränität in meinem Verständnis handele es sich um eine konkrete Utopie, um etwas also, was annäherungsweise werden könnte. Dazu ist es nicht vonnöten, andersartige Menschen planutopisch zu schaffen und von einer neuen Weltordnung, religiös selbst im Säkularen, zu träumen. Die Mehrheit der Menschen, die solche Fragen überhaupt berühren, dürfte stattdessen von einer Illusion reden – der größte Einwand, den man sich denken kann. Urteile auf Illusionen zu bauen, hieße die Minimalerfordernisse jeder Kritik der (politischen) Urteilskraft nicht beherzigt zu haben. Wie dürfte man andere mit Illusionen wider die Zeit gerichtet nähren wollen? Aus dieser Zwickmühle ist nicht leicht zu entkommen: zum einen an Bezugsgrößen fest zu halten und sie materialistisch im Sinne nötiger sozialer Bedingungen fundieren bzw. realisieren zu wollen. Zum anderen jedoch einräumen zu müssen, dass die Wirklichkeiten dessen, was man als Bezugsgrößen angibt, schon verschwunden sind oder zukünftig noch mehr zu schwinden drohen. Ist das Möchtegernmaterialismus gegen tatsächlichen? Oder wird hier eine „Wirklichkeit“ gegen eine andere ausgespielt? Letzteres ist in erheblichem Umfang der Fall. Die „Wirklichkeit“ der Menschenrechte, historisch anthropologisch geradezu überdeterminiert, besteht aus kumulierten Erfahrungen von Menschen mit Menschen. Diese besagen, so eine meiner zentralen Annahmen, dass unbeschadet der triftigen Einsichten Darwins manche Bedürfnisse, die das „nicht festgestellte Tier“ Mensch auszeichnen (F.
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Nietzsche), nur der Potenz nach, nur als Chance bestehen. Menschen, denen diese Bedürfnisse auf diverse Weise verweigert werden – historisch andauernd und in ihrer Mehrheit –, verhalten sich darum herrschaftsfromm, werden brutal, beuten andere Menschen aus und sind zum Platzen gefüllt von der egomanen Begierde zum Haben und auch zum Herrschen.4 Das aber heißt: die so verstandenen Menschenrechte und ihre zentrale Bezugsgröße: der freie, gleiche Freiheiten aller anderen Menschen verlangende Mensch, sind nicht falsch, wie eine Rechnung falsch sein kann. Sie stellen keine Illusion dar, wie die finanzkapitalistische eine ist. Sie legt den Menschen nahe, anzunehmen, aus der Spekulation aller ließe sich Reichtum für alle in Form einer kapitalistischen creatio ex nihilo gewinnen. Dies obwohl nicht nur Orwells Regel auch hier zutrifft: Alle Spekulanten sind gleich. Manche spekulieren sich reicher als andere und auf Kosten der anderen. Die materialistisch verstandenen Menschenrechte bilden vielmehr die Zielgröße von Menschen schlechthin, die im Sinne der Menschen möglichen Steigerung ihre Gesellschaften menschlicher machen wollen. So wie nur Menschen sich, wie man sagt, „unmenschlich“ verhalten können. Dass der ‚reale‘ Materialismus, Kapitalismus genannt, vorherrscht, expandiert, jedoch mit der ausbeuterischen Krankheit zum menschenvernichtenden Tode, ist darum ein nicht weg zu diskutierendes Skandalon. Er stellt in seiner, freilich teuer erkauften Produktivität eine bleibende Herausforderung dar. Kapitalistische Produktivität, Innovationen noch und noch, ist verbunden mit der Fähigkeit, expansive Bedürfnisse zwar ungleich, aber ihrerseits expansiv zu befriedigen. Kapitalististischer Produktivismus, der zuerst und zuletzt Menschen und ihre Gesellungen raubbaut, dem sowjetischen hier analog, ist auf ein ungleiches Wachstum gerichtet. Das bedeutet schließlich nur noch Zerstörung. Deswegen und darum gilt es kritisch und aktiv an der realen Utopie der Menschenrechte festzuhalten. Nur noch pointilistisch, indes ohne durch die Fülle der Punkte ein Gesamtbild anzustreben, will ich auf einige der Institutionen und Faktoren hinweisen, die dafür sorgen, Menschenrechte müllhaldewärts zu entsorgen. Zum ersten: Der liberaldemokratische Verfassungsstaat der Gegenwart verlangt keine souveränen Bürger. Er schafft nicht die ihnen nötigen Bedingungen. Er verhindert sie vielmehr, wo immer sie ‚kontrafaktisch‘ sich regen und bewegen sollten. Das dem so ist, hat eine Fülle von Gründen. Dazu zählen: Liberaldemokratische Verfassungen wurden im 17. und 18. Jahrhundert konzipiert und in einigen europäisch-angelsächsischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert lichtfleckenartig im sonstigen autoritären Dunkel probiert. Sie 4
Diese trefflich liberale Einsicht wird von Immanuel Kant in seinem Aufsatz formuliert: „Zu einer Geschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht“, abgedruckt in Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werke in zwölf Bänden, Bd. XI, Frankfurt am Main 1977, A 393/394.
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waren nicht bereit und wurden später nicht dazu bereitet, die quantitativen und qualitativen Sprünge institutionell auch nur ansatzweise zu verarbeiten, die quer durch die beiden letzten Jahrhundert, in Höhe, Weite und gesamtgesellschaftlicher Durchdringung noch zugenommen haben. Die unterschiedlichen Grabenbrüche, mit den Warntafeln Sowjetkommunismus und deutscher Nationalsozialismus verstellt, haben die allgemeine Entwicklung nicht aufgehalten. Sie haben „nur“ ihre unerhörten Menschenopfer unfassbar vergrößert. Quantitative und qualitative Sprünge tragen die bedeutungsschweren Etiketten: expansive Gesellschaften und Kapitalisierung. Quantitativ/qualitativ, nicht zu sortieren, trat „Gesellschaft“ auf und verlief sich zugleich hin zur ‚Massengesellschaft‘ und der konsequenten ´ Entdeckung´ dessen, was Michel Foucault Bevölkerungspolitik genannt hat, zurecht breiter als die immer herrschaftsgerichtete Demographie das tut. Nun erst wurde „die Bevölkerung“ („the people“) als Doppelsubjekt entdeckt: unterworfen und Mitspielerin zugleich. Die kapitalistische Durchdringung der Gesellschaften befindet sich heute in ihrer globalisierten und globalisierenden Etappe. Noch die letzten Schlupfwinkel anderer Vergesellschaftungsformen werden kapital-logisch ausgeleuchtet und aufgehoben. Beide miteinander gekoppelten Entwicklungsstränge mit einer Fülle von immer auch selbstständigen Begleiterscheinungen sind liberaldemokratisch nicht begriffen worden. Bis heute wird unterstellt – schlimm nachhallende Töne sind im „westlich“ akzentuierten Staatsterrorismus des „nation building“ enthalten (siehe Irak, siehe Afghanistan) –, bis heute wird unterstellt, dass kapitalistische Entwicklung und liberale Demokratie, wenngleich zuweilen ,modernisierungsverzögert‘ wundersam Hand in Hand gingen. Manus manum lavat. Dass die kapitalistisch dauernd geschlagenen klaffenden Wunden der Ungleichheit auch die bürgerlich notwendigen Voraussetzungen ´nur´ liberaler Demokratie anhaltend untergrüben, wurde im Sinne einer Zukunft kapitalistischer Illusion vernebelt. „In the long run we are all dead“, bemerkte Lord Keynes einst in trefflichem Sarkasmus. Heutzutage jedoch gilt: „In the long run we are all shareholders getting rich. “ Wie die von kapitalistischer Entwicklung geschlagenen Schneisen der Ungleichheit, die humanen Kosten ihre fortgesetzten ursprünglichen, zweiten, dritten und vierten Akkumulationen, in liberaldemokratischer Zahntechnik goldverkront worden sind, so wird das factum brutum der wachsenden Größenordnungen und die Notwendigkeit bis heute nahezu restlos verkannt, sie von lokal unten plural aufzugliedern und mitbestimmungsfähig zu halten. Verstanden wird nicht, was der liberale, aber eben wirklichkeitswissenschaftlich nüchterne und phantasiereiche Max Weber sintemal betont hat: Dass soziale Zahlen sehr rasch aus den Händen politischer Verantwortbarkeit entgleiten. Dann kommt die Maßnahmenlogik von Bürokratien zum Zug. Ihre Effektivität besteht gerade darin, von allen Besonderheiten der Bürgerinnen und Bürger und ihrer Probleme abzusehen, davon zu abstrahieren. Ihre Effektivität wird nicht durch demokratisch menschenrechtlich notwendige Teilhabe und Teilnahme gefördert. Sie wächst vielmehr dadurch, dass Bürgerinnen
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und Bürger als „Merkmalsträger“ (Noelle-Neumann) verdinglicht werden. Und wer könnte heute einen Lebensbereich nennen, der nicht durchkapitalisiert und durchbürokratisiert wäre (Bürokratisierung, ein altes, wohl gepflegtes Missverständnis, ist keine primär staatliche Erscheinungsform). Liberaldemokratische Verfassungen, ihrer frühliberalen bürgerlichen Ressentiments gegen ´Unterschichten´, gegen den Pöbel, später gegen die „Massen“ eingedenk, wurden von Anfang an im Sinne eines repräsentativen Absolutismus gezimmert. Just die späte Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz, formuliert in den Jahren 1948/49, hat Repräsentativität geradezu wasser-, sprich bevölkerungsdicht gegen alle ‚Demokratie von unten‘ schaffen lassen, ein paradoxer Sachverhalt. Als einziges ‚populistisches‘ Ventil bleibt Bürgerinnen und Bürgern das seinerseits noch und noch rechtlich eingesponnene Demonstrationsrecht. Weil das Misstrauen gegenüber dem demos, dem „Volk“ – richtiger als Vielheit, als people, als „Bevölkerung“ ausgedrückt – so tief wurzelt, trifft die Bezeichnung „Herrschaft auf Zeit“ (Th. Heuss) besser oder ist die analytisch begründete Einsicht Joseph A. Schumpeters, es handele sich bei dem, was als liberale oder repräsentative „Demokratie“ bezeichnet werde, um eine auf periodische Dauer gestellte Elitezirkulation, triftiger. Die Bevölkerung ist auf das Recht begrenzt, an periodisch angesetzten Wahlen abgehobener Personen und ihrer nicht durchschauten Parteimaschinen teilzunehmen. Selbst das aber, was den volksfernen Repräsentanten, normierend, kontrollierend und damit allgemein legitimierend politisch an Bewegungsraum zusteht, ist äußerst begrenzt. Die Repräsentanten können die Präsenz von Demokratie weder zur Bevölkerung hin ‚nach unten‘ gewährleisten und vermitteln, noch können sie dies in ihren verfassungsgegebenen Kernfunktionen tun. Auch sie sind Opfer der schon allein aufgrund der Größenordnungen unüberschaubaren und ihnen nicht normativ und kontrollierend reduziblen Komplexität. Sie werden in einem fort doppelbürokratisch zugeschüttet: von staatlichen Bürokratien einerseits, von den Bürokratien der Interessengruppen andererseits. Da gibt´s keinen Ariadnefaden aus dem Labyrinth, keinen technologischen Supergoogle, der „Volksvertreter“ die Informationsfülle mit dem Pflug analytisch einschlägiger und eigener Urteilskriterien durchackern ließe. Selbst und gerade die angeblich Machtvollsten, die Vertreter der gewählten Exekutive sind ohnmächtige Rädchen der längst nicht mehr personal verantwortbaren Strukturen und Funktionen nationaler Staaten im Konkurrenzgetümmel des Weltmarkts. (Die Marktmetapher ist übrigens ihrerseits längst eine einzige kostenreiche, aber ideologisch wohl verpasste Täuschung). O souveräne Bürgerinnen, endlich auf der Höhe des Wahlrechts auch arbeitsmarktpolitisch angelangt. Was bliebe hier noch, wären die Souveränität stiftenden Eigenschaften nicht zuvor schon verlustig gegangen, was bliebe hier noch wählend mitzubestimmen? Die Verfassung des Grundgesetzes, die man als einen Markstein ‚auf dem langen Weg nach Westen‘ im Jahr 2009 besonders feiern mag, war schon zur Zeit ihrer Formulierung veraltet. Sie schien jedoch als Symbol dafür vonnöten,
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dass wenigstens die Westdeutschen in ihrer übrig gebliebenen und nicht tiefbraunen Elite endlich im ‚gemeinsamen Haus‘ liberaler Demokratie angekommen seien (mit den 1949 nötig erscheinenden antikommunistischen und demokratieskeptischen Restriktionen: „abwehrbereite Demokratie“ als Abwehr von ´zu viel´ Demokratie: „Verfassungsschutz“). Ansonsten wurde in den sechzig Jahren sogenannter Verfassungswirklichkeit, allemal abständig zum Verfassungsrecht, nicht einmal versucht über „empathisches“ Reden hinaus, „mehr Demokratie zu wagen“ (so die seinerzeitige Wahlformel des ersten Kanzlers sozialliberaler Koalition, Willy Brandt, 1969). Selbst die Riesenchance, die sich 1989/1990 unvorhergesehen, weithin unvorbereitet, wie ein unverdientes kollektives „Glück“ bot, wurde „westdeutsch imperial“ im Modus der Bürokratie verdorben. Das Schlüsseldokument, tausendseitig, der „Vereinigungsvertrag“; das Schlüsselwort: „Erstreckung“, nämlich westdeutsche Verhältnisse östlich als freiheitlich demokratisches Exportgut zu oktroyieren, „brüderlich und schwesterlich“ in der Attitüde meisterlicher Stellvertretung verstanden. Die Schlüsselhandlung: nach vorzeitiger Währungsreform im Sinne der DMSchwemme gen Osten die Errichtung des seinerzeit größten Supermarktes nahe den Toren von Leipzig. Zum zweiten: Das kapitalistische Management unseres Habitus’. Noch unmöglicher, diesen dominierenden Sozialverhalt, der „Linke“, wie „Rechte“, wie „Mittlere“ umschließt, kurz und knapp zu präsentieren! Dennoch folgen schlechten analytischen Gewissens einige Hinweise: Dissoziation ist der Name des kapitalistischen Vergesellschaftungsspiels von Anfang an. Dazu gehörten und gehören aus alten feudalen, dörflichen und familialen Abhängigkeiten befreiende Wirkungen. Emanzipation wurde jetzt erst möglich. Die befreienden Wirkungen heben damit an, dass man seinen eigenen „Stand“, in den man pseudo-natürlich geboren worden ist, ebenso verlassen kann, wie den Ort, dessen Wurzeln einen festhalten. Freiheit hebt mit Freizügigkeit an. „Voice“, verstanden als Mitbestimmung der Verhältnisse, in denen man lebt und tätig ist, setzt „exit“ voraus (und umgekehrt; vgl. das augenöffnende Büchlein von Albert O. Hirschman)5. Kapitalistische Vergesellschaftung, eine Art dynamisches Paradoxon, zerreißt jedoch soziale Bindungen so nachhaltig, umfassend und andauernd, dass ihr die geglückten Assoziationen gleicher und freier Menschen, kurzum, alle Formen der Demokratie und ihre habituellen Erfordernisse erliegen. Bestünden Marktverhältnisse von Gleich zu Gleich, auf materielle Güter prinzipiell beschränkt, wäre kapitalistische Vergesellschaftung nicht problemlos, indes radikal anders. Sie funktioniert dagegen im Sinne eines dauernden ‚nach außen‘ und ‚nach innen‘ gerichteten Imperialismus. Darum ist Konkurrenz pansozial die Umgangsform des Nichtumgangs. Kant nannte sie
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Albert O. Hirschman: Exit, Voice and Loyality. Responses to decline in firms, organizations and states, Cambridge/Mass 1970
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wohlgefällig: „ungesellige Geselligkeit“. Darum wird heute, da neue geoökonomische Räume rar geworden sind, aus dem laisser faire, laissez allez, das laissez renouveller. Innovation lautet der überall unternommene Versuch, neue Kapitalräume real und virtuell zu eröffnen. Im Zuge der Expansionen, der differenzierende Plural ist allemal angezeigt, werden nicht nur unsere Psyche, unser Hirn mit und ohne die Prätentionen der innovativen Hirnforschung ‚kapitalisiert‘ in höchst wörtlichem Sinne. Vielmehr nimmt in eins mit den von keinem menschlichen Zauberer oder keiner verantwortlich machbaren Zauberinstanz mehr steuer- oder auch nur kontrollierbare Größenordnungen – den economies, den policies, den monetary exchanges of scale -, die „Niemandsherrschaft“ (Hannah Arendt) zu. Sie verläuft von Abstraktionen zur „konkreten“ Erfahrung. Wie sollte man sich an dieser unfassbaren, kaum benennbaren Herrschaft beteiligen? Wie wollte man sie wenigstens verstehen? Wir sind schlimmer dran als der einäugige Zyklop Homers. Der nahm einst Odysseus während dessen Irrfahrten von Troja zurück nach Ithaka gefangen und steckte ihn in eine geräumige Höhle. In ihr hatte er seine Schafe zur Nacht untergebracht. Odysseus, befragt, wie er heiße, nannte trickreich listig den Namen „Niemand“. Polyphem, der einfältig gewesen sein soll, fand daran nichts auszusetzen. Als jedoch Odysseus am Bauch eines Widders festgeklammert am nächsten Tag aus der muffligen Höhle entflohen war, rief Polyphem seine bergwärts um ihn herum wohnenden Gefährten herbei, ihm bei der Suche nach dem Entsprungenen zu helfen. Da er deren Frage, wen er suche, nur mit „Niemand“ zu beantworten wusste, blieb ihm jede Hilfe versagt. Odysseus reiste also frohgemut irrend, aber endlich findend weiter. Letzteres wird uns nicht blühen. Wir bleiben Polyphemtumb. Zum dritten: Flexibilität und Mobilität. Nur eine winzige Illustration der ersten beiden ‚Punkte‘ des pointilistisch gerade erst zu punktieren begonnenen Bildes. Diese Illustration soll zugleich auf die Europäische Union aufmerksam machen. Die in europäischem Enthusiasmus ohne trübende Kenntnis politisch attraktive „Union“ zeigt auf den zweiten, von Kenntnissen getrübten Blick, wie verharmlosend es ist, ‚nur‘ von ihrem oft apostrophierten „demokratischen Defizit“ zu sprechen. Die meisten, die davon folgenlos reden, haben ohnehin nur die eingeschränkten Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Sinn mit seinem Doppelsitz in Straßburg primär und sekundär in Brüssel. Kurz: sie haben von Demokratie und ihren Problemen heute nichts begriffen, unabhängig von der EU. Auf der Suche nach besseren Verfahren der Legitimation hat die EU – trotz des 1994 gescheiterten, in Lissabonner Version im Hauptsächlichen neu aufgelegten Verfassungsvertrages – eine Europäische Charta der Grundrechte verabschiedet. Dass sie wie Schlagobers, österreichisch ausgerückt, einem andersartig gebrauten Kaffee beigeben wurde, also ein insgesamt seichtes normativ glitzerndes Gespinst darstellt, bezeichnet nur ihre eine Seite. Die andere öffnet sich
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dann dem Blick, wenn man die Charta einschließlich ihrer Präambel liest. All die benannten Grundrechte zuckerwattiger Provenienz schmücken nämlich nur die vier europäischen Grundfreiheiten, die schon der Chechini-Report von 1991 genannt hat: die Freiheit des Kapitals; die Freiheit der Ware; die Freiheit der Dienstleistung; die Freiheit der Arbeit (im Sinne der Ware „Arbeitskraft“). Da werden die europäischen Bürgerinnen und Bürger, auch wenn sie noch primär nationalstaatlich bestimmt sind, in einer Weise von der europäischen Zivilisation eingeholt, dass ihnen ihre personale Souveränität individuell und kollektiv „spanisch“ vorkommen müsste. (Der EU-europäische Definitionsanteil bürgerlicher Wirklichkeit ist übrigens erheblich; er überwiegt in nicht wenigen politischen und ökonomischen Feldern den nationalstaatlichen beträchtlich). Von unser aller „Gehäuse“ alter und neuer „Hörigkeiten“ (vgl. Max Webers Schlusspassage seiner ´Protestantischen Ethik´6) soll aktuell nicht weiter die Rede sein. Nicht vor allem vom habituell definitionsmächtigen Arbeitsmarkt bzw. seinem Mangel bis ins Pianissimo des Gefühlslebens; nicht von den in präventiver Repression vermehrten und intensivierten Inklusionsregeln und ihrem Widerpart, den Regeln der Exklusion. Das, was bleibt, lässt man sich von einer radikal nüchternen Analyse nicht rationalisierungssüchtig abhalten, mutet erbärmlich an. Gilt demgemäß die erneuerte Devise: rette sich jede und jeder, wie er oder sie kann, indem man die konkurrierende Dissoziation, genannt gegenwärtige Gesellschaft notgedrungen hinnimmt?
Das Wenige, das bleibt, ist aller Anstrengungen wert! Menschenrechtlich bewusst engagiert ein halbes Leben lang, mit unvermeidlichen Einbrüchen, möchte man immer wieder annehmen, viele Leute spürten – und sie mehrten sich –, dass die tägliche Anstrengung des aufrechten Gehens, das eigene Selbstbewusstsein und die eigene Urteilskraft stärken. Dass sie dies tun, um randständiges Dasein im herrschenden Schlagschatten zu ertragen. Unbeschadet der mehr denn je gefährdeten personalen Souveränität gilt aber fragwürdig und fraglos zugleich: Aufrechtes Gehen, die Ekstase des aufrechten Gangs bildet und bleibt das Salz menschlich bestellter Erde. Meine Generation kann Goethes Wort nicht wiederholen – und im Prinzip auch die folgenden Generationen, so sie lernen, unnaiv zu werden: Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen. In jedem Fall gilt dies Unvermögen für Leute, die wie ich während der Hochzeiten nationalsozialistischer Herrschaft geboren worden sind und dieses unsägliche Kainsmal riesigen Ausmaßes ihr Leben lang in sich tragen. Die erste Generation jedoch, an die Bert Brecht sein Gedicht „An die Nachgeborenen“ adressierte, hat seit 1945 6
Vgl.: Max Weber: Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. In: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. von Johannes Winckelmann, 3.Aufl., Tübingen 1973, S. 27–190.
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eine ungewöhnliche Chance erhalten. Sie beginnt mit dem, was Günther Gaus vor langen Jahrzehnten „die Gnade der späten Geburt“ genannt hat. Sie ermöglichte ein Mehrfaches: Von den Vätern und den Müttern ohne falsches, rückwärts projiziertes Ressentiment zu lernen, was in ihrem Leben, oft lange vor 1933, radikal falsch gelaufen, von ihnen bewirkt, getan und hingenommen worden ist. Und vor allem, warum das so war und warum das kein Zeichen mangelnder schulischer Intelligenz oder lumpigen Charakters gewesen ist. Um zu lernen, sind rückwärts gerichtete Anklagen hinderlich. Sie abstrahieren von den verschiedenen Zeiten, in die Väter/Mütter und wir mit verschiedenen Chancen ‚geworfen‘ worden sind. Hier und heute ist das, was statt Anpassen, Hinnehmen, Mitlaufen und Mittun geschehen muss. Dazu gehört, täglich die eigene Phantasie zu entwickeln und mehr als nur diese, für die geschlagenen und leidenden Menschen in unserer Nähe und Ferne. Dann sind alle Exklusionen, die der Asyl Suchenden, der grotesk ‚illegal‘ Genannten, der imperialökonomisch in die Flucht Geschlagenen, an erster Stelle zu bekämpfen. Dann geht es nicht an, wegzusehen oder nicht zu wissen, wenn von „Frontex“ die Rede ist (und nur auf den vergangenen Bush kopfschüttelnd zu weisen, so als hätten wir mit Guantanamo). Und dem, was voraus und dem, was danach liegt. Dann gilt es, wenn es nichts „Positives“ zu tun gibt, die Kunst des Nein-Sagens zu üben noch und noch. Diese Bundesrepublik Deutschland, im Windschatten zwiegespaltener Weltpolitik gepäppelt, hat in all ihren etablierten Institutionen und ihren Repräsentanten bis hinunter zu uns selbst, ihren kollektiven Beruf versäumt. Sie hat lange posttotalitär biedermeierlich gespielt, Häuser und Häuschen gebaut. Sie zählt sich heute, siehe Afghanistan u.v.a. zu den „zivilisatorisch Gerechten“. Darum auch, zusammen mit den anderen Staaten der EU, ihre wachsende weltmilitärische, im fließenden Übergang zur weltpolizeilichen Präsenz. Und umgekehrt. Das sagt sich leicht dahin. Es ist das Unwahrscheinliche schlechthin. Und doch liegt hier Rettendes brach. Entgegen entmündigenden Dissoziationen und einem arroganten Gerede zunehmender Individualisierung sind überall, wo jede und jeder lebt und tätig ist, und seien es die kleinsten, Assoziationen und institutionelle Kerne zu schaffen, damit Assoziationen sich auskristallisieren können. Einige Monate lang, einige Jahre, ein Leben, mehrere Leben verbindend. Personale Souveränität fällt niemandem in den Schoß. Wir werden nicht mit ihr geboren. Sie kostet Schweiß. Sie ist anstrengend. Eigenes Versagen wiederholt sich verändert in frustrierender Kette. Damit dennoch neu und neu die Chance selbstbestimmten Wirkens winke, ist es geboten, sich die Radikalität menschenrechtlicher Normen und der von ihnen zeitgemäß geforderten Formen nicht abhandeln zu lassen. Selbstredend sind „die“ Menschenrechte voll der Ambivalenzen und müssen immer erneut getestet werden. Menschenrechte sind nicht als angewandte Abstraktionen zu gebrauchen. Ihre „Tugend“ ist vom Besonderen her situationsspezifisch zu entwickeln. Sie darf nicht „mit dem Schrecken herrschen“. Selbstredend gibt es eine Reihe nicht durch besseres
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Wissen behebbarer Aporien – einer Schlüsselkategorie des Sokrates, einer Schlüsselkategorie der Chorlieder innerhalb der griechischen Tragödie. Und dennoch ist die Tradition der Menschenrechte, gegründet in den Erfahrungen von Menschen voll unabgegoltener und unabgeltbarer Substanz. Darum trifft gerade auf sie das alte Rabbiwort zu: „Tradition heißt nicht Asche aufbewahren, sondern die Flamme am Brennen erhalten.“ Das aber ist nur möglich, wenn jede und jeder selbst brennt. Ekstase des aufrechten Gangs.
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Der mündige Konsument Die moderne bürgerliche Gesellschaft hat das Ideal des mündigen Menschen hervorgebracht, der tradierte Meinungen hinterfragt und Verantwortung für sein eigenes Handeln übernimmt. So wurde Mündigkeit in den westlichen Demokratien zum wichtigen Baustein der politischen Willensbildung und der Rechtssysteme. Da mittlerweile auch dem wirtschaftenden Subjekt eine kapitale Bedeutung in modernen Gesellschaften zugewachsen ist1, stellt sich die Frage, was es im Falle von Kaufentscheidungen heißt, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«2. In Frage steht also der mündige Konsument. Der Rahmen, in dem dieses Thema hier diskutiert wird, ist ein wirtschaftsliberales Modell. Um Missverständnissen vorzubeugen, sind zunächst zwei Einschränkungen zu formulieren: 1. Das wirtschaftsliberale Modell wird hier nicht deshalb gewählt, weil es besonders klug oder sympathisch wäre3, sondern weil es das gegenwärtige ökonomische Denken beherrscht und zunehmend auch die Wertvorstellungen des Privatlebens infiziert. Ziel der folgenden Überlegungen ist es nachzuweisen, dass die Frage nach dem mündigen Konsumenten innerhalb dieses Denkens, wenn es konsequent wäre, eine zentrale Rolle spielen müsste. 2. Natürlich kennt der Liberalismus zahlreiche Facetten – unter seinen Befürwortern gibt es bedeutende Meinungsunterschiede und abweichende Standpunkte. Trotzdem werden derartige Schattierungen hier vernachlässigt und die vorgeschlagenen Ideen kaum in die historische Entwicklung liberalen Gedankenguts eingebettet. Stattdessen wird nur ein einfaches Modell vorgestellt, das wesentliche wirtschaftsliberale Grundannahmen verkörpert. Die Frage, inwie1
Vgl. z.B. Haug, Wolfgang Fritz: Der Konsument. In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz, K. Wolbert. Darmstadt 2004. S. 1078–1083. 2 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Kant’s Werke. Bd. 8. Berlin/Leipzig 1923. S. 35. 3 An anderer Stelle habe ich im Gegenteil zu zeigen versucht, dass der Liberalismus keineswegs eine besonders angemessene oder vernünftige Auffassung vom Menschen vertritt, sondern auf einem unhinterfragten und nicht näher begründeten Menschenbild beruht. Vgl. Buchholz, Kai: ›L’homme est responsable de ce qu’il est.‹ Bemerkungen zum anthropologischen Fundament der Politik. In: Wege zur Vernunft. Hg. K. Buchholz, S. Rahman, I. Weber. Frankfurt a.M./New York 1999. S. 73–87.
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weit dieses Modell dem historisch gewachsenen Liberalismus gerecht wird, bedarf einer eigenen Untersuchung.
Das Modell des humanen Wirtschaftsliberalismus Soweit die Einschränkungen. Hier nun eine knappe Skizze des zugrunde gelegten Modells. Es lässt sich als ›Modell des humanen Wirtschaftsliberalismus‹ bezeichnen, denn es beansprucht, zum Glück möglichst vieler Menschen beizutragen. Seine Grundannahme lautet: Das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt führt automatisch zum größtmöglichen Nutzen aller Beteiligten. Beteiligte sind einerseits die Anbieter von Waren und Dienstleistungen, andererseits diejenigen, die diese Waren und Dienstleistungen erwerben, die Konsumenten. ›Freies Spiel der Kräfte‹ bedeutet, dass Anbieter und Konsumenten nach eigennützigen Motiven handeln. Es ist in diesem Modell völlig legitim, dass die Anbieter möglichst hohe Gewinne anstreben, die Konsumenten dagegen Waren und Dienstleistungen von möglichst hoher Qualität zu möglichst niedrigen Preisen erwerben wollen. Als Ausgangspunkt dieses Denkens gilt Adam Smith, der in An Inquiry into Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) schreibt: »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir 4 erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.« Bei Smith selbst ist die Idee noch in eine Ethik gegenseitiger Sympathiegefühle eingebettet. Die weitere Entwicklung der liberalen Egoismusideologie schildert treffend Erich Fromm: »Der Kapitalismus des 18. Jahrhunderts machte schrittweise einen radikalen Wandel durch: Das wirtschaftliche Verhalten wurde aus der Ethik und dem allgemeinen Wertsystem ausgeklammert. Der Wirtschaftsmechanismus wurde als autonomes Ganzes angesehen, das unabhängig von den menschlichen Bedürfnissen und dem menschlichen Willen ist – ein System, das sich aus eigener Kraft und nach eigenen Gesetzen in Gang hält. […] Die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum des Systems? Die Schärfe dieses Konflikts versuchte man durch die These zu verschleiern, daß alles, was dem Wachstum des Systems (oder auch nur eines einzigen Konzerns) diene, auch das Wohl der Menschen fördere. Dieses Konstrukt wurde durch eine Hilfskonstruktion abgestützt, wonach genau jene menschlichen Qualitäten, die das System benötigte – Egoismus, Selbst-
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Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. München 1974. S. 17.
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sucht und Habgier – dem Menschen angeboren seien; sie sind somit nicht dem 5 System, sondern der menschlichen Natur anzulasten.« Ähnlich, wie sich nach Auffassung biologischer Darwinisten diejenigen Lebewesen behaupten, die ihrer Umwelt am besten angepasst sind, überleben nach Auffassung des humanen Wirtschaftsliberalismus diejenigen Unternehmen, deren Produkte bei maximalem Gewinn das beste Preis-LeistungsVerhältnis aufweisen. An dieser Stelle spielen die so genannten Standortvorteile eine Rolle: Randbedingungen wie der Zugang zu Rohstoffen, die Infrastruktur, das Knowhow der Beschäftigten oder der Preis der Arbeitskraft bestimmen maßgeblich, in welcher Qualität und zu welchem Preis sich Waren und Dienstleistungen auf dem Markt anbieten lassen. Konsequente Wirtschaftsliberale plädieren deshalb für einen im Prinzip unbeschränkten weltweiten Warenaustausch. Die Anbieter mit den günstigsten Standortbedingungen könnten sich unter diesen Bedingungen nämlich global durchsetzen und so das materielle Glück der Menschheit in besonders großem Umfang vermehren.6 Dieses bestehe ja darin, gute Güter zu niedrigen Preisen zu bekommen. Wenn man nun das maximale materielle Glück der Menschheit (möglicherweise eine wichtige Voraussetzung für Glück überhaupt) als zentrales Anliegen des humanen Wirtschaftsliberalismus festhält, ergeben sich daraus entscheidende Konsequenzen: Im Folgenden wird zunächst dargelegt, wie sich das Verhalten der Anbieter und Konsumenten auf dem Markt hinsichtlich dieses Zieles auswirkt. Gemeint ist das Verhalten der Anbieter beim Anpreisen ihrer Waren und Dienstleistungen sowie das Entscheidungsverhalten der Konsumenten beim Kauf dieser Waren und Dienstleistungen. Es wird sich zeigen, dass das Modell des humanen Wirtschaftsliberalismus, wenn es denn sein Ziel erreichen soll, mündige Konsumenten voraussetzt. Am Beispiel der gestalterischen Qualität von Waren wird die Idee des mündigen Konsumenten in den letzten Abschnitten weiter konkretisiert.
Die Anbieter Auf dem Markt buhlen die Anbieter um die Gunst der Kunden. Sie werben dafür, dass sich möglichst viele Konsumenten für die je eigenen Produkte entscheiden. Es ist natürlich wichtig, dass die Verbraucher gut informiert sind, um in ihrem Sinne angemessene Kaufentscheidungen treffen zu können, und es wäre kontraproduktiv, wenn Anbieter dieses vernünftige Informationsbedürfnis nicht nach Kräften befriedigen dürften. Damit sich tatsächlich die besten Produkte durchsetzen können, müssten aber betrügerische Anbieter ausgegrenzt 5
Fromm, Erich: Haben oder Sein. Stuttgart 1977. S. 16/17. Vgl. dazu z.B. Soziale Marktwirtschaft. Ordnung der Zukunft. Manifest ‘72. Hg. L. Erhard, A. Müller-Armack. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1972. S. 213/214. 6
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werden. Als betrügerisch sind Anbieter anzusehen, die das Preis-LeistungsVerhältnis ihrer Produkte falsch darstellen. Da es ja letztlich um das größtmögliche materielle Glück der Konsumenten geht, sollten diese ihre Kaufentscheidung unbefangen treffen können. Das heißt, sie sollten den Kauf von Waren und Dienstleistungen einzig und allein auf der Basis ihrer tatsächlichen Wünsche tätigen, damit nach dem Kauf ein Maximum an Befriedigung eintritt. Alle Maßnahmen, die ein solches Kaufverhalten behindern, stehen eindeutig im Widerspruch zum Ziel des humanen Wirtschaftsliberalismus.7 Diese Überlegung wirft natürlich kein besonders schmeichelhaftes Licht auf gängige Werbe- und Marketingstrategien. Das zum Klassiker avancierte Buch The Hidden Persuaders von Vance Packard hat hierzu bereits 1957 kritisch Stellung bezogen. Packard zeigt sehr deutlich, dass das Verhalten zahlreicher Anbieter auf dem Markt im genannten Sinne unredlich und unter wirtschaftsliberalen Gesichtspunkten schädlich ist. Anstatt potenzielle Kunden vom tatsächlichen Wert der eigenen Produkte zu überzeugen, überrumpeln sie diese Kunden, entwickeln gerissene tiefenpsychologische Beeinflussungstechniken, um Menschen zu Kaufhandlungen zu überreden, die deren eigenen Interessen widersprechen.8 So bedienen sich beispielsweise die meisten Werbespots eindeutig betrügerischer Instrumente. Die angeblich durch das Reinigen mit Anti-Kalkmitteln wieder strahlenden Kacheln und Herdoberflächen sind nichts als Illusionen, denn die vorgeführten Reinigungsvorgänge basieren auf filmtechnischen Tricks: Mit Sicherheit waren die gezeigten Hochglanzoberflächen nie verschmutzt; vermutlich handelt es sich in den meisten Fällen sogar um mittels computergrafischer Verfahren stark nachbearbeitete, eigentlich also virtuelle Bilder. Es ist auch gar nicht das Anliegen der gängigen Fernseh-, Zeitschriften- und Plakatwerbung, dem Informationsbedürfnis der Konsumenten zu dienen. Das zeigt sich schon allein daran, dass sich Werbung meist in Lebenssituationen hineindrängt, in denen sich der potenzielle Kunde überhaupt nicht über Waschmittel, Süßigkeiten oder Bier informieren, sondern zum Beispiel einen Film sehen, die 7
Es ist bemerkenswert, dass einer der ersten Vertreter einer praktisch ausgerichteten Werbetheorie, der Markentechniker Hans Domizlaff, die hohe Qualität von Waren noch als unabdingbare Voraussetzung erfolgreicher Werbung ansieht; vgl. Domizlaff, Hans: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik. Hamburg/Berlin 1939. Heutigen Marketingstrategen dürften solche auf Ehrlichkeit und Vertrauen aufgebauten Ansätze kaum mehr als ein müdes Lächeln entlocken. 8 Vgl. z.B. Packard, Vance: Die geheimen Verführer. Düsseldorf 1961. S. 9: »Mit oft eindrucksvollem Erfolg werden in großem Maßstab Anstrengungen aufgewendet, um unsere gedankenlosen Gewohnheiten, unsere Kaufentschlüsse und unsere Denkvorgänge zu steuern, indem man sich der aus der Psychologie und den Sozialwissenschaften aufgelesenen Einsichten bedient. Bezeichnenderweise gelten diese Anstrengungen einer Schicht unterhalb unserer Bewußtseinsebene, so daß die Antriebe, die uns bewegen, oft gewissermaßen ›verborgen‹ sind.«
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Zeitung lesen oder mit dem Bus fahren möchte.9 Bereits durch diesen Umstand macht sich ein Großteil von Werbung in höchstem Maße verdächtig – und zwar nach den Kriterien des humanen Wirtschaftsliberalismus! Man könnte nun einwenden, die Möglichkeit des Betrugs gehöre eben gerade dazu. Alle sollten ja im Sinne liberalen Denkens nach eigennützigen Motiven, das heißt nur auf den eigenen Vorteil bedacht, agieren dürfen. Die Sache reguliere sich dadurch von selbst, dass sich die hinters Licht geführten Kunden später nicht noch einmal für die entsprechenden Waren und Dienstleistungen entscheiden würden. Der betrügerische Anbieter säge also selbst an dem Ast, auf dem er sitze. Wenn dem so wäre, müssten die genannten Werbestrategien aber längst von Konsumenten und redlichen Anbietern derart diskreditiert worden sein, dass sie völlig wirkungslos wären.
Die Konsumenten Das Modell des humanen Wirtschaftsliberalismus unterstellt, dass der Konsument am besten wisse, welche Kaufentscheidungen hinsichtlich seiner eigenen Wünsche und Ziele richtig seien. Diese Unterstellung ist jedoch äußerst blauäugig.10 Ein einfaches Beispiel: Den meisten Menschen ist wohl daran gelegen, sich gesund zu ernähren. Es bedarf aber eines immensen Wissens, um in Bezug auf dieses Ziel vernünftige Entscheidungen zu treffen. Selbst Ernährungsexperten streiten sich über Fragen wie den angemessenen Vitaminbedarf des Menschen oder die gesundheitliche Bedeutung tierischer Fette. Allein diese Tatsache belegt, dass nicht einmal der überdurchschnittlich gebildete Laie seiner Rolle auf dem Lebensmittelmarkt gerecht werden kann. Ausgeweitet auf den gesamten Bereich der Konsumgüter, ergibt sich so ein desaströses Bild: Der rational eigennützige Konsument ist eine Chimäre, so dass sich das Bild vom materiellen Glück der Vielen, das der humane Wirtschaftsliberalismus zeichnet, bei Licht betrachtet als Fata Morgana entpuppt. 9
Vgl. dazu auch Mahayni, Ziad: Individualität als Massenphänomen. Die Dialektik des Kaufens in der modernen Konsumgesellschaft. In: Scheidewege. 38 (2008/09). S. 347. 10 In einem anderen Zusammenhang weist auch Friedrich Kambartel nach, dass sich unter der scheinbar humanen Oberfläche der liberalen Wirtschaftstheorie erhebliche Widersprüche verbergen. Scharfsinnig legt er dar, warum die Annahme der empirisch-quantitativ ausgerichteten Wirtschaftswissenschaften, die faktische Nachfrage nach Gütern beruhe auf echten Bedürfnissen, aus der Perspektive gelingenden Lebens unhaltbar ist. Die Unangemessenheit dieser Vorannahme macht er u.a. an einem einfachen Beispiel deutlich: Ein Autokäufer, der das Fahrzeug erwirbt, um seine Arbeitsstätte zu erreichen, befriedigt mit dem Kauf nicht per se ein Bedürfnis, sondern erst dann, wenn die Arbeit oder das dadurch verdiente Geld dazu beitragen, dass er ein gelungenes Leben führt. Vgl. Kambartel, Friedrich: Ist rationale Ökonomie als empirisch-quantitative Wissenschaft möglich? In: Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln. Hg. J. Mittelstraß. Frankfurt a.M. 1979. S. 309.
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Eigentlich müssten sich Wirtschaftsliberale also intensiv damit beschäftigen, wie das gewaltige Heer der dilettantischen Konsumenten zu mündigen Konsumenten herangebildet werden kann. Es gehört zu den peinlichen Inkonsequenzen des Liberalismus, dieses Problem bisher nicht auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. Gerade zur Zeit ist viel von Bildung die Rede – von ›Bildungsoffensiven‹ oder ›Bildungsgipfeln‹. Genau genommen handelt es sich bei den dort diskutierten Vorschlägen in der Regel um Mogelpackungen. Es geht ja gerade nicht um das, was mit dem Wort ›Bildung‹ gemeint ist: um die Erzeugung eigenständiger Persönlichkeiten, die imstande wären, sich zunehmend selbst zu kultivieren.11 Es geht ganz schnöde darum, Schüler und Studierende fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Begründet wird das damit, dass eine starke Volkswirtschaft für den allgemeinen Wohlstand unabdingbar sei. Auch wenn man diese Begründung akzeptiert, stellt sich trotzdem die Frage, warum Bildungspolitiker allein die mangelnde Qualifizierung zahlreicher Schüler und Studierender hinsichtlich ihrer Rolle als Arbeitskräfte beklagen, aber kaum ein Wort über die volkswirtschaftliche Bedeutung ihrer Rolle als gut ausgebildete, also mündige Konsumenten verlieren. Noch problematischer wird die ganze Angelegenheit, wenn man bedenkt, dass bereits Platon das Dilemma, das sich hinter der wirtschaftsliberalen Konstruktion des eigennützigen Konsumenten verbirgt, aufgezeigt hat. Im ersten Buch der Politeia lässt er Sokrates die von Thrasymachos vorgebrachte These widerlegen, Gerechtigkeit sei das dem Stärkeren Zuträgliche.12 Ein wichtiges Argument dieser Widerlegung besteht darin, dass die Behauptung von Thrasymachos nur dann aufrechterhalten werden könne, wenn der Stärkere auch wisse, was ihm tatsächlich zuträglich sei. Dieses Wissen besitze er aber nicht allein schon aufgrund seiner bloßen Machtfülle. Es sei im Gegenteil durchaus denkbar, dass ein Mensch seine Überlegenheit für Ziele einsetze, die ihm selbst abträglich seien, obwohl er ›nach bestem Wissen und Gewissen‹ aus eigennützigen Motiven handle. In diesem Sinne ist ein mündiger Konsument jemand, der weiß, welche Waren und Dienstleistungen er für seine Lebensführung, wenn sie denn gelingen soll, benötigt. Dieses Wissen betrifft nicht nur die Art der benötigten Produkte, sondern auch deren Qualität.
11
Zur Frage der Selbstkultivierung vgl. z.B. Buchholz, Kai: Der blinde und der sehende Amor. Über Liebe, Selbstkultivierung und Erkenntnis. In: Praxis der Philosophie – Gernot Böhme zum 70. Geburtstag (= 3. Jahrbuch für Lebensphilosophie). Hg. D. Croome, U. Gahlings, R. J. Kozljanič. München 2007. S. 197–206. 12 Vgl. Pol. 337a–354c.
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Gestalterische Qualität Alle Gebrauchsgegenstände unseres Alltags – egal ob Möbel, Werkzeuge, Haushaltsgeräte oder Kleidungsstücke – wurden von Menschen gestaltet. Das heißt, im Prozess ihrer Entwicklung haben Menschen deren Farbe, Form und Material festgelegt. Nehmen wir an, jemand möchte ein Speiseservice kaufen. Was hat diese Person hinsichtlich der gestalterischen Qualitäten verschiedener in Frage kommender Service zu beachten, wenn sie als mündiger Konsument handeln will? In gestalterischer Perspektive ist es üblich, die ästhetischen und die funktionalen Eigenschaften eines Gebrauchsgegenstandes getrennt voneinander zu betrachten. Dabei sind Dinge genau dann in funktionaler Hinsicht gut gestaltet, wenn sie die mit ihnen auszuführenden Handlungen in möglichst hohem Maße unterstützen und darüber hinaus möglichst wenig Aufwand verursachen.13 Wie steht es in dieser Hinsicht nun mit der Kaufentscheidung für ein bestimmtes Speiseservice? Was den primären Verwendungszweck betrifft, stellt sich die Frage, welche der angebotenen Waren diejenige Palette an einzelnen Geschirrteilen aufweist, die für alle vom Konsumenten in Zukunft zuzubereitenden Speisen benötigt werden. Zu denken ist eben nicht nur an Teller, sondern auch an Schüsseln, Vorlegeplatten, Suppentassen, Saucieren, Dessertschalen usw. Relevant sind darüber hinaus die konkreten Größen und Volumina der einzelnen Teile: Wer generell nur allein oder zu zweit selbst zubereitete Gerichte zu sich nimmt, benötigt kleinere Schüsseln für Kartoffeln oder andere Beilagen als jemand, der für sechs, acht oder mehr Personen kocht. Unter Umständen weit reichende Folgen kann zudem der Umstand aufwerfen, dass man – zumindest gelegentlich – am Ende der Speisenfolge auch Kaffee anbieten möchte. Weit reichend deshalb, weil es in diesem Fall sinnvoll erscheinen kann, sich für ein kombiniertes Speise- und Tee- beziehungsweise Kaffeeservice zu entscheiden. Nicht zu unterschätzen sind darüber hinaus Aspekte, die mit dem Gebrauch der Geschirrteile nur mittelbar zu tun haben. Etwa: ob das Service spülmaschinenfest ist, ob es aus zerbrechlichem oder stabilem Material besteht, aber auch ob es auf lange Sicht weiterproduziert wird, so dass man noch Jahre später Einzelteile nachkaufen kann, um zerbrochene Teile zu ersetzen oder um die einzelnen Teller, Schüsseln und Platten erst nach und nach zu erwerben, weil man sich nicht alle benötigten Teile auf einmal leisten kann. Verantwortungsbewusste Menschen sollten schließlich daran denken, welche Öko- und Sozialbilanzen die zur Auswahl stehenden Service aufweisen, das heißt welcher Rohstoff- und Energieverbrauch, welche Umweltbelastungen und welches Maß an Ausbeutung mit ihrer Herstellung verbunden sind. 13
Zur Frage der Gebrauchsfreundlichkeit vgl. insbesondere Buchholz, Kai: Brauchbarkeit, Lebensformen und unsichtbares Design. In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz, K. Wolbert. Darmstadt 2004. S. 96–105.
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Damit aber nicht genug: Die ästhetische Anmutung des Geschirrs und seiner einzelnen Teile bestimmt maßgeblich die Stimmung, die sich während des Essens einstellt. Dabei ist für den atmosphärischen Gesamteindruck gedeckter Tische auch relevant, ob das Geschirr mit dem Besteck und den Gläsern harmoniert und ob seine Farbgebung und sein Dekor die Wahl passender Servietten und Tischtücher beschränkt oder eine große Vielfalt unterschiedlicher geschmackvoller Arrangements gestattet.14 Die bisherigen Überlegungen machen deutlich: 1. dass die erfolgreiche Kaufentscheidung von zahlreichen Faktoren abhängt, von denen einige auf der Hand liegen, andere eine intensive Besinnung auf die eigenen Handlungsgewohnheiten erfordern und wieder andere (z.B. die Ökobilanz) ein nicht leicht zu erwerbendes Wissen voraussetzen, 2. dass der Übergang von funktionalen zu ästhetischen Eigenschaften fließend ist. Schließlich trägt auch der schön gedeckte Tisch zum gelungenen Abendessen bei. Um die gestalterischen Eigenschaften eines zu erwerbenden Speiseservices angemessen zu beurteilen, benötigt der Konsument also Einsichten, die über seine spontanen Urteile hinsichtlich der eigenen Lebensvollzüge und über seine unmittelbaren Geschmacksurteile weit hinausreichen. Der mündige Konsument muss sich deshalb bemühen, fehlende Entscheidungshilfen heranzuziehen. Unter die Arme gegriffen wird ihm dabei heute kaum.15 Das war nicht immer so.
Design und Ökonomie Ab 1800 führten die sozioökonomischen Verhältnisse in der jungen Industriegesellschaft zwar zunächst zu einem massiven Verfall des geschmacklichen Niveaus16: Dem aufstrebenden Bürgertum als marktbestimmender Verbraucher14
Zur Ästhetik der Atmosphären vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Frankfurt a.M. 1995; Buchholz, Kai: Hans Christiansen – die Villa in Rosen. In: Neue Ästhetik. Hg. Z. Mahayni. München 2002. S. 71–84. 15 Vgl. allerdings Sieber, Peter: Stiftung Warentest. Ist Design testbar? In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz, K. Wolbert. Darmstadt 2004. S. 1096–1099. 16 Zum Folgenden vgl. insbesondere Buchholz, Kai und Theinert, Justus: Designlehren. Wege deutscher Gestaltungsausbildung. Stuttgart 2007. S. 14–16. Die technischen, moralischen und praktischen Umwälzungen der Industriegesellschaft brachten auch einen neuen Publikationstyp hervor: die Rategeberliteratur, deren Spektrum alle Belange des Alltagslebens abdeckt (z.B. Benimm, Eheführung, Wohnungseinrichtung, Haushaltsführung, Kochen, Ge-
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schicht fehlte es an ästhetischer Bildung; gleichzeitig bewirkte die Liberalisierung der Wirtschaft, dass sich die Zünfte auflösten und so Jahrhunderte alte Gestaltungstraditionen innerhalb kürzester Zeit verschwanden. Auf der ersten Weltausstellung 1851 in London wurde dieser Mangel dann aber schmerzhaft sichtbar, und man suchte sofort nach Auswegen, um die geschmacklichen Kompetenzen der Konsumenten und Entwerfer zu verbessern. Die erste, auf Gottfried Semper zurückgehende Maßnahme bestand in der Einrichtung von Kunstgewerbemuseen, die der allgemeinen Geschmackserziehung (d.h. letztlich der Heranbildung mündiger Konsumenten) dienen sollten.17 Ähnliche Ziele verfolgte ein halbes Jahrhundert später der an Ideen von Hermann Muthesius anknüpfende Deutsche Werkbund. So schreibt Helmuth Wolff 1912 über die volkswirtschaftlichen Aufgaben des Werkbundes: »Wir müssen eine qualitative Konsumtion in die große Masse der Bevölkerung hineintragen. Dazu müssen wir das Schulwesen entsprechend ausnutzen. Wir müssen den Teil in unserer Bevölkerung, der mit dem Einkaufen, mit dem Konsumieren am meisten zu tun hat, wir müssen unsere deutsche Frau und unsere Kinder zur 18 Geschmacksbildung heranziehen.« Die englische Arts-and-Crafts-Bewegung unter der Führung von William Morris verfolgte zeitgleich eine andere Strategie, um den Qualitätsverlusten entgegenzutreten: Sie lehnte die Arbeitsverhältnisse und Waren der kapitalistischen Maschinenproduktion grundsätzlich ab. Ausgehend von den theoretischen Überlegungen John Ruskins19, forderte sie die bedingungslose Rückkehr zum Handwerk – ein Modell, das Morris ab 1861 in eigenen Unternehmen (Morris, Marshall, Faulkner & Co., Morris & Co., Kelmscott Press) Wirklichkeit werden ließ. Dabei kam es nicht nur darauf an, anspruchsvoll gestaltete Gebrauchsgegenstände auf den Markt zu bringen; auch menschenwürdige Produktionsverfahren und gerechte Löhne lagen Morris am Herzen. Es war deshalb nur konsequent, dass er sich zu einer sozialistischen Wirtschaftform bekannte und bei der Gründung der britischen Labour Party eine führende Rolle einnahm.20 sundheitspflege, Heimtierhaltung). Vgl. dazu Buchholz, Kai: Reformpädagogik, Volksbildung und Ratgeberliteratur. In: Die Lebensreform. Bd. 2. Hg. K. Buchholz, R. Latocha, H. Peckmann, K. Wolbert. Darmstadt 2001. S. 491; Ders.: Wohnratgeber. In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz, K. Wolbert. Darmstadt 2004. S. 730–733. 17 Vgl. z.B. Semper, Gottfried: Wissenschaft, Industrie und Kunst. In: Ders.: Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht. Mainz/Berlin 1966. S. 63: »Die Sammlungen und die öffentlichen Monumente sind die wahren Lehrer eines freien Volkes. Sie sind nicht bloß Lehrer der praktischen Ausübung, sondern, worauf es besonders ankommt, Schulen des allgemeinen Volksgeschmackes.« 18 Wolff, Helmuth: Die volkswirtschaftlichen Aufgaben des D.W.B. In: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1912. Jena 1912. S. 89. 19 Vgl. z.B. Ruskin, John: Die sieben Leuchter der Baukunst. Leipzig 1900. S. 316–318; Morris, William: Die niederen Künste. Leipzig 1901. S. 4–6. 20 Vgl. z.B. Lindsay, Jack: William Morris. His Life and Work. London 1975. S. 249–312.
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Während Semper, Muthesius und Morris eine Verbesserung der Gebrauchswerte im Auge hatten, zielte die amerikanische Streamline-Bewegung der frühen 30er Jahre darauf ab, den Tauschwert der Waren mittels oberflächlicher Stylingverfahren künstlich in die Höhe zu treiben: Die futuristischen Stromlinienformen sollten in der Weltwirtschaftskrise den Konsum ankurbeln, indem sie den Verbrauchern suggerierten, sie benötigten neue, zeitgemäße Produkte, selbst wenn sie bereits funktional gleichwertige Gebrauchsgegenstände besaßen. So heißt es bei Norman Bel Geddes, dem Vater des Streamline: »Good design increases sales appeal in any object.«21 Hier geschieht genau das, was Wolfgang Fritz Haug in seiner Kritik der Warenästhetik brandmarkt: »Das ästhetische Gebrauchswertversprechen der Ware wird zum Instrument für den Geldzweck.«22 Tatsächlicher Gebrauchswert verschwindet zugunsten scheinbaren Gebrauchswerts, denn Produzent und Verkäufer sehen im Leben ihrer Kunden nur noch ein Medium, um an deren Geld (den Tauschwert) zu gelangen.23 Sie erachten es nicht mehr als wichtig, mit ihren Waren die Bedürfnisse der Konsumenten zu befriedigen, und erzeugen neben dem minimal notwendigen Gebrauchswertkern jetzt auch einen trügerischen Gebrauchswertschein. So lässt sich zum Beispiel der Gewinn vergrößern, indem man schlechtes Material oder mangelhafte Verarbeitung durch raffinierte Oberflächenbehandlung oder Einfärbung überdeckt. Neben Haug zeigen auch Packard und Jean Baudrillard auf, worin warenästhetischer Schein im Einzelnen bestehen kann – zum Beispiel in den Verlockungen der Werbung, die sich von der Ware ablöst und die Erfüllung unbewusster Wünsche verspricht, sowie in bloßen Repräsentationswerten, die den praktischen Gebrauchswert in den Hintergrund drängen und das Produkt zum Statussymbol aufblasen.24 Das bisherige Ende der warenästhetischen Perversionsspirale nimmt Gernot Böhme unter die Lupe, indem er darauf aufmerksam macht, dass sich Gebrauchswertschein mittlerweile sogar in den Produktionsprozessen eingenistet hat: »Restaurants der – nostalgischen – Avantgarde sind zur Küche hin offen, Brauereien erzeugen ihr Bier hinter Schaufenstern oder gar im Ratskeller, und in der Autoindustrie schließt sich der Promotion-Sektor mit der Endmonta21
Geddes, Norman Bel: Horizons. New York 1977. S. 242. Will man die Ziele des Streamline nicht verkürzt darstellen, ist zu ergänzen, dass seine Vertreter durchaus auch die Verbesserung der Gebrauchswerte mittels Design anstrebten, vgl. z.B. ebd., S. 4/5. 22 Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a.M. 1971. S. 17. 23 Wie sehr diese Dagobert-Duck-Mentalität auch den Spitzensport im Würgegriff hält, schildert eindrucksvoll Albus, Volker: Brennelemente der Begeisterung – Fußball-Fanartikel. In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz, K. Wolbert. Darmstadt 2004. S. 616–619. 24 Vgl. z.B. Packard, Vance: Die geheimen Verführer. Düsseldorf 1961. S. 151–164; Baudrillard, Jean: La société de consommation. Paris 1970 sowie auch die zahlreichen Beispiele in Mahayni, Ziad: Individualität als Massenphänomen. Die Dialektik des Kaufens in der modernen Konsumgesellschaft. In: Scheidewege. 38 (2008/09). S. 344–370.
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ge zusammen: Das ist die Gläserne Manufaktur des Volkswagen-Konzerns in Dresden. Wurde die Produktionssphäre bisher mit Öl und Schmutz, mit Proletariat und entfremdeter Arbeit assoziiert, so wird dort die Entstehung eines Autos – des Luxuswagens Phaeton – vor den Augen des Kunden zum ästhetischen Ereignis. Das Fließband aus Parkett, die Arbeiter im weißen Anzug und mit Glacéhandschuhen, lautlos gleiten Roboterwagen, die die Einzelteile bringen, hin und her. Der Phaeton, makellos im Ursprung, seine Entstehung nicht Arbeit, sondern Ritus. Der Kunde, auf der anderen Seite der Scheibe, kann – mit einem Glas Sekt in der Hand – sein Erscheinen in Ruhe wie den Aufgang der Sonne erwarten.«25 Von der tauschwertgetriebenen Warenästhetik, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Europa ausgebreitet hat, ist eine gebrauchswertorientierte Ästhetik im Dienste des Menschen streng zu unterscheiden. Trotz aller Lippenbekenntnisse haben weder der Funktionalismus der Hochschule für Gestaltung Ulm noch seine postmodernen Antipoden der Produktion warenästhetischen Scheins widerstanden.26 Humanes Design zur echten Lebenssteigerung der Verbraucher findet sich in einer anderen Traditionslinie: von der Arts-andCrafts-Bewegung über den Jugendstil zur ›gemäßigten Moderne‹ des Werkbunds.27
Fazit Aufrichtige und engagierte Unternehmer, die sich mit ihren Produkten identifizieren und für die Qualität ihrer Waren einstehen, haben ein vitales Interesse an mündigen Kunden. Um sich gegenüber ihren unseriösen Konkurrenten zu behaupten, sollten wenigstens sie nach Strategien suchen, mit denen sich mündiges Konsumverhalten fördern und kultivieren lässt. Dazu muss man allerdings wissen, worin ein solches Verhalten konkret besteht. 1. Am Beispiel des überlegten Erwerbs eines Speiseservices wurde klar, dass der mündige Konsument zunächst ein detailliertes Bild von den beabsichtigten Handlungen haben muss, die er mit seinen Geschirrteilen künftig ausführen möchte. Zudem benötigt er spezifisches Fachwissen und ästhetische Bildung, um zu entscheiden, welches der angebotenen Service für diese Handlungen am besten geeignet ist.
25
Böhme, Gernot: Warenästhetik. In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz, K. Wolbert. Darmstadt 2004. S. 993. 26 Vgl. z.B. Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a.M. 1971. S. 34–36. 27 Vgl. dazu die Stellungnahmen liberaler Werkbundprotagonisten wie Friedrich Naumann und Theodor Heuss, z.B. Naumann, Friedrich: Werke. Bd. 6. Köln/Opladen 1969. S. 186–451; Heuss, Theodor: Was ist Qualität? Tübingen/Stuttgart 1951.
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2. Vor allem muss er sich aber auch fragen, ob die beabsichtigten Handlungen überhaupt wünschenswert sind, das heißt ob sie als Episoden einer insgesamt 28 gelungenen, sinnvollen Lebensführung angesehen werden können. Im ersten Fall ist der mündige Konsument also auf praktische, wissenschaftliche und künstlerische Kompetenzen angewiesen; im zweiten Fall wird von ihm verlangt, dass er darüber hinaus ein guter Philosoph ist.
28
Vgl. dazu z.B. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1094a–1096a; Schlick, Moritz: Vom Sinn des Lebens. In: Symposion. 1 (1927). S. 331–354; Wisdom, John: The meanings of the questions of life. In: Ders.: Paradox and Discovery. Oxford 1965. S. 38–42; Buchholz, Kai: Ludwig Wittgenstein. Frankfurt a. M./New York 2006. S. 81–100; Kamlah, Wilhelm: Philosophische Anthropologie. Mannheim/Wien/Zürich 1973. S. 157–166; Böhme, Gernot: Einführung in die Philosophie. Frankfurt a. M. 1994. S. 198–212; Frankl, Viktor E.: Das Leiden am sinnlosen Leben. In: Ders.: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. München/Zürich 2007. S. 44–49
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Der mündige Patient Einleitung Der mündige Patient ist in Deutschland schon seit Jahrzehnten ein fester Terminus, quasi ein Qualitätsmarke, die den Status des kranken Menschen im modernen Gesundheitssystem anzeigen und garantieren soll. Und wer möchte nicht ein mündiger Patient sein? Auch als Patient mündig zu sein, als mündig angesehen zu werden, ist quasi Ehrensache, eine Sache des Respektes, der einem im Krankheitsfalle entgegengebracht werden sollte. Freilich spürt man, dass diesen Status auch wirklich auszufüllen man vielleicht nicht in der Lage sein könnte, dass die Idee des mündigen Patienten einem etwas abverlangen könnte, was man gerade im leidenden Zustand nicht leisten kann.1 Und so mag es viele Menschen geben, die lieber nicht ein mündiger Patient sein wollen, es vielmehr vorziehen, im Krankheitsfalle sich den Anordnungen, der Pflege und der Fürsorge anderer, vornehmlich des Arztes zu überlassen. Wenn man nun in die Literatur schaut, ist man erstaunt, dass von diesem Problem eigentlich wenig die Rede ist. Vielmehr dominiert hier die Vorstellung vom mündigen Patienten als eines kompetenten Abnehmers von krankheitsbezogenen Angeboten, also Therapien, Medikamenten, Beratungs- und Informationsdienstleistungen. Es ist deshalb auch vielfach vom mündigen Patienten als mündigem Konsumenten die Rede. Diese eigentümlich Sichtweise verdankt sich natürlich zum Teil der sozialwissenschaftlichen Behandlung des Problems: hier werden Patienten quasi von außen, nämlich in ihrem faktischen Verhalten betrachtet – und dieses wird dann nach Alter, Geschlecht, Bildung, Schichtzugehörigkeit statistisch erfasst. Die Innensicht des Patienten, seine ethische Situation spielt für die Forschung keine Rolle. Das Verständnis des mündigen Patienten als mündigem Konsumenten verdankt sich zum anderen einer dominanten Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse, nämlich des Verhalten des Einzelmenschen als Marktteilnehmer. Die Mündigkeit des Patienten erscheint in dieser Sichtweise als freie und kompetente Kaufentscheidung. Dabei wird ganz übersehen, dass der Gesundheitsmarkt, oder spezieller der Pharmamarkt im
1
„Diese Idee (die Idee vom mündigen Patienten) ist in gewissem Sinne paradox, weil sie von einem Menschen gerade in dem Zustand, in dem er als Leidender quasi nicht Herr seiner selbst ist, verlangt, dennoch den Status der autonomen Persönlichkeit zu wahren“. Farideh Akashe-Böhme und Gernot Böhme, Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen. München: C.H. Beck 2005.
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Grunde gar kein Markt im üblichen Sinne ist, weil sich hier nämlich nicht Anbieter und Abnehmer in direkter und entscheidungsoffener Situation gegenüberstehen. Ihre Beziehung ist nämlich einerseits vermittelt durch die Krankenversicherungen, die als finanzielle Abnehmer von Pharmaka und Therapien auftreten, und deren Verhalten durch die staatliche Gesundheitspolitik für den größten Teil der Bevölkerung – 90% sind bei gesetzlichen Krankenversicherungen versichert – aufs strengste reguliert und kontingentiert ist. Sie ist andererseits keine freie Kosumentenwahl, weil auch bei engagiertem Mitbestimmungswillen des Patienten Medikamente und Therapien in der Regel vom Arzt verschrieben werden müssen. Wenn es nun sicher nicht verfehlt ist, vom Pharmamarkt zu sprechen und das Gesundheitssystem dem Dienstleistungssektor der Gesellschaft zuzurechnen, so spielen auf diesem Markt jedoch nicht die Patienten als Einzelwesen eine Rolle, vielmehr stehen sich als Marktpartner die Pharmakonzerne und die Ärzteschaft gegenüber, und die Forderung des mündigen Patienten kann hier nur heißen, dass in dem Bargaining die Patientenorganisationen ein Stimme haben – und nicht nur der Staat als Regulierungsbehörde auftritt. Die Mündigkeit des einzelnen ist im Sinne der medizinsoziologischen Untersuchungen, auf die ich mich beziehe, also kein ethisches Problem, sondern vielmehr ein gesellschaftlicher Trend, der insb. zu einer Veränderung der klassischen Arzt-Patienten-Beziehung führt: „Im Zuge der Demokratisierung der Gesellschaft wollen Patienten nicht mehr als passives Objekt verstanden werden, sondern sich aktiv in die Behandlung einbringen.“ 2 Diesen Trend gilt es, wie Einsichtige meinen, sogar unter ökonomischen Gesichtspunkten zu fördern: „Patientenbeteiligung und -souveränität ist kein humanitärer … Selbstzweck, sondern vor dem Hintergrund der Ressourcenknappheit oder Kostenexplosion zielgerichtet (zu fördern), um das Gesundheitswesen im Sinne von Wirtschaftlichkeit, Qualität und Bedarfsgerechtigkeit rationaler, kostengünstiger und effizienter zu gestalten.“ 3 Wenngleich also für unseren Zusammenhang die medizinsoziologischen Untersuchungen zum mündigen Patienten als höchst fragwürdig erscheinen, so lohnt es sich doch die dort entwickelte Definition des mündigen Patienten zu zitieren: „Ein mündiger Patient sucht intensiv nach Informationen, verfügt über ein hohes Maß an Wissen über seine Krankheit und in einer Entscheidungssituation über einen hohen Grad an Mitbestimmung.“ 4 2
Beatrix Dietz, Patientenmündigkeit. Messung, Determinanten, Auswirkungen und Typologie mündiger Patienten. Wiesbaden: Dt. Universitätsverlag 2006, S. 19. 3 Dierks. M.L., Siebeneick, S., Röseler, S. (2001), Patienten, Versicherte, Kunden: Eine neue Definition des Patienten?, in: Dierks, M.L.; Bitzer, E.-M.; Lerch, M., Martin, S.; Röseler, S.; Schienkiewitz, A.; Siebeneick, S., Schwartz, F.-W., Patientensouveränität. Der autonome Patient im Mittelpunkt, Arbeitsbericht Nr. 195 der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, Stuttgart, August 2001, hier S. 4-26. 4 Dietz, aaO. S. 23.
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Das ist jedoch nicht eigentlich eine Definition des mündigen Patienten, sondern vielmehr eine behavioristischen Beschreibung seines Erscheinungsbildes. Für unsere Zwecke, nämlich für die Frage, was man als mündiger Patient im Sinne einer Selbstkultivierung sein sollte, lohnt es sich deshalb, auf ganz andere, nämlich philosophische Quellen zurückzugreifen. Als Erstes möchte ich daran erinnern, dass Kant in seiner Aufklärungsschrift Mündigkeit primär als Selbstbestimmung jenseits der Abhängigkeit von Experten definiert. Das entscheidende Zitat ist hier folgendes: „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt (...), so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ 5 Kant nennt also als Grund von Unmündigkeit die Tendenz, sich in seiner Lebensführung Experten zu überlassen – in Gesundheitsdingen dem Arzt. Dabei muss für den modernen Leser gesagt werden, dass mit Diät im 18. Jahrhundert noch die gesundheitsbezogene Lebensführung im Ganzen, nicht nur die Ernährung gemeint war. Mündigkeit bedeutet für Kant, sich in seiner Lebensweise nicht vom Arzt abhängig zu machen, sondern sie vielmehr selbst zu bestimmen. Wir werden noch sehen, welche konkrete Bedeutung dieser Auffassung heute im Zusammenhang von Therapie-Entscheidungen zukommt. Der zweite Philosoph, an den ich erinnern will, ist Platon. In seiner Schrift „Die Gesetze“ unterscheidet er zwei Typen von Ärzten, die Ärzte für Sklaven einerseits und die Ärzte für freie Bürger andererseits. In dem anzuführenden Zitat beginnt er mit den Sklavenärzten in ihrer Tätigkeit, um dann davon die Tätigkeit und Verhaltensweise der Ärzte für die Freien abzusetzen: „ … kein einziger von solchen Ärzten pflegt auch nur irgendeine Begründung für die jeweilige Krankheit eines Sklaven zu geben oder sich geben zu lassen, sondern er verordnet ihm das, was ihm aufgrund seiner Erfahrung gut scheint, als wüßte er genau Bescheid, eigenmächtig wie ein Tyrann; dann springt er auf und begibt sich zu einem andern erkrankten Sklaven und erleichtert so seinem Herrn die Sorge für die Kranken. Der freie Arzt dagegen behandelt meistens die Krankheiten der Freien und beobachtet sie; und indem er sie von ihrem Entstehen an und ihrem Wesen nach erforscht, wobei er sich mit dem Kranken selbst und mit dessen Freunden bespricht, lernt er teils selbst manches von den Kranken, teils belehrt er auch, soweit er es vermag, den Patienten selbst und verordnet ihm nicht eher etwas, bis er ihn irgendwie davon überzeugt hat; dann erst versucht er, indem er durch Überredung den Kranken immer wieder beschwichtigt, ihn zur Gesundheit zu führen und damit Erfolg zu haben.“ 6 Man sieht, wie nach Platons Vorstellung der Arzt für die Freien diese respektiert und auch im Krankheitszusammenhang frei sein lässt. Seine Be5
I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In. Ders. : Werke in sechs Bänden, Darmstadt: WBG 1964, Bd. VI, S.53. 6 Platon, Nomoi IV, 720 c,d. Übersetzung Klaus Schöpsdau.
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ziehung zum Kranken ist keine Herrschaftsbeziehung, vielmehr eine Kommunikation unter gleichen. Es ist dabei von besonderem Interesse, dass dieser Typ Arzt nicht meint, ohne die Mitwirkung des Patienten das für ihn Richtige herauszufinden. Seine Erfahrung, wie es bei den Sklavenärzten heißt, die ihm eine gewisse Überlegenheit geben könnte, reicht dazu nicht aus. Außerdem betrachtet er offenbar das explizite Einverständnis des Patienten für den therapeutischen Prozess als notwendig. Interessant ist auch, dass die Heranziehung von Menschen, die dem Patienten nahestehen, für das Arztgespräch als notwendig erachtet wird. Informed consent Was Platon hier als selbstverständliche Praxis im Umgang mit freien Bürgern schildert, musste in der Moderne erst mühsam erstritten werden: dass nämlich der Arzt erst nach Aufklärung des Patienten und dessen Einwilligung tätig wird. Deshalb muss man heute die Mündigkeit des Patienten als eine Abwehrposition gegenüber dem paternalistischen Verhalten von Ärzten ansehen. Das wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass die Forderung einer Einwilligung nach Aufklärung, heute international als informed consent bezeichnet, aus den Debatten um fragwürdige Experimente am Menschen entstanden ist. Der Auslöser ist der sog. Fall Neisser um 1900. Der Dermatologe Albert Neisser hatte nach den Erfolgen der Serumimpfungen von Behring und Kitasato versucht, 8 KlinikPatientinnen – es handelte sich um Prostituierte – durch Injektion von zellfreiem Serum von Syphilispatienten immun zu machen. Vier dieser Frauen erkrankten in den folgenden vier Jahren an Syphilis. Das Vorgehen Neissers erregte öffentliches Ärgernis, er wurde angeklagt und verurteilt, weil er „acht weibliche Personen… geimpft hat, ohne sich der Zustimmung dieser Personen oder ihrer gesetzlichen Vertreter versichert zu haben.“ 7 Als Konsequenz schickte das bayerische Kultusministerium an die Vorsteher von Kliniken ein Anweisung, nach der medizinische Eingriffe auszuschließen sind, wenn die betroffene Person nicht ihre Zustimmung erklärt hat und dieser Erklärung eine sachgemäße Belehrung über die aus dem Eingriff möglicherweise hervorgehenden nachteiligen Folgen vorausgegangen ist. Diese Anweisung ist insofern bemerkenswert und zukunftsweisend, als sie ausgehend vom Fall des medizinischen Experimentes die Einwilligung nach Aufklärung zur Voraussetzung jedes medizinischen Eingriffs macht. Am Rande soll erwähnt werden, dass die genannte Anweisung auch schon Eingriffe bei nicht-einwilligungsfähigen Personen ausschließt.
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Siehe dazu den Aufsatz von Rolf Winau, Versuche mit Menschen – historische Entwicklung und ethischer Diskurs. In: G. Böhme, William R. LaFleur und Susumu Shimazono (Hrsg.) Fragwürdige Medizin. Unmoralische Forschung in Deutschland, Japan und den USA im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2008, S.39–51, hier S. 43f.
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Es bedurfte freilich weiterer öffentlicher Debatten, die sich auch im Folgenden an Versuchen am Menschen bzw. an Schutzimpfungen mit Todesfällen entzündeten, bis schließlich 1931 vom Reichsgesundheitsrat „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“ 8 beschlossen wurde. Sie haben freilich die massenweise Verletzung des Prinzips der Einwilligung nach Aufklärung im sog. Dritten Reich nicht verhindern können. Für uns ist wichtig, dass das Prinzip des informed consent, das einen Eckpfeiler der Patientenmündigkeit darstellt, aus den Debatten um unmoralische Forschung in der Medizin stammt: Es ist ein Schutz- und Abwehrrecht des Patienten. Heute ist es allerdings zu einer Forderung verkehrt worden, die vielmehr den behandelnden Arzt vor möglichen Regressforderungen schützen soll.9 Nach deutschen Recht, genauer nach dem Grundrecht auf „Leben und körperliche Unversehrtheit“ (GG Art. 2.2) und dem § 823 der BGB bzgl. der Schadensersatzpflicht10, ist nämlich der Arzt gehalten, sich für jeden Eingriff der Einwilligung des Patienten zu versichern. Das gilt insbesondre bei Eingriffen, die ein Risiko enthalten: deshalb gilt die Einwilligung des Patienten erst nach ausführlicher Darlegung auch der Risiken einer Behandlung. Der Patient muss also nicht nur der therapeutischen Maßnahme zustimmen, sondern ausdrücklich bereit sein, das damit verbundene Risiko einzugehen. Entsprechendes gilt selbstverständlich für die Einnahme von Pharmaka. Hier ist nicht nur der verschreibende Arzt, sondern auch der Pharmahersteller in Haftung. Die Folge ist, dass Patienten vor allen Operationen mit ausführlichen Aufklärungsblättern und Formularen zur Einwilligung der geplanten Maßnahme konfrontiert werden und bei der Anwendung von Medikamenten aller Art mit Packungsbeilagen, die umfänglich über „Risiken und Nebenwirkungen“ unterrichten. Es ist selbstverständlich, dass hier gerade die schwersten möglichen Schädigungen mit vage angedeuteten Wahrscheinlichkeiten im Vordergrund stehen. Auf Grund dieser Rechtslage ist die Mündigkeit des Patienten, die ursprünglich ein Ideal der Selbstbestimmung gewesen ist und – wie die entsprechenden Studien immer noch betonen – ein Fortschritt in der Demokratisierung der Gesellschaft, zu einer Pflicht geworden. Ein mündiger Patient muss man sein, ob 8
Heute nachlesbar in Alexander Mitscherlich, Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt/M.: Fischer 1960, S. 270–273. 9 Diesen Umschlag beschreibt sehr schön für den Fall der Abtreibung Maria A. Wolf in ihrem Aufsatz Die Illusion der Entscheidungsfreiheit. Vom „entscheidenden Experten“ zu „entschiedenen Patientinnen“, in: Helga Peskoller, Miachael Ralser, Maria A. Wolf (Hrsg.): Texturen der Freiheit, Innsbruck: Innsbruck university press 2007, S. 39–52. 10 § 823. [Schadensersatzpflicht] (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. – Siehe dazu: Helmut Narr, Beck-Rechtberater: Arzt – Patient – Krankenhaus, München: C.H. Beck 1987, S.140.
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man will oder nicht, und das heißt, es wird einem als Patienten die Mitverantwortung am Therapiegeschehen zugemutet. Damit wird Patientenmündigkeit zur Verpflichtung, sich zu informieren, und zur Last, schwerwiegende Entscheidungen in Bezug auf die eigene leibliche Existenz auf sich zu nehmen. Wissen und Nichtwissen Es soll nicht bestritten werden, dass ein mündiger Patient auch weiterhin ein bedeutendes Ziel der Selbstkultivierung ist, ein Persönlichkeitsideal, dass nicht nur die gesellschaftliche Stellung eines Menschen – hier die Anerkennung durch den Arzt – sondern auch den Grad seiner persönlichen Reife bezeichnet. Doch die Situation, in der dem Patienten der informed consent abverlangt wird, hat doch Voraussetzungen, denen man nicht einfach aufgrund der allgemeinen durchschnittlichen Persönlichkeitsentwicklung entsprechen kann: Voraussetzungen, die das Wissen betreffen, und Voraussetzungen bzgl. der Entscheidungsfähigkeit unter Risiko und äußeren Zwängen. Ich erläutere zunächst das erstere. Mündigkeit im Krankheitsfall verlangt ein hohes Maß an Wissen – und zwar allgemein, nicht nur, wenn es darum geht, Aufklärungsblätter und Einverständniserklärungen zu unterschreiben. In diesem Fall geht es, wie bei der Lektüre der Beipackzettel von Medikamenten darum, zunächst einmal überhaupt den Text zu verstehen. Das ist heute ohne ein Mindestmaß an medizinischen Kenntnissen und Fachtermini nicht möglich. Ohne ein Gesundheitslexikon kann man heute kein kompetenter Patient mehr sein. Dieses Verstehen des Texts hat nun aber noch eine zweite, über das reine Sachverständnis hinausgehende Ebene: man muss nämlich einerseits den Sinn der in diesen „Gebrauchsinformationen“ enthaltenen Bedrohungsszenarien verstehen und ferner die in der Regel höchst vage angegebenen Wahrscheinlichkeiten11, mit denen man das Eintreffen einer Nebenwirkung zu erwarten hat. So ist es nicht leicht, die Warnung, die einem der Arzt oder der Hersteller bzgl. der Therapiemaßnahme bzw. des Medikaments zukommen lassen will – also echte Aufklärung und Aufforderung zum Mittragen der Entscheidung – von der aus Haftungsgründen bis ins Äußerste explizierten Skala der Risiken zu unterscheiden. Ferner ist für den Durchschnittsmenschen, ich meine hier: den nicht speziell in Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik trainierten Menschen – der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten nicht einfach. So neigt der Durchschnittsmensch beispielsweise dazu, die Wahrscheinlichkeit einer Nebenwir11 Der Gesetzgeber hat inzwischen dafür gesorgt, dass die Wahrscheinlichkeiten als relative Häufigkeiten quantifiziert werden müssen. Etwa so
Sehr häufig Häufig Gelegentlich Selten Sehr selten
Mehr als 1 von 10 Behandelten Mehr als 1 von 100 Behandelten Mehr als 1 von 1000 Behandelten Mehr als 1 von 10.000 Behandelten Mehr 1 oder weniger von 10.000 Behandelten einschließlich Einzelfälle
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kung als den Grad der Betroffenheit durch diese Nebenwirkung zu interpretieren – und nicht als die relative Häufigkeit der Fälle, in denen er selbst als Element eines Patientenensembles betroffen ist. Ferner meint der Durchschnittsmensch, dass nach einer Reihe von Anwendungen, in denen es gut gegangen ist, nun die Wahrscheinlichkeit größer sei, dass es schlecht geht, um nämlich die angegebene Wahrscheinlichkeit zu erfüllen. (So wie man meint, dass nach der Geburt dreier Mädchen doch die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines Jungen sehr hoch sein muss, weil die durchschnittliche Geburtenrate etwa 1:1 ist). Diese reflexive Ebene des Verstehens, also die Einschätzung der Angaben in den Informationsblättern auf ihre Funktion und auf ihre Wahrscheinlichkeit hin, verlangt schon ein erhebliches Maß an Distanz und Coolness. Und das in einer Situation, in der man als Patient in Not ist, vielleicht von Ängsten heimgesucht wird, und in der er durch die äußeren Rahmenbedingungen zu einem raschen Ja oder Nein gezwungen ist. Der Typ von Wissen, den wir bisher behandelt haben, ist derjenige, den die Rechtslage im Heilwesen und die Schulmedizin dem mündigen Patienten abverlangen. Im Grunde handelt es sich um elementares Wissen dieser Schulmedizin selbst. Interessant wird es aber erst eigentlich, wenn man an die Grenzen der Schulmedizin kommt, wenn die Mündigkeit gerade darin bestehen muss, sich für oder gegen schulmedizinischen Vorgehensweisen zu entscheiden. Bevor ich mich jedoch der Frage nach alternativen Wissensformen12 zuwende, muss noch ein anderer Typ von Wissen genannt werden, der gerade mit der herrschenden Institutionalisierung der Schulmedizin zu tun hat. Es gibt eigentlich nur eine Situation, bzw. ein Lebensalter, in dem sich der Kranke einfach der pflegenden Fürsorge seiner Mitmenschen und des medizinischen Personals überlassen kann – und das ist die Kindheit. Das ist aber auch nur möglich, weil dem Kind von seinen Eltern die Auseinandersetzung mit dem medizinischen System abgenommen wird. Der Erwachsene ist dagegen im Krankheitsfalle nicht nur mit seiner Krankheit konfrontiert, sondern zugleich mit einer Fülle von administrativen, bürokratischen und organisatorischen Problemen. Das geht von dem Kampf um Termine, über den Kampf um die Zuwendung des Pflegepersonals in der Klinik bis zu dem Kampf um die Zeit und das Interesse des Arztes. Mündigkeit bedeutet in dieser Situation die paradoxe Kompetenz, gerade in Zeiten der Bedrängnis gelassen und umsichtig bis clever mit diesen Verhältnissen umzugehen. Der Patient muss in einer Situation, in der er zum passiven Objekt zu werden droht, sich als Person zu bewahren. Natürlich kann Mündigkeit hier auch darin bestehen, sich vieles von Freunden und Verwandten abnehmen zu lassen, ich würde dann von assistierter Mündigkeit spre-
12 Gernot Böhme, Alternative Formen des Wissens im Bereich der Medizin, in: Schweizerische Ärztezeitung 66 (1985), 1569–1573; auch in: F.E. Brock (Hrsg.), Handbuch der Naturheilkundlichen Medizin: Ausbildung, Klinik, Praxis, Landsberg: ecomed 1998.
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chen.13 In jedem Fall jedoch setzt ein mündiger Umgang mit dem Gesundheitssystem14 voraus, dass man ein detailliertes Wissen von diesem System hat. Man muss sich im Spektrum der ärztlichen Spezialitäten auskennen, mit den Möglichkeiten und Alternativen der Versicherung, mit den Hierarchien im Krankenhaus, und – vor allem muss man ein Wissen davon haben, wie das System von Diagnose, Therapie, Rehabilitation arbeitet. Sonst kann man in eine Eskalation von Diagnose und Gesundheitschecks hineingeraten, man kann sich in einer Kette von Medikation und Medikation der Nebenwirkungen von Medikamenten verlieren, ja man kann in seiner Lebensführung von einem System therapeutischer Maßnahmen abhängig werden. Der Punkt, an dem die Notwendigkeit für den Patienten, gegenüber der Verselbstständigung des medizinischen Systems Stand zu halten, ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, sind die lebensverlängernden Maßnahmen am Ende eines Lebens. Die Antwort darauf sind die sog. Patientenverfügungen. Sie haben im Wesentlichen den Sinn, dass der Patient sich dagegen verwahren kann, durch medizinisch-technische Maßnahmen am Leben erhalten zu werden, wenn für ihn nach seinem vorherigen Urteil die Bedingungen humaner Existenz nicht mehr gegeben sind. Die Erstellung einer Patientenverfügung muss heute als ein Grundakt von Mündigkeit im Angesicht von schwerster Beeinträchtigung und Tot angesehen werden. Sie kann aber auch als Übung dienen, sich allgemein vor dem Eintreten schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung darüber klar zu werden, bis zu welcher Grenze man bereit ist, sich durch medizinisch-technische Eingriffe manipulieren zu lassen. Eine der hier zu stellenden ernsten Fragen ist die Frage nach der Transplantationsmedizin. Einen Standpunkt gegenüber den Möglichkeiten der Transplantationsmedizin zu gewinnen, ist für den mündigen Patienten unerlässlich, einerseits weil er wie alle mit dem moralischen Druck konfrontiert ist, als Organspender zur Verfügung zu stehen, andererseits weil er herausfinden muss, was er an seinem Körper essentiell als mein Leib15 ansehen will. Es könnte ja sein, dass er gewisse Körperteile von sich so sehr als zu seinem Selbst gehörig empfindet, dass er lieber bereit ist hinzunehmen, was sie ihm an Leid verursachen, als sie auszutauschen. Das führt uns schließlich zu einem Typ von Wissen, den man existentielles Wissen nennen kann, nämlich das Wissen um sich und seinen Leib. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen muss gesagt werden, dass die Fähigkeit des Patienten bei Therapieentscheidungen kompetent mitzureden noch einen weitern Typ von Sachwissen verlangt, nämlich vom Wissen um Alternativen. Auch die Ärzte der Schulmedizin werden in der Regel mehrere Methoden der Therapie in 13
L. Geisler spricht in seinem Aufsatz Patientenautonomie – eine kritische Begriffsbestimmung in: Dt. Med. Wochenschrift 129 (2004), s. 453-456 von „gestützter Autonomie“. 14 Dazu ausführlicher das Kapitel Der Umgang mit dem medizinischen System in: F. Akashe-Böhme, G. Böhme aaO. S. 33-53. 15 Siehe dazu das Kapitel Mein Körper – mein Leib in meinem Buch Ethik leiblicher Existenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008.
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Erwägung ziehen, doch daran ist jetzt nicht vornehmlich zu denken. Vielmehr geht es um die Möglichkeiten der Alternativmedizin bzw. auch um die Möglichkeit, ggf. von einer Therapie überhaupt abzusehen. Letztere Möglichkeit erscheint auf den ersten Blick absurd – warum sollte man, wenn es eine Therapie gibt, nicht von ihr Gebrauch machen? Doch eingedenk des klassischen Spruches „natura sanat, medicus iuvat“ sollte man nicht vergessen, dass ein großer Teil der Krankheiten von selbst, also durch die Selbstheilungskräfte der Natur überwunden wird, bzw. dass sie als Erscheinungsformen gerade der Prozess der Überwindung einer Irritation des Lebensablaufes sind. Bei Kinderkrankheiten hat inzwischen der Gedanke wieder an Boden gewonnen, dass es besser ist, die Kinder diese Krankheiten austragen zu lassen, anstatt sie schnell mit Antibiotika zu beenden. Auf der anderen Seite des Spektrums, also bei sehr schweren Krankheiten stellt sich manchmal die Frage, ob der Patient es vorziehen könnte, die Krankheit selbst, an Stelle der Nebenwirkungen der Therapien zu ertragen. Soviel zur Möglichkeit, auf Therapien überhaupt zu verzichten. Sie stellt den Patienten in jedem Fall vor ernste, also moralische Fragen. Die naturwissenschaftliche Medizin ist in unserer Kultur im Heilwesen in einem solchen Maß dominant, dass der Patient – auch mit den kleinsten Leiden – zunächst zum Arzt geht und in der Regel gar nicht die Frage stellt, ob es alternative Heilmethoden gibt. Doch für den mündigen Patienten ist jedenfalls zu fordern, dass er sich diese Frage stellt. Eine Entscheidung für eine Therapie ist nie eine echte Entscheidung, wenn sie nicht vor dem Hintergrund von Alternativen gefällt wurde. Doch die Entscheidung zwischen einem schulmedizinischen Vorgehen und Alternativen, sei es nun chinesische, ayuverdische, homöopathische Medizin oder die Konsultation eines Heilpraktikers, ist asymmetrisch. Während die Solidität von Schulmedizin im Allgemeinen unterstellt werden kann bzw. wird, muss sich der Patient ein Urteil über die Alternativmedizin selbst bilden, er wird von seinem Arzt entsprechende Kenntnisse in den seltensten Fällen erwarten können. Ferner hat er den Eindruck, dass er bei einer Entscheidung für eine alternativmedizinische Praxis das Risiko selbst tragen muss, bzw. dass nicht von der Schulmedizin Gebrauch zu machen, ein erhöhtes Risiko darstellt. Dabei sind in der Regel die alternativ-medizinischen Praktiken schonender. Der Eindruck kommt dadurch zustande, dass die Schulmedizin auch das Kassensystem beherrscht und dass deshalb die Methode der Alternativmedizin von den Kassen häufig nicht anerkannt werden16 – so dass der Patient die Kosten dafür selbst tragen muss. Diese Asymmetrie verlangt vom Patienten in jedem Fall ein erhöhtes Engagement, d.h. die Bemühung um Wissen und Risikobereitschaft, wenn er sich für Alternativmedizin entscheidet. Eine solche Entscheidung kann in der Regel nur durchgestanden werden, wenn sie von einer Technik-kritischen Lebenshaltung gestützt ist.
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Man findet jedoch bei den Privatkassen eine größere Bereitschaft auch Akupunktur und die Tätigkeit des Heilpraktikers zu bezahlen.
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Damit sind wir zurück bei dem von mir sogenannten existentiellen Wissen. Hier handelt es sich darum, dass eine Therapieentscheidung vom Patienten in das, was man traditionell Weltanschauung nannte, eingebettet sein muss. Bei der Frage nach der Transplantationsmedizin sind wir entsprechend auf die Notwendigkeit eines Wissens von sich gestoßen. Wie wir gesehen haben, ist es für den Patienten, der mündig sein will, nötig über ein gewisses Maß an Sachwissen zu verfügen, bzw. die Kompetenzen, sich entsprechenden Informationen zu verschaffen. Bei dem Wissen von sich – nach der philosophischen Tradition Selbsterkenntnis genannt – geht es jedoch nicht so sehr um Inhalte, als vielmehr darum, dass man seiner selbst und seiner gewählten Lebensform sicher ist. Zu einem solchen Wissen gehören zwar auch Inhalte, also zum Beispiel die Kenntnis des eigenen Körpers und der eigenen Lebensgeschichte, doch es geht um diese Inhalte im subjektiven Sinne, nämlich insofern sie in mein Selbstverständnis involviert sind. Es sind solche Inhalte, von denen ich mich nicht ohne Schmerzen und Selbstverlust trennen kann. Ein solches Wissen von sich kann man deshalb auch nicht von einem anderen Menschen beziehen und man kann darin auch durch niemanden ersetzt werden. Gerade deshalb ist es das Wissen dieses Typs, das der Patient in jede Therapie-Entscheidung einbringen muss. Es ist der entscheidende Anteil, der ihm nicht vom Arzt abgenommen werden kann. Wir können das Thema Wissen nicht verlassen, ohne auf die Wahrheit am Krankenbett zu sprechen zu kommen. Es ist heute nahezu Konsens, dass sich der mündige Patient ein Wissen von seiner Krankheit verschafft und bzw., wenn es nicht so ist, in durch Patientenschulung „zum Experten für seine Krankheit zu machen“. 17 Eine andere Frage ist es jedoch, ob der Patient weiß bzw. wissen will, wie es um ihn steht. Noch vor nicht allzu langer Zeit galt es als angemessenes Verhalten dem Patienten gegenüber, ihn nicht mit der ganzen Wahrheit, und das hieß häufig schon mit der Diagnose, dann aber mit Misserfolgen der Therapie und schließlich mit der Prognose des bevorstehenden Todes zu verschonen. Über diese Themen gab es dann Gespräche mit den Angehörigen hinter verschlossener Tür. Diese Situation hat sich inzwischen entscheidend geändert: Es besteht eine ärztliche Aufklärungspflicht - über die Diagnose, die geplante Therapie, über Alternativen und Risiken der Eingriffe wie der anzuwendenden Medikamente, und schließlich über die Prognose. Die damit eingeführte rigorose Wahrheitspflicht wird allerdings gemildert durch einen Rest paternalistischen Denkens: Wenn der Arzt glaubt, die Wahrheit könne dem Patienten schaden, wirkt das therapeutische Privileg. „Unter dieser Bezeichnung wird die Befugnis des Arztes verstanden, dem Patienten zu seiner eigenen Schonung schwerwiegende Mitteilungen über sei-
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Hans-Jürgen Seelos, Patientensouveränität und Patentenführung. Medizinmanagement in Theorie und Praxis. Wiesbaden: Gabler 2008, S.126.
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nen Gesundheitszustand zu verschweigen, um den Heilungsverlauf und den Heilungswillen nicht zu schwächen oder gar zu untergraben.“ 18 Wenn man bedenkt, dass es für keinen Arzt angenehm ist, wenn ein Patient in seiner Praxis in Tränen ausbricht, so kann man annehmen, dass Ärzte leicht dazu neigen, das therapeutische Privileg fast immer als gegeben anzusehen. Schließlich wollen viele Patienten die nackte Wahrheit über sich auch gar nicht wissen. Doch das dürfte anders sein für den Patienten, den man als mündig ansehen wird. Eine ernste Auseinandersetzung mit seiner Krankheit ist ja nur möglich, wenn er weiß, wie es um ihn steht, und wenn seine relevanten Bezugspartner, insbesondere sein Arzt auch zu einem aufrichtigen Gespräch bereit sind. Um diese Chance sollte man ihn nicht bringen. Die Beziehung zu Ärzten Man hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Patientenmündigkeit von der Ärzteschaft nicht eben gefördert wird. Es ist klar, dass ihre Tätigkeit leichter ist, wenn sie im Rahmen einer Beziehung von Experte und Laie definiert wird. Der Arzt kann sich dann auf seine Sachkompetenz zurückziehen – während, wie wir schon von Platon hörten – die Tätigkeit des freien Arztes komplexe menschliche, insbesondere kommunikative Kompetenzen verlangt. Dafür wird der Arzt in der Regel auch nicht ausgebildet. Im Übrigen weiß der Arzt natürlich, dass ein großer Teil seiner Wirkung gerade auf seiner Stellung als Autorität basiert. Sie ist häufig Suggestion – wie beim Placeboeffekt. Für den Patienten, der mündig sein will, ist auf der andren Seite die Beziehung zum Arzt stets prekär. Die Frage nach Alternativen zu äußern, Kritik oder gar ein Nein zur vorgeschlagenen Therapie verlangt ein hohes Maß an Selbstüberwindung: er will ja nicht das Vertrauensverhältnis untergraben und das Wohlwollen das Arztes verlieren. Es ist schwer für ihn zwischen seinen Rollen als hilfesuchendem Patienten und als mitentscheidender Partner zu balancieren. Dafür wäre eine Art Knigge für den Umgang mit Ärzten nötig. Dabei gibt es eigentlich eine klare Einstiegsstelle, an der der Patient seine Subjektivität zur Geltung bringen kann. Auch der Schulmediziner wird in der Regel nicht nur eine Möglichkeit der Therapie sehen, ja es gibt sogar einen gewissen Konsens darüber, dass aus rein medizinischen Gründen zwischen Therapiemöglichkeiten keine eindeutige Wahl möglich ist. So heißt es in dem schon zierten Buch von Beatrix Dietz über Patientenmündigkeit: „Des Weiteren wird heute kein Anspruch mehr darauf erhoben, dass es aus Expertensicht nur eine optimale Therapie für einen Patienten gibt.“ 19 Was aus Expertensicht fehlt und fehlen muss, ist die Einbettung der Alternativen in die Lebensform und Lebenssicht des Patienten. Denn die verschiedenen Therapien unterscheiden sich für den Patienten nämlich nicht nur sachlich, sondern durch die Art, wie sie 18
Helmut Narr, Beck-Rechtberater: Arzt – Patient – Krankenhaus, München: C.H. Beck 1987, S. 143. 19 AaO. S. 30.
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zu seiner Lebensform und seiner ethischen Grundhaltung passen. Das gilt nicht nur für die Durchführung der Therapie selbst, sondern auch, und vielleicht mehr noch für die Folgen der Therapie. Es wird bei der Darstellung von Therapiealternativen in der Regel übersehen, dass sie für den Patienten auch Alternativen in Bezug auf die Weise, wie er sein Leben führen kann, bedeuten. Ein charakteristisches Beispiel ist der Unterschied von Dialyse und Nierentransplantation. Solche Unterschiede ergeben sich jedoch auch bei weniger gravierenden Leiden als Niereninsuffizienz. Sie werden jedoch besonders deutlich – wie wir schon gesehen haben – wenn man schulmedizinische und alternative Heilpraktiken gegeneinander stellt. Man denke an den Unterschied, mit Kopfschmerzen durch Tabletten oder durch Meditation fertigzuwerden, oder mit Rückschmerzen durch Operation oder Yogaübungen. V. Schluss: Leiblichkeit und Lebensform Zum Schluss will ich auf den letzten Punkt noch etwas genauer eingehen, nämlich darauf, dass man als mündiger Mensch nicht nur einzelne Therapieentscheidungen mitträgt, sondern sich selbst definiert, also bestimmt, was für ein Mensch man ist. Insofern sind Therapiefragen für den Patienten ernste – und damit moralische Fragen.20 Man kann Therapiefragen natürlich auch pragmatisch, dh. utilitaristisch entscheiden. Dann ginge es nur um die Abwägung von Nutzen und Schaden, von beabsichtigten Wirkungen und Nebenwirkungen. Ein charakteristische Beispiel dafür haben wir in dem Buch des Philosophen Jean Luc Nancy, der sich ein Herz hat transplantieren lassen. Angesichts der erheblichen Leiden, die er damit auf sich genommen hat, fragt er sich immer wieder: „Ist es der Mühe wert?“ 21 Oder er fragt sich, ob der Gewinn an Lebensverlängerung nicht zerstört wird durch den Verlust an Lebensqualität. Das sind noch keine moralischen Fragen, sondern Fragen nach der Zweckmäßigkeit einer Entscheidung. Doch wir hatten ja schon gehört, dass auch aus der Sicht der Experten Therapiefragen nicht nach reinen Zweckmäßigkeitsgründen entschieden werden können, sondern erst unter Einbeziehung dessen, was aus Expertensicht die Wünsche des Patienten sind, aus dessen Sicht jedoch eine Wahl von Lebensform und Lebensbedingungen. Jetzt sehen wir, dass die Frage dadurch auf eine andere Ebene behoben wird, nämlich dass sie von einer reinen Zweckmäßigkeitsfrage zu einer moralischen Frage wird. Der Patient nimmt die Therapiefrage erst wirklich ernst in dem Moment, in dem er erkennt, dass er durch ihre Entscheidung zugleich mitentscheidet, was er für ein Mensch ist. Mündigkeit heißt also hier, dass man Entscheidungen im therapeutischen Prozess auch aus moralischen Fragen ansieht. 20
Zu der in dieser Aussage enthaltenen Auffassung von Moral siehe mein Buch Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ernsten Fragen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2. Aufl. 1998. 21 Jean-Luc Nancy, Der Eindringling/ L’Intrus. Das fremde Herz, Berlin: Merve-Verlag 2000
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Schon in der Entscheidungssituation expliziert also der Patient seine Weise Mensch zu sein. Er könnte darin nämlich sich selbst, oder genauer: was an ihm Natur ist, einfach distanziert als kartesische Maschine, als reines Körperding betrachten. Oder er könnte diese Natur als zu seinem Selbst gehörig, als Leib, als sein Eigenstes betrachten, also aus seiner innigen Vertrautheit mit sich entscheiden. Natürlich wird man gerade im Leiden seinen Körper als den eigenen nicht los, doch macht es einen Unterschied, ob man ihn quasi als Instrument und Vehikel des Selbst betrachtet, oder ob er einem qua Leib dieses Selbst selbst ist und man deshalb die Frage ernst nehmen muss, bis zu welchem Grade man sich durch medizinische Eingriffe manipulieren lassen will. Weil man im gewöhnlichen, d.h. störungsfreien Leben häufig dahingestellt sein lassen kann, was man für ein Mensch ist, bzw. weil es in der Routine der Üblichkeiten nicht zur Debatte steht, kann der Krankheitsfall quasi zum experimentum crucis werden, an dem man expliziert, was man eigentlich ist. Doch umgekehrt definiert man sich durch die Therapiewahl – jedenfalls in gravierenden Fällen – erst in seiner condition humaine. So entfremdet man etwa seinen Leib zum Körperding oder aber man eignet sich ihn gerade durch Schmerz und Leid erst eigentlich an. Allgemeiner gesehen, kann man das Krankheitsgeschehen entweder als lästige Störung in der Leistungsexistenz auffassen und sich in dessen Bewältigung als Leistungs-Ich bewähren, oder man kann die Krankheit auch als Chance sehen, sich selbst in seiner betroffenen Selbstgegebenheit – und damit in seiner pathischen Existenz, die letztlich unausweichlich zum Menschsein gehört, zu finden. Noch deutlicher wird diese Differenz, wenn man die Folgen einer Therapieentscheidung für das künftige Leben betrachtet. Denn was man so als Risiken und Nebenfolgen bezeichnet betrifft ja häufig nicht nur den Zeitpunkt des Eingriffs oder der Therapie. Vielmehr sind mit Therapien häufig bleibende Folgen verbunden, durch die die Randbedingungen der dann noch möglichen Lebensform definiert sind. So ist, was man bei Krebstherapie traditionell als die Alternative Stahl oder Strahl bezeichnet, nicht nur eine Frage des Risikos, vielmehr bestimmt ja bei Frauen die Brustamputation und bei Männern die Prostatasektion, was für die Betroffenen dann in der Zukunft als Sexualität gelebt werden kann. Entsprechend bei Transplantationen: wer einen solchen Eingriff wählt, entscheidet sich zugleich für ein Leben, das wegen der notwendigen Unterdrückung des Immunsystems von weiteren Medikationen abhängig wird, und durch Meidungsstrategien, etwa durch Vermeidung der Teilnahme am öffentlichen Leben, geprägt ist. Ich habe um der Deutlichkeit willen drastische Bespiele gewählt. Doch man sollte sich nicht darüber täuschen, dass man auch durch alltägliche Entscheidungen, wie man mit seinen Krankheiten und Unpässlichkeiten umgeht, beständig sich selbst in seinem Verhältnis zum Leib bestimmt und Schritt für Schritt die Lebensform definiert, die man als die eigene ansieht.
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Autorinnen und Autoren Farideh Akashe-Böhme (1951–2008), lebte als freie Autorin in Darmstadt. Nach einem Studium der Germanistik, Politik, Geschichte und Soziologie promovierte sie zum Thema Fremdheitserfahrungen von Frauen, insbesondere Migrantinnen. Verschiedene Publikationen, darunter „Die Burg von Chah Barrdi“ (2000), „Die islamische Frau ist anders“ (20022) und „Sexualität und Körperpraxis im Islam“ (2006). Gernot Böhme, geb. 1937, war ab 1977 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt und hatte diesen Lehrstuhl bis 2002 inne. Er war 1997 bis 2001 Sprecher des Graduiertenkollegs „Technisierung und Gesellschaft“. Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e.V. (IPPh) in Darmstadt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu allen Bereichen der Philosophie; zuletzt (mit Farideh Akashe-Böhme), „Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen (2005), Architektur und Atmosphäre (2006) und „Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur (2008). Kai Buchholz, geb. 1966, studierte Philosophie, französische Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin, Saarbrücken, Utrecht, Rennes und Aix-en-Provence. Danach Lehr- und Forschungstätigkeit in Darmstadt, Bergen, Nancy und Paris sowie freier Autor und Ausstellungskurator am Institut Mathildenhöhe, Darmstadt. Ab Herbst 2009 Professor für Kunst- und Designwissenschaft an der Hochschule Niederrhein, Krefeld. Buchveröffentlichungen u.a.: „Sprachspiel und Semantik“ (1998), „Die Lebensreform“ (Hrsg. 2001), „Im Designerpark“ (Hrsg. 2004), „Ludwig Wittgenstein“ (2006), „Im Rhythmus des Lebens – Jugendstil und Bühnenkunst“ (2007), „Plexiglas“ (2007), „Designlehren“ (2007), „Liebe“ (Hrsg. 2007), „Sex“ (Hrsg. 2008). Ute Gahlings, geb. 1963, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal; 1992 Dr.phil.; 1992–2001 wissenschaftliche Erschließung des Hermann-Keyserling-Archivs in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt; 2001–2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der TU Darmstadt; 2005 Habilitation im Fach Philosophie an der TU Darmstadt; Privatdozentin. Publikationen u.a.: „Sinn und Ursprung. Untersuchungen zum philosophischen Weg Graf Keyserlings“ (1992), „Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen (2006), „Praxis der Philosophie“ (Hrsg. 2007). Andreas Gruschka, geb. 1950, studierte Pädagogik, Philosophie, Psychologie und Soziologie an der Universität Münster und ist heute Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt/Main. 1986 gründete er das Münsteraner Instituts für Pädagogik und Gesellschaft; er ist Herausgeber einer Zeitschrift („Pädagogische Korrespondenz“) und einer Buchreihe im Verlag Büchse der Pandora. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Präsentieren als neue Unterrichtsform“ (2008), „Erkenntnis in und durch Unterricht“ (2009) und (zusammen mit Bünger u.a.) „Heydorn lesen“ (2009).
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Wolf-Dieter Narr, geb. 1937, Studium 1957–1962 in Würzburg, Tübingen und Erlangen, Promotion und Habilitation 1969 in Konstanz. Er war Fellow an der John F. Kennedy School of Government, Harvard University und von 1971–2002 Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist Mitbegründer und war zeitweise Sprecher des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. „Weltökonomie“ (1994), „Lust und Last des wissenschaftlichen Schreibens“ (1999), „Demonstrationsrecht“ (2005), „Wider den menschenrechtsblinden Antiterrorismus“ (2006), zusammen mit Peter Kammerer und Ekkehart Krippendorf „Franz von Assisi heute“ (2008). Thomas Hillenkamp, geb. 1943, ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Heidelberg. Er ist seit 1999 einer der Direktoren des Instituts für deutsches, europäisches und internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Er war von Februar 1992 bis Oktober 1993 Gründungsdekan der Juristischen Fakultät in Dresden. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. „Vorsatztat und Opferverhalten“ (1981), „Die Urteilsabsetzungs- und die Revisionsbegründungsfrist im deutschen Strafprozeß“ (1998), (als Herausgeber) „Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?“ (2006). Bernd Villhauer, geb. 1966, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Altertumswissenschaft an den Universitäten Freiburg, Jena und Hull (England). Promotion zum Thema „Aby Warburgs Theorie der Kultur“, danach Tätigkeiten als Redakteur und Verlagslektor, außerdem Lehraufträge in Karlsruhe, Jena und Darmstadt, seit 2004 Programm-Manager für Theologie und Philosophie bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG). Uwe Volkmann, geb. 1960, studierte Rechtswissenschaft in Marburg. Nach einer Tätigkeit als Rechtsanwalt promovierte er 1992 in Marburg und war 1994–1997 als wissenschaftlicher Assistent tätig. Die Habilitation erfolgte 1997, ab 1999 Professur an der Universität Mainz, 2001 dann Übernahme des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und öffentliches Recht in Mainz. Verschiedene Veröffentlichungen, u.a. „Politische Parteien und öffentliche Leistungen“ (1993), „Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung“ (1998), (zusammen mit Gabriele Britz) „Tarifautonomie in Deutschland und Europa – Grundlagen, Krisensymptome, Perspektiven“ (2003).